Vorentwürfe von Moderne: Antike Melancholie und die Acedia des Mittelalters 9783110812435, 9783110152166

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Vorentwürfe von Moderne: Antike Melancholie und die Acedia des Mittelalters
 9783110812435, 9783110152166

Table of contents :
1 Antike Melancholie
1.1 Tradition und Innovation im antiken Grundtext
1.2 Theophrasts Programm
1.3 Die Verwirklichung des Programms
2 Die Acedia des Mittelalters
2.1 Melancholie und Acedia
2.2 Der Eigensinn der Acedia
2.3 Reichweite und Grenzen der Acedia-Konzeption von Thomas
3 Moderne Metamorphosen
3.1 Konstruktionen des Zusammenhangs
3.2 Nietzsche, Kierkegaard, Benjamin
Anmerkungen

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Michael Theunissen Vorentwürfe von Moderne

Michael Theunissen

Vorentwürfe von Moderne Antike Melancholie und die Acedia des Mittelalters

W DE G 1996 Walter de Gruyter · Berlin · New York

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Theunissen, Michael: Vorentwürfe von Moderne : antike Melancholie und die Acedia des Mittelalters / Michael Theunissen. Berlin ; New York : de Gruyter, 1996 ISBN 3-11-015216-9

© Copyright 1996 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin

Vorwort Als Gastprofessor an der Universität Kopenhagen habe ich während meiner Arbeit am S0ren Kierkegaard Forschungszentrum im Frühjahr 1995 eine Vorlesung über das Thema gehalten: Melancholie — Acedia — Schwermut. Zur Vorgeschichte von Kierkegaards Anthropologie in der Antike und im Mittelalter. Die vorliegende Studie ist aus dieser Vorlesung hervorgegangen. Von Seiten des Forschungszentrums wurde der Wunsch geäußert, die Vorlesung als solche in Form eines größeren Buches zu veröffentlichen. Dazu habe ich mich nicht entschließen können, weil mir der Sachbeitrag Kierkegaards, auf den das Kolleg ausgerichtet war, für ein Buch nicht genügend tragfähig erscheint. In der kleinen Studie, die ich statt dessen vorlege, liegt der Schwerpunkt auf den prämodernen Konzeptionen, denen ich schon früher nachgegangen bin. Die Melancholie-Abhandlung aus der Aristoteles-Schule war Gegenstand eines Seminars, das ich Mitte der siebziger Jahre zusammen mit dem Psychiater Hubertus Tellenbach veranstaltet habe. In meinem letzten Heidelberger Semester (Winter 1979/1980) habe ich die Linie in Richtung auf das Mittelalter ausgezogen (vgl. Livio Bottani, La malinconia et il fondamento assente, Milano 1992.) In veränderter Perspektive war die Beziehung von Melancholie und Acedia noch einmal Thema eines Seminars vom Sommer 1993. In dankbarer Erinnerung an meinen halbjährigen Aufenthalt in Dänemark sei die Studie meinen Kolleginnen und Kollegen am S0ren Kierkegaard Forschungszentrum und dessen Leiter Nils J0rgen Cappel0rn gewidmet. Berlin, im Februar 1996

M. T.

ν

Inhalt 1 1.1 1.2 1.3 2 2.1 2.2 2.3 3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3

Antike Melancholie Tradition und Innovation im antiken Grundtext Theophrasts Programm Die Verwirklichung des Programms Die Acedia des Mittelalters Melancholie und Acedia Der Eigensinn der Acedia Reichweite und Grenzen der Acedia-Konzeption von Thomas Moderne Metamorphosen Konstruktionen des Zusammenhangs Nietzsche, Kierkegaard, Benjamin Nietzsches Traurigkeit Kierkegaards Schwermut Benjamins Trauer

3 8 12 25 30 33 39 42 42 44 48

Anmerkungen

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VII

Begriffe, die über Jahrtausende hinweg tradiert, umgedeutet, aufgefüllt, abgeschliffen wurden, lassen sich nur im Rückgang auf ihren Ursprung klären. Dies gilt auch für den immer vieldeutiger gewordenen Begriff der Melancholie. Wer ihn wie eine feste Größe behandelt, ohne sich seiner geschichtlichen Genese zu versichern, kann nur Verwirrung stiften. Die Verwirrung wächst, wenn man eine willkürlich oder gar nicht definierte Melancholie auf eine Moderne bezieht, deren Begriff man ebenfalls auf eigene Faust festsetzt. Wo zudem, wie hier mit der Acedia des Mittelalters, ein Drittes ins Spiel kommt, das seinerseits vielfaltig aufgefaßt und dementsprechend der Melancholie in unterschiedlichster Weise zugeordnet wurde, muß die Verwirrung bei einem historisch naiven Gebrauch der Begriffe heillos werden. Um dieser Gefahr zu entgehen, sollten wir uns, was Melancholie und Acedia sind, von den jeweils wirkmächtig gewordenen Texten sagen lassen und an den Versuch einer Verständigung über ihre Folgen möglichst vorurteilslos herangehen. Ohnehin kann das von ihnen Ausgelöste nicht die ganze Moderne sein. Es scheint aber auch fraglich, ob es ,die' Moderne überhaupt gibt. Jedenfalls ist mit der antiken Melancholie eine andere Moderne heraufgekommen als mit der Acedia.

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1 Antike Melancholie 1.1 Tradition und Innovation im antiken Grundtext Der geschichtliche Ursprung der in der Renaissance wiederentdeckten Melancholie liegt in einem der Problemata Physica, die uns mit dem Corpus Aristotelicum überliefert sind (XXX,l).1 Der Text ist aber selbst schon das Produkt einer historischen Entwicklung, die sich in ihm so verwirrend spiegelt, daß er sich in den Spiegelungen aufzulösen droht. Wir haben ein Exzerpt aus einer Schrift Theophrasts vor uns. Die Uneinheitlichkeit und Widersprüchlichkeit des Textes, das Niveaugefalle zwischen oberflächlichen Analogien und tiefen Einsichten, das Nebeneinander von Argumentation und Gedankenbrüchen — all dies dürfte größtenteils auf das Konto eines das Original entstellenden Exzerptes gehen. In dem Text heben sich aber nicht nur zwei, sondern drei Schichten gegeneinander ab. Unter der authentisch theophrastischen Schicht, auf welche die des Exzerpts aufgetragen ist, scheint eine aristotelische hervor. Sie müssen wir gerade deshalb von den jüngeren unterscheiden, weil der früher dem Aristoteles selbst zugeschriebene Text eine Melancholie-Konzeption vorträgt, die sich von ihrem eigenen Aristotelismus abstößt. Daß Aristoteles nicht sein Verfasser sein kann, ist in neuerer Zeit aus der Verschiedenheit dieser Konzeption von aktenkundig aristotelischen Beiträgen zur Sache begründet worden.2 Theophrast stellt jedoch auch elementare Annahmen der allgemeinen Philosophie seines Lehrers in Frage, Annahmen, die er, der Nachfolger des Schuloberhaupts, zugleich teilt. Vor solchen Komplikationen versagt die übliche Kunst einer paraphrasierenden Auslegung. Der Text muß rekonstruiert werden. Zum einen ist die Oberfläche abzutragen und die im vorliegenden Exzerpt weithin verdeckte Tiefendimension freizulegen. Zum andern wird der Neuansatz Theophrasts von seinem aristotelischen Untergrund 3

abzulösen sein. Zumal in dieser Hinsicht bedarf die Rekonstruktion eines Maßstabs. Als Maßstab dient ihr das Späte, gerade nicht Aristotelische. Ausgerichtet am Späten ist die Rekonstruktion im Vorblick auf das Untersuchungsziel. Den folgenden Überlegungen liegt die Hypothese zugrunde, daß eine Spielart von Moderne aus dem am Theophrast-Text ablesbaren Zerfall der klassischen Antike hervorgegangen ist. Spät ist das von Aristoteles sich emanzipierende Denken natürlich erst recht im Verhältnis zu seinen uoraristotelischen Prämissen. Es wäre müßig, seine von Philologen und Medizinhistorikern durchforschte Vorgeschichte hier nochmals auszubreiten.3 Aber gegenzusteuern ist der in der Literatur vorherrschenden Tendenz, die von Theophrast formulierte Theorie allzu dicht an die ihm vorgegebene Auffassung der Sache heranzurücken. In bezug auf alle Stationen des schon vor Aristoteles durchlaufenen Weges lassen sich sowohl der Punkt markieren, an den Theophrast jeweils anknüpft, wie auch der, von dem er abspringt. Und beide verweisen auf sein Ziel, eine neue Gesamtsicht zu erarbeiten. Davon können wir uns leicht überzeugen, wenn wir den Weg von Station zu Station zurückgehen. In unmittelbarer Nähe zu Aristoteles hat Piaton im Phaidros (244a3-245c2) den ersten konsistenten Begriff von Wahnsinn, manía, entworfen. Vielleicht begreift Theophrast Melancholie auch darum, bei aller Aufmerksamkeit für depressive Erscheinungen, von der Manie her. Mit Sicherheit verarbeitet er Piatons These, durch Wahnsinn würden uns die größten Güter zuteil. Bezeichnenderweise streicht er aber den Zusatz weg, wonach dies nur für den von den Göttern verordneten Wahnsinn gilt. Der Satz von der Melancholie der Gottbegeisterten (954a36) ist im Problema eine deplazierte Reminiszenz. Denn der ganze Text verfolgt eine Strategie der Enttheologisierung und Naturalisierung, die eine Absage an Piaton bedeutet. 4

Antike Melancholie

Mit einem ersten Schritt hinter Piaton zurück gelangen wir zu der vermutlich um 400 v. Chr. verfaßten, zum Corpus Hippocraticum gehörigen Schrift Von der Natur des Menschen. Sie bildet die Folie, auf die man die Melancholie-Konzeption Theophrasts vornehmlich abzieht. Ihr mutmaßlicher Verfasser Polybos hat als erster eine schwarze Galle, mélaina cholé, auch beim Gesunden, angenommen und sie, neben der gelben Galle, dem Blut und dem Phlegma, als einen der vier ,Säfte', quattuor humores, identifiziert, die im menschlichen Körper den vier Elementen entsprechen. Der Anknüpfungspunkt Theophrasts ist hier die Rückführung der Melancholie auf eine körperliche Substanz. Sie verleiht seiner Abhandlung einen mit der antiplatonischen Naturalisierungsstrategie harmonierenden Zug zum Physikalismus, den der ambivalente Text allerdings durch Psychologie und Diätetik kontrapunktiert. Doch ist ganz falsch, unter die Viersäftelehre, die Galen auf das gesamte Corpus Hippocraticum projiziert hat, auch noch unseren Text zu subsumieren.4 Theophrast löst die Melancholie aus der Viersäftelehre gerade heraus, und daß er dies tut, war für die modernen Ansichten von ihr folgenreich. Nicht nur sofern er sie damit, durch ihre Abriegelung von den vier Elementen, entkosmologisierte, sondern auch vor allem deshalb, weil er sie zum äußersten Horizont machte. Die Sprengung des Rahmens jener Lehre zeigt sich besonders eindrucksvoll an der Veränderung des Theorems der Mischung, kräsis. Polybos spricht auch erstmals klar aus, daß Gesundheit in der gleichmäßigen Mischung der Säfte, Krankheit hingegen im Übermaß eines einzelnen Saftes bestehe. Theophrast aber setzt die Mischung in die schwarze Galle selbst, wobei er zudem, wie wir sehen werden, auch ihren Begriff verändert. Mit der Verselbständigung der schwarzen Galle zeichnete sich die Möglichkeit einer die Melancholie mitumfassenden Theorie der Konstitutionen oder Tempera5

mente ab. Kann es doch für die physiologische Betrachtungsweise der hippokratischen Ärzte einen melancholischen Typ nur unter der Bedingung eines somatischen Substrats von entsprechender Beschaffenheit geben. Innerhalb der voraristotelischen Tradition repräsentiert die Schrift Über die Natur des Menschen denn auch den fortgeschrittensten Stand der sich auf eine Typenlehre zubewegenden Medizin. Auch insofern hat sie der Konzeption Theophrasts vorgearbeitet. Ihren Einfluß auf das Problema verrät unter anderem, daß ,Mischung' — dies ist noch ein weiterer Wandel des Sprachgebrauchs darin oft dasselbe meint wie Constitution' (so 954a29, b7). Die Ansätze zu einer Typisierung spiegeln sich aber vor allem in Theophrasts epochaler These über eine natürliche, nicht krankhafte Melancholie. Auch hier muß man sich allerdings vor Gleichmacherei hüten. Auf der einen Seite kennt selbst Polybos noch keine Melancholiker, Choleriker, Phlegmatiker oder Sanguiniker im wohldefinierten Sinne der ausgebildeten Konstitutionenlehre. Auf der anderen Seite, auf der von Theophrast, ist der von Natur Melancholische — und nur darum konnte er die Späteren so faszinieren — mehr als ein Typ. Wie er sich zu seinem Vorgänger, dem Typus melancholicus, verhält, zeigt sich im Zurückgehen auf die der PolybosSchrift vorausliegenden Zeugnisse. Die Genese der Lehre von den Veranlagungstypen läuft über das dritte der Epidemienbücher, die zur ältesten Schicht des Corpus gehören. Aber in der Vorgeschichte der Konzeption Theophrasts nimmt dieses Buch insofern eine avancierte Position ein, als es ausdrücklich einen melancholischen Typ benennt. Dadurch zeichnet es sich vor der Uber Lüfte, Gewässer und Orte sprechenden Schrift aus, die nur allgemein einen Galletyp beschreibt. Daneben traktiert die ,Umwelt'-Schrift, erstmals unter diesem Titel, eine - als Krankheit diagnostizierte - Melancholie. Einen konsistenten Zusammenhang zwischen 6

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jenem Typ und dieser Krankheit stellt sie indes nicht her. Insofern bildet sie für das Problema auch eine Negativfolie. Denn die herausragende Leistung Theophrasts ist gerade, daß er den von Natur Melancholischen in nachvollziehbarer Weise auf die krankhafte Melancholie und die Disposition zu ihr bezieht. Unerläßlich für eine zureichende Einsicht in die von ihm hergestellte Beziehung ist ein Rückblick auf die Herkunft des anderen Polybos-Theorems, der Annahme einer schwarzen Galle. Ursprünglich wurde unter Melancholie nichts als eine Krankheit oder eine Verhaltensstörung verstanden. Die Idee eines melancholischen Temperaments hat sich erst allmählich aus der Krankheitsdiagnose herausgebildet. Noch der Melancholiker des dritten Epidemiebuchs war allein durch seine prämorbide Anlage definiert. Erst recht verbindet die noch hinter das Corpus Hippocraticum zurückreichende Überlieferung mit Wörtern wie cholän oder melagcholän, den Synonymen zu mainesthai, die Vorstellung von etwas Verrücktem. Der Beitrag der Ärzte bestand in der Erklärung des krankhaften Benehmens durch eine Verdickung der Galle. Der Annahme einer schwarzen Galle ging also die Hypothese voraus, daß ein Mensch an Melancholie erkranke, wenn die - hier noch ungeschiedene - Galle eine bestimmte Veränderung erleidet. Es scheint, als habe Theophrast trotz seines Ja zu Polybos an dieser Hypothese in modifizierter Form festgehalten. Die Substanz ,schwarze Galle' wird er gewissermaßen entsubstantialisieren. Darin mag man eine Rückkehr zu der Medizin sehen, die den Zustand des an Melancholie Erkrankten aus einem Prozeß ableitet. Weniger spekulativ ist der Hinweis auf den Hintergrund seiner Umdeutung der kräsis. Theophrast kann die Mischung zu einem Vorgang in der schwarzen Galle selbst dynamisieren, weil er Melancholie seinerseits aus deren Veränderung deduziert. Die Veränderung ist zwar keine Verdikkung mehr, aber eine, die an sie erinnert. Am meisten 7

verwirrt an dem vor uns liegenden Exzerpt, daß darin zwei Parameter der Veränderung auftreten, die Größe und die Wärme. Die Maßstabfunktion der Größe scheint ein Relikt aus der Viersäftelehre zu sein. Die Orientierung an einer zu großen Schwarzgalle hat sich offenbar aus dem Ansatz bei deren Vorherrschaft über die anderen Substanzen entwickelt. Deshalb und mit Rücksicht auf Aristoteles wird die im folgenden versuchte Rekonstruktion, die unter den gegebenen Umständen auch eine Vereinseitigung sein muß, den Parameter der Wärme bevorzugen. Mit seiner Behauptung, alles regle der Wärmehaushalt, folgt Theophrast nämlich, ungeachtet seiner sonstigen Vorbehalte, einem Grundsatz aristotelischer Physik. Die Erwärmung der schwarzen Galle sublimiert aber die einstige Verdickung. Führt sie doch zu einer Entwässerung, und als die war eben die Verdickung beschrieben worden. Daß der von Natur Melancholische im Problema mehr ist als ein Typ, zeigt sich an dem, was er aus sich machen kann. Er wird die mit der schwarzen Galle geschehene Veränderung noch einmal verändern. Diese Veränderung zweiter Potenz bildet den Fluchtpunkt, auf den hin Theophrast die Vorgaben der Mediziner transformiert.

1.2 Theophrasts Programm Das Neuartige an unserem Text zeigt sich bereits an der Frage, mit der er anhebt: Warum sind alle Überragenden (perittoi) Melancholiker? Dieser Leitfrage verdankt der Text seine Wirkungsgeschichte. Man hat ihn als Untersuchung über den Ursprung und das Wesen der Genialität gelesen. Bedenkt man freilich, daß Melancholie für die Griechen zunächst einmal eine Krankheit war und daß auch der Verfasser sogleich auf krankhafte Erscheinungen zu sprechen kommt, die fortan sein Hauptthema sein werden, so überrascht an der Frage vor allem das sie mo8

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tivierende Interesse an einem Negativen, welches das Positive allererst ermöglicht. Zum Überraschenden gehört die Selbstverständlichkeit, mit der sie voraussetzt, daß das Negative tatsächlich der Ermöglichungsgrund des Positiven sei. Gefragt wird ja nicht, ob die Überragenden, die ingeritosi der Renaissance, Melancholiker seien. In Frage steht nur die Ursache für die als evident geltende Tatsache, daß sie es sind. Es ist aber auch voreilig, die Überragenden selbst so eindeutig positiv zu werten, wie es der Begriff der Genialität nahelegt. An dem Wort perittós fällt eine eigentümliche Ambivalenz auf. Wohl kann es den Überragenden, Hervorragenden, Ausgezeichneten meinen. Es kann aber ebensogut eine wertindifferente oder negativwertige Bedeutung haben. Wertneutral verwenden die Griechen es als Ausdruck für das Außergewöhnliche, Riesige; in einem negativen Sinn charakterisieren sie damit das Übermäßige, Übertriebene, Exaltierte oder, ethisch akzentuiert, das Vermessene, Hybride. Man braucht sich nur die griechische Abscheu vor aller Hybris zu vergegenwärtigen, um die Gefahr zu ermessen, in der auch die positiv zu beurteilenden perittoi schweben. Die Ambivalenz kennzeichnet die Konzeption wesentlich. Manche Stellen des Textes sind nur unter der Prämisse der Mehrdeutigkeit des Wortes nachzuvollziehen. Wenn Theophrast den Eingangssatz am Schluß umkehrt und behauptet, alle Melancholiker seien Überragende, so ist dies nur dann verständlich, wenn man annimmt, daß er entweder die vorher formulierten Bedingungen für ein positives Überragendsein wegläßt oder dieses wertindifferent auffaßt. Die Negativität, die der Ermöglichungsgrund des Positiven sein soll, bleibt also nicht im Grunde. Sie bemächtigt sich auf gewisse Weise des Positiven, sei es so, daß sie es neutralisiert, sei es so, daß sie es gänzlich auf ihre Seite zieht. Diese Macht des Negativen verleiht dem Text einen für unser Empfinden modernen Zug. Nach Benjamin ist die Melancholie „in der Antike dialektisch gesehen wor-

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den".5 Die Modernität des Textes kann man auch aus dessen dialektischem Ansatz erklären. Das Dialektische an ihm geht zwar in der Begründung des Positiven durch das Negative nicht auf. Der Text führt die zum Ermöglichungsgrund des Überragenden deklarierte Melancholie, wie sich zeigen wird, als eine auch in sich dialektisch verfaßte vor. Aber die Richtung auf das Dialektische ist bereits durch die leitende Frage vorgezeichnet. Man glaubte beobachten zu können, daß Theophrast, der sich sogleich dem Unterschied von krankhafter und natürlicher Melancholie zuwendet, seine Leitfrage nicht festhalte. Das ist aber insofern nicht ganz richtig, als Theophrast die von der Tradition angeregte Unterscheidung, die ihn in der Tat fast vollständig beansprucht, in den Dienst seiner Leitfrage stellt. Gegen die krankhafte Melancholie grenzt er eine natürliche ab, weil er in ihr die Quelle überragender Leistungen zu finden hofft. Wie sehr die Leitfrage den Gang der Untersuchung bestimmt, wird im übrigen daran deutlich, daß sie zu einer Erweiterung der durch jene Unterscheidung geschaffenen Basis nötigt. Mit den Uberragenden wird zwangsläufig auch der Durchschnitt zum Thema. Lassen sie sich doch nur vor dem Hintergrund der Menge erfassen, aus der sie sich herausheben. So treibt die Leitfrage zu der weiteren fort, wie Melancholiker sich zu gewöhnlichen Menschen verhalten. Auch auf diese Frage gibt Theophrast eine revolutionäre Antwort. Sie lautet: Es ist überhaupt niemand denkbar, der nicht wenigstens ein bißchen von dem in sich hätte, was Menschen zu Melancholikern macht. Auch damit reißt der Text eine Perspektive auf, die einen Ausblick auf die Moderne eröffnet. Melancholie füllt jetzt erst recht den ganzen Horizont aus. Theophrast universalisiert sie nicht nur insofern, als er sie aus dem Rahmen der Lehre von den vier Säften herauslöst und für sich allein betrachtet. Er erhebt sie auch dadurch in den Rang des Ganzen, daß er sie ebensowohl in den Gegen10

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standsbereich einer allgemeinen Anthropologie überführt. Dies tut er ansatzweise bereits mit der Konzeption einer von Natur, dià physin, gegebenen Spielart. Die ist freilich noch Objekt einer differentiellen Psychologie. Avanciert die Melancholie hingegen zu einem in jedem Menschen vorhandenen Element, so nimmt sie einen generell anthropologischen Status an. Dann kann man ja die Verfassung des menschlichen Daseins schwerlich noch in den Blick nehmen, ohne sie mit anzuvisieren. Aber spätestens mit dem letzten Schritt der Universalisierung wird der Naturbegriff fragwürdig. Genauer gesagt: Mit ihm enthüllt sich die Fragwürdigkeit schon des im ersten Schritt beanspruchten Naturbegriffs. Die These über die melancholische Natur der Überragenden beruht auf der Vorannahme, daß in dieser Natur selbst schon etwas vom Überragenden stecke, nicht als positiv Gesetztes, aber im Modus der Indifferenz. In ihrer natürlichen Form kann Melancholie sowohl ein Nährboden für Krankheit sein wie auch eine Pflanzstätte großer Leistungen, weil sie virtuell beides in sich birgt, das Seltene und das Seltsame. Eben darum widerstreitet sie aber auch dem eigentlich Natürlichen. Dies bringt der letzte Schritt an den Tag, indem er das eigentlich Natürliche in Erinnerung ruft. Die unmittelbare Folge ist, daß der Naturbegriff zweideutig wird. In letzter Konsequenz löst er sich auf. Indem das Widernatürliche in das eindringt, was als natürlich gilt, bleibt von reiner Natur am Ende nichts übrig. Auch in dieser Hinsicht enthält der Text den Keim zu einer Entwicklung, die in die Moderne führt. Wenn wir jetzt erkunden, wie Theophrast sein Programm zu realisieren versucht, so sollten wir nicht zuletzt darauf achten, ob die Tendenz zur Denaturalisierung der Natur sich durchsetzt. Mit der Leitfrage, mit der ihrer Klärung dienenden Grundunterscheidung und mit der von ihr geforderten Rücksicht auf das Gros der Menschen sind auch die Fragen vorgegeben, die wir an den Versuch einer Verwirkli11

chung des Programms zu stellen haben. Die vier Fragen an den Text lauten: (1) Wie sieht der Zustand aus, in dem die Melancholiker dià physin sich befinden? (2) Wie verändert er sich, wenn aus deren Anlage eine Krankheit wird, eine Melancholie dià nóson? (3) Was muß geschehen, damit aus demselben Zustand überragende Leistungen hervorgehen? Und schließlich: (4) Inwiefern steckt etwas von dem, was bei einigen konstitutionell ist, in allen Menschen?

1.3 Die Verwirklichung des Programms 1. Es ist kein lapsus linguae, wenn Theophrast die Natur des Melancholikers am Beispiel von Dingen erläutert, denen zustößt, was wider ihre Natur ist, parà physin (955al9). In der Analyse der nach seiner Versicherung natürlichen Melancholie arbeitet er vorzugsweise mit dem Begriff der Anomalie. Kein Begriff könnte das Widernatürliche greller beleuchten. Ein anómalos ist nicht hómalos, nicht gleich oder gleichmäßig. Die Ungleichheit oder Ungleichmäßigkeit legt Theophrast in drei Aspekte auseinander. Die Melancholiker sind erstens ungleich mit anderen; sie sind zweitens ungleich mit sich; und ungleich mit sich selbst ist drittens die mélaina cholé, die schwarze Galle, nach der sie heißen (954b4—10). Theophrast ordnet diese Aspekte so an, daß die Reihenfolge ihrer Aufzählung eine aufsteigende Linie bildet. Die Ungleichheit mit anderen versteht er des näheren so, daß die Melancholiker sich von der Menge, ,den Vielen', unterscheiden (954b26). Aber die soziale Abständigkeit bildet nur die Oberfläche der Erscheinung. Im Gegensatz zum Begriff der Abnormität ist der Anomaliebegriff von vornherein darauf angelegt, die Abweichung von gesellschaftlichen Normen auf ein tieferliegendes Fundament aufzutragen. Schwerer wiegt nach seinen Kriterien, daß die Melancholiker sich von sich selbst unterscheiden 12

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(954b7). Hierin kündigt sich die moderne Erfahrung der Selbstentzweiung an. Doch Theophrast potenziert die Anomalie noch einmal, indem er das Subjekt wechselt und die Selbstentzweiung der Substanz zuschreibt, deren Beschaffenheit Melancholie erzeugt. Dabei behält aber die reflexive Anomalie ihren Vorrang vor der sozialen. Es ist die Ungleichheit der Melancholiker mit sich, in der die Selbstungleichheit der melancholisch machenden Substanz ihren Niederschlag findet. Letztlich geht es um Entzweiung, um die der Menschen und die des Substrats ihrer Melancholie. Wohlgemerkt: Die Entzweiung soll bereits die natürliche Melancholie kennzeichnen, nicht erst die krankhafte. Krank werden Melancholiker keineswegs dadurch, daß aus den Fugen geriete, was zunächst im Lot gewesen wäre. Der AnomaliebegrifF zeigt unmißverständlich an, daß die Natur des Melancholikers, wenn sie denn schon Natur ist, jedenfalls keine heile sein kann. Zugegeben: Man wird die objektive Tendenz des Gedankens, an welche die hier versuchte Explikation sich hält, gegen seine verbale Gestalt abgrenzen müssen. Von der Ungleichheit der schwarzen Galle mit sich sagt Theophrast explizit nur, daß sie einmal kalt sei, ein anderes Mal warm. Vermutlich hat er auch bei der entsprechenden Ungleichheit der mit ihr geschlagenen Menschen nicht mehr als derartige Schwankungen im Blick. Danach würden die Melancholiker sich lediglich insofern von sich selbst unterscheiden, als sie zu verschiedenen Zeiten ein verschiedenes Gebaren an den Tag legen. Dennoch scheint gerechtfertigt, dem Text über die Ungleichheit sukzessiver Phasen hinaus eine je im Augenblick bestehende als mitgedacht zu unterstellen. Dazu ermutigt insbesondere die von der schwarzen Galle selbst ausgesagte. Eine Substanz, die in der Weise ungleich mit sich ist, daß sie simultan in einander widersprechende Prädikate auseinanderfällt, wäre dazu verurteilt, in ihrer Substantalität zu verschwinden. Eine solche Selbstaufhebung des Substantialismus, zu 13

dem Theophrast auf Grund seiner Voraussetzung eines bestimmten Stoffes fürs erste neigt, würde zu der beobachteten Denaturalisierung der Natur passen. Und sie findet in der Bewegung des Textes tatsächlich statt. Am Ende spricht Theophrast nicht mehr von einer Substanz, sondern nur noch von einer diáthesis (955a38), einem Zustand, der nach der Übersetzung von Flashar .unser' Zustand ist, kein bloß körperlicher, unpersönlicher. 2. In Übereinstimmung mit seiner Analyse der Melancholie dià physin beschreibt Theophrast den Prozeß, der in die Melancholie dià nóson hineintreibt, nicht als Auftreten einer Anomalie, sondern als deren Steigerung. Mit Hegel könnte man die natürliche Melancholie als Widerspruch an sich, die krankhafte als gesetzten Widerspruch deuten. Für die somatologische, am Wärmehaushalt des Körpers ausgerichtete Betrachtungsweise wird der Widerspruch dadurch ,gesetzt', daß die an sich schon übermäßig erwärmte Substanz, die in dieser Betrachtungsweise den Ausgangspunkt bildet, übermäßig erwärmt wird. Dadurch entsteht, was die moderne Wissenschaft von der kranken Seele gerade nicht Melancholie nennt, sondern Manie, eine Exaltiertheit, die Theophrast an den Wirkungen übermäßigen Weingenusses veranschaulicht. Die heute so genannte Melancholie entsteht aus dem Gegenteil, aus einer ähnlich übertreibenden Erkaltung des in seiner eigentlichen Natur Kalten. Die Bipolarität des Erkrankungsvorgangs verdient in mehrfacher Hinsicht Beachtung. Zunächst vervollständigt sie das Bild von einer durch und durch dialektischen Konzeption. Die nicht nur als Ermöglichungsgrund des Überragenden, sondern auch in sich dialektische Melancholie ist dies zum einen als zugleich natürliche und krankhafte, zum andern insofern, als ebensowohl die krankhafte zwiefältig ist, ausgespannt zwischen Manie und Depression. Man würde zu kurz greifen, wollte man behaupten, daß Theophrast die ,Manie' Piatons umstandslos in ,Melancholie' umtaufe. Zwar ist die nach 14

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Maßgabe seines Begriffs verstandene Melancholie vor allem Manie, aber so, daß sie das Andere der Manie, die Depression, mitumspannt. Die unter dem Titel Melancholie' auftretende Einheit von Manie und Depression ist in dem genauen Sinne dialektisch, daß sie ein Drittes im Grunde ausschließt. Zwar kommt in unserem Text außer der euthymia, der manischen Hochstimmung, und der dysthymia, der depressiven Mißstimmung, auch eine athymia (954a23) vor, ein Sammelbecken alltäglicher Indifferenzgefühle (vgl. 954b 15—18). Aber die igendwo zwischen Hochstimmung und Mißstimmung anzusiedelnde Ungestimmtheit hat bei Theophrast keinen festen, theoretisch abgesicherten Ort. Sie wird mit der Mißstimmung kontaminiert. Die Bipolarität der von Theophrast diagnostizierten Krankheit muß unsere Aufmerksamkeit noch aus einem anderen Grund erregen. Sie wirft nämlich ein neues Licht auf das Schicksal des Natürlichen. Geht die manische Form der Krankheit daraus hervor, daß eine Anomalie, die als solche schon widernatürlich ist, sich vollends ins Widernatürliche hineinsteigert, so resultiert ihre depressive Form nach der Logik ihres Erklärungsversuchs aus einer Hypertrophie des Normalen, der für die schwarze Galle naturgemäßen Kälte. Es gibt demnach, pointiert ausgedrückt, auch ein Zuviel an Natur. Dies kommt im Text kaum zum Ausdruck, weil der systematische Anspruch, die morbide Melancholie vollständig, auch in ihrer depressiven Gestalt, aus der prämorbiden abzuleiten, den Verfasser dazu zwingt, die übermäßige Erkaltung auf einen Umschlag im Prozeß der Erwärmung zurückzuführen. Theophrast muß die wenig plausible Zusatzhypothese aufstellen, daß ein allzu großes Maß an exogener Wärme die Eigenwärme des Körpers zum Erlöschen bringe. So stuft er die Depression zu etwas gegenüber der Manie Sekundärem herab. Er betrachtet ihre Genese analog dem Fall, daß die heitere 15

Stimmung, die der Wein hervorruft, auf dem Gipfel der Ausgelassenheit in Verstimmung umschlägt. Mehr oder weniger einseitig wird die Darstellung der an sich zweiseitigen Krankheit vor allem deswegen. Aber die Dominanz der Manie in ihr sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß in dem Text die Umrisse einer Theorie der zyklothymen Psychose sich abzeichnen. Auch die manisch-depressiven Symptome, die Theophrast mit erstaunlicher Genauigkeit beschreibt, sind auf beide Seiten verteilt. Theophrast deckt die Grundlosigkeit sowohl der guten wie der schlechten Stimmung auf, verfolgt die Entwicklung der Manie bis zum Wahn und registriert auch, wie in der Depression die Suizidneigung wächst. All dies macht den Text zur Geburtsurkunde der Psychopathologie. Wenn an der vorgeschlagenen Rekonstruktion etwas dran ist, so muß man allerdings auch sagen, daß Theophrast die Psychopathologie zugleich unterläuft. Er entzieht ihr den Boden, auf dem sie sich Jahrtausende später eingerichtet hat, indem er mit der Problematisierung des Naturbegriffs auch die Vorstellung problematisiert, als verlaufe zwischen seelischer Gesundheit und seelischer Krankheit eine selbst noch natürliche Trennlinie. 3. Wenden wir uns nun der in unserem Text leitenden Frage zu, wie die natürliche Melancholie, statt krankhaft zu werden, im Gegenteil schöpferische Kräfte freisetzt, so müssen wir zuallererst ein in der Literatur herrschendes Vorurteil aus dem Weg räumen. Nach der landläufigen Meinung läßt sie sich produktiv verarbeiten, wenn sie sich auf ein mittleres Maß einpendelt, ein „Mittelmaß zwischen ,zu warm' und ,zu kalt'".6 Teilenbach nennt die Überragenden geradezu „Mesontypen".7 Der Meinung liegt auch bei anderen Autoren die von Klibansky ausdrücklich zur Sprache gebrachte Annahme zugrunde, daß die das rechte Maß garantierende Mitte, das Ideal der aristotelischen Ethik, auch das für die Melancholiker verbindliche Ideal sei. Dies kann es aber nicht sein. Infolge ihrer Anomalie ist das mittlere und darin rechte 16

Antike Melancholie

Maß den von Natur melancholischen Menschen gänzlich unerreichbar. Theophrast hält es ihnen darum gar nicht vor. Es ist für ihn so wenig ein Ideal, daß er es vielmehr zum Mittelmaß im pejorativen Sinne des Wortes herabsetzt. Nicht die Überragenden bezeichnet er als Mesontypen, sondern die Durchschnittlichen, die er als mésoi (954b25) ansieht, weil sie mittelmäßig sind. Die Illusion, als könnten Melancholiker ein mittleres Maß realisieren, das im Unterschied zu diesem schlechten ein gutes wäre, unterstellt man unserem Autor, weil man in der Wendung pròs tò méson, ,auf das mittlere Maß zu', das ,auf zu' überliest oder zumindest nicht hinreichend ernst nimmt. Dabei könnte gerade der Satz, der die gern zitierte Wendung enthält, lehren, was sein Schreiber statt der nicht zu leistenden Herstellung eines mittleren Maßes wirklich im Auge hat. Der Satz charakterisiert die Überragenden als die, bei denen die schwarze Galle hinsichtlich ihrer allzu großen Wärme bis etwa zum Mittelmaß ,ausgeglichen' (Panofsky) oder auf ein mittleres Maß hin abgeschwächt' (Klibansky), .gemildert' (Flashar) ist (954a39-bl). Seine unterschiedliche Wiedergabe erklärt sich daraus, daß das überlieferte Verb, welches soviel wie blühen oder hervorsprießen meint, unhaltbar ist und von den Übersetzern durch passend erscheinende Ausdrücke ersetzt wird. Im vorgegebenen Rahmen wäre philologische Detailarbeit fehl am Platze. 8 Hier muß die Versicherung genügen, daß alle sinnvollen Konjekturen in die gleiche Richtung weisen: Der Autor visiert lediglich eine Temperierung der übermäßigen Wärme an, eine Herabstimmung, die das Übermaß nicht vollständig zu beseitigen, sondern nur einzuschränken vermag. Das Übermaß dem rechten Maß in dieser Weise anzunähern, ist die einzige Veränderung zum Guten, deren der Zustand eines Melancholikers fähig ist. Wer die Temperierungslehre unter der Decke der Mißverständnisse, denen sie in der Literatur ausgesetzt war 17

und ist, hervorziehen möchte, ist keineswegs bloß auf vereinzelte Sätze angewiesen. So wie die ganze Konzeption der natürlichen Melancholie in einen Kernbegriff eingeht, in den der Anomalie, so verdichtet sich die Analyse der Bedingungen, unter denen Melancholiker zu Überragenden werden, in einer Modifikation dieses Begriffs. Am Schluß, also an exponiertester Stelle, gibt Theophrast an, wie der basale Zustand sich verändert, wenn die Anomalie eúkraton, ,wohlgemischt', ist (955a36). Der Gedanke einer wohlgemischten Anomalie hält an sich nur fest, was die Lehre von der Temperierung der übermäßigen Wärme ausgeführt hat. Aber in seiner Paradoxie macht er deutlich, daß der Widerspruch auch dann, wenn die Dinge sich zum Besseren wenden, erhalten bleibt. Dadurch verrät er zugleich: Das Bessere ist nicht eigentlich das Gute. Die Melancholiker kommen auch als temperierte mit sich nicht ins reine. Zudem macht der Schluß darauf aufmerksam, daß es mit einer Abkühlung der allzu warmen und allzu warm bleibenden Substanz allein nicht getan ist. Die Melancholiker müssen ihre Anomalie selbst irgendwie mischen' (954b27). Sie müssen, formaler ausgedrückt, aus eigener Kraft danach streben, ihre Ungleichheit der unerreichbaren Gleichheit wenigstens anzugleichen. Theophrast verleiht seiner Forderung nach einem, wenn man so will, existentiellen Vollzug des körperlichen Geschehens Nachdruck, indem er ausmalt, was geschieht, wenn Melancholiker in diesen Bemühungen nachlassen: Nehmen sie sich nicht in acht, so verfallen sie in die ihrem Temperament entsprechenden Krankheiten (954b28). An dieser Stelle gerät die Somatologie explizit zur Diätetik. Und am Horizont zeichnet sich, über die diätetische Renaissance-Philosophie hinaus, Freuds Theorie der Kulturentstehung ab, die Theorie, derzufolge Kultur sich einer Sublimierungsleistung verdankt. 4. Von den konstitutionell melancholischen hebt Theophrast die ,normalen', als natürlich geltenden Menschen 18

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ab. Da die melancholische Konstitution den Boden abgibt sowohl für die Krankheit der Manischen und Depressiven wie auch für die Produktivität der Kulturschaffenden, sind diese Menschen an sich dadurch definiert, daß sie weder in jener Weise krank noch auf diese Art produktiv werden können. Aber die Natur, die sie für sich in Anspruch nehmen, hat sich ja längst aufgelöst. Die gewöhnlichen Menschen sind zumindest potentiell melancholisch. Allen, heißt es in unserem Text, ist etwas von dieser Potenz beigemischt (954b20). Was soll damit gesagt sein? Zum einen ist zu prüfen, inwiefern die von Melancholie scheinbar ganz Unbelasteten eine Anlage zu ihr haben und damit auch einen Krankheitskeim in sich tragen. Zum andern werden wir untersuchen müssen, wodurch sie ebensowohl an den Segnungen des zwiespältigen Temperaments teilhaben. Die Frage nach der Ursache für die Universalität einer latenten Melancholie beantwortet Theophrast im Blick auf psychosomatische Erscheinungen. Ausgehend von den Stimmungen, páthe, welche die Melancholiker scheinbar grundlos überfallen, stellt er fest, daß in kleinem Maße, ti mikrón, wir alle derartigen Schwankungen ausgesetzt seien (954bl8), und dies führt er letztlich darauf zurück, daß es im Grunde keinen Menschen gibt, bei dem die schwarze Galle nicht wenigstens etwas von ihrer natürlichen Temperatur abwiche. Damit ist gesagt, daß die Anomalie, ohnehin nicht eingeschränkt auf Krankheit, sogar über die Grenzen der melancholischen Konstitution hinausreiche. Dann wird freilich zum Problem, ob es für sie überhaupt noch einen Maßstab gibt. Als Ersatzmaßstab führt Theophrast die Zeit ein. Wenn er beteuert, daß ein Melancholiker sich der Natur nach so verhalte wie ein anderer im Augenblick der Trunkenheit (953b9), dann bestimmt er die Natur durch Dauer. So kann er auch sagen, der Wein mache einen nur für kurze Zeit außergewöhnlich, perittón, die Natur hingegen für immer (953bl7-19). Natur meint hier zunächst die des Melan19

cholikers. Ihr definiens läßt sich aber auf die eigentliche übertragen: Während der Melancholiker auf Dauer sonderbar erscheint, ist der Nicht-Melancholiker auf die Länge der Zeit gesehen unauffällig, mag er auch vorübergehend auffällig werden. Im einen wie im andern Falle fungiert Zeit als Kriterium für die Beurteilung des Gebarens. Sie springt für die Substanz ein, über welche die denaturierte Natur nicht mehr verfügt. Den Hauptgesichtspunkt für die Einschätzung der zumeist gewöhnlichen, nur manchmal außergewöhnlichen Menschen bildet in unserem Text das Verhältnis zu denen, die ihre Melancholie produktiv verarbeiten. Als Durchschnitt erscheinen diese Menschen ja von vornherein im Lichte der Überragenden. Daß Natur zum Durchschnitt herabsinkt, zeigt von einer anderen Seite her ihre Desubstantialisierung an. Substantiell ist sie nur noch als die Menge, die kein qualitatives Gewicht besitzt. Aber wenn die These, daß etwas Melancholisches allen Menschen beigemischt sei, auch für dessen Sublimierung gilt, dann können die Durchschnittlichen nicht ganz so durchschnittlich sein. Sie müssen dann selbst einen Anflug von dem an sich haben, wodurch die zu Höherem Befähigten über sie hinausragen. Was ist dies? Nach der philosophischsten Interpretation unseres Textes, nach der von Wilhelm Szilasi, ist die Existenz des Melancholikers „durch die Überschwänglichkeit bestimmt"; sie arbeitet darauf hin, „das Menschsein zu übersteigern".9 Danach vollbringen die Überragenden die Selbsttranszendenz des Menschen, und die von ihnen Überragten sind gleichwohl zu ihnen unterwegs, sofern schon sie ansatzweise sich selbst, wenn auch nicht übersteigern, so doch übersteigen. Die Deutung kommt herrschenden Vorurteilen entgegen. Nicht zuletzt die Wiederentdeckung des Textes in der Renaissance scheint zu bestätigen, daß sich darin die Idee des Übermenschen ankündigt. Der Versuch, den Text auf den Gedanken einer Selbsttranszendenz des Menschen 20

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zu verpflichten, ist jedoch zum Scheitern verurteilt. Er beruht auf willkürlichen Vorannahmen über die aristotelische' Melancholie-Konzeption im ganzen. Deren Leitfrage soll sein, „warum die Melancholie zum Sein des Philosophen gehört" (300). Danach sind es die Philosophen, „diese Melancholiker aus dem Übermaß ihres Menschseins" (302), welche die Selbsttranszendenz vorleben. Sie führen hiermit, meint Szilasi, einen Auftrag aus, den ihnen Gott erteilt hat (301). Aber obwohl Theophrast die Philosophie - neben der Politik, der Poesie und den bildenden Künsten - zu Beginn unter den möglichen Wirkungsfeldern der Überragenden aufzählt und im Weiteren Philosophen wie Empedokles, Sokrates und Piaton erwähnt, zieht er diese nicht als Philosophen, ihr herausragendes Werk nicht als Philosophie in Betracht. Wo er später auf die verschiedenen Sparten des Kulturschaffens zurückkommt (954b3), läßt er die Philosophie sogar weg. Erst recht fremd ist ihm die Vorstellung, Philosophen stünden unter einem göttlichen Anspruch. Hat er sich doch von Piatons Vision einer gotterfüllten Manie vollständig gelöst. Wenn in unseren Text eine platonische Figur eingezeichnet ist, dann die der zweitbesten Fahrt (vgl. Phaidon 99c9). Leicht abgewandelt könnte man auch für ihn einen Ausspruch des Abbé Galiani reklamieren: Da es nicht möglich ist, seine Krankheiten loszuwerden, muß man versuchen, mit ihnen zu leben. Weil Melancholiker auf ein von Krankheit unbedrohtes Leben nicht hoffen dürfen, müssen sie sich damit begnügen, unter den bleibenden Bedingungen ihrer prämorbiden Existenz einen modus vivendi zu finden. Diese Lebensweisheit läßt sich nach mehreren Seiten hin verallgemeinern. Sofern es niemanden gibt, der von Anomalie ganz frei wäre, gilt sie grundsätzlich für alle Menschen. Wir alle existieren unter der Herrschaft des Negativen, die zwangsläufig zur Folge hat, daß das Positive, als das an sich Beste, jenseits unserer Reichweite liegt. Wir müssen zusehen, aus dem 21

Negativen selbst das Beste zu machen, und dies kann nur das Zweitbeste sein. In einem derart erweiterten Rahmen erscheint als die epochale Leistung des Verfassers, daß er am Beispiel der Melancholie erstmals durchdacht hat, wie unsere unter schlechten Startbedingungen zu unternehmende Fahrt durchs Leben trotzdem zu einem einigermaßen guten Ende kommen kann. Die zweitbeste Fahrt verlangt uns aber keine Selbsttranszendenz ab, sondern im Gegenteil eine Selbstrücknahme. Zum Vorbild für alle werden ja Melancholiker dadurch, daß sie die allzu große Wärme, die sie zur Verstiegenheit drängt, auch in ihrem bewußten Leben temperieren. Sie nehmen sich in dem buchstäblichen Sinne zurück, daß sie ihrer Tendenz zur Selbstübersteigerung durch eine Dosis Kühle entgegenarbeiten. Gewiß rückt sie Theophrast vor den Hintergrund des Heroischen. Doch macht er sie damit keineswegs zu „Heroen des Menschseins" (302). Einen Heros wie Aias präsentiert er in der Gestalt, welche die Tragödie ihren Helden gegeben hat. Zur Tragödie aber verhält er sich in gleicher Weise wie andere Philosophen seiner Zeit: Er bricht ihr die Spitze ab. Den Melancholikern rät er zu einer Lebensweise, die sie vor Tragik bewahrt. Wer nicht mehr anstrebt als eine wohlgemischte Anomalie, ist gerade deswegen weder heroisch noch tragisch. Und auch ,modern' ist er nicht als Inkarnation des Übermenschen. Er ist es eher als ein Vorläufer des Skeptikers, der die dem Menschen gesetzten Grenzen anerkennt und sich innerhalb ihrer so gut wie möglich einzurichten versucht. In Wirklichkeit hat auch die Renaissance den antiken Text nicht viel anders gelesen. Gewiß ist Ficino10 zum Ahnherrn des neuzeitlichen Geniekults geworden, weil er in seiner Rezeption des Textes den Selbstgenuß hervorhebt, dessen der Melancholiker dank seiner Sublimierungsleistung fähig wird. Mehr und mehr haben seine Nachfolger allerdings von dem in Genuß verwandelten Leiden abstrahiert. Der Leidensdruck war auf dem Wege 22

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von der Antike zur Renaissance noch gewachsen, weil der Melancholiker sich nicht mehr bloß von seiner leiblichen Konstitution geknechtet fühlte, sondern zudem überzeugt war, dem Diktat eines Gestirns, des Saturn, gehorchen zu müssen. Die Ohnmacht, die das doppelte Leiden erzeugte, verrät sich in einer nicht zu übersehenden Widersprüchlichkeit der Therapie. Einerseits empfiehlt Ficino, sich unter den Einfluß des Gegengestirns Jupiter zu begeben. Andererseits weiß er keinen anderen Rat als den, zu den Ursachen des Leidens ja zu sagen und sich der Melancholie tota mente auszusetzen. Unleugbar sind beide Strategien von der Diätetik der wohlgemischten Anomalie verschieden. Gleichwohl bleibt Ficino seinem Vorbild nahe, sofern er sich von ihnen nicht vollständige Genesung verspricht, sondern eine Krankheit opportune temperata. Die Temperierung möchte er auf der einen Seite durch Kompensation erreichen, auf der andern Seite dadurch, daß er eine bis zum Äußersten gesteigerte Melancholie in eine andere Qualität treibt. Vielleicht liegt in der Steigerung etwas von Selbstüberschreitung. Aber wenn, dann keine, die gegen die Ohnmacht Macht mobilisierte, sondern eine, die sie durchdringt und Freiheit nur mittels der Bereitschaft zu ihr verschafft.

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2 Die Acedia des Mittelalters 2.1 Melancholie und Acedia Die den Melancholikern gewidmete Abhandlung aus den Problemata hat eine lange Tradition hinter sich. Dasselbe gilt für die Untersuchung De acedia in der theologischen Summe des Thomas von Aquino11: Sie faßt eine tausendjährige, noch hinter ihre literarische Dokumentation zurückreichende Überlieferung zusammen. Die von Thomas zitierten Autoritäten - Cassian, Gregor der Große, Isidor von Sevilla, Johannes von Damaskus sind selbst schon Erben von Schriftstellern wie Origines und Euagrios Pontikos, und die greifen auf Reflexionen urchristlicher Eremiten zurück. 12 Daß die als Interpretationsbasis dienenden Texte fortgeschrittene Stadien eines Denkprozesses widerspiegeln sollten, war schon für die Orientierung an der Abhandlung Theophrasts ausschlaggebend und ist auch ein Grund dafür, die mittelalterliche Acedia-Konzeption am Modell der von Thomas angestellten Untersuchung nachzuzeichnen. Zwischen den beiden Texten gibt es noch andere Gemeinsamkeiten, die ein an ihnen ausgerichtetes Studium exemplare rechtfertigen: Thomas ist wie Theophrast bei Aristoteles in die Lehre gegangen, und auch er wirft eine Frage auf - seine Untersuchung hat die Form einer quaestio, methodisch verwandt insofern dem problema. Dennoch leuchtet seine Wahl zum Repräsentanten des Acedia-Gedankens auf den ersten Blick schwerlich ein. Vom Erfahrungshintergrund der Sache läßt das scholastische Lehrstück nur noch wenig erkennen. Die Erfahrungsferne ist der Preis, die der Verfasser für die Abgewogenheit seiner Stellungnahme zahlt. Da kein anderer Text des Mittelalters eine ähnlich umfassende Synopse bietet, müssen wir diesen Mangel in Kauf nehmen und versuchen, ihn dadurch zu beheben, daß wir die Erfahrung, an die Thomas immerhin anknüpft, hinter der sie verbergenden Oberfläche hervorziehen. Dazu ist notwen25

dig, sich zunächst einmal über die Verschiedenheit der Phänomene zu verständigen, die in der Antike auf den Begriff der Melancholie, im Mittelalter auf den der Acedia gebracht wurden. Die Phänomene sind so verschieden, daß man bezweifeln mag, ob wir sie überhaupt miteinander vergleichen dürfen. Wer sich über den Zweifel hinwegsetzt und einen Vergleich wagt, wird bald sehen, daß sich zumindest ein Rest von Unvergleichbarkeit in der Pluralität der Perspektiven behauptet, aus denen er die Phänomene wahrnehmen kann. Vom Standpunkt der Melancholie, also in reiner Außenperspektive, erscheint die Acedia als etwas bloß Negatives. So stellte sie sich für die Renaissance dar, die an ihr die produktive Potenz einer zu großen Leistungen befähigenden Naturanlage vermißte. Wiewohl eine Außenperspektive, hat die Renaissance-Sicht das Phänomen gewiß nicht nur verfremdet. Sie trifft etwas an der Acedia selbst. Schon der Name, eine latinisierte Version des griechischen Wortes akédia, zeigt etwas Negatives an: a-kédia negiert këdos, ,Sorge'. Die in dem Namen angesprochene Sorglosigkeit ist zudem nicht die zugelassene, zu der Jesus aufruft, sondern eine, die als Unbekümmertheit um das, worum wir uns eigentlich kümmern sollten, mit dem Gegenteil einhergeht; das Belastende, von dem sie sich dispensiert, kehrt in ihr als eine Form von Beschwernis wieder. Dies vor allem ist die Einsicht, zu der Thomas in seiner Auseinandersetzung mit der Tradition gelangt. Seine Vorgänger haben vor allem zwei Fragen diskutiert: die nach dem Ort der Acedia in der Hierarchie der Laster und die nach ihrem Verhältnis zur Traurigkeit. Sich abgrenzend von Cassian, der die Acedia von Traurigkeit abtrennt, definiert Thomas sie im Anschluß an Gregor den Großen als eine bestimmte Art von Traurigkeit. Die für sie kennzeichnende Traurigkeit, als solche schon ein negativer Gemütszustand, beschreibt er mit Johannes von Damaskus, das Negative noch potenzierend, als eine beschwerende, die Lust an geistlichen Werken raubende, 26

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letztlich in totale Ohnmacht treibende. Entsprechend negativ ist der von den meisten Übersetzern bevorzugte Ausdruck: Acedia wird gemeinhin als Überdruß verstanden. Die Übersetzung wird zumindest den vorherrschenden Symptomen des gemeinten Gemütszustands gerecht. Acedia äußert sich im taedium, einem Widerwillen, der bis zum Ekel gehen kann, und endet oft im torpor, in einer Schlaffheit, die in Stumpfsinn übergeht. Der Begriff zeigt, daß die Lehre von ihr kaum weniger Psychopathologie enthält als die antike Melancholie-Konzeption. Nur liegt ihre psychopathologische Relevanz, von dieser aus gesehen, allein auf der Seite der Depression. Die tristitia aggravons, heißt es bei dem Damaszener, deprim.it animum hominis (a.l, resp.): Sie ist Depression im wörtlichen Sinne einer Niedergeschlagenheit, der sich nichts Erhebendes zugesellt. Die Betrachtungsweise, die auf die Negativität des Phänomens abhebt, nimmt gleichwohl eine Reduktion vor. Sie bekommt nicht einmal die ganze Negativität zu fassen. Acedia entsteht nämlich aus einer Privation, die man nur nachvollziehen kann, wenn man das ihr gegenüber Andere mit in den Blick nimmt. Melancholie, in der weiten Bedeutung des antiken Wortes, ist zwar im Unterschied zur Acedia in sich zwiefältig, aber ohne einen außerhalb ihrer liegenden Gegenpol. Acedia hingegen ist, was sie ist, nur zusammen mit der von ihr ausgeschlossenen Freude. Dies bleibt einer reinen Außenansicht von ihr zwangsläufig verschlossen. Um die konstitutive Kraft ihrer Beziehung zur Freude entdecken zu können, muß man näher an sie herantreten, indem man ihre Stellung in einem System berücksichtigt, das sie eben speziell der aus Liebe fließenden Freude, einer Freude an Gott, zuordnet. Man muß die quaestio 35 de acedia im Lichte der quaestio 28 de gaudio lesen. Die zweite Perspektive ist mithin die genuin theologische und als solche bereits eine gewisse Innenansicht. Das Negative, an das auch sie sich noch hält, ist nicht mehr das vom gänzlich externen 27

Standpunkt der Melancholie aus gesichtete, sondern das für die Acedia selbst gegebene. Die Acedia selbst versteht sich so, daß ihr die Freude an Gott abhanden gekommen ist, als eine Gotteserfahrung im Modus der Negation. Das Phänomen läßt sich aber noch aus einem dritten Blickwinkel sehen. Es ist in eine strikte Binnenperspektive zu rücken und für etwas an sich selbst Positives zu nehmen. Etwas Positives kann es natürlich nicht in dem Sinne sein, daß es positiv zu werten, zu affirmieren wäre. Daran, daß wir unter unserer Acedia leiden, vermag kein Perspektivenwechsel auch nur das Geringste zu ändern. Das Phänomen hat aber insofern einen positiven Kern, als es einen eigenen Sachgehalt besitzt. Die Binnenperspektive, in der es sein Innerstes preisgibt, darf als eine genuin philosophische bezeichnet werden. Sie wurde von jener Philosophie ausgezogen, die das Phänomen nach seiner Negativierung durch die Renaissance wiederentdeckt hat, ohne sonderlich auf seine systematischen Bezüge zu achten. Diese selbst und zwar im engeren Verstände moderne, nachneuzeitliche Philosophie hat in der Acedia ein Stück Moderne identifiziert. Wir sollten hier nicht vorentscheiden, ob in der Acedia tatsächlich modernes Bewußtsein aufbricht und worin dessen offenbar spezifische, nicht zuletzt gegen die antike Melancholie abzuhebende Modernität gegebenenfalls liegt. Vordringlicher ist, den Sachgehalt zu umschreiben, für den sich eine moderne Philosophie interessiert. Acedia erschließt auf eigentümliche Weise Realität. Als Realität stellt sich in philosophischer Sicht das Umgreifende dar, das in Gott und Welt auseinandertritt. Acedia erschließt mir, genauer gesagt, meine eigene Realität und ineins mit ihr die, die mir als göttliche und weltliche immer schon zuvorkommt. Sie tut dies, indem sie mir offenbar macht, was Heidegger den „Lastcharakter des Daseins" nennt. Als belastend wird in ihr das je eigene Dasein empfunden, aber deshalb, weil auf ihm die Last des Seins selbst liegt. Dieses ursprünglich Lastende ist für 28

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den, der in Acedia versinkt, der ihn beanspruchende Gott. Der Zwang zum Existieren in der Welt verstärkt zwar die Last, aber die Welt hüllt sich auch leicht in den Schein, als könnte sie Last durch Lust ersetzen. Heidegger hat den Gott weggestrichen und die Last der Welt zugeschoben. Die Umwidmung sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß seine Lehre von der Erschließungsfunktion der Stimmungen, ein Hauptstück seiner Fundamentalontologie, an die Acedia anknüpft. Das Laster taucht in Sein und Zeit unter dem Namen des Überdrusses auf, als Paradigma für die alltäglichen Indifferenzgefühle, die Heidegger unter den Begriff der „fahlen Ungestimmtheit" subsumiert. 13 Es avanciert damit letztlich zum Urbild aller ontologisch relevanten Stimmungen. Denn die negativen Stimmungen, denen Heidegger mehr Erschließungskraft zutraut als den positiven, sind zunächst die indifferenten; nach ihnen werden auch Angst und Langeweile modelliert.14 In der Indifferenz, die in Wirklichkeit eine besondere Form von Negativität meint, treffen wir die athymia des Theophrast-Textes wieder, aber als eine, die vom Rande ins Zentrum gerückt ist. Darin zeigt sich der vorgenommene Perspektivenwechsel. Was von der Melancholie aus als ein Teil ihrer selbst erscheint, als dysthymia, nimmt aus der Binnenperspektive der Acedia selbst die Stelle ein, die in der antiken Konzeption ein blinder Fleck war. Daß die paradoxe Stimmung der Ungestimmtheit nicht mehr zwischen den einstigen Extremen verschwindet, bestätigt der ausgezeichnete Modus ihrer Realitätserschließung. Sie erschließt das je eigene Dasein und das Seiende im ganzen. Heidegger arbeitet mit dieser These aus, was Thomas in der Theorie höchstens ansatzweise entfaltet. Begrifflich artikuliert greift Thomas auf das Ganze sicherlich nur mit der Feststellung aus, daß die in der Sinnlichkeit verwurzelte Acedia am Ende auch den Verstand übermanne. Aber faktisch geht diese selbst aufs Ganze. Der Überdruß am göttlichen Gut breitet sich auf alle Güter aus. 29

2.2 Der Eigensinn der Acedia Im Wechsel der Perspektiven hat der Vergleich von Melancholie und Acedia die Prioritäten umgekehrt. Ist es doch jetzt die Acedia, die eine weiter fortgeschrittene Position besetzt. Im Lichte ihrer Realitätserschließung betrachtet, nimmt sich sogar noch die Existenz der Überragenden wie eine defiziente Lebensform aus. Der Melancholiker, ob krank oder halbwegs gesund, erscheint eingeschlossen in seine Selbstbeziehung und zudem in eine, die er nur auf dem Umweg über seine Leibbeziehung gewinnt. Abgesehen von den anderen ist ihm, so sieht es aus, keine über ihn hinausreichende Realität zugänglich, weder die Gottes noch die der Dinge, und auch die anderen begegnen ihm ja nur als solche, denen er nicht gleicht und über die er sich, will er seine Anlage nutzen, erheben muß. In solcher Manier die Gegenrechnung aufzumachen, wäre allerdings nicht sehr fruchtbar. Es gilt, die Acedia aus ihr selbst zu verstehen, ohne Seitenblick auf eine ihr über- oder unterlegene Melancholie. Aber von innen öffnet sie sich uns am ehesten, wenn wir uns klarmachen, daß die drei skizzierten Perspektiven nicht gleichgültig nebeneinander bestehen, sondern eine Rangfolge bilden. Was sich uns in der Außenperspektive auf das rein Negative darbietet, enthüllt sich nach seiner tieferen Bedeutung selbst erst in der theologischen Systemperspektive, und deren Gegenstand bedarf wiederum der philosophischen Reflexion, die ihn binnenperspektivisch auf seinen Grund hin durchsichtig macht. Die zweite Perspektive muß die erste, die dritte mit dieser auch die zweite überformen. Schon intuitiv leuchtet ja ein, daß sich hinter dem Negativen mehr verbirgt als das, was an der Acedia nicht Melancholie ist. Der Überdruß bemächtigt sich der Menschen mit einer Wucht, die seiner rein negativen Deutung spottet, und der von ihm erzeugte Widerwille übt eine Gewalt auf sie aus, der mit äußerer Negation nicht beizukommen ist. 30

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Auf die theologische Substanz im scheinbar rein Negativen führt eine genauere Bestimmung der besonderen Art von Traurigkeit, mit der wir es hier zu tun haben. Acedia ist eine tristitia de bono divino, ein Traurigsein über das Gut, das als göttliches alle geistlichen Güter umfaßt. Thomas, gewiß kein Dialektiker, hat immerhin den Widerspruch registriert, der in einem derartigen Traurigsein steckt. Traurig sind wir ja gewöhnlich nur über ein Übel, während ein Gut Freude bereiten sollte. Der Gemütszustand dessen, der über ein Gut traurig ist, hat also eine selbstwidersprüchliche Struktur. Die Emphase, mit der Thomas die Sache behandelt, erklärt sich aus seinem Befremden darüber. Sinnlich faßbar wird der Widerspruch in der von ihm beeinflußten Divina Commedia Dantes. In der Dante-Forschung ist eine vieldiskutierte Frage, wieso die accidiosi, die Seelen des fünften Höllenkreises, in einer düsteren, stinkenden Umgebung vegetieren und im Schlamm zu versinken drohen. Die plausibelste Antwort scheint zu sein, daß sie eine ihrem Vergehen gemäße Strafe erleiden: Sie wurden in ein mit ihrer Verfassung konformes Milieu versetzt, nachdem sie sich im sonnendurchfluteten Äther der Traurigkeit überlassen hatten. 15 Diese Diskrepanz von Innen und Außen ist der extrovertierte Widerspruch im Traurigsein über Gott. Bevor wir prüfen, wie Thomas ihn auflöst, ist festzuhalten: Nicht zuletzt er verleiht der Acedia das Eigengewicht, das sie vorm Verschwinden im negierten Anderen der Melancholie bewahrt. Einen ersten Versuch zur Auflösung des Widerspruchs unternimmt Thomas, indem er die accidiosi selbst für ihn verantwortlich macht. Der Widerspruch entsteht levi apprehensione (a.l,ad4), durch eine oberflächliche Auffassung Gottes, die nicht zum Quell der Freude vordringt. Erst dadurch wird das Paradox einer beschwerenden Sorglosigkeit verständlich. Bei aller Schwermut hat die Acedia, wie das Attribut verrät, tatsächlich etwas von Leichtsinn an sich. Aber der Leichtsinn schlägt in Trüb31

sinn um, weil gerade er die Freude verhindert, die das Leben im Angesicht Gottes eigentlich gewährt. So wird er zum Indiz der Sünde, als die der theologische Diskurs Acedia anklagt. Die Sünde selbst ist die in der gesamten Acedia-Lehre des Mittelalters vorausgesetzte Urgegebenheit. Thomas nimmt sie ja bereits dadurch in Anspruch, daß er die Acedia in die Reihe der Laster einordnet, die genauso als theologische qualifiziert sind wie die ihnen entsprechenden Tugenden. Die vier Artikel seiner quaestio zielen denn auch allesamt darauf ab, die Sündhaftigkeit des Traurigseins über Gott zu erhellen. Über den drei Folgeartikeln, welche die thematische Sünde nach Art und Schwere klassifizieren, sollten wir aber nicht vergessen, daß der Grundartikel der Frage nachgeht, ob Acedia überhaupt eine Sünde sei. Dies war für Thomas trotz seiner systematischen Vorentscheidungen eine wirkliche Frage, weil er ernst nahm, daß sie eine Stimmung ist, die uns, als eine uns überfallende, nicht ohne weiteres zugerechnet werden kann. Die sie gleichwohl heraufführende Sünde sieht er eben in einer selbstverschuldeten Oberflächlichkeit. Aus solchem Leichtsinn erklärt sich ihr eigentümliches, von der klassifikatorisch bestimmten Spezies wohl zu unterscheidendes Wesen. Acedia ist keine Tat-, sie ist eine Herzenssünde, jene „Trägheit des Herzens", als die Benjamin sie in seiner siebten geschichtsphilosophischen These wiedererkennt. Aber die Trägheit resultiert aus der leichtsinnigen Selbstabscheidung vom Quell der Freude. Sie stellt sich dadurch ein, daß der, den sie überkommt, ebensowohl sich selbst träge macht. Mit anderen Worten: Die Sündentheologie identifiziert Acedia als ein Phänomen der Freiheit. Dies ist, vor aller Problematisierung und gegen alle wohlfeile Polemik, vorbehaltlos anzuerkennen. Ist Acedia doch erst als freie ein selbständiges Gegenstück zu einer Melancholie, die als Naturanlage jedem freien Akt vorausliegt. Widerspruch und Sünde, der Widerspruch eines Traurigseins über Gott und seine Erzeugung durch eine Gottes32

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auffassung, deren Leichtsinnigkeit Sünde ist, verweisen in die nur theologisch auszulotende Tiefe des Negativen, das vom Standpunkt der Melancholie wie ein Derivat anmutet. Sie bekunden den Vorrang der zweiten, der Systemperspektive vor der ersten, der reinen Außenperspektive. Aber die zweite gibt ihren Primat an die dritte weiter. Anders gesagt: Die theologische Sichtweise verlangt eine Begründung durch die philosophische. Sie verlangt nach einer philosophischen Begründung von sich aus, so daß die Philosophie, wenn sie dem an sie ergehenden Ruf folgen will, der Theologie, statt sie zu überschreiten, nur zu einem besseren Verständnis ihrer selbst verhelfen darf. Sie wird sich also von der Theologie ihren Gegenstand vorgeben lassen. Dabei kann sie an die Bestimmung der Sünde anknüpfen, mit der sie sich im Grunde bereits ins Spiel gebracht hat, als sie das theologoumenon auf Freiheit zurückführte. Philosophie muß darüber hinaus auf der Freiheit Gottes bestehen. Das heißt: Für sie gründet die Traurigkeit über Gott in dessen Selbstentzug. Mit dieser Einsicht deckt sie nur eine Implikation ihres Ansatzes auf, demzufolge der Unterschied von Gott und Welt von der Einheit einer in Gott ruhenden Realität umfangen ist. Als widerständige Realität macht Gott sich dadurch geltend, daß er die Freude, die das Leben in seinem Angesicht bereitet, aus freien Stükken gewährt oder vorenthält.

2.3 Reichweite und Grenzen der AcediaKonzeption von Thomas Obwohl die philosophische Reflexion auf den Selbstentzug Gottes nicht Theologie schlechthin hinter sich läßt, sprengt sie doch den Rahmen thomistischer Theologie. Die Freiheit des Menschen betont Thomas in seiner Untersuchung über die Acedia mit größtem Nachdruck. Auch der Selbstentzug Gottes liegt ihm nicht völlig fern. 33

Er kommt weniger in jener Untersuchung zur Sprache als in der quaestio de gaudio. Hier beantwortet Thomas die Frage, ob aus der Gottesliebe außer Freude auch Traurigkeit fließe, mit dem Hinweis auf eine Abwesenheit Gottes, die zur Folge hat, daß unsere Freude hienieden immer auch unerfüllt, mit Leerintentionen durchsetzt ist. Aber erstens schreckt Thomas davor zurück, die Freiheit, in der Gott sich für seine Verbergung entscheidet, beim Namen zu nennen, und zweitens weigert er sich, die Spannung auszuhalten, die zwischen göttlicher und menschlicher Freiheit herrscht. Ein Motiv für die Weigerung, und sicherlich nicht das schwächste, liegt auf der Hand: Sein Interesse, Acedia als Sünde zu entlarven, verbietet eine rückhaltlose Anerkenntnis von allem, was ihre Zurechenbarkeit einschränken würde. Indessen kommt mit der Verdrängung auch das Erfahrungsdefizit des thomistischen Acedia-Begriffs an den Tag. Thomas nimmt den Selbstentzug Gottes nur in Umrissen wahr, weil er sich weit von den originären Erfahrungen derer entfernt hat, für die der Begriff das Wanken der Grundfesten ihres Daseins anzeigte. Die Wüstenheiligen, denen Acedia in Leib und Seele eingebrannt war, wie auch die, welche ihnen noch näher standen, hatten durchaus das Gefühl, dem Willen eines sich ihnen zuoder abwendenden Gottes preisgegeben zu sein. Wenn Johannes Climacus, das Vorbild des gleichnamigen Pseudonyms bei Kierkegaard, in der Acedia den allumfassenden Tod sieht, der dem Mönch mitten im Leben widerfährt (PG 88, 860 C), dann deutet er mit dem Dativ ein in Handlung nicht auflösbares Geschehen an. Und wenn Origines sie als Mittagsteufel bezeichnet (PG 12, 1552 C), dann dämonisiert er, im Banne seines Sündenbewußtseins, eine ebenso unverfügbare Realität. Bei aller Erfahrungsferne bricht etwas davon noch bei Thomas durch, zum Beispiel dort, wo er Acedia als einen körperlichen Schwächeanfall beschreibt, qui statutis horis accidit (a.1,2), der nach den Gesetzen der Stunde auf34

Die Acedia des Mittelalters

tritt. Das Körperliche an dem Anfall, das Akzidentelle seines Auftritts, die Kontingenz der Tageszeit, die er sich wählt, - all dies indiziert ein über den Betroffenen hereinbrechendes Ereignis. Solche Spuren des einstmals Erfahrenen lassen vermuten, daß es sich immerhin zu prüfen lohnt, inwieweit die Ursituation auch im Gesamtkonzept des Aquinaten gegenwärtig ist. Sich darüber zu verständigen, erscheint um so sinnvoller, als wir nur auf diesem Wege erkunden können, ob das Konzept einen Bezug zur Moderne hat, den nicht erst Spätere herstellen. Wenn der Begriff Acedia überhaupt ein Stück Moderne vorwegnimmt, dann nur im Medium der in ihm aufgespeicherten Erfahrung. Ansetzen sollte die Prüfung am Widerspruch eines Traurigseins über Gott. Die Erkenntnis, daß der Traurige den Widerspruch selbst erzeuge, vermag ihn nicht vollständig aufzulösen, wenn anders zutrifft, daß die Traurigkeit auch aus einer nicht erzeugten Verbergung Gottes herrührt. Einen Versuch zur endgültigen Auflösung des Widerspruchs könnte Thomas auf dem Boden seiner Voraussetzungen ganz mühelos unternehmen. Er könnte sagen, daß wir keine Freude über das göttliche Gut empfinden, weil wir uns eines weltlichen erfreuen. Seine Ethik lädt zu einer derartigen Auskunft geradezu ein. Lehrt sie doch, daß wir das erstrangige Gut um eines zweitrangigen willen verwerfen. Die Argumentation ist um so verlockender, als sie Gott restlos entlastet. Sie erlaubt uns, auf die heikle Hypothese eines Selbstentzugs Gottes zu verzichten. Der einzige Haken wäre, daß sie Traurigkeit auf Freudlosigkeit reduziert, auf den Mangel an einer Freude, die nicht einmal gänzlich fehlte, da sie ja durch eine alternative ersetzt würde. Aber selbst dies wäre hinzunehmen, sofern die Traurigkeit formal gesehen tatsächlich Freude negiert. Thomas gibt die imaginierte Auskunft gleichwohl nicht. Wieso? Weil er seinen Begriff von Acedia aus der Urszene entwickelt. Die von den Prinzipien seiner Moralphilosophie abgedeckte Strategie ei35

ner Auflösung des Widerspruchs setzt voraus, daß der zur Freude an Gott Unfähige in einer Welt lebt, die andere Freuden bietet. Diese Welt hat der Einsiedler jedoch verlassen. In seiner Einöde sucht er allein Freude an Gott. Findet er sie nicht, so entfällt die Möglichkeit, dafür seine Eingenommenheit von den Freuden der Welt verantwortlich zu machen. Die Herkunft des hochmittelalterlichen Begriffs aus einer Vergegenwärtigung der Urszene geht ebensowohl aus der Art und Weise hervor, wie Thomas das Drama der Heimsuchung durch Acedia des näheren schildert. Der erste Akt des Dramas ist ein Wegfliehen von Gott. Das Drama hat zwar ein Vorspiel, das innige Sich-Freuen am höchsten Gut. In den Abgrund der Acedia kann nur fallen, wer zuvor auf der Höhe dieser Freude war. Aber in der Acedia selbst ist das Wegfliehen von Gott das Erste. Und als das Erste gewissermaßen das Ganze. Unbekümmert um den griechischen Ursprung des Wortes, scheint Thomas den darin gemeinten Sachverhalt zugleich prozessual zu verstehen, eingedenk eines Ausspruchs, mit dem Jesus Sirach das rechte Verhalten zur geistlichen Weisheit einklagt: non acedieris in vinculis ejus (a.l., sed contra), versuche nicht, ihren Banden zu entfliehen. Thomas begreift das α-cedere, das Wegfliehen von Gott, als den Prozeß, in den die gesamte Dynamik der Acedia einfließt. Dementsprechend versteht er unter der Flucht keine passive, sondern ein in der Tat dramatisches SichLosreißen: Zuletzt willigt der Verstand ein in fugam et horrorem et detestationem boni divini (a.3, resp.), in die Flucht, den Schrecken und den Abscheu vor dem göttlichen Gut. So bleibt für den zweiten Akt des Dramas eigentlich kein Akt mehr übrig, sondern nur ein völliger Stillstand, die „unerlaubte" Ruhe, an der die Symptome der Schlaffheit und des Stumpfsinns abgelesen sind. Der Stillstand bildet, wenn man so will, den sekundären Schwerpunkt der Acedia, die Mitte, die alles in versteinerter Form reorganisiert. Der dritte Akt aber, das Hin36

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fliehen zur Welt, gehört, genau genommen, nicht mehr zu ihr selbst. Er ist kein Akt der Traurigkeit, sondern der Versuch, ihr zu entkommen. Die weltlichen Freuden, die von der Traurigkeit erlösen sollen, sind also im Grunde nur ein Nachspiel, niemals das unmittelbar Gegebene, das den freudlosen Umgang mit Gott verursachen könnte. In vollem Umfang genießen könnte sie der, an den Thomas in Erinnerung an das originär Erfahrene denkt, im übrigen nur, wenn er in die Welt zurückkehrte. Als die einzig angemessene Reaktion auf Acedia sieht Thomas denn auch keine zweite Flucht vor, sondern beharrlichen Widerstand, eine cogitatio perseverane (a.l, ad 4), in welcher der Mönch die verlorengegangene Freude durch anhaltendes Nachdenken wiederzugewinnen versucht. Tiefer als in die Scholastik sind die Spuren der ursprünglichen Erfahrung mit einem sich verbergenden Gott in die gleichzeitige Mystik eingegraben. Im Untergrund des Bildes von der Wüste lassen sie sich wohl am deutlichsten erkennen. Die innere Wüste, über die so viele Mystiker klagen, ist, genetisch gesehen, eine verinnerlichte. Zu ihr kam es je schon, wenn die äußere Wüste, die unwohnliche Wohnstatt der frühchristlichen Heiligen, sich in deren Seele hinein fortsetzte. In dem Stück „Unter Töchtern der Wüste", das von der „Trübsal" und „feuchten Schwermut" Alt-Europas handelt, warnt Nietzsches Zarathustra: „Die Wüste wächst: weh dem, der Wüsten birgt!" Sie hatte sich inzwischen noch weiter ausgebreitet. Die Wüste der Mystiker stand nur für eine zeitweilige Abwesenheit Gottes. Jetzt füllt sie den Horizont aus. Sie ist zum Symbol eines Nihilismus geworden, für den Gott tot ist und nicht wieder aufersteht. Hätte uns die Mystik einen Text hinterlassen, der es mit dem ausgelegten aufnehmen könnte, so wäre nicht schwer zu sehen, daß die Acedia des Mittelalters den Nihilismus eines bleibenden Gottesverlusts ankündigt. Thomas selbst geht ja der Erfahrung, die den Keim dazu enthält, eher aus dem 37

Wege. Insofern präfiguriert er nicht nur eine andere Moderne als der antike Aristoteliker. Er präfiguriert sie auch anders, nicht intentional, sondern beiläufig und fast wider Willen. Aber auch als abgedrängte ist in seiner vorsichtigen Artikulation der Wüstenerfahrung eine Moderne am Werk, die in Nietzsches „Gott ist tot" ihren vollendeten Ausdruck gefunden hat.

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3 Moderne Metamorphosen 3.1 Konstruktionen des Zusammenhangs Heideggers Transformation der Acedia bildet in deren neuerer Wirkungsgeschichte insofern eine Ausnahme, als sie nicht mit einer Reflexion auf Melancholie einhergeht. Die Regel ist, daß die beiden Phänomene, wo sie in der nachhegelschen Philosophie auf produktive Weise neu bedacht werden, zusammen auftreten. Für ihre Beziehung zur Moderne oder vielmehr die Beziehung der Moderne zu ihnen ist dies ein aufschlußreicher Befund. Offenbar versucht sich ,die' Moderne über eine Konstruktion des Zusammenhangs der beiden Phänomene zu definieren. Allerdings liegen der Konstruktion unterschiedliche und weithin gegensätzliche Optionen zugrunde. In einem ersten Überblick stellen sie sich so dar, daß man sich in letzter Instanz entweder für die Melancholie oder für die Acedia entscheidet. So läßt sich jedenfalls die Alternative beschreiben, vor die sich das 19. Jahrhundert gestellt sah: Nietzsche, im folgenden darum vorgezogen, favorisierte die Melancholie, Kierkegaard die Acedia. Aber erstens fällt die Entscheidung nie zugunsten einer unveränderten Melancholie oder einer vorgegebenen Acedia aus. Man sucht den Identifikationspunkt nur in der verlängerten Linie der einen oder der anderen Tradition. Zweitens ist der intendierte Zusammenhang selbst verschiedener Art. Er kann die in der Wahl der Leitfigur zurückgesetzte Größe gleichwohl einschließen oder auf deren Ausschluß beruhen. Kierkegaard hält ungeachtet seines Plädoyers für die Acedia auch an der Melancholie fest. Nietzsche hingegen sagt zu dieser ein Ja, das, jedenfalls auf Anhieb, ein Nein zur Acedia ist. Die Acedia ist bei ihm zunächst nur noch als Gegenstand der Kritik gegenwärtig, einer Kritik, die im übrigen auch die Melancholie trifft, soweit nämlich deren überkommene Form als eine durch Acedia verunstaltete gilt. 39

Die Optionen sagen Wesentliches über den Begriff der jeweils proklamierten Moderne aus. Daß die Moderne auf dem Wege über eine Reformulierung des Zusammenhangs von Melancholie und Acedia ein Verständnis ihrer selbst zu gewinnen versuche, besagt des näheren: Sie hofft sich dort zu finden, wohin sie im Hinausgehen über die tradierten Elemente strebt. Darüber hat sie sich auch in Begriffen verständigt. Kierkegaard und Nietzsche visieren es mit dem Begriff der Schwermut, Nietzsche und sein Zarathustra zudem mit dem der Traurigkeit an. Ist die Konjunktur, die zumal der Begriff Schwermut im 19. Jahrhundert erlebt, schon für sich bemerkenswert, so verdient erst recht Beachtung, daß die beiden Denker — trotz aller Gegensätzlichkeit ihrer Standpunkte — sich auf ihn einigen können. Dies ist möglich, weil ihre Konzeptionen von Schwermut alle divergierenden Prämissen in sich aufnehmen. Bei Kierkegaard ist ,Schwermut' ein Nachfolgebegriff von Acedia, der aber zugleich die Melancholie mit abdeckt; bei Nietzsche meint das Wort, wie auch die Rede von Traurigkeit, einen durch und durch ambivalenten Sachverhalt, dessen Ambivalenz daher rührt, daß in ihm die aus der Melancholie hervorzutreibende Gestalt des Neuen mit der abzustoßenden Acedia verquickt ist. Kierkegaard und Nietzsche treffen sich aber auch im Negativen. Keiner von ihnen hat seine Sicht des in Schwermut oder Traurigkeit festgemachten Zusammenhangs von Melancholie und Acedia wirklich vermitteln können. Daran trägt die Unausgearbeitetheit der Begriffe, gerade auch des schon von Schelling mehr als Chiffre verwendeten Schwermutbegriffs, nicht die geringste Schuld. Verantwortlich zu machen für das Defizit ist aber auch und vor allem ein Mangel an Klarheit darüber, daß die maßgeblichen Begriffe, über Melancholie und Acedia hinaus, auf ein Drittes zielen und wie dieses Dritte sich zu den Gestalten der Moderne verhält. Nietzsche beansprucht die Traurigkeit für ein postmodernes Bewußtsein, ohne 40

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sie überzeugend gegen die in der Moderne selbst angesammelte absetzen zu können. Kierkegaard sieht in der Schwermut die Signatur einer Moderne, aus der heraus er in den Glauben springt, ohne daß er in der Lage wäre, über die eigene Modernität seiner Version von Christentum Rechenschaft abzulegen. Ein Stück weiter ist Benjamin gekommen, sowohl in der Identifikation des Dritten wie auch in der Reflexion auf dessen Verhältnis zur Moderne. Den Fortschritt, den der Autor des Buches Ursprung des deutschen Trauerspiels in diesen Punkten erzielte, hat er wohl dem Umstand zu verdanken, daß er die Begriffe Melancholie und Acedia von vornherein als Mittel der Diagnose einer modernen Epoche, des Barock, einsetzte. Der Zusammenhang der beiden Begriffe ist gewiß auch bei ihm noch undurchsichtig genug, nicht zuletzt deshalb, weil Melancholie und Acedia zugleich das diagnostizierte Material waren, behaftet mit allen Kontingenzen einer verworrenen Situation. Dennoch zeichnet sich hier zum ersten Mal eine Struktur ihres Zusammenhangs ab. Und ineins damit gewinnt das Dritte schärfere Konturen. Benjamin begreift es als Trauer. Die Trauer, die er meint, ist aber nicht sosehr ein Gefühl als eine „Intention", für die es wesentlich ist, einer Vertiefung fähig zu sein. Im deutschen Trauerspiel des Barockzeitalters nur unvollkommen verwirklicht und noch weniger durchdacht, kann die Intention der Trauer doch in seiner Deutung zu sich selbst gebracht werden. Sie enthüllt sich dann als Ausdruck einer Moderne, für die das Barock ein Paradigma war. Wie jede Synopse, die eine Mannigfaltigkeit geschichtlicher Erscheinungen auf wenige Begriffe abzieht, so vergewaltigt sicherlich auch dieser Entwurf einer Wirkungsgeschichte des antik-mittelalterlichen Doppelmotivs manches Detail. Im vorgegebenen Rahmen läßt er sich zudem kaum vollständig einholen. Perspektivische Bemerkungen zu Kierkegaard und Nietzsche können nur unvollständig verifizieren, was an ihren Werken in ge41

nauerer Exegese auszuweisen wäre. Allein Benjamin soll, wegen der Komplexität seiner Analyse, ausführlicher zu Wort kommen. 3.2 Nietzsche, Kierkegaard, Benjamin 3.2.1 Nietzsches Traurigkeit Allerdings ist es bei Nietzsche nicht das Gedicht An die Melancholie, seine das Schwere abwägenden Texte sind es, die seinen Umgang mit den vergegenwärtigten Traditionen dokumentieren.16 Mit ihnen setzt sich Nietzsche vornehmlich in Also sprach Zarathustra auseinander und da besonders in seinen Überlegungen zum „Geist der Schwere" und im „Lied der Schwermut". Vom Geist der Schwere sind die beherrscht, die der Schwerkraft der Erde nachgeben und sich nach unten ziehen lassen. Nietzsche zeichnet hier das Bild nach, das sich die Renaissance von der Acedia gemacht hat: Niedergedrückt im buchstäblichen Sinne, sinkt der im Herzen Träge gewissermaßen in sich zusammen. Zarathrustras Pointe ist aber, daß die Erde nicht von sich aus schwer ist, sondern dazu erst wird durch den Willen des ihr verhafteten Geistes. So legt er die Haltung derer aus, welche die Trägheit ihres Herzens als Sünde auf sich nehmen. Seine Kritik der Acedia, als solche eine Neuauflage der von der Renaissance geübten, nimmt doch eine andere Richtung, sofern sie das sündentheologische Selbstverständnis ihres Gegenstands attackiert. Gegen die Vorstellung, Acedia sei Sünde, wendet sie sich natürlich nicht in der Absicht, Platz für die Eigeninitiative eines Gottes zu schaffen, der dem Menschen die Freude an ihm verdirbt, indem er sich ihm entzieht. Wohl stellt Nietzsche bei seiner Einfühlung in das Selbstverständnis der Acedia eine als vorgängig gedachte Macht in Rechnung. Doch die gilt ihm als eine in der Erzeugung des Sündenbewußtseins miterzeugte. Der Geist der Schwere zieht den Menschen eben dadurch 42

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hinab, daß er ihn mit Fremdem belastet. Die dem Subjekt für Thomas wirklich zuvorkommende Realität löst sich, sofern sie zur fremden wird, zugleich auf, weil das Subjekt sich in ihr nur seiner selbst entfremdet. Die Auflösung des Scheins, als sei Acedia Sünde, destruiert die Acedia selbst, indem sie den Gott beiseite schafft, dessen Imagination den vermeintlich in seinem Entzug begründeten Zustand verursacht. Vor dem Hintergrund der von einer scheinbar fremden Macht zu Boden Geworfenen nimmt Zarathustra die Gestalt eines Vogels an, der sie fliegen lehrt. Aus der Vogelperspektive schaut er auch auf die Melancholiker alten Stils herab. Das Lied der Schwermut singt der Zauberer den „höheren Menschen" vor, die in Trübsinn und Verzweiflung zurückfallen. Die Zuhörer des Liedes lassen sich leicht erkennen, sobald man sich klarmacht, wie Nietzsche die antike Melancholie-Konzeption deutet. Er liest in sie den Gedanken der Selbsttranszendenz hinein. Die Liedadressaten sind nur höhere und keine hohen Menschen, weil sie zwar zum Überstieg über sich ansetzen, aber im ersten Ansatz steckenbleiben; und sie bleiben darin stecken, weil das Niederdrückende an ihrer Melancholie über sie Herr wird. Freilich sind sie mehr als Rumpfmelancholiker. Sie sind die bedauernswerten Erben der einst Überragenden, angekränkelt von der Acedia, die mit dem Christentum heraufgekommen ist. Der Geist ihrer ,Abend-Schwermut" ist der dekadente des Abendlandes. Allein, das Lied der Schwermut, adressiert an Schwermütige, ist nicht nur eines von der Schwermut, von der Schwermut derer, denen es einen Spiegel vorhält; es ist auch ein Lied aus Schwermut. Und die Schwermut, aus der es kommt, ist nicht nur die des Zauberers: Nietzsche hat es in die Sammlung der Lieder Zarathustras aufgenommen. Was sich da des Geistes der Leichtigkeit und des Lachens bemächtigt, ist zunächst eine neue Form von Acedia: der „große Überdruß am Menschen". Traurigkeit 43

überkommt den frustrierten Fluglehrer angesichts dessen, daß der „kleine Mensch" ewig wiederkehrt („Der Genesende"). Aber selbst wenn Zarathustra den kleinen Menschen loswürde, was ja kaum zu erwarten ist, wenn der so wenig Lernfähige ewig wiederkehrt, — seine Traurigkeit würde er nicht los. Nachdem der Mittagsteufel zum „Abend-Dämmerungs-Teufel" geworden ist, wandelt sie ihn am hohen Mittag an, als eine „goldene Traurigkeit" („Mittags"). Mit dem Bekenntnis zu ihr zieht Zarathustra-Nietzsche die Konsequenz daraus, daß er den Übermenschen, im Gegensatz zum kleinen, wie den höheren, nur gleichsam am anderen Ende, an den Melancholiker der Antike anschließt. Fällt der höhere Mensch hinter die dem Melancholiker zugetraute Selbsttranszendenz zurück, so treibt der Übermensch sie über sich hinaus. Er setzt dort sich fest, wohin der Melancholiker nur tendiert. Ebenso folgerichtig verpflichtet ihn sein Verkünder auf das Tragische, dem der Melancholiker gerade entgehen wollte: Seine Traurigkeit bildet die affektive Grundlage des ,tragisch-dionysischen Bewußtseins'. Tragisch aber ist dieses Bewußtsein als Reaktion auf dieselbe Wiederkehr des Gleichen, die Überdruß und Ekel hervorruft. Über die alte Traurigkeit, die uralte und die mittelalte, gelangt Nietzsche nur dadurch hinaus, daß er sie vergoldet.

3.2.2 Kierkegaards Schwermut Wenn Kierkegaard seinen Ethiker in Entweder—Oder sagen läßt, daß er an eine ältere Kirchenlehre anknüpfe, welche die Schwermut zu den Kardinalsünden zählte 17 , dann denkt er an Acedia - den Unterschied von Original und Kopie glaubt er vernachlässigen zu dürfen. Und dies, obwohl er bereits bei der Anknüpfung an jene Lehre, nicht erst im Absprung von ihr, schwerwiegende Veränderungen vornimmt. Weder dem Aquinaten noch den frü44

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heren Autoren der sogenannten Lasterkataloge war je eingefallen, die Acedia für die Wurzel oder gar den Inbegriff der Sündhaftigkeit auszugeben. Kierkegaard hingegen sieht in ihr die Stammutter des Sündengeschlechts, ja die Sünde instar omnium, die, welche alle anderen in sich einschließt. Er macht also die sündentheologische Deutung, die wenig später auf den entschiedenen Widerstand Nietzsches stoßen wird, nicht nur mit, er verschärft sie unendlich. Dabei wirkt die Verhaltensweise, die ihn dazu bewegt, die Lehre von der Kardinalsünde Acedia zu radikalisieren und zu universalisieren, auf den ersten Blick so harmlos, daß man geneigt ist, sie, wenn überhaupt für Sünde, höchstens für eine Unterlassungssünde zu nehmen. Die Sünde, die in ihrem Schoß alle anderen birgt, soll die sein, nicht tief und innerlich zu wollen. Bei näherer Betrachtung macht ihre Definition jedoch sehr wohl verständlich, wieso Kierkegaard über seine Vorlage noch hinausgeht. Sein Hauptanknüpfungspunkt ist der schon von Thomas zitierte Satz, Acedia sei der torpor mentis bona negligentis inchoare (qu. 35, a.l, resp.), die Schlaffheit des Geistes, der es versäumt, mit dem Guten anzufangen. Hieraus leitet Kierkegaard seine Leitthese ab, derzufolge ein Mensch in Schwermut versinkt, wenn er an dem Augenblick vorbeilebt, da der Geist in ihm zum Durchbruch kommen will. Damit bleibt alles ungetan, wozu der zum Geist bestimmte Mensch aufgerufen ist. Insofern verfehlt er in diesem Augenblick sich selbst. Und da Kierkegaard Sünde als Selbstverfehlung begreift, darf er aus seiner Sicht sagen, daß Schwermut, wiewohl formell gedacht in der Tat nur eine Unterlassungssünde, Sünde schlechthin nach sich ziehe. Nun ist Schwermut bei Kierkegaard, anders als bei dem Späteren, allgegenwärtig. Ihre Allgegenwärtigkeit erklärt sich letztlich daraus, daß sie mehr ist als ein Gegenstand, nämlich die Quelle, die alles speist. Kierkegaard hat seine eigene Schwermut, vor der Braut geheimgehalten, seinen Lesern nicht verschwiegen und offen bekannt, 45

daß seine Schriftstellern ihrer Verarbeitung diene. Davon war auch die Art geprägt, wie er Schwermut literarisch behandelte. Die Stärke seines Beitrags zum Thema liegt weniger in der begrifflichen Analyse als in der Beschreibung von Gestalten, die aber nicht bloß Bewußtseinsgestalten im Stil der Hegeischen Phänomenologie sind, sondern auch und vor allem imaginierte Personen, welche ihm Aspekte seiner eigenen Schwermut zurückspiegeln. Der junge Mann in der Schrift Die Wiederholung etwa führt auf seine Weise genauso eine vom Autor erlebte Schwermut vor wie auf andere Weise Quidam, das Subjekt—Objekt der in Stadien auf dem Lebenswege erzählten Leidensgeschichte. So wird denn auch aus Kierkegaards Kampf mit dem „Grundelend" seiner Veranlagung zu verstehen sein, daß seine Philosophie zu einer Anthropologie geriet, die zunächst einmal nichts anderes sein will als eine Morphologie der Selbstverfehlung. Kierkegaard verfolgt das Projekt einer solchen Anthropologie auf zwei verschiedenen Wegen, zum einen in der Bahn der in jenem Buch zusammengefaßten Stadientheorie', zum andern in der einer Geschichte der noch unfreien oder wieder unfrei werdenden Freiheit, die vor allem durch Angst und Verzweiflung hindurchmuß. Auf beiden Seiten breitet sich Schwermut über das ganze Untersuchungsfeld aus. Was man in der Literatur, mit welchem Recht auch immer, Kierkegaards Theorie der Existenzstadien nennt, trat mit Entweder—Oder als Aufruf zur Entscheidung zwischen ästhetischer und ethischer Lebensanschauung auf den Plan. Kierkegaard kommentiert sein Erstlingswerk aber so, daß der erste Band, die Selbstdarstellung des Ästhetikers, Schwermut sei und der zweite, die Antwort des Ethikers, Schwermut erkläre.18 Dementsprechend stehen am Anfang und am Ende des ästhetischen Stadiums schwermütige Gestalten, am Anfang der in Mozarts Hochzeit des Figaro auftretende Page, dessen Schwermut noch stille Wehmut ist, am Ende Nero, bei dem Schwermut aus Angst entspringt 46

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und in Verzweiflung mündet. Damit kündigt sich bereits an, daß unser Thema auch auf der anderen Seite, der einer Freiheitsgeschichte, nicht einzugrenzen ist. An der angeführten Stelle seiner Angstabhandlung bemerkt Kierkegaard selbst, Angst habe da „dieselbe Bedeutung wie Schwermut an einem weit späteren Punkt, wo die Freiheit, nachdem sie die unvollkommenen Formen ihrer Geschichte durchlaufen hat, im tiefsten Verstände zu sich selbst kommen soll". Schwermut haust desgleichen im Untergrund der Verzweiflung, die Kierkegaard selbst mit der Acedia identifiziert (Papirer II A 484/485). Teilt sie mit der Angst die Zweideutigkeit, die sie, den tungsind, an den Leichtsinn, letsind, ausliefert, so kommt sie mit der Verzweiflung in dem Widerspruch überein, der ebenso wie jener Leichtsinn ein Erbe der Acedia ist. Indessen ist kaum vorstellbar, daß eine derart omnipräsente Schwermut allein die Nachfolge der Acedia antritt. In der Tat begegnet sie uns zugleich in einer Aufmachung, die eher an die antike Melancholie erinnert. Kierkegaard verwendet die Ausdrücke .Schwermut' und .Melancholie', wie auch Schelling, oft promiscue.19 Zugleich greift er auf den Melancholiebegriff zurück, um gewisse Gestalten der Schwermut, wie die des Pagen oder des jungen Mannes, in ihrer Bestimmtheit zu treffen. Dies deutet darauf hin, daß sich hinter der verbalen Identifikation Differenzen in der Sache verbergen. Das Differente ist aber auch mehr als ein Besonderes, das sich unter den an der Acedia abgelesenen Begriff subsumieren ließe. Kierkegaard faßt eine angeborene Schwermut ins Auge, die zur leibseelischen Konstitution eines Individuums gehört und dessen Körper nicht bloß vorübergehend affiziert. Er findet diese Schwermut vornehmlich bei den hochbegabten Naturen, die sich durch sie von den Durchschnittsmenschen abheben. Schließlich traut er ihr eine Kraft zu, welche die auf die Gnade Gottes angewiesene Acedia gerade nicht besitzt, nämlich sich beherrschen und verwandeln zu können. All dies weist sie als ein Abbild antiker 47

Melancholie aus. Von daher gewinnt ein scheinbar irrelevantes Detail im Kontext des Zitats der .älteren Kirchenlehre' an Interesse. Kierkegaard tauscht da den Begriff der Sünde gegen den schwächeren des Fehls aus. Über die Bedeutung der Austauschaktion belehren uns seine Tagebücher. In ihnen beschreibt er seine eigene Schwermut als eine angeborene, und im selben Zuge äußert er auch Bedenken an der Richtigkeit seiner Annahme, daß sie schuldhaft sei. In diesem Lichte enthüllt sich der Substitutionsvorgang als Zeichen der Unsicherheit über die sündentheologische Interpretation. Hervorgerufen wird die Unsicherheit durch die Rücksicht auf eine Melancholie, die als naturwüchsige keine Sünde sein kann. Der Befund nötigt zu dem Schluß: Der Ort, auf den Kierkegaard mit dem Wort ,Schwermut' zielt, ist in seinem Denken doppelt besetzt, von der Acedia des Mittelalters und der antiken Melancholie. Anders wäre auch kaum nachzuvollziehen, daß Kierkegaard mit demselben Wort die eigentümliche Bewußtseinslage der alten Griechen und die ihrerseits für spezifisch ausgegebene Verfassung seiner Zeit umschreibt. Seine Intention geht offenkundig dahin, Schwermut insgesamt, auch als melancholische, der Theologie zu überantworten, welche die Acedia schuldig gesprochen hat. De facto aber deutet er alles an ihr, was sich gegen den Schuldspruch wehrt, in Melancholie um. Zu dem Gedanken, daß die Acedia als solche deshalb nicht bloß selbstverschuldet sein könnte, weil eine Verbergung Gottes sie bewirkt, vermochte er sich nie durchzuringen. Statt dessen hat er es vorgezogen, die Zweideutigkeit, die er seiner Sache nachsagt, in deren Behandlung zu reproduzieren.

3.2.3 Benjamins Trauer Im Falle Benjamins 20 ist bereits eine Frage, in welchem Sinne man überhaupt von „seiner Sache" sprechen kann. 48

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Der Autor des Trauerspielbuchs denkt sich eigentlich nichts aus, das er nachträglich, wie Kierkegaard, auf seinen Vorschein in der Prämoderne beziehen würde oder dessen Beziehung zur Prämoderne wir, wie bei der Beschäftigung mit Nietzsche, herzustellen hätten. Sein Gegenstand ist vielmehr von vornherein eine geschichtliche Konstellation. Auf Geschichte richtet er sein Augenmerk, genauer gesagt, so, daß er ineins mit der, in welcher das deutsche Barocktrauerspiel entstanden ist, die erhellen möchte, als die sie sich darin selbst auslegt: Der Autor des Barockbuches reflektiert die Geschichtlichkeit eines Trauerspiels, das „Darstellung der Geschichte als eines Trauerspiels"21 ist. Im Deutschland des Barockzeitalters war die faktische Situation, ebenso wie ihre Selbstauslegung, nach Benjamin durch drei Faktoren determiniert: die „neuantike", durch die Renaissance vermittelte Melancholie-Tradition, die Nachwirkung des mediävalen Acedia-Gedankens und die - hier ausgesparte — Umgestaltung, welche die antike Theorie der melancholischen Veranlagung ebenfalls im Mittelalter erfahren hatte. Es braucht uns nicht zu stören, daß Benjamin jeden dieser Faktoren durch die Brille von Panofsky und Saxl sieht. Für das Verständnis seiner Deutung ist allein wichtig zu sehen, wie er ihren Zusammenhang betrachtet. Konfrontiert mit einem Mischprodukt, das er etwa als „saturnische Acedia" (333) ansprechen kann, bringt er in das Chaos Ordnung, indem er die einzelnen Faktoren quantitativ und qualitativ gewichtet. In quantitativer Hinsicht steht die in der Ärzteschule von Salerno abgewandelte Theorie der melancholischen Veranlagung im Vordergrund, so sehr, daß Benjamin sie geradezu als „Kommentar" zum Trauerspiel benutzen kann. Da die Melancholie des Mittelalters, als eine ausschließlich „trübe", selbst Züge der Acedia trägt, drängt sich auch diese vor. Von der mit einer dämonisierten Melancholie ins Barock eingegangenen Acedia ist jedoch die originale 49

zu unterscheiden. Sie bildet in dem Konglomerat eine tiefer gelegene Schicht. Desgleichen sucht Benjamin die authentische, durch die Renaissance wiederentdeckte Melancholie in einer verborgenen Schicht des Phänomens auf. Hauptaufgabe einer Rekonstruktion seiner These wird sein, den Zusammenhang zwischen diesen Ursprungsdimensionen aufzuklären. Die originale Acedia und die authentische Melancholie verhalten sich auf jeden Fall so zueinander, daß wir eine befriedigende Aufklärung nur im Ausgang von der ersteren erwarten dürfen. Daß die originale Acedia, wenn man so will, die primäre Ursprungsdimension ist, macht Benjamin bereits durch den Aufbau seiner Untersuchung deutlich. Zwar kommt er auf sie ausdrücklich erst am Ende des einschlägigen Abschnitts zu sprechen. Aber mit dem Hinweis auf den „Trübsinn" nimmt er sie schon am Anfang vorweg. Der Darstellungsgang ist ein Rückgang in den Grund des zu Beginn Angezeigten. Auch am Ende rekurriert Benjamin allerdings nicht auf die das Original überliefernden Texte, nicht einmal auf den kanonischen Thomas-Text. Gleichwohl wird seine These wohl erst dann durchsichtig, wenn wir sie auf die Folie des Thomas-Textes abziehen. Von dieser Vermutung sind die folgenden Überlegungen angeleitet. Die geschichtlich vorgerückte Acedia des Barock reagiert auf eine entleerte Welt: Die „leere Welt" ist das Neue an der dem deutschen Trauerspiel des 17. Jahrhunderts vorgegebenen und in ihm sich darstellenden Lage (317). Neu ist sie auch gegenüber der Realität, welche die originale Acedia vor sich hatte. Für diese war ja nur die Stelle leer, die der freudenspendende Gott eingenommen hatte. Die Welt hingegen, die mit ihren als Ersatz angebotenen Freuden lockte, hatte darin ihre eigene Fülle. Indessen gehört zur Welt des Barock, daß sie die Verborgenheit Gottes impliziert. Denn entleert wurde sie durch eine bestimmte Theologie, die lutherische, die den guten Werken jede Heilsbedeutung abspricht. Sie ist leer, weil den 50

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Handlungen dadurch aller Wert genommen wurde. Die barocke Mixtur von Melancholie und Acedia wird erst von daher verständlich: als „das taedium vitae der reichen Naturen" (318), die in Trübsinn versinken, weil ihr Leben kein über die Welt hinausweisendes Ziel hat. Benjamin bringt den von Luthers Deus absconditus geprägten Zustand auf den Begriff einer transzendenzlosen Welt. Sie schaut er im Spiegel der als Trauerspiel aufgeführten Geschichte an. Die „Großen", zugleich Agenten und Spielbälle dieser Geschichte, kennen die Schlaffheit des Geistes, die bei Thomas eine Unfähigkeit zur Schau Gottes war, in der Form von „Entschlußunfähigkeit" (250) und Handlungsohnmacht. Aber ihr Unvermögen zum Handeln in der Welt ist darin begründet, daß diese Welt, als eine gottverlassene, keine eschatologische Perspektive hat. So richten sie sich, ohne Aussicht auf rettende Gnade, im reinen „Schöpfungsstand" ein (260). Aber noch in ihrer Auffassung der Welt als Schöpfung meldet sich der abwesende Gott. Die Natur, zu der sie Geschichte versteinern möchten, löst sich, als „ewige Vergängnis", auf — in den Strom, in dem sie einem „Katarakt" entgegentreibt. Mit alledem beschreibt Benjamin erst nur das Gefühl, von dem die Personen des barocken Trauerspiels selbst beseelt sind. Den Schritt zurück in den Grund solchen Bewußtseins tut er dort, wo er die Acedia, die Trägheit des Herzens, als „den eigentlich theologischen Begriff des Melancholikers" offeriert (332). Das damit Gemeinte erläutern Wendungen wie die, daß die Melancholie jener Großen als Acedia in ein schärferes Licht rücke. Der theologische Begriff des Melancholikers spricht über das vorgefundene Konglomerat die Wahrheit aus. Die Wahrheit ist zwiefältig. Zum einen bezichtigt sie den Melancholiker einer „Todsünde". Sie belehrt ihn über die Korrumpiertheit des Schöpfungsstandes, auf den er sich zurückzieht. Zum andern enthüllt sie die Anwesenheit des abwesenden Gottes. Damit gibt sie eine indirekte Ant51

wort auf die von Benjamin offengelassene Frage, wieso in der Welt des Barock selbst das unscheinbarste Ding „als Chiffre einer rätselhaften Weisheit auftritt" (319). Das Nichtige sinkt nur darum nicht ins Nichts, weil es dunkel die Erinnerung an den Gott weckt. Der Clou von Benjamins These ist aber, daß er der ursprünglichen Acedia die ihrerseits ursprüngliche Melancholie einpflanzt. Scheinbar paradox macht er die Melancholie zum Organ für die erinnernde Wahrnehmung des verborgenen Gottes. Der zeigt sich auf dem Grunde der Acedia in der Kontemplation. Die produktive Potenz der Melancholie in die Kontemplation gesetzt zu haben, darf sich Ficino, für den die ganze vita separata der Überragenden eine vita contemplativa war, als Verdienst anrechnen. Der kontemplative Akt, an den Benjamin denkt, ist freilich keine unmittelbare Schau Gottes mehr; sie ist eine beharrliche Versenkung in die „toten Dinge", die Dinge einer leeren Welt. Die cogitatio perseverane des Aquinaten lebt darin als weltimmanentes Denken fort. Nur gewahrt die im Innersten des barocken Gemüts aufbewahrte Acedia dank der ihr implantierten Melancholie „den Widerschein eines fernen Lichtes ..., das aus dem Grunde der Versenkung ihr entgegenschimmerte" (334). Melancholie eröffnet ihr zwar keine über die Welt hinausweisende Transzendenz, aber eine Transzendenz nach innen. Ihre „ausdauernde Versunkenheit nimmt die toten Dinge in ihre Kontemplation auf, um sie zu retten" (334). Die Rettung der toten Dinge - das ist die Intention der Trauer. Man weiß, daß Benjamin die formale Erfüllung dieser Intention der Allegorie zutraut, einer maskenhaften Neubelebung der entleerten Welt, als die er auch die Melancholie schon im Ansatz seiner Analyse vorwegnimmt.22 Die Intention deckt sich aber ebensowohl mit der in der erkenntniskritischen Vorrede umrissenen Absicht der Philosophie, Piatons Programm einer Rettung der Phänomene zu verwirklichen.23 52

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Benjamin vermag der Melancholie allerdings nur noch dadurch etwas Produktives abzugewinnen, daß er sie aus der Höhe, in die Nietzsche sie emporgerissen hat, herunterholt: Sie ist, mit der ihr zugrunde liegenden Acedia und wie die Melancholie der Renaissance, „der Tiefe hörig" (330). Eben dadurch rettet Benjamin aber auch die antike Konzeption, an deren Wahrheitsgehalt ihre Beanspruchung für die Lehre vom Übermenschen vorbeigeht. Inspiriert von der Renaissance, dringt er bei seiner Lektüre des pseudoaristotelischen Textes, diesmal ganz frei von Vorgaben durch Panofsky und Saxl, zur Kernidee der zweitbesten Fahrt vor. In der „Hierarchie der Intentionen" nimmt Trauer, so wird uns bereitwillig versichert, nicht den höchsten Ort ein. Gleichwohl findet sie am Anblick der entleerten Welt ein „rätselhaftes Genügen" (318). Nahe der stoischen apâtheia, begnügt sie sich nämlich mit subjektiven Setzungen eines objektiv nicht mehr gegebenen Sinns. Nur bildet Benjamin die alte Idee ins Geschichtliche ein. So wie die leere Welt in seinen Augen eine geschichtlich entleerte, die Abwesenheit Gottes eine epochale ist, so begreift er das Nichthöchste als das, was unter den Bedingungen von Leere und Gottesfinsternis allein noch übrigbleibt. Er entnimmt der barocken Variante der in der Renaissance wiederentdeckten Diätetik — darin liegt vielleicht doch so etwas wie „seine Sache" — eine Anweisung zum nicht ganz unseligen Leben in der Moderne.

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Anmerkungen 1 In Bekkers Akademieausgabe (Aristotelis Opera, Vol. II, Berlin 2 1960), auf die sich die Seitenangaben dieses Abschnitts beziehen, 953al0-955a40. 2 Vgl. bes. Hellmut Flashars Kommentar in der deutschen Aristoteles-Ausgabe, Bd. 19 (1956), S. 711-721, bes. 712f. 3 Besonders hingewiesen sei auf Walter Müri, »Melancholie und schwarze Galles Museum Helveticum 10 (1953), S. 21-38; Flashar, Melancholie und Melancholiker in den medizinischen Theorien der Antike, Berlin 1966. 4 Wie z. B. bei Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl, Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, Frankfurt a. M. 1990, S. 76. 5 Walter Benjamin, »Ursprung des deutschen Trauerspieles Gesammelte Schriften, Bd. VI, Frankfurt a. M. 1974, S. 325. 6 Klibansky u. a., a. a. O., S. 79 f.; ähnlich Flashar, Melancholie und Melancholiker, a. a. O., S. 62. 7 Hubertus Tellenbach, Melancholie. Problemgeschichte, Endogenität, Typologie, Pathogenese, Klinik, Berlin 2. Auflage 1974, S. 9. 8 Verwiesen sei auf die Anmerkungen zur Stelle bei Panofsky und Saxl, Dürers Melancholia I, 1923, S. 99; Klibansky u. a., a. a. O., S. 69; sowie Flashars Kommentar, a. a. O., S. 954. 9 Vgl. Wilhelm Szilasi, Macht und Ohmmacht des Geistes, Freiburg i. Br. 1946, S. 291-305. Auch die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf dieses Buch. 10 Vgl. Marsilio Ficino, Libri de vita triplici, bes. liber 1, cap. 5 und 6. Eine psychoanalytische Interpretation gibt Juliana Schiesari, The Gendering of Melancholia, Ithaca 1992, S. 112-141. 11 Summa theologica II/2, quaestio 35 (im folgenden mit Angabe des Artikels zitiert). Lateinisch-deutsch in der Thomas-Ausgabe der Albertus-Magnus-Akademie, Bd. 17Β (1966), S. 20-35. Vgl. Siegfried Wenzel, The Sin of Sloth: Acedia in Medieval Thought and Literature, Chapel Hill 1967, S. 47-67. 12 Vgl. zu den Ursprüngen Wenzel, a. a. O., S. 3—22. 13 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Halle 1927, S. 134. 14 Vgl. Romano Pocai, Heideggers Theorie der Befindlichkeit, Freiburg i. Br. 1996. 15 Vgl. Wolf-Günther Klostermann, >Acedia und schwarze Galle. Bemerkungen zu Dante, Inferno VII, 115 ff. s Romanische Forschungen 76(1964), S. 183-193. 16 Vgl. zu Nietzsche Ludger Heidbrink, Melancholie und Moderne. Zur Kritik der historischen Verzweiflung, München 1994, S. 124-137.

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17 Vgl. Entweder-Oder II (Hirsch), S. 198 (Samlede Vserker II, 1. Aufl., S. 168). 18 Vgl. Der Begriff Angst, S. 41 (Samlede Vœrker IV, 1. Aufl., S. 314). 19 Vgl. Vincent A. McCarthy, ^Melancholy and 'Religious Melancholy" in Kierkegaards Kierkegaardiana 10 (1977), S. 152-164. Diese Unterscheidung klärt das Problem nicht. 20 Zu seiner eigenen Schwermut vgl. Susan Sontag, Im Zeichen des Saturn, München 1981, S. 125-146. 21 Gesammelte Schriften, Bd. VI, a. a. O., S. 321. Alle im folgenden angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf diesen Band. 22 Vgl. Heidbrink, a. a. O., S. 164-180. 23 Dies die These von Diana Ginevra Quadrio Curzio, Konstruktion der Trauer. Eine Untersuchung zum. Verhältnis von Theorie und Trauer in Walter Benjamins „Ursprung des deutschen Trauerspiels", Magisterarbeit FU Berlin 1995.

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