Verebben der Menschheit?: Neganthropie und Anthropodizee 9783495997420, 3495479120, 9783495479124

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Verebben der Menschheit?: Neganthropie und Anthropodizee
 9783495997420, 3495479120, 9783495479124

Table of contents :
Cover
Einleitung
Anthropodizee
Außenverankerung
Weltverlassener und weltverlassender Mensch
Neganthropie
Verebben
Ein Einwand
Ideale Normen und Praxisnormen
Kapitel 1: Metaphysik
1.1 Der Verebbens-Gedanke als metaphysisches Reagenz und quasi-apagogischer Beweis für die Notwendigkeit von Metaphysik
1.2 Arbeit an der Metaphysik
1.3 Metaphysik als Gesuchtes?
Kapitel 2: Neganthropie
2.1 Die Ökologische Krise
2.2 Der Holocaust. Sollten nach Auschwitz noch Menschen hervorgebracht werden?
2.3 ABC-Waffen
Kapitel 3: Die neutrale Position. Absurd Conclusion und Egoistic Fallacy
3.1 Die neutrale Position
3.2 Absurd Conclusion und Egoistic Fallacy
Kapitel 4: Das Dach des Leidens. Abendländische und asiatische Urentscheidung
Kapitel 5: Zur Hervorbringungspflicht bei Platon
5.1 Seelenwanderung und Hervorbringungspflicht
Kapitel 6: Die gnostische Ontologie des Verebbens
6.1 Marcion
6.2 Mani
6.3 Die Katharer
Kapitel 7: Zur Hervorbringungspflicht in Bibel und Patristik
7.1 Enthält das Alte Testament ein genuines Gebot zur Fortpflanzung?
7.2 Die Anempfehlung von Ehe- und Kinderlosigkeit im Neuen Testament
7.3 Das Werben für Ehe- und Kinderlosigkeit in der Patristik
Kapitel 8: Reflexionen zum Seinsollen der Menschheit in der philosophischen Theologie
8.1 Laktanz, A. v. Canterbury, H. v. St. Viktor, Maimonides, Th. v. Aquino
8.2 Spinoza
8.3 Leibniz
Kapitel 9: Kant
9.1 Die Ohnmacht des kategorischen Imperativs
9.2 Kants formale Teleologie menschheitlichen Seinsollens
9.3 Kants demiurgische Metaphysik
9.4 Kants Geschichtsteleologie menschheitlichen Seinsollens
Kapitel 10: Der Mensch als Werkzeug des Sittengesetzes. Das Seinsollen von Menschen bei Fichte
Kapitel 11: Schopenhauer als Verebbenstheoretiker
Kapitel 12: Mainländer. Das Verebben als Gottesdienst
Kapitel 13: Feuerbach und Marx
Kapitel 14: Philosophische Anthropologie
14.1 Entsicherung des Menschen als Aufgabe der philosophischen Anthropologie
14.2 Der Mensch - von Natur aus ein Kulturwesen
14.3 Natürliches und kultiviertes Ende. Die neganthropische Konvergenz aus Kosmologie und Anthropologie
14.4 Neganthropie und anthropisches Prinzip
14.5 Das Problem der Abtreibung als metaphysisches Reagenz
Kapitel 15: Die Menschheit als Individuum
Kapitel 16: Mögliche Personen
16.1 Die Hervorbringungspflicht bei R. M. Hare
16.2 Die Hervorbringungspflicht bei D. Parfit
Kapitel 17: Das Seinsollen von Menschen im Utilitarismus
17.1 Allgemeines
17.2 Die verborgene Metaphysik des Utilitarismus
17.3 Die neutrale Position im utilitaristischen Argumentationszusammenhang
17.4 Vom Fortleben der abendländischen Urentscheidung im Utilitarismus. Die Position P. Singers
17.5 Negativer Utilitarismus
17.5.1 Die Millsche Parität und Affinität zum negativen Utilitarismus
17.5.2 Eine Asymmetrie in der Ethik
17.5.3 Die Entfaltung des negativen Utilitarismus im Anschluß an das Primat der Leidminimierung. Implikationen für das Seinsollen der Menschheit
17.5.4 Die Besetzung einer bislang unbesetzten Systemstelle metaphysikloser Ethik. Aufhebung des Leidens als Totalisierung des Leidens: Die Position U. Horstmanns
17.5.5 Natale Enthaltsamkeit als Gebot des negativen Utilitarismus
17.5.6 Weitergehende Begründung der Asymmetrie von Leid und Glück
17.5.7 Ein gerechtigkeitstheoretischer Einwand gegen die Asymmetrie von Leid und Glück
17.5.8 NU-Argumente für natale Enthaltsamkeit. Ist es möglich, logisch konsistent im Sinne eines negativen Utilitarismus und auf der Basis der ethischen Asymmetrie für das Verebben zu argumentieren?
Kapitel 18: Ontologien menschheitlichen Seinsollens
Kapitel 19: Der Mensch als Hüter des Seins (Jonas)
19.1 Die ontologische Kapitalfrage
19.2 Zur Bilanz von Glück und Unglück. Ontologischer Optimismus
19.3 Der Vorrang des Daseins von Menschen über ihr Sosein
19.4 Der Status der Religion
19.5 Tertium datur. Diesseits von Weitergabe und Zerstörung allen menschlichen Lebens
19.6 Einzelner und Menschheit. Logische Probleme im Vorfeld von Jonas' Ontologie menschheitlichen Seinsollens
19.7 Reflexionen zum Verhältnis von Ethik und Metaphysik. Sein und Sollen
19.8 Zwecke
19.9 Wert
19.10 Zum Problem einer Verortung von Wert im unbelebten Sein
19.11 Das Gute
19.12 Der Mensch als Hüter des Seins. Unterbrochene Kontinuität und ontologisches Ja
19.13 Das Prinzip der Fülle
19.14 Der mögliche Dissens vom Spruch der Natur und die Nichthintergehharkeit des Spruches des Seins
19.15 Zweckkausalität ohne Bewußtsein
19.15.1 Gnoseologische Irrationalität
19.15.2 Zweckmäßigkeit und Zwecktätigkeit
19.15.3 Finalität widerstreite nicht der Physik. Die Macht der Suhjektivität
19.16 Jonas als Wertplatoniker
Kapitel 20: Der Ruf des Idealen. Demiurgische Metaphysik I: Der Mensch als Mittler zwischen den Seinsweisen (N. Hartmann)
Kapitel 21: Ontometrie
Kapitel 22: Die Avantgarde des Seins. Demiurgische Metaphysik II: Der Mensch als Mittler zwischen den Seinsmodi (U. Steinvorth)
22.1 Das Sein als Aufgegehenes
22.2 Ahgrenzung gegen Jonas
22.3 Durch Steigerung des Nichts zum Sein?
22.4 Der systematische Ort des Hervorhringungsgehots
22.5 Das Prohlem der Seinssteigerung
22.6 Entbehrlichkeit des Menschen in den Ontologien menschheitlichen Seinsollens
Kapitel 23: An der Front des Weltprozesses. Demiurgische Metaphysik III: Der Mensch als Vollender des Weltfragments (E. Bloch)
23.1 Versuchte Abwehr des kosmischen Menschheitsendes
23.2 Die Kategorie der Möglichkeit hei Bloch
Kapitel 24: Die Perpetuierung der Menschheit als Opfer
Literatur
Register

Citation preview

A

Karim Akerma

Verebben der Menschheit? Neganthropie und Anthropodizee

BAND 67 ALBER PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495997420 .

B

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495997420 .

Zu diesem Buch: Die Hervorbringung und die Existenz von Menschen sind, philoso­ phisch gesehen, keine Selbstverständlichkeiten. Wird menschliches Le­ ben weitergegeben, so werden auch in Zukunft Menschen unsäglich leiden. Aus dieser Erkenntnis ergeben sich einige Fragen: Liegt in An­ sehung bevorstehendes Leids (Neganthropie) aus philosophischer Per­ spektive ein Verebben der Menschheit nahe? Oder ist dieses Leid etwa durch Glück oder eine Bestimmung des metaphysischen Ortes von Menschen kompensierbar? Auf welche Weise rechtfertigen unter­ schiedliche Philosophen und Richtungen die Weitergabe menschlichen Lebens in Anbetracht zukünftigen Leids? Dem Autor gelingt eine Antwort, indem er die Dnverzichtbarkeit einer Fortarbeit an Metaphysik aus der Unumgänglichkeit bestimmt, auch in Zukunft eine Rechtfertigung derPerpetuierung der Menschheit zu versuchen (Anthropodizee). About this book: The engendering and the existence of human beings is not, philosophically speaking, a matter ofcourse. lf human life ispassed on, human beings will continue to suffer unspeakably in the future. Several questions arise from the recognition of this fact: does an ebbing away of humanity seem obvious from a philosophical perspective in the face of imminent suffering (neganthropy)? Or can this suffering be compensated for through happiness or the determination of the metaphysical place of humanity? ln what way do different philosophers and philoso­ phical lines of thought justify the passing on of human life in view of future suffering? The author finds an answer by linking the indispensibility of continuing work on metaphysics with the unavoidabih'ty of future attempts at a justification of the perpetuation of humanity (anthropodicy). Der Autor: Dr. phil. Karim Akerma, geb. 1965. Lehraufträge an den Universitäten Hamburg und Leipzig.

https://doi.org/10.5771/9783495997420 .

Karim Akerma Verebben der Menschheit?

https://doi.org/10.5771/9783495997420 .

Alber- Reihe Praktische Philosophie Hnter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Deiner Hastedt, Ekkehard Martens, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep und Jean-Claude Wolf herausgegeben von Günther Bien, Karl-Heinz Musser und Annemarie Pieper Band 67

https://doi.org/10.5771/9783495997420 .

Karim Äkerma

Verebben der Menschheit? Neganthropie und Änthropodizee

Verlag Karl Älber Freiburg/München

https://doi.org/10.5771/9783495997420 .

Die Deutsche Bibliothek - ClP-Finheitsaufnahme Akerma, Karim: Verebben der Menschheit? : Neganthropie und Anthropodizee / Karim Akerma. - Freiburg (Breisgau) ; München : Alber, 2000 (Alber-Reihe praktische Philosophie ; Bd. 67) ISBN 3-495-47912-0 Texterfassung: Autor Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte Vorbehalten - Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg/München 2000 Finbandgestaltung: Fberle H Kaiser, Freiburg Einband gesetzt in derRotis SemiSerifvon Otl Aicher Satzherstellung: SatzWeise, Föhren Inhalt gesetzt in der Aldus und Gill Sans Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 2000 ISBN 3-495-47912-0

https://doi.org/10.5771/9783495997420 .

Helga Gaßmann gewidmet

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Vorwort

Im Anfang der Philosophie, so ist überliefert, wundert sich Demokrit über den Glauben, die Hervorbringung neuer Menschen gehöre zu den von Natur aus und nach alter Einrichtung unumgänglichen Din­ gen. Noch immer wächst die Zahl der Menschen. Andererseits gilt, daß die Menschheit um das Jahr 2400 aussterben dürfte, wäre die derzeitige Geburtenrate Deutschlands und ähnlich reicher Länder überall auf der Erde anzutreffen. Die Frage »Sollen Menschen sein?« stellt sich bereits hier. Unter den Menschen, die hervorgebracht wer­ den, sind immer auch solche, die unsäglich leiden müssen. Es ist dies ein Umstand, den nicht allein Schopenhauer oder sogenannte »Pessi­ misten« betonen, sondern jedem Anlaß zum Philosophieren werden sollte, der auch nur - und gerade - das 20. Jahrhundert betrachtet. Bislang hat niemand zu zeigen vermocht, daß jene unausdenkbaren und dennoch praktizierten Zufügungen von Leid, in Auschwitz und allen Gegenden aller Zeiten, soweit die Überlieferung reicht, durch früheres oder späteres Glück der Leidenden oder anderer Menschen kompensiert werden könnten. Auch wo das Gute ursprünglich ange­ strebt wurde, im Versuch, eine Gesellschaft ohne Unterdrückung und überflüssige Not einzurichten, hat dies im 20. Jahrhundert doch zu einer millionenfachen Tragödie geführt, für die es weder geschicht­ liche noch natürliche Notwendigkeiten gab. Unsere bisherige Geschichte als auch das, was sie für die Zu­ kunft verheißt, verlangen nach einer Kritik der Hervorbringung und somit der Existenz von Menschen. Können nach Auschwitz und Ruanda, nach Hitler, Stalin und Pol Pot überhaupt noch Menschen hervorgebracht werden? Gibt es für die Hervorbringung von Men­ schen mehr als die zwar anerkannten, letztlich aber bloß egoistischen Gründe erhofften Elternglücks oder volkswirtschaftlicher und mili­ tärischer Räson? Wir stehen hier vor unbequemen und tabuisierten Fragen, denen die Philosophie sich gleichwohl anzunehmen hat, wenn sie auf der Höhe der Zeit stehen will: am Steilufer vor einem ^

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Vorwort

Meer des Leidens, in dem die Inseln des Wohlseins - mit ihren ver­ ebbenden Bevölkerungen - allzu selten sind. Die Frage nach dem Seinsollen von Menschen ist die Frage nach der Möglichkeit einer Anthropodizee in Ansehung von Neganthropie: Kann die Weiterga­ be der Fackel menschlichen Lebens in Anbetracht gewesenen und bevorstehenden Leids philosophisch gerechtfertigt werden? In der Unabweislichkeit dieser Frage liegt für die nicht in religiösem Glau­ ben Stehenden ein Auftrag zur Arbeit an Metaphysik, weil diese es ist, die nach der Stellung des Menschen im Ganzen fragt. Der Auf­ trag besteht auch dann, wenn die Arbeit sich als Sisyphos-Arbeit erweist. Denn ohne Fortsetzung dieser Arbeit würde die Hervorbrin­ gung von Menschen blind, ihre Existenz ruinös! Die Herren Martin Sehrt und Guido Kohlbecher haben mich wiederholt auf relevante Literatur hingewiesen. Letzterer überließ mir freundlicherweise den von ihm gefundenen Begriff »Neganthro­ pie«. Seit Abschluß der Arbeiten am Manuskript im Frühjahr 1997 wurden nur geringfügige Änderungen vorgenommen. Karim Akerma

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Karim Akerma

https://doi.org/10.5771/9783495997420 .

Inhalt

Einleitung.....................................................................................

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Anthropodizee........................................................................... Außenverankerung..................................................................... Weltverlassener und weltverlassender Mensch...................... Neganthropie.............................................................................. Verebben..................................................................................... Ein Einwand.................................................................................. Ideale Normen und Praxisnormen............................................

19 20 20 22 25 26 27

Kapitel 1: Metaphysik...............................................................

31

1.1 Der Verebbens-Gedanke als metaphysisches Reagenz und quasi-apagogischer Beweis für die Notwendigkeit von Metaphysik........................................................................... 1.2 Arbeit an der Metaphysik .................................................. 1.3 Metaphysik als Gesuchtes? ...............................................

31 32 40

Kapitel 2: Neganthropie............................................................

44

2.1 Die Ökologische Krise......................................................... 2.2 Der Holocaust. Sollten nach Auschwitz noch Menschen hervorgebracht werden?..................................................... 2.3 ABC-Waffen........................................................................

44 48 52

Kapitel 3: Die neutrale Position. Absurd Conclusion und Egoistic Fallacy...........................................................................

58

3.1 Die neutrale Position ............................................................ 3.2 Absurd Conclusion und Egoistic Fallacy............................

58 61

Verebben der Menschheit?

11 https://doi.org/10.5771/9783495997420 .

Inhalt

Kapitel 4: Das Dach des Leidens. Abendländische und asia­ tische Urentscheidung ............................................................

63

Kapitel 5: Zur Hervorbringungspflicht bei Platon................

67

5.1 Seelenwanderung und Hervorbringungspflicht................

71

Kapitel 6: Die gnostische Ontologie des Verebbens ....

74

6.1 Marcion.............................................................................. 6.2 Mani..................................................................................... 6.3 Die Katharer........................................................................

81 83 86

Kapitel 7: Zur Hervorbringungspflicht in Bibel und Patristik

90

7.1 Enthält das Alte Testament ein genuines Gebot zur Fort­ pflanzung? ........................................................................... 7.2 Die Anempfehlung von Ehe- und Kinderlosigkeit im Neuen Testament............................................................... 7.3 Das Werben für Ehe- und Kinderlosigkeit in der Patristik

12

92 93 95

Kapitel 8: Reflexionen zum Seinsollen der Menschheit in der philosophischen Theologie...............................................

102

8.1 Laktanz, A. v. Canterbury, H. v. St. Viktor, Maimonides, Th. v. Aquino ..................................................................... 8.2 Spinoza.................................................................................. 8.3 Leibniz..................................................................................

102 107 109

Kapitel 9: Kant...........................................................................

114

9.1 9.2 9.3 9.4

Die Ohnmacht des kategorischen Imperativs................... Kants formale Teleologie menschheitlichen Seinsollens. . Kants demiurgische Metaphysik......................................... Kants Geschichtsteleologie menschheitlichen Seinsollens

114 115 122 125

Kapitel 10: Der Mensch als Werkzeug des Sittengesetzes. Das Seinsollen von Menschen bei Fichte ............................

131

Kapitel 11: Schopenhauer als Verebbenstheoretiker ....

136

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Karim Akerma

https://doi.org/10.5771/9783495997420 .

Inhalt

Kapitel 12: Mainländer. Das Verebben als Gottesdienst . .

143

Kapitel 13: Feuerbach und Marx............................................

147

.........................

153

Kapitel 14: Philosophische Anthropologie 14.1 14.2 14.3 14.4 14.5

Entsicherung des Menschen als Aufgabe der philoso­ phischen Anthropologie.................................................. Der Mensch - von Natur aus ein Kulturwesen............ Natürliches und kultiviertes Ende. Die neganthropische Konvergenz aus Kosmologie und Anthropologie .... Neganthropie und anthropisches Prinzip...................... Das Problem der Abtreibung als metaphysisches Rea­ genz ..................................................................................

153 156 160 162 164

Kapitel 15: Die Menschheit als Individuum.........................

168

Kapitel 16: Mögliche Personen...............................................

179

16.1 16.2

179 191

Die Hervorbringungspflicht bei R. M. Hare................ Die Hervorbringungspflicht bei D. Parfit......................

Kapitel 17: Das Seinsollen von Menschen im Utilitarismus

194

17.1 17.2 17.3

194 199

17.4 17.5

Allgemeines..................................................................... Die verborgene Metaphysik des Utilitarismus............. Die neutrale Position im utilitaristischen Argumenta­ tionszusammenhang ..................................................... Vom Fortleben der abendländischen Urentscheidung im Utilitarismus. Die Position P. Singers............................ Negativer Utilitarismus.................................................. 17.5.1 Die Millsche Parität und Affinität zum negati­ ven Utilitarismus ............................................... 17.5.2 Eine Asymmetrie in der Ethik......................... 17.5.3 Die Entfaltung des negativen Utilitarismus im Anschluß an das Primat der Leidminimierung. Implikationen für das Seinsollen der Mensch­ heit .....................................................................

Verebben der Menschheit?

208 211 216 216 223

226

13 https://doi.org/10.5771/9783495997420 .

Inhalt

17.5.4 Die Besetzung einer bislang unbesetzten Sy­ stemstelle metaphysikloser Ethik. Aufhebung des Leidens als Totalisierung des Leidens: Die Position U. Horstmanns.................................. 17.5.5 Natale Enthaltsamkeit als Gebot des negativen Utilitarismus..................................................... 17.5.6 Weitergehende Begründung der Asymmetrie von Leid und Glück............................................ 17.5.7 Ein gerechtigkeitstheoretischer Einwand gegen die Asymmetrie von Leid und Glück................ 17.5.8 NU-Argumente für natale Enthaltsamkeit. Ist es möglich, logisch konsistent im Sinne eines negativen Utilitarismus und auf der Basis der ethischen Asymmetrie für das Verebben zu ar­ gumentieren? .....................................................

233 235 238

239

Kapitel 18: Ontologien menschheitlichen Seinsollens . . .

245

Kapitel 19: Der Mensch als Hüter des Seins (Jonas) ....

250

19.1 19.2

250

19.3 19.4 19.5 19.6 19.7 19.8 19.9 19.10 19.11 19.12 19.13

14

229

Die ontologische Kapitalfrage......................................... Zur Bilanz von Glück und Unglück. Ontologischer Op­ timismus ........................................................................ Der Vorrang des Daseins von Menschen über ihr Sosein Der Status der Religion.................................................. Tertium datur. Diesseits von Weitergabe und Zerstö­ rung allen menschlichen Lebens .................................. Einzelner und Menschheit. Logische Probleme im Vor­ feld von Jonas' Ontologie menschheitlichen Seinsollens Reflexionen zum Verhältnis von Ethik und Metaphy­ sik. Sein und Sollen ........................................................ Zwecke.............................................................................. Wert .................................................................................. Zum Problem einer Verortung von Wert im unbelebten Sein .................................................................................. Das Gute ........................................................................ Der Mensch als Hüter des Seins. Unterbrochene Kon­ tinuität und ontologisches Ja ......................................... Das Prinzip der Fülle.....................................................

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

252 254 256 258 260 262 264 267 268 272 273 276

Karim Akerma

https://doi.org/10.5771/9783495997420 .

Inhalt

19.14 Der mögliche Dissens vom Spruch der Natur und die Nichthintergehharkeit des Spruches des Seins............ 19.15 Zweckkausalität ohne Bewußtsein............................... 19.15.1 Gnoseologische Irrationalität............................ 19.15.2 Zweckmäßigkeit und Zwecktätigkeit................ 19.15.3 Finalität widerstreite nicht der Physik. Die Macht der Suhjektivität................................... 19.16 Jonas als Wertplatoniker ...............................................

279 283 285 286 288 290

Kapitel 20: Der Ruf des Idealen. Demiurgische Meta­ physik I: Der Mensch als Mittler zwischen den Seinsweisen (N. Hartmann)...........................................................................

293

Kapitel 21: Ontometrie............................................................

315

Kapitel 22: Die Avantgarde des Seins. Demiurgische Meta­ physik II: Der Mensch als Mittler zwischen den Seinsmodi (U. Steinvorth) ........................................................................

324

22.1 22.2 22.3 22.4 22.5 22.6

Das Sein als Aufgegehenes............................................ Ahgrenzung gegen Jonas............................................... Durch Steigerung des Nichts zum Sein?...................... Der systematische Ort des Hervorhringungsgehots . . Das Prohlem der Seinssteigerung ................................... Entbehrlichkeit des Menschen in den Ontologien menschheitlichen Seinsollens .........................................

348

Kapitel 23: An der Front des Weltprozesses. Demiurgische Metaphysik III: Der Mensch als Vollender des Weltfrag­ ments (E. Bloch)........................................................................

354

23.1 23.2

Versuchte Abwehr des kosmischen Menschheitsendes Die Kategorie der Möglichkeit hei Bloch......................

354 362

Kapitel 24: Die Perpetuierung der Menschheit als Opfer .

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Literatur.....................................................................................

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Register........................................................................................

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Verebben der Menschheit?

324 331 333 334 336

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Einleitung

Nach dem richtigen Handeln fragend, danach, wie wir leben sollen, hat es die Ethik wesentlich mit dem Sosein des Menschen zu tun. Über diesem Fragen blieb unterbelichtet, ob es überhaupt Menschen geben soll. Es ist dies die Frage nach dem Dasein-Sollen von Men­ schen, die fundamentalethische Frage schlechthin. In Frage gestellt sieht sich heute weniger das Dasein-Sollen der Menschheit, als ihr Dasein-Können in Anbetracht des unheilvollen Nebeneinander von Massenvernichtungswaffen, ökologischer Krise und Bevölkerungswachstum. Das Überlebenkönnen der Menschheit ist hier real bedroht. Eine ganz andere Frage ist, warum überhaupt Menschen dasein sollen. Wenn wir diese auf den ersten Blick vielleicht empörende Überlegung anstellen, so müssen wir angeben, was uns dazu quali­ fiziert. Eine erste Lizenz für diese Frage erteilt der Umstand, daß es keine Naturnotwendigkeit für das Dasein von Menschen gibt: die Weitergabe menschlichen Lebens fällt in den Bereich der Kultur. Gäbe niemand die »Fackel des Lebens«1 weiter, so stürbe die Mensch­ heit aus. Und sollten wir auf diesem Wege ein relativ leidloses Aus­ sterben der Menschheit nicht einer Fortsetzung ihres Leidensweges vorziehen? Lesen wir, was David Hume seinen Philo in »Dialogues Concerning Natural Religion« (1779) sagen läßt: »Did I show you a house or palace where there was not one apartment convenient or agreeable; where the windows, doors, fires, passages, stairs, and the whole reconomy of the building were the source of noise, confusion, fatigue, darkness, and the extremes of heat and cold; you would certainly blame the contrivance, without any farther examination. (...) If you find many inconveniences and deformities in the building, you

1 Platon, Gesetze 776 b. ^

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Einleitung

will always, without entering into any detail, condemn the architect.«2 Was hier verurteilt wird, sind der göttliche Architekt und sein Werk. Hume bringt noch an anderen Stellen der »Dialoge« zum Aus­ druck, daß der Mensch in ein gar unwohnliches Haus gesetzt worden ist. Der moderne Mensch wird nicht so sehr vom Gebäude der Schöpfung sprechen, in das er hineingestellt worden ist, sondern eher vom Weltall, in dem er, aus unbelebter Materie entstanden, sich vor­ findet. In einem übertragenen Sinne können wir vom Weltall als dem Haus des Seins reden. Die Erde ist in diesem Haus ein winziges Zim­ mer, das wir halbwegs eingerichtet vorgefunden haben. Durch unsere Wohnweise ist es nunmehr teilweise ruiniert. Prinzipiell gesehen sind wir in der Lage, das Haus des Seins auf dem Wege der Nicht­ weitergabe menschlichen Lebens zu verlassen. Die Frage die sich stellt, ist, ob wir das Haus, von dessen physischer Unbequemlichkeit Hume berichtet, aus einem anderen, nämlich metaphysischen Ge­ sichtspunkt heraus nicht verlassen sollten. Was ist Metaphysik? Viele Antworten sind auf diese Frage ge­ geben worden. Versuchen wir es einmal mit dieser: Metaphysik ist dasjenige Unternehmen, durch das der Mensch seine eigene Perpetuierung zu rechtfertigen sucht. Eine Bestätigung für diesen Versuch findet sich bei Ortega y Gasset, demzufolge der Mensch sich sein Leben auch metaphysisch verdienen muß3. Dabei scheint es einen Zusammenhang zwischen Metaphysik und Ethik zu geben, der selbst ein ethischer ist. Es wäre unmoralisch, wenn wir versuchen wollten, Metaphysik aus dem Bereich der Ethik zu verbannen. Unmoralisch deshalb, weil Metaphysik unabdingbar ist für eine Anthropodizee, die selbst unabdingbar geworden ist. So gesehen gibt es nicht nur eine Lizenz für die Frage nach dem Seinsollen der Menschheit, son­ dern es liegt überdies eine moralische Dringlichkeit für das Aufwer­ fen dieser Frage vor.

2 Hume, Dialogues Concerning Natural Religion, Part XI, S. 204f. 3 In der Abhandlung »Betrachtungen über die Technik«, siehe »Signale unserer Zeit«, S. 469. 18

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Karim Akerma

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Einleitung

Anthropodizee Unter »Theodizee« versteht man die Rechtfertigung des Schöpfers in Ansehung der Übel in der Welt. Movens von Theodizeen sind Fragen wie »Hätte ein allmächtiger Gott die Welt nicht anders einrichten können?« oder »Wie konnte Gott dieses Unglück zulassen?« Das auf den Menschen lastende Dach des Leidens (siehe Kapitel 4) ist immer schon Gegenstand philosophischer und religiöser Meditation gewesen. In Ansehung menschlichen Leids scheint es zunächst sinn­ voll, in idealtytpischer Hinsicht von einer asiatischen und einer west­ lichen Urentscheidung auszugehen. Eine vorläufige Bestimmung lautete dann: Asien will dem Dach des Leidens weichen, der Westen ihm standhalten. Der Osten empfiehlt natale Enthaltsamkeit, der Westen ist pronatal. Näherer Betrachtung hält diese pauschale Be­ stimmung indes nicht stand. Platon (siehe Kapitel 5) als, wie es oft heißt, einer der Lehrer des Abendlandes ist ambivalent in der Frage einer Pflicht zur Nachkommenschaft. Die im Westen über lange Zeit wirksame Gnosis bestreitet die Möglichkeit einer Theodizee und empfiehlt natale Enthaltsamkeit (siehe Kapitel 6). Jonas', Hartmanns, Steinvorths und Blochs Beiträ­ ge zum Seinsollen der Menschheit (siehe Kapitel 19-23) können als Versuche angesehen werden, der fortwirkenden gnostischen Ver­ suchung, dem Dach des Leidens zu weichen, philosophisch etwas ent­ gegenzustellen. Interessanterweise enthält nicht einmal das Schrifttum der im Kampf gegen die Gnosis sich konstituierenden westlichen Kirche ein nachdrückliches Gebot zur Weitergabe menschlichen Lebens. Selbst von Neuem und Altem Testament läßt sich dies nicht behaupten (sie­ he Kapitel 7). Die Religionskritik, insbesondere diejenige Feuerbachs (siehe Kapitel 13), hat den schwerlich abzuweisenden Verdacht ausgespro­ chen, der Mensch habe sich, ohne dies zu durchschauen, mit seinen wesentlichen Attributen in die Gottheit ausgelegt, um in ihr das an­ zutreffen, was sein Bestes ist. Denken wir diesen anthropologischen Begriff des Monotheismus weiter, so ist auch das Anliegen der Theo­ dizee anthropologisch zu formulieren. Unter einer solchen Anthro­ podizee sei verstanden: Die Rechtfertigung der Perpetuierung der Menschheit auf dem Hintergrund gewesenen und vorauszusehenden menschlichen Leids und menschheitlicher Unerheblichkeit (Neganthropie) einerseits und der - idealethischen - Möglichkeit einer ^

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19

Einleitung

Aufhebung der Menschheit auf dem Wege nataler Enthaltsamkeit andererseits. Der Bedarf an einer Anthropodizee leuchtet vielleicht am ehesten ein, wenn wir über die folgende Bemerkung J. Bennetts nachdenken: »By willing the continuation of Homo sapiens one is inevitably willing profound misery for many people who would es­ cape it if the species were allowed to die out.«4

Außenverankerung Mit dem sogenannten Tode Gottes findet sich der Mensch in seinem Dasein und in seinem Sosein auf sich gestellt. Insbesondere kann er seinem Dasein nicht mehr ohne weiteres ein Seinsollen entnehmen, wo er sich modern als entstanden, nicht aber als geschaffen begreift. Dem Umstand, daß es schwerfällt, den Menschen als ein Wesen an­ zusehen, das um eines anderen willen dasein soll - handle es sich um Gott, einen Plan der Natur oder das Sein - können wir die Bezeich­ nung »Verlust der Außenverankerung« geben. Der moderne Mensch ist weltverlassen. Positiv ausgedrückt, gibt der Tod Gottes die Freiheit zum Nichtsein zurück. Für eine Anthropodizee scheint es notwendig, den Versuch zur Reetablierung einer Außenverankerung zu unternehmen. Unter­ schiedliche Außenverankerungen sind in der Tradition philosophi­ scher Theologie (siehe Kapitel 8) seit Platon, in der idealistischen Philosophie (Kapitel 9 und 10), innerhalb des Utilitarismus (Kapitel 17) und im Rahmen ontologischer Entwürfe bis in die unmittelbare Gegenwart hinein versucht worden. Metaphysik ist die philosophi­ sche Disziplin, der die Reetablierung einer Außenverankerung als Aufgabe zufällt. Wenn wir dem beistimmen, daß eine Anthropodizee wünschenswert ist, dann werden wir auch die Forderung nach einer Fortsetzung entsprechender Arbeit an der Metaphysik begrüßen.

Weltverlassener und weltverlassender Mensch Ein Signum der Moderne ist die Einsicht, daß der Mensch nicht ohne Welt denkbar ist, die Welt hingegen auch ohne den Menschen sich denken läßt. Karl Löwith sagt: »Wir kommen zur Welt und wir schei­ 4 Bennett, On Maximizing Happiness, S. 70. 20

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den aus ihr; sie gehört nicht uns, sondern wir gehören zu ihr. Diese Welt ist nicht nur eine kosmologische »Idee« (Kant) oder ein bloßer »Total-Horizont« (Husserl) oder ein Welt-»Entwurf« (Heidegger), sondern sie selbst, absolut selbständig: id quod substat. Entwerfen lassen sich nur verschiedene Weltbilder, aber nicht die Welt selbst.«5 Dieser Absolutismus der Welt soll zum Ausdruck kommen, wenn wir vom weltverlassenen Menschen sprechen. Der Mensch ist als welt­ verlassen zu bestimmen, wo nicht angegeben werden kann, warum eine menschverlassene Welt ein Übel darstellen würde. Aber der Mensch findet sich nicht nur als ein weltverlassenes Wesen, sondern es liegt hier ein Ergänzungsverhältnis aus weltver­ lassenem und weltverlassendem Wesen vor. Moderne Technik und moderne Ethik konvergieren dahin, daß sie den Menschen einer vor­ mals unhinterfragbar gegebenen Verankerung in der Welt berauben. Sie konvergieren aber auch darin, daß sie die Fragen, ob und warum der Mensch in der Welt sein soll, wohl zum ersten Mal nicht nur spielerisch, sondern mit dringendem Ernst aufwerfen. Moderne Technik und Ethik berauben den Menschen nicht nur, sie wollen ihn auch beschenken und bereichern, indem sie ihn nämlich von Vor­ gaben befreien. Ihr Gemeinsames liegt darin, daß sie den Zugang zur Wahrheit im Machen und im Gemachtsein erblicken. Ein Gutteil des Glaubensbekenntnisses moderner Technik läßt sich einfangen im Ausdruck verum et factum convertuntur; das Wahre wäre also das Gemachte. Für die moderne Ethik läßt sich ein Pendant zum verumfactum Prinzip finden: Das moralisch Richtige oder Gute sei nicht etwas Vorgefundenes, an dem wir uns zu orientieren haben, sondern wir bestimmen konsensuell, was das Gute ist, machen es. Apel spricht vom Vorliegen eines »westlichen Komplementaritätsprinzips«. Seine Komponenten seien der öffentlich gültige Bereich wertfreier Wissen­ schaft einerseits und der Existentialismus der privaten Sphäre sub­ jektiver Gewissensentscheidungen andererseits.6 Meines Erachtens gehört nun aber Apels Konsenstheorie des moralisch Richtigen selbst zu der eben festgestellten Komplementarität des Machens in Wissen­ schaft und Ethik. Er beansprucht, das Konsensprinzip sei weder fallibel noch revidierbar. Über diesen Versuch ethischer Letztbegründung hat Steinvorth treffend bemerkt: »Es ist die Rettungsinsel, die die

5 Löwith, Mensch und Menschenwelt, Sämtliche Schriften Bd. 1, S. 295. 6 Vgl. Apel, Diskurs und Verantwortung, S. 26 f. u.ö. ^

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Menschen sich seihst schaffen, weil sie nichts vorfinden, was Halt höte.«7 Moderne Technik herauht den Menschen eines locus consistendi (Ankerplatzes) inshesondere durch die Möglichkeitsspielräume der heiden Kerntechniken: Atom- und Gentechnik. Die Atomtechnik hedroht die Menschheit in ihrem Dasein, die Gentechnik in ihrem So­ sein. Moderne Ethik giht ein außenverankertes Seinsollen des Men­ schen hinsichtlich ihres Daseins und Soseins preis. Damit aher steht sie dem neganthropischen Sog der Gegenwart machtlos gegenüher.

Neganthropie Der Begriff der Neganthropie ist in Anlehnung an negative Entropie, kurz: Negentropie gehildet, der seinerseits hestimmte Phänomene hezeichnet, die auf den ersten Blick dem Zweiten Hauptsatz der Ther­ modynamik zu widersprechen scheinen, in einem geschlossenen Sy­ stem könne die Entropie immer nur zunehmen, niemals aher ahneh­ men, wenn nicht von außen Energie zugeführt wird. Ohne in einen Streit üher das richtige Verständnis von Entropie eintreten zu wollen, kann als ein allgemein anerkannter Inhalt von Entropie wohl festgehalten werden: Die Zunahme der Entropie eines Systems hedeutet die Einehnung der energetischen Differenzen die­ ses Systems. Der Kosmos als das größte denkhare System hätte also größtmögliche Entropie erreicht, wenn keine freie Energie mehr vor­ handen wäre. Dieser Zustand wird populär mit dem Ausdruck Wär­ metod erfaßt. In einem scheinharen Widerspruch zum Gesetz üher die Unahänderlichkeit der Zunahme von Entropie geschlossener Systeme ste­ hen inshesondere Phänomene des Lehens wie Assimilation, Wachs­ tum und Morphogenese. Lehewesen lassen sich als physikalische Systeme hegreifen, denen es auf dem Wege des Stoffwechsels gelun­ gen ist, sich für die Dauer dessen, was wir ihr Lehen nennen, dem Strehen nach einem Zustand energetischen Gleichgewichts zu ent­ ziehen. Ganz im Gegenteil erfahren Lehewesen in ihrer Ontogenese insgesamt einen Gewinn an Komplexität und sind in der Lage, aus weniger Komplexem hochkomplexe Körperhestandteile aufzuhauen. Wenn ein Organismus ein physikalisch-chemisches System dar­ 7 Steinvorth (1990), S. 86. 22

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stellt, in dem in jedem Augenblick unvorstellbar viele Prozesse ab­ laufen, wenn zudem vorauszusetzen ist, daß jeder physikalische oder chemische Prozeß die Entropie desjenigen Systems erhöht, dessen Teil er ist, dann müßte es sich bei Organismen um Systeme handeln, die unaufhaltsam über die Zunahme an Entropie dem Tode entgegen­ streben. Organismen vermögen den Tod jedoch aufzuhalten, indem sie stoffwechselnd ihrer Umwelt negative Entropie entnehmen und positive Entropie an sie abgeben. Organismische Ordnungsgefüge erhalten sich stoffwechselnd durch Entnahme von Ordnung - im Sinne negativer Entropie - aus der Umwelt.8 Der Begriff Neganthropie bildet mit Anthropie ebenso ein Be­ griffspaar wie Entropie und Negentropie dies tun. Das Verhältnis der Bestandteile in den Begriffspaaren ist jedoch ein unterschiedliches. Negentropie bezeichnet gegenüber Entropie etwas Positives, den Umstand nämlich, daß sich - fern vom Gleichgewicht und dennoch ganz und gar innerhalb der natürlichen Ordnung - etwas ereignen kann, was wir Leben nennen: Inseln wachsender Organisation im umgreifenden Meer vergeßlicher Desorganisation; demgegenüber bezeichnet Neganthropie gegenüber Anthropie etwas Negatives: das Herausragen oder Heraustreten des Menschen aus einem bergenden Kosmos, aus der Geschöpflichkeit oder Sinnzusammenhängen, sinn­ los empfundenes Leid. Ein hohes Maß an Anthropie liegt immer dann vor, wenn der Mensch sich als seinsollend begreifen kann. Mit der Entgötterung, Entgöttlichung (Entkreationierung), Entseelung und Entteleologisierung der Welt gewannen neganthropische Beschreibungen der Welt das Übergewicht, jene Tendenzen, die den Menschen schließlich als Zufallsprodukt einsam in die unermeßlichen und für den Menschen nicht mehr maß-gebenden Weiten eines unbelebten Universums stellen. Es muß dabei gesagt werden, daß es nicht nur philosophische Gegentendenzen gegen die wachsende Neganthropie gibt, sondern auch solche von seiten der Naturwissenschaft. Zu nennen sind ins­ besondere drei Gebiete: das anthropische Prinzip als Versuch einer Reanthropisierung des Weltalls, Theorien über die Zwangsläufigkeit der Lebensentstehung und Versuche, radioastronomisch intelligente Botschaften aus dem All zu empfangen. Eine nichtmetaphysische Begründung des Seinsollens von Men­ 8 Vgl. Schrödinger, Was ist Leben, S. 123 ff. Schrödinger macht darauf aufmerksam, der Begriff negative Entropie sei nicht seine, sondern Boltzmanns Prägung, vgl. ebd., S. 130. ^

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sehen scheint auf den ersten Blick greifbar zu werden, wenn wir den Gesichtskreis einer monistischen Anthropologie erweitern und uns den ethischen Implikationen der Vermutung anderer Vernunftwesen im Weltall zuwenden. Aus den Überlegungen heraus, daß andere In­ telligenzen vielleicht wollen, daß es andere Vernunftwesen gibt, daß Kommunikation mit extraterrestrischer Intelligenz eine höhere Form von Gegenseitigkeit etablieren würde, erwächst die Frage, ob sich nicht auf diese Weise eine ethische Obligation für die Perpetuierung der Menschheit begründen ließe. Aber wie das Leben einer Per­ son sinnlos ist, wenn sie den alleinigen Sinn ihres Lebens darin er­ kennt, ihr Leben weiterzugeben, statt es zu leben, so muß auch die Perpetuierung der Menschheit sinnlos bleiben, wenn eine allgemeine Nichtweitergabe des Lebens nur deshalb abgelehnt wird, weil wir unser Dasein fernen Welten eventuell kommunikativ mitzuteilen vermöchten. Läßt man überdies den Speziesismus nicht gelten, so etablieren biologische Unterschiede zwischen uns und etwaigen Au­ ßerirdischen keine Differenz von ethischer Relevanz (ausgenommen den Fall, es handelte sich um Wesen, die nicht empfindungsfähig sind). Als moralische Personen sind wir und die anderen somit ein einziges Wir. Recht besehen lautet die Frage also nicht: Warum soll die Menschheit auf der Erde perpetuiert werden, sondern: Warum sollen moralische Personen dasein? An anderer Stelle habe ich diese Zusammenhänge ausführlicher erörtert.9 Wir können versuchen, jeweils zwischen symbolischer und rea­ ler Anthropie bzw. Neganthropie zu unterscheiden. So kann ein kaum zu überbietendes Maß an symbolischer Neganthropie sich in einem Weltbild gleichsam angehäuft haben, ohne daß dem reale Neganthropie zu entsprechen bräuchte; ein Höchstmaß an symboli­ scher Neganthropie liegt etwa vor in Zeiten der Naherwartung göttlicher Strafgerichte, wie im Hochmittelalter, oder in den Spe­ kulationen spätmittelalterlicher Scholastiker über die göttliche All­ macht. Die Moderne zeichnet sich gegenüber der gesamten Ver­ gangenheit dadurch aus, daß sie die mythische oder religiöse symbolische Neganthropie zwar einerseits aufgelöst hat, gleichzeitig aber den absoluten Betrag der symbolischen in reale Neganthropie umgesetzt hat. Früheren Zeiten war eine absolute - die Menschheit

9 Siehe Akerma, Das moralische Gesetz des bestirnten Himmels. Kommunikation mit extraterrestrischer Intelligenz (ETI) als Topos praktischer Philosophie. 24

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insgesamt bedrohende - und von Menschen ausgehende reale Neganthropie unbekannt. Die reale Neganthropie der Gegenwart präsentiert sich in der Umweltzerstörung, in den Exzessen massenhafter Vernichtung von Menschen durch Menschen und schließlich in den Overkill-Kapazitäten moderner Massenvernichtungswaffen (siehe Kapitel 2) Der kaum noch zu überbietende Grad an realer Neganthropie wird be­ gleitet und leider auch indirekt bekräftigt und vielleicht sogar gefördert - zumindest was die moralischen Kräfte zur Abwehr der ökologischen Krise anbelangt - durch parallele symbolische Entwick­ lungen in den Natur- und Geisteswissenschaften. Die Naturwissen­ schaft stellt die Bedingungen menschheitlichen Seinkönnens in Raum und Zeit als unwahrscheinlich, zufällig und unerheblich dar. Innerhalb der Geisteswissenschaften ist es ausgerechnet die Philo­ sophie, die sich analog zum naturwissenschaftlichen Befund mehr und mehr von der Aufgabe zurückzieht und kaum noch aufgefordert sieht, durch Arbeit an der Metaphysik gegen die Neganthropie ein Seinsollen der Menschheit zu behaupten. Meinen wir ernsthaft, daß eine jegliche gegen die Neganthropie zu unternehmende Anthropodizee, daß alle Arbeit an der Metaphy­ sik obsolet ist, weil wir unwiderruflich in eine nachmetaphysische Denkform eingetreten sind? Dann aber müssen wir uns die Frage gefallen lassen, ob die Welt nicht schrecklich genug ist, daß wir ein Verebben der Menschheit auf dem Wege nataler Enthaltsamkeit für das Beste halten sollten.

Verebben Hans Jonas bezeichnet die Frage, ob und warum es eine Menschheit geben soll, als »die metaphysische Frage, mit der die Ethik nie zuvor konfrontiert war.« Er sagt weiter: »Die Frage ist nicht so müßig, wie sie (mangels eines ernsthaften Verneiners ...) erscheint ...«10 Wenn ich das Seinsollen der Menschheit hinterfrage, so nicht allein des­ halb, um den advocatus diaboli zu spielen, welcher nur um der Sache willen die Sprache seiner Gegner spricht, ohne doch zur Gegenseite zu gehören. Zwar kann das Seinsollen der Menschheit nicht apodik­ tisch verneint werden - dies tun zu können würde voraussetzen, daß 10 Jonas, Technik, Medizin und Ethik, S. 48. ^

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die Arbeit an der Metaphysik zu einem Abschluß gekommen ist aber immerhin kann dieses Seinsollen ernsthaft in Frage gestellt wer­ den. Anlaß für diese Infragestellung ist, daß die Perpetuierung der Menschheit und damit menschlichen Leids gleichsam ruinös ist, wenn keine Philosophie in der Lage ist, sie als das Bessere gegenüber dem Verebben der Menschheit, ihrem leidlosen Verschwinden auf dem Wege nataler Enthaltsamkeit11, auszuweisen. Gerade der Ab­ bruch der metaphysischen Tradition, wie er beispielsweise für W. Schulz feststeht, machte es notwendig, nicht mehr primär die Realisierung der hohen Werte, sondern die Abwehr basaler Unwerte zum Maßstab dessen zu setzen, was zu erwirken der Ethik obliegt.12

Ein Einwand Der wohl populärste Einwand gegen die Nichtweitergabe des Lebens lautet, ohne eigene Nachkommen bliebe das eigene Leben sinnlos. Aber, um den obigen Gedankengang wieder aufzunehmen, dieser Einwand ist nicht stichhaltig. Wenn ein Mensch sein Leben als sinn­ los empfindet, wo er es nicht weitergibt, warum sollte er dann Nach­ kommen hervorbringen, deren Leben im Falle von Nachkommenlosigkeit wiederum sinnlos wäre? Liegt der Sinn menschlicher Existenz allein in der folgenden Generation, dann wird das Sinnproblem nur verschoben, ein Sinn für die jetzige Existenz hingegen gar nicht ge­ wonnen. Viktor Frankl sagt in diesem Sinne über die Fortpflanzung: »Etwas an sich Sinnloses zu perpetuieren ist aber selber sinnlos. Denn ein an sich Sinnloses wird nicht bloß schon dadurch sinnvoll, 11 Ich übernehme diesen Ausdruck einem Brief V. Hösles. 12 Vgl. Walter Schulz, Ethik in der veränderten Welt, S. 739 ff. Um zu demonstrieren, daß der Verebbens-Gedanke auch in einem über Philosophie im engeren Sinn hinaus­ gehenden Bereich eine Rolle spielt, seien zwei Schriftsteller erwähnt, Ingeborg Bach­ mann und Thomas Bernhard, die in ihren Erzählungen »Das dreißigste Jahr« und »Ge­ hen« ein Verebben der Menschheit in Erwägung ziehen (Bachmann) bzw. sich strikt gegen die Weitergabe menschlichen Lebens aussprechen (Bernhard). Bachmann schreibt: »Denn wenn diese Welt zuende geht - und alle sagen's, die Gläubigen und die Abergläubischen, die Wissenschaftler und die Propheten, einmal wird sie zuende gehen - warum dann nicht vor dem Ausrotieren oder vor dem Knall oder vor dem Jüngsten Gericht? Warum dann nicht aus Einsicht undZorn?Warum sollte sich dieses Geschlecht nicht sittlich verhalten können und ein Ende setzen? Das Ende der Heiligen, der un­ fruchtbar Fruchtbaren, der wahrhaft Liebenden. Dagegen wäre zufällig nichts zu sagen.« Das dreißigste Jahr, S. 32 f. 26

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daß es verewigt wird. So kommen wir zu der Paradoxie, daß ein Le­ ben, dessen einziger Sinn in seiner Fortpflanzung bestünde, eo ipso ebenso an sich sinnlos würde, wie seine Fortpflanzung.«13 Wäre gewiß, daß das Leben eines Menschen allein durch die Hervorbringung von Nachkommen sinnvoll sein oder werden kann, so wäre die Sinnlosigkeit dieses Lebens gewiß. Es wäre dann auch ganz unverantwortlich, die Kette der Sinnlosigkeit zu verlängern. Vermeintlicher Sinn würde erkauft um den Preis der Sinnlosigkeit. Dies wird insbesondere dann anschaulich, wenn wir sagen, der Sinn eines Frauenlebens liegt einzig in der Mutterschaft. Damit erklärten wir das Leben der Mutter gewordenen Frauen für sinnlos.14

Ideale Normen und Praxisnormen In welcher Modalität eigentlich kann hier vom Verebben gesprochen werden? Ganz offenkundig taugte es nicht ohne weiteres zu einer ernstgemeinten Empfehlung, da diese am Faktum akzelerierten Be­ völkerungswachstums vorbeiginge. Wie also können wir uns Gedan­ ken machen über das Gebotensein oder Nichtgebotensein der Wei­ tergabe menschlichen Lebens, wenn die Wirklichkeit so aussieht, daß menschliches Leben in einem - paradoxerweise - geradezu mensch­ heitsbedrohenden Ausmaß weitergegeben wird?15 Die Nische für das Philosophieren liegt zunächst darin, daß die Nichtrealisierbarkeit einer Norm noch kein Argument gegen ihr philosophisches Gewicht begründet. Das Philosophieren darf kontra­ faktisch ausgreifen, da die normative Geltung ethischer Maßstäbe nicht mit der empirischen Einschätzung ihrer Realisierbarkeit gleich­ gesetzt werden darf.16 13 Frankl, S. 234. 14 Siehe ebd. 15 Freilich zeigt unsere Welt zum gegenwärtigen Zeitpunkt zugleich eine Tendenz, die, wenn sie auf alle Länder der Erde ausgreifen würde, zum Verebben der Menschheit führte. Gemeint ist der Umstand, daß in manchen reichen Nationen die Sterberate nicht durch die Geburtenrate ausgeglichen wird. So würde es im Jahr 2400 keine Menschen mehr geben, sollte sich die jetzige Fruchtbarkeitsrate Deutschlands über die ganze Welt ausbreiten (siehe Leslie, The End of the World, S. 74, ein Buch, welches eine lange Reihe kosmologischer Untergangszenarios erörtert; siehe meine Rezension, Akerma (2000)). Wer eine Welt mit Wohlstand für Alle wünscht, und wer täte dies nicht, muß sich auch mit dem Verebben und Seinsollen der Menschheit auseinandersetzen! 16 Siehe hierzu auch Apel, Diskurs und Verantwortung, S. 38. ^

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Neben dem Umstand der Nichtrealisierbarkeit ist es vor allem das Vorliegen überwiegend gegenläufiger Intuitionen, die ein Phi­ losophieren über das Verebben der Menschheit abwegig erscheinen lassen. In der Weise eines heuristischen Prinzips soll die Intuition menschheitlichen Seinsollens im folgenden als die abendländische Urentscheidung angesprochen werden. Wir müssen uns also kurz mit dem Status von Intuitionen beschäftigen, wozu R. M. Hare er­ hellende und naheliegende Überlegungen angestellt hat. Hare unter­ scheidet im moralischen Denken zwei Ebenen und macht geltend, daß Intuitionen, auf die sich viele Moralphilosophen als letzten Ent­ scheidungsgrund berufen, oftmals nur das Ergebnis der Erziehung dieser Philosophen sein werden. Die Intuitionen auf einer sogenann­ ten Ebene 1 des moralischen Denkens seien zufällig erworben. Auf Ebene 1 des moralischen Denkens komme zumal zum Ausdruck, wel­ ches unsere Intuitionen sind. Das eigentliche Geschäft der Ethik be­ stehe hingegen darin, zu fragen, wie unsere Intuitionen sein sollten. Die kritische Aufgabe, überlieferte Intuitionen zu hinterfragen, ob­ liege Ebene 2 des moralischen Denkens.17 Hinter unseren mora­ lischen Intuitionen, so signalisiert Hare also, stehe durchaus keine geheimnisvolle Fähigkeit zur Einsicht in überindividuelle Zusam­ menhänge des moralisch Richtigen, sondern »wir haben verschiede­ ne Intuitionen, je nachdem wie wir uns zu verhalten gelernt ha­ ben.«18 In dem Maße, in dem wir nun davon ausgehen, daß Ethik nicht in erster Linie dazu da ist, überlieferte Intuitionen zu systematisie­ ren, werden wir uns dem kritischen moralischen Denken zuwenden, welches sich eben dadurch auszeichnet, daß es nicht an inhaltliche moralische Intuitionen appelliert. Hare geht so weit zu sagen: »Ein Philosoph, der wünscht, daß seine Arbeit von Dauer sei, wird sich mit dem intuitiven Sand, auf dem die meisten Moralphilosophen bauen, nicht zufrieden geben.«19 Hält man sich an diese Bemerkungen Hares zur genetischen Struktur moralischer Intuitionen, so wird auch die Intuition menschheitlichen Seinsollens als eine Überlieferung lesbar, deren Wurzeln freilich nicht allein in Tradition und Erziehung liegen, sondern die sich auch aus purer Vitalität speist. Die Unterscheidung zweier Ebenen moralischen Denkens legiti­ 17 Siehe z.B. Hare, Moralisches Denken, S. 86 ff. 18 Hare, Die Sprache der Moral, S. 91. 19 Hare, Moralisches Denken, S. 87. 28

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miert unsere Problematisierung menschheitlichen Seinsollens in fol­ gender Weise. Zum einen kann eine Überlieferung sich jederzeit als unbegründet bzw. veränderten Umständen unangemessen erwei­ sen - Prinzipien, denen bislang »die Kraft eines objektiven mora­ lischen Gesetzes«20 zukam, können sich jederzeit als begründungs­ bedürftig erweisen. Zum anderen aber findet die Absetzung einer kritisch-reflexiven Ebene moralischen Denkens gegen die intuitive Ebene eine strukturelle Entsprechung im Bereich der Normen. Ge­ gen Praxisnormen können ideale Normen abgesetzt werden. Ideale Normen sind moralische Prinzipien, die für ideale Akteure gelten. Letztere sind in ihrem Handeln und Denken nicht den emotionalen, kognitiven oder motivationalen Einschränkungen unterworfen, de­ nen nicht-ideale Akteure unterliegen.21 Denken wir das Verebben der Menschheit als eine idealethische Norm, so ist damit der Ort angegeben, an dem es am ehesten Zu­ stimmung erfahren und als diskussionswürdig erscheinen könnte. Im Sinne der Unterscheidung von idealen und Praxisnormen ist es durchaus möglich, daß jemand, der das Verebben als Praxisnorm (et­ wa auf dem Wege der ein-Kind-Gesellschaft) nicht akzeptieren würde bzw. nicht willens ist, auf eigene Nachkommen zu verzichten, dieser Vorgabe in Gestalt einer idealen Norm zustimmt. Am realisti­ schen Beispiel des Autofahrens sei dies veranschaulicht: Ob der Toten und Verletzten im Straßenverkehr kann eine Person den Verzicht aufs Auto zu einer idealen Norm erheben. Dem widerstreitet es nicht, wenn sie zeitweilig doch einen Wagen benutzt. Sie könnte ihre emotionalen und motivationalen Einschränkungen ins Spiel bringen und sagen, es sei ihr schlecht möglich, auf den mit einem entspre­ chenden Fahrzeug verbundenen Status zu verzichten, ohne imglei­ chen die eigene Lebensweise in Frage zu stellen und so die Erwar­ tungshaltungen nahestehender Personen zu enttäuschen. Freilich müßte die Person, wenn sie es mit der Idealnorm einer autolosen Gesellschaft ernst meint, sich Gedanken machen hinsichtlich einer Übersetzung der idealen in Praxisnormen, also in lebbare, lehrbare und handhabbare soziale Regeln.22 Weltweit steigende Zulassungs­ zahlen für Privatfahrzeuge machen die Idealnorm nicht obsolet. Wird schon die Forderung nach einem Verzicht auf weitgehen­ 20 Ebd., S. 102. 21 Für Näheres zu dieser Unterscheidung siehe Birnbacher 1988, S. 16 ff. 22 Siehe auch Birnbacher 1995, S. 129. ^

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den Verzicht auf den privaten Autoverkehr idealethisch gesehen nicht ohne Zustimmung Weihen, so gilt dies in noch höherem Maße für die vegetarische Ernährung. Wenn wir unseren Mitmenschen die moralischen Vorzüge fleischloser Ernährung auseinandersetzen, so werden wir selten auf starken Widerstand stoßen. Zu diesen Vorzü­ gen gehört einerseits, daß in Anhetracht hegrenzter Anhauflächen hei üherwiegend pflanzlicher Ernährung die Versorgung der Welthevölkerung mit Protein prinzipiell zu gewährleisten wäre; ein wei­ terer moralischer Vorzug vegetarischer Ernährungsweise liegt in der Vermeidung tierischen Leids. Von den meisten Fleischessern wird nun zugestanden, daß es idealethisch gesehen das Beste wäre, auf Fleischkonsum zu verzichten. Was dem entgegensteht, sind soziale, motivationale und egoistische Motive. Auf einer intellektuellen Ehene wird dem Fleischverzicht zugestimmt, aher die Kluft zwischen intellektueller Überzeugung und neuen Eßgewohnheiten ist hreit.23 Wir können nun eine Analogie herstellen: Die Perpetuierung des Autofahrens, diese Lehre dürfen wir aus der hisherigen Geschich­ te des Autoverkehrs mit Millionen von Toten ziehen, hedarf in Anhetracht der - ja auch von vielen Autofahrern geteilten - idealethi­ schen Möglichkeit der Privatautolosigkeit einer rechtfertigenden soziologischen - Theorie (Ähnliches gilt für den Fleischkonsum). Ehenso hedarf die Perpetuierung der Menschheit mit unausweich­ lichem Leid in Ansehung der idealethischen Möglichkeit des Verehhens einer - philosophischen - Begründung: Metaphysik.

23 Hierzu: Peter Singer, Animal Liheration, Chapter 4: Becoming a Vegetarian. 30

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Kapitel 1

Metaphysik

1.1 Der Verebbens-Gedanke als metaphysisches Reagenz und quasi-apagogischer Beweis für die Notwendigkeit von Metaphysik Der Verebbens-Gedanke soll als ein Reagenz gehandhabt werden, bei dessen Eingabe in das Denken der Gegenwart ein verborgener meta­ physischer Hintergrund des Menschseins gleichsam ausgefällt wer­ den müßte. In der Chemie ist ein Reagenz ein Stoff, der solche che­ mische Reaktionen bewirkt (Fällungen oder Farbumschläge), an denen man das Vorhandensein gesuchter Elemente oder Verbindun­ gen erkennen kann. »Verebben der Menschheit« ist ein Gedanke, der in einer wesentlich metaphysikfeindlichen Gegenwart geistige Reak­ tionen bewirken soll, an denen metaphysische Restbestände sichtbar werden. Um einen apagogischen oder indirekten Beweis handelt es sich dann, wenn aus der Negation einer zu beweisenden These ein Wider­ spruch zu Sätzen abgeleitet wird, die als Theoreme - in unserem Zusammenhang: Intuitionen - akzeptiert sind. Meine These lautet: Es wäre unmoralisch, auf die Arbeit an der Metaphysik zu verzich­ ten. Aus der Negation dieser These läßt sich ein Widerspruch zu einer Intuition herleiten, die als ethisches Axiom gilt: Die Mensch­ heit soll fortbestehen. Die Negation der Notwendigkeit von Meta­ physik, so meine ich, legt, idealethisch gesehen, eine Aufhebung der Menschheit nahe. Weil es sich um bloßes Nahelegen, nicht jedoch um logisches Folgern handelt, kann nur von einem quasi-apagogischen Beweis die Rede sein, nicht hingegen von einem richtiggehenden Beweis. Nach dem Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten ist der Satz »Wir bedürfen der Metaphysik« genau dann wahr, wenn sein kon­ tradiktorisches Gegenteil falsch ist. Die Wahrheit der Notwendigkeit von Metaphysik suche ich zu begründen durch eine kontraintuitive ^

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Kapitel 1: Metaphysik

Konsequenz, die sich aus der Verneinung der Notwendigkeit von Metaphysik ergibt. Die philosophische Wahrheit der Sätze »Wir bedürfen der Me­ taphysik«, »Die Arbeit an der Metaphysik sollte fortgesetzt werden«, kann indirekt begründet werden durch eine Herausarbeitung der Fol­ gen einer Verneinung dieser Sätze. Wenn wir also für eine Fortset­ zung der Arbeit an der Metaphysik plädieren, so versteht es sich, daß die Zustimmung zu diesem Plädoyer nicht erzwungen, sondern nur nahegelegt werden kann. Imgleichen wird nahegelegt, daß eine Ablehnung von Meta­ physik einhergehen muß mit menschheitlicher Indifferenz. Unter menschheitlicher Indifferenz sei eine Position verstanden, derzufolge es ethisch gesehen gleichgültig wäre, wenn die Menschheit sich auf physisch unspektakuläre Weise, das heißt: leidlos, aufhöbe.

1.2 Arbeit an der Metaphysik Als philosophische Konsequenz des Satzes von der Entbehrlichkeit von Metaphysik - aus der Verneinung einer Notwendigkeit von Me­ taphysik - ergibt sich ein für die meisten inakzeptables Resultat. Wollen wir dieses Resultat umgehen, so scheint es, müssen wir an der Forderung nach Metaphysik festhalten. In seinem Buch »Contingency, irony, and solidarity« schreibt R. Rorty ein erklärter Gegner von Metaphysik: »I am simply trying to disentangle the public question >Is absence of metaphysics politically dangerous?< from the private question >Is ironism compatible with a sense of human soli­ darity?««1 Gegen Rorty ist zu sagen, daß das Fehlen von Metaphysik tatsächlich auch politisch - das Gemeinwesen betreffend - gefährlich ist; denn ohne Metaphysik werden wir schwerlich der Frage ernsthaft nachgehen können, warum menschliche Gemeinwesen dasein sollen und warum wir gegen ihre selbstdestruktiven Tendenzen etwas un­ ternehmen sollen. Es gilt jetzt, ein wenig deutlicher werden zu lassen, was unter der quasi-apagogisch erwiesenen Notwendigkeit von Metaphysik zu verstehen ist. Wer von der Notwendigkeit von Metaphysik redet diese Bemerkung liegt nahe - der scheint wissen zu müssen, welche Metaphysik ihm vorschwebt, wofern man nicht sogar fordert, die als 1 Rorty, S. 87. 32

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Arbeit an der Metaphysik

notwendig behauptete Metaphysik möge präsentiert werden. Doch geht diese Forderung zu weit. Denn die Notwendigkeit von Meta­ physik garantiert ja nicht ihre Möglichkeit. Wer den VerebbensGedanken ablehnt, muß nicht mit einer fertigen Metaphysik auf­ warten können. Es genügt das Zugeständnis, daß die Arbeit an der Metaphysik fortzusetzen bzw. wieder aufzunehmen ist. Die an­ spruchsvolle Forderung nach Metaphysik im Falle der Ablehnung des Verebbens-Gedankens ist also dahingehend zu präzisieren, daß die Arbeit an Metaphysik fortzusetzen ist. Wobei nicht vorauszuse­ hen ist, ob diese Arbeit zu einem - zufriedenstellenden - Resultat führen kann. Arbeit an der Metaphysik ist philosophisch gesehen als ein Versuch vonnöten, die Perpetuierung der Menschheit in An­ betracht künftigen Leids rechtfertigen zu können. Ich komme kurz auf drei unterschiedliche Typen von Meta­ physikkritik zu sprechen, um zu demonstrieren, daß keiner von ihnen die Notwendigkeit einer Arbeit an der Metaphysik hinfällig macht: a. Kant; b. Popper; c. Topitsch. a. Zu Beginn der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts mochte es um metaphysisches Denken so schlecht bestellt gewesen sein, daß ihre Auferstehung ins Auge zu fassen war. Peter Wust veröffentlichte 1920 »Die Auferstehung der Metaphysik«, worin er die Ansicht ver­ trat, die Kultur der Gegenwart trage in der Weise ein Kantisches Gesicht, wie Aristoteles dem ganzen Mittelalter den Stempel seines Geistes aufgeprägt hatte. Wust spricht geradewegs von einer Kant­ scholastik. Überall in der Entwicklung des 19. Jahrhunderts stoße man »auf die Wesensart seines Geistes, auf die ängstliche Scheu vor dem Eindringen in die tiefere Natur des Seins.«2 Wusts Rede von einem Kantischen Gesicht in der philosophi­ schen Gegenwartskultur kann auch heute noch Gültigkeit beanspru­ chen. Insofern nämlich, als das Nachdenken über die Notwendigkeit oder Möglichkeit von Metaphysik und ihre Ausarbeitung sich aller­ orten vom Bewußtsein der Notwendigkeit der Kritik begleitet sieht. Aber das von Kant herkommende Wissen um den unaufhebbaren Zusammenhang zwischen Metaphysik und Kritik schließt doch nicht aus, daß ohne ängstliche Scheu in die tiefere Natur des Seins einge­ drungen wird. Der Zusammenhang zwischen Metaphysik und Kritik wurde von Kant deshalb als ein enger behauptet, weil er aus der Geschichte 2 Wust, Die Auferstehung der Metaphysik, S. 19.

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Kapitel 1: Metaphysik

der vorangegangenen Metaphysik folgende Lehre ziehen zu können meinte: Metaphysik ist oft nur ein Glaube, der sich für Wissen ausgiht. Kants Metaphysikkritik gilt »einer ganz isolierten spekulativen Vernunfterkenntnis, die sich gänzlich über Erfahrungsbelehrung er­ hebt, und zwar durch bloße Begriffe ..., wo also Vernunft selbst ihr eigener Schüler sein soll ...«3 Damit ist wiederum klar, daß Kants Absage nicht der Metaphysik überhaupt gilt, sondern denjenigen Ge­ stalten von Metaphysik, die ihre Richtigkeit nicht zu rechtfertigen vermögen. Indem Kant die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori darlegen zu können glaubt, glaubt er, die Gewißheit der Metaphysik als Wissenschaft rechtfertigen zu können. Metaphysik als Wissenschaft unterscheidet sich für Kant da­ durch von einer Metaphysik, die insgeheim bloß ein nicht zu recht­ fertigender Glaube ist, daß sie über aufweisbare Prinzipien verfügt, die eine Rechtfertigung der Geltung ihrer Urteile ermöglichen. Me­ taphysiken, die dieser Prinzipien entbehren, so Kant, weisen den schweren Nachteil auf, als sich teilweise widersprechende Systeme nebeneinander zu bestehen, ohne daß eine Integration zu echter Ein­ heit möglich wäre. Um dieses Nebeneinanderbestehen sich wider­ sprechender Metaphysiken auszuschließen, fordert Kant den Durch­ gang einer jeden künftigen Metaphysik durch Kritik. Ihm ergibt sich die Notwendigkeit zur Kritik schließlich in der Weise einer, wie wir sagen können, »Kritik als Vorsichtsmaßnahme gegen enttäuschende Hoffnungen«, insofern man nämlich der Metaphysik »anfänglich mehr zumutete, als billigerweise verlangt werden kann, und sich eine zeitlang mit angenehmen Erwartungen ergötzte«, wobei sie »zuletzt in allgemeine Verachtung gefallen ist, da man sich in seiner Hoff­ nung betrogen fand.«4 Wer sich heute mit Metaphysik beschäftigt, weiß um den unaufhebbaren Zusammenhang von Metaphysik und Kritik. Die Arbeit an Metaphysik, so könnte man dieses Wissen auch ausdrücken, erweist sich als von Skepsis begleitet. Das meinte ich, wenn ich oben sagte, wegen des Bedarfs an einer Anthropodizee sei zwar ein Bedarf an metaphysischer Arbeit gegeben, doch gebe es im­ gleichen keine Garantien für ihr Gelingen. b. Poppers Bestreben ist es, empirische Erkenntnis gegen Meta­ physik abzugrenzen. Mein Anliegen ist es, an Poppers Abgrenzung gegen Metaphysik deutlich zu machen, daß hiermit in erster Linie 3 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XIV. 4 KdrV B 877. 34

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Arbeit an der Metaphysik

keine Abwertung von Metaphysik gemeint war, sondern bloß eine Abgrenzung im Rahmen einer Logik der Forschung, um die er bemüht ist. Popper selbst nennt es »ein Märchen, daß ich je die Falsifizierbarkeit als ein Sinnkriterium propagiert hätte ...«5 Meta­ physische Aussagen sind zwar nicht falsifizierbar; deswegen sind sie indes nach Popper noch lange nicht sinnlos. Und nicht nur das. Es läßt sich, so Popper, »nicht leugnen, daß rein metaphysische Ideen - und daher philosophische Ideen - von größter Bedeutung für die ge­ schichtliche Entwicklung der Kosmologie gewesen sind.«6 Popper kritisiert den Positivismus rundheraus, wo dieser zu beweisen sucht, daß Metaphysik sinnloses Gerede sei. Da auch Naturgesetze logisch nicht auf elementare Erfahrungssätze zurückführbar seien, vernichte der positivistische Radikalismus mit der Metaphysik auch die Naturwissenschaft.7 Die wichtigste Aufgabe der Erkenntnislogik sei es aber nicht, Metaphysik zu zerstören, sondern einen Begriff der empiri­ schen Wissenschaft anzugeben, der »eine klare Abgrenzung gegen­ über diesen historisch-genetisch manchmal so förderlichen metaphy­ sischen Bestandteilen gestattet.«8 Bis hierhin, so sehen wir, räumt Popper metaphysischem Den­ ken nur insoweit Rechte ein, als es den Wissenschaften historisch vorausgeht. Dies scheint jedoch zu implizieren, daß in Poppers Ver­ ständnis eine gegen die wissenschaftliche Erkenntnis selbständige Metaphysik keinen Platz hat.9 Wir können jedoch leicht zeigen, daß Popper der Metaphysik nicht bloß ein historisches Recht einräumt, sondern im Sinne gewisser Vorausannahmen selbst metaphysisch denkt. Führt er sein Interesse an Wissenschaft und Philosophie doch darauf zurück, »daß ich etwas über das Rätsel der Welt, in der wir leben, lernen möchte, und auch über das Rätsel des menschlichen Wissens von dieser Welt.«10 Das Interesse an der Welt im Ganzen ist bereits ein metaphysisches Interesse. Ihm eignet eine Selbständig­ keit, die nicht restlos in wissenschaftliche Erkenntnis und ihren Fort­ schritt integriert werden kann. Aber auch »unterhalb« dieses Inter­ esses an der Welt im Ganzen ist Popper metaphysisch bereits 5 Popper, Logik der Forschung, S. 15 Anm. 3. 6 A.a.O.,XIX. 7 Vgl. a.a.O., S. 10f. 8 A.a.O., S. 13. 9 Siehe diesbezüglich auch die Kritik von Knud Logstrup, Schöpfung und Vernichtung, S. 176f. 10 Popper, Logik der Forschung, XXII. ^

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imprägniert. Als von größter Relevanz für wissenschaftliche Er­ kenntnis ist mit Popper »der metaphysische Glaube an das Bestehen von Gesetzmäßigkeiten in unserer Welt«11 zu erwähnen. Was sich hier anmeldet, ist mehr als ein bloßes metaphysisches Restproblem, als das es sich für Popper darstellt: »... es bleibt nur die eine - offen­ kundig nicht durch falsifizierbare Theorien beantwortbare, oder »me­ taphysische: - Frage übrig: Woher es kommt, daß wir mit der Auf­ stellung von Theorien oft Glück haben - daß es »Gesetzmäßigkeiten gibtVertrautheitIch denke an Auschwitz< muß alle meine Vorstellungen begleiten können.«10 Wenn das »Ich denke an Ausch­ witz« schon das Festhalten an der Vorstellung »Ich schreibe ein Gedicht« verunmöglichen soll, wie steht es dann erst um die Vorstel­ lung, das eigene Leben weiterzugeben? Offenbar ist diese Vorstel­ lung nicht zu realisieren, wenn sie vom »Ich denke an Auschwitz« begleitet wird, so wie auch die Beantwortung der »Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse ...« nicht ohne weiteres mit Ja zu beantworten sei. An dieser Stelle muß die Frage aufgeworfen wer­ den, ob es nicht die von Jaspers und Jonas erwähnten Emigranten gewesen sind, die mit ihrer Forderung, nach diesem Zivilisations­ bruch sollten keine Kinder mehr in die Welt gesetzt werden, dem Tatbestand der Endlösung gerecht geworden sind.11 Wie für Adorno stellt Auschwitz auch für Robert Nozick eine geschichtliche Zäsur dar, deren Opfer Anspruch auf eine philosophi­ sche Reflexion des Widerfahrenen haben. Er schreibt: »The Holo­ 8 Vgl. hierzu Dan Diner, Perspektivenwahl und Geschichtserfahrung. Bedarf es einer besonderen Historik des Nationalsozialismus? S. 94f. 9 Vgl. a.a.O., S. 113. 10 So Detlev Claussen, Nach Auschwitz. Ein Essay über die Aktualität Adornos, S. 57. 11 Adorno, a. a. O., S. 353. Siehe Jonas (1984), S. 88; Jaspers (1958), S. 491. Zum Seinsol­ len von Menschen bei Jaspers siehe Akerma: The End and the Permanence of Mankind in Karl Jaspers's Philosophy. ^

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caust is something we have to respond to in some significant way. Yet it is not clear what responses would serve.« Eine zunächst angemes­ sene Antwort hat Nozick gefunden, wenn er befindet: »Humanity has lost its claim to continue«.12 Er geht dann jedoch so weit zu sagen, nach Auschwitz wäre es keine besondere Tragödie mehr, würde die Menschheit in einem Atomkrieg vernichtet. Womit er zwar nicht sagen möchte, die Menschheit verdiente dieses Ende, sondern allein, die Menschheit verdiene es nicht länger, nicht zerstört zu werden.13 Während dem Befund, die Menschheit habe ihren Anspruch auf Fortexistenz verloren, zuzustimmen ist, ist es doch absolut unmora­ lisch zu sagen, die Vernichtung aller Menschen in einem Atomkrieg stellte nach Auschwitz keine besondere Tragödie mehr dar. Nozick übersieht das mit dem Einsatz von Kernwaffen unweigerlich einher­ gehende Leid. Die Deutschen, so Nozick, »have ruined the reputation of the human family.« Extraterrestrischen Intelligenzen, die die menschliche Geschichte verfolgt hätten, würde es nicht wie ein Miß­ griff vorkommen, wenn diese Geschichte zu einem Ende käme. »If a being from that other galaxy were to read our history, with all it contains, and that story were to end then in destruction, wouldn't that bring the narrative to a satisfying close, like a chord resolving.«14 Problematisch an Nozicks Auffassung, die Deutschen hätten ge­ genüber extraterrestrischen Geistwesen den Ruf der Menschheit rui­ niert, ist die Schwierigkeit, unsere Spezies gegen extraterrestrische Intelligenz abzugrenzen. Wenn wir die Bewohner anderer Welten mit Nozick so konzipieren, daß durch den Holocaust das Ansehen der Menschheit ruiniert werden konnte, dann muß es sich bei ihnen um moralische Wesen handeln. Dann aber unterscheiden wir uns im moralisch relevanten Sinne nicht von ihnen, sondern wahrscheinlich nur morphologisch und physiologisch. Aus dem ruinierten Ansehen der Menschheit ergab sich für No­ zick die Konzequenz, von einem Seinsollen der Menschheit könne fortan nicht mehr die Rede sein. Er faßt dies so, daß wir es nicht länger verdienten, nicht zerstört zu werden. Ist es aber so, daß wir uns in keinem wesentlichen Sinne von außerirdischer Intelligenz un­ terscheiden (was Nozick voraussetzt, wenn die Wesen so beschaffen sein sollen, daß wir ihnen gegenüber unser Ansehen verlieren konn­ 12 Nozick, The Examined Life, S. 237 und 238. 13 Vgl. a.a.O., S. 238f. 14 A. a. O., S. 238 und 239. 50

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Der Holocaust

ten), dann greift die Feststellung zu kurz, die Deutschen »have ruined the reputation of the human family.« Stattdessen müßten wir sagen, der Ruf der Familie moralischer Wesen sei ruiniert worden. (Zumin­ dest müßten wir dies sagen, solange wir nicht annehmen wollen, daß die raumzeitliche Distanz zwischen uns und Extraterrestriern einen signifikanten Unterschied zu etablieren vermag). Eine weitere Besin­ nung zeigt nun aber, daß es nicht ohne weiteres möglich ist, zu sagen, das Ansehen der moralischen Wesen sei ruiniert worden; umfaßt diese Gruppe doch bereits alle diejenigen - endlichen - Wesen, denen gegenüber moralisches Ansehen ruiniert werden kann. Die Familie der moralischen Wesen hat kein Gegenüber mehr, mit Bezug auf welches das moralisches Ansehen zerstört werden könnte. In ethisch entscheidender Hinsicht sind die von Nozick ange­ sprochenen Wesen wie wir - moralische Wesen. Wären sie in einem ethisch relevanten Sinne ganz anders, so könnten wir gar nicht erst in Erwägung ziehen, ob wir ihnen gegenüber unser Ansehen verloren haben, hätten sie unsere Taten verfolgt. Durch die Tat der Deutschen, so Nozick, ist dem Ansehen nicht nur dieser Nation, sondern der menschlichen Spezies insgesamt ge­ schadet worden. Ländergrenzen oder Nationalitätszugehörigkeiten werden als ethisch nicht relevant eingestuft. Eine Nation steht für die ganze Menschheit. Wenn dem so ist, und man muß dem zustim­ men, dann müssen wir weitergehend fragen, ob denn die Spezies­ zugehörigkeit moralischer Wesen in diesem Zusammenhang ethisch relevant sein kann. Man muß diese Frage verneinen. Folglich resul­ tiert, daß, wenn eine Nation für die ganze Menschheit steht, die Menschheit für alle moralischen Wesen steht. Das Gegenüber, mit Bezug auf welches das Ansehen aller moralischen Wesen dahin sein könnte, wäre ein göttliche Wesen, von dem hier jedoch abgesehen werden soll. Nozicks Forderung, der Holocaust sei etwas, worauf wir in einer angemessenen Weise zu antworten haben, scheint eine phi­ losophische Reaktion zu erheischen, die über seinen eigenen Befund noch hinausgeht, die Tat habe dem Ansehen der menschlichen Fami­ lie in kosmischem Ausmaß geschadet. Da moralische Wesen die höchsten endlichen Wesen sind, die wir denken können, und ihnen gegenüber kein endliches moralisches Gegenüber von moralisch re­ levanter Andersheit konzipiert werden kann, fällt Nozicks Forderung auf uns zurück, verstanden jetzt als die Gesamtheit aller moralischen Wesen. Stimmen wir Nozick also darin bei, der Holocaust habe das An­ ^

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sehen der Menschheit zerstört, so werden wir in eine ethische Logik hineingeführt, die den Schluß nahelegt, daß dieses Verbrechen unvermittelhar ist. Das hier manifeste Maß an Neganthropie ist derart, daß es über die menschliche Spezies hinaus alle moralischen Wesen erfaßt, ohne daß es ein Draußen gäbe. Ein ethisches Schwarzes Loch ist entstanden. Die idealethische Forderung nach dem Verebben der Menschheit (sowie vergleichbarer Wesen) erscheint dann als eine an­ gemessene philosophische Reaktion auf diesen Kollaps, dessen Gra­ vitationskraft allein eine Fortarbeit an der Metaphysik etwas ent­ gegenzustellen vermöchte.

2.3 ABC-Waffen Gegenüber der Frage, ob es in Zukunft Menschen geben wird und den mit der Überlebenssicherung verbundenen Aufgaben mag die Frage, warum es in Zukunft Menschen geben soll, nachgeordnet scheinen. Und doch scheint es, daß wir, die Arbeit an der Metaphysik fortsetzend, die Frage nach dem Seinsollen der Menschheit gerade dann zu stellen haben, wenn wir die Kraft gewinnen wollen, die vonnöten ist, um aus tiefer Überzeugung gegen eine Vernichtung der Menschheit zu argumentieren. Im Zuge der Erfindung und massenhaften Herstellung atoma­ rer, biologischer und chemischer Kampfmittel ist in der Akkumulati­ on realer Neganthropie ein in einem bestimmten Sinne nicht mehr hintergehbares und unüberschreitbares Maß erreicht. Nichthintergehbar ist dieses Maß, da die Menschheit zumindest unter den Be­ dingungen der Moderne das Herstellungswissen behalten wird. Unüberschreitbar ist das Vernichtungspotential, da es sich auf die gesamte Menschheit erstreckt.15 Niemals in der bisherigen Geschichte scheint es vorgekommen 15 Ausführliche Reflexionen hierzu bei G. Anders, Die atomare Drohung. Es ist nicht ausgeschlossen, daß nach einer globalen Katastrophe, nach dem Einsatz einer begrenz­ ten Zahl an Massenvernichtungswaffen, Menschen überleben werden. Ungewiß ist hin­ gegen, in welche Richtung sie sich entwickeln würden. Während Jürgen Dahl im Falle einer Katastrophe auf wenige Überlebende setzt, »die sich dann von neuem auf den Weg machen. Vielleicht: auf einen wirklich neuen, anderen Weg« (Der unbegreifliche Garten und seine Verwüstung, S. 93), entzieht es sich nach Jonas aller Spekulation, wie ein Menschheitsrest auf verödeter Erde neu beginnen mag (vgl. Das Prinzip Verantwor­ tung, S. 252f.). 52

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ABC-Waffen

zu sein, daß Menschen mit den psychologischen und philosophisch­ begrifflichen Konzequenzen eines tatsächlich versuchten Genozids einerseits und prinzipiell möglichen Omnizids andererseits leben mußten. Hier sind die Grundlagen des Menschseins verändert. Das Wissen um die Möglichkeit eines Omnizids, so mutmaßte deshalb Daim im Jahr 1959, könnte mit einer »Umschichtung der Grund­ befindlichkeit jedes einzelnen einhergehen, deren Folgen sich ge­ schichtlich auswirken werden.«16 Das neganthropische Maß aus ökologischer Krise, Genozid und Massenvernichtungswaffen ist derart, daß die Raumzeit des Huma­ nen, wie bei einem Schwarzen Loch der Fall, in sich zurückgekrümmt wird. In seinem Buch »Hegelian Reflections on the Idea of Nuclear War« bringt H. Krombach17 dies zum Ausdruck mit den Worten: »Though we have learned to expand ourselves in space, we have also begun to withdraw from its time.« So wie die Materiekonzentration eines Schwarzen Lochs derart ist, daß seine Gravitationskräfte nichts mehr nach draußen lassen, bis es möglicherweise in einem totalen Kollaps aus der in seiner Umgebung stark »gekrümmten« Raumzeit heraustritt, so erzeugen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die drei neganthropischen Hauptereignisse eine Krümmung des Hu­ manen, die es fraglich macht, ob menschliches Leben noch weiter­ zugeben ist. Mit der Atombombe ist das ganze Ausmaß symbolischer Neganthropie christlich-apokalyptischer Vorstellungen auf die Ebene des Realen geholt worden. Man kann hier zwischen einer triumphieren­ den und einer katastrophischen Apokalypse unterscheiden. Erstere hat Gott, letztere Menschen zum Täter. Die entscheidende Differenz ist, daß Gottes Apokalypse einen wundervollen Zustand zuwege bringt.18 Mit Blick auf die Massenvernichtungswaffen ist die Fort­ existenz der Menschheit zu einer Art invertierter creatio continua geworden. Die Menschheit erhält sich im Dasein durch die Nicht­ anwendung bereitstehender Vernichtungskapazitäten. Sartre hat die­ sen Zustand in folgende Worte gefaßt: »Für die gesamte Menschheit gilt: wenn sie fortfährt zu leben, wird es nicht einfach deshalb gesche­ 16 Daim, Totaler Untergang?, S. 100. Für eine teilweise Bestätigung dieser Einschätzung siehe den Sammelband »Mental Health. Implications of Life in the Nuclear Age, hrsg. von Milton Schwebel. 17 Krombach, Hegelian Reflections on Nuclear War. 18 Siehe Richard H. Popkin, The Triumphant and the Catastrophic Apocalypse. ^

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hen, weil sie geboren ist, sondern weil sie den Entschluß gefaßt hat, ihr Leben zu verlängern. Es gibt nicht mehr die menschliche Gattung. Die Gemeinschaft, die sich zur Hüterin der Atombombe gemacht hat, steht oberhalb des Reiches der Natur, denn sie trägt die Verantwor­ tung für ihr Leben und ihren Tod. Es wird in Zukunft nötig sein, daß sie jeden Tag und jede Minute zum Leben ihre Zustimmung gibt.«19 Freilich ist es eine Grunderkenntnis philosophischer Anthropologie, daß die Menschheit immer schon oberhalb des Reiches der Natur steht, auch wenn sie sich geschichtlich aus diesem Reich herausarbei­ ten und -reflektieren mußte, mit Marx zu sprechen, die Nabelschnur des natürlichen Gattungszusammenhangs zu durchtrennen war, ehe dieses Herausstehen aus dem natürlichen Daseinszusammenhang deutlich faßbar werden konnte. Wenn Sartre sagt, der Mensch stehe oberhalb des Reiches der Natur, so gilt dies nur für den mesokosmischen Bereich. Mit der Atombombe ist die Möglichkeit eines nichtnatürlichen Endes der Gattung Mensch gegeben. Ein Ende qua Kultur, wenn auch ein un­ kultiviertes Ende, ist möglich geworden. In makrokosmischer Per­ spektive jedoch wäre es falsch, mit Sartre zu sagen, der Mensch stehe oberhalb des Reiches der Natur. Hier steht ein Gattungsende auf dem Wege eines durch den Menschen unbeeinflußbaren kosmischen Ge­ schehens bevor (allein Bloch traute es im 20. Jahrhundert dem Men­ schen zu, einst verändernd in das kosmische Grundgeschehen und die Naturgesetzlichkeit eingreifen zu können, vgl. Kapitel 23). Auf dem Wege der Kultur hat der Mensch sich gegen die Natur distanziert. Auch das Ende der Menschheit ist in den Bereich der Kultur gerückt. Zugleich jedoch bleibt dieses kulturell mögliche Ende von der Gewißheit eines kosmischen Endes überformt. Die Möglich­ keit eines unkultivierten Menschheitsendes geht nun mit dem Wis­ sen bezüglich eines kosmischen Endes eine unheilvolle Koalition ein. Die Kulturmöglichkeit konvergiert mit heutigem kosmischen Wis­ sen in einer die Neganthropie steigernden Weise. Dieser Zusammen­ hang ist jetzt näher zu erläutern, woraus erhellen soll, warum die Frage, ob es in Zukunft Menschen geben wird, auf die metaphysische Frage verweist, warum es Menschen geben soll. Um darzulegen, inwiefern der neganthropische Gehalt der Atombombe eine Aufforderung zur Arbeit an der Metaphysik mit 19 Sartre, Les temps modernes Nr. 1, zit. bei Georg Picht: Mut zur Utopie, in: Apel et al. (Hg.): Praktische Philosophie/Ethik 1, S. 454. 54

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sich führt, möchte ich jetzt Günther Anders' Empfehlung einer »me­ taphysischen Askese«20 erörtern. Warum ist seine Empfehlung nicht - oder jedenfalls nicht mehr - akzeptabel? Im Sommer 1958 hatte Anders in Tokio an der »Fourth World Conference against A and H Bombs« teilgenommen. Als er seinen »Moralkodex im Atomzeit­ alter« erläutert, sieht er sich der Frage ausgesetzt, in welchem Absolutum er die Gültigkeit der Atomgebote verankern, wie er seine Postulate für ein Seinsollen der Menschheit begründen wolle. Anders antwortete: »>Gar nicht« Umgekehrt müssen wir das Problem der >Sanktionierung< (also die Frage, welcher Quelle die Gebote ihre Ver­ bindlichkeit verdanken, wo sie >verankert< sind) willentlich als tabu draußen lassen ... Denn wo Ertrinkende auf Rettung warten, ist es nicht erlaubt, auf der Brücke stehen zu bleiben. um die philosophi­ sche oder theologische Frage zu diskutieren, auf Grund wovon wir dem Leben der zu Errettenden Wert beizumessen haben.«21 Für die Dauer eines Kongresses mag Anders' Forderung berechtigt sein. Sie wird falsch, wenn die Anempfehlung metaphysischer Askese weiter­ gehender gemeint war. Bleiben wir bei Anders' Bild von den Ertrinkenden. Gerade das, was wir oben als Einzug des Menschen in die Natur erörtert haben, läßt sich unter diesem Bild weitergehend beleuchten. Der Mensch drohte gerade dann, wenn er nicht Arbeit an der Metaphysik dagegen setzte, in der Natur zu »ertrinken« - in der Weise nämlich, daß er nicht mehr aus ihr herausragt, sondern gänzlich in sie eingetaucht ist. Zwar sagte Sartre, die Weltgemeinschaft stehe im Besitz der Atombombe oberhalb der Natur; aber dies tut sie hier in einem neganthropischen Sinne. Die von Anders empfohlene metaphysische Askese würde den Menschen in dem Sinne in die Natur eingetaucht und ertrinken lassen, daß er nicht anzugeben wüßte, warum es einen Unterschied bedeutete, wenn es Vernunftwesen nicht mehr gibt. Wenn der Mensch wie alle anderen Naturdinge auch nur begrenztes Dasein im Kosmos haben kann, warum sollte dieses Dasein dann so­ lange als möglich erhalten werden? Mag es im Augenblick der Er­ rettung eines im Wasser Ertrinkenden tatsächlich metaphysischer Askese bedürfen, so bedarf es zur Errettung des Seinsollens einer zunehmend in die Natur eingetauchten Menschheit der Arbeit an der Metaphysik. Paradoxerweise ist es eine Form des Herausstehens 20 Anders, Der Mann auf der Brücke, S. 56. 21 A.a.O., S. 20f. ^

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Kapitel 2: Neganthropie

des Menschen aus dem natürlichen Gattungszusammenhang, der unser Dasein in eine creatio continua verwandelnde Besitz der Atom­ bombe, der den Einzug des Menschen in die Natur nur noch deut­ licher macht. Im Besitz der Atombombe steht die Menschheit in einem mehr als anthropologischen Sinne - der Mensch ist das We­ sen, das zu nataler Enthaltsamkeit fähig ist - über dem natürlichen Gattungszusammenhang. Diese Konstellation begünstigt die weiter­ gehende Herausreflektion des Menschen aus dem Seinsollen, wie et­ was weiter unten gezeigt wird. Metaphysische Askese würde das mit der Existenz der Kernwaf­ fen einhergehende Maß an Neganthropie affirmieren. In Anbetracht der Möglichkeit eines Omnizids scheint die Anempfehlung meta­ physischer Enthaltsamkeit eher geeignet, menschliches Seinsollen zu schwächen als zu stärken. Greifbar wird dies anhand der Gedan­ kengänge von James W. Child. In seinem Buch »Nuclear War. The Moral Dimension« argumentiert er damit für die Zulässigkeit eines Einsatzes von Kernwaffen, daß wir ja auch ohne die Bombe Leid er­ fahren und sterben müssen. Seine Frage lautet, warum wir auf die­ sem Hintergrund gerade einen Atomkrieg in einzigartiger Weise als etwas Schreckliches empfinden. Als Grund hierfür nennt Child, solch ein Krieg würde mit uns auch die uns umgebende Welt zerstören. »It erodes a sense of permanence we feel beyond ouselves in our lives and our everyday surroundings. Yet, we all know permanence to be an illusion. For time and the universe will soon enough tear down every aspect of our all too transitory world. The bomb threatens to do in a more shocking, compacted way what will happen to us and our familiar world anyway, given enough time.«22 In den Ausführungen Childs kommt das Problem einer Metaphysiklosigkeit in Anbetracht eines möglichen Omnizids voll zum Tragen: Die Menschheit, so Child, wird ohnedies verschwinden. Child spricht zum Beleg dessen die kosmologische Neganthropie an. Die Bombe drohe nur in einer punktuelleren Weise zu vollbringen, was im Zuge der Evolution des Universums später geschehen werde. »It dramatizes this aspect of the human condition, but does not profoundly change it.«23 Daraus, daß sowohl Leid und Tod als auch ein Menschheitsende, aufs Große gesehen, zur conditio humana gehö­ ren, zieht Child den Schluß, daß auch das Vorhandensein und der 22 J. W. Child, Nuclear War. The Moral Dimension, S. 173f. 23 A.a.O., S. 174. 56

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mögliche Einsatz von Kernwaffen diese umgreifende Bedingung menschlicher Geschichte nicht ändern würden. Es ist ganz offensicht­ lich, daß durch diese Fusion aus kosmologischer und waffentech­ nischer Neganthropie die Arbeit an der Metaphysik herausgefordert wird. Diese Herausforderung besteht auch dann, wenn wir sehen, daß das Ergebnis von Childs Reflexionen zur moralischen Dimension des Atomkriegs aus einem anderen Grund unakzeptabel ist: Aus dem Vorhandensein von Leid in der Vergangenheit und der Unabdingbar­ keit individuellen Sterbenmüssens und des Menschheitsendes kann nicht auf die Normalität eines Atomkriegs geschlossen werden. Denn im Zuge eines Atomkriegs würden Menschen in einem Ausmaß lei­ den, wie sie es sonst wahrscheinlich nicht tun würden. Nicht aus­ zuschließen wäre, daß alle Menschen sterben würden. Dies als ein besonderes Übel herauszustellen, ist Sache der Metaphysik. Denkbar und gedacht worden ist schließlich noch die Möglichkeit einer leidlo­ sen und gleichwohl apokalyptischen Vernichtung aller Menschen. Dieser Gedanke ist geradezu als ein metaphysisches Reagenz zu be­ zeichnen, und ich komme später ausführlicher auf ihn zu sprechen (siehe Kapitel 17.5.3 f.).

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Kapitel 3

Die neutrale Position. Absurd Conclusion und Egoistic Fallacy

3.1 Die neutrale Position Wenn es zutrifft, daß Ethik nicht in erster Linie dazu da ist, unsere moralischen Intuitionen zu rekonstruieren und zu stützen, sondern eher dazu, nach der Richtigkeit überlieferter Intuitionen zu fragen, und wenn Metaphysiklosigkeit, Hinterfragung des Überlieferten und Konsensualität Signa moderner Ethik sind, dann muß auch die altüberlieferte Intuition menschheitlichen Seinsollens hinterfragt werden. Was die Perpetuierung der Menschheit anbelangt, so wäre das, was wir die neutrale Position nennen wollen, die dem Geist der Mo­ derne und einer metaphysiklosen Ethik angemessene Einstellung. Die neutrale Position kommt in einer Indifferenz gegenüber der Per­ petuierung der Menschheit zum Ausdruck - vorausgesetzt freilich, das Ende der Menschheit wird nicht gewalttätig durchgesetzt. Völlig zurecht sagt J. Bennett, wir sollten diese Haltung, auch wenn sie un­ gewöhnlich oder gar unnatürlich sein mag, nicht abstoßend finden.1 Die neutrale Position ist von J. Feinberg und G. Patzig vertreten worden. Über einen freiwilligen Verzicht auf Nachkommen bemerkt Feinberg, daß er »gegen niemandes Rechte verstieße.«2 Patzig schreibt: »So wie es keine moralische Pflicht geben kann, die mit rationalen Gründen gestützt wird, eine bedrohte Tierart um ihrer selbst willen zu erhalten, so wenig kann es eine rational begründete moralische Pflicht für die Menschheit geben, ihre eigene Fortexistenz zu sichern.« Im Hinblick auf einen möglichen Konsens, die Weiter­ gabe menschlichen Lebens einzustellen, bemerkt Patzig, er »sähe kei­ nen moralischen Grund, einen solchen Beschluß zu mißbilligen.«3 1 Vgl. Bennett, S. 66. 2 Feinberg, S. 173. 3 Patzig 1983, S. 341. 58

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Die neutrale Position

Die neutrale Position hat die Lektion der Moderne verinnerlicht, wonach Pflichten immer nur Personen gegenüber bestehen können, nicht aber gegenüber subpersonalen Instanzen wie dem Sein, hyper­ personalen Instanzen wie kosmischer Ordnung oder pseudopersona­ len Instanzen wie potentiellen Personen oder »die Menschheit«. Mo­ dern gesehen gibt es kein Gegenüber einer Pflicht, von dem aus an uns das Gebot ergehen könnte, Individuen hervorzubringen und so die Menschheit zu perpetuieren. Modern gesehen ist es nicht nur so, daß sich keine Hervorbringungspflicht begründen läßt, sondern es ließe sich sogar zeigen, daß es ohne eine Außenverankerung im Sin­ ne klassischer Ethik eher geboten ist, keine Menschen hervorzubrin­ gen: Wenn wir niemanden hervorbringen, dann ist eben keiner da, dem wir die Existenz oder Glück oder sonst etwas vorenthalten hät­ ten. Werden hingegen Menschen hervorgebracht, so werden unter ihnen auch welche sein, die unerträglich leiden; und es hätte in unse­ rer Hand gelegen, dieses Maß an Leid zu verhindern. Jetzt können wir nicht sagen, alles Leid werde doch durch das Glück kompensiert, weil das Leid im Falle der Hervorbringung ein reales Malum dar­ stellt, das nicht realisierte Glück im Falle der Nichthervorbringung (unsere Elternwünsche einmal beiseite gesetzt) aber kein Malum dar­ stellt. Das Leid würde von einer hervorgebrachten Person durchlitten werden, wohingegen nichtvorhandenes Glück im Falle der Nichthervorbringung aber nicht als ein vorenthaltenes Glück betrachtet wer­ den kann. Wir können dies das ontoethische Schwererwiegen des Leids nennen. Die ontoethische Überlegenheit des Leids über das Glück bedeu­ tet ferner: Es gibt Gründe, »jemanden« in Ansehung künftiger Leid­ erfahrungen nicht hervorzubringen - es gibt keine Gründe, jeman­ den in Ansehung seiner hervorzubringen. Wir können dies auch mit einem treffenden Argument Trudy Goviers zum Ausdruck bringen: »There is a reason to reverse a decision to have a child if that child would likely be miserable, and there is no comparable reason to re­ verse a decision not to have a child if that child would be happy. Hence, asymmetry.«4 Hier ist die Frage aufzuwerfen, ob wir Goviers Argument, welches sich nur auf ein bestimmtes Kind bezieht, nicht erweitern müssen zu: Es gibt einen Grund, die Entscheidung, Men­ schen hervorzubringen, zu revidieren, wenn anzunehmen ist, daß

4 Govier, S. 410. ^

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Kapitel 3: Die neutrale Position

unter allen Menschen, die überhaupt hervorgehracht werden, zahl­ reiche sind, die, sei es als Kinder sei es als Erwachsene, in unzumut­ barer Weise leiden werden. Wobei niemand darunter leidet, nicht als Glücklicher zur Welt gekommen zu sein; ebensowenig wie eine mögliche Person5 glücklich sein könnte, nicht als Leidende hervor­ gehracht worden zu sein. Was das Hervorhringen von Menschen anhelangt, so scheint es, daß es philosophisch voraussetzungsvoller ist, als das Nichthervorhringen. Es ist schwieriger zu begründen, daß Menschen her­ vorgehracht werden sollen, als die Nichthervorhringung gelten zu lassen. Wem dies ahwegig scheint, der stelle sich einmal einge­ schlechtliche Vernunftwesen vor, die sich mittels Parthenogenese vermehren, hei denen der Nachkomme sich aber nur auf dem Wege einer sich über zwei Tage erstreckenden Meditation aus der unbe­ fruchteten Eizelle zu entwickeln beginnt. Indem wir dieses Gedan­ kenexperiment tätigen, sind wir in der Lage, eine der Philosophie obliegende Aufgabe zu belichten, die hei der Weitergabe vernünf­ tigen Lehens im biologischen Selhstvollzug der Morphogenese für gewöhnlich ausgehlendet hleiht. Angenommen, die Weitergabe ver­ nünftigen Lehens erforderte den geistigen Aufwand einer »zweitägi­ gen creatio continua«, so würde deutlich, in welch hohem Maße der Philosophie eine ihr vordergründig durch die menschliche Biologie verdeckte und teilweise noch von der Religion ahgenommene Auf­ gabe zukommt, die Weitergabe menschlichen Lehens zu affirmieren; solange jedenfalls, wie sie für das Seinsollen von Menschen votiert. Da die neutrale Position einen Standpunkt der Indifferenz gegenüber der Weitergabe menschlichen Lehens bezieht, stützt sie unter der Hand die voraussetzungslosere Position oder Praxis der Nichthervorhringung. Sollte die Aufgabe der Ethik eher darin bestehen, unsere Intui­ tionen systematisch zu rekonstruieren oder eher darin, zu generellen Prinzipien vorzudringen, an denen sich unsere Intuitionen zualler­ erst auszuweisen haben? Intuitionen werden vielfach das Ergebnis ungeprüfter Überlieferung sein. Von daher sollten wir sagen, daß sich grundsätzliches Denken, also philosophisches Denken, von Ar5 Es sei bemerkt, daß, wenn wir manches Mal von »Niemandem«, »Jemandem« und »möglichen Personen« sprechen, als handle es sich um existierende Entitäten, es sich hierbei nur um eine sprachlogische Unumgänglichkeit handelt. So müssen wir auch über Gespenster reden, wenn wir gegen ihre Existenz argumentieren wollen. 60

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Absurd Conclusion und Egoistic Fallacy

gumenten zu Ergebnissen leiten lassen sollte.6 Indessen bemerken wir einen Hiatus zwischen Intuition und Reflexion zumal dann, so­ bald die abendländische Urentscheidung problematisiert wird. Somit hat auch der philosophische Diskurs der Moderne in der Überliefe­ rung menschheitlichen Seinsollens seine grundlegende Intuition. Hier tut sich eine in der Tat unvermittelte Kluft auf zwischen dem Anspruch auf rationale Ausweisbarkeit ethischer Grundsätze und dem Fortdauern einer kaum reflektierten Überlieferung. Wenn nicht zu den Resultaten, so gehört es doch zumindest zu den Implikationen moderner Ethik, daß das Seinsollen der Menschheit im Leeren schwebt. Zugleich aber handelt es sich beim Seinsollen der Mensch­ heit immer noch um eine der stärksten Intuitionen als ein konstitu­ tiver Bestandteil der Sozialmoral auch moderner Gesellschaften. Bezüglich des Seinsollens der Menschheit besteht ein Hiatus zwischen Intuition und Reflexion. Die bewußt auf Metaphysik ver­ zichtende moderne Ethik vermag es nicht mehr, ein Seinsollen der Menschheit zu begründen. Die Intuition menschheitlichen Seinsollens wird aber zugleich als träge ethische Masse weiter überliefert. Das Ergebnis vorbehaltloser Reflexion, ein Verebben der Menschheit könnte nicht nur nicht verwerflich, sondern geboten sein, wurde ver­ schiedentlich als absurd conclusion bezeichnet.

3.2 Absurd Conclusion und Egoistic Fallacy Wo ethische Reflexion zu dem Resultat gelangt, es wäre am besten, die Weitergabe menschlichen Lebens einzustellen - was dann freilich auch das Aussterben der Menschheit nach sich zöge, ist von einer absurden Konsequenz gesprochen worden. Hier erweist sich die In­ tuition als das Stärkere gegenüber der Reflexion. So bei Sprigge, der das Prinzip der Weitergabe menschlichen Lebens zu einer Bedingung der Angemessenheit für eine jegliche Ethik macht, wenn er es mit Bezug auf die Reflexionen von J. Narveson »the absurd consequence« nennt, »that production of children is almost bound to be wrong.«7 6 Zu einer ähnlichen Beurteilung von Intuitionen gelangen auch Vetter (1969, 445), Birnbacher (1988, S. 139), Hare (siehe oben) und Hoerster (1991, S. 10 u. 55). Dagegen sehen etwa Th. Nagel oder Steinvorth die Aufgabe der Ethik eher in einer Rekonstruk­ tion unserer Intuitionen (vgl. Th. Nagel, Mortal Questions, Preface; Steinvorth (1990), S. 11, 55). 7 Sprigge, S. 341. ^

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Kapitel 3: Die neutrale Position

Ganz ähnlich wird auch hei Sikora die Intuition zur Mutter ethi­ scher Prinzipien. Sikora erwähnt die ihm von A. J. Ayer persönlich mitgeteilte Auffassung, wonach es stets falsch ist, eine Anzahl neuer Menschen zu zeugen, ganz gleich, wieviele unter ihnen glücklich sein werden, wenn nur ein einziger unter ihnen unglücklich sein wird. Sikora lehnt diese Auffassung ah, indem er sagt, »this won't do, hecause it entails the ahsurd conclusion that it would always he wrong per se to hring any large group of people into existence .. .«8 In der Tat heohachten wir angelegentlich der Frage menschheitlichen Seinsollens oftmals einen Ahhruch der Reflexion und einen Rückzug auf die Intuition. Movens hinter diesem Ahhruch dürfte oftmals der eigene Wunsch nach Kindern sein oder der Wunsch nach Rechtfertigung der Existenz eigener Kinder. Wir können hier von der egoistic fallacy reden. Giht es nehen den doch stets partikulären Wünschen Einzelner nach Kindern keine Verankerung für die Perpetuierung der Mensch­ heit, dann gewinnt in Ansehung der Kontingenz partikularer Wünsche ein Gedankenexperiment an Legitimität, welches durchaus die Funktion eines metaphysischen Reagenz zu erfüllen vermag: Warum sollten die Menschen unter Ahsehung von ihren Wünschen nach Kindern nicht einfach auf zukünftige Generationen verzichten, da ihnen dies ein Lehen ermöglichen würde, in dem sich heliehiger Konsum mit einem nahezu heliehigen Maß an Umweltzerstörung vereinharen ließe?9 Ührigens hat ja der Kinderverzicht prima facie für sich, nicht egoistisch zu sein, da durch Nichthervorhringung nie­ mandem geschadet wird, während es als egoistisch gewertet werden kann, Nachkommen etwa in dem Wissen hervorzuhringen, daß die Menschheit auf einen ökologischen und somit auch politischen Weltenhrand zusteuert, üher den E. U. v. Weizsäcker sagte, gegen ihn würde sich der Zweite Weltkrieg wie ein harmloses Scharmützel aus­ nehmen.10 Eine egoistic fallacy hegegnet also auch dort, wo Men­ schen, die im Sinne Ciorans bei sich bleiben11, dies als ein egoistisches Verhalten vorgeworfen wird.

8 Sikora, Is it Wrong to Prevent 9 Vgl. z.B. Kavka, S. 195. 10 Vgl. von Weizsäcker, S. 262. 11 Vgl. Cioran, S. 13. 62

S. 161 n14.

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Kapitel 4

Das Dach des Leidens. Abendländische und asiatische Urentscheidung

In der Frage, ob die Weitergabe menschlichen Lebens in Anbetracht von Leiderfahrungen zu rechtfertigen ist, scheinen der abendländi­ sche und der asiatische Kulturkreis auf den ersten Blick in idealtypi­ scher Weise zu divergieren. Wenn es einmal erlaubt ist, die Erfah­ rung von Leid zu hypostasieren, so können wir vom Dach des Leidens reden. Idealtypisch gesehen sucht die abendländische Welt dem Dach des Leidens standzuhalten, Säulen gegen die drückende Last zu er­ richten, während die asiatische Welt es vorzieht, dem Dach des Lei­ dens zu weichen. Für das Standhalten scheint insbesondere das Christentum zu stehen, für das Weichen der Buddhismus. Buddhismus und Christen­ tum sind Erlösungsreligionen. Aber der Christ glaubt an eine Er­ lösung der Welt durch die Barmherzigkeit Gottes. Bis zum Zeitpunkt der Erlösung sei in der Welt zu verharren. Dies jedenfalls scheint eine gemeinchristliche Auffassung wiederzugeben. Christliche Erlösung bedeutete: das Ende der Welt mit der Wiederkunft Christi und die Ersetzung dieser Welt durch eine neue Schöpfung - das Reich Gottes; damit einher geht die Auferstehung der Toten, worunter die Wieder­ vereinigung der Seelen mit ihrem aus dem Grab gerufenen Leib ver­ standen wird. Der auferstandene Leib wird als unzerstörbar gedacht, wobei der Leib der zur Seligkeit Bestimmten keines Leidens mehr fähig sein soll, der Leib der Verworfenen hingegen zu ewiger Qual bestimmt.1 Während in der christlichen Eschatologie die Auferweckten vor das Jüngste Gericht gerufen werden, um ihr endgültiges Urteil zu empfangen, hat der Buddhist nicht zu warten, bis er von einer außer­ weltlichen Instanz schuldlos gesprochen wird; er ist seiner Erlösung eigener Schmied. Beim Buddhismus handelt es sich um eine immanentistische Erlösungslehre. Der Mensch wird durch und durch als 1 Vgl. Joest, S. 617f. ^

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Kapitel 4: Das Dach des Leidens

Naturwesen begriffen - dazu gehört neben dem Körper auch das Be­ wußtsein. Das Erlösungswissen ist das Wissen um die Vergänglich­ keit alles Naturhaften. Erlösung findet, wer nicht länger besorgt ist, das unabänderlich Vergehende erhalten zu wollen, einschließlich des Selbst im eigenen Leben oder dem der Nachkommen. Den vom christlichen Gottesgericht Verworfenen stehen nichtendende körper­ liche und seelische Qualen bevor. Dieses Moment des Nichtendens der Qualen findet sich im Buddhismus in Gestalt der Lehre von den Wiedergeburten. Zumindest der buddhistische Mönch hatte ohne Nachkommen zu bleiben, um dem Rad des Leidens seine Schwung­ kraft zu nehmen. Auch das Juden- und Christentum wissen um ein Dach des Lei­ dens. Aber ihr Leid ist das Leiden an Schuld und Sünde. An Schuld und Sünde, die sich daraus ergeben, daß die menschliche Natur einem Ruf nicht genügt, der, von jenseits der Natur herkommend, in der Selbstoffenbarung Gottes als übernatürlicher Ruf zu verneh­ men ist. Leid entsteht aus dem Versagen des Menschen, insoweit er natürlich ist, vor der übernatürlichen Forderung. Der Buddhismus möchte das Leiden aufheben, das Christentum spricht von der Überwindung der Schuld. Für den Buddhismus ist der Mensch Natur und in allem vergänglich wie diese; Leiden entstehen aus dem Festhalten und Bewahrenwollen dessen, was vergänglich ist. Erlösung liegt in der Einsicht darein, daß, weil alles vergänglicher Natur ist, nichts von Bestand sein kann. Für das Christentum dage­ gen scheitert der Mensch nicht in erster Linie deshalb, weil und wenn er nicht einsieht, daß er wesentlich vergängliche Natur ist, sondern er scheitert, weil er aufgrund naturhafter Sündigkeit schuldig wird vor Gott. Inwiefern dabei die Sünde des Menschen auch tatsächlich menschliche Schuld ist, ist eine für die christliche Theologie unum­ gängliche, letztlich aber wohl auch unauflösbare Frage.2 Jonas stellt einmal »die abendländische Entscheidung für den Willen und die Individuation« der Auffassung eines Anhängers indi­ scher Religion entgegen, »die Existenz individueller Wesen, eines individuellen Ichs und Bewußtseins ist keineswegs ein ultimativer Wert ...« An dieser Stelle spricht Jonas von einem »Element einer Urentscheidung ..., dahinter zurückzugehen ist vielleicht unmög­ lich.«3 Wir hätten es demnach, gemäß obiger idealtypischer Zuord2 Vgl. a.a.O., S.415. 3 Jonas in: Böhler (Hg.): Im Diskurs mit Hans Jonas, S. 39. 64

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nung, mit einer abendländischen und einer asiatischen Urentscheidung zu tun: Im Christentum versähe der Mensch eine Sisyphos-Arbeit. Mit der Weitergabe des Lebens rollt er den Stein des Leidens immer wieder den Berg hinauf, während der religiöse Geist Asiens es nahelegt, die Sisyphos-Arbeit einzustellen, beiseite zu treten, um den Stein des Leidens ausrollen zu lassen. Wäre das Abendland gänz­ lich von einer Urentscheidung im Sinne dieser Veranschaulichung durchdrungen, so ließe sich in der Tat mit Recht behaupten, daß das Verebben der Menschheit der Überlieferung dieses Kulturkreises ganz fremd und unvermittelbar sein muß. Die Intuition und der Ver­ teidiger menschheitlichen Seinsollens hätten gewissermaßen ein nie­ mals in Frage gestelltes Hausrecht. Aber dieses Bild, wonach eine Urentscheidung getrennt nach Ost und West gefällt worden wäre, ist völlig unzureichend. Denn in Gestalt gnostischer Erlösungsreligionen ist ein Welterleben, welches Asien vorbehalten schien, auch im Westen wirksam geworden. Und es kommt hinzu, daß selbst das Christentum nicht nur nicht ohne weiteres eine weltbejahende Religion zu nennen ist, sondern auch in der Frage der Weitergabe menschlichen Lebens überaus ambivalent: Eine Beschäftigung mit den Kirchenvätern zeigt, daß diese die Nachkommenlosigkeit selbst der ehelichen Fortpflanzung vorziehen. Da­ mit, daß eine allgemeine Befolgung dieser Empfehlung das Ausster­ ben der Menschheit nach sich zöge, hat Augustinus, wie wir später noch sehen (siehe Kapitel 7), keine Schwierigkeiten. Insbesondere das lange Wirken der Gnosis im Westen, vor allem des Manichäismus mit seinen Ausläufern, macht es fraglich, ob es sinnvoll ist, pauschal von einer abendländischen Urentscheidung zu­ gunsten eines Seinwollens und Seinsollens auszugehen. Soll diese Zuschreibung irgend sinnvoll sein, so müssen wir den Begriff »Abendland« anders als oben implizit vorgenommen konzeptualisieren. Ein bescheideneres Konzept ist etwas dasjenige Spenglers, dem­ zufolge eine typisch abendländische Kultur erst im 10. Jahrhundert entsteht.4 Der Okzident oder Europa ist ein viel zu wenig geschlos­ senes geistiges und eher geographisches Gebilde, als daß wir ihm bezüglich menschheitlichen Seinsollens eine Urentscheidung zu­ schreiben sollten. Ähnliches gilt und ist für unseren Zusammenhang relevant, was die Begriffspaare »Optimistisch-Pessimistisch« und »Weltbejahend4 Vgl. Spengler, S. 189, 216, 234 u.ö. ^

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Kapitel 4: Das Dach des Leidens

Weltverneinend« anbelangt. Offenkundig wäre es verfehlt, dem Ok­ zident die affirmierenden Haltungen zuzuschreiben, »Asien« oder dem »Orient« die negierenden. So sind der Buddhismus und die Gnosis in ihrer Weltanschauung nicht einfach pessimistisch. Gerade darin, aus dem Kerker des Leidens einen Ausweg zu wissen, ins­ besondere durch Nichtweitergabe des Lebens, liegt der gnostische Optimismus. Der Gnostizismus erweist sich als ein von einem posi­ tiven Willen getragenes aktives Phänomen, womit, wie der Gnosis­ Forscher Jonas sagt, »das bloß passive Leidens- und Reaktions­ moment schon grundsätzlich überholt ist.«5 Obwohl das gnostische Maß an Weltablehnung zuvor wahrscheinlich nur in Indien zum Ausdruck gekommen war6, eignet ihm der Optimismus des Wissens um Erlösung. Und auch im Falle des Buddhismus reichen Begriffe wie »Pessimismus«, »Nihilismus« und »existentielle Verzweiflung« nicht aus, um Daseinsanalyse und -gefühl dieser Religion zu erfas­ sen: In erster Linie wird ja die Nichtigkeit des Daseins nicht beklagt. Es sollte deutlich sein, daß der Buddhismus keine Resignationslehre ist. Wenn das Leiden der Wesen Mitleiden erweckt, so führt dieses den Buddhisten nicht zu einem Gefühl auswegloser Verzweiflung. Sondern Mitleiden ereignet sich im Wissen um einen endgültigen Weg der Erlösung. Anders als der Gnostiker Marcion predigt Buddha nicht deshalb über das Leiden, um das All zu schmähen, sondern allein der Erlösung wegen.7 Im Prinzip sind alle Erlösungsreligionen optimistische zu nennen, eben weil sie an die Erlösung glauben oder einen Weg dahin wissen. Bei dieser Betrachtungsweise wird es schwerfallen, im Verebben der Menschheit nur ein nihilistisches Ge­ dankengut zu erblicken, denn es handelt sich ja hierbei auch für den modernen Menschen um einen denkbaren Ausweg, für den Fall, daß alle anderen gedachten Auswege nicht mehr gangbar sein sollten. Dafür, daß die These einer abendländischen bzw. westlichen Urentscheidung menschheitlichen Seinsollens nicht unangefochten ste­ henbleiben kann, auch wenn sie uns weiterhin als heuristisches Prin­ zip dienen wird, sprechen ferner die folgenden Ausführungen zu Platon, die belegen sollen, daß auch dieser Lehrer des Abendlandes nur bedingt den Idealtypus der abendländischen Urentscheidung re­ präsentiert. 5 Jonas (1954), S. 67. 6 Siehe für dieses Urteil Nigg, S. 34. 7 Für Näheres siehe etwa Peter Gerlitz: Die Ethik des Buddha. 66

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Kapitel 5

Zur Hervorbringungspflicht bei Platon

Da man bei Platon eine prinzipielle Behandlung der Frage nach der Weitergabe menschlichen Lebens vielleicht am ehesten im Zusam­ menhang mit seiner Lehre vom Eros erwartet und diese zumal im Symposion vorgetragen wird, nehmen wir von diesem Werk unseren Ausgang. Betrachten wir die Stelle im Symposion, wo Platon von der ursprünglichen Natur des Menschen handelt. Die Individuen des vor­ maligen Menschengeschlechts seien zusammengesetzt gewesen aus Mann und Frau, mannweiblich, und von ganz anderer Gestalt als wir. Auf ihre acht Gliedmaßen gestützt, konnten die Vormenschen sich sehr schnell nach der Art jemandes fortbewegen, der ein Rad schlägt. An Körperstärke und Kraft der Gedanken seien sie gewaltig gewesen. So ausgestattet sei es dahin gekommen »daß sie sich einen Zugang zum Himmel bahnen wollten, um die Götter anzugreifen.«1 Dieser Übermut sollte bestraft werden. Unter den Göttern wurde sorgfältig beratschlagt und nach der angemessensten Strafe Ausschau gehalten. Falsch wäre es, »sie zu töten und, wie die Giganten sie niederdon­ nernd, das ganze Geschlecht wegzuschaffen, denn so wären ihnen (den Göttern, KA) auch die Ehrenbezeugungen und die Opfer der Menschen mit weggeschafft worden ...«2 Diesem Seinsollen von Menschen im Symposion entspricht eine Stelle in Platons Nomoi, wo gefordert wird, »daß man durch Hinterlassung von Kindern und Kindeskindern stets der Gottheit Diener an seiner Statt übergebe.«3 Fragen wir auf der Basis des soeben Ausgeführten nach dem Seinsollen von Menschen bei Platon, so lautet die Antwort: Men­ schen sollen sein um der Götter willen. Im Zusammenhang der Aus­ 1 Platon, Symposion 190 b-c. 2 A. a. O., 190 c. Man verfiel schließlich darauf, den dem biblischen Turmbau zu Babel analogen Übermut so zu strafen, jeden mannweiblichen Menschen »in zwei Hälften zu zerschneiden, so werden sie schwächer sein und doch zugleich uns nützlicher, weil ihrer mehr geworden sind ...« (Symposion 190 d). 3 Platon, Nomoi 774 a. ^

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Kapitel 5: Zur Hervorbringungspflicht bei Platon

führungen des »Symposion« stellt sich zunächst die Frage, oh Platon meint, was er schreiht. Eine alternative Lesart der zitierten Passagen liegt nämlich dadurch nahe, daß Platon an anderer Stelle als politi­ scher Philosoph spricht und sich nur eines mythisch-theologischen Kostüms hedient, um eine hessere Annnahme des von ihm Intendier­ ten zu erzielen. Demnach ginge es ihm weniger um die Götter und das ihnen zukommende Opferkontingent, als vielmehr um eine für das Funktionieren des Staates und seine Wehrhaftigkeit notwendige Menschenzahl - wohei dann dem Staate ein nicht mehr hefragtes Seinsollen zukäme. Einen Anhaltspunkt für diese Lesart liefert eine Stelle des Symposion selhst, wo Platon üher männerliehende Männer spricht. Ihnen schreiht er hesonderen Mut und Kühnheit zu, da ja deutlich sei, daß sie mit der Mannhaftigkeit das ihnen selhst Ähn­ liche liehen und suchen. Werden solche Männer ausgehildet, so ge­ deihen sie vorzüglich für die Aufgahen des Staates. Jedoch äußere sich diese Vorzüglichkeit in anderer Hinsicht auch als Nachteil: »Zur Ehe aher und Kinderzeugung hahen sie von Natur keine Lust, son­ dern nur durch das Gesetz werden sie dazu genötigt ...«4 Damit lie­ gen jetzt auf die Frage nach einer Hervorhringungspflicht hei Platon zwei Antworten vor. Zum einen sollen weiterhin und am hesten auch mehr Menschen gezeugt werden, damit sie den Göttern dienen können. Die zweite Antwort, die wir Platon auf unsere Frage hislang entnehmen konnten, verweist auf den Staat. Indes läßt sich dem Symposion noch eine dritte Antwort entnehmen. Weil sie darauf ahziele, das Gute immer zu hahen, visiere die Liehe: das Zeugenwollen im Schönen, die Unsterblichkeit an. Empfängnis und Erzeugung sei »eine göttliche Sache und in dem sterhlichen Lehenden etwas Unsterhliches ...«5 Platon kennt - nehen der Unsterhlichkeit Gottes und der Seele - zwei Arten der Unsterhlichkeit, die leihliche und die geistige. Geistige Unsterblichkeit sei erreicht worden in den Werken der Dichter Hesiod und Homer. Ihre Werke werden im Symposion auch »geistige Kinder« genannt, und Platon sagt mit Blick auf sie, »jeder sollte lieher solche Kinder hahen wollen als die menschlichen.«6 Dem Umstand, daß diese letzte Bemerkung für sich genommen ein Aussterhen der Menschen zuläßt, die sich ja verdienstvoll verhielten, 4 Platon, Symposion, 192 h. 5 A.a.O., 206 c. 6 A.a.O., 209 c-d. 68

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Kapitel 5: Zur Hervorbringungspflicht bei Platon

wenn sie - gleichsam ein wahres Volk der Dichter und Denker - nur noch geistigen Kindern Dasein schenkten, geht Platon nicht nach. Vielmehr spricht er sich in anderem Zusammenhang, in den Nomoi, strikt gegen ein selhsthezogenes kinderloses Lehen aus.7 Mit seinen Ausführungen zur leiblichen Sterblichkeit sucht Pla­ ton die Sterhlichkeit des Einzelnen im Fortlehen der Gattung zu üherwinden. Es suche »die sterhliche Natur nach Vermögen, immer zu sein und unsterhlich. Sie vermag es aher nur auf diese Art, durch die Erzeugung, daß immer ein anderes Junges statt des Alten zurückhleiht.«8 Platon kommt hier zu der Einsicht, daß alles Sterhliche teil hat an der Unsterhlichkeit, »indem das Ahgehende und Veraltende ein anderes Neues solches zurückläßt, wie es selhst war. Durch diese Veranstaltung, o Sokrates, sagte sie (Diotima, KA), hat alles Sterh­ liche teil an der Unsterhlichkeit, der Leih sowohl als alles ührige.«9 Wir finden jetzt drei Gründe für die Weitergahe menschlichen Lehens. Erstens sei Fortpflanzung gehoten um der Götter willen. Die Götter selhst schreckten ja einst vor einer Auslöschung der Men­ schen zurück, hei deren Durchführung sie ohne Ehrerhietung gehlie­ hen wären. Zweitens soll das menschliche Lehen um des Staates wil­ len weitergegehen werden.10 Und drittens um der Unsterhlichkeit des Menschengeschlechts willen, welches ehen nur als ein solches ewig am Guten würde teilhahen können. Wir können dieses Gehot für die Weitergahe menschlichen Lehens auch so verstehen, daß Menschen dasein sollen, damit sie des Guten teilhaftig werden können. Diese Form dieses Damit scheint paradox, wenn wir es als Grund der Hervorhringung von Menschen hegreifen: Warum sollte, was in keiner Weise ist, hervorgehracht werden, um des Guten teilhaftig zu wer­ den? Nichtseiendes kann nicht verhessert werden. Die Grundstruk­ tur dieser Paradoxie taucht in der philosophischen Theologie des Mittelalters wieder auf, wenn es heißt, der Mensch sei geschaffen worden, damit ihm durch den Dienst an Gott geholfen sei. Bei Platon ist es indes die Lehre von der Wiedergehurt, insofern sie vorgehurtliches Sein heinhaltet, die der Auffassung, Menschen seien hervor­ 7 Bei Kinderlosigkeit sehen die Nomoi nehen jährlicher Geldhuße einen Entzug der Vorrechte des Älteren gegenüher Jüngeren in der Öffentlichkeit vor, »damit nicht das Einzellehen zum Gewinn oder zur Erleicherung zu gereichen scheine ...« Nomoi 721 d. 8 A. a. O., 207 d. 9 A. a. O., 208 h. 10 Auch die Ausführungen zur Fortpflanzung in der Politeia stellen die Weitergahe menschlichen Lehens ganz in den Dienst des Staates; vgl. Politeia 460 h ff. ^

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Kapitel 5: Zur Hervorbringungspflicht bei Platon

zubringen, damit sie des Guten teilhaftig werden können, einen Sinn zuweist. In den gesetzgeberischen Vorschlägen der platonischen Nomoi finden wir den Gesichtspunkt des Staates und den der Unsterblich­ keit nebeneinander. Schon den Beginn der Gesetzgebung müsse eine Festlegung der Erzeugungspflicht machen.11 Vom Staatswohl han­ delnd, macht Platon sich hier den Umstand dienlich, »daß in gewis­ sem Sinne vermöge einer Einrichtung der Natur das Menschen­ geschlecht der Unsterblichkeit teilhaftig wurde, wonach von Natur alle Wünsche aller streben.«12 Den Wunsch aller nach der Unsterb­ lichkeit leitet Platon ab aus dem Wunsch der einzelnen, posthumen Ruhm erlangen und nicht namenlos im Grab liegen zu wollen.13 Ferner betrachtet Platon das Menschengeschlecht als »etwas eng mit der gesamten Zeit Zusammengewachsenes, welches bis ans Ende ihr mitfolgt und mitfolgen wird, indem es auf diese Weise unsterb­ lich ist, nämlich Kinder und Kindeskinder hinterlassend ,..«14 Diese Textstelle könnte den Eindruck erwecken, für Platon habe das Men­ schengeschlecht quasi über eine, im Symposion beschriebene, Ord­ nung der Natur »durch Erzeugung an der Unsterblichkeit teil ...«15 Doch zieht er durchaus die Möglichkeit ins Kalkül, sich dieser durch natale Enthaltsamkeit, aus freier Willkür und mit Vorbedacht zu be­ rauben. Als Gegenmittel empfiehlt Platon: Wer bis zum fünfund­ dreißigsten Jahr nicht heiratet und nicht an Kinderzeugung denkt, den solle jährliche, sich nach dem Vermögen des Frevlers bemessende Geldbuße strafen.16 Wo die Bürger »Kinder erzeugen und auferziehen, indem sie wie eine Fackel das Leben von anderen an andere weiterreichen«, so Platon, verehren sie gemäß den Gesetzen die Götter.17 Es stellt sich bloß immer wieder die Frage, ob bei Platon nicht in Wahrheit die Belange des Staates im Vordergrund stehen und er seine politische Philosophie hier vielleicht nur deshalb mit der idealistischen Aura ausstattet, damit seine Vorstellungen annehmbarer werden. Nicht die Teilnahme der Menschen an der Unsterblichkeit wäre dann das, 11 12 13 14 15 16 17 70

Platon, Nomoi, 720 e - 721 a. A.a.O., 721 b-c. Vgl. a.a.O., 721c. Ebd. Ebd. Vgl. Nomoi, 774 a. A.a.O., 776 b.

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wofür Platon hatte werben wollen, ebensowenig wie die Sicherung einer nie versiegenden Quelle von Verehrern für die Götter18, son­ dern die Erhaltung des Staates. Inwieweit und in welchem Zusammenhang Platon seine ideali­ stische Metaphysik hinsichtlich des Gebotenseins der Weitergabe menschlichen Lebens bewußt nur strategisch eingesetzt hat, soll hier nicht weiter verfolgt werden. Dafür, daß er einer Weitergabe menschlichen Lebens metaphysisch intrinsischen Wert beigemessen hat, sprechen freilich die allgemeineren Konturen seiner Lehre. So wird im Phaidon die Seele als das dem Göttlichen Ähnliche dar­ gestellt. Wie das Göttliche, so sei auch die Seele unsterblich, un­ auflöslich sowie einfach. Über die Weitergabe der Fackel des Lebens von einer Generation an die nächste würden die Menschen also auf der Ebene des Leiblichen an einem göttlichen Attribut teilhaben.

5.1 Seelenwanderung und Hervorbringungspflicht Wie kann eine Lehre, die im Leib etwas Schlechtes sieht, die Weiter­ gabe menschlichen Lebens empfehlen? Nach dem Körper gefragt, stimmt Sokrates im »Kratylos« den Orphikern darin bei, daß die Seele im Körper Strafe leide wie in einem Gefängnis, bis sie ihre Schuld bezahlt hat.19 Bekannt sind insbesondere die den Leib abwer­ tenden Stellen aus dem Phaidon. Beim Erkennen sei der Leib, mit dem die Seele im Gemenge ist, ein Übel20; aus diesem Grunde wird dem nach Erkenntnis Strebenden dringend angeraten, möglichst we­ nig auf den Leib sich einzulassen.21 Im Phaidon geht die Seele laut Sokrates »zu dem guten und weisen Gott, wohin, wenn Gott will, alsbald auch meine Seele zu gehen hat.« Sollte sie, »wenn sie von dem Leibe getrennt ist sogleich verweht und untergegangen sein, wie die meisten Menschen sagen?«22 Das Verwehen der Seele (im Sanskrit: Nirvana) ist für Platon nicht annehmbar. Warum nicht, erfahren wir ebenfalls im Phaidon: Würde nicht, fragt Sokrates, »wenn alles zwar stürbe, was am Leben 18 Für diese Auffassung vgl. den für unsere Fragestellung aufschlußreichen Aufsatz von David Daube, The Duty of Procreation, bes. S. 249 f. 19 Vgl. Platon, Kratylos 400 c. 20 Vgl. Platon, Phaidon 66 b. 21 A.a.O., 67 a. 22 Phaidon 80 d-e. ^

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Kapitel 5: Zur Hervorbringungspflicht bei Platon

Anteil hat, nachdem es aber gestorben wäre, das Tote immer in dieser Gestalt bliebe und nicht wieder auflebte, ganz notwendig zuletzt alles tot sein und nichts leben?«23 Würden die Seelen nicht wiedergebo­ ren, so gäbe es am Ende gar keine Menschen mehr. Aber ergibt sich dies denn nicht auch ganz zwanglos aus den Ausführungen Platons? Hätte er nicht in der Tat zu dem Resultat gelangen müssen, daß irgendwann keine Menschen mehr dasein werden? Im Inkarnations­ mythos der Politeia wählen die Seelen ihren neuen Körper. Und zwar wählen sie idealiter gemäß der Einsicht im letzten Leben für die nächste Inkarnation eine höhere Daseinsform. Werden dann nicht irgendwann alle Seelen eine spirituelle Daseinsform gewählt haben, so daß sie nicht abermals in eine sterbliche Existenz werden eintreten müssen? Über die communio der höchsten Eigenschaft der Seele mit dem Unveränderlichen und Realen in der Welt der Formen, vermag dieser unsterbliche vernünftige Seelenteil (logistikon) nach Platon endgültige Befreiung vom Körper und Eingang in das Absolute zu erlangen. Aufs Ganze gesehen wäre das Verebben der Menschheit die Folge. Platons Seelenwanderungslehre weist beträchtliche Überein­ stimmungen mit indischen Wiedergeburtslehren auf, wie sie in den Upanishaden zum Ausdruck gekommen sind.24 Hier ist es das Ziel, nach langer Vervollkommnung im Kreislauf der Wiedergeburten schließlich zu verwehen, aus dem Kreislauf auszutreten, um im Ab­ soluten aufzugehen. Warum gelangt Platon nicht zu dem Resultat und Ziel, daß es irgendwann kein (organisches) Leben mehr geben würde, sondern nur geistiges? Eine Erklärung wäre, daß immer wie­ der neue Seelen nachkommen oder nachgeschaffen werden. In die­ sem Fall würde unverkörperten oder vormals tierischen Seelen die Chance auf menschliche Inkarnation genommen, sollten von den Le­ benden keine Nachkommen mehr gezeugt werden. Jedoch verbietet sich diese Problemlösung, da die Zahl der Seelen nach Platon immer gleich sein muß. Würden ihrer weniger, so würde irgendwann alles tot sein. Analoges gilt für ein Mehrwerden. »Denn wenn etwas von den unsterblichen Dingen mehr würde, so weißt du ja wohl, daß es aus dem Toten entstehen müßte, und so wäre zuletzt alles unsterb-

23 Phaidon 72 c-d. 24 Eine übersichtliche Gegenüberstellung der Übereinstimmungen anhand paralleler Textstellen bietet V. G. Vitsaxis, Plato and the Upanisads. 72

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Seelenwanderung und Hervorbringungspflicht

lieh.«25 Ist die Zahl der unsterblichen Dinge stets gleich, so kann dies zweierlei bedeuten. Entweder sie sind teilweise oder gänzlich in das Absolute eingegangen - dann ist die Zahl der noch zu vervollkomm­ nenden Seelen vermindert; oder keine Seele hat in der eommunio mit dem Unveränderlichen die Wahrheit erreicht und wird dies auch in Zukunft nicht tun - dann befinden sich sämtliche Seelen noch auf Wanderschaft. Zweifelsohne kommt für Platon nur die erste Mög­ lichkeit in Frage. Sie beinhaltet jedoch, daß im Zuge der Vervoll­ kommnung irgendwann alle Seelen im geistigen Sein aufgegangen sein werden, ohne in den Körper als den Kerker der Seele zurück zu müssen. Dafür, daß Platon die schließliche Aufhebung der Menschheit nicht denkt, Aufhebung im Sinne eines Verlassens aller Körper, kann wahrscheinlich nur der Umstand verantwortlich gemacht werden, daß bei ihm - vielleicht auf Grund eines Primats staatsphilo­ sophischer Intentionen - die Intuition menschheitlichen Seinsollens schwerer wiegt. Weil Platon als Lehrer des Abendlandes eine Lehre vertritt, die zwar Parallelen zu indischen Erlösungslehren aufweist, er aber nicht wie diese einen Austritt aus dem Kreislauf der Wieder­ geburten und einen Stillstand des Rades des Leidens anvisiert, dürfen die betreffenden Lehrstücke Platons, das Wissen um die Grenzen eines Idealtypus immer vorausgesetzt, als eine frühe Manifestation der abendländischen Urentscheidung angesehen werden.26 Aus welchen Gründen nur mit Vorbehalt von einer abendländi­ schen Urentscheidung gesprochen werden darf, wird deutlicher, wenn wir im folgenden die gnostische Ontologie des Verebbens be­ trachten und uns ein Bild davon machen, welchen Ausdruck sie in Gestalten und Bewegungen des Abendlandes erlangte.

25 Politeia 611 a. 26 Aristoteles hat Platons politische Vorstellungen zur Weitergabe menschlichen Lebens im wesentlichen übernommen und in seine »Politik« integriert. Allerdings fehlt bei Aristoteles eine begleitende Metaphysik des Seinsollens. Stattdessen ist das Hervorbrin­ gungsgebot ganz dem politischen Kalkül unterstellt; wozu für Aristoteles übrigens gehört, daß die Zahl der zu zeugenden Kinder begrenzt bleibt und überzählige, »bevor sie noch Wahrnehmung und Leben haben, abgetrieben werden ...« (Politik 1335 b 20 ff., S. 335. Für das Ganze siehe Politik, Buch 7,16). ^

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Kapitel 6

Die gnostische Ontologie des Verebbens

Clemens von Alexandrien gelangte zu dem allgemeinen Befund, die Griechen hätten hinsichtlich der Hervorhringung von Nachkommen in hohem Masse eine kritische Einstellung gehaht.1 Mit Bezug auf Demokrit, die Tragiker und Epikur ist diese Feststellung sicherlich zutreffend, während Platon, den Clemens hinzunimmt, in seiner Haltung amhivalent hleiht. Wir sahen, wie Platon einerseits staats­ philosophische Erwägungen mit metaphysischen Überlegungen flan­ kiert, wo er für die Weitergahe des Lehens spricht, wie aher anderer­ seits der Leih, die Seele verwirrend, als Ühel gilt und Sokrates den Orphikern darin zustimmt, die Seele leide im Körper Strafe wie in einem Gefängnis. In seinen Studien zur Gnosis spricht Jonas von einem tiefen Pessimismus des griechischen Geistes und hemerkt, es sei »ehenso falsch, nur vom griechischen Optimismus wie vom gnostischen Pes­ simismus zu reden.«2 Dessenungeachtet nennt er die griechische Seinssicht eine der »Weltheimischkeit« und stellt ihr das gnostische System der Weltentsagung gegenüher. Die griechische Seinssicht ist laut Jonas »ein grandioser Aus­ druck der Weltheimischkeit gewesen ...« Das griechische Weltgefühl heruhe auf einer unahleitharen Urentscheidung und Invariante, in der das Dasein (Jonas hedient sich hier Heideggerscher Terminologie) sich in die Welt eingehaut weiß. Jonas nennt diese Invariante des Weltgefühls »ein >Apriori< des griechischen Geistes, so wie er einmal in der entscheidenden Phase seiner Bildung sich entschieden hat­ te ...«3 Nehen einer asiatischen und pauschalen ahendländischen, lä­ ge nun damit auch so etwas wie eine griechische Urentscheidung vor.

1 Vgl. Clemens von Alexandrien, Stromata III, 22 (1). 2 Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 165 n. 1. 3 A.a.O., S. 141. 74

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Jonas lehnt es ah, das gnostische Weltgefühl etwa aus dem Leidens­ zusammenhang sozialer Mißstände ahzuleiten. Man muß Jonas' Arheit zur Gnosis lesen, um dem Begriff der Urentscheidung seinen Kontext zuschreihen zu können. Dieser Kon­ text ist derjenige der »Gehurt einer neuen Welt«4, der »Schöpfung eines neuen Mythos.«5 Diese Anklänge an Spenglers Wortfindungen für das Entstehen einer neuen Kultur sind nicht zufällig. Ist doch für Jonas das, was Spengler zum Thema Gnosis und Spätantiker Geist geschriehen hat, »m. E. das heste und schlagendste, was überhaupt darüber geschriehen worden ist.«6 Wie Spengler, geht auch Jonas da­ von aus, daß das Aufkommen einer neuen Weltsicht nicht aus dem gesellschaftlichen Sein einer Zeit ahgeleitet werden kann. Es wäre ja naheliegend, die gnostische Weltsicht als das Resultat hesonders lei­ derfüllter Zeitläufte sehen zu wollen. Hiergegen wendet Jonas ein, es »dürfte das letzthegründende Prinzip einer Weltdeutung von den Eindrücken guter wie höser Tage ziemlich unahhängig sein.«7 Der wahrscheinlich aus dem Osten kommende Gnostizismus konstituierte sich in einem von der Diadochenzeit his zum Manichäismus währenden Zeitraum. Seinen Durchhruch erreichte er um die Zeit Christi Gehurt. Üher diese tiefhewegte Zeit sagt Jonas, in ihr »wird die Summe menschlichen Elends nicht geringer oder größer als in allen (geschichtlich exponierten) Zeiten und Ländern gewesen sein.« Keineswegs sei es so, daß immer die leidgeprüftesten Völker und Zeiten weltfeindliche Daseinsinterpretationen hervorgehracht hätten. Vorausgesetzt nur, daß der Mensch sich im Dasein erhalten wolle, sei die »Tragfähigkeit der Diesseitsstellung« ungeheuer.8 Jonas' Forschungen zu »Gnosis und spätantiker Geist« sind für unsere Betrachtungen zu Neganthropie und Anthropodizee aus un­ terschiedlichen Gründen von Bedeutung: Seine Darlegungen hekräftigen die These, daß die ahendländische Urentscheidung menschheitlichen Seinsollens sich in diesem von griechischer Antike und Christentum geformten Kulturkreis nicht unangefochten durchhält, sondern ihm nur idealtypisch zuzuordnen ist. Mit der Gnosis ist eine gegenläufige Tendenz wirkmächtig geworden. In welchem Ausmaß, 4 5 6 7 8

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davon handeln die nachfolgenden Abschnitte zur Kirche Marcions, Manis und zu den Katharern. Die Geschichtsmächtigkeit der Gnosis macht deutlich, daß uns die abendländische Urentscheidung nicht als eine selbstverständliche Intuition gelten darf, sondern immer wieder, auch im Christentum, Zweifel sich geltend machten, ob dem Dach des Leidens nicht besser zu weichen sei. Eine Beschäftigung mit Jonas' Werk zur Gnosis läßt uns über­ dies seine spätere Ontologie menschheitlichen Seinsollens besser ver­ stehen und fördert einen offenbar auch von Jonas selbst nicht eigens hervorgehobenen Zusammenhang zutage. Zu diesem übersehenen Zusammenhang führt etwa die Klage J. Taubes, es sei doch bedauer­ lich, daß ein so begabter Gnosis-Forscher wie Jonas sich nun auf die Ethik geworfen habe.9 Zwischen Jonas' Arbeit zur Gnosis und seiner Ethik besteht jedoch folgender systematischer Zusammenhang. Als Erforscher der Gnosis legt Jonas an seinem Forschungsgegenstand eine gegenüber griechischer Kosmosfrömmigkeit neue Sicht des Seins frei; und nicht nur dies, sondern, wie er sagt, eine neue Onto­ logie. Von einer neuen Ontologie müsse deshalb die Rede sein, weil in der Gnosis jene im Nous oder Logos als Prinzipien des Kosmos garantierte Vernünftigkeit des Alls abgelehnt wird, über die der Mensch sich in seinem geistigen Sein mit dem des Kosmos identisch wissen konnte. Jonas meint, daß »in der Gnosis zum erstenmal (und für alle Folgezeit) die radikale Verschiedenheit des menschlichen und außermenschlich-weltlichen Seins entdeckt wurde, die durch keine Zwischenstufen und Übergänge überbrückt wird, sondern ontolo­ gisch ist.«10 Jonas' spätere Ontologie menschheitlichen Seinsollens wird allergrößtes Gewicht auf die Etablierung eines kontinuierlichen Seinszusammenhangs legen. Ein gemeinsamer Grundzug unterschiedlicher gnostischer Strömungen ist das Gebot nataler Enthaltsamkeit. Es liegt von daher eine gewisse Berechtigung vor, die von Jonas herausgearbeitete gnostische Ontologie eine Ontologie des Verebbens zu nennen. Nun ge­ lingt der Brückenschlag, zwischen dem Gnosisforscher und dem Ethiker, der sich ja an nichts anderem als an einer Ontologie menschheitlichen Seinsollens versuchte. Als Anlaß hierfür muß nicht zuletzt der kulturkritische Befund gelten, die Verfassung des modernen Gei­ stes und Welterlebens selbst habe in wesentlichen Bestimmungen 9 Siehe den Bericht von Zimmerli, in: D. Böhler (Hg.): Ethik für die Zukunft, S. 159. 10 Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 170; siehe auch S. 151, 214. 76

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gnostische Züge angenommen, nihilistisch verstärkt um das Moment religiöser Indifferenz. Aus der »Ginza«, dem Buch der Mandäer, zi­ tiert Jonas: »Wer hat mich in das Leid der Welten geworfen?«11 In Anbetracht solcher Textstellen möchte er »der Versuchung nicht wi­ derstehen, auf den ganz unmythologischen Begriff der >Geworfenheit< zurückzugreifen . ,.«12 Er betont jedoch, daß der im gnostischen Daseinsgefühl entdeckte Faktizitätscharakter - Gott und Welt, Gott und Natur trennen sich, der Mensch wird aus aller Selbigkeit mit einer Welt, die nur noch nackte Welt ist, herausgenommen - durch die gnostische Mythologie von einer bloßen Gegebenheit in eine Herkunftserklärung mit gewährleisteter eschatologischer Überwin­ dung transformiert wird13 Durch das - also gerade auch in der Wortwahl bezeugte - gnostische Moment der Geworfenheit ist besagt, daß der Mensch zwar in der Welt ist, nicht jedoch von dieser Welt. Mensch und Welt sind ebenso inkommensurabel, wie Mensch und Gott konsubstantiell sind.14 Die gnostische Inkommensurabilität von Welt und Mensch (die Welt ist die Schöpfung des bösen Demiurgen, die menschliche Seelensubstanz will zum transzendenten Gott zurück) konstituiert ein Bild vom Menschen als weltverlassendem Wesen. Es ist vor allem das Moment der Indifferenz, welches die natur­ wissenschaftlich geprägte Weltsicht der Moderne von der gnostischen unterscheidet. Für die religiöse Gnosis ist die Welt schlecht, für die Moderne nurmehr indifferent. »Der gnostische Mensch ist geworfen in eine widergöttliche, und daher widermenschliche Natur; der moderne Mensch in eine gleichgültige.«15 Erst letzteres bedeute den wahrhaft bodenlosen Abgrund, da die indifferente Natur dem Dasein keine Richtung mehr zu geben vermag, während in der Welt­ sicht der Gnosis mit dem Glauben, die in den Körpern gefangene Seelensubstanz als das Wesen des Menschen werde diese Welt ver­ lassen können, ein positives Ziel und ein Sinn des Daseins angegeben werden. Anders als die religiöse Gnosis geht das aus einer wie immer vermittelten Kenntnisnahme der Naturwissenschaften resultierende Welterleben nicht davon aus, daß von einem Wesen des Menschen 11 A.a.O., S. 102. 12 A.a.O., S. 107. 13 Vgl. a.a.O. S. 108,149,170). 14 Vgl. auch Gilles Quispel, Gnosis als Weltreligion. Die Bedeutung der Gnosis in der Antike S. 55. 15 Jonas, »Organismus und Freiheit, S. 315. ^

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sinnvoll noch die Rede sein kann. Alles was man für das Wesen des Menschen hatte nehmen können wird in die Natur eingezogen Die Gnosis, so Jonas' These, habe dem modernen Geist gleichsam vorgearheitet, ihn präformiert. Denn sie läßt »eine entgötterte Welt in der Möglichkeit zurück, sich für eine künftige theoretische Betrach­ tung zu einer puren indifferenten Dinghaftigkeit zu konstituieren.«16 Zwar hehält der gnostische Kosmos in der Weise einer griechischen Mitgift seine Ordnung. Doch wird diese jetzt als sinnfremde Ord­ nung wahrgenommen: Die Einheit von Kosmos und Gott wird auf­ gehoben.17 Ebenso wie Gott und Welt, treten auch Mensch und Welt auseinander. Im griechischen Denken waren Nous oder Logos die für die Vernünftigkeit des Weltganzen einstehenden Prinzipien des Kos­ mos. Über sie konnte sich der Mensch in seinem geistigen Sein mit dem Sein der Welt identisch wissen.18 Dieser die Strukturen unseres geistigen Seins als die Strukturen der Welt begreifende objektive Idealismus stellt bereits eine Ontologie menschheitlichen Seinsollens dar. Demgegenüber läßt die Gnosis eine Welt purer Dinghaftigkeit zurück, an die sich, wie insbesondere die Forschungen Blumenbergs zeigen, die curiositas anheften konnte. In der Gnosis verliert der Mensch alle diesseitige Außenverankerung. Nurmehr im jenseitigen seiner Herkunft verankert, nimmt die Gnosis, wie Jonas sagt, den Menschen aus aller »Selbigkeit mit der Welt, die nur noch nackte Welt ist, heraus .. ,«19 Ein Zeugnis davon, daß es für den griechischen Geist bei der gnostischen Weltsicht um Blasphemie handelt, legt Plo­ tin ab. Aus seiner Schrift »Gegen die Gnostiker« spricht die Empö­ rung antiker Kosmosverehrung. Im Sinne der Privationstheorie des Bösen äußert Plotin gegen die Gnostiker: »Man darf im Bösen nichts andres sehen als etwas, dem es noch an größerer Einsicht fehlt, einen geringeren Grad des Guten«20 Die von Plotin bekämpfte Weltsicht enthält nach Jonas bereits die Wurzeln unserer Welt.21 Während Jonas in seinem frühen Werk zeigt, wie die Gnosis es anstrebt, den Menschen aus seinen Verstrickungen in die schlechte Welt zu befreien, unternimmt er späterhin den Versuch, mit einer neuen Ontologie das Sein als gut auszuweisen und den Menschen in 16 17 18 19 20 21 78

Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, S. 176. Vgl. a.a.O., S. 148f. Vgl. a.a.O., S. 170. A.a.O., S. 170. Plotin, Gegen die Gnostiker, S. 119. Vgl. Jonas a.a.O.,S. 172.

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ihm zu verankern. Seine Ontologie menschheitlichen Seinsollens kann als der Versuch gesehen werden, der nie völlig zum Schweigen gebrachten gnostischen Versuchung etwas entgegenzusetzen. Hierzu gehören auch noch Jonas' Ausführungen zum Symbol des Rufes, welches so fundamental sei, daß die mandäische und manichäische Gnosis geradezu als Religion des Rufes - des von Außen an die einge­ kerkerte Seele ergehenden Rufes - und Hörens bezeichnet werden könne.22 Im »Prinzip Verantwortung« setzt Jonas dem im Gnosis­ werk erörterten gnostischen Ruf von Außen einen Spruch des Seins und der Natur entgegen. Man wird nicht fehlgehen, wenn man hier­ in Jonas' Beitrag zur endgültigen Überwindung der Gnosis sieht. In kulturphilosophischer Hinsicht bedeutet dies, daß, anders als Blu­ menberg in »Die Legitimität der Neuzeit« behauptet, in der Neuzeit keine wahre Überwindung der Gnosis gelungen ist.23 Läge die Legi­ timität der Neuzeit wirklich darin, die Gnosis überwunden zu haben, so hätte sie eine Anthropodizee hervorgebracht haben müssen. In der Moderne wird der gnostische Ruf des Verebbens jedoch eher lauter; die gnostische Versuchung ist durch die bisherige Arbeit an der Me­ taphysik nicht zum Schweigen gebracht worden. Die Möglichkeit, durch Arbeit an der Metaphysik eine neue On­ tologie menschheitlichen Seinsollens bereitzustellen, sieht sich je­ doch durch einen Befund beeinträchtigt, den Jonas in seinem Werk über die Gnosis formuliert und der im »Prinzip Verantwortung« fortwirkt. Welteinstellungen seien unableitbar plötzlich da. Mit die­ ser Auffassung schließt Jonas sich Spengler an. Die gnostischen Re­ ligionen stehen ihm »für das Erwachen eines neuen, totalen und au­ tonomen Prinzips der Seinssicht.«24 Weltsichten oder Weisen des Welterlebens werden hier beschrieben als die nichtableitbare, vor­ aussehbare oder intendierbare Geburt einer neuen Welt. Indem Jonas sowohl griechische Weltheimischkeit als auch gnostische Weltflucht als nichthintergehbare Urentscheidungen begreift, sagt er in syste­ matischer Hinsicht, daß ein Weltgefühl und Weltsichten überhaupt jeweils auf ein geschichtliches Apriori verweisen. Bedeutet dies dann aber nicht, daß alle Arbeit an der Metaphysik, also auch die von Jonas 22 Vgl. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, S. 120f. 23 Blumenberg schreibt: »die Neuzeit ist die zweite Überwindung der Gnosis. Das setzt voraus, daß die erste Überwindung der Gnosis am Anfang des Mittelalters nicht gelun­ gen war.« Die Legitimität der Neuzeit, S. 78. 24 Jonas, a.a.O., S. 72, meine Hervorhebung. ^

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selbst betriebene, zur Bereitstellung neuer Weltheimischkeit vergeb­ lich sein muß, weil eine Weltsicht nicht intendiert oder »gemacht« werden kann? Wenn ein Weltgefühl unableitbar einfach »da« ist, dann kann auch keines begründet werden. Jonas trägt dem in der Tat Rechnung, indem er auf dem Höhepunkt seiner Arbeit an der Ontologie menschheitlichen Seinsollens, im »Prinzip Verantwortung«, gesteht: das Seinsollen von Menschen als etwas »was noch garnicht ist und >an sich< auch nicht zu sein brauchte ... ist theoretisch garnicht leicht und vielleicht ohne Religion überhaupt nicht zu begründen.«25 Nichtsdestoweniger will er sich durch den Gesang der Metaphysik gern zu einer neuen Niederlage im Versuch metaphysischen Be­ gründens verleiten lassen.26 Daß besser keine Menschen wären und dies auf dem Wege nataler Enthaltsamkeit zu erreichen ist, ist eine Grundaussage gnostischen Welterlebens. Die Schöpfung ist schlecht, da leiderfüllt. Die Welt gilt als die »Fülle des Schlechten«.27 Der gute Gott hat mit die­ ser Welt nichts zu schaffen, sondern sie ist das Werk eines bösen Demiurgen. Dessen vorzüglichstes Mittel, Menschen im Dasein zu halten, sie in die an sich verachtenswürdige Welt und die Vergäng­ lichkeit zu verstricken und zur Weitergabe des Lebens und Fortset­ zung der Gefangenschaft der göttlichen Seelensubstanz in den Lei­ bern zu veranlassen, ist der Eros.28 Der gnostische Ruf zieht den Menschen aus dem Sein hinaus. Jonas' Werk zeigt, wie im Gnostizismus der Faktizitätscharakter der Welt auch im Abendland früh schon Gestalt angenommen hat. Als gnostische Grundaussage ist für uns festzuhalten: Der Mensch soll in dieser Welt nicht sein. Später werden wir sehen, daß Jonas' Versuch, den Menschen gegen die Möglichkeit des Verebbens im Sein zu hal­ ten, das gnostische Symbol des Rufes invertiert. Er sucht nach einer Ontologie des Rufes, in der es das Sein ist, welches den Menschen ruft, insofern er die Zweckhaftigkeit des Seins wahrnehmen kann. Und auch die Ontologie menschheitlichen Seinsollens von N. Hart­ mann wird sich des Symbol des Rufes bedienen - er spricht vom »Ruf des Idealen«. 25 26 27 28 80

Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 36. Vgl. Jonas, Philosophische Untersuchungen Jonas, Gnosis ..., S. 149 Vgl. Jonas, Gnosis ..., S. 118.

S. 130.

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Marcion

Die folgenden Abschnitte zeigen zum einen, wie in der gnostischen Bewegung der Marcioniten, Manichäer und Katharer der Eros als Gefängniswärter überlistet werden soll, zum anderen, wie auch im Christentum, ja selbst von Augustinus, eine unweigerlich zum Verebben führende natale Enthaltsamkeit den Gläubigen anempfoh­ len wird. Dadurch schmilzt zunehmend die Berechtigung zusammen, pauschal von einer abendländischen Urentscheidung zu sprechen. Durch die Freilegung einer Befürwortung nataler Enthaltsamkeit auch an den Stellen, an denen christliche Überlieferung und griechi­ sche Philosophie zusammenströmen, schwindet das Recht, von einer selbstverständlichen und in allen Fundamenten der Zivilisation an­ gelegten Intuition menschheitlichen Seinsollens als einem irredu­ ziblen Werturteil auszugehen. Damit wächst imgleichen der Bedarf an einer Anthropodizee, die durch Arbeit an der Metaphysik bereit­ zustellen wäre.

6.1 Marcion Marcion, um das Jahr 90 unserer Zeitrechnung geboren, ist als Gno­ stiker zugleich Kirchengründer. Zeitweilig dürfte die Mitgliederzahl der Kirche Marcions diejenige der Großkirche sogar übertroffen ha­ ben. Nach Justin erstreckt sich seine Lehre um das Jahr 150 über die gesamte damals bekannte Menschheit.29 Marcion zufolge entbehrt der im Alten Testament sich ausspre­ chende Schöpfer der Welt der Eigenschaften barmherziger Güte und des Verzeihens. Der alttestamentarische Rigorismus wurde ihm An­ laß, im Weltenschöpfer einen bösen Demiurgen zu sehen, was eine Spaltung im Gottesbegriff bedeutet. Der sich in Jesus offenbart ha­ bende Vater und der Gott des Alten Testaments stimmen für Marcion nicht überein. Christus steht dem die Menschen mit zorniger Rach­ sucht bedrohenden Gott der Herrschaft und des Gesetzes als Gesand­ ter des wahren Gottes leidenschaftsloser Güte gegenüber. Christus ist der Heiland, der die Seelen der an den wahren Gott Glaubenden vom Einfluß des Gerechtigkeitsgottes und also der Verhaftung an die Ma­ terie befreit und die erlösende Rückkehr zum Gott ihrer Herkunft ermöglicht.30 Durch die Spaltung im Gottesbegriff in einen jenseiti29 Nach Walter Nigg, Das Buch der Ketzer, S. 71. 30 Vgl. etwa Joest, S. 489f. ^

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gen und unbeteiligten guten und einen weltschaffenden bösen Demiurgen wußte Marcion eine stichhaltige Antwort auf das Theodizee­ Problem vorzubringen. Ein erheblicher Teil der Anziehungskraft gnostischer Kirchen mag auf diesen Umstand zurückzuführen sein. Im vorigen Abschnitt haben wir das Gebot nataler Enthaltsam­ keit als ein Signum gnostischer Weltsicht bestimmt. Durch ge­ schlechtliche Enthaltsamkeit soll nach Marcion dem bösen Schöpfer der Welt getrotzt werden. Kinderlosigkeit würde bewirken, daß sein Herrschaftsbereich nicht größer wird. Daß die Strenggläubigen der Kirche Marcions gelobten, sich nicht fortzupflanzen, bedeutete frei­ lich ein Erschwernis für das Wachstum ihrer Gemeinden. Wachsen konnte diese Kirche nur durch die Gewinnung neuer Mitglieder.31 Da die ganze Welt als schlecht galt, wurde als Gläubiger nur in die Kirche aufgenommen, wer sich vom sündigen Fleisch und der schlechten Materie befreien wollte. Die Ehe galt als eine vom Demiurgen sanktionierte Satzung, durch die er für die Erhaltung seines Reiches sorgte.32 Fortpflanzung hätte immerfort neue Menschen in die Welt gebracht und jedesmal einen Teilsieg des bösen Prinzips bedeutet. Mit der Weitergabe menschlichen Lebens würde man den Bereich des Weltschöpfers vergrößern, also, in späterer Begrifflichkeit, dem Teufel in die Hände spielen. Von Harnack sagt über Marcions Lehre: »Man soll diesen üblen Gott ärgern, ihn reizen, ihm trotzen und ihm dadurch zeigen, daß man nicht mehr in seinem Dienste steht, sondern einem andern Herrn angehört. Der entschlos­ sene Verzicht auf die Geschlechtlichkeit ist also bei M. nicht nur ein Protest gegen die Materie und das Fleisch, sondern auch ein Protest gegen den Gott der Welt und des Gesetzes.«33 Marcions religiöse Welterschließung erinnert in manchem an die buddhistische Lehre. Wie Jahrhunderte zuvor im fernen Osten dem Buddha, erscheint Marcion die Welt als eine jämmerliche Tragi­ komödie.34 Mit dem bedeutenden Unterschied, daß die Welt dem Buddha nur Natur ist, während sie Marcion als - verfehlte - Schöp­ fung gilt. Dieser Unterschied macht, daß Marcion ob der Weltein­ richtung sich empören kann, während dem Buddhismus Empörung 31 Vgl. Adolf von Harnack, Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott, S. 148f. 32 Siehe auch Baur, Die christliche Gnosis oder die christliche Religionsphilosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung, S. 269. 33 Harnack, a.a.O., S. 149. 34 Für diese Gegenüberstellung siehe auch Schoeps, S. 94. 82

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Mani

über die schlechte, aber an sich indifferente Welt nur die Außenpro­ jektion einer Ichverhaftung ist. Dem Buddhismus gilt die böse Welt nicht als Hervorbringung einer bösen Macht, sondern als Konstrukt eines weltverhafteten Ich. Ein Autor meint, Marcion nehme »mit seiner Weltverlästerung den ganzen modernen Pessimismus vorweg.«35 Bei solchen Verglei­ chen von Lehren der religiösen Gnosis mit modernen Erscheinungen ist jedoch Umsicht geboten: Denn anders als Marcion und die ganze religiöse Gnosis hat es der moderne Pessimismus mit einer indiffe­ renten Welt zu tun. Von daher wäre es sehr viel angemessener zu sagen, der ursprüngliche Buddhismus antizipiere den modernen Pes­ simismus. Beide rechnen mit einer Welt, die weder gut noch schlecht ist, sondern eben indifferent, nicht sinnlos, aber eben auch nicht sinnwidrig. Buddhismus und moderner Pessimismus nehmen die Welt als neutrale Faktizität und Natur. Im Unterschied dazu geht die gnostische Mythologie darauf aus, den im gnostischen Daseinsgefühl an sich entdeckten Charakter der Faktizität in eine Herkunftserklä­ rung zu transformieren. Wobei diese Umwandlung die Möglichkeit zu eschatologischer Überwindung eröffnet.36 Ein Rückgang dieser religiösen Bewegung dürfte sich im Westen erst nach 250 und im Orient wesentlich später ereignet haben. Um 450 gab es in Rom, Ägypten, Palästina, Arabien, Syrien und auf Cypern immer noch Marcioniten.37 Zu dieser Zeit aber war im Manichäismus bereits eine andere gnostische Weltreligion erwachsen, die als bedeutender Konkurrent der offiziellen Kirche die Herrschaft streitig machte.

6.2 Mani Auf die Stifterfigur Mani (216-277) zurückgehend, ist der Manichäismus in einem Religionsgebiet außerhalb der Sphäre christlicher Gnosis entstanden. Beim Eindringen in das Römische Reich bald nach Manis Tod - wovon ein Verfolgungsedikt Kaiser Diokletians aus dem Jahr 297 Kunde gibt38 - fand diese Erlösungslehre Anhänger 35 36 37 38

Nigg, S. 66. Vgl. Jonas (1954), S. 108. Vgl. Schoeps, S. 94. Der Manichäismus wurde zunächst fälschlich als eine eindringende iranische Sekte ^

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aus Resten älterer gnostischer Schulen vor. Im vierten Jahrhundert wurde der Manichäismus zum schärfsten Rivalen der offiziellen Kir­ che und machte ihr zeitweilig die Herrschaft streitig. Unter allen anderen gnostischen Systemen weist die manichäische Religion mit der Marcionitischen die größte Ähnlichkeit auf.39 Auch der Manichäismus ist bestimmt vom Dualismus zwischen dem transzendenten und guten Gott einerseits und dem schlechten Welt­ schöpfer andererseits. In Gestalt von Lichtfunken ist das Geistige in den Kerker der körperlichen Materie eingelassen. Erlösung, das ist die Befreiung der geistigen Lichtfunken aus dem Körpergefängnis. Wie auch Marcion, gibt Mani auf die Frage, warum in der Welt Gutes und Schlechtes, Schönes und Häßliches unvermittelt nebeneinander bestehen, eine klare Antwort: Nicht vom eigentlichen Gott ist die Welt geschaffen, sondern von einem geringeren, aber dennoch mäch­ tigen Wesen. Aus diesem Grunde sind in der schlechten Schöpfung die Lichtfunken innig mit der üblen Materie vermischt. Fortpflan­ zung kam deshalb für die sogenannten electi, die der manichäischen Erlösung am ernsthaftesten lebten, nicht in Frage und gilt sogar als die größte Sünde.40 Durch die Weitergabe menschlichen Lebens würden die Seelen ihre Gefangenschaft in menschlichen Körpern fortsetzen müssen. Zwischen den menschlichen Seelen aber und Gott bestehe Konsubstantialität; die Seelen stellen Fragmente der göttli­ chen Substanz dar.41 Wenn auf diese Weise Gott mit den Seelen aller Menschen identisch ist, dann wird die Heilsgeschichte der Mensch­ heit zugleich zur Geschichte von der Erlösung Gottes. Auf diese Wei­ se, so die Darstellung bei Widengren, wird der Lauf der Welt begreif­ bar als die verschiedenen Stadien des Leidens Gottes.42 Während Widengren meint, Gott gerate hier zu seinem eigenen Erlöser, scheint es doch angemessener zu sagen, die Erlösung Gottes hänge vom Menschen ab. Von der Unbeirrbarkeit gegenüber den Lockun­ gen des Eros nämlich, der eingesetzt ist, die Weitergabe und den Ver­ bleib der göttlichen Substanz in der Fremde zu perpetuieren. Diese angesehen. Für die sich daraus ergebenden politisch-religiösen Spannungen siehe Wi­ dengren S. 119. 39 So Baur, S. 545. 40 Vgl. Puech 88. Puech gibt zahlreiche alte Quellen an, die den eminenten Stellenwert des Gebots nataler Enthaltsamkeit im Manichäismus dokumentieren; siehe ders. Anm 372, S. 186. 41 A.a.O., S. 71. 42 Vgl. Widengren, S. 69. 84

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Mani

Sicht eines in seiner Erlösungshedürftigkeit auf den Menschen ange­ wiesenen Gott wird in der »Philosophie der Erlösung« Mainländers eine zentrale Rolle spielen (siehe unten, Kapitel 12). In organisatorischer Hinsicht weist der Manichäismus viele Ge­ meinsamkeiten mit dem Buddhismus auf. Wie auch der Buddhismus, ist der Manichäismus eine Mönchsreligion. Der Buddha, die Lehre und die Mönchsversammlung machen den Kern der Religion aus; die Laien hieten wesentlich Nahrung und Schutz. Es ist nicht aus­ zuschließen, daß Mani den Buddhismus in organisatorischer Hin­ sicht ganz hewußt nachgeahmt hat.43 Die Trennung in Auserwählte und Hörer - fideles und catechumeni - trug aher auch dem Umstand Rechnung, daß das Gehot geschlechtlicher und nataler Enthaltsam­ keit von einer Bevölkerungsmehrheit einfach nicht zu lehen war. Zeitweilig sah es so aus, als sollte der Manichäismus führende Weltreligion werden. Westwärts drang er his nach Südfrankreich und Spanien vor, ostwärts his Mittel- und Ostasien. In den west­ lichen Teilen des Römischen Reiches sind die Manichäer his in das sechste Jahrhundert zu verfolgen. Eine vollständige Ausmerzung des Manichäismus ist der offiziellen Kirche nicht gelungen. Beim Auf­ treten der Paulicianer in Armenien und Byzanz im siehten Jahrhun­ dert und der Bogomilen im Bulgarien des zehnten Jahrhunderts, scheint es sich um ein Fortlehen des Manichäismus im Westen zu handeln.44 Die Bogomilen wären dann das Verhindungsstück, wel­ ches den Manichäismus mit dem mittelalterlichen Neumanichäismus verhindet.45 Dessen hedeutendste Bewegung ist das Katharertum, dessen Name auf »Katharsis« - Reinigung - zurückgeht, worin der Bezug zu Manis Lehre von der Reinigung der Lichtfunken durch pflanzliche Nahrung erhalten gehliehen ist.

43 Vgl. a.a.O., S. 97. 44 Für die Erfolge im Osten nur dieser Hinweis: Seit 694 erscheint ein manichäischer Würdenträger am chinesischen Kaiserhof, und 732 wird dem Manichäismus in China Religionsfreiheit zugestanden (vgl. Puech, S. 65). 45 Siehe Puech, S. 64, Nigg, S. 192. Auch wenn es keine Zeugnisse giht für eine histori­ sche Kontinuität zwischen dem Manichäismus, den Bogomilen und Katharern (kritisch ist hier H. Fichtenau, S. 104), so läßt sich doch von einer historischen Permanenz der Gnosis sprechen. ^

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Kapitel 6: Die gnostische Ontologie des Verebbens

6.3 Die Katharer Anders als im Falle der Kirche Marcions und der manichäischen Weltreligion steht am Anfang der Katharerhewegung keine Stifter­ gestalt, jedenfalls ist eine solche nicht üherliefert. Wir können das Katharertum als die Zusammenfassung der Vorstöße der unter­ drückten Gnosis nach dem Niedergang des Manichäismus fassen. Paulicianer und Bogomilen sind die hekanntesten Erscheinungen fortlehender religiöser Gnosis, die als unterirdische Strömung im Christentum ihre letzte große Synthese unter dem Namen Katharer fanden. Auch den Katharern galt jede Form von Beischlaf, selhst ehe­ licher, als verahscheuenswerte fornicatio. Es galt zudem, die Reinheit der »geistigen Augen« zu wahren, die die Schau höherer Wesenhei­ ten ermöglichten. Durch körperliche Liehe werde nehen der Reinheit des Körpers auch die der geistigen Augen getrüht. Es kam darauf an, die Menschen aus einer Welt zu hefreien, in der sie vom Teufel fort­ während zu hösen Taten verleitet werden.46 Unter ständiger Mithilfe des Teufels werde die Ahfolge der Ge­ nerationen in Gang gehalten. Indem die Katharer die Körper der Menschen als Kerker hegreifen, in denen der Teufel die Kinder Got­ tes gefangenhält, halten sie an den gnostischen Gleichsetzungen »Welt = Finsternis«47 und »Leih = Grah« fest. Wie auch hei anderen gnostischen Bewegungen lassen die Katharer den Täufling gelohen, sich nicht nur des Geschlechtsverkehrs, sondern auch tierischer Nah­ rungsmittel zu enthalten, wozu nehen Fleisch Käse, Milch und Eier gehörten. Moralische und physische Reinheit wurden auf eine Ehene gestellt.48 Ein anderes Motiv für die vegetarische Ernährung der Ka­ tharer ist das Moment des Mitleids mit allen Lehewesen, wie es inshesondere vom Buddhismus her hekannt ist, jedoch den meisten gnostischen Strömungen zu eignen scheint. Urteilt man üher die katharische Häresie, so ist zu herücksichtigen, daß es gemäß dieser Lehre untersagt sein sollte, irgendein Lehewesen zu töten, vielmehr der Mensch sich in einem Freundschaftsgefühl aller Kreatur verhunden fühlen sollte.49 46 47 48 49 86

Vgl. Roche, S. 26f. und 42. Näheres hierzu hei Jonas (1954), S. 144 Vgl. Fichtenau, S. 92. Vgl. Nigg, S. 201.

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Wie die religiöse Gnosis im allgemeinen, vertraten auch die Ka­ tharer die Auffassung, erst dann, wenn die Menschen aufhörten, sich fortzupflanzen, würde es keine Finsternis mehr gehen. Mit der Wei­ tergabe menschlichen Lehens würde nur die Zahl der in der Welt­ hölle schmorenden Seelen erhöht. Als das Reich des Satans galt den Katharern die irdische Welt. Ganz in diesem eminent gnostischen Sinne heißt es hei Schopenhauer: »Woher denn anders hat Dante den Stoff zu seiner Hölle genommen als aus dieser unserer wirk­ lichen Welt?50 Und eben weil schon diese Welt die keiner Steigerung mehr fähige Hölle sein sollte, erwiesen sich die von der Kirche gegen die Katharer angewandten Druckmittel (Bußen, Gnadenvergahen, Exkommunikationen) als ein wenig wirksames Mittel.51 Man muß wohl F. Chr. Baur Recht gehen, wenn er in seinem Werk »Die christliche Gnosis« zu dem Schluß gelangt, die Fragen und Prohleme, welche die Gnosis der ersten Jahrhunderte hewegten, seien dem religiösen und spekulativen Bewußtsein nie mehr ganz ahhanden gekommen.52 So hemerkt ein philosophischer Gnostiker des 20. Jahrhunderts, Cioran, mit Bedauern üher die katharische Hä­ resie: »Hätte der Katharismus gesiegt, und wäre er sich treu gehlie­ hen, so hätte er zu einem Kollektivselhstmord geführt.«53 Ungeklärt hleiht an dieser Bemerkung, oh Cioran tatsächlich an einen kollekti­ ven Suizid oder an ein Verehhen der Menschheit dachte, welches sich im Zuge strikter Befolgung der katharischen Lehre ergehen würde. Zu einem ganz anderen Befund gelangt H. Ch. Lea in seinem Werk üher die Geschichte der Inquisition im Mittelalter. Wäre der Katharismus dominant geworden, meint Lea, so hätte dies nicht zum Verehhen der Menschheit geführt, sondern zu einem Rückgang des allgemeinen kulturellen Niveaus: »Its asceticism with regard to com­ merce hetween the sexes, if strictly enforced, could only have led to the extinction of the race, and as this involves a contradiction of na­ ture, it would have prohahly resulted in lawless concuhinage and the destruction of the institution of the family, rather than in the disappearance of the human race and the return of exiled souls to their creator, which was the summum bonum of the true Catharan.«54 50 51 52 53 54

Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, S. 445. Vgl. Baier, S. 69f. Vgl. Baur, S. 547f. Cioran, S. 65. Lea, A History of the Inquisition of the Middle Ages, Vol. 1, S. 106. ^

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Kapitel 6: Die gnostische Ontologie des Verebbens

Im Falle der Katharer, so führt Lea weiter aus, habe die kirchliche Orthodoxie Hand in Hand mit dem allgemeinen Gang der Zivilisati­ on gewirkt. Dies sei gerade dann zu berücksichtigen, wenn wir an­ sonsten die Mittel der Inquisition ablehnen. In diesem Falle jedoch habe die Kirche nicht nur für ihre eigene Übermacht gekämpft, son­ dern überdies für den menschlichen Fortschritt. Denn die Verdam­ mung der sichtbaren Welt und der gesamten Materie als Teufelswerk verteufele imgleichen den materiellen Fortschritt. Lea's Urteil über den Katharismus lautet deshalb: »It was not only a revolt against the Church, but a renunciation of man's domination over nature.«55 Ge­ wiß, wäre der Katharismus im Westen dominant geworden, so wäre fraglich gewesen, ob sich ein modernes Wirtschaftsleben, moderne Technik und Wissenschaft überhaupt hätten entwickeln können. Und doch ist Lea's Bemerkung, im Katharertum entsage der Mensch der ihm angestammten Herrschaft über die Natur, völlig unzutref­ fend. Wenn wir berücksichtigen, daß Sexualität und Fortpflanzung erst seit kurzem in »bequemer« Weise auseinandergetreten sind, dann bedeutet der gnostische Verzicht auf Fortpflanzung immer auch den Verzicht auf Sexualität. Auf letztere zu verzichten aber bedeutet gerade einen Sieg über die Natur, den zu erringen nur wenigen gege­ ben ist, weshalb ja auch Paulus und im Anschluß an ihn die Kirchen­ väter die Ehe als Notventil zulassen. Dieser Zusammenhang besagt, daß die Katharer nicht zum Verzicht auf die Herrschaft über die Na­ tur aufriefen, sondern gerade einen Sieg über die gnostisch durch­ schaute Natur anstrebten, bei dessen Erringung der Mensch sich ganz aus dem ihn festhaltenden Naturzusammenhang herausgenom­ men haben würde. Modern gesprochen, erstrebte die religiöse Gnosis eine Herausnahme des Gläubigen aus dem natürlichen Gattungs­ zusammenhang. Prinzipiell gesehen spricht sie den Menschen bereits als das Wesen an, das sich nicht von Natur aus fortpflanzen muß, sondern von Natur aus Kulturwesen ist, dessen Triebstruktur kultu­ rell bis ins äußerste gestaltbar ist. In der Gegenwart Momente einer säkularen Gnosis zu sehen, ist über das in den vorangegangenen Abschnitten Gesagte hinaus vor allem auch deshalb zutreffend, weil in den säkularen Staaten mit der Verfügbarkeit moderner Verhütungsmittel Sexualität und Fort­ pflanzung weitgehend auseinandergetreten sind. Natale Enthaltsam­ keit, ein Gebot religiöser Gnosis, erfüllt sich bei vielen Zeitgenossen, 55 Ebd. 88

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ohne daß dies gegen die Triehnatur erst zu erringen wäre. Um die Jahrtausendwende finden wir in Deutschland, Italien oder Spanien eine Gehurtenrate56, die, würde sie in der ganzen Welt anzutreffen sein, das Verehhen der Menschheit his zur Mitte des dritten Jahrtau­ sends mit sich hrächte. Und in noch einer weiteren Hinsicht ist die gnostische Weltheschreihung nicht ohsolet geworden. Immer noch ist die Welt von solcher Beschaffenheit, daß man viel zu vielen das Recht nicht aherkennen dürfte, sie als das Werk des Teufels zu ver­ urteilen. Religiöser Indifferentismus freilich läßt eine solche Welt­ verurteilung nicht zu. Was von der religiösen Gnosis in säkularer Form überdauert, ist die Frage, oh in einer solchen Welt das mensch­ liche Lehen weiterzugehen ist und, so die Frage einmal gestellt ist, mit welchen mehr als egoistischen Gründen wir die Weitergahe zu rechtfertigen vermögen. In dem Maße, in dem die Moderne im Lehen und im Denken vormals Orientierung stiftende Vorgahen der christlichen, dann auch anderer religiöser Überlieferung hinterfragt, legt sie die Frage nach dem Seinsollen von Menschen hloß und macht diese Frage zu ihrem eigentlichen Projekt; es tut nichts zur Sache, daß die Frage zur Zeit noch üherwiegend als die nach dem Überlebenkönnen der Mensch­ heit gestellt wird (siehe ohen, 2.1). Einige der geistesgeschichtlichen Zusammenhänge, in denen die Frage nach dem Seinsollen von Men­ schen aufgehrochen ist, werden weiter unten heleuchtet. Gehen wir zunächst der Frage nach, oh und inwieweit Bihel und Patristik die Weitergahe menschlichen Lehens gehieten oder empfehlen.

56 Siehe G. Mermet, Die Europäer. Länder, Leute, Leidenschaften, S. 151 ff. ^

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Kapitel 7

Zur Hervorbringungspflicht in Bibel und Patristik

Hinsichtlich Platons gelangten wir zu der Vermutung, daß seine po­ sitiven Äußerungen zum Gebot der Fortpflanzung letztlich politi­ schem Kalkül entspringen. Die Metaphysik der Unsterblichkeit, die er in diesem Zusammenhang ins Spiel bringt, ist dem Verdacht aus­ gesetzt, bloßer idealistischer Schmuck zu sein. Zwar könnte man hier einwenden, Glück sei doch für Platon das Ziel des Lebens, und dieses, bestehend in größtmöglicher Ähnlichkeit mit Gott1, werde zumal durch Unsterblichkeit erreicht, durch die Weitergabe der Fackel des Lebens. Aber diese Unsterblichkeit ist die des Menschengeschlechts. Die Unsterblichkeit, um die es Platon viel­ mehr geht, ist die der Seele, die Platon als das Wertvollste gilt, deren Dasein im Körper er als Strafe bezeichnet hat. Offenbar also kann das platonische Glück als größtmögliche Ähnlichkeit zu Gott auf dem Wege der Weitergabe des Lebens gar nicht erreicht werden. Sondern es ist Entsagung vom Irdischen, die zu größter Gottesähnlichkeit führt. Und wenn der Leib ein Gefängnis für das Wertvollste ist, war­ um dann durch Fortpflanzung neue Gefängnisse bauen? Aus dieser Anfrage erhellt, daß der Platonismus mit der Lehre Marcions, der sich ja auch auf ihn berufen haben soll, nicht ganz unvereinbar ist. Dann aber folgt auch, daß im Zuge der das geistige Abendland kon­ stituierenden Synthese in das Christentum mit dem Platonismus eine Lehre eingearbeitet worden ist, deren systematische Grundlage der Lehre Marcions keinen grundsätzlichen Widerstand bietet. Und dies wiederum erfordert eine Korrektur in der Weise, wie wir bisher mit dem Begriff der abendländischen Urentscheidung als einem heu­ ristischen Prinzip umgegangen sind: Eine nähere Betrachtung des Platonismus macht die landläufige Auffassung fragwürdig, das Ge­ bot einer Weitergabe des Lebens habe von jeher zu den Grundfesten

1 Vgl. Platon, Theätet 176 b. 90

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Kapitel 7: Zur Hervorbringungspflicht in Bibel und Patristik

westlicher Überlieferung dazugehört. Betrachten wir nun die andere Grundfeste der abendländischen Synthese. Wie steht es in der Bibel und im früheren Christentum, in Schriften der Kirchenväter, um die Pflicht zur Fortpflanzung? Altes und Neues Testament stellen ihre Exegeten vor schier unlösbare Aufgaben und Probleme. Dem vielzitierten Vermehrungsgebot vor allem aus der Schöpfungsgeschichte stehen verschiedene Stellen im NT gegenüber, die den Verzicht auf Ehe und Nachkommen empfeh­ len. Von einem einheitlichen biblischen Seinsollen der Menschheit als göttlichem Imperativ kann deshalb keine Rede sein. Betrachtet man das bis in die unmittelbare Gegenwart beanspruchte alttesta­ mentarische Vermehrungsgebot isoliert, so zeigt sich überdies, daß es sich womöglich gar nicht um ein Gebot zur Nachkommenschaft handelt, sondern immer nur als ein solches herausgestellt worden ist. Insbesondere die Untersuchung Daubes: »The Duty of Procreation«, legt nahe, daß die relevanten alttestamentarischen Stellen eher als Segnungen und nicht so sehr als ein göttliches Gebot aufzufassen sind. In den Schriften der Kirchenväter Augustinus, Clemens von Alexandrien, Cyprian und Tertullian, auf die ich mich beschränke, wird der Ehe- und Nachkommenlosigkeit der Vorzug gegeben. Be­ jaht wird die Ehe nur in dem Maße, wie dies in Abgrenzung gegen häretische Gruppen vonnöten ist. Wobei der Streitpunkt in der Aus­ einandersetzung mit den Häretikern nicht darin liegt, ob Ehe- und Nachkommenlosigkeit vorzuziehen sind, sondern aus welchen Gründen heraus dies so sein sollte. Die häretische Begründung lau­ tet, daß die Welt das Werk nicht des wahren Schöpfers ist, sondern von einem bösen Demiurgen gestaltet wurde. Durch die Weitergabe des Lebens würden Menschen immerfort in ihren irdischen Fesseln an die schlechte Schöpfung gebunden bleiben. Die Kirchenväter sehen sich vor dem gewaltigen Problem, die Schöpfung als gut auszuweisen und dennoch imgleichen den Rückzug des Menschen aus ihr als das Bessere zu empfehlen, ohne doch den Eindruck zu erwecken, diese Anempfehlung könnte irgend etwas mit einem Makel des Schöpfungswerkes zu tun haben, ohne also die Begründung der Häretiker in diese Empfehlung mit auf­ zunehmen.

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Kapitel 7: Zur Hervorbringungspflicht in Bibel und Patristik

7.1 Enthält das Alte Testament ein genuines Gebot zur Fortpflanzung? In seinem Aufsatz »The Duty of Procreation« sucht Dauhe den Nach­ weis zu erhringen, sowohl im AT als auch im NT würden Nachkom­ men als ein Segen vorgestellt. So wurde schon Adam und Eva Fruchtharkeit als ein Segen zuteil: »Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde ...« (1.1,28).2 Bei den meisten Stellen im AT, die die Frage der Weitergabe menschlichen Lehens betreffen, stehen die Äußerungen in der Tat im Zusammenhang mit einer Segnung. Eine Ausnahme davon macht Mose 1.9,7: »Seid fruchtbar und mehret euch und regt euch auf Er­ den, daß eurer viel darauf werden.« Dieser Stelle kommt noch am ehesten Gehotscharakter zu, der jedoch durch folgende Überlegun­ gen sogleich wieder gemildert wird. Kinderlosigkeit gilt im hihlischen Kontext wie oftmals heute noch als ein Unglück. Aher daraus, daß es ein Unglück ist, wenn manche mit Kinderlosigkeit gestraft sind, folgt natürlich nicht, daß es eine Pflicht gehen könnte, welche zu zeugen; wie ja auch aus dem Armutszeugnis, keinen eigenen Esel zu hahen, nicht folgt, daß derjenige, der sich das Transporttier leisten kann, eine Pflicht hätte, es sich zuzulegen. Kinderlos zu sein, ist, wie Dauhe aus dem Gesamtkontext heraus üherzeugend darlegt, weniger eine Schande vor Gott, als eine Schmach vor den Menschen. Rahel ist dankhar, als Gott sie erhört und fruchthar macht: »Gott hat meine Schmach von mir genommen« (1.30,23). Schwerlich könnte es eine Pflicht gegen Gott sein, Kinder zu gehären, wenn Gott selhst den Segen der Fruchtharkeit zuallererst vergiht. Eine parallele Stelle findet sich im NT, wo Elisaheth dem Herrn dankt, »daß er meine Schmach unter den Menschen von mir nähme« (Lk 1,25). Daraus, daß Unfruchtharkeit eine Schmach, Fruchtharkeit ein Segen ist, entsteht keine Pflicht zur Fortpflanzung. Und doch vermögen die Ausführungen Dauhes nicht ganz zu üherzeugen. Auch wenn Gott die Fähigkeit zur Nachkommenschaft 2 Weitere Textstellen: In 1 Mose 28,3 spricht Isaak zu seinem Sohn Jakoh: »Und der allmächtige Gott segne dich und mache dich fruchthar und mehre dich, daß du werdest ein Haufe von Völkern.« Gott segnet Jakoh als er zu ihm spricht, »sei fruchthar und mehre dich!« (1. 35,11). Und weiterhin: »Und Gott segnete Noah und seine Söhne und sprach: Seid fruchthar und mehret euch und füllet die Erde« (1.9,1). 92

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Die Anempfehlung von Ehe- und Kinderlosigkeit im Neuen Testament

als einen Segen erteilt, so kann diese Segnung doch zugleich Forde­ rungscharakter haben. Von jemandem, den wir mit einer besonderen Fähigkeit ausstatten, können wir durchaus erwarten, daß diese Fähig­ keit auch in unserem Interesse verwaltet wird.3

7.2 Die Anempfehlung von Ehe- und Kinderlosigkeit im Neuen Testament Ist zumindest fraglich, ob tatsächlich von einer alttestamentarischen Pflicht zur Fortpflanzung die Rede sein kann, so gilt den Schreibern des NT die Kinderlosigkeit eindeutig als das Beste und die Heirat nur als das Zweitbeste, um die Versuchung zu Handlungen zu unterbin­ den, die vom Guten noch weiter entfernt sind. Eine große Rolle spielt hier auch die an einigen Stellen zum Ausdruck gekommene Nah­ erwartung hinsichtlich des kommenden Gottesreiches.4 In Ansehung des kommenden Reiches Gottes aber kann der irdischen Existenz kein sonderlicher Eigenwert mehr zugeschrieben werden. So wird im NT aus zwei Gründen für die Ehelosigkeit gesprochen. Zum einen

3 Wiederum überzeugend sind Daubes Ausführungen zu einer weiteren Stelle, die gern als Beleg für eine biblische Pflicht zur Nachkommenschaft herangezogen wird, ist die Geschichte von Juda und seinen Söhnen Ger und Onan. Der Herr hatte Ger sterben lassen, da dieser sich ihm widersetzt hatte. Weil Gers Witwe Thamar noch kinderlos ist, befiehlt Juda seinem zweitältesten Sohn Onan, mit Thamar Kinder zu zeugen. Ihr erst­ geborener Sohn würde dann als Sohn des verstorbenen Ger gelten und dessen Namen tragen; mit der für Onan unliebsamen Folge, daß ihm auf diese Weise ein Teil der Erb­ schaft streitig gemacht würde. »Aber da Onan wußte, daß die Kinder nicht sein eigen sein sollten, ließ er's auf die Erde fallen und verderben, wenn er einging zu seines Bru­ ders Frau ...« (1.38,9). Onan vollzieht den coitus interruptus, »auf daß er seinem Bruder nicht Nachkommen schaffe« (ebd.). An diese Stelle nun schließt sich das Urteil Gottes an, welches die Unbotmäßigkeit gegenüber dem väterlichen Geheiß, den Egoismus Onans, verwirft: »Dem HERRN mißfiel aber, was er tat, und er ließ ihn auch sterben« (1. 38,10). Scheinbar ist hier die Möglichkeit gegeben, Gottes Urteil auf zwei Handlun­ gen zu beziehen, auf den Versuch der Sicherung egoistischer Besitzansprüche und auf den coitus interruptus. Im Kontext ist aber allein die erste Verknüpfung sinnvoll. Die wahrscheinlich viel populärere letztere Verknüpfung hat viel zur Unterdrückung der Sexualität beigetragen. Verhütung und Masturbation (vom 18. Jahrhundert an ist hier von Onanie die Rede, vgl. Daube 244), hätten den Zorn Gottes auf sich gezogen. 4 Bei Matthäus (19,12) heißt es: »... und etliche enthalten sich, weil sie um des Him­ melsreiche willen auf die Ehe verzichten.« Und nach der Ankündigung, kein Stein wer­ de auf dem andern bleiben: »Weh aber den Schwangeren und Säugenden zu jener Zeit!« (13,17). ^

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Kapitel 7: Zur Hervorbringungspflicht in Bibel und Patristik

sei es sinnlos, beim bevorstehenden Untergang alles Weltlichen noch darauf aus zu sein, Nachkommen in die Welt zu setzen. Zum zweiten (Paulus), sollte sie vorzugsweise wegen der Niedrigkeit der Fleisches­ lust gemieden werden. Nur als eine Art Notventil will Paulus die Ehe noch zulassen.5 Daß eine Betonung des Verdienstes der Ehe- und Nachkommenlosigkeit nicht allein gnostischer, sondern gerade auch neutestamen­ tarischer Provenienz ist, wird an folgenden Aussprüchen Lukas' und Paulus' ersichtlich: »Die Kinder der Welt freien und lassen sich frei­ en; welche aber gewürdigt werden, jene Welt zu erlangen und die Auferstehung von den Toten, die werden weder freien noch sich frei­ en lassen« (Lk 20. 34 f.). Bei Paulus schließlich finden wir Bemerkun­ gen, die in besonderem Maße zur Stützung asketischer Forderungen geeignet sind (weshalb sich auch eine Gegenbewegung bildete, die meinte, eine Lobpreisung der Ehelosigkeit würde dem Manichäismus in die Hände spielen): »Es ist dem Menschen gut, daß er kein Weib berühre. Doch um der Unkeuschheit willen habe jeder seine eigene Frau (...) Ich wollte wohl haben, alle Menschen wären wie ich; doch ein jeder hat seine eigene Gabe von Gott« (1 Kor. 7. 1-7). In dem Maße aber, in dem die Forderung nach Ehelosigkeit im NT verankert werden kann, wird die Bekämpfung der Häretiker er­ schwert, wo diese ebenfalls natale Enthaltsamkeit fordern. Und auch Jesu Forderungen nach unbedingter Gefolgschaft verlangen Kinder­ losigkeit: »So jemand zu mir kommt und hasset nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigen Le­ ben, der kann nicht mein Jünger sein« (Lk 14,26; vgl. entsprechend Mt 10,37). Für Augustinus ist es ausgemacht, daß wahre Gefolg­ schaft Nachkommenlosigkeit beinhaltet.6 Diese Korrektur am wahrscheinlich vorherrschenden Bild eines pauschalen biblischen Hervorbringungsgebots belegt einmal mehr, daß es sich bei der Weitergabe menschlichen Lebens keineswegs um eine unhinterfragte und uranfängliche abendländische Überlie­ ferung handelt, auf die spätere Philosophie sich zur Begründung

5 In der Nachfolge Paulus' war es vor allem Tertullian, der vorgebliche Gründe für die Ehe als ungültige Entschuldigungen der Schwachen zu entlarven suchte: »Nämlich de­ nen, welche außer der Ehe leben, lassen zwei Arten menschlicher Schwächen das Hei­ raten als notwendig erscheinen. ... die Begierlichkeit des Fleisches... die Begierde dieser Welt« Tertullian, Ausgewählte Schriften, S. 388). 6 Vgl. Augustinus, De vera religione, S. 51. 94

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menschheitlichen Seinsollens als ein irreduzibles Werturteil berufen könnte.7

7.3 Das Werben für Ehe- und Nachkommenlosigkeit in der Patristik Die im NT verankerte Empfehlung nataler Enthaltsamkeit führt die eigentümliche Situation herbei, daß der Kampf gegen die Häretiker ein Stück weit immer auch zur Selbstbezichtigung der wahren Kirche gerät. Wenn Irenäus von Lyon die Marcioniten deshalb als ketzeri­ sche Sekte anprangert, weil sie, natale Enthaltsamkeit predigend, die göttliche Schöpfung verwerfen, so verwirft er, was zu zeigen ist, im­ plizit immer auch Lehrbestandteile der »wahren« Kirche. In seiner Schrift »Gegen die Häresien« schreibt Irenäus: »Von Saturnin und Marcion her haben die sogenannten >Enthaltsamen< die Enthaltung von der Ehe verkündet, die alte Einrichtung Gottes verwerfend und indirekt den anschuldigend, der Mann und Weib zur Erzeugung der Menschen gemacht hat.«8 Doch erweist es sich, recht besehen, den Kirchenvätern als unmöglich, einseitig gegen natale Enthaltsamkeit zu predigen. Die neutestamentarischen Vorgaben lassen dies nicht zu. Den erwähnten Stellen aus Lukas, Matthäus und Paulus keine Reverenz zu erweisen, hätte sie selbst dem Vorwurf der Häresie aus­ setzen können. Es liegt hier eine religiöse Double-bind-situation vor. Man darf einerseits denen, die wegen der Schlechtigkeit der Schöp­ fung natale Enthaltsamkeit nahelegen, nicht entgegenkommen. Und doch muß natale Enthaltsamkeit als der christliche Königsweg hoch­ gehalten werden, will man nicht Gefahr laufen, der irdischen Exi­ stenz einen intrinsischen Wert zuzusprechen, welcher ihr unter christlichen Voraussetzungen nicht zukommen darf. Der Vorzug der Nachkommenlosigkeit wird nicht nur etwa bei Clemens von Alexandrien, Tertullian und Cyprian bestätigt, son­ dern, in seiner Monographie zum Thema Ehe, »De bono coniugali«, auch von Augustinus, dem einflußreichsten Kirchenlehrer. Läßt sich aus den Aussagen der anderen Kirchenväter in vorkonstantinischer 7 Eine entsprechende Korrektur müßte auch an dem Bestreben vorgenommen werden, die Wurzeln der mit der Bevölkerungsexplosion einhergehenden ökologischen Krise auf das biblische Mehrungsgebot zurückzuführen. 8 Irenäus von Lyon, S. 163. ^

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Kapitel 7: Zur Hervorbringungspflicht in Bibel und Patristik

Zeit keine einheitliche Lehrmeinung in der Frage einer Hervorhringungspflicht ahlesen, so kommt Augustinus' Darlegungen auf Grund seines Einflusses hesonderer Stellenwert zu. Daß Augustinus auch das im Zuge nataler Enthaltsamkeit mögliche Aussterhen der Menschheit ein Um-so-hesser nennt - hezeichnenderweise hat Scho­ penhauer9 späterhin diese Stelle zitiert -, spricht für die These, daß mit Blick auf die Alte Kirche von einem Seinsollen der Menschheit keine Rede sein kann. Zwar stellt Augustinus einmal eine Analogie her, in der Nahrung für die Gesundheit eines Menschen derselhe Stellenwert zukommt, wie dem Sexualverkehr für die Gesundheit des menschlichen Geschlechts.10 Doch legt er unmißverständlich dar, daß Enthaltung von allem Verkehr hesser ist als selhst der eheliche Verkehr.11 Augustinus legt sich selhst den entscheidenden Einwand vor: »Ich kenne einige, die murren und sagen: wie nun, wenn alle sich jeder Begattung enthalten wollten, wie könnte dann das Menschen­ geschlecht hestehen? Möchten sie's doch alle wollen! wofern es nur geschähe in Liehe, aus reinem Herzen, mit gutem Gewissen und auf­ richtigem Glauhen: dann würde das Reich Gottes weit schneller ver­ wirklicht werden, indem das Ende der Welt heschleunigt würde.«12 Wenn nur die Auffassung zutrifft, daß zumal Augustinus ein geisti­ ges Relais ist, in dem die antike Kultur in das sich konstituierende Ahendland hinüherströmt, dann ist diesen Textstellen allergrößte Bedeutung heizumessen. Sie helegen einmal mehr, daß das Seinsol­ len der Menschheit erst später die Gestalt eines irreduzihlen Wert­ urteils angenommen hahen kann. Bei Clemens, einem früheren Vermittler griechischer (plato­ nischer) Philosophie und christlichen Glauhens, halten sich die hei­ den gegenläufigen Ansprüche diesseitsorientierten Mitwirkens an der Schöpfung und jenseitsorientierten Ahsehens von allem Irdi­ schen in etwa die Waage. Zum einen finden wir: »So there is every reason to marry - for patriotic reasons, for the fulfillment of the universe (insofar as it is our husiness).«13 Gott hahe erklärt, »that

9 Vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, SW II, S. 793. In seiner Dar­ stellung »Augustinus. Vom Götterreich zum Gottesstaat« hehauptet H. Eihl, Schopen­ hauer hahe Augustinus nicht gekannt, vgl. Eihl, S. 113. 10 Augustinus, De hono coniugali, Kapitel 16, ( Augustinus 1955), S. 32. 11 A.a.O., Kapitel 6, S. 17. 12 A.a.O., Kapitel 10, S. 23; Schopenhauers Ühersetzung, SWII, 793. 13 Clemens von Alexandrien, Stromata II140 (1). 96

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Das Werben für Ehe- und Nachkommenlosigkeit in der Patristik

marriage is Cooperation with the work of creation.«14 Der Gesichts­ punkt des Menschen als eines Mitarbeiters am Schöpfungswerk, wie er von diesem christlichen Philosophen dargestellt wird, wird in spä­ teren Anthropodizeen wieder auftauchen, selbst bei solchen Philo­ sophen noch (Hartmann, Kap. 20; Steinvorth, Kap. 22) die Gott nicht mehr beanspruchen. Den Gesichtspunkt des Staates kennt Clemens von Platon her. Ohne daß ersichtlich würde, mit welchem Grad an Zustimmung, zitiert er Platons Auffassung, wonach Kinderlosigkeit bestraft werden sollte.15 Wer hingegen dem Logos gemäß Kinder zeugt und im Herrn unterrichtet, für den sei ein Lohn bestimmt.16 Diesen pronatalen Äußerungen zum Trotz, rückt auch Clemens nicht davon ab, daß Monogamie nur das Zweitbeste ist. Er bewundert die Monogamie, aber das gänzliche Absehen vom Sexuellen sei ge­ segnet.17 Damit ist auch im Argumentationszusammenhang dieses christlichen Denkers die Möglichkeit eines Aussterbens der Mensch­ heit, wie sie späterhin in aller Deutlichkeit von Augustinus erörtert wird, in prinzipieller Hinsicht gegeben. Clemens' Vorwurf gegen die Häretiker ist zumal darin begründet, daß diese sich »unter einem frommen Vorwand durch ihre Enthaltsamkeit sowohl gegen die Schöpfung als auch gegen den Weltschöpfer ... versündigen .,.«18 Wie später Augustinus, vermag Clemens natale Enthaltsamkeit als einen Segen aufzufassen; aber sie ist es auch für ihn nur dann, wenn sie im Glauben an das Gute der Schöpfung und nicht in Ablehnung ihrer anempfohlen wird. Am Gut der Schöpfung müsse unbedingt festgehalten werden, weshalb Clemens die Auffassung, der Sexual­ verkehr sei unrein, als eine häretische darzustellen sucht. Da ja die Häretiker selbst ihre Existenz dem Sexualverkehr verdanken, glaubt er im Sinne eines schlagenden Arguments fragen zu können: »Müssen nicht sie selbst dann unrein sein?«19 Aber eine Abwehr der 14 A. a. O., III 66 (3). 15 Vgl. Stromata II, 141 (5). Clemens' christliche Platonaneignung ist insgesamt geprägt von dem Bemühen, Platon mit dem rechtgläubigen Christentum in Einklang zu brin­ gen; Platon habe keinen Dualismus, sondern bloß einen Pessimismus vertreten. Für Näheres siehe D. Wyrwa, »Die christliche Platonaneignung in den Stromateis des Cle­ mens von Alexandrien«, bes. Kapitel V 2: Die Verurteilung der Schöpfungsfeindschaft. 16 Vgl. a.a.O., III 98. (4). 17 Vgl. a.a.O., III4 (3). 18 A.a.O., III45. (1). 19 A.a.O., III46. (5). ^

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Kapitel 7: Zur Hervorbringungspflicht in Bibel und Patristik

gnostischen Einstellung gelingt nicht über dieses Argument. Denn Clemens läuft hier schließlich Gefahr, das Fleischliche letztlich doch als ein Gut darzustellen. In sehr viel eindeutigerer Form als Clemens lehrt Tertullian den Vorzug völliger Enthaltsamkeit. Während Clemens Platon zustim­ mend dort zitiert, wo er von der Weitergabe der Fackel des Lebens spricht20, findet sich bei Tertullian in »De exhortatione castitatis« der Abmilderungen zwar noch zulassende, für sich jedoch eindeutig jen­ seitsgerichtete Satz, »no man in his right senses would care to have children.«21 Sorge um das Gemeinwohl und um einen Niedergang der Städte bei sinkender Geburtenrate finden bei Tertullian zwar noch Erwähnung - jedoch nur in ironischer bis zynischer Form.22 Freilich ist auch Tertullian durch die allgemeinen christlichen Vorgaben gehalten, die Ehe zu schätzen. Im »Brief an die Frau« stellt er die Ehe dar als »von Gott gesegnet als die Pflanzstätte des mensch­ lichen Geschlechts und erfunden, um den Erdkreis zu bevölkern und die Zeit des Bestehens der Welt auszufüllen.«23 Dieser Äußerung zum Trotz gilt die Ehe dem Rigoristen Tertullian nur als ein Gut, über dem wir mit Paulus noch etwas Besseres anzuerkennen haben. Leicht sei einzusehen, »daß uns die Erlaubnis des Heiratens nur not­ gedrungen gewährt sei; was aber die Not gewährt, das entwertet sie auch.«24 Weitergehende Erläuterungen Tertullians zum Vorzug der Kinderlosigkeit gehen dahin, es sei unverständlich, warum jemand, der sich als Diener Gottes selbst von der Welt enterbt hat, noch nach Erben trachten sollte.25 Ein Christ bedürfe keiner Nachkommen, hat er doch zahlreiche Brüder und findet in der Kirche seine Mutter.26 In einer geradezu sarkastischen Bemerkung schließlich fragt Tertullian, ob man sich etwa deshalb gegen natale Enthaltsamkeit wenden sollte, weil dann niemand mehr rufen könnte: Die Christen vor die Löwen!27 Ein Vergleich Clemens' mit Tertullian zeigt, daß sie auf dem Boden des vorgeschriebenen Gemeinsamen und Zulässigen ausein­ 20 21 22 23 24 25 26 27 98

Vgl. II138 (2). Tertullian, Treatises on Marriage and Remarriage, S. 61. Vgl. ebd. Tertullian, Ad uxorem (Tertullian 1872, I/2), S. 385. A. a. O., S. 386. Vgl. Tertullian, De exhortatione castitatis; Treatises S. 60f. Vgl. Tertullian, De monogamia; Treatises S. 106. Vgl. Tertullian, De exhortatione castitatis; Treatises, S. 61.

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anderliegende Positionen einnehmen. Für Clemens bieten Nachkom­ men einerseits dem einzelnen die Möglichkeit, als Mitarbeiter Gottes an der Vervollkommnung der Welt mitzuarbeiten. Andererseits aber sei natale Enthaltsamkeit zulässig, wenn dem Betreffenden »das Kin­ derzeugen bitter erscheint.« Wer sich durch Nachkommen nicht von Gott abgelenkt fühle, für den biete sich die Ehe an.28 Tertullian hin­ gegen spricht von der bitteren Süße, welche vom Nachwuchs herrührt, nach der nur ein Tor streben könne.29 Biblische Vorgaben verhindern ebenso, daß Clemens das Beste gegenüber dem einfacher handhabbaren Zweitbesten der Ehe aus den Augen verliert, wie sie verhindern, daß Tertullian das dem Normal­ sterblichen allein mögliche Zweitbeste neben dem Besten nicht gel­ ten läßt. Einen Schiedsspruch für diese patristische Divergenz hält Cyprian bereit, wo er in einem Atemzug das Gebot zur Vermehrung und den Rat zur Enthaltsamkeit nennt. Seine Weise, das biblisch Un­ vermittelte zu versöhnen, Altes und Neues Testament in Einklang zu bringen, scheint die christlich einzig überzeugende. Im folgenden be­ zieht sich Cyprian einerseits auf das alttestamentarische Mehrungs­ gebot, andererseits auf Lukas 20,36, nur die Kinder dieser Welt würden zeugen: »Der erste Ausspruch gebot zu wachsen und sich zu vermehren, der zweite riet die Enthaltsamkeit an. Da die Welt noch neu und leer war, haben wir uns durch Fruchtbarkeit an reichlicher Zeugung fortzupflanzen und zur Vermehrung des menschlichen Ge­ schlechts heranzuwachsen. Nun aber, da die Erde bevölkert und die Welt angefüllt ist, verschnitten sich diejenigen für das Himmelreich, welche die Enthaltsamkeit fassen können, indem sie wie Verschnitte­ ne leben. Der Herr befiehlt das nicht, sondern ermuntert dazu ..., da die Willensäußerung frei verbleibt.«30 Wie oben schon Tertullian, spricht auch Cyprian in unserem Zusammenhang die Kirche als Mutter an, deren Fruchtbarkeit sich nicht in der Nachkommenschaft ihrer Mitglieder erweise, sondern: »An ihnen erfreut sich und an ihnen erblüht reichlich der glorreich fruchtbare Schoß der Mutter Kirche, und je mehr der zahlreiche Stand der Jungfrauen an Zahl zunimmt, desto mehr wächst die Freu­ de der Mutter.«31 Wenn man hier zuende denkt, dann fallen ersicht28 29 30 31

Vgl. Clemens, Stromata III 67 (1). Vgl. Tertullian, Ad uxorem; Treatises S. 16 Cyprian, Über den Stand der Jungfrauen, Ausgewählte Schriften, S. 58f. A.a.O., S. 39f. ^

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Kapitel 7: Zur Hervorbringungspflicht in Bibel und Patristik

lieh die größte Freude der Kirche und das Verebben der Gläubigen ineins, ein Umstand, der von Augustinus affirmiert worden ist. Wie für Tertullian, ist auch für Cyprian das Sündhafte der ge­ schlechtlichen Vereinigung nicht der alleinige Grund, von den Vor­ teilen der Enthaltsamkeit zu sprechen32; ein Anlaß, die Welt zu ver­ lassen, sei vielmehr auch ihre Schlechtigkeit. In der anläßlich einer pestartigen Seuche in Karthago gegen Mitte des 3. Jahrhunderts ver­ faßten Schrift »Über die Sterblichkeit« schreibt Cyprian: »Sache des­ jenigen ist es, lange auf der Welt bleiben zu wollen, dem die Welt Freude macht ... Da aber die Welt den Christen haßt, warum liebst du sie .. .?«33 Freilich zieht Cyprians Einübung in das Sterben die Nachfrage auf sich, warum man denn die Welt als Gottes Schöpfung fliehen sollte. Und in der Tat fallen weitere seiner Ausführungen ihrem Ge­ halt nach bereits in den Einzugsbereich gnostischer Weltabkehr, in­ soweit letztere - wie der Buddhismus - dem Dach des Leidens wei­ chen will, statt Säulen eines falschen Glaubens an das Weltliche zu errichten, die dieses Dach tragen sollen: »Wenn in deiner Wohnung die Wände vor Alter wankten, das Dach darüber zitterte . würdest du da nicht mit aller Schnelligkeit ausziehen ., daß du . dem Schiffbruche und den drohenden Plagen entrissen wirst?«34 Diese Stelle mag stellvertretend für anderes als besonders anschaulicher Beleg dessen dienen, daß es verfehlt wäre, eine Tendenz, dem Dach des Leidens zu weichen, einseitig mit dem Osten zu verbinden und dem christlichen Abendland eine unangefochtene Doktrin menschheitlichen Seinsollens zuzuschreiben. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Patristik, so weit hier in wenigen ihrer Vertreter behandelt, keine Pflicht zur Weitergabe menschlichen Lebens kennt. Nicht die Zeugung wird empfohlen, sondern die Ehe für diejenigen, die ohne Geschlechtsgenuß nicht aus­ kommen. Wobei dann freilich in der Natur der Ehe auch die Nach­ kommenschaft liegt. Zu einer positiven Bewertung der Ehe gelangen Clemens, Irenäus, Tertullian, Cyprian, Augustinus und andere Vertreter der Frühen Kirche allein im Zuge ihrer Auseinandersetzung mit häreti­ schen Gruppen. Heißt das, von einem Seinsollen der Menschheit 32 Vgl. a.a.O., S. 57. 33 Vgl. Cyprian, Über die Sterblichkeit, a.a.O., S. 200. 34 A. a. O., S. 201. 100

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könne im christlichen Denken eigentlich gar keine Rede sein? Wollte man dies für die philosophische Theologie insgesamt behaupten, so wäre diese Behauptung eindeutig falsch. Befragen wir im folgenden, zwecks Erweiterung unseres Überblicks, einige spätere Stationen philosophischer Theologie nach dem Seinsollen der Menschheit, so sind freilich bestimmte Einseitigkeiten der Darstellung in Kauf zu nehmen.

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Kapitel 8

Reflexionen zum Seinsollen der Menschheit in der philosophischen Theologie

8.1 Laktanz, A. v. Canterbury, H. v. St. Viktor, Maimonides, Th. v. Aquino Gefragt, worauf die Intuition oder das irreduzible Werturteil menschheitlichen Seinsollens zurückzuführen wären, würde heute ein unbefangen Antwortender wahrscheinlich auf das christliche Hervorbringungsgebot verweisen. Im vorangegangenen Abschnitt sahen wir jedoch, daß diese Auskunft problematisch ist. In diesem Abschnitt geht es darum, endlich jene Bestimmung zu gewinnen, mit der für das christliche Denken im Abendland von einem Seinsol­ len der Menschheit die Rede sein kann. Auch diese Bestimmung bleibt indes problematisch. Die wesentlichen Momente menschheitlichen Seinsollens, die unter biblischen Vorgaben innerhalb der philosophischen Theologie schon früh erarbeitet worden sind, können in vier Punkten zusam­ mengefaßt werden und finden sich in folgender Zusammenstellung bei Laktanz: »Die Welt ist von Gott geschaffen worden, damit die Menschen in das Dasein träten; die Menschen aber werden geboren, damit sie Gott als Schöpfer, in dem die Weisheit ihren Sitz hat, er­ kennten; sie erkennen ihn aber, damit sie ihn verehren, weil in ihm die Gerechtigkeit ihren Sitz hat; sie verehren ihn aber, daß sie den Lohn der Unsterblichkeit erhalten; sie erhalten die Unsterblichkeit, daß sie Gott in alle Ewigkeit dienen.«1 Einmal ausgesprochen, ist dieses, auf einer besonderen Partner­ schaft zwischen Gott und dem Menschen beruhende Seinsollen der Menschheit mit nur geringen Abwandlungen festgehalten worden. Die Welt ist, damit wir sind, um etwas zu tun. Diese bis in die gegen­ wärtige Ontologie menschheitlichen Seinsollens fortdauernde Denk­ 1 Laktanz, Auszug aus den sieben Büchern religiöser Unterweisung, Auszug 69. Aus­ gewählte Schriften, S. 212. 102

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figur hat bereits im Rahmen philosophischer Theologie Einwände hervorgerufen, die als solche freilich zunächst latent geblieben sind. Mit diesen Einwänden hebt schon im Rahmen philosophischer Theo­ logie eine Herausreflektion des Menschen aus dem Seinsollen an. Die Destruktion der von der philosophischen Theologie erarbeiteten Außenverankerung erreicht bei Maimonides einen ihrer mittelalter­ lichen Höhepunkte, setzt sich innerhalb der philosophischen Theo­ logie über das Mittelalter hinaus insbesondere bei Spinoza fort, um später im Denken Nietzsches zu kulminieren. Bei Laktanz erfuhren wir folgendes über die Stellung des Men­ schen in der Schöpfung: 1. Die Welt wurde geschaffen, damit Men­ schen in das Dasein treten. 2. Menschen sind geschaffen, damit sie Gott verehren. 3. Die Menschen verehren Gott, damit sie den Lohn der Unsterblichkeit erhalten. 4. Sie erhalten den Lohn der Unsterb­ lichkeit, damit sie Gott in alle Ewigkeit dienen. Satz 1., 2. und 4. erwecken unweigerlich den Eindruck, Gott habe den Menschen um seiner (Gottes) willen hervorgebracht, um verehrt zu werden; der Mensch (Satz 3.) dient Gott, um im Gegenzug die Unsterblichkeit der Seele zu bekommen. So gesehen wird der Eindruck eines religiö­ sen Tauschgeschäfts erweckt. Unsterblichkeit um den Preis des Got­ tesdienstes. Gegen die Allgemeingültigkeit dieses Zusammenhangs für das monotheistische Denken spricht ein immer wieder betonter Um­ stand, den wir den Gesichtspunkt der göttlichen Indifferenz nennen können. In der philosophischen Theologie wiederholt formuliert, ist er von Augustinus in einer Weise dargelegt worden, die sofort deut­ lich macht, wie schwierig es ist, in einem vollkommenen Wesen menschheitliches Seinsollen zu verankern. Gott, so Augustinus im 13. Buch der »Bekenntnisse«, ist sich selbst alles Glück, dessen er fähig ist, so daß ihm zu seinem Glück nichts fehlt. Daraus ergibt sich für Augustinus, daß es Gott zu diesem Glück, größer als das keines sein kann, an nichts gefehlt hätte, wenn nichts entstanden wäre. »Hast du es doch nicht geschaffen, weil du seiner bedurftest, sondern aus der Fülle deiner Güte hast du es begrenzt und zur Form gestaltet, nicht als sollte dadurch deine Freude vollkommen werden.«2 Hätte es aber Gott an nichts gefehlt, wenn nichts entstanden wäre, so konnte er auch des menschlichen Dienstes an Ihm nicht bedurft haben. Men­ schen hätten ebensogut nicht sein können. Ihr Seinsgrund ist para­ 2 Augustinus, Bekenntnisse, S. 368f. ^

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Kapitel 8: Reflexionen zum Seinsollen der Menschheit

dox: Sie sind, um Gott zu dienen, ohne daß Gottes Freude dadurch vollkommener würde. Der Mensch wurde geschaffen, um das höchste Wesen vor allen anderen Gütern zu liehen, so Anselm (1033-1109)3, aber die Liehe erreicht auch hei diesem frühscholastischen Denker ihr indifferentes Ziel nicht, vermag es nicht zu tangieren. In deutlicher Form ist die Paradoxie menschheitlichen Seinsollens in Ansehung eines vollkom­ menen Wesens hei Hugo von St. Viktor (1096-1141) zum Ausdruck gebracht - freilich ohne daß Hugo dies reflektiert hätte. An das Pa­ radox rührend, fragt Hugo, warum Gott die Kreatur schuf, wenn ihm selbst durch die Kreatur nicht geholfen werden konnte. Für wen sonst schuf Gott das, was er nicht für sich selbst schuf?4 Gott, so Hugo, wollte, daß der Mensch Ihm diene; doch sollte durch diesen Dienst an Gott nicht Gott, sondern dem Menschen geholfen sein5. Hier ist die Paradoxie menschheitlichen Seinsollens zum vollen Ausdruck ge­ hracht. Etwas (der Mensch), das nicht ist, wird nicht dadurch gehol­ fen oder verbessert, daß es geschaffen wird. Und so paradox diese Denkfigur der philosophischen Theologie menschheitlichen Seinsollens auch erscheinen mag, sie wird späterhin in unserer Erörterung des Utilitarismus sowie in der Frage der Rechte möglicher Personen auf Existenz bei Hare und Parfit noch eine Rolle spielen. Diese von der philosophischen Theologie hervorgetriebene Pa­ radoxie menschheitlichen Seinsollens ist indes bereits von Maimonides (1135-1204) klar erfaßt und in einer auf Spinozas Kritik am te­ leologischen Denken vorausweisenden Weise freigelegt worden. Maimonides' radikales Fragen bedeutet in systematischer Hinsicht eine Erschütterung der philosophischen Theologie menschheitlichen Seinsollens (freilich ohne wirkmächtig geworden zu sein, da ja nach Maimonides dem physikoteleologischen Denken noch Jahrhunderte der Blüte bevorstehen). Er weist nach, daß sie nur eine trügerische Außenverankerung bietet, von der bei weiterer Nachfrage nur ein irrationaler göttlicher Willensakt bleibt. Selbst wenn das All um des Menschen willen existieren sollte, so Maimonides, und der Mensch seinen Existenzgrund darin habe, Gott zu dienen, so bleibe doch die Frage ungeklärt, was der Zweck des Dienstes an Gott sein könnte. Gott, so Maimonides, wird nicht voll­ 3 Anselm, Monologium LXVIII. 4 Vgl. Hugo v. St. Viktor, De sacramentis, S. 29. 5 Vgl. ebd. 104

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kommener, wenn alle seine Geschöpfe ihm dienen und ihn so weit als möglich begreifen. Ebensowenig würde er irgend etwas verlieren, wenn außer ihm nichts existierte.6 Schon in dieser Formulierung ist der »Alte Bund«, den J. Monod erst mit der modernen Biologie sich lösen sieht, gebrochen. In der philosophischen Theologie des Maimonides hat sich der Mensch aus dem Seinsollen herausreflektiert. Auch die Antwort, der Gottesdienst geschehe nicht um der Vollendung Gottes, sondern um des Menschen willen, läßt Maimonides nicht gelten, da die Frage unabweislich wird, was denn das Ziel unseres Vollkommenseins sein mag. In der Verfolgung der Frage, was denn in letzter Instanz der Zweck der Schöpfung gewesen sein mag, müssen wir nach Maimonides bei der Antwort anlangen, alles gehe auf den göttlichen Willen und die Weisheit Gottes zurück. Dies sei die richtige Antwort, die durch weiteres Nachfragen in ihrem Gehalt nicht mehr verändert werden könne.7 Einen letzten inhaltlichen Zweck für das Dasein von Menschen lehnt Maimonides ab. Sein radikales Nachfragen stellt die Welt und den Menschen in ihr - noch unter theologischen Vorzeichen - als ebenso kontingent heraus, wie sie es heute unter kosmologischen Vorzeichen ist. Doch als Philosoph bleibt Maimonides Theologe. An das höchste Wesen rückgebunden, ist er selbstverständlich fern da­ von, zum atheistischen Kosmologen zu werden. »We must be con­ tent, and not trouble our mind with seeking a certain final cause for things that have none, or have no other final cause but their own existence, which depends on the will of God .. .«8 In dieser Formulierung geraten die Welt und der Mensch in ihr zum nackten Daß. Bei diesem nackten Daß handelt es sich allerdings nicht um ein ontologisches - um ein Dasein, welches nicht mehr als das Sosein von etwas anderem gedacht werden kann, sondern um ein theologisches: Weil Welt und Mensch existieren, wissen wir, daß Gott dies so wollte. Und bei diesem Wissen habe unser Fragen anzu­ halten. Warum Gott Mensch und Welt geschaffen hat, bleibt unbe­ stimmbar. Nach Maimonides dürfen wir auf die großen Warumfragen nicht mit einem »Damit« antworten. Was uns in Anbetracht dieser Fragen bleibt, sei ein dezisionistisches »Weil«. Man täuscht sich, wenn man annimmt, das dezisionistische Weil der philosophi6 Vgl. Maimonides, The Guide for the Perplexed, Kap. XIII, S. 274. 7 Vgl. ebd. 8 A. a. O., S. 277. ^

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sehen Theologie würde als meta-physische Außenverankerung ein Seinsollen des Menschen mit sieh führen, welches das nackte Daß der kosmologiseh informierten Ontologie nicht mehr mit sieh führt. Denn welches die Ratschlüsse Gottes gewesen sind, die zur Schaffung der Welt führten, oh die Welt und der Mensch in ihr nicht vielleicht nur Baustein für etwas ganz Anderes sind, Nehenprodukte gar, das ehen hleiht unerfahrhar. Das Seinsollen von Menschen kann also nicht in Gott verankert werden, sondern es muß eine andere Außenverankerung gefunden werden - die göttliche Schöpfungsordnung. Hierhei wäre nicht von Gott aus, sondern von der Vollkommenheit des Geschaffenen aus zu argumentieren. Dieser Gedanke ist hei Thomas von Aquino in ein­ sichtiger Weise ausgeführt. Zwar sagt auch Aquino im Sinne der hereits von Maimonides kritisierten Auffassung, »der Mensch als gan­ zer ist wegen eines Außenzweckes, nämlich der Freuung in Gott.«9 Jedoch können wir mit Aquino auch im Hinhlick auf die Ordnung der Schöpfung für das Seinsollen der Menschheit argumentieren. Gott hahe »die Dinge ins Sein hereingehracht, um seine Güte mit Ge­ schöpfen gemeinschaftlich zu hahen und durch sie wiedergehen zu lassen.«10 Diese Formulierung zieht den Einwand Augustinus' und Maimonides' auf sich, daß doch Gott als Vollkommenstes der menschlichen Teilhahe nicht hedürfen kann, wonach also von Gott aus gesehen die Fortexistenz von Menschen gleichgültig wäre. Es scheint also, als könnten wir uns nur auf den - undurchschauharen Willen Gottes herufen. Eine andere Möglichkeit zur Außenveranke­ rung hietet allerdings der Blick auf das Geschaffene. Aquino sagt weiter üher die Güte Gottes: »Und weil sie durch nur ein Geschöpf nicht hinreichend zur Wiedergahe gehracht werden kann, so hat er viele und verschiedenartige Geschöpfe hervorgehracht, damit, was dem einen an der Wiedergahe der göttlichen Güte fehlt, aus dem anderen her ergänzt wird.«11 »Es wäre nämlich das Einall nicht voll­ kommen, wenn sich nur eine Gütestufe in den Dingen fände.«12 Jetzt ist es möglich, in der Frage menschheitlichen Seinsollens die Konzen­ tration auf Gott zu lösen und mit Blick auf das Seiende zu heantworten. Auch wenn es so sein sollte, daß Gott nicht affiziert würde, gä9 Aquino, Summe der Theologie, 65. Untersuchung, S. 229. 10 A. a. O., 47. Untersuchung, Erster Artikel, S. 211. 11 Ehd. 12 A. a. O. 47. Untersuchung, Zweiter Artikel, S. 213. 106

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Spinoza

ben alle Menschen ihr Lehen nicht weiter, so würde doch die Voll­ kommenheit des Seinsganzen beeinträchtigt. Diesen vollkommen­ heitsethischen Gesichtspunkt werden wir im Kapitel über die Ontologien menschheitlichen Seinsollens weiterverfolgen. Im Sinne einer gegenläufigen Tendenz gilt es jetzt weiterzuver­ folgen, wie der Einzug des Menschen in die Natur, der sich im Den­ ken Maimonides' unter der Trennung von Gott und Welt angehahnt hat, von Spinoza weitergeführt wird.

8.2 Spinoza Wie schon Maimonides, wendet sich auch Spinoza gegen die Auffas­ sung, alle Dinge in der Natur handelten wie die Menschen selbst, um eines Zweckes willen. Spinoza kritisiert den Kernsatz theologischer Anthropologie, »Gott habe alles um des Menschen willen gemacht, den Menschen selbst aber, damit er ihn verehre ,..«13 Er ist der Auf­ fassung, »daß alle Endzwecke nichts als Einbildung sind ,..«14 Die seiner Ansicht nach falsche Lehre von den Endzwecken führt Spinoza zurück einerseits auf den menschlichen Wunsch, die Ursachen aller Dinge zu kennen, andererseits auf die Begierde der Menschen, in den Dingen der Welt ihren Nutzen geltend machen zu wollen. Die Inter­ pretation der Welt gemäß der Lehre von den Endzwecken sei darauf zurückzuführen, daß der letzte Zweck menschlichen Tuns, der End­ zweck, im Nutzen liegt und von der Sphäre des Menschlichen aus auf das Weltganze übertragen wird. Erst mit der Angabe von Endzwekken kommt das Fragen zu einem Ende, dann also, wenn das Natur­ geschehen nach Analogie des Menschlichen begriffen ist. Weil die Menschen nun vielerlei in der Natur vorfinden, das ihnen zwar nützlich ist, was sie aber nicht hergestellt haben, »so hat dies den Glauben verursacht, irgendein anderer sei es, der diese Mit­ tel zu ihrem Nutzen bereitet habe. Denn nachdem sie einmal die Dinge als Mittel ansehen, so konnten sie nicht glauben, daß diese sich selbst gemacht hätten ...«15 Woraus auf ein göttliches Wesen ge­ schlossen wurde, welches alles zum Nutzen der Menschen geschaffen habe und lenke und den Menschen zum Dienst an Gott. 13 Spinoza, Ethik, Anhang zum ersten Teil, S. 64. 14 A.a.O., S. 66 f. 15 A.a.O., S. 65. ^

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Kapitel 8: Reflexionen zum Seinsollen der Menschheit

Auf Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft vorausweisend, kritisiert Spinoza den Gebrauch teleologischer Prinzipien für das Ver­ ständnis und die Einrichtung des menschlichen Körpers16; durch die­ se Kritik Spinozas findet ein großer Schub in Richtung dessen statt, was wir den Einzug des Menschen in die Natur nennen.17 Im Denken Spinozas vollzieht sich die Herausreflektion des Menschen aus dem Seinsollen als Abbruch theologischer Außenver­ ankerung auf dem Wege eines radikalen Einzugs des Menschen in die Natur. Stellen wir vergleichend Descartes zur Seite, so erweist sich Descartes vielbeschworene Unterscheidung einer ausgedehnten und einer denkenden Substanz als weit weniger radikal denn die Lehre Spinozas. Denn bei Descartes ist gleichsam der Alte Bund zwischen Mensch und Gott noch nicht aufgelöst - als denkendes Wesen steht der Mensch aus der Natur heraus, statt wie bei Spinoza in die Natur eingezogen zu sein. 18 Spinozas Ablehnung des Schöpfungsgedankens - es gebe keinen voluntativen Schöpfungsakt, sondern alles ergibt sich mit absoluter Notwendigkeit und Unverbrüchlichkeit von Ewigkeit her aus Gott verunmöglicht einmal mehr einen unter Zweckmäßigkeitskategorien stehenden Begriff vom Menschen. Auf die Frage, warum der Mensch ist, antwortet Spinozas System anders als der Hauptstrom philoso­ phischer Theologie nicht mehr mit einem »Um zu« oder »Damit«, sondern mit dem Konzept der puren Notwendigkeit. Der Notwendig­ keits-Charakter des Hervorgehens aus Gott-Natur verunmöglicht die Zufluchtnahme zum Willen Gottes, wie noch von Maimonides praktiziert, als einem, wie Spinoza es nennt »Asyl der Unwissenheit«.19 Nichts hätte in Spinozas Welt der reinen Notwendigkeit an­ ders sein können, als es tatsächlich geworden ist. So kann denn auch hinter dem Dasein von Menschen kein wie auch immer verborgener göttlicher Ratschluß angenommen werden, keine gute Absicht. Auch 16 Vgl. a.a.O., S. 68. 17 Zwar ist Spinoza ebenso wie später N. Hartmann ein scharfer Kritiker teleologischen Denkens; beide jedoch anerkennen das Vorkommen von Zwecktätigkeit in der Welt: im menschlichen Handeln. Für Spinoza siehe die detaillierte Studie von W. Bartuschat, »Teleologie bei Spinoza im Hinblick auf Kant«. 18 Descartes' Kritik am Zweckmäßigkeitsdenken geht in eine andere Richtung. Indem er die beschränkte menschliche Natur mit der unergründlichen göttlichen vergleicht, ge­ langt er zu dem Schluß, es »gehört eine gewiße Leichtfertigkeit dazu, die Zwecke Gottes ausfindig machen zu wollen« (Meditationen IV. 6 S. 50). 19 Spinoza, Ethik, S 68. 108

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Leibniz

die Schöpfung nur als gut zu begreifen, verbietet sich im System­ gefüge Spinozas als eine allzu menschliche Ausdeutung des Weltgan­ zen. Von daher ist es treffend, wenn K. Löwith formuliert: »Spinozas Deus sive Natura steht genau an der Grenze, an der das Vertrauen in Gott erlischt und der kritische Überschritt zur Anerkennung eines gottlosen Weltalls geschieht, das ohne Zweck und also ohne >Sinn< und >Wert< ist.«20 Spinoza überhöht Maimonides Kritik an dem Gedanken, daß Gott die Welt um des Menschen und den Menschen um seiner willen geschaffen habe. Seine Abwendung von der anthropo-theologischen Tradition der Bibel ist insofern radikaler als diejenige Maimonides', als sie einen radikaleren Einzug des Menschen in die Natur bedeutet. Die Besonderheiten der menschlichen Natur werden nicht mehr als aus der allgemeinen Natur herausgestellt gefaßt. Spinoza begreift sie als Modifikationen der einen Gott-Natur. Seine Gleichseztung von Gott und Natur unterbricht die Möglichkeit, im Rückgang auf die Bibel die räumliche Natur als etwas Äußerliches zur geistigen Part­ nerschaft von Gott und Mensch zu begreifen, wie Descartes es noch tut und wie der deutsche Idealismus von Kant bis Hegel es wieder tun wird. Insofern, vieles von Nietzsches Kritik am idealistischen Denken und von der Mensch-Gott-Partnerschaft vorwegnehmend, auf die sich menschheitliches Seinsollen immer wieder beruft, ist die Phi­ losophie Spinozas ein ihrer Zeit vorauseilender, wenn auch nicht völlig unvermittelter Fremdkörper.21

8.3 Leibniz In »Die natürlichen Gesellschaften« schreibt Leibniz: »Die Erste Natürliche Gesellschaft ist zwischen Mann und Weib, denn die ist nötig, das menschliche Geschlecht zu erhalten.«22 Warum aber sollte es nötig sein, das menschliche Geschlecht zu erhalten? Leibniz' Gott kann durch menschliches Handeln weder befördert noch beeinträch­ tigt werden. Würde nicht, da wir in der besten aller möglichen Wel­ ten leben, auch ohne uns nichts schlechter werden? Leibniz hat in »Von der Glückseligkeit« so etwas wie eine Bestimmung mensch­ 20 Löwith, Gott, Mensch und Welt in der Philosophie der Neuzeit, S. 193. 21 Vgl. die philosophiegeschichtliche Einordnung Spinozas durch Löwith, a.a.O. 22 Leibniz, Kleine Schriften zur Metaphysik, S. 402. ^

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liehen Seinsollens vorgenommen: »Die rechte Frucht und wahres Kennzeichen der Liehe Gottes ist die Liehe des Nehenmensehen oder ein ungefärhter Eifer zur Beförderung des allgemeinen Besten. Es ist eine Nachahmung Gottes, so viel an uns: weil Gott alles wohl und aufs heste gemacht, wollen wir auch, so viel wir können, alles hestmögliehst einrichten. Denn ohschon auch ohne uns alles aufs heste gehen wird und wir Gott nichts gehen noch nehmen, so werden doch wir dessen auch selhst genießen nach Maß unseres guten Wil­ lens und Lichts. Das Größte und Beste, so wir zum gemeinen Besten tun können, ist, daß wir die Ehre oder, welches einerlei, die Erkennt­ nis Gottes erhalten und vermehren.«23 Der systematische Ort, an dem wir hei Leihniz nach einem Sein­ sollen der Menschheit zu fragen hahen, ist das Prohlem des Hervor­ gehens der Welt aus ihrem göttlichen Ursprung. Letzterer sei anzu­ nehmen, da ohne einen solchen die Welt keinen zureichenden Grund aufwiese. Denn die Welt selhst, so Leihniz, ist nur eine Folge von Zuständen, in denen kein zureichender Grund für ihr Dasein auf­ zufinden sein wird, »ja selhst wenn man noch so viele zusammen­ nimmt, wird man nicht im mindesten zu einem solchen Grunde gelangen.«24 Die Welt, sagt Leihniz, ist nur physisch, nicht aher metaphysisch notwendig. Ihr metaphysischer Grund liegt in etwas Außerweltlichem. Die Weise, in der die Welt eingerichtet ist, führt dazu, daß ein Dasein von Menschen weder mit Blick auf Gott noch auf das Beste vonnöten ist. Auch ohne uns, so Leihniz, würde alles aufs heste ge­ hen. Zu dieser neganthropischen Bestimmung könnte man noch als weitere Leihniz' Überzeugung von der Existenz anderer Vernunft­ wesen im Kosmos hinzunehmen.25 In Ansehung ihrer schiene eine Herausnahme des Menschen aus dem Ganzen der Schöpfung noch weniger gravierend. Gott als ihr außerweltlicher Grund hatte mehrere Möglichkei­ ten, die Welt zu gestalten, ihm Mögliches zu realisieren. Welche Möglichkeit er wählte, erläutert Leihniz in der »Monadologie« fol­ 23 A. a. O. S. 397 24 Leihniz, Üher den ersten Ursprung der Dinge, S. 39f.; in: Fünf Schriften zur Logik und Metaphysik. 25 Man muß anerkennen, so Leihniz, »daß es unzählige Erden giht, von derselhen und noch größerer Ausdehnung als die unsrige, und daß diese ehensowohl Anspruch auf vernünftige Bewohner hahen, ohgleich es keine Menschen zu sein hrauchen.« Theo­ dizee I, § 19, S. 109. 110

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Leibniz

gendermaßen: »Es folgt aus der höchsten Vollkommenheit Gottes, daß er, als er das Weltall hervorhrachte, den bestmöglichen Plan aus­ wählte, hei dem es die größte Vielfalt im Rahmen der größten Ord­ nung gah .. ,«26 Dies bedeutet, daß eine Welt, in der es weniger Viel­ falt gibt zugunsten höherer Wesen, die in ihr Vorkommen, die schlechtere Welt ist gegenüber einer Welt, die angefüllt ist mit einer kontinuierlichen Folge von Wesen, angefangen hei niedrigen, his zu den höchsten. Gott gah also einer Welt den Vorzug, in der nicht nur vernünftige Wesen, die mit ihm am meisten Ähnlichkeit hahen, Vor­ kommen. Gemäß der Bestimmung aus der Monadologie zog Gott eine extensive und kontinuierlich graduierte Erfülltheit der Welt einer intensiven Erfülltheit vor.27 Leihniz giht ein drastisches Beispiel, was dies mit Blick auf den Menschen hedeutet. »Sicherlich mißt Gott einem Menschen größe­ ren Wert hei als einem Löwen, und trotzdem weiß ich nicht, oh man mit Sicherheit sagen kann, Gott zöge einen einzigen Menschen der ganzen Löwengattung in jeder Hinsicht vor: aher selhst wenn das der Fall wäre, so ergiht sich daraus noch lange nicht, daß das Interesse einer gewissen Zahl von Menschen die Rücksichtnahme auf eine weitverhreitete Unordnung unter unzähligen Geschöpfen üherwiegen würde. Diese Ansicht wäre ein Üherhleihsel jener alten, so ver­ rufenen Maxime, daß alles nur dem Menschen zuliehe erschaffen 26 Leihniz, Monadologie §10, Kleine Schriften zur Metaphysik, S. 429. 27 Für die Unterscheidung zwischen intensivem und extensivem Prinzip der Fülle siehe Lovejoy, S. 215. Nach Lovejoy läßt sich ein Ahschnitt aus der Monadologie anführen, in dem Leihniz sich für das intensive Prinzip ausspricht. Demnach kann der Grund für Gottes Wahl »nur in der Angemessenheit hzw. in den Graden der Vollkommenheit gefunden werden, die diese Welten enthalten; jedes Mögliche hat das Recht, Existenz zu heanspruchen, nach Maßgahe der in ihm enthaltenen Vollkommenheit« (zit. nach Meiner Phil. Bihl. Bd. 215, S. 51). Der französische Text der Monadologie läßt diese Ühersetzung zwar prinzipiell, nicht jedoch dem Zusammenhang nach zu: Der Grund für Gottes Wahl liegt hier »dans les degres de perfection, que ses Mondes contiennent, chaque possihle ayant droit de pretendre a TExistence a mesure de la perfection, qu'il enveloppe« (Paragr 54, S. 462. Herv. KA). »Chaque« hezieht sich auf die Welten, wo­ nach also nicht »jedes Mögliche« das Recht hat, Existenz zu heanspruchen, sondern jede Welt. Ist die Stelle aher so zu lesen, dann können wir sie nicht mit Lovejoy als Beleg für das Vorkommen des intensiven Prinzips der Welterfüllung hei Leihniz anführen. Lovejoy selhst helegt denn auch im Fortgang seiner Darstellung, daß Leihniz als der Autor einer Theodizee das Prinzip des zureichenden Grundes so auszulegen hatte, daß die ganze Fülle des Seienden - das dem Menschen Widerwärtige inklusive - nicht nur ein Recht auf Dasein hat, sondern in den Grenzen der Kompossihilität für die Vollkom­ menheit des Ganzen erforderlich ist. ^

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Kapitel 8: Reflexionen zum Seinsollen der Menschheit

sei.«28 Wie bei Maimonides und Spinoza der Fall, so stellt auch Leibniz' Teleologiekritik zunächst ein neganthropisches Moment an der Schöpfung heraus. Da einer gewissen Anzahl von Menschen bei Leibniz kein Vorrang vor einer ganzen Art anderer Wesen zukommt, ist zu folgern, daß auch die menschliche Gattung seinem Vollkom­ menheitsbegriff gemäß durch eine große Zahl anderer Gattungen aufgewogen würde. Indem für Leibniz offenbar intensive durch ex­ tensive Vollkommenheit aufgewogen werden kann, gibt es in dieser Welt kein absolutes menschheitliches Seinsollen. Diesen Bestimmungen zum Trotz kann für Leibniz doch von einem Seinsollen des Menschen die Rede sein. Es korreliert der Stelle des Menschen im Ganzen der Schöpfung. Leibniz begreift das Uni­ versum auch als ein göttliches Kunstwerk, in welchem der Mensch ebensowenig fehlen darf wie die Übel und das Schlechtgeratene, soll das Gesamtkunstwerk nicht Schaden nehmen: »... ich wunderte mich nicht, die Menschen zuweilen krank zu finden, wohl aber erstaune ich, daß sie dies so selten, ja daß sie es nicht ständig sind. Darum müssen wir auch das göttliche Kunstwerk des tierischen Mechanis­ mus immer mehr bewundern, dessen Schöpfer so schwache, dem Verderben ausgesetzte und dennoch so existenzfähige Maschinen er­ zeugt hat. Die Natur heilt uns ja doch weit besser als die Medizin. Diese Gebrechlichkeit folgt aus der Natur der Dinge, wofern man nicht will, daß diese Art vernunftbegabter Kreaturen mit Fleisch und Bein keinen Platz in der Welt habe. Das wäre jedoch ein Mangel, den gewisse frühere Philosophen als vacuum formarum, als Lücke in der Reihenfolge der Arten, bezeichnet hätten.«29 Von einem Seinsol­ len des Menschen ist hier insofern die Rede, als ohne ihn die Kon­ tinuität im Ganzen der Schöpfung durchbrochen wäre, eine mögliche Stelle im Ganzen unausgefüllt bliebe. Obgleich also die Welt nicht für das menschliche Wohl geschaffen worden ist, ist doch der Mensch um der Vollkommenheit der Welt willen da.30 In der philosophischen Theologie Leibniz' kann der Mensch sich jedoch nicht bloß aus dem Ganzen heraus verstehen, sondern es fin­ det sich eine zusätzliche demiurgische Bestimmung. In seiner Schrift 28 Leibniz, Theodizee, II. Teil 118, S. 174f. 29 A. a. O., I, 14., S. 104. 30 Gott konnte den Menschen nicht so hervorbringen, daß er dem malum physicum nicht unterliegen würde. Hätte Gott der Kreatur alles geben wollen, so Leibniz, so hätte er sie zum Gott machen müssen (vgl. Theod. I, 31., S. 117). 112

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Leibniz

»In der Vernunft begründete Prinzipien der Natur und Gnade« sagt Leibniz: »Der Geist hat nicht nur eine Perzeption von den Werken Gottes, sondern ist sogar in der Lage, etwas zu erzeugen, das ihnen, wenn auch im kleinen, ähnlich ist.« In ihren willentlichen Handlun­ gen gleiche unsere Seele einem Architekten: »und indem sie die Wis­ senschaften aufdeckt, denen gemäß Gott die Dinge (nach Gewicht, Maß, Zahl usw.) geregelt hat, ahmt sie in ihrem Bereich ... das nach, was Gott in der großen geschaffen hat.«31 Gemäß dieser Bestimmung findet der Mensch in der Welt die ihn metaphysisch auszeichnende Aufgabe eines geistigen Demiurgen vor. Aber dies ist freilich kein Auftrag, die Welt im Zeichen der Seinsfülle umzuschaffen und etwa zu vervollkommnen. Daß dies sich für Leibniz erübrigt, sahen wir eingangs, als wir ihn dahingehend zitierten, alles, was wir zum Be­ sten dazutun könnten, bestehe darin, die Ehre oder Erkenntnis Got­ tes zu vermehren. Nachdem die Welt bereits vollkommen harmo­ nisch eingerichtet ist, gibt es für die vollkommensten Wesen in ihr, diejenigen, die sich am wenigsten behindern und also untereinander am kompossibelsten sind: die Geister, nichts Umzuschaffendes mehr, sondern nur zu Erkennendes.32 Leibniz' Welt ist zu vollkommen, als daß der Mensch in ihr eine substantielle Aufgabe vorfinden könnte. Die Ordnung des Seienden hängt aufs Engste mit dem Wert zusam­ men und verweist unmittelbar auf den göttlichen Urheber. Damit der Mensch sein Seinsollen in der Welt als das ihm in ihr Aufgegebene finden kann, darf sie nicht mehr unmittelbar auf ihren Urheber verweisen. Diese Unmittelbarkeit wird im Denken Kants aufgehoben und das Seinsollen des Menschen einer neuen Bestim­ mung zugeführt.

31 In der Vernunft begründete Prinzipien der Natur und Gnade, § 14 (Kleine Schriften zur Metaphysik, S. 433); vgl. auch Monadologie §83: Die Geister »sind fähig, das Sy­ stem des Universums zu erkennen und durch architektonische Entwürfe etwas davon nachzuahmen, da jeder Geist in seinem Bereich gleichsam eine kleine Gottheit ist.« (A. a. O., S. 479). 32 In der »Metaphysischen Abhandlung« bestimmt Leibniz die Tugenden als die spezi­ fischen Vollkommenheiten der Geister, vgl. §5, Kleine Schriften zur Metaphysik, S. 67. ^

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Kapitel 9

Kant

9.1 Die Ohnmacht des kategorischen Imperativs Kant zufolge vereinigt sich alles Interesse der Vernunft in den fol­ genden Fragen: »1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?«1 Wir erweitern diesen Kanon um die Frage »Sollen Menschen dasein?« Und im Verlauf unserer Ausführungen sollte deutlich werden, daß Kant hiermit keine ihm völlig fremde Frage in den Mund gelegt wird. Mehrfach schon ist das Unvermögen der Kantischen Lehre be­ merkt worden, menschheitliches Seinsollen zu begründen. So von Hegel, Jonas und Apel. Nach Hegel gerät Kants Festhalten eines bloß moralischen, nicht in Sittlichkeit übergehenden Standpunktes zu einem leeren Formalismus, der keine besondere Pflichtenlehre aus sich entlassen kann. Durch die bloß formelle Übereinstimmung der Vernunft mit sich, so führt Hegel aus, ist es ohne weiteres möglich, unmoralisches Handeln zu rechtfertigen. Auch die Forderung, die Maxime einer Handlung müsse als allgemeines Gesetz vorgestellt werden können, »enthält für sich kein weiteres Prinzip als jenen Mangel des Widerspruchs und die formelle Identität. - Daß kein Ei­ gentum stattfindet, enthält für sich ebensowenig einen Widerspruch, als daß dieses oder jenes einzelne Volk, Familie usf. nicht existiere oder daß überhaupt keine Menschen leben.«2 Ganz ähnlich bemerkt Jonas über Kants kategorischen Impera­ tiv: »Es liegt aber kein Selbstwiderspruch in der Vorstellung, daß die Menschheit einmal aufhöre zu existieren ...«3 Für Jonas ist ein Ver­ schwinden der Menschheit denkbar, ohne daß die Vernunft, welche die Gesetze des Handelns gibt, in ihrer Selbsteinstimmigkeit verletzt 1 Kant, KdrV, B 833. 2 Hegel, Rechtsphilosphie §135, S. 253. 3 Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 35. 114

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Kants formale Teleologie menschheitlichen Seinsollens

würde. Aus diesem Grunde könne das Seinsollen der Menschheit als erstes Prinzip einer Zukünftigkeitsethik auch nicht in der Ethik als einer Lehre vom Tun liegen, sondern müsse aufgesucht werden in der Metaphysik als Lehre vom Sein, also in der Ontologie.4 Mit Jonas - und Hegel - nimmt auch Apel das Ungenügen des Kantischen kategorischen Imperativs in Ansehung der Frage menschheitlichen Seinsollens wahr und pointiert Jonas' Kritik: »... dieser Imperativ ist sozusagen abstrakt, ohne konkreten Zeithezug gedacht: Er appelliert an den Willen zur Übereinstimmung der Ver­ nunft mit sich selbst in einem hypothetisch unterstellten Reich gleichzeitig existierender Vernunftwesen.« Hiermit ist nach Apel vereinbar, »daß man, als Folge aller Handlungen der jetzigen Menschheit, in Kauf nimmt, daß in der Zukunft keine Menschheit mehr existieren kann.«5 Zu beachten ist allerdings, daß diese Be­ obachtungen sich allein auf den kategorischen Imperativ beziehen, über den bereits Schopenhauer das scharfsinnige Urteil traf, es bleibe »zum Stoff dieses Gesetzes nichts übrig als dessen eigene Form.«6 So zutreffend es ist, daß eine Begründung menschheitlichen Seinsollens auf dem Boden des kategorischen Imperativs nicht gelin­ gen kann bzw. dieser ein Verebben der Menschheit zuläßt, so muß doch auch gesehen werden, daß der kategorische Imperativ nicht das­ jenige Bestandsstück Kantischen Denkens ist, welches die größte Af­ finität zur Frage des Seinsollens von Menschen aufweist. Die mit Bezug auf diese Frage ergiebigsten Ausführungen Kants finden sich in seiner Lehre vom Zweck in der Natur und in der Geschichte, also in seiner Kritik der teleologischen Urteilskraft und in seinen Beiträ­ gen zur Philosophie der Geschichte. In der teleologischen Betrach­ tungsart fallen Prinzipien der sinnlichen und der sittlichen Welt ineins, insofern Teleologie den Zweckbegriff der sittlichen Welt auf die sinnliche Welt in Anwendung bringt.

9.2 Kants formale Teleologie menschheitlichen Seinsollens In der Bestimmung Kants sollen Menschen dasein, weil sie als teleo­ logische jene Brückenwesen sind, mittels welcher allein Übersinn­ 4 Vgl. a.a.O., S. 91f. 5 Apel, Verantwortung heute, S. 23 f. 6 Schopenhauer, SW Bd. III, S. 668. ^

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Kapitel 9: Kant

liches im Sinnlichen zu wirken vermag. »Die Wirkung nach dem Freiheitshegriffe ist der Endzweck, der (oder dessen Erscheinungen in der Sinnenwelt) existieren soll, wozu die Bedingung der Möglich­ keit desselhen in der Natur (des Suhjekts als Sinnenwesens, nämlich als Mensch) vorausgesetzt wird.«7 Der Mensch solle sein, heißt genauer, er solle um seines Wertes willen sein. Um jenes Wertes willen, »welchen er allein sich selhst gehen kann.«8 Worin hesteht dieser Wert? Darin, so Kant, daß der Mensch nicht nur als Naturglied wirkt, sondern auch aus der Freiheit seines Begehrungsvermögens heraus handelt; »d.h. ein guter Wille ist dasjenige, wodurch sein Dasein allein einen ahsoluten Wert und in Beziehung auf welches das Dasein der Welt einen Endzweck hahen kann.«9. Kant meint, »daß der Mensch nur als moralisches Wesen der Endzweck der Schöpfung sein könne ...« Er will sagen, daß die teleo­ logischen Reihen im Reich der zwar organischen aher doch nur phy­ sischen Natur zu keinem Ahschluß kommen. So mag das Gras für das Vieh, das Vieh »dem Menschen als Mittel zu seiner Existenz nötig sein; und man sieht nicht, warum es denn nötig sei, daß Menschen existieren ...«10 »Nur wenn man annimmt, Menschen hahen auf Er­ den lehen sollen ... (so) würden diejenigen Naturdinge, die zu diesem Behuf unentbehrlich sind, auch als Naturzwecke angesehen werden müssen.«11 Durch hloße Naturhetrachtung aher, so Kant, sei nicht auszumachen, oh es Menschen gehen soll.12 Zur Beantwortung der Frage: »Wozu hahen Menschen existie­ ren müssen?« (436 Anm.), kann es nach Kant im Rahmen einer hloß physischen teleologischen Welthetrachtung nicht kommen. Als aus­ gemacht gilt ihm, »daß die Glückseligkeit nur hedingter Zweck, der Mensch also, nur als moralisches Wesen, Endzweck der Schöpfung sein könne.«13 Denn der Mensch ist weit davon entfernt, »daß die Natur ihn zu ihrem hesondern Liehling aufgenommen und vor allen

7 Kant, KdU, S. 59 (Einleitung, IX). 8 A.a.O., S.447, §86. 9 Ehd. 10 A. a. O., S. 347, §67. 11 A. a. O., S. 331, §63. 12 Vgl. ehd. Was Kant hier in Ahrede stellt, wird das Vorhahen Jonas' sein, der seinen kategorischen Imperativ menschheitlichen Seinsollens aus der Betrachtung der Natur heraus zu hegründen sucht. 13 Kant, KdU, S. 436, § 84, Anm. 116

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Kants formale Teleologie menschheitlichen Seinsollens

Tieren mit Wohltun begünstigt habe ,..«u Kant ist vom wesentlich neganthropischen Gehalt von Natur und - bisheriger - Geschichte überzeugt. Zu den Naturplagen durch die der Mensch heimgesucht wird, gesellen sich selbstersonnene Plagen, in denen sich der Mensch als des Menschen Feind erweist, was ihn zu dem Urteil leitet, »daß selbst bei der wohltätigsten Natur außer uns, der Zweck derselben, wenn er auf die Glückseligkeit unserer Spezies gestellt wäre, in einem System derselben auf Erden nicht erreicht werden würde .. .Wesen des Christentums«; in Beziehung auf den >Einzigen und sein Eigentum«;, Werke Bd. 4, S. 76. 7 Feuerbach, Werke Bd. 3, S. 10. ^

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Kapitel 13: Feuerbach und Marx

barkeit des geschichtlichen Dasein der Menschheit als Selbsterkennt­ nis des Geistes. Feuerbach hält dagegen, die Idee, daß die Philosophie sich in einem Denker zu einer Zeit vollenden könne, entspreche dem Glauben an die Möglichkeit der Menschwerdung Gottes, und hierzu bemerkt er: »Eine Inkarnation der Gattung in ihrer ganzen Fülle in einer Individualität wäre ein absolutes Wunder ... der Untergang der Welt.«8 Warum »Untergang der Welt«? Feuerbach dürfte hier nicht wörtlich zu nehmen sein und etwas anderes im Auge haben als Scho­ penhauer (siehe Kapitel 11). Während für letzteren mit dem Willen die raumzeitliche Welt als Vorstellung aufhörte, bedeutet es für Feu­ erbach den »Untergang der Welt«, sollte ein Individuum auftreten, welches die gesamte Fülle der Gattung antizipiert. Ihrer noch zu rea­ lisierenden Fülle beraubt, wäre die Geschichte damit sinnlos ge­ worden. Seinem dezidiert anti-atomistischen Standpunkt gemäß, gilt Feuerbach die Gattung nicht als die Summe aller jeweils gleichzeitig existierenden Individuen, sondern als die geschichtliche Verwirk­ lichung des menschlichen Wesens. Da diese Wesensverwirklichung unabschließbar sei, ist es durchaus angebracht, in Feuerbachs Meta­ physik der Gattung ein Seinsollen von Menschen zu verorten. Mit dem Gattungsbegriff liegt eine philosophische Schnittmen­ ge Feuerbachschen und Marxschen Denkens vor uns. Nahe liegt da­ mit die Frage, wie mit Blick auf Marx von einem Seinsollen der Menschheit die Rede sein kann. Ist der Marxismus einerseits eine äußerst motivierende und geschichtsmächtige geistige Kraft gewe­ sen, so sieht er sich von Feuerbach her gesehen vor folgendes Pro­ blem gestellt: Für Feuerbach ist das unendliche zeitliche Nachein­ ander der Individuen unabdingbar, damit das Wesen der Gattung realisiert werden kann. Seine Philosophie birgt daher eine permanen­ te Obligation zum Seinsollen von Menschen. Für Marx hingegen kann sich auf der Stufe der freien Assoziation der Produzierenden das Wesen der Gattung, die Bestimmung der Menschheit, in einem räumlichen Nebeneinander der Einzelnen erfüllen. Dieses Ziel ent­ spricht der Marxschen Anthropodizee, dem Seinsollen der Mensch­ heit in Anbetracht des Leidens. In diesem Sinne schreibt Marx über das Wirken der englischen Kolonialmacht in Indien: »Gewiß war schnödester Eigennutz die einzige Triebfeder Englands, als es eine soziale Revolution in Indien auslöste, und die Art, wie es seine Inter­ 8 A.a.O., S. 11. 150

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Kapitel 13: Feuerbach und Marx

essen durchsetzte, war stupid. Aber nicht das ist hier die Frage. Die Frage ist, oh die Menschheit ihre Bestimmung erfüllen kann ohne radikale Revolutionierung der sozialen Verhältnisse in Asien. Wenn nicht, so war England, welche Verbrechen es auch begangen haben mag, doch das unbewußte Werkzeug der Geschichte, indem es diese Revolution zuwege brachte.«9 Gegen das »Meer von Leiden«, wel­ ches mit der Kolonisierung einherging, bringt Marx ein, daß die Dorfgemeinschaften nur bei oberflächlicher Betrachtung idyllisch waren und näher besehen die Grundlage für den orientalischen Des­ potismus abgaben, »daß sie den menschlichen Geist auf den denkbar engsten Gesichtskreis beschränkten ...«10 11 Im Kommunismus nun, so heißt es in »Die Deutsche Ideologie« von Marx und Engels, entfalle die den Menschen körperlich oder geistig verstümmelnde Arbeitsteilung, da »die Gesellschaft die all­ gemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun ...«n In diesem »Reich der Frei­ heit«12 würde die Entmenschung zu einem Ende gekommen sein und der Einzelne über den gesamten in der vorausliegenden Ge­ schichte akkumulierten Reichtum der Gattung verfügen können. Mit dem Prinzip »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen«13 wäre die Essenz der menschlichen Gattung in ihrer ganzen Fülle existent geworden. Auch Marx, dies sollte deutlich ge­ worden sein, beansprucht, wo er für eine Perpetuierung der Mensch­ heit argumentieren kann, mit der Rede von der »Bestimmung der Menschheit« eine metaphysische Kategorie. Diese muß noch um den an Feuerbach erinnernden Begriff vom Menschen als Gattungs­ wesen in Marx' frühen »Ökonomisch-philosophischen Manuskrip­ ten« ergänzt werden. Feuerbach und Marx unterscheiden sich hin­ sichtlich der Frage menschheitlichen Seinsollens insbesondere darin, daß für letzteren das Wesen der Gattung geschichtlich eingeholt und realisiert werden kann. Mit dieser Einholung aber, dem Existieren der menschheitlichen Essenz und Bestimmung, würde Marx' Meta­ physik menschheitlichen Seinsollens keine weitere Obligation zum Seinsollen von Menschen mehr etablieren. Worin sollte fürderhin 9 Marx/Engels Werke (MEW) Bd. 9, S. 133. 10 A. a. O., S. 132. 11 MEW 3, S. 33. 12 MEW 25, S. 828. 13 MEW 19, S. 21. ^

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Kapitel 13: Feuerbach und Marx

der außenverankerte Impetus für eine Perpetuierung der Menschheit liegen? Hier lebte der Mensch gleichsam als Existenz ohne Essenz. Er ist dann, Sartre nennt dies den ersten Grundsatz des Existentialis­ mus, »nichts anderes als wozu er sich macht.«14 Nichts spräche dann dagegen, wenn das Verebben der Menschheit gewählt würde. Marx' Entwurf gilt Geschichte als ein Prozeß, an dessen Ende der Mensch als Gattungswesen realisiert sein soll. In der Literatur zu Marx werden als Stadien dieses Prozesses zumeist einander ab­ lösende Produktionsweisen angegeben. Aus den im Schoß der bür­ gerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktionsverhältnissen soll eine Gesellschaftsformation hervorgehen, in der frühere Antago­ nismen als gegenwärtige Reichtümer aufgehoben sind. Man kann diesen Prozeß aber auch als einen solchen lesen, in dem die Mensch­ heit nach Marx Selbständigkeit gegen die Natur zu erringen hat. In dieser alternativen Sicht gilt ihm Geschichte als die menschliche Her­ ausarbeitung aus der Naturständigkeit. Ziel ist die Auflösung der »Nabelschnur des natürlichen Gattungszusammenhanges«.15 Mit dem Erreichen dieses Ziels aber verliert der Mensch bei Marx jegliche Außenverankerung. Die Menschheit wird zu einer freien Assoziation der Produzierenden, die auch in der Frage der Produktion oder Her­ vorbringung von Menschen nicht länger den Vorgaben eines natür­ lichen Gattungszusammenhanges untersteht. Die eher historischen Ausführungen zum Seinsollen der Menschheit schließen mit Marx ab. Sie sollten deutlich gemacht ha­ ben, daß die Frage nach dem Seinsollen von Menschen durchaus nicht als ein Fremdkörper in die Geisteswelt hereingetragen wird, sondern als Problem in ihr angelegt und bisweilen auch angespro­ chen ist. Die Metapher von der »Nabelschnur des natürlichen Gat­ tungszusammenhangs« und der Begriff der »Gattung Mensch« wer­ den uns in den beiden folgenden Kapiteln weiter beschäftigen. Zum einen in dem Sinne, daß die moderne philosophische Anthropologie gar keinen natürlichen Gattungszusammenhang mehr anerkennt, sondern den Menschen als Kulturwesen von Natur aus vorstellt, und zum anderen, indem die Idee vom Leben der Gattung, vom Art­ leben, als ein mögliches Argument gegen das Verebben der Mensch­ heit in Betracht gezogen wird.

14 Sartre, Drei Essays, S. 11. 15 Siehe z.B. MEW 23, S. 93. 152

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Kapitel 14

Philosophische Anthropologie

14.1 Entsicherung des Menschen als Aufgabe der philosophischen Anthropologie Die in dieser Arbeit zur Anwendung kommende Methode ist die einer Zweifelsbetrachtung. Anders als bei Descartes jedoch ist diese Zweifelsbetrachtung nicht wissensmethodisch ausgerichtet, sondern - da das Seinsollen des Menschen betreffend - die Fundamente der Ethik angehend. Aus einem umfassenden Zweifel heraus wird nach einer das Seinsollen von Menschen betreffenden Sicherheit gefragt. Im folgenden möchte ich demonstrieren, wie das Grundtheorem moderner philosophischer Anthropologie sich im Sinne einer Infra­ gestellung der überlieferten Fraglosigkeit menschheitlichen Seinsollens entfalten läßt. Anders gesagt geht es darum, den neganthropischen Gehalt dieses Theorems darzulegen. Der These, daß die Durchführung der Zweifelsbetrachtung ge­ rade auch in das Gebiet der philosophischen Anthropologie fällt, hat insbesondere Helmuth Plessner vorgearbeitet. Plessners Frage nach der Aufgabe der philosophischen Anthropologie ist aufzunehmen. Seine Antwort, Entsicherung des Menschen sei ihre spezifische Auf­ gabe, ist einerseits Reaktion auf das Herausfallen des Menschen aus dem christlichen ordo: Mit Herder können wir den Menschen als den »Freigelassenen der Schöpfung« bestimmen.1 Darüber hinaus aber finden sich bei Plessner auch Ansätze zu einer philosophischen Ver­ arbeitung der Einsicht, daß der Mensch der Freigelassene der Natur ist. Auch diese Einsicht wird von Plessner in den Aufgabenbereich der philosophischen Anthropologie gerückt. »In der Auflösung einer von Christentum und Antike bestimm­ ten Welt«, so sagt Plessner, »stellt sich der Mensch, nun völlig von Gott verlassen, gegen die Drohung, in der Tierheit zu versinken, er­ 1 Herder, S. 64. ^

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Kapitel 14: Philosophische Anthropologie

neut die Frage nach Wesen und Ziel des Menschseins.«2 Die Philoso­ phie könne nicht länger als ein Ort der Reflexion vorausgesetzt wer­ den, an dem die Idee des Menschen wohlhewahrt überdauert hätte. Ganz im Gegenteil: »Wenn ihre alten metaphysischen und ontologi­ schen Garantien nicht mehr fraglos gelten, dann werden auch Menschheit und Menschlichkeit moralisch zum Problem.«3 Warum die Menschheit in ihrem Seinsollen zu einem moralischen Problem geworden ist, davon ist bereits wiederholt die Rede gewesen: Wes­ halb soll das Dasein der Menschheit perpetuiert werden, wenn sie, bar jeder Außenverankerung, ebensogut nicht sein könnte? Ohne konkret zu dieser Frage vorgestoßen zu sein, konstatiert Plessner, dem Menschen sei, »wenn er den Zweifel an der erschütterten Über­ lieferung so ernst wie nur möglich nimmt, sein Menschsein als Tat­ sache und als Aufgabe zum Problem geworden.«4 Plessners Vorschlag zur Problembewältigung ist ein ungewöhn­ licher. Er fordert uns auf, »den Verdacht auszutragen und den Gründen gegen eine Sonderstellung des Menschen so weit wie möglich nachzugehen«5, mit dem Ziel, das Recht zu restituieren, »vom Menschen als einem besonderen und auf seinen Gattungscha­ rakter verpflichteten Wesen zu sprechen ...«6 Und dieses Recht, so weiß Plessner, ist nur mittels Infragestellung wiederzuerlangen: »Nur auf dem ... Wege der bewußten Steigerung der destruktiven Argumente und ihrer systematischen Zuspitzung gegen alle bisher mitgeschleppten Sicherungen kann man das Fundament mensch­ lichen Seins so exponieren und entsichern, daß die Destruktion eines angeblich fraglosen Eigenwesens des Menschen die Umkehr in die Entscheidung zur Menschlichkeit erzwingt.«7 An anderer Stelle hat Plessner den Topos der Selbstentsicherung als einen wesentlichen Gehalt der Philosophien Kierkegaards und Nietzsches beschrieben. Kierkegaards Bedeutung liege gerade in der Erarbeitung einer nihili­ stischen Grenzlage, von der aus der Sprung in den Glauben zu wagen sei.8 Während Kierkegaard den Nihilismus der Verzweiflung bis aufs äußerste steigere, um in größter Gottferne den Umschlag zum Chri2 3 4 5 6 7 8 154

Plessner, Conditio humana, S. 35. A. a. O., S. 42 f. A. a. O., S. 43. A. a. O., S. 45 f. A.a.O., S. 45. A. a. O., S. 46. Plessner, Die verspätete Nation, S. 171.

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Entsicherung des Menschen als Aufgabe der philosophischen Anthropologie

stentum zu erzwingen, wolle Nietzsche durch Übersteigerung des Nihilismus selbst noch das Verlangen nach dem gestorbenen Gott tilgen.9 Mein Anliegen, eine Disjunktion zwischen einer idealethi­ schen Zustimmung zum Verebben einerseits und einer Arbeit an der metaphysischen Begründung menschheitlichen Seinsollens an­ dererseits herbeizuführen, weist Analogien zur Konstellation bei Kierkegaard auf. Und auch Plessners Reflexionen weisen in diese Richtung. Wie mir scheint, hat Plessner die Entsicherung der Fun­ damente menschlichen Seins als Aufgabe philosophischer Anthro­ pologie jedoch noch nicht mit dem Mut einer wirklich rückhaltlosen Skepsis in Angriff genommen. Zwar bringt er die »Gefährdetheit und somit... den Wagnischarakter des Begriffes >Menschdo evil to no one< more pressing than the principle >do good to every onedrink in daylight< (to use a colourful South Sea Pidgin expression). But the metaphysics of this feeling are odd.«91 Wohl um einen Effekt der Ahwehr kraft evidenter Einsicht zu erzielen, schließt Smart seinen Aufsatz mit den Worten: »Would not our henevolent world-exploder he truly the saviour of mankind, and for that matter of the animals too? The sincere proponent of NU can see a novel significance in the saying that those whom the gods love die young.«92 Indem Smart auf diese äußerste Konsequenz des NU hinweist, glauht er sich einer differenzierteren Erörterung enthohen. Wenn wir jedoch nach den Gründen fragen, warum denn eine Fort­ existenz der Menschheit ihrem augenhlicklichen und leidlosen Ver­ schwinden vorzuziehen wäre, werden wir unweigerlich das Gehiet der Metaphysik hetreten müssen. Zwecks Demonstration der Unmoral des NU entfaltete Smart die innere Logik dieser Variante utilitaristischen Denkens his zu einem Punkt, an dem deutlich werden sollte, daß eine leidlose Ver­ 91 R. N. Smart, S. 542; zu einer ähnlichen Grenzüherschreitung des Utilitarismus in Richtung Metaphysik sieht sich Birnhacher genötigt, wo er in der Frage menschheitlichen Seinsollens von »letzten Wertentscheidungen« spricht; vgl. Birnhacher, Zur Frage der Gründe für die Erhaltung der menschlichen Gattung, S. 61. 92 R. N. Smart, S. 543. ^

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Kapitel 17: Das Seinsollen von Menschen im Utilitarismus

nichtung allen Lebens auf der Erde mit einer Moraltheorie, die in der Weise Poppers von einer Asymmetrie von Leid und Glück ausgeht, vereinbar wäre. Damit ist jedoch weder die von Smart »negativer Utilitarismus« getaufte Moraltheorie widerlegt, noch ein eigentlich ethisches Argument gegen das von Smart evozierte Szenario vor­ gebracht, welches sich seiner Auffassung nach aus den Popperschen Prämissen zwanglos entwickeln läßt. Fragen wir jetzt, ob sich die Resultate, zu denen R. N. Smart gelangt ist, überhaupt mit Recht aus Poppers Formulierung der ethi­ schen Asymmetrie entwickeln lassen. Smarts Namensgebung indi­ ziert, Popper habe seinen Beitrag als einen Verbesserungsvorschlag für die utilitaristische Moraltheorie verstehen wollen. Allerdings ist Smart eine bedeutende Nuance an den Popperschen Ausführungen entgangen. Poppers Vorschlag lautete dahingehend, es sei angeraten, statt nach einer Maximierung des Glücks nach einer Minimierung des Leidens zu streben. Der Fehler, der Smart unterlaufen ist, liegt darin - von Popper abweichend - die Minimierung als eine Eliminie­ rung des Leidens zu lesen. Damit verfehlt Smart den eigentlichen Inhalt von Poppers Vorschlag. Wenn Popper sagt, der beste Weg, das menschliche Los zu bessern, bestehe in dem Versuch, Leid zu min­ dern anstatt Glück zu maximieren, so ist hieraus eben nicht der kritische Einwand abzuleiten, Poppers Vorschlag laufe in letzter In­ stanz darauf hinaus, der vorzüglichste Weg für eine Besserung des menschlichen Loses sei eine Aufhebung der Menschheit.93 Nur eine einseitige Überinterpretation läßt die Schlußfolgerungen zu, zu de­ nen Smart gelangt. Wenn Popper sagt, »die Forderung nach Glückse­ ligkeit ist auf jeden Fall viel weniger dringlich als die Hilfe für die Leidenden und der Versuch, das Leiden zu verhindern.«94, so bedarf es einer sehr rigiden Lesart, aus dem Schwererwiegen von »Versuch, das Leiden zu verhindern« die Empfehlung zur Liquidierung alles Lebens abzuleiten. Aus dem Kontext seiner Ausführungen spricht, daß Popper das Dasein von Personen voraussetzte und mit Bezug auf sie von einer Reduzierung von Leid sprach. In allgemeiner Form ist zu Smarts Rezeption von Poppers Vor­ schlag folgendes zu bemerken. Smart verfehlt den Umstand, daß Popper mit Blick auf Leid und Glück einen existenzinklusiven Stand­ punkt bezieht. Wie vor ihm Mill, propagiert Popper einen aktuellen 93 Siehe auch die Kritik von Acton (S. 84) und Watkins (S. 96) an Smart. 94 Popper, Die offene Gesellschaft S. 317. 228

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Negativer Utilitarismus

Vorrang der Reduzierung von Leid, nicht jedoch die Eliminierung empfindungs- und daher leidfähiger Wesen. Wobei eben zu beachten ist, daß die Reduzierung des Leids von Menschen ihre Existenz vor­ aussetzt. Nur wenn die Eliminierung menschlichen Leids überhaupt angestrebt wird, wäre es der richtige Weg, eine leidlose Aufhebung der Menschheit anzustreben.95 17.5.4 Die Besetzung einer bislang unbesetzten Systemstelle metaphysikloser Ethik. Aufhebung des Leidens als Totalisierung des Leidens: Die Position U. Horstmanns Zu abwegig mag die von R. N. Smart entfaltete letzte Konsequenz eines radikal durchdachten negativen Utilitarismus ausgefallen sein, als daß es aussichtsreich sein könnte, einen Vertreter dieser Position ausfindig zu machen. Der NU scheint denkbar, nicht aber affirmativ zuende gedacht worden zu sein. Und doch hat Ulrich Horstmann mit »Das Untier. Konturen einer Philosophie der Menschenflucht« eine Abhandlung vorgelegt, in welcher das von Smart zur Widerlegung des negativen Utilitarismus entwickelte Szenario bejaht wird. Man mag bezweifeln wollen, ob eine philosophische Reflexion, die zu dem Resultat gelangt, es wäre das Beste, alles irdische Leben unter Anwendung der Massenvernichtungswaffen auszulöschen, auch nur von ihrem Autor selbst ernst gemeint sein kann. Daß Horstmanns Konturierung einer Philosophie der Menschenflucht mit ihrem ab­ schreckenden Resultat in der Tat basalsten Intuitionen widersprechen muß, ist aber noch kein Argument gegen seine Auffassung. Fragen wir nach dem systematischen Ort des philosophischen Ertrags von Horstmanns anthropofugalem Denken, so wird dieser in der Tat als Standpunkt des negativen Utilitarismus bestimmt wer­ den müssen. Für diese Zuordnung spricht in eindeutiger Weise das von Smart unternommene Zuendedenken der Position des NU, wel­ ches im Bild eines wohlwollenden Weltenzerstörers mündete. Diese Verortbarkeit verwehrt es uns zugleich, im Essay »Das Untier« nur eine Satire oder eine philosophische Scharlatanerie zu sehen, die mit 95 Interessanterweise empfiehlt der Bruder von R. N. Smart, J. J. C. Smart, den negati­ ven Utilitarismus, obwohl wir von seinen Konsequenzen nicht angezogen sein würden, als eine untergeordnete Daumenregel, da wir in den meisten Fällen das Beste für unsere Mitmenschen erreichen, wenn wir ihre Leiden mindern (vgl. J. J. C. Smart, An Outline ...,S. 29f.). ^

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dem Fingerzeig auf ihr empörendes Ergebnis zum Schweigen zu bringen wäre. In vielem kann Horstmanns Essay als eine Inversion der Jonasschen Verantwortungsethik gelesen werden. Zu den Topoi, die von der Philosophie Jonas' her bekannt sind und uns im nächsten Kapitel beschäftigen werden, gehören die Idee eines vorgeblichen Zieles oder Zweckes der Evolution, ein Spruch des Seins und die Idee eines möglichen, in Menschenhand liegenden Frevels gegen die Schöp­ fung. Und ebenso wie Jonas, gerät Horstmanns die Menschheit als der größte Gegenstand von Verantwortung in den Blick. Horstmann kennt eine Verantwortung gegenüber der gesamten Biosphäre96, die jedoch nicht wie bei Jonas im Erhalt, sondern in der Vernichtung allen Lebens bestehen soll. Stein des ethischen Anstoßes ist - wie für den NU - für Horst­ mann das Leiden in der Welt, welches er als Begleiterscheinung eines evolutionären Fehltritts begreift97: der Entstehung des Lebens. Unter Berufung auf S. Freud sucht Horstmann das Leben gleichsam als Un­ fall der Materie darzustellen98, den wir, selbstbewußte Kinder der ersten Zelle seiend, der das Sterben nicht gelang, nunmehr zu kor­ rigieren hätten, wobei wir den »unausgesprochenen Auftrag« des ubiquitär leidenden organischen Seins anzunehmen und alles orga­ nische Leiden mit dem Leben aufzuheben hätten. Dies nicht zu tun, wäre nach Horstmann ein Frevel gegen die Schöpfung.99 Völlig ungereimt bleibt allerdings, wie Horstmann sich auf die Stillstellung organischen Leidens als eines Zieles der Evolution100 glaubt berufen zu können, da das Leben doch zugleich ein Produkt dieser Evolution sein soll, wenn auch ein Fehlprodukt. Wäre das Le­ ben tatsächlich ein Unfall der Materie, so könnten wir es nur als Aberration vom Gleichförmigen nach dem Vorbild epikureischer Abweichung der Atome von gerader Bahn begreifen. Derlei Vorstel­ lungen vom Leben als einer Aberration von - mechanischer - Gleich­ förmigkeit sind unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten problematisch, wie aus den Überlegungen etwa Eigens und Chr. de

96 97 98 99 100 230

Vgl. Horstmann, S.86. Vgl. a.a.O., S.101. Vgl. a.a.O., S.86f. Vgl. a.a.O., S.100, 102. Vgl. a.a.O., S. 74.

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Duves bezüglich einer Zwangsläufigkeit in der Entstehung von Le­ hen erhellt. Ganz im Sinne des Utilitarismus werden von Horstmann alle leidensfähigen Wesen berücksichtigt. Der Nexus, der Kontinuität in der großen Kette der Wesen herstellt, ist ihm das Leiden. »Sind wir nicht ein schmerzdurchglühtes, schüttelndes, quiekendes Fleisch, das um Erlösung wimmert? Sind das Reh, der Delphin, die Ameise, die Lilie weniger als wir, nur weil sie nicht zu sagen verstehen, was sie leiden?«101 Die Kontinuität des Leidens im Organischen führt Horst­ mann zur Idee eines Gehotenseins advokatorischer Stellvertretung aller leidenden Wesen durch den Menschen. Der Mensch tritt als Advokat tierischen Leidens auf: »Das Leiden kann sich nur durch seine Totalisierung aufhehen. Aber im Inferno, der Revokation der Schöpfung, transzendiert sich der kreatürliche Schmerz, hellt sich auf, durchheitert sich im Tier mit der Ahnung, im Menschen mit der Gewißheit, daß das Rad der Generationen, der Wiedergehurten in Qual nunmehr endlich zerbrochen ist, daß das Ungehorene fürder­ hin ungehoren hleiht, das Lehen ungeleht, das Leiden undurchlitten.«102 Vieles an diesem Zitat ist nur Zierat; aber es beschwört die Machbarkeit dessen, was in der Logik des NU liegt: Verhinderung und Ausräumung der Bedingung der Möglichkeit von Leid in Gestalt einer »Selbsterlösung« des Organischen über die Gaben seiner selbstbewußt gewordenen Spitze des menschlichen Geistes, »in dem das Leiden zu dem es nochmals potenzierenden Bewußtsein seiner selbst gelangt«103 ist. Auch hier liegt wiederum ein Negativbild zu einem Jonasschen Topos vor, und zwar zu Jonas' Rede von dem in der Subjektspitze Offenbaren, welches kontinuierlich in die ganze Breite des Seins zurückzuverfolgen sein müsse. Das Empörende der Szenarios Smarts und Horstmanns entbin­ det uns nicht von der Aufgabe, nach ihrer ethischen Wahrheit zu fragen. Stellen wir uns vor, es läge tatsächlich in der Hand einer Per­ son, alles Leben auf Erden durch die Entfesselung ungeheurer Ener­ giemengen innerhalb einer Mikrosekunde zu vernichten; setzen wir weiterhin voraus, niemand sonst wisse um diese Möglichkeit. Kein Zweiter also würde leiden in Erwartung einer Apokalypse. Weiter: 101 A.a.O., S. 102. 102 A.a.O., S. 104. 103 A.a.O., S. 54, 101. ^

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Das Sterben alles Lebendigen innerhalb einer Mikrosekunde würde keine Zeit lassen für physisches Leid. Nehmen wir an, daß der Exter­ minator selbst beim Gedanken an das Ende alles Lebens nicht leidet, sondern hierin eine Erlösung erblickt, so wären im Zusammenhang der Energieentfesselung physisches und psychisches Leid aus­ geschlossen. Denken wir uns nun, der Weltzerstörer habe mit einer Präzisionsmaschine die Mikrosekunde für die Aufhebung der Bio­ sphäre festgesetzt. Sein Motiv sei es, schweres Leid und menschliche Erniedrigung, deren Zeitgenosse er gewesen ist, für alle Zukunft, in die hinaus er als Mensch wirken kann, auszuschließen. Noch ist Zeit, die Maschine abzuschalten. Der Exterminator geht mit sich selbst ein letztes Mal ins Gericht. Für die Aufhebung, so seine Überlegung, spricht, daß kein empfindendes Wesen an ihr leiden wird, hingegen alles andernfalls mit Sicherheit eintretende Leiden ausbleiben wird. Zwar würde mit dem Aufhören alles Lebens auch kein Glück mehr erlebt werden können. Doch da das Noch-Existieren und das Nichtmehr-Existieren von Lebewesen hier in den Zeitraum einer bloßen Mikrosekunde fällt, gibt es nur für den winzigen Zeitraum einer Mi­ krosekunde Lebewesen, von denen gesagt werden könnte: »Sie hät­ ten Glück erleben können, aber sie konnten es nicht, weil sie infolge äußerer Gewalteinwirkung starben.« Da jedoch ferner eine Mikro­ sekunde kein Zeitraum ist, in dem ein Lebewesen substantielles Glück erleben könnte, kommt der noch unschlüssige Exterminator zu dem Ergebnis, daß man diese Zeitstrecke auf jeden Fall vernach­ lässigen darf. Eine Mikrosekunde nach der Entfesselung der Energien gibt es keine Wesen mehr, so die weitere Überlegung, von denen gesagt werden könnte, ihnen sei mögliches Glück entgangen, keine Wesen mehr, deren Ende zu beklagen wäre. Die Entscheidung des Exterminators könnte jetzt von zwei Faktoren abhängen. Erstens da­ von, ob er mit dem Vorhandensein extraterrestrischer Intelligenzen rechnet. Schließt er diese Möglichkeit nicht aus, so ist die Leidlosigkeit einer Aufhebung der Menschheit in Frage gestellt. Andere Intel­ ligenzen würden möglicherweise das Verschwinden der irdischen Biosphäre beklagen104. Zweitens wird die Entscheidung davon abhän­ gen, ob der Exterminator metaphysischen Erwägungen Raum gibt. Mit sich ins Gericht gehend, könnte er nämlich zu der Frage vorsto­ ßen, was es eigentlich bedeutet, zu sterben; ob es einen Unterschied macht, vorbereitet und in Würde zu sterben oder ein jähes Ende zu 104 Für Näheres siehe Akerma (1997). 232

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finden; ob es ein Absolutes gibt, in Ansehung dessen sich der Biozid verbietet. Reflektiert der Unschlüssige weder auf die Möglichkeit von extraterrestrischer Intelligenz noch auf metaphysische Gegen­ argumente, so wird er zu dem Schluß gelangen, es sei am Besten, unausdenkbares Leid auf leidlose Weise ein für allemal zu unterbin­ den. Und in dieser Weise wird deutlich, wie auch dieses Gedanken­ experiment letztlich die Kraft und den Aufforderungscharakter eines metaphysischen Reagenz entfaltet. 17.5.5 Natale Enthaltsamkeit als Gebot des Negativen Utilitarismus Daß das Horstmannsche Szenario auch in negativ-utilitaristischer Sicht ganz und gar unmoralisch ist, liegt daran, daß menschliche Technik viel zu unvollkommen ist, als daß man je darauf vertrauen dürfte, daß ihr eine augenblickliche und leidlose Aufhebung des Le­ bens auf der Erde gelingen könnte. Horstmann geht ja nicht in einem Gedankenexperiment mit einem Phantasieapparat um, dem die oben angegebenen Eigenschaften zukommen, sondern er orientiert sich an den real vorliegenden Waffen, deren noch so massiver Einsatz unge­ heures Leid mit sich führen würde. So bleibt das Verebben das Sze­ nario, welches wir als metaphysisches Reagenz wählen sollten, wenn die Erörterung eines von Menschen bewirkten Endes der Menschheit nicht von vornherein als unmoralisch disqualifiziert werden soll. Unsere bisherige Diskussion des Utilitarismus hat nahegelegt, daß im Rahmen dieser Moraltheorie nicht nur keine Argumente ge­ gen das Verebben vorgebracht werden können (jedenfalls solange nicht, wie sie nicht in Gestalt eines substantiellen Glücksbegriffs eine metaphysische Kategorie beansprucht), sondern daß innerhalb ihrer wegen eines ethischen Schwererwiegens von Leid über Glück sogar die Nichthervorbringung zusätzlicher Menschen und damit ein Ver­ ebben der Menschheit geboten scheint. Fragen wir zunächst noch einmal nach dem Glück von Men­ schen, die hervorgebracht werden könnten. Daß dieses Glück gemäß utilitaristischer Logik unberücksichtigt bleiben muß, geht aus einem ingeniösen Satz Narvesons unmittelbar hervor: »>Hiram Jones ought to be born< makes no sense.«105 Sinnvoll wäre dieser Satz nur unter der Bedingung, daß unsere Rede von nicht existierenden Menschen 105 Narveson, Utilitarianism and New Generations, S. 64. ^

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sich auf irgendeine spezielle Gruppe von Menschen beziehen würde, deren Individuen identifizierbar sind. Aber ein entsprechender von Hare unternommener Versuch identifizierender Bezugnahme auf sie kann als gescheitert angesehen werden. Hier hilft es auch nicht, auf einen Glückszuwachs durch ein Kind hinzuweisen. Denn wir müßten fragen, ob das Kind, als das Ergebnis seines Gezeugt- und Geborenwerdens, glücklicher ist, als »es« sonst gewesen wäre. Hier­ bei handelt es sich um eine wenig sinnvolle Frage, die erst recht keine irgend sinnvolle Antwort nach Ja oder Nein erheischt. Würde man unter Hinweis auf einen Zuwachs des Glücks überhaupt in der Welt antworten, so verfiele man der oben behandelten verborgenen Meta­ physik des Utilitarismus. Es ist sehr wohl sinnvoll zu sagen: »Wir wollen das Kind, das wir zeugen werden, Adam oder Eva nennen«. Verfehlt im Sinne ontologischer Bezugnahme ist die Aussage: »Eva soll gezeugt werden.« Das Glück eines Kindes ist nicht dadurch erhöht worden, daß es hervorgebracht wurde, und, sagt Narveson, »since nobody elses's has either, directly, there is no moral reason for bringing him into existence.«106 Obgleich kein Vertreter des NU, ist Narveson für den Utilitarismus hinsichtlich einer moralischen Verpflichtung der Menschheit zur Fortexistenz zu einer abschlägigen Antwort gelangt.107 Dieses Ergebnis entspricht ganz der von mir ver­ tretenen These, daß eine Arbeit oder Weiterarbeit an der Metaphysik vonnöten ist, wenn wir das Seinsollen der Menschheit begründen wollen. Mittels Erwägungen wie Narveson sie anstellt, wird weiterer Raum geschaffen für die Auffassung, daß es äußerst schwierig sein dürfte, ein Seinsollen der Menschheit im Rahmen metaphysikfreier Ethik begründen zu wollen. Muß die Frage, ob sich aus dem Utilitarismus eine Hervorbrin­ gungspflicht ableiten ließe, verneint werden, so ist doch das Gebot nataler Enthaltsamkeit negativ-utilitaristisch noch nicht in wün­ schenswerter Weise dargelegt und gegen Einwände verteidigt. Prü­ fen wir also im folgenden noch einmal die Berechtigung, vom Vor­ liegen einer wirklichen Asymmetrie von Leid und Glück reden zu dürfen sowie die Frage, ob sie als die grundlegende Doktrin des nega­ tiven Utilitarismus wirklich das Gebot zu nataler Enthaltsamkeit be­ gründet.

106 A.a.O., S.67. 107 Siehe a.a.O., S. 72. 234

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17.5.6 Weitergehende Begründung der Asymmetrie von Leid und Glück Daß Leid und Glück keineswegs symmetrisch sind, sondern Leid ethisch gesehen schwerer wiegt, kann nicht bewiesen, sondern nur mehr oder weniger gut begründet werden oder auch durch Ver­ anschaulichung nahegelegt werden: Ein Photo in H. Dollingers »Schwarzhuch der Weltgeschichte« zeigt eine kopfunter an den Füßen aufgehängte entblößte Frau; neben ihr ein Latifundienhesitzer mit Machete. Um das Aufbegehren des Stammes, dem sie angehört, zu bestrafen, wird er sie gleich in zwei Teile hacken. Welches Glück in der Welt soll das Leid dieser Frau und ungezählter anderer Hinge­ mordeter und Gefolteter kompensieren? Weder früheres Glück der Frau noch das Glück anderer Personen vermögen dies. Völlig zu Recht fragt daher Mackie: »Gehören Lebensfreude und Schmerz in etwa derselben Kategorie an, so daß sich die Gesamtsumme des einen mit der Gesamtsumme des anderen verrechnen läßt? Ein Abwägen der Lebensfreude verschiedener Personen bringt noch größere Schwierigkeiten mit sich ...«108 Besinnen wir uns zwecks weiterer Bestimmung der Asymmetrie nochmals auf Popper. Popper formulierte: »Wir sollten einsehen, daß Leiden und Glückseligkeit vom moralischen Standpunkt aus nicht als symmetrisch behandelt werden dürfen; d. h. die Forderung nach Glückseligkeit ist auf jeden Fall viel weniger dringlich als die Hilfe für die Leidenden und der Versuch, das Leiden zu verhindern.«109 Seine Überzeugung, »daß vom ethischen Standpunkt aus keine Sym­ metrie zwischen Freuden und Leiden oder zwischen Lust und Schmerz besteht,« ist für Popper »ein Umstand, der jedoch kaum rational diskutiert zu werden braucht.«110 Blieben wir bei dieser Ein­ schätzung Poppers stehen, so wäre zum ethischen Schwererwiegen des Leids über das Glück nichts weiter zu sagen, als an Evidenzen der Anschauung im Lichte selbstempfundenen Leids zu appellieren. Indessen ist es doch wünschenswert, diese Auffassung weiter be­ gründen zu können, was auch möglich scheint. Gehen wir, vereinfachend, einmal von drei Grundbefindlich­ keiten aus: den Zuständen der Zufriedenheit, des Leidens und des 108 Mackie, Ethik, S. 160. 109 Popper, Die offene Gesellschaft 110 A.a.O., S. 387.

S. 317.

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Glücks. Jemand, dessen grundlegende Bedürfnisse erfüllt sind, sei zufrieden. Jemand, dessen höhere, extravagante oder ausnahmehafte Bedürfnisse erfüllt sind, sei glücklich. Schließlich sei jemand leidend, hei dem entweder die grundlegenden oder die höheren Bedürfnisse nicht hefriedigt sind. Ist es nicht so, daß die Person, die leidet, weil ihre grundlegenden Bedürfnisse nicht hefriedigt sind, hei einem An­ halten dieses Zustandes ihr Weiterlehen hedroht findet, während wir im Falle derjenigen Person, deren höhere Bedürfnisse unerfüllt sind, sagen würden, daß »nur« wesentliche Inhalte ihres Lehens hedroht sind? Folgt nicht auch hieraus, daß eine Bedrohung dessen, was wir höchstes Glück nennen, ethisch weniger schwer wiegt, als die Zu­ fügung hasalen Leids? Die um wesentliche Lehensinhalte depravierte Existenz kann einen Lehenssinn wiedergewinnen. Für die ihres Le­ hens herauhte Existenz gilt dies nicht. Im Umkehrschluß muß dann die Aufhehung hasalen Leids ethisch dringlicher sein, als das Hervor­ rufen höchsten Glücks.111 Für die höhere Dringlichkeit der Leidvermeidung und -min­ derung üher Glücksschaffung und -mehrung spricht üherdies die größere Eindeutigkeit des Leids. Wir wissen im allgemeinen sehr viel hesser, wie wir jemanden, dessen Bedürfnisstruktur wir gar nicht zu kennen hrauchen, leidend machen können, als glücklich.112 In der Beurteilung dessen, was schlecht ist, findet sich eine geringere indi­ viduelle Ahweichung als in der Beurteilung dessen, was gut ist. Die­ ser Umstand spricht zugleich gegen die Privations-Theorie des Ühels, derzufolge Ühel »nicht so gut« und »Mangel an guten Qualitäten« hedeutet. Nach dieser Theorie erkennen wir ein Ühel vor dem Hin­ tergrund eines vorgängigen Wissens um das fehlende Gute. Aher gerade was das Gute denn sei, ist ehen sehr viel schwieriger zu hestimmen als das Ühel, hzw. hier ist die Bestimmung von sehr viel mehr Uneinigkeit hegleitet. Es ist sehr viel leichter, dasjenige zu identifizieren, hei dessen Vorliegen oder Durchführung ein Leiden­ der zufrieden wird, als dasjenige, wodurch ein Zufriedener glücklich. Man kann dem auch den Ausdruck gehen: vorhandenes zu mindern­

111 Diese Üherlegungen sind angeregt durch Tranöys Ausführungen. 112 In Humes »Dialogues Concerning Natural Religion« heißt es in diesem Sinne: »Were a stranger to drop, in a sudden, into this world, I would show him, as a specimen of its ills, an hospital full of diseases ... a field of hattle strowed with carcases „.To turn the gay side of life to him, and give him a notion of its pleasures; whither should I conduct him?« Part X, S. 196. 236

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des Leid ist willkürfreier identifizierbar als noch nicht vorhandenes, aber durch Handeln realisierbares Glück. Weiß ich um den Schmerz eines eingeklemmtes Kindes, so ist dies alles, was ich an Wissen benötige, um das Gefühl zu haben, daß ich helfen soll. Das Kind, vielleicht noch im vorsprachlichen Alter, muß nicht einmal in der Lage sein, mir seinen Schmerz oder ein Hilfeersuchen verbal mitzuteilen. Geht es hingegen darum, zufriede­ ne Menschen glücklich zu machen, so stehen die Dinge ganz anders. Jemand, der sich vermögend wähnt, eine andere Person glücklich ma­ chen zu können, kann nicht wissen, ob dieser seiner Fähigkeit ein Bedürfnis, eine Sinnesart oder Neigung bei der Person entgegen­ kommt. Veranschaulichende Beispiele sind die Frage nach dem rich­ tigen Geburtstagsgeschenk oder danach, ob man einem Kind eine Musik- oder Tennisausbildung zukommen lassen soll. Eine weitere Asymmetrie von Leid und Glück erhellt aus ihren allgemeinen Konsequenzen. Leiden zieht mit größerer Wahrschein­ lichkeit weitere Übel nach sich als das Glück das Angenehme und Gute. Leiden und unerfüllte basale Bedürfnisse, so können wir sagen, vermögen das ganze Leben einer Person in einem Ausmaß zu gefähr­ den, welches auf einen Mangel an Glück oder Erfolg nicht gleicher­ maßen zutrifft.113 Vieles von dem Gesagten ließe sich auch so fassen: Leid ist in höherem Maße glücksverschlossen als Glück leidresistent. Wer lei­ det, an dem geht das Glück in höherem Maße vorbei, als das Leiden an dem, der glücklich ist. Und: Es ist sehr viel schwieriger, einen Leidenden glücklich zu machen als einen Glücklichen leidend. Das Vorliegen einer Asymmetrie von Leid und Glück hat sich über das von Popper angegebene Maß hinaus als diskutierbar erwie­ sen. Die obenstehende Erörterung sollte uns in der Überzeugung be­ stärken, daß Leid in der Tat ethisch schwerer wiegt als Glück. Aus gerechtigkeitstheoretischer Perspektive ist nun der Einwand vor­ gebracht worden, die Konstruktion der Asymmetrie entspringe einer

113 Vgl. Acton 94, Tranöy 358, Walker 427. In aller Deutlichkeit ist dieser Sachverhalt wiederum bereits bei Hume ausgesprochen: Selbst wenn Gesundheit und Glück verbrei­ teter sein sollten, als Krankheit und Leid, sagt Philo, so gelte doch, »that if pain be less frequent than pleasure, it is infinitely more violent and durable ... Pleasure, scarcely in one instance, is ever able to reach ecstasy and rapture: And in no one instance can it continue for any time at its highest pitch and altitude. But pain often, Good God, how often! rises to torture and agony.« Part X, S. 200. ^

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Verkennung des Umstands, daß das Glück allein - und nicht Leid - in Rechnung zu stellen ist. 17.5.7 Ein gerechtigkeitstheoretischer Einwand gegen die Asymmetrie von Leid und Glück Um die für viele unannehmbaren Konsequenzen eines konsequent zuende gedachten NU vermeiden zu können, ohne doch die Einsicht in das Bestehen der moralischen Asymmetrie aufgeben zu müssen, hat man versucht114, das asymmetrische Moment in Begriffen ge­ rechter Verteilung, statt in Begriffen von Leid und Glück kategorial einzufangen, wobei eine gerechtigkeitstheoretische Kluft des Glücks eingebracht wird: Wenn Person A leidet und Person B nicht leidet, so wäre nicht dieser Sachverhalt an und für sich bereits für einen leid­ minimierenden Einsatz von Handlungsressourcen zu Gunsten von Person A entscheidend, sondern der Umstand, daß eine Verwendung der Handlungsressourcen für B die Kluft des Glücks zwischen beiden noch weiter öffnen statt schließen würde, wie es einer Logik der Ge­ rechtigkeit entspricht. Sikora leitet hieraus ab, »that it is not current pain that counts but overall happiness.«115 In der Sichtweise Sikoras wird das Leid als Maßstab für Entscheidungen über den Einsatz von (Handlungs)Ressourcen deshalb suspendiert, weil wir - eben unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit - zuletzt doch immer nach der Verteilung von Glück fragen müssen, um uns orientieren zu können, welche unter möglichen Handlungen moralisch die richtige ist. Da­ mit ist eine logische Überlegenheit des Glücks über das Leid im Rah­ men ethischer Argumentation unterstellt. Diese Logik der Gerechtigkeit findet allerdings in Ansehung be­ stimmter Verteilungen von Glück und Leid ihre Grenze: Wir müßten nämlich im Sinne einer Logik purer Gerechtigkeit das Glück der obi­ gen Person B fördern und nicht das aktuelle Leid von A mindern, wenn es zutrifft, daß A insgesamt gesehen weitaus glücklicher ist als B und nur aktuell leidet. In der Tat scheint es nicht einfach, die Asymmetrie von Leid und Glück mit den Mitteln einer Logik der Gerechtigkeit zum Ausdruck zu bringen. Sie würde uns ermächtigen, denjenigen, der ein Leben lang glücklich war, in einer Stunde ab­ grundtiefen Leids allein zu lassen, damit wir uns dem zuwenden, 114 Vgl. Walker, S. 427f.; R. I. Sikora, Negative Utilitarianism: Not Dead Yet, S. 587f. 115 Sikora (1976), S. 587. 238

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dem es momentan zufriedenstellend geht, der insgesamt gesehen je­ doch schlechter dasteht als A. Der Versuch einer Transponierung des ethischen Schwererwiegens von Leid über Glück in das gerechtig­ keitstheoretische Anliegen einer vom Leid absehenden fairen Vertei­ lung von Glück, allein muß als mißlungen gelten, sofern man nicht bizarre Konstellationen in Kauf nehmen will.116 Orientieren wir uns am Glück als einer zu verteilenden knappen Ressource, dann müßte Person A im Sinne ausgleichend austeilender Gerechtigkeit leiden, ohne auf unseren Beistand berechtigten Anspruch erheben zu dürfen. Bezüglich nötiger Abänderungen, die den klassischen Utilitaris­ mus mit der Asymmetrie von Leid und Glück vermitteln könnten, ohne gleich dem NU Tür und Tor zu öffnen, meint Walker, sie wären »relatively radical changes, and the resulting theory will be of a very different complexion from CU (Classical Utilitarianism, KA) as originally conceived.«117 Sikora geht in dieser Richtung noch weiter, wenn er sagt: »If classical utilitarianism is to survive, it must be combined with ethical revisionism, the view that some of our commonly held moral beliefs are in need of revision.«118 Sikora hat diese Forde­ rung nach einer Revision unserer moralischen Intuitionen nicht nä­ her spezifiziert. Meiner Ansicht nach kann der klassische nur als negativer Utilitarismus überleben, und er muß diese Gestalt anneh­ men, wenn die Behauptung einer Asymmetrie von Leid und Glück triftig ist. 17.5.8 NU-Argumente für natale Enthaltsamkeit. Ist es möglich, logisch konsistent im Sinne eines negativen Utilitarismus und auf der Basis der ethischen Asymmetrie für das Verebben zu argumentieren? Als Nichtmetaphysiker darf der Utilitarist nicht wie Kant, Hegel und Marx an ein Gesetz appellieren, welches hinter dem Rücken der Menschen zu einer intergenerationellen Erfüllung menschheitlicher Existenz führen soll. Vielmehr muß er sich, Mill zum Vorbild neh­ mend, von der Geschichte belehren lassen und eher auf die tatsäch­ lich gewesene Vergangenheit blicken als auf das Wunschbild einer 116 Vgl. auch Walker, S. 428. 117 Ebd. 118 Sikora (1976), S. 588. ^

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bloß gedachten Zukunft. Da uns die Geschichtsschreibung Daten von Leid überliefert, deren Realität unvorstellbar ist, bliebe dem Utilita­ risten nur, sofern er in Ansehung der Neganthropie eine Anthropodizee leisten wollte, die Kompensierbarkeit von Leid durch Glück zu behaupten. Leid und Glück müßten dann freilich nach Art metaphy­ sisch kommunizierender Röhren Zusammenhängen. Wer sich als Utilitarist von einer Berechtigung der Asymmetrie von Leid und Glück überzeugen läßt, dem bietet sich in Gestalt des negativen Utilitarismus eine im Grunde attraktive Moraltheorie. Ihr Gebot würde etwa lauten: »Handle nach Kräften so, daß am meisten Leid verhindert und gemindert wird.« Eine Befolgung dieser Maxime beinhaltet nun aber ganz offensichtlich das Verebben der Mensch­ heit. Dürfen wir aus der Vergangenheit und Gegenwart in die Zu­ kunft extrapolieren, was anzuzweifeln kein Anlaß gegeben ist, so steht großes Leid bevor. Folglich würde der Maxime dann am Besten entsprochen, wenn das menschliche Leben nicht weitergegeben würde. Die Frage, die sich nun stellt, aus der heraus Einwände gegen das Verebben als eine Implikation des NU erhoben werden können, ist, ob unser Schluß im Rahmen einer Logik des Utilitarismus wirk­ lich konsistent ist. Im Rahmen der Diskussion des Hervorbringungsgebots ist sei­ tens verschiedener Autoren wie Narveson, Sikora, Parfit oder Singer folgender Standard herausgearbeitet worden: Entweder wir diskutie­ ren Leid und Glück existierender Menschen oder wir diskutieren Leid und Glück überhaupt in der Welt. Diskutieren wir das Leid existie­ render Menschen, so gelangen wir in Anbetracht zu erwartenden künftigen Leids nicht zu der Forderung, keine Menschen mehr her­ vorzubringen; denn es geht ja nicht darum, das Leid überhaupt so gering wie möglich zu halten, sondern darum, das Leid daseiender Menschen zu minimalisieren. Entsprechend gilt dann freilich auch, daß wir im Rahmen des Prinzips vorausgesetzter Existenz mit Bezug auf das Glück nicht zum Gebot einer Hervorbringung von Menschen gelangen, da es sinnlos ist zu sagen, es schade jemandem, nicht her­ vorgebracht worden zu sein. Auf dem Boden des existenzinklusiven Prinzips scheint es weder geboten zu sein, keine Menschen hervor­ zubringen, noch welche hervorzubringen, sondern es liegt ein menschheitlicher Indifferentismus vor. Um sagen und fordern zu können, Menschen sollten wegen des andernfalls unvermeidlich damit einhergehenden Leids nicht hervor­ gebracht werden, müssen wir uns offenbar auf das Terrain des per­ 240

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sonenfreien Prinzips, des Prinzips nichtvorausgesetzter Existenz be­ gehen. Wir können dann sagen: Wegen des Leidens, das mit einer Perpetuierung der Menschheit einhergeht, sollten wir auf die Wei­ tergabe menschlichen Lehens verzichten. Haben wir uns jedoch erst einmal auf den Boden des Prinzips nichtvorausgesetzter Existenz hegehen, so sehen wir uns sofort der Frage ausgesetzt: Wenn das mit der Perpetuierung unweigerlich ver­ bundene Leiden ein Grund gegen die Weitergabe menschlichen Le­ hens sein soll, ist dann das mit der Hervorbringung ebenso unweiger­ lich einhergehende Glück kein gleichschwer wiegender Grund für die Perpetuierung der Menschheit? Begeben wir uns, wenn wir für ein Verebben der Menschheit argumentieren wollen, auf den Boden des Prinzips nichtvorausgesetzter Existenz, so sehen wir uns dem Ein­ wand ausgesetzt, eben nicht nur andernfalls vorkommendes Leid von Menschen durch Nichthervorbringung verhindern zu müssen, sondern auch andernfalls nicht vorkommendes Glück von Menschen durch Fortpflanzung realisieren zu müssen. Es läge somit eine ethische Pattsituation vor, in der wir mit glei­ chem Recht für wie gegen die Hervorbringung von Nachkommen argumentieren könnten, in der die Hervorbringung von Nachkom­ men ethisch neutral wäre. Dieser Schluß ist aber nur zulässig unter der Voraussetzung einer prinzipiellen Symmetrie von Leid und Glück, gegen die oben argumentiert wurde. Nur unter der Voraus­ setzung, daß Leid und Glück ethisch gesehen gleich schwer wiegen, wäre die Forderung berechtigt, daß das Glück von Menschen über­ haupt als Hervorbringungsgrund ebenso schwer wiegen muß wie Leid von Menschen überhaupt als Grund für Nichthervorbringung. Folglich liegt keine ethische Pattsituation vor, sondern das Verebben bleibt der Königsweg des negativen Utilitarismus. Daß eine Asymmetrie von Leid und Glück vorliegt und diese mit größerem Gewicht gegen als für die Fortpflanzung spricht, kann auch im folgenden Zusammenhang eingesehen werden. Denken wir an ein Paar, welches entschlossen ist, ein Kind zu zeugen. Nachdem es die medizinische Indikation erhalten hat, daß das Kind an einer schrecklichen Krankheit leiden würde, revidiert das Paar seinen Ent­ schluß. Nehmen wir von einem anderen Paar an, es wolle kinderlos bleiben; es lebe in einer Zeit, in der aufgrund einer weitgehend kon­ taminierten Umwelt überhaupt nur noch wenige Menschen über eine genetische Ausstattung verfügen, die es ermöglicht, Kinder ohne genetischen Defekt hervorzubringen. Anläßlich einer medizi­ ^

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nischen Untersuchung erfährt das Paar, von dem wir annehmen wol­ len, es sei sozial bestens gestellt, daß es in der nunmehr seltenen und vielerseits beneideten Lage ist, auch aus medizinischer Sicht ein glückliches Kind hervorzubringen. Sollte dieses Paar seinen ur­ sprünglichen Entschluß ändern? Ganz offensichtlich ist es eher geboten, eine einmal getroffene Entscheidung in Ansehung bevor­ stehenden oder wahrscheinlichen Leids, denn in Anbetracht bevor­ stehenden oder wahrscheinlichen Glücks zu ändern.119 Diese Konstel­ lation demonstriert einmal mehr ein ethisches Schwererwiegen von Leid über Glück. Versuchen wir noch einmal, dieses Resultat zu verallgemeinern. Mit Bezug auf Nachkommen ist einerseits eine vollständige Disjunk­ tion möglich: Wir können welche haben oder keine hervorbringen. Andererseits können wir mit Bezug auf sie eine eher diffuse Unter­ scheidung vornehmen: sie werden entweder mehr oder weniger glücklich oder aber mehr oder weniger unglücklich sein, bzw. die Nachkommen, die wir hätten haben können, wären mehr oder weni­ ger glücklich oder unglücklich gewesen. Gehen wir jetzt davon aus, daß es unsere Pflicht ist, Nachkom­ men, von denen wir annehmen, daß sie mehr oder weniger unglück­ lich sein würden, nicht hervorzubringen, so erhalten wir ein Schwe­ rerwiegen der Nichtweitergabe menschlichen Lebens gegenüber der Weitergabe in grundsätzlicher Hinsicht. Wird ein Kind gezeugt (1), so wird nur dann keine Pflicht erfüllt oder verletzt, wenn es mehr oder minder glücklich ist; hingegen wird eine Pflicht verletzt, wenn das Kind mehr oder weniger unglücklich oder leidend ist und dies irgend voraussehbar war. Wird kein Kind gezeugt (2), so wird auch dann keine Pflicht erfüllt oder verletzt, wenn abzusehen war, daß es mehr oder minder glücklich gewesen wäre. Es ergibt, sich, daß nur im Falle der Hervorbringung eine Pflicht verletzt werden kann. Aufs Ganze gesehen sind also die Konsequenzen aus (2) denen aus (1) vor­ zuziehen.120 Aus der Überlegenheit von Handlung bzw. Unterlassung (2) ge­ genüber (1) zieht Vetter den Schluß, daß die Nichtweitergabe menschlichen Lebens solange der Fortpflanzung vorgezogen werden sollte, wie wir nicht mit Sicherheit ausschließen können, daß das 119 Die Struktur für diese Argumentation findet sich in Goviers Aufsatz »What should we do about future people?» 120 Ich verwende hier die Analyse von Vetter (1971) S. 301. 242

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Negativer Utilitarismus

Kind unglücklich sein wird. Und da wir dies niemals mit Sicherheit ausschließen können, sollten wir uns in nataler Enthaltsamkeit üben: »In any case, it is morally preferable not to produce a child.«121 Wir sollten stets auf Nachkommen verzichten, da wir nie ausschließen können, daß sie leiden werden und nie wissen können, ob sie glücklich sein würden. Dies scheint mir das Resultat zu sein, zu dem metaphysikloses ethisches Denken auf der Grundlage der ethischen Asymmetrie uns führen muß. Vetter ist der einzige mir bekannte Theoretiker, der im Rahmen utilitaristischer Erwägungen nicht bloß zum Standpunkt menschheitlicher Indifferenz gelangt ist, sondern den moralischen Vorzug nataler Enthaltsamkeit ausgesprochen hat. Laut Narveson muß dieses Ergebnis jedoch nur dann angenommen werden, »if the only relevant considerations in conduct were considerations of duty or for that matter of morals ...«122 Dem sei aber nicht so, da das Meiste von dem, was wir tun, nicht aus Gründen der Moral getan werde. Diese Bemerkung Narvesons zu Vetter ist des­ halb kein triftiger Einwand, da auch Narveson davon ausgeht, daß wir moralisch handeln sollten. Die Beobachtung, daß nur Über­ menschen stets und immer aus Gründen der Moral heraus handeln könnten, ist berechtigt. Dennoch wäre es vollkommen verfehlt, Mo­ raltheorien den menschlichen Schwächen anpassen zu wollen. Stattdessen sollten wir der Kluft zwischen moralischem Anspruch und fehlbarer menschlicher Realität in der Weise Ausdruck geben, daß wir zwischen idealen und realen Akteuren unterscheiden (siehe dazu die Einleitung zu dieser Arbeit). Vetters Argument kann noch gestärkt werden durch den Ver­ weis darauf, daß wir zwar nicht wissen, welche Nachkommen wel­ cher Eltern leiden werden, hingegen gewiß ist, daß die Nachkommen irgendwelcher Eltern in der Weise einer Wiederholung schlimmster geschichtlicher Überlieferung leiden werden. Leider müssen wir da­ von ausgehen, daß Greuel, von denen die Schwarzbücher der Welt­ geschichte uns berichten, auch in Zukunft statthaben werden - so­ lange es Menschen gibt. Gegen eine Weitergabe menschlichen Lebens ohne metaphysi­ sche Rechtfertigung spricht ganz einfach das Gesetz der großen Zahl. Man kann dieses erläutern am Beispiel der Schädigung unserer Le­ bensbedingungen. Esse ich Fleisch, wo ich die Möglichkeit habe, mich 121 A.a.O., S. 302. 122 Narveson, Moral Problems of Population, S. 74. ^

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ebenso gut von pflanzlicher Kost zu ernähren, fahre ich Auto, wo andere Verkehrsmittel zumutbar sind, so wird man mir schwer nach­ weisen können, daß und welchen Individuen ich mit diesen Hand­ lungen schade. Nicht ich verursache knapper werdende landwirt­ schaftliche Anbauflächen und das Ansteigen der Brotpreise durch meinen Fleischkonsum, unbewohnbare Städte und jährlich Hundert­ tausende von Verkehrstoten dadurch, daß ich Auto fahre. Diese Übel entstehen daraus, daß hunderte Millionen Menschen gern Fleisch essen und Auto fahren. Offenbar wäre es aber abwegig, wollte ich mir jegliche Mitverantwortung oder potentielle Mittäterschaft für das Zustandekommen unreiner Luft und des Schlachtfeldes Straße abschreiben, indem ich behauptete, in der Absicht wenige Schad­ stoffe abzugeben und mit dem Vermögen zu äußerst regelkonfor­ mem Fahren in das Fahrzeug zu steigen. Selbst wenn alle Menschen in dieser Überzeugung in ihren Wagen steigen, wird es eine unakzep­ table Zahl schwerer Unfälle geben. Selbst wenn alle Eltern meinen, garantieren zu können, daß ihre Kinder glücklich sein werden, wer­ den Kriege, und seien es sogenannte gerechte Kriege, sich ereignen. Sehen wir ein, daß die Summe von Einzelhandlungen, die für sich gar nicht schlecht sein müssen, auf höherer Integrationsebene doch zu unakzeptablen Resultaten führt, dann ist es geboten, diese Handlun­ gen selbst in Frage zu stellen.

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Kapitel 18

Ontologien menschheitlichen Seinsollens

Lukrez schreibt in »De rerum natura«, der Bibel des Atomismus: »Denn es weicht verdrängt von der Frische der Dinge das Alter im­ mer, und notwendig ist's, zu ergänzen eins aus dem andern.«1 Und Jonas bemerkt: »Mit jedem Kind, das geboren wird, fängt die Menschheit im Angesicht der Sterblichkeit neu an ...«2 Dies gilt prinzipiell für jede biologische Art. Im Gegensatz zu allen anderen Arten jedoch ist der Gattungszusammenhang beim Menschen kein von Natur aus garantierter, sondern er steht kulturell stets in Frage. Von asiatischen und gnostischen Religionen und Sekten ist die beim Menschen brüchige Nabelschnur des natürlichen Gattungszusam­ menhangs positiv aufgenommen und erkannt worden als Ausweg aus dem Kreislauf von Geburt und Leid. Im Hauptstrom abendländischer Kultur wurde die Brüchigkeit des Gattungszusammenhangs durch die christliche Idee einer göttli­ chen Schöpfungsordnung stabilisiert. Ist der Glaube an eine solche Ordnung dahin - ein Zug der Moderne - so macht ihr Fehlen, wenn man am Seinsollen der Menschheit festhalten will, ein aufgeklärtes funktionales Äquivalent erforderlich. Um die Schwierigkeit zu signa­ lisieren, ein solches Äquivalent bei vorherrschender nominalistischer forma mentis zu begründen, können wir wiederum Lukrez und Jonas zu Wort kommen lassen. Lukrez: »Daß beim Bunde der Venus und Werfen der Tiere wartend dasteht die Seele, scheint mehr als lachhaft zu sein.«3 Und Jonas: »... zu sagen, daß dieser oder jener sein soll, bevor er ist, hat keinen Sinn.«4 Lukrez ermahnt uns zudem, daran zu denken, »wie nicht vergangenes Alter ewiger Zeit je betraf uns da­

1 2 3 4

Lukrez, De rerum natura, 3. Buch, S. 243. Jonas, Das Prinzip Verantwortung (künftig abgekürzt: PV), S. 241. Lukrez, a.a.O., S. 229. PV 239. ^

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Kapitel 18: Ontologien menschheitlichen Seinsollens

mals bevor wir geboren.«5 Wenn kein einzelner ein Recht auf Her­ vorbringung haben kann, weil die Behauptung dieses Rechtes absurd wäre, wie kann dann ein Seinsollen der Menschheit begründet wer­ den? Jonas äußert diesbezüglich den »Verdacht, es könnte das, was ich die Abschaffung der Transzendenz nannte, vielleicht der kolossalste Irrtum der Geschichte gewesen sein ...«6 Um den von Jonas beklag­ ten Verlust der Transzendenz zu veranschaulichen, sei eine relevante Stelle aus Thomas von Aquinos »Über die Herrschaft der Fürsten« herangezogen. Da die Menschen sterblich sind, so Aquino, ist es die Aufgabe des Königs, für Nachwuchs Sorge zu tragen, auf daß andere an die Stelle der Abgehenden treten, »wie durch die Regierung Got­ tes bei allen vergänglichen Dingen, weil sie nicht immer in derselben Gestalt dauern können, vorgesehen ist, daß Neues entsteht und an ihre Stelle tritt, damit so das All in seiner Ganzheit erhalten bleibt ...«7 Hierhin möchte Jonas zurückfinden. Dazu soll aus dem Sein und aus der inneren Richtung der Naturevolution eine Bestim­ mung des Menschen ermittelt werden. Gelänge dies, so »würde sich ein Prinzip der Ethik ergeben, das letztlich weder in der Autonomie des Selbst noch in den Bedürfnissen der Gesellschaft begründet wäre, sondern in einer objektiven Zuteilung seitens der Natur des Ganzen (was die Theologie als ordo creationis zu bezeichnen pflegte) .. ,«8 Auf die bewährteste Begründung menschheitlichen Seinsollens, auf eine theo-logische, dies weiß Jonas, können wir unter modernen Denk- und Lebensbedingungen nicht ohne weiteres zurückgreifen. Soll ein Sprung in den Glauben ausbleiben, bleibt der Versuch onto­ logischer Begründung menschheitlichen Seinsollens. Unterschiedli­ che Typen von Ontologien menschheitlichen Seinsollens werden von Jonas, Hartmann, Steinvorth (Erismann, Nozick) und Bloch ver­ treten. In ihren Ontologien werden für die Arbeit am Projekt der Moderne - eine Anthropodizee - Kategorien beansprucht, die in der antiken und mittelalterlichen Metaphysik zum Tragen gekommen waren. Sowohl Jonas als auch Steinvorth vertreten die Idee der Kon­ vertibilität des Seienden und des Guten; beide beanspruchen ein in­ tensives Prinzip der Fülle in Kombination mit dem Gedanken unter­ 5 6 7 8 246

Lukrez, a.a.O., S. 245. PV 231. Aquino, Über die Herrschaft der Fürsten, 1. Buch, 15. Kap., S. 59f. Jonas, Organismus und Freiheit, S. 341.

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schiedlicher Seinshöhe verschiedener realer Gegenstände: Für Jonas ist eine Entität umso seinshöher, je eigentätiger und aktiver sie dem Nichtsein widerstrebt, je subjektiver der Naturzweck in ihr wird. Hartmanns Ontologie menschheitlichen Seinsollens ist demgegenü­ ber ein moderner Wertplatonismus. Gemeinsam mit Jonas und Steinvorth beansprucht Bloch die Idee einer Naturtendenz. Um Ontologien menschheitlichen Seinsollens intern zu diffe­ renzieren, ist es angebracht, sie kurz im Lichte folgender Fragen zu betrachten: Ob und wie sie die Differenz der grundlegenden Seins­ weisen - Real und Ideal - beanspruchen. Ob und wie sie in vollkom­ menheitstheoretischer Absicht an der Differenz der Seinsmodi Möglichkeit und Wirklichkeit - orientiert sind. Ob sie sich auf eine Zweckhaftigkeit des Seins und, davon abgeleitet, Werte im Sein, oder eine Tendenz des Seins berufen; und schließlich, mit Hilfe welcher Metaphorik sie die Stellung des Menschen beschreiben: ob als Hüter des Seins oder als Mitarbeiter des Seins. Es folgt eine nähere Über­ sicht. 1. Das Seinsollen von Menschen liegt in der Aufgabe der Seins­ bewahrung (Jonas): Der Bereich von Jonas' Ontologie menschheitlichen Seinsollens ist in erster Linie das Gebiet des Realen. Über die Verknüpfung von »objektiven Zwecken« und »durchgehender Kontinuität im Realen« wird das Seinsollen des Menschen als eines Hüters des Seins be­ gründet. Als von der Natur »hervorgebracht schulden wir dem ver­ wandten Ganzen ihrer Hervorbringungen eine Treue, die Aufgabe hütender Seinsbewahrung, wovon die zu unserem eigenen Dasein nur die höchste Spitze ist.«9 Problematisch an Jonas' Ontologie ist vor allem, daß er den zu­ erst gefaßten Gedanken durchgehender Kontinuität des Seienden letztlich doch mittels einer Anerkennung des Novums menschlicher Freiheit in Frage stellt. Weil objektive Werte sich, wie Jonas sieht, nicht determinativ gegen die menschliche Freiheit durchsetzen kön­ nen, führt dies bei ihm dazu, daß er seine wertaristotelische Position um Bestandsstücke eines Wertplatonismus und letztlich theologi­ schen Denkens erweitern erweitern muß.

9 PV 246. ^

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Kapitel 18: Ontologien menschheitlichen Seinsollens

2. Eine Ontologie menschheitlichen Seinsollens als demiurgische Metaphysik - das Seinsollen des Menschen liegt in der Aufgabe der Realisierung idealer Werte (N. Hartmann): Hartmann argumentiert als Wertplatoniker und rekurriert als solcher auf ein ideales Sein und Reich der Werte. Der Mensch ist nicht Hüter des Seins und seiner objektiven Werte, sondern, durch Wertschau instruiert, demiurgischer Mitarbeiter des Seins. Der Mensch hat die einzigartige Aufgabe, zwischen den beiden Seinswei­ sen, zwischen idealem Wert und realer Wirklichkeit zu vermitteln. Werte vermögen das Reale nicht unmittelbar zu determinieren; aber dort, wo Wert und Realität nicht übereinstimmen, ergebe sich für den Menschen ein aktuelles Seinsollen. Die Wertrealisation ist ex­ klusiv anthropomedial10. Der Mensch ist frei, der Sollensforderung der erschauten Werte nicht zu folgen. Als nicht determinierter ist der Mensch notwendigerweise ein unvollkommener Vermittler. Ein Au­ tomat, so Hartmann11, wäre hier vollkommener. Seine Unvollkom­ menheit ist die Freiheit und der große Besitz des Menschen. Wesent­ lich unvollkommen ist auch das reale Sein: In der Welt gibt es keinen Sinn, sondern der Mensch gibt der Welt den Sinn, den sie ohne ihn nicht hat, wodurch er aus ihr die Sinnerfüllung empfängt, die er aus einer bereits sinnerfüllten Welt nicht empfangen könnte. Sinn menschlichen Daseins ist die Sinngebung. Problematisch an Hartmanns Ontologie menschheitlichen Sein­ sollens ist: Seine Metaphorik vom Menschen als dem Mitarbeiter des Seins unterstellt eben jene vorgängige und menschenunabhängige »Arbeit des Seins« (Jonas), eine Naturtendenz, die abzuwehren er einen erheblichen kategorialen Aufwand betrieben hat. Weiter stellt sich die Frage, warum Werte realisiert werden sollen, wenn sie, wie Hartmann meint, gegenüber ihrer Realisation völlig indifferent sind. Während Jonas in letzter Instanz auf einen Schöpfer verweist, bleibt Hartmann seinem Ideal einer »heroischen Metaphysik« treu und un­ terläßt den gleichwohl an manchen Stellen geradezu greifbaren Übergang in die philosophische Theologie. 3. Das Seinsollen des Menschen als Aufgabe zur Seinssteigerung (Erismann, Nozick, Steinvorth, Bloch): Wie auch in der demiurgischen Metaphysik Hartmanns, gilt der 10 Dieser Begriff geht auf M. Sehrt zurück. 11 Siehe Hartmann, Ethik, S. 568. 248

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Mensch hier als Mitarbeiter des Seins. Eingebettet in eine allgemeine Tendenz des Seins, liegt sein ontologischer Auftrag jedoch nicht dar­ in, zwischen den Seinsweisen (Ideal und Real) zu vermitteln, sondern zwischen den grundlegenden Modi des Seins: Möglichkeit und Wirk­ lichkeit. Der Mensch soll sein, damit mehr verwirklicht wird, als ohne ihn verwirklicht würde, damit das Sein vollkommener wird, als es ohne ihn sein und werden würde. Problematisch an Steinvorths Ontologie menschheitlichen Seinsollens ist insbesondere, daß es sich bei ihr wesentlich um ein integratives denkerisches Unternehmen handelt. Das heißt, sie setzt nicht eigentlich bei der radikalen Frage an, ob und warum eine Menschheit sein soll, sondern geht von der Intuition aus, daß es Menschen geben soll, um diese sodann zu begründen.

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Kapitel 19

Der Mensch als Hüter des Seins (Jonas)

19.1 Die ontologische Kapitalfrage Aus sich heraus vermag eine mit den Mitteln sei es des Universalisierungsgrundsatzes, des Konsensprinzips oder des Utilitarismus ar­ gumentierende Ethik das Seinsollen der Menschheit nicht zu be­ gründen. Um dies zu leisten, muß die Ethik Jonas zufolge aus sich heraustreten; sie muß, anders formuliert, einer anderen philosophi­ schen Disziplin Einlaß in ihr Korpus gewähren: der Metaphysik als Ontologie. Sie muß dies tun, um für den Menschen jene Außenver­ ankerung wiederzuerlangen, die mit der Aufgabe der Transzendenz verloren gegangen war. Je moderner die Ethik geworden ist, das heißt: je weiter sie sich von der Ontologie distanzierte und der Hiatus zwischen Sein und Sollen sich auftat, desto weniger vermochte sie es, ein Seinsollen des Menschen zu begründen. Was als »Fortschritt in der Ethik« angesehen werden mag, wird bezahlt mit zunehmender Kontingenz des Menschen als ihres Gegenstands. Eine Philosophie, die diesem Umstand Rechnung tragen will, muß folglich rück-schrittlich sein. Sie müßte einen Schritt zurück tun, den Schritt in die Ontologie, um es mit einer Begründung menschlichen Semsollens aufnehmen zu können. Diesen bewußten Rückschritt versucht in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Hans Jonas. Er erfaßt die »Wählbarkeit eines Untergangs der Menschheit.« (PV 97)1 als ein Moment der Moderne und formuliert als für ihn unumstößliche Einsicht: Daß die Menschheit selbst bei einem Über­ gewicht des Unglücks über das Glück weiterbestehen soll, ist nur metaphysisch zu begründen. (Vgl. PV 35) Das Korpus metaphysi-

1 Wegen der häufigen Zitatstellen aus Jonas' Arbeiten »Das Prinzip Verantwortung« und »Organismus und Freiheit« werden die Nachweise künftig im Text gegeben; PV steht für »Das Prinzip Verantwortung«, OF steht für »Organismus und Freiheit«. 250

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Die ontologische Kapitalfrage

scher Begründung ist hei Jonas zweifältig. Nach »oben« ist es die Theologie, nach »unten« die Ontologie. Für seinen Rückschritt in die Lehre vom Sein um der Ethik willen weiß er anzuführen: »Onto­ logie als Grundlage der Ethik war der ursprüngliche Standpunkt der Philosophie.« (OF 341) Für Jonas lautet die ontologische Kaptalfrage, »oh es Zweck in der objektiven physischen Welt gibt oder nur in der subjektiven, psy­ chischen ...« (PV 122) Ontologische Kapitalfrage deshalb, weil ihre positive Beantwortung eine ontologische Basierung von Wert zu­ ließe. Damit würde nach Jonas eine ontologische Basierung ethischer Obligation ermöglicht und das Seinsollen der Menschheit be­ gründbar. Daß es teleologische Vorgänge in der Welt gibt, dürfte schwer­ lich zu bestreiten sein. Strittig ist indes, in welchen Bereichen des Daseins Zweckbestimmtheit anzutreffen ist. Einigkeit besteht darüber, daß der Mensch ein zweckmäßig handelndes Wesen ist, ein Wesen, welches Zwecke sich vorsetzt und zu realisieren sucht. Ist also der Mensch ein teleologisches Wesen, so wird es zulässig zu sagen, Teleologie ist in der Welt. Jonas ist nun an einer Ausweitung teleolo­ gischer Prozesse weit über den Menschen hinaus in das Weltganze gelegen, weil auf diesem Wege »eine letztlich ontologische Basierung von >Wert< und damit von ethischer Obligation« (PV 129) zu erzielen sei. Sein Ziel ist es, ein Seinsollen des Menschen ontologisch, vom Sein her, zu begründen. Dies setzt voraus, daß das Sein werthaft ist, was wiederum Zweckhaftigkeit voraussetze. Auf dem Wege einer positiven Beantwortung der ontologi­ schen Kapitalfrage unternimmt Jonas den Versuch, den Menschen über die ganze Breite und Tiefe des Seins zurückzuverfolgen. Der Mensch soll im Sein verankert werden und in ihm im wahrsten Sinne des Wortes Halt finden. Einen Halt, der ihn in der Welt fest­ hält, insofern gezeigt werden könne, daß das Seinsganze gegen sein mögliches und in der Tradition der Gnosis gefordertes Verschwin­ den Einspruch erhebt. Indem Jonas absteigend vom Menschen das Sein erschließen will, verfährt er im Sinne einer analogisierenden Logik. Bekanntlich kommt dem analogisierenden Verfahren ja auch bei Kant ein hoher Stellenwert zu. Da Jonas das Sein nicht wissenschaftlich erklären, sondern es »nur« verstehen will, könnte man bei ihm von einer in­ duktiven Metaphysik reden. Vom zwecksetzenden Wesen Mensch aus, als dem qua Innerlichkeit Bekanntesten, wird auf das Ganze des ^

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Kapitel 19: Der Mensch als Hüter des Seins (Jonas)

Seins als das Unbekannte geschlossen, um die ontologische Kapital­ frage mit einem Ja beantworten zu können.2

19.2 Zur Bilanz von Glück und Unglück. Ontologischer Optimismus Gewinnen wir zunächst einen Überblick darüber, in welchem Aus­ maß Jonas sich des Leidens als einem nicht zu leugnenden Befund in der Welt vergewissert hat. Denn das Maß, in dem von einem Denker dem Leiden Erheblichkeit eingeräumt wird, muß in einer Relation stehen zur leidabsorbierenden oder leidverarbeitenden bzw. leidkom­ pensierenden Kraft seiner Metaphysik als Anthropodizee. Eine Ver­ gegenwärtigung der Jonasschen Befunde zum Verhältnis von Glück und Leid zeigt in der Tat, ein wie hohes Maß an Leidkompensation er seiner Metaphysik aufbürdet. Jonas konzediert rundheraus, daß es sich beim Neben- und Nacheinander menschlicher Generationen um alles andere als einen Hort des Glücks im ansonsten glücksindifferenten Kosmos handelt, und er gesteht zu, es ließe sich »immer zweifeln, ob es sich um all dies mühevolle und schreckliche Drama lohnt ...« (PV 101) Aus die­ sem Zweifel erwächst die große Aufgabe, derer Jonas sich angenom­ men hat: Bei einem Übergewicht des Unglücks über das Glück, so weiß er, läßt sich das Weiterbestehen der Menschheit nur metaphy­ sisch rechtfertigen.3 Wir bedürfen, dieser Schlußsatz ist Jonas nicht fremd, und von diesem Befund aus macht er sich an die Arbeit, einer Metaphysik, um die Fortexistenz der Menschheit überhaupt noch rechtfertigen zu können. Im Umkehrschluß kann dies freilich nur heißen, daß, wer Metaphysik aus welchen Gründen auch immer ab­ lehnt, sich mit dem Gebotensein einer möglichst leidlosen Auf­ hebung der Menschheit anzufreunden hätte. Die Möglichkeit eines Verebbens der Menschheit ist von Jonas verschiedentlich gestreift worden, ohne daß er sie einer eingehende­ ren Erörterung unterzogen hätte. Man darf dennoch annehmen, daß er für den Fall erwiesener Unmöglichkeit einer Rechtfertigung 2 Zur Kritik an Jonas' induktiver Metaphysik siehe O. P. Obermeier, Technologisches Zeitalter und das Problem der Ethik (Rezension zu Das Prinzip Verantwortung), S. 432. 3 Vgl. PV 35. Ersichtlich wird an dieser Stelle, daß Betrachtungen zum Verhältnis von Leid und Glück durchaus nicht nur Sache utilitaristischer Verrechnung sind. 252

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Zur Bilanz von Glück und Unglück. Ontologischer Optimismus

menschheitlicher Fortexistenz auf dem Wege metaphysischen Den­ kens auf ein daraus folgendes Gehotensein des Verehhens verwiesen haben würde. So stellt Jonas uns einen Menschen vor, den er einen »gewissenhaften Pessimisten« nennt. Dieser könnte »von dem Standpunkt, daß es ja nicht unbedingt Menschen gehen muß, die Wünschharkeit oder Gehotenheit einer zukünftigen Menschheit von den voraussichtlichen Bedingungen ihrer Existenz abhängig ma­ chen, anstatt umgekehrt die Bedingungen von der unbedingten Gehotenheit solcher Existenz diktieren zu lassen. (Es ist eine Erweite­ rung des Arguments, das ich von verzweifelten Emigrantenpaaren der Hitlerzeit oft gehört hahe, daß man >in eine solche Welt keine Kinder hringem dürfe.)« (PV 88) Die Dimension des Leidens und der diskontinuierliche, nicht ga­ rantierte Modus menschheitlicher Fortexistenz können systematisch als Gründe gefaßt werden, die Jonas dazu hestimmen, die Ehene des Suhjektiven zu verlassen, um eine Zurücknahme der Diskontinuität des menschheitlichen Daseinszusammenhangs in eine umfassendere Kontinuität des Seins anzustrehen. Die Aufrichtigkeit, die er an den Tag legt und der Bedarf an metaphysischer Entlastung, werden in ihrem ganzen Gewicht dort sichthar, wo Jonas in der Tat eine genuine »Werthilanz« wagt: »... im ganzen, glauhe ich, hat der Verteidiger der Menschheit, trotz der großen Entsühner wie Franz von Assisi auf seiner Seite, den schwereren Stand. Doch der ontologische Be­ fund hat mit solchen Wertrechnungen nichts zu tun ...« (PV 186) Ontologie, die Lehre vom Sein, empfiehlt sich Jonas offenhar auch deshalh als philosophische Disziplin, von der aus am ehesten eine Anthropodizee zu leisten wäre, weil diese Disziplin ihren Gegen­ stand, das Sein, kategorial durchweg so erfaßt, daß eine Indifferenz gegen Leid und Glück gewahrt hleiht. Es gilt für Jonas ahermals, wie schon so oft in der Geschichte der Metaphysik, Säulen aufzuhauen, die das Dach des Leidens zu tragen vermögen, auf daß der Mensch unter der Last dieses Daches nicht zermalmt zu werden vermeint und es nicht vorzieht, ihr zu weichen.Indem wir uns vergegenwärtigt hahen, daß Jonas dem Leiden nicht nur ins Auge sieht, sondern es, forderte man ihn zu einer Bi­ lanzierung auf, sogar das Glück üherwiegen läßt, hahen wir zugleich einen Eindruck davon gewonnen, wie groß die metaphysische Bürde der Jonasschen Ontologie menschheitlichen Seinsollens ist. Und auch wenn der ontologische Befund menschheitlichen Seinsollens mit Wertrechnungen nichts zu tun hahen sollte, so anerkennt Jonas die ^

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Kapitel 19: Der Mensch als Hüter des Seins (Jonas)

Härte des Realen: »Und wenn wir mit Entsetzen auf die Bilder von Buchenwald blicken, auf die verwüsteten Leiber und verzerrten Ge­ sichter, auf die äußerste Schändung der Menschheit im Fleische, dann weisen wir den Trost zurück, daß dies Erscheinung und die Wahrheit etwas anderes sei: wir blicken der schrecklichen Wahrheit ins Auge, daß die Erscheinung die Wirklichkeit ist und daß nichts wirklicher ist als was hier erscheint.« (OF 322) Insoweit Jonas eine Ontologie menschheitlichen Seinsollens an­ strebt, will er es mit der Härte des Realen aufnehmen, ohne es zu­ zulassen, daß diese Härte durch Religion oder idealistische Konstruk­ tion zu einem ontisch Sekundären werde.

19.3 Der Vorrang des Daseins von Menschen über ihr Sosein Hinsichtlich der Begründung einer menschheitlichen Pflicht zum Dasein wähnt Jonas sich, einer ausgedehnten utilitaristischen Dis­ kussion der Frage zum Trotz, allein auf den weiten Ebenen philoso­ phischer Reflexion. »Wenn es sie gibt, wie wir supponieren möchten, so ist sie bisher noch gar nicht begründet.« (PV 86) Des Näheren bestimmt Jonas diese unsere Pflicht dahingehend, nicht so sehr über das Glück Zukünftiger zu wachen, als vielmehr über ihre Pflicht, »nämlich über ihre Fähigkeit zu dieser Pflicht, die Fähigkeit, sie sich überhaupt zuzusprechen ...« (PV 89) Verantwortung gegenüber der Menschheit heißt für Jonas nur in zweiter Linie, daß wir Sorge tragen sollen, daß Zukünftige mög­ lichst wenig Leid erfahren; Verantwortung bedeute in erster Linie, der Pflicht zur Erhaltung von Pflicht zu folgen. Es gelte, »das Vor­ handensein bloßer Kandidaten für ein moralisches Universum in der physischen Welt, für die Zukunft zu sichern.« (PV 34) Diese Formu­ lerung erinnert stark an Kant und Fichte. In der Morallehre des letz­ teren »kommt es auf das Dasein des bloß sinnlichen Menschen­ geschlechtes gar nicht an«; sondern: »Ihr sollt aber dasein, erhalten werden, weil es schlechthin kommen soll zur Sittlichkeit; zur Reali­ sation des göttlichen Bildes ...«4 Unter das Dasein des sinnlichen Menschen fällt die Breite seiner körperlichen Belange, die Frage nach dem guten Leben, also ein Gutteil seines Soseins. Wie bei Fichte, soll auch nach Jonas der Mensch nicht um eines möglichen guten Lebens 4 Fichte, Das System der Rechtslehre von 1812, S. 259 f. 254

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Der Vorrang des Daseins von Menschen über ihr Sosein

willen, sondern als Platzhalter für Moralität im Kosmos Weihen. Als ein solcher Platzhalter oder: Transmissionsriemen für Moralität tra­ ge der Mensch ehen nicht nur Verantwortung für sein und seiner Nachfahren Glück oder Leid, sondern kosmische Verantwortung. »Es ist die selhstverhindliche, immer transzendente Möglichkeit, die durch die Existenz offengehalten werden muß. Ehen die Wahrung dieser Möglichkeit als kosmische Verantwortung hedeutet Pflicht zur Existenz.« (PV 186) Die offenzuhaltende Möglichkeit sei die zu einer Existenzform, wie sie der Würde des Menschen entspricht. Jo­ nas läßt durchaus offen, oh die Menschheit ihre Existenz »nach dem hisher Vollführten und seiner wahrscheinlichen Fortsetzung ver­ dient«: (Ehd.) »Der Sokratischen Existenz oder Beethovenschen Symphonie, die wohl zur Rechtfertigung des ganzen zitiert werden können, läßt sich immer ein solcher Katalog fortwährender Scheuß­ lichkeiten entgegenstellen (mit deren Benennung man den Tier­ namen nicht heleidigen darf), daß je nach der Disposition des Beur­ teilers die Bilanz sehr negativ ausfallen kann. Mitleid und Empörung des Pessimisten sind hier nicht zu widerlegen, der Preis ist in jedem Fall ungeheuer, die Erhärmlichkeit des Menschen hat mindestens das Maß seiner Größe ...« (Ehd.) Ohgleich Jonas sich hier also als Skep­ tiker erweist, will er nicht dem von Buddhismus, Gnosis oder frühe­ rem Christentum eingeschlagenen Weg folgen und dem Dach des Leidens weichen. Einige Interpreten sind zu dem Schluß gelangt, Jonas' erste Sor­ ge sei nicht so sehr die um ein mögliches Aussterhen der Gattung, sondern das Aussterhen der Gattung sei nur deshalh zu fürchten, weil mit ihm jede Chance auf wirkliches Menschentum verschwände.5 Dagegen ist festzuhalten, was Jonas den »ersten Imperativ« nennt: »Daß eine Menschheit sei« (PV 90). Für ihn »kommt die Existenz der Menschheit immer zuerst .« (PV 186) Wo er von der Seins­ pflicht spricht, meint Jonas in erster Linie die menschheitliche Pflicht zum Dasein, und nur in zweiter Linie die Pflicht zu einem hestimmten Sosein (vgl. PV 86), da ja durch das Dasein die Möglichkeit zu wirklichem Menschentum offengehalten wird. Verhielte es sich an­ ders, so müßte Jonas, wo er der Menschheit ein Recht zum Selhstmord ahspricht (vgl. PV 80), darunter ein hloßes Ende genuinen Menschseins verstehen, nicht aher das Ende menschheitlichen Da­ seins. Mit O. P. Ohermeier wäre dann an Jonas' Imperativ ein Verhot 5 So Birnhacher (1983) in seiner Rezension von Das Prinzip Verantwortung, S. 145. ^

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Kapitel 19: Der Mensch als Hüter des Seins (Jonas)

des existentiellen von einem essentiellen Selbstmord der Menschheit zu unterscheiden. Es trifft durchaus zu, daß Jonas die »essentielle Ermordung des Menschen durch den Menschen«6 als Gefahr sieht. Aber solange Menschen da sind, ist der Weg zu »echtem Menschen­ tum« im Sinne Jonas' eben nicht endgültig versperrt, weshalb man ihn wohl doch so verstehen muß, daß seine erste Sorge das Dasein der Menschheit ist. Der Umstand, daß Jonas als Ontologe menschheitlichen Seinsollens wirksam geworden ist, scheint nicht zuletzt seinem Kompromiß mit einer religiös wesentlich indifferenten Gegenwart zu entspre­ chen, der er als philosophischer Theologie eigenem Dafürhalten nach philosophisch zu wenig zu bieten hätte. Aus seinen Bemerkungen zum Religiösen erhellt, recht besehen, daß Jonas zufolge einzig reli­ giöse Transzendenz eine Anthropodizee in Anbetracht des von ihm gewärtigten Ausmaßes an Neganthropie zu leisten vermöchte.

19.4 Der Status der Religion Betrachten wir Jonas' Ontologie menschheitlichen Seinsollens im Lichte seines »Verdacht(s), es könnte das, was ich die Abschaffung der Transzendenz nannte, vielleicht der kolossalste Irrtum der Ge­ schichte gewesen sein ...« (PV 231) Wäre die Transzendenz nicht abgeschafft worden - dies scheint Jonas nahezulegen - so hätte es des ontologischen Unterfangens gar nicht erst bedurft, das Seinsollen der Menschheit wäre unhinterfragt geblieben. Seine Zweifel dahingehend, ob auf dem Boden der Ontologie eine Begründung menschheitlichen Seinsollens überhaupt zu leisten sein wird, hat Jonas nicht unausgesprochen gelassen. Hierzu hat er auch keinen Grund. Denn mit dem Scheitern einer derartigen Be­ gründung ohne Beanspruchung der Transzendenz wäre nicht er in Frage gestellt, sondern seine metaphysikfeindlichen Kritiker, die sich nun derjenigen Konsequenz ausgesetzt sähen, die Jonas immer nur andeutete, nirgends aber systematisch entfaltete, daß wir nämlich mit der Verabschiedung von Metaphysik dem Druck und der Sinn­ losigkeit des Leidens zu weichen hätten, es unverantwortlich wäre, noch Nachkommen hervorzubringen. Jonas' Einlassung auf religiöse Transzendenz ist in sich wider6 Obermeier a. a. O., S. 428. 256

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Der Status der Religion

sprachlich. Im großen und ganzen präsentiert sich seine Ontologie menschheitlichen Seinsollens als der Versuch, dieses Seinsollen un­ ter den Bedingungen ahgeschaffter Transzendenz zu leisten. Da heißt es: »Die Frage eines möglichen Seinsollens ist unabhängig von der Religion zu beantworten.« (PV 99) Zugleich hegt er jedoch aller­ größte Zweifel, ob wir ohne die Wiederherstellung der Kategorie des Heiligen eine entsprechende Ethik haben können (vgl. PV 57), und er meint sogar, eine Verpflichtung gegenüber dem, was noch gar nicht ist, sei »vielleicht ohne Religion überhaupt nicht zu be­ gründen.« (PV 36) Im folgenden Passus aus »Organismus und Frei­ heit« sehen wir diesen Zweifel bestätigt. Er zeigt uns Jonas als einen Theologen menschheitlichen Seinsollens, der er zuinnerst auch im »Prinzip Verantwortung« geblieben ist: »Im Anfang, aus unerkenn­ barer Wahl, entschied der göttliche Grund des Seins, sich dem Zufall, dem Wagnis und der endlosen Mannigfaltigkeit des Werdens an­ heimzugeben. Und zwar gänzlich: Da sie einging in das Abenteuer von Raum und Zeit, hielt die Gottheit nichts von sich zurück; kein unergriffener und immuner Teil von ihr blieb, um die umwegige Ausformung ihres Schicksals in der Schöpfung von jenseits her zu lenken, zu berichtigen und letztlich zu garantieren. Auf dieser bedin­ gungslosen Immanenz besteht der moderne Geist.« (OF 331) Und weiter: »In unsern unsichern Händen halten wir buchstäblich die Zu­ kunft des göttlichen Abenteuers auf Erden, und wir dürfen Ihn nicht im Stiche lassen, selbst wenn wir uns im Stiche lassen wollten.« (OF 338) Im Zusammenhang dieser Ausführungen stoßen wir auf Jonas' eigentliche Lehre vom menschheitlichen Seinsollen. Ihr eigentlicher Impetus ist die Auffassung, »daß das Bild Gottes an unserm Ort des Universums in Gefahr ist wie nie zuvor ...« (OF 337) Und aus diesem Befund ergibt sich noch eine ultimative Beurteilung hinsichtlich der Rolle des Leidens in der Welt und der menschheitlichen Verpflich­ tung, ein jegliches Ausmaß an Leid zu tragen und menschliches Le­ ben auch in Ansehung seiner weiterzugeben: ». und es ist nicht abzusehen, welche Bündnisse mit dem Schlechten das Gute wird ein­ gehen müssen, um das noch Schlechtere, ja das absolut Unzulässige zu verhüten« (OF 337) - die Aufhebung der Menschheit. Da das Transzendente nun aber - etwa mit Ph. Mainländer - auch so gefaßt werden kann, daß ihm eine Aufhebung der Menschheit zuträglich ist, zeigt sich, daß Transzendenz die Selbstverständlichkeit menschheitlichen Seinsollens nicht zu verbürgen vermag. ^

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Eine menschheitliches Seinsollen begründende Religion oder Metaphysik, dies spricht Jonas unumwunden aus, ist nicht durch das Diktat bitterer Notwendigkeit zu beschaffen. Er weiß ferner, daß der religiöse Glaube Antworten bereits hat, die die Philosophie erst suchen muß (vgl. PV 94). Philosophie wäre demnach in der Tat der verzweifelte Versuch einer Transponierung ehedem religiöser Ge­ wißheiten in das postreligiöse Zeitalter. Metaphysik bildete die ver­ mittelnde Schnittmenge zwischen alter und neuer forma mentis, in­ nerhalb derer die überlieferten Antworten sich aufhalten und als Fragen gestellt werden dürfen, auf daß ihnen Antworten zugeführt werden, die dem Zeitalter naturwissenschaftlicher Prädominanz nicht widersprechen. Die weitergehende Frage, die sich hier stellt, ist die nach der Wahrheit. Es mag ja ein Irrtum gewesen sein, die Transzendenz »ab­ geschafft« zu haben. Doch ein Irrtum ist prinzipiell erkennbar und korrigierbar, sein Falschsein vermittelbar. Als einen Irrtum weist Jo­ nas die Abschaffung der Transzendenz aber nur in der Weise aus, daß es nach ihrem Verlust schwerer, wenn nicht unmöglich geworden ist, ein Seinsollen, eine Fortexistenz der Menschheit noch zu begründen. Aber eben dies könnte ja gerade die Wahrheit sein: daß nur unter dem ungelüfteten Schleier nicht restaurierbarer Transzendenz so et­ was wie eine Seinspflicht der Menschheit ausgesprochen werden kann.

19.5 Tertium datur. Diesseits von Weitergabe und Zerstörung allen menschlichen Lebens Ein bezeichnender Mangel vieler um die Fortexistenz des Menschen bekümmerter Beiträge liegt darin, daß sie ein Seinsollen des Men­ schen stets nur in Ansehung der ökologischen Krise oder des waffen­ technischen Vernichtungspotentials aussprechen, nicht aber in Anbe­ tracht des sehr viel fundamentaleren systematischen Befundes philosophischer Anthropologie, wonach der Mensch von Natur aus Kulturwesen ist. Einen echten Hiatus zwischen Natur und Kultur will Jonas so weit als möglich zurücktreten lassen, um eine Kontinuität des Sein­ sollenden plausibel machen zu können. Sein auf den ersten Blick überzeugender Gedanke liegt darin, daß Natur und Kultur mittels der Zweckkategorie und durchgehender ontologischer Präsenz von 258

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Tertium datur

Zweck vermittelbar seien. Damit kann Jonas sagen, der Mensch solle vom Sein aus sein. Der Mensch, der das höchste Ergebnis der Zweck­ arbeit der Natur sei, soll das in dieser Zweckarbeit sich aussprechende ontologische Ja in sein Wollen übernehmen. Die Freiheit des Men­ schen also, sein Wollen oder Nichtwollen, den Naturdingen fremd, sind denn freilich doch eine Art Hiatus, die Jonas anerkennt. Auch ihm gilt der Mensch nicht einfach als »weiterer Vollstrecker« der Zweckarbeit der Natur, sondern kraft seiner im Wissen liegenden Macht könne er diese Zweckarbeit auch zerstören, weshalb er das Nein zum Nichtsein seinem Können auferlegen müsse (vgl. PV 157). Jonas läßt hierbei unberücksichtigt, daß es neben Perpetuierung und Destruktion der Menschheit noch ein Drittes gibt: das gänzlich nichtdestruktive Verebben. Folgender Satz erscheint also fragwürdig: »Die Pflicht, von der wir hier sprechen, ist erst mit der Gefährdung dessen, worum es in ihr geht, hervorgetreten.« (PV 249) Jonas unter­ schätzt ein anderes Infragestehen menschheitlicher Fortexistenz, welches nicht an eine ökologische Krise oder sonstige unmittelbare Gefahr gebunden ist. Dieses Infragestehen ist enthalten im Kernsatz moderner philosophischer Anthropologie: Ist der Mensch von Natur aus ein Kulturwesen, so ist seine Perpetuierung per definitionem et­ was Riskiertes, da der regulierenden Hand der Natur entzogen. Wenn Jonas sagt: »Im Menschen hat die Natur sich selbst gestört und nur in seiner moralischen Begabung ... einen unsicheren Aus­ gleich für die erschütterte Sicherheit der Selbstregulierung offenge­ lassen« (PV 248), so ist an ihn die Frage zu richten, warum denn die moralische Begabung das Geist- und Kulturwesen Mensch gerade in Richtung Perpetuierung auf den Weg bringen sollte. Als teleologi­ sche Wesen steht uns die Möglichkeit zu nataler Enthaltsamkeit prinzipiell offen, und es finden sich - durchaus moralische - Religio­ nen, die sich dieser Möglichkeit angenommen haben. Kenner gnostischen Denkens, ist Jonas die religiös motivierte Forderung nach dem Verebben der Menschheit bekannt (s. o. Kapi­ tel 6). Wenn er bezüglich des Menschen das »bisher nie aktuell ge­ wordene Gebot, daß er sein soll ...« (PV 250) postuliert, so unter­ schlägt er mit diesen Worten seine Kennerschaft auf dem Gebiete der Gnosis. Für die Bewußtwerdung einer Pflicht zur Fortexistenz bedarf es nicht erst, wie Jonas meint, der Gefahr einer Destruktion der Menschheit als eines Katalysators. Der Mensch ist immer schon das in seinem Dasein riskierte Wesen, als welches ihn die philosophi­ sche Anthropologie herausgestellt hat, welche Möglichkeit früh vom ^

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Religiösen ergriffen wurde, und wofür wir einen treffenden Aus­ druck in Herders Rede vom Menschen als dem Freigelassenen der Schöpfung finden.

19.6 Einzelner und Menschheit. Logische Probleme im Vorfeld von Jonas’ Ontologie menschheitlichen Seinsollens Das größte Problem, vor das sich jede Theorie menschheitlichen Seinsollens gestellt sieht, ist von Jonas beschrieben, nicht jedoch kri­ tisch ausgewertet worden: Jonas sagt, »es besteht (wie allerdings noch gezeigt werden muß) eine unbedingte Pflicht der Menschheit zum Dasein, die nicht verwechselt werden darf mit der bedingten Pflicht jedes Einzelnen zum Dasein. Über das individuelle Recht zum Selbstmord läßt sich reden, über das Recht der Menschheit zum Selbstmord nicht.« (PV 80) Problematisch an dieser Bemerkung ist zweierlei. 1. Wenn jedes Individuum das Recht zum Selbstmord hat, dann haben alle Menschen dieses Recht. Würde jedes Individu­ um dieses sein Recht wahrnehmen, so stürbe imgleichen die Mensch­ heit aus, was nach Jonas der unbedingten Pflicht der Menschheit zum Dasein widerstreitet. Zwecks Befreiung aus diesem Dilemma hätte Jonas zumindest das Zusatzaxiom aufnehmen müssen, nicht jeder einzelne dürfe zu gegebener Zeit Selbstmord begehen. Dies würde seine Ausführungen jedoch damit belasten, Hinweise geben zu müssen, welche Individuen auf Grund welcher Eigenschaften - zu welchen Zeiten - kein Recht auf Selbstmord hätten. 2. Das am Phä­ nomen des Selbstmords aufscheinende Problem, wie es möglich sein soll, ein Recht, welches man jedem einzelnen zugestanden hat, doch nicht auf alle auszudehnen, taucht in der Frage der Pflicht zur Nach­ kommenschaft abermals auf. Die Pflicht gegen Kinder will Jonas geschieden wissen von der Pflicht gegenüber späteren Generationen. Erstere beschreibt er in traditioneller Weise als Pflicht aus Urheberschaft, letztere hingegen als Pflicht »zu solcher Urheberschaft, zum Zeugen von Kindern, zur Fortpflanzung überhaupt.« (PV 86) Jonas weiß darum, daß es sich hier um eine Pflicht ohne korrespondierendes Recht handelt. Eine Pflicht ohne korrespondierendes Recht sei unsere Verant­ wortung gegen künftige Generationen: »Und welchen Anspruch hät­ ten überhaupt künftige, mögliche Geschlechter des Lebendigen an die Nöte jetzigen Daseins? Keinen jedenfalls auf Existenz an sich, 260

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Einzelner und Menschheit

bevor sie existieren, nach Normen rein menschlichen Rechts. Nur was ist, hat Recht auf Sein. So wäre in hiesiger Sicht sein Werdenlas­ sen kein Gebot, sein Nichtwerdenlassen kein Frevel.« (OF 337 f.) In »Organismus und Freiheit«, dem dieses Zitat entstammt, befreit sich Jonas durch die Anführung einer »ewigen Sache«, die neben der zeit­ lichen auf dem Spiel stehe, von der Unvermittelbarkeit individueller Entscheidungsfreiheit in der Frage der Fortpflanzung einerseits mit dem allgemeinen Gebot menschheitlicher Perpetuierung anderer­ seits: »... wir dürfen Ihn nicht im Stiche lassen, selbst wenn wir uns im Stiche lassen wollten.« (OF 338) Hier denkt Jonas die Anthropodizee gleichsam als ein Opfer, welches wir in Ansehung Gottes dar­ zubringen hätten. »Uns im Stiche lassen«, das ist ein Ausdruck für die gnostische Versuchung. Mit der Abwehr dieser Versuchung durch das Seinsollen der Menschheit um Gottes willen, widerspricht Jonas der von ihm selbst oben anerkannten Härte des nicht mehr zu ideali­ sierenden Realen, deren volle Anerkennung eben den Verebbens-Gedanken auf den Plan ruft. Jonas unterscheidet unsere Pflicht zum Dasein künftiger Gene­ rationen von unserer Pflicht zu ihrem Sosein. Unsere Verantwortung gegenüber dem Sosein Gegenwärtiger und Zukünftiger vermag er durchaus plausibel zu begründen: Einmal vorausgesetzt, daß es künftig Menschen gibt, können sie uns für eventuell unerträgliche Lebensumstände verantwortlich machen. Was Jonas viel weniger ge­ lingt, ist dies, unsere Pflicht zum Dasein Künftiger plausibel zu ma­ chen. Über die Pflicht zum Dasein Künftiger sagt er, sie »schließt die zur Fortpflanzung (wenn auch nicht notwendig die jedes Einzelnen) in sich und ist wie diese nicht einfach durch Erweiterung aus der Pflicht des Urhebers gegen das von ihm schon verursachte Dasein herzuleiten.« (PV 86) Jonas steht also, um es so auszudrücken, nicht bloß vor dem ontologischen Problem einer Begründung menschheitlichen Seinsollens, sondern zudem vor einem logischen Problem, welches schon bei seiner Erörterung des Rechtes zum Selbstmord sich aufgetan hatte (und dem wir in Kapitel 14.5 bei der Besprechung des Problems der Abtreibung begegneten): Wie kann er eine Pflicht zum Dasein künftiger Menschen begründen wollen, wenn er selbst einräumt, daß diese Pflicht durchaus nicht die Pflicht jedes einzelnen zur Fortpflanzung impliziert? Es hilft wenig zu sagen, hier sei »Ver­ antwortung für den Fortbestand der Menschheit im Spiel« (PV 241), doch impliziere »die Pflicht, >ein< Kind zu zeugen, aber nicht die min­ destmögliche, dieses zu zeugen ...« (Ebd.) Es ist zwar zutreffend, daß ^

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wir nicht nur dem gegenüber Verantwortung haben, was bereits wirklich ist, sondern auch dem gegenüber, was wirklich sein wird. Die Frage lautet indessen, warum etwas (künftige Menschen), was, da menschlichem Handeln unterstellt, nicht notwendig sein wird, sein soll. So wie Jonas das Problem faßt, handelt es sich um eine unbe­ dingte Pflicht zur Weitergabe menschlichen Lebens, die nur bedingt unbedingt ist; ein hölzernes Eisen, insofern sie nämlich nicht Pflicht jedes einzelnen ist und der Pflicht kein Recht irgend identifizierbarer zu Zeugender gegenübersteht. Völlig ungeklärt bleibt bislang, wie der Übergang von individueller Nichtverpflichtung zu kollektiver Verpflichtung gedacht werden soll.7 Da Jonas kein Kriterium an die Hand gibt, welchen Menschen oder Zeiten das Recht zum Selbstmord oder zu nataler Enthaltsam­ keit nicht zukommt, bleibt das logische Dilemma ungelöst. Damit aber steht seine Arbeit an einer Ontologie menschheitlichen Seinsollens, noch bevor sie recht anhebt, unter einem ungünstigen Stern.

19.7 Reflexionen zum Verhältnis von Ethik und Metaphysik. Sein und Sollen Daß aus dem Sein kein Sollen ableitbar sei, ist zu einem Gemeinplatz geworden. Jonas weist ihn mit der Überlegung zurück, daß in diesen Spruch der der Naturwissenschaft zugrundeliegende Seinsbegriff eingegangen sei, man aber nicht vorschnell davon ausgehen sollte, hier hätten wir den »wahren und ganzen Begriff des Seins« (PV 92) vor uns. Die Geschichte der Philosophie zeigt nun, daß auch andere Begriffe vom Sein als derjenige der modernen Naturwissenschaft möglich sind. Schließt sich philosophisches Denken vorbehaltlos einem Seinsbegriff an, der nicht ohne weiteres eine Art archime­ dischen Punkt der Ontologie beanspruchen darf, so spiegelt es nach Jonas »mit der Annahme eines solchen Seinsbegriffs bereits eine be­ stimmte Metaphysik wider ...« (Ebd.) Ähnlich wie bei Heidegger bleibt hier bei Jonas die Frage nach der Wahrheit von Seinsbegriffen letztlich jedoch ungeklärt. Wie für 7 Für eine Problematisierung dieses Übergangs siehe auch W. R. Köhler (1986), S. 28. Man erinnere sich hier an den von Hare unternommenen Versuch identifizierender Bezugnahme auf Ungezeugte. 262

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Reflexionen zum Verhältnis von Ethik und Metaphysik

Heidegger in »Die Zeit des Weltbilds« allein schon die Rede vom neuzeitlichen Weltbild eine typisch neuzeitliche Auslegung des Sei­ enden ist8, ohne daß er geklärt hätte, ob diese Auslegung vielleicht wahrheitsnäher wäre - die naturwissenschaftliche ist für Heidegger nur die spezifisch neuzeitliche Auslegung des Seienden -, scheint auch Jonas die Wahrheitsfrage von Naturbildern offenzulassen. Un­ beantwortet bleibt die Frage, ob der neuzeitliche Seinsbegriff nicht bloß eine Auslegung ist, sondern ein wahrerer Seinsbegriff als frühe­ re. Indem Jonas die Frage der Wahrheitsnähe des naturwissenschaft­ lichen Seinsbegriffs nicht ausdrücklich stellt, ist es ihm möglich, den Satz, vom Sein führe kein Weg zum Sollen, nicht nur als Dogma zu bezeichnen, sondern als einen metaphysischen Satz, der selber dem Interdikt des fundamentaleren Dogmas unterliege, daß es keine me­ taphysische Wahrheit gebe. (Vgl. PV 93) Nicht nur von der seinigen, so Jonas, sondern von jeder anderen Ethik auch, zumeist stillschweigend, wird eine Metaphysik bean­ sprucht - selbst vom Utilitarismus (vgl. ebd.). Diese Behauptung hat sich uns in Kapitel 17 bestätigt. Jonas handhabt gewissermaßen das metaphysische Reagenz. Wer das Seinsollen der Menschheit affirmiert, ihm also nicht neutral gegenübersteht, der könne es nicht »beim allseits geteilten Nichtwissen in metaphysicis belassen ...« Vielmehr müsse, wer das Seinsollen affirmiert, »wo nicht einen Be­ weis, doch wenigstens ein vernünftiges ontologisches Argument für eine anspruchsvollere Annahme vorbringen.« (PV 94) Wer es anstrebt, menschheitliches Seinsollen zu begründen, der muß nach Jonas über die Ethik als eine Lehre vom Handeln hinaus­ gehen und in die Lehre vom Sein sich vorwagen, in die Metaphysik, in der alle Ethik gegründet sein müsse (vgl. PV 30). Jonas behauptet also, daß »das erste Prinzip einer >Zukünftigkeitsethik< nicht selber in der Ethik liegt als einer Lehre vom Tun ., sondern in der Metaphy­ sik als einer Lehre vom Sein ...« (PV 92) Versuchen wir näher zu bestimmen, warum sich dies nach Jonas so verhält. Bedeutsam ist zunächst seine Sichtweise der Kantischen Bestimmung des Kategorischen, des Unbedingten. Für Jonas ist ein­ zig und allein der Imperativ, daß es Menschen gebe, ein Imperativ, auf den Kants Bestimmung zutrifft. Ein Imperativ menschheitlichen Seinsollens läßt sich nun aber nicht aus der von Kant geforderten Selbsteinstimmigkeit der sich Gesetze des Handelns gebenden Ver­ 8 Heidegger, Holzwege, S. 86 ff. ^

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nunft mit sich seihst ahleiten (s. o. 9.1). Ganz im Gegenteil hliehe die Selhsteinstimmigkeit der Vernunft mit sich seihst hewahrt, wenn das Verehhen konsensuell heschlossen würde. Die Selhsteinstimmigkeit der Vernunft mit sich selhst ist nur eine Idee des Tuns. Eine das Sein­ sollen der Menschheit hetreffende Bestimmung des Kategorischen hahe jedoch zum Prinzip nicht nur eine Idee des Tuns, sondern eine Idee des Seins, die »Idee von möglichen Tätern überhaupt«; »so ergiht sich, daß das erste Prinzip einer >Zukünftigkeitsethik< nicht selher in der Ethik liegt als einer Lehre vom Tun ...« (PV 92) Diese Verlagerung des ersten Prinzips der Ethik von einer Theo­ rie des Handelns hin zu einer Theorie des Seins hat weitreichende Konsequenzen: Die Axiologie werde Teil der Ontologie (vgl. PV 153). An dieser Stelle hahen wir in eine nähere Erörterung der für die Jonassche Ontologie menschheitlichen Seinsollens wesentlichen Kategorien wie Zweck, Wert und Kontinuität einzutreten.

19.8 Zwecke Die Bedeutung der Anwesenheit von Zwecken im Sein für das Ge­ schäft der Ethik liege darin, daß wir in ihrer Anwesenheit »eine grundsätzliche Selhsthejahung des Seins ..., die es ahsolut als das Bessere gegenüher dem Nichtsein setzt« (PV 155), sollen erkennen können. Aus der Anwesenheit von Zwecken sei zu lernen, daß es dem Sein mindestens um sich selhst geht. Prohlematisch an Jonas' Verortung von Zweck in das Sein ist nun aher, daß er die von Kant hegonnene und dann inshesondere von N. Hartmann fortgeführte Analyse der Zweckkategorie nicht herücksichtigt. Statt zwischen Zweckmäßigkeit und Zwecktätigkeit zu unterscheiden, hedient sich Jonas oftmals eines dritten Begriffs: Zweckhaftigkeit. In seiner Unhestimmtheit läßt dieser Begriff so­ wohl Konnotationen der Zweckmäßigkeit wie auch der Zwecktätig­ keit zu. Insofern es im Sein Zwecke giht, ist es nach Jonas wertvoll. Jonas' Ausführungen zum Zweckhegriff sind durchaus amhivalent. Einmal wirft er die Frage auf, wessen Zwecke es denn sein könnten, von denen hier die Rede ist. Seine Antwort lautet, daß es sich um Zwecke für sich selhst handle, also um niemandes Zwecke im eigent­ lichen Sinne (vgl. PV 106). Als Beispiel erwähnt er die Rede vom immanenten, hewußtlosen Zweck der Verdauung im Körper, die 264

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Zwecke

gleichwohl nicht bloß eine Metapher sei. Zugleich räumt Jonas ein, es wäre der Gipfel der Lächerlichkeit, wollte man die Zweck- oder Zielimmanenz des Verdauungstraktes mit irgendeiner Art von men­ talen Vorgängen verknüpfen (vgl. PV 141). Bringt man an dieser Stelle jedoch die Unterscheidung zwischen Zweckmäßigkeit und Zwecktätigkeit an, so bleibt Jonas eine Erörterung dessen schuldig, ob Verdauung denn mehr als zweckmäßig sein solle, was zu be­ streiten ist. Was Jonas als »Gipfel der Lächerlichkeit« bezeichnet, ließe sich rekonstruieren als die Substituierung bloßer Zweckmäßigkeit durch Zwecktätigkeit. Der Verdauungstrakt eines Organismus zeugt von tiefer Zweckmäßigkeit, ohne daß der Verdauungsprozeß Zwecktätig­ keit etwa des verdauenden Menschen verlangt. Diese Unterscheidung indes wird von Jonas nicht gewahrt. Er beansprucht für seine Ontologie mehr oder anderes als bloße Zweck­ mäßigkeit im nicht selbstbewußten Sein. Angezeigt wird dies, wenn er von einem »Handeln« in der nichtmenschlichen Natur ausgeht (vgl. 128), welches er freilich im Sinne vorsichtiger Zurücknahme in einfache Anführungszeichen setzt, oder wenn er von »eingepflanzten Zwecken« (PV 154) redet, die keines Sollens bedürften, da sie sich auch so durchsetzen. Als nichthintergehbarer Einsatz- und Ausgangspunkt für die Verortung von Zweckhaftigkeit in das Sein gilt Jonas der Mensch, dessen Vermögen zur Zwecktätigkeit unbestritten ist. Da der Mensch ein Wesen ist, welches Zwecke setzen kann, um diese sodann mit zu wählenden Mitteln zu erfüllen, und da er als organisches Wesen fer­ ner Natur ist, gilt Jonas das Vorhandensein von Zweck in der Natur als erwiesen: Der Mensch ist zwecktätig; der Mensch ist Naturwesen; also ist die Natur selbst zweckhaft. Das evidente Vorkommen von Zwecken in der Natur soll für den Naturbegriff gedeutet werden (vgl. PV 140), wobei Jonas' Anliegen darin besteht, vom Menschen als Naturwesen ausgehend, um der Ethik willen den Sitz von Zweck in die Seinsbreite zu erweitern (vgl. PV 138). Zwar orientiert sich der Evidenzbeweis des Vorhandenseins von Zweck am Menschen, gleichwohl sei die Wirksamkeit von Zwecken »nicht an Rationalität, Überlegung und freie Wahl, also an den Men­ schen gebunden ... « (PV 128) Für diese Expansion von Zwecken in die außermenschliche Natur beansprucht Jonas das Prinzip der Kon­ tinuität. Er bedarf einer Kontinuitätsthese, um »den ontologischen Sitz von Zweck überhaupt von dem in der Subjektspitze Offenbaren ^

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zu dem in der Seinsbreite Verborgenen erweitern« zu können. (PV 138) Recht besehen behauptet Jonas die Anwesenheit von Zwecken im Sein in dreierlei Hinsicht. Zum einen in Ansehung der außerleib­ lichen Dynamik der zunächst subjektiven Zwecke eines bewußten oder selbstbewußten Organismus. Zweitens seien Organismen selbst zweckhafte Gebilde. Und drittens könne gemäß der Kategorie der Kontinuität das Sein, aus dem zweckhafte Wesen hervorgegangen sind, der Zweckhaftigkeit nicht entbehren, sofern man nicht einen irrationalen Sprung, eine Entstehung von etwas aus Nichts zulassen will. Eine Strategie der Expansion subjektiver Zwecke in die Seins­ breite verfolgt Jonas, indem er eine »objektive Rolle subjektiver Zwecke« und einen »Raum für ihre Dynamik in der Natur« (PV 127) daran festmacht, daß die Kausalitäten des Leibes sich ja schließlich in der Natur jenseits der Leibesgrenze fortsetzen. Hiermit unterstellt Jonas gleichsam die Übertragbarkeit eines teleologischen Momentes in seine kausalen Folgen. Man kann diese Idee vielleicht am Begriff der Übertragungskausalität veranschaulichen, von Blumenberg ge­ prägt, um mittelalterliche Impetustheorien gegen die antike Theorie der Berührungskausalität abzugrenzen: Die zweckorientierte Ver­ anlassung eines kausalen Eingriffs in das Weltgefüge glaubt Jonas festhalten zu können in den Verzweigungen des teleologischen Ur­ sprungs. Wenn Jonas über den Zweck sagt: »Die Bereitschaft dafür muß dem Sein der Natur als solchem gutgeschrieben werden« (PV 145), so ist allerdings nicht ganz deutlich, ob sich diese Bereitschaft auf die jedesmalige außerleibliche Dynamik der zunächst subjektiven Zwekke beziehen soll oder nicht vielmehr auf eine grundsätzliche Bereit­ schaft des Seins für das erstmalige Auftauchen von Zweckhaftigkeit überhaupt. Am plausibelsten scheint es, für Jonas von einer Bean­ spruchung beider Prinzipien auszugehen. Halten wir zunächst fest: Nicht nur die menschliche Körperbe­ wegung, sondern auch die der Tiere sei »ein Ort wirklicher Determi­ nation durch Zwecke und Ziele«, woraus für Jonas gewährleistet ist, daß es »>Handeln< in der Natur gibt« (PV 128). »Handeln« in der Natur scheint es für Jonas in zweifacher Weise zu geben. Erstens in Gestalt der Fortsetzung subjektiver Zwecke; zweitens aber expliziert er dieses Handeln an anderer Stelle gewis­ sermaßen nicht »von oben«, also ausgehend und in Fortsetzung von 266

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Wert

Subjektivität, sondern »von unten«, als uranfängliches Attribut des Seins. Für diese Art eines Handelns von unten verwendet Jonas Aus­ drücke wie eine »Art des >Wollenstote< Materie privativ, als defizienter Modus der Eigenschaften des empfindenden Lehens, als ihre Beschränkung auf das Minimum eines infinitesimalen Keimzustandes zu verstehen ist ...« (OF 39) Und: »der lehendige Leih ... helehrt darüher, daß Materie im Raume, die wir sonst nur von außen erfahren, einen In­ nenhorizont hahen kann, und daß daher ihr ausgedehntes Sein nicht notwendig ihr ganzes Sein ist.« (OF 39) Zwar sei uns das Geheimnis der Anfänge verschlossen, plausihel scheint ihm indes »die Annahme, daß schon der Ühergang von unhelehter zu helehter Suhstanz, die erste Selhstorganisierung der Mate­ rie auf das Lehen hin, von einer in der Tiefe des Seins arheitenden Tendenz zu ehen den Modi der Freiheit motiviert war, zu denen die­ ser Ühergang das Tor öffnete.« (OF 14) Jonas spricht auch von einem »Anliegen der ursprünglichen Suhstanz.« (OF 341) Diesen Textstellen aus »Organismus und Freiheit« lassen sich ähnlichlautende Passagen im »Prinzip Verantwortung« zuordnen; so diese: Psyche »kann in generalisierter Form sehr wohl ein Zuhehör allen Stoffes sein, oder aller Stoffverhände gewisser Ordnungsfor­ men.« (PV 142) Es ist die Rede vom »>Arheiten< in der Natur« (PV 144). Ähnliche Formulierungen finden sich auch noch in spätesten Arheiten Jonas', so in »Materie, Geist und Schöpfung«: »Da Finalität - Zielstrehen - in gewissen Naturwesen, nämlich lehenden, suhjektiv-manifest auftritt und von da auch ohjektiv-kausal wirksam wird, kann sie der Natur, die ehen solche hervorhrachte, nicht gänzlich fremd sein. (...) Es folgt, daß Endursachen - damit aher auch Werte und Wertdifferenzen - in den Begriff der (ehen nicht durchaus neu­ tralen) Weltkausalität mit hineingenommen werden müssen: als mitgegehene Disposition dazu ...«15 Diese Stellen helegen zur Ge­ 15 Jonas (1994), S. 221f. Zeitgenössische Naturwissenschaftler sind dieser Auffassung 270

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Zum Problem einer Verortung von Wert im unbelebten Sein

nüge, daß das unbelebte Sein Jonas durchaus nicht als zweck- und somit wertlos gilt. Ursache der zumindest infinitesimal immer schon zweckhaften Materie, die in kontinuierlicher Evolution zum mensch­ lichen Geist geführt habe und somit von Anfang an schlafender Geist gewesen sei, kann nach Jonas nur wacher und aktueller, wenn auch transzendenter Geist gewesen sein.*16 Diese Auffassungen Jonas' vertragen sich nun allerdings schwer mit einer von ihm gegen Whitehead vorgebrachten Kritik. Jonas rügt an Whiteheads Fundamentalontologie der Natur: »Die Vermischung der Unterschiede von beseelter und unbeseelter Natur, welche die Ausbreitung von Innerlichkeit bis hinunter in die stofflichen Grund­ lagen mit sich bringt ...« (OF 150) Aber bei Jonas steht es doch nicht anders; das »Arbeiten« in der Natur erläutert er schließlich dahin­ gehend, »daß >sie< in ihren verschlungenen Wegen auf etwas hin ar­ beitet, oder daß >es< vielfältig in ihr daran arbeitet. Schon wenn dies erst mit dem >Zufall< des Lebens begänne, wäre es genug: >Zweck< ist damit über alles Bewußtsein hinaus, menschliches wie tierisches, in die physische Welt als ein ihr ursprünglich eigenes Prinzip aus­ gedehnt worden; und wie weit sein Walten unter das Lebendige hin­ unter in die Elementarformen des Seins hinab reicht, kann offen blei­ ben.« (PV 144 f.) Es sei »Zweck überhaupt in der Natur beheimatet« (PV 142), und zwar sehr wohl auch in der vororganischen Natur. »Panpsychismus« ist ein von Jonas für seine These der »Streuung keimhafter appetitiver Innerlichkeit durch zahllose Einzelelemente« gewählter Begriff (vgl. PV 142). Ein indifferentes Sein ohne jede Zweckhaftigkeit, so Jonas, »wäre nur eine unvollkommenere, weil mit dem Makel der Sinnlosigkeit behaftete Form des Nichts und ei­ gentlich unvorstellbar.« (PV 156)

nicht durchweg abgeneigt. Beispielsweise mutmaßt B. G. Campbell in seinem Buch »Entwicklung zum Menschen«, die Physik sei letztlich von der Biologie her zu ändern, da Physik - und Chemie - nichts über den Geist in der Materie wissen: »Die Potenz für Leben und Bewußtsein ist in jedem Atom vorhanden ..., die Grundteilchen besitzen eine mentale Komponente, die nur in Erscheinung tritt, wenn sie angemessene Struk­ turen bilden«, S. 447. 16 Vgl. Jonas (1994), S. 232ff. ^

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19.11 Das Gute Wie Wert und Zweck nicht dasselbe sind (vgl. PV 105), so fällt nach Jonas das Gute mit dem Wert nicht ineins: »zu wirklicher, obligatori­ scher Bejahung, ist der Begriff des Guten vonnöten, der mit dem des Wertes nicht identisch ist ...« (PV 149) Eine Wertlehre, die die Ver­ bindlichkeit von Werten zu begründen hofft, müsse mit dem Ziel einer Gründung des Guten im Sein das Verhältnis von Gut und Sein klären. Jonas expliziert den Begriff des Guten kraft axiomatischer Di­ gnität der Überlegenheit von Zweck an sich über Zwecklosigkeit und sieht sich berechtigt, dem Guten eine »Beheimatung in der Realität« (PV 155) zuzuschreiben. Für ihn ist »Zweckhaftigkeit an sich das primäre Gute« (PV 158), welches Anspruch auf Wirklichkeit habe, Seiendes, welches sein soll. Über das Gute sei der Übergang vom Sein zum Sollen vermittelt. Insgesamt gesehen gelingt es Jonas indes nicht, eine Differenz zwischen Wert und Gut aufrechtzuerhalten17, wie oben die Gleichsetzung von Zweckhaftigkeit und Gutem sowie das inklusive Oder im folgenden Zitat belegen mögen: »Denn Wert oder das >Guteist< evident mit einem >soll< zusammen­ fällt .. .«(PV 235) Das Prinzip durchgehender Kontinuität würde nun ermöglichen, das elementare Soll im Ist des Neugehorenen (vgl. PV 234) in die ganze Seinshreite zurückzulegen. Der Mensch wäre Sei­ endes inmitten eines Seins, das in seiner ganzen Breite, den Men­ schen mitumfassend, sein soll. Hier hegreift Jonas den Menschen ausdrücklich nicht als demiurgischen Mitarheiter, sondern als Hüter des Seins: »Wir schweigen von dem, was üher dies Bewahrende hinausgeht: das Sollen hinsicht­ lich von Zwecken, die er sozusagen aus dem Nichts erst schafft; denn Schöpfung liegt jenseits des Kreises der Verantwortung, die sich nicht weiter erstreckt als auf ihre Ermöglichung, das heißt auf die Hütung des Menschseins als solchen.« (PV 232f.) Als die »selhsthedrohende Spitze« durchgehenden Seinsollens werde der Mensch nicht nur zum »Treuhänder aller anderen Selhstzwecke, die irgend unter das Gesetz seiner Macht kommen« (PV 232), sondern die Fä­ higkeit zur Selhstvernichtung mache den Menschen zum Treuhänd­ ler seiner selhst. Jonas' Ontologie menschheitlichen Seinsollens führt zuletzt in eine paradoxe Begründungssituaton. Während er noch plausihel ma­ chen kann, daß und warum die nichtmenschliche Natur sein soll, gelingt ihm dies für den Menschen nicht mehr. Es hahe »die in lan­ gem Schöpfertum der Natur hervorgehrachte und jetzt uns ausgelie­ ferte Lehensfülle der Erde um ihrer selhst willen einen Anspruch auf unsere Hut.« (PV 245) Das Sein gehe nicht nur von dem Kunde, was es ist, sondern auch von dem, was wir ihm schuldig sind.19 Nun kann aher der Mensch nicht mehr von der Natur her gedacht werden. Jonas spricht ja selhst vom Wagnis, welches »die Natur« einging, als sie den 18 Weshalh der Beginn der vorsokratischen Philosophie und die Prägung von Münzgeld in Lydien und lonien in etwa zeitgleich stattgefunden hätten. Für eine ausführliche Kritik siehe mein »Der Gewinn des Symholischen«. 19 Vgl. Jonas (1994), S. 130. ^

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Menschen entstehen ließ (vgl. PV 247). Das Sein des Menschen muß also, insoweit er aus der Natur heraussteht, kategorial anders gefaßt werden. Wir können in hezug auf die Menschheit nicht sagen, sie habe um ihrer selbst willen Anspruch auf ihre Hut. Ein Hüter, der behütet werden soll, bedarf wie ein Hütehund selbst noch eines Hir­ ten. Wer aber sollte der Hirte des Menschen sein? Betrachten wir nun das bei Jonas unausdrücklich vorliegende Prinzip der Fülle, so stoßen wir auf einen kategorialen Zusam­ menhang, demzufolge, im Widerspruch zum Obenstehenden, der Mensch nicht nur als Hüter, sondern als Hervorbringer von Zwecken sein soll.

19.13 Das Prinzip der Fülle Auf die Frage, welche Aufgabe dem Menschen in Jonas' Ontologie wesentlich zukommt, haben wir bislang folgende Antworten erhal­ ten. Zum ersten, sich selbst im Dasein zu erhalten - die absolute Pflicht zum Menschen (vgl. PV 246); zum zweiten, den Wert des Seins zu bewahren, welcher sich in den Zweckgebilden des Seins of­ fenbart. Die Aufgabe des Menschen sei es, die Fülle des Seins als selbsteigene Würde und Integrität der Natur zu bewahren (vgl. ebd.), nicht jedoch, etwa mittels Gentechnik, das Sein über die vorgefunde­ ne Fülle hinauszuführen In den Lebewesen ergreife sich die Selbstbejahung des Seins mehr und mehr sub formam individuationis. In den Stufen des Or­ ganischen setzt sich die Differenz des Seins gegen das Nichts (der Grundwert des Seins) auf höherer Ebene als stoffwechselnde Selbst­ bejahung fort: »... durch den Gegensatz des Lebens zum Tode wird die Selbstbejahung des Seins emphatisch.« (PV 157) Dem Fortbeste­ hen des anorganischen Seins gegenüber dem Nichts entspreche so das Fortbestehen des organischen Seins gegenüber dem Unbelebten. Gleichsam auf höherer Stufenleiter setze das Leben gegen den Tod fort, was schon das Unbelebte gegen das Nichtsein: Erhaltung und Perpetuierung seiner selbst.20 20 Unbefriedigend an dieser Analogie ist allerdings, daß Jonas zwar das Leben als Erhal­ tung durch Tun gegen das Anorganische zu fassen vermag, daß er aber keinen analogen Modus der Erhaltung in der Behauptung des Unbelebten gegen das Nichts erörtert. Ein solcher ließe sich freilich auch gar nicht ausfindig machen. Unbelebtes erhält »sich« 276

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Das Prinzip der Fülle

In seinem klassischen Werk zum Prinzip der Fülle hat Lovejoy in seiner Erörterung der Erfordernisse des Begriffs der Kompossihilität hei Leihniz am Prinzip der Fülle eine Unterscheidung nach Ex­ tension und Intensivität herausgearheitet. Wir hegegnen dieser Dif­ ferenzierung auch hei Jonas. Aus der Anwesenheit von Zwecken im Sein sei zunächst zu lernen, daß es dem Sein mindestens um sich selhst geht. Von hier aus gelangt Jonas zu einem zweiten Wert, der im Zeichen der Logik des Prinzips der Fülle steht: »... die Maximie­ rung von Zweckhaftigkeit, das heißt der Reichtum erstrehter Ziele und damit möglichen Gutes oder Ühels ...« (PV 156) Die selhsthejahende Differenz des Seins zum Nichtsein sei interner Graduierung fähig. Andernfalls handelte es sich um eine unvollkommenere, weil mit dem Makel der Sinnlosigkeit hehaftete Form des Nichts; ein sol­ ches Sein sei unvorstellbar (vgl. ehd.). Jonas unterscheidet nach Ex­ tensität und Intensität der Zwecke. Einerseits sei die Differenz zum Nichtsein umso größer, je zahlreicher die Zwecke in der Welt, ande­ rerseits sei die Bejahung des Seins umso emphatischer, je intensiver der Zweck ist. Bereits die größere Quantität von Zweck, gegenüher einem Seinszustand mit einem Weniger an diesem Zweck, hedeutet einen Fortschritt in der Seinshejahung. Bliehe man hier jedoch ste­ hen, so wäre die Selhsthejahung des Seins denkhar als eine eindimen­ sionale Anfüllung der Welt mit immer mehr Zweckgehilden nur einer Art, wie etwa Blaualgen. Die gewichtigere Selhsthejahung des Seins - zugleich auch Erklärung für die Vielzahl unterschiedlicher Arten des Lehendigen - ist hei Jonas nicht so sehr die »Extensität des generischen Spektrums« (PV 156), als vielmehr die »Intensität der Selhstzwecke der Lehewesen selher, in denen der Naturzweck zu­ nehmend suhjektiv, das heißt dem jeweiligen Vollzieher als der seine zueigen wird.« (PV 156 f.) Bei diesem Zitat ist kurz zu verweilen, weil es weiteren Auf­ schluß hinsichtlich der Extension von Zweck in der Ontologie Jonas' ermöglicht. Der hier angesprochene Naturzweck scheint eine durch­ gängige Tendenz zumindest des Lehendigen anzuvisieren, wenn nicht eine, die das Reich des Unhelehten mit dem des Organischen eint und die Grenze üherhrückt. Nur ein solcher Naturzweck jeden­ falls kann gemeint sein, der sich üher dem Entstehen und Vergehen unhelehter oder lehendiger Komplexionen erhält und sie zu immer nicht gegen das Nichtsein; was wir auf der Ehene des Unhelehten als Erhaltung heschreihen ist etwa die eines Bewegungszustandes (Inertia). ^

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höherer Seinsintensität hochtreiht. Damit aber erwiese sich Jonas' Ontologie als eine Teleologie des Ganzen, als eine Teleologie der Ge­ samtnatur. Über diese aristotelische Vorstellung befindet Jonas jedoch, sie sei widerlegt durch unsere zunehmende Einsicht in die seinsvernei­ nenden Möglichkeiten des Menschen (vgl. PV 247); andererseits aber ist eine solche Vorstellung durchaus vereinbar mit und sogar erfor­ derlich für Jonas' Bild vom immer seinsintensiveren Werden der Na­ tur bis hin zum Menschen. Dies evoziert freilich die Frage, »wie das Begabtsein der Urmaterie mit der Möglichkeit des Geistes zu verste­ hen ist.«21 Jonas beantwortet diese für ein rechtes Verständnis seines Begriffs von Teleologie entscheidende Frage damit, daß er sagt, dieses Begabtsein setze mehr voraus als die »nur negative Eigenschaft des Nichtverwehrens« und bloß »neutraler Kompatibilität mit dem Gei­ ste«.22 Diese Konzeption ist zumal dann vonnöten, wenn fortgesetzte Eingriffe eines transmundanen Gottes in das Weltgeschehen aus­ geschlossen bleiben sollen. Die oben angeführte Äußerung Jonas', aus dem Grundwert des Seins (seine Differenz gegen das Nichtsein) ergebe sich als weiterer Wert die Steigerung seiner Differenz zum Nichtsein: »die Maximie­ rung von Zweckhaftigkeit«, muß nun zu einer Revision der dem Menschen ursprünglich zugedachten Rolle als eines bloßen Hüters des Seins führen. Kann das Sein nämlich durch die Maximierung von Zweckhaftigkeit gesteigert werden, dann ist der durch seine Frei­ heit metaphysisch ausgezeichnete Mensch das einzige bekannte We­ sen, dem der vom Sein erteilte Auftrag seiner Steigerung als Aufgabe zufallen kann. Dann aber kann der Mensch nicht mehr als Hüter des Seins, sondern muß (wie in den anderen Ontologien menschheitlichen Seinsollens der Fall) als Demiurg konzeptualisiert werden. Da Jonas dem intensiven Prinzip der Fülle den Vorrang gibt, da ihm als Maßstab für die Seinshöhe die Subjektivität des Naturzwecks gilt, erginge vom Sein also nicht nur der Auftrag zur Erhaltung der Menschheit, sondern überdies eine Anweisung zur Vermehrung der Menschenzahl. Jonas' Ausführungen fügen sich letztlich dahin­ gehend zusammen, daß der Mensch als Mitarbeiter Gottes verstan­ den werden kann. Hatte in der Schöpfung eine »Selbstpreisgabe göttlicher Integrität« sich ereignet, so stelle das kosmische Evolu­ 21 Jonas (1994), S. 236. 22 A.a.O., S. 236, 238. 278

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Der mögliche Dissens zum Spruch der Natur

tionsgeschehen insbesondere seit der Entstehung des Lebendigen den nachfolgendem »Wiedererwerb seiner Fülle« dar (vgl. OF 332), in dem der Mensch nun der entscheidende Faktor geworden ist.

19.14 Der mögliche Dissens zum Spruch der Natur und die Nichthintergehbarkeit des Spruches des Seins In Übereinstimmung mit der philosophischen Anthropologie aner­ kennt Jonas ein »Herausstehen des Menschen aus der Natur«, wel­ ches offenbar werde in dem, was er als das »einzigartige Naturerbe« des Menschen betrachtet: die Willkür. Während die philosophische Anthropologie nun aber bloß befindet, »Der Mensch ist von Natur aus ein Kulturwesen«, beansprucht Jonas weitergehend: Der Mensch soll von Natur aus als Kulturwesen sein. Jonas unterscheidet eine »bloße« Subjektivität der Zwecke und Wertungen (vgl. PV 146 f.) von »einer die Natur durchwaltenden« (PV 146). Und von dieser »>Subjektivität< der Natur« sei zu sagen, »daß sie vor unserm privaten Wünschen und Meinen alle Vorteile des Ganzen vor den Teilen, des Dauernden vor dem Flüchtigen, des Gewaltigen vor dem Winzigen hat.« (PV 147) Daß die Natur Zwecke hat, ist für Jonas der tiefstgegründete und längstbekundete »Spruch der Natur« (PV 148). Die Freiheit, sich gegen den Spruch der Natur entscheiden zu können, mache es erforderlich, daß der Mensch »ihrem Walten durch Normen zu Hilfe« kommt (ebd.). Diese Einschränkung absoluter Entscheidungsfreiheit - letztere sei als Gabe der Natur zu betrach­ ten - durch Normen sei vonnöten, um dem Walten der Natur Genüge tun zu können. Denn im Walten der Natur offenbare sich das »primäre Gute«: Zweckhaftigkeit, welches Anspruch auf Wirk­ lichkeit habe (ebd.). Wir können das soeben skizzierte Verfahren der Begründung menschheitlichen Seinsollens die »Begründung gemäß dem Spruche der Natur« nennen. Sie beruht auf einer Verkettung der Begriffe: »Zweck«, »Wert«, »Gut«. Die Erhaltung und Förderung eines Gutes ist für Jonas von axiomatischer Dignität. Die Natur, so sahen wir, hegt nach Jonas Werte, da sie Zwecke hegt (vgl. PV 150); sie unter­ hält Zwecke (hat Ziele), deshalb setzt sie für ihn auch Werte. Das Erreichen eines erstrebten Zwecks gilt ihm als ein Gut (vgl. PV 153). Neben der Begründung menschheitlichen Seinsollens gemäß W

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dem Spruche der Natur stoßen wir hei Jonas auf eine ganz andere Verfahrensweise, die wir »argumentationslogische Begründung menschheitlichen Seinsollens« nennen können. Daß er sich zu argu­ mentationslogischen Reflexionen überhaupt genötigt sah, ergiht sich daraus, daß die Begründung gemäß dem Spruche der Natur immer am Hiatus der Freiheit zu scheitern droht, insofern dem ontologi­ schen Ja vor-selbstbewußter Selbstbejahung immer die Möglichkeit eines menschlichen Nein aus Freiheit entgegengestellt werden kann. Die Selbstbejahung der Natur darin, daß sie Zwecke hege und setze das in der vormenschlichen Natur blind sich auswirkende ontologi­ sche Ja -, vermag zwar im Menschen Sollenskraft zu gewinnen und zu einer obligatorischen, den Menschen verpflichtenden Kraft zu werden. Doch gibt es für das Funktionieren der Transformation ob­ jektiven Wertes in subjektiv empfundenes Sollen keine Garantien. Während in der nicht selbstbewußten Natur das innere Sollen des Seins sich von selbst erfülle, habe das Prinzip der Zweckhaftigkeit im Menschen zwar seine höchste, zugleich aber auch eine selbst­ bedrohende Spitze erreicht (vgl. PV 232). Freiheit ist zwar von Natur aus, muß aber nicht notwendigerweise im Sinne des Spruches der Natur gehandhabt werden; sie kann sich auch als ontologisches Nein manifestieren. Um die Überlegenheit von Zweck an sich über Zwecklosigkeit gegen einen möglichen Verneiner auch argumentationslogisch zu de­ monstrieren, bedient sich Jonas des »Paradox vom zweckverneinen­ den Zweck« (PV 155). Die Fähigkeit, Zwecke zu haben, sei ein aller Zwecklosigkeit des Seins überlegenes Gut-an-sich. Diesem Satz lasse sich »nur die Lehre vom Nirvana entgegenstellen, die den Wert des Zweckhabens verneint, aber dann doch wieder den Wert der Befrei­ ung davon bejaht und seinerseits zum Zweck macht.« (PV 154) An dieser Stelle scheint es zunächst, als gelänge Jonas eine Vereinigung seiner beiden hauptsächlichen nichttheologischen Begründungsstra­ tegien, derjenigen gemäß dem Spruche des Seins und der argumen­ tationslogischen: »In jedem Zweck erklärt sich das Sein für sich selbst und gegen das Nichts. Gegen diesen Spruch des Seins gibt es keinen Gegenspruch, da selbst die Verneinung des Seins ein Interesse und einen Zweck verrät.« (PV 155) Das Sein tritt hier gewissermaßen als Argumentationspartner auf, der eine Proposition vorgebracht hat: Erklärung für sich selbst gegen das Nichts. Wer nun diesen Spruch des Seins bestreitet, der bekunde ja selbst einen Zweck und verfalle somit dem Paradox vom zweckverneinenden Zweck. 280

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Der mögliche Dissens zum Spruch der Natur

Am Menschen als einer Hervorhringung der Natur sei deutlich geworden, daß Freiheit einer der Zwecke der Natur sein muß. Wenn nun der Mensch von der Natur dissentieren wollte, etwa, indem er das Nichts dem Sein vorzieht, so kann Jonas nun sagen, daß er hierin einen Zweck der Natur - Freiheit (des Dissenses) - hereits heansprucht (vgl. PV 148). Von der Natur zu dissentieren, wäre also gar nicht möglich, da man sie in ihrem Höchsten - Freiheit - gerade hestätigen würde. Jonas unternimmt also den Versuch, den Hiatus zwischen Mensch und Natur argumentationslogisch zu üherhrücken: Weil wir frei sind, uns Zwecke zu setzen, die sich nicht in natürlicher Weise hereits erfüllen, sind wir in der Lage, Nein zum Dasein zu sagen, uns dieses Nein als Zweck zu setzen. Naturzweck und Men­ schenzweck scheinen also auseinanderzuklaffen. Jonas hesteht nun darauf, daß die Freiheit, die uns den Dissens vom Sein ermöglicht, selhst schon ein Naturzweck ist. Schließlich sind wir ja in der Tat von Natur aus zwecksetzende Wesen. Statt also von der Natur zu dissen­ tieren, wenn wir Nein zum Sein sagen, so Jonas, unterstehen wir in dieser Zwecksetzung einem Naturzweck. Gewissermaßen scheinen wir also vom Naturzweck in der Weise immer schon eingeholt, daß wir von ihm gar nicht dissentieren können. Wir können nicht Nein zum Dasein sagen, ohne den höchsten Zweck des Seins, die Freiheit, zu affirmieren. Aus transzendentalpragmatischem Grunde also könnten wir das Sein oder unser Dasein nicht verneinen. Allerdings ist fraglich, oh es sich hei der Zweckverneinung wirk­ lich um ein Paradox handelt. Nietzsche sagte in »Zur Genealogie der Moral«, der Mensch wolle lieher das Nichts als nicht wollen.23 Tat­ sächlich können wir doch auf nicht paradoxe Weise Zwecke vernei­ nen, indem wir zum Zweck unseres Handelns machen, daß es künftig keine Zwecke oder keine Menschheit mehr giht. Dieser Zweck hätte durchaus ein intentionales Ohjekt und wäre in der Zukunft erfüllbar - warum sollte es sich hierhei um ein Paradox handeln24 ? Anders als Jonas meinte, ist der Zweck der Zweckverneinung nicht paradox und sogar durchaus sinnvoll. Jeder Mensch kann das Prinzip zum Zweck seines Handelns erhehen, daß künftig in der Welt keine mensch­ lichen Zwecke mehr verfolgt werden. Paradox wäre allein eine For­ mulierung der Gleichzeitigkeit von Zweckverfolgung und -vernei­ nung. Sie kommt etwa in dem Satz »Ich verfolge jetzt und his in alle 23 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Kapitel 28, Werke II, S. 288. 24 Vgl. auch Steinvorth (1990), S. 70 u. 114f. ^

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Zukunft keinen Zweck mehr« zum Ausdruck. Paradox ist dieser Satz, weil ich ihm widersprechen muß, wenn ich ihm Folge leisten will. Ich verfolgte den Zweck, dem Gebot Folge zu leisten, welches mir doch untersagt, Zwecke zu verfolgen. Durchaus sinnvoll läßt sich aber der Zweck künftiger Zwecklosigkeit verfolgen. Eine argumentationslogische Untermauerung des Menschheits­ Erhaltungsgebots ist Jonas nicht gelungen. Um Anhänger des Verebbens zu sein, müssen wir ja gar nicht verneinen, was für Jonas fest­ steht: daß wir, um das Verebben zum Zweck zu erheben, uns der Freiheit als eines Naturzwecks immer schon bedienen. Propagieren wir das Verebben, so begehen wir keinen performativen Wider­ spruch. Einmal vorausgesetzt, daß es tatsächlich in der von Jonas un­ terstellten Weise Zwecke in der Natur gäbe, so würden wir lediglich mit unserer Freiheit als einem Zweck der Natur so umgehen, daß künftig keine Menschen mehr sein würden, die Zwecke zu setzen vermögen. In letzter Instanz gelingt es Jonas nicht, die Kluft zwischen vermeintlichen - Naturzwecken und menschlichen Zwecken zugun­ sten eines Menschheits-Erhaltungsgebots zu überbrücken. Es hilft hier auch nichts, es statt mit einem transzendental gewendeten Zweckpostulat mit einem ebensolchen Sinnpostulat zu versuchen. Wir könnten dann etwa sagen: Der Mensch ist in nichthintergehbarer Weise auf Sinn verwiesen. Bezweifelten wir dies, so müßte doch der Zweifel als sinnvoll gelten. Ein Verebbens-Befürworter würde sagen: »Das Dasein der Welt und die Perpetuierung der Menschheit sind sinnlos.« Der Verebbens-Gegner mag darauf ein­ wenden: »Aber zumindest deine Bestreitung jeglichen Sinnes muß doch in deinen Augen sinnvoll sein; damit aber gestehst du zu, daß Sinn in der Welt ist.« Der Verebbens-Gegner hat Recht: In unseren propositionalen Vollzügen sind wir auf Sinn verwiesen, worin wir ein transzendentales Prinzip erkennen können. Aber dies bestreitet der Befürworter des Verebbens ja auch gar nicht. Ebensowenig wie man notwendig allen Zweck verneint, wenn man den Zweck menschheitlichen Daseins verneint, bestreitet man jeglichen Sinn, wenn man eine Perpetuierung der Menschheit für sinnlos erklärt. Offenbar ist es nicht möglich, dem Verebbens-Befürworter so etwas wie einen performativen Widerspruch nachzuweisen.25 25 Zur Frage nichthintergehbarer »Verwiesenheit auf Sinn« s. G. Scherer, Sinnerfah­ rung und Unsterblichkeit, bes. S. 13-46. 282

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Zweckkausalität ohne Bewußtsein

Nachdem es sich gezeigt hat, daß Jonas' Ontologie von einer Argumentationslogik keinen Beistand erfährt, sollten wir uns noch einmal vertiefend mit seiner Behandlung der ontologischen Kapi­ talfrage beschäftigen, die, wie gezeigt, im Zentrum seines (nicht­ theologischen) Begründungsversuchs menschheitlichen Seinsollens steht.

19.15 Zweckkausalität ohne Bewußtsein Jonas formuliert als ontologische Kapitalfrage: ist »Zweckkausalität beschränkt auf subjektbegabte Wesen?« (PV 131) Er gibt eine vernei­ nende Antwort und postuliert »Zweckkausalität auch in der vor­ bewußten Natur« (PV 136), womit er uns auffordert, die These blo­ ßer Scheinbarkeit des Zwecks im physischen Organismus neu zu bedenken (vgl. PV 130). Unter der Überschrift »Die kausale Macht subjektiver Zwecke« geht es Jonas darum, »die Grunderfahrung fühlenden Lebens« (PV 128) wieder in ihr Erstlingsrecht einzusetzen. Die »Ohnmacht des Subjektiven stellt sich als logisch, ontologisch und epistemologisch absurd heraus.« (PV 127) Jonas wendet sich hiermit gegen den Epi­ phänomenalismus. Dieser könne Bewußtsein nur als eine neue Wir­ kungsstruktur begreifen, vermöge es aber nicht, jene neuen Wirkun­ gen zu erklären, die zu verursachen das Bewußtsein in der Lage ist. »Zum Beispiel die Zweckhaftigkeit des Bewußtseins, dem Unterbau fremd, müßte sich auf das Bewußtsein selber beschränken und könnte nicht in den Unterbau zurückschlagen.« (PV 134) Wenn das Bewußtsein nur Epiphänomen wäre, dann wäre es nicht in der Lage, neue Kausalreihen zu beginnen oder kausal wirksam zu werden. Bliebe das Vorhandensein von Zweck auf das bewußte Leben beschränkt, »so würde dies uns mit einer seltsamen Teilung lassen, die in sich nicht unmöglich ist. Mit dem evolutionären Auftauchen der Subjektivität ... bestünde ein radikaler (nicht nur gradueller) Unterschied ...« (PV 131) Wären Bewußtsein und Sein radikal von­ einander getrennt, so sei nicht mehr nachvollziehbar, wie die Zweckhaftigkeit des Bewußtseins im Unterbau wirken kann. Gegen den Irrtum einer Ohnmacht des Geistes gegenüber der Materie setzt Jo­ nas die These kausaler Wechselwirkung zwischen beiden.26 26 Vgl. Jonas, Macht oder Ohnmacht

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Als hauptsächlichen Grund für Jonas' Verneinung der Frage, oh das Vorkommen von Zweckkausalität auf Wesen mit einem Bewußt­ sein heschränkt sei, lernten wir den Zusammenhang von ohjektivem Zweck und Wert einerseits kennen, von denen andererseits die Mög­ lichkeit einer ontologischen Basierung ethischer Ohligation und so­ mit einer Außenverankerung menschheitlichen Seinsollens ahhänge. Jonas sucht diese Antwort in dreierlei Richtung ahzusichern. Dahei glauht er inshesondere, eine allgemeine Ahwehrhaltung gegen irra­ tionale Einschläge würde seiner Seinslehre zuspielen. Das Sein weist zwar eine deutliche Schichtung auf - zu unterscheiden sind Anorga­ nisches, Organisches, Seelisches (Bewußtsein) und Geistiges (Selhsthewußtsein). Aher der Eindruck von Schichtengrenzen darf nach Jo­ nas nur ein scheinharer sein, hinter dem inhaltliche Kontinuität stehe. Rechntete man hier mit dem Auftauchen eines radikal Neuen, so falle man einem Irrationalismus anheim. Hier glauht Jonas, seinen Rekurs auf das Prinzip durchgehender Kontinuität im Zeichen der Rationalität ahsichern zu können. Nachdem er sich dieser Rationali­ tät versichert hat, scheint es ihm ein Leichtes, Zweckhaftigkeit aus­ gehend von der Suhjektivität infinitesimal his in die unhelehte Ma­ terie zurückzuverfolgen. Flankiert wird dieser Schritt durch die Feststellung, teleologische Annahmen würden der Naturwissen­ schaft ihren Erklärungsstatus nicht streitig machen, eine unterlie­ gende Teleologie des Geschehens sei mit der Naturwissenschaft vereinhar (vgl. PV 136 ff.). Im Anschluß an diese Ahsicherungen der Beantwortung der ontolo­ gischen Kapitalfrage gilt es, einige Fragen zu stellen und zu hehandeln: 1. Geht die Forderung, wir sollten gnoseologische Irrationalität als Ohnmacht des Geistes im Zusammenhang Bewußtsein-Materie meiden, nicht an der Tatsache vorhei, daß wir noch nicht einmal kau­ sales wirken eigentlich verstehen? Ist eine Lehre vom Sein denkhar, die irrationale Reste im Begegnenden anerkennt? Welche Vorausset­ zungen gehen in eine Lehre vom Sein ein, die das ahsolute, unver­ mittelte Novum als Irrationales deklariert, die Anerkenntnis solcher Nova als Kapitulation des Geistes? 2. Hat die Infragestellung der These hloßer Scheinharkeit des Zwecks im physischen Organismus Chancen, erstens in Anhetracht der von Kant vorgenommenen Differenzierung in Zweckmäßigkeit und Zwecktätigkeit und zweitens unter Berücksichtigung der Hart284

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mannschen Warnung, in organische Determination nicht vorschnell das Vorliegen von Zwecken hineinzulesen, zu bestehen? 3. Was bedeutet es für den Status und explikatorischen Wert teleologischer Erklärungen, wenn von ihnen gesagt wird, sie könnten mit den Kausalerklärungen der Physik koexistieren? 19.15.1 Gnoseologische Irrationalität Zunächst ist zu konstatieren, daß bei Jonas selbst eine ambivalente Einstellung zu gnoseologischer Irrationalität zum Ausdruck kommt. Um diese anzutreffen, ist es nötig, sich nochmals seiner Auffassung zu vergewissern, derzufolge auch das im Abstieg vom Menschen schließlich erreichte Subjektlose nicht zweckfrei sei: »In umgekehr­ ter, aufsteigender Richtung ließe sich gar nicht begreifen, daß das subjekthafte Streben in seiner Partikularisierung völlig unstrebend aufgetaucht sei.« (PV 141) Monistisches Einheitsbedürfnis dürfte nicht erst an letzter Stelle hinter diesem Versuch stecken. Vor­ dergründig ist es jedoch diese Überlegung: Das Novum, das Prinzip der Neuheit, muß temperiert werden durch inhaltliche Kontinuität, wenn es nicht irrational sein soll, »in die Sackgasse des absoluten Sprungs und der Ohnmacht des Geistes« führend.27 Eine Akzeptanz von seiten Jonas'gegenüber gnoseologischer Ir­ rationalität liegt indes damit vor, daß es ihm offenbar genügt, ein Daß der Kontinuität zu begründen, und zwar unter Verweis aus­ gerechnet auf gnoseologische Irrationalität, die andernfalls in Kauf zu nehmen wäre. Mit der Absicherung der Kontinuität durch das Pfand der Rationalität sei das Vorkommen von Zwecktätigkeit gesi­ chert. Für das Wie dieser Zwecktätigkeit nimmt Jonas dann aber jene gnoseologische Irrationalität sehenden Auges doch in Kauf, mit de­ ren Ausschluß er ein Daß der Kontinuität und Zwecktätigkeit be­ gründet hatte: Die »Art, wie eine generalisierte >Zweckhaftigkeit< der Natur sich in ihrem deterministischen Kausalgetriebe - nicht so sehr gegen wie durch dieses - bewußtlos zur Geltung bringt«, will er völlig offen lassen (PV 140). Man fragt sich, warum die Rätselhaftigkeit des einen Wie in Kauf genommen wird, die des anderen jedoch nicht. Das erste Wie ist das des Auftretens eines Novums, das zweite offengelassene Wie 27 Vgl PV 135. Ganz ähnlich spricht in diesem Zusammenhang Löw vom »logischen Harakiri der Fulguration«, »Teleologische Beurteilung der Natur«, a.a.O. S. 94. ^

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ist dasjenige der Wirkweise von Naturzwecken im Kausalgetriebe. Ist denn die Rätselhaftigkeit des zweiten Wie so viel geringer, daß man sie akzeptieren kann, wenn man sich die Akzeptanz der Rätselhaftig­ keit des ersten Wie versagt? Im Problembereich der Verursachung können wir darüber aber nur sehr Unbestimmtes aussagen. Zwar scheint die Genesis des Lebendigen aus dem Anorganischen oder die des Seelischen im Organischen rätselhafter als mechanische Verursa­ chung. Im Grunde ist es doch aber so, daß schon dem Kausalnexus gnoseologische Irrationalität zukommt. Möglicherweise gibt es kei­ nen Prozeßbereich in den Regionen des Daseins, der völlig frei wäre von irrationalem Einschlag. Wie eine Ursache ihre Wirkung hervorbringt, ist nicht nur in der Frage psychophysischer Verhältnisse überaus rätselhaft, nicht nur dort, wo wir es mit heterogenen Seinsstufen zu tun haben, son­ dern bereits in Fällen scheinbar primitiver Mechanik. Wir können sehr wohl nebeneinander bestehen lassen, daß uns einerseits das Na­ turgeschehen vorzüglich durch den Kausalnexus begreiflich wird, daß aber andererseits das innere Funktionieren dieses Nexus, das Hervorbringen selbst, unbegriffen bleibt.28 Ebensowenig wie wir aus unserem Nichtverstehen des Wie kausalmechanischer Verursachung heraus das Vorkommen der Verursachung leugnen, sollten wir dies im Falle psychophysischer Beeinflussung tun.29 19.15.2 Zweckmäßigkeit und Zwecktätigkeit An der These bloßer Scheinbarkeit der Zwecke im Organischen hat Jonas Zweifel geäußert. Diesem Zweifel wäre sofort zuzustimmen, wenn er sich auf die bloße Zweckmäßigkeit der intra- und interorga­ nismischen Prozesse bezöge. Doch erstreckt sich Jonas' Zweifel un­ zweideutig bis auf die These bloß scheinbarer Zwecktätigkeit. Diese Anfechtung der These einer bloßen Scheinbarkeit, eines bloßen Als-Ob von Zwecktätigkeit im Organischen, ist Jonas wahr­ scheinlich nur deshalb möglich, weil er sich - anders als N. Hartmann 28 Siehe Hartmann, Philosophie der Natur 329 f. 29 Vgl. ebd. und ders.: Neue Wege der Ontologie, S. 83. Um das Rätselhafte bereits der kausalen Verursachung wußte zumal Schopenhauer: wir sehen zwar, »diese Ursache jene Wirkung mit Notwendigkeit hervorbringen: aber wie sie eigentlich das könne, was nämlich im Innern dabei vorgehe, erfahren wir nicht« (Über die vierfache Wur­ zel ..., SW III, 172). Schopenhauers Lösung: »Die Motivation ist die Kausalität von innen gesehen« (a.a.0.173) 286

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Zweckkausalität ohne Bewußtsein

(siehe seine Schrift »Teleologisches Denken«) - des Gehalts der Ka­ tegorie der Zwecktätigkeit nicht versichert hat. Solange keine Kategorialanalyse stattgefunden hat, läßt sich in der Tat alles Zweck­ mäßige in der Natur als ein Produkt von Zwecktätigkeit vorstellen. Neben der kausalen und finalen nimmt Jonas keine weiteren Determinationsformen an, wofür etwa eine besondere organische Determination in Frage käme. In Ansehung dieses Entweder-Oder schlägt er sich ganz auf die Seite der finalen Determination. Der Grund hierfür ist leicht auszumachen. Er liegt in einer Furcht vor dem Mechanismus. Berechtigt wäre diese Furcht jedoch nur im Falle erwiesener Unproduktivität kausaler Determination. Wäre Kausali­ tät unproduktiv, so wären wir, um das Hervorgehen des Neuen in der prozessierenden Realität erklären zu können, tatsächlich genötigt, in das Verborgene des kausalen Nexus einen Finalnexus hineinzulegen. Ein Beispiel für das apriorisch Unvorhersehbare gerade auch im Be­ reich kausaler Determination im Mechanischen gibt Moreau de Maupertuis: »Wenn jemand, der niemals einen Körper berührte oder nie sah, wie Körper zusammenstoßen, der aber wohl Erfahrung im Mischen von Farben hat, einen blauen Körper zu einem gelben laufen sähe und man ihn fragte, was bei einem Zusammenstoß dieser Ge­ genstände passiert, würde er vermutlich antworten, der blaue Körper würde grün, wenn er sich mit dem gelben vereinigt.«30 Eine Entstehung des Zweckmäßigen oder gar Zwecktätigen aus einem uranfänglich Zwecklosen zieht Jonas wegen der unterstellten Unfähigkeit kausaler Determination, Neues hervorzubringen, nicht in Betracht. Er möchte den Menschen als das Entwickelte eines in der Natur immer schon Angelegten sehen, der er durch Fortexistenz die Treue zu halten habe: »Als von ihr hervorgebracht schulden wir dem Ganzen ihrer Hervorbringungen eine Treue, wovon die zu unserem eigenen Sein nur die höchste Spitze ist.« (PV 246) Wenn wir jedoch berücksichtigen, daß bereits im Kausalprozeß das Bewirken echtes Hervorbringen sein kann, der Kausalprozeß es durchaus verdient, ein schöpferischer genannt zu werden, daß auch im Unbelebten die Wirkung der Ursache durchaus nicht immer homogen sein muß, dann entfällt die aus ethischen Erwägungen Jonas' geborene Notwen­ digkeit, das Weltganze durch die Brille der Finalität zu betrachten.31 30 Zit. bei J. D. Barrow, Theorien für Alles, S. 100. 31 Für Näheres zum Kausalbegriff in diesem Zusammenhang siehe Hartmann, Philoso­ phie der Natur, S. 318-382. ^

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Kapitel 19: Der Mensch als Hüter des Seins (Jonas)

Jonas möchte eine Zufälligkeit des Zweckmäßigen nicht zulas­ sen, da er glaubt, den Menschen selbst damit an das final nicht Not­ wendige zu verlieren. Unterliegt dem Hervorgehen des Menschen aus dem Sein finale Zufälligkeit, so entfällt die Möglichkeit zur Außenverankerung in den ethisch verpflichtenden Zwecken und Werten des Seins. 19.15.3 Finalität widerstreite nicht der Physik. Die Macht der Subjektivität Jonas verteidigt sich gegen zwei allzeit latente Einwände. Einerseits gegen den stets bereiten Vorwurf, die Behauptung finaler Prozesse sei mit der modernen Physik nicht vereinbar; andererseits gegen den Epiphänomenalismus, wo dieser behauptet, die Subjektivität ha­ be keine Mächtigkeit in der Materie. Dagegen behauptet er die Mög­ lichkeit eines Eingreifens des Geistes bzw. der Subjektivität in das materielle Geschehen: »Die physischen Dinge im Einflußbereich der Subjektivität verlaufen nicht mehr so, wie sie ohne sie verlaufen würden.« (PV 134) In der Tat läßt ja der phänomenale Befund eines Verbundenseins des Heterogenen - Leiblichen, Seelischen und Geistigen - im Men­ schen kaum eine andere Deutung zu, als daß Leibliches und Seelisch­ Geistiges zur kausalen Beeinflussung des jeweils anderen imstande sind. Hieraus zieht Jonas nun den sehr weitgehenden Schluß, etwas im Anorganischen müsse bereits auf diese Determination hin ange­ legt sein. Offenbar ist Jonas hier Opfer des Theorems, Gleiches vermöge nur auf Gleiches zu wirken. Am Epiphänomenalismus kritisiert Jonas mit Recht, daß ihm zwar alle subjektiven Phänomene als physisch verursacht gelten, zu­ gleich jedoch die Behauptung aufrecht erhalten wird, aus dieser ihrer physischen Verursachung heraus könnten die subjektiven Phänome­ ne keine Ursächlichkeit für sich selbst oder Physisches gewinnen.32 Gegen diese Auffassung kann Jonas überzeugend einbringen, »daß es insbesondere der Idee kausaler Abhängigkeit geradewegs zuwider­ läuft, das Abhängige sei nur ein Ende (nur Wirkung) und nicht sei­ nerseits auch wieder ein Anfang (Ursache) in der Bedingungskette.«33 32 Vgl. Jonas, Macht oder Ohnmacht, S. 36. 33 A. a. O., S. 44 f. 288

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Zweckkausalität ohne Bewußtsein

Seiner These wechselseitiger Kausalität von Materie auf Seele/ Geist und umgekehrt, ist Jonas tatsächlich zuzustimmen, wenn man die Menschen nicht zu »Puppen der Weltkausalität ohne Verantwor­ tung«34 machen will. So sehr Jonas hierin recht hat, geht er doch fehl in der Annahme, das Vermögen des Geistes, kausal auf Materie wir­ ken zu können, bezeuge - da der Geist in diesem Falle zwecktätig ist auch eine Zweckhaftigkeit der Materie, ohne die der Geist einflußlos bleiben müsse. Was gewahrt bleibt, ist nur das Prinzip der Kausalität, nicht aber das der Zweckhaftigkeit. Um der Rationalität des Seins willen, in letzter Instanz um der Begründbarkeit menschheitlichen Seinsollens willen, fordert Jonas die Temperierung des Prinzips auftauchender Neuheit »durch das der Kontinuität, und zwar einer inhaltlichen, nicht bloß formalen Kontinuität - so daß wir uns vom Obersten, Reichsten über alles Untere belehren lassen müssen. Dies aber ist keineswegs eine Kor­ rektur am Rande, sondern eine am Kern der Sache.« (PV 135 f.) Wie es scheint, kann diese Korrektur am Kern der Sache, näm­ lich des Seins, nicht aufrechterhalten werden. Das Sein, auf welches das Bewußtsein kausal zu wirken vermag, muß nicht selbst schon zweckhaft sein, um dieser Kausalität des Seelischen/Geistigen zu­ gänglich zu sein. Für Jonas bedeutet dieses Eingeständnis einstweiliger Undurchschaubarkeit zum einen eine Kapitulation des Geistes. Zum anderen, schwerer wiegend, bedeutet dies, daß das Sein durchaus nicht zweck­ haft sein muß, um letztlich Vernunftwesen hervorzubringen. Nicht nur bei einer Kausalreihe mit Übergang zwischen Physischem und Psychischem oder umgekehrt tritt eine Heterogenität der Reihe auf, sondern das Geheimnis des Hervorbringens bleibt schon in den rein physischen Kausalreihen dem Verstehen entzogen. Wie macht es ein Atom, sich mit anderen zu einem Molekül zu verbinden? Wie bewegt eine Masse eine andere? Solange wir vor solchen Phänomenen kapi­ tulieren, ist das Nichtverstehenkönnen der Möglichkeit wechselseiti­ ger Einwirkung von Physischem und Psychischem vielleicht hin­ zunehmen.35

34 A. a. O., S. 17. 35 Siehe auch Hartmann, Philosophie der Natur, S. 358 f. ^

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Kapitel 19: Der Mensch als Hüter des Seins (Jonas)

19.16 Jonas als Wertplatoniker Man hat von Jonas' »antiker Grundposition« gesprochen36 und ihn einen Wertaristoteliker genannt, da er im Unterschied zu Scheler und N. Hartmann nicht von einer idealen Wertsphäre im Sinne Pla­ tons ausgehe, sondern Wert in die zweckhaften Entitäten der Natur verlege.37 Für das Gros der Ausführungen Jonas' ist diese Charak­ terisierung in der Tat zutreffend. Ein genaueres Studium macht es indessen unumgänglich, an seiner antiken Grundposition auch die platonischen Elemente hervorzuhehen.38 Nehmen wir zum Wertaristotelismus und Wertplatonismus Jonas' metaphysische Ausfüh­ rungen hinzu, die zur rationalen Theologie gehören, so erhellt die Berechtigung einer weiteren Einschätzung, derzufolge Jonas' Phi­ losophie hisweilen wie eine »metaphysische Rhapsodie« anmutet.39 Ein Hauptprohlem seiner Ontologie menschheitlichen Seinsollens lautete: wie kann jedem Einzelnen das Recht auf Nichtfortpflan­ zung zugestanden werden, wenn die Perpetuierung der Menschheit ein kategorischer Imperativ hleihen soll? Als Wertplatoniker vermag Jonas in noch einer anderen als den hislang erörterten Weisen auf diese Frage zu antworten. Seine weiter ohen angeführte Bemerkung, die Aufgahe der Transzendenz sei der größte Fehler der Neuzeit ge­ wesen, hetrifft nicht nur Gott, sondern auch das Ideale. Gerade auch mit dem »Verschwinden des Bereiches der Ideen und der IdealeGott ist tot< sieht« (OF 314), mit dem Sieg des Nominalismus üher den Rea­ lismus, ist für Jonas eine unahdinghare Außenverankerung ahhanden gekommen: die »Transzendenz unveränderlichen Seins, die durch die Transparenz des Werdens hindurchscheint« (OF 314). Menschheitliche Außenverankerung in einem platonischen idealen Sein, dies hringt Jonas zum Ausdruck, erweist sich einer Außenverankerung, 36 So die Bestimmung von W. E. Müller, Zur Prohlematik des Verantwortungshegriffes hei Hans Jonas, S. 209. 37 Siehe Wetz, Jonas zur Einführung, S. 137. 38 Daß Jonas zuweilen als Wertplatoniker von der Idee her argumentiert, ist verschie­ dentlich wahrgenommen worden. Nach Wolf ist Jonas' Rede von der Idee des Menschen »ähnlich kraftlos ... wie das traditionelle platonisch-christliche Argument für die Unmöglichkeit des Aussterhens von natürlichen Arten: Gott werde es nicht zulas­ sen ...« Wolf, S. 233. Birnhacher nennt Jonas' Behauptung, wir seien der »Idee des Menschen gegenüher verantwortlich ., die Anwesenheit ihrer Verkörperung in der Welt sicherzustellen ... die Hypostasierung einer platonischen Idee ...« (1983, S. 145). 39 Vgl. Wolf, ehd. 290

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Jonas als Wertplatoniker

die nur auf die wert- weil zweckhaften Dinge der Natur rekurriert, darin als überlegen, daß das ideale Sein überzeitlich ist. In diesem Sinne ficht er in »Organismus und Freiheit«, gegen Heidegger ge­ wandt, den Sieg des Nominalismus über den Realismus an. Als klas­ sischer Ethiker bringt Jonas gegen den Existenzialismus des früheren Heidegger vor, daß Existenz gerade dann zu fortwährender Zukünftigkeit - mit dem Tode als Ziel - verurteilt ist, wenn Werte wie das Gute und Schöne nicht in einer Schau des Seins entdeckt, sondern schlichtweg gesetzt werden. Die formale Entschlossenheit, zu sein, muß deshalb nach Jonas begleitet sein von einem nomos für diesen Entschluß (vgl. OF 314f.). Im »Prinzip Verantwortung« spricht Jonas ganz konkret von einer »Idee des Menschen«, und er ermahnt uns, unsere ontologische Verantwortung für die Idee nicht aus den Augen zu verlieren. Im Sinne einer Außenverankerung menschheitlichen Seinsollens kann dies nur bedeuten: wir sind verantwortlich dafür, daß die Idee des Menschen realisiert bleibt. Nicht zukünftigen Menschen seien wir verantwortlich, »sondern der Idee des Menschen, die eine solche ist, daß sie die Anwesenheit ihrer Verkörperungen in der Welt for­ dert.«40 Erst an dieser Stelle, unter platonischen Voraussetzungen, bewältigt Jonas den Einwand, dem seine Ontologie menschheitlichen Seinsollens bisher nicht entkommen ist. Dieser Einwand lautete da­ hingehend, daß künftige Generationen, denen gegenüber wir Ver­ antwortung haben sollten, doch gar nicht existieren, daß also zualler­ erst eine Instanz anzugeben wäre, vor der von einem Dasein-Sollen Zukünftiger die Rede sein könnte. Recht besehen präsentiert sich Jonas Ontologie menschheitlichen Seinsollens nun wie folgt. Was Jonas auf der Ebene des realen Seins zunächst gelingt, ist die Ausarbeitung eines Begriffs vom Men­ schen als dem Hüter des Seins - und zwar des real Seienden. Die Metapher vom Menschen als dem Hüter des Seins besagt, wir dürfen die Wertgebilde der Natur nicht durch technische Hybris in Frage stellen und zerstören. Da wir nun aber Menschen als die höchsten Wertgebilde der Natur nicht zerstören, wenn wir das menschliche Leben nicht weitergeben, benötigt das Seinsollen von Menschen eine 40 PV 91. Und mit dieser Überzeugung steht Jonas in der Gegenwartsphilosophie nicht ganz einsam da. Auch für Hösle ist es »die Idee des Menschen, die einen unbedingten Anspruch hat, sich auch in kommenden Generationen zu realisieren.« Hösle, Philo­ sophie der ökologischen Krise, S. 77. ^

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Kapitel 19: Der Mensch als Hüter des Seins (Jonas)

Verankerung, die das reale Sein überschreitet. Jonas findet diese Ver­ ankerung letztlich im idealen Sein. Er spricht von einem ontologischen Imperativ aus der Idee des Menschen (vgl. PV 91) und nennt Metaphysik eine »Lehre vom Sein, wovon die Idee des Menschen ein Teil ist.« (PV 92) Demzufolge hätte die Metaphysik es also nicht nur mit dem realen Sein, sondern mit beiden Seinsweisen, also auch dem Idealen zu tun. Und der aus der Idee des Menschen ergehende Imperativ wäre dann der an das ethi­ sche Subjekt ergehende Ruf, den Menschen gemäß der Idee im So­ sein und Dasein zu erhalten. Hierbei handelt es sich dann nicht mehr um einen anti-gnostischen »Ruf oder Spruch der Natur«, sondern um einen »Ruf des Idealen«. Mit letzterem betreten wir das Gebiet einer anders gearteten Ontologie, derjenigen Nicolai Hartmanns.

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Der Ruf des Idealen. Demiurgische Metaphysik I: Der Mensch als Mittler zwischen den Seinsweisen (N. Hartmann)

In der philosophischen Landschaft des 20. Jahrhunderts steht Hart­ manns Ethik als ein merkwürdig isoliertes Gebilde da. Es handelt sich hei ihr um eine klassische Ethik und materiale Wertethik in der Ge­ stalt eines objektiven Idealismus, die imgleichen beansprucht, sich aus der Tradition philosophischer Theologie herausreflektiert zu ha­ ben, zu der etwa die materiale Wertethik Schelers noch gehört. Bei Hartmann ist es die Neganthropie der unendlichen Raum­ zeit, gegen die er ein Seinsollen des Menschen zu reetahlieren sucht. Daß hei ihm, anders als hei Scheler oder Jonas, der bestimmende Ein­ fluß philosophischer Theologie zum Erliegen gekommen ist, er­ schwert die Aufgabe, menschheitliches Seinsollen über eine Außen­ verankerung zu begründen. Die Bürde, die Hartmann auf sich nimmt, ist umso größer, als er von einem starken Weltbegriff aus­ geht. Das heißt: Seelisches und Geistiges gelten ihm nicht als irgend aus dem sonstigen Sein herausgestellte Erscheinungen; sondern der ganze Mensch gilt aus dem Realen hervorgegangen, allein im Realen gründend. Was nicht heißt, daß der Mensch auf das reale Sein be­ schränkt ist oder bleiben kann. Als ein wesentliches Ziel der Ethik bestimmt Hartmann die Notwendigkeit, dem modernen Menschen eine Heimat im All zu geben, allerdings »ohne Restituition des anthropozentrischen Grö­ ßenwahns.« (Ethik 170)1 Er sieht sich in der Lage, der starken Welt ein ebenfalls starkes Subjekt entgegenzustellen.2 Diese »Stärke des Subjekts« (E 180) gewinnt er in Reflexionen, die er die Rehabilitie­ rung des Menschen durch Ethik nennt. Ist die Menschenwelt auch nichts als »ein verschwindender Tropfen realer Zwecktätigkeit im 1 Hartmann, Ethik, künftig abgekürzt als »E«. 2 Damit bietet Hartmanns Ontologie ein Gegenbeispiel für die These von F J. Wetz, wonach zumeist starker Subjekt- und schwacher Weltbegriff sowie schwacher Subjektund starker Weltbegriff korrelieren, vgl. ders.: Das nackte Daß, S. 220f. ^

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Kapitel 20: Der Ruf des Idealen (Hartmann)

Meere der ontologisch zweckindifferenten Kausalität« (E 208), so sei die Ethik doch in der Lage, den Menschen kosmisch und metaphy­ sisch zu rehabilitieren (vgl. E 207). Gegen die kosmische Kleinheit und Vergänglichkeit des Menschen setzt Hartmann seine »metaphy­ sische Größe und Überlegenheit über das Sein der niederen Gebilde.« (E 10) Mit der Anerkenntnis dessen, was man eine »starke Welt« nen­ nen mag, ist für Hartmann die unumstößliche Einsicht verbunden, daß der Mensch nicht der »Wesenskern des All« sein kann. Aber die Einsicht darein, daß der Mensch nur »ein Stäubchen im All« ist, »ei­ ne ephemere, nichtige Erscheinungsform«, ist für Hartmann nicht das letzte Wort. Denn neben der ontologischen gebe es noch die axiologische Determination. Axiologischer Determination gegenüber zu­ gänglich, als Vermittler zwischen den Seinsweisen Ideal und Real eine integrierende Rolle im Weltganzen spielend, sei die kosmische Nichtigkeit des Menschen aufgehoben. Diese an Kant erinnernde Re­ habilitation des Menschen nennt Hartmann auch das »Wunder des ethischen Phänomens« (vgl. E 169 f.). Hartmanns Suche nach einer metaphysischen Heimat für den Menschen in Ansehung der Neganthropie des Weltganzen führt zu Resultaten, in denen wir, was sogleich deutlicher werden wird, zu­ gleich seine Antwort auf die Frage nach dem Seinsollen des Men­ schen zu erblicken haben. Und es ist erstaunlich zu sehen, zu welchen metaphysischen Konstruktionen sich Hartmann, der doch zumeist als ein sehr nüchterner Denker eingestuft wird, in der Bearbeitung des Themas »Neganthropie und Anthropodizee« genötigt sieht. Daß er, demzufolge Metaphysik in strengen kritischen Grenzen zu halten ist, bei näherem Betracht weit über die selbstgesetzten Grenzen hin­ ausschießt, bekräftigt meine These zum Verhältnis von Ethik und Metaphysik, wonach eine Anthropodizee nur unter Beanspruchung metaphysischer Kategorien zu leisten ist. Stellen wir nun die Be­ standsstücke von Hartmanns Ontologie menschheitlichen Seinsollens zusammen. Laut Hartmann ist der Mensch nicht nur nicht gnoseologisch als roeltkonstituierend anzusehen, sondern er hält im Sinne klassischer Ethik dafür, daß wir den Menschen auch axiologisch nicht als wert­ setzend auffassen dürfen. Mit anderen klassischen Ethikern wie Jo­ nas oder Steinvorth teilt Hartmann die Auffassung, daß Werte nicht bloß subjektiv - oder auch intersubjektiv - sind. Ethisches Sollen muß menschlichem Dafürhalten entzogen bleiben. Und es sollte hin­ 294

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länglich deutlich geworden sein, daß hei einer Selhsterteilung des Sittengesetzes in der Tat das Aussterhen der Menschheit zulässig sein würde. Wahrscheinlich ist der Status der Werte dasjenige Bestandsstück der materialen Wertethik Hartmanns, das am meisten Kritik auf sich gezogen hat.3 In der Ethik-Ausgahe von 1949 hat Hartmann den Ver­ such unternommen, auf Einwände seiner Kritiker pauschal einzuge­ hen. Er sucht dort deutlich zu machen, daß das ideale Ansichsein der Werte im Grund etwas ganz Schlichtes hesagt: »die Unahhängigkeit vom Dafürhalten des Suhjekts - nicht mehr und nicht weniger.« (E. 149 Anm.) Mit der Behauptung, Werte hestünden unahhängig vom Be­ wußtsein, präsentiert sich die Ethik Hartmanns als eine klassische. Das Bewußtsein könne die Werte zwar erfassen oder auch verfehlen, nicht jedoch »setzen« (vgl. E 149). Hartmann lehnt es ah, Werte al­ lein auf Grund des Umstandes, daß es sich hei ihnen um ideale Ge­ genstände handelt, in idealistischer Manier zu Erzeugnissen unseres Bewußtseins zu erklären. Er setzt dagegen, der idealen Seinsweise komme ein Ansichsein zu. Hätte es das Bewußtsein hei den idealen Gegenständen mit seinen eigenen Erzeugnissen zu tun, so wäre mit Bezug auf das zu erkennende Ideale ein jeglicher Fortschritt in der Erkenntnis ehenso ausgeschlossen wie ein Verfehlen idealer Gegen­ stände der Erkenntnis oder eine Konzeptualisierung des Unerkenn­ baren.4 Was immer wieder zur Annahme der Subjektivität der Werte verleitet, sei ihre Irrealität. Aher das Irreale und das Suhjektive sind ehen nicht deckungsgleich, was von mathematischen Zusammenhän­ gen her am ehesten einleuchtet. Nun könnte man gegen das von Hartmann hehauptete ideale Ansichsein der Werte weiterhin ein­ wenden, sie seien nichts weiter als die Resultate von Erziehung und Vorhildhaftigkeit. Hiergegen hringt Hartmann ein, daß doch die Auswahl eines Vorhildes, worin sich ein moralisches Werturteil aus­ drücke, hereits unter Wertgesichtspunkten geschehen muß. Was Hartmann dem Kritiker zugesteht, ist dies, daß die hehauptete Apriorität der Werte gleichsam in der Luft schweht. Dies lasse sich aher prinzipiell nicht hehehen, da, anders als von der Kantischen 3 Vgl. z.B. Walter Blumenthal, Die Grundlagen der Ethik Nicolai Hartmanns, S. 9f. 4 Für Näheres siehe auch Johannes Noshüsch: Nicolai Hartmanns Lehre vom idealen Sein. ^

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Kategorienlehre her bekannt, keine transzendentale Deduktion möglich ist, mittels deren den Werten Objektivität zu sichern wäre. Kant war in der Lage, den a priori gegebenen Kategorien dadurch Objektivität zu sichern, daß er auf theoretischem Gebiet ihre Bezogenheit auf aposteriorische Gegebenheiten aufwies. Auf dem Gebiet der Ethik ist derlei nicht möglich, weil eine Nichtübereinstimmung der Wirklichkeit - des Realen - mit den ideal ansichseienden und laut Hartmann - a priori gegenwärtigen Werten (als den Kategorien des Ethischen gleichsam) kein Einspruch gegen ihren a priori-Charakter ist. Die Aufgabe, sich der Schau der ideal ansichseienden und also nichtsubjektiven Werte als einer objektiven zu versichern, ist nach Hartmann eine schwierigere Aufgabe als die entsprechende auf dem Gebiet theoretischer Erkenntnis. Was Hartmann für die Möglichkeit einer objektiven Wertschau a priori anzuführen weiß, ist im Grunde nur dieses, daß moralische Werturteile stets unter Wertgesichtspunkten stehen, die Werte also für die moralische Ur­ teilsfähigkeit bereits vorauszusetzen sind (für die Bestreitung des ethischen Subjektivismus vgl. E 126 f., 130, 155, 239 f.). Als klassischer Ethiker ist Hartmann von einem Ansichsein der Werte überzeugt, wobei es sich allerdings nicht wie bei Jonas um ein reales, sondern um ein ideales Ansichsein der Werte handeln soll. Bezüglich seiner Behauptung eines idealen Ansichseins der Werte hatte Hartmann einerseits dem Einwand von der Subjektivität alles Idealen entgegenzutreten. Ein weiterer Einwand könnte lauten, daß mit dem idealen Sein, und insbesondere mit der Sphäre der Werte als einem Teil des idealen Seins, wie in der platonischen Ideenlehre ein Höchstes etabliert werden soll, dem gegenüber die Realität nur von minderer Dignität wäre. Zunächst scheint der unmittelbare Vergleich mit Platon berechtigt, zumal da Hartmann ihn gelegentlich zu stützen scheint durch Bemerkungen wie: »Werte sind der Seinsweise nach platonische Ideen« (E 121). Eine Gleichsetzung mit der Ideen­ lehre Platons kommt jedoch nicht in Frage, wenn man Hartmanns weitergehende Charakterisierung idealen Seins berücksichtigt. Er di­ stanziert sich ausdrücklich vom traditionellen Pathos, mit welchem philosophisches Denken sich auf das ideale Sein gerichtet hat: Seine »Vollkommenheit ist mit Unvollständigkeit bezahlt; ideales Sein ist ein unvollständiges Sein, ein im bloß Allgemeinen verharrendes, im Verhältnis zum Realen nicht das höhere, sondern das niedere Sein ... Die Platonische Philosophie war zur guten Hälfte Anbetung ... Die Ontologie aber . muß den Nimbus herabreißen, muß das ideale 296

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Sein entschleiern, es anschauen, wie es ohne menschliche Idealisie­ rung an sich ist.«5 Als klassischer Ethiker vertritt Hartmann also einen objektiven Idealismus, der jedoch höchstens als ein Platonis­ mus mit umgekehrten Vorzeichen zu bestimmen wäre. Hartmann ist Wertplatoniker, aber es zeichnet sich hier ab, daß er nicht wie Jonas oder Hösle würde sagen können, es gebe eine Idee des Men­ schen, von der gilt, daß die Anwesenheit ihrer Verkörperungen in der Welt ethisch obligatorisch ist oder daß ihr ein Anspruch auf Ver­ körperung auch in künftigen Generationen zukommt. Überhaupt geht Hartmanns Hypostasierung von Ideen nicht so weit, daß er eine Idee des Menschen annehmen würde. Nichtsdestoweniger wird er sich als Wertplatoniker zur Begründung menschheitlichen Seinsollens nicht an die selbstgesetzte Vorgabe einer Metaphysik in stren­ gen kritischen Grenzen halten können. Hartmanns Abwehr richtet sich insbesondere gegen eine Meta­ physik der Zwecke. Ist bei Jonas das reale Ansichsein der Werte an eine Teleologie des Realen gebunden, so wird sie von Hartmann um der ethischen Substanz des Menschen willen abgelehnt. Die Ei­ gentümlichkeit des gegenseitigen Verhältnisses von Jonas und Hart­ mann ist getragen von einer großen Übereinstimmung im Bestreben, dem modernen Menschen eine metaphysische Heimat wiederzuge­ ben, bei einem gleichzeitigen Auseinandergehen in der Wahl der phi­ losophischen Mittel für die Durchführung dieser Aufgabe. Beide Denker suchen für den Menschen eine Außenverankerung, mit Blick auf die sie für das Dasein von Menschen in der Welt plädieren. Wäh­ rend Jonas - jedenfalls dort, wo er als Ontologe und nicht als Vertre­ ter philosophischer Theologie argumentiert - die menschheitliche Außenverankerung im realen Sein zu finden glaubt, meint Hart­ mann sie im idealen Sein finden zu können. Während Jonas uns den Spruch der Natur hören lehren will, des Realen, das wertvoll ist, weil zweckhaft, lehnt Hartmann eine Teleologie des realen Seins gerade deswegen ab, um den Daseinsgrund des Menschen nicht zu gefähr­ den, um ihn philosophisch im All nicht überflüssig zu machen. Hartmann erkennt in der Annahme einer Teleologie im Realen (was bei ihm soviel heißt wie: das Vorhandensein von teleologischer 5 Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, S. 344; siehe ähnlich Neue Wege der On­ tologie, S. 22 f. Der etwa von Weischedel gegen Hartmann erhobene Vorwurf, er ver­ trete eine platonisierende Wertethik, ist also nur bedingt stichhaltig, vgl. Weischedel, Skeptische Ethik, S. 71-74. ^

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Determination und damit von Zwecktätigkeit) eine metaphysische Vermenschlichung des Alls, die für ihn der moralischen Vernichtung des Menschen gleichkommt (vgl. E 206, 663). Ähnlich wie später Topitsch, sieht er in dem Umstand, daß die philosophischen Systeme die Zweckkategorie zu einer ontologischen und speziell zu einer Katego­ rie der Natur gemacht haben, ein Fortwirken der mythischen forma mentis. Dies insofern, als ein Grundzug mythischen Denkens darin besteht, hinter auffallenden Naturerscheinungen zwecktätige Kräfte zu vermuten ( vgl. E. 200; zu Topitsch s. o. Kapitel 1.2). Eine Weltsicht wie diejenige Jonas', derzufolge Zweck schon in den niedersten Region des Seins beheimatet ist und im Weltprozeß kontinuierlich zum Menschen hinführt, beinhaltet für Hartmann »eine Verkennung des Menschen in seiner kosmischen Stellung.« (E 168) Und nicht nur dies. Wo Werte sich teleologisch selbst reali­ sieren, bleibt der Mensch als Vermittler zwischen der idealen Wert­ sphäre und dem realen Sein ausgeschaltet: »Er ist überflüssig« (E 168 f.). Für Hartmann ist das Seinsollen von Menschen überhaupt nur dann aussprechbar, wenn er die alleinige Instanz im All ist6, durch die das ideale Ansichsein der Werte im Realen realisiert wer­ den kann. Eine teleologische Denkmuster beanspruchende Lehre von der Art der Jonasschen betreibt nach Hartmann geradezu die meta­ physische Aufhebung menschheitlichen Seinsollens. Die Ablehnung sowohl eines subjektiven Status der Werte als auch ihres realen Ansichseins, Hartmanns Rede von idealen Ansichsein der Werte, erfordert nun eine genauere Klärung ihres ontologi­ schen Status. Werte seien »ursprünglich Gebilde einer ethisch idea­ len Sphäre, eines Reiches mit eigenen Strukturen, eigenen Gesetzen, eigener Ordnung« (E 151); dies besagt, »daß es ein an sich bestehen­ des Reich der Werte gibt, einen echten kosmos noetos ...« (E 156) Ihrer Seinsweise nach seien Werte platonische Ideen, als welche sie weder den Dingen oder dem Subjekt entstammen noch durch Ab­ straktion aus realen Verhältnissen gewonnen werden (vgl. E 121). Ferner heißt es über die Werte: »Die Apriorität des Wissens um sie ist keine intellektuale, reflexive, sondern eine emotionale, intuitive.« (E 121) Der Zugang zu den Werten muß demnach ein anderer sein als der zu den Gegenständen theoretischer Erkenntnis. Den offensichtlichen Schwierigkeiten, das ideale Ansichsein der 6 Problematisch ist hier, daß Hartmann die Existenz von extraterrestrischer Intelligenz nicht ausschließt, siehe E 10, 182, 206, Der Aufbau der realen Welt 476. 298

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Werte in seinem ontologischen Status näher zu bestimmen, begegnet Hartmann mit einem verallgemeinernden Hinweis auf das reale Sein, durch den er die Schwierigkeit auf eine höhere Problemebene befördert und die Aufgabe einer Auflösung weitergibt. Er sagt näm­ lich, es komme »nicht auf eine metaphysische Bestimmung an, was ideales Ansichsein eigentlich ist. Es ist so unmöglich diese Bestim­ mung zu geben, wie es unmöglich ist, metaphysisch zu bestimmen, was reales Ansichsein ist.« (E 153) Letztere Bemerkung ist freilich nur dann zutreffend, wenn man die Welt als Natur begreift und es außer Frage läßt, ob sie nicht vielleicht als Schöpfung aufgefaßt wer­ den sollte. Unter seiner Voraussetzung jedenfalls vermag Hartmann sich durch Weitergabe der Frage einer erheblichen systematischen Schwierigkeit zu entledigen. Die Frage würde nur dann virulent und auf ihn zurückfallen, falls jemandem eine metaphysische Bestim­ mung realen Ansichseins, der Welt als Natur, gelänge. Eine andere Schwierigkeit liegt darin, daß mit Hartmanns Beanspruchung idea­ len Ansichseins die Einheit der Welt auseinanderzufallen droht in nebeneinanderbestehende separate Welten. Was die Seinslehre Hartmanns auszeichnet, ist der Versuch, Einheit der Welt und Zweiheit der Seinsweisen zusammenzudenken. Hier ist der Vorwurf laut geworden, mit dem Idealen schwebe ein ansichseiendes Allgemeines bar jeglicher ontologischen Verankerung gleichsam im luftleeren Raum; und ein solches ideales Gebilde könne doch nur in einem Geist - als Gedachtes - Bestand haben.7 Eine sol­ che Kritik antizipierend, zitierten wir Hartmann bereits dahin­ gehend, es sei doch auch für reales Ansichsein unmöglich, metaphy­ sisch zu bestimmen, was es sei. Diese Antwort auf die Frage nach dem Einheitscharakter einer in zwei Seinsweisen zerfallenden Welt scheint unbefriedigend. In der Tat lassen sich Hartmanns Ausfüh­ rungen aber noch weitergehende Antworten entnehmen. Was gelei­ stet werden muß, um den Einheitscharakter der Welt trotz zweier Seinsweisen zu wahren, ist dies, eine Art Bezogenheit oder Entspre­ chung beider Seinsweisen in der einen Welt aufzuweisen. Hartmanns überzeugendste Ausführungen zum Einheitscharakter weisen ihn wiederum als einen Vertreter des objektiven Idealismus in einer Linie mit Platon und Hegel aus, wenn er zwischen idealem und realem Ansichsein ein charakteristisches Wesensverhältnis annimmt: »die 7 Siehe die Kritik von Johannes Nosbüsch, in: Nicolai Hartmanns Lehre vom idealen Sein, S. 247. ^

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Struktur des idealen Ansichsein kehrt in der des realen wieder ... so weit, daß die apriorische Erkenntnis des idealen Seins zugleich eine innere Grundlage aller Realerkenntnis ausmacht.« (E 150) Wenn Werte der idealen Sphäre angehören, so stellt sich die Frage, wie der Mensch als durchgängig reales Wesen (Hartmanns Ontologie zeichnet sich durch das Bemühen aus, den Realcharakter gerade auch von Seelischem und Geistigem auszuweisen) die ansichseienden idealen Werte erfahren kann. Ist in diesem Zusammenhang Hartmanns Rede von der Wertschau, der ein Wertorgan des Men­ schen korrespondiere, bereits problematisch, so mißlingt ihm der Versuch völlig, in der Frage einer Aktivität oder Passivität der Werte Klarheit zu schaffen. Das ideale Ansichsein der Werte wirft die Frage auf, wie denn der Mensch von ihnen Kenntnis haben könne. Wie kann der Mensch Kenntnis von den Werten haben, wenn diese weder etwas Materielles noch etwas (Inter-)Subjektives sind? Worin liegt der Nexus, die Ver­ bindungsstelle in der Welt, an der Reales und Ideales aneinander­ grenzen oder -stoßen. Hartmann steht hier vor einem ähnlichen Pro­ blem wie Descartes, da dieser sich die Frage gefallen lassen muß, wie denn die Einflußnahme des Körpers auf die Seele zu denken sein soll und umgekehrt. Um diesen Konnex vorstellbar zu machen, führt Hartmann zunächst einen Vergleich des theoretischen mit dem prak­ tischen Subjekt herbei. Während ersteres es nur zu einer wie immer unvollkommenen Spiegelung des Seins bringe, wirke letzteres for­ mend als ein »Weltschöpfer im Kleinen. Was es formt, ... ist nicht sein Erzeugtes, sondern sein Erlauschtes aus einer anderen Welt, für die es das vernehmende Organ hat.« (E 181) Auffallend an dieser Stelle ist, daß Hartmann nun plötzlich doch von einer anderen Welt spricht. Das Zusammendenken einer Zweiheit der Seinsweisen bei gleichzeitiger Einheit der Welt, welches gefordert ist, um die Seins­ lehre metaphysisch nicht übermäßig zu belasten und mit dem selbstverordneten Minimum an Metaphysik (siehe z. B. E 170) auskom­ men zu können, wird hier dem Wortlaut nach suspendiert, wo Hartmann von einer »anderen Welt« spricht. Doch selbst wenn man sich bei dieser Unstimmigkeit nicht weiter aufhält, muß Hartmann ein gehöriges Maß an metaphysischer Spekulation aufbringen, um dem Menschen einen Zugang zur idealen Seinsweise zu sichern. Er tut dies zunächst in der Weise, daß er dem Menschen ein ver­ nehmendes Organ zuspricht. Ja, ein Ziel der Ethik soll gerade in der Bildung des »Wertorgans« (E 12) liegen. 300

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Wird bereits an der Rede von der Wertschau und einem ihr kor­ respondierenden Organ deutlich, daß die Konzeption von Wert eines der größten Probleme für die Durchführung einer materialen Wert­ ethik darstellen muß, so wird der Problemgehalt noch gesteigert durch Hartmanns Unentschiedenheit in der Frage einer Aktivität der Werte. Bald wird der Mensch von ihnen ergriffen, da sie zu de­ terminieren vermögen; dann wieder soll dies nicht der Fall sein können. Mit dem Phänomen der Wertschau wird behauptet, der Mensch habe Zugang zur Seinsweise idealen Ansichseins, zu der die Werte gehören. Das Problem des Zugangs wird von Hartmann durch das Setzen des Wortes »Wertschau«, dem ein »Wertorgan« korre­ spondiere, eher verschoben denn gelöst. Denn wie soll man sich den Zusammenhang zwischen dem Menschen als einem Wesen der rea­ len Sphäre und den Werten der idealen Sphäre vorstellen? Es müßte hierzu irgendeine Art von Kausalität gedacht werden. Nun kommen aber weder materielle noch energetische Berührungskausalität zwi­ schen zwei separaten Seinsweisen in Frage. Zwar wird von Hartmann ein Hereinragen eines Realen (des Menschen) in das Ideale behaup­ tet. Da es sich aber nun beim Idealen um ein immaterielles Reich mit eigenen Strukturen, eigenen Gesetzen und eigener Ordnung handeln soll, bleibt schlichtweg unvorstellbar, wie der Mensch vom Idealen Kunde sollte haben können. Es würde hier auch nichts helfen, son­ dern das Problem nur verschieben, wenn man sagte, das Wertorgan selbst gehöre schon dem Idealen an. In seinem Werk »Das Problem des geistigen Seins« beschreibt Hartmann, ähnlich wie vor ihm Kant, den Menschen als einen Bür­ ger zweier Welten zugleich. Da er allein über die »Realenergie der Zwecktätigkeit« verfüge, sei es an ihm, beide Welten zu vereinen.8 Ein Aufstieg vom Realen, dem der Mensch nach Hartmann doch ent­ stammt, in das Ideale scheint nicht möglich. Aber Hartmann denkt offenbar auch an den umgekehrten Weg - an eine Tendenz vom idea­ len Sein der Werte hin zum Menschen. Seine Rede von einer Wert­ schau mittels Wertorgans evoziert das Bild eines Hineinragens des Menschen in das ideale Sein. Er nimmt indes an diesem Bild eine Korrektur vor und will es wohl anders verstanden wissen: »Das Wertgefühl des Menschen ist das Hineinragen des lebenden Geistes in die andere Welt; oder richtiger wohl umgekehrt, das Hereinragen dieser anderen, an sich idealen und gegen das Reale indifferenten 8 Vgl. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 160f. ^

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Welt in die reale Welt.«9 Nur nebenbei sei bemerkt, daß Hartmann an dieser Stelle das Ideale wiederum nicht nur als andere Seinsweise, sondern darüber hinausgehend als eine andere Welt vorstellt. Ein Grundzug der Hartmannschen Wertethik liegt darin, daß die Werte in ihrem Ansichsein gänzlich indifferent gegen ihre Ver­ wirklichung sein sollen. Hatte Hartmann in diesem Sinne im obigen Zitat die ideale Sphäre der Werte als indifferent gegen die reale Welt beschrieben, so meint er doch gleichzeitig, »diese Unabhängigkeit bedeutet keine Indifferenz gegen Wirklichkeit und Unwirklichkeit.« (E 145) Den Werten wird jetzt sogar eine ganz eigene Art zugeschrie­ ben, das Wertwidrige zu verneinen; diese Verneinung soll sein »ein Nichtanerkennen trotz seiner Wirklichkeit« (E 145). Hier stellt sich die Frage, ob Hartmann das selbstauferlegte Mi­ nimum an kritischer Metaphysik nicht längst überschritten hat. Mit Gewißheit ist dieses Minimum überschritten, wenn er schreibt, es gehöre zum Wesen der Prinzipien des Ethos, daß die Werte »die Sphäre der Wesenheiten und des idealen Ansichseins transzendieren und in die fluktuierende Welt der ethischen Akte eingreifen.« (E 163, meine Herv.) Plötzlich finden wir die Werte mit einer an Drieschs Entelechien gemahnenden Energie ausgestattet. Stand Hartmann zu­ nächst nur vor der Schwierigkeit, die Werte ontologisch auszuwei­ sen, und konnte er sich dieser Schwierigkeit durch die Gegenfrage entledigen, wie es denn um die ontologische Ausgewiesenheit des realen Ansichseins bestellt sei, so hat er die idealen Werte inzwischen so sehr mit Realität angereichert, daß sie aus dem Reich idealen Ansichseins herauszufallen drohen. An idealen Entitäten kann aber ideales Ansichsein nicht neben der Fähigkeit zur Determination und zum dynamischen Eingriff in die Realität bestehen. Und im folgenden stellt Hartmann sich sogar ungewollt doch noch in die Nähe jener teleologischen Metaphysiken des Wertes, die er scharf kritisiert hatte. Denn jetzt erhalten Werte determinierende Kraft. Dabei sei zwar die determinierende Kraft der Werte schwächer als diejenige der Kategorien des Realen, dennoch aber wird sie von Hartmann positiv vermerkt: »Kategorien beherrschen das Seiende widerstandslos ... Werte dagegen ... müssen sich gegen eine schon vorhandene Geformtheit durchsetzen ... Sie sind in einem anderen und eigentlicheren Sinne schöpferische Prinzipien. Sie können auch das Nichtseiende ins Seiende umsetzen. Die generatio ex nihilo, die 9 Ebd. 302

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sonst auf allen Gebieten des Seins ein Ding der Unmöglichkeit ist, hier ist sie möglich.« (E 165) Natürlich will Hartmann hiermit nicht sagen, die Werte würden aus eigenem Vermögen in das Reale ein­ greifen. Dies vermögen sie nur über den Menschen als ihren Mittler, da allein dieser das für die Wertschau empfängliche Organ habe, wo­ nach Werte also nur mittelbar, über die menschliche Aktsphäre dazu gelangen können, das Reale mit zu gestalten (vgl. E 166). Zum Wi­ derspruch reizt indes schon, daß Hartmann den Werten überhaupt determinative Kraft zuschreibt. Einerseits, so Hartmann, sei es gebo­ ten, die Metaphysik der sich in der Ethik abzeichnenden Perspektive vom Menschen als dem Verwalter des Idealen »in streng kritischen Grenzen zu halten« (E 170). In Übereinstimmung mit diesem Gebot heißt es bei Hartmann zunächst: »Das Sein der Werte als ideales ist gleichgültig gegen reales Sein und Nichtsein.« (E 171) Nichtsdesto­ trotz findet sich bei Hartmann eine Reifikation der Werte, die die selbstgesetzten kritischen Grenzen zweifelsohne verläßt. Denn er widerruft das Gleichgültigsein der Werte gegen ihre Realisierung im gleichen Atemzug: »Und wiederum ist eben dieses ihr ideales Sein auch nicht gleichgültig gegen reales Sein und Nichtsein. Das ideale Seinsollen an ihnen schließt die Tendenz auf Realität ein; es bejaht sie, wo sie besteht, intendiert sie, wo sie nicht herrscht. Es transzen­ diert die Idealität.« (E 172) Schließlich faßt Hartmann mit Bezug auf die Werte die »Idee ihrer kategorialen Transzendenz, ihres Durch­ brechens aus dem Idealen ins Reale.« (Ebd.) All dies verlangt jedoch, so ist gegen Hartmann einzuwenden, nach einem energetischen Moment an den Werten, welches ihnen doch kraft ihrer Idealität zugleich abgesprochen werden muß. Ihm selbst zufolge hat ja das Sollen von sich aus keine Seinsenergie (vgl. E. 180). Die für den Umsatz des Idealen in das Reale notwendige Realenergie finde sich nur im Menschen. Dort, wo er geneigt ist, den Werten determinative Kraft zuzuschreiben, wo er ideale Gebilde als »reale Mächte« (E 177) vorstellt und über das Ideale meint, »in ihm drängt etwas über die Sphäre hinaus zum Realen ...« (E 173), müßte er gleichsam von einer idealen Energie ausgehen; von einer idealen Energie, die sich an einer Umbruchsstelle am Menschen in reale Energie umsetzt, was ganz unmöglich scheint. Wie sonst aber sollten wir es verstehen, wenn es heißt, daß das ideale Prinzip »ein­ greift in die Indifferenz des Realen, indem es Macht gewinnt über eines seiner Gebilde«? (E 182) Halten wir fest, daß für Hartmann von den Werten eine - wenn ^

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auch gebrochene - das moralische Subjekt tangierende Determinati­ on ausgeht. Da das in der idealen Wertsphäre zu verortende Sollen von sich aus keine Seinsenergie hat, bedarf es eines realen Gebildes, des Menschen, »das ihm seine Seinsenergie darbietet, das sich mit­ samt dieser seiner Energie von ihm leiten läßt. Es braucht diese frem­ de Energie eines Seienden, weil es auf den Widerstand des Realen, seine ontologische Determination stößt.« (E 180) Am Funktionieren eines Radioapparates kann man sich den von Hartmann intendierten Zusammenhang in etwa veranschaulichen: Die ungreifbaren und doch allgegenwärtigen, die Information (das Sollen) enthaltenden elektromagnetischen Wellen (ideales Ansichsein) fallen energetisch (determinativ) nicht ins Gewicht. Sie sind nicht in der Lage, beliebi­ ges Seiendes so zu affizieren, daß der Informationsgehalt der Radio­ wellen ertönen, in der Welt vernommen und womöglich in Taten umgesetzt werden kann. Diese Umsetzung der elektromagnetischen Wellen in Töne ist nur an besonderen Entitäten des Realen möglich, an Radios. Wobei es sich so verhält, daß die Radiowellen die ungleich größere elektrische Energie (Seinsenergie), mit der das Radio ge­ speist wird, gleichsam in Form bringen. Die Radiowellen vermögen es nicht, irgendeine Komponente des Radios oder sonstiger Materie ihrem Informationsgehalt gemäß zu verändern. Und doch können sie verändernd in die Welt eingreifen, dann nämlich, wenn die Botschaf­ ten der Sendestation von einem Radio empfangen und von einem Hörer vernommen werden. Unabdingbar hierfür ist wiederum, daß das Radio überhaupt auf Empfang, also angeschaltet ist. Auch hierfür gibt es bei Hartmann eine Entsprechung: Der Mensch vermag es, den Ruf des Idealen zu vernehmen, und zwar er allein unter allem be­ kannten Seienden. »Das übrige Seiende ist dumpf und stumpf gegen den Ruf des Idealen.« (E 178) In der Rede vom Ruf des Idealen wird noch deutlicher, welche Stellung im Kosmos Hartmann dem Menschen zudenkt. Wie bei Jo­ nas gilt er als ein Wesen, das sich einer unabhängig von ihm beste­ henden Forderung ausgesetzt sieht, ohne jedoch insoweit ihr Folge leisten zu müssen, daß er nicht Nein sagen könnte. Am oder über das Wertgefühl des Menschen rage das Ideale in die reale Welt hin­ ein, innerhalb derer einzig der Mensch für es empfänglich sei: »Er >vernimmt< den Ruf ... Er ist der berufene Mittler der Werte in der realen Welt.«10 Bei Hartmann ergeht an den Menschen der Ruf des 10 Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 160. 304

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Idealen, während es hei Jonas der Spruch des Realen ist, dem der Mensch Folge leisten soll. Ähnlich wie hei Jonas, gilt Hartmann das Vernommene als ein dem Menschen anvertrautes Gut (vgl. E 181). Damit sind die für Hartmanns Ontologie menschheitlichen Seinsollens wesentlichen Bestandsstücke zusammengestellt, doch soll das demiurgische Moment noch näher herausgearheitet werden. Wiederum wie hei Jonas, ist das Neinsagenkönnen gegenüber der das menschliche Wertempfinden erreichenden Instanz konstitu­ tiv für die Möglichkeit, dem Menschen Verantwortung und Freiheit zuschreiben zu dürfen. Hartmann legt großen Wert darauf, zu beto­ nen, daß das moralische Subjekt zwar durch ideale Werte affiziert wird, daß jedoch von den Werten keine derartige axiologische Deter­ mination ausgeht, daß die wertbestimmten Akte des Menschen unter Werten stünden, wie die Dinge der Natur unter Naturgesetzen. Im Falle einer gleichsam automatischen Vermittlung der axiologischen Determination reduzierte sich der Mensch auf ein eindimensional kausal determiniertes Wesen und ginge seiner Personalität verlustig. Gerade die nur gebrochene und nicht automatische Vermittlung der axiologischen Determination steht nach Hartmann nicht bloß für Personalität ein, sondern ist zugleich konstitutiv für die Möglichkeit von Verantwortung (vgl. E 188).11 Um die Bewahrung von Verantwortung im All geht es auch Jo­ nas. Aber Hartmann zufolge vertrüge sich eine Ontologie vom Typus derjenigen Jonas' nicht mit menschlicher Verantwortung. Hier ist die Frage aufzuwerfen, ob Hartmann in seiner Verwerfung teleologi­ schen Denkens, und hier insbesondere mit seiner Verwerfung einer teleologischen Metaphysik des Wertes, hinreichend Umsicht hat wal­ ten lassen, um eine teleologische Ontologie wie diejenige Jonas' tat­ sächlich kritisch vorwegzunehmen. Fragen wir also, ob Jonas von dem betroffen ist, was Hartmann zum Pantheismus ausführt: »Der Mensch ist hier metaphysisch aller Verantwortung und Zurechnung überhoben ... Er kann im Weltprozeß wohl Träger, auch Verwirklicher gewisser Werte sein ... Die Verwirklichung, die von ihm aus­ 11 Diesbezüglich heißt es ferner, der Mensch sei, »wiewohl er das einzige Wesen ist, das die Sollenstendenz an das Leben vermittelt, dennoch ein höchst unvollkommener Ver­ mittler. Ein Automat - wenn es ihn für solche Funktion geben könnte - wäre vollkom­ mener. Aber solche Vollkommenheit ist nicht Sittlichkeit, sondern einfach Nützlichkeit ... Gerade die Unvollkommenheit des Menschen im Hinblick auf die große Aufgabe, die ihm in der Welt zufällt, ist seine Überlegenheit. Denn so allein ist er sittliches Wesen: die Unvollkommenheit ist seine Freiheit.« (E 567f.) ^

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geht, ist nicht sein Werk, sondern das eines durch ihn hindurch­ gehenden, nicht erst von ihm gewollten und gewählten teleologi­ schen Prozesses.« (E 204) An dieser Stelle zeigt sich in der Tat, daß Hartmann in seiner Kritik teleologischen Denkens mindestens einen möglichen Zusammenhang zwischen Teleologie und Ethik kritisch nicht antizipiert hat; nämlich denjenigen der Jonasschen Ontologie menschheitlichen Seinsollens. In ihr geht der teleologische Prozeß eben nicht durch den Menschen hindurch, sondern ist im Menschen gefährdet; er muß den Menschen vielmehr passieren, als daß er un­ behindert durch ihn hindurchgehen würde, und er kann schließlich am Menschen scheitern und zum Abbruch kommen. Ist der Mensch bei Heidegger der Hirte und bei Jonas der Hüter des Seins, so konzeptualisiert Hartmann ihn als den Verwalter idea­ len Sollens als eines metaphysischen Gutes. Diese Verwalterrolle ist näher besehen diejenige eines Mittlers zwischen den beiden Seins­ weisen. Der Mensch verwaltet die der idealen Seinssphäre angehö­ renden Werte und realisiert sie im realen Sein. Damit nimmt der Mensch insofern eine einzigartige Stelle im Kosmos ein, als nur er ideales Sein in reales zu transponieren und in ihm auszudrücken ver­ mag. Bei Hartmann verwaltet der Mensch also nicht das Sein über­ haupt, sondern nur das ideale, welches ohne ihn gleichsam hilflos wäre. Der Mensch ist die schwankende Brücke, der dünne Steg, der Ideales mit Realem verbindet. Der Mensch, so wurde bisher ersichtlich, gilt Hartmann als der Vermittler der höheren Werte an die reale Welt (vgl. z. B. E 170). Das Subjekt mit seiner Eigengesetzlichkeit sei eingeschaltet in den meta­ physischen Nexus zwischen Idealem und Realem. In Gestalt des Mo­ ments denkbarer Veruntreuung des metaphysischen Gutes findet sich ein weiteres Bestandsstück der Jonasschen Ontologie menschheitlichen Seinsollens mit ähnlichen Worten, nur eben transponiert vom realen Sein ins ideale, bei Hartmann wieder: »Das sittliche Sub­ jekt ist der Verwalter des Sollens in der Welt. Es ist nicht unbedingt ein getreuer Verwalter dieses metaphysischen Gutes, es kann es auch veruntreuen.«12 Späteres vorwegnehmend, sei schon einmal die sich aufdrängende Frage ausgesprochen, für welche Instanz denn die Ver­ untreuung des metaphysischen Gutes abträglich sein sollte. Dies­ 12 E 181. Ähnlich ist in »Das Problem des geistigen Seins« davon die Rede, als der be­ rufene Mittler der Werte in der realen Welt stehe der Mensch stets vor der Möglichkeit zum »Versagen vor dem eigenen Weltberuf«, a.a.O., S. 161. 306

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bezüglich werden wir weiter unten sehen, daß Hartmanns Metaphy­ sik der Werte nicht das Maß an ethischer Relevanz menschheitlichen Seinsollens bereitzustellen vermag, welches seine demiurgische Me­ taphorik vom Menschen als Mitbildner des Seins unterstellt. Anders gesagt: Sollte das Ausscheiden des Menschen aus dem Weltprozeß in dieser demiurgischen Metaphysik ethisch relevant sein, so müßten die Werte letztlich nicht bloß als Surrogate Gottes, sondern als ein vollständiges Äquivalent für das höchste Wesen aufgefaßt werden können. Halten wir im Versuch, Hartmanns Ontologie menschheitlichen Seinsollens zu rekonstruieren, kurz inne. Nachdem einige hierfür unabdingbare Bestandsstücke der Hartmannschen Seinslehre kri­ tisch vorgestellt wurden, insbesondere sein Zusammendenken von »Einheit der Welt« und »Zweiheit der Seinsweisen«, sowie seine Lehre vom idealen Ansichsein und der determinativen Kraft der Wer­ te, sahen wir ihn bislang dem Menschen eine Stellung im Kosmos zusprechen, die so lange einzigartig bleiben wird, bis wir Kunde von anderen Vernunftwesen im All erhalten: Ohne den Menschen würde keine Transponierung idealer Werte in reales Sein mehr stattfinden können. In dieser Einzigartigkeit liegt das Seinsollen von Menschen. Etwas am Weltprozeß würde unwiderruflich abgeschnitten, ver­ schwände der Mensch aus ihm. Bestrebt, dem Menschen seine in der Moderne leichtfertig aufs Spiel gesetzte metaphysische Heimat wiederzugeben, gegen die empfundene Überflüssigkeit des Men­ schen im All anphilosophierend, erläutert Hartmann die Einzigartig­ keit des Menschen in einem nächsten Schritt als die dem Menschen als medialem Wesen vorbehaltene Aufgabe: »Eine Aufgabe des Men­ schen in der Welt ... ist nur möglich, wenn es Werte gibt, die ohne sein Zutun irreal bleiben.« (E 169) Schwer zu vermitteln ist dem, daß Hartmann nicht nur von einer Gleichgültigkeit der Werte gegen ihre Realisation gesprochen hat, sondern auch davon, daß der Mensch selbst gar kein Seinsollen­ des ist. Seiner Wertethik gemäß, gilt ihm das moralische Subjekt nicht als der Ursprung des Sollens im realen Sein, sondern nur als »der Punkt seines Auftauchens im Realen, der Punkt seines (des Sol­ lens, KA) metaphysischen Umsatzes - aus einer bloß idealen in eine reale Macht.« (E 178) An dieser Stelle wird offenbar, daß eine Onto­ logie menschheitlichen Seinsollens kein absolutes Seinsollen von Menschen aussprechen kann, sondern immer nur ein Seinsollen um eines anderen willen. Wie nach Jonas als Hüter des Seins, so soll er ^

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bei Hartmann sein als Diener oder Transmissionsriemen der Werte. In der Tat befindet Hartmann über das moralische Subjekt: »Es selbst ist kein Seinsollendes.«13 Wir müssen versuchen, aus weiteren Aus­ führungen Hartmanns zu erschließen, wie diese Bemerkung zu ver­ stehen ist. Sie kann einerseits bedeuten, daß der Mensch in der Welt eben doch überflüssig ist14; oder sie kann beinhalten, daß dem Men­ schen immerhin ein sekundäres Seinsollen zukommt, um eines an­ deren, nämlich der Werte willen. Das Seinsollen des Menschen bestünde dann darin, daß er allein »den metaphysischen Konnex mit der Welt der Werte« (E 178) hat. Der Mensch erschiene als der »Angelpunkt des Seinsollens im realen Sein« (E 176), ohne jedoch selbst seinsollend zu sein. Wo aber die Werte indifferent gegen ihre Realisierung sein sollen, muß es für den gesamten Weltzusammen­ hang, Ideales und Reales, gleichgültig sein, ob es einen Mittler zwi­ schen den Seinsweisen gibt. Wenn aber Werte nicht gleichgültig ge­ gen ihre Realisierung sind, Belege für diese Auffassung Hartmanns haben wir beigebracht - und wir werden die bisherigen noch um wei­ tere ergänzen - dann kann von einem Seinsollen zumindest irgend­ welcher demiurgischer Vernunftwesen im All die Rede sein. Hartmanns Bestimmung des Menschen als den Verwalter ansichseiender Werte, für die er allein unter allen bekannten Wesen im All ein vernehmendes Organ habe, erklärt, warum er den Men­ schen wesentlich als Demiurgen, als Schöpfer, und nicht wie Jonas als Hüter auffaßt (darauf, daß auch Jonas' Metaphysik ihrer kategorialen Anlage nach ein bei ihm nicht zum Tragen gekommenes demiurgisches Moment hat, wurde oben hingewiesen, siehe 19.13). Wie spä­ ter Steinvorth, vertritt Hartmann als metaphysischer Denker eine demiurgische Metaphysik. Der Mensch wird angesprochen als Demiurg, das heißt als »Gestalter und Mitschöpfer der Welt«15, »Mitbild­ ner des Demiurgen« (E 4) und »Weltschöpfer im Kleinen« (E 181). Hartmann geht in der Tat so weit, zu sagen, der Mensch sei im Un­ terschied zu anderen Wesen, die nicht die Aufgabe vorfinden, ohne 13 E 178. Es sei angemerkt, daß Jasper Blystone in seinem Aufsatz »Nicolai Hartmann's Homo Ontologicus« zu einem sehr viel eindeutigeren, aber nach unseren Darlegungen wohl auch fragwürdigen Resultat gelangt: »For Hartmann it is the task of philosophy to secure the survival of the human species« (Blystone. S. 68) 14 Hartmann: »Am eigentlichen Wertcharakter von etwas ... macht es gar keinen Un­ terschied, ob es Personen gibt, in deren wirklichem Verhalten er realisiert ist oder nicht«, E 151. 15 Hartmann, Teleologisches Denken, S. 115, ähnlich E 4. 308

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ihr Zutun irreal bleibende Werte zu realisieren, »Mitschöpfer im Schöpfungsprozeß« (E 169). Der Mensch habe »mitzuwirken in der Werkstatt der Wirklichkeit« (E 4). Bei einem Denker von der Reflektiertheit Hartmanns gibt der doch recht häufige Gebrauch dieser Ausdrücke zu denken. Handelt es sich um bloße Metaphern? Ist Hartmann letztlich der Auffassung gewesen, daß man das Wesen und eine Bestimmung oder Aufgabe des Menschen ohne sinnstiftende Metaphern gar nicht ausdrücken kann, wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem Blu­ menberg es gesehen hat? Nachdem die Welt nicht mehr als eine Mit­ teilung des Schöpfers an seine Kreaturen begriffen werden konnte, die Metaphorik der Welt als Buch ausgespielt hatte16, mußte eine andere Metaphorik gefunden werden, die den Absolutismus der Wirklichkeit zu überspielen vermag. Es ist dies bei Hartmann die Metaphorik des Rufes und der Mitarbeiterschaft. Beklagt er einer­ seits den Mangel an »heroischer Metaphysik«17, die es mit dem Um­ stand aufnimmt, daß das Weltall nicht anthropisch ist, so ist er ande­ rerseits doch bemüht, dem Menschen eine metaphysische Heimat zurückzugeben. Unter den Vorgaben seiner Metaphysik läßt sich die­ ses Unterfangen jedoch kaum bewältigen. So scheint es, daß Hart­ mann die demiurgische Metaphorik aufwendet zwecks Überspielung des Umstands, daß seine Metaphysik dem Menschen einen im Grun­ de doch überflüssigen Platz im Kosmos zusprechen muß. Der Mensch als bloßer Vermittler von Werten, die gegen ihre Realisie­ rung indifferent sind, hat keinen rechten Platz im Kosmos. Seine mediale Aufgabe könnte auch unerfüllt bleiben ohne daß dies ethisch relevant wäre. Das Aufgebot des biblisch-schöpferischen und platonisch-demiurgischen Vokabulars erfüllt gleichsam die Funktion, die Haltlosigkeit und das Überflüssigsein des Menschen im All zu über­ spielen. Was sich abzeichnet ist, daß Theorien menschheitlichen Seinsollens offenbar nur schwerlich ohne den im Umkreis des Schöp­ fungsgedankens ausgebildeten Fundus an Vorstellungen auszukom­ men vermögen. Den Menschen als Mitschöpfer und Mitgestalter anzusprechen evoziert freilich die Frage, wessen Mitarbeiter er hier denn sei. Aber einen persönlichen Gott läßt Hartmanns »aufrechte und heroische Metaphysik« eben nicht zu. Ganz im Sinne der Feuer16 Siehe hierzu Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. 17 Hartmann, Teleologisches Denken, S. 134. ^

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bachschen Religionskritik ist er der Überzeugung: »Die Ethik tut und muß das tun - was in den Augen des Frommen Gotteslästerung ist: sie gibt dem Menschen die Attribute der Gottheit.« (E 199) Pro­ blematisch ist hieran offenbar: sobald der Mensch die Attribute der Gottheit in sich aufgesogen hat und Gott kollabiert ist, droht der Mensch selbst überflüssig zu werden, da mit der Gottheit, oder einem Ersatz für sie, menschheitliche Außenverankerung und eine ethisch relevante Vorgefundene Anforderung an den Menschen ver­ loren gehen. Durch die Gottesvorstellungen der Religion oder auch den Gott der Philosophen, den Gottesbegriff der Metaphysik, sieht Hartmann menschliche Autonomie, Freiheit und Verantwortlichkeit bedroht.18 Aber auch wenn er ein Metaphysiker ohne Gott ist, wie er sagt: um die sittliche Substanz des Menschen nicht aufs Spiel zu setzen, so leistet doch sein eigenes Unentschiedensein in der Frage der Werte, das Fluktuieren zwischen ihrer Passivität und Aktivität, einer Identi­ fikation seines Begriffs vom idealen Sein mit den Ideen eines unend­ lichen Verstandes Vorschub.19 Bei dieser Sichtweise würden die Wer­ te wie auch die gesamte Seinsweise des Idealen nicht nur einen festeren ontologischen Ort finden, sondern überhaupt würde erst nach einer Transformation des Idealen in die Ideen des unendlichen Verstandes Gottes Hartmanns Seinslehre für das Seinsollen der Menschheit etwas Substantielles hergeben. Hartmann beschreibt den Menschen als dasjenige Wesen, wel­ ches den Ruf des Idealen zu vernehmen vermag. Als dieses Wesen kommt ihm - wie bei Jonas - das Attribut sehender Freiheit zu. Wie auch bei Jonas sieht sich der Mensch, mit dem Attribut sehender Freiheit ausgestattet, einem menschen-unabhängigen Sollen ge­ genüber. Die nun nochmals aufzunehmende Frage ist, ob es dem idealen Ansichsein der Werte in irgendeiner Weise abträglich wäre, gäbe es keine Menschen mehr. Ohne Menschen wären sie zu ewiger Immanenz verdammt. Nun hat Hartmann großes Gewicht darauf gelegt, ähnlich wie vor ihm Platon20, das Unberührtsein des Idealen 18 Vgl. hierzu den Aufsatz von Aloys Johannes Buch, Begrenztes Problemdenken. Zur Ausschaltung der Gottesfrage in der Metaphysik. 19 Siehe hierzu auch: Johannes Nosbüsch, Nicolai Hartmanns Lehre vom idealen Sein, bes. S. 247 f. 20 Wo Platon im »Symposion« die Idee des Schönen behandelt, erfahren wir über den Status der Ideen im allgemeinen: Wer die Idee des Schönen selbst anschaut, dem wird sie nicht »unter einer Gestalt erscheinen, wie ein Gesicht oder Hände oder sonst etwas, was 310

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vom Realen herauszustellen. Demnach würde seine Ethik aber gar kein Argument gegen ein Verebben der Menschheit beinhalten. Auch hier zeigt sich wieder eine Parallele zu Jonas. Letzterem zufolge spricht aus dem Realen Sein ein Sollen, welches den Menschen zur Permanenz auf Erden verpflichte. Recht besehen aber ist das reale Sein selbst in der Weise, wie Jonas es bestimmt, gleichgültig gegen ein Verebben der Menschheit. Jonas nimmt deshalb einerseits Zu­ flucht zum Gottesgedanken, andererseits verweist er auf so etwas wie eine zu ethischer Relevanz hypostasierte Idee vom Menschen, der wir verpflichtet wären. Für Hartmann finden wir, daß er einerseits nicht müde wird, die Indifferenz des Idealen gegen Reales zu betonen. Stellenweise aber, gar nicht so selten, wird er hierin doch müde. Da ist dann die Rede von einem Transzendieren der Werte auf Reales. Auch wenn die Ethik bei Hartmann - anders als bei Jaspers und Scheler - nicht vor einem philosophisch-theologischen Hintergrund steht, ist man doch geneigt, seiner Wertlehre die Systemstelle eines Substituts für den suspendierten Gottesgedanken zuzuteilen. Am deutlichsten wird die­ se Substituierung dort, wo Hartmann den Werten eine auf das Reale gehende Tendenz zuschreibt, »die kategorial schon geformte Welt, ansetzend an ihren höchsten Gebilden, den personalen Wesen, noch höher hinauf zu formen, sie nach ihrem Bilde, dem Bilde der idealen Wesenheiten, hinauf zu bilden.« (E 168) Hier werden die Werte nicht nur hypostasiert, sondern überdies auch aktiviert. Der Gewinn dieser Hartmannschen Ausdrucksweise ist freilich, daß der Mensch außen­ verankert wird: Der Mensch soll sein und soll werden wie die Werte es ihm vorgeben, weil sonst die Tendenz der Werte verletzt und sie zu ewigem Leerlauf »verurteilt« würden. Für das Seinsollen steht dann zwar nicht die Gottesebenbildlichkeit, aber immerhin die anzu­ strebende Wertebenbildlichkeit ein. Doch kaum haben wir diese In­ terpretation ausgeführt, sehen wir auch schon, wie Hartmann sie da­ durch zunichte zu machen scheint, daß er im Sinne des Ideenbegriffs Platons sagt: »Das Sein der Werte als ideales ist gleichgültig gegen reales Sein und Nichtsein.« (E 171) der Leib an sich hat, noch wie eine Rede oder eine Erkenntnis, noch irgendwo an einem andern seiend, weder an einem einzelnen Lebenden, noch an der Erde, noch am Himmel; sondern an und für und in sich selbst ewig überall dasselbe seiend, alles andere Schöne aber an jenem auf irgendeine solche Weise Anteil habend, daß, wenn auch das andere entsteht und vergeht, jenes doch nie irgendeinen Gewinn oder Schaden davon hat, noch ihm sonst etwas begegnet.« Symposion 211a-b. ^

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Durch das bloße Anführen von Textstellen können wir keine Entscheidung herbeiführen, da Hartmann, wie erinnerlich, die Werte zugleich als »straff realitätsbezogene Prinzipien« (E172) fassen möchte, ihnen »Tendenz auf Realität« zuschreibt, ihr »Gerichtetsein auf die Sphäre des Wirklichen« kennt und die »Idee ihrer kategorialen Transzendenz, ihres Durchbruchs aus dem Idealen ins Reale« (172) vertritt. Wie ist dieser offenkundige Widerspruch zu begreifen? Offenbar bringt Hartmanns Unentschiedenheit sein Empfinden zum Ausdruck, daß für die von ihm gegen den Absolutismus der Wirk­ lichkeit angestrebte ethische Rehabilitierung des Menschen eine in­ differente Sphäre des Idealen unzureichend bliebe. Egon Friedell schreibt einmal, »eine Welt ohne Gott ist nicht nur die unsittlichste, sondern auch die unkomfortabelste, die sich ersinnen läßt. Mit dem Eintritt in die Gegenwart gelangt der Mensch der Neuzeit in den innersten Höllenkreis seines ebenso absurden wie notwendigen Lei­ densweges.«21 Und auch Hartmann sagt: »Niemand erträgt das Leben in einer entwerteten und entheiligten Welt.« (E 9) Gegen die Entwer­ tung der Welt durch die zu »sittlicher Verblendung« und »Wert­ blindheit für alles Wirkliche« führende Sollensethik legte er wie Scheler eine materiale Wertethik vor. Aber ist dadurch, daß der Mensch das Mittlerwesen zwischen Idealem und Realem darstellt, eine Perpetuierung seines absurden Leidensweges gerechtfertigt? Hartmann scheint einer Bejahung dieser Frage zuzuneigen, insofern er ja in der Tat den Mangel an aufrechter und heroischer Metaphysik beklagt hat. Gegen die Entwertung der Welt setzt Hartmann die materiale Wertethik. Was aber bringt er gegen die Entheiligung der Welt ein, die ihm doch ebenfalls eine Perpetuierung des Lebens fragwürdig scheinen läßt? Wir sahen schon, daß er die Indifferenz der Wertsphä­ re nicht durchhalten konnte, daß er es zu einem energetischen Übergreifen des Idealen ins Reale kommen läßt. Insoweit hier Reales durch ihm Transzendentes affiziert wird, ist es vielleicht nicht ganz unangemessen, von einem Substitut für Heiligkeit zu sprechen. Wie aber steht es um ein höchstes Wesen? Anders als bei Scheler der Fall, ist für ihn der Tod Gottes unumstößlich. Und doch führt er den Leser seiner »Grundlegung der Ontologie« einmal in geradezu suggestiver Manier an ein höchstes Wesen, umfassender als das nichts mehr ge­ dacht werden kann, heran. Es geschieht dort, wo er das allgemeine 21 Kulturgeschichte der Neuzeit, S. 940. 312

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Kapitel 20: Der Ruf des Idealen (Hartmann)

Seinsgesetz der verschobenen Identität von Dasein und Sosein erläu­ tert. In der Weise fortlaufend verschobener Identität besagt dieses Gesetz, daß alles Sosein von etwas auch Dasein von etwas ist. So ist das Sosein (die Eigenschaft) eines Blattes das Dasein seiner Rippe; zum Sosein eines Baumes gehört das Dasein dieses Blattes; das So­ sein eines Waldes ist das Dasein jenes Baumes; zum Sosein einer Landschaft gehört das Dasein des Waldes. Diese Verschiebung läßt sich umkehren, dann ist alles Daseiende immer auch Sosein von et­ was. Fahren wir hier in umgekehrter Richtung fort, so ist das Dasein der Landschaft ein Sosein der Erdoberfläche, deren Dasein ein Sosein der Erde. Setzen wir die Reihe fort, so gelangen wir über das Sonnen­ system, die Milchstraße, Galaxienhaufen und deren Systeme von Systemen irgendwann zum Endglied der Welt als Ganzer. »Und von diesem Ganzen läßt sich nicht mehr sagen, daß sein Dasein das So­ sein eines weiteren sei daß es einen Sokrates gegeben hat, ist ein Sosein der Welt. Aber daß es die Welt gibt, ist nicht mehr ein Sosein von etwas. Die Welt wäre anders ohne Sokrates; aber was gibt es noch, das anders wäre ohne die Welt? Offenbar nichts.«22. Mit der Welt als Ganzer ist ein Dasein erreicht, welches nicht mehr als das Sosein von etwas begriffen werden kann, ein, wie Hartmann es nennt, »nacktes Daß«.23 Die Welt als Ganzes könnte freilich als ein Sosein Gottes begriffen werden. Aber diesen Gedanken hat Hart­ mann aus oben angegebenen Gründen nicht ausgesprochen. Er be­ läßt es dabei, den Leser bis an jene Grenze der Seinslehre geführt zu haben, an der sich der Begriff von einem höchsten Wesen wie von selbst einstellt und Ontologie als philosophische Theologie weiter­ zuführen wäre. Während Hartmann so diesseits der Grenze zur phi­ losophischen Theologie stehenbleibt, ist sie vom anderen bedeuten­ den materialen Wertethiker im 20. Jahrhundert, von Max Scheler, überschritten worden. Bei Scheler findet sich gleichsam die Auf­ lösung des von Hartmann gespannten Problems: Wenn der Mensch Mitarbeiter des Seins oder gar der Schöpfung sein soll, dann müßte angegeben werden, worin die Arbeit des Seins liegt bzw. wer der Schöpfer ist. Für Scheler ist der Mensch cooperator dei, »nicht Nach­ 22 Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, S. 139. Für Hartmanns Darlegung des Gesetzes der verschobenen Identität von Dasein und Sosein siehe a.a.O., S. 88 ff., 118ff., 133 ff. 23 Siehe a.a.O., S. 91f., 106, 135 u.ö. Irrtümlicherweise bemerkt Wetz in seinem Buch »Das nackte Daß« zu Hartmann, es stelle »sich ihm nicht das Problem des nackten Daß ...«, S. 162. ^

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Kapitel 20: Der Ruf des Idealen (Hartmann)

bildner einer an sich bestehenden oder schon vor der Schöpfung in Gott fertig vorhandenen >Ideenwelt< oder >VorsehungexistenceMaß< mit sei­ ner antiplatonischen und anti-essentiellen Grundauffassung verein­ bar ist, die sich als der Versuch einer Verwindung der Metaphysik versteht.«*17 Daß Heidegger eine Beziehung zwischen Ontologie und Ethik nicht kategorisch ablehnen durfte, erhellt, wenn wir das meta­ physische Reagenz in Anwendung bringen: Wer am Seinsollen der Menschheit festhält und der Idee des Verebbens nicht zumindest neutral gegenübersteht, wird zur Rechtfertigung seiner Parteilichkeit metaphysische Kategorien beanspruchen müssen. Ein Hinweis auf Heideggers Entschiedenheit zugunsten menschheitlichen Seinsollens ist seine Rede vom Menschen als dem Hirten des Seins. Da Heideg­ ger stets nach dem Sinn und Zusammenspiel der Worte fragte, sei hier ein gleiches gestattet: Ist der Mensch Hirte des Seins, so lautet die Frage, wessen Knecht er denn sei und was er zu behüten habe. Heideggers Antwort würde etwa lauten: In die Wahrnis der Wahr­ heit des Seins gerufen ist der Mensch Knecht des Seins.18 Hält man Vorrede (erster Zusatz), S. 16. Dieser Maßstab aber ist das Absolute, wie es jeweils zur Wirklichkeit gekommen ist. 17 W. Marx, Gibt es auf Erden ein Maß?, S. 16. Zum unmittelbar Vorstehenden vgl. a.a.O. S. 3 ff. 18 Im »Brief über den Humanismus« schreibt Heidegger: »Der Mensch ist in der Geworfenheit. Das sagt: der Mensch ist als der ek-sistierende Gegenwurf des Seins inso­ fern mehr denn das animal rationale, als er gerade weniger ist im Verhältnis zum Men­ schen, der sich aus der Subjektivität begreift. Der Mensch ist nicht der Herr des Seienden. Der Mensch ist der Hirt des Seins. In diesem >weniger< büßt der Mensch nichts ein, sondern er gewinnt, indem er in die Wahrheit des Seins gelangt. Er gewinnt die wesenhafte Armut des Hirten, dessen Würde darin besteht, vom Sein selbst in die Wahrnis seiner Wahrheit gerufen zu sein.« Wegmarken, S. 338f. In »Die Kehre« erläu^

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Kapitel 21: Ontometrie

sich an die Worte, so ist es zwar einem Herrn gestattet, liegt jedoch nicht in der Befugnis des Knechts, sich des eigenen Daseins zu entle­ digen. Auch von Heidegger aus gesehen, so wird deutlich, kann der Zusammenhang von Ontologie und Ethik nicht schlicht zur mit Pla­ ton anhehenden Seinsvergessenheit gehören, sondern er selbst denkt noch in der metaphysische Kategorien voraussetzenden Tradition des Sein-Sollens. Platons Ideenlehre hat eine ontologisch-ethische Doppelfunk­ tion. Ontologisch sagt sie uns, daß es Seiendes gibt, welches realer ist als anderes, und sie sagt in ethischer Hinsicht, daß wir nach dem höchsten Seienden, der Idee des Guten, streben sollen. Die auf Platon zurückgehende Lehre gradueller Vollkommenheit, Realität und Seinshöhe ist im Denken der Gegenwart von Nozick, Steinvorth und Bloch als demiurgische Metaphysik fortgeführt worden. Im Un­ terschied zu Platons Seinslehre und zum Wertplatonismus Hart­ manns argumentieren diese Denker im Bereich des Realen.19 Als klassische Ethiker betrachten sie das Dasein von Menschen im Hin­ blick auf das Sein im ganzen. Als Onto-Ethikern gerät ihnen nicht in erster Linie die Realität einzelner Personen in den Blick; noch gilt die Beziehung einer Person zum Sein als der wichtigste Zug der Realität. Vielmehr wird eine Position eingenommen, die Nozick die absolute nennt und die er folgendermaßen charakterisiert: »It is the reality that is important; our relation to it is important only insofar as this relation has a reality of its own.« »The goal of the absolute stance is specified hy the total amount of reality there is, anywhere.«20 Reali­ tät gilt Nozick als die basalste Kategorie überhaupt. Aspekte wie Schönheit, Wert oder Ausdruck gelten ihm als die unterschiedlichen Dimensionen, die zu höherer Realität beitragen können. Wenn er sagt, etwas könne zwar nicht mehr existieren als etwas anderes, wohl aber realer sein, so scheint auch er die Auffassung zu vertreten, daß tert Heidegger, die Technik lasse sich niemals durch den Menschen überwinden, da sie das Wesen des Seins selbst sei. Andersfalls würde sich der Mensch doch wieder als der Herr des Seins begreifen. Er habe als der Hirte des Seins auf die Wahrheit des Seins zu warten, indem er es denkend behütet (vgl. Die Technik und die Kehre, S. 38, 41). Ganz unbedacht bleibt hierbei, ob oder warum der Mensch überhaupt da sein sollte. Als Schüler Heideggers sagt Jonas, ebenfalls die Terminologie der Hut verwendend, der Mensch habe das Sein in dankbarer Treue zu hüten, womit er als seinsollend angespro­ chen ist. 19 Vgl. z.B. Nozick, S. 138. 20 A. a. O., S. 152, 153. 320

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Kapitel 21: Ontometrie

das Sosein, nicht aber das Dasein steigerhar ist. Hiermit ist auch für ihn die Aufgabe des Menschen im Sein angezeigt: Er soll das Sein steigern, auf daß es realer und also vollkommener werde. Nozick spricht hier von einem Realitätsprinzip: »it commands heing more real.«21 Steinvorth bestimmt das Kriterium für klassische Ethik da­ hingehend, »daß der Grund der Moral nicht in einer Qualität der Subjekte, sondern der Objekte ihres Wollens zu suchen ist.«22 Es leuchtet hier wiederum unmittelbar ein, daß einzig eine außenver­ ankernde - und in dieser Bewandtnis eben klassische - Ethik die Ver­ nichtung oder Aufhebung von Wollensobjekten, etwa Arten des Le­ bendigen und der Menschheit, als unmoralisch ausweisen kann; moderner Ethik, die den Grund der Moral in den Subjekten findet, ist dies nicht möglich, sobald Menschen sich mit Gründen für eine Aufhebung entschlossen haben. Bevor ich auf die verschiedenen Beiträge zur Ontometrie einge­ he, ist es angebracht, einige wenige ontologische Prinzipien in Erin­ nerung zu rufen bzw. vorläufig zu klären. Diese Klärung ist vonnö­ ten, um überhaupt so etwas wie eine Grundlage zur Beurteilung der Beiträge zur Ontometrie zu erhalten. Nehmen wir unseren Ausgang von Bemerkungen Nozicks und Steinvorths. Nozick sagt: »While one thing does not exist more than another (which also exists) and is not more actual than another, one thing can be more real than another.«23 Steinvorth arbeitet mit einem »Seinsbegriff, nach dem das Sein, die Wirklichkeit ebenso wie die Möglichkeit, von Dingen steigerbar oder graduell ist. Nicht nur die Existenz oder das Dasein eines Dings hat demnach verschiedenen Rang je nach Seinsweise, sondern auch sein Sosein oder daß es so oder so beschaffen ist.« Auch Erismann spricht von Seinsstufen und »höheren Seinsweisen«.24 Was Nozick unterstellt, ist eine Abstufung der Realität. Für was aber steht der Begriff »Realität«? Am ehesten doch wohl für das, was real ist. Real zu sein, ist eine Seinsweise. Es ist nicht die einzige Seinsweise, da es auch das ideale Sein gibt, von dem Platon spricht. Wenn aber real zu sein eine Seinsweise ist, dann ergeben sich aus der

21 22 23 24

Nozick S. 132. Steinvorth (1990), S. 139. Nozick, S. 138. Steinvorth (1994), S. 116, Erismann, S. 185 f. ^

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Kapitel 21: Ontometrie

Behauptung von Stufen der Realität zwei gleichermaßen unhaltbare und wohl auch unerwünschte Konsequenzen. 1. Die Rede von den Stufen der Realität kann so aufgefaßt werden, daß eine Vervielfälti­ gung der Seinsweisen gemeint ist. Dann aber müßte es neben Idea­ lem und Realem noch andere Weisen zu sein geben. 2. Wäre es aber so, daß die Realität keine einheitliche ist, so würde unerklärlich, wie unterschiedlichstes Reales aufeinander wirken kann. Nur weil Unbe­ lebtes, Organismen, Bewußtsein, Selbstbewußtsein und Wille Mo­ mente einer Realität sind, vermögen sie einander zu affizieren. Wä­ ren Dinge, Lebendiges oder Bewußtsein in einem ontologischen Sinne von unterschiedlicher Realität, so wäre die Idee der Seinsförde­ rung von vornherein verfehlt. Wie sollte Realeres weniger Reales vervollkommnen können, wenn es nicht eine und dieselbe Realität mit ihm teilte? Die berechtigte Frage, die sich nun stellt, lautet: Irgendein Un­ terschied ist doch aber durch die - aristotelische - Stufung Unbelebt­ Lebendig-Seelisch-Geistig angegeben, wie sollen wir ihm gerecht werden? Ein Terminus, der sich hierfür anbietet, ist der der Seinshö­ he. Mensch und Stein sind von unterschiedlicher Seinshöhe, jedoch von gleicher Seinsweise. Selbstbewußtsein und Urteilskraft sind ebenso real wie ein Stein. Auch der Wille muß real sein, weil wir sonst die Entscheidung, einem geworfenen Stein auszuweichen, nicht in eine reale Bewegung umzusetzen vermöchten. Es soll also nicht bestritten werden, daß die Gebilde des Realen eine inhaltliche und, wozu später mehr, eine Abstufung gemäß ihrem Einheitstypus aufweisen. Nur sollten wir in diesem Zusammenhang nicht von un­ terschiedlichen Seinsweisen reden, ein Begriff, der besser für die Kennzeichnung des idealen und realen Seins reserviert wird. Ver­ wendet man hingegen zur Kennzeichnung dieser Abstufung den Be­ griff gesteigerter Realität, so müßte man einen neuen Begriff erfin­ den, der an die Stelle von Real als Seinsweise - im Gegensatz zu Ideal - treten könnte. Weiter unten möchte ich eine, wie ich hoffe, alternative Kon­ zeption des metaphysischen Begriffs der Steigerbarkeit des Seins vorschlagen, für deren Darlegung es von Vorteil ist, sich vorab der Ideen Steinvorths in ihrem weiteren Zusammenhang versichert zu haben. Unter systematischem Gesichtspunkt nämlich ist die Idee der Steigerbarkeit des Seins die in der demiurgischen Metaphysik für die Begründbarkeit menschheitlichen Seinsollens bedeutendste Ka­ tegorie, da allein vermittels ihrer eine Außenverankerung: das Sein 322

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Kapitel 21: Ontometrie

als das dem Menschen Aufgegehene25, konzeptualisiert werden kann. Weil die Steigerharkeit des Seins auf die Idee einer Meßharkeit der Seinshöhe von Entitäten verweist, hedarf es eines Maßes, um üher die Seinshöhe dessen, was gesteigert werden soll, urteilen zu können. Steinvorth hestimmt es so: Eine Entität ist umso seiender, je willkürfreier sie als solche zu identifizieren ist. Erismann und No­ zick hahen alternative ontometrische Prinzipien erarheitet. Nach Erismann entspricht die Seinshöhe einer Entität einerseits dem Reichtum ihrer Aufbauprinzipien und andererseits der Einheitlich­ keit, mit der in ihr das mannigfaltige Einzelne als Bestandteil eines ühergeordneten Ganzen erfaßt wird; je mehr Vielheit sich in einer Einheit harmonisch hindet, und je harmonischer diese Vereinheitli­ chung geschieht, desto mehr Seinsfülle und Wert präsentiert diese Seiende nach Erismann, und als desto seiender gilt es ihm.26 Eine ähnliche Bestimmung zur Ontometrie hat Nozick gegehen, wo er den Gehalt des ideengeschichtlich so hedeutsamen Prinzips der Gro­ ßen Kette der Wesen zu fassen sucht. Sein ontometrisches Prinzip lautet: »The farther you move up the scale, the more diversity there is to get unified in even tighter ways.«27 Nun verlangt Nozick nach einer Präzisierung dieses ontometrischen Prinzips: »It would he a major task to define precisely this notion of degree of organic unity and to specify a way to measure it.«28 Mit den Arheiten inshesondere Steinvorths, aher auch Erismanns, liegen Beiträge vor, die dem An­ sinnen Nozicks entgegenkommen. Mit Bezug auf diese Beiträge stellt sich nun die Frage, oh sie das Theorem einer Steigerharkeit des Seins so zu erläutern vermögen, daß ein Seinsollen von Menschen in der Bewandtnis eines Auftrags zur Steigerung oder Vervollkomm­ nung des Seins unterstellt werden kann.

25 Steinvorth (1994), S. 169. 26 Vgl. Erismann, S. 137,147,187. 27 Nozick, a.a.O., S. 163 Erismanns und Nozicks Fassungen des Maßes erinnern stark an Bestimmungen von Leihniz, für den die Vollkommenheit und Wirklichkeit einer Entität - nehen dem, was ohen gesagt worden ist - eine Funktion ihrer Kraft zu wirken ist. Es gelte: »Bei aller Kraft, je größer sie ist, je mehr zeiget sich dahei Viel aus einem und in einem, indem Eines Viele außer sich regieret und in sich vorhildet. Nun die Einigkeit in der Vielheit ist nichts anders als die Ühereinstimmung ...« Von der Glückseligkeit, Kleine Schriften ..., S. 393f. 28 Nozick, S. 164. ^

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Kapitel 22

Die Avantgarde des Seins. Demiurgische Metaphysik II: Der Mensch als Mittler zwischen den Seinsmodi (U. Steinvorth)

22.1 Das Sein als Aufgegebenes Der Mensch gilt Steinvorth als im realen Sein außenverankert, wel­ ches er qua Förderungswürdigkeit als ein Aufgegehenes mit Sollcha­ rakter vorstellt. Späteres vorwegnehmend sei schon hier hemerkt, daß seine Ontologie menschheitlichen Seinsollens nicht darauf ahzielt, die Intuition menschheitlichen Seinsollens gegen die Möglich­ keit des Verehhens zu verteidigen, sondern sie nimmt von der ahendländischen Urentscheidung als etwas Gegehenem ihren Ausgang und sucht für sie eine Begründung. Im Vollzug dieser Begründung er­ weist sie sich dann als die wahrscheinlich hesthegründete derzeit vor­ liegende Metaphysik menschheitlichen Seinsollens. Was aher, wenn die Intuition menschheitlichen Seinsollens selhst in Frage steht, wenn jemand es gar für hesser hält, daß nichts ist, als das etwas ist? Auf diese Frage giht Steinvorth unumwunden zu: »In der Tat wird so etwas wie ein Schmecken des Seins für seine Bejahung vorausgesetzt; wem es nicht gut schmeckt, den kann nichts vom Gegenteil üherzeugen.«1 Würden Philosophen indes nicht üherzeugen wollen oder die Auffassung vertreten, daß Philosophie üherzeugen muß, wenn sie Verständnis schaffen will2, so hliehe vieles, was gedacht wird, privat. Und so will denn auch diese am Prinzip der Ontometrie entwickelte demiurgische Metaphysik - die hier nach ihrem Beitrag zur Be­ gründung menscheitlichen Seinsollens hefragt wird - üherzeugen.

1 Steinvorth, Replik auf M. Sehrt, S. 153. Scherer spricht in diesem Zusammenhang von einer Konvenienz zwischen Mensch und Natur, welche sich darin zeige, daß es nicht nur sättigendes Essen und Trinken giht, sondern die Möglichkeit zu genießender Ühereinstimmung hesteht: »Die Welt, in der wir lehen, ist so geartet, daß wir an den Dingen >Geschmack< finden und darin uns selhst und unser Dasein hejahen können.« Sinnerfah­ rung und Unsterhlichkeit, S. 128. 2 So auch die Auffassung von Thomas Nagel, Mortal Questions, S. XI. 324

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Das Sein als Aufgegebenes

Versichern wir uns zunächst üherhlicksweise ihrer tragenden Kate­ gorien, so haben wir es zu tun mit: - Seinssteigerung; - Fülle; - objektiven Zwecken; - Sinn; - Möglichkeiten des Seins; - willkürfreier Identifizierbarkeit von Entitäten; - der einen Substanz; - Kompossibilität; - Vollkommenheit des Seins. Bemühen wir uns jetzt um eine summarische Darstellung dieser me­ taphysischen Kategorien in ihrem Zusammenspiel, um dann einzel­ ne Kategorien näher zu betrachten: 1. Das Sein kann gesteigert werden. 2. Das Sein, um das es sich dabei handelt, ist das der einen Substanz. 3. Daß das Sein gesteigert werden kann, setzt voraus, daß Seiendes von verschiedener, graduel­ ler Seinshöhe sein kann. 4. Die unterschiedliche Seinshöhe von Sei­ endem ist angezeigt durch und proportional zur willkürfreien Identifizierbarkeit eines Seienden. 5. Die Steigerung des Seins von Seiendem geschieht dadurch, daß seine Möglichkeiten realisiert wer­ den, wodurch immer auch das Sein der einen Substanz gesteigert und vollkommener wird, worin der Sinn des Seins liegt. 6. Zu realisieren­ de Möglichkeiten des Seins bezeichnen objektive Zwecke. 7. Durch die Realisierung der Möglichkeiten des Seins wird die Seinsfülle ge­ steigert; und zwar obliegt es dem Menschen, zumal solche Möglich­ keiten zu realisieren, die ohne seine Anwesenheit in der Welt nicht realisiert würden. Diesem Vermögen zur Seinsförderung korrespon­ diert das Seinsollen des Menschen. 8. Objektive Zwecke haben einen auf Realisierung drängenden Sollwert. 9. Als endliches Wesen kann der Mensch nicht alle objektiven Zwecke zugleich realisieren. 10. Auswahlkriterium für die Priorität zu realisierender Zwecke ist a) die Seinshöhe der Entität, die für einen objektiven Zweck steht und b) das Prinzip der Kompossibilität, wonach am Leitfaden von a) nur solche Zwecke zu realisieren sind, deren Realisierung der Wirklichkeit oder dem Anspruch auf Verwirklichung höherer Entitä­ ten nicht widerstreitet. Basis von Steinvorths demiurgischer Metaphysik ist ein Monosubstantialismus. Alles, Materie, Prozeß, Sprechen und Denken wird als Moment der einen Substanz aufgefaßt, die sich uns in ihren At­ ^

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Kapitel 22: Die Avantgarde des Seins (Steinvorth)

tributen als von unterschiedlicher Seinshöhe erweise. Da wir Men­ schen in der Lage sind, verändernd im Sein zu wirken, sind wir an­ gehalten, so auf es einzuwirken, daß es vollkommener wird. Einen Vernunftauftrag zur Seinsvervollkommnung entnimmt Steinvorth, zunächst Habermas folgend, der propositionalen Spra­ che. Jede unserer Tätigkeiten sei einer von drei Sprechhandlungen zuzuordnen: Behauptungen, Befehlen oder expressiven Äußerungen. Menschlichen Eingriffen in die Welt seien Befehle und Wünsche zu­ ordenbar. Behauptungen kommt der Geltungsanspruch der Wahrheit zu, expressiven Äußerungen derjenige der Wahrhaftigkeit. Behaup­ tungen sollen einem objektiv Vorliegenden angemessen sein, expres­ sive Äußerungen einem subjektiv Vorliegenden. Wem aber, hier setzt Steinvorth neu ein, sollten Wünsche und Befehle angemessen sein? Er findet: »Die gesuchte Angemessenheit kann offenbar nur die Angemessenheit von Befehlen oder Wünschen an das logisch und physikalisch Mögliche sein.« (WÜ 101)3 Über die Annahme, daß dem Sein realisierbare Möglichkeiten inhärent sind, die Steinvorth »objektive Zwecke« nennt, gelangt er zu einem »Ideal der Realisier­ barkeit« als sprachlichem Vernunftauftrag, das physikalisch und lo­ gisch Mögliche zu realisieren respektive zu einem zwischen Vernunft und Sein aufgespannten Sollen. Dadurch, daß Steinvorth auf die prinzipielle Angemessenheit von Befehlen und Wünschen an das logisch und physikalisch Mög­ liche verweist, weist er dem Auftrag zur Seinsvervollkommnung eine tiefere Dimension zu, als Nozick es tut. Sprachlicher Vernunft­ auftrag und das uns vom Sein Aufgegebene sind aufeinander hin­ geordnet. Allerdings muß ein Einwand an dieser Stelle lauten, daß eine Angemessenheit von Sprechhandlungen und Welt doch aus ganz nüchternem Grunde vorauszusetzen ist, da die Seinsangemes­ senheit von Sprechhandlungen schließlich das Produkt einer lang­ währenden Phylogenese der Menschheit ist. Wenn dem aber so ist, so geht der Einwand weiter, warum sollte dann die Sprache in ihrer Seinsangemessenheit ein Vernunftziel der Realisierung des Mög­ lichen enthalten? In der Tat ist dieser Einwand triftig und beleuchtet an dieser Stelle eine metaphysische Unterbestimmtheit von Stein­ vorths demiurgischer Metaphysik; er nötigt uns, an die Stelle des Ausdrucks »Angemessenheit« eine metaphysische Kategorie zu set­ zen: Konvenienz. Mit Konvenienz soll besagt werden, daß nicht nur 3 WÜ künftig für: Steinvorth, Warum überhaupt etwas ist. 326

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wir Menschen in einem angepaßten Verhältnis zur Wirklichkeit ste­ hen, sondern auch sie zu uns. Die Übereinkunft unseres Wollens mit einer Wirklichkeit, die in Korrespondenz steht zur wünschenden oder befehlenden Vernunft, müßte mehr sein als ein bloßes Produkt biologischer Entwicklungsgeschichte, wenn man ihr, wie Steinvorth es tut, ein Ideal der Realisierbarkeit entnehmen will. Nur auf der Basis eines solchen Plus zur biologisch-sozialen Evolution ließe sich dann mit Scherer sagen: »Zum Sinn des menschlichen Daseins gehört es, die Konvenienz zu vollziehen, sich in sie zu stellen, sich auf sie einzulassen und auszutragen.«4 Die Sprache nähme dann in der demiurgischen Metaphysik die Systemstelle eines formalen Ma­ ßes ein, zu dem objektive Zwecke das inhaltliche Komplement bilden. Wie auch Jonas, kennt Steinvorth objektive Zwecke im Sein. Doch will er sie nicht so sehr im Sinne objektiver Zwecktätigkeit ver­ standen wissen, sondern vielmehr als die Ver'änderungsmöglichkeit des Seins oder einer Entität zum Höheren hin - wobei Steinvorth, wie wir oben sahen, ein ontometrisches Kriterium für die Bestim­ mung des jeweils höheren Seienden entwickelt hat. Wenn man das Sein bejaht, so müsse man wollen, daß alles, was an möglichem Sein wirklich sein kann, wirklich ist.5 Mit den Möglichkeiten des Seins verschränkt ist für Steinvorth der Sinn des Seins: Das gesamte Sein ist sinn-voll, insofern es für den Menschen objektive Zwecke in Gestalt zu realisierender Möglichkei­ ten enthält. Objektiven Zwecken eigne ein Sollcharakter dadurch, daß es sich bei ihnen um »diejenige Veränderungsmöglichkeit eines Wesens (handelt), durch deren Verwirklichung es vollkommener wird.«6 Sinn wird demnach nicht erst durch den Menschen in das Sein hineingelegt, sondern angetroffen, insofern das Sein selbst Möglichkeiten hat, deren - selbsttätige oder dem Menschen aufgege­ bene - Verwirklichung sein Sinn ist. Dem korreliert, daß das Sein nicht nur Gegebenes, sondern Aufgegebenes ist. Indes stellt sich nun die Frage, wo der Mensch mit seiner Auf­ gabe einer Veredelung oder Vervollkommung des Seins ansetzen soll, welche Möglichkeiten unter Auslassung anderer er realisieren sollte. Als endliches Wesen kann er nicht alle der sich ihm darbieten­ den Möglichkeiten realisieren. Vor einem ähnlichen Problem stand ja 4 Scherer, Sinnerfahrung und Unsterblichkeit, S. 131. 5 Vgl. Steinvorth (1990), S. 156. 6 Steinvorth (1994), S. 152. ^

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Kapitel 22: Die Avantgarde des Seins (Steinvorth)

sogar schon ein unendliches Wesen: der Gott Leihnizens, der unter allen Welten, die er sich vorstellen konnte, die ihm möglich waren, doch nur eine zu realisieren vermochte, und also wählen mußte. Wir sehen, daß Steinvorth das die göttliche Wahl entscheidende Kriteri­ um auch zum Führer für den unschlüssigen Menschen macht: Stein­ vorth orientiert sich an Leihniz' Begriff kompossihler Sachverhalte und wendet ihn in einer ersten Orientierung zu dem Imperativ, der Mensch solle das Ziel verfolgen, alles das zu realisieren, »was wirk­ lich werden kann, ohne anderes, was wirklich werden könnte, an sei­ ner Verwirklichung zu hindern.« (KME 101)7 Bliehen wir heim Imperativ der Schaffung kompossihler Sach­ verhalte stehen, in unserem Bemühen, die Aufgahe des Menschen als eines Realisators von Möglichkeiten zu hestimmen, so würden wir den Menschen in seinem Strehen nach Veredelung des Seins in einen Zustand der Lähmung versetzen, ähnlich derjenigen des sogenannten Buridanschen Esels. Verunmöglicht doch die Realisierung eines Sachverhaltes die Realisierung eines anderen, der an seiner Statt hät­ te wirklich werden können8: Züchte ich mein Lehen lang Kristalle, so werde ich dies vielleicht gegen Ende meines Lehens hereuen, wenn ich mir Gedanken darüher mache, daß ich ehensogut Pflanzen hätte züchten können. Soll es nicht zur Lähmung oder Unschlüssigkeit in Ansehung einer Vielzahl von Möglichkeiten führen, so hedarf das Kriterium der Kompossihilität selhst noch eines Leitfadens, welcher es gestattet, aus einer Vielzahl von Möglichkeiten ausgewählte tat­ sächlich zu realisieren, ohgleich andere damit ewig unrealisiert hleihen werden, oder, wie Steinvorth sagt, an ihrer Realisierung gehin­ dert werden. Der gesuchte Leitfaden, der im Bereich des kompossihel Möglichen Fragen des Vorrangs entscheidhar macht, ist nach Stein­ vorth die Vollkommenheit. Damit ist hesagt, daß diejenige Möglich­ keit vor anderen zu realisieren ist, die das reale Sein - die eine Suhstanz - am meisten fördert oder vervollkommnet. Die Frage also, oh ich einen Pflanzensamen in der Schuhlade aufhehen oder zum Baum auswachsen lassen soll, wäre im Sinne allgemeiner Seinsförderung sicher zugunsten des Baumes zu heantworten. Was in diesem Bei­ spiel hereits intuitiv einleuchtet, hedarf aher noch weiterer Be­ 7 KME künftig für Steinvort, Klassische und moderne Ethik. 8 In diesem Sinne hegründet Whitehead die Natur des Ühels: »Die Natur des Ühels hesteht darin, daß sich die Eigenschaften der Dinge gegenseitig ausschließen.« Prozeß und Realität, S. 609. 328

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Das Sein als Aufgegebenes

gründung, und Steinvorth liefert diese Begründung auch. Denn wird es nicht Personen gehen, die Kristalle mit ihrer Regelmäßigkeit für das vollkommenere Sein halten als Bäume, die windschief werden, unansehnlich, und im Winter ihre Blätterpracht verloren hahen? Als das letzthinnige Kriterium, welches uns in die Lage versetzen soll, zwischen konkurrierenden förderungswürdigen Entitäten, deren Möglichkeiten wir realisieren können, zu entscheiden, erachtet Steinvorth das Maß an Willkür, welches wir für die Identifizierung einer Entität aufhieten müssen. Je weniger Willkür wir für die Iden­ tifizierung einer Entität aufhieten müssen, desto seinshöher sei sie. Des Näheren hänge nun die Identifizierharkeit von etwas, und damit auch seine Vollkommenheit, mit seinen Eigenschaften zusammen. Je willkürfreier etwas identifizierhar ist, so Steinvorth, desto mehr kommen ihm seine Prädikate zu. »Das Sein, von dem Steigerharkeit hehauptet werden kann, ist das Sein der Prädikation.« (KME 145). Damit hekommt der Mensch im Kosmos eine Stellung zugewiesen, derzufolge er als seinsollendes Wesen in einer sinnvollen Welt eine Aufgahe vorfindet; die Aufgahe nämlich, Möglichkeiten des Seins in der Weise zu realisieren, daß das Sein - das heißt auch: die eine Suhstanz - vollkommener wird. Wie Jonas, weiß nun aher auch Steinvorth um »die gnostischen Neigungen, die die Menschen nicht verlassen hahen« (WÜ 155). Auch er zieht die Möglichkeit in Betracht, oh es nicht das Beste wäre, wenn die Menschen einvernehmlich heschlössen, die Menschheit aussterhen zu lassen (vgl. KME40f., 95; WÜ 115). Diesem Ausweg steht hei Steinvorth eine Überzeugung von der Größe des Seins ent­ gegen (vgl. KME 167,175). In der Rede von der Größe des Seins kommt die Üherzeugung zum Ausdruck, daß es hesser ist, daß üherhaupt etwas ist, als nichts. Aher diese Üherzeugung muß sich stets den gnostischen Einwand gefallen lassen: Wenn nie etwas gewesen wäre, hätte es alles das, wovon die Schwarzhücher der Weltgeschichte uns herichten, nicht gegehen. Steinvorths philosophische Aufrichtigkeit kommt darin zum Ausdruck, daß er üher die Üherzeugung, daß es hesser ist, daß üherhaupt etwas ist als nichts, sagt, sie sei unheweishar (vgl. WÜ 124). Aher diesen Beweis vorzulegen falle auch gar nicht in den Aufgahenhereich des Ethikers. Steinvorth geht von dem Gedanken aus, wir alle wüßten hereits recht gut, was Moral sei und was sie von uns verlangt. Er sagt üher den Ethiker, dieser »muß die gewöhnliche Kenntnis von Gut und Böse, die er mit dem Leser teilt, hei seiner ^

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Kapitel 22: Die Avantgarde des Seins (Steinvorth)

Suche nach der Moral voraussetzen.« (KME 11) Das Wahrheitskrite­ rium für die Überzeugung von der Größe des Seins läge demnach in der allzeit vorauszusetzenden gewöhnlichen Kenntnis von Gut und Böse. Sodann wären aber Intuitionen der Grund selbst noch für die Überzeugung, daß es schlecht ist, das menschliche Leben nicht wei­ terzugeben. In der Tat ist dies die Überzeugung Steinvorths: »Das Wahrheitskriterium des spekulativen Theoretikers ist die Überein­ stimmung der Theorie mit der Mannigfaltigkeit von Intuitionen, die wir moralisch oder kognitiv nennen können.«9 Damit ist zum Ausdruck gebracht, daß man in Fragen der praktischen Philosophie von Überlieferungen und persönlichen Grundüberzeugungen oder Sichtweisen der Welt niemals ganz absehen kann.10 Wer das Verebben der Menschheit propagiert - Steinvorth macht dies im Unterschied zu Jonas deutlich (vgl. Kapitel 19.5) -, braucht sich noch nicht einmal auf ein Prinzip der Seinszerstörung zu berufen - er folgt nur nicht dem Menschheitserhaltungsprinzip und tut somit nichts für die »Erhaltung der menschlichen Vernunft­ anlage« (KME 175). Steinvorth rechnet wie Hartmann mit der mora­ lischen Blindheit, die letzterem zufolge durch ethische Bildung des Wertorgans überwunden werden kann. Für Steinvorth läßt sich der Vorzug des Seins gegenüber dem Nichts »sowenig allgemeinverbind­ lich machen wie die Überzeugung, daß das Schöne dem Häßlichen vorzuziehen ist.« (Ebd.) Schließlich verpflichte das Menschheits­ erhaltungsprinzip nur diejenigen, die von der Förderungswürdigkeit des Seins überzeugt sind (vgl. KME 176). Für die Einsicht, daß die Welt Förderung verdient, könne man blind sein. Und bei Wertblind­ heit lasse sich das Prinzip der Fülle nicht begründen (vgl. WÜ 143). In letzter Instanz baut Steinvorth auf unsere Intuitionen; das Wollensobjekt des Nichtseins, meint er, entspreche »nicht unsern tradierten Intuitionen und Erwartungen von dem, was moralisch gut und richtig ist.« (KME 155). Nichtsdestotrotz zieht er selbst historische Situationen in Erwägung, nukleare oder gentechnische Katastrophen, in denen es geraten sein könne, die Menschheit aus­ sterben zu lassen?11 Und ist es nicht so, daß überlieferte Intuitionen fragwürdig werden müssen im Spiegel unseres überbordenden Wis­ sens darum, daß das, was Menschen Menschen über die Jahrtausende 9 Steinvorth (1990), S. 55. 10 Für diese Ansicht siehe auch U. Wolf, Das Problem des moralischen Sollens, S. 225. 11 Vgl. Steinvorth (1990), S. 95. 330

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Abgrenzung gegen Jonas

angetan haben, an Schrecklichkeit seihst durch eine nukleare Kata­ strophe wahrscheinlich kaum üherhoten würde? Auch Steinvorths Philosophieren ist von jener Urentscheidung bestimmt, von der Jonas meinte, hinter sie lasse sich in rational be­ gründender Absicht nicht zurückgehen. Über Platon und Descartes sagt Jonas einmal, sie bestimmen uns, auch als Ungelesene, ob wir wollen oder nicht. Hingegen könnten uns die ungelesenen Upanischaden nicht bestimmen. Und dann beweist Jonas Mut zur ent­ scheidenden Frage, mit welcher er die abendländische Urentschei­ dung selbst problematisiert: »Sollten wir sie nicht eben darum lesen, daß sie uns bestimmen können? Auch fremde Tradition kommt vom Menschen ...« Und auf die Frage, warum wir uns derart fremdes Gedankengut aneignen sollten: »... weil unser westliches Erbe viel­ leicht eines Korrektivs nicht durchaus unbedürftig ist.«12 Wie diese Stelle belegt, ist selbst Jonas, der Denker menschheitlichen Seinsollens schlechthin, sich dessen bewußt, daß nicht ausgemacht ist, daß die Überlieferung, aus der heraus überwiegend philosophiert wird, per se die - einzige - Wahrheit repräsentieren muß, in der Menschen intuitiv gelebt haben. Im Bewußtsein dessen wollte Jonas als Ontologe menschheitlichen Seinsollens in letzter Instanz nur eine vernünf­ tige Option begründen und sie mit ihrer Überredungskraft dem Den­ kenden zur Wahl stellen: »Besseres habe ich leider nicht zu bieten. Vielleicht wird eine künftige Metaphysik es können.«13 Als eine sol­ che ist diejenige Steinvorths zunächst nach ihrer Abgrenzung gegen Jonas' Ontologie zu befragen.

22.2 Abgrenzung gegen Jonas Als Ontoethiker ist Steinvorth mit der verebbensrelevanten Frage beschäftigt, ob wir die eine Substanz - und also auch uns selbst beliebig gebrauchen dürfen. Seiner Ontoethik gemäß soll der Mensch in Erfüllung einer vom Sein aufgegebenen Aufgabe dasein als Förderer des Seins. Seiendem wird ein Sollcharakter zugeschrie­ ben, da es objektive Zwecke, das heißt noch nicht realisierte Möglich­ keiten berge. Als Vollkommenheitsethik fragt Steinvorths demiurgische Metaphysik nicht nur nach dem Wert dessen, was real ist oder 12 Jonas, Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, S. 78f. 13 Jonas, a. a. O., S. 140. ^

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Kapitel 22: Die Avantgarde des Seins (Steinvorth)

wird, sondern sie versucht, den Wert dessen ontometrisch zu ermit­ teln, was von einem mit Urteilsfähigkeit und Handlungsfreiheit be­ gabten Wesen realisiert werden kann und soll. Gegen Jonas, der seinen Vollkommenheitsmaßstab im Reichtum verfolgter und in der Intensität erlebter Zwecke findet, meint Stein­ vorth sich abgrenzen zu müssen. Ihm zufolge kann »Zweckhaftigkeit nicht der Maßstab der Vollkommenheit« sein (KME 139) und kön­ nen die Vollkommenheit und der moralische Rang von Wollensobjekten besser an ihrem Sein als an ihrer Zweckhaftigkeit gemessen werden, da »Sein«, von dem Steigerbarkeit behauptet werden kann, nämlich das Sein der Prädikation (vgl. KME 145). Ein abstrakterer und somit umfassenderer Begriff sei als Zweckmäßigkeit. Steinvorth argumentiert hier vor allem im Hinblick auf Unbelebtes, welches von Jonas' Kriterium der Zweckhaftigkeit nicht erfaßt werde und inso­ fern als Wollensobjekt für den Menschen unberücksichtigt bleiben müsse. Wir sahen jedoch oben, daß Jonas das Kriterium der Zweck­ haftigkeit sehr wohl auf das Unbelebte ausdehnt (vgl. oben 20.10), weshalb an dieser Stelle für Steinvorth keine eigentliche Notwendig­ keit zu einer Abgrenzung besteht. Beide erfassen mit ihren Vollkom­ menheitskriterien im Rahmen ihres Seinsverständnisses das Sein in seiner ganzen Breite. Eine Differenz tritt an der beanspruchten Metaphorik zutage. Laut Jonas soll der Mensch das in der Tendenz des Seins Hervor­ gebrachte - dazu gehören Menschen selbst - bewahren; Steinvorth begreift den Sollcharakter des Seins demgegenüber in der Weise, daß der Mensch die Tendenz des Seins demiurgisch überhöhen soll. So werden wir das eine Mal als die Hüter, das andere Mal als die Avant­ garde des Seins (vgl. WÜ 182) angesprochen. In bestimmter Hinsicht bleiben Steinvorths Ausführungen zur Tendenz des Seins unausgeglichen. Einmal heißt es bei ihm: »... die Welt insgesamt verfolgt keinen Zweck.« (KME 139). Daneben kennt er aber eben doch eine Tendenz des Seins, der der Mensch sich als ontometrischer Demiurg unterordnen solle (vgl. WÜ 158). Wir sehen, daß Steinvorth sich ontoethisch nicht in der Weise von Jonas abhebt, wie er selbst vermeint. Eine spezifische Differenz zwischen den beiden Ontologien menschheitlichen Seinsollens wird allerdings durch die systematischen Korrelate der jeweils unter­ schiedlichen Metaphorik etabliert. So entspricht der Metapher vom Menschen als der Avantgarde des Seins in systematischer Hinsicht das Erfordernis einer Steigerbarkeit des Seins. Ebenso wie Jonas' Be332

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Durch Steigerung des Nichts zum Sein?

griff einer Zweckhaftigkeit des Seins ist auch dieses interessante Theorem mit Problemen behaftet, denen wir uns jetzt zuwenden. Steinvorth müßte, hiervon ist zuerst zu handeln, prinzipiell in der Lage sein, den an sich irrationalen Hiatus zwischen Nichts und Etwas als Steigerung (des Seins) oder als Vervollkommnung zu erklären.

22.3 Durch Steigerung des Nichts zum Sein? Betrachten wir eine Ausführung Steinvorths zu den vormensch­ lichen, nichtvernünftigen Seinsweisen. Gemeint sind »die tierische Seinsweise der Wahrnehmung und Bewegung; die des vegetativen Lebens und der toten Materie. Ihre Verwirklichung ist gut, weil es besser ist, sie zu verwirklichen, als sie im Zustand der bloßen Mög­ lichkeit oder im Nicht-Sein zu belassen.« (KME 109). Als es nur un­ belebte Materie gab, war die Verwirklichung pflanzlichen Lebens besser als das Verbleiben pflanzlichen Lebens im Zustand bloßer Möglichkeit, und als pflanzliches Leben verwirklicht war, war die Verwirklichung tierischen Lebens besser, als der Verbleib dieser Le­ bensform im Zustand bloßer Möglichkeit. Mit den beiden Stufen des Organischen, diese Behauptung ist prima facie kaum anfechtbar, wurde das Sein gesteigert. Das Theorem der »Seinssteigerung« wird weiter unten erörtert, ebenso wie der hier beanspruchte Möglich­ keitsbegriff. Was uns zunächst interessiert, ist die Behauptung, schon die Verwirklichung des Unbelebten sei besser, als ihr Verbleiben im Zustand der bloßen Möglichkeit. Die Verwirklichung der toten Ma­ terie sei »nach dem Prinzip der Fülle gut, weil besser als ihr Nicht­ Sein.« (WÜ 111) Wie aber ist es zu verstehen, daß die eine Substanz, aus der alles hervorgegangen ist, das Reale, möglich gewesen sein soll, ohne wirklich gewesen zu sein? Soll es sich hierbei um eine Möglichkeit gehandelt haben, so ist ja ausgeschlossen, daß diese Möglichkeit im Realen zu suchen ist, da es dieses nicht gab. Folglich kann es sich nur um eine ideale Möglichkeit gehandelt haben. Ideale Möglichkeiten aber können nebeneinander nur in mente eines Ver­ nunftwesens bestehen. Somit kann der von Steinvorth angesproche­ ne Übergang der möglichen zur wirklichen Materie nur als Schöp­ fung durch ein, in diesem Falle, höchstes Wesen begriffen werden. Soll der Schöpfungsbegriff in diesem Zusammenhang vermie­ den werden, so müssen wir den Übergang vom Nichtsein der Materie zu ihrem Dasein als Notwendigkeit begreifen. Ist die Entstehung der ^

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Urmaterie notwendig gewesen, so mußte sie real wirklich werden, als sie real möglich wurde. Es kann dann aber keinen Zustand oder Ort gegeben haben, in dem die Materie möglich war, ohne real zu wer­ den. Einen solchen Zustand aber unterstellt Steinvorth mit dem Aus­ druck »Zustand der bloßen Möglichkeit«. In diesem Zusammenhang wird deutlich, daß der Versuch, das Sein gegenüber dem Nichts als Gut auszuweisen, den Rahmen der Ontologie überschreitet und sich auf die Onto-Theologie zurückverwiesen findet. Es ist die Überliefe­ rung des christlichen Schöpfungsgedankens, die es uns ganz selbst­ verständlich scheinen läßt, daß das Sein von Etwas besser ist als Nichts. Wollen wir diese Überlieferung ontologisch einholen, so sto­ ßen wir darin, daß wir nicht zu konzeptualisieren vermögen, wie eine Steigerung des Nichts zum Sein führen sollte, an eine Grenze. Der Übergang vom Nichts zum Sein, die Legitimität der Vor­ stellung vom Sein als dem komparativ Besseren gegenüber dem Nichts, kann auch nicht am Prinzip der Fülle (siehe 19.13) gewonnen werden. Denn das Prinzip der Fülle ist ein Leitfaden zur Seinsmaxi­ mierung, das Nichts aber ist indifferent gegen die Fülle, kann nicht gesteigert werden, weil es Seinslosigkeit bezeichnet. Der Übergang vom Nichts zu Etwas ist indifferent, da nichts dagewesen wäre, das gemäß dem Prinzip der Fülle hätte gesteigert werden können. Will man diesen Übergang irgend fassen, so ist dies wohl nur als Sprung vom Nichts zum Etwas - nicht aber als Steigerung möglich. Wäre das Sein gesteigertes Nichts, so hätte das Nichts schon etwas sein müssen; dann wäre das Nichts nicht Nichts, sondern weniger voll­ kommenes oder schlechteres Sein. Halten wir hingegen an einem genuineren Begriff vom Nichts fest, dann bezeichnet er Seinslosigkeit. Ist dem so, dann kann das Nichts nicht schlechter sein als das Sein. Dies führt von der Ontologie her zu dem wahrscheinlich kon­ traintuitiven Resultat: Es ist nicht besser, daß die Welt entstanden ist. Jedenfalls wird uns dieses Resultat aufgedrängt, wenn wir die Welt als Natur und nicht als Schöpfung verstehen Vielleicht sollten wir hinsichtlich des Nichts gerade darin, daß es keiner Steigerung fähig ist, einen Ausdruck von Vollkommenheit erblicken.

22.4 Der systematische Ort des Hervorbringungsgebots Auch wenn Steinvorth kein explizites Hervorbringungsgebot aus­ gesprochen hat, so ist es doch der Sache nach in folgender Bestim334

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Der systematische Ort des Hervorbringungsgebots

mung enthalten: »Die Vollkommenheit der Substanz ist um so größer, je mehr selbständige Niederlassungen sie hervorbringt. Denn dadurch vermehrt sie den Reichtum des Seins, das Vermögen selbst zu handeln.« (WÜ 177f.) Die Vollkommenheit von etwas sei umso größer, je weniger Willkür wir aufbieten müssen, es zu identifizie­ ren, oder auch: etwas ist umso vollkommener, je deutlicher es sich selbst aus der einen Substanz herausstellt und zu erhalten sucht. Der durch die Urteilskraft ausgezeichnete Mensch gilt Steinvorth als das Seinshöchste. Dort nämlich, wo der Mensch frei urteilt, tritt er aus dem Geflecht kausaler Bezüge heraus und offenbart sich als unbewegter Beweger ( vgl. WÜ 29, 110, 129 f.). Folglich würde die eine Substanz, das reale Sein, ihm zufolge umso vollkommener, je mehr Menschen existieren. Dieses ontologisch fundierte Hervor­ bringungsgebot birgt jedoch wiederum eine Dynamik, die zu einem Resultat jenseits der abendländischen Urentscheidung führt. Ist es nicht so, daß die Vervollkommnung des Seins, der einen Substanz, dort überdehnt ist, wo angenommen wird, daß in der einen Substanz für kurze Augenblicke und vergleichsweise an wenigen Or­ ten Tochtersubstanzen aufblitzen? Wird hier nicht die Einheit der Welt, für wie kurze Momente auch immer, gleichsam löchrig? Ent­ sprechen die Menschen, dort, wo sie frei urteilen, nicht Singula­ ritäten, als welche man in der Astrophysik die schwarzen Löcher beschrieben hat, die, mit unserem Universums nicht mehr wechsel­ wirkend, aus ihm herausfallen? Wären wir also nicht dann am voll­ kommensten, wenn wir gar nicht mehr in einen Zustand der Fremddeterminaton zurückfielen, sondern unbewegt blieben? Wenn wir umso vollkommener sind, je freier wir sind; und wenn in unserer Urteilsfähigkeit zeitweilig etwas von absoluter Freiheit aufleuchtet und der Mensch sich kurzzeitig aus dem kausalen Geflecht heraus­ zustellen vermag, dann bedeutete eine Verlängerung dieses Zustands offenbar ein größeres Maß an Vollkommenheit. Entspräche aber einem Andauern dieser Herausstellung nicht vielleicht das, was in asiatischen Religionen als Erlösung gilt: Aufgabe des Selbst, Ver­ wehen aller Verhaftung, Eingehen ins Nirvana?14 Je mehr selbständige Niederlassungen die eine Substanz enthält, als desto vollkommener gilt sie Steinvorth. Dies impliziert zunächst über das Gebot der Seinsförderung ein Gebot zur Hervorbringung 14 Siehe hierzu Griffiths, der in »On Being Mindless« über »The attainment of cessation« in den verschiedenen buddhistischen Schulen handelt. ^

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von Menschen. Dort wo Menschen am seinshöchsten sind, fallen sie jedoch als Tochtersuhstanzen aus der einen Substanz heraus. Führt dies nicht zu dem Paradox, daß Menschen zwar einerseits hervor­ gehracht werden sollen, daß sie aber andererseits erst dann Vollkom­ menheit erreicht haben, wenn sie sich von aller Verhaftung an und Beeinflussung durch die eine Substanz gelöst haben? Wir scheinen hier auf Grund der Bestimmungen Steinvorths an eine systematisch angelegte, wenn auch verdeckte Unentschiedenheit zwischen abend­ ländischer und asiatischer Urentscheidung gelangt zu sein. Erstere gebietet die Seinsförderung durch Hervorbringung, letztere die Ver­ vollkommnung des Hervorgebrachten, bis zu dem Punkt, da es aus dem Sein herausfällt. Sehen wir von dieser Paradoxie ab, so findet, wer in der Tradi­ tion der abendländischen Urentscheidung steht, in Steinvorths Voll­ kommenheitsethik die wahrscheinlich bestbegründete derzeit vorlie­ gende Metaphysik menschheitlichen Seinsollens vor. Das Sein gilt als das dem Menschen Aufgegebene, sein Sollcharakter liege in seiner Steigerbarkeit auf dem Wege einer Realisierung seiner kompossiblen Möglichkeiten. Sehen wir für das Folgende zunächst einmal von der Frage ab, inwieweit diese demiurgische Metaphysik einen Befürworter des Verebbens zur Änderung seiner Auffassung bewegen könnte, inwie­ weit sie eine Anthropodizee in Ansehung der Neganthropie bietet, und bemühen wir uns um ein genaueres Verständnis der zur Be­ gründung menschheitlichen Seinsollens aufgebotenen metaphysi­ schen Kategorie der Seinssteigerung.

22.5 Das Problem der Seinssteigerung Für Steinvorths Vollkommenheitsethik gilt, »daß das Sein sich wie eine Eigenschaft als steigerbar erweist.« (KME 150) Da zwischen dem Dasein und dem Sosein, dem Existentialurteil und dem esse praedicativum zu unterscheiden ist, müssen wir zunächst fragen, welchem Sein Steinvorth Steigerbarkeit zuschreibt. Dem Dasein oder dem Sosein? Wir erhalten die klare Antwort: »Das Sein, von dem Steigerbarkeit behauptet werden kann, ist das Sein der Prädika­ tion.« (KME 145) Dinge sind nach Steinvorth in dem Maße, in dem sie durch ihre Eigenschaften aus der einen Substanz herausstehen und somit willkürfrei identifizierbar sind. Das Maß an Willkür, wel­ 336

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Das Problem der Seinssteigerung

ches für die Identifizierung einer Entität aufgebracht werden muß, erfährt in diesem Zusammenhang eine Bestimmung, derzufolge es geringer wird mit dem Grad, in dem eine Eigenschaft einem Ding zukommt: »Die Kopula zwischen Subjekt und Prädikat in einer Pro­ position kann mehr oder weniger berechtigt oder mehr oder weniger willkürlich sein.« (KME 150) So sei das Bellen eines Hundes »ein Sachverhalt, worin das Bellen dem Hund mehr zukommt als das Schellen eines Metalls, das gegen einen harten Gegenstand schlägt, dem Metall im Sachverhalt, daß das Metall schellt.«(KME 150)15 16 Ver­ suchen wir zunächst, die »Annahme der Steigerbarkeit oder eines Mehr oder Weniger des Soseins der Dinge« (WÜ 116) auf einen all­ gemeinen Ausdruck zu bringen. Wir erhalten dann etwa: »H ist** b« und »M ist* s«, wobei »ist**« gegenüber »ist*« das gesteigerte So­ sein ausdrücken würde. »H ist** b« stehe für »Der Hund ist bellend«, »M ist* s« stehe für »Das Metall ist schellend«. Diese Ausdrücke ergeben sich durch eine Umformung aus »Der Hund bellt« und »Das Metall schellt«. Durch eine weitere Umformung erhalten wir nun: »Das Bellen ist« und »Das Schellen ist«. Wir können ebensogut sa­ gen: »Das Bellen ist (real) seiend« und »Das Schellen ist (real) sei­ end«. Bei den Aussagen »Das Bellen ist« und »Das Schellen ist« han­ delt es sich um Existenzialurteile. Was ausgesagt wird, ist das Dasein des Bellens und des Schellens. Wirkliches Bellen und Schellen sind nun aber von ein und derselben Seinsweise, sie sind real. Real zu sein ist jedoch kein steigerbares Attribut. Ist dem aber so, so kann vom Sein der Prädikation keine Steigerbarkeit behauptet werden. Gemäß dem ontologischen Gesetz der verschobenen Identität von Sosein und Dasein16 kommt allem realen Sosein auch Dasein zu. Wenn alle realen Eigenschaften bzw. alles reale Sosein als Daseiendes angespro­ chen werden können, dann teilen sie die unteilbare Seinsweise der Realität. Auf obiges Beispiel angewandt erweist sich also das Sosein des Hundes als ein Dasein, welches der Seinsweise nach vom Dasein des Schellens als einem Sosein des Metalls nicht unterschieden ist. Die Seinsweise des Bellens ist von der des Schellens nicht unter­ schieden. Das Sosein des Hundes ist das Dasein von anderem und ist als letzteres nicht höher als das des Metalls. Nichtsdestotrotz ist der Hund ein höheres Gebilde als das Stück Metall. Doch bedarf es einer 15 Es wäre interessant, Hegels Reflexionen zur Stimme an dieser Stelle vergleichend einzubringen. 16 Siehe Ende Kapitel 20. ^

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Kapitel 22: Die Avantgarde des Seins (Steinvorth)

anderen kategorialen Fassung, um dies auszudrücken. Wie aber sollte diese aussehen, wo doch alles reale Sosein sich als Daseiendes von identischer Seinsweise erwiesen hat? Unterstellen wir für den Augenblick, dieses Problem sei bereits gelöst, um zuerst eine andere Frage zu erörtern, vor die wir uns als­ bald gestellt sähen. Angenommen, »Sein« (um einen neutralen Aus­ druck zu verwenden) wäre steigerbar - um welches Sein handelte es dann? Alles Daseiende präsentierte sich bisher als das Sosein von etwas anderem. Wird eine Wohnung renoviert, so wird das Dasein der Stadt verändert, die zum Sosein unseres Sonnensystems gehört, dessen Dasein Sosein letztlich der Welt im ganzen ist. Die Welt im ganzen ist das Endglied, welches wir in der fortlaufenden Verschie­ bung von Sosein und Dasein erreichen. Ihr Dasein ist nicht mehr Sosein von etwas anderem, weshalb in letzter Instanz ein geringes ontisches Übergewicht des Daseins über das Sosein besteht.17 Halten wir also fest, daß, wenn überhaupt, nur das Sosein der Welt im gan­ zen - des letztumgreifenden Daseins - gesteigert werden kann. Dem­ gegenüber hatte Steinvorth einerseits angenommen, daß das Sein »von Dingen steigerbar oder graduell ist.« (WÜ 116, meine Hervor­ hebung) Da er aber andererseits »eine unveränderliche, notwendig seiende Substanz in den Veränderungen ..., die Voraussetzung für alles Sosein der Welt« (WÜ 170), annimmt, ist er zugleich auch einer Auffassung entgegengekommen, derzufolge nur das Sosein der Welt im ganzen gesteigert werden kann.18 Im folgenden gehe ich also da­ von aus, daß sinnvollerweise nur von einer Steigerung des Soseins der einen Substanz respektive der Welt im ganzen - die nicht mehr Sosein eines anderen ist, sondern letztumgreifendes Dasein - die Re­ de sein kann. Ein mögliches Mißverständnis muß sogleich aus­ geräumt werden: Wenn von einer Steigerbarkeit des letztumgreifen­ den Daseins die Rede ist, so kann damit selbstverständlich nicht die Seinsweise von etwas gemeint sein; etwas Seiendes kann nicht realer sein als etwas anderes (es kann höchstens nicht real, also ideal sein)! Im Anschluß an unsere kritischen Erwägungen fragt es sich jetzt, ob die Steigerbarkeit des Seins entsprechend anders konzeptualisiert werden kann. Ein Kandidat wird angeboten, wenn Steinvorth 17 Vgl. Hartmann, Grundlegung der Ontologie, S. 140. 18 Warum eigentlich nicht das Dasein der Welt im Ganzen? Aus dem Grunde nicht, daß das Dasein auf die Seinsweise verweist, auf den Umstand, real zu sein, der nicht steiger­ bar ist. Ist etwas nicht real, so ist es ideal. 338

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Das Problem der Seinssteigerung

nicht nur von der Steigerharkeit des Soseins von Entitäten ausgeht, sondern danehen die Auffassung vertritt, das Dasein von etwas sei von unterschiedlichem Rang (Vgl. WÜ 116). In der Tat sollten wir sagen, der Schutz ungehorenen Lehens genießt Vorrang vor dem Schutz halhfertiger Fernseher; der Schutz der Haut Vorrang vor dem von Autolack; der Schutz derjenigen Prozesse, die in einem Fluß den Säuregehalt konstant halten, genießt Vorrang vor den Prozessen, die zur Bereicherung der Aktionäre eines am Fluß angesiedelten Un­ ternehmens führen. Aher mit dieser Rangfolge hahen wir noch nichts von ontischer Relevanz ausgesagt. Nun hat Steinvorth aher auch vom »Mehr oder Weniger des Soseins der Dinge« gesprochen und »den höherrangigen Wesen mehr Sein« zugesprochen. (Vgl. WÜ 115 f.) Die Idee vom »Mehr oder Weniger des Soseins der Dinge« könnte geeignet sein, das Bild zu evozieren, als hestünden die Dinge nehen ihrem Sosein, was aher nicht der Fall ist. Sondern Dinge sind die Einheit ihres Soseins, ihrer Eigenschaften, die selhst wiederum real daseiende Dinge, Prozesse oder Ereignisse sind. Wenn wir hier in Betracht ziehen, daß es unterschiedliche Typen der Einheit giht, dann deutet sich hereits so etwas wie eine Reformulierharkeit der Idee der Seinssteigerung an. Wir können differenzieren die physi­ sche (physikalische und chemische) Einheit, Einheit des Organismus, des Bewußtseins, der Person, der Gemeinschaft, des Staates. Die Ein­ heit unhelehter Gegenstände (Steine und Sonnensysteme etwa) wird nehen anderem hewirkt vermittels Gravitation, Elektromagnetismus, starker Wechselwirkung, Trägheit, Valenz. Organismen weisen einen zusätzlichen Typus der Einheit auf. Bei ihnen kommen Prinzipien wie Assimilation, Dissimilation, aktive Formhildung oder Selhstregulation zum Tragen. In Organismen finden wir dieselhen Grund­ hausteine wie in der unhelehten Natur. Doch unterstehen diese Grundbausteine in ihnen einem zusätzlichen, das Lehendige aus­ zeichnenden Typus der Einheit, dem nexus organicus. Aus diesem Grunde können wir sagen, daß Organismen seinshöhere oder auch seinshestimmendere Gehilde sind. Man kann dies auch so aus­ drücken: Das Wirken und Bewirktwerden, die Wirk-lichkeit eines Organismus ist von höherer Dimensionalität als das Wirken eines Steines oder Sonnensystems. Eine Steigerung des Seins der den Or­ ganismus konstituierenden Stoffe hat heim Ühergang vom Unhelehten zum Lehendigen indes nicht stattgefunden. Beim Enstehen eines Organismus ereignet sich mit Blick auf seine Stofflichkeit nur eine ^

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Kapitel 22: Die Avantgarde des Seins (Steinvorth)

Umschaffung; das Sein eines Kohlenstoffatoms oder Fettmoleküls erhöht sich nicht dadurch, daß es jetzt Teil einer höheren Einheit als zuvor ist. Will man hei der Morphogenese eines Organismus von Seinssteigerung und nicht hloß von Umschaffung unter einen höhe­ ren Typus der Einheit reden, so muß man von seinen stofflichen Konstituenten ahsehen und auf das ihn umgreifende Sein hlicken, dessen Sosein er ist. Leht der Organismus in einem Wald, so können wir von einer Soseinssteigerung des Waldes immer dann ausgehen, wenn Teile seiner Biomasse unter einen höheren Typus der Einheit gehracht werden. Da aher der Wald wiederum nur daseiendes Sosein der Landschaft, der Erde usf. ist, müssen wir nach dem letztumgrei­ fenden Dasein fragen, welches nicht mehr Sosein von etwas ist, um anzugehen, wessen Sosein durch das Entstehen des Organismus letztlich gesteigert worden ist. Es handelt sich hierhei, wie schon er­ wähnt, um die Welt im Ganzen. In Anhetracht der Gegenstände der Natur, so Steinvorth, »können wir unter ihnen eine Skala der willkürfreien Identifizierharkeit oder des eigenständigen Seins erkennen, die der Skala der Evo­ lution entspricht« (WÜ 117): die Ahfolge Unhelehtes-Pflanze-TierMensch. Es ist völlig einsichtig, wenn Steinvorth Lehewesen eine Identität zuspricht, »die sehr viel weniger das Produkt unserer Kon­ ventionen ist« (WÜ 118) als die Identität etwa eines Steines. Aher diese Zustimmung räumt unsere Kritik am Begriff der Seinssteige­ rung, wie wir ihn hisher erörtert hahen, nicht aus. Denn wenn Stein­ vorth hezüglich eines Tieres ausführt, »es streht, sich in seiner gegehenen organischen Form zu erhalten, und wehrt sich gegen Versuche, es zu vernichten oder zu stören« (WÜ 118), so geht dies nicht auf das im Vergleich zum Stein gesteigerte Sein des Tieres zurück, sondern es ist nur der Unterschied angesprochen, daß im Tier ein durch Selhsterhaltung der Form ausgezeichneter selhsttranszendierender und -identifizierender nexus organicus mit Innerlichkeit waltet, wel­ cher dem Stein fremd ist. Ein signifikantes Beispiel hierfür ist die selhst-identifizierende Stimme, üher die es hei Hegel heißt: »Daß das Tier in sich für sich selhst ist, stellt es dar, und diese Darstellung ist die Stimme.«19 Das Lehendige muß nicht von außen angestoßen sein, um sich zu äußern. Sein Typus der Beharrung, des mit sich

19 Hegel, Enz. §351 Z. ß; S. 433. 340

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Das Problem der Seinssteigerung

Identischbleibens, ist bereits Selbsttätigkeit und somit Selbstidenti­ fikation und -Bekundung.20 Mit dem Phänomen der Selbsterhaltung und Selbstidentifika­ tion ist gegenüber Unbelebtem nicht so sehr ein gesteigertes Sein angesprochen, sondern bloß der Umstand, daß hier ein höherer Ty­ pus der Einheit vorliegt. Ein Gedankenexperiment mag dies weiter veranschaulichen: Ein soeben gestorbener Organismus enthält im wesentlichen alle Bestandteile, die der lebende enthielt. Wir identifi­ zieren den Leichnam durch seine arttypische Gestalt als einen Ver­ treter seiner Art, durch die Abwesenheit der Lebensvollzüge - den Mangel an Selbstidentifikation - als einen toten. Stellen wir uns nun vor, wir wären in der Lage, den Toten wiederzubeleben. Und legen wir uns die Frage vor, ob wir sodann an ihm eine Seinssteigerung vollzögen. Offensichtlich hat der Leichnam ein Dasein, ist durch sei­ ne Gestalt identifizierbar und gegen anderes Daseiendes abgegrenzt, mit welchem er nichtsdestoweniger die Seinsweise teilt, nämlich real zu sein. Jetzt werde der Leichnam in ein energetisches Feld getaucht und dadurch lebend. Wir werden sagen: der Körper, den wir vorhin als Leichnam angesprochen haben, ist jetzt ein lebender. Als dieser Körper Leichnam war, gehörten zu seinem Dasein eine bestimmte Gestalt, Gewicht, chemische Zusammensetzung als Eigenschaften oder Sosein. Durch die Wiederbelebung haben wir die chemische Zu­ sammensetzung nicht verändert, sondern den Komponenten bloß einen höheren Typus prozessualer Einheit zugewiesen. Wir haben die Einheit des Körpers gesteigert. Zu den Eigenschaften des Körpers gehört wieder die Lebendigkeit; aber sie bezeichnet kein gesteigertes Sein, da sie auf Prozessen beruht, die ebenso real sind wie alle unbe­ lebten Prozesse. Gemäß dem ontometrischen Prinzip Steinvorths sind Dinge in dem Grad, in dem sie willkürfrei identifizierbar sind; und Identifizierbarkeit korreliere dem Grad, in dem einem Ding seine Eigen­ schaften zukommen. Aus diesem Grunde »ist das Sein der Prädika­ tion steigerbar.« (KME 145) Die Identifikation von Lebewesen, so Steinvorth, erfordert we­ niger Willkür, als die Identifikation unbelebter Dinge, da Lebewesen ihre eigene Erhaltung anstreben: »Nicht wir unterscheiden sie von

20 Siehe auch Hartmann, Zeitlichkeit und Substantialität, in: Der philosophische Ge­ danke S. 122ff. ^

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ihrer Umwelt, sondern sie tun es seihst.« (KME 146) Er ist nun je­ doch der Meinung, daß das Prinzip der Fülle hei konkurrierenden Ansprüchen nicht geeignet wäre, etwa zu entscheiden, oh einem Biher oder einem Piranha höherer Daseinsrang zukommt (vgl. WÜ, 120 f.). Dieses Eingeständnis kommt unerwartet hei einem Philo­ sophen, der doch ansonsten sehr an unseren Intuitionen orientiert ist und für den die Seinshöhe der Skala der Evolution korrespondiert. Warum soll dem als »Landschaftsarchitekt« tätigen, hochentwickel­ ten Säugetier nicht eindeutig der höhere Daseinsrang zukommen? Es scheint, daß Steinvorths ontometrisches Prinzip nicht hinreichend trennscharf ist, um hier zwischen Fisch und Säugetier eine Differenz zu etahlieren und der Intuition Rechnung zu tragen. Zweifelsohne ist der Biher dasjenige Tier, welches in seiner Lehensweise mehr Diversität in dichterer Weise vereinigt, als dies heim Piranha der Fall ist. Wenn wir dem zustimmen, dann liegt mit Nozicks ontometrischem Prinzip eine Handhahe zur Erfassung unterschiedlicher Seinshöhe auch dort vor, wo Steinvorth eine interne Differenzierung nicht mehr möglich scheint. Es lautet in einer anderen Formulierung als der schon zitierten: »The greater the diversity that gets unified, the greater the organic unity; and also the tighter the unity to which the diversity is hrought, the greater the organic unity.«21 Denken wir üher diesen im Prinzip Leihnizschen ontometrischen Grundsatz nach, so erhalten wir, daß sich die Seinshöhe eines Gehildes nach der Mannigfaltigkeit hemißt, dessen Einheit es darstellt. Da wir die reale Welt nach Schichten unterteilen können (Unheleht-Lehendig-Bewußtsein/Seelisch-Selhsthewußtsein/Geistig) und mit der jeweils höheren Schicht reichere Differenzierung aufkommt, liegt es nahe, der jeweils höheren Schicht einen höheren Typus der Einheit zuzu­ ordnen, mit dem es die Mannigfaltigkeit hewältigt. Statt die Seinshö­ he der willkürfreien Identifizierharkeit von etwas korrelieren zu las­ sen, sollten wir die Seinshöhe in Beziehung setzen zu dem Grad, in dem ein Ding seine Eigenschaften vereinheitlicht. Sagten wir, die Seinshöhe einer Entität hemesse sich daran, wie willkürfrei wir sie identifizieren können, so sähen wir uns alshald vor die unhequeme Frage gestellt, warum gerade die Spannhreite des menschlichen Sensoriums für die Identifikation ausschlaggehend sein sollte. Gerade manche der Gehilde, denen wir intuitiv allerhöch­ sten Daseinsrang zusprechen würden, sind nur mit einem großen 21 Nozick, S. 164. 342

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Aufwand an Willkür identifizierbar. Dazu gehören insbesondere Ge­ stalten des überindividuellen Lebens wie Landschaften mit den in sie integrierten Biozönosen. Aber man muß nicht zu den großen Öko­ systemen gehen, um diese Schwierigkeit zu sehen. Schon ein Wald ist ungleich schwerer identifizierbar als ein Baum oder Reh. Dies würde unter den Voraussetzungen Steinvorths heißen, daß der Baum oder das Reh mit seiner Motilität »seinshöher« sind als der Wald. Wiederum erweist sich Nozicks ontometrisches Prinzip als eine not­ wendige Ergänzung, um die Bestimmung der Seinshöhe nicht kon­ traintuitiv ausfallen zu lassen: Ein Baum ist willkürfreier identifizier­ bar als ein Ökosystem, da er eine klare Grenze aufweist. Aber das Ökosystem weist ein größeres Maß an Vielfalt auf, welches es in dichterer oder intensiverer Weise vereint.22 Ähnliches trifft auf staat­ liche Gebilde gegenüber beispielsweise Familien zu.23 Auch das Maß an Aktivität wirft Probleme auf, wenn wir mei­ nen, es bestehe allgemein ein Vorrang der aktiveren Gebilde.24 Wenn Hegel über die Motilität sagt, »damit ist die Subjektivität des Tiers nicht bloß von der äußeren Natur unterschieden, sondern sie un­ terscheidet sich selbst davon ...«25, so haben wir zwar mit ihr ein Kriterium für willkürfreie Identifikation, aber eben ein sehr unspezi­ fisches: Das emsige Treiben einer Libelle oder eines staatenbildenden Insekts, seine größere Aktivität, sollte uns nicht veranlassen, ihm einen höheren Daseinsrang als dem Faultier zuzuschreiben. Die Schwierigkeit, zwischen der Seinshöhe eines Piranhas und 22 Siehe ebd. 23 Für die Bestimmung der Seinshöhe staatlicher Gebilde liefern Nozick und Steinvorth interessanterweise unabhängig voneinander ein relativ übereinstimmendes Kriterium. Nozick schreibt: »Note that a regimented society of individuals will not have the highest degree of organic unity or value. It will be less valuable than a free society wherein the major relations of people are voluntarily undertaken and modified in response to the particular changing conditions around them, giving rise to complexly interrelated and ever-shifting equilibria such as economic theory describes. There is the largest diversity of activity intricately unified« (a.a.O., S. 166). Und Steinvorth meint: »Auf dem demiurgischen Standpunkt verbinden sich Metaphysik und Praxis zur polydemiurgischen Politik. Diese Politik stimmt mit jeder anderen liberalen Politik darin überein, daß nur solche Verhältnisse erzwungen werden dürfen, die durch das Verletzungsverbot zu rechtfertigen sind ... Sie verfolgt... das positive Ziel, Verhältnisse zu schaffen, in denen die Menschen nicht nur frei von Zwang sind, sondern auch ihre spezifisch menschlichen Fähigkeiten des Urteilens so intensiv und extensiv wie möglich betätigen« (1994, S. 181). 24 Vgl. Steinvorth WÜ, 121. 25 Hegel, Enz. 351Z. a; S. 433. ^

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der eines Bibers zu unterscheiden, liegt nicht zuletzt in der mangeln­ den Trennschärfe des Prinzips »Identifikation als«. Aufgrund seiner Motilität mag ein Piranha ebenso willkürfrei zu identifizieren sein wie ein Biber. Ich schlage deshalb vor, es ergänzend mit einer anderen Identifikationsregel zu versuchen. Sie fragt nach »Identifizierbarkeit mit« und lautet: Eine Entität ist umso seinshöher, je schwieriger es ist, sie mit einer anderen zu identifizieren. »Identifizierbarkeit mit« ermöglicht offenbar eine Differenzierung auch innerhalb einer Stufe des Organischen. Wir finden nämlich, daß es schwieriger ist, einen Biber mit einem anderen zu identifizieren, als einen Piranha mit einem anderen Piranha. Dies liegt offenbar daran, daß im Biberorga­ nismus und in den Lebensäußerungen, dem Weltbilden und -erfah­ ren dieses Organismus mehr Diversität in dichterer Weise vereinigt wird, als beim Piranha der Fall; wobei die letztere Bestimmung No­ zicks ontometrisches Prinzip wiedergibt. Nehmen wir Nozicks Prin­ zip und »Identifizierbarkeit mit« zusammen, so sollten wir zu einer Reihe intraspezifischer Bestimmungen in der Lage sein. Fragen wir etwa, ob ein Stück Rohgold oder eine Schneeflocke das seinshöhere Gebilde ist, so scheint es sich um die Schneeflocke zu handeln. Zum einen ist es schwieriger, sie mit anderen Schneeflocken zu identifizie­ ren, zum anderen ist die Diversität räumlicher Anordnung bei ihr zu entschiedenerem Ausdruck gelangt. Um die Seinshöhe von etwas einzuschätzen, ist es vonnöten, sich von der Verhaftung an das Dingliche zu lösen. Erismann verfügt mit Nozick über ein ontometrisches Prinzip, welches auf jeder Seins­ stufe eine interne Differenzierung zuläßt. Aber auch er ist zu sehr am Dinglichen orientiert, als daß sein Prinzip zur Anwendung kom­ men könnte. Erismann meint, es könne die Einheit eines Lebewesens (Ausdruck der Seinshöhe) durch die Armut der Aufbauprinzipien gestört werden. So sei das Nilpferd »schwerfällig, ungehobelt, undif­ ferenziert, nur in groben Massen zusammengefügt. Ein Bau der Na­ tur, der sozusagen nur in groben Umrissen ausgeführt und schon belebt worden ist.«26 Erismann übersieht, daß das Nilpferd nicht nur plumpe Dinglichkeit ist, nicht bloß eine organische Masse, sondern zu seinem Dasein gehören reale Vorgänge wie Revierbildung, So­ zialleben, Aufzucht der Jungen, die ein jedes Individuum dieser Art an sich in intensiver Weise vereint. Für die Vollkommenheitsethik ist nun problematisch, daß die 26 Erismann, S. 138. 344

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Vollkommenheit der Gebilde mit steigender Seinshöhe in einer rele­ vanten Hinsicht nicht zu-, sondern abnimmt: Je größer die zu bewäl­ tigende Mannigfaltigkeit ist, desto weniger vollkommen gelingt die Einheitsgebung. Ein Beispiel: Der Mannigfaltigkeit, der Einheit ge­ geben werden muß, wo es um das Dasein eines Sonnensystems geht, entspricht ein niederer Typus der Einheit, als bei einem Pantoffel­ tierchen der Fall. Um das Dasein des Sonnensystems zu sichern, ist es zureichend, die fugalen Tangentialbewegungen der Massekörper, aus denen es zusammengesetzt ist, durch die Gravitation einer gro­ ßen Zentralmasse als parabolische Bahnen zu realisieren. Wegen des Effekts der Gleichförmigkeit, der dadurch am ausgestirnten Himmel erzeugt wurde, galt der Antike der supralunare Bereich als der voll­ kommenere. Nach obigem ontometrischen Prinzip muß hingegen das Pantoffeltierchen insoweit als das vollkommenere Gebilde gelten, als sich sein Bestand einem höheren Typus der Einheit (nexus organicus) verdankt, welcher eine viel größere Mannigfaltigkeit inte­ griert, als beim Sonnensystem der Fall. Gleichzeitig jedoch wird diese Einheit nur in sehr viel unvollkommenerer Weise aufrechterhalten. Organismen sind sehr viel fragilere, weil bestimmtere Einheiten als Steine oder Metalle. Die Erörterung der demiurgischen Metaphysik Steinvorths sollte deutlich gemacht haben, wie schwierig es ist, den Begriff der Seins­ steigerung zufriedenstellend zu konzeptualisieren und ist doch zu­ gleich anregender Impetus, einen weiteren Versuch zu unternehmen, der jetzt gewagt werden soll. Steinvorth behauptet den Vorrang »all­ gemein der aktiveren und rezeptiveren Seinsweise« (WÜ, 121). Hier stehen wir vor einem weiteren grundlegenden Problem. Von diesen beiden Momenten nämlich ist das der Rezeptivität einer Identifika­ tion schwerlich zugänglich. Denn Rezeptivität korrespondiert einer Repräsentation des Rezipierten; diese Repräsentation aber verweist ihrerseits auf einen Begriff von Innerlichkeit, welche eben nicht willkürfrei identifizierbar ist, sondern für die wir auf (Selbst-) Be­ kundung und Ausdruck angewiesen sind. Ein Tier stellt sich uns als Körper dar, aber wir können es weder mit diesem Körper noch als diesen Körper identifizieren, weil es ihn zugleich als Leib hat, den es - anders als die Pflanze - durchherrscht. Das Tier ist ein rückbezüg­ liches Selbst oder ein Sich. Organismen sind identifizierbar, da sie dem Realen angehörende und (von Tropismen bei Pflanzen abge­ sehen gilt dies nur für Tiere) motile Dinge sind. Aber sie gehören ^

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dem realen Sein nicht nur an, sondern sie haben es auch in irgend­ einer Weise als Welt. Das Tier bekundet sich als Selbst, es merkt sich und die Umwelt, es merkt sensorisch und wirkt motorisch; und hoch­ entwickelte Tiere mögen in irgendeiner Form von sich wissen.27 Dem Umstand, daß das Tier sowohl als Körper wie auch im Körper - als Innerlichkeit - sein Leben vollzieht, können wir nicht durch eine wie immer willkürfreie Identifikation des Tieres auf die Spur kommen. Identifizierbar ist nur die Grenze eines Organismus, sind alle jene seiner Lebensäußerungen, die zugleich räumlich und zeitlich sind, wie: Ortsbewegung, Stoffwechsel, Lautgebung. Unzugänglich bleibt dem gegenüber nicht nur die nichtquantifizierbare, sondern auch schlecht zu qualifizierende Innerlichkeit. An der Innerlichkeit scheint die Ontometrie eine Grenze zu finden. Grund dafür ist all­ gemein gesprochen ein ontologischer Vorrang der Zeit vor dem Raum28: Zeitlich ist alles Reale, was durch den Umstand abgestützt ist, daß die Seinsart alles Realen das Werden ist. Während alles Reale zeitlich ist, so sind doch diejenigen Gebilde, die wir mehr oder weni­ ger willkürfrei identifizieren können, zugleich auch räumlich. Man­ che dieser raumzeitlichen Gebilde, die wenigsten im Universum, sind aber zugleich Träger derjenigen beiden Seinsschichten, die allein zeitlich sind: Seelisches und Geistiges. Seelisches und Geistiges sind real, aber sie sind nur zeitlich. Alle Versuche, sie als räumliche Ge­ bilde zu fassen, schlagen fehl. Wir sahen bereits, daß Steinvorth seine Ausführungen zur Ontometrie nur auf die Bestimmung der Seinshöhe von Entitäten in Anwendung bringt, die unterschiedliche Seinsschichten repräsentie­ ren. Bereits bei der Frage »Piranha oder Biber?« sieht er sich zu keiner internen Differenzierung mehr in der Lage. Da offenbar im Dasein des Bibers mehr Mannigfaltigkeit vorkommt und die vor­ kommende Mannigfaltigkeit wahrscheinlich in bestimmterer Weise vereinheitlicht ist, sollten wir uns im Zweifelsfalle für den Biber ent­ scheiden. Anzumerken ist dabei, daß sich diese ontometrische Ent­ scheidung nur auf den Biber als raumzeitliche Entität erstreckt. Auf ein reicheres Seelenleben oder Bewußtsein können - und sollten wir höchstens schließen. 27 Für Näheres zu diesem Thema siehe Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch bes. S. 70. 28 Zum größeren Fundamentalcharakter der Zeit gegenüber dem Raum siehe Hart­ mann, Neue Wege der Ontologie, S. 21ff. 346

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Das Problem der Seinssteigerung

Oben habe ich dafür argumentiert, daß wir Seiendes in seinem Sein nicht eigentlich steigern können. Wir können es, dies ging aus den bisherigen Überlegungen hervor, nur umschaffen. Es gilt jetzt, diesen Befund nochmals zu prüfen. Wenn ein Mensch hervorgebracht wird, so wird einer Mannigfaltigkeit an Realem, an Materie, die vorher schon da war, ein neuer Einheitstypus auferlegt. Durch verhältnis­ mäßig geringes Zutun unsererseits wird hier raumzeitliches Dasein umgeschaffen und vereinheitlicht. Imgleichen aber wird doch mit jeder Hervorbringung Realität nicht nur umgeschaffen, sondern neu geschaffen: Es ist das Bewußtsein mit seiner, wie es scheint, nur zeit­ lichen und deshalb schwer zu identifizierenden Realität. Wobei das Bewußtsein nicht mit seinen raumzeitlichen Manifestationen gleich­ zusetzen ist. - Hirnprozesse oder Worte können wir identifizieren. Und auch ein Computer richtet sinnvolle Sätze an uns, ohne doch so etwas wie Innerlichkeit aufzuweisen. Mit dem Bewußtsein von Men­ schen, die wir hervorbringen, bringen wir ein Reales hervor, das zu­ vor nicht da war. So gesehen sind wir nicht bloß umschaffende Demiurgen, sondern Schöpfer, auch wenn wir unser Handwerk nicht verstehen. Indem wir Menschen hervorbringen, bringen wir ein Mehr an Realität hervor, welches der raumzeitlichen Realität als rein zeitliche aufruht. Was wir damit steigern, ist nicht die Realität von einzelnem, sondern die Realität der Welt im Ganzen. Gerade indem wir rein zeitlich seiende Realität hervorzubringen imstande sind, vermögen wir das zu leisten, worauf der Begriff der Seinssteigerung abzielt. Zur Erläuterung sei die Auffassung Hares herangezogen. Hare vertrat die Auffassung, eine identifizierende Bezugnahme auf ein menschliches Individuum sei bereits dort möglich, wo »es« nur in Gestalt separater Gameten vorliegt (vgl. oben 17.1). Diese Auffas­ sung ist verfehlt. Selbst wenn wir in der Lage wären, jedes einzelne Atom und Molekül zu identifizieren, aus denen der spätere Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt zusammengesetzt sein wird, so hät­ ten wir ihn damit nicht identifiziert. Der Grund dafür ist, daß das, was einen Menschen ausmacht: Bewußtsein und Geist, nicht raum­ zeitlich und somit an unbelebten Atomen und Molekülen identi­ fizierbar, sondern allein zeitlich real ist. Wird ein Mensch oder ein rezeptiver Organismus hervorgebracht, so werden einerseits die Ato­ me und Moleküle, die in den Organismus eingehen, umgeschaffen; als Bestandteile des Organismus unterstehen sie einem höheren Ty­ pus der Einheit. Aber dies bedeutet nicht, daß ihr Sein gesteigert worden wäre. Daß wir dennoch von Steigerung reden können, liegt ^

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daran, daß mit jedem bewußten oder selbstbewußten Wesen ein Plus zur raumzeitlichen Realität hinzukommt: rein zeitlich dimensionier­ te Realität, für die es der Selbst-Mitteilung bedarf, soll sie identifi­ zierbar sein. Das Hervorgehen von Bewußtsein oder Selbstbewußtsein aus dem nexus organicus verstehen wir nicht. Um zu kennzeichnen, daß es sich um ein Novum handelt, bedient man sich der Ausdrücke Emergenz oder Fulguration. Es folgt dann weiter, daß echte Seins­ steigerung, vielleicht sollte besser von Seinsvermehrung die Rede sein, nur dann möglich ist, wenn Materie einerseits und Seelisches oder Geistiges andererseits in einem diskontinuierlichen Verhältnis stehen. Ist unbelebte Materie im Grunde schon beseelt oder geistig, so wäre die rein zeitliche Realität zumindest infinitesimal schon da, und das Hervorbringen bewußter Wesen wäre dann doch eher ein Umschaffen des Vorhandenen als eine Mehrung von Realität der Welt im Ganzen. Dies ist eine ontologische Vermutung. Ob entsprechend die Be­ wirkung oder Vermehrung rein zeitlicher Realität geboten oder auch nur zu rechtfertigen ist, ist eine andere Frage. Wer von der Förde­ rungswürdigkeit des Seins überzeugt ist, findet im soeben Aus­ geführten einen Vorschlag, wie der Seinsförderung als Seinssteige­ rung ontologisch Ausdruck gegeben werden kann. Wir müssen jetzt das Problem einer gewissen Janusköpfigkeit der Ontologien menschheitlichen Seinsollens behandeln. Handelt es sich bei ihnen einerseits um Versuche, das Daseinsollen von Men­ schen zu begründen, so hängt ihnen doch zugleich immer auch ein Moment menschheitlicher Entbehrlichkeit an. Vor ein ähnliches Pro­ blem sah sich bereits der Versuch einer utilitaristischen Begründung menschheitlichen Seinsollens gestellt. Im Utilitarismus konkurriert der Mensch mit dem Glück, Leid oder den Präferenzen aller empfin­ dungsfähigen Wesen, weshalb nicht ausgeschlossen ist, daß eine Bi­ lanzierung ergeben würde, daß besser keine Menschen wären.

22.6 Entbehrlichkeit des Menschen in den Ontologien menschheitlichen Seinsollens Im folgenden soll über die Stärke der Außenverankerung dadurch mehr in Erfahrung gebracht werden, daß wir die Ontologien menschheitlichen Seinsollens vergleichend nach der Entbehrlichkeit des 348

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Entbehrlichkeit des Menschen in den Ontologien menschheitlichen Seinsollens

Menschen befragen. Soll das Seinshöchste realisiert respektive erhal­ ten werden, so ist nicht ausgeschlossen, daß Menschen höheren Seinsformen zu weichen haben, wo keine Kompossibilität mit ihnen möglich ist. Dieser Umstand, daß der Auftrag zur Seinssteigerung auf der Grundlage der Ontometrie auch einmal im Auftrag zur Selbstaufhebung der Menschheit resultieren kann, ist von Nozick klar erkannt worden: »The absolutist stance specifies the locus of value as the total of reality in the world; this includes one's own reality and that of one's connections ... In its maximizing mode, it mandates acting so as to maximize the total (amount and degree of) reality in the universe. By the breadth and neutrality of its concern, reality everywhere and anywhere, the absolutist stance extends its purview far beyond the traditional focus of ethics. Planetary systems, stars, galaxies, immense and far-flung intelligences - who knows what the universe might contain whose intense reality might be greater than ours and, in situations of conflict, outweigh our own (one persons's or even that of all of humanity together) according to the absolutist stance.«29 Befragen wir zunächst die demiurgischen Metaphysiken Stein­ vorths und Hartmanns, so ist es die Ontologie menschheitlichen Seinsollens des ersteren, gemäß welcher die Welt des Menschen eher entbehren könnte als bei Hartmann der Fall. Für Hartmann nämlich wäre ohne Menschen die gesamte Wertfülle des Idealen gleichsam vergeblich da.30 Jedenfalls träfe dies zu, falls die Wertrealisation ex­ klusiv anthropomedial und nicht noomedial ist, der Ruf des Idealen also nicht an anderen Stellen der Raumzeit ebenfalls vernommen wird. In der demiurgischen Metaphysik Hartmanns sind Menschen unverzichtbar als einzig bekannte Vermittler zwischen Idealem und Realem. Steinvorths demiurgische Metaphysik hingegen ist kategorial so angelegt, daß Menschen ein höherer Grad an Entbehrlichkeit zukommt. Selbst wenn wir einmal voraussetzen, daß es nirgendwo sonst Vernunftwesen gibt, ist der Mensch in der Ontologie Steinvorths nur graduell einzigartig, während er es bei Hartmann unter dieser Voraussetzung in einem absoluten Sinne wäre. Für letzteren können unter der Voraussetzung exklusiver Vermittlung durch Menschen ohne Menschen Werte in keiner Weise realisiert werden. Für Stein­ 29 Nozick, The Examined Life, S. 155. 30 Vgl. Hartmann, Teleologisches Denken, S. 114. ^

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vorth dagegen ist die Vermittlung zwischen Möglichkeit und Wirk­ lichkeit - den Seinsmodi - in geringerem Maße exklusiv auf den Menschen angewiesen als hei Hartmann die Vermittlung zwischen den Seinsweisen. In der demiurgischen Metaphysik Steinvorths realisiert das Sein seine Möglichkeiten vor und nehen dem Menschen. Üher die Welt im ganzen sagte er, es ist üherhaupt etwas, »damit auch wir soviel wie möglich verwirklichen.« (WÜ 150; meine Herv.). Menschen sollen sein als die selhsthewußt gewordene Spitze in der Selhstvervollkommnung des Seins, als Mitarheiter im Prozeß der Vervollkomm­ nung. Steinvorths Antwort auf die Frage nach dem Warum von Etwas üherhaupt hesagt, »daß der Sinn des Seins in der Verwirklichung seiner Möglichkeiten hesteht und weist dem Menschen seinen Sinn in seinem Beitrag zu dieser Verwirklichung zu. Sie unterstellt dahei, daß das menschliche Sein diesen Sinn nur hahen kann, weil ein vom menschlichen Sein unahhängiger Sinn der Welt hesteht, nämlich der, ihre Möglichkeiten zu verwirklichen.« (WÜ, 153) Zöge der Mensch sich aus dieser Welt zurück, so würde sie nicht sinnlos. Die Enthehrlichkeit des Menschen in ihr ist größer, sie ist auf den Menschen weniger angewiesen, weniger anthropomedial, als die in der Ontolo­ gie Hartmanns heschriehene Welt. Recht hesehen hesteht jedoch, trotz des soehen dargestellten Unterschieds, im Rahmen heider demiurgischer Metaphysiken eine Gleichgültigkeit des Seins gegen die Anwesenheit und Vermittlertä­ tigkeit des Menschen: Ehensowenig wie den Ideen Hartmanns ein Interesse an Realisierung, können wir der Suhstanz Steinvorths ein Interesse an der Realisierung der ihr inhärenten Möglichkeiten zuschreihen. Hieraus ergiht sich nun aher, daß eine den Menschen als cooperator essentis fassende demiurgische Metaphysik kaum in der Lage ist, eine Anthropodizee zu leisten. Eine Vorstellung des Men­ schen als Demiurg und Transmissionsriemen zwischen den Seinswei­ sen oder den Seinsmodi ist nur zur Niederhaltung oder philosophi­ schen Bekehrung einer schwachen gnostischen Skepsis geeignet, einer Skepsis, die den Verehhensgedanken noch nicht ins Auge gefaßt hat und nur auf die Zuweisung von Sinn in der Welt und einer Aufgahe für den Menschen in ihr hedacht ist, einer Skepsis, die noch nicht nach einer philosophischen Rechtfertigung für die Weitergahe menschlichen Lehens gefragt hat. Hat sich einmal Skepsis gegenüher der »Größe des Seins« und 350

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Entbehrlichkeit des Menschen in den Ontologien menschheitlichen Seinsollens

einer Aufgabe des Menschen in ihm eingestellt, so kennt die demiurgische Metaphysik keine weiteren Möglichkeiten der Überzeugung. Steinvorth weiß darum, wenn er sagt, es gebe »keine zwingenden Gründe, sich für das Prinzip der Fülle zu entscheiden« (WÜ 179), wie für ihn auch »die Überzeugung, daß es besser ist, daß überhaupt etwas ist, als daß nichts ist, nicht beweisbar ist ...« (WÜ 124) Steinvorths Ausführungen verdeutlichen einmal mehr, daß sei­ ne demiurgische Metaphysik in einem Verweisungszusammenhang von Intuitionen steht, die, etwas unspezifisch, die »abendländische Überlieferung« genannt werden mag. Entscheidendes Strukturmerk­ mal dieser Überlieferung ist die Forderung, daß der Mensch um eines Größeren willen, als er selbst ist, bestehen soll. Über lange Zeit ist dieses Größere Gott gewesen, dem zu dienen Menschen geschaffen worden seien. Aber der philosophischen Theologie, die ja überwie­ gend von einem nicht leidensfähigen Gott ausging31, darf eine Be­ schäftigung mit dem Gedanken nicht erspart bleiben, daß Gott durch den menschlichen Dienst an ihm nicht geholfen, verbessert oder ge­ steigert werden kann. Eine - für uns: paradoxe - Antwort auf die Frage, warum Gott die Kreatur schuf, wenn ihm durch dieselbe doch nicht geholfen wer­ den konnte, lernten wir in den Worten des Hugo von St. Viktor be­ reits kennen; sie lautete dahingehend, dem Menschen selbst solle geholfen werden dadurch, daß er geschaffen wurde und Gott diene (vgl. oben 8.1). Auf die Frage nach dem Warum des Menschen wird mittelalterlich mit einem Damit geantwortet. Hugo bringt zum Aus­ druck, der Mensch solle als Diener Gottes sein, damit ihm geholfen werde. Und auf daß er Gott dienen könne, wodurch ihm geholfen würde, wurde die nichtmenschliche Welt mit dem Menschen als ihrem Herrn geschaffen. Zusammengefaßt besagt dies: Der Mensch wurde mitsamt der ihm untertänigen Welt geschaffen, damit ihm als Diener Gottes geholfen würde. Aber dies heißt soviel wie: Mensch und Welt sind geschaffen worden zur Vervollkommnung beider, die ehedem nicht waren. Wobei diese Antwort ein Außen voraussetzt Gott. 31 Nur ein Hinweis: In Kapitel VIII seines Proslogium fragt Anselm, wie denn die Leidlosigkeit Gottes mit dem Umstand zusammengehen könne, daß er den Verzweifelten doch so großen Trost zu bieten vermag: Muß dies nicht als ein Zeichen dafür genommen werden, daß Gott mit-leidet? Anselm antwortet auf diese Frage, Gott sei nur nach Ma­ ßen unserer Erfahrung mitleidend, nicht hingegen nach Maßen seiner eigenen; Anselm, S. 59. ^

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Kapitel 22: Die Avantgarde des Seins (Steinvorth)

Von dieser für den modernen Menschen paradoxen Antwort der Ontotheologie auf die Frage nach einem Warum menschlichen Da­ seins ist die Antwort Steinvorths auf die Frage nach dem Warum von Etwas überhaupt, nach dem Warum des Seins, strukturell nicht weit entfernt (freilich mit dem Unterschied fehlender Transzendenz, da bei ihm die eine Substanz, mögliches und wirkliches Reales, für das steht, größer als was nichts gedacht werden kann). Meint er doch ebenfalls, es gebe deshalb überhaupt etwas, damit es vollkommener werde, nicht deshalb, weil ein Anderes des Seins bedurft oder es ge­ wollt hätte. An dieser Stelle unserer Überlegungen ist es naheliegend, eine andere Intuition anzusprechen. Mit Bezug auf das, größer als was nichts gedacht werden kann, fragt sie, ob es nicht auch gut gewesen wäre, wenn die Schöpfung nicht stattgefunden hätte. Denn Gott be­ durfte der Schöpfung nicht. Und der Mensch mußte erst einmal da­ sein, um den Dienst an Gott zu seiner, des Menschen, Vervollkomm­ nung nötig haben zu können. Hinsichtlich der strukturanalogen Momente in der demiurgischen Metaphysik Steinvorths fragt die andere Intuition - wir können sie die im Abendland nicht durch­ gesetzte gnostische nennen - ob es nicht auch als gut zu qualifizieren wäre, wenn sich der Mensch aus einem gegen jede Vervollkomm­ nung und Steigerung letztlich doch gleichgültigen Sein, aus dem er hervorgegangen, wieder herausnähme. Dem Wertblinden, so Steinvorth, vermag die Förderungs­ würdigkeit des Seins nicht einzuleuchten. Hier sprechen er und an­ dere mit dem Pathos derjenigen, die den Verweisungszusammen­ hang der den Kern abendländischer Überlieferung ausmachenden Intuitionen hinter sich wissen: Gut ist das Hervorbringen von mehr und Höherem, soweit das neu Hervorgebrachte mit bestehendem Hohem zu koexistieren vermag. Aber diese Intuition, so können wir mit gleichem Recht sagen, geht einher mit Blindheit für ein Prinzip der Güte: Hilf dem Leidenden und hebe das Leben als Leiden leidlos auf, sofern nicht etwas Höheres unter der Aufhebung leiden würde. In Anbetracht dieser Option kann die Perpetuierung des Leidens nur­ mehr als ein Opfer zugunsten eines Höheren konzeptualisiert wer­ den (siehe Kap. 24). Die Erörterung der demiurgischen Metaphysik Steinvorths läßt uns mit dem Problem zurück, daß in ihr das Seinsollen von Men­ schen an eine entsprechende Intuition rückgebunden bleibt, es sich bei ihr im Grunde um die systematische Rekonstruktion einer vor­ 352

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Entbehrlichkeit des Menschen in den Ontologien menschheitlichen Seinsollens

gängigen Intuition handelt. Steinvorths Ausführungen sind der Ver­ such einer Grundlegung der Moral für Seinshejaher. Er sagt selbst: »Wir können nicht ausschließen, daß es für die Anerkennung des Wollensohjekts des Nichtseins ebenso gute oder bessere Gründe gibt ,..«32 Es stellt sich also weiterhin die Frage, oh menschheitliches Seinsollen auch unabhängig von vorgängiger Intuition hzw. gegen eine anderslautende Intuition ontologisch begründet werden kann. Dieser Frage nachgehend, wende ich mich im jetzt einer weiteren demiurgischen Metaphysik zu. Um der am Gütigen orientierten gnostischen Intuition oder asiatischen Urentscheidung etwas entgegenstellen zu können, sah Jonas sich letztlich genötigt, seine Seinsmetaphysik um theologische Bestandsstücke zu erweitern, respektive gar nicht erst auf diese zu verzichten. Sein »Prinzip Verantwortung« enthält berechtigte Kritik an der von Ernst Bloch in »Das Prinzip Hoffnung« vorgetragenen Gesellschaftsutopie33. Was Jonas nicht gesehen zu haben scheint, ist dies, daß Blochs »präzise Ontologie des noch Nicht« (PV 342) auch als Ontologie menschheitlichen Seinsollens gelesen werden kann. Mit ihr beschäftige ich mich im folgenden als einer wesentlich an der Kategorie der Möglichkeit orientierten demiurgischen Metaphy­ sik, in der der Mensch dem Sein in geringerem Grade entbehrlich ist als bei Hartmann und Steinvorth der Fall. Die außenverankerte Auf­ gabe des Menschen liege nicht nur darin, vom Sein nicht realisierte Möglichkeiten zu realisieren, sondern überdies darin, einen ganz neuen Horizont von Möglichkeit zu eröffnen. Zudem ist Blochs On­ tologie ein Versuch, das Sein so zu konzeptualisieren, daß es sich gegen die Anwesenheit von Menschen nicht als indifferent erweist.

32 Steinvorth, Klassische und moderne Ethik, S. 155. 33 Vgl. Jonas, PV S. 342ff. ^

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Kapitel 23

An der Front des Weltprozesses. Demiurgische Metaphysik III: Der Mensch als Vollender des Weltfragments (E. Bloch)

23.1 Versuchte Abwehr des kosmischen Menschheitsendes Betrachtungen zur Ontologie menschheitlichen Seinsollens Weihen in einer wesentlichen Hinsicht unvollständig, wenn sie nicht die Neganthropie des Umgreifenden herücksichtigen: die Vergänglich­ keit alles Irdischen wegen seiner Einhettung in das kosmische Ge­ schehen. Das Umgreifende alles Geschehens ist ein Zustand maxima­ ler Entropie, in dem alle energetischen Differenzen ausgeglichen sein werden. Alles Reden üher menschheitliches Seinsollen steht gleich­ sam im Schatten dieses Umgreifenden. Die kosmische Evolution ist deshalh das den Menschen physisch Umgreifende, weil sie den Menschen irgendwann verschwinden las­ sen wird, nicht anders, als sie ihn hervorhrachte. Gerade aus diesem Verständnis des physisch Umgreifenden mag die Sehnsucht nach einem metaphysisch Umgreifenden erwachsen und die Arheit an der Metaphysik immerfort aufs Neue anhehen. In der Tat sollte man voraussetzen können, daß eine jede Zu­ kunftsethik sich der zeitlichen Begrenztheit von Lehen und Bewußt­ sein im Kosmos vergewissert hat.1 Und so überrascht es, wenn wir finden, daß mancher Zukunftsethiker die wahrscheinlichste kos­ mische Entwicklung nicht an sich heranläßt. So nennt Jonas es »ein allgemeines Axiom«, »daß es in alle Zukunft eine solche Welt gehen soll - eine Welt geeignet für menschliche Bewohnung - und daß sie in alle Zukunft hewohnt sein soll von einer dieses Namens würdigen Menschheit ...« (PV 33) H. Skolimowski schreiht ganz in diesem Sinne: »Wir müssen den Mut hahen, 500 Millionen Jahre voraus­ zuschauen und zu ahnen, was für phantastische Wesen wir dann sein werden.«2 Indem Jonas die permanente Anwesenheit von Menschen 1 Vgl. z.B. Birnhacher 1988, S. 166. 2 Skolimowski, S. 108. 354

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auf der Erde zu einem Axiom erhebt, erweist sich sein Denken aus­ gerechnet in der für ihn zentralen Frage als mit der Weitsicht der modernen Naturwissenschaft absolut unvereinbar.3 Den Wärmetod einmal beiseitegelassen, ist eine menschheitliche Permanenz auf Er­ den, sehr langfristig gesehen, allein schon aus Gründen des Fusions­ geschehens im Innern der Sonne unmöglich.4 Menschheitliche Permanenz anderswo wäre nur auf der Basis einer völlig neuartigen Technik zu gewährleisten. Um am kategori­ schen Imperativ menschheitlicher Permanenz festhalten zu können, hätte Jonas sich also einer utopischen Technologie verschreiben müssen, wie wir sie bei Bloch antizipiert finden. Einen neuen Tech­ nikschub aber lehnt er auf der Grundlage seiner Heuristik der Furcht ab. Die Ablehnung einer solchen Technik bei gleichzeitiger Hochhal­ tung des Imperativs menschheitlicher Permanenz ist Jonas nur unter Außerachtlassung grundlegender, aber philosophisch höchst relevan­ ter naturwissenschaftlicher Einsichten möglich. Man sieht, wie der kategorische Imperativ menschheitlicher Per­ manenz Jonas unweigerlich in die Nähe des von ihm scharf kritisier­ ten Bloch rückt! Eine Permanenz der Menschheit auf Erden wäre nur unter der Bedingung möglich, daß es gelänge, das Fusionsgeschehen im Innern der Sonne zu manipulieren. Nur eine für heutige Begriffe gänzlich unvorstellbare Technik, für deren künftige Verwirklichung es keinerlei naturwissenschaftliche Indizien gibt, wäre dazu in der Lage. In noch höherem Maße gälte dies für eine Abwendung der zumeist »Wärmetod« genannten Einebnung aller energetischen Dif­ ferenzen im Weltall.5 3 Es ist nicht ganz nebensächlich, dies hervorzuheben, da Wetz hier zu einem anderen Schluß gekommen ist: »Die spekulativen Ansätze von Jonas und Henrich sind so faszi­ nierend, weil sie sich nicht nur in logischer, sondern auch in physiognomischer Hinsicht weitgehend mit der Weltsicht der modernen Wissenschaft vereinbaren lassen.« Wetz, Lebenswelt und Weltall, S. 380. 4 Für den Fall, daß die Permanenz der Menschheit nicht erst am Aufgebrauchtsein der Wasserstoff- und Helium-Vorräte der Sonne scheitert, sondern bereits an der Endlich­ keit irdischer Ressourcen, weiß ein populärer Autor der ehemaligen DDR den Ausweg: »Selbst wenn sich in sehr ferner Zukunft die Ressourcen unserer Erde insgesamt als unzureichend erweisen sollten, die Ressourcen unseres Sonnensystems und der Milch­ straße sind grenzenlos. Bis dahin wird der Mensch zum Beherrscher größerer Teile des Kosmos aufsteigen und die weitere Existenz des Menschengeschlechts sichern ...« (Erich Hanke, Ins nächste Jahrtausend. Was steht uns bevor?) Vgl. zum Thema: John Gribbin, The Death of the Sun. 5 Die Rede vom Wärmetod basiert auf einer offenbar universellen Naturtendenz zur ^

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Kapitel 23: An der Front des Weltprozesses (Bloch)

Es ist in der Tat erstaunlich, was für ein grenzenloses Vertrauen in die Möglichkeiten der Technik manche Denker an den Tag legen, wenn es darum geht, die Permanenz der Menschheit - wenn schon nicht auf Erden, so doch woanders im All - denkbar zu machen. So sagt J. Narveson: »No doubt the earth will eventually either freeze or burn to cinders, but by then people may have found out how to move on.«6 Und selbst einen Denker wie Karl Jaspers sehen wir in der Frage menschheitlicher Permanenz den Gedanken aussprechen, es sei gänzlich unabsehbar, was der Mensch technisch noch erreichen wer­ de. Nicht auszuschließen sei, daß der Mensch sich in die Weiten des Weltalls ausbreiten werde, bevor die Aufblähung oder das Erkalten der Sonne alles Leben auf der Erde verunmöglicht.7 Zur Idee eines Aufbruchs von der Erde zwecks Erhaltung menschheitlicher Per­ manenz ist leider zu sagen: Selbst wenn wir von der Erde in das Welt­ all aufbrechen könnten, dem Prozeß zunehmender Entropie würden wir durch Fortbewegung im Raum nicht entkommen. Bei Bloch wird die Permanenz der Menschheit nicht mittels räumlicher Flucht in Aussicht gestellt, sondern über die Mutma­ ßung, daß wir mit dem »Haus des Seins« eben doch noch nicht recht vertraut sind. Bloch kennt eine »objektive Produktionstendenz der Welt« (PH 803)8, die mit dem Einsetzen der menschlichen Geschichte nicht aufgehört habe. Für ihn »ist es sicher, daß das menschliche Haus nicht nur in der Geschichte steht und auf dem Grund der menschlichen Tätigkeit, es steht vor allem auch auf dem Grund eines vermittelten Natursubjekts und auf dem Bauplatz der Natur.« (PH Degradation mechanischer Energie. Nichtsdestotrotz stellt das Szenario eines Weltalls, das im Laufe seiner Vorgänge und Umwandlungen irgendwann seine Unterschiede auf­ gebraucht haben wird, eine Extrapolation kosmischen Ausmasses aus gegenwärtigen und beschränkten Kenntnissen über den kosmischen Energieumsatz auf die Welt im ganzen dar. Man kann deshalb nicht sicher sein, daß der Wärmetod mit ebensolcher Unverbrüchlichkeit eintreten wird, wie eine Aufblähung oder ein Verlöschen der Sonne. Für eine schwache Skepsis hinsichtlich des Eintretens des Wärmetods siehe das populäre Buch von I. Prigogine/I. Stengers, Dialog mit der Natur, S. 124. 6 Narveson, Future People and Us, S. 40. 7 Siehe Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, S. 411. In »Vom Ur­ sprung und Ziel der Geschichte« hingegen hatte Jaspers noch auf die Zugänglichkeit unseres Planeten im Ganzen hingewiesen und darin das Verschlossensein aller räumli­ chen Auswege erkannt: »Jetzt ist das Haus unseres Daseins abgeschlossen, in seiner Größe genau bekannt, für Plan und Tat als Ganzes ins Auge zu fassen. Aber dieses Ganze ist radikal isoliert im Weltall.« Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, S. 295. 8 PH, künftig als Abkürzung für: Das Prinzip Hoffnung. 356

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807) Wahre Vertrautheit käme in einer »Allianz-Technik« zum Aus­ druck, worunter er »eine mit der Mitproduktivität der Natur vermit­ telte ...«, Technik versteht, kraft derer Menschen in der Lage sein würden, »die Bildekräfte einer gefrorenen Natur« freizusetzen (PH 807). Dieser Allianz-Technik liegt Blochs »Ontologie des NochNicht«, das ist für uns: seine Ontologie menschheitlichen Seinsollens, zugrunde. Blochs Ontologie steht für eine Permanenz der Menschheit auf Erden ein. Er hat dieses Ziel mit Jonas gemein. An­ ders als Jonas jedoch, sieht er der umgreifenden Neganthropie ins Auge und sucht philosophisch nach einer Abwehr. Sehen wir zunächst, wie der frühe Bloch bereits in »Geist der Utopie« die Neganthropie des entropischen Weltprozesses reflek­ tiert. Er rezipiert dort den unabänderlichen Prozeß entropischer Ni­ vellierung aller energetischen Differenzen9, und er bedauert wie Jo­ nas den Verlust der Transzendenz10, ohne welche die »Dummheit des einfach wertfreien, gottverlassenen Kausalnexus«11 auch für ihn zu einem erheblichen neganthropischen Faktor wird. Ähnlich wie spä­ terhin J. Monod, bringt Bloch die Rede auf unseren »Lokalpatriotis­ mus von Kultur inmitten eines ... völlig fühllosen Universums .. ,«12, und er stellt die entscheidende, das Problem des Menschheitlichen aktualisierende Frage: »Lohnt es sich überhaupt, bei der erbärmli­ chen Kürze unseres Daseins, die Arbeit nicht nur für die Kinder und die Familie und das schon gegenwärtig überindividuell bestehende Staatsgebilde, sondern auch für all das Breitere mit zu übernehmen, das von keiner einzelnen Seele jemals als Ganzes aktuell zu erfassen ist, und das nur begriffsrealistisch als Geschichte oder Menschheit oder als welche Objektivität immer besteht?«13 Das Problem, für das der frühe Bloch im Sinne einer Arbeit am eigentlichen Projekt der Moderne noch keine ontologische Lösung bereitgestellt hat, ist das der fehlenden Außenverankerung: Warum sollte um einer »Mensch­ heit« willen, hinter der nur die Summe aller gleichzeitig Lebenden steht, die Leidensgeschichte perpetuiert werden? Blochs Ontologie menschheitlichen Seinsollens ist dem Typus nach ebenso wie diejenige Hartmanns, Nozicks und Steinvorths eine 9 Vgl. Bloch, Geist der Utopie, S. 337. 10 Vgl. a.a.O., S. 334. 11 A.a.O., S. 335 12 A.a.O., S. 320 13 Ebd. ^

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Kapitel 23: An der Front des Weltprozesses (Bloch)

demiurgische Metaphysik. Eine Ähnlichkeit liegt insbesondere in der Wahl der Metaphern bei Steinvorth und Bloch vor. Begreift Stein­ vorth uns als die Avantgarde des Seins, so sieht Bloch den Menschen an der Front des Weltprozesses (vgl. PH 284). Wie Nozick und Stein­ vorth, sucht Bloch eine »Wohin-Verbindung zwischen der natürli­ chen und der moralischen Welt« (PH 1008). Es ist das Sein, welches nach Bloch ein Dasein des Menschen erfordert: »Das Wesenhafte braucht Menschen zu seiner immer identischeren Heraufführung.« (PH 1014) Und in dem Maße, in dem der Mensch seine Geschichte mit dem Ganzen des Weltalls vermittelte, würde auch die Neganthropie des umgreifenden Ganzen aufgehoben werden können. Für Bloch ist »die Natur als die riesige kosmische Überwölbung des menschlichen Geschichtsraums gewiß noch nicht zu Ende, zu Ende bestimmt. Die Kosmogenie selber ist noch nicht zu Ende, mit dem zweiten Wärmesatz, der Entropie als dem Kältetod der Welt.«14 Im Denken Blochs sind das Seinsollen und die Permanenz der Menschheit ausgehend von der Kategorie der Möglichkeit ineins ge­ dacht. Einerseits ist die Natur auf den Menschen angewiesen, weil ohne ihn ihr Potential nicht realisiert würde; andererseits garantiere die Vermittlung von Mensch und Natursubjekt die Permanenz des Menschen. Um den Menschen als ein Wesen mit einem vom Sein erteilten demiurgischen Auftrag darstellen zu können, ist Bloch dar­ an gelegen, auf dem Gebiet der Ontologie den Versuch einer Neu­ bearbeitung und Rehabilitierung der Kategorie der Möglichkeit zu unternehmen. Er wendet sich gegen die Abneigung statischen Den­ kens gegen tätige Offenheit, die er selbst noch bei den prozessualen Denkern Aristoteles, Schelling und Hegel antrifft (vgl. PH 280). Schelling und Hegel »lassen die Manifestationsgeschichte der Natur im vorhandenen Menschen, ja an der Umsatzstelle des geschicht­ lichen Anfangs landen ...« (PH 806) Für Bloch hingegen steht die Natur nicht abgeschlossen hinter uns, sondern soll zum Ding für uns, zur vermittelten Heimat werden, »wozu die Natur in kaum erst be­ tretener, gar aufgesprengter Möglichkeit ist. Der subjektive Faktor ist hierbei die unabgeschlossene Potenz, die Dinge zu wenden, der ob­ jektive Faktor ist die unabgeschlossene Potentialität der Wendbarkeit, Veränderbarkeit der Welt im Rahmen ihrer Gesetze, ihrer unter neuen Bedingungen sich aber auch gesetzmäßig variierenden Ge­ setze.« (PH 286) 14 Bloch, Das Materialismusproblem, S. 436. 358

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Dereinst werde der Mensch dem »Produktionsherd in der Na­ turwelt nähertreten« können (PH 813). In diesem Zusammenhang vertritt Bloch nicht mehr nur die These gesetzmäßiger Variation der Naturgesetze, sondern behauptet darüherhinaus eine »wachsende Vermittlung mit dem bisher dunklen Erzeugungs- und Bedingungs­ grund der Naturgesetze.« (PH 816) Bis hierhin drängen sich folgende Fragen auf: 1. Wie läßt sich die Idee »gesetzmäßig variierender Gesetze« konzeptualisieren? 2. Was ist der Sinn der unterstellten Möglichkeit einer »Vermittlung mit dem Erzeugungsgrund der Naturgesetze«? 3. Welche Rehabilita­ tion des Möglichkeitshegriffs strebt Bloch an? Der Gedanke, daß der Modus der Veränderung von Naturgeset­ zen selbst eine Gesetzmäßigkeit aufweist, ist nicht abwegig. Es han­ delte sich dann um ein Gesetz zweiter Ordnung. Nehmen wir an, die Gesetze zum Zeitpunkt t seien G. Dann entspricht es einem Gesetz zweiter Ordnung, daß, wenn eine Zeit (x)t als eine bestimmte Funk­ tion von t gegeben ist, die Gesetze zum Zeitpunkt (x)t eine bestimm­ te Funktion f von G sind.15 Allen Zeitpunkten, die wir mit Hilfe einer Funktion aus einem willkürlich gewählten Ausgangspunkt hervor­ gehen ließen, der einem anfänglichen Gesetzeszustand A entspricht, wären Gesetzeszustände zuordenbar, die sich ebenfalls gemäß einer Funktion f(A) - also gesetzmäßig und nicht zufällig - entwickelten. Um zur zweiten Frage zu kommen, so steht Bloch mit seiner Mutmaßung, wir würden uns dereinst in den Quellgrund der Natur­ gesetzlichkeit selbst einklinken können, nicht allein. Selbst angese­ hene Naturwissenschaftler stehen, was die angeblich unbegrenzten Möglichkeiten menschlicher Zukunft angeht, auf seiner Seite. So schreibt Paul Davies: »Letting imagination have free rein, it is possible to envisage mankind one day gaining control over the superforce. To achieve this would enable us to manipulate the greatest power in the universe, for the superforce is ultimately responsible for genera­ ting all forces and all physical structures. It is the fountainhead of all existence. With the superforce unleashed, we could change the structure of space and time .. ,«16 Was ist der Sinn und das Movens dieser zwar von einem Naturwissenschaftler angestellten, aber, wie doch jeder Laie weiß, völlig abwegigen Spekulation? Wie auch bei Bloch ist es das Unvermögen, der Neganthropie des Ganzen ins Auge zu 15 Vgl. D. M. Armstrong, What is a Law of Nature?, S. 24f. 16 Paul Davies, Superforce, S. 167f. ^

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blicken. Das Zweite Gesetz der Thermodynamik besagt, daß die Menschheit selbst dann aufhören wird, falls sie - was bereits wishful thinking sein dürfte - die Ausdehnung der Sonne überleben sollte.17 Dies wird nicht nur von philosophischer, sondern bisweilen selbst von naturwissenschaftlicher Seite nicht toleriert. Die Nichtper­ manenz menschlichen Lebens scheint auch dem angesehenen Physi­ ker Dyson völlig unerträglich, weshalb er in einem in einer Fachzeit­ schrift für Physik veröffentlichten Artikel schreibt: »I shall not discuss the closed universe in detail since it gives me a feeling of claustrophobia to imagine our whole existence confined within this box.«18 Statt in einem geschlossenen und irgendwann kollabierenden Universum, leben wir laut Dyson in einem Kosmos mit biotischer Permanenz: »I have found a universe growing without limit in richness and complexity, a universe of life surviving for ever.«19 Bemerkenswert an diesen Formulierungen ist, daß Wissenschaft hier nichts Geringeres als ein Erlösungswissen anzubieten sucht. Tatsächlich nennen Barrow/Tipler die Überlegungen, die heute zu den Möglichkeiten intelligenten Seins in der fernen kosmischen Zu­ kunft angestellt werden, »physikalische Eschatologie«. Eine erhebli­ che Rolle für diese Erörterungen spielt die Computertheorie. Ein menschliches Wesen wird aufgefaßt als ein Programm, welches so beschaffen ist, daß es auf einer bestimmten Hardware läuft, die »menschlicher Körper« genannt wird. Hieraus erwächst für Barrow/ Tipler die Frage, ob in der entfernten Zukunft Materie von solcher Beschaffenheit dasein wird, daß aus ihr Computer hergestellt werden können, auf denen ein Programm von der Komplexität des mensch­ lichen ablaufen könnte; und ferner die Frage, ob dazu noch genügend Energie vorhanden sein wird.20 Das Seinsollen der Menschheit ist dermaßen bindend, daß zum Erweis ihrer Permanenz, ihres zukünftigen Seinkönnens, alle den­ kerischen Mittel recht sind. Dazu gehört auch die Verengung des humanum auf Information und Programm, von denen es dann gleichgültig sein soll, wo und wie sie gespeichert werden und ablau­ 17 Es sei erwähnt, daß ein Wissenschaftler wie J. D. Bernal in seinem Buch »The World, the Flesh and The Devil« (1929) davon ausgeht, daß wir dereinst die Sonne in den Griff bekommen werden: »Man will not ultimately be content to be parasitic on the stars but will invade them and organise them for his own purposes.« Zit. bei Midgley, S. 154. 18 Dyson, Time without end: physics and biology in an open universe«, S. 448. 19 A. a. O., S. 459. 20 Barrow/Tipler, S. 658 f. 360

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fen. Den Autoren derartiger Überlegungen geht nicht auf, daß sie gar nicht die Permanenz von Menschen herbeisehnen und erörtern, son­ dern das Überdauern eines vollkommen entfleischlichten intelligen­ ten Informationsflusses.21 Dies führt dann zu absonderlichen Ideen wie dieser: Auch wenn in der fernen Zukunft »the only matter remaining ... are positrons and electrons in a mixture of free-particle plasma and positroniumQ Dyson was the first to suggest that it may be possible for life to exist in such a medium.«22 Dem permanenten Seinkönnen von »Leben« oder Informations­ fluß wird schließlich noch ein Sollen zugeordnet. Es bestehe darin, daß intelligentes Leben eine herausragende Rolle im Weltall spielen könnte. Barrow/Tipler wollen diese These zwar nicht verteidigen, halten es aber für möglich, »that life exists in order to prevent the Universe from destroying itself!« Als Szenario bieten die Autoren, daß intelligente Wesen das Explodieren Schwarzer Löcher verhin­ dern könnten, indem sie Materie in sie hineinwerfen, da in einem kurzlebigen geschlossenen Universum die Explosion eines Schwar­ zen Loches das Ende bedeuten würde.23 All dies gilt als möglich. Aber was sind hier Möglichkeiten? Wenn Naturwissenschaftler sagen, etwas sei möglich, so muß dies mehr bedeuten, als daß es geschehen könnte, falls heute bestehende Grundanschauungen über das All sowie die technischen Möglichkei­ ten des Menschen sich als falsch erweisen. In einem wissenschaft­ lichen Sinne muß »möglich« heißen: mit den Grundanschauungen vereinbar. Was wir hier antreffen, ist jedoch, daß hervorragende Ge­ lehrte die akzeptierten Grenzen dessen ignorieren, was aus heutiger 21 Ohne zu einem schlüssigen Ergebnis zu gelangen, wirft H. Holz die Frage auf, ob sich eine derartige Ablösung der humanen durch eine Computerwelt von der Sinnperspekti­ ve her lohnen würde (vgl. Holz, Geist und Evolution, S. 285ff.). Mir scheint, daß dies verneint werden muß. Die Spekulationen über zukünftige Möglichkeiten der Wissen­ schaft und Biotechnik lassen nämlich, wo sie für das zeitlich unbegrenzte Seinkönnen der Menschheit oder von Intelligenz sprechen, die Frage unbeantwortet, warum wir in alle Zukunft sein sollten. Was ist der Antrieb zu den als physikalische Eschatologie titulierbaren Spekulationen? Ist es vielleicht die Befürchtung, menschheitliches Dasein sei sinnlos, wenn es nicht ewig fortbestehen kann? Diese Furcht durch physikalische Eschatologie überwunden zu sehen, fiele dem Trugschluß der verschobenen Sinnlosig­ keit anheim. Schon für das Einzelleben gilt, daß es seinen Sinn nicht exklusiv aus der Weitergabe des eigenen Lebens gewinnen kann. Und dies trifft auch auf der Ebene der Menschheit zu. 22 Barrow/Tipler, S. 669. 23 Vgl.a.a.O.,S.674f. ^

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Sicht nicht nur technisch, sondern überdies physikalisch möglich ist.24 Ziel dieses von naturwissenschaftlicher Seite geübten Wunsch­ denkens ist es, die Permanenz der Menschheit (oder intelligenten Daseins) in Aussicht zu stellen. Seinkönnen und Seinsollen fallen dabei mitunter ineins. Der Mensch könne permanent dasein, indem er die Struktur der Raumzeit verändert, und er soll sein, weil ohne seine Anwesenheit das Weltall in einem Kollaps oder Wärmetod »aufhören« würde (was auch immer dies heißen mag). Unbeantwor­ tet bleibt die Frage, warum menschliches Dasein nur dann sinnvoll sein sollte, wenn gewiß ist, daß es permanent dasein kann. Es handelt sich hier um dieselbe Paradoxie des verschobenen Sinnes wie im Falle der Überzeugung, das Leben des Individuums sei nur dann sinnvoll, wenn es sich fortpflanzt (siehe Einleitung). Warum aber sollte es von Bedeutung sein, daß das Weltall in einer differenzierten Form fort­ besteht, statt mit der weitgehenden Einebnung aller energetischen Differenzen ein »Ende« zu finden? Eine Antwort hierauf, und damit gelangen wir zur dritten Frage, gibt Blochs Versuch einer Rehabili­ tierung der Kategorie der Möglichkeit. Auch in seiner Ontologie des Noch-Nicht fallen das permanente Seinkönnen und das Seinsollen der Menschheit eigentümlich ineins. Aber bei ihm ist es insbesondere ein vage gefaßtes, mögliches, noch nicht hervorgebrachtes Natursub­ jekt, in dem das Seinsollen gründe.

23.2 Die Kategorie der Möglichkeit bei Bloch Wie Steinvorths ist auch Blochs Ontologie menschheitlichen Seinsollens an der Kategorie der Möglichkeit orientiert; er will erweisen, daß diese Welt zur Heimat des Menschen werden kann und werden soll. Da die Welt dem Menschen noch nicht Heimat geworden sei, die rechte Vermittlung noch ausstehe, führt Blochs Arbeit an der Kate­ gorie der Möglichkeit zu einer gleichsam emphatischeren Version der demiurgischen Metaphysik Steinvorths. Wie erinnerlich, kommt Möglichkeiten laut Steinvorth ein mehr oder minder großes Anrecht auf Wirklichkeit zu. Die Verwirklichung von Möglichkeiten und den an Menschen ergehenden demiurgischen Auftrag stellt er gemäß dem intensiven Prinzip der Fülle (siehe oben, 19.13) unter die Bedin­ gung, »nicht die Verwirklichung einer umfassenderen Möglichkeit 24 Siehe auch Midgley, Science as Salvation, S. 156 ff. 362

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zu behindern.« (WÜ 108 f.) Ohne unser Tun am Leitfaden der Kompossihilität des Seinshöchsten bliebe vieles Mögliche unverwirklicht. Warum aber, so fragten wir oben, sollen ideale Werte (Hartmann) oder Mögliches realisiert werden, wenn sie doch wesentlich indiffe­ rent gegen ihre Realisierung oder Verwirklichung sind? Steinvorth machte hier klar, daß wir zuallererst die Intuition menschheitlichen Seinsollens teilen müssen, um dem seinssteigernden demiurgischen Auftrag zustimmen zu können. Bloch sucht diesbezüglich, was den demiurgischen Auftrag zur Verwirklichung des Möglichen angeht, eine stärkere ethische Obligation zu etablieren. Wir hätten dem Sein, welches uns hervorbrachte, nicht nur die Treue zu halten (Jonas), und die Realisierung von Möglichkeiten sei nicht allein für den verpflich­ tend, der bereits vom Seinsollen der Menschheit überzeugt ist und nurmehr nach einer Begründung für diese Intuition sucht. Bloch will die seinsbejahende Intuition als die moralisch allein vertretbare er­ weisen. Hatte der frühe Bloch starke Zweifel an einer Permanenz der Menschheit geäußert, so ist es späterhin insbesondere seine Behand­ lung der Kategorie Möglichkeit, die diese Aussicht eröffnen und ge­ gen die Neganthropie auch rechtfertigen soll. Wie Steinvorths ist auch Blochs Begriff von Möglichkeit an denjenigen Aristoteles' an­ gelehnt. Für Aristoteles »ist es denkbar, daß etwas zwar vermögend sei zu sein und doch nicht sei, oder vermögend nicht zu sein und doch sei ...«25 Unter Beanspruchung dieses Möglichkeitsbegriffs unter­ stellen Steinvorth und Bloch eine Realität, in der es mehr Mögliches als Wirkliches gibt, in der also Mögliches seiend ist (wobei ungeklärt bleibt, von welcher Seinsweise es sein sollte). Das Mögliche gilt als zur Verwirklichung hindrängendes Noch-Nicht-Seiendes. Es macht hierbei keinen wesentlichen Unterschied, daß Bloch nicht mehr, wie Aristoteles, ein feststehendes eidos voraussetzt, durch welches ent­ schieden wäre, welche Möglichkeiten realisiert werden und welche nicht. Er sieht in Aristoteles denjenigen Denker, der als erster »die Möglichkeit realiter, im Weltbestand selber erkannt« hat.26 Weil je­ doch das eidos fix ist, beanstandet Bloch an Aristoteles ein Moment des Statischen.27 Da es für Aristoteles ein feststehendes eidos ist, 25 Aristoteles, Metaphysik, Neuntes Buch 1047a 20f.; S. 236. 26 Bloch, Das Prinzip Hoffnung, S. 271. 27 Wenn Bloch eine »Abneigung des statischen Denkens gegen den Weltbegriff der tätigen Offenheit« (Das Prinzip Hoffnung, S. 280) selbst bei prozessualen Denkern wie ^

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welches für Werden oder Nichtwerden einsteht und Mögliches zur Wirklichkeit bestimmt, da es so gesehen hei Aristoteles gar nicht jene Fülle des »bloß Möglichen« gibt, von der Steinvorth und Bloch aus­ gehen, sollten wir vielleicht besser sagen, sie vertreten einen alltäg­ lichen Möglichkeitshegriff, und ihn kurz so fassen: Das Sein hat in seinem Werdeprozeß zu jedem Zeitpunkt mehrere Möglichkeiten, von denen es immer nur eine realisiert. Bei Steinvorth ließ dieser Möglichkeitshegriff beispielsweise folgende Aussagen zu, die einer Begründung menschheitlichen Seinsollens deshalb dienlich sind, weil sie das Sein als das dem Menschen Aufgegebene vorstellbar machen: Es sei besser, eine Möglichkeit zu verwirklichen, »als sie im Zustand der bloßen Möglichkeit oder im Nicht-Sein zu belassen.«28 Blochs Gedanken zum Seinsollen und der Permanenz der Menschheit beruhen auf einem emphatischeren Möglichkeitsbegriff. Um diesen Begriff näher zu explizieren, ist es dienlich, sich vor Augen zu führen, gegen welchen anderen Mög­ lichkeitsbegriff er sich wendet. Es ist dies der sogenannte, auf den Sokratesschüler Eukleides zurückgehende, megarische Möglichkeits­ begriff. Eine Rehabilitierung des letzteren ist von Hartmann ver­ sucht worden.29 Im Kern besagt der megarische Möglichkeitsbegriff, daß alles real Mögliche zugleich auch wirklich ist, daß das reale Sein also keine - gleichsam halbseienden - Möglichkeiten neben den je­ weils wirklichen hat. Wem dieser Möglichkeitsbegriff noch nicht be­ gegnet ist, dem mag er ganz abwegig vorkommen. Auf die Frage jedoch, was oder wie ein bloß Mögliches sein sollte, wird man so leicht keine Antwort finden. Es sei denn, man versteht darunter An­ lagen oder Fähigkeiten. Letztere aber sind (real) wirklich - und nicht bloß möglich. Dies spricht für die megarische These und gegen die These von Aristoteles und Bloch, etwas könne (objektiv) möglich sein, ohne wirklich zu sein. Am Beispiel eines Handwerkers läßt sich dieser Zusammenhang Aristoteles ausmacht, so ist seine Nähe zu Hartmann größer, als ihm lieb sein kann. Auch Hartmann hebt diesen Umstand als Schwäche des Aristotelischen Dynamisbegriffs hervor, »der trotz aller Tendenz auf ein dynamisches Weltbild hin doch an die Statik des bewegenden Prinzips, des Eidos, gebunden bleibt und darum dem Problem einer bewegten Welt nicht voll gerecht werden kann.« Der Megarische und der Aristote­ lische Möglichkeitsbegriff, S, 97 Anm. 1. 28 Steinvorth, Warum überhaupt etwas ist, S. 109. 29 Vgl. Hartmann, »Der Megarische und der Aristotelische Möglichkeitsbegriff« und umfassend: »Möglichkeit und Wirklichkeit«. 364

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veranschaulichen. Dem alltäglichen Möglichkeitshegriff entspricht es, wenn üher ihn geurteilt wird, er hahe stets die Möglichkeit zu arheiten, da er ja üher die Fähigkeit verfügt, sein Handwerk auszuühen. Aher die Fähigkeit, zu arheiten, ist ontologisch etwas anderes, als die Möglichkeit dazu. Ohschon der Handwerker üher ausgezeichnete Fähigkeiten verfügen mag, ist es ihm doch ganz unmöglich, tätig zu werden, solange eine Reihe weiterer Bedingungen nicht erfüllt ist. Vonnöten sind etwa Werkzeuge, Baumaterialien, ein Auftrag und, nicht zuletzt, der Entschluß und Wille, tätig zu werden. Das Bauen wird also erst dann möglich, wenn alle Teilhedingungen, äußere und innere, heisammen sind. Vorher ist es unmöglich. Jeder arheitslose Handwerker hestätigt, daß er zwar üher die Fertigkeit verfügt, es ihm aher dennoch nicht möglich ist, ans Werk zu gehen. Eine sich aus dem megarischen Möglichkeitshegriff ergehende Konsequenz ist also, daß es genau hetrachtet nicht zutreffend ist, zu sagen, der Mensch realisiere Möglichkeiten des Seins. Wenn dem so ist, dann wird aher auch mit Blochs Idee ohjektiv-realer Möglichkeit die Idee einer Vermittlung von Mensch und Natur prohlematisch, seine Idee von Außenverankerung. Und mit Blick auf Steinvorth wird fraglich, oh wir sagen dürfen, der Mensch realisiere Möglich­ keiten des Seins, die es nicht selhst realisiert. Imgleichen wird dann aher auch der Sinn des Seins fragwürdig, als den Steinvorth die Rea­ lisierung der Möglichkeiten des Seins hestimmt hatte. Und wenn »Möglichkeit« keine eigene Seinsweise nehen dem wirklichen Realen hat, wenn es zutrifft, daß im Realen alles, was möglich ist, zugleich auch wirklich ist, dann kann dem Menschen nicht die Aufgahe der Seinssteigerung qua Realisierung der Möglichkeiten des Seins zuge­ dacht werden, mittels derer sein Daseinsollen hegründet werden soll­ te. Wollen wir daran festhalten, das Seinsollen von Menschen in der Aufgahe der Seinssteigerung gründen zu lassen, so müssen wir letz­ tere anders konzeptualisieren. Ohen (siehe 22.5) hahe ich einen ent­ sprechenden Vorschlag gemacht, demzufolge wir - und alle nur ir­ gend hewußten Wesen - durch Weitergahe des Lehens die Realität des letztumgreifenden Daseins (welches nicht mehr Sosein eines an­ deren ist) zu steigern vermögen. Indem mit dem Bewußt-Sein quan­ titativ nicht meßhare, sondern nur erlehhare und mitteilhare, nur zeitlich seiende Realität hervorgehracht wird, die zuvor nicht seiend war, wird die Realität des letztumgreifenden Ganzen gesteigert. Soll­ te dies zutreffen, so wären Menschen ontologisch gesehen nicht hloß Demiurgen, sondern Schöpfer. Und verhlüffenderweise mit ihnen, ^

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ohne je darum wissen zu können, auch alle sich fortpflanzenden Tie­ re. Sollte es sich erweisen lassen, daß der Panpsychismus, die Idee einer infinitesimalen Bewußtheit aller Materie recht hat, so wäre meine Konzeptualisierung der Seinssteigerung falsch. Selbst die Hervorhringung bewußter oder selbstbewußter Wesen wäre dann nur ein Umschaffen von immer schon Vorhandenem, nicht aber die Hervorhringung eines Novums. Kehren wir nochmals zum Möglichkeitsbegriff zurück. Men­ schen können Möglichkeiten realisieren, nicht aber Möglichkeiten des Seins. Nebeneinander bestehen Möglichkeiten nur in mente. Im nicht selbstbewußten Realen gibt es kein Dasein des Möglichen noch eine Pluralität des bloß Möglichen. Wenn Bloch fragt, »ob nicht sämtliche Organismen mit ihrem Reflex- und Reaktionsapparat auf eine objektiv-reale Welt der Möglichkeit eingestellt« sind (PH 279), so ist im Anschluß an das oben Ausgeführte zu sagen, daß sowohl die Fähigkeit, auf Unvorhergesehenes in der Umwelt zu reagieren, als auch dieses Unvorhergesehene selbst, Reales sind und nicht Mögli­ ches. Sagen wir, ein Tier habe die Anlage, zu reagieren, so ist auch diese Anlage wirklich und nicht möglich. Daß das Tier - oder auch der Mensch - auf eine »objektiv-reale Welt der Möglichkeit« einge­ stellt ist, ist Bloch in bestimmter Hinsicht ohne weiteres zuzugeste­ hen: Das Herannahende ist dem Organismus unvorhersehbar, der Mensch schützt sich durch Versicherungen gegen Wechselfälle des Lebens, die ihm real möglich scheinen.30 Aber liegt hier ein ontologi­ scher Begriff von Möglichkeit vor? Diese Frage ist zu verneinen. Was hier Möglichkeit genannt wird, korrespondiert nur dem Umstand, daß das Prozeßgefüge des Realen unüberschaubar ist. Das für »möglich« gehaltene Feuer wird erst dann ausbrechen, wenn alle rea­ len Bedingungen seines Möglichseins beisammen sind. Sind alle Be­ dingungen beisammen, so wird das Feuer mit Notwendigkeit wirk­ lich. Bevor es wirklich ist, ist das Feuer unmöglich und hat nicht etwa ein halbseiendes Dasein der Möglichkeit. Und auch der hölzerne Dachstuhl, erfüllt vom Sauerstoff der Luft birgt kein mögliches Feu­ er, sondern bloß Bedingungen seines Auftretens. 30 Um gegen Hartmann zu belegen, daß es »sehr viel real Mögliches in der Welt gibt«, weist Bloch, wo er in den »Leipziger Vorlesungen« die megarische Schule behandelt, auf Versicherungsgesellschaften hin, »die ja unnötig wären, wenn das Mögliche schon das Wirkliche wäre.« (Antike Philosophie, Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Phi­ losophie, S. 131f.) 366

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Blochs gegen den megarischen Möglichkeitshegriff vorgehrach­ te und gegenüher Hartmann üherzogene Kritik31 gründet in dem Be­ strehen, im Realen die Möglichkeit des Neuen kategorial offenzuhalten. Blochs Sorge ist, daß wenn alles Mögliche auch wirk­ lich ist, für so etwas wie ein Novum in der Welt kein Platz mehr sein würde. Ist die Grundhestimmung des Realen das Werden, so will Bloch den Möglichkeitshegriff derart verstehen, daß Werden als ein kreatives Fortschreiten ins Neue konzipierhar wird.32 Aher ein mega­ risches Verständnis von Möglichkeit schließt die Kategorie des No­ vums gar nicht aus. Ganz im Gegenteil. Verstehen wir die Welt als das dynamische Gefüge von Gefügen eines Ineinandergreifens von Realprozessen, so gelangen wir nicht dadurch zum Neuen, inshesondere zum seinshöheren Neuen, daß wir das hereits Daseiende ein­ fach komhinieren. Höheres mag quantitativ aus einer Mannigfaltig­ keit niederer Elemente zusammengesetzt sein, aher es ist etwas anderes als die Komhination des Einfacheren. Die Seinsschichten Anorganisch-Organisch-Seelisch/Bewußt-Geistig/Selhsthewußt weisen einen Höhenunterschied auf, der ohne das periodische Einsetzen eines Novums nicht möglich wäre. Inshesondere das Novum des Be­ wußtseins ist markant, da mit ihm die raumzeitliche Realität ahhricht zugunsten einer nurmehr zeitlichen Realität. All dies wird von Hart­ mann nicht nur zugestanden, sondern er ist als Ontologe eminent Prozeßdenker, der zum Auftreten des Novums im Sein selhst Bedeu­ tendes heigetragen hat.33 Wenn wir nun noch hinzunehmen, daß wir den Kausalprozeß selhst als produktiv auffassen müssen (siehe dazu ohen 19.15.1), dann entfällt die Notwendigkeit, mit Bloch von Mög­ lichkeiten »im« Realen zu sprechen. Das Reale erweist sich auch dann als produktiv und Novae naturgeschichtlich hervorhringend, wenn wir es nicht mit Hilfe der fragwürdigen Kategorie ohjektiv-realer Möglichkeit konzeptualisieren. Dies hedeutet jedoch, daß das Blochsche Konzept der Außenverankerung im Sinne eines Anschlusses an 31 In seinen »Leipziger Vorlesungen« sagte Bloch: »Was ist nicht alles reaktionär! Pla­ ton ist reaktionär und Adenauer ist reaktionär, was soll man mit solch einem Wort noch anfangen! Aher ein wirklich reaktionärer Herr in der Maske des Aufgeklärtseins ist Herr Nicolai Hartmann „.Er henutzt diese Stufung (die aristotelische, KA) dazu, die Entwicklungsgeschichte aufzuhehen ...« Bloch, Antike Philosophie, S. 285. Für eine an­ gemessenere Einschätzung Hartmanns durch Bloch siehe Bloch, »Das Materialismusprohlem«, S. 310. 32 So auch Whiteheads Bestimmung des Werdens; siehe Prozeß und Realität, S. 74, 622. 33 Siehe z. B. Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, S. 453ff. ^

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ein im Zustand der Möglichkeit seiendes Natursuhjekt, und damit seine Begründung menschheitlichen Seinsollens unhaltbar wird. Auch Bloch denkt von der metaphysischen Kategorie der Fülle her, jedoch ist bei ihm der Anspruch des Seins auf die Realisierung des ihm inhärenten Maßes in größerer Unabhängigkeit von mensch­ lichem Dafür- oder Dagegenhalten gedacht, als bei Steinvorth der Fall. Für Steinvorth bleibt die Begründung des Prinzips der Fülle auf das Vorliegen der abendländischen Urentscheidung angewiesen34, während Bloch den Anspruch des Seins auf Förderung von mensch­ lichen Dafürhalten abzukoppeln sucht. Er versucht dies, wie sogleich zu verdeutlichen ist, mit dem Mittel der metaphysischen Kategorie eines Natursubjekts. Bloch drückt die Unvollkommenheit des Seins fülletheoretisch aus - mit dem Attribut »unvoll-endet«. Hieran wird zugleich deut­ lich, daß das Sein noch nicht »voll« und noch nicht zu seinem Ende gebracht ist, sein Telos nicht wirklich geworden ist. Er betrachtet »das vorhandene Weltfragment nicht nur als ein unbeendetes, sondern als eines, das wegen seines wirklichen Anspruchs auf Finis operis, Fina­ lität des Werks unvoll-endet vorliegt.«35 Halten wir einmal fest: Laut Bloch bietet das Sein nicht nur einen Leitfaden für die füllemaximie­ rende, seinssteigernde Aktivität, sondern ihm komme unabhängig von einer Zustimmung zur Förderungswürdigkeit ein Zustimmung gleichsam erzwingender Anspruch auf Förderung zu. Wie aber kann dieser Anspruch gedacht werden? Kann nicht nur demjenigen ein Anspruch auf etwas zukommen, was wir in irgendeiner Form als Subjekt identifizieren können oder was sich doch zumindest als In­ nerlichkeit bekundet? Müßte also Bloch nicht das Sein oder die Natur als ein Subjekt begreifen, wenn ihm ein Anspruch auf Voll-endung zukommen soll? In der Tat ist es so, daß Bloch die Idee eines Natur­ subjekts plausibel zu machen sucht. Dieses sei jedoch noch nicht rea­ lisiert, sondern liege bislang nur im Sinne einer objektiv-realen Möglichkeit vor. In Anbetracht dieses möglichen Natursubjekts und 34 Er sagt: »Die Begründung des Prinzips der Fülle ist auf die Einsicht oder Evidenz angewiesen, daß die Welt Förderung verdient, und für diese Einsicht kann man blind sein.« Steinvorth, Warum überhaupt etwas ist, S. 143. Ich möchte hinzufügen: Man kann für diese Einsicht ebenso blind sein wie für die Einsicht, daß es das Beste wäre, durch Verebben dem Dach des Leidens zu weichen; weshalb eine Pattsituation vorliegt. Das Verebben bleibt allerdings dann der Königsweg, falls zutrifft, daß das Leiden von Menschen ethisch schwerer wiegt als ihr Glück. 35 Das Materialismusproblem, S. 478. 368

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seines Anspruchs auf Realisierung ist für Bloch zum einen das Dasein von Menschen geboten, das Verebben würde den Anspruch un­ berücksichtigt lassen. Zum anderen gilt Bloch nicht nur das Dasein von Menschen als erforderlich, sondern bislang sei auch der Mensch selbst noch gar nicht richtig daseiend. Vom Sein aus gesehen sei er immer noch homo absconditus - verborgener Mensch. Ziel des Welt­ prozesses sei die Vermittlung zwischen Mensch und Natursubjekt. Dafür bedürfe es menschlicher Praxis, die das »disparate Kosmikum der Natur mit dem Menschen vermittelt. Und das letzte Problem­ thema in seiner Fassung, daß Substanz ebenso Subjekt werde, bleibt Materie als unvollendete Entelechie in beiden Weltreihen: Men­ schengeschichte und kosmischer Natur. Darin berührt sich bereits ein menschliches Reich der Freiheit mit dem Reich eines wirklich dem homo absconditus zugewandten Weltgesichts; nur in diesem letzten Grenzbegriff wird Materialismus selber komplett. Hoffnung ist nicht Zuversicht, was gerade auch im Ganzen der Teleologie heißt: ens perfectissimum ist keinesfalls ens realissimum und oft das Ge­ genteil; was aber ebenso heißt: die große Werkstatt der Mensch- und Weltmaterie ist noch nicht geschlossen.«36 Mittels der Kategorie ob­ jektiv-realer Möglichkeit gelingt es Bloch zunächst, ein »Transzen­ dieren ohne Transzendenz«37 zu etablieren. Die Unabgeschlossenheit erfordert die Anwesenheit des menschlichen Demiurgen in der Welt, denn das Um-Willen menschheitlichen Seinsollens liege als latente, hervorzubringende Subjektivität der Natur in dieser Welt. So scheint es Bloch zumindest immanent, also unter Außerachtlassung obiger Kritik an der Kategorie objektiver Möglichkeit, gelungen, menschheitliches Seinsollen ohne den Sprung in die Theologie zu begrün­ den, wie bei Jonas der Fall, und ohne die Anwesenheit des Menschen in der Welt als bloß fakultativ vorzustellen, wie bei Steinvorth der Fall. Blochs Ontologie kennt einen Anspruch des Seins, der Natur, auf menschliche Anwesenheit, womit er der Naturauffassung der Romantik treu bleibt. In dieser Tradition bedarf nicht nur der Mensch der Natur, sondern ebenso die Natur des Menschen.38 Selbst wenn man nun Blochs Möglichkeitsbegriff und seine Rede von einer An36 Ebd. 37 Ebd. 38 Ausführlich hierzu: D. v. Engelhardt, Spiritualisierung der Natur und Naturalisie­ rung des Menschen. ^

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schließbarkeit an ein hervorzubringende Natursubjekt teilen würde, so blieben Fragen offen. Zum ersten die Frage, ob die Antizipation eines nur möglichen, aber noch keineswegs wirklichen Natursubjekts geeignet ist, die Weitergabe menschlichen Lebens in Anbetracht von Neganthropie zu rechtfertigen. Wenn wir so fragen, müssen wir be­ rücksichtigen, daß Bloch in der Zukunft eine befreite und wahrhaft solidarische Menschheit sieht, auf die der Satz »Die Weitergabe menschlichen Lebens bedeutet unabdingbar die Perpetuierung unge­ heuren Leids, welches Menschen Menschen zufügen« nicht mehr zu­ träfe. Aber Bloch selbst sieht hier einen neganthropischen Einwand, der noch kaum zu Wort gekommen ist. Es handelt sich um das Pro­ blem individuellen Sterbenmüssens: »Jedoch wie immer auch hin­ ausgeschoben, es bleibt der naturhafte Tod, als der durch keine gesell­ schaftliche Befreiung berührbare.«39 Selbst wenn eine solche Perpetuierung der Menschheit zu gewährleisten wäre, in der Men­ schen Menschen kein unausdenkbares Leid mehr antäten, so Blochs Zweifel, bliebe mit der Sterblichkeit ein neganthropisches Moment unaufgehoben. Der Einzelne, Blochs Beispiel ist der Märtyrer der Arbeiterklasse, opfert sein Leben, obwohl er weiß, daß ihm nichts als das Grab und das Erinnertwerden in der Nachwelt bleiben. Hier fordert Bloch nun: »Das Eingeschreintsein im Herzen der Arbeiter­ klasse ist Gedächtnis, aber das historische Gedächtnis muß selber noch eingeschreint werden, um nicht einen schließlich doch trium­ phierenden Nihilismus, nämlich aus totaler Mechanistik, am Ende zu haben.«40 Bloch behandelt hier gleichsam die von Marx her latente Frage, wie es denn zu rechtfertigen sei, das Endziel der Geschichte über den Tod von Millionen erreichen zu wollen. Bloch bietet die Kategorien »objektiv-reale Möglichkeit« und »Natursubjekt« nicht nur auf, um die Neganthropie des umgreifen­ den Ganzen abzuwenden, sondern überdies, um im Tod aller Einzel­ 39 Bloch, Das Prinzip Hoffnung, S. 1381f. Da nun aber der Tod aus dem der mensch­ lichen Geschichte zu vermittelnden hypothetischen Natursubjekt komme, gilt Bloch auch das Todesproblem als letztlich nicht unüberwindbar: »Niemand weiß, was in der Welt außerhalb des menschlichen Arbeitsradius, also im noch unvermittelten Natursein steckt; welches Subjekt hier den Umsatz lenkt ...« (A.a.O., S. 1383) Wohltuend ist dagegen die Wirklichkeitsnähe M. Neuffers. In seinem selten aufrichtigen Buch »Nein zum Leben« gibt er zu bedenken, Menschen seien zumal auch aus dem Grunde nicht hervorzubringen, weil die Verantwortung dafür, Menschen »neben unsicheren Freuden vielen sicheren Leiden und dem Todesschicksal auszuliefern, zu gewaltig (ist), als daß man sie wohlbedacht übernehmen könnte.« S. 92. 40 Bloch, a.a.O. 370

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nen, selbst wenn deren Leben leidlos gewesen sein sollte, nicht das letzte Wort sehen zu müssen. Wenn wir nun berücksichtigen, daß das Natursubjekt und das Zusammengehen menschlicher Geschichte mit ihm für Bloch vorerst nur potentialiter da sind, dann gelangen wir zu einem Paradox, welches in anderer Form bereits im Kapitel über den Utilitarismus besprochen worden ist. Dort lautete die Frage: Warum sollen Menschen, die nicht sind, hervorgebracht werden? Analog müssen wir hier fragen: Warum soll die Vermittlung mit einem Na­ tursubjekt, welches noch nicht wirklich ist, realisiert werden? Hier scheitert eine Begründung menschheitlichen Seinsollens auf der Grundlage der Blochschen Ontologie des Noch-Nicht bereits aus im­ manentem Grunde. Das Problem des Todes, Bloch weiß darum, würde auch in einer utopischen Lebensform, in der Menschen Menschen kein Leid mehr zufügen, fortbestehen. Deshalb können wir auch nicht sagen, Men­ schen sollen hervorgebracht werden, dasein und sich opfern um des uneingeschränkten Glücks Zukünftiger willen. Denn diese selbst wä­ ren ja Sterbliche. Das Problem, vor dem Bloch letztlich steht, liegt darin, daß Menschen nur ihr Leben, nicht aber ihr Bewußtsein wei­ terzugeben vermögen, welches, von rein zeitlicher Realität, in sei­ nem kontinuierlichen Strom unwiderruflich abbricht, sobald im Or­ ganismus, dem es aufruht, die Realität bestimmter Prozesse aufhört. Bloch fordert deshalb eine Instanz, in der das Bewußtsein der Sterb­ lichen aufgehoben wäre, die er wiederum unter dem vagen Begriff eines Natursubjekts - und des menschheitlichen Anschlusses an es anspricht. Da dieses Um-Willen aber noch gar nicht wirklich ist, son­ dern bloß im Sinne Blochs objektiv-möglich, der Anschluß noch gar nicht bewerkstelligt ist, bleibt das Seinsollen der Menschheit unbe­ gründet. Überschaut man das, was als Blochs Ontologie menschheitlichen Seinsollens gelten kann, so ist paradox: Die Menschheit soll fort­ bestehen, um etwas »Mögliches« zu realisieren und sich ihm zu ver­ mitteln, nach dessen Realisierung und um dessentwillen sie Gründe hat fortzubestehen. Die Gründe wären die Gewährleistung menschheitlicher Permanenz und die Gewährleistung eines, wie Bloch es nennt, Eingeschreintseins selbst noch des historischen Gedächtnisses, welches seinerseits individuelle Erfahrungen aufbewahrt, in etwas Übergreifendem. Die Paradoxie ähnelt der mittelalterlichen: Der Mensch wurde geschaffen, um Gott zu dienen, ohne daß Gott des menschlichen Dienstes bedurft hätte. ^

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Den »Tod, welcher als individueller wie als ferne Möglichkeit kosmischer Entropie dem zukunftsgerichteten Denken als absolute Zwecknegation begegnet«41, will Bloch im Sinne einer »kommunisti­ schen Kosmologie«42 unter dem Gesichtspunkt der Aufbewahrung mit dem umgreifenden Ganzen vermittelt wissen. Aber das kos­ mische Gegenstück dieser communio ist noch gar nicht da, sondern gilt Bloch als ein hypothetisches, mögliches. Daraus erhellt nun voll­ ends, daß Blochs Absicht eines Transzendierens ohne Transzendenz nicht durchführbar ist. Der Ort oder die Instanz des Aufgehobenseins menschlicher Erfahrung müßte wirklich sein (was nicht notwendi­ gerweise heißt: real), wenn sich Blochs Absicht denken lassen soll. Da wir einer solchen Instanz in der realen Welt nicht begegnen, kann ihr Ort nur ein transzendenter sein. Spekulationen darüber sind von Jonas und Whitehead angestellt worden, denen ich mich abschlie­ ßend zuwende. Jonas geht aus von einem transzendental-existentiellen Bedürf­ nis der Vernunft, von dem Verlangen nämlich, die Behauptung über etwas Vergangenes: »So ist es gewesen« mit dem Urteil verknüpfen zu können: »Dieser Satz ist wahr.« Niemand kann in die Vergangen­ heit zurück, um nachzusehen, und das Gewesene ist nicht mehr; wenn aber das Vergangene keine Präsenz mehr hat, so stellt sich die Frage, welchen Anspruch auf Richtiggkeit das Urteil der Wahrheit haben könnte. Um dieses Problem zu lösen, bleibt nach Jonas »nur der Rekurs auf irgendeine Art der Präsenz dessen, was je gewesen ist.«43 Und für dieses universale Gedächtnis, in das sich alle Gescheh­ nisse von selbst einschreiben würden, veranschlagt Jonas eine nur als absolutes, göttliches Subjekt zu konzipierende Instanz, in der eine Erinnerung insbesondere des Partikularen und Individuellen statthabe.44 Wäre eine solche Instanz wirklich, so würde sie das leisten, was Bloch im »objektiv-möglichen« Natursubjekt vergeblich suchen muß: allem individuellen Einsatz und Leiden das Umsonst zu neh­ men. Und auch die von Bloch geforderte Vermittlung zwischen den menschlichen Taten und der postulierten Subjekt-Instanz wäre gege­ ben. Insofern die hypothetische Subjektivität der Ort erinnernden Aufbewahrtseins wäre, müßte ihr ein wachsendes Gedächtnis zu­ 41 42 43 44 372

A.a.O., S. 1389. A.a.O., S. 1383. Jonas, Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, S. 184. Vgl. a. a. O., S. 186 ff.

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kommen. In dieser Hinsicht handelte es sich nach Jonas um einen am Menschen werdenden und wachsenden Geist. Einen ähnlichen Ge­ danken bringt Whitehead zum Ausdruck, wenn er sagt, jede Wirk­ lichkeit der zeitlichen Welt werde in Gottes Natur aufgenommen: »Was in der Welt getan wird, verwandelt sich in eine Realität des Himmels, und die Realität des Himmels geht wieder über in die Welt ... In diesem Sinne ist Gott der große Begleiter - der Leidens­ gefährte, der versteht.«45 So tröstlich diese Worte auch klingen mögen, sie gehören wohl eher in den Bereich des Glaubens als in den Bereich argumentieren­ der Metaphysik. Zweierlei kann immerhin noch angefügt werden. Wenn es so sein sollte, daß der Panpsychismus mit seiner These in­ finitesimaler Allbeseeltheit Unrecht hat, dann bedeutet jedes neue Bewußtsein ein echtes Novum, was besagt, daß wir nicht anzugeben vermögen, durch die Umformung wessen es entstanden ist. Bewußt­ sein hebt als zeitliche Realität an und endet irgendwann als solche, offenbar ohne in irgendwelche identifizierbaren Komponenten zu zerfallen, wie der Leichnam als Hinterbliebenes des Organismus sie repräsentiert. Woher ist das Bewußtsein gekommen und wohin ge­ gangen? Wir können diese metaphysische Frage stellen. Doch sind wohl nur glaubende Menschen imstande, eine Antwort zu geben, die mehr umfaßt als die Auskunft, es handele sich beim Bewußtsein um ein echtes Novum - nicht bloß um die Ausdifferenzierung eines schon in nuce im materiellen Träger Anwesenden. Die zweite Anfügung spielt auf die schwache erkenntnislogische Überlegenheit einer Weiterexistenz nach dem Tode an. Das Argument lautet: Nur wer eine Weiterexistenz nach dem Tode behauptet, kann diese Auf­ fassung bestätigt finden. Wer das Gegenteil behauptet, ist, wenn er recht hatte, von der Erfahrung der Wahrheit seiner Überzeugung ausgeschlossen. Aber ist denn nun die Hypothese - der Glaube - eines Erinnert­ werdens alles Realen in einem transzendenten Subjekt eine Annah­ me, die das Seinsollen der Menschheit zu begründen vermag? Was erinnert werden soll, muß zunächst Dasein gehabt haben. Die Frage lautet aber gerade: Warum hatte das zu Erinnernde dasein, hatten Menschen hervorgebracht werden sollen? Jetzt kann die Antwort nicht lauten: Damit ihrer gedacht wird, ihr Glück und Leid auf­ bewahrt bleiben. Es wäre wiederum paradox zu sagen, Menschen 45 Whitehead, Prozeß und Realität, S. 626. ^

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sollen hervorgebracht werden, damit es eine Erinnerung an sie gibt, wenn sie nicht mehr sind. Sinnvoll wäre allein zu sagen, Menschen sollen um der erinnernden Instanz selbst willen hervorgebracht wer­ den. Da wir uns mit Bloch, Jonas und Whitehead weit in der Speku­ lation vorgewagt haben, dürfen wir auch diese Frage noch stellen: Wie wäre die hypothetische Subjektivität zu denken, daß in An­ sehung ihrer von einem Seinsollen der Menschheit, von einer Pflicht zur Weitergabe menschlichen Lebens die Rede sein könnte? Wir müßten ihr, um dies sagen zu können, ein Interesse am Dasein von Menschen zuschreiben, ja, wahrscheinlich sogar die Eigenschaft, an einem Verebben der Menschheit zu leiden, schlimmer zu leiden, als die hervorgebrachten leidenden Menschen.

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Die Perpetuierung der Menschheit als Opfer

Unsere Erörterung der Ontologien menschheitlichen Seinsollens hat ein zweifaches Resümee. Zum einen repräsentieren diese Ontologien die in Anbetracht der Neganthropie und des idealethischen Verebbens-Gebots notwendige Arbeit an der Metaphysik. Zum anderen aber waren die in Anwendung gebrachten metaphysischen Kate­ gorien nicht in der Lage, eine Anthropodizee zu leisten und vom Seinsollen der Menschheit zu überzeugen. Zu den Kategorien, mit denen wir bekannt wurden, gehören »objektiver Zweck«, »objektiver Wert«, »Kontinuität«, »Sinn« und »Tendenz des Seins«, das »Sein als Aufgegebenes«, eine »zu realisierende ideale Wertfülle«, »zu reali­ sierende Möglichkeiten des Seins«, »Seinsfülle«, »Seinsförderung« und »Seinshöhe«, »Natursubjekt«, der Mensch als »Hüter« und als »Mitarbeiter« des Seins, als »Demiurg« und als »Schöpfer«. Durch die Arbeit mit und an diesen und anderen metaphysischen Katego­ rien konnte kein Entwurf vorgelegt werden, der zum Resultat gehabt hätte, daß der von der moralischen Richtigkeit des Verebbens Über­ zeugte diese seine Überzeugung revidieren müßte. Immer wieder zeigte es sich, daß eine Bewertung des Verebbens als »unmoralisch« rückgebunden bleibt an die abendländische Urentscheidung, an eine vorgängige Intuition menschheitlichen Seinsollens. Kann, diese Frage wird nun unweigerlich laut, eine Anthropodi­ zee überhaupt konzeptualisiert werden? Wenn wir, endliche Ver­ nunftwesen, das Seinshöchste und die allein über Sein und Nichtsein entscheidende Instanz sind, so gibt es nichts Vergleichbares, um dessentwillen wir fortzubestehen haben. Folglich müßten wir Gott als einen Wert unvergleichlich höheren Ranges und am Verebben lei­ dend voraussetzen. Dies aber ist nicht mehr eine Frage der philo­ sophischen Demonstration, sondern des Glaubens. Demnach kann die Perpetuierung der Menschheit in Ansehung des Verebbens-Gedankens, wollen wir von egoistischen Gründen ein­ mal absehen, nur als Opfer gerechtfertigt werden. Ein Opfer im ei­ ^

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gentlichen Sinn verweist stets auf einen positiven Wert höheren Ranges, um dessentwillen das Opfer dargehracht wird.1 Als einen solchen Wert höheren und höchsten Ranges können wir einen am menschlichen Schicksal teilnehmenden oder gar, wie ohen skizziert, an den menschlichen Erfahrungen wachsenden Schöpfer denken, üher den Jonas sagte, »wir dürfen Ihn nicht im Stiche lassen, selhst wenn wir uns im Stiche lassen wollten.« (OF 338) Wie aher kann der Gedanke einer Perpetuierung der Menschheit in Anbetracht der idealethischen Verebbensidee als Opfer näherhin expliziert werden? Man kann etwas von sich opfern, einen Teil seiner selhst, sich selhst oder andere. Dadurch, daß jemand hervorgehracht wird, steht »er« aher nicht schlechter da, als im Falle der Nichthervorhringung, da es ihn dann gar nicht gegehen hätte. Von daher scheint es im Umkehr­ schluß unsinnig zu sagen, die Hervorhringung von Menschen ohne gelungene Anthropodizee sei ein Opfer. Und heißt es nicht vielmehr, wenn wir uns schon auf einen philosophisch falschen Gehrauch von Personalpronomen einlassen wollen, daß jemandem das Lehen ge­ schenkt wird? In existenzinklusiver Hinsicht ist es verkehrt zu sagen, jeman­ dem werde durch die Hervorhringung seiner das Lehen geschenkt. 1 Vgl. Scheler, Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre, S. 40ff. Scheler hringt unmißverständlich zum Ausdruck, daß das Leiden des Lehendigen nur im Lichte der religiösen Kategorie des Opfers zu einer akzeptierharen Erfahrung wird. Wohei er deutlich macht, daß diese Welterfahrung allein dem religiösen Menschen offensteht. Das Dilemma liegt dann im religiösen Indifferentismus als einem Wesensmerkmal der Moderne. Wir mögen zwecks Anthropodizee zur Arheit an der Metaphysik aufrufen, aher es ist doch fraglich, oh diese jemals die Selhstverständlichkeit verlorener Glauhensgewißheit wird einholen können. Scheler sagt: »Mußte es wenn es ein Signalsystem der Warnungen und Lockungen für lehensfördernde und lehensschädliche Verhaltungswei­ sen gehen sollte - gerade die eigentümliche Qualität Schmerz und Leiden sein, die in dies Zeichensystem aufgenommen wurde? ... Warum hat sich der göttliche Weltgrund ... nicht weniger harharischer und heftiger Mittel hedient, um es zu warnen und zu lokken? . Ich sage frei: Würde ich Idee und Dasein Gottes erst aus einem Kausalschluß von der Beschaffenheit und dem Dasein der Welt, so wie sie mir (empirisch) hekannt ist, gewinnen wollen - nicht aus einem ursprünglichen Person- und Erfahrungskontakt meines Personkerns mit einer heiligen Güte und Weisheit im religiösen Akt -, so würde mir selhst in dem Falle, daß die ganze ührige Welt in Friede, Seligkeit und Harmonie erglänzte, das Dasein einer einzigen, wenn auch noch so schwachen Schmerzempfin­ dung - eines Wurms z. B. - vollständig genügen, um der Anerkennung eines >allgütigenc und allmächtigen Schöpfers der Welt meine Zustimmung zu versagen. Nur indem man die Tatsache von Schmerz und Leid unter das Licht der Idee des Opfers rückt ... ist es vielleicht - möglich, einer tieferen Theodizee des Leidens näher zu kommen.« A.a.O., S. 41. 376

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Kapitel 24: Die Perpetuierung der Menschheit als Opfer

Einzig mit Blick auf ein höchstes Subjekt, welches an den mensch­ lichen Schicksalen wächst, wie Whitehead und Jonas spekulieren, wä­ re es sinnvoll, die Hervorbringung von Menschen als Schenkung zu bezeichnen. Überlegen wir weiter: Hat diese Schenkung nicht dann Opfercharakter, wenn Menschen allein im Glauben an die höhere Subjektivität Menschen hervorbringen? Sie nähmen die unabding­ baren Leiden zukünftiger Generationen, die sie mitfühlend antizipie­ ren können, in Kauf in Anbetracht eines positiven Wertes höheren Ranges. Wenn wir diese Konstellation als Opfer bezeichnen, so ge­ schieht dies vielleicht nicht ganz zu Unrecht. Zwar wird durch Her­ vorbringung niemand geopfert, aber menschliches Leid, das zu ver­ meiden gewesen wäre, wird nun unweigerlich erfahren. Um in der Idee einer Perpetuierung der Menschheit als Opfer eine gelungene Anthropodizee erkennen zu können, ist der Glaube an einen Wert höheren Ranges als Menschen vorausgesetzt. Wie aber soll man in den Besitz dieses Glaubens gelangen, wenn man ihn nicht bereits teilt? Wir können uns nicht dazu entscheiden, etwas zu glauben, weil Glauben auf eine Form von Wahrheit gerichtet ist. Könnte man sich bewußt dazu entscheiden, etwas ohne Rücksicht auf die Wahrheit als Glauben anzunehmen, so könnte man sich den Glauben nicht mehr als etwas denken, was die Welt im ganzen, ihren Sinn oder Unsinn repräsentieren soll.2 So zeigt sich, daß zwar für den Glaubenden eine Anthropodizee unter dem Titel »Die Perpetuierung der Menschheit als Opfer« konzeptualisierbar ist, dieser Weg aber dem nicht schon im Glauben Stehenden unzugänglich bleibt, jeden­ falls nicht willentlich beschritten werden kann.3 In der Arbeit »Lebenswelt und Weltall« von F. J. Wetz findet sich folgender Vorschlag: »Wo wir ohne höheren Trost auskommen müssen und nicht in tiefe Niedergeschlagenheit stürzen wollen, ist eine Ästhetik der Existenz zu etablieren, welche die Kunst der An­ erkennung unverfügbarer Daseinsumstände beherrscht. Denn in der Leere der verschwundenen symbolischen Abschlußdeutungen ist nur jenes Individuum mit sich versöhnt, das die Grundhaltung der Gelas­ senheit zu praktizieren ... vermag. Jedenfalls scheint es die einzige 2 Diese Überlegung ist angelehnt an eine Ausführung B. Williams', Probleme des Selbst, S. 236. 3 Nach dem Gesagten liegt es auf der Hand, daß nicht bloß die Arbeit an der Metaphy­ sik im Rahmen moderner Bewußtseinsstrukturen unabdingbar ist, sondern auch die Religion in ihnen ihren Platz behält. ^

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Kapitel 24: Die Perpetuierung der Menschheit als Opfer

Form zu sein, ... wenn ein Sprung in die religiöse Sphäre ausschei­ det.« Daß ein bewußter Sprung in die Religion ausscheidet, wurde eben deutlich. Doch sollten wir wirklich »... dem Weltall ohne Sinn mit Lässigkeit begegnen und dem Absolutismus der Welt gegenüber Gelassenheit entwickeln«?4 Gegen die Anempfehlung einer Ästhetik der Existenz im Zeichen einer Kultur der Gelassenheit spricht die Realität menschlichen Leidens, welches zu bedenken weiterhin die Arbeit der Metaphysik ausmachen sollte; auch dann, wenn die Suche nach einer Anthropodizee, das eigentliche philosophische Projekt der Moderne, sich bislang als Sisyphos-Arbeit erwiesen hat. Weil der Sprung in den Glauben versagt ist, bleibt dem nicht im Glauben Ste­ henden, insofern mit einer Realisierung des Verebbens nicht zu rech­ nen ist, philosophisch gesehen nur das Aushalten der Spannung zwi­ schen dem Ideal des Verebbens und der Arbeit an der Metaphysik mit dem Ideal einer gelungenen Anthropodizee. Eine andere SisyphosArbeit vollzieht sich in der Weitergabe menschlichen Lebens. Sie ist getragen von der vagen Hoffnung - durch unsere geschichtliche Überlieferung und Gegenwart fragwürdig geworden - der mühsam emporgeschuftete Fels, hier verstanden als Leidensmasse, möge ein­ mal oben bleiben und künftige Generationen verschonen. Er wird abermals nach unten donnern, Verheerung anrichten, um von vielen Händen guter Hoffnung erneut den Hang hinauf gewälzt zu werden, auf daß er dieses Mal nicht wiederkehre. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen, sagt Camus. Eine solche Wunschvorstellung ist vielleicht angebracht, wo das Leben nur ab­ surd ist - aber es ist eben auch leiderfüllt. Allein auf dem Wege rela­ tiver oder absoluter Nachkommenlosigkeit, mündend in das Ver­ ebben der Menschheit, ereignete sich, was in Anknüpfung an den griechischen Mythos Sisyphos' Revolte zu nennen wäre. Er gäbe sei­ ne Arbeit auf, nicht, um Selbstmord zu begehen, sondern indem er keine an seine Stelle tretenden Nachkommen hervorbringt. So stünde irgendwann niemand mehr in der Bahn des allmählich aus­ rollenden Felsens. Im Sinne der asiatischen Urentscheidung formu­ liert: Mittels nataler Enthaltsamkeit wird dem Rad des Leidens Schwungkraft entzogen, bis es stillsteht. Im buddhistischen Grund­ kanon heißt es: Aus der Geburt als Ursache entstehen Alter, Sterben, Kummer, Wehklage, Schmerz, Unmut und Unrast. So ist dieser gan­ zen Leidensmasse Ursprung. 4 Wetz, Lebenswelt und Weltall, S. 482 und 451. 378

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Literatur

Schopenhauer, Arthur: Sämtliche Werke in 5 Bänden, F£/M 1986 Schrödinger, Erwin: Was ist Lehen? 4. Au£l. München 1993 Schulz, Walter: Ethik in der veränderten Welt, P£ullingen 1972 Schwehel, Milton (Hg.): Mental Health. Implications o£ Li£e in the Nuclear Age, New York 1986 Sehrt, Martin: Fragen und Diskussionsheiträge zu Ulrich Steinvorths Philosophie, in: Rechtsphilosophische He£te Nr. 6 (1996), S. 133-150 Sen, Amartya/Williams, B.: Ein£ührung zu: dieselhen (Hg.): Utilitarianism and Beyond, Camhridge UP 1982, S. 1-22 Sikora, Richard I.: Is it Wrong to Prevent the Existence o£ Future Generations? In: Barry/Sikora (Hg.), a.a.O., S. 112-166 Sikora, Richard I.: Negative Utilitarianism: Not Yet Dead, in: Mind 85 (1976), S. 587­ 588 Singer, Peter: Animal Liheration, New York 1975 Singer, Peter: Praktische Ethik, 2. Au£l. Stuttgart 1994 Skolimowski, Henryk: Öko-Philosophie, Karlsruhe 1988 Smart, R. N.: Negative Utilitarianism, Mind 67 (1958), S. 542-543 Smart, J. J. C.: An Outline o£ a System o£ Utilitarian Ethics, in: Smart/B. Williams: Uti­ litarianism. For and Against, Camhridge UP 1973, S. 3-74 Smart, J. J. C.: Our Place in the Universe. A Metaphysical Discussion, New York 1989 Spaemann, Rohert/Löw, Reinhard: Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, 3. Au£l. München 1991 Specht, Rainer: Üher drei Arten von Metaphysik, in: Oelmüller (Hg.), a.a.O., S. 170­ 178 Spengler, Oswald, Der Untergang des Ahendlandes, München 1986 Spinoza, Baruch de: Ethik, F£/M 1982 Sprigge, Timothy L. S.: Pro£essor Narvesons Utilitarianism, in: Inquiry 11, 1968, S. 332-348 Steinvorth, Ulrich: Klassische und moderne Ethik. Grundlinien einer materialen Moral­ theorie, Reinhek 1990 (- KME) Steinvorth, Ulrich: Warum üherhaupt etwas ist. Kleine demiurgische Metaphysik, Reinhek 1994 (= WÜ) Steinvorth, Ulrich: Replik au£ Martin Sehrt, Rechtsphilosophische He£te Band VI, F£/M 1996, S. 151-158 McTaggart, John: The Nature o£ Existence, Volume 2, Camhridge UP 1927 Tertullian: Ausgewählte Schri£ten, BKV, Kempten 1872 Tertullian: Treatises on Marriage and Remarriage, Westminster, Maryland 1956 Tooley: Ahtreihung und Kindstötung, in: Leist (Hg.), a. a. O., S. 157-196 Topitsch, Ernst: Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, München 1972 Tranöy, Knut Erik: Assymetries in Ethics. On the Structure o£ a General Theory o£ Ethics, in: Inquiry 10 (1967), S. 351-372 Vetter, Hermann: The Production o£ Children as a Prohlem o£ Utilitarian Ethics, in: Inquiry 12/1969, S. 445-447 Vetter, Hermann: Utilitarianism and New Generations, in: Mind, Vol. LXXX-1971, S. 301-302 Vitsaxis, V. G.: Plato and the Upanisads, New Delhi 1977 Vlastos, Gregory: Platonic Studies, Princeton 1973 Vorsokratiker, ühersetzt und hrsg. von J. Mans£eld, 2 Bände, Stuttgart 1986

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Literatur

Walker, A. D. M.: Negative Utilitarianism, in: Mind 83 (1974), S. 424-428 Warren, Mary: Do Potential People have Moral Rights? in: Barry/Sikora (Hg.): a.a.O., S. 14-30 Watkins, J. W. N.: Negative Utilitarianism, in: The Aristotelian Society, Supplementary Volume XXXV11 (1963), S. 95-114 Weischedel, Wilhelm: Skeptische Ethik, Ff/M 1976 Weischedel, Wilhelm: Der Gott der Philosophen. Grundlegung einer philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus, Band 2, 2. Aufl. München 1985 Weizsäcker, Ernst Ulrich von: Erdpolitik, 4. Aufl. Darmstadt 1994 Wetz, Franz Josef: Lebenswelt und Weltall. Hermeneutik der unabweislichen Fragen, Pfullingen 1994 Wetz, Franz Josef: Jonas zur Einführung, Hamburg 1994 Whitehead, Alfred North: Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie, Ff/M 1987 Widengren, Geo: Mani und der Manichäismus, Stuttgart 1961 Williams, Bernard: Probleme des Selbst. Philosophische Aufsätze 1956-1972, Stuttgart 1978 Williams, Bernard: Kritik des Utilitarismus Ff/M 1979 Williams, Bernard: Der Begriff der Moral. Eine Einführung in die Ethik, Stuttgart 1994 Wolf, Ursula: Das Problem des moralischen Sollens, Berlin-New York 1984 Wolf, Jean-Claude: Hans Jonas: Eine naturphilosophische Begründung der Ethik, in: A. Hügli/P. Lübcke (Hg.): Philosophie im 20. Jahrhundert, Band 1, S. 214-236 Wust, Peter: Wust, Die Auferstehung der Metaphysik, Hamburg 1963 Wyrwa, Dietmar: Die christliche Platonaneignung in den Stromateis des Clemens von Alexandrien, Berlin-New York 1983

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Karim Akerma

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Register

Acton, H. B. 223n, 228n, 237n Adorno, Theodor W. 42f., 49, 274 Ahrens, John 194n Akerma, Karim 24n, 27n, 49n, 232n Anders, Günther 52n, 55 Apel, Karl Otto 21, 114f., 179 Aquino, Thomas von 106, 245 Aristipp 195 Aristoteles 73n, 223, 358, 363f. Armstrong, D. M. 359n Augustinus, Aurelius 65, 91, 94 ff. Ayer, A. J. 62 Bachmann, Ingehorg 26n Baier, Lothar 87n Barrow, J. D. 287n, 360f. Bartuschat, Wolfgang 108n Baur, Ferdinand Christian 82n, 84n, 87 Bennett, Jonathan 20, 58, 209 Bentham, Jeremy 196 Bernal 360n Bernhard, Thomas 26n Birnbacher, Dieter 29n, 61n, 197, 201n, 206, 216n, 227n, 255n, 290n, 354n Bloch, Ernst 19, 54, 246f., 274, 320, 353, 354 ff. Blumenberg, Hans 78 f., 123n, 266, 309n, 317n Blumenthal, Walter 295n Blystone, Jasper 308n Boltzmann, Ludwig 23 Borges, Jorge Luis 144n Breuer, Reinhard 163n Buch, Aloys Johannes 310n Buddha 66, 82, 85 Bykova, Marina 149n Cadwallader, Eva Hauel 123n

Campbell B. G. 271n Camus, Albert 378 Canterbury, Anselm von 104, 317 f., 351 Child, James W. 56 f. Churchland, Paul M. 48n Cioran, E. M. 62, 87, 143 Claussen, Detlev 49n Clemens von Alexandrien 74, 91, 95 ff. Cyprian 91, 95 ff. Dahl, Jürgen 52n Daim, Wilfried 53 Daube, David 71n, 91 ff. Davies, Paul 359 de Duves, Christian 230 Demokrit 9,158, 195 Descartes, Rene 46, 108f., 153, 300, 331 Diner, Dan 49n Duns Scotus 317f. Dyson, F. 360f. Eibl, Hans 96n Eigen, Manfred 230 von Engelhardt, Dietrich 369n Engels, Friedrich 131, 151 Engfer, H.-J. 123n Epikur 195, 223 Erismann, Theodor 246, 248, 321, 323, 344 Eukleides 364 Feinberg, Joel 58, 208 Feuerbach, Ludwig 19, 146ff., 156n, 159 Fichte, Johann Gottlieb 123,131 ff., 139f., 143, 254 Fichtenau, Heinrich 85n, 86n Firor, John 45n ^

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Register

Frankl, Viktor E. 26f. Freud, Sigmund 230 Friedell, Egon 312 Gehlen, Arnold 156n, 158 Gerlitz, Peter 66n Gestering, Johann J. 136n Glover, Jonathan 210 Govier, Trudy 59, 242n Grihhin, John 355n Griffiths, Paul J. 335n Habermas, Jürgen 326 Haeckel, Ernst 44 Halbfass, Wilhelm 136n Hanke, Erich 355n Hare, Richard M. 28, 61n, 179ff., 262n, 347 Harnack, Adolf von 82 Hartmann, Nicolai 19, 47, 80, 108n, 123, 168ff., 246 ff., 264, 286, 289n, 290, 293-315, 320, 330, 338n, 341n, 346n, 349, 353, 357, 364n, 366n, 367 Hegel, G. W. F. 109, 114f., 123, 125, 129, 149, 194, 239, 262f., 291, 299, 317f., 337n, 340, 343, 358 Heidegger Martin 21, 39, 42, 45, 290, 318n, 319f Henrich, Dieter 177 Herder, Johann Gottfried 147, 153, 156, 260 Hesiod 68 Hitler, Adolf 9 Hoeres, Walter 318n Hoerster, Norbert 61n, 165, 176n Hösle, Vittorio 26n, 291n, 297 Holz, Harald 361n Homer 68 Horkheimer, Max 119n Horstmann, Ulrich 229 ff. Hugo von St. Viktor 104, 351 Hull, David E. 171n Hume, David 17f., 138, 225, 236n Hurka, Thomas207 f. Husserl, Edmund 21 Inwagen, Peter van 40 Irenäus von Eyon 95

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Jacobsen, Judith E. 45n Jaspers, Karl156n, 157n, 159, 356 Joest, Wilfried63n, 81n Johnson, Eawrence E. 171 ff. Johnston, Earry 148n Jonas, Hans 19, 25, 47, 49, 52n, 64, 74 ff., 114ff., 145 f., 158,165,177, 182, 204, 206n, 230f., 245 ff., 293f., 296ff., 304 ff., 310f., 314f., 320n, 327, 329ff., 353 ff., 369, 372 ff., 376f. Kant, Immanuel 21, 108 f., 114ff., 133, 136,139,148f., 179,194,198, 239, 251, 254, 263 f., 294,296, 301 Kavka, Gregory 161n Kierkegaard, Suren 154 Köhler, Wolfgang R. 196n, 206n, 262n Kohlbecher, Guido 10 Krings, Hermann 41 Krombach, Hayo B. E. D. 53 Kuhse, Helga 197n Eaktantius, Firmianus 102 f. Eandmann, Michael 156n, 157 Eea, Henry Charles 87 f. Eeibniz, Gottfried Wilhelm 109 ff., 123, 133 f., 209, 277, 318, 323n, 328 Eeider, Kurt 120n Eenzen, Wolfgang 188n Eeslie, John 27n Eöw, Reinhard 46, 268 f., 285n Eöwith, Karl 20, 109 Eovejoy, Arthur O. 111n, 136n, 277 Eugstrup, Knud 35n, 36n Eukacs, Georg 274 Eukrez 245 Mackie, John Eeslie 235 Maimonides, Moses 104ff., 112 Mainländer, Philipp 143ff., 257 Mani 76, 83ff. Marcion 66, 76, 81ff., 158 Marcuse, Herbert 274 Marx, Karl 44, 54, 123, 131,134, 147ff., 156,165,194, 221, 239, 274, 360n, 362n Marx, Werner 319 Maupertuis, Pierre Moreau de 287

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Karim Akerma

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Register

McTaggart 202f. Mermet, Gerard 89n Meyer, William B. 45n Midgley, Mary 360n, 362n Mill, John Stuart 195,197, 201, 205, 216ff., 228, 239 Mon-Hua hiang, Esther 144n Monod, Jacques 105 Montesquieu, Charles 156n Moore, George Edward 205 Müller, Christian 206n Müller, Wolfgang E. 290n Nagel, Thomas 61n, 189n, 324n Narveson, Jan 61, 193n, 209f., 216n, 233 f., 240, 243, 356, 370n Neuffer, Martin 189f., 225n Newton, Isaac 203 Nietzsche, Friedrich 109,145, 147,154, 156, 281, 290 Nigg, Walter 66n, 81n, 83n, 86n Nir, Dov 45n Nosbüsch, Johannes 295n, 299n, 310n Novalis 222 Nozick, Robert 49 ff., 204n, 246, 317n, 320, 323, 326, 342, 340n, 344, 349, 357 f. Obermeier, O. P. 252n, 255, 268n Oelmüller, Willi 40n Ortega y Gasset, Jose 18,156n, 157n Parfit, Derek 177, 191ff., 202, 226n, 240 Patzig, Günther 58, 208 Pauen, Michael 144n Pieper, Annemarie 121n Plessner, Helmuth 153ff. Platon 17n, 19f., 66 ff., 90, 97f., 123,165, 194f., 226, 296, 299, 310f., 315 ff., 320f., 331 Plotin 78 Plünacher, Olga 143n Plutarch 195 Pol-Pot 9 Popkin, Richard H. 53n Popper, Karl Raimund 33 ff., 217, 223 ff., 235, 237 Prigogine Ilya 356n

Puech, Henri-Charles 84n Quispel, Gilles 77n Rath, Matthias 268n, 272n Rawls, John 189 Roche, Deodat 86n Roretz, Karl 118n Rorty, Richard 32 Ross, W. David 224 Salt, Henry 189 Sartre, Jean-Paul 53 ff., 152 Scheler, Max 48, 290, 293, 311ff., 376n Schelling 358 Scherer, Georg 36n, 282n Schöne-Seifert, Bettina 191n Schoeps, H. J. 82n, 83n Schopenhauer, Arthur 9, 87, 96, 134f., 143 f., 150, 218 f., 223, 225, 286n Schrödinger, Erwin 23n Schulz, Walter 26 Schwebel, Milton 53n Sehrt, Martin 10, 248n, 324n Sen, Amartya 204 Sikora, Richard I. 62, 238 ff. Singer, Peter 30n, 211 ff., 240 Skolimowski, Henryk 354 Smart, J. J. C. 200, 216, 229n Smart, R. N. 216n, 224, 226 ff., 231 Sohn-Rethel, Alfred 274f. Spaemann, Robert 46 Specht, Rainer 41 Spengler, Oswald 65, 75, 79, 156 Spinoza, Baruch de 46, 107 ff., 112, 317 f. Sprigge, Timothy h. S. 61n Steinvorth, Ulrich 19, 21, 43, 61n, 268f., 281n, 294, 320ff., 357f., 362ff., 368f. Stengers, Isabelle 356n Taubes, Jacob 76 Tertullian 91, 94n, 95 ff. Tipler, F. J. 360f. Tooley 197n Topitsch, Ernst 33, 36 ff. 298n Tranöy, Knut Erik 236n, 237n, Vetter, Hermann 61n, 207, 242n, 243

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Register

Vitsaxis, V. G. 72n Vlastos, Gregory 316 Walker, A. D. M.223n, 237n, 23Sn, 239 Watkins, J. W. N. 22Sn Weber, Alfred und Max 156 Weischedel, Wilhelm 3Sn, 39 Weizsäcker, Ernst Ulrich von 62 Wetz, Franz Josef 26Sn, 293n, 313n, 377

392

Whitehead, Alfred North 271, 32Sn, 355n, 367n, 372ff., 377, 37Sn Widengren, Geo 84n, 145n Williams, Bernard 199, 208, 214, 216, 377n Wolf, Jean-Claude 290n Wolf, Ursula 330n Wust, Peter 33 Wyrwa, Dietmar 97n Zimmerli, Walter Ch. 41n, 76n

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Karim Akerma

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