Vor den Toren Europas: Die Flüchtlingskrise aus polnischer und deutscher Perspektive [1 ed.] 9783737012591, 9783847112594

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Vor den Toren Europas: Die Flüchtlingskrise aus polnischer und deutscher Perspektive [1 ed.]
 9783737012591, 9783847112594

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Andersheit – Fremdheit – Ungleichheit Erfahrungen von Disparatheit in der deutschsprachigen Literatur

Band 3

Herausgegeben von Paweł Zimniak und Renata Dampc-Jarosz

Tobiasz Janikowski

Vor den Toren Europas Die Flüchtlingskrise aus polnischer und deutscher Perspektive

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Michael Broermann, Übern Styx, Öl/Leinwand, 90x120, 2018 Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2699-7487 ISBN 978-3-7370-1259-1

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Fremdheit und Migration aus sozialer, politischer und historischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Zum Begriff des Anderen und Fremden vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Migrationskrise aus historischer Perspektive . . . . . . . . . 1.3 Sozialpolitische Impulse und ihre Wirkung auf die Entwicklung der »Flüchtlingskrise« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3 Imaginierte Flüchtlingswelle. Die ›Migrationskrise‹ aus polnischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Negative Wahrnehmung der Geflüchteten in Polen . . . . . . . . . 3.1.1 Asyl- und Hilfesuchende als ein organisatorisches Problem . .

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2 ›Fluchtpunkt Deutschland‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Zwischen Kritik und Stigmatisierung – negative Darstellung der ›Flüchtlingskrise‹ in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Gesellschaftliche Abwehr gegen Immigranten und Neuzugewanderte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Soziale Spannungen und finanzielle Belastung für den Staat 2.1.3 Radikalisierung der Meinungen und Anschauungen . . . . . 2.1.4 Kulturelle Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.5 Geflüchtete als Terroristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 ›Refugees Welcome‹ – positive Darstellung der Flüchtlingskrise in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Im Spätsommer zu Gast bei Freunden . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Organisatorische Hilfe, wirtschaftlicher und sozialer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Menschliche Dimension der Flüchtlingshilfe . . . . . . . . .

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Inhalt

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Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.1.2 Migranten als ein sozialpolitisches Problem . . . . . . . . . 3.1.3 Die stigmatisierende Wirkung medialer Berichte . . . . . . . 3.2 Positive Wahrnehmung der Migration in Polen . . . . . . . . . . 3.2.1 Historischer Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Solidarität mit Geflüchteten – politische Parteien, kirchliche Institutionen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) . 3.2.3 Systembezogene Unterstützung und regelmäßige Hilfeleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Vorwort

Mehr als 100 Millionen Menschen waren im vergangenen Jahr (2021) weltweit auf der Flucht. Die Migrationszahlen steigen kontinuierlich. Symptomatisch ist dabei, dass die vor Krieg, politischen und wirtschaftlichen Krisen sowie vor Not Fliehenden nicht mehr vorwiegend aus den europafernen Regionen stammen, denn die verhängnisvolle Tendenz zum zwangsweisen Verlassen der eigenen Heimat erstreckt sich nun auch auf die Einwohner des Alten Kontinents. Nicht unbedeutend ist in diesem Zusammenhang ohne Zweifel der russische Überfall auf die Ukraine, der eine in Europa seit langem nicht gekannte Dimension der Kriegs- und Verzweiflungsmigration verursacht hat. Die vorliegende Monografie ist allerdings nicht der ›neuesten‹, sondern jener Migration gewidmet, deren massenhafter Charakter auf das Jahr 2015 zurückgeht. Der zeitliche Rahmen der Publikation umfasst ungefähr fünf Jahre, in denen Europa mit neuen Herausforderungen und schwerwiegenden internen sozial-politischen Spannungen konfrontiert wurde. Die Geflüchteten und Hilfesuchenden, die in diesem Buch ins Zentrum der Betrachtung rücken, stammen von daher vorwiegend aus dem Nahen Osten und Nordafrika, also aus jenen Teilen der Welt, die aus der europäischen Perspektive stereotyp als ›fremd‹ eingestuft werden. Gezeigt und gegenübergestellt wird in einer solchen Auffassung die deutsche und polnische Wahrnehmungsperspektive der so genannten Flüchtlingskrise. Was die methodologische Vorgehensweise betrifft, war es von Anfang an nicht die Absicht des Autors, eine mehr oder weniger strategisch, pragmatisch bzw. ideologisch konzipierte Richtlinie zu verfolgen, bzw. Thesen aufzustellen, die dann im Rahmen einseitiger Interpretationen oder infolge willkürlicher Materialauswahl bestätigt worden wären. Die Konzeption des Buches war von Anfang an völlig anders: Sie setzte voraus, dass die aufeinander folgenden Kapitel und Unterkapitel ein buntes Mosaik von verschiedenen Meinungen, Interpretationen und Anschauungen sein sollten. Dies hat zur Folge, dass im Rahmen der Analysen und Schilderungen äußerst kontrastive Darstellungstendenzen zum Vorschein kommen: Von eindeutig negativen (manchmal verbal aggressiven) bis zu

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Vorwort

positiven – wenn nicht gar enthusiastischen – Wahrnehmungen und Interpretationen der so genannten Migrationskrise. Gravierende Unterschiede gibt es naturgemäß zwischen der dargestellten Wahrnehmung der Migrationsprozesse in Polen und in Deutschland. Zweifelsohne erscheint in dieser Konfrontation der östliche Nachbar Deutschlands – und dies spiegelt sich freilich auch in Statistiken wider – als jenes europäische Land, das weniger für die Aufnahme von Hilfesuchenden und allgemein für die Flüchtlingshilfe in den Jahren 2015–2020 getan hat. Auf der anderen Seite wird dieses Bild von der heutigen Migrationsperspektive und der Tatsache weitgehend relativiert, dass seit dem 24. Februar 2022 mehr als 3 Millionen Ukrainer – vorwiegend Frauen und Kinder – die östliche Grenze Polens überschritten, und ausgerechnet im Land an der Weichsel freundlich und großzügig empfangen und aufgenommen wurden. Vor diesem Hintergrund drängt sich der Gedanke auf, dass die Migration selbst – und damit befasst sich auch die vorliegende Publikation – mit Fremdbildern und kultureller sowie religiöser Wahrnehmung der Anderen eng verzahnt ist. Einen unmittelbaren Impuls zum Entstehen des vorliegenden Buchs gab mir ein äußerst spannendes Gespräch, das ich im März 2018 in einem ziemlich überfüllten EC-Zug zwischen Oppeln und Kattowitz mit meiner Kollegin Julia Hartinger von der Westsächsischen Hochschule Zwickau führte. Damals, drei Jahre nach dem Beginn der intensiven Migrationsprozesse innerhalb Europas machten wir uns Gedanken, was die Wahrnehmung der Fremden (auf der Beispielsebene der Geflüchteten) maßgeblich determiniert und inwieweit sie von solchen Faktoren wie Sozialisation, Schulbildung sowie Gebundenheit an die eigene Kultur, Religion und Geschichte abhängig ist. Ein spontanes und zu Beginn eher unbestimmt verbalisiertes Vorhaben, eine Publikation darüber zu verfassen, nahm im Laufe der Zeit konkrete Gestalt an. Die Umsetzung des Vorhabens von damals wäre allerdings ohne Prof. Dr. Paweł Zimniak, Direktor des Instituts für Germanistik an der Universität Zielona Góra, nicht möglich gewesen. Gerade er – als spiritus movens der Initiative – unterstützte mich langfristig und ermunterte dazu, die Publikation in seiner Verlagsreihe bei V&R unipress zu veröffentlichen. Von daher kann es nicht wundern, dass ich ausgerechnet ihm besonders dankbar bin, und zwar nicht nur für die Möglichkeit der Publikation, sondern auch für seine Offenheit, Geduld und eine über bequeme Schemata hinausgehende, undogmatische Betrachtung der germanistischen Forschung. Dankbar bin ich darüber hinaus auch meinem Kollegen Dr. Torsten Lorenz und der bereits erwähnten Kollegin Mag. Julia Hartinger, die mich während des Entstehens des Buches freundlich unterstützten und mir mit Korrekturarbeit und Beratung zur Seite standen. Auch wenn die europaweite Kooperation bezüglich der Flüchtlingshilfe in den letzten Jahren viel zu wünschen übrig lässt, so

Vorwort

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beweist unsere Zusammenarbeit ›von unten‹, dass die Zukunft unseres Kontinents – und der freien Welt überhaupt – doch nicht unbedingt in düsteren Farben gezeichnet werden muss. Tobiasz Janikowski Kattowitz / Katowice, im Mai 2022

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Fremdheit und Migration aus sozialer, politischer und historischer Perspektive

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Zum Begriff des Anderen und Fremden vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise1

Das Wesen des Anderen und Fremden ist mit Konstruktionen und Deutungen von Raum, Grenzen und Identität verbunden. Wenn man beide im Untertitel genannten Begriffe in Anlehnung an die Position von Bernhard Waldenfels zusätzlich als ein Grenzphänomen betrachtet, das sich nicht nur auf die Verschiedenheit der Sprache, Kultur und des Geschlechts reduzieren lässt,2 kommt man freilich auch zu der Überzeugung, dass die Opposition zwischen dem Eigenen und Fremden die reale bzw. imaginäre Präsenz eines Nicht-Dazugehörigen oder eines Außenseiters voraussetzt. Die Begegnung mit dem Fremden hat bestimmt auch sowohl in individueller als auch in kollektiver Hinsicht einen

1 Die Begriffe ›Flüchtlingskrise‹ bzw. ›Flüchtling‹ erscheinen aus vielen Gründen problematisch, insbesondere wegen zahlreicher negativer Bewertungen, Zuschreibungen und Konnotationen, die mit den soeben genannten Bezeichnungen verbunden sind. In der Einleitung zur Publikation »… und es kommen Menschen!« befassen sich Miriam Fritsche und Maren Schreier ausführlich mit terminologischen Aspekten, die mit Migrationsprozessen der letzten Jahre in Verbindung gesetzt werden können: »Die Endung »-ling« erzeugt eher kleinmachende, verniedlichende Assoziationen (wie etwa Neuling, Lehrling oder Frischling), kann aber auch im abwertenden Sinne verwendet werden (wie z. B. in Eindringling oder Schwächling). Das ist keine Wortklauberei, sondern für viele Menschen – insbesondere für jene, die mit solchen Begriffen bezeichnet werden – oft bittere Realität. Ein als »Flüchtling« bezeichneter Mensch ruft bei vielen Assoziationen wie »arm«, »bedürftig« oder »wenig(er) zivilisiert« hervor. […] Um einerseits die klein machende und abwertende Endung »-ling« zu umgehen und andererseits die Engführung auf juristische Begriffsfinessen zu vermeiden, werden als Alternativen immer häufiger die breiter einsetzbaren Begriffe »Geflüchtete«, »Schutzsuchende« oder »Asylsuchende« verwendet. So auch in diesem Buch: Es geht um Unterstützung für »Geflüchtete« bzw. – um die damit bezeichneten Menschen sichtbar zu halten – für »geflüchtete Menschen«.« Fritsche, Miriam / Schreier, Maren: »… und es kommen Menschen!«. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2017, S. 18–19. 2 Vgl. Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2006, S. 15.

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bedeutenden Einfluss auf die Entstehung von gesellschaftlich fundierten Vorstellungen und Verhaltensmustern.3 Obwohl die nähere Beschreibung der Fremdheit nicht selten mit gleichzeitiger Anwendung der für das Eigene repräsentativen Kategorien erfolgt und sich auf gegenwärtige Umstände bezieht, kann sie ebenso in der diachronen Perspektive als historische Erfahrung erscheinen, die in das Gegenwartsbewusstsein zurückgerufen wird. Wichtig sind dabei unverändert die Art der kategorialen Zuordnung der Fremdheit und die affektive Einstellung zum Nicht-Einheimischen. Wenn man des Weiteren davon ausgeht, dass sowohl positive als auch negative Wahrnehmung der Fremdheit praxisbezogene Konsequenzen haben, kommt man auch zum Befund, dass die Einbeziehung des Anderen und Fremden in die imaginative oder reale Struktur des Eigenen weitreichende Konsequenzen nach sich zieht. Bei positiver Auffassung erschafft sie nämlich mehr Sicherheit in der interkulturellen Begegnung mit dem Anderen und leistet damit einen Beitrag zum gesellschaftlichen Frieden in der hochkomplexen und spannungsreichen Migrations- und Integrationsproblematik der Gegenwart.4 Die mit dem Wesen des Anderen und Fremden verzahnten Begriffe, wozu auch die ›Triangularität‹5 gehört, sind fest mit geläufigen, häufig vorkommenden 3 Vgl. Reinke de Buitrago, Sybille: Raum, Grenzen, Identität und Diskurs in der europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik. In: Bitzegeio, Ursula / Decker, Frank / Fischer, Sandra (Hrsg.): Flucht, Transit, Asyl. Interdisziplinäre Perspektiven auf ein europäisches Versprechen. Bonn: Dietz Verlag 2018, S. 67–88, hier S. 68. 4 Vgl. Bade, Klaus J.: Einführung: Zuwanderung und Eingliederung in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg. In: Ders. (Hrsg.): Fremde im Land: Zuwanderung und Eingliederung im Raum Niedersachsen seit dem Zweiten Weltkrieg. Osnabrück: Universitätsverlag Rasch 1997, S. 7–44, hier S. 7. Bezüglich der sog. Flüchtlingskrise kommt es zweifelsohne zur Konfrontation zwischen mehreren Kulturen und Religionen, die aber – und dies sollte man nicht außer Acht lassen – gleichzeitig bedeutende Gemeinsamkeiten aufweisen. Darauf macht Charles Richet aufmerksam, wenn er Islam und die aus der europäischen Perspektive fremd vorkommende Kultur Nordafrikas und des Nahen Ostens mit jenen monotheistischen Religionen in Verbindung setzt, die das geistige Antlitz Europas bedeutend mitgeprägt haben: »Der Koran war [von Anfang an, T.J.] ihr geheiligtes Buch, ein der hebräischen Bibel mit mehr oder weniger Treue nachgebildetes. Die jüdische Überlieferung vereinigte sich hierin mit den Phantasiegebilden Mohammeds. Abraham, Moses und Jesus Christus werden hier die Propheten, die nur die Vorboten für den letzten Messias, den größten von allen Propheten, Mohammed, den Propheten schlechthin, sind.« Richet, Charles: Allgemeine Kulturgeschichte. Versuch einer Geschichte der Menschheit von den ältesten Tagen bis zur Gegenwart. Bd. I: Von der Urgeschichte bis zur französischen Revolution. München / Berlin: Verlag für Kulturpolitik 1920, S. 110–111. 5 Im Modell der »Triangularität« – worauf Ashkenasi verweist – spielen die Beziehungen und Rückwirkungen zwischen drei Ebenen eine bedeutende Rolle, nämlich zwischen »a) dem Gastland als dem Land, in dem die Flüchtlinge oder Diasporen leben, b) den Flüchtlingen selbst und c) den Heimatländern als den ursprünglichen geographischen Gebieten, zu denen die ethnischen Gruppen noch eine Verbindung haben.« Ashkenasi, Abraham: Zur Theorie und Geschichte von Flucht und Exil. In: Ders. (Hrsg.): Das weltweite Flüchtlingsproblem. Bremen: Ed. CON 1988, S. 10–22, hier S. 14. Die Exilgruppen sind hierbei nicht als einheitliche und

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und in der kollektiven Wahrnehmung verankerten Termini wie ›Flüchtling‹ oder ›Exilant‹ verbunden. Die Grenzen zwischen den zwei letztgenannten sind allerdings fließend: Im Begriff ›Flüchtling‹, so Abraham Ashkenasi, »liegt der Schwerpunkt auf dem Moment des Weggehens aus dem angestammten Gebiet, in dem des »Exilanten« auf dem der Etablierung in einer fremden Gesellschaft. Beide Begriffe erfassen somit verschiedene Aspekte eines Prozesses.«6 Bedeutend ist auch der Umstand, dass zu den oben genannten Begriffen häufig die Kategorie ›Ausländer‹ hinzukommt, wodurch eine sichtbare, raumbezogene Opposition zwischen dem Gastland und den außerhalb liegenden Territorien – darunter Heimatland der Geflüchteten – entsteht.7 Flucht und Exil als verwandte Begriffe, die ohne Zweifel nicht nur mit Migration im breiteren Sinne,8 sondern auch mit der gegenwärtig hochaktuellen Problematik der Flüchtlingskrise eng verzahnt sind, offenbaren sich – und darauf macht der gerade zitierte Forscher aufmerksam – als universale Phänomene. ›Der Flüchtling‹ ist schließlich historisch gesehen immer eine Begleiterscheinung der menschlichen Geschichte gewesen. Auch wenn einzelne Fluchtbewegungen geintern kohärente Strukturen zu betrachten: »Geschichtlich kennen wir mehrere größere Diasporen, die starke Fragmentierungstendenzen aufweisen. Daraus folgt, daß Exilgruppen nicht unbedingt als homogenes Ganzes zu betrachten sind, sondern daß innerhalb einer Gruppe große soziale Unterschiede bestehen können, denen Rechnung getragen werden muß. Diese Fragmentierungstendenzen sind ein besonderes Kennzeichen der drei großen Diasporen der Juden, der Chinesen und der Inder, die sich über mehrere Jahrhunderte hin als kompakte Ethnien fern ihres Ursprungslandes erhalten haben.« Ebd. 6 Ebd., S. 12. In Bezug auf Geflüchtete, Migranten bzw. Vertriebene bedient sich Ashkenasi einer intern ausdifferenzierten und historisch fundierten Metapher: »Ein griechischer Gegner von Athen am Hof von Xerxes ist nicht dasselbe wie die Juden in Babylon. Ein deutscher Sozialdemokrat in Prag 1938 ist nicht dasselbe wie die Scharen von »displaced persons« aus dem Zweiten Weltkrieg. Deshalb sind die Begriffe woher und warum Kernfragen, ganz entblößt von ihrem jargonistischen Versteck.« Ebd. 7 Vgl. Treibel, Annette: Integriert Euch! Plädoyer für ein selbstbewusstes Einwanderungsland. Frankfurt am Main / New York: Campus Verlag 2015, S. 107. 8 Als ›Migration‹ (lateinisch migrare, auswandern) wird nach Fritsche und Schreier »eine längerfristige bzw. dauerhafte Verlagerung des Lebensmittelpunkts von Einzelpersonen oder Gruppen bezeichnet; unabhängig davon, ob diese Wanderung freiwillig oder erzwungen erfolgt(e). Zu unterscheiden sind dabei mehrere Wanderungsformen: Von Binnenmigration spricht man bei einem Wechsel des Wohnsitzes innerhalb der Grenzen eines Staates, von internationaler Migration bei einer grenzüberschreitenden Wanderung ins Ausland. Pendelmigration bezeichnet eine Wanderungsform, bei der eine Person zwischen ihrem Herkunftsort, den sie als Wohnsitz behält, und ihrem Arbeitsplatz hin- und herpendelt; dies kann innerhalb eines Landes, aber auch grenzüberschreitend stattfinden. Sind Wanderungsbewegungen durch wechselnde (dauerhafte) Aufenthalte im Herkunfts- und Zielland gekennzeichnet, wandert also beispielsweise eine Person mindestens einmal in das Zielland, ins Herkunftsland zurück und erneut ins Zielland, so spricht man von zirkulärer oder temporärer Migration. Wanderungsbewegungen, deren Ursache Gewalt ist (Kriege, Verfolgung aus politischen, weltanschaulichen oder religiösen Gründen) werden als Gewaltmigration bezeichnet, man spricht dann von Flucht, Vertreibung, Deportation.« Fritsche / Schreier 2017, S. 52.

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wöhnlich unterschiedlichste Anlässe haben, »liegt [ihnen – T.J.] jedoch immer die Ausgrenzung gewisser Gruppen ursächlich zu Grunde.«9 In diesem Zusammenhang erscheint ferner auch die Darstellung relevant, in der – in Anlehnung an Hannah Arendt – die Asylsuchenden nicht nur als Figuren totaler Exklusion gezeigt werden, sondern sich im breiteren Zusammenhang und im temporalen Kontext des »Jahrhunderts der Flüchtlinge« positionieren. Eine solche Annahme impliziert gleichzeitig die interpretative und kategoriale Veränderung der schon größtenteils etablierten Wahrnehmungen und Zuschreibungen, die sich sowohl in quantitativer als auch qualitativer Hinsicht auf die vorangegangenen Zeiten beziehen. Des Weiteren leitetet die unerwartete massenhafte Anwesenheit der Geflüchteten eine deutliche Zäsur in den lokal und global bezogenen Periodisierungen ein. Letztendlich gilt als paradigmatisch für einen solchen Blick auf das 20. Jahrhundert »Hannah Arendts Deutung von Flüchtlingen und Staatenlosen als Figuren einer Zeitwende, als negative Avantgarde, als Vorboten einer Aufhebung der geschichtlichen Kontinuität.«10 Der Bezug auf die Zeitenwende, negative Avantgarde sowie die oben angedeutete Ausgrenzung stellt allerdings nicht die einzige Erscheinung dar, die mit der sichtbaren Dynamik zu tun hat, die zwischen den Flüchtlingen, sowie dem Phänomen des Eigenen und Fremden11 entsteht. Zum Vorschein kommt in diesem Zusammenhang ebenso die spezifische Hierarchisierung, die sich zwischen den letztgenannten Bereichen entwickelt. Der Schweizer Soziologe Hoffmann-Nowotny bezeichnet sie bezüglich der Migrationssituation als »Unterschichtung«. Zum distinktiven Merkmal dieser Erscheinung gehört vor allem der Prozess, in dessen Verlauf die Einheimischen gegenüber den Einwanderern bzw. Fremden oder Geflüchteten eine Stellung beziehen, dessen Ziel ist es, sie im »niedrigen« Bereich der gesellschaftlichen Hierarchie – also »unten« zu halten.12 Dies erfolgt nicht selten unter Anwendung einer mehr oder weniger deutlichen

9 Ashkenasi 1988, S. 10. 10 Schulze Wessel, Julia: Grenzfiguren. Zur politischen Theorie des Flüchtlings. Bielefeld: transcript Verlag 2017, S. 25. 11 In diesem Zusammenhang erscheint auch sinnvoll, die breit kontextualisierte Bedeutung des mit Eigenem und Fremdem verzahnten Begriffs ›Wir‹ zu erklären: »Mit einem »Wir« wird immer zugleich eine Unterscheidung aufgerufen, die einen Gegenpart hervorbringt: Dem »Wir« wird ein »Nicht-Wir« entgegengesetzt in Gestalt von »den Anderen«. Eine solche Unterscheidung ist nicht per se problematisch, wie die folgende Aussage zeigt: »›Wir‹, die Willkommensinitiative der Stadt A, besuchen am Wochenende die Willkommensinitiative der Stadt B [also ›die Anderen‹], um unsere Erfahrungen auszutauschen«. Hier löst das »Wir« zwar eine Unterscheidung aus; diese hat jedoch weder ab- noch aufwertende Bedeutung, zumindest dann nicht, wenn »die Anderen« nicht als (dauerhafter) Gegenpart zu der »eigenen« Initiative gedacht werden.« Fritsche / Schreier 2017, S. 44. 12 Vgl. Treibel 2015, S. 98.

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kulturellen, strukturellen oder sogar personalen Gewalt.13 Vor diesem Horizont verwundert das Postulat einer gegensätzlichen Akzeptanz nicht, die gleichzeitig die respektvolle Wahrnehmung und Behandlung der Fremden voraussetzt: Im Engagement für geflüchtete Menschen sollte es – wie in allen menschlichen Beziehungen – zur Normalität werden, dass Menschen einander als Gleichwertige begegnen und auf Augenhöhe miteinander in Beziehung treten. Es ist jedoch auch hier – wie in anderen sozialen Kontexten – wahrscheinlich, dass Begegnungen von Macht- und Ungleichheitsverhältnissen durchzogen sind. Diese wirken mal stärker, mal abgemildert in jede Form des Engagements hinein, Konflikte sind vorprogrammiert, (wechselseitige) Verletzungen können schnell geschehen.14

Die oben dargestellten Argumente provozieren gleichzeitig die Fragestellung, mit welcher Zielgruppe man im Zusammenhang mit der sog. Migrationskrise überhaupt zu tun hat. Bei den Vertretern der Fremdheit handelt es sich in diesem Kontext vor allem – zumindest in Anlehnung an die soeben angedeutete Problematik – um die aus den meist arabischen Ländern Geflüchteten, die im heutigen Europa ihre neue Heimat suchen und häufig einer direkten oder symbolischen Gewalt zum Opfer fallen. Die zweitgenannte Art der Gewalt manifestiert sich dabei regelrecht besonders deutlich auf der medialen und rhetorischen Ebene. Unabhängig davon werden häufig die mit dem Prädikat »fremd« versehenen Einwanderer nicht nur als die »Von-Außen-Kommenden« eingestuft, sondern sie werden ebenso als unproduktive Empfänger von Sozialleistungen, Kriminelle oder Außenseiter stigmatisiert und den mit positiven Attributen versehenen EU-Bürgern – in diesem Falle auch den Rechteinhabern – äußerst kontrastiv gegenübergestellt. Dies hat zur Folge, dass die Wahrnehmung der Fremden von einem kollektiv geteilten Postulat der nötigen Abwehr begleitet wird, das vor allem auf Angst um das Eigene fußt. Nach Klaus Bade handelt es sich auf der Beispielsebene vor allem um die Angst »um Arbeitsplatz, soziale Lage und um das, was unter kultureller Identität verstanden wird«.15 Die Etablierung 13 Ausgerechnet Gewalt offenbart sich in diesem Zusammenhang als jener Umstand, der die Geflüchteten kontinuierlich begleitet: »Das furchterregende Element der Analyse von Flüchtlingsbewegungen ist, daß das Schicksal der Flüchtlinge mit Mord und Vertreibung beginnt und – sei dies vielleicht auch nach Generationen – damit leicht enden kann.« Ashkenasi 1988, S. 15. 14 Fritsche / Schreier 2017, S. 176–177. 15 Bade 1997, S. 10. Die Aktivierung der affektiven Potentiale ist in diesem Zusammenhang bestimmt nicht zufällig. Auf die Bedeutung der Emotionen im Kontext rhetorischer Strategien verweist Petra Korte: »Die Erregung der Leidenschaft hat in der rhetorischen Tradition das Ziel, ein Publikum für den Standpunkt des Redners zu gewinnen, andere Standpunkte eher zurückweisen. Der Stimulus des movere zielt ins Herz des Hörers; daher ist das, was die eigene Sache im möglichst günstigen Licht erscheinen lassen soll, oft mit der Positivität imaginierter Bilder und Vorstellungen verbunden. Erschütterung und Überwältigung sind ohne die Vereinnahmung des Hörers nicht erreichbar, so dass ›bewegende‹ Rede leidenschaftliches Mitreißen umfasst.« Korte, Petra: Pädagogisches Schreiben um 1800. Der Status

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von negativen Bildern, die zugleich von äußerst starken Emotionspotenzialen begleitet werden, betonen auch Fritsche und Schreier, indem sie gleichzeitig einen breiteren, globalen Darstellungshorizont skizzieren: Flüchtende, Asylsuchende, migrierende Menschen werden damit zu einer Bedrohung, denn klar ist: Keine Region dieser Erde könnte »die ganze Welt« aufnehmen. Dränge wirklich die »ganze Welt« in eine Region, dann käme dies einer existenziellen Gefährdung der dort Lebenden gleich. Wer sich aber gefährdet oder bedroht sieht, der*die kann sich mit Recht fühlen, wenn er*sie zu Gegenmaßnahmen greift wie Abschottung des »Wir« und Abwehr der »Anderen«, der hereindrängenden Namenlosen.16

Bei der Analyse der oben genannten Umstände sollte man sich allerdings der Tatsache nicht verschließen, dass auch die Beschreibung der Vergangenheit und die Wirkung von retrospektiven Projektionen nicht nur das Angstpotenzial, sondern selbst die kategoriale Differenz von Eigenem und Fremdem bedeutend beeinflussen und strukturieren können.17 Als eine Nebenerscheinung entsteht folglich eine klare Grenzziehung innerhalb tradierter gesellschaftlicher Ordnung, was freilich »die Schaffung von Barrieren zwischen Selbst und Anderem sowie eine harte oder gar inhumane Politik zum Schutz des Selbst begünstigen«18 kann. Nicht unbedeutend sind in diesem Kontext auch die affektiven Hintergründe; das Angstpotenzial in Europa wird seit dem Anfang der sog. Flüchtlingskrise nicht nur durch das mehr oder weniger imaginäre Postulat der »Islamisierung« westlicher Gesellschaften erhöht (die PEGIDA-Bewegung erscheint in diesem Zusammenhang als ein signifikantes Beispiel), sondern auch durch die unterschwellig spürbare Präsenz der von außen strömenden sog. panislamistischen Tendenzen.19 Die deutlich spürbare Polarisierung bei der Darstellung der christlichen und muslimischen Welt ist auch in der breit verstandenen Publizistik und in der

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von Schriftlichkeit, Rhetorik und Poetik bei Johann Heinrich Pestalozzi. Bern / Stuttgart / Wien: Verlag Paul Haupt 2003, S. 373–374. Fritsche / Schreier 2017, S. 47. Vgl. Bade 1997, S. 10. Reinke de Buitrago 2018, S. 82. Die Bedeutung der Fremdheitswahrnehmung in Verbindung mit ethnischen und regionalen Hintergründen betont Ashkenasi: »[…] so ist das »Anderssein« im Gastland immer bestimmend, und sei es auch nur in dem Fall, in dem ein protestantischer Flüchtling deutscher Zunge aus Osteuropa nach Bayern oder Guatemalteke nach Mexiko flüchtet.« Ashkenasi, 1988, S. 13. Aus dem historischen Blickwinkel gesehen ist Panislamismus die Reaktion der arabischen Welt auf die ihr drohende und sich ausbreitende Kolonialherrschaft europäischer Mächte. Tonangebend ist hierbei die Forderung an alle Muslime, sich über Länder- und Staatsgrenzen zusammenzuschließen, um die verloren gegangene islamische Einheit erneut anzustreben und zu beleben. Vgl. Robbe, Martin / Grzes´kowiak, Martin / Heidrich, Joachim / Höpp, Gerhard et al.: Welt des Islam. Geschichte und Alltag einer Religion. Urania-Verlag Leipzig / Jena / Berlin 1988, S. 138.

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Geschichtsschreibung präsent. Auf die Andersartigkeit der arabischen Religion machte bereits im Jahre 1920 Charles Richet aufmerksam: Als eine schlichte, logische, von Bräuchen fast vollkommen verschont gebliebene Religion, die mit einer unbeabsichtigten Feinfühligkeit Vorschriften einer höchst einfachen Sittenlehre mit einem ebenso einfachen Weltbilde vereinigt, ist der Islam wie geschaffen für Völker, die noch in ihrer Kindheit stehen. Es bedarf keiner tiefen Überlegung, um die so einfache Vorstellung zu erfassen, daß der Himmel von einem Gotte bewohnt wird, der nach Aussehen und Benehmen nicht anders ist, als irgendein sehr vornehmer und sehr prachtliebender Herr, und daß es Gesetz ist, ihm zu gehorchen. Es ist kaum viel mehr, was sich darüber in dem Koran findet, aber es genügt, um die Welt zu erobern.20

Auf der anderen Seite darf man nicht vergessen, dass der Islam selbst vom deutschen Präsident Christian Wulff am 3. Oktober 2010 explizit als Teil deutscher Kultur anerkannt wurde, was in der lakonischen Feststellung, »der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland«,21 zum Ausdruck kam. Die Muslime sollten in Deutschland vor diesem Hintergrund, was Patrick Bahners postuliert, nicht als Fremde oder Gäste behandelt werden, sondern alle Rechte von Bürgern genießen. Dies sollte in der Atmosphäre des Vertrauens erfolgen, was für die Gesellschaft der Grundrechtsbesitzer so etwas wie die Atmosphäre der Freiheit ist. Dabei wird aber auch vorausgesetzt, dass die Muslime das deutsche Grundgesetz nicht als fremde Ordnung, sondern als ihr eigenes Recht ansehen werden.22 Eine polarisierte Unterscheidung zwischen dem Eigenen und Fremden, zwischen Einheimischen und Einwanderern, erfolgt gewöhnlich auf einer bewertenden Grundlage. Zum Vorschein kommt hierzu die Erschaffung eines intern ausdifferenzierten Gefüges, in dem der Eigen- und Fremdgruppe unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten und Kompetenzen zugeschrieben werden. Die privilegierte Position der Einheimischen mag vor allem darin bestehen, dass sie im sozialen Gefüge die Mehrheit bilden, welche die Sprache besser beherrscht und über ein größeres Wissen über soziale Konventionen verfügt. Möglicherweise besteht ihr Vorteil auch darin, dass die Einwanderer häufig (was sich auf dem Arbeitsmarkt besonders deutlich offenbart) diskriminiert und nicht selten lediglich in Kategorien des wirtschaftlichen Nutzens betrachtet werden. Was auch immer der Grund einer solchen Situation sein mag, die Folge ist, dass Einwanderer eine bestimmte, mehr oder weniger benachteiligte Kategorie von Bürgern und Arbeitern bilden.23 20 Richet 1920, S. 112–113. 21 Bahners, Patrick: Die Panikmacher. Die deutsche Angst vor dem Islam. München: C. H. Beck 2011, S. 7. 22 Vgl. ebd., S. 8. 23 Vgl. Collier, Paul: Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen (Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt). Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung 2015, S. 181. In den

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Die scharfe Abgrenzung zwischen den Einheimischen und Fremden sowie die damit verbundene Kompetenzzuschreibung beruhen gewöhnlich auf einer stereotypen Wahrnehmung der Nicht-Dazugehörigen.24 Demzufolge erscheint ebenso die Annahme von Anette Treibel legitim, dass die Barrieren gegen sozialen Aufstieg mit Schichten- und Klassenzugehörigkeiten, Außenseiterpositionen und mit Männlichkeitsvorstellungen zu tun haben – und nicht zwingend mit ethnischer oder nationaler Herkunft. In der Öffentlichkeit ist in diesem Zusammenhang der Begriff Parallelgesellschaft beliebt, der negativ konnotiert ist und ausschließlich auf Einwanderer bezogen wird, die sich »abschotten«.25

Die Etablierung von klar gezogenen Grenzen, sowie die sichtbare Ausdifferenzierung in der Wahrnehmung des Eigenen und Fremden widerspiegeln sich häufig in der politischen Debatte und in der auf sozialpolitische Fragen bezogenen Rhetorik.26 Die symbolische Stigmatisierung der Nicht-Dazugehörigen, die meisten Ländern Europas dominiert zurzeit ausschließlich die synchrone Wahrnehmung der arabischen Kultur, bei der historische Kontexte und die sich über Jahrhunderte hinwegziehende kulturelle Entwicklung des Orients einfach ausgeklammert werden. Man sollte es aber nicht außer Acht lassen, dass im Mittelalter die Positionierung der arabischen Kultur gegenüber der westlichen Welt völlig anders war; Charles Richet betont die Bedeutung der kontrastreichen und unproportionierten sozialkulturellen Entwicklung von damals: »Während das Abendland und Byzanz noch tief in der Nacht eines das Licht der Vernunft scheuenden Christentums steckte, das ebenso wirr wie spitzfindig war, machten sich die Araber schon seit langer Zeit an das Studium der Geistes- und Erfahrungswissenschaften, sowie aller schönen Künste. Sie hatten Romanschriftsteller, Dichter, Theologen, Philosophen, Grammatiker, Ärzte, Gelehrte (Mathematiker, Astronomen, Alchimisten, Juristen). Schulen, die beinahe den Charakter von Universitäten trugen, entstanden in Bagdad, Cordova, Alexandria, Damaskus. Moscheen von einem bisweilen geradezu bezaubernden Stile wurden erbaut, wie die Alhambra von Granada. Der Handel nahm einen ungeahnten Aufschwung und mit ihm auch Luxus. Die Meisterwerke, die die großen Geister von Athen und Rom hervorgebracht hatten, wurden erhalten und übersetzt. Zwei bis drei Jahrhunderte hindurch hat die Zivilisation weit mehr in der zu jener Zeit in ihrem hellsten Lichte strahlenden Araberwelt als in der damals noch so tiefstehenden Christenheit einen sicheren Hort gefunden.« Richet 1920, S. 115. 24 Der Autor der historischen Migrationsforschung gewidmeten Abhandlung vertritt sogar den Standpunkt – wobei die Perspektive der Einwanderer dargestellt wird – dass die Sehnsucht nach einem »alten Deutschland« immer deutlicher zum Vorschein kommt, »das vielleicht ein bisschen bunt, aber bitte ohne ›die Muslime‹ daherkommen sollte. Diese Hyperrealität dominiert die Wahrnehmungswelt und in Folge leider unsere Lebenswirklichkeit: Mit steigenden Integrationsfolgen, Bildungsaufstieg und unserer Präsenz im Elitenraum, mit Deutsch als ›Muttersprache‹ und Muslimen als Nachrichtensprechern und Kulturpreisträgern, beginnt die fiktive Konstante der kollektiven Identitätszuschreibung – ›Deutsch-Sein‹ – als letzte Ressource zu bröckeln.« Bade, Klaus J.: Historische Migrationsforschung. Eine autobiografische Perspektive. HSR Supplement 30, 2018, S. 333. 25 Treibel 2015, S. 104. 26 Vor diesem Hintergrund ist ebenso auf die äußerst offensive Rhetorik zu verweisen, die u. a. der ehemalige Vorsitzende der CSU Horst Seehofer anwandte, als er mehrmals öffentlich den Standpunkt vertrat, dass ausländische ›Sozialschmarotzer‹, insbesondere ›Armutswanderer‹ und ›Wirtschaftsflüchtlinge‹ das vermeintliche soziale Paradies in der Mitte Europas genie-

Zum Begriff des Anderen und Fremden vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise

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insbesondere auf der verbalen Ebene erfolgt sowie die deutliche Abwehr seitens der Einheimischen – die sich klar gegen die Anwesenheit der Fremden im Bereich des Eigenen wenden – können weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen, unter Umständen sogar zur militarisierten Drosselung des Zugangs für Flüchtende beitragen.27 Dies bestärkt des Weiteren erkennbar das fremdenfeindliche Abwehrverhalten in der Gesellschaft und begünstigt, so Bade, die Entwicklung von rechtsorientierten Strömungen, die nicht nur die strategische Wendung von der europäischen Flüchtlingspolitik zur Flüchtlingsabwehrpolitik für ihre Ziele auszunutzen, sondern im weiteren Schritt die Bekämpfung der Fluchtursachen sowie Bekämpfung von Flüchtenden weit vor den Grenzen der »Festung Europa« postulieren. Sichtbar ist dabei die proklamierte »Externalisierung« der Flüchtlingsabwehr, die schließlich auch den deutlich nach rechts rutschenden demokratischen Grundkonsens nach sich zieht.28 Die sozialpolitischen Entwicklungen, die in den letzten Jahren in Europa sichtbar werden – insbesondere, wenn sie andauern sollten – können zu einer Neudefinition von Eigenem und Fremdem sowie zu einem modifizierten Verständnis von Selbst und Anderem führen. Dies kann in unterschiedlichen Bereichen und auf verschiedenen Ebenen erfolgen, u. a. in der Gegenüberstellung Europas und Nichteuropas und in der kontrastiven Gegenüberstellung von einzelnen EU-Staaten und Staaten des Nahen Ostens, die pauschal als Heimat der Neuankömmlinge abgestempelt werden. Die Bildung einer spezifisch europäischen Identität und die Entwicklung eines »gefühlten« europäischen Selbst – was freilich auch die Kritiker der gegenwärtigen Flüchtlingspolitik der EU betonen – können folglich ihre Durchschlagskraft verlieren. Derzeit erfolgt die übernationale Identitätsbildung immer noch »zugunsten multipler nationaler Ausprägungen des Selbst, später jedoch vielleicht zugunsten einer Stärkung gegenüber oder entgegen einem Nichteuropa.«29 Folglich kann man nicht ausschließen, dass das »Flüchtlingsproblem« lediglich als ein begrenztes Problem vereinzelter Gesellschaften gesehen wird und nicht als universale Begleiterscheinung von verßen wollen. Sie wollten, so der CSU-Politiker, sich dort in die angeblich allzugänglichen ›sozialen Hängematten‹ legen, bzw. sich im deutschen ›Sozialamt der Welt‹ als »Faultiere in die üppigen Bäume des Wohlfahrtsstaates hängen und unverdient deren Früchte verzehren, die doch nur denen zustünden, die sich diese Früchte durch ihre Leistungen verdient hätten.« Bade, Klaus J.: Von Unworten zu Untaten: Kulturängste, Populismus und politische Feindbilder in der deutschen Migrations- und Asyldiskussion zwischen ›Gastarbeiterfrage‹ und ›Flüchtlingskrise‹. HSR Supplement 30, 2018, S. 346. 27 Vgl. Bade, Klaus J.: Blockade und Befreiung: Identitätskrise, Ersatzdebatten und neue Selbstbilder in der Einwanderungsgesellschaft. In: Ders.: Kritik und Gewalt. Sarrazin-Debatte, ›Islamkritik‹ und Terror in der Einwanderungsgesellschaft. Schwalbach i. Ts.: Wochenschau Verlag 2013, S. 348–376, hier S. 357. 28 Vgl. ebd. 29 Reinke de Buitrago 2018, S. 84.

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schiedenen Konfliktsituationen – seien es Krieg, Revolution oder der Kampf um knapper gewordene Ressourcen.30 Ein solcher Umstand würde – was am Rande zu erwähnen ist – einen bedeutenden Unterschied zwischen dem 21. Jahrhundert und der Vergangenheit markieren und ebenso auf die wachsende Mobilität von Flüchtlingen und auf die schnellen weltweiten Kommunikationsnetze zurückführen. All dies erhöht wesentlich die potenzielle und die schon vorhandene Angst der Aufnahmeländer vor der Zuwanderung und beeinflusst negativ die Wahrnehmung der Fremden sowie die Beurteilung ihrer Existenzgrundlagen, Mobilität und Kultur.31

1.2

Die Migrationskrise aus historischer Perspektive

Die Geschichte der Menschheit – und darauf verweist der schon mehrmals zitierte Abraham Ashkenasi – erscheint in vieler Hinsicht als Geschichte der Flucht und Vertreibung.32 In der Bibel, die für die westliche Welt zweifelsohne nicht nur als eine religiöse, sondern auch als eine wichtige kulturstiftende Textsammlung erscheint (welche zusätzlich die kollektive Identität von Juden, Christen und der europäischen Zivilisation überhaupt in den vergangenen Jahrhunderten bedeutend mitgeprägt hat), kann man vielerorts Beschreibungen der Flucht und dem breit aufgefassten Problem der Fremdheit begegnen. Insbesondere das Alte Testament kann in großen Teilen als eine Geschichte von mehrfacher Flucht und 30 Vgl. Ashkenasi 1988, S. 11. 31 Vgl. ebd., S. 11. 32 Einen unkonventionellen Vergleich und eine zweifelsohne kontroverse Zusammenstellung von historischen Kontexten schlägt in diesem Zusammenhang Franz Alt vor. Indem er seine Überlegungen mit einer essentiellen Frage eröffnet – die die Migrationsproblematik unmittelbar betrifft – versucht er zugleich auf das Wesen und die Eigenart von Geflüchteten aufmerksam zu machen: »Was haben Jesus und der Dalai Lama, ein Flüchtlingsmädchen aus dem Iran, die prominente US-amerikanische Computerlegende Steve Jobs, Theresia aus Ungarn, Helene Fischer und Peter Maffay, was haben gerettete Boat People aus Vietnam und Gastarbeiter in Deutschland, der badische Revolutionär Carl Schurz und Papst Franziskus gemeinsam? Sie alle sind (oder waren) Flüchtlinge oder Kinder von Heimatvertriebenen oder Auswanderern.« Alt, Franz: Flüchtling. Jesus, der Dalai Lama und andere Vertriebene. Wie Heimatlose unser Land bereichern. München: Gütersloher Verlagshaus 2016, S. 7. Eine auf diese Weise formulierte These kann man ebenso um einige historisch fundierte Argumente ergänzen. Es unterliegt doch keinem Zweifel, dass selbst im antiken Rom nicht die Einheit und Homogenität der Kultur, sondern ihre Vielfältigkeit besonders hochgeschätzt wurde. Eine solche Annahme lässt sich freilich aus der damals entstandenen Geschichtsschreibung herleiten, was am Beispiel der Schriften von Tacitus gezeigt werden kann. Klaus von See bemerkt in diesem Kontext, »daß Unvermischtheit für Tacitus durchaus kein positiver Wert ist, denn die Römer selbst verstehen sich als eine gens mixta und höherentwickelte Völker sind für sie nicht indigenae, sondern advenae, die sich mit den Ansässigen vermischen und deren Recht sich auf Eroberung gründet.« See, Klaus von: Barbar – Germane – Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter 1994, S. 62.

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Exil gelesen werden.33 Die Bestätigung einer solchen These lässt sich in der Abhandlung von Philipp Ther finden, insbesondere an der Stelle, wo auf zahlreiche für Migrationsproblematik bedeutende Merkmale sowohl des Alten als auch des Neuen Testaments verwiesen wird: »Die biblischen Texte enthalten bereits alle wichtigen Fluchtmotive: existenzielle Not, ethnische Konflikte, religiöse und politische Verfolgung. […] Andererseits verweist die Bibel auf leere, kaum bewohnte Landstriche, in denen sich Flüchtlinge niederlassen konnten.«34 Die Erinnerung an die Existenz unter fremdem Joch, was ergänzend festgestellt werden muss, prägt sehr stark die jüdische Kultur, in der seit etwa dreitausend Jahren eine Auffassung präsent ist, die nicht nur potenzielle Vergleiche mit der heutigen Zeit berechtigt, sondern vor allem mit dem Selbstverständnis der Juden zu tun hat. Auf der Beispielsebene kann in diesem Zusammenhang der Umstand hervorgehoben werden, dass sie »sich in ihrem Hauptnationalfest jedes Jahr an ihr Sklavendasein und ihre Flucht erinnern.«35 Das aus der heutigen Perspektive aktuelle Problem der sog. Flüchtlingskrise – besonders wenn man Polen und Deutschland als zwei weit voneinander entfernte, gegensätzliche Beispiele der Gastländer heranzieht – verlangt nach einer weit verzweigten Kontextualisierung, die sich in ihrem Verlauf auf vielseitige historische Aspekte erstreckt. Um bedeutende Differenzen in der Wahrnehmung der Geflüchteten und Migranten in beiden Ländern zu verdeutlichen, scheint es einleitend unumgänglich, das Untersuchungsspektrum zu erweitern und die historisch fundierte Eruierung auf die Einstellung beider europäischer Länder zur arabischen Welt und zum Islam36 zu untersuchen. Die Wahrnehmung des Islams als eine expansive Religion ist in europäischer Geschichtsschreibung gewiss keine Entdeckung der letzten Jahrzehnte. Vor einhundert Jahren konstatierte Richet, indem er auf die rasche Verbreitung der

33 Vgl. Ashkenasi 1988, S. 11. 34 Ther, Philipp: Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa. Berlin: Suhrkamp Verlag 2017, S. 30. 35 Ashkenasi 1988, S. 12. 36 Der Islam wird in der Historiographie häufig als eine expansive Religion dargestellt, unübersehbar ist vor diesem Horizont die Tendenz, der schnellen Verbreitung der Lehre Mohammeds besondere Aufmerksamkeit zu schenken, auch wenn die Anfänge der heute zweifelsohne mächtigen monotheistischen Religion von bedeutenden Misserfolgen gekennzeichnet sind: »Zu Anfang fanden sich recht viele Schwierigkeiten. Die Muselmanen von Medina waren zunächst nur eine Handvoll Leute; doch, obwohl durch beständige Kämpfe noch mehr gelichtet, nahmen sie gleichwohl Jahr für Jahr an Zahl zu. Nach mancherlei Zwischenfällen drangen sie endlich im Jahre 8 der Hedschra (630) siegreich in Mekka ein. Mehr aus Furcht als aus Überzeugung bekehrten sich nun auch die Bewohner von Mekka; die anderen jüdischen, heidnischen und sogar christlichen arabischen Stämme wandten sich dem Erfolge zu und schlossen sich der neuen Lehre an. Die erobernde Macht des Islam hatte ihre Laufbahn begonnen.« Richet 1920, S. 111.

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arabischen Kultur in Gestalt der Lehre Mohammeds und auf ihre ideologische Radikalität aufmerksam machte: Die Eroberung Asiens, Afrikas und eines Teiles von Europa in der denkbar kürzesten Zeit verbreitete überallhin Furcht und Schrecken wie ein einschlagendes Gewitter. Sie war ebenso dem Buche wie dem Schwerte zu verdanken. Götzenanbeter, Heiden, Juden, Christen traten über. Es heißt im Koran, daß die Ungläubigen allezeit und überall bekämpft und sämtlich Gott unterworfen werden müßten. Es ist ein heiliger Krieg; wer in ihm fällt, geht geradenwegs ins Paradies ein. Daher jener unerbittliche Fanatismus, der den Sieg an die stürmenden Heere heftete; die verschiedenen Besiegten verbanden sich sogleich und wurden dann ebenso fanatisch wie die Sieger.37

Im Mittelalter erstreckte sich der Siegeszug der neuen Religion über eine bedeutende Zeitspanne. Schon zu Anfang des 8. Jahrhunderts werden die Mauren Moslems, die Westgoten werden hingegen von Bekennern der Lehre Mohammeds aus Afrika vertrieben. Nur fünf Jahre brauchte einer der legendären muslimischen Anführer Musa nach der Schlacht bei Xeres (711), um ganz Spanien zu unterwerfen und bis zu den Pyrenäen vorzurücken (710–715). Dabei bleibt nicht unbedeutend, dass die Araber in Spanien keine Soldaten fanden, die sie hätten bekämpfen müssen, von daher ließen sie sich dort in wenigen Jahren erfolgreich nieder, ohne auf irgendwelchen bedeutenden Widerstand zu stoßen. Viele Christen – gemeint sind vor allem die Westgoten oder den Westgoten untertänige Hispano-Römer – unterwarfen sich den neuen Herren und traten in großer Anzahl zum Islam über. Um ihren alten Glauben bewahren zu können, mussten viele unter ihnen neue Siedlungen in den Bergen errichten. Die Araber hingegen – in weiterer Verfolgung ihrer Bekehrermission und ihrer Plünderungen – überschritten die Pyrenäen, bemächtigten sich der Stadt Bordeaux und drangen tief in die Mitte Frankreichs bis nach Poitiers vor.38 Erst hier stießen sie auf einen erbitterten Widerstand bei dem Frankenheere unter dem Oberbefehle von Karl Martel. Infolge der Schlacht bei Poitiers (732) wurde der Befehlshaber der sarazenischen Truppen, Abd-ar-Rảhman, letztendlich besiegt; anschließend fand ein gewaltiges Gemetzel statt, das zur Folge hatte, dass der arabische Siegeszug auf europäischem Boden ein für allemal sein Ende gefunden hatte. Es war allerdings das erste Mal, so Richet, »daß die Heere des Propheten sich zurückziehen mußten. Vierzig Jahre später überschritten die Franken ihrerseits unter der 37 Ebd., S. 113. Zweifelsohne ist der Islam als kein ideologischer Monolith zu betrachten, und zwar wegen vielen Spaltungen und internen Differenzierungen: »Mit den Entwicklungen und Auseinandersetzungen, die in seinem Namen stattfanden, verändert sich der Islam. Und es kam in ihm zu Spaltungen. Als folgenreichste erwies sich die zwischen Sunniten und Schiiten. Im Keim zeichnete sie sich im 7. Jh. ab, offen brach sie im 9. Jh. aus. Heute sind 85 bis 90 Prozent aller Muslims Sunniten, die übrigen Schiiten.« Robbe / Grzeskowiak / Heidrich / Höpp Gerhard (et al.) 1988, S. 64. 38 Vgl. Richet 1920, S. 114.

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Führung von Kaiser Karl dem Großen die Pyrenäen, und nun ließen sich umgekehrt die Sarazenen auf ihrem eigenen spanischen Gebiete besiegen.«39 Vor dem Hintergrund der gerade genannten historischen Umstände spielt die Tatsache eine bedeutende Rolle, dass die ambitionierten, ideologisch radikalen Anforderungen Mohammeds den Islam in einen jahrhundertelangen Streit mit dem Christentum verwickelten. Naturgemäß erscheint in diesem Zusammenhang ebenso die westliche Welt als ein aktiver Akteur: Einerseits bezweifelten nämlich die Christen die Wahrhaftigkeit der Offenbarung Mohammeds und hielten ihn selbst für einen falschen Propheten (z. B. der hl. Johannes von Damaskus), andererseits verband die christliche Apologetik Mohammed mit übermäßiger Brutalität, Ignoranz und Zügellosigkeit.40 Und was die kulturhistorischen Impulse anbelangt, die zur Intensivierung des Antagonismus beigetragen haben, sei auf Folgendes verwiesen: »Die islamischen Eroberungen, die Einnahme Roms von Muslimen, die Schändung der Peter Basilika und Paul Basilika im Jahre 846, Kreuzzüge, die u. a. eine Reaktion auf die Zerstörung der Basilika des Heiligen Grabes in Jerusalem von Kalifen Al-Hakim war, erleichterten die gegenseitige Verbrüderung nicht.«41 Die Begegnung der arabischen und christlichen Welt war im Mittelalter jedoch nicht ausschließlich durch militante Konflikte, Religionskriege und Kreuzzüge gekennzeichnet. Es reicht nur zu erwähnen, dass Hippokrates den Arabern unter dem Namen Buqrảt wohlbekannt war und dass er erstaunlicherweise im Islam ˙ früher als in Europa zum Symbol des »wahren Arztes« wurde.42 Im Verlauf der ausgedehnten, von den abbasidischen Kalifen geförderten Übersetzungstätigkeit des 9. und 10. Jh. wurde darüber hinaus »wohl das gesamte Corpus von christlichen Syrern – zum Teil über eine syrische Zwischenübersetzung – ins Arabische übertragen und von den islamischen Medizinern in immer neuen Ansätzen in Form von Kommentaren, Paraphrasen, Summarien usw. bearbeitet.«43 Selbst die Entwicklung der deutschen Kultur um die Wende des 10. Jahrhunderts, die aus dem geistigen und materiellen Erbe des Fränkischen Reiches weitestgehend geschöpft hat, lässt sich von kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Orient und Okzident nicht trennen. Das Reich Karls des Großen profitierte u. a. vom intensiven Austausch mit dem Kalifen Harun-arRaschid, was in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung nicht verschwiegen worden ist. Laut Bericht Einharts – eines Mitglieds der am Hofe Karls gegrün39 Ebd. 40 Vgl. Kos´cielniak, Krzysztof: Christentum und Islam. Perspektive und Probleme des Dialogs. Kraków: Wydawnictwo UNUM 2005, S. 7. 41 Ebd. 42 Vgl. Dietrich, Albert: Hippokrates bei den Arabern. In: Mazal, Otto (Hrsg.): Kultur des Islam. Wien: Österreichische Nationalbibliothek 1981, S. 27–30, hier S. 27. 43 Ebd., S. 27.

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deten Hofschule – hatte der Kalif dem fränkischen König nicht nur die Herrschaft über jenen heiligen und heilsamen Ort, also Jerusalem, eingeräumt, »sondern ihm eine gewisse Schutzfunktion über die Grabeskirche in der Heiligen Stadt zugestanden.«44 Dies zog gleichzeitig die Aufnahme von intensivierten Handelsbeziehungen zwischen der christlichen und arabischen Welt nach sich. Dieter Hägermann erwähnt in der Biographie des legendären, bereits von seinen Zeitgenossen als »Leuchtturm Europas« genannten Kaisers, die kostbaren Geschenke aus dem Orient, die in Europa Staunen und Überraschung erregten.45 Als Beispiel wird vor allem die bemerkenswerte Geste freundschaftlichen Einvernehmens zwischen Kaiser und Kalif genannt, d. h. die Übergabe des berühmten weißen Elefanten mit dem beziehungsreichen Namen Abul Abbas. Das exotische Tier wurde – und das relativiert weitgehend die Eindeutigkeit der damaligen konfessionellen und kulturellen Grenzziehungen – von dem Juden Isaak in Begleitung muslimischer Gesandter zunächst auf dem Landweg nach Nordafrika transportiert und dann auf dem Seeweg nach Oberitalien und von dort letztendlich auf den Spuren Hannibals über die Alpen nach Aachen gebracht, wo das Rüsseltier im Juli 802 eintraf.46 Der weiße Elefant Abul Abbas kann aus der heutigen Perspektive – auch wenn dies etwas ungewöhnlich erscheinen mag – als Symbol der christlich-muslimischen Freundschaft im 9. Jahrhundert betrachtet werden. Man darf des Weiteren nicht außer Acht lassen, dass selbst etwa vierhundert Jahre später der gewaltigste unter allen deutschen Kaisern, Barbarossas Enkel Friedrich II. (1215–1250), seinen langjährigen Aufenthalt nicht in Rom, sondern in Palermo auf Sizilien wählte, wo das dortige arabische Kulturleben dem sonstigen abendländischen an Zivilisation weit voraus war. Der Einfluss der arabischen Kultur und Sittlichkeit auf den christlichen Kaiser war dabei evident: Er hielt sogar, was die Quellen belegen, einen Harem und auch wenn er zu keinem bestimmten Religionsbekenntnis neigte, hatte er für Moslems ein besonderes Interesse. Der Kaiser zog ebenso, worauf Richet aufmerksam macht, an seinen Hof Rechtsgelehrte vor, die die Verwaltung vorwiegend nach weltlichen Gesichtspunkten auf Grund des römischen Rechtes führten. Außerdem schätzte und bevorzugte er nicht die mit

44 Hägermann, Dieter: Karl der Große. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2003, S. 75. 45 Vgl. ebd. 46 Vgl. ebd., S. 76–77. Der Autor der Monografie betont die Wichtigkeit des weißen Elefanten für den Hof Karls des Großen und relativiert zugleich die Bedeutung anderer familiärer Geschehnisse: »Die offiziöse Annalistik versorgt uns mit Daten zu Leben und Tod des Tieres und stellt sein Ableben dem Sterben der Söhne Karls an die Seite. Abul Abbas ging im Herbst 810 auf dem Sammelplatz in Lippeham östlich des Rheins in die Ewigen Weidegründe ein, als ihn Karl auf dem Zug gegen König Göttrik von Dänemark als Droh- und Überraschungseffekt mitzuführen gedachte.« Ebd., S. 77.

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religiösen Traditionen stark verbundenen Dichter, sondern vor allem Trobadors und Minnesänger.47 Was den kulturellen und intellektuellen Austausch zwischen Christentum und Islam betrifft, brachte im 12. Jahrhundert die Begegnung mit dem islamischen Orient – insbesondere während der Kreuzzüge – den ersten Versuch einer Übersetzung des Korans. Dem haben sich in der Folgezeit weitere Bemühungen angeschlossen, »die sich zunächst auf die Religion des Islams und die Person ihres Gründers konzentrierten, dann aber nach und nach infolge eines vermehrten Zustroms von Material auch andere Gebiete wie die Literatur und die Geschichte einzubeziehen begannen.«48 Die sich im Mittelalter entwickelnde Kooperation zwischen der westlichen Welt und dem Orient bleibt bestimmt nicht ohne Einfluss auf die heutige Wahrnehmung der arabischen Kultur in West- und Mitteleuropa. Dies lässt sich freilich auch am Beispiel Polens und Deutschlands zeigen; während aber die Erinnerung an die einzigartige Multikulturalität der Karolinger Zeit zumindest zum Teil die kollektive Identität in Deutschland mitzuprägen scheint, versteht sich Polen – das andere Erfahrungen mit der religiösen und kulturellen Fremdheit im Mittelalter gemacht hat – auch heutzutage als Bollwerk des Christentums, also antemurale Christianitatis im östlichen Teil des Kontinents. Im Kontext historischer Ereignisse bleibt bestimmt nicht ohne Bedeutung, dass zur politischen Schwächung Polens im Mittelalter größtenteils die Tatareneinfälle beigetragen haben. Und auch wenn das Königreich der Piasten nicht das Schicksal Russlands teilte, das von den Tataren unterworfen und systematisch ausgeplündert wurde, trugen die wiederholten Einfälle, von denen Polen im 13. Jahrhundert betroffen war, bedeutend zu seinem kontinuierlichen wirtschaftlichen und kulturellen Niedergang bei. Wenn man bedenkt, dass viele Städte und Dörfer im Mittelalter mehrmals niedergebrannt wurden und ein erheblicher Teil der Bevölkerung niedergemetzelt oder in die Sklaverei verschleppt wurde, so wird die Erinnerung an den Einfluss der anderen – auch in der religiösen Hinsicht fremden – Macht, auch aus der gegenwärtigen Perspektive eindeutig negativ bewertet. Ein bis heute signifikantes Ereignis ist vor allem der erste Tatareneinfall aus dem Jahre 1241 (die Besatzer vertraten zu dieser Zeit allerdings noch nicht den Islam, da ihre Konversion erst im 14. Jahrhundert erfolgte), der große Teile Süd- und Mittelpolens verwüstete. Anschließend drangen die Tataren in andere Teile des Landes, sogar bis nach Schlesien vor,

47 Vgl. Richet 1920, S. 139. 48 Fück, Johann: Arabische Kultur und Islam im Mittelalter. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1981, S. 9.

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nachdem die polnischen Streitkräfte – die ihnen noch kurz zuvor in Kleinpolen entgegengetreten waren – dem zahlenmäßig weitaus stärkeren Feind erlagen.49 Polen galt aber bereits zu dieser Zeit – unabhängig von den gerade dargestellten historischen Kontexten – als ein Land der religiösen und kulturellen Toleranz. Eine andere geistige Stimmung herrschte damals im Westen Europas, wenn man bedenkt, dass der älteste Fluchtgrund in der neuzeitlichen europäischen Geschichte sich größtenteils aus religiöser Intoleranz ergab. Schließlich kam es nicht im Osten des Kontinents, sondern in Spanien Ende des 15. Jahrhunderts – hier setzen die meisten Historiker den Beginn der Neuzeit an – erstmals zu einer flächendeckenden, ausnahmslosen und auf Abstammung beruhenden Verfolgung religiöser Minderheiten. Entsprechend umfangreich waren auch die daraus resultierenden Fluchtbewegungen: Etwa »eine halbe Million Muslime und Juden mussten Spanien verlassen, gemessen an der damaligen Größe der spanischen und der gesamteuropäischen Bevölkerung eine präzedenzlose Zahl.«50 Die Annahme, dass die heutige Wahrnehmung der sog. Flüchtlingskrise in Deutschland und in Polen aus der offenen, wenn nicht gar liberalen Politik Karls des Großen, bzw. aus der Bedrohung des Kontinents seitens der Tataren oder aus dem Verlauf der Religionskriege im späten Mittelalter unmittelbar resultiert, erscheint als eine vereinfachende und äußerst riskante These. Man darf sich dennoch der Tatsache nicht verschließen, dass die kollektiv geteilten Mythen und Topoi sich bis heute bedeutend auf die Rezeption der sozialpolitischen Wirklichkeit in beiden Ländern auswirken. Dies trifft ebenso auf politische Mythen zu, die nicht selten »als ›Meisternarration‹ der jeweiligen Gesellschaft, als ihre ›Heroengalerie‹ und ›Leistungsschau‹ zu verstehen sind. Sie erklären und deuten

49 Vgl. Arnold, Stanisław / Z˙ychowski, Marian: Abriss der Geschichte Polens. Von den Anfängen des Staates bis in die neueste Zeit. Warszawa: Polonia – Verlag 1967, S. 27. Die Atmosphäre der Bedrohung im 13. Jahrhundert – mit Berücksichtigung von weit vernetzten mentalen Gefahrenlandschaften – beschreibt ausführlich Marek Zdrojewski: »Polen, drei Jahrhunderte lang durch die Germanen von Westen nach Osten verdrängt, wurde in der Mitte des 13. Jahrhunderts von Osten angegriffen. Zwischen 1237 und 1240 wurde ganz Russland mit seiner berühmten Hauptstadt Kiew von Mongolen überfallen, die auf ihrem Siegeszug Brand und Verwüstung hinterließen. Ein Jahr darauf rückte Batu Khan mit seinen Scharen nach Polen vor. Nachdem er das kleinpolnische Rittertum zerschlagen hatte, gelangte er bis vor Legnica. Dort fiel der Fürst Henryk Poboz˙ny (der Fromme), und der Rest seiner Ritter suchte in der Festung von Legnica Schutz vor den Mongolen. Trotz ihres Sieges kehrten die Mongolen um und zogen nach Mähren und Ungarn.« Zdrojewski, Marek: Aus der Geschichte Polens. Notizen aus den Vorträgen von Prof. Dr. G. L. Seidler für ausländische Studenten. Lublin: Das Polenzentrum für Kultur und Bildung der Maria-Curie-Skłodowska-Universität 1980, S. 37. 50 Ther 2017, S. 11.

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historische Vorgänge durch mitreißende, komprimierte Bilder und beglaubigen die grundlegenden Werte, Ideen und Verhaltensweisen von Gruppen.«51 Die Beziehungen zwischen Orient und Okzident sowie die Situation innerhalb der arabischen Welt – was nicht ohne Einfluss auf die Gestaltung der Relationen zwischen der christlichen und islamischen Welt blieb – veränderte sich bedeutend im 14. Jahrhundert. Zur Zeit der sichtbaren Entwicklung des westeuropäischen Kapitalismus gingen nämlich die Osmanen – so genannt nach dem Begründer der Dynastie Osman (arabisch: Uthman) – daran, ein großes Reich zu errichten, zu dessen Kern die Türkei wurde. In weiterer Folge eroberten sie Schritt für Schritt Teile des tausendjährigen oströmischen Reiches, »das seit den ersten Beutezügen der islamischen Heere eine Provinz nach der anderen eingebüßt hatte.«52 Nach relativ kurzer Zeit herrschten die Osmanen über das letzte große islamische Reich; es erstreckte sich von Algerien bis nach Jemen und Georgien und von Anatolien bis Bessarabien. Sein Rückgrat bildeten Heer und Verwaltung und was seine nationale Struktur betrifft, waren die Türken in ihm stark privilegiert, und zwar angesichts des Umstands, dass vorwiegend türkische Statthalter bestimmte Provinzen verwalteten. Auch wenn sie sich zunächst noch als Diener des Islams sahen, so »nutzten sie in der Folgezeit ihre Ämter immer noch dazu, sich persönlich zu bereichern. In Konstantinopel wurden Kulturschätze aus der ganzen islamischen Welt zusammengetragen.«53 Als eine bedeutende fremde Macht – die eine akute Bedrohung für das damalige christliche Europa mit sich brachte – spielten die Türken auch für die Bildung kollektiver Vorstellungen des Islams in Polen eine bedeutende Rolle. Eine solche Funktion erfüllt bestimmt die bis heute lebendige und kollektiv geteilte Vorstellung des Sieges von König Jan III. Sobieski über das türkische Heer bei Wien. Die unverändert populäre, identitätsstiftende Interpretation der legendären Tat des polnischen Königs festigt seit Jahrhunderten bedeutend die Selbstwahrnehmung der Polen, die sich selbst und ihr Land als Verteidiger der christlichen Kultur und Religion im Osten verstehen. Auffällig ist dabei, dass obwohl der Sieg über die fremde Invasion nicht nur dem polnischen König zu verdanken ist (an türkischen Kriegen war schließlich eine breitere christliche Koalition der Habsburger und Bourbonen beteiligt), wird in der Heimat von Jan III. Sobieski das siegreiche Ergebnis der Schlacht– und hier offenbart sich die legendenbildende Wirkung der historischen Interpretationen – häufig als ein polnisches Verdienst dargestellt.

51 Hein-Kircher, Heidi / Suchoples, Jarosław / Hahn, Hans Henning: Erinnerungsorte, Mythen und Stereotypen in Europa. Wrocław: Oficyna Wydawnicza Atut 2008, S. 20. 52 Robbe / Grzeskowiak / Heidrich / Höpp Gerhard (et al.) 1988, S. 62. 53 Ebd., S. 63–64.

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Die militante Auseinandersetzung im 17. Jahrhundert zwischen der christlichen Koalition und dem muslimischen Feind wurde in der Tat – was freilich den weiteren nationalen und ethnischen Kontext eröffnet – durch den Aufstand der so genannten Kuruzzen (»Kreuzfahrer«) im österreichischen Teil Ungarns eingeleitet, der gegen die habsburgische Herrschaft ausbrach. Dies verursachte eine für die christliche Koalition später verhängnisvolle Gegenreaktion, denn folglich marschierte 1683 ein 200 000 Mann starkes türkisches Heer unter dem Großwesir Kara Mustafa fast unbehelligt bis vor Wien und belagerte die österreichische Hauptstadt, aus der der kaiserliche Hof geflohen war. Die Eingeschlossenen vermochten unter dem Stadtkommandanten Ernst Rüdiger Graf von Starhemberg der Belagerung zwei Monate lang standzuhalten, bis ein Entsatzheer heranrückte. Die akute Gefahr führte die große Mehrheit der Reichsfürsten und darüber hinaus, vor allem unter dem Einfluß des Papstes, den mit Frankreich verbündeten polnischen König Johann Sobieski an die Seite des Kaisers. […] Besondere Verdienste erwarb sich neben ihnen und dem mit dem Oberbefehl beauftragten König von Polen der kaiserliche Feldherr Herzog Karl V. von Lothringen. Das den Türken zahlenmäßig unterlegene Entsatzheer befreite Wien am 12. September 1683 mit dem Sieg am Kahlenberge.54

Entscheidend für den Ausgang der Schlacht im September 1683 war – was in der oben zitierten Textpassage deutlich zum Vorschein kommt – die enge Kooperation zwischen den christlichen Ländern, auch wenn in polnischer Wahrnehmung vor allem dem König Jan III. Sobieski die erstrangige Rolle zugeschrieben wird. Die Verbündeten selbst und ihre Anführer – was man auch heutzutage bei der Analyse der in den Schulbüchern forcierten Darstellungsmuster feststellen kann – werden häufig im Zusammenhang mit der Schlacht um Wien nicht einmal explizit genannt.55 Vor diesem Hintergrund muss man ebenso darauf verweisen, dass obwohl die legendenbildenden Potentiale in Polen und in Deutschland bzw. Österreich sich ganz unterschiedlich gestalten und verteilen, erstreckt sich die

54 Müller, Helmut M.: Deutsche Geschichte in Schlaglichtern. Leipzig / Mannheim: F. A. Brockhaus 2004, S. 114. 55 Im Geschichte-Lehrwerk für die polnischen Oberschulen von Tadeusz Cegielski und Katarzyna Zielin´ska aus dem Jahre 1991 – um nur eins der Beispiele zu nennen – wird nicht nur die Abbildung des erfolgreichen Angriffs des polnischen Königs Jan III. Sobieski abgedruckt, es erscheint darin auch eine längere Notiz über den sich aus der Schlacht ergebenden Ruhm des polnischen Monarchen, der als Verteidiger des Christentums dargestellt wird. Nur am Rande wird ein Kommentar hinzugefügt – was ein affektives Potenzial der Darstellung wesentlich erhöht – dass in der längeren Zeitperspektive ausschließlich die Habsburger aus dem Kriege gegen die Türken profitierten, und zwar angesichts des Umstands, dass sie nach dem Rückzug der türkischen Armee zwei Provinzen – Ungarn und Siebenburg – annektierten. Vgl. Cegielski, Tadeusz / Zielin´ska, Katarzyna: Historia. Dzieje nowoz˙ytne. Podre˛cznik dla szkół ´srednich klasy II liceum ogólnokształca˛cego [Geschichte – Neuzeit. Lehrwerk für 2. Klasse des Lyzeums] Warszawa: Wydawnictwa Szkolne i Pedagogiczne 1991, S. 185.

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Darstellung der akuten Türkengefahr für Europa des 17. Jahrhunderts auch auf andere Länder.56 Die Anwesenheit der türkischen Gefahr für Europa hatte auch einen unmittelbaren Einfluss auf die Gestaltung von deutsch-französischen Beziehungen, insbesondere auf die Politik Ludwigs des XIV. Da die Türken in den letzten zwei Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts geschlagen wurden, beschloss der französische König im September 1688, das Reich ohne Kriegserklärung zu überfallen, um es – solange die Türken noch im Felde standen – zur endgültigen Abtretung sowie zur Anerkennung angeblicher Machtstellung seines Bruders, des Herzogs von Orleans, auf die Pfalz zu zwingen.57 Nach der erfolgreichen Verdrängung der Türken aus den Gebieten, die den Habsburgern zugehörig waren, veränderte sich gleichzeitig die Wahrnehmung des ehemalig verhassten politischen Feindes. Dies spiegelte sich auch auf der kulturellen Ebene wider; auch wenn die europäischen Gelehrten lange Zeit daran nicht interessiert waren, die arabischen Studien aus dem Bereich der sacra philologia herauszuführen – und zwar wegen der Abneigung und Vorurteilen gegenüber der arabisch-islamischen Kultur und Geschichte – kann man am Anfang des 18. Jahrhunderts schon erste Anzeichen der Relativierung und Veränderung des Fremdenbildes erkennen.58 Früher war die Annäherung nicht möglich u. a. wegen der Folgen von christlichen Missionsbestrebungen, die noch auf die Zeit des Mittelalters zurückzuführen sind, und auf der anderen Seite wegen der Tatsache, dass die politische Macht islamischer Staaten am Rande des Mittelmeers und auf dem Balkan bis ins 17. Jahrhundert hinein als Bedrohung empfunden wurde. Erst im 18. Jahrhundert begann sich die Situation gründlich zu wandeln, »als der Machtverfall des Osmanischen Reiches immer offenkundiger wurde und die Ideen der Aufklärung den entscheidenden Anstoß zur endgültigen Säkularisierung auch der arabischen Studien gaben.«59 56 So wird sie in der Monographie von Veit Valentin beschrieben: »Die neue Köprülü-Dynastie der Großwesire erstrebte eine staatliche Erneuerung des Ottomanischen Reiches auf dem Wege expansiver Außenpolitik. 60 000 Mann marschierten in Ungarn ein (1663); der Türkenschrecken erschütterte die Slowakei und Mähren, auch im Innern Deutschlands schmetterte wieder die Türkenglocke durchs Land.« Valentin, Veit: Geschichte der Deutschen. Von den Anfängen bis 1945. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1993, S. 220. 57 Vgl. Ranke, Leopold von: Aus zwei Jahrtausenden deutscher Geschichte. Leipzig: Karl Robert Langewiesche Verlag 1924, S. 201–202. 58 Vgl. Fück 1981, S. 9. 59 Ebd. Die beste geographische Abhandlung des 18 Jh., worauf Smail Balic´ verweist, »übersetzte über Veranlassung des damaligen osmanischen Gouverneurs von Belgrad der Dolmetscher Otma¯n ibn Abdalmanna¯n. Das ist die von Bernards Verenius, gest. 1650, verfaßte Geographia ˙ generalis, die laut der allgemeinen Deutschen Biographie eine vollständige Revolution hervorgebracht und das Angesicht dieser Wissenschaft umgestaltet habe.« Balic´, Smail: Europäer als Gestalter orientalischer Literaturen. In: Mazal, Otto (Hrsg.): Kultur des Islam. Wien: Österreichische Nationalbibliothek 1981, S. 31–47, hier S. 39.

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Im 18. Jahrhundert kam es also wiederum zu regen Kontakten und zum Kulturaustausch zwischen der westlichen und islamischen Welt. Es entstand auch eine vieldimensionale Kooperation, die – im Gegensatz zu vorigen Jahrzehnten – keinen militanten bzw. feindlichen Charakter hatte. Dies belegen auch die nacheinander folgenden historischen Ereignisse: 1761 wurde der Freundschaftsvertrag zwischen dem Osmanischen Reich und Preußen unterschrieben, 1798–1801 fanden französische Expeditionen unter Napoleon Bonaparte nach Ägypten statt, deren Erkenntnisse den Europäern gleichzeitig ermöglichten, die arabische Welt besser kennen zu lernen. Auch für Österreich war das eine bahnbrechende Zeit; die unmittelbare Nachbarschaft mit dem Osmanischen Reich, mit dem das Habsburgische Kaiserreich äußerst ausgedehnte Grenzen gemeinsam hatte, brachte einen regen Verkehr mit sich. Wie für Frankreich, Russland und die Republik Venedig, worauf Arthur Breycha-Vauthier aufmerksam macht, ergab sich auch für Österreich das Bedürfnis nach geeigneten Organen für schriftliche und mündliche Verständigung mit der Hohen Pforte. Dies war auch »der Ursprung der Orientalischen Akademie – zunächst Academie der morgenländischen Sprachen genannt – an deren Spitze die Kaiserin [Maria Theresia] 1754 über Antrag des großen Kaunitz den Pater Josef Franz bestellte.«60 Die sozialpolitische Situation und die Machtverhältnisse in Europa – auch im Zusammenhang mit den Beziehungen zwischen dem Orient und Okzident – waren langfristig nicht konstant und veränderten sich naturgemäß bedeutend auch im 19. Jahrhundert. In vielen Ländern des Alten Kontinents ließen sich nämlich die Folgen der sog. »Orientkrise« bemerken und sie selbst hatte einen unmittelbaren Einfluss auf die Entwicklung der gemeinsamen Politik der europäischen Staaten. Dazu kommt noch der Umstand, dass antitürkische Aufstände in Bosnien, Herzegowina und Bulgarien bereits längere Zeit andauerten, als im Sommer 1876 Serbien und Montenegro unerwartet dem Sultan den Krieg erklärten. Vor diesem Horizont kann es nicht verwundern, dass die damaligen europäischen Großmächte die Kriegshandlungen im Balkan mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgten. Im Zentrum der Betrachtung standen schließlich die Interessen Russlands, Österreich-Ungarns und Englands. Ihr Versuch jedoch, die Hohe Pforte zu Reformen in den Balkanprovinzen zu zwingen, scheiterte an der Ablehnung durch den Sultan, der insgeheim vor allem der englischen Unterstützung so gut wie sicher war.61 60 Breycha-Vauthier, Arthur: Eine Stiftung Maria Theresias: Die orientalische Akademie Pflanzschule der morgenländischen Sprache. In: Mazal, Otto (Hrsg.): Kultur des Islam. Wien: Österreichische Nationalbibliothek 1981, S. 49–66, hier S. 52. 61 Vgl. Bach, Hans / Canis, Konrad / Felber, Roland (et al.): Übergang zum Imperialismus und Vorabend der proletarischen Revolution. In: Kossok, Manfred (Hrsg.): Allgemeine Geschichte der Neuzeit 1500–1917. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften 1986, S. 354–471, S. 401.

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Die Situation im Balkan in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfestigte nur die größtenteils schon etablierten Antagonismen zwischen Europa und der Hohen Pforte. Folglich wurden die Christen von den Muslimen noch deutlicher als Träger des Kolonialismus gesehen; so wurde z. B. die französische Protektion betrachtet, unter der die Christen im Nahen Osten standen. Dies stellte sich schließlich als nicht unbedeutend für die künftige verhängnisvolle Konfrontation während des Ersten Weltkriegs heraus, als die türkischen Muslime etwa 1 500 000 Christen ermordeten.62 Das 19. Jahrhundert ist aus dem Blickwinkel der Migrationsproblematik auch aus anderen Gründen von Bedeutung. Infolge der Revolutionen von 1830/31 und 1848/49 entstand eine neue historische Figur, nämlich der politische Exilant, was dazu führe, dass in mehreren westeuropäischen Staaten sowie in den USA ein Recht auf Asyl eingeführt wurde.63 In diesem Zusammenhang rückt auch ein anderer Umstand ins Zentrum der Betrachtung, dieser nämlich, dass selbst Polen und Deutschland im 19. Jh. ein gemeinsamer Migrationsaspekt verband, wenn man bedenkt, dass sich im Ruhrgebiet neben ungefähr 4 Millionen Deutschen etwa 400 000 Menschen polnischer Herkunft niederließen, die allerdings keine einheitliche Gruppe, sondern eine bunte Ansammlung von Auswanderern aus verschiedenen Provinzen bildeten: Die »Ruhrpolen« waren in sich ebenso heterogen wie die deutschen Binnenmigranten (das kollektivierende »die« ist immer eine Vereinfachung, die man leider schwer umgehen kann). Die Polen stammten aus dem preußischen Teilungsgebiet, aus Schlesien, der Kaschubei und Masuren, teilweise aus Galizien und dem russischen Teilungsgebiet, sie waren überwiegend, aber nicht ausschließlich katholisch und sie sprachen unterschiedliche Dialekte. […] Die Ruhrpolen waren gleich aus drei Gründen Außenseiter: wegen ihrer Armut und meist bäuerlichen Herkunft, ihrer Sprache (bzw. ihren Sprachen) und nicht zuletzt ihrer Konfession.64

Wie das 19., so brachte auch das 20. Jahrhundert eine radikale Veränderung der Migrationsumstände mit sich. Paul Collier hebt in der Publikation Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen den Umstand hervor, dass schon nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs die meisten europäischen Länder ihre Grenzen für ein halbes Jahrhundert schlossen und Kriege sowie Wirtschaftskrisen in der Zeitperiode 1914–1945 die Migration weitestgehend behinderten. Folglich waren die Einwanderer einerseits in den meisten Ländern wegen der wirtschaftlichen Lage unwillkommen,65 andererseits trug die politische Situation zur nationalistisch und ethnozentrisch gerichteten Radikalisierung der Gesell62 63 64 65

Vgl. Kos´cielniak 2005, S. 9. Vgl. Ther 2017, S. 12. Ebd., S. 287. Vgl. Collier 2015, S. 33.

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schaften und – in weiterer Folge – zum wachsenden Einfluss von solchen Ideologien, wie Faschismus und Nationalsozialismus bei. Die Lebendigkeit der fremdenfeindlichen Anschauungen und Verhaltensweisen, die sich insbesondere gegen die Zugewanderten und Geflüchteten wendete, war noch in den 1960er Jahren spürbar. Auch zu dieser Zeit – ungeachtet der Tatsache, dass die Mobilität der Europäer damals immer größer wurde – lebten die meisten Menschen unverändert in dem Land, in dem sie geboren wurden. Eine solche Situation brachte zweifelsohne gravierende negative wirtschaftliche Konsequenzen mit sich, denn »in diesem halben Jahrhundert der Unbeweglichkeit fand in der Wirtschaft eine dramatische Veränderung statt und zwischen den einzelnen Ländern tat sich eine sichtbare Einkommenskluft auf.«66 Migrationskrisen und massive Vertreibung der zivilen Bevölkerung nach 1945 verbanden unerwartet – auch wenn es als Paradox erscheinen mag, zumindest wegen des Verlaufs des Zweiten Weltkriegs – Polen und Deutschland. Zweifelsohne fällt die größte Intensivierung der Flucht und Evakuierung in beiden Ländern auf das Jahr 1945. Dazu kommt noch der Umstand, dass die Kriegshandlungen, insbesondere die Winteroffensive der Roten Armee, von extremen Wetterverhältnissen – vor allem von überdurchschnittlich niedrigen Temperaturen – begleitet wurde. Dies hatte zur Folge, dass die Flucht der Deutschen aus Ostpreußen, Westpommern und Schlesien unter dramatischen Umständen erfolgte; viele Flüchtlinge starben an Hunger, Kälte und Erschöpfung. In wenigen Wochen – noch vor dem Beginn der russischen Besatzung, neuer Grenzziehung und Einführung der polnischen Verwaltung in den »wiedergewonnenen Gebieten« – verließen mehr als 7 Millionen Deutsche die östlichen Provinzen des Deutschen Reiches.67 Wenn man den Ursachen der heutigen »Flüchtlingskrise« genügend Aufmerksamkeit schenkt, kommt man rasch zu der Überzeugung, dass nicht nur Europa und andere wirtschaftlich und technologisch entwickelte Regionen der Welt daran direkt oder indirekt mitbeteiligt sind. Auch der Blick auf Afrika und auf den Weg zahlreicher Staaten des Schwarzen Kontinents von der Kolonialgeschichte bis zur Unabhängigkeit, macht die Annahme legitim, dass die Entwicklung dieser Weltregion nicht ohne Einfluss auf die gegenwärtigen Migrationsprozesse bleibt. Dabei spielt auch die Wahrnehmung der sich über Jahrhunderte erstreckenden Ausbeutung ehemaliger Kolonialgebiete durch auswärtige Profiteure in Kooperation mit kleptokratischen einheimischen Führungseliten eine bedeutende Rolle.68 66 Vgl. ebd., S. 33. 67 Vgl. Skubiszewski, Krzysztof: Zachodnia granica polski w ´swietle traktatów [Die polnische Westgrenze im Lichte der Verträge]. Poznan´: Instytut Zachodni 1975, S. 56. 68 Vgl. Bade, Klaus J.: Einwanderungsgesellschaft in der ›Flüchtlingskrise‹. HSR Supplement 30, 2018, S. 351–352.

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Wenn man also nach Ursachen der heutigen massiven Migration nach Europa sucht, dann erscheint – gemäß der von Klaus Bade aufgestellten These – auch sinnvoll, die Formel »The Empire strikes back« (»Das Imperium schlägt zurück«) zu berücksichtigen.69 Besonders deutlich offenbart sich eine solche Deutung und Erklärung der sog. Flüchtlingskrise in Bezug auf Großbritannien und zwar angesichts des Umstands, dass die neuen Flucht- und Arbeitsmigranten, die aus früheren Kolonialgebieten stammen, ihre Anwesenheit auf den britischen Inseln häufig mit dem Hinweis erklären: »We are here because you were there« (»Wir kommen zu Euch, weil Ihr zu uns gekommen seid!«).70 Schließlich wird die heutige Migration nach Europa, und das ist bestimmt keine vereinzelte Interpretation, sogar als ein umgekehrter Imperialismus verstanden, als Rache der einstmals Kolonisierten.71 Auf der anderen Seite, wenn man wiederum die deutsche Perspektive ins Zentrum der Betrachtung stellt, sieht man deutlich, dass nicht nur interkulturelle Zusammenhänge in Gestalt der Kolonialpolitik, sondern ebenso das Ausmaß und der zahlenmäßige Hintergrund der Migration von Bedeutung sind. Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur deutschen Wiedervereinigung im Jahre 1990 kamen – statistischen Angaben zufolge – rund 15 Mio. Vertriebene, Flüchtlinge, Aus- und Übersiedler nach Westdeutschland. Rein rechnerisch gesehen entspricht dies mehr als einem Viertel der deutschen Wohnbevölkerung im Westen am Vorabend der Vereinigung.72 Eine so massive Bevölkerungsverschiebung bleibt freilich nicht ohne Einfluss auf die heutige Wahrnehmung der Geflüchteten und Nicht-Einheimischen. In den historisch und sozialpolitisch fundierten 69 Vgl. ebd. 70 Vgl. ebd. 71 Vgl. Collier 2015, S. 17. Anders war allerdings die kollektive Wahrnehmung der massiven Flucht unmittelbar nach 1945. Man muss bedenken, dass als die außereuropäischen Kolonialimperien nach dem Zweiten Weltkrieg liquidiert wurden, verstand man das allgemein als Akt resignativer Staatspolitik. Die Befürchtung, und darauf macht Hans-Peter Schwarz aufmerksam, dass die Bewohner dieser Gebiete sich binnen kurzem in einer kaum kontrollierbaren Völkerwanderung auf den Weg in die Wohlhabenden, aber geschwächten Staaten Europas machen könnten, war zu dieser Zeit aber außerhalb jeder Vorstellung. Vgl. Schwarz, Hans-Peter: Die neue Völkerwanderung nach Europa. Über den Verlust politischer Kontrolle und moralischer Gewissheit. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2017, S. 11. Unabhängig davon – und dadurch erweitert man die Betrachtungsperspektive um die Beziehungen zwischen der christlichen und der muslimischen Welt – machte sich gerade nach dem Zweiten Weltkrieg die islamische Solidarisierung bemerkbar. Zu dieser Zeit erlebte ebenso der Panislamismus eine zu beachtende Wiederbelebung: »Er wurde, dies war neu, in großem Umfange zu einem Anliegen staatlicher Politik und zu einem Faktor bei der Gestaltung der internationalen Beziehungen. Politiker, die dem Islam verpflichtet waren, versuchten, mit panislamischen Projekten ihren Ländern einen größeren Bewegungsraum und ihren Bestrebungen verstärkt Resonanz zu verschaffen.« Robbe / Grzeskowiak / Heidrich / Höpp Gerhard (et al.) 1988, S. 179. 72 Vgl. Bade 1997, S. 11.

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Überlegungen hebt Bade positive Seiten der Migrationsprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg hervor: Wanderungen haben die Entwicklung von Bevölkerung und Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur in der neueren Geschichte Deutschlands in den verschiedensten Formen begleitet und bestimmt. Das gilt für Aus-, Ein- und Transitwanderungen, für Arbeitswanderungen von Deutschen ins Ausland und von Ausländern nach Deutschland ebenso wie für Fluchtwanderungen aus und nach Deutschland. Es gilt aber auch für Flucht- und Zwangswanderungen im von Deutschland besetzten Europa während des Zweiten Weltkriegs und für die größten Massenzwangswanderungen der europäischen Geschichte in Gestalt der Vertreibung der Deutschen aus dem Osten nach dem Zweiten Weltkrieg.73

Massive Migrationsbewegungen, wobei Deutschland in diesem Kontext wiederum ins Zentrum der Betrachtung rückt, werden regelrecht einer mehr oder weniger deutlichen Bewertung unterzogen. Positiv beurteilt den Migrationseinfluss und die Entwicklung der deutschen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg Marwan Abou Taam, der darauf verweist, »dass die Erfahrungen der »Deutschen« mit dem »Fremden« bei allen Rückschlägen doch zu einer stets zunehmenden gesellschaftlichen Liberalisierung geführt haben.«74 Der Autor der modernen pluralistischen Gesellschaft gewidmeten Publikation weist auch darauf hin, dass eine empirische Realität, die sich in Sprache, Kunst, Kultur, Politik, Wissenschaft und nicht zuletzt im gelebten Alltag feststellen lässt, sich durch die Begegnung mit dem Fremden in eine produktive Dynamik verwandeln kann. Und dies vor allem angesichts der Tatsache, dass Gesellschaften erst an wirtschaftlichen und demographischen Herausforderungen sowie deren Bewältigung wachsen und sich zivilisatorisch fortentwickeln.75 Nicht unbedeutend ist in dieser Hinsicht – wenn man zusätzlich die Geschichte beider deutschen Staaten nach 1945 als eine Vergleichsebene heranzieht – dass die alte Bundesrepublik, im Gegensatz zur DDR seit den 1950er Jahren, zu einer europäischen Drehscheibe im internationalen Wanderungsgeschehen geworden war. Sie hat aber, was die interne Dynamik der Ein- und Auswanderungsprozesse zeigt, »trotz des gewaltigen Überwiegens der Zuwanderungen über die Abwanderungen bzw. statistisch einzig erfaßten ›Zuzüge‹ über die ›Fortzüge‹ – nie gänzlich aufgehört, auch ein Land der Auswanderung zu sein.«76 In der DDR hingegen schufen die verordnete Ausgrenzung der Fremden 73 Ebd., S. 9. 74 Taam, Marwan Abou: Teilhabe und Beteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund als notwendige Bedingung für eine moderne pluralistische Gesellschaft. In: Diehl, Elke (Hrsg.): Teilhabe für alle?! Lebensrealitäten zwischen Diskriminierung und Partizipation. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2017, S. 206–230, hier 213. 75 Vgl. ebd. 76 Bade 1997, S. 9.

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und die öffentliche Tabuisierung ihrer Existenz ein soziales Vakuum. Folglich, so Bade, siedelten in der sowjetisch besetzten Zone Gerüchte und Argwohn, wucherten Misstrauen, Angst und Hass.77 Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Wolfgang Thierse sprach sogar rückblickend von einer ostdeutschen »Form der Apartheid«. Dies hatte zur Folge, dass in den Vereinigungsprozess die einander fremd gewordenen, aus politisch-ideologisch gegensätzlichen Erfahrungswelten stammenden Deutschen involviert waren, die neben vielen anderen ungelösten Fragen, auch unbewältigte Probleme im Umgang mit zugewanderten Fremden mit sich brachten.78 Heute, zu Beginn des dritten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, ist die neue Völkerwanderung nach Europa zu einer der wichtigsten sozialpolitischen Angelegenheiten geworden. Bildhaft schildert die gegenwärtige Lage Hans-Peter Schwarz, indem er gleichzeitig die europäische Flüchtlingspolitik eher skeptisch beurteilt und hierbei nicht nur auf unterschiedliche organisatorische Defizite verweist, sondern – um die Argumentation entsprechend zu belegen und zu verstärken – auch eine weit verzweigte historische Kontextualisierung anwendet: Hunderttausende, ja Millionen arabischer und afrikanischer Flüchtlinge strömen in die völlig überraschten, widerstandslosen und zum Teil – wie Deutschland und Schweden – sogar willkommensfreudigen Wohlfahrtsstaaten Europas. Aus den Tiefen des kollektiven Unterbewußtseins tauchen nun vage Erinnerungen an Invasionen auf, die vor Jahrhunderten in Europa Ängste und Alpträume ausgelöst hatten: der Hunnensturm und die Völkerwanderung räuberischer Germanenhorden ins Imperium Romanum, der Vorstoß siegesgewisser Araber über Spanien bis zur Loire, der Mongolensturm, das Vordringen der Türken übers Mittelmeer bis vor die Tore Wiens… Die Geschichte Europas ist auch eine Geschichte der Invasionen.79

Im Diskurs, der sich heutzutage um die Flüchtlingskrise entwickelt – und zwar nicht ohne Vermittlung von zahlreichen affektbeladenen medialen Berichten – wird immer deutlicher die Präsenz der unzufriedenen Gruppe der Kulturpessimisten und der »Multi-Kulti-Phobiker« vernehmbar.80 Sie umfasst nicht nur ältere, enttäuschte bzw. aufrichtig besorgte Menschen sowie kulturalistisch argumentierende Angst- und Wutbürger, sondern sie schließt an ihrem rechten Rand auch eine Minderheit von meist jüngeren xenophoben und kulturrassistischen Radikalen und Extremisten ein. Ihre Skepsis gegenüber globalen Prozessen und ihre äußerst kritische Einschätzung der Realität und des Alltags der kulturell immer vielfältiger werdenden Gesellschaften Europas und Deutsch77 78 79 80

Vgl. ebd., S. 18. Vgl. ebd. Schwarz 2017, S. 11. Vgl. Bade, Klaus J.: Von Unworten zu Untaten: Kulturängste, Populismus und politische Feindbilder in der deutschen Migrations- und Asyldiskussion zwischen ›Gastarbeiterfrage‹ und ›Flüchtlingskrise‹. HSR Supplement 30, 2018, S. 338.

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lands »prägt die zum kollektiven Leitbild erstarrte fiktive Erinnerung an eine vermeintlich kulturell homogene Gesellschaft, die es in Deutschland historisch nie gab.«81 Die Interpretationsweise prägen dabei moralische Einstellungen zur Einwanderung, die auf verwirrende Weise mit Ansichten zu Armut, Nationalismus und Rassismus verknüpft sind. Die aktuelle kollektive Wahrnehmung der Immigration ist ebenso von Schuldreaktionen auf verschiedene Verfehlungen geprägt, die sich in der Vergangenheit ereigneten.82

1.3

Sozialpolitische Impulse und ihre Wirkung auf die Entwicklung der »Flüchtlingskrise«

In historisch fundierten Überlegungen zur Flüchtlingskrise stellt Hans-Peter Schwarz eine provokante These auf, dass es im neuzeitlichen Europa bisher so gut wie keine Generation gegeben hat, »die nicht erfahren mußte, daß Wohlstand, Frieden und Sicherheit des eigenen Staates oder des gesamten Kontinents von außen bedroht sind.«83 In dieser Annahme wird auch betont, dass auch wenn sich Regierungen und Volk schon immer Fehleinschätzungen leisteten, dominierte dennoch in großen Teilen der Öffentlichkeit unverändert ein mehr oder weniger deutlich spürbares Gefahrenbewusstsein. Dieses ist – so der Autor der Publikation Die neue Völkerwanderung nach Europa – erst in den vergangenen Jahrzehnten verloren gegangen.84 Auch wenn die gerade angeführte These von Hans-Peter Schwarz – insbesondere der abschließende Gedanke – als weitestgehend kontrovers eingestuft werden kann, provoziert sie unabhängig davon die Beschäftigung mit dem Wesen des Gefahrenbewusstseins und veranlasst zur Fragestellung, wer die Geflüchteten überhaupt sind und in welchem Maße sie tatsächlich eine akute Gefahr für die Sicherheit der europäischen Empfangsländer mit sich bringen. Auf der anderen Seite erscheint gleichzeitig die Frage relevant, ob die Flüchtlinge tatsächlich als Vertreter der Fremdheit einzustufen sind, welche vorwiegend von sozialen Leistungen der westlichen Wohlstandgesellschaften »herbeigelockt« werden, und sich zugleich als Individuen oder Gruppen erkennen lassen, die zwar von sozialen Errungenschaften Westeuropas profitieren, sich dennoch – was ihnen

81 Ebd. 82 Eine rationale Diskussion über die Migrationspolitik ist hingegen, und darauf macht Paul Collier aufmerksam, »erst dann möglich, wenn dieses Knäuel an Motiven entwirrt ist.« Collier 2015, S. 21. 83 Schwarz 2017, S. 13. 84 Vgl. ebd.

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häufig vorgeworfen wird – an der Wohlstandsentwicklung in europäischen Zielund Gastländern nicht beteiligen wollen.85 Die pauschale Einordnung der Geflüchteten in die eingeengte Kategorie der künftigen passiven und unproduktiven Empfänger der sozialen Leistungen erscheint dennoch im Grunde genommen als eine verletzende und größtenteils realitätsfremde Vereinfachung. Ohne Zweifel setzt das Verlassen der eigenen Heimat – und diesen Standpunkt vertritt u. a. Paul Collier – entsprechende organisatorische Fähigkeiten voraus, schließlich ist die Flucht nach Europa in der Regel ein äußerst riskantes Unterfangen, das mit wochenlangen oder sogar monatelangen Vorbereitungen verbunden ist. Von daher ist jede einzelne Auswanderung, so der Autor der schon mehrmals zitierten Publikation Exodus, gleichzeitig »ein Triumph des menschlichen Geistes, des Muts und des Erfindungsreichtums, die nötig sind, um die von den ängstlichen Reichen errichteten bürokratischen Barrieren zu überwinden.«86 Unabhängig davon kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Geflüchteten – und dies wird durch mediale Berichterstattungen nur noch verstärkt – in ihren europäischen Zielländern auf eine äußerst vereinfachte, wenn nicht gar schematische Weise dargestellt werden. Besonders wirkmächtig ist zweifelsohne die voreilige Einordnung der aus Nordafrika bzw. aus dem Nahen Osten Zugewanderten in die Kategorie der potenziellen Terroristen.87 Dadurch werden sie regelrecht als akute Gefahr für europäische Gesellschaften und deren Bürger abgestempelt; eine solche Darstellungstendenz lässt sich in der Publikation Christentum und Islam von Krzysztof Kos´cielniak erkennen: Nach dem Attentat am 11. September haben viele Europäer eine schockierende Entdeckung gemacht: Islamische Terroristen nutzen demokratische Freiheiten des Westens aus, um sie zu vernichten. In diesem Kontext ähnelte der christlich-islamische Dialog den Höflichkeitsbegegnungen mit einem geringen Einfluss auf die Wirklichkeit. Es entstehen viele Fragen: Warum wurden die islamischen Terroristen in Westeuropa so 85 Der Vorwurf der sozialen Passivität und die Hervorhebung der niedrigeren zivilisatorischen Entwicklungsstufe der islamischen Länder erscheint allerdings als keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Eine abwertende und vorurteilshafte Darstellung der arabischen Welt ist auch in der Monographie von Richet präsent, der vor 100 Jahren konstatierte: »Alles in allem ist es nicht etwa viel, was wir den Arabern verdanken. Ihr Denken ist von weniger Tiefe als Eigenartigkeit, und unsere moderne Kultur schuldet ihnen allein dafür Dank, daß sie es gewesen sind, die damals den Untergang des griechischen Geisteslebens verhindert haben.« Richet 1920, S. 115. 86 Collier 2015, S. 17. 87 Den expansiven, wenn nicht gar militanten Charakter des Islam – was am Beispiel der historischen Entwicklung der muslimischen Religion gezeigt wird – beschreibt Richet vor dem Horizont diverser Entwicklungsprozesse: »Gleich in den ersten Jahren nach der Hedschra schlägt der Islam bereits genau die Richtung ein, die er später immer weiter verfolgen sollte: die Werbung für den Glauben durch die Waffen. Hiervon rührt eine ganz eigenartige Mischung von Plünderungs- und Bekehrungszügen her.« Richet 1920, S. 111.

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nachsichtig behandelt. Die Antwort ist klar: Das übermäßig liberale Recht begünstigte sie. Extremisten nutzten im Westen die allgemeine Toleranz aus und bei sich zu Hause verbreiten sie den Hass. Diejenigen Christen, die sich ihnen widersetzen, werden von ihnen erschreckt. Sie jagen nach jungen Immigranten, um ihnen eigene Ideen einzuprägen. Es ist überraschend, dass an den Attentaten auf WTC die Terroristen teilgenommen haben, die in Deutschland geschult wurden.88

Eine solche Interpretation der terroristischen Bedrohung trifft besonders auf Deutschland zu, auch wenn die Analyse von statistischen Angaben eher zu anderen Schlussfolgerungen führt. In Deutschland leben nämlich vier Millionen Muslime, von denen 45 Prozent deutsche Staatsbürger und 55 Prozent Staatsbürger aus unterschiedlichen Herkunftsländern sind. Die Experten schätzen, dass von dieser Zahl zirka 7.000 Menschen radikalisiert bzw. fanatisiert sind, und dies bezieht sich sowohl auf ausländische, als auch auf deutsche Muslime.89 Auch wenn die Zahl der als potentielle Bedrohung eingestuften Personen eher unauffällig bleibt (1,75 %), macht sie – unter Anwendung von entsprechenden, auf der Selektion des Informationsmaterials basierenden Darstellungsschemata – einen wirkungsstarken, beunruhigenden Eindruck. Eine solche Darstellung ist des Weiteren imstande, die ablehnende Haltung gegenüber den Geflüchteten zu generieren und sie demnächst auf dem Weg der medialen Vermittlung zu verstärken. Dahinter verbirgt sich gleichzeitig eine präzise konzipierte soziotechnische Strategie, die mit der affektiven Aktivierung einhergeht. Denn wenn Angst und Unbehagen unter den Bürgern erfolgreich erzeugt werden, dann wird auch die Forderung nach Einschränkung der Einwanderung und nach Zurückweisung von Asylsuchenden legitimiert.90 So wird der Prozess der medialen Mitwirkung und Mitverantwortung an der kollektiven Stigmatisierung – der gleichzeitig die kollektive Bildung von Fremdheitsvorstellungen in die Wege leitet – im Buch von Reinke de Buitrago dargestellt: Wenn Medienberichte täglich Bilder langer Wanderzüge von Geflüchteten zeigen, von in Booten ankommenden Geflüchteten oder gekenterten Booten, von Bedingungen in offiziellen und inoffiziellen Unterkünften, von Geflüchteten, die die EU-Außengrenze

88 Kos´cielniak 2005, S. 15. 89 Vgl. Treibel 2015, S. 86. 90 Vgl. Reinke de Buitrago 2018, S. 77. Dies wird auch durch eine sichtbar starke Exklusion begleitet, die häufig sogar auf der institutionellen Ebene erfolgt: »Direkte Diskriminierung in Form von rassistischen Kommentaren ist weniger relevant. Interessant sind die subtileren, häufig wohl auch unreflektierten Mechanismen: Statt Schülerinnen mit Migrationshintergrund zu unterstützen, ihnen auch etwas zuzutrauen und abzuverlangen, würden Lehrer sie in bester Absicht eines »kulturellen Verständnisses« schonen, unterfordern und dadurch ausschließen. Gomolla und Radtke zufolge raten Lehrer Einwandererkindern vom Besuch des Gymnasiums ab, da die Eltern ja sicherlich keine Nachhilfe bezahlen oder auch anderweitig ihr Kind nicht unterstützen könnten.« Treibel 2015, S. 106.

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und die eigene nationale Grenze überschreiten wollen, kann dies in Öffentlichkeiten für Unruhen sorgen und Politiker unter Handlungsdruck setzen.91

Vor dem Hintergrund der Effizienz der medialen Gestaltung von Fremdenbildern ist auch ein anderes Ereignis zu erwähnen, das lange Zeit für Schlagzeilen auf der ganzen Welt gesorgt hat und dessen Bedeutung für die Entwicklung der späteren »Flüchtlingskrise« evident ist, nämlich der sog. arabische Frühling im Nahen Osten. Die Geschehnisse aus den ersten Monaten des Jahres 2011 kann man – und diesen Standpunkt vertritt Jerzy Zdanowski – mit den europäischen Revolutionen aus dem 19. Jahrhundert vergleichen, die gegen Despotismus und Ungerechtigkeit gerichtet waren. Menschen, die 2011 auf den Straßen der arabischen Städte für mehr Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit protestierten, waren häufig nicht nur von politischen Machtverhältnissen in ihren Heimatländern desillusioniert, sondern wandten sich spontan gegen die soziale Not, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und Perspektivlosigkeit. Besonders frustrierend und irritierend war hierzu für die Mehrzahl der protestierenden Bürger der paradoxe Umstand, dass obwohl der Nahe Osten und Nordafrika über 66 % der Weltressourcen des Erdöls verfügen, gehören sie ungeachtet dessen zu den ärmsten Regionen der Welt.92 Im Nahen Osten hat die Armut dabei einen strukturellen Charakter, was bedeutet, dass sie von Generation zu Generation übergetragen wird.93 Nicht ohne Bedeutung ist des Weiteren der kulturelle und zivilisatorische Hintergrund, sowie einige aus der europäischen Perspektive ungewöhnliche Verhaltensmuster und die mangelnde Beachtung von Menschenrechten. Selbst eine einleitende Analyse von Daten der Organisation »Internationale Solidarität der Christen« genügt für die Feststellung, dass die Lage der zivilen Bevölkerung in muslimischen Ländern Afrikas exorbitant schwierig ist.94 Hinzu kommen auch bedeutende sittliche Aspekte, insbesondere die unproportionierte Verteilung der gesellschaftlichen Rollen und Privilegien in Bezug auf Geschlechter, was in der Publikation Welt des Islam explizit veranschaulicht wird:

91 Reinke de Buitrago 2018, S. 72. 92 Vgl. Zdanowski, Jerzy: Stosunki mie˛dzynarodowe na Bliskim Wschodzie w XX wieku [Internationale Beziehungen im Nahen Osten im 20. Jahrhundert]. Kraków: Oficyna Wydawnicza AFM 2012, S. 373. 93 Die Ursache liegt u. a. in mangelnden Produktionsmitteln. In den Agrargebieten Ägyptens – um eins der Beispiele zu nennen – gehörte Ende der 1990er Jahre 70 % der Ackerfelder einer zahlenmäßig kleinen Schicht von Großgrundbesitzern, die sich aus einer Gruppe von nicht mehr als 20 % der in Landwirtschaft Beschäftigten rekrutierten. Vgl. ebd. 94 Nur im Nordsudan wurden in den letzten Jahren über 25 000 Kinder aus der Südregion des Nubagebirges für etwa 15 Dollar pro Person verkauft. Der Menschenhandel ist allerdings nicht das einzige Problem dieser Region, wenn man bedenkt, dass die Berge in der kriegsbesetzten Provinz mit Massengräbern bedeckt sind. Vgl. Kos´cielniak 2005, S. 15.

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Fremdheit und Migration aus sozialer, politischer und historischer Perspektive

Die Frau ist in der islamischen Welt weithin noch dem Mann untergeordnet. Das liegt primär an den sozialen Verhältnissen, die es nur wenigen Mädchen gestatten, eine dem Mann ebenbürtige Ausbildung zu genießen und einen entsprechenden Beruf zu ergreifen und auszuüben. Doch zugleich wird dieser Zustand durch überkommene Traditionen konserviert. Im vorislamischen Arabien hatte der Vater das Recht, ein neugeborenes Mädchen lebendig zu begraben. Muhammad und der Islam haben, verglichen mit dieser Zeit, eine Besserstellung der Frau durchgesetzt.95

Fremd, wenn man die westeuropäischen Standards als eine Bezugsebene heranzieht, kann darüber hinaus die Institution der Ehe in islamischen Ländern vorkommen, wenn man bedenkt, dass die eheliche Verbindung zwischen Mann und Frau gemäß islamischem Recht auf einem privatrechtlichen Vertrag beruht, der vom Bräutigam und einem männlichen Vertreter der Braut in Gegenwart von zwei männlichen Zeugen unterschrieben wird. Der Mann – in der Beziehung sichtbar privilegiert – erhält die Rechte eines Ehemannes allerdings erst gegen Zahlung eines »Brautgeldes«, dessen Höhe Bestandteil des Vertrages ist.96 Obwohl der Mann im Allgemeinen zum Unterhalt der Frau verpflichtet ist – und zwar entsprechend ihrem bisherigen Lebensstandard – gilt dies eher nur bedingt im Falle, wenn er mehrere Frauen heiratet (und er darf insgesamt bis zu vier nehmen). Unabhängig davon ist er dazu verpflichtet, alle Frauen gleich zu behandeln. Des Weiteren kann im Ehevertrag festgelegt werden, ob er die Zustimmung seiner Frau zu einer weiteren Heirat benötigt. Was die islamische Ehe von den europäischen Vorstellungen der Beziehungen zwischen den Ehepartnern bedeutend unterscheidet, ist auch der Umstand, dass die Frau dem Manne – gemäß dem Ehevertrag – Gehorsam schuldig ist. Folglich kann er ihr nicht nur verbieten, das Haus zu verlassen und ohne mit Schleier in der Öffentlichkeit zu erscheinen, er kann ihr auch untersagen andere Männer – außer Familienangehörige – bei sich zu empfangen.97 Die Wahrnehmung der gerade genannten sittlichen Aspekte innerhalb der arabischen Welt bleibt in Europa freilich nicht ohne Einfluss auf Vorstellungen und Reaktionen, die unmittelbar mit der sog. Flüchtlingskrise in enger Verbindung stehen. Angesichts des Umstands, dass das massenhafte Erscheinen der Vertreter der im Grunde genommen als fremd betrachteten Kultur in vieler Hinsicht als eine strukturelle Weltkrise eingestuft werden kann – die übrigens nicht nur mit der Flucht aus den Kriegsgebieten zusammenhängt, sondern sich auch mit der Zunahme von »Klimaflüchtlingen« nur noch vervielfältigt – kann

95 Robbe / Grzeskowiak / Heidrich / Höpp Gerhard (et al.) 1988, S. 203. 96 Vgl. ebd. 97 Vgl. ebd.

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eine bloße kurzfristige Abwehr bzw. andere provisorischen Maßnahmen, als keine endgültige und dauerhafte Lösung eingestuft werden.98 Wenn man die mit der gegenwärtigen Migrationskrise verbundenen Geschehnisse aus den letzten Jahren einer genaueren Analyse unterzieht kommt man auch zu der Überzeugung, dass die »Flüchtlingskrise« bestimmt auch ihre interne Dynamik hat. Die Aussonderung einer einzigartigen Periodisierung schlägt diesbezüglich Hans-Peter Schwarz vor: »Momentan befindet sich die Europäische Union in einer Atempause« – schreibt der Autor der Publikation Völkerwanderung nach Europa – »Nach Sperrung der Balkanroute und dem labilen Abkommen mit der Türkei im Frühjahr 2016 ist sozusagen der erste Aufzug, erste Szene, der neuen Völkerwanderung beendet.«99 Gleichzeitig aber zieht der Autor eine eher pessimistische Bilanz, die sich vor allem auf die zu erwartende Entwicklung und Dynamisierung von Migrationsprozessen in der nächsten Zukunft bezieht: »Inzwischen wissen wir Bescheid: Eine erste Lawine hat sich bereits in Bewegung gesetzt – und die Europäische Union ist in ihren Sog geraten. Weitere werden wahrscheinlich folgen.«100 Die sich verändernde Dynamik der Flüchtlingskrise zieht ebenso unterschiedliche Reaktionen der europäischen Länder auf der politischen Ebene nach sich. Vor allem wird heftig darüber gestritten und debattiert, ob diejenigen EULänder, die keine Geflüchteten aufnehmen und ihnen Asyl gewähren wollen, zur Entlastung derjenigen Staaten, die dies tun, Ausgleichszahlungen leisten müssten. Ein Umstand allerdings, der die lange Zeit überhitzte Debatte gewissermaßen milderte, war die Tatsache, dass die Zahl der Geflüchteten im Sommer 2016 im Vergleich zum Sommer 2015 deutlich abnahm, weswegen zumindest zu dieser Zeit im politischen Diskurs seltener Fragen nach der Lastenverteilung geäußert wurden.101 Aus der Zeitperspektive sieht man aber ganz deutlich, dass trotz internationaler Abkommen – das sog. Flüchtlingsdeal mit der Türkei gilt hierfür als ein Musterbeispiel – das Problem mit der Aufnahme, Verteilung, bzw. Zurückweisung von Geflüchteten bisher durchaus nicht gelöst wurde. Ungeachtet der oben genannten politischen Hintergründe bleibt aber unverändert die Frage aktuell, wie der Alte Kontinent – gemeint sind vor allem die EU-Staaten – heutzutage auf die neuzugewanderten Muslime und Geflüchteten 98 Vgl. Bade 2018a, S. 352. Nicht ohne Bedeutung ist in diesem Zusammenhang einerseits die voranschreitende globale Militarisierung, andererseits die Wirkung des Klimawandels: »Dazu gehören krisenverschärfende oder sogar krisenauslösende bewaffnete Interventionen wie zum Beispiel in Libyen oder im Irak und schließlich auch die immer verheerenden Folgen der Klimaveränderungen, deren Verursacher ebenfalls nicht in den davon am meisten betroffenen Regionen leben.« Ebd. 99 Schwarz 2017, S. 16. 100 Ebd., S. 19. 101 Vgl. Reinke de Buitrago 2018, S. 74.

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aus islamischen Ländern reagiert. Laut einer Studie des »Pew Research Centers« vom Juli 2016 vertritt eine große Mehrheit der Europäer den Standpunkt, »dass sich Muslime im Allgemeinen nicht in die Gesellschaft ihrer neuen Heimat integrieren wollen, sondern lieber abgrenzen möchten.«102 In einem Atemzug werden hierbei auch konfessionelle und zivilisatorische Unterschiede genannt. Besonders deutlich zeigt sich diese Darstellungstendenz in der polnischen Publizistik, was am Beispiel der schon oben zitierten Publikation Christentum und Islam. Perspektive und Probleme des Dialogs von Krzysztof Kos´cielniak gezeigt werden kann: Die Europäer können daran kaum glauben, dass in der Welt die Sklaverei gegen Schulden, Zwangsarbeit und Kinderprostitution noch üblich sind. Viel schwieriger ist es daran zu glauben, dass es in dem moslemischen Teil Afrikas noch Sklaverei gibt. Dieses Unwesen wird noch im Sudan und Mauretanien, also in den Ländern der arabischafrikanischen Teilung, getrieben. Ein Mensch kann in diesen Staaten – mit Akzeptanz des moslemischen Rechtes – zum Eigentum eines anderen Menschen werden, er kann gekauft oder verkauft, ausgetauscht, geerbt, gebrandmarkt werden, vergewaltigt, um dem neuen »Herrn« Kinder zu gebären.103

Eine äußerst kritische Darstellung der arabischen Welt in zahlreichen Publikationen und in europäischen Medien verändert aber nicht viel an der Tatsache, dass Europa nach wie vor als ein attraktives Migrationsziel wahrgenommen wird, weil der Kontinent – wie es Marwan Abou Taam etwas provokant formuliert – teils dicht bevölkert, überaltert und demographisch geschwächt ist. Außerdem erscheint die Attraktivität der europäischen Wohlfahrtsstaaten104 – was schon ansatzweise erwähnt wurde – als ein zusätzlicher positiver Faktor, auch wenn der Zugang dorthin erschwert ist und die Aufnahmebereitschaft und objektive Aufnahmefähigkeit der europäischen Länder weitestgehend begrenzt sind.105 Vor dem Hintergrund der soeben genannten Umstände soll man sich dennoch der Tatsache nicht verschließen, dass obwohl die Geflüchteten aus der sog. armen Welt mit bestimmten Erwartungen in die reichen Regionen Europas kommen, »doch treffen sie dort keineswegs überwiegend auf Reiche, ganz im Gegenteil. In 102 Ebd., S. 76. 103 Kos´cielniak 2005, S. 14. 104 Außer den wirtschaftlichen Aspekten erscheint auch die Religionsfreiheit in Europa als ein bedeutender Faktor, der die Asylsuchenden auf den Alten Kontinent zieht. Ausgerechnet dieser Umstand lässt sich am Beispiel Deutschlands exemplarisch zeigen: »Neben dieser ethnischen Vielfalt existiert in Deutschland auch eine religiöse Vielfalt. Diese religiöse Vielfalt ist ein weiteres Strukturelement einer pluralistischen Gesellschaft, die der Religionsfreiheit eine zentrale Bedeutung beimisst. Sie gesteht Anhängerinnen und Anhängern von Glaubensüberzeugungen das Recht zu, einen religiösen Glauben zu haben, sich dazu zu bekennen, diesen im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung auszuüben und somit ihr gesamtes Leben an religiösen Geboten auszurichten.« Taam 2017, S. 207. 105 Vgl. Schwarz 2017, S. 15.

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der reichen Welt weitet sich ebenfalls die Kluft zwischen Reich und Arm.«106 Und eben diese soziale, politische und wirtschaftliche Polarisierung in Europa verursacht, dass nationale Grenzen innerhalb der EU – auch innerhalb des Schengen-Raumes – wieder einen Bedeutungszuwachs erfahren. Reinke de Buitrago vertritt sogar den Standpunkt, dass nationale Grenzen in der Ära der Migrationskrise nicht nur mehr Wertschätzung erhalten, sondern wie seit langem nicht mehr, stärker verteidigt werden.107 Die Abgrenzungen entstehen aber nicht nur im Zusammenhang mit administrativen Trennlinien, sondern vor allem auf der breit verstandenen mentalen und kulturellen Ebene. An dieser Stelle erscheint es ratsam, erneut die Frage zu stellen, welche Bilder in Bezug auf die Geflüchteten unter den Bürgern Europas entstehen und welche politischen Maßnahmen sich in diesem Kontext als wirkungsstark erweisen? Dänemark, um ein Beispiel zu nennen, »reagierte mit einer erschwerten Einreise für Asylsuchende, indem es Anreize verringerte und Sanktionen für mangelnde Integrationsbemühungen verstärkte.«108 Auch in Deutschland lässt sich eine starke Polarisierung bezüglich der Aufnahme von Geflüchteten erkennen: Brennende Hilfsbereitschaft gegenüber Geflüchteten, wie es Bade formuliert, stieß rasch »auf brennende Dachstühle von Erstaufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge und Asylsuchende.«109 Folglich erscheint Deutschland vielen ausländischen Beobachtern in der Konfrontation mit dem Andrang von Geflüchteten »als ein rätselhaftes, zwischen herzlicher Zuwendung und brutaler Abwehr gespaltenes Land.«110 Noch kritischer ist die Lage in Polen, wo die Aufnahme von arabischen bzw. muslimischen Geflüchteten nicht nur von politischen Eliten, sondern ebenso von breiten Schichten der Bevölkerung kategorisch abgelehnt wurde. Die Feindlichkeit gegenüber den Geflüchteten und Asylsuchenden widerspiegelt sich gleichzeitig auch in einer anderen Art der symbolischen Gewalt, nämlich in der mehr oder weniger direkten Stigmatisierung der Fremden. Es ist doch ganz offensichtlich, dass die Geflüchteten auf dem europäischen Arbeitsmarkt regelrecht diskriminiert werden. Die Arbeiten, die viele Einwanderer verrichten müssen, nennt man nach Anderson ›3-D jobs‹: »Das sind Tätigkeiten, die dirty – dangerous – demanding, also schmutzig, gefährlich und anstrengend 106 Schuhler, Conrad: Die Große Flucht. Köln: PapyRossa Verlag 2017, S. 50. »Selbst auf dieser Grundlage kommt das Statistische Bundesamt zu dem Ergebnis, dass die reichsten zehn Prozent der Haushalte über 51,9 % des gesamten Netto-Vermögens verfügen.« (Ebd.) Außerdem weist der Autor der soeben genannten Publikation darauf hin, dass vor der Zuerkennung von Sozialleistungen jeder Vierte armutsgefährdet ist, bei der Einkommensgrenze von 11.840 Euro jährlich hingegen jeder Sechste. Vgl. ebd. 107 Vgl. Reinke de Buitrago 2018, S. 73. 108 Ebd., S. 80. 109 Bade 2013a, S. 355. 110 Ebd.

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sind. Salopp ausgedrückt, delegieren die Einheimischen die Knochenarbeit an die Migranten und machen sich selbst die Finger nicht mehr schmutzig.«111 Dies begünstigt auch das Entstehen eines weiteren Prozesses, der sich vor allem in Form einer sichtbaren sozialen Hierarchisierung offenbart: Die Platzierung in der sozialen Hierarchie wird nicht nach dem erworbenen Status – Qualifikation und Leistung – vorgenommen, wie moderne Gesellschaften es von sich behaupten, sondern nach dem zugeschriebenen Status – nach Herkunft und Nationalität, wie in traditionalen Gesellschaften. Einwanderer und ihre Nachkommen rücken also vielfach auf die Plätze in der sozialen Hierarchie ein, die die Längeransässigen übrig lassen. Insofern würde sich das Bild von den »armen und unqualifizierten Ausländern« bestätigen.112

Vor diesem Horizont wundert nicht das Postulat von Diana Carolina Tobo, welche den Standpunkt vertritt, dass die Integration von Neuankömmlingen mit dem demokratischen System und seinen Versprechen sowie mit einer freien Selbstbestimmung in Einklang gebracht werden müsste.113 Auch Bade postuliert eine weitestgehend veränderte Einstellung gegenüber den Geflüchteten, denn nichts ist für die stille fundamentalistische Allianz der Extremisten jedweder Provenienz lähmender, als die Konfrontation mit einem in seinem demokratischen Grundkonsens selbstbewussten und nötigenfalls auch streitbaren Gemeinwesen, zu dessen Grundwerten das Streben nach interkultureller Akzeptanz und sozialem Frieden gehört.114

Um die gerade zitierte Aussage um Aspekte zu erweitern, die mit der Integration von Schutzsuchenden verbunden sind, muss man auch darauf verweisen, dass es anscheinend nicht allzu viele alternative Wege und Lösungen als die oben genannten gibt, wenn man bedenkt, dass eine langjährige Vorenthaltung von Bürgerrechten langfristig zum integrationshemmenden Faktor werden würde. Und wenn man zusätzlich annimmt, dass die Demokratie einen dauerhaften bzw. lebenslangen Lern- und Erziehungsprozess voraussetzt,115 der nur in entsprechenden Umständen erfolgen kann, dann ist ebenso die Veränderung der bisherigen Einstellung gegenüber den Fremden notwendig. Nicht minder relevant wäre auch die Umsetzung von Bemühungen, die seitens zahlreicher Menschenrechts-Aktivisten unternommen werden, auch wenn die globale Atmosphäre für die Integration der Geflüchteten in den letzten Jahren 111 Treibel 2015, S. 97. 112 Ebd., S. 98. 113 Tobo, Diana Carolina: Alte Stolpersteine bei der politischen Teilhabe der Neuankömmlinge. In: Bitzegeio, Ursula / Decker, Frank / Fischer Sandra: Flucht, Transit, Asyl. Interdisziplinäre Perspektiven auf ein europäisches Versprechen. Bonn: Dietz Verlag 2018, S. 345–357, hier S. 357. 114 Bade 2013a, S. 361. 115 Vgl. Tobo 2018, S. 356.

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äußerst ungünstig ist. Nicht nur lokale, häufig rechtsorientierte Politiker tragen dazu bei; selbst der amerikanische Präsident Donald Trump »hatte seine Wahlkampagne mit noch aggressiverem Populismus bestritten, auch im Blick auf die Spaltungsthemen Migration, Flucht, Integration und Minderheiten in der Einwanderungsgesellschaft.«116 Und dies ist umso Besorgnis erregender, als ebenso der wirtschaftliche Sektor, vor allem die Waffenhersteller sowie Sicherheits- und Überwachungsdienstleistungsanbieter von der sog. Flüchtlingskrise unmittelbar profitieren. Schließlich unterliegt es doch keinem Zweifel, dass sie infolge der europäischen Antwort auf den Zustrom von Geflüchteten und angesichts der intensivierten Kontrollen an den Grenzen, gesteigerte Umsätze und Gewinne auf dem Aktienmarkt verzeichnen konnten.117 Die gerade dargestellten Umstände führen folglich zur Konstatierung, dass Konstruktionen von Risiko oder Bedrohung nicht selten der realen Politik dienen, die – aus welchem Grund auch immer – eine Reduzierung der ins Land kommenden Fremden und Ausländern anstrebt. Einem solchen Ziel können nicht neutralere und positivere Maßnahmen zur Verbesserung von Integrationsund Inklusionsanstrengungen dienen, auch wenn sie zugleich den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern.118 Beim Streben nach dem alternativen Modell – das der globalen Atmosphäre zum Trotz vielerorts betrieben wird – sollte man sich vor allem nicht allzu schnell überraschen lassen und auch wenn unvorhergesehene Nebenerscheinungen vorkommen,119 muss man das gemeinsame Ziel vor Augen haben, das Hans-Peter Schwarz schlicht als »das Projekt Europa« bezeichnet. Es sollte nicht nur ein milderes gesellschaftliches und politisches Modell darstellen, sondern zugleich »die dunklen Jahrhunderte der Machtpolitik, des nationalstaatlichen Egoismus, des Kolonialismus, der Kriege und Bürgerkriege, der nationalen Abschottung und der geschlossenen Grenzen ein für allemal hinter sich lassen.«120

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Bade 2013, S. 363. Vgl. Reinke de Buitrago 2018, S. 83. Vgl. ebd., S. 74. Ein passendes Beispiel stellt in diesem Zusammenhang der sog. »Schwarze Schwan« dar, der als eine Chiffre für die Unvorhersehbarkeit steht. Taleb erläutert sein Wesen, indem er sich einer bildhaften Parallele bedient: »So wie das unerwartete Auftauchen eines schwarzen Schwans inmitten einer Flottille weißer Schwäne im Tierreich Überraschung auslöst, überrascht uns die geschichtliche Welt immer wieder mit Ereignissen, die als unwahrscheinlich galten, aber doch eintraten.« Taleb 2008, S. 7. 120 Ebd., S. 15.

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Wenn man davon ausgeht, dass die sogenannten ›Disziplinargesellschaften‹ des 19. und 20. Jahrhunderts nicht nur durch relativ strenge Sittlichkeitsregelungen, sondern auch durch ein allgemein gültiges Normen- und Wertgefüge gekennzeichnet waren – bei dessen Verletzung das Individuum diszipliniert und an der präskriptiven Norm ausgerichtet wurde – so sind die heutigen Gesellschaften Europas (trotz der sichtbaren weltanschaulichen Radikalisierung) relativ weit von diesem Modell entfernt. Noch vor hundert Jahren wurden nämlich die soziale Kontrolle und Normvermittlung vor allem durch »Institutionen des sozialen Nahraums ausgeübt oder durch Interventionen staatlicher Institutionen, die unter den Bedingungen des fordistischen Wohlfahrtsstaates als Instrumente der (Re-)Integration von Individuen und zur Akzeptanzmehrung der herrschenden Ordnung fungierten.«121 Das 20. Jahrhundert lieferte zweifelsohne zahlreiche Beispiele für jene Triebkraft, die man heutzutage als Migration bezeichnet, wobei das Verlassen der Heimat in den letzten einhundert Jahren häufig nicht nur auf jenes Bestreben zurückzuführen war, materielle Gewinne zu erzielen, sondern sich weitestgehend aus humanitären Gründen und der damit verbundenen Verzweiflung ergab. Nicht ohne Bedeutung sind in dieser Hinsicht globale Konflikte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nach dem Zweiten Weltkrieg – worauf Jacqueline Bhabha verweist – sind pauschal gesehen nur jene Menschen sesshaft geblieben, die von objektiven Determinanten aufgehalten wurden, d. h. entweder zu alt oder zu krank waren, um ihre Heimat zu verlassen.122 Das Ausmaß der Migration nach 1945 hat folglich dazu geführt, dass die internationalen Flüchtlingsschutzmaßnahmen und die Genfer Flüchtlingskonvention geschaffen werden mussten. Ei-

121 Singelnstein, Tobias / Stolle, Peer: Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 111. 122 Vgl. Bhabha, Jacqueline: Migration als Krise? Wie ein Umdenken möglich ist (Aus dem Englischen von Ursel Schäfer). Hamburg: Hamburger Edition 2019, S. 17.

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nerseits um die Situation der Flüchtlinge,123 die außerhalb ihrer Heimat bzw. außerhalb der Gemeinschaft der Völker und des Rechts standen, zu verbessern, andererseits um sie wieder in die sich neu formierenden Gesellschaften einzugliedern.124 Außer den kriegsbedingten Ursachen der Migration gab es aber auch zahlreiche andere Impulse: Man darf schließlich nicht außer Acht lassen, dass für die massenhaften Arbeitswanderungen und Fluchtbewegungen der vergangenen Jahrzehnte auch der zivilisatorische Fortschritt und die Urbanisierung von Gesellschaften eine wesentliche Voraussetzung darstellten.125 Bereits in den 1950er und 1960er Jahren hat die deutsche Wirtschaft stark von den damals zugewanderten Arbeitskräften profitiert, die anfangs nur zeitweise hätten eingesetzt werden sollen, und letztendlich als ›Gastarbeiter‹ in die neueste Geschichte der Bundesrepublik eingegangen sind. Die nach Deutschland Zugewanderten stammten vor allem aus den Mittelmeerstaaten wie Italien, Spanien, aus dem ehemaligen Jugoslawien und aus der Türkei. Wenn man die Bedeutung der damaligen massenhaften Migration ins Zentrum der Betrachtung stellt, kommt man freilich auch zu der Überzeugung, dass die eingewanderten Arbeitskräfte nicht nur maßgeblich zum deutschen Wirtschaftswunder in der genannten Zeitperiode beigetragen haben, sondern dass ihre Anwesenheit nicht ohne Einfluss auf die heutige Wirtschaftsposition Deutschlands geblieben ist.126 Die Zeit des Wirtschaftswunders wurde zweifelsohne auch durch die Entstehung eines Diskurses begleitet, der noch heute in Deutschland von der eigenartigen Rhetorik des Wohlfahrtsstaates nicht zu trennen ist und – so zumindest behauptet Heinz Bude – als sichtbares Zeichen der Kriegsfolgenbewältigung wahrzunehmen ist. Nicht unbedeutend sind in diesem Zusammenhang die in123 Die mit dem Begriff ›Flüchtling‹ verbundenen terminologischen Aspekte wurden zwar im ersten Kapitel näher erläutert, trotzdem scheint es auch an dieser Stelle ratsam, die breit gefasste Definition von Matthias Karl zu präsentieren: »Als Flüchtling gilt eine Person, die sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt oder in dem sie ihren ständigen Wohnsitz hat, und die auf Grund rassisierenden Zuschreibungen, ihrer Religion, Nationalität, Sexualität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung hat und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht vor Verfolgung nicht dorthin zurückkehren kann.« Matthias, Karl: Über den Zusammenhang von Kunstproduktion und sozialen Bewegungen. In: Brandtner, Andreas / Cuba, Martina / Kreuder, Friedemann (Hrsg.): Flucht – Migration – Theater. Göttingen: V&R unipress 2017, S. 45–48, hier S. 47. 124 Vgl. Klepp, Silja: Europa zwischen Grenzkontrolle und Flüchtlingsschutz. Eine Ethnographie der Seegrenze auf dem Mittelmeer. Bielefeld: transcript Verlag 2011, S. 107. 125 Vgl. Hofbauer, Hannes: Kritik der Migration. Wer profitiert und wer verliert. Wien: Promedia 2018, S. 243. 126 Vgl. Kluge, Ulrike / Bostanci, Seyran: MigrantInnen als Bedrohung – Die neue Diskursfähigkeit einst abgelegter Weltbilder. In: Heinz, Andreas / Kluge, Ulrike (Hrsg.): Einwanderung – Bedrohung oder Zukunft. Mythen und Fakten zur Integration. Frankfurt am Main: Campus Verlag 2012, S. 16–35, hier S. 18.

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tegrative politische Strategie und Entwicklung eines sozialen Sinns jenseits seiner politischen Artikulation. Obwohl beide seit langem gegeben sind, entwickelte sich das Teilhabemodell des ›Arbeitnehmers‹ erst in den 1960er und 1970er Jahren, die Nachkriegskollektivität selbst – worauf Bude verweist – versuchte es freilich in einen Begriff von Anrechten und Obligationen zu fassen.127 Die relativ liberale und offene Migrationspolitik der Nachkriegsjahre hat mehr oder weniger dazu beigetragen, dass heutzutage in Deutschland unter den 83 Millionen Einwohnern bereits 11 Millionen Zugewanderte sind, davon sechs Millionen, die gewöhnlich als ›Ausländer‹ bezeichnet werden. Die 1,5 Millionen hingegen, die seit 2015 nach Deutschland eingewandert sind, stellen auf den Ausländeranteil bezogen nicht unbedeutende 25 Prozent dar und bringen soziale und politische Herausforderungen mit sich, die es in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gab.128 Obwohl die meisten Migranten leichtfertig als ›kulturfremd‹ abgestempelt und als ›muslimische‹ oder ›arabische‹ Geflüchtete eingestuft werden, darf man sich der Tatsache nicht verschließen, dass von den 1,1 Millionen offiziell registrierten nur 63,3 % dem muslimischen Glauben angehören.129 Was die demographischen Aspekte der sog. Migrationskrise der letzten Jahre betrifft, ist freilich auch darauf zu verweisen, dass die nach Deutschland Zugewanderten im Durchschnitt deutlich jünger sind, als die deutsche Gesellschaft selbst.130 Das relativ niedrige Durchschnittsalter der Geflüchteten lässt sich zwar 127 Vgl. Bude, Heinz: Das Phänomen der Exklusion. Der Widerstreit zwischen gesellschaftlicher Erfahrung und soziologischer Rekonstruktion. In: Bude, Heinz / Willisch, Andreas (Hrsg.): Exklusion. Die Debatte über die »Überflüssigen«. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2008, S. 246–260, hier S. 253. 128 Vgl. Beise, Marc: Wir brauchen die Flüchtlinge! Zuwanderung als Herausforderung und Chance: Der Weg zu einem neuen Deutschland. München: Süddeutsche Zeitung Edition 2015, S. 16. Ungeachtet dessen ist und bleibt die sog. Flüchtlingskrise nicht ausschließlich ein deutsches, sondern auch ein europaweites Problem. Am Beispiel Italiens und Griechenlands zeigt Rainer Balcerowiak die Konsequenzen der fehlenden gesamteuropäischen Migrationspolitik: »Da beide Länder in dieser Frage von den anderen EU-Staaten komplett im Stich gelassen wurden, gingen die Behörden Griechenlands und Italiens dazu über, den ankommenden Flüchtlingen den Transit in Richtung Norden zu gestatten«. Balcerowiak, Rainer: Faktencheck Flüchtlingskrise. Was kommt auf Deutschland noch zu? Berlin: Edition Berolina 2015, S. 23. 129 Vgl. Hartleb, Florian: Die Stunde der Populisten. Wie sich unsere Politik trumpetisiert und was wir dagegen tun können. Schwalbach: Wochenschau Verlag 2017, S. 113. 130 Vgl. Balcerowiak 2015, S. 37–38. Die demographischen Tendenzen der letzten Jahre thematisiert ausführlich Livia Klingl: »In Deutschland gebären noch weniger Frauen noch weniger Kinder. Statistisch 8,4 Geburten kommen auf 1000 Einwohner, das ist, trotz aller Bemühungen der Politik, die niedrigste Rate von allen 28 EU-Staaten. 2012 zählte das Land zu jenen zwölf innerhalb der Union, in denen mehr Menschen starben, als geboren wurden.« Klingl, Livia: Wir können doch nicht alle nehmen! Europa zwischen »Das Boot ist voll« und »Wir sterben aus«. Wien: Verlag K&S 2015, S. 12. Als Gegenargumentation kann man in diesem Zusammenhang die Position von David Miller präsentieren, der – unabhängig von

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mit der demographischen Struktur der ›Gastarbeiter‹ aus den 1950er assoziativ verknüpfen, nichtsdestotrotz geht ihr Erscheinen in Europa nur bedingt ausschließlich auf wirtschaftliche und finanzielle Gründe zurück. Außer den auf bessere Lebensverhältnisse bezogenen Motivationen gehören schließlich zu den initiierenden Impulsen der heutigen ›Völkerwanderung‹ die global verankerten sozialen und politischen Konflikte. Heutzutage erleben wir, so Zygmunt Bauman, die weitreichenden Folgen »der tief greifenden und scheinbar aussichtslosen Destabilisierung des Nahen und Mittleren Ostens im Gefolge falsch kalkulierter, irrsinnig kurzsichtiger und eindeutig misslungener politischer und militärischer Eingriffe westlicher Mächte.«131 Außerdem – wenn man sich die Kriege in diesem Teil der Welt in den letzten Jahrzehnten näher anschaut – kommt man freilich auch zu der Überzeugung, dass sie nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern auch aus machtpolitischen Interessen heraus geführt wurden. Einerseits wurde die Kampftaktik von oben herab bestimmt und somit das Schicksal ganzer Nationen besiegelt, andererseits wurden langfristige geopolitische Pläne geschmiedet, die zur Folge hatten, dass bereits im Vorfeld auf zynische Weise die Verlierer und die Sündenböcke ausgesucht wurden.132 Die Tatsache, dass Deutschland in den letzten Jahren zum bedeutenden ›Fluchtpunkt‹ Europas wurde, zieht auch gewichtige und weitreichende wirtschaftliche Konsequenzen nach sich. Es geht vor allem um den beachtenswerten, intern verlaufenden Geldtransfer: Nur im Jahre 2015 überließ der Bund den Ländern eine Milliarde Euro zusätzlich zu den bereits zugesagten Hilfen. Ein Jahr später erhielten die Länder ganze 2,68 Milliarden Euro, diesem Betrag liegt eine Pauschale von monatlich 670 Euro pro Flüchtling zugrunde und zwar vom Tag der Erstregistrierung bis zum Abschluss des manchmal monatelang dauernden Asylverfahrens.133 Dies verändert aber nichts an der Tatsache, dass die sog. der deutschen Perspektive – in den demographischen Entwicklungen der letzten Jahre eine akute Bedrohung für die globale Umwelt sieht: »Mittlerweile scheint klar zu sein, dass eine der Hauptaufgaben der Gegenwart – neben Maßnahmen zur Eindämmung der Erderwärmung und des Ressourcenverbrauchs – darin besteht, dafür zu sorgen, dass diese nicht bedeutend über die aktuell erreichte Sieben-Milliarden-Marke hinaus anwächst. In der Tat gibt es Gründe für die Annahme, dass die umweltverträgliche Bevölkerungsgröße auf der Erde um einiges unterhalb von sieben Milliarden liegt, so dass das Ziel in einer allmählichen Verringerung der aktuellen Zahl bis herunter auf diesen Wert bestehen muss.« Miller, David: Fremde in unserer Mitte. Politische Philosophie der Einwanderung. Berlin: Suhrkamp Verlag 2017, S. 105. 131 Bauman, Zygmunt: Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache (Aus dem Englischen von Michael Bischoff). Berlin: Suhrkamp Verlag 2016, S. 9. 132 Vgl. Marquart, Andreas / Bagus, Philipp: Wir schaffen das alleine! Warum kleine Staaten einfach besser sind. München: FinanzBuch Verlag 2017, S. 117. 133 Vgl. Holtkamp, Jürgen: Flüchtlinge und Asyl. Herausforderung – Chance – Zerreißprobe. Topos Premium 2016, S. 150. Vor dem Hintergrund des intern verlaufenden Geldtransfers und der öffentlichen Ausgaben kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das

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Flüchtlingskrise einen deutlichen politischen Hintergrund beibehält und im Grunde zum »Decknamen für den ewigen Kampf der Meinungsmacher um die Eroberung und Kontrolle des Denkens und Fühlens der Menschen«134 wird. Der Zustrom von Geflüchteten und Hilfesuchenden seit 2015 unterscheidet sich bedeutend von den Migrationen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg oder zur Zeit des Kalten Krieges. Wenn man sich den historischen und sozialen Kontext näher anschaut, kommt man freilich auch zum Befund, dass zu Anfang des 21. Jahrhunderts die Stadtbewohner Westeuropas – obwohl es aus manchen Gründen unglaubwürdig erscheinen mag – trotz allem liberaler und toleranter geworden sind. Nicht ohne Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die ständig wachsende Mobilität und gewöhnliche Alltagserfahrungen der heutigen Europäer: Sie begegnen jeden Tag, so Regina Ammicht Quinn, mehr fremden Menschen, als ihre Vorfahren in den letzten Jahrhunderten in ihrem ganzen Leben gesehen haben.135 Die Autorin der Publikation Ethik der Integration vertritt unabhängig davon den Standpunkt, dass der gewaltige Zustrom von Geflüchteten als große Herausforderung eingestuft werden muss, denn eine Menschheitsgesellschaft, die sich über Jahrtausende hinweg auf die eigene lokale Welt, bzw. den eigenen Stamm bezogen hat, nun mit Ideen, Institutionen und Erfahrungen ausgestattet werden muss, »die es uns erlauben, als neuer, globaler Stamm, der wir geworden sind, zu leben.«136 Ein wichtiger Schritt in diese Richtung wäre zweifelsohne die kontinuierliche Förderung der globalen Mobilität, die sich in der breit verstandenen kulturellen und berufsbezogenen Flexibilität sowie Entwicklung der Touristik manifestiert. Was den letztgenannten Aspekt anbelangt: Die ›Flüchtlingskrise‹ hat die globalen Trends der sog. Freizeitmobilität durchaus nicht negativ beeinflusst. Auch im Jahr 2016 gab es nach Angaben der UN-Weltorganisation für Tourismus über eine Milliarde Touristen

finanzielle Potenzial Deutschlands und anderer deutschsprachiger Länder ohne Weiteres eine erfolgreiche Flüchtlingspolitik ermöglicht. Die finanziellen Kapazitäten des deutschsprachigen Raumes spiegeln sich u. a. in der Struktur der Geldeliten wider: Während in Deutschland 2015 jeder 47ste ein Millionär war, also insgesamt 1,7 Millionen Einwohner, lebten in Österreich zu Beginn der sog. Flüchtlingskrise nicht weniger als 178.000 Millionäre. Vgl. Edelbacher, Max / Bruns, Valentina / Weixlbaumer, Elmar: Die neue Gier. Warum wir immer maßloser werden. Berlin: Goldegg Verlag 2015, S. 13. 134 Bauman 2016, S. 7. Angesichts der machtpolitischen Auseinandersetzungen und Verschiebungen erscheint der Umstand relevant, dass die Größe des Landes sowie seine politischen Ambitionen ganz offensichtlich die Auslandspolitik bestimmen: »Großmächte aber werden nie aufhören«, so Andreas Marquart und Philipp Bagus »Macht zu demonstrieren und ihre Machtansprüche geltend zu machen.« Marquart / Bagus 2017, S. 119. 135 Vgl. Ammicht Quinn, Regina: Ethik der Integration. In: Ariëns, Elke / Richter, Emanuel / Sicking, Manfred (Hrsg.): Multikulturalität in Europa. Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft. Bielefeld: transcript Verlag 2013, S. 109–124, hier S. 109. 136 Ebd.

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und Touristinnen weltweit, was im Vergleich zu 2015 sogar einen Zuwachs von 3,9 Prozent bedeutet.137 Die wachsende Mobilität und das europaweit kontinuierlich (obwohl nicht allzu rapide) steigende Wirtschaftspotenzial verursachen, dass in den heutigen reichen Gesellschaften – wie es Bude formuliert – eine Mehrheit entsteht, die sich in der differenzierten Welt der Moderne zu Hause wohl fühlt und folglich die Institutionen des Wohlfahrtsstaates als ihr eigenes Sozialeigentum betrachtet. Auf der anderen Seite der gesellschaftlichen Barrikade steht allerdings »ein weggedrängtes und ausgeschlossenes Fünftel der Gesellschaft, das sich von der Welt, in die es sich geworfen findet, nichts mehr erhofft.«138 Dies führt zweifelsohne zu sozialen Spannungen – gelegentlich sogar zu Gewalttätigkeiten – die sich zusätzlich, was besonders besorgniserregend sein kann, nicht mehr als ein vorübergehender ›Betriebsunfall‹ oder ›Extremfall‹ abgetan lassen, sondern immer häufiger als ein Handlungsmodus wahrgenommen werden, der in manchen Situationen sogar gebilligt wird. Folglich werden solche negativen Erscheinungen wie die soziale Ausklammerung, Stigmatisierung oder schlicht die Gewalt als eine für jedermann zugängliche und dadurch attraktive Handlungsoption in Betracht gezogen. Um sich gegen sie zu wehren muss die Gesellschaft einen institutionellen Schutz erhalten, schließlich kann nur die bewaffnete Staatsgewalt in den heutigen Zeiten, so Jörg Baberowski, die Voraussetzung des Friedens sein.139 Die Anwesenheit der symbolischen bzw. physischen Gewalt verfestigt auf der gesellschaftlichen Ebene die Reproduktion der dargestellten Imaginationen und Mythen über Attribuierungen bezüglich der Fremden sowie die Etablierung von Diskursfiguren und die damit verbundenen Machtverhältnisse.140 Die körperli137 Das Wachstum der touristischen Mobilität belegen zweifelsohne auch andere statistische Angaben: »Allein 390 Millionen Menschen reisten 2016 in die Vereinigten Staaten ein, 620 Millionen Tourist_innen aus aller Welt besuchten die Europäische Union und mehr als 40 Millionen Australien. Im selben Jahr wurden über 15 Millionen Schengen-Visa für Reisende ausgestellt, die nicht visafrei in die Europäische Union einreisen durften.« Bhabha 2019, S. 68. 138 Bude 2008, S. 248. 139 Vgl. Baberowski, Jörg: Gewalt verstehen. In: Riekenberg, Michael (Hrsg.): Zur Gewaltsoziologie von Georges Bataille. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2012, S. 35–49, hier S. 40. Das Wesen der Gewalt charakterisiert der Autor der Publikation in einer kurzen Schlussfolgerung: »Die Gewalt gehöre zur Grundausstattung der menschlichen Gattung, sie widerspreche der Kultur nicht, sie sei ein Teil von ihr. Nicht die Katastrophe der Massenvernichtungen im 20. Jahrhundert sei das Rätsel, sondern ihre »Integrierbarkeit« in jene Lebensform, die wir Moderne nennen.« Ebd., S. 35. 140 Vgl. Schulze, Heidrun / Mantey, Dominik / Witek, Kathrin: Zu Mikropraktiken von Alltagsrassismus in der Beratung. In: Equit, Claudia / Groenemeyer, Axel / Schmidt, Holger (Hrsg.): Situationen der Gewalt. Weinheim: Beltz Juventa Verlag 2016, S. 193–209, hier S. 203.

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che Gewalt wird gewöhnlich ebenfalls von sprachlicher und symbolischer Aggression begleitet und bindet sich zugleich an die Macht der Benennung, die dafür sorgt, dass manche Zuschreibungen nicht nur eine weite Verbreitung finden, sondern sich im gesellschaftlichen Diskurs erfolgreich durchsetzen.141 Als Nebeneffekt entsteht folglich eine sich auffällig stark radikalisierende Kontrollgesellschaft, die nicht mehr auf traditionellen Demokratiewerten aufgebaut wird, sondern mittels unablässiger Kontrolle und Kommunikation in dem öffentlichen Bereich funktioniert.142 Das Hauptinteresse einer solchen Struktur richtet sich zugleich nicht ausschließlich auf Souveränität, sondern ebenfalls auf die Idee der Gebietshoheit: Der Besitz von Hoheitsrechten über ein bestimmtes Territorium impliziert darin auch die Verfügung über das Recht auf Kontrolle der Ein- und Abwanderung auf diesem Territorium. Man geht dabei von der völligen Legitimierung der Staatsgewalt und davon aus, dass ein Staat zur Ausübung seiner hoheitlichen Rechte befugt und dazu berechtigt ist, jegliche Einwanderer beliebig – nicht selten nach einer arbiträr durchgeführten Selektion – abzuweisen.143 Zur zentralen Legitimation staatlichen Handelns gehört heute auch die symbolische Produktion von subjektiver Sicherheit. Wenn man annimmt, dass die ständige Unsicherheit als Gegenteil einer Grundkonstante der Politik eingestuft werden kann,144 dann erscheint die sog. ›Flüchtlingskrise‹ als ein bequemes machtpolitisches Instrument, das dazu vereinnahmt werden kann, die Eigenwelt beliebig zu mobilisieren und weitreichende ›Sicherheitsmaßnahmen‹ zu ergreifen. Als Nebenerscheinung können folglich unvorhersehbare soziale Spannungen vorkommen, die dann mehr oder weniger deutlich in Gewalt münden, die sowohl aus individueller als auch aus kollektiver Perspektive das Gefühl von Allmacht geben kann. Das ganze Ausmaß ihrer privilegierenden Wirkung wird aber erst dann empfunden, wenn der Wille der Anderen – häufig sind es nationale oder ethnische Minderheiten – gebrochen wird.145 Die unmittelbare Anwendung der Zwangs- und Gewaltmittel – auch wenn sie für die Majorität aus vielen Gründen legitim erscheinen mögen – hat aber viele Schattenseiten; Jörg Baberowski sieht vor allem die gefährliche Eindimensionalität von institutionellen bzw. strukturellen Zwangsmaßnahmen, was er in folgender lakonischer Konstatierung zum Ausdruck bringt: »Der Frieden lebt vom Wissen um die Aussichtslosigkeit der Gewaltanwendung.«146

141 142 143 144 145 146

Ebd. Vgl. Singelnstein / Stolle 2008, S. 113. Vgl. Miller 2017, S. 95. Vgl. Singelnstein / Stolle 2008, S. 115. Vgl. Baberowski 2012, S. 43. Ebd., S. 48.

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2.1

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Zwischen Kritik und Stigmatisierung – negative Darstellung der ›Flüchtlingskrise‹ in Deutschland

2.1.1 Gesellschaftliche Abwehr gegen Immigranten und Neuzugewanderte Ein grundsätzliches Hindernis auf dem Weg zur politischen Partizipation von Immigranten – so zumindest behauptet Diana Carolina Tobo Tobo – resultierte in Deutschland lange Zeit vor allem aus der Erblast eines aus einer ›völkischen Ideologie‹ stammenden und nachwirkenden Konzeptes eines homogenen Staatsvolkes. Dieses Konzept verband solche Elemente wie territorialer Geburtsort (gewöhnlich mit einem deutlichen Rekurs auf Heimat oder Vaterland) und Sprache – in diesem Fall natürlich Deutsch. Lange Zeit wirkte diese Auffassung auf das Selbstverständnis der Deutschen als Nation ein und ging sogar sichtbar stark mit Abwehrhaltungen gegenüber Immigranten einher.147 Angesichts der gerade genannten Umstände erscheint die Annahme legitim, dass eine wichtige und zugleich bindende Kraft innerhalb der Gesellschaft aus der Entwicklung der nationalen und kulturellen Identität resultiert. Wenn sie sich aber gegenüber dem Anderen eindeutig offensiv positioniert, dann kann es paradoxerweise aller Voraussicht nach negative Auswirkungen auf die Entwicklung der Eigengruppe haben. Nicht unbedeutend ist in diesem Zusammenhang die Dynamik der migrationsbezogenen Prozesse: Wenn eine große Zahl von Geflüchteten und Migranten innerhalb eines kurzen Zeitraums – der gleichzeitig wenig Zeit für eine Anpassung, Gewöhnung oder Umstellung erlaubt – in ein Land einreist, dann zieht es, so Reinke de Buitrago, zwangsweise negative Folgen nach sich und kann nur schwer vorhersehbare Abwehrreaktionen innerhalb der Mehrheitsgesellschaft verursachen.148 Eine solche Situation gehört zweifelsohne zum Bereich der Grundprobleme der Gesellschaft, ihr schließen sich auch verschiedene negative Konsequenzen an, die z. B. in Form von Grundängsten der Mehrheitsbevölkerung zum Vorschein kommen.149 Die rasche Veränderung der nationalen und ethnischen Struktur der Gesellschaft ist ebenfalls aus der politischen Sicht relevant: In Westeuropa – Deutschland stellt in dieser Hinsicht keine außergewöhnliche Ausnahme dar – zeichnet sich heutzutage das verspätete Begreifen eines Prozesses, den man nach Klaus Bade als »dauernde Entwicklung zum Einwanderungsland« bezeichnen kann.150 Das fehlende Verständnis für ein solches Konzept der Gesellschaft wird häufig von perspektivischer Verlagerung der gegenwartsbezogenen Verände147 148 149 150

Vgl. Tobo 2018, S. 347. Vgl. Reinke de Buitrago 2018, S. 71. Vgl. Bade 2018b, S. 341. Vgl. ebd., S. 341.

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rungen und von sozialer und kultureller Eigendynamik der rapide voranschreitenden Migrationsprozesse begleitet.151 Auch heute trifft des Weiteren das Modell des offenen Einwanderungslandes – was sich am Beispiel einiger EUStaaten repräsentativ zeigen lässt – vielfach auf falsche Interpretationen oder sogar auf Unverständnis der Regeln, die eine Migrations- und Einwanderungsgesellschaft kennzeichnen. Unverstanden bleibt dabei auch, so Bade, »dass eine Migrations- und Einwanderungsgesellschaft kein durch regierungsamtliche Anerkennung abzustempelnder Sozial- und Kulturzustand ist.«152 In Deutschland – gemeint ist hierbei vor allem die Zeitperiode, welche die Jahre 2015 und 2016 umfasst – hat der rapide Zulauf der Zufluchtsuchenden nicht unbedingt zur Folge, dass die Mehrheit der Gesellschaft die Integration zusätzlicher Neuankömmlinge entweder skeptisch beurteilt oder sogar eindeutig ablehnt. Trotzdem denken und handeln viele nach dem Motto: »Integration ist nicht das Zelebrieren von Unterschieden, sondern die Festlegung von Regeln.«153Außerdem steigt kontinuierlich die Zahl derjenigen, die den Verlust ›typisch‹ deutscher Werte befürchten und von daher deren Schutz postulieren.154 Nicht unbedeutend sind des Weiteren die immer deutlicher vernehmbaren Stimmen einiger Publizisten, Politiker und Wissenschaftler, die eine erhöhte, wenn nicht gar akute Bedrohung durch Terroranschläge diagnostizieren. Letztendlich erscheinen immer häufiger Postulate, die die Rückkehr der Geflüchteten bei einer künftigen Verbesserung der Situation in ihrem Heimatland explizit fordern.155 Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass die Ereignisse der letzten Jahre wesentlich dazu beigetragen haben, die internen sozialen und politischen Spannungen in Deutschland nur noch zu verstärken. Nie zuvor war nämlich das Verhältnis – worauf Schwarz verweist – zwischen der Mehrheitsbevölkerung und dem ›Konglomerat‹ ethnisch und religiös höchst unterschiedlicher Auslandsgemeinden so kontrastiv gegenübergestellt. Auch der Dschihadismus trägt dazu bei, dass das Misstrauen zwischen der deutschen Majorität und den Minderheiten kontinuierlich wächst.156 All dies bleibt naturgemäß nicht ohne Einfluss auf die Modifizierung und Neuausrichtung des einzigartigen Flüchtlingsdiskurses; legitim erscheint vor diesem Horizont die Parallele, die Reinke de Buitrago mit der Situation in den USA im Jahre 2001 nach den Anschlägen auf World Trade Center zieht:

151 152 153 154 155 156

Vgl. ebd. Ebd. Mansour 2018, S. 62. Vgl. Reinke de Buitrago 2018, S. 75. Vgl. ebd. Vgl. Schwarz 2017, S. 181.

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In gewisser Hinsicht ähnelt der deutsche öffentliche Diskurs dem US-amerikanischen in den Jahren nach dem 11. September – mit beidem, dem Ruf nach mehr Sicherheit und dem Ruf, man solle nicht überreagieren. Ende 2016 warnte Europol auf Grundlage der Zahlen von Rückkehrern aus den syrischen und irakischen Kampfgebieten, es befänden sich Hunderte potenzieller Terroristen in Europa. Der Anschlag vom Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember 2016 durch einen aus Tunesien stammenden Täter hat das Unsicherheitsgefühl weiter verstärkt.157

Vor dem Hintergrund der soeben genannten Umstände stellt sich die Frage, inwieweit die erfolgreiche Integration der Geflüchteten und Migranten – die nicht selten als akute Bedrohung für die Stabilität und Sicherheit eines demokratischen Staates angesehen werden – überhaupt möglich ist. Als bedeutende Stolpersteine erscheinen auf diesem Weg nicht nur negative Wahrnehmungen der fremden ›arabischen‹ Kultur, sondern vielmehr die oben ansatzweise erwähnten Gewaltakte und terroristische Handlungen. Nicht unbedeutend sind in diesem Zusammenhang zweifelsohne auch ›objektive‹, seit langem gültige formale Regelungen und Einschränkungen,158 darunter die Pflicht zur Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit. Dies stellt nach Tobo eines der größten Hindernisse für den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft dar und macht die politische Vollinklusion der Betroffenen nahezu unmöglich. Die Tatsache, dass die Aufgabe der bisherigen staatlichen Angehörigkeit sich als äußerst problematisch offenbart, belegen die Statistiken: Rund ein Drittel der Betroffenen empfindet es als schwer, sich ausschließlich Deutschland oder ihrem Herkunftsland hinwenden zu müssen.159 Dabei ist zu bedenken – so zumindest behauptet Abraham Ashkenasi – dass die Integration der Geflüchteten, auch wenn ihre Mobilität in den letzten Jahrzehnten sichtbar gewachsen ist, wegen ihrer verletzenden Zuordnung zur Welt der Fremdheit bedeutend erschwert ist: Unterschiede zwischen dem 20. Jahrhundert und der Vergangenheit liegen in der wachsenden Mobilität von Flüchtlingen und den schnellen weltweiten Kommunikationszentren. Dies erhöht die potentielle Angst der möglichen Gastgeberländer wie auch die Möglichkeit der Fliehenden. So ist es heute eher möglich, daß Flüchtlinge aus 157 Reinke de Buitrago 2018, S. 79. 158 In Anlehnung an die Position von Collier erscheint ferner die Frage relevant, ob die Einführung der Reisefreiheit in Europa für die gemeinsame Flüchtlingspolitik tatsächlich von Vorteil ist: »Am schädlichsten war jedoch, dass durch die Abschaffung der internen Grenzkontrollen ein klassisches Problem des schwächsten Gliedes entstand. Der gesamte Schengen-Raum, ein riesiges Gebiet mit 500 Millionen Menschen, wurde ebenso schwer oder leicht zugänglich wie die Länder mit den offensten Außengrenzen. Eine solche Grenze konnte entweder deshalb ungewöhnlich offen sein, weil der zuständige Staat eine besonders großzügige Einwanderungspolitik verfolgte oder weil seine Kontrollen in der Praxis wenig wirksam waren.« Betts, Alexander / Collier, Paul: Gestrandet: Warum unsere Flüchtlingspolitik allen schadet – und was jetzt zu tun ist (Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Norbert Juraschitz). München: Siedler Verlag 2017, S. 95. 159 Vgl. Tobo 2018, S. 350.

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gänzlich andersartigen Kulturen ein Gastgeberland erreichen. Z. B. bilden Deutsche aus osteuropäischen Staaten nicht dasselbe soziologische Störungspotential in einem Land wie der Bundesrepublik wie die zahlenmäßig viel weniger ins Gewicht fallenden Tamilen oder Libanesen. Die Verhältnisse, dramatisch in Zahlen ausgedrückt, würden so aussehen: 10 Millionen deutsche Flüchtlinge stören nicht so sehr wie 10000 Tamilen. Wir werden später mehr sagen müssen über die Gründe von sozialer Akzeptanz oder Ablehnung und das Konzept der demographischen Masse.160

Die mangelhafte Integration von Einwanderern kann man sowohl im breit verstandenen gesellschaftlichen Leben als auch – aus einer etwas eingeengten Darstellungsperspektive – am Arbeitsplatz feststellen. Eine sichtbare Diskrepanz zwischen den Einheimischen und Zugewanderten fällt des Weiteren in der Politik auf: Von den 631 Abgeordneten wiesen zur Zeit der ›Flüchtlingsjahre‹ 2015–2016 lediglich 37 bzw. 5,9 % einen Migrationshintergrund auf. An ihrer Gesamtzahl an Sitzen im Bundestag gehörten die Linksfraktion mit 12,5 % und Bündnis 90/Die Grünen mit 11,1 % zur Parteien mit dem höchsten Anteil an Abgeordneten mit einem Migrationshintergrund.161 Ähnlich sieht der Anteil der Ausländer und Zugewanderten in den Medien aus; während »jeder fünfte Einwohner in Deutschland aus einer Einwanderungsfamilie stammt, ist es in den Redaktionen nur jeder Fünfzigste. In Tageszeitungen liegt die Quote sogar bei nur einem Prozent (also jeder Hundertste).«162 Eine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit – die naturgemäß nicht nur für Deutschland signifikant ist – ergibt sich aus der Abwertung und Diskriminierung von Menschen allein aufgrund ihrer tatsächlichen oder nur zugeschriebenen Angehörigkeit zu bestimmten Gruppen und Ethnien. Katja Kipping ist der Meinung, dass eine solche Zuschreibung ungeachtet des individuellen Verhaltens erfolgt.163

2.1.2 Soziale Spannungen und finanzielle Belastung für den Staat Bereits im Jahre 1992 stellte Jan Werner eine These auf, dass 60 Millionen Migranten aus dem Nahen Osten und Nordafrika zwar nicht sofort nach Europa kommen, aller Wahrscheinlichkeit nach würden sie dennoch auf dem Alten Kontinent in den nächsten Jahrzehnten erscheinen.164 Dies veranlasst Werner zu 160 Ashkenasi 1998, S. 11. 161 Vgl. Tobo 2018, S. 353. 162 Ataman, Ferda: Migranten, Medien und die Politik: Neu im Mittelfeld oder immer noch im Abseits? In: Oppong, Marvin (Hrsg.): Migranten in der deutschen Politik. Berlin: Springer Verlag 2011, S. 127–133, hier S. 129. 163 Vgl. Kipping, Katja: Wer flüchtet schon freiwillig. Frankfurt am Main: Westend Verlag 2016, S. 139. 164 Vgl. Werner, Jan: Die Invasion der Armen. Mainz: Hase & Koehler Verlag 1992, S. 254.

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den eher skeptisch anmutenden Zukunftsvisionen und Prognosen. Gleichzeitig weist der Autor der symbolisch betitelten Publikation Die Invasion der Armen auf zahlreiche finanzielle und wirtschaftliche Probleme hin, die mit der Migration untrennbar verbunden sind: Aber geht man einmal nur von zehn Prozent dieser 60 Millionen aus, also von sechs Millionen, dann wäre Europa mit dieser durchaus realistischen Annahme schon hoffnungslos überfordert. Allein die Kosten von knapp 100 Milliarden Mark – per anno! – wären nicht aufzubringen, von den sozialen Konflikten, die eine solche Massenimmigration auslösen würde, gar nicht zu reden. Und dabei sind sechs Millionen weiterer Zuwanderer keine utopische Annahme; immerhin haben wir zehn Millionen Moslems bereits in Europa.165

Heute positionieren sich die Wirtschaftsprognosen angesichts der sog. Flüchtlingskrise allerdings völlig anders als noch vor 30 Jahren und die deutschen Wirtschaftsexperten und Vertreter der Industrie sind in der Einschätzung des migrationsbezogenen Fremdenanteils sichtbar fortschrittlicher und optimistischer geworden. Sie betonen nicht nur die moralische Verpflichtung Deutschlands zur Hilfeleistung, sondern sie öffnen ihre Betriebe, und – so Marc Beise nicht ohne Ironie – »engagieren sich beruflich und privat, während die christliche Jugend der großen Volkspartei die Grenzen zumachen will.«166 Anscheinend liegt der Unterschied zwischen den oben angeführten Prognosen und der heutigen Zeit auch darin, dass sich in den 1990er Jahren eine offensiv positionierte AntiAsyl-Bewegung entwickelte. Sie offenbarte sich damals vor allem als Reaktion auf ein Massenphänomen, das in Form einer zunächst rätselhaften Explosion der gewaltaffinen Einstellung zu den Fremden vorgekommen war. Dann eskalierte sie – insbesondere im Hoch- und Spätsommer 1991 – vor dem Hintergrund stark angewachsener Zahlen von Geflüchteten, Asylbewerbern und Aussiedlern.167 165 Ebd. Die statistisch fundierten Prognosen und Einschätzungen interpretiert sichtbar beunruhigt ebenfalls Hans-Peter Schwarz: »Selbst wenn die Flüchtlingszahl und die illegale Einwanderung auf jährlich 200 000 begrenzt würden – eine mehr als optimistische Annahme –, würde sich durch diesen moderaten Zuzug die Diaspora bis zum Jahr 2030 um satte 12 Millionen Flüchtlinge vermehren. Beliefe sich der Zuwachs auf jährlich 500 000 Flüchtlinge, wären es 2030 bereits fast doppelt so viele, nämlich knapp 23 Millionen.« Schwarz 2017, S. 187. 166 Beise 2015, S. 20. 167 Bade verweist auf die politische Verankerung dieser Tendenzen und erinnert daran, dass nur durch eine Indiskretion Anfang Oktober 1991 bekannt wurde, dass sich diese Bewegung aus einer von dem damaligen CDU-Generalsekretär Volker Rühe geradezu generalstabsmäßig organisierten populistischen Anti-Asyl-Inszenierung ergab. Vgl. Bade 2018b, S. 345. Außerdem – was die Betrachtungsperspektive der Migrationsproblematik bedeutend erweitert – wurden in den 1990er Jahren äußerst kontroverse Verhandlungen mit Rumänien geführt, in deren Verlauf die Abschiebung von rund 80 000 Personen beschlossen wurde: »Es war im September 1992, als Deutschland ein Abschiebeabkommen für Roma mit Rumänien schloss. Die rumänische Regierung bekam 30 Millionen Mark (ca. 15 Millionen Euro) aus

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Vor dem Hintergrund der Abwehrreaktionen und der gerade erwähnten AntiAsyl-Bewegung sind zweifelsohne rein sozial- und finanzbezogene Aspekte von Bedeutung. Deutschland hat seit langer Zeit den Ruf eines politisch stabilen Landes mit gut funktionierender sozialer Marktwirtschaft. Von daher begeben sich die meisten Zufluchtsuchenden – und dabei richten sie sich gewöhnlich nach stereotypen Einschätzungen und Erwartungen – in eine technologisch und kulturell hochentwickelte, vermögende Welt. Die imaginative, häufig realitätsfremde Wahrnehmung Deutschlands verändert sich aber rapide, sobald die Geflüchteten unerwartet auch viele Arme, Armutsgefährdete und die mit ihnen verbundenen sozialen Probleme und Spannungen vorfinden. Conrad Schuhler konstatiert diesbezüglich, dass die proportionale und gerechte Verteilung des Vermögens seit langem weitgehend gestört ist und Deutschland sich nun als ein Land offenbart, in dem der »Reichtum ständig von Unten nach Oben verteilt wird.«168 Von daher befürchten viele trotz günstiger Wirtschaftsprognosen, dass die ›Flüchtlingskrise‹ – sowie die Eskalierung der mit ihr verzahnten sozialen Spannungen – zur weiteren Belastung der ärmeren Hälfte der Gesellschaft beitragen wird und eine deutlich sichtbare Umkehr der politischen Logik verursachen kann.169 Nicht allein die wirtschaftsbezogenen und kulturellen Spannungen sind aber mit der Migrationsbewegung verbunden. In der Publikation Integriert Euch! verbindet Anette Treibel die klischeehafte Wahrnehmung der Geflüchteten mit wachsender Kriminalität in den deutschen Städten und kommt zum Befund, dass sich in manchen deutschen Stadtquartieren schon heute Strukturen von Drogenabhängigkeit, Prostitution, Kriminalität und Arbeitslosigkeit sichtbar stark verfestigt haben. In diesen Stadtgebieten – so Treibel in einer eindeutig pessimistisch einstimmenden Bilanz – geben die häufig untereinander konkurrierenden Ausländer- und Einwanderermilieus den Ton an.170 Dabei offenbart sich Bonn zugesprochen, dafür wurden Rumänen und insbesondere Roma aus Deutschland zurückgebracht.« Bebenburg, Pitt von / Thieme, Matthias: Deutschland ohne Ausländer. Ein Szenario. München: Redline Verlag 2012, S. 201. 168 Schuhler 2016, S. 52. Folgenden Weg zur Erschaffung einer gerechteren und ausgeglicheneren Gesellschaft – sowohl aus europäischer als auch globaler Perspektive – schlägt Hannes Hofbauer vor: »Der Kampf um soziale Konvergenz, also um die Herstellung von Gleichheit – ob das nun EU-weit oder weltweit geschehen soll – muss vor oder noch besser: statt der Mobilisierung der Armen und Auswanderungswilligen geführt werden.« Hofbauer 2018, S. 185. 169 Vgl. Schuhler 2016, S. 52. 170 Vgl. Treibel 2015, S. 103. Häufig wird in einem solchen Zusammenhang auf die mangelhafte Vorbereitung der Staatsgewalt verwiesen, die ebenfalls weitgehende Gefährdung der Sicherheit der Geflüchteten nach sich zieht: »Nach Angaben der Gewerkschaft der Polizei wurden in den letzten 18 Jahren circa 16 000 Stellen beim Bund und in den Ländern abgebaut. Weniger Polizei bedeutet auch weniger Personal, das Flüchtlingsunterkünfte beobachten kann, um rassistische Anschläge zu vereiteln.« Kipping 2016, S. 146.

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dort, so die Autorin der Abhandlung, der soziale Ausschluss aus der sogenannten Mehrheitsgesellschaft als Normalität: Viele seien in der sozialen Hierarchie nicht nur marginalisiert, sondern würden daraus immer deutlicher ausgeklammert.171 Angesichts der sozialen Spannungen zwischen der Minorität und der Mehrheitsgesellschaft verweisen einige Publizisten und Forscher auf die heutzutage entstehenden ›Parallelgesellschaften‹. Nach Schwarz resultiert ihr Zustandekommen vor allem daraus, dass bei den Einwanderern immer seltener die Absicht Oberhand gewinnt, sich im Gastland möglichst schnell und effizient zu integrieren.172 Der Autor der Publikation Die neue Völkerwanderung weist nicht ohne Ironie darauf hin, dass der Charme eines Gastlands für viele Migranten darin besteht, im Schutz der Diaspora das ›mitgebrachte Gepäck‹ an Sprachkompetenz, religiöser Orientierung, Alltagssitten, Werten und Erinnerungen weiter zu hegen und pflegen.173 Ein solcher Umstand provoziert den Autoren der Abhandlung schließlich zu einer äußerst kritischen Stellungnahme und Darstellung der sozialen Wirklichkeit, die anscheinend im vollkommenen Kontrast zu der naiven Erwartung steht, dass die aus ganz anderen Kulturen und anderen Verhältnissen stammenden Ankömmlinge sich durch Belehrungen, gezielte Maßnahmen und feierliche Erklärungen auf die kulturellen Werte des Gastlandes verpflichten lassen.174 Eine vergleichbare Argumentationsweise präsentiert in der Publikation Exodus Paul Collier, indem er zugleich die mangelhafte soziale Integration der Geflüchteten thematisiert. In den in viele Richtungen verlaufenden Überlegungen bedient er sich dabei des Begriffs einer »Determinante des Glücks sozialer Art«, wozu auf der Beispielsebene Ehe, Kinder und Freunde gezählt werden.175 Collier kategorisiert sie als einen von der materiellen Lage der Geflüchteten unabhängigen Wert, der auch angesichts der schwierigen Lebensumstände potenziell zur subjektiv wahrgenommenen Zufriedenheit beitragen kann. Die Aufmerksamkeit des Autors der Publikation richtet sich aber nicht ausschließlich auf die eng aufgefasste Privatheit der Geflüchteten, da er sich darüber bewusst ist, dass die 171 172 173 174 175

Vgl. Treibel 2015, S. 103. Vgl. Schwarz 2017, S. 184. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Collier 2015, S. 183. Diese Determinante steht im eindeutigen Kontrast zu den sozialen Gefahren und Missentwicklungen. Zu den gefährlichen sozialbedingten Nebenerscheinungen der Migration zählt ein anderer, schon mehrmals zitierter Autor Boris Palmer auf der Beispielsebene die Frustration und den übermäßigen Konsum der Suchtmittel: »Zu den Konflikten zwischen den Flüchtlingen trugen auch Alkoholprobleme einiger Männer bei. In der Halle herrschte selbstverständlich ein Verbot, das Wachpersonal achtete darauf, es durchzusetzen. Wer aber draußen Alkohol konsumierte, konnte schlecht am Betreten der Halle gehindert werden, zumal im Winter.« Palmer, Boris: Wir können nicht allen helfen. Ein Grüner über Integration und die Grenzen der Belastbarkeit. München: Siedler Verlag 2017, S. 80.

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Migration häufig mit der Trennung von Familien einhergeht, und der Migrant gewöhnlich dazu gezwungen wird, sein Leben in einer kulturell fremden Umgebung neu zu arrangieren. Auch wenn die Geflüchteten dank den Medien in ihrer Muttersprache (z. B. Radiosender oder Fernsehprogramme) den mehr oder weniger imaginativen Kontakt zu ihrer Heimat pflegen können und sich mit Familienmitgliedern oder Freunden aus der Auslandsgemeinde unmittelbar oder virtuell umgeben, fühlen sie sich dennoch im Alltag nicht selten von ihrem natürlichen Lebensmilieu getrennt, was sich eindeutig negativ auf die subjektiv empfundene Lebenszufriedenheit auswirkt.176 Dazu kommt ferner bestimmt auch der Umstand, dass die Familienmitglieder und Kinder, die allein oder mit ihren Geschwistern und Eltern nach Deutschland fliehen, in spezifischen Sozialisationsbedingungen aufwachsen. Nach Balluseck vermitteln ihnen die Politik, Recht und gesellschaftliche Strukturen auf verschiedensten Ebenen, dass sie im Grunde nicht willkommen sind und ihr Verbleib in Deutschland ungewiss bleibt. Solche Unsicherheiten im politischen und rechtlichen Status haben zweifelsohne schwerwiegende Folgen für die (gestörte) Identitätsbildung.177

2.1.3 Radikalisierung der Meinungen und Anschauungen Das massenhafte Erscheinen der Geflüchteten in Deutschland hat eine sichtbare weltanschauliche Radikalisierung verursacht. Viele Migrationsskeptiker, die die Integration der Fremden und die ›exotisch‹ wirkende Kultur der Zufluchtsuchenden nicht akzeptieren, manifestieren nach wie vor öffentlich ihre Unzufriedenheit, veranstalten Protestaktionen und verüben Gewalttaten. Als besorgniserregend kann der Umstand eingestuft werden, dass deren Zahl dem Verfassungsschutzbericht (BMI 2015) zufolge in den letzten Jahren sichtbar zugenommen hat. Kurz vor dem Beginn der sog. Flüchtlingskrise (also im Jahr

176 Collier 2015, S. 183. Zu bedeutenden unmittelbaren Gefahren und Hindernissen auf dem Weg der Integration wird in dieser Position außerdem die konsequent betriebene Abkapselung innerhalb der bisher bevorzugten medialen Welt gezählt: »Nicht zuletzt sind die Medien ins Zwielicht geraten, weil Satellitenfernsehen und Internet es ermöglichen, dass Migranten in ihrer »fremden« Heimatkultur verhaftet bleiben.« Kissau, Kathrin / Hunger, Uwe: Internet und Migration. Einführung in das Buch. In: Ders. (Hrsg.): Internet und Migration. Theoretische Zugänge und empirische Befunde. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009, S. 7–14, hier S. 7. 177 Vgl. Balluseck, Hilde von: Vorwort. In: Ders. (Hrsg.), Minderjährige Flüchtlinge. Sozialisationsbedingungen, Akkulturationsstrategien und Unterstützungssysteme. Berlin: Springer Verlag 2003, S. 13–17, hier S. 13.

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2014) ist die Anzahl fremdenfeindlicher Übergriffe um knapp 24 Prozent auf 990 Taten gestiegen.178 Von Anfang an provozierte die neue Flüchtlingslage in Deutschland Situationen, in denen Verwaltungen und die deutsche Regierung selbst (vor allem die Bundeskanzlerin Merkel), schwierige und unpopuläre Entscheidungen haben treffen müssen. Die Kanzlerin wurde dabei heftig von den Oppositionsparteien kritisiert, nicht zufällig urteilte über Merkel auch der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, der seine Skepsis in der Aussage verkündete: »Sie hatte Herz, aber keinen Plan.«179 Die nicht immer erfolgreiche Bewältigung der organisatorischen Schwierigkeiten in den Jahren 2015–2016 trug naturgemäß auch zur sinkenden Popularität der deutschen Regierung sowohl im In-, als auch im Ausland bei.180 In Deutschland, das von Beginn an zu jenen EU-Ländern gehörte, die die meisten Zufluchtsuchenden aufgenommen haben, wurden bereits am Anfang der sog. Flüchtlingskrise Proteste, Aktionen und Manifestation veranstaltet, dessen Ziel es war, auf das tragische Schicksal der Zufluchtsuchenden und die wenig erfolgsversprechende Auslandspolitik sowohl auf der Bundes- als auch auf der Landesebene aufmerksam zu machen: 178 Vgl. Treibel 2015, S. 93. In der Publizistik kann man häufig Stellungnahmen begegnen, welche die Passivität der deutschen Staatsorgane gegenüber wachsender Anzahl von Gewalttätigkeiten und voranschreitender Fremdenfeindlichkeit kritisieren. Negativ bewertet die institutionellen Lösungen und Regelungen auch Miltiadis Oulios, der zugleich auf unbegründete Abschiebungsverfahren und die rücksichtslose Abwehrpolitik verweist. Seine vorwurfsvoll positionierte Argumentation eröffnet er mit einer rhetorischen Frage: »Doch wie verhält sich der deutsche Staat? Er schiebt häufig Menschen, die geschleust worden sind, wieder ab, wenn ihnen kein Asyl gewährt wird oder sie als illegalisierte Migranten aufgegriffen werden. Was wenige wissen: Die Bundesrepublik Deutschland verlangt bei einer Abschiebung obendrein noch Geld dafür. Im Klartext: Die Abschiebebeamten bringen die betroffenen Ausländer in eine Notsituation und lassen sich das auch noch bezahlen.« Oulios, Miltiadis: Das Geschäft mit der Not. In: Anderl, Gabriele / Usaty, Simon (Hrsg.): Schleppen, Schleusen, Helfen. Flucht zwischen Rettung und Ausbeutung. Wien: mandelbaum verlag 2016, S. 541–546, hier S. 541. 179 Beise 2015, S. 15. Nicht weniger kritisch erscheint die Einschätzung der deutschen Flüchtlingspolitik in der Publikation von Palmer, wobei gleichzeitig den kollektiven Reaktionen und Interpretationen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird: »Zur gleichen Zeit feierte sich das ganze Land im Rundfunk und in anderen Medien für die Öffnung der Grenzen, und die Welt staunte. Ich fand mich zunehmend im falschen Film wieder und fragte mich: Wie ist es möglich, dass der öffentliche und der halböffentliche Diskurs so auseinanderfallen?« Palmer 2017, S. 120. 180 Auffällig ist die kritische Bewertung der Politik von Angela Merkel in der Publikation von Balcerowiak. Der schon mehrmals zitierte Buchautor zieht im Rahmen seiner Argumentationsführung vor allem über populistische Parolen und Interpretationsmodelle her: »Aber es reicht nicht, den Menschen zu sagen: »Wir schaffen das.« Man muss ihnen auch sagen, wie wir das schaffen können, und zwar nicht nur auf allgemeinpolitischer Ebene, sondern konkret vor Ort, in jedem Dorf, in jedem Landkreis, in jeder Stadt.« Balcerowiak 2015, S. 116.

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Eine der spektakulärsten Aktionen war 2015 der Aufruf »Die Toten kommen« mit dem Versuch, Massengräber vor dem deutschen Reichstag zu graben, um die Toten der Flucht an den Grenzen Europas inmitten Europas zu bestatten. Nur ein Polizeieinsatz konnte die zu Hunderten erschienenen Aktivist_innen an den wiederholten symbolischen Bestattungsversuchen hindern. An die Grenzen der Performativität von Fiktion und Wirklichkeit ging daraufhin die echte Bestattungszeremonie, die von einem Imam durchgeführt wurde, und bei der eine syrische Frau, die bei der Überschreitung der EU Grenze ums Leben gekommen war, in einem Berliner Friedhof beerdigt wurde.181

Im Rahmen einer Abwehrhandlung und Gegenreaktion meldeten sich auf der anderen Seite zahlreiche Publizisten zu Wort, welche die Offenheit und liberale Ausrichtung der deutschen Migrationspolitik heftig kritisierten. In der Publikation Weltoffenes Deutschland? wird der 5. September 2015 als ein verhängnisvoller Tag mit weitreichenden Konsequenzen dargestellt: »Die Destabilisierung Deutschlands und der EU kann in direkter Linie auf das Datum im September zurückgeführt werden. Unsere Enkelkinder – und hier speziell die Mädchen unter ihnen – werden um ihre Rechte streiten müssen.«182 Auch Collier macht auf negative Konsequenzen der deutschen Migrationspolitik aufmerksam, erinnert zugleich an die Zeit der harten Verhandlungen mit der griechischen Regierung während der sog. Schuldenkrise, als die Kanzlerin in der griechischen Presse als moderner Hitler präsentiert wurde.183 Im Laufe einer offensiv positionierten Argumentation präsentiert auch ein anderer Autor, Bernhard Zepf, eine äußerst kritische Bewertung der deutschen Politik, wenn er schlussfolgert, dass ein Gewinn für das deutsche Gemeinwesen ein Staatsvertreter wäre, der »das taktische Schielen« auf kurzfristige Instrumentalisierungsmöglichkeiten des mit Migrationsproblemen verbundenen Politikfeldes unterbinden würde, »um weitere katastrophale Auswirkungen auf den sozialen Frieden hierzulande abzuwenden.«184 181 Müller, Gin: Grenzverletzer_innen und Performativität von Grenzen. In: Brandtner, Andreas / Cuba, Martina / Kreuder, Friedemann (Hrsg.): Flucht – Migration – Theater. Göttingen: V&R unipress 2017, S. 29–45, hier S. 40. 182 Weißgerber, Gunter / Schröder, Richard / Quistorp, Eva: Weltoffenes Deutschland? Zehn Thesen die unser Land verändern. Freiburg: Verlag Herder 2018, S. 98. 183 Vgl. Betts / Collier 2017, S. 121. Bereits in den Jahren 2016–2017 war eine weitgehende Abänderung der bisher betriebenen Flüchtlingspolitik vonnöten, die allerdings, worauf Collier verweist, nicht nur Deutschland, sondern auch andere – bisher aufgeschlossene und liberal gesinnte Länder – betraf: »Wie Schweden verfolgte Deutschland zunächst eine Politik der offenen Tür, hatte jedoch bald mit massiven Konsequenzen zu kämpfen. Auch in Schweden gewann eine rechtspopulistische Partei rasant an Unterstützern und führte in mehreren Umfragen, woraufhin die Regierung, eine rot-grüne Koalition, rasch eine politische Kehrtwende vollzog«. Ebd., S. 127. 184 Zepf, Bernhard: Vom Ende der Sozialromantik. Ein Versuch zum Staatsverständnis in der Migrations- und Asyldebatte. In: Brodorotti, Helene von / Stockmann, Christian (Hrsg.): Rassismus und deutsche Asylpolitik – Deutschland wohin?! Frankfurt am Main: IKO – Verlag für Interkulturelle Kommunikation 1995, S. 213–228, hier S. 227.

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Der Blick auf Zeitungsartikel und publizistische Abhandlungen seit 2015 macht die Annahme legitim, dass zu den Kritikern der deutschen Regierung nicht ausschließlich radikale Vertreter der Rechtsparteien wie AfD oder NPD gehören. Häufig drücken ihre weitestgehende Skepsis und Unzufriedenheit auch migrationskritische Politiker und Journalisten oder gewaltbereite Populisten aus, die sich anscheinend zum Schutz der Hilfsbedürftigen auf das Asylrecht oder gar das Christentum berufen, um dann aber selbst symbolische oder unmittelbare Gewalt legitimieren zu können.185 Die unzufriedenen Bürger – gut ausgebildete Großstadteinwohner und Akademiker gehören in dieser Gruppe zu keiner Seltenheit – manifestieren ihren Widerstand gegen die bisherige Flüchtlingspolitik ebenso in zahlreichen Aufmärschen von Pegida. Die 2014 in Dresden gegründete Organisation der »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« richtet sich gewöhnlich pauschal gegen Menschen mit deutlichen Fremdheitsattributen, also gegen jene, die anders aussehen, ganz unabhängig von ihrem sozialen und materiellen Status.186 Schließlich spielt es keine Rolle, so Quinn, ob es sich dabei um einen ausländischen bzw. nicht-deutschen Dozenten an der Uni oder um einen schutzsuchenden Geflüchteten aus Syrien handelt. Innerhalb der deutschen Gesellschaft wird auch eine Tendenz immer deutlicher sichtbar, den Kontakt zu den Fremden zu vermeiden. In diesem Zusammenhang bedient sich Quinn einer bildhaften Metapher, die von einer rhetorischen Frage eingeleitet wird: »Was geschieht hier? Man sieht eine Weinbergschnecke, die mit ihren Fühlern an ein Hindernis stößt, und sich zur Sicherheit in ihr Haus zurückzieht, ein Haus, in das eben nur Weinbergschnecken (oder Schweizer, oder Deutsche) hineinpassen.«187 Zweifelsohne werden auch MigrantInnen, die schon länger in Deutschland leben und mittlerweile deutsche Staatsbürgerschaft haben, nicht automatisch als deutsche Mitbürger respektiert und anerkannt. Nach Ulrike Kluge und Seyran Bostanci werden vor allem die muslimischen MigrantInnen »nach wie vor als ›Fremde‹ oder als ›Ausländer‹ stigmatisiert, ohne Berücksichtigung ihrer Staatsbürgerschaft.«188 185 Vgl. Palmer 2017, S. 166. Vor diesem Hintergrund wundert das Postulat von Heiner Bielefeldt nicht, das sowohl die Minorität als auch die Mehrheitsgesellschaft betrifft: »Religionsfreiheit muss natürlich auch mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit einhergehen, weil auch das ein Menschenrecht ist.« Bielefeldt, Heiner: Religiöser Pluralismus im säkularen Rechtsstaat. In: Nagel, Helga / Jansen, Mechtild M. (Hrsg.): Religion und Migration. Bad Homburg: VAS – Verlag für Akademische Schriften 2007, S. 25–36, hier S. 26. Vgl. Palmer 2017, S. 24. 186 Vgl. Kipping 2016, S. 145. 187 Ammicht Quinn 2013, S. 113. 188 Kluge / Bostanci 2012, S. 21. Die Autorinnen der Publikation bedienen sich dabei einer historisch fundierten Parallele: »Für die Fremdmarkierung und Ausgrenzung muss nicht immer eine tatsächliche oder zugeschriebene Migrationsgeschichte der ausschlaggebende Grund sein, wie sich in der Verfolgung der Juden in Deutschland zeigte, bei denen es sich zum größten Teil um deutsche Mitbürger handelte.« Ebd., S. 26.

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In Anlehnung an die Position von Katja Kipping erscheint darüber hinaus die Annahme legitim, dass sowohl die Vertreter der Minderheiten als auch die angeblichen Verteidiger der Interessen der Mehrheitsbevölkerung im Umfeld solcher Aufmärsche einer akuten Bedrohung ausgesetzt werden.189 Dies veranlasst die schon mehrmals zitierte Autorin zur Formulierung eines Postulats und einer Aufforderung, die sich nicht nur an die Staatsgewalt, sondern vor allem an die Vertreter des Bildungssystems richten: Es gilt, alles zu unternehmen, damit Menschenverachtung, Rassismus und Nazi-Propaganda erst gar nicht in die Köpfe und Herzen von Kindern einziehen. Insofern haben die Schulen eine wichtige Schlüsselfunktion. Doch wie gut sind die Schulen und Lehrkräfte aufgestellt für diese zentrale Aufgabe? Kommen Neue in die Klasse, kommt es schon mal zu Reibungen – übrigens ganz unabhängig davon, welcher Nationalität diese sind. Auch auf dem Schulhof bilden sich nun mal Grüppchen von Kindern und Jugendlichen, die sich mögen oder eben skeptisch beäugen.190

Nicht allein die Schulen und andere Bildungsinstitutionen erscheinen hierzu als Bereiche, die angesichts der rassistischen Anschauungen und Handlungen sensibilisiert werden sollten. Zepf verweist auf die gattungsspezifische Einzigartigkeit des in Deutschland in den letzten Jahren getarnt vorkommenden Rassismus, der sich vor allem in der Politik unterschwellig verbreitet. Zwar kämpft kein ernstzunehmender Vertreter des Bundestags mit rassistischen Parolen und argumentiert keinesfalls mit der naturbedingten Überlegenheit der weißen Rasse, so der Autor der Publikation Vom Ende der Sozialromantik, dennoch kann man sich bei der näheren Analyse der gängigen Meinungen des Eindrucks nicht erwehren, dass »ein Großteil der Bevölkerung diese Parolen sowieso glaubt und er, wie jedermann, weiß, daß man darüber besser nicht so laut spricht, weil selbstverständlich auch die Schwarzen im Grunde genommen ganz arme Menschen sind!«191 Die Popularität solcher Stellungnahmen und Zuordnungen ist in Deutschland allerdings nicht allein auf die Anwesenheit der Minderheiten mit Migrationshintergrund zurückzuführen. Christian Stockmann stellt diesbezüglich eine These auf, dass es auch ohne ihre Anwesenheit unbegründet wäre zu behaupten, dass dadurch »der braune Dämon« gezähmt worden wäre.192 Zwar ist das Land, 189 Vgl. Kipping 2016, S. 145. 190 Kipping 2016, S. 147. 191 Zepf 1995, S. 219. Auf die nichtlinear verlaufende Meinungsbildung im öffentlichen und privaten Bereich verweist auch Palmer: »Im Rückblick denke ich, dass die Spannung zwischen öffentlicher Meinung und dem halböffentlichen Diskurs, also dem, was man am Arbeitslatz oder unter Freunden bespricht, zu groß gewesen ist und zu lange angehalten hat.« Palmer 2017, S. 123. 192 Vgl. Stockmann, Christian: Sozialdiagnose Deutschland – doch nur ein Rassismusmärchen? In: Brodorotti, Helene von / Stockmann, Christian (Hrsg.): Rassismus und deutsche Asyl-

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so der Autor der Sozialdiagnose Deutschland, heutzutage auf den Zuzug von Nicht-Deutschen angewiesen,193 dennoch selbst wenn es in der Bundesrepublik nur die sog. ›Einheimischen‹ gäbe, würde »die Problemprojektion dann andere Randgruppen, wie Arbeitslose, Kranke und Behinderte, bedrohen.«194 Die nähere Analyse der soeben angeführten Argumentation führt zwangsweise zum Befund, dass die mehr oder weniger illusorische Angst der Deutschen vor den Geflüchteten auf die Wirkung der fremden Kultureinflüsse zurückgeht und stets in einer dynamischen Situation begriffen ist. Die Tatsache, dass die kollektiv geteilten Angstzustände häufig einen imaginativen Ursprung haben, provoziert Stockmann sogar zu einer ironisch gefärbten Konstatierung: »Die Angst vor den Fremden ist für viele, die einen Ausländer im Stadtteil entdecken, so imaginär, daß sie leider oft nicht anders ist, als die Angst vor Aids, Russen und Raketen.«195 Dabei werden die sozialen Bilder absichtlich verfälscht und es entstehen erneut politisch gefärbte Parallelen und Deutungsschemata, die unweigerlich an die Zeit des Zweiten Weltkriegs erinnern.196 Die Negierung der Mi-

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politik – Deutschland wohin?! Frankfurt am Main: IKO – Verlag für Interkulturelle Kommunikation 1995, S. 229–241, hier S. 231. Zur Ursache einer solchen Situation gehören vor allem demographisch fundierte Prozesse. Livia Klingl beruft sich in diesem Zusammenhang erneut auf statistische Angaben, die wenig Anlass zum Optimismus geben: »Kommen heute auf 1000 Arbeitnehmer noch 626 Ruheständler, werden es – trotz des aktuellen Bevölkerungswachstums – in 45 Jahren 850 Rentner pro 1000 Aktiven sein. Für Deutschland gelten gleiche Relationen. Wir steuern auch mit Zuzug von Flüchtlingen, Bürgern anderer EU-Staaten und Arbeitsmigranten auf Seniorenrepubliken zu.« Klingl 2015, S. 22. Stockmann 1995, S. 231. Ein anderes Problem ist die sichtbare Stigmatisierung jener, die den Geflüchteten helfen wollen. So wird diese Tendenz in der Publikation von Gabriele Anderl und Simon Usaty dargestellt: »Dennoch bin ich persönlich davon überzeugt, dass heute in österreichischen und deutschen Gefängnissen Menschen inhaftiert sind, die tatsächlich anderen Menschen einfach nur auf ihrer lebensrettenden Flucht geholfen haben oder helfen wollten. Sie müssen schmerzhaft zur Kenntnis nehmen, dass sie in Deutschland und Österreich als Kriminelle gesehen werden, weil die Politik heute jegliche Fluchthilfe als verwerfliche Schlepperei kriminalisiert, zugleich aber für Asylsuchende keine legale Einreise in die Mitte Europas ermöglicht.« Hausjell, Fritz: Vorwort. In: Anderl, Gabriele / Usaty, Simon (Hrsg.): Schleppen, Schleusen, Helfen. Flucht zwischen Rettung und Ausbeutung. Wien: mandelbaum verlag 2016, S. 12–13, hier S. 12. Stockmann 1995, S. 237. Die Präsenz einer mehr oder weniger abstrakten Angst provoziert den Autoren der Publikation zu weiteren gesellschaftskritischen Stellungnahmen und Schlussfolgerungen: »Die gestiegene Angst vor Verbrechen durch Ausländer ist mit der Kriminalitätsstatistik aber nicht zu belegen. Die Wahrscheinlichkeit, mit dem Auto zu verunglücken, ist z. B. weitaus gefährlicher als ein Nachtspaziergang im Stadtpark, geschweige denn von einem ausländischen Mitbürger überfallen zu werden. Dem Straßenverkehr sind dreimal mehr Tote und Verletzte zuzuschreiben, als allen Verbrechen«. Ebd. Vom anderen Standpunkt geht allerdings Balluseck aus, der die kollektiv geteilten Interpretationen der sog. Flüchtlingskrise vom Kriegskontext lostrennt: »Wenn heute in Deutschland von Flüchtlingen die Rede ist, so assoziieren verhältnismäßig wenige Menschen die Zeit des Nationalsozialismus, in der nicht nur Juden, sondern auch viele Europäer wie Franzosen und Polen vor den Deutschen flohen.« Balluseck 2003, S. 13.

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grationsprozesse nach dem Motto: »Das Boot ist voll« verursacht, dass aus der Realität ein Mythos instruiert wird, der leicht in die Annahme »Gastarbeiter sind nur ein Provisorium« übergeht. Darüber hinaus verursachen die bewusst unternommene Abkapselung und Huldigung den gängigen Denkschemata, dass die sozialpolitische Wirklichkeit folglich nur selektiv zur Kenntnis genommen und akzeptiert wird. Und zur Bewusstseinsbildung, so Stockmann, »zählt nicht die Tatsache an sich, sondern auch deren Wahrnehmung!«197 Kritische Bewertung der sog. Flüchtlingskrise knüpft häufig an den etwas vereinfachenden Darstellungsmodus der sozialen Problematik an. Jutta Aumüller sieht z. B. innerhalb der heutigen deutschen Gesellschaft immer deutlicher das Entstehen von den fremd wirkenden und intern polarisierten Gruppierungen. Dies bleibt naturgemäß nicht ohne Einfluss auf den politischen Diskurs, in dem sich das schon früher erwähnte Schlagwort der Parallelgesellschaft immer größerer Popularität erfreut.198 Auch wenn dieser Begriff unweigerlich mit der Zeit unmittelbar nach der Wende (1989–1990) verknüpft werden kann, kehrte er einige Jahre später zurück und wurde durch das lexikalische Paar ›deutsche Leitkultur‹ komplementär ergänzt. Auslöser der erneuten Diskussion war nach Aumüller im Jahre 2000 der ehemalige CDU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz, »der im Rahmen der Zuwanderungsdebatte forderte, dass sich Zuwanderer der »deutschen Leitkultur« anpassen müssten.«199 Ähnliche Positionen vertraten neuerdings auch die Vertreter der SPD: Der Oberbürgermeister von Erfurt (bis 2017 der Thüringer Landesvorsitzender der Partei), Andreas Bausewein, »rief das kanadische Modell einer Punktetabelle in Erinnerung, in der jeder potenzielle Immigrant nach Alter, Bildungsgrad, Sprachkenntnissen und Berufserfahrung katalogisiert wird.«200 Hannes Hofbauer kommentierte einen solchen Vorschlag nicht ohne bissige Ironie; seiner Meinung nach ähnelt die Auflistung von Qualitätsmerkmalen und Arbeitsmarktchancen den Methoden, die gewöhnlich bei Versandkatalogen ihre Anwendung finden.201 Außer der vereinfachten Einstufung der Migranten und Einführung von ›plausiblen‹ Kategorien wird der immer wieder unternommene Versuch sichtbar, die Menge der Migranten und Zufluchtsuchenden mittels administrativen Regelungen einzuschränken. Horst Seehofer, ein prominenter Vertreter der CSU, 197 Stockmann 1995, S. 237. 198 Dieser Begriff offenbart sich dennoch als keine Erfindung zur Zeit der sog. Flüchtlingskrise, wenn man bedenkt, dass ihn Wilhelm Heitmeyer bereits in einem Gespräch mit der »Zeit«, das 1996 geführt wurde, bezüglich der Aktivitäten religiös-politischer Minderheiten in Deutschland verwendete. Vgl. Aumüller, Jutta: Assimilation. Kontroversen um ein migrationspolitisches Konzept. Bielefeld: transcript Verlag 2009, S. 203. 199 Ebd., S. 204. 200 Hofbauer 2018, S. 186. 201 Vgl. ebd., S. 186.

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forderte mehrmals – im Rahmen eines eher symbolischen Konflikts innerhalb der Regierungsparteien – die endgültige Festschreibung einer ›Obergrenze‹.202 Die Frage nach quantitativer Einschränkung der Flüchtlingshilfe verlor aus der heutigen Zeitperspektive nicht vollständig an Aktualität. Die mit der Bestimmung der Aufnahmekapazitäten verbundene Rhetorik ist häufig mit Verweisen auf die soziale und demographische Entwicklung in Großstädten und Ballungszentren verknüpft, insbesondere aber auf die internen Spannungen und Konflikte. Ein prominenter Politikwissenschaftler, Dieter Oberndörfer, zeichnet in einem Interview ein eher düsteres Szenario der weiteren demographischen Entwicklungen: In Großstädten werden Zuwanderer und ihre Nachkommen bald die Mehrheit stellen. Solidarität gegenüber Fremden kann aber, wie die Geschichte der Einwanderung vieler Staaten dokumentiert, nur sehr eingeschränkt erwartet werden. Oft sind ehemalige Zuwanderer schlimme Feinde neuer oder andersstämmiger Zuwanderer. Aber jedenfalls werden die Zuwanderer in Großstädten zu einer politischen Größe und können in Konstellationen, in denen wenige Prozent den Ausschlag für Sieg oder Niederlage geben, wichtiger werden.203

Das Bedrohungsgefühl, das sich unter der Mehrheitsgesellschaft rapide verbreitet, verursacht, dass sich die Integration der Neuzugewanderten als immer schwieriger offenbart.204 Balcerowiak vertritt sogar den Standpunkt, dass die dauerhafte Aufnahme von Flüchtlingen und ihre mehr oder weniger aufgezwungene Integration in jedem Land – Deutschland stellt in diesem Zusammenhang keine Ausnahme dar – ab einer gewissen Größenordnung an objektive Grenzen stoßen muss. Folglich ist eine unmittelbare Rückwirkung zwischen den objektiven Zahlen und der Aufnahmebereitschaft sichtbar, denn je mehr Flüchtlinge binnen kurzer Zeit nach Deutschland kommen, so der Autor der Monographie Faktencheck Flüchtlingskrise, »desto geringer wären deren Chancen, hier dauerhaft ein menschenwürdiges und selbstbestimmtes Leben führen zu können.«205 Eine ähnliche Einstellung präsentiert Marc Beise indem er konstatiert: »Kein Land der Welt, nicht einmal Deutschland, kann Millionen von 202 Vgl. Hartleb 2017, S. 115. 203 Bebenburg / Thieme 2012, S. 213–214. 204 Detlef Pollack verweist in diesem Zusammenhang auf die subjektiv empfundene Bedrohung seitens der fremden Kulturen: »Man könnte auch hier wieder von einer bedingten Toleranz sprechen: Sofern Ausländer die Gesetze respektieren, will man ihnen mit Toleranz begegnen. […] Das Gefühl, dass das eigene Land durch fremde Kulturen bedroht ist und dass die zunehmende Vielfalt religiöser Gruppen eine Ursache von Konflikten ist, ist ein wichtiger Prädiktor für die Ausprägung der abhängigen Variablen. Vor allem im Westen Deutschlands hat das Bedrohungsgefühl einen starken Einfluss.« Pollack, Detlef: Öffentliche Wahrnehmung des Islam in Deutschland. In: Halm, Dirk / Meyer, Hendrik (Hrsg.): Islam und die deutsche Gesellschaft. Wiesbaden: Springer Verlag 2013, S. 89–118, hier S. 106. 205 Balcerowiak 2015, S. 115.

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Flüchtlingen aus teilweise sehr fremden Kulturen aufnehmen, ohne in schwere Turbulenzen zu geraten.«206 Die Aufnahme und Integration von Neuankömmlingen wird nach Florian Hartleb nicht ausschließlich durch fehlende Aufnahmebereitschaft bzw. durch bürokratische Einschränkungen, sondern – im vergleichbaren Maße – ebenso durch den Umstand erschwert, dass viele Geflüchtete nicht richtig registriert werden können, weil sie sich absichtlich unter falscher Identität bzw. Nationalität ›verstecken‹.207 Gleichzeitig weist der Autor der Publikation Die Stunde der Populisten darauf hin, dass einige in Deutschland lebende Flüchtlinge offenbar multiple Identitäten haben. Nicht anders war es z. B. mit dem Attentäter von Berlin, Anis Amri, der sogar über 14 verfügte. Der für ein Duzend Todesopfer am Breitscheidplatz in der deutschen Hauptstadt verantwortliche Tunesier hatte darüber hinaus – was sich als besonders empörend offenbart – eine lange kriminelle Vergangenheit hinter sich und wurde nicht nur in seinem Heimatland, sondern auch in Italien vorbestraft.208 Die rücksichtlose Ermordung der zufälligen Passanten und Besucher des Weihnachtsmarktes in Berlin zog in Deutschland das Postulat einer besseren Identitätskontrolle unter den Geflüchteten nach sich. Palmer schlägt in diesem Zusammenhang sogar vor, dass auch bei den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ihre Identität durch medizinische Gutachten bzw. Herkunftsanalyse, zum Beispiel durch Dolmetscher und Dialektanalyse, geprüft werden soll.209 Eine mangelhafte Kontrolle in diesem Bereich provoziert zur Annahme, dass unter den Schutzsuchenden viele Gewalttätige oder sogar terroristische Kämpfer einen sicheren Unterschlupf finden können.210 Die Unmöglichkeit der schnellen und zuverlässigen Feststellung der Personalien von Geflüchteten hat zweifelsohne einen negativen Einfluss auf die kollektive Wahrnehmung dieser Gruppe, die schon jetzt – ähnlich wie die Beurteilung der Muslimen überhaupt – auffällig stark negativ ist. Dies belegen die Statistiken: Während in Westdeutschland lediglich 34 Prozent eine positive Haltung gegenüber Muslimen haben, so sind es im Osten Deutschlands nur 26 Prozent.211 Im europäischen Vergleich – und darauf verweist Detlef Pollack – 206 Beise 2015, S. 18. Nicht selten werden gegen die Integration von Geflüchteten durchaus ungewöhnliche, wenn nicht gar skurrile Argumente vorgetragen. So stellt z. B. David Miller fest, dass die »Einwanderer, die den westlichen Lebensstil übernehmen, mehr konsumieren und durch ihren Energiehunger einen größeren Kohlendioxidausstoß verursachen, so dass die Nettoauswirkungen der Migration auf die Umwelt letztlich doch negativ sein können.« Miller 2017, S. 106. 207 Vgl. Hartleb 2017, S. 115. 208 Vgl. ebd. 209 Vgl. Palmer 2017, S. 161. 210 Vgl. Beise 2015, S. 13–14. 211 Vgl. Pollack 2013, S. 94. Die negative Bewertung des Islam wiederspiegelt sich auch in einer kulturbezogenen Statistik: »Auf die Frage, ob der Islam in unsere westliche Welt passt,

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ist die Meinung der Deutschen kritischer als anderer westeuropäischer Nationen. Und die zunehmende Anzahl der muslimischen Einwanderer wird in Deutschland – im Unterschied zu anderen Ländern – mehrheitlich nicht als eine kulturelle Bereicherung, sondern als Belastung angesehen. Der Autor der Publikation Öffentliche Wahrnehmung des Islam in Deutschland stellt sogar fest, dass die Deutschen die religiöse Vielfalt ihres Landes weniger schätzen, als z. B. Dänen, Niederländer, Portugiesen oder Franzosen dies tun.212

2.1.4 Kulturelle Unterschiede Obwohl die Richtlinien der Debatte um die Bedeutung der Leitkultur in Deutschland häufig kritisiert werden und gleichzeitig darauf verwiesen wird, dass die Leitkultur selbst den Blick auf die Komplexität der heutigen modernen Gesellschaften verdeckt, bietet sie »einen diskursiven Ausgleich für die Unsicherheiten der Lebensgestaltung in der postindustriellen Gesellschaft.«213 Die Frage nach leitenden Kulturprinzipien berührt freilich auch solche Themen wie die Konkurrenz um Ausbildungsplätze, Bedrohung der Arbeitsstellen oder die prekäre soziale Sicherheit.214 Die Erwägung der Bedeutung von Leitkultur ist auch mit der Debatte um Assimilation verbunden, die zahlreiche Kontroversen verursacht und zwar angesichts des Umstands, dass die Assimilation gewöhnlich nicht nur als Übernahme der Kultur der Mehrheitsgruppe, sondern auch als psychische Selbstaufgabe der Person begriffen wird und sich mit der Konnotation der kulturellen Unterdrückung – wenn nicht gar mit kultureller Ausmerzung – teilweise überschneidet. Folglich kann heutzutage unerwartet eine weitgehende Tabuisierung dieses Begriffs sowohl in der Politik, als auch im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Aspekten beobachtet werden.215 Trotz der hie und da sichtbaren ethnozentrischen Tendenzen korrespondiert die soziale Wahrnehmung der fremden Kulturen im heutigen Deutschland kei-

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antworten in Westdeutschland nur 23 Prozent und in Ostdeutschland nur 21 Prozent mit Ja.« Ebd., S. 97. Eine ungewöhnliche innerdeutsche Kettenreaktion, die mit Spannungen zwischen Ost und West zu tun hat und sich demnächst auf die Wahrnehmung und Behandlung der Zugewanderten erstreckt, wurde von Kipping unter Anwendung einer sozialkritischen Argumentation dargestellt: »Etwas zugespitzt ließe sich die Fressneidkette wie folgt beschreiben: Armer Wessi sieht im armen Ossi den Neuankömmling, der ihn bedroht. Armer Ossi wiederum richtet seine Unsicherheit gegen Neuankommende aus anderen Ländern. Es ist zum Verzweifeln – anstatt gemeinsam für eine Umverteilung von Superreich zu Arm zu streiten, fällt man eher übereinander her.« Kipping 2016, S. 140. Vgl. Pollack 2013, S. 104. Aumüller 2009, S. 205. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 33.

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nesfalls mit den stark stigmatisierenden Positionen und Kategorisierungen des ausgehenden 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nur wenig erfolgsversprechend wäre von daher die Suche nach Parallelen in der kollektiven Wahrnehmung der Einwohner des Nahen Ostens, Afrikas, Ozeaniens oder Südamerikas vor über einhundert Jahren, als die aus Kolonialländern nach Deutschland verschleppten ›Fremden‹ und ›Wilden‹ menschenunwürdig behandelt und in Form einer nahezu Zirkus-Attraktion für kommerzielle Zwecke ausgenutzt wurden. Quinn erinnert an das schon weitestgehend vergessene und verdrängte Kapitel des Fremdenmissbrauchs in Deutschland: Von den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts wurden dem deutschen Publikum Menschen in Tiergehegen präsentiert – »nackte Jünglinge« und Frauen, bei denen »von Kleidung kaum zu sprechen« sei […]. Menschen aus Feuerland, Samoa und anderen Kolonialländern. Der Initiator ist Carl Hagenbeck, Deutschlands wichtigste Händler mit exotischen Tieren. […] Hier haben die Feuerländer so viel Publikum, dass die Umzäunung des Straußengeheges, in dem die untergebracht sind, mehrmals niedergerissen wird.216

Besonders empörend erscheint aus der heutigen Zeitperspektive die Tatsache, dass die nach Deutschland verschleppten ›Fremden‹ nicht nur rücksichtlos ausgenutzt, sondern bald zum Opfer des rauen europäischen Klimas wurden. Ungeachtet der für sie extremen Temperaturen wurden sie nämlich als ersehnte Zuschauerattraktion von Berlin nach Leipzig, dann nach München, Stuttgart und Nürnberg gebracht, um nach wie vor Geld für ihre rücksichtslosen Peiniger zu verdienen. Wie oben erwähnt, kostete die perfide Einspannung für kommerzielle Zwecke den meisten von ihnen das Leben: Nach einigen Jahren lebten nur noch drei von den entführten ›Wilden‹, die anderen hingegen starben ohne ärztliche Hilfe an typisch europäischen Krankheiten wie Tuberkulose, Pocken oder Geschlechtskrankheiten. Besonders irritierend offenbart sich hierzu der Umstand, dass an den Menschenschauen nicht nur das einfache Volk, sondern auch prominente Vertreter der Wissenschaft teilgenommen hatten, »vor allem die Berliner Gesellschaft für Anthropologie mit ihrem Gründer Rudolf Virchow.«217 Der koloniale Hintergrund der soeben beschriebenen, in vieler Hinsicht äußerst empörenden Initiative – auch wenn Deutschland seit 1918 als kein Kolonialland eingestuft werden kann – bleibt zweifelsohne nicht ohne Einfluss ebenso auf die heutige Wahrnehmung der sog. Flüchtlingskrise in Europa.218 In Bezug

216 Ammicht Quinn 2013, S. 111. 217 Ebd. 218 Die nahezu koloniale Auslandspolitik der heutigen westlichen Demokratien, die sich vor allem nach kommerziellen Gewinnen orientiert, wird von Balcerowiak ins Visier genommen: »Waffenexporte in Krisenregionen, die Unterstützung diktatorischer Regimes und militärischer Aggressionen und eine »Entwicklungspolitik«, die mehr an den Profitinter-

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auf die deutschsprachigen Länder darf man freilich nicht außer Acht lassen – und darauf macht Bulayumi aufmerksam – dass jene von ihnen, die keine Kolonien im Übersee hatten (zu dieser Gruppe gehört z. B. Österreich), die Verantwortung für globale Migrationsprozesse mit Zurückhaltung interpretieren. Die meisten Bürger der ehemaligen Habsburger Monarchie sehen sich heute nämlich anscheinend nicht dazu verpflichtet – worauf die Autoren der Publikation Lampedusa verweisen – Menschen aus ehemaligen Kolonialgebieten anderer Länder aufzunehmen.219 Till Bastian vertritt in diesem Zusammenhang den Standpunkt, dass die Völker, deren Aufnahmebereitschaft eher gering ist, zwar anscheinend von keinen kollektiven Gewissensbissen gepeinigt werden – es entsteht also kein schmerzliches Gefühl, gegen moralische Normen verstoßen zu haben – dennoch erweist sich die mangelnde Übereinstimmung der Lebensrealität mit dem vom einzelnen selbst entworfenen Ideal-Bild problematisch. Gemeint ist in diesem Zusammenhang auch das »Selbst-Ideal« mit seinen immanenten Wunschvorstellungen und Größenphantasien.220 Abgesehen von den kolonial verankerten Deutungen und Interpretationen provoziert das massenhafte Erscheinen der Geflüchteten in Europa die Fragestellung nach unüberbrückbaren kulturellen Differenzen, also nach der Unmöglichkeit der Assimilation bzw. der friedlichen Koexistenz zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den Minoritäten. Einerseits wird immer wieder die Frage gestellt, wie sich das für die arabische Kultur typische männliche Herrschaftsgefüge behaupten kann, »ohne sich ständig in gewaltsamen Niederschlagungen von Auflehnung der Herrschaftsunterworfenen durchsetzen zu

essen der betroffenen Länder ausgerichtet ist, sind jedenfalls Treibsätze für die Flüchtlingsströme von morgen.« Balcerowiak 2015, S. 116. 219 Bulayumi, Espérance-Francois / Anderl, Gabriele / Usaty, Simon: Lampedusa. Von der Globalisierung der Gleichgültigkeit. Wien: mandelbaum verlag 2016, S. 437. Folglich »haben Menschen aus Libyen, Somalia, Afghanistan, Honduras oder Pakistan, die wegen politischer Instabilität oder Staatsversagen ihre Heimat verlassen, wenig Aussicht, als Flüchtlinge anerkannt zu werden und ein Bleiberecht zu erhalten.« Bhabha 2019, S. 73. Ähnliche Tendenzen und Interpretationsschemata, wie jene in Österreich, kann man nach Mirjam Berger ebenfalls in seinem westlichen Nachbarland beobachten: »Und wie verhält es sich in der Schweiz mit diesen Themen? In der Schweiz sind geflüchtete Menschen aus verschiedenen Gründen nahezu unsichtbar. Nicht nur weil die Schweiz kein großes Destinations- oder Transitland ist und in absoluten Zahlen weniger Geflüchtete der aktuellen Flüchtlingswelle aufnimmt wie Deutschland oder Österreich. Andererseits ist vermutlich der seit Jahrzehnten sehr hohe Ausländeranteil der Schweiz die Ursache dafür, dass die Flüchtlingsthematik innerhalb des Landes, dem kein Meer vorgelagert ist, totgeschwiegen wird.« Berger, Mirjam: Blick nach Außen – »Flüchtlingstheater« in der Schweiz. Gedanken und Beobachtungen einer Schweizer Erasmusstudierenden. In: Birgit, Peter / Pfeiffer, Gabriele C. (Hrsg.) Flucht – Migration – Theater. Göttingen: V&R unipress 2017, S. 49–54, hier S. 49. 220 Vgl. Bastian, Till: Die seelenlose Gesellschaft. Wie unser Ich verloren geht. München: Kösel Verlag 2012, S. 23.

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müssen.«221 Andererseits bleibt das Problem der unproportionierten und diskriminierenden Verteilung der Geschlechterrollen und Emanzipation der Frauen ungelöst. In der Publizistik wird häufig ein Argument vorgebracht, dass alleinstehende junge Frauen, oftmals kinderlos, wie sie in Zentral- und Westeuropa häufig anzutreffen sind, in den Herkunftsländern der muslimischen Einwanderer im Grunde nicht gekannt werden.222 In Anlehnung an die Position von Birgit Rommelspacher müsste man in diesem Zusammenhang auch darauf aufmerksam machen, dass die Emanzipation muslimischer Frauen keineswegs seit Beginn der Einwanderung angeworbener Arbeiter und Arbeiterinnen (also der sog. ›Gastarbeiter‹) aus der Türkei und den Balkanländern in den 1950er Jahren ins Zentrum der in Deutschland geführten Debatten gestellt wird, sondern erst ab etwa den 1990er Jahren immer sichtbarer in den Medien thematisiert wird und die öffentlichen Diskurse mitprägt.223 Mit den Geschlechterrollen vor dem Hintergrund kultureller Unterschiede und – in einer etwas breiteren Auffassung – mit sozialen Spannungen angesichts der sog. Migrationskrise, befasst sich ebenso Ann-Kathrin Eckardt, die in der 2017 erschienenen Publikation Flucht und Segen eine eher bittere sozialpolitische Bilanz zieht: Ganz Deutschland diskutiert über den arabischen Mann als Gefahr für die deutsche Frau. Fast täglich brennt irgendwo eine Flüchtlingsunterkunft. Die AfD labt sich an der Gesamtsituation. Und die Deutschen? Haben jetzt plötzlich ein diffuses Gefühl von Beklemmung – manche wegen der Hetzer, andere aus Angst vor männlichen Flüchtlingen, wieder andere fragen sich, ob man vielleicht doch zu viele Flüchtlinge ins Land gelassen hat.224

221 Schultheis, Franz: Symbolische Gewalt. Zur Genese eines Schlüsselkonzepts der bourdieuschen Soziologie. In: Schmidt, Robert / Woltersdorff, Volker (Hrsg.): Symbolische Gewalt. Herrschaftsanalyse nach Pierre Bourdieu. Konstanz: UVK Verlag 2008, S. 25–44, hier S. 31. 222 Vgl. Hofbauer 2018, S. 247. 223 Rommelspacher, Birgit: Emanzipationsansprüche einer multikulturellen Gesellschaft. In: Ariëns, Elke / Richter, Emanuel / Sicking, Manfred (Hrsg.): Multikulturalität in Europa. Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft. Bielefeld: transcript Verlag 2013, S. 125–146, hier S. 125. Abgesehen von der geschlechtsbezogenen Problematik thematisiert die Voraussetzungen der erfolgreichen Integration zur Zeit des sog. Wirtschaftswunders – mit gleichzeitigem Rekurs auf die heutige Zeit – Ghassan Hage: »Nation und Nationalstaat waren zu jener Zeit mehr oder weniger deckungsgleich mit der nationalen Ökonomie. Wenn man einen Job hatte, war man bereits in die Nation integriert. Und wenn man keinen hatte, vermittelte einem der Wohlfahrtsstaat ein Gefühl der Integration. Globalisierung und Neoliberalismus bedeuten in vielen Bereichen ein Loslösen der Ökonomie vom Nationalen.« Hage, Ghassan: Der unregierbare Muslim. Jenseits der Biopolarität von Multikultur und Assimilation. In: Hess, Sabine / Binder, Jana / Moser Johannes (Hrsg.): No integration?! Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte in Europa. Bielefeld: transcript Verlag 2015, S. 73–92, hier S. 89. 224 Eckardt, Ann-Kathrin: Flucht und Segen. Die ehrliche Bilanz meiner Flüchtlingshilfe. München: Pantheon Verlag 2017, S. 184.

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Potenzielle Spannungen zwischen der Mehrheitsbevölkerung und den Zugewanderten sowie eine andere Verteilung der Geschlechterrollen in der arabischen Welt beschreibt ausführlich der assimilierte und in Deutschland tätige Lehrer mit Migrationshintergrund Ahmad Mansour.225 In der Publikation Klartext zur Integration. Gegen falsche Toleranz und Panikmache kritisiert er einerseits den islamischen Fundamentalismus, andererseits bewertet er äußerst kritisch die Beziehungen zwischen der deutschen Majorität und den Zugewanderten. Indem er den Begriff »Kuscheltier-Phänomen« einführt, beschreibt er zugleich Situationen, in denen den Geflüchteten weitgehende Unmündigkeit und geistige Abhängigkeit zugeschrieben werden, die sich freilich daraus herleiten lassen, dass von Migranten gewöhnlich eine passive Haltung verlangt wird. Nicht anders ist es nach Mansour in der Bildung: Auch wenn Probleme, die es in den deutschen Schulen gibt, anscheinend nur Reaktionen der Schüler auf Diskriminierungen seien, legitimiert dies keinesfalls, so der Autor der Publikation, das passive Verhalten der arabischstämmigen Migranten.226 Das Muster einer passiven Erwartungshaltung, in der realitätsfremde Forderungen einen besonderen Platz einnehmen, beschreibt ebenso Eckhardt in der schon mehrmals zitierten Publikation Flucht und Segen. Nicht ohne Empörung beschreibt sie die Einstellung einer geflüchteten Familie, die seit sieben Jahren erwerbslos bleibt und für die – wie die Autorin mittels einer nahezu sarkastischen Narration feststellt – ein abstrakter Staat Miete, Essen, Arzt und Kindergarten bezahlt.227 Die durchaus hoffnungslose Existenz der langfristig erwerbslosen Familie motiviert ihre Mitglieder allerdings nicht zur Veränderung ihrer Lebenslange, sondern verursacht, dass sie nur noch weitere Forderungen stellen. Die sich ständig höhere Lebensstandarte wünschende Familie verlangt beispielsweise – was als besonders irritierend dargestellt wird – nach Finanzierung eines Personalwagens.228 In ihren Augen – konstatiert verbittert die Autorin der Publikation – ist Europa nicht der Ort der Zuflucht, sondern vor allem eine kulturelle, administrative und politische Einheit, die für ihre Misere verant225 Vgl. Mansour 2018, S. 57. 226 Vgl. ebd. 227 Eckardt 2017, S. 69. Das Augenmerk der öffentlichen Meinung zog in den letzten Jahren zweifelsohne auch der empörende Kasus eines Geflüchteten, der am Amtsgericht Zwickau im Dezember 2017 entschieden wurde. »Die Welt« berichtete am 8. Dezember 2017 von einem aggressiven und provozierenden Verhalten des Angeklagten: »Außerdem soll er Polizisten bespuckt und Frauen als ›Nazi-Hure‹ und ›Scheißdeutsche‹ bezeichnet haben.« Weißgerber / Schröder / Quistorp 2018, S. 94. Unabhängig davon macht Bude auf einige paradoxe Zustände – die mit der Anwesenheit der Geflüchteten verbunden sind – aufmerksam: »Einem illegal sich in Deutschland aufhaltenden Rollstuhlfahrer wird man die Benutzung eines Aufzugs zum Bahnsteigs des S-Bahnhofes nicht verwehren, aber Leistungen eines Physiotherapeuten wird man ihm selbst bei dringendem Bedarf verweigern.« Bude 2008, S. 258. 228 Vgl. Eckardt 2017, S. 69.

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wortlich ist. Weil sie es offensichtlich nicht mehr akzeptieren dazu verdammt zu sein, in Afrika oder Afghanistan zu leben, also in Ländern, die ihnen keine Perspektive bieten, stellen sie viele mehr oder weniger realitätsfremde Forderungen nach dem Motto »Europa muss uns helfen«.229 In der Debatte um Assimilation der Zufluchtsuchenden – gemeint sind hierbei aber auch die Deutschen mit Migrationshintergrund – werden immer häufiger Stimmen vernehmbar, dass die oktroyierte Andersartigkeit der Migranten auch jene betrifft, die in der zweiten oder dritten Generation in Deutschland leben. Der Eindruck der Fremdheit und Andersartigkeit kann in ihrem Fall weder mit Sprachkenntnissen noch mit der Staatsbürgerschaft überwunden werden und zwar angesichts des Umstands, dass das Ausschlaggebende bei einer exkludierenden Kategorisierung nicht die Bildung bzw. die soziale Position, sondern lediglich die deutlich erkennbaren, phänotypischen Merkmale wie das Aussehen oder ein ausländisch klingender Name sind. Ausgerechnet diese – vorwiegend äußeren Attribute – bestimmen häufig die klare Bewertung und mehr oder weniger eindeutige Zuordnung zu einer der von Fremdheit gekennzeichneten Kategorien. Sie tragen ebenso zur arbiträren Entscheidung bei, ob eine Person als einheimisch, assimiliert oder fremd abgestempelt wird.230 Die nicht zufriedenstellende Integration der Minderheiten in Deutschland ist dennoch nicht ausschließlich auf die abwertende Haltung gegenüber den Zugewanderten und auf das einzigartige Elitegefühl der Mehrheitsgesellschaft zurückzuführen. Nach Ghassan Hage gründet sie im Falle vieler Muslime auf der Überzeugung, sich als Teil einer geschlossenen ethnischen, bzw. religiöser Einheit zu verstehen. Häufig begreifen sich die deutschen Bürger mit Migrationshintergrund, so Hage, als Teil einer politisierten und transnationalen Gemeinschaft oder Umma, was von einer Vorstellung des Lebens unter dem göttlichen Gesetz begleitet wird. Ein solcher Umstand verursacht, dass die Mitglieder von gemeinschaftlichen Strukturen einen nahezu metaphysischen Transnationalismus bilden.231 Bielefeldt stellt diesbezüglich sogar fest, dass es innerhalb des in Deutschland beheimateten Islam zahlreiche Gruppen und Organisationen gibt, »die den säkularen Rechtsstaat prinzipiell oder militant ablehnen oder in verfassungsfeindlicher Weise bekämpfen.«232 Auch Palmer beurteilt äußerst kritisch die Bildung der alternativen ethnischen Strukturen und postuliert vor dem Hintergrund rapider Migrationsbewegungen den Schutz europäischer Werte. Gleichzeitig forciert er offensichtlich die unter Pegida-Anhänger populäre Behauptung, dass Europa aufzugeben, um Flüchtlingen zu helfen, ein schlechtes 229 230 231 232

Vgl. ebd., S. 70. Vgl. Kluge / Bostanci 2012, S. 20. Vgl. Hage 2015, S. 78. Bielefeldt 2007, S. 26.

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Tauschgeschäft wäre und zwar aus dem einfachen Grund, dass ohne Europa den Flüchtlingen noch weniger geholfen werden kann.233 Eine nach solchen Prinzipien konstruierte Denkweise schließt er mit der eher pessimistisch anmutenden Konstatierung ab: »Wir können nicht allen helfen, sondern nur sehr wenigen. Unsere Freiheit und unseren Wohlstand können wir nur erhalten, wenn wir sie einer sehr großen Zahl von Menschen, die danach streben und in unser Land kommen wollen, vorenthalten.«234 Die in der Publizistik betriebene Rhetorik, die den Schutz der anscheinend typisch europäischen Werte befürwortet, speist sich häufig aus expliziter Heranziehung von weitverzweigten Kontexten, die sich mehr oder weniger deutlich auf die Vergangenheit beziehen. Nicht selten wird dabei betont, dass sich ein wichtiger Unterschied zwischen der arabischen und europäischen Welt aus einer durchaus anderen Bewertung und Interpretation von historischen Ereignissen ergibt.235 Eine solche Interpretation und Auslegung der für die arabische Welt typischen Verhaltensmuster ist vor allem mit dem Umstand zu verbinden, dass viele der neu dazugekommenen Geflüchteten – so zumindest behauptet Karim – mit Judenhass aufgewachsen sind und sich auch in ihrer neuen europäischen Heimat nicht selten antisemitischen Denkschemata bedienen und die Anti-Israel-Rhetorik verwenden, »ohne dass ihnen bewusst ist, dass sie damit schon antisemitische Ausdrücke benutzen.«236 Unabhängig davon sind nicht allein der mehr oder weniger getarnte Antisemitismus, die eher skeptische Einstellung der Geflüchteten zu typisch europäischen Werten und Traditionen sowie ihr sichtbarer Hang zur Bildung von geschlossenen Gesellschaften als ein unüberbrückbarer Stolperstein auf dem Weg zur erfolgreichen Integration einzustufen. Miller erblickt die misslungene Assimilation und Integration vor allem in dem fehlenden Vertrauen. Schuld ist in diesem Zusammenhang nicht nur die sichtbar zurückhaltende Einstellung der 233 Vgl. Palmer 2017, S. 34. 234 Ebd., S. 28. 235 Jaafar Abdul Karim exemplifiziert dies am Beispiel einer Museumsmitarbeiterin, die sich selbst aus der Gruppe der Geflüchteten rekrutiert, und die u. a. an einem Ausstellungsstück, einer weißen Skulptur mit Miniaturfiguren, den Zugewanderten den Holocaust erklärt. Dabei informiert sie die Besucher, dass allein im Zweiten Weltkrieg sechs Millionen Juden vom Nazi-Regime getötet wurden. Sie kann sich dabei des Eindrucks nicht erwehren, »dass manche Araber der Meinung sind, dass der Holocaust nicht, oder in deutlich geringerem Ausmaß, stattgefunden hat. Das, was für die meisten Deutschen selbstverständlich ist – schuldbewusste Erinnerungskultur –, ist für die neu dazugezogenen Araber unbekannt.« Jaafar, Abdul Karim: Fremde oder Freunde? Was die junge arabische Community denkt, fühlt und bewegt. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2018, S. 176. 236 Jaafar 2018, S. 177. Der mehr oder weniger deutlich spürbare Antisemitismus der Neuzugwanderten provoziert Karim zu einem Apell: »Jeder muss wissen, dass die Leugnung des Holocaust in allen deutschsprachigen Ländern eine Straftat ist, und jeder muss wissen, dass Deutschland eine Verantwortung gegenüber den Juden hat.« Ebd.

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europäischen Staaten gegenüber den Geflüchteten, sondern unmittelbar der Umstand, dass für eine gut funktionierende Demokratie – außer den institutionellen Verwaltungsstrukturen – auch das kollektiv geteilte Vertrauen besonders relevant ist. Vor diesem Horizont kann die Einwanderung als ein Prozess mit negativen Folgen bewertet werden, da sie normalerweise verursacht, »dass sich die ethnische und religiöse Vielfalt in der Gesellschaft des Aufnahmelandes vergrößert«,237 was die Intensivierung der zwischenmenschlichen Beziehungen erschwert und folglich ein sichtbarer Rückgang des kollektiven Vertrauens eintreten muss. All dies veranlasst Miller zu einer eindeutig kritischen Stellungnahme: »Es gibt Anzeichen dafür, dass kulturelle Unterschiede zwischen den Mitgliedern eines politischen Gemeinwesens sowohl das zwischenmenschliche Vertrauen als auch das Vertrauen in die politischen Institutionen schmälern können.«238

2.1.5 Geflüchtete als Terroristen In den weit verzweigten Überlegungen zur Gewalttätigkeit und Aggression stellt Jörg Baberowski eine These auf, dass der Hang zur Gewalt keine außergewöhnliche Erscheinung, sondern eine menschenspezifische Eigenschaft ist. Dies kann freilich auch unmittelbar mit der Tatsache verknüpft werden, dass auch friedliche, kultivierte und wohlgebildete Menschen potenziell zu ›Kampfmaschinen‹ und Mördern werden können. »Darin zeigt sich nicht die Perversion der Täter« – stellt der Autor der Publikation Gewalt verstehen fest – »sondern die dunkle Seite ihres Menschseins. Wir können es nicht ändern. Aber wir können Vorkehrungen treffen, die Menschen davon abhalten, Gewalt auszuüben und andere dazu zu nötigen, auf ihre Gewalt mit neuer Gewalt zu antworten.«239 Angesichts der gerade dargestellten Argumentation offenbart sich die Gewalt nicht nur als eine Reihe von Handlungen, die den instrumentalen bzw. ›pragmatischen‹ Zielen untergeordnet werden, sondern auch als eine verhängnisvolle Ausdrucksmöglichkeit, der sich jeder zu beliebiger Zeit bedienen kann.240 Die Gewalt wird darüber hinaus durch die Eigenschaft bestimmt, dass ihre Natur und Ausübung irrational ist, mit atavistischen Instinkten zusammenhängt und mit der ›tierischen‹ Natur des Menschen verzahnt ist. Das Phänomen der irrationalen Motivation der Gewaltanwendung schildert Baberowski in einer lakonischen Feststellung: »Wenn die Gewalt spricht, schweigt das Argument.«241 237 238 239 240 241

Miller 2017, S. 104. Ebd., S. 103. Baberowski 2012, S. 48. Vgl. ebd., S. 37. Ebd., S. 47.

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›Fluchtpunkt Deutschland‹

Die Eindrücklichkeit des gegenwärtigen Terrorismus besteht vor allem darin, dass er dank medialer Vermittlung global präsent ist und dadurch als eine ›hautnahe‹ Erfahrung empfunden wird.242 Grausame, erschütternde Terrorakte verwandeln sich schnell in mediale Spektakel mit globaler Reichweite und der Ort des Geschehens spielt hier keine entscheidende Rolle, denn die Gewalttätigkeiten richten sich zwangsweise mit einer realen bzw. imaginativen Kraft an das globale Publikum. Von daher verwenden die Terroristen gut durchdachte, soziotechnisch begründete Strategien: Wenn sie ihre Anschläge planen, nehmen sie gewöhnlich eine große Anzahl von Opfern unterschiedlicher Herkunft in Kauf und machen alles, um möglichst große mediale und symbolische Resonanz zu bewirken.243 Typisch für Terrorakte ist auch das Bestreben, ganze Gesellschaften in einen Angstzustand zu versetzen und den Prozess der kollektiven Traumatisierung einzuleiten. Es unterliegt keinem Zweifel, dass nicht nur Angehörige der Opfer bzw. die Zuschauer, die von der Gewalttat mehr oder weniger direkt betroffen sind, sondern vor allem die Überlebenden vom Anschlag, langfristig physisch und psychisch belastet sind. Die Gewalterfahrung wird sich in ihrer Erinnerung für immer festsetzten und auf diese Weise ihr Handeln und Denken beherrschen.244 Nicht unbedeutend ist hierbei der vielschichtig verlaufende Prozess der Traumatisierung, der die Überlebenden und Zeugen der Terrorgewalt unmittelbar erfasst. Er hat zweifelsohne eine nachhaltige Wirkung und zieht schwerwiegende Nebenwirkungen nach sich. Zu den häufig vorkommenden Syndromen gehört u. a. der Zustand der geistigen Lähmung,245 der sich darin offenbart, dass auch wenn der Traumatisierte intensive Gefühle empfindet, ist er dennoch 242 Terroristische Handlungen, was sicherlich als ein Nebenaspekt ihrer Wirkung betrachtet werden kann, veranlassen die Empfänger von medialen Berichten zu Nachgedanken über existenzielle Fragen, die thematisch mit dem Sinn des Lebens und der Perspektive des Todes verbunden sind. In Anlehnung an Marta Nussbaum erscheint die These legitim, dass auch wenn das Bewusstsein des Todes allgegenwärtig ist – da es sich nicht so einfach verdrängen lässt und das Ende der menschlichen Existenz im Grunde jederzeit eintreten kann – so verdrängen viele diese Tatsache kontinuierlich und lassen sich, wie es die Autorin der Publikation Die neue religiöse Intoleranz formuliert, »von der Phantasie der Unverwundbarkeit mitreißen. Menschen oder Ereignisse, die diese Phantasie zum Platzen bringen, werden vermutlich besonders gefürchtet.« Nussbaum, Martha: Die neue religiöse Intoleranz. Ein Ausweg aus der Politik der Angst. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2014, S. 34. 243 Vgl. Treibel 2015, S. 85. 244 Vgl. Baberowski 2012, S. 43. 245 Es handelt sich hierbei nicht ausschließlich um die geistige, sondern auch um die somatisch bedingte Dysfunktion: »Die Lokomotion wird bei manchen neurotischen Zuständen durch Gehunlust und Gehschwäche gehemmt, die hysterische Behinderung bedient sich der motorischen Lähmung des Bewegungsapparates oder schafft eine spezialisierte Aufhebung dieser einen Funktion desselben (Abasie).« Freud, Sigmund: Hemmung, Symptom und Angst. Hamburg: Nikol Verlagsgesellschaft 2010, S. 7.

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nicht imstande, sich genau an das Ereignis zu erinnern und den Verlauf der traumerzeugenden Handlung zu rekonstruieren. Der Betroffene kann dennoch unter Umständen den Zustand nochmals erleben, in dem er sich an jedes Detail erinnert, ohne dabei irgendwelche Emotionen zu empfinden.246 Auf der anderen Seite – und dies hat auf die gesellschaftliche Perspektive eine nicht unbedeutende Wirkung – auch lange Zeit nachdem die Gefahr vorüber ist, erleben Traumatisierte das Ereignis immer wieder. Ein solches Syndrom wird in der Psychologie gewöhnlich als ›Flashbacks‹ bezeichnet. Häufig finden die Betroffenen nach solchen Erlebnissen nicht schnell in ihren bisherigen Lebensrhythmus zurück, »weil das Trauma sie immer wieder herausreißt. Es ist, als wäre für sie die Zeit im Moment des Traumas stehen geblieben.«247 Der Terrorismus offenbart sich zweifelsohne als ein wirksames Instrument gegen die westlichen, häufig unvorbereiteten, wenn nicht gar schutzlosen Gesellschaften. Größenwahnsinnige Psycho- und Soziopathen haben in ihrem Verfolgungswahn einen relativ leichten Zugang zu den offenen Strukturen eines demokratischen Staates und können von daher – häufig ungehindert –, wie es Theodor Itten formuliert, alle um sie herum in den tödlichen Abgrund ziehen.248 Dies hat zur Folge, dass die betroffenen Gesellschaften die unablässige Bedrohung mit der Verletzung oder mit dem Tod empfinden, was zweifelsohne eine andere Machthandlung als jene Repression ist, die ausschließlich von strukturellen Zwängen ausgeht.249 Die Attentate der Terrorgruppen – die häufig infolge einer vereinfachenden Kategorisierung mit Dschihadisten gleichgesetzt werden – richten sich einerseits gegen die europäische Meinungsfreiheit und gegen die Sicherheit der freien Bürger, andererseits gegen die europäischen Werte, Geschlechterrollen und die für Europa typische Lebensweise.250 246 Vgl. Herman, Judith: Die Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden. Paderborn: Junfermann Verlag 2003, S. 46. Ähnliche behavioristisch motivierte Hemmungen und Missstände kann man bei Tieren beobachten: Viele »erstarren«, wenn sie angegriffen werden, so reagiert gewöhnlich die gefangene Beute gegenüber dem Jäger oder der besiegte Kämpfer in der Schlacht. Vgl. ebd., S. 54. 247 Herman 2003, S. 49. Traumatische Erlebnisse spielen sich häufig in einer realitätsfremden, irrationalen Wirklichkeit ab, manchmal wird sogar beim Erleben und »der Neuinszenierung des traumatischen Augenblicks das Ende der bedrohlichen Begegnung in der Fantasie verändert«. Ebd., S. 51. 248 Vgl. Itten, Theodor: Größenwahn. Ursachen und Folgen der Selbstüberschätzung. Zürich: Orell Füssli Verlag 2016, S. 51. 249 Vgl. Baberowski 2012, S. 45. 250 Anette Treibel ist der Meinung, dass die Profile der »selbst ernannten Gotteskrieger für Allahs Sache« sich auffällig ähneln und mit geschlechtlichen Zuschreibungen untrennbar verbunden sind: »Es sind Männer, die die europäische Lebensweise für ihr Versagen verantwortlich machen. Und die nun mit Waffengewalt vor allem eines anstreben: eine Gesellschaft, in der Männer Privilegien haben, die sie sich nicht erarbeiten und nicht verdienen müssen.« Treibel 2015, S. 89.

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›Fluchtpunkt Deutschland‹

Einer der erschütterndsten terroristischen Angriffe in Deutschland seit dem Beginn der sog. Flüchtlingskrise war das Attentat am Breitscheidplatz in Berlin am 19. Dezember 2016. Andreas Lindner rekonstruiert zwar nicht Schritt für Schritt den Verlauf der mörderischen Handlung des aus Tunesien stammenden Geflüchteten, weist dennoch auf das fehlende kollektive Bewusstsein und auf die Anonymität der Opfer hin: Wir alle kennen den muslimischen Mörder vom Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz 2016 mit Namen und Gesicht, der mit einem gestohlenen Lkw seinem Allah menschliche Blutopfer – westliche »Ungläubige« – darbrachte. Die Todesopfer hingegen kennen wir nicht, nicht mal ihre Anzahl. Oder wissen Sie noch, dass es 12 sind?251

Anonym bleibt allerdings nicht die Studentin aus Freiburg Maria Ladenburger, die 2016 von einem Flüchtling Hussein K. vergewaltigt und getötet wurde. Die grauenvolle Tat erhielt eine zusätzliche Aufmerksamkeit, weil das Opfer selbst – für Freiburg nicht untypisch – sich als Flüchtlingshelferin engagiert hatte.252 Die Anhäufung der Terrorakte während der sog. Flüchtlingskrise betrifft allerdings nicht nur Deutschland. Florian Hartleb erinnert an manche grauenvolle Ereignisse und Angriffe in den Nachbarländern, was er am Beispiel Frankreichs veranschaulicht: Am 7. Januar 2015 drangen zwei vermummte islamistische Täter in die Redaktion der Pariser Satirezeitschrift Charlie Hebdo ein, töteten elf Personen, verletzten mehrere Anwesende und brachten während ihrer Flucht einen weiteren Polizisten um. Einen Tag später überfiel ein weiterer schwer bewaffneter Täter einen Supermarkt, tötete vier Menschen und nahm Geiseln.253

Die Terrorakte, an denen häufig die Geflüchteten beteiligt waren, hatten massenhafte Abwehrreaktion der deutschen Bevölkerung nach sich gezogen, trugen zur Einführung von radikalen Sicherheitsmaßnahmen bei und haben saisonbedingt zu etwas geführt, was Gunter Weißberger als »die Neu-Folklore von Betonpollern zum Schutz von Weihnachtsmärkten« bezeichnet.254 Nicht allein die gerade erwähnten Terrorakte, wie das Massaker am Breitscheidplatz in Berlin oder die grausame Ermordung der Freiburger Studentin, haben einen unmittelbaren Einfluss auf die Wahrnehmung der sog. Flüchtlingskrise in Deutschland. Auf bedeutende Weise trägt zu ihrer Rezeption ohne 251 Lindner, Andreas: Islamfreie Zone. 125 Rathaus-Thesen zum politischen Umgang mit dem Islam. Norderstedt: inhaltundform Verlag 2019, S. 126. 252 Vgl. Palmer 2017, S. 157. 253 Hartleb 2017, S. 121. 254 Weißgerber / Schröder / Quistorp 2018, S. 94. Vor dem Hintergrund der terroristischen Handlungen erscheinen einige merkwürdige sprachliche Veränderungen signifikant, z. B. der kontinuierliche Verzicht auf die religiös gefärbten Bezeichnungen wie Weihnachts- oder Christkindlmarkt. Vgl. ebd.

Negative Darstellung der ›Flüchtlingskrise‹ in Deutschland

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Zweifel auch die Kölner Silvesternacht 2015 bei, die sich stark auf die öffentliche Meinung auswirkte, wenn man bedenkt, dass nicht einmal zwei Wochen danach die Demoskopen eine 60-prozentige Ablehnung von Angela Merkels Flüchtlingspolitik feststellten.255 Die sexualisierte Gewalt und die unkontrollierten Übergriffe auf deutsche Frauen verursachten intensivierte Polizeikontrollen von fremdaussehenden Passanten und viele andere radikale Sicherheitsvorkehrungen, deren Effizienz allerdings nicht immer mit der ambitionierten Zielsetzung korrespondierte. Nicht zu Unrecht konstatiert in diesem Zusammenhang Nussbaum, dass es eher wenig erfolgsversprechend ist, wenn Sicherheitsmitarbeiter jeden mit Namen Ali aufhalten, »nur weil der Name Ali auf der Flugverbots-Liste steht […]. Diese Politik ist so ineffizient wie stigmatisierend.«256 Die terroristische Gewalt seit 2015 trug auch zweifelsohne dazu bei, dass in Deutschland eine neue Mutation des Rechtspopulismus entstanden ist, die nur scheinbar nicht rassistisch argumentiert und sich ›sachlich‹ auf angebliche wirtschaftliche und soziale Interessen Deutschlands beruft.257 In diesem Zusammenhang – was sich allerdings als keine bahnbrechende Erfindung offenbart – muss eine bedeutende Rolle der medialen Vermittlung zuerkannt werden. In Anlehnung an die Position von Hausjell erscheint die These legitim, dass der übermäßige Konsum der populistisch-kommerziellen Medien – insbesondere der Boulevardpresse – verursacht, dass der Informationsempfänger die sog. Flüchtlingskrise ausschließlich durch das Prisma der Terrorakte oder Schlepperbanden sieht. In soziotechnisch operierenden medialen Vermittlungen werden folglich viele Verbrechen – je nach dem, wie man sie instrumentell einsetzen oder, etwas zugespitzt formuliert, ›verkaufen‹ kann – relativiert oder, im Gegenteil, verharmlost.258

255 256 257 258

Vgl. Palmer 2017, S. 123. Nussbaum 2014, S. 44. Vgl. Bebenburg / Thieme 2012, S. 203. Vgl. Hausjell, Fritz: Kritik und Plädoyer. Wie österreichische Medien gegenwärtig über »Schlepperei« und »Fluchthilfe« berichten – und wie sie berichten sollten. In: Anderl, Gabriele / Usaty, Simon (Hrsg.): Schleppen, Schleusen, Helfen. Flucht zwischen Rettung und Ausbeutung. Wien: mandelbaum verlag 2016, S. 534–540, hier S. 537. Auf die verhängnisvolle Rückwirkung zwischen der Berichterstattung und den sozialen Spannungen verweist Ferda Ataman: »Das Denken beeinflusst das Handeln. Die permanent negative Berichterstattung kann Ausländerfeindlichkeit und Rassismus bei der Mehrheitsgesellschaft zur Folge haben, ebenso wie Deutschenhass und Ablehnung bei den betroffenen Minderheiten. Informationen verändern die Gesellschaft. Massenmedien haben daher eine Verantwortung.« Ataman 2011, S. 129.

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2.2

›Fluchtpunkt Deutschland‹

›Refugees Welcome‹ – positive Darstellung der Flüchtlingskrise in Deutschland

2.2.1 Im Spätsommer zu Gast bei Freunden Auch wenn Geflüchteten und Migranten oft durch Negativzuschreibungen, z. B. als ›Belastung‹, ›Risiko‹, oder ›Bedrohung‹ für westliche Gesellschaften konstruiert werden, existieren – und zwar nicht unbedingt seltener – auch ihre positive Wahrnehmungen und Bewertungen.259 Nach Reinke de Buitrago betonen die positiven Darstellungen der Zugewanderten »den Zufluss neuer Ideen, das Potenzial für Innovation und wirtschaftliches Wachstum, die Schaffung von Katalysatorprozessen zur Generierung gesamtgesellschaftlichen Wohls.«260 Das Erscheinen der Nicht-Einheimischen wird des Weiteren von einer Reflexion begleitet, dass die Kulturen freilich nicht genetisch vererbt werden, sondern als variable und veränderliche Gruppierungen von Normen und Gewohnheiten vorkommen, die nebenher nicht unbedeutende Wirkung auf die materielle Sphäre haben. Die Zurückweisung rassistisch begründeter Zuordnungen erscheint vor diesem Horizont als ein Zeichen menschlichen Anstands.261 Die 2015 getroffene Entscheidung der deutschen Regierung (der Einfluss der Kanzlerin Merkel erscheint hierbei als besonders relevant) eine große Anzahl von Zufluchtsuchenden in Deutschland aufzunehmen, eröffnete den Geflüchteten de facto die Grenzen Deutschlands und gab ihrem weiteren Verbleib in Europa solide Grundlagen.262 Freilich kann man diesen mutigen Schritt, so Collier, mit der Mentalität der Deutschen verknüpfen, die nach dem verhängnisvollen 259 Dies verändert dennoch nicht viel an der Tatsache, dass die Wahrnehmung der Fremden – und dadurch auch der Zufluchtsuchenden – in den Großstädten relativ uneinheitlich bliebt: »Dicht bevölkerte städtische Regionen bringen unausweichlich zwei gegensätzliche Impulse hervor: einerseits Mixophilie (eine Vorliebe für vielfältige, heterogene Umgebungen, die unbekannte und unerforschte Erfahrungen ermöglichen und daher die Freuden des Abenteuers und der Entdeckung versprechen) und andererseits Mixophobie (die Angst vor einem nicht beherrschbaren Ausmaß an Unbekanntem, nicht zu Bändigendem, Beunruhigendem und Unkontrollierbarem).« Bauman 2016, S. 14–15. 260 Reinke de Buitrago 2018, S. 81. 261 Vgl. Collier 2015, S. 27. 262 Die Öffnung der Grenzen hat dennoch für heftige Kritik sowohl im In- als auch im Ausland gesorgt. Vor dem Hintergrund der Debatte um die Zweckmäßigkeit dieser Entscheidung erscheint allerdings der Verweis auf das Wesen der Grenzen selbst relevant, der in Überlegungen von Reinke de Buitrago präsent ist: »Durch historische und zeitliche Dimensionen umgeben, umschließen und verbinden Grenzen und prägen Zugehörigkeits- und Identitätsgefühle. Aber sie differenzieren auch und teilen das Innere vom Äußeren sowie unterschiedliche soziale und politische Ordnungen. Grenzen können dem Selbst im Gegenüber mit einem als bedrohlich wahrgenommenen Äußeren neue Sicherheit geben, aber sie können auch ein sicherer Begegnungsort für das Äußere sein.« Reinke der Buitrago 2018, S. 70.

Positive Darstellung der Flüchtlingskrise in Deutschland

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20. Jahrhundert erneut die Möglichkeit haben, die düstere Vergangenheit mindestens zum Teil zu überwinden.263 Bedeutend sind aber auch rein menschliche und humanitäre Motivationen: Die deutsche Gesellschaft ist sich zumindest seit 2015 darüber bewusst, wie groß die Bedrohung ist, der die Geflüchteten unterwegs nach Europa ausgesetzt sind. Von daher erscheint die Hilfe – nicht nur auf der materiellen sondern auch auf der symbolischen Ebene – als eine zutiefst ethische und notwendige Handlung. Bevor im September 2015 der Strom der Hilfesuchenden Deutschland erreichte, wurden einige beachtenswerte Initiativen durchgeführt, die die Gesellschaft für das sog. Flüchtlingsproblem sensibilisierten und unter den deutschen Bürgern zweifelsohne Verständnis und Unterstützung fanden. Eine unter ihnen war die Durchsetzung einer durchaus innovativen Idee, die vom Erzbistum Köln anlässlich des Flüchtlingstages am 19. Juni 2015 initiiert wurde, als 23.000 Glockenschläge an die im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge erinnerten.264 Die Glockenschläge in Köln machten aber nicht nur auf das verhängnisvolle Schicksal vieler Individuen und einzelner Opfer aufmerksam, sondern erinnerten auch implizit an die Tragödie ganzer Völker, Nationen und Staaten. Dies kann man am Beispiel Syriens zeigen, eines Staates, der infolge von Kriegshandlungen im Grunde aufgehört hat zu existieren. Wolfgang Bauer verweist darauf, dass dieses legendäre Land im Nahen Osten – das freilich auf eine lange Kulturgeschichte zurückblickt – mittlerweile nur noch in Fragmenten weiter besteht und »in eine Vielzahl von Kleinstaaten, deren Grenzen sich ständig verschieben« zerfallen ist.265 Wenn man die Aufmerksamkeit auf die letzte Dekade richtet, kommt man freilich auch zu der Überzeugung, dass bei der Entwicklung der sog. Flüchtlingskrise neben den politischen auch die wirtschaftlichen Umstände von primärer Bedeutung sind. Der gewaltige Zustrom von Menschen gefährdet gewöhnlich die Arbeitsplätze der Einheimischen nicht und zwar angesichts des Umstands, worauf Collier verweist, dass auch in den Jahren 2015–2016 die deutsche Wirtschaft boomte und das Land zusätzliche Fachkräfte und neue Arbeiter in verschiedenen Branchen brauchte.266 Auch die Befürchtungen, die aus Vorstellungen der fremden Sittlichkeit und unterschiedlichen Rechtsgewohn263 Angesichts der historischen Kontexte kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die deutsche Gesellschaft nach wie vor durch die Bewältigung des kollektiven Schuldbewusstseins geprägt ist. Es gründet vor allem auf der Tatsache, dass wegen der expansiven deutschen Politik alleine in den beiden Weltkriegen etwa 80 Millionen Menschen starben, unzählige Familien und Existenzen zerstört und zahllose Menschen aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Vgl. Marquart / Bagus 2017, S. 112. 264 Vgl. Holtkamp 2016, S. 80. 265 Bauer, Wolfgang: Über das Meer. Mit Syrern auf der Flucht nach Europa. Berlin: Edition Suhrkamp 2014, S. 131. 266 Vgl. Betts / Collier 2017, S. 127.

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heiten erwuchsen, verloren im Laufe der Zeit maßgeblich an Bedeutung.267 Das Problem der potenziellen Unterschiede in der Regelung der Verhaltensnormen – wobei die Gesetzgebung automatisch ins Zentrum der Betrachtung rückt – thematisiert Heiner Bielefeldt: »Auf der einen Seite steht das Grundbuch des Islam: der Koran. Für die christlich geprägte Mehrheitsgesellschaft wird aber nicht mit dem Gegenstück – der Bibel – argumentiert, sondern mit dem Grundgesetz.«268 Die ersten Monate nach der Verkündung und Umsetzung der offenen deutschen Flüchtlingspolitik wurden durch eine kollektiv geteilte Annahme geprägt, dass man nun jegliche egoistische und anthropozentrische Denkweise aufgeben müsse. Sichtbar war ferner der Gedanke, dass man statt von Leit- und Nationalkulturen eher von liquiden, sich beständig verändernden Kulturen in Plural sprechen sollte. Auch wenn ihr Wandel, so Kipping, und die Präsenz der internen Unterschiede gelegentlich mit Konflikten und Auseinandersetzungen verbunden werden, bleibt die kulturelle Interferenz an sich nicht bedrohlich, sondern kann als Ausdruck des Reichtums und der Lebendigkeit verschiedener Kulturmodelle angesehen werden.269 Die Offenheit gegenüber den von außen kommenden Kultureinflüssen verursachte, dass das Erscheinen der Geflüchteten durch eindeutig positive Reaktionen der deutschen Bürger begleitet wurde. Akzeptanz und Ermunterung kamen 2015, wie in Thüringen, auch aus politischen Kreisen: Vom ersten Tag an hat Ministerpräsident Bodo Ramelow einen anderen Umgang mit Geflüchteten gewählt. Sie wurden nicht als potentielle Last bezeichnet, sondern als Neubürger*innen begrüßt, auf die man sich freut. Darüber hinaus heißt Willkommenskultur auch ganz praktisch, Gelegenheiten zur Begegnung schaffen. Denn jeder,

267 Und dies vor allem angesichts des Umstands, dass die konsequente Anwendung und Beachtung deutscher Gesetzte keinen Grund für Scharia-Befürchtungen gibt, weil sich Grundgesetz und Scharia – und diesen Zusammenhang versteht freilich auch die entschiedene Mehrheit der Zugewanderten – vollständig ausschließen. Vgl. Weißgerber / Schröder / Quistorp 2018, S. 96. Nach Miller ist in dieser Hinsicht nicht nur die Akzeptanz der für Deutschland repräsentativen Rechtsordnung und der kulturellen Normen von Bedeutung, sondern auch die Beachtung der allgemein gültigen Verpflichtungen und Regeln, wozu auch die Anmeldung gehört: »Man kann zumindest die These ins Feld führen, dass jedes Rechtssystem, das diesen Namen verdient, eine gewisse Beständigkeit der Bevölkerung voraussetzt, der es dient. Damit Schuldige angeklagt, Zeugen vorgeladen, Jurys einberufen werden können und so weiter, muss der Aufenthaltsort der meisten Menschen bekannt sein.« Miller 2017, S. 99. 268 Bielefeldt 2007. S. 21. Die religiöse Indifferenz der deutschen Mehrheitsgesellschaft veranlasst den Autoren der oben zitierten Publikation auch zu manchen ironisch gefärbten Schlussfolgerungen: »Mittlerweile ist der Katholizismus für die jüngere Generation so wenig selbstverständlich geworden, dass es der Papst an »exotischem Marktwert« mit dem DalaiLama aufnehmen kann.« Ebd., S. 22. 269 Vgl. Kipping 2016, S. 132.

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der Willkommenskultur praktiziert, Flüchtlingen begegnet und davon anderen berichtet, trägt dazu bei, dass aus einer vermeintlichen anonymen Masse konkrete Menschen werden mit Gesichtern und Geschichten.270

Ohne Zweifel waren auch zuständige Hilfsorganisationen bereits 2015 an entsprechend freundlicher und offener Aufnahme von Geflüchteten beteiligt. Sie versuchten darüber hinaus ein positives Bild der Hilfesuchenden zu vermitteln und dank den Medien eine durch Offenheit und Willkommenskultur geprägte Einstellung möglichst effizient zu verbreiten. Manfred Schmidt, der Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) urteilte damals, dass er sich ein Deutschland, das keine Flüchtlinge mehr aufnimmt, nicht vorstellen könne und davon überzeugt sei, dass es dann ein vollkommen anderes Land wäre, nämlich: »Ein international isoliertes Land, das einen Großteil seiner rechtlichen und moralischen Grundlagen über Bord geworfen hätte.«271 Die positive Stimmung in der deutschen Flüchtlingspolitik veränderte sich allerdings im Laufe der Zeit. Nachdem die erste Phase der sog. Flüchtlingskrise in Deutschland durch eine offene und freundliche Aufnahme gekennzeichnet war, schlug nach der Silvesternacht in Köln die Stimmung rapide um. Am Anfang der sog. Flüchtlingskrise, also im Jahre 2015, wurde nur gelegentlich nach der Motivation der Hilfesuchenden gefragt und der Umstand ohne Weiteres akzeptiert, dass nur ein Teil der Geflüchteten dem Krieg zu entkommen versucht, nicht alle gut gebildet sind und die Mehrheit der Migranten vor allem junge Männer sind. Die letztgenannte Tatsache wurde nicht ohne Recht dadurch erklärt, dass in den Ländern, in denen Krieg oder Bürgerkrieg herrschen, gerade der männliche Teil der Bevölkerung einem sehr hohen Risiko ausgesetzt wird, bei Kampfhandlungen, ›Säuberungsaktionen‹ oder auch infolge von Terrorangriffen in umkämpften Gebieten ihr Leben zu verlieren.272 Zur positiven Wahrnehmung – vor allem der Geflüchteten aus den Kriegsgebieten im Nahen Osten – trug lange Zeit ebenfalls die Tatsache bei, dass ein unerheblicher Teil von ihnen, gut gebildet ist. Dies lässt sich am Beispiel syrischer Flüchtlinge zeigen, von denen jeder fünfte

270 Ebd., S. 142. 271 Bebenburg / Thieme 2012, S. 195. 272 Vgl. Balcerowiak 2015, S. 39. Die Tatsache, dass die Mehrheit der Geflüchteten junge Männer sind, die vor Kriegshandlungen und Terrorismus fliehen, verursacht, dass die Unterstützung für Hilfesuchenden gleichzeitig auch die Betreuung der zutiefst Traumatisierten bedeutet. Wichtigste distinktive Merkmale dieser Gruppe beschreibt Judith Hermann: »Doch gerade das innere Gleichgewicht fehlt den Traumatisierten. Sie sind gefangen zwischen zwei Extremen: zwischen Gedächtnisverlust oder Wiederbeleben des Traumas; zwischen der Sintflut intensiver, überwältigender Gefühle und der Dürre absoluter Gefühllosigkeit; zwischen gereizter, impulsiver Aktion und totaler Blockade jeglichen Handelns.« Herman 2003, S. 59.

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eine Universität oder Fachhochschule besuchte, 22 Prozent ein Gymnasium und nur drei Prozent über keinerlei Schulbildung verfügen.273 Nicht minder populär war in den ersten Monaten der sog. Flüchtlingskrise die gängige Meinung – die bis heute nicht vollständig an Aktualität verloren hat –, dass die Flüchtlinge in vieler Hinsicht nicht Gefahr, sondern Chance mit sich bringen. Marc Beise betrachtet diesen Aspekt vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Zusammenhänge: »Sie fordern uns, aber sie können uns auch fördern. Sie werden Deutschland verändern und wenn wir klug handeln, dann sogar zu unserem Vorteil. In der Wirtschaft nennt man das eine win-win-Situation.«274 Was die enthusiastische Atmosphäre des Spätsommers 2015 anbelangt – die gleichzeitig über rein wirtschaftliche Aspekte und Hintergründe hinausging – wurde sie in der Publikation Flucht und Segen von Eckardt folgenderweise rekonstruiert: Der Optimismus ist so grenzenlos wie der Horizont, Sorgen sind plötzlich in weiter Ferne, Fremde werden binnen Sekunden zu Freunden, Tränen der Rührung vermischen sich mit Tränen der Freude, das Leben pulsiert wie ein frisch verliebtes Herz. Im Spätsommer 2015 durften wir dieses Gefühl noch einmal erleben: Polizisten setzten Flüchtlingskindern ihre Mützen auf, afghanische Männer trugen deutsche Fußballtrikots, syrische Frauen weinten vor Glück. Und die Deutschen? Halfen wie die Weltmeister.275

Auch wenn heute die Bewertung der ersten Monate nach der Verkündung der offenen deutschen Flüchtlingspolitik eher kritisch ausfällt, hat gerade diese Phase viele wertvolle Spuren hinterlassen und positive Veränderungen in die Wege geleitet. Eckardt ist der Meinung, dass sie vor allem eine beachtenswerte »Flut an neuen Gesetzen oder Gesetzesänderungen, Initiativen, Maßnahmen, Sonderhaushalten und Helfergruppen nach sich gezogen«276 hat.

2.2.2 Organisatorische Hilfe, wirtschaftlicher und sozialer Hintergrund Als Antwort auf die steigende Zahl der Geflüchteten reagierte der Rat der Europäischen Union bereits in den Jahren 2008–2013 mit der Gründung des Europäischen Flüchtlingsfonds, aus dem jene Staaten entschädigt wurden, die den Geflüchteten unmittelbar Hilfe leisteten. Dies begünstigte aber nicht die sog. 273 Vgl. Balcerowiak 2015, S. 40. Abgesehen von der sog. Flüchtlingskrise weist Livia Klingl darauf hin, dass die Menschen mit Migrationshintergrund im Schnitt sogar eine bessere Bildung als die einheimischen Einwohner mancher Regionen Deutschlands (z. B. SachsenAnhalts) haben. Vgl. Klingl 2015, S. 21. 274 Beise 2015, S. 19. 275 Eckardt 2017, S. 66. 276 Ebd., S. 193.

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›Frontstaaten‹, die aus dem Fonds nur eine symbolische Geldmenge erhielten. Von daher wird diese administrative Entscheidung auch heute oft kritisiert, denn die EU hat unbestreitbar eine Regelung verabschiedet, die nicht die betroffenen Länder, sondern die mächtigsten Mitgliedstaaten bevorzugt.277 Die Kosten für die sog. Migrationskrise werden in Deutschland – was im vorigen Kapitel schon zum Teil veranschaulicht wurde – vorwiegend aus dem internen Geldtransfer zwischen Bund und Ländern finanziert.278 Nicht unbedeutend ist in diesem Zusammenhang auch die Hilfe seitens der Kirche, wenn man bedenkt, dass finanzstarke Bistümer und Erzbistümer wie Köln, München oder Freising siebenstellige Summen zur Verfügung gestellt haben. Dies bedeutet keinesfalls, dass weiniger begüterte und vermögende Diözesen wie z. B. Essen sich daran nicht beteiligten. Auch die letztgenannte »legte 2015 einen Flüchtlingsfonds von 250.000 Euro auf, um Projekte zur Integration von Flüchtlingen zu unterstützen und zu initiieren.«279 Nicht allein die finanzielle Hilfe, die von zahlreichen Organisationen geleistet wird, erscheint dabei als relevant. Wertvoll ist ebenso die Arbeit der freiwilligen und ehrenamtlichen Helfer, die sich mit großem Engagement für die Flüchtlingshilfe einsetzen. Auffällig ist dabei, dass viele von den kirchlichen Initiativen ökumenisch besetzt sind. Die erstaunlich gute Kooperation verschiedener Stiftungen und Verbände lässt sich zudem durch die Tatsache bestätigen, dass sich anscheinend gegensätzliche Organisationen, wie z. B. Sportvereine und muslimisch-türkische Gemeinden, der Förderungstätigkeit gemeinsam angeschlossen haben.280 Viele unterstützen die Hilfesuchenden materiell, versuchen zu ihrer erfolgreichen Integration beizutragen oder sorgen für unterschiedliche Vergünstigungen, z. B. organisieren den Internetzugang für Migranten, dessen Nutzung u. a. dazu dient, mithilfe Mailinglisten, Online-Communities oder Newslettern die »Formen (alternativer) politischer Öffentlichkeit herzustellen, um auf diese Weise die Zustände im Herkunftsland zu verändern.«281 277 Vgl. Betts / Collier 2017, S. 96. 278 Die finanzielle Hilfe für Geflüchtete provoziert manche kritisch eingestellten Publizisten zu ironischen, wenn nicht gar sarkastischen Kommentaren: »Ein Asylwerber aus Syrien empfindet das Taschengeld, das er für die Zeit der Bearbeitung seines Asylantrags bekommt, bereits als Reichtum. Mit diesem Geld könnte er in seiner Heimat spielend eine Herde Ziegen kaufen, sein Heim renovieren und eine Frau heiraten.« Edelbacher / Bruns / Weixlbaumer 2015, S. 10–11. 279 Holtkamp 2016, S. 122–123. 280 Vgl. ebd., S. 123. 281 Hugger, Kai-Uwe: Junge Migranten und die Verarbeitung von Hybrididentität im Internet. In: Hunger, Uwe / Kissau, Kathrin (Hrsg.): Internet und Migration. Theoretische Zugänge und empirische Befunde. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009, S. 53–72, hier S. 55. Die unkritische Internetnutzung unter Migranten ist aber nicht immer von Vorteil und hat schwerwiegende Schattenseiten. Florian Hartleb verweist darauf, dass viele Geflüchtete ein falsches Bild von Deutschland haben, nachdem sie den über Smartphones transpor-

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Die in Deutschland tätigen Hilfsorganisationen konzentrieren sich seit dem Beginn der sog. Flüchtlingskrise im Rahmen eines durch den Bund erlassenen Integrationsprogramms und Zuwanderergesetzes auch darauf, »mit Hilfe staatlich geförderter Sprach- und Integrationskurse die Verwendbarkeit von Zuwanderern, und hier in erster Linie von Neuzuwanderern, auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern.«282 Collier vertritt in diesem Zusammenhang den Standpunkt, dass die Förderung und Integration der Migranten von Anfang an keine Bedrohung für die Mehrheitsbevölkerung darstellt, da sie als keine Konkurrenz für die einheimischen Arbeiter eingestuft werden können. Und dies zwar aus vielen Gründen, u. a. angesichts des Umstands, dass die Vertreter der Mehrheitsbevölkerung unverändert »aufgrund einer Mischung aus implizitem Wissen, angehäufter Erfahrung und Diskriminierung gegenüber Migranten im Vorteil sind.«283 Folglich werden die Geflüchteten nicht dazu gezwungen, mit einheimischen Arbeitern um Arbeitsplätze und Privilegien zu kämpfen, da der Konkurrenzkampf, wenn überhaupt, nur innerhalb der zugewanderten Minoritätsgruppe ausgetragen wird. Aus der Sicht der Unternehmer und Wirtschaftsverbände sind vor allem pragmatische und praxisbezogene Aspekte der Migration von Bedeutung. Die Beschäftigung und breiter Einsatz der Geflüchteten auf dem Arbeitsmarkt – worauf schon oben verwiesen wurde – wird nicht als Bedrohung und Belastung, sondern im Gegenteil als die Möglichkeit angesehen, den Arbeitsmarkt zu beleben und konkurrenzfähig zu machen. Außerdem, wie es Balcerowiak etwas zugespitzt formuliert, versuchen die Arbeitgeber vom Zustrom der neuen Arbeitnehmer möglichst stark zu profitieren und »sich aus dem sehr großen Reservoir potenzieller Arbeitskräfte die Rosinen rauszupicken.«284 Florian Hartleb macht sogar darauf aufmerksam, dass die mächtigen Wirtschaftsverbände die Politik der Bundeskanzlerin von Anfang an begrüßten und unterstützten, weil sie im massiven Anstieg der Sozialausgaben nicht nur die Chance einer sichtbaren Konjunkturbelebung, sondern vor allem die Lösung für das Fachkräftemangelproblem sahen. Einige erwarteten sogar das Zustandekommen einer Hochkonjunktur, wenn nicht gar des zweiten Wirtschaftswunders.285

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tierten Legenden über den erwartbaren Wohlstand (»das gelobte Land, in dem Milch und Honig fließt«) allzu leicht vertrauen. Vgl. Hartleb 2017, S. 113. Aumüller 2009, S. 201. Collier 2015, S. 181. Balcerowiak 2015, S. 112. Eine solche Vorgehensweise hängt zweifelsohne zugleich mit dem Pragmatismus und der Zielorientierung der heutigen Gesellschaft zusammen, wobei die jungen Menschen unweigerlich in den Vordergrund der Betrachtungsperspektive rücken: »Die heutige Generation ist pragmatisch, oftmals unpolitisch und technikorientiert. Sie nimmt die Welt größtenteils so wie sie ist. Ideologie ist ihr, außer einer kleinen Minderheit, meist ein Fremdwort.« Stockmann 1995, S. 235. Vgl. Hartleb 2017, S. 114.

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Die Wahrnehmung der sog. Flüchtlingskrise wurde von daher unter den Arbeitgebern und Wirtschaftsverbänden von praxisbezogenen, gewinnorientierten Kriterien geprägt. Vor diesem Horizont spielt für sie keine entscheidende Rolle, ob die Hilfesuchenden vor dem Krieg fliehen oder schlicht als ›Wirtschaftsflüchtlinge‹ eingestuft werden. Die Präsenz der zweiten Gruppe, also Geflüchteten, die vor allem aus den südeuropäischen Ländern, insbesondere aus dem westlichen Balkan, ausgewandert sind, ist ganz evident. Beachtenswert ist dabei ihre Anzahl: Nur im September 2015 betrug ihr Anteil an den Asylanträgen ganze 23,1 Prozent, während es im Gesamtzeitraum knapp 36 Prozent waren.286 Beim Zulauf der potenziellen Arbeitnehmer – und darauf macht Klingl aufmerksam, indem sie zugleich alltägliche Umstände thematisiert – spielen folglich der kulturelle Hintergrund, das Herkunftsland oder die Religion bzw. Konfession keine entscheidende Rolle. Wichtig sind hingegen vor allem die Ausbildung, Geschäftssinn und fachmännische Kompetenzen: Wer allerdings die Erfordernisse in seinem konkreten Alltag betrachtet, etwa einen Installateur braucht, wird wenig Interesse an dessen Geburtsort haben, aber viel daran, dass er kommt, wenn man ihn ruft, und dass er den Schaden behebt, der einen nervt. Wer in der Not Ärztin und Krankenschwester braucht, wird sich nicht nach deren Herkunft, sondern nach der Fähigkeit der Personen orientieren. Und wer eine Putzfrau benötigt, wird daran interessiert sein, dass sie ihre Arbeit verrichtet und nicht, ob sie ´ evapcˇic´i isst anstelle von österreichischen Fleischleibern oder deutschen daheim C Frikadellen.287

Paradoxerweise können die gerade genannten Voraussetzungen und Regeln der heutigen Konsumgesellschaft für die Geflüchteten von Vorteil sein.288 Peter V. Zima erweitert in seinen Überlegungen die oben dargestellte Perspektive, indem er feststellt, dass im Handel schließlich nicht nach Identität, Herkunft, Geburtsort oder Religion gefragt wird, da solche immanenten Unterschiede in kommerziellen Beziehungen und Zusammenhängen kaum zutage treten. Den Händler oder Geschäftsmann interessiert freilich nicht die Rasse, Religionszugehörigkeit oder politische Überzeugung seiner Kunden bzw. Lieferanten; er kooperiert mit allen, die pünktlich bezahlen, zuverlässig sind und in möglichst großen Mengen einkaufen. »Ein bevorzugter Kunde«, so der Autor der Publi286 Vgl. Balcerowiak 2015, S. 36. 287 Klingl 2015, S. 18–19. 288 Die imaginative – ungeachtet dessen konjunkturfördernde – Wirkung des Wohlstands und Konsums beschreibt Kai-Uwe Hellmann: »Denn kaum etwas zeugt sichtbarer von der Relevanz des modernen Konsums als die vollen Regale in den Supermärkten, die vielen Geschäfte in den großen Shopping Malls, die unentwegte Werbung für Tausende von Produkten und der materielle Überfluss in den meisten privaten Haushalten. Und dies betrifft jetzt nur die Sachleistungen, von den Dienstleistungen gar nicht mehr zu sprechen.« Hellmann, Kai-Uwe: Der Konsum der Gesellschaft. Studien zur Soziologie des Konsums. Wiesbaden: Springer Verlag 2019, S. 4.

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kation Entfremdung, »ist derjenige, der die größten Mengen bestellt, auch wenn er einer anderen Religionsgemeinschaft oder ethnischen Gruppe angehört als er selbst.«289 Den Umstand – worauf schon oben aufmerksam gemacht wurde –, dass die Geflüchteten die Arbeitsplätze der Mehrheitsbevölkerung nicht bedrohen, sondern deren Einsatz den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes entspricht, kann man auch um Überlegungen ergänzen, die sich auf den Wohnungsmarkt beziehen. Ende 2000 wurde in den neuen Bundesländern (mit ursprünglich 18 Millionen Einwohnern) ein Leerstand von einer Million Wohnungen verzeichnet. Nur in Berlin empfahl eine einschlägige Kommission »ein Abrissprogramm, das vorsah, innerhalb von zehn Jahren 300.000 bis 400.000 Wohnungen vom Markt zu nehmen.«290 Die wachsenden Zahlen der Migranten können zweifelsohne dazu beitragen, dass einerseits demographische Faktoren verbessert werden, andererseits die Lage auf dem Wohnungsmarkt stabiler wird, wovon ganz besonders die von Einwohnerverlusten bedrohten Großstädte profitieren werden.291 Ein solcher Prozess hat freilich aber auch einige Schattenseiten. Die Nutzung der Leerwohnungen wird sich wahrscheinlich im sinkenden Angebot auf dem Immobilienmarkt widerspiegeln und dadurch die Preissenkungen für private Kunden eher nicht verursachen. Außerdem kann nach Hannes Hofbauer der Zustrom von ausländischen Arbeitskräften – neben dem ständigen Druck auf den Arbeitsmarkt – die Entstehung eines neuen Niedriglohnsektors nach sich ziehen. Dies ist natürlich mit mehreren Bedrohungen verbunden, u. a. angesichts der Tatsache, dass billige Arbeitskräfte in verschiedenen Branchen – darunter in der Landwirtschaft, im dem Hotel- und Gastgewerbe oder am Bau – in erhebli289 Zima, Peter V.: Entfremdung. Pathologien der postmodernen Gesellschaft. Tübingen: Francke Verlag 2014, S. 10. Abgesehen von den kommerziellen Hintergründen kommt noch ein Umstand hinzu, der für die Aufnahme von Zugewanderten spricht. Gemeint ist – auch wenn es manchen Beobachtern unglaubwürdig erscheinen mag – die überwiegend erfolgreiche Integration und Assimilation der älteren Generation der ehemaligen Migranten aus arabischen Ländern in Deutschland und in anderen westeuropäischen Ländern. Ungeachtet dessen bleibt nach Ghassan Hage die mangelhafte Integration der sog. ›zweiten Generation‹ besorgniserregend: »Überall, wo die herrschenden multikulturellen oder liberalen westlichen Gesellschaften Probleme mit »Muslimen« haben, sei es in Frankreich, in Dänemark, in England oder in Australien, weist das »Problem« bemerkenswerterweise einen Zusammenhang zur jüngeren Generation auf. Und das, weil die Immigranten der zweiten Generation verglichen mit denen der ersten Generation – das haben zahlreiche Untersuchungen gezeigt, jüngst etwa die der Psychologin Ann Phoenix – mit großer Wahrscheinlichkeit einen anderen, einen äußerst verletzenden Rassismus erfahren.« Hage 2015, S. 79. 290 Klingl 2015, S. 17. 291 Die Verbesserung der demographischen Situation provoziert manche Forscher und Publizisten dennoch zu paradox klingenden bzw. ironischen Kommentaren: »Es ginge auch ohne weiteren Zuzug aus dem Ausland. Den deutschen Landschaften, den österreichischen Alpen, Wiesen, Wäldern, Seen täten weniger Bewohner biologisch betrachtet durchaus gut.« Ebd., S. 13.

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chen Ausmaß zur unregistrierten Arbeit unter Tarif oder zur Ausbeutung im Rahmen der Schwarzarbeit beitragen können.292 Was zu den Vorteilen der erfolgreichen Flüchtlingspolitik gezählt werden muss, ist die Tatsache, dass viele Geflüchtete bei zahlreichen sozialen Initiativen engagiert sind. In Berlin bieten sie z. B. im Pergamonmuseum, im BodeMuseum und im Deutschen Historischen Museum einstündige Ausstellungsgespräche für andere Geflüchtete an. Weil nicht alle unter ihnen über entsprechendes Sprachniveau im Deutschen verfügen, werden die Führungen allerdings nicht auf Deutsch, sondern auf Arabisch angeboten.293 Optimistisch und wertvoll offenbart sich hierbei die Tatsache, dass im Berliner Pergamonmuseum die Besucher dank der Führung seitens der Geflüchteten erfahren können, welche Wertschätzung den dort ausgestellten syrischen und irakischen Kulturgütern entgegengebracht wird.294

2.2.3 Menschliche Dimension der Flüchtlingshilfe Die Integration und das Zusammenleben mit Geflüchteten und Migranten blickt in Deutschland auf eine lange Tradition zurück. Nicht weniger der staatliche Schutz für politisch Verfolgte wird in Deutschland seit langem gepflegt, wenn man bedenkt, dass bereits vor über 300 Jahren, am 8. November 1685, der Kurfürst Friedrich Wilhelm im Potsdamer Stadtschloss das sogenannte Potsdamer Edikt unterzeichnete. Diese zweifelsohne politisch und wirtschaftlich motivierte Handlung hatte zur Folge, dass den in Frankreich verfolgten Protestanten (Hugenotten) Asyl in Preußen angeboten wurde.295 Auch Friedrich der Große (1712– 1786) betrieb in seiner Regierungszeit eine offene Migrationspolitik: 1763, kurz nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges habe er festgestellt – auch wenn sein Wunsch später nicht in Erfüllung gegangen ist: »Und wenn Türken und Heiden kämen und wollten das Land peuplieren, so würden wir ihnen Moscheen und Kirchen bauen.«296 Die großangelegte Initiative der Anwerbung der ausländischen Arbeiter – was bereits im vorigen Kapitel beschrieben wurde – fand vor allem in den 1950er und 1960er Jahren ihre massenhafte Umsetzung. Wichtig bleibt in diesem Zusammenhang die rein menschliche Dimension der Beschäftigung von den ehemali-

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Vgl. Hofbauer 2018, S. 188–189. Vgl. Jaafar 2018, S. 175. Vgl. ebd. Vgl. Balcerowiak 2015, S. 13. Ebd., S. 14.

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gen Gastarbeitern.297 Es handelt sich schließlich nicht um einen unbedeutenden Einzelfall, sondern um einen nachhaltigen Prozess, da in Deutschland seit den 1950er Jahren die kontinuierliche Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte betrieben wird und das Land sich nach wie vor von externen Kultureinflüssen nicht abschottet. Auch in der politisch unruhigen Zeit kurz vor der Wende (1989– 1990) lebten große Teile der Bevölkerung eine Willkommenskultur und Vielfalt sowie stellten sich gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Dies spiegelte sich ebenfalls in den damals getroffenen rechtlichen Entscheidungen wider. Nicht anders gestaltete sich die Migrationspolitik auch eine Dekade später: Ende der 1990er Jahre erfolgte endlich die weitgehende Reformierung des Staatsangehörigkeitsrechts, welches bis dahin die Staatsbürgerschaft bzw. -zugehörigkeit via Blutsverwandtschaft sicherte. Seit dem 1. Januar 2000 hingegen wird gemäß den geltenden Vorschriften ebenfalls den in Deutschland geborenen Kindern nicht-deutscher Eltern die deutsche Staatsangehörigkeit geboten.298 Solche eindeutig liberalen Tendenzen und Richtlinien in der Migrationspolitik – zumindest wenn man andere (ost)europäische Länder als eine Bezugsebene heranzieht – erstrecken sich unmittelbar bis auf die heutige Zeit. Jürgen Holtkamp vertritt diesbezüglich den Standpunkt, dass heutzutage die Integration der Migranten in Deutschland auf einem noch besseren Niveau steht, als es vor zwanzig Jahren der Fall war. Dies ergibt sich vor allem daraus, dass die deutsche Gesellschaft besser für die bevorstehenden Herausforderungen gerüstet ist, was zweifelsohne Grund zum Optimismus gibt. Der Autor der Publikation Flüchtlinge und Asyl hängt seinen Nachgedanken eine trotz allem optimistisch anmutende Zukunftsprognose an: »Wir können jetzt ausprobieren, wie Deutschland 2030 als Einwanderungsland aussehen soll.«299 Ein anderer, wichtiger Aspekt ist, so Ulrike Kluge und Seyran Bostanci, dass eine vollständige Assimilation an die deutsche Gesellschaft nicht mehr notwendig ist und sich in mancher Hinsicht sogar als undurchführbar offenbart, wenn man bedenkt, dass diese seit langem keine homogene Einheit ist, in die 297 Es handelt sich schließlich nicht um eine anonyme Masse, sondern um einzelne Individuen mit all ihren Freuden, Sorgen und Existenzängsten. Aus diesem Blickwinkel gesehen kann die positive Wahrnehmung der sog. Gastarbeiter nicht wundern, die in der Publikation Flucht und Segen am Beispiel der Begrüßung des portugiesischen Zimmermanns Armando Rodrigues de Sá veranschaulicht wurde. Beschrieben wird nämlich ein Tag aus der langen deutschen Migrationsgeschichte, der 10. September 1964, an dem ein Sonderzug aus Portugal den Bahnhof Köln-Deutz erreichte. Dutzende Reporter und ein Festkomitee drängten sich damals in Warteräumen und am Bahnsteig, alle warteten auf den 38-jährigen Portugiesen, dessen Name über Lautsprecher fröhlich verkündet und bald von »Viva Portugal«Rufen übertönt wurde. So wurde der millionste Gastarbeiter in Deutschland gefeiert. Als Willkommensgeschenk bekam er einen Strauß Nelken und ein Motorrad. Vgl. Eckardt 2017, S. 186. 298 Vgl. Kluge / Bostanci 2012, S. 21. 299 Holtkamp 2016, S. 160.

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man sich vollständig einpassen könnte.300 Immer häufiger wird ebenfalls das Argument wiederholt, dass die Religionsunterschiede kein unüberwindbares Integrationshindernis mehr sind, da der muslimischen Minderheit in Deutschland keine christliche Mehrheit, sondern lediglich eine »christlich geprägte Mehrheit« gegenübersteht.301 Auch die stereotype Wahrnehmung der Frauen hat sich bedeutend verändert, die zu der Mehrheitsgesellschaft und zu den Minoritäten gehören. Die scharfe dualistische Trennung, innerhalb deren die deutschen Frauen als ›emanzipiert‹ vorkommen und Demokratie sowie Freiheit symbolisieren, während ›die‹ Muslima zum Prototyp von Traditionalität, Rückständigkeit und Repression werden,302 hat sichtbar an Aktualität verloren. In diesem Zusammenhang wird auch ein Gegensatzpaar relativiert, in dem fremde Sprache, fremde Kultur (die archaisch-patriarchal ist) dem positiv markierten Komplex Deutsch, aufgeklärt, gendergerecht gegenübersteht.303 Abschließend erscheint es ratsam, sich wiederum den Alltagskontexten und der Integration ›von unten‹ zuzuwenden, die der Flüchtlingshilfe trotz aller Kritik doch Sinn geben:

300 Kluge / Bostanci 2012, S. 20. Die Assimilation, also ein Phänomen, das schon oben ansatzweise erläutert wurde, kann man auch mit dem Begriff »Ankommen« verbinden. Den letzteren definiert man nach Jaafar Abdul Karim im Zusammenhang mit Sprache, Zugehörigkeit, Identifikation, einem neuen Heimatgefühl, Vermissen, seinen Platz in der Gesellschaft finden, die Akzeptanz beiderseits, Wohnen, Arbeiten und Fragen, ob die Zugewanderten Deutschland zum Teil ihres Lebens gemacht haben und ob Deutschland sie zum Teil seiner Bevölkerung gemacht hat. Vgl. Jaafar 2018, S. 171. Der Begriff Assimilation selbst geht in der Etymologie auf das lateinische »assimilare« beziehungsweise »assimulare« zurück, nicht zufällig wird er mit »ähnlich machen«, »nachbilden«, »vergleichen«, oder auch »nachahmen« oder »vorgeben« übersetzt. Vgl. Aumüller 2009, S. 27. 301 Vgl. Bielefeldt 2007, S. 21. 302 Vgl. Rommelspacher 2013, S. 127. Die Autorin hebt sogar eine nahezu exotische Anziehungskraft der arabischen Frauen hervor, die sie im Zusammenhang mit historischen Kontexten darstellt. Mittels Anwendung einer auf gegenseitige Verständigung ausgerichteten Rhetorik stellt sie Folgendes fest: »Schon die christlichen Kreuzfahrer sahen es als eine ihrer nobelsten Aufgaben an, die orientalische Prinzessin zu befreien.« Ebd., S. 129. 303 Vgl. Scheibelhofer, Paul: Arbeiter, Kriminelle, Patriarchen. In: Hausbacher, Eva / Klaus, Elisabeth / Poole, Ralph / Brandl, Ulrike / Schmutzhart, Ingrid (Hrsg.): Migration und Geschlechterverhältnisse. Kann die Migrantin sprechen? Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2012, S. 62–82, hier S. 74. Nach Ahmad Mansour spielt der Umstand eine bedeutende Rolle, dass Muslime tatsächlich zu einem integrierten Teil der Gesellschaft werden sollten und abgesehen von historischen Hintergründen und rassistischen Zuschreibungen auf der gleichen Augenhöhe mit den Vertretern der Mehrheitsgesellschaft behandelt werden: »Man will nicht zulassen, dass Muslime von Rassisten verfolgt werden, so wie es den Juden in der NS-Zeit widerfahren ist. So scheint diese Haltung auch zu sagen: Wir sind der lebende Beweis dafür, dass die Deutschen aus ihrer Geschichte gelernt haben. Doch leider wird erstens übersehen, dass es genauso rassistisch und diskriminierend ist, Muslime immer nur beschützen zu wollen und sie nicht als gleichberechtigte, ernstzunehmende, kritikfähige Mitmenschen zu betrachten.« Mansour 2018, S. 59.

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Wenn das dreijährige Mädchen aus Syrien beim Basteln lacht, die afghanische junge Frau beim Deutschunterricht aufmerksam zuhört und sich anschließend auf Deutsch bedankt oder der Familienvater aus Ghana das Fahrrad unter Anleitung reparieren kann und es anschließend begeistert allen anderen zeigt, sind das besondere Augenblicke. Die Dankbarkeit der Flüchtlinge, die sich in Gesten, im Lächeln, beim Händedruck oder der Umarmung widerspiegelt, ist es, die das Herz der Ehrenamtlichen froh macht.304

Die gerade zitierte Passage zeigt eindeutig, dass die Integration und erfolgreiche Kooperation zwischen den Geflüchteten und der Mehrheitsgesellschaft doch möglich sind. Als gemeinsame Aufgabe von Kommunen, Ländern, Wohnungsgenossenschaften und Bund kommen in Anlehnung an die Position von Kipping nicht nur Arbeitsplätze, sondern die Sicherstellung eines ausreichenden Wohnraums für Zufluchtsuchende und alle Menschen mit einem geringen Einkommen. Schließlich müssen die Hilfesuchenden, so die mehrmals zitierte Autorin, »schnell Zugang zur Gesellschaft bekommen, um ein Teil von ihr werden zu können.«305 Wichtig ist des Weiteren auch entsprechende Bildung und Erziehung, bei denen es primär nicht um die Fragen von Unterlassungen, Grenzsetzungen oder falschen Erziehungswegen und -zielen geht, sondern vielmehr um die Reflexion, welche Bilder die Bürger von sich selbst, von der Gesellschaft im Ganzen aber auch von den Fremden, Ausgeschlossenen und Hilfesuchenden haben.306

304 Holtkamp 2016, S. 120. 305 Kipping 2016, S. 143. 306 Vgl. Stockmann 1995, S. 236.

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Imaginierte Flüchtlingswelle. Die ›Migrationskrise‹ aus polnischer Perspektive

Die homogene Struktur der polnischen Gesellschaft hat zweifelsohne einen unmittelbaren Einfluss auf die kollektive Wahrnehmung der Fremden, darunter natürlich auch Migranten, Hilfesuchenden und Geflüchteten. Nicht unbedeutend ist in diesem Zusammenhang der Umstand, dass die polnischen Bürger seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verhältnismäßig selten Gelegenheit hatten, mit ihnen unmittelbar in Kontakt zu treten. Dies bestätigen die statistischen Angaben von Ipsos MORI aus dem Jahre 2014: Die Einwohner mit Migrationshintergrund stellten damals lediglich 1,75 % der gesamten Bevölkerung Polens dar.307 Ungeachtet dessen wird Polen in den letzten Jahren allmählich – dazu trägt vor allem die Migration aus der Ukraine308 bei – zu einem Land, in dem die Zugewanderten keine unbedeutende, unsichtbare Minderheit mehr bilden. Seit dem Beitritt Polens zur EU (2004) spielen für den polnischen Arbeitsmarkt auch die aus politischen Gründen Verfolgten und die Wirtschaftsmigranten eine bedeutende Rolle. Und diese Tendenz ist insofern wichtig, als heutzutage (abgesehen von Migrationskontexten) in den meisten Industriestaaten der Welt – Europa 307 Vgl. Pasamonik, Barbara: »Malowanie strasznego diabła« – metamorfoza obrazu uchodz´cy w Polsce [Das Malen eines schrecklichen Teufels – die Metamorphose des Flüchtlingsbildes in Polen]. In: Pasamonik, Barbara / Markowska-Manista, Urszula (Hrsg.): Kryzys migracyjny. Perspektywa społeczno-kulturowa [Die Migrationskrise aus der sozial-kulturellen Perspektive]. Bd. 1. Warszawa: Wydawnictwo Akademii Pedagogiki Specjalnej 2017, S. 15–45, hier S. 21. Dies bestätigen auch andere Statistiken: Laut der Studie Polska w europejskim kryzysie migracyjnym [Polen in der europäischen Migrationskrise] bilden die Geflüchteten bzw. Zugewanderten eine relativ kleine Gruppe innerhalb der polnischen Gesellschaft. Während seit 1992 der Flüchtlingsstatus nicht einmal 5 000 Personen zuerkannt wurde, erhielten lediglich 23 000 Personen andere Formen der Aufenthaltsgenehmigung. Vgl. Chrus´ciel, Marcin / Gajewski, Tomasz / Górka-Winter, Beata / Gruszko, Katarzyna (et al.): Polska w europejskim kryzysie migracyjnym [Polen in der europäischen Migrationskrise] S. 80. https://wei.org.pl/wp-content/uploads/2019/08/Polska-w-europejskim-kryzysie-migracyjn ym.pdf [letzter Zugriff am 22. 01. 2022]. 308 Allein im Jahre 2017 kamen nach Polen 683 228 Migranten, darunter 585 439 aus der Ukraine. Vgl. ebd., S. 72.

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stellt in diesem Zusammenhang wohl keine Ausnahme dar – nahezu von jedem eine weitgehende Mobilität verlangt wird, »bzw. es wird zunehmend als selbstverständlich erachtet, dass Menschen für ihre berufliche Entwicklung in eine andere Stadt ziehen oder für eine gewisse Zeit, manchmal sogar für immer, in ein anderes Land auswandern (müssen und können).«309 Vor diesem Horizont erscheint die Annahme legitim, dass das Erscheinen der Wirtschaftsmigranten und Hilfesuchenden in Polen als Folge globaler Migrationsprozesse einzustufen ist. Nach Ewa Sowa-Behtane offenbart sich die Anwesenheit sowohl der Wirtschaftsmigranten als auch der vor dem Krieg Fliehenden einerseits als Chance, andererseits als ernstzunehmende Herausforderung für die demographische und kulturelle Struktur der europäischen Länder.310 Die Wahrnehmung der Fremden und die in viele Richtungen verlaufende Zuordnung der Migrationsprozesse lassen sich als keine konstante Einheit qualifizieren. Wenn man nach Roswitha Breckner annimmt, dass die Migration an sich als ein »Handlungs- und Entscheidungsphänomen in einem spezifischen sozialen Feld«311 betrachtet werden kann, dann erscheinen naturgemäß ihre soziale Wirkung und die mediale Vermittlung als äußerst wichtig. Aus diesem Blickwinkel gesehen, kann es nicht wundern, dass die Darstellung der sog. Migrationskrise312 und die damit verbundene mediale Kampagne die Einstellung der polnischen Gesellschaft zu den Geflüchteten in den letzten Jahren weitestgehend verändert hat. Während noch Anfang 2015 die meisten Befragten in Polen Offenheit gegenüber den Hilfesuchenden aus den arabischen Ländern und Kriegsgebieten im Nahen Osten zeigten, veränderte der Wahlkampf im Oktober 2015 und die später in den Medien präsentierte Darstellung der terroristischen Anschläge in Westeuropa vollständig die Wahrnehmung der sog. Flüchtlingskrise.313 Auch während der Wahlkampagne 2018 wurde die sog. Migrationskrise 309 Kluge / Bostanci 2012, S. 17. 310 Vgl. Sowa-Behtane, Ewa: Integracja społeczna imigrantów z˙yja˛cych w zwia˛zkach małz˙en´skich z obywatelami Polski [Soziale Integration der mit Polen verheirateten Migranten]. In: Pasamonik, Barbara / Markowska-Manista, Urszula (Hrsg.): Kryzys migracyjny. Perspektywa społeczno-kulturowa [Die Migrationskrise aus der sozial-kulturellen Perspektive]. Bd. 1. Warszawa: Wydawnictwo Akademii Pedagogiki Specjalnej 2017, S. 114–134, hier S. 115. 311 Breckner, Roswitha: Migrationserfahrung – Fremdheit – Biografie. Zum Umgang mit polarisierten Welten in Ost-West-Europa. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009, S. 45. 312 Um die Betrachtungsperspektive zu erweitern, kann man in diesem Zusammenhang darauf verweisen, dass das chinesische Wort für ›Krise‹ aus den Schriftzeichen für ›Gefahr‹ und ›Chance‹ besteht: »Damit wird ein Stück weit die Dualität erfasst, die beim Gebrauch dieses Wortes ins Spiel kommt: ein Augenblick der Bedrohung, der Druck ausübt, neue Wege zu suchen.« Bhabha 2019, S. 12. 313 In der Anfang 2015 durchgeführten Umfrage von ESS (Europejski Sondaz˙ Społeczny [Europäische Gesellschaftsbefragung]) deklarierten über 60 % ihre Zustimmung für die Aufnahme von Geflüchteten. Nach den Attentaten in Brüssel am 22. März 2016 schlug allerdings

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instrumentalisiert und den politischen Zielen geschickt untergeordnet: Einerseits diente die Informationsvermittlung damals der Erzeugung von Angst314 vor den Fremden, andererseits wurde sie von einigen Publizisten und Beobachtern zum Anlass genommen, eine schlicht übertriebene politische Korrektheit präsentieren zu wollen, die sich dann in einer scheinbar ›humanitären‹ Argumentation manifestierte. Beide Konzeptionen des Auslösens von Angst obwohl sichtbar gegensätzlich und völlig unvereinbar, beruhen zweifelsohne – auch wenn es paradox erscheinen mag – auf einem ähnlichen, pragmatisch bedingten, politischen bzw. soziotechnischen Kalkül. Darüber hinaus basierten beide nicht nur auf sachlichen Überlegungen, sondern vielmehr auf einem pragmatisch konzipierten Rückgriff auf eine Emotionalisierung.315 In Polen, anders als in einigen (west)europäischen Ländern, wird häufig die Tatsache übersehen oder sogar kollektiv verdrängt, dass – und dies bestätigt Zygmunt Bauman – zumindest seit dem Beginn der Moderne die vor den Gräueln des Krieges und der Despotie oder einem aussichtslosen Dasein fliehenden Menschen – wie es metaphorisch ausgedrückt wird – kontinuierlich an die Türen anderer Völker klopfen.316 Bei der Betrachtung der so verlaufenden Migrationszusammenhänge kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich den Menschen hinter diesen Türen die Zwangsmigranten – ungeachtet allen Fakten und Argumenten – nicht als vollwertige Individuen, sondern lediglich als Vertreter einer fremden und gefährlichen Welt offenbaren. Ihr soziales und kulturelles Wesen lässt sich nach Bauman auf die Formel reduzieren: »Fremde lösen gerade deshalb oft Ängste aus, weil sie »fremd« sind – also auf furchterregende Weise unberechenbar und damit anders als die Menschen, mit denen wir tagtäglich zu tun haben und von denen wir zu wissen glauben, was wir von ihnen erwarten können.«317

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die gesellschaftliche Stimmung rapide um, was zur Folge hatte, dass die Regierung der Ministerpräsidentin Beata Szydło den vollständigen Rückzug Polens aus dem Programm der europaweiten Flüchtlingsaufnahme beschloss. Vgl. Pasamonik 2017, S. 16. Ausgerechnet Angst wird in der heutigen Medienwelt für pragmatische Ziele vereinnahmt und von Politikern verschiedener Parteien und Gruppierungen instrumentalisiert. Eine solche Anwendung dieser Basisemotion wird zudem durch eine starke Mythisierung begleitet: »Solche Mythen sagen uns, dass die Beseitigung der Angst eine gesellschaftliche Katastrophe bewirken würde: Uneinsichtigkeit bezüglich der wirklichen Gefahren für Leib und Leben wäre die Folge, dazu das Unvermögen, sich und anderen zu helfen. Leicht kann Angst von Politikern dazu benutzt werden, Aggressionen gegen unbeliebte Gruppen zu schüren.« Nussbaum 2014, S. 27. Vgl. Chrus´ciel / Gajewski / Górka-Winter / Gruszko (et al.), S. 71. Vgl. Bauman 2016, S. 13. Ebd., S. 13. Zu den primären, differenzierenden Attributen der Fremdheit wird zur Zeit der sog. Flüchtlingskrise – abgesehen vom Aussehen – vor allem die Religion und Sprache gezählt. Nicht unwichtig erscheint des Weiteren die finanzielle Lage der Zugewanderten, auch wenn die westlichen Gesellschaften – so wird es zumindest in der Publikation Die neue

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Die Ost- und Mitteleuropäer sind heute im Grunde genommen Erbinnen und Erben einer Jahrhunderte alten sozialen Tradition, in einem geschlossenen Kulturkreis und in festen Ansiedlungen zu leben. Folglich kann es nicht verwundern, dass jene, die in kleine Gemeinschaften hineingeboren werden, in ihrem Alltag nahezu ausschließlich Menschen begegnen, die sie ihr ganzes Leben lang sehr gut kennen.318 Ein solcher Zustand offenbart sich aber in der globalisierten Welt als überholt und anachronistisch, da sich die Beziehungen zwischen den Anderen und Fremden heutzutage völlig anders positionieren und das Ausmaß der heutigen Migrationsbewegungen keinesfalls an die relativ konstante und vorhersehbare Welt der vorindustriellen Zeit erinnert. Von daher kann Bhabhas Feststellung nicht wundern, in der zugleich auf die eigenartige Dynamik der gegenwärtigen Migrationsprozesse verwiesen wird: »Pro Minute müssen 24 Menschen ihr Heim verlassen. Die Summe dieser weltweiten Wanderungsbewegungen ist genauso dramatisch. Mit 65,3 Millionen übersteigt die Zahl der Vertriebenen die der Einwohner Kanadas, Argentiniens, Australiens oder Kenias.«319 Zur unmittelbaren Ursache der weltweiten Migration gehören vor allem bewaffnete Konflikte und Kriegshandlungen. Daraus resultieren zwangsweise fast immer Repressionen gegen die zivile Bevölkerung. Als besonders schmerzhaft und empörend wirken jene gegen Frauen, Kinder und ältere Menschen. Tod, Krankheiten, Hunger, Haft, Folter, sexuelle Gewalt gehören zum grausamen Alltag des Krieges. Zum Symbol solcher Erfahrungen wurden in den letzten Jahren die Konflikte im Nahen Osten und in der Ukraine. Die akute Bedrohung ihrer Leben zwang die Einwohner dieser Länder zu einer mehr oder weniger dramatisch verlaufenden Flucht.320 Viele Geflüchtete – und zwar nicht nur aus den soeben genannten Kriegsgebieten – kamen in den letzten Jahren auch nach Polen, obwohl der östliche Gier dargestellt – weit davon entfernt sind, »Armut über das Vorhandensein von Essen definieren [zu] wollen. Überspitzt formuliert, ist in unserer Welt jemand arm, der nicht jede Version des iPhones sofort bei Erscheinen kaufen kann.« Edelbacher / Bruns / Weixlbaumer 2015, S. 10. 318 Vgl. Ammicht Quinn 2013, S. 109. Dadurch konturiert sich eine starke Opposition zwischen dem Eigenen und Fremden sowie zwischen den In- und Exkludierten. Nach Bude ist nichtsdestotrotz »ein absolutes Außen der Gesellschaft nicht denkbar. Bekanntlich kann man nicht nicht-kommunizieren, weshalb allein schon die Ansprechbarkeit des Phänomens der Exklusion einer Widerlegung seiner Existenz gleichkäme.« Bude 2008, S. 257. 319 Bhabha 2019, S. 7. 320 Vgl. Piłat, Marzena: Pomoc psychologiczna dla uchodz´ców z krajów ogarnie˛tych wojna˛. Podejs´cie logoterapeutyczne Viktora E. Frankla [Psychologische Hilfe für die Geflüchteten aus den Kriegsgebieten. Logotherapeutische Einstellung von Viktor E. Frankl]. In: Pasamonik, Barbara / Markowska-Manista, Urszula (Hrsg.): Kryzys migracyjny. Perspektywa pedagogiczno-psychologiczna [Die Migrationskrise aus der pädagogisch-psychologischen Perspektive] Bd. 2. Warszawa: Wydawnictwo Akademii Pedagogiki Specjalnej 2017, S. 154– 171, hier S. 155.

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Nachbar Deutschlands aus sozialpolitischen Gründen bisher nur verhältnismäßig wenige Hilfe- und Asylsuchende aufnahm und folglich nicht als richtiges Aufnahmeland eingestuft werden darf. Dazu haben freilich auch rein organisatorische und juristische Umstände beigetragen: In Polen – und dies unterscheidet seine Rechtsordnung von vielen anderen EU-Ländern – wird der Status der Migranten, deren Rückkehr in ihr Heimatland wegen unterschiedlicher Umstände, vor allem aber wegen der Verfolgung und Lebensbedrohung nicht mehr möglich ist, in drei Kategorien ausgedrückt. Außer dem offiziellen Flüchtlingsstatus [»status uchodz´cy«] können die Hilfesuchenden das Bleiberecht aufgrund des sog. ergänzenden Schutzbedürfnisses [»ochrona uzupełniaja˛ca«] beantragen oder dank der Zuerkennung des sog. geduldeten Aufenthalts [»pobyt tolerowany«] in Polen bleiben.321 Die Anzahl der Geflüchteten aus dem Nahen Osten und Nordafrika, denen in Polen seit dem Beginn der sog. Flüchtlingskrise Asyl gewährt wurde, ist mit Deutschland, Schweden und anderen Ländern Westeuropas nur schwer vergleichbar. Während im Jahr 2014 insgesamt 3402 Anträge auf Verleihung des Flüchtlingsstatus (oder Gewährung von internationalem Schutz) in Polen gestellt wurden, wurde nur in 262 Fällen eine positive Entscheidung getroffen (u. a. zugunsten von 115 Syrern, 25 Afghanen, 22 Kasachen sowie 22 Staatenlosen). 170 Personen erhielten ein Bleiberecht aufgrund eines ergänzenden Schutzbedürfnisses [»ochrona uzupełniaja˛ca«], dies betrifft u. a. 107 Bürger der Russischen Föderation sowie 17 Migranten aus Syrien, 15 aus dem Irak und 11 aus Kasachstan.322 Eine äußerst vorsichtige, wenn nicht gar vollständig eingeschränkte Flüchtlingshilfe lässt sich des Weiteren am Beispiel der minderjährigen Geflüchteten zeigen: Nach Angaben des polnischen Bildungsministeriums lernten in polnischen Schulen 2016/2017 nur etwa 22 000 Kinder mit Migrationshintergrund, darunter lediglich circa 1000 Kinder von Geflüchteten bzw. jene Kinder, deren Eltern Asyl beantragten.323 Gravierende Unterschiede zwischen Polen und 321 Vgl. Zalewska, Ewelina: Sytuacja wychowawcza i edukacyjna dzieci-uchodz´ców w Polsce [Die Bildungs- und Erziehungslage der Flüchtlingskinder in Polen]. In: Pasamonik, Barbara / Markowska-Manista, Urszula (Hrsg.): Kryzys migracyjny. Perspektywa pedagogiczno-psychologiczna [Die Migrationskrise aus der pädagogisch-psychologischen Perspektive]. Bd. 2. Warszawa: Wydawnictwo Akademii Pedagogiki Specjalnej 2017, S. 95–116, hier S. 97. 322 Vgl. Cekiera, Rafał: Wie ist Polen von der Migrationskrise betroffen? In: Glaeser, Zygfryd / Giemza, Grzegorz (Hrsg.): Swój i obcy w konteks´cie współczesnego kryzysu migracyjnego. Dos´wiadczenia i zadania Kos´ciołów i społeczen´stwa [Eigene und Fremde vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Migrationskrise. Erfahrungen und Aufgaben der Kirchen und Gesellschaft]. Übers. aus dem Polnischen von Marta Brudny, Christiane Schultheiss, Boz˙ena Meske. Warszawa: Wydawnictwo Warto 2017, S. 235–256, hier S. 237. 323 Vgl. Krasuska-Betiuk, Marta / Kotarba, Marta: Edukacja je˛zykowa dzieci imigrantów. Perspektywa glottodydaktyki interkulturowej [Sprachliche Bildung für Kinder mit Migrationshintergrund aus der Perspektive der interkulturellen Glottodidaktik]. In: Pasamonik, Barbara / Markowska-Manista, Urszula (Hrsg.): Kryzys migracyjny. Perspektywa peda-

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Westeuropa sind allerdings nicht nur auf der statistischen Ebene sichtbar; bedeutend ist in dieser Hinsicht auch der niedrigere Lebensstandard, begrenzte Sozialleistungen und Entwicklungsmöglichkeiten, die den Hilfesuchenden in Polen angeboten werden. Daher können die Postulate mancher Publizisten nicht wundern, die eine solche Diskrepanz innerhalb der EU vehement kritisieren und standardisierte, europaweite Versorgungsleistungen befürworten, die in Zukunft »nicht zu innereuropäischen Migrationen außereuropäischer Migranten in das Land der größten Vorteile führen«324 würden. Dies wäre aber erst dann möglich, wenn die Geflüchteten in verschiedenen europäischen Ländern nach ähnlichen Regeln behandelt würden. Als problematisch erweist sich dennoch, dass in Polen die Abwehrhaltung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber den Migranten aus arabischen Ländern nach wie vor unüberwindbar ist. Sie ergibt sich vor allem aus Angst vor den Fremden bzw. aus den häufig hervorgehobenen religiösen und kulturellen Unterschieden. Sichtbar ist des Weiteren die bewusst unternommene Prekarisierung und das Hervorrufen von Angst, die als Strategien angewendet werden, um Konformität und Akzeptanz der Mehrheit für bestimmte Gesellschaftsmodelle herzustellen.325 Unabhängig davon hat in den letzten Jahren die imaginative Wirkung der sog. unregulierten Migration zur negativen Wahrnehmung der Hilfesuchenden bedeutend beigetragen. Obwohl dieses Phänomen zweifellos keine Erfindung des 21. Jahrhunderts ist, hat es dennoch politische Errungenschaften und Innovationen der Nachkriegszeit schwer, wenn nicht gar irreparabel beschädigt. Des Weiteren bleibt die Vorstellung der unregulierten Migration nicht ohne Einfluss auf die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union und setzt auf dem gesamten Kontinent mehr oder weniger aggressive Fremdenfeindlichkeit frei. Auffällig ist des Weiteren der Umstand, dass sie in den letzten Jahren schwerwiegende politische Veränderungen einleitete; in Großbritannien hat sie, so Bhabha, »den Sturz von Premier David Cameron mitverursacht« und in den USA

gogiczno-psychologiczna [Die Migrationskrise aus der pädagogisch-psychologischen Perspektive] Bd. 2. Warszawa: Wydawnictwo Akademii Pedagogiki Specjalnej 2017, S. 70–94, hier S. 73. Obwohl die oben genannten Zahlen die nationale und ethnische Homogenität Polens belegen, kann man in den letzten Jahren – auch wenn es kein rapide verlaufender Prozess ist – eine interne Dynamik und ein Wachstum des Migrationsanteils beobachten. 2016/2017 stieg der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund im Vergleich zum Schuljahr 2015/2016 um 7 000 Schüler. Unabhängig davon lässt sich Polen als jenes Land des ehemaligen Ostblocks einstufen, das von der sog. Migrationskrise nur auf unbedeutende Weise betroffen ist. Während in Ungarn 2014 6,8 % aller Asylanträge innerhalb der EU gestellt wurden (2015 waren es bereits 13,4 %) betrug in Polen zur gleichen Zeit die Zahl entsprechend 1,3 % und 0,9 % (12 190 und 8 020 Anträge). Vgl. Chrus´ciel / Gajewski / GórkaWinter / Gruszko, S. 71. 324 Weißgerber / Schröder / Quistorp 2018, S. 76. 325 Vgl. Singelnstein / Stolle 2008, S. 115.

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»zum überraschenden Wahlsieg des amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump beigetragen.«326 Im öffentlichen politischen Diskurs wird darüber hinaus behauptet, dass nicht nur die separat betriebene Flüchtlingspolitik, sondern ebenfalls die Kontrolle über die eigenen Grenzen klarerweise ein Zeichen der staatlichen Souveränität bleiben sollte. In diesem Narrativ sind die Staaten, wie es David Miller formuliert, »souverän; sie haben ein absolutes Recht darauf, zu entscheiden, was auf dem Territorium vor sich geht, das ihrer legitimen Kontrolle untersteht, und die Überwachung von Grenzübertritten ist nur ein Aspekt davon.«327 Auch in Polen werden immer häufiger Stimmen vernehmbar, dass die zunehmende Präsenz von arabischen Geflüchteten die interne Sicherheit des Landes weitestgehend beeinträchtigen kann.328 Dabei wird aber leichtfertig die Tatsache übersehen, dass sich unabhängig davon, welche Maßnahmen und politisch oder sozial motivierten Entscheidungen getroffen werden, die ›zufriedenstellende‹ Sicherheit in der globalisierten Welt lediglich als ein imaginatives Konstrukt entpuppt. Nach Hellmann tritt bei der naiven Erwartung der sicheren Existenz früher oder später zutage, »dass jede Entscheidung, die Sicherheit stiften soll, irgendwie, irgendwo, für irgendwen auch Unsicherheit auslöst.«329 Auch in Polen wird zu selten zur Kenntnis genommen, dass die soziale Sicherheit als solche einen illusorischen Charakter hat, da ethnische Gruppen und Gesellschaften aus anderen Kulturkreisen, denen tendenziell zugeschrieben wird, Unsicherheit zu stiften, in der Tat lediglich »Produkte« des Multikulturalismus sind.330 Die Bedeutung dieses 326 Bhabha 2019, S. 7. 327 Miller 2017, S. 94. Der Autor nennt auch andere Umstände, die mit der Selektion im Rahmen der Zuwanderung und einer restriktiven Einwanderungspolitik untrennbar verbunden sind: »Da aus den oben genannten Gründen sowohl die Zuwanderungsrate als auch die persönlichen Eigenschaften der Einwanderer (wie etwa ihr voraussichtlicher Ausbildungsstand und ihre zu erwartenden medizinischen Bedürfnisse) all diese Maßnahmen beeinflussen werden, ist eine Einwanderungskontrolle ein entscheidender Hebel in der Hand des Demos.« Ebd., S. 100. 328 Dabei werden die Migranten aus arabischen Ländern häufig ohne Weiteres mit Gewalttätigkeiten oder Terrorismus in Verbindung gebracht. Und es ist doch ganz offensichtlich, dass die reale bzw. imaginative Gewalt fortwährende Irritation und sozialverankerte Abwehrhaltung nach sich zieht. Nur selten wird dabei ein Versuch unternommen, die Gewalt als Ausnahmehandlung zu rationalisieren bzw. zu relativieren. Vgl. Baberowski 2012, S. 35. Nicht unbedeutend erscheint in diesem Zusammenhang ebenso die sozialbezogene Wirkung der strukturellen Gewalt. Man darf schließlich nicht außer Acht lassen, dass dort, wo Gewalttätigkeiten ausgeübt werden, kommen freilich auch klar abgetrennte Täter- und Opferfiguren vor. Dies unterscheidet sie von der strukturellen Gewalt, die nach Baberowski als eine Variante der sozialen Ungleichheit erscheint, die keinen realen und explizit genannten Täter voraussetzt. Vgl. ebd., S. 39. 329 Hellmann 2019, S. 9. 330 Vor diesem Horizont offenbaren sich ebenfalls die nationalen und ethnischen Minderheiten keinesfalls als das ›Unregierbare‹ einer auf Assimilation ausgerichteten Einwanderungs-

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Phänomens wird in der Publikation Die Sicherheitsgesellschaft überzeugend erklärt: »Dieses tägliche Streben nach mehr Sicherheit ist nicht nur Aufgabenfeld staatlicher Institutionen, sondern begegnet uns zunehmend in staatlich-privater Aufteilung und Verschränkung sowie als Aufgabe aller Gesellschaftsmitglieder.«331 Abgesehen von der mit sozialer Sicherheit verbundenen Problematik kommt man in Anlehnung an die Position von Silja Klepp zu der Überzeugung, dass sich die Kultur- und Raumbezüge in der heutigen Welt grundsätzlich fraktal gestalten, also ohne scharfe Grenzen, Strukturen oder Regelmäßigkeiten. Von daher kann man heutzutage nicht von der Dominanz nur einer Tendenz, z. B. nur von einer sozialen Marktwirtschaft sprechen, sondern man muss die Vorherrschaft eines weitestgehend »desorganisierten Kapitalismus« berücksichtigen.332 Darüber hinaus konstituiert sich immer deutlicher ein senkrechtes Modell der Gesellschaft: Viele Arbeitnehmer, so Oliver Callies, »mit denen die Sozialforscher im Laufe ihrer Untersuchung sprachen, nahmen die Gesellschaft als ein Gebilde wahr, das sich strikt in ein Oben und Unten unterteilte. Oben befand sich nach ihrer Ansicht »das Kapital«, unten hingegen sahen sie sich selbst.«333 Dies wird von einem Prozess begleitet, der paradoxerweise nicht ohne Einfluss auf das Verständnis der sog. Flüchtlingskrise in Polen bleibt: Parallel dazu gewinnen die neoliberale Ideologie – die die Selbstverantwortung des Individuums und die regulative Kraft des Marktes betonen – und ein religiös-moralischer Konservatismus – der einen Renaissance traditioneller Werte als Leitprinzipien gesellschaftlicher Ordnung und individueller Lebensweise propagiert – Einfluss auf die politische und gesellschaftliche Debatte.334

Bezüglich der Migrationsproblematik – und dies wurde schon oben ansatzweise signalisiert – unterscheidet sich Polen bedeutend von anderen EU-Ländern. In den 1990er Jahren und zu Beginn des 21. Jahrhunderts war für das Land ein negativer Saldo der Migration signifikant, vor allem wegen der massenhaften

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politik, denn die Assimilationspolitik beruht schließlich auf der Annahme, so Hage, dass Immigrantinnen und Immigranten letztendlich zu assimilieren sind. Vgl. Hage 2015, S. 74. Singelnstein / Stolle 2008, S. 114. Bezüglich der sozialen und existenzbezogenen Sicherheit haben sich die Akzente im Laufe der jahrhundertelangen Entwicklung der Zivilisation radikal verschoben. Nach Martha Nussbaum hat der Mensch im heutigen gesellschaftlichen Leben – obwohl dieser Vergleich sicherlich etwas ungewöhnlich vorkommen kann –»viel mehr zu fürchten als nur Schlangen und Raubtiere. Tatsächlich sind heute ja die nichtmenschlichen Gefahrenquellen in solchem Ausmaß unter unsere Kontrolle geraten, dass wir eher die Raubtiere vor uns Menschen schützen müssen.« Nussbaum 2014, S. 34. Vgl. Klepp 2011, S. 110. Callies, Oliver: Konturen sozialer Exklusion. In: Bude, Heinz / Willisch, Andreas (Hrsg.): Exklusion. Die Debatte über die »Überflüssigen«. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag 2017, S. 261–285, hier S. 261. Singelnstein / Stolle 2008, S. 111.

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Emigration nach Westeuropa. Nur in den Jahren 2004–2014 verließen über 300 000 polnische Staatsbürger ihre Heimat, die Anzahl derjenigen, die vorübergehend oder zumindest 2 oder 3 Monate im Ausland verblieben sind, stieg von einer Million im Jahre 2004 auf 2,2 Millionen Ende 2013. In den letzten Jahren musste folglich die massenhafte Beschäftigung ukrainischer Mitarbeiter die Bedürfnisse des polnischen Arbeitsmarktes mindestens zum Teil decken. Eine solche Tendenz – die von der Mehrheit der Gesellschaft eher mit Gleichgültigkeit wahrgenommen wird – wurde von polnischen Unternehmern mit sichtbarer Erleichterung begrüßt: 2015 meldeten 780 000 und ein Jahr später sogar 1 300 000 polnische Arbeitgeber die Bereitschaft, ausländische Mitarbeiter – vor allem aus der Ukraine – aber auch aus Belarus, Georgien, Moldau und Russland zu beschäftigen.335 Der massenhafte Einsatz ukrainischer Angestellter verändert allerdings nicht viel an der kollektiv geteilten Wirkung der Fremdbilder und daran, dass ein Großteil der polnischen Gesellschaft nach wie vor die Aufnahme muslimischer Migranten vehement ablehnt. Für diesen Zustand macht Rafał Cekiera die fortschreitende Radikalisierung, bzw. die ethnozentrische Einstellung (auch der jüngeren Generation) verantwortlich: Alle Befragungen zeigen deutlich einen nicht selbstverständlichen Zusammenhang: Die Altersgruppe, die sich am häufigsten gegen eine Aufnahme von den vor Verfolgung und bewaffneten Konflikten Fliehenden ausspricht, bilden die jungen Menschen. Das ist ein Phänomen, das die Neugier vieler Forscher weckt. Menschen auf der Schwelle ins Erwachsenenleben werden intuitiv als weltoffen, sensibel für menschliches Leid und mutiger als die Generation der Älteren wahrgenommen. Unterdessen belegen die vom Meinungsforschungsinstitut CBOS präsentierten Analysen, dass die jungen Polen sich häufiger gegen eine Aufnahme von Flüchtlingen aussprechen als ihre älteren Landsleute.336

Auch wenn es äußerst riskant wäre eine These aufzustellen, dass die Jugendlichen in Polen nach rassistischen Prinzipien erzogen werden und auf ebensolche Weise denken und handeln, offenbart sich die systematisch betriebene Verdrängungsstrategie und das kontinuierliche Nicht-Benennen von rassistischen Tendenzen – auch in der Begrifflichkeit – als ein struktureller Bestandteil des lokalen Rassismus.337 Bei der Gestaltung der Weltanschauungen und Meinungen ist 335 Vgl. Fihel, Agnieszka / Górny, Agata: Wydatki na polityke˛ imigracyjna˛ Austrii, Francji, Polski i Włoch – uje˛cie porównawcze [Die Ausgaben für Migrationspolitik Österreichs, Frankreichs, Polens und Italiens – eine komparatistische Zusammenstellung]. In: Fihel, Agnieszka (Hrsg.): Starzenie sie˛ społeczen´stwa a polityka fiskalna i migracyjna [Alterungsprozesse innerhalb der Gesellschaft vor dem Hintergrund der Finanz- und Migrationspolitik]. Warszawa: Wydawnictwo Uniwersytetu Warszawskiego 2017, S. 121–146, hier S. 130. 336 Cekiera 2017, S. 245. 337 Vgl. Schulze / Mantey / Witek 2016, S. 204.

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schließlich – und dies erscheint freilich als keine bahnbrechende Erfindung – die ideologische Profilierung und Sozialisierung der Jugendlichen von grundsätzlicher Bedeutung. Der Mensch lebt schließlich nicht einfach in einer Gesellschaft, so Alain Ehrenberg, sondern immer »in einer besonderen Gesellschaft, die ein konkretes und bedeutsames Ganzes bildet, in dessen Schoß er sich sozialisiert, während er sich gleichzeitig personalisiert.«338 Nichtsdestotrotz, auch wenn individualisierte Entfaltungsmöglichkeiten eröffnet werden und der Mensch auf der individuellen und kollektiven Ebene immer weniger durch ein festes Normkorsett eingeengt wird, so findet dennoch »in den gesellschaftlich wichtigen Bereichen in steigendem Maße eine frühe Kontrolle und subtile Führung statt.«339 Abgesehen von den gerade skizzierten ideologischen Aspekten und Hintergründen gilt Polen als jenes Land, in dem die reale Zuwanderung aus arabischen Ländern lediglich als eine marginale Erscheinung eingestuft werden kann. Die Durchführung des ursprünglichen Plans aus dem Jahre 2015, nach dem die Aufnahme von mehr als 6 000 der damals 160 000 in den Übergangslagern verbleibenden Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Afrika vorgesehen wurde,340 stieß in Polen kontinuierlich auf ablehnende Reaktionen der Gesellschaft. Hinzu kommt der Umstand, dass Staatsorgane und Institutionen, die in Polen für Migration zuständig sind, sich als mehr oder weniger wirkungslos erweisen, unter anderem angesichts des Umstands, dass sie ziemlich stark verstreut sind und ihre Kompetenzen nicht scharf genug definiert bzw. voneinander abgegrenzt werden. Um dies auf der Beispielsebene zu zeigen: Während für die Aufenthaltslegalisierung und Zuerkennung der polnischen Staatsbürgerschaft das Innenministerium, das Amt des Staatspräsidenten und die Woiwodschaftsämter zuständig sind, ist für die soziale Hilfe zusätzlich noch das Ministerium für Familie, Arbeit und soziale Politik [Ministerstwo Rodziny, Pracy i Polityki Społecznej] zuständig.341 Eine solche Verteilung der Kompetenzen trägt dazu bei, dass Polen rein strukturell und organisatorisch gesehen nur schwer als ein EULand betrachtet werden darf, das sich durch eindeutig bestimmte und profilierte Migrationspolitik zur Zeit der sog. Flüchtlingskrise auszeichnet.

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Ehrenberg, Alain: Das Unbehagen in der Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp Verlag 2011, S. 29. Singelnstein / Stolle 2008, S. 112. Vgl. Cekiera 2017, S. 239. Fihel, Agnieszka / Górny, Agata / Matuszczyk, Kamil: Wydatki na polska˛ polityke˛ imigracyjna˛ w latach 2010–2013 – uje˛cie szczegółowe [Ausgaben für die polnische Migrationspolitik in den Jahren 2010–2013 – eine detaillierte Darstellung]. In: Fihel, Agnieszka (Hrsg.): Starzenie sie˛ społeczen´stwa a polityka fiskalna i migracyjna. [Alterungsprozesse innerhalb der Gesellschaft vor dem Hintergrund der Finanz- und Migrationspolitik]. Warszawa: Wydawnictwo Uniwersytetu Warszawskiego 2017, S. 147–180, hier S. 149.

Negative Wahrnehmung der Geflüchteten in Polen

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3.1.1 Asyl- und Hilfesuchende als ein organisatorisches Problem Die Analyse der europäischen Ausgaben für Migrationspolitik macht die These legitim, dass sich die finanzielle Hilfe für Geflüchtete in verschiedenen EULändern ganz unterschiedlich gestaltet. Dies kann man am Beispiel von Statistiken zeigen, die noch vor 2017 erstellt wurden: Während Frankreich damals jährlich ungefähr rund 844 Mio. Euro ausgab, betrugen die Ausgaben in Italien 495, in Österreich 173 und in Polen (umgerechnet) lediglich 40 Mio. Euro jährlich. Die oben dargestellten Beträge sind hierbei als eine relative Einheit zu verstehen und zwar angesichts des Umstands, dass sie unmittelbar mit Marktpreisen, dem Bruttoinlandprodukt und der tatsächlichen Anzahl von Geflüchteten im jeweiligen der genannten Länder verbunden sind.342 Nicht viel anders sind Statistiken, die über die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus in Polen informieren. Marzena Piłat macht darauf aufmerksam, dass die auf Polen bezogenen Zahlen nur schwer mit jenen vergleichbar sind, die Westeuropa betreffen. Hier nur ein vereinzeltes Beispiel: 2015 traf der polnische Chef des Flüchtlingsamtes [Urza˛d do Spraw Cudzoziemców] lediglich 348 positive Entscheidungen zur Erteilung des Flüchtlingsstatus, die Anerkennung des sog. ergänzenden Schutzbedürfnisses [»ochrona uzupełniaja˛ca«] umfasste damals 167 Personen, in 122 Fällen wurde der geduldete Aufenthalt [»pobyt tolerowany«] zuerkannt. Wenn man bedenkt, dass nur im Jahre 2015 insgesamt 12 238 Anträge von Zufluchtsuchenden gestellt wurden, erscheinen die oben genannten Zahlen als äußerst gering.343 Vor diesem Hintergrund kann die europaweit geführte Debatte nicht wundern, im Rahmen derer immer wieder die Frage gestellt wird, ob diejenigen EULänder, die keine Geflüchteten aufnehmen wollen, wie es Reinke de Buitrago formuliert, »zur Entlastung derjenigen Staaten, die dies tun, Ausgleichszahlungen leisten«344 müssten. Auf die gerade angedeutete Unverhältnismäßigkeit, die

342 Vgl. Fihel / Górny 2017, S. 136. 343 Vgl. Piłat 2017, S. 156. 344 Reinke de Buitrago 2018, S. 74. Manche Politiker sprechen in diesem Zusammenhang sogar von einem Hochverrat: »Wenn die anderen EU-Staaten sich weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, dann kann uns Europa gestohlen bleiben. Polen und Ungarn warf Prantl wegen ihrer Flüchtlingspolitik ganz offen Hochverrat an europäischen Werten vor.« Palmer 2017, S. 29. Für einen solchen Stand der Dinge macht Palmer zugleich mehrere Staaten verantwortlich: »Wenn es sich eben nur um die Regierungen von Polen und Ungarn handeln würde, deren mangelndes Verständnis von Rechtsstaatlichkeit sehr kritisch zu beurteilen ist, könnte man ja noch von Hochverrat sprechen. Es waren aber auch Tschechien und die Slowakei, die als Visegrad-Staaten die Sperrung der Balkanroute maßgeblich herbeiführten.

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vor allem für Deutschland von Nachteil ist, verweist explizit Schwarz, indem er gleichzeitig den Aspekt der unproportionalen Diasporaentwicklung thematisiert: Das hybride Wachstum der Diaspora ist in erster Linie ein Problem Deutschlands. EULänder wie Frankreich, Italien, Griechenland, Polen, Spanien oder Großbritannien waren für maximal ein Zehntel der Migranten von Interesse, von den klassischen Einwanderungsländern Australien, Kanada oder USA ganz zu schweigen.345

Die Frage nach einer gerechten Verteilung der Zufluchtsuchenden entschied unverkennbar ebenso über die Richtlinien der europäischen Politik, vor allem in der ersten Phase der sog. Flüchtlingskrise, also im Sommer 2015. Ein Jahr später nahm die Zahl der Migranten – wenn man die Statistiken vergleicht – deutlich ab. Dies hatte zur Folge, dass in den darauffolgenden Monaten im politischen Diskurs seltener Fragen nach der Lastenverteilung gestellt wurden.346 Die Wirkung der statistischen Angaben ändert allerdings nur wenig an der Tatsache, dass die Verteilung der Geflüchteten nach wie vor unrechtmäßig bleibt. Von daher kann es nicht wundern, dass einige Publizisten, wie Nassim Nicholas Taleb, auf die fehlende Solidarität und Ineffizienz der europäischen Flüchtlingspolitik verweisen. In der von ihm durchgeführten Analyse der sozialpolitischen Aspekte werden vor allem grundlegende Konstruktionsfehler der EU diagnostiziert, die mit Funktionskrisen des Grenzschutzes und dem unvollkommenen Asylrecht eng verzahnt sind: »In halbwegs normalen Zeiten«, so Taleb, »funktioniert die Europäische Union wie ein Quasi-Bundesstaat, doch auf Gefahr von außen reagiert sie mit der Verworrenheit staatenbundlicher Gebilde.«347 Aus diesem Grund gibt es hinsichtlich der ausgebliebenen politischen Lösung der sog. Flüchtlingsfrage »keinen betrüblicheren Beweis als die widerIn all diesen Staaten hat es in den letzten hundert Jahren praktisch keine Einwanderung aus islamischen Ländern gegeben.« Ebd., S. 32. 345 Schwarz 2017, S. 185. Kritisch äußern sich dazu auch die Autoren der Publikation Weltoffenes Deutschland?: »Allerdings reicht es nicht, wenn Deutschland allein handelt. Auf diesem Feld brauchen wir dringend europaweit einheitliche Regelungen. Die Datenerfassungssysteme müssen europaweit kompatibel und kommunikationsfähig sein.« Weißgerber / Schröder / Quistorp 2018, S. 76. Das oben erwähnte hybride Wachstum der Diaspora betrifft auch die Situation im Nahen Osten: »Der Libanon hat in den vergangenen drei Jahren mehr als zwei Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Viele EU-Politiker vergessen anscheinend, dass die Hauptlast der Flüchtlingsströme nicht Europa trägt.« Holtkamp 2016, S. 83. 346 Vgl. Reinke de Buitrago 2018, S. 74. 347 Taleb, Nassim Nicholas: Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse. München: Hanser Verlag 2008, S. 14. Eine auffällige Diskrepanz in der Flüchtlingspolitik kann man darüber hinaus am Beispiel der Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich zeigen: »Der Rhein grenzte das sauber ab. Links keine Flüchtlinge, rechts Turnhallen voller Flüchtlinge. Was ich ihm über die aktuelle Lage der Flüchtlingsaufnahme und Unterbringung in Deutschland schilderte, fand er schlicht absurd, keineswegs bewundernswert.« Palmer 2017, S. 31.

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sprüchlichen Krisenstrategien der EU-Kommission, des Europäischen Rats und der EU-Regierungen«.348 Einer noch schärferen Kritik unterzieht die europäische Flüchtlingspolitik Jürgen Holtkamp: »Der europäischen Idee eines gemeinsamen Wirtschafts- und Lebensraumes widersprechen ein Grenzzaun und vollgestopfte Flüchtlingslager ebenso wie das Niederknüppeln von Migranten durch Polizisten und Grenzschutzbeamte.«349 Auf der anderen Seite darf man die Stimmen nicht außer Acht lassen, welche die Notwendigkeit der Einführung von mehr oder weiniger radikalen Zwangsmaßnahmen postulieren. Collier verweist zum Beispiel darauf, dass alle Staaten ein gewisses Ausmaß an Zwangsmitteln benötigen, weil selbst die äußerst inklusiv und liberal handelnden Regierungen nicht imstande wären, Akzeptanz bei all ihren Staatsbürgern zu finden. Sie wären freilich auch nicht imstande, der sich immer deutlicher einschleichenden Gewalt effizient vorzubeugen: »In allen Gesellschaften gibt es aufsässige Querköpfe«, so der Autor der Publikation Gestrandet, nicht ohne sichtbaren Hang zu skeptischen Einschätzungen, »die glauben, aufgrund vermeintlichen Missstände oder persönlicher Kränkungen ein Recht zur Gewaltanwendung zu haben.«350 Die Bedrohung durch Gewalt ist ohne Zweifel ein ernsthaftes, Integration hemmendes Problem. Was hingegen die kulturelle Integration der Migranten in Polen betrifft, sind viele Kritiker der Meinung, dass sie sich grundsätzlich nur auf eine allgemeine Auskunft über das Land und ein unzureichendes Angebot an Sprachkursen beschränkt.351 Für jene aber, die keinen Sonderstatus erhalten haben, gibt es normalerweise – außer vereinzelten Programmen, die hauptsächlich von Nichtregierungsorganisationen angeboten und geleitet werden – im Prinzip keine kostenlosen oder nur zum Teil kostenpflichtigen Sprach- oder Integrationskurse.352 Die familienfördernde Politik hingegen, auch wenn sie 348 349 350 351

Taleb 2008, S. 14. Holtkamp 2016, S. 84. Betts / Collier 2017, S. 34. Vergessen wird dabei allzu häufig, dass eine gelungene Integration der Migranten ohne kontinuierliche und systembezogene Verbesserung ihrer Sprachkompetenzen nicht möglich ist. Die Sprache hat schließlich nicht nur eine pragmatische sondern auch eine starke identitätsstiftende Wirkung; Jutta Aumüller drückt diesen Zusammenhang in einer kurzen Konstatierung aus, in welcher zugleich die heutige Situation mit den Zeiten des aufblühenden Nationalismus zusammengestellt wird: »Ganz im Sinne früher nationalistischer Ideen landet die gesellschaftliche »Mehrheit« wieder da, wovon einst im 19. Jahrhundert die Nation ihren Ausgang genommen hat: bei der gemeinsamen Sprache als »einigendem Band«.« Aumüller 2009, S. 210. 352 Vgl. Fihel / Górny 2017, S. 162. Paradoxerweise kann die misslungene Integration dazu beitragen, dass in dem öffentlich geführten Diskurs wiederum mal von einer Parallelgesellschaft gesprochen wird, auch wenn dieser Begriff auffällig stark »negativ konnotiert ist und ausschließlich auf Einwanderer bezogen wird, die sich »abschotten«.« Treibel 2015, S. 104.

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teurer als die Migrationspolitik ist – so argumentieren zumindest die Gegner der Aufnahme von Geflüchteten – wird als jene gepriesen, die in demografischer Hinsicht viel versprechend erscheine. Die potenzielle Förderung oder gar Stimulierung der Migration wird in dieser Rhetorik als ein sozialpolitisch gefährlicher Prozess und eine für den Staatshaushalt untragbare Belastung abgestempelt, welche die weitreichenden Spannungen innerhalb der Gesellschaft nur noch erhöhen würde.353 Was die oben erwähnten Sprach- und Integrationskurse sowie das allgemeine Bildungsangebot für Geflüchtete betrifft, können solche Umstände als besonders besorgniserregend eingestuft werden, in denen die Flüchtlingskinder lernen müssen. In polnischen Schulen, und darauf verweist Ewelina Zalewska, sind sie zunächst einmal dazu gezwungen, weitreichende Defizite nachzuholen, die sich aus der Eigenart der Sprache des fremden Aufnahmelandes sowie aus dem Abbruch der früheren Schulbildung in ihrem Heimatland ergeben. Nicht ohne Einfluss auf die mangelhaften Schulleistungen der Flüchtlingskinder bleiben des Weiteren die Traumata und andere schwerwiegende Konsequenzen der Kriegshandlungen in ihrem Herkunftsland. Dazu zählen auch die verhängnisvollen Folgen der monatelangen Flucht, die traumatisierende Wirkung der Deportationen sowie die Notwendigkeit des ständigen ›Neubeginns‹ in einem der europäischen Aufnahmeländer.354 Von daher verbergen die erwachsenen Geflüchteten, die nach Polen kommen, so Marzena Piłat, oft voller Besorgnis die Probleme ihrer Kinder, denn sie wollen nicht als Eltern von Andersartigen, psychisch Gestörten oder schlicht Wahnsinnigen wahrgenommen werden.355 Aus diesem Blickwinkel gesehen darf man freilich nicht außer Acht lassen, dass die Lebensstandards der in Polen aufgenommenen Geflüchteten – und dies erscheint bestimmt als keine bahnbrechende Entdeckung – von den Standards der Einheimischen bedeutend abweichen. Diesen Umstand beschreibt Iza Klementowska in der Publikation Skóra. Witamy uchodz´ców [Die Haut. Flüchtlinge willkommen] u. a. an der Stelle, an der sie das Flüchtlingslager in De˛bak be353 Vgl. Fihel, Agnieszka / Górny, Agata / Kudła, Janusz / Walczyk, Konrad: Pronatalistyczna funkcja wydatków na polityke˛ fiskalna˛. [Die geburtenfördernde Funktion der Ausgaben für Finanzpolitik] In: Fihel, Agnieszka (Hrsg.): Starzenie sie˛ społeczen´stwa a polityka fiskalna i migracyjna. [Alterungsprozesse innerhalb der Gesellschaft vor dem Hintergrund der Finanz- und Migrationspolitik] Warszawa: Wydawnictwo Uniwersytetu Warszawskiego 2017, S. 181–204, hier S. 201. 354 Vgl. Zalewska 2017, S. 102. 355 Vgl. Piłat 2017, S. 160. Für das bessere Verständnis der Flüchtlingsproblematik ist bestimmt auch die Berücksichtigung der Traumatisierungsprozesse notwendig: »Anders als gewöhnliches Unglück bedeuten traumatische Ereignisse im Allgemeinen eine Bedrohung für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit, sie bringen die unvermittelte Begegnung des Betroffenen mit Gewalt und Tod. Durch traumatische Ereignisse ist der Mensch in extremer Weise Hilflosigkeit und Angst ausgesetzt und reagiert in der bei einer Katastrophe üblichen Weise.« Herman 2003, S. 45.

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schreibt. Erstens sticht in der Darstellung der dort herrschenden Verhältnisse vor allem das Problem der äußerst kleinen Räumlichkeiten ins Auge, in denen 100 oder sogar mehr Personen untergebracht sind. Zweitens wird darin das Ausmaß der Existenzmisere der Bewohner zum leitenden Thema, insbesondere bei der Beschreibung der mangelhaften finanziellen Unterstützung für Geflüchtete: Für persönliche Ausgaben erhalten sie nämlich lediglich 50 Złoty pro Monat [umgerechnet ca. 11 Euro], was auch ihre notwendigsten Bedürfnisse keinesfalls befriedigen kann. Von daher entscheiden sich viele – obwohl die meisten von ihnen sich noch durchaus nicht integriert bzw. assimiliert356 haben und nur unzureichend oder gar kein Polnisch sprechen – für die Suche nach einer separaten Wohnung außerhalb des Flüchtlingslagers, um dadurch auch potenziellen Konflikten, Gewalt und dem unerträglichen Stress zu entkommen. Als besonders deprimierend wird hierbei nicht nur die Notwendigkeit beschrieben, mit allzu vielen Mitbewohnern auf einer äußerst kleinen Fläche zu leben, sondern vor allem die sich aus rechtlichen Regelungen ergebende Notwendigkeit, langfristig unbeschäftigt bleiben zu müssen und – was damit zusammenhängt – auf die Hilfe des Staates angewiesen zu sein.357 Nicht viel besser wird in den polnischsprachigen Publikationen das Zentrum für Geflüchtete in der Herzogin-Anna-Straße in Warschau [Os´rodek dla uchodz´ców przy ul. Ksie˛z˙nej Anny w Warszawie] abgebildet. Während der Befragung haben die dort untergebrachten Frauen zutiefst enttäuscht und verbittert darauf verwiesen, dass der Betrag, den sie für den Lebensunterhalt erhalten, lediglich für absolut grundsätzliche Existenzbedürfnisse ausreiche.358 Die Geflüchteten, die dort untergebracht sind, machen im Bericht von Ewelina Zalewska den Eindruck, als ob sie ständig ›unterwegs‹ wären. Von daher wird die Warschauer Flüchtlingsunterkunft eher als eine provisorische und vorübergehende Aufenthaltsstelle beschrieben, in der viele überhaupt nicht wissen, wie lange sie dort verbleiben werden. Bei der Betrachtung der dargestellten Umstände kann man sich außerdem des Eindrucks nicht erwehren, dass die Existenz dort von kontinuierlichen Zukunftsängsten und einer nahezu vollständig fehlenden Stabilisierung gekennzeichnet ist.359 356 Als Assimilation soll man in diesem Zusammenhang einen intrapsychischen Vorgang verstehen, »der vollständig auf die einseitige Adaption an eine Gruppe bezogen ist und nicht nur die Übernahme von Verhaltensweisen und äußerem Habitus betrifft, sondern auch Weltbilder und Wertvorstellungen, also gewissermaßen die gesamte intrapersonale Prägung.« Aumüller 2009, S. 30–31. 357 Vgl. Klementowska, Iza: Skóra. Witamy uchodz´ców [Die Haut. Flüchtlinge willkommen]. Kraków: Wydawnictwo Karakter 2019, S. 23. 358 Vgl. Zalewska 2017, S. 105. 359 Was die soeben beschriebene Flüchtlingseinrichtung betrifft, ist auch ihre Lage ungünstig und zwar angesichts des Umstands, dass sie in einem wenig repräsentativen Stadtteil Warschaus gebaut wurde. Die Entfernung zum nächsten Geschäft bzw. zur nächsten

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In den polnischsprachigen Publikationen, in denen nicht nur die Lebensverhältnisse, sondern auch die Einstellung der einheimischen Bevölkerung zu den Zufluchtsuchenden beschrieben wird, wird häufig auch die stereotype Fremdenfeindlichkeit der Polen hervorgehoben. Dieses Problem betrifft verständlicherweise in erster Linie nicht die Großstädte (auch wenn die oben geschilderte Lage in der Warschauer Flüchtlingsunterkunft eher pessimistisch anmuten kann), sondern vielmehr die Kleinstädte und ländliche Gebiete. Im Artikel Biała siła, czarna pamie˛´c [Weiße Kraft, schwarze Erinnerung] stellt Magdalena Ickiewicz-Sawicka die These auf, dass sich die Antimigrationstendenzen z. B. in der Woiwodschaft Podlachien [województwo podlaskie] vor allem auf die dort herrschende schlechte wirtschaftliche Lage zurückführen lassen. Dabei verweist die Autorin darauf, dass ausgerechnet in dieser Woiwodschaft unmittelbar nach der politischen Transformation im Jahre 1989 viele Betriebe und Fabriken geschlossen wurden, die früher der jüngeren Generation attraktive Arbeitsplätze hätten anbieten können.360 Folglich sind die Schulabgänger und Arbeitsuchenden nun gezwungen, entweder in der polnischen Hauptstadt oder im Ausland nach einer angemessenen Beschäftigung zu suchen. Dies führt zur sichtbaren Radikalisierung der Meinungen, die Proteste richten sich hierbei vor allem gegen die sog. Wirtschaftsmigranten. Auch wenn ihre Präsenz in der Region – vom statistischen Gesichtspunkt gesehen – eher unbedeutend bleibt, in der Vorstellung der Einheimischen existieren und etablieren sich deutlich konturierte, fremdenfeindliche Bilder. Darüber hinaus setzt sich die imaginierte Bedrohung in Gestalt von anscheinend offensiv eingestellten Mitbewerbern durch, welche die Arbeitsplätze der Einheimischen vermeintlich für sich beanspruchen sollten.361 Wohnsiedlung beträgt ca. 10 Busminuten und die Busse fahren nur zweimal pro Stunde. Von daher setzt die Lokalisierung der Einrichtung eine nahezu planvolle Isolation und Desintegration der Geflüchteten voraus. Dies betrifft auch die Minderjährigen; nach der Schule haben sie nur selten Möglichkeit, sich auf Polnisch zu verständigen, weil sie von ihren Mitschülern konsequent abgeschnitten werden. Vgl. Zalewska 2017, S. 105. Ungeachtet dessen fällt den meisten dort untergebrachten Migranten die Entscheidung schwer, nach Westeuropa weiterzureisen. Viele machen sich Sorgen darüber, dass sie trotz aller Bemühungen früher oder später in ihr Heimatland abgeschoben werden. Eine besonders bedrohte Gruppe sind in diesem Zusammenhang Mütter mit Kleinkindern, die stets um ihre Sicherheit bangen müssen. Auch wenn es ihnen gelingt, einen gut durchdachten Plan der weiteren Existenz in Europa zu konzipieren, hängt seine Umsetzung größtenteils nicht von ihnen selbst, sondern von zahlreichen externen Umständen ab. Vgl. ebd., S. 112. 360 Vgl. Ickiewicz-Sawicka, Magdalena: Biała siła, czarna pamie˛´c [Weiße Kraft, schwarze Erinnerung]. In: Pasamonik, Barbara / Markowska-Manista, Urszula (Hrsg.): Kryzys migracyjny. Perspektywa społeczno-kulturowa [Die Migrationskrise aus der sozial-kulturellen Perspektive]. Bd. 1. Warszawa: Wydawnictwo Akademii Pedagogiki Specjalnej 2017, S. 183– 201, hier S. 188. 361 Eine solche Interpretation der Migrationsprozesse, die mit starker Emotionalisierung verbunden ist, ist allerdings nicht nur für Polen charakteristisch. Vergleichbare Ängste und Befürchtungen lassen sich z. B. in baltischen Ländern erkennen: »In Estland etwa gibt es

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Die Angstgefühle richten sich aber nicht nur gegen Geflüchtete als potenzielle Bedrohung für die Arbeitsplätze und den materiellen Status der Mehrheitsbevölkerung; die Fremden werden nämlich ebenfalls als akute Gefahr für die kulturelle Einigkeit und nationale Identität angesehen.362 Noch weiter geht in seinen Überlegungen Tomasz Grzegorz Grosse, der die wachsende Präsenz der Migranten aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft als eine beunruhigende Erscheinung betrachtet und die Geflüchteten selbst implizit als eine von außen kommende Bedrohung einstuft. In seiner Position ist die Anwesenheit der Fremden auf dem Alten Kontinent vor allem auf die Politik der ehemaligen Kolonialmächte zurückzuführen, von daher erheben die Geflüchteten nun unangemessene Ansprüche auf die Teilhabe am europäischen Wohlstand. Unabhängig davon, so der Autor der Publikation, erscheint die bisherige Integration der muslimischen Migranten aus der heutigen Perspektive größtenteils als misslungen, denn auch die zweite Generation wendet sich kontinuierlich gegen den laizistischen Staat und die scharfe Trennung zwischen der öffentlichen und der religiösen Sphäre. Europäische Muslime hätten, so Grosse, gravierende Probleme damit, den Liberalismus, den säkularen Staat und die Demokratie ohne Weiteres zu akzeptieren, also jene Werte, auf denen die EU aufgebaut wurde.363 keine syrische, irakische oder afghanische Community, es existiert keine Moschee. Dennoch entwickelte sich im Zuge der Flüchtlingskrise und der Aufnahme einer Handvoll Flüchtlinge eine angstvolle Debatte darüber, ob und wie das Land Flüchtlinge aus muslimischen Kulturkreisen verkraften würde. Proaktiv wurde auch über ein Burkaverbot diskutiert.« Hartleb 2017, S. 117–118. 362 Vgl. Ickiewicz-Sawicka 2017, 188. Auch diese Befürchtungen lassen sich kaum in der Wirklichkeit bestätigen, ebenso wenig wie die Vorahnung der anscheinend bedrohten Eigenidentität, die den Wunsch nach einer national geprägten Leitkultur geltend macht. Sie selbst, so Kipping, erscheint im Grunde als eine »Schimäre«, denn Kultur ist und bleibt ein vieldimensionales Phänomen, das im permanenten Wandel begriffen ist. Vgl. Kipping 2016, S. 131. Darüber hinaus kritisiert Stockmann in diesem Zusammenhang die allzu oft vorkommende schädliche Stereotypisierung und erfindet den Begriff einer »ScheuklappenIdentität«: »Abgesehen davon ist diese von ethnozentrischen Vorurteilen gesteuerte »Scheuklappen-Identität« grundsätzlich menschenrechtsfeindlich und somit nicht wünschenswert. Begrüßt wurde der gezielt geförderte (Neo-)Nationalismus aber von vielen Politikern, um ihn als politisches Werkzeug zur Polarisierung der sozialen Meinung gegen das Asyl- und Menschenrecht auszuschlachten.« Stockmann 1995, S. 233. 363 Vgl. Grosse, Tomasz Grzegorz: Pokryzysowa Europa. Dylematy Unii Europejskiej [Europa nach der Krise. Dilemmata der Europäischen Union]. Warszawa: Polski Instytut Spraw Mie˛dzynarodowych 2018, S. 247. Ergänzend kann man sich in diesem Zusammenhang auf Überlegungen von Heiner Bielefeldt berufen, für den der säkulare Staat sich nicht anmaßen kann, »religiöse Wahrheit durchzusetzen. Vielmehr ist sein Verhältnis zur Religion durch den Begriff der Freiheit geprägt.« Bielefeldt 2007, S. 24. Nicht weniger ausschlaggebend erscheint vor diesem Horizont ebenfalls die These zur unmöglichen »Privatisierung« der Religion in den Strukturen des Rechtsstaates: »Es wäre ein Missverständnis anzunehmen, dass der säkulare Rechtsstaat die Privatisierung der Religion zur Folge hat und die Religion zur bloßen Privatsache erklärt.« Ebd., S. 25.

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Dem oben erwähnten Problem der unzureichenden Integration der zweiten Generation der muslimischen Migranten wendet sich auch Ghassan Hage zu: Migranten der zweiten Generation entwickeln eine ganz ausgeprägte, ja mitunter geradezu von einer Idealvorstellung ausgehende Erwartungshaltung, nicht diskriminierend behandelt zu werden, und zwar weil der Rassismus, den ihre Eltern vor ihnen erfuhren, auch für sie immer präsent ist, weil sie wichtiger noch, Rassismus im Gegensatz zu ihren Eltern von klein auf erleben und weil ihnen Rassismus schließlich in einer Sprache und einer Kultur entgegenschlägt, die sie als ihre eigene Betrachten.364

Einen gegensätzlichen Prozess – und zwar bezüglich der aggressiv-offensiven Einstellung des radikalisierten Teils der Aufnahmegesellschaft – beschreibt Stockmann, der von der Präsenz des Alltagsrassismus und sozialer Bequemlichkeit innerhalb der ›Eigengruppe‹ ausgeht: Eingebettet in eine soziale Hängematte, durch latente soziale und politische Unterstützung und Alltagsrassismus – also die Übernahme von Rassismus in alltägliche Situationen durch Denk- und Handlungsformen, die die dahinterliegenden Machtstrukturen stabilisieren und von der dominierenden Mehrheit als »normal« betrachtet wird – fühlen sich die Radikalen aufgerufen und aufgefordert, das zu erbringen, was eine schweigende Masse denkt: das Ausgrenzen und Abschieben oder sogar Tod und Verderben der Minderheiten, der sozial Randständigen.365

Die offensive, wenn nicht gar aggressive Einstellung gegenüber den Geflüchteten (insbesondere gegenüber den Wirtschaftsmigranten) erscheint als keine ausschließlich polnische Eigenschaft. In der Publikation Die neue Völkerwanderung prangert Schwarz jene Zugewanderten an, die Europa anscheinend nicht als Ort betrachten, der ihnen das Überleben ermöglicht, sondern in den (westlichen) Ländern der EU zielbewusst vor allem nach finanziellen und materiellen Profiten suchen. Eine solche These wird durch folgende vorwurfsvolle Argumentation eingeleitet: Flüchtlinge sind wählerisch. Die EU-Länder sind mit der Tatsache konfrontiert, daß Migranten nicht einfach nach Europa wollen, sondern in bestimmte Länder Europas. Sie machen sich nicht ziellos auf den Weg, sondern wissen genau, wohin sie wollen. Vor allem strömen sie in Länder, in denen sich bereits Familienangehörige, Freunde, Nachbarn, Bekannte oder Angehörige derselben Religionsgemeinschaft aufhalten.366 364 Hage 2015, S. 80. 365 Stockmann 1995, S. 230. 366 Schwarz 2017, S. 183. Um die Betrachtungsperspektive zu erweitern, kann man in diesem Zusammenhang technologisch hochentwickelte Länder erwähnen, wie z. B. Japan, welche die bisherige globale Ausrichtung der Migrationsentwicklung durchaus nicht begrüßen. Dies artikuliert explizit Collier, indem er zugleich auf gravierende Unterschiede zwischen den reichen Wirtschaftsmächten verweist: »Japan ist eines der reichsten Länder der Welt, für Einwanderer jedoch praktisch unzugänglich. Dubai stellt die andere Seite dar, es zählt mittlerweile ebenfalls zu den reichsten Ländern der Welt, hat aber, um dies zu erreichen,

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Vor diesem Hintergrund kann es nicht wundern, dass auch in Polen in den ersten Monaten der sog. Flüchtlingskrise äußerst kritische Stimmen die öffentliche Meinung geprägt haben, die die wahren Ziele und Absichten der Asylsuchenden entschieden in Frage stellten. Der öffentliche Diskurs erinnerte damals an jenen, der in Ungarn geführt wurde und naturgemäß politische Konsequenzen nach sich zog; auch dort haben die Behörden nicht nur restriktive AntimigrationsRegelungen eingeführt, sondern zum wiederholten Male unmittelbare Schutzmaßnahmen und exzessive Gewalt angewendet, um die Asylsuchenden – unabhängig von den ihnen zuerkannten Status – hinter die serbische Grenze zurückzudrängen.367 Das ungarische Parlament verabschiedete im Juli 2016 sogar ein kontroverses, intern heftig diskutiertes und in Europa vehement kritisiertes Gesetz, das es den Behörden erlaubt, »Geflüchtete bis zu acht Kilometer im Inneren des ungarischen Territoriums festzunehmen und nach Serbien abzuschieben.«368 Die pauschale und vereinfachte These allerdings, dass die negative Einstellung zu den Zufluchtsuchenden vor allem die Länder des ehemaligen Ostblocks kennzeichnet, erscheint nicht zutreffend, wenn man bedenkt, dass die sog. Flüchtlingskrise auf bedeutende Weise auch zum Brexit beitrug und einen dauerhaften Rückzug Großbritanniens – zweifelsohne eines der wichtigsten Mitgliedstaates der ›alten‹ Europäischen Union – verursachte. Collier beschreibt diesen Zusammenhang so: »Die »Leave«-Kampagne kulminierte mit zwei knallharten Botschaften«, wobei die eine ein Plakat war, »das den Exodus quer derart viele Einwanderer ins Land geholt, dass sie heute 95 Prozent der Bevölkerung stellen.« Collier 2015, S. 18. Einen noch anderen Weg hat zur Zeit der sich rapide verändernden globalen Migrationslage Australien gewählt, das seit 2001 ein Flüchtlingslager außerhalb seines eigenen Territoriums, nämlich auf der Pazifikinsel Nauru, errichtete. Nach Karl Kopp erscheint die »Nauru-Lösung« auch für manche Europäer als das anziehende (obwohl rechtspopulistische) Szenario, das immer wieder die utopische Debatte und Anwendung von vereinfachten Denkschemata in die Wege leitet. Und all das nach dem Motto: »Ich kauf mir ein Nachbarland, ich kauf mir eine Insel.« Bebenburg / Thieme 2012, S. 200. 367 Die Einstellung zu den Geflüchteten in Polen, Ungarn und Deutschland vergleicht in einem kurzen Rekurs Florian Hartleb: »Laut ungarischer Lesart ist die Integration von Muslimen mit christlicher Kultur schlichtweg unvereinbar, während sie laut deutscher Interpretation ein Gebot christlicher Nächstenliebe ist. Auch biologistisch-rassistische Argumente wurden vorgebracht: Migranten können Parasiten und gefährliche Krankheiten ins Land einschleppen, lautete ein Slogan aus Polen.« Hartleb 2017, S. 117. 368 Reinke de Buitrago 2018, S. 77–78. Nicht unbedeutend sind in diesem Zusammenhang rein organisatorische Aspekte: »Die EU regelte die Verfahren über die »Dublin-Abkommen«. Das bedeutet: Für Flüchtlinge, die ohne Visum einreisen, übernimmt das »Einreiseland« die Zuständigkeit. Das bedeutet in der Konsequenz, dass sie bei Weiterreise dorthin zurückgeschickt werden.« Hartleb 2017, S. 111. Angesichts der unverhältnismäßigen Verteilung der Hilfeleistungen kann das Postulat nicht wundern, das in der Publikation Weltoffenes Deutschland? aufgestellt wurde: »Was seit 2015 falsch lief, darf sich nicht fortsetzen! Dann besteht die Chance der Erhaltung eines Europas mit dessen westlichen Werten. So ein Europa ist in der Lage, weltweit helfen zu können.« Weißgerber / Schröder / Quistorp 2018, S. 93.

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durch Südeuropa zeigte, mit den beiden Worten: »Breaking Point«, also Belastungsgrenze; die zweite war der Wahlspruch »Take back control«, die Kontrolle zurückerlangen.«369 Außerdem ist zu betonen, dass die mehr oder weniger antiarabische Einstellung der Gesellschaften Europas keine Erfindung des Jahres 2015 ist, sondern sich schon früher erahnen ließ. Bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewannen Symptome einer antiarabischen Einstellung an Durchschlagskraft, und der 11. September 2001 setzte in diesem Zusammenhang eine sichtbare Zäsur. Nach Ghassan Hage: »Erst um die Wende zum 21. Jahrhundert wurden »Muslime« zur Hauptbedrohung. In dieser Zeit vollzog sich, so ließe sich sagen, die Globalisierung des islamischen Anderen.«370 Wenn man nach Collier annimmt, dass ein Flüchtling per Definition jemand ist, der über eine Grenze flieht, dann erscheinen die Regeln, die für die Überwachung von Grenzen gelten, als äußerst wichtig für die gesamte Migrations- und Flüchtlingspolitik eines bestimmten Landes.371 Von daher seien Regeln und gesetzliche Bestimmungen sowie organisatorische Maßnahmen unausweichlich, die gerade Staatsgrenzen betreffen. Ungeachtet dessen findet heutzutage kontinuierlich, so Zepf, eine sichtbare Relativierung der Grenzfragen und die »Verschiebung weg vom Selbstverständnis des Staates als Garant verfaßter Werte und Rechtsgarantien hin zum Staatsbild als losem Verbund nicht kohärenter, utilitarischer Auffassungs- und Deutungsmuster«372 statt. Dies hat freilich zur Folge, dass das staatliche System mehr oder weniger zu einem Regelsystem mutiert, »das zentral auf die mediale Steuerung von Stimmungen und ausbeutbaren Gefühlswelten bei Teilen der Bevölkerung zur Durchsetzung anstehender Mehrheitsentscheidungen setzt.«373 Mit dem sich verändernden Verständnis der staatlichen Strukturen und Grenzen mutiert auch die Wahrnehmung der Fremden (also jener Gruppen und Individuen, die von außerhalb der Grenzen kommen), die – und Polen stellt in diesem Zusammenhang keine Ausnahme dar – plötzlich unter Anwendung imaginativer Exklusionsprozesse wahrgenommen werden. Ein begleitender 369 Betts / Collier 2017, S. 133–134. 370 Hage 2015, S. 75. 371 Vgl. Betts / Collier 2017, S. 93. Die Einstellung zu den Grenzfragen widerspiegelt sich vor allem in der Finanzierung, bzw. unzureichender Unterstützung für bestimmte Organisationen und Projekte: »Die Mission Mare Nostrum mit dem Ziel, Menschen zu retten, wollten die EU-Staatschefs jedoch nicht wieder aufleben lassen. Triton dagegen hat den Auftrag, die Grenzen zu schützen. Das zeigt, wie die Kraftverhältnisse im politischen Europa verteilt sind und dass die Politik deutlich auf Abschottung setzt.« Holtkamp 2016, S. 81. 372 Zepf 1995, S. 220. Eine durchaus provozierende Frage bezüglich der Grenzproblematik stellt David Miller: »Hier kann es hilfreich sein, sich ein großteils hypothetisches Szenario vorzustellen, in dem ein Staat an seinen Grenzen einfach eine unüberwindliche Sperranlage errichtet hat, so dass denen, die unerlaubt ins Land zu kommen versuchen, der Weg versperrt ist. Werden sie gezwungen, wenn sie zur Umkehr genötigt sind?« Miller 2017, S. 117. 373 Zepf 1995, S. 220.

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Umstand ist hierbei eine weitgehende Distanzierung bzw. Gleichgültigkeit sowohl gegenüber den einzelnen Individuen als auch gegenüber Gruppen und ihren als fremd markierten Kulturen.374 Begleitet wird eine solche Einstellung gewöhnlich vom politischen Kalkül und der Einnahme einer mehr oder weniger distanzierten Beobachtungsposition. Besonders deutlich lässt sich diese Erscheinung am Beispiel Syriens zeigen: Wir in Europa wollten uns nicht einmischen. Wir wollten keinen Fehler machen. Wir haben dem Sterben in Syrien zugesehen. Wir schickten den Ausgebombten Zelte, ließen aber zu, dass Assad weiterbombte. Drei Jahre lang haben wir zugeschaut, wie das Regime die syrische Bevölkerung massakrierte.375

Mittels einer vergleichbaren Rhetorik beschreibt die Einstellung der europäischen Länder zu den kriselnden Diktaturen im Nahen Osten Balcerowiak, der die sog. Flüchtlingskrise zugleich mit einem ›Trauerspiel‹ vergleicht. In seiner Position ist die Europäische Union zwar eine beachtenswerte politische und wirtschaftliche Struktur, die 28 Staaten vereint, über 500 Millionen Einwohner zählt und gemessen an ihrem Bruttoinlandsprodukt der größte Binnenwirtschaftsraum der Welt ist, dennoch wird sie plötzlich, so der Autor der Publikation Faktencheck Flüchtlingskrise, »angesichts von ein paar Millionen Flüchtlingen, die in diesem Jahr in der EU Schutz suchen werden, heillos zerstritten und überfordert.«376 Der Verlauf und die Interpretation der sog. Flüchtlingskrise sind keinesfalls als ein durch Kontinuität gekennzeichneter Prozess zu betrachten. Es gibt darin nämlich einige signifikante Wendepunkte, die unmittelbar mit dem Zeitgeschehen verzahnt sind und sich stark auf die Kausalität der Migrationsprozesse auswirken. Einer der Wendepunkte war zweifelsohne die sog. ›Nacht von Paris‹; Marc Beise verweist in seiner Publikation darauf, dass unmittelbar danach die neugewählte polnische Regierung die Entscheidung traf, »dass man nun selbstverständlich keine Flüchtlinge mehr aufnehmen werde.«377 Ein solcher Umstand 374 Das Erscheinen einer großen Gruppe von Geflüchteten und Hilfesuchenden zieht zweifelsohne die intensivierte Aktivität der Populisten und Demagogen nach sich: »Dadurch, dass viele Flüchtlinge aus anderen Kulturkreisen gekommen sind, konnten Demagogen ihr düsteres Szenario einer islamistischen Invasion malen. Ihr Bild von Europa ist sogar teilweise Wirklichkeit geworden: nationale Alleingänge, Grenzkontrollen bis hin zum Bau von Mauern und Zäunen sowie eine allgemeine Diskussion um die Integration von Einwanderern aus anderen, speziell islamisch geprägten Kulturkreisen.« Hartleb 2017, S. 118. 375 Bauer 2014, S. 131. Die für Genozid und Krieg Verantwortlichen werden dabei häufig nicht zur Rechenschaft gezogen: »Nach dem Ende eines Krieges sind die Verantwortlichen auf der Siegerseite meist noch immer im Amt, häufig auch in anderen regierungsnahen Institutionen, oder sie jetten um die Welt und halten hochdotierte Vorträge.« Marquart / Bagus 2017, S. 116. 376 Balcerowiak 2015, S. 117. 377 Beise 2015, S. 12.

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veranlasst den Autoren der provokativ betitelten Publikation Wir brauchen die Flüchtlinge! zu einer bitteren Feststellung: »Unbarmherzige Worte in einem Kernland der katholischen Kirche, man mag es nicht glauben!«378 Wenn man sich aber die Einstellung anderer EU-Länder näher anschaut, kommt man rasch zu der Überzeugung, dass nicht nur Polen damals unverzüglich bekundete, keine Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Nordafrika mehr aufnehmen zu wollen. Ähnlich argumentierte zu dieser Zeit der tschechische Präsident Milosˇ Zeman, der sein Land ohne Weiteres für aufnahmeunwillig erklärte und die Migranten selbst in seiner Weihnachtsansprache von 2015 mit einem »trojanischen Pferd« verglich.379 Politisch bzw. soziotechnisch motivierte Stellungnahmen zu der Flüchtlingsproblematik verursachen zweifelsohne eine äußerst vorsichtige Einstellung zu Migranten und Hilfesuchenden. Auch in jenen Ländern, die sich den Migranten gegenüber aufgeschlossen zeigen, steigt allmählich der Unmut wegen wachsender Zahlen von Geflüchteten. Dies lässt sich freilich auch nicht von den organisatorischen Schwierigkeiten und von der misslungenen sozialen Integration trennen. Folglich sind die Bewohner der Asyl- und Flüchtlingsunterkünfte auch im Westen Europas dazu gezwungen, im Durchschnitt zehn Jahre in einem Flüchtlingslager verbleiben zu müssen. Einen solchen Zustand sieht Bhabha als »Anklage gegen den Versuch, mit Lagern Schutz zu gewähren, und eine Anklage gegen die humanitäre Hilfe allgemein.«380 Vor dem Hintergrund der gerade genannten Umstände ist allerdings ergänzend darauf zu verweisen, dass die Geflüchteten und Hilfesuchenden keinesfalls als eine einheitliche Gruppe zu betrachten sind. Während die MigrantInnen aus den sog. Drittstaaten und Flüchtlingsländern sowie Geflüchtete außerhalb der Europäischen Union – auch wenn die exkludierende Wirkung einer solchen Klassifizierung ganz offensichtlich ist – zu den ›unerwünschten‹ Einwanderern gezählt werden, werden die MigrantInnen aus EU-Ländern, aus den USA oder Kanada als ›erwünscht‹ eingestuft. Auffällig ist hierbei, dass die Einordnung zu der als ›fremd‹ bzw. ›unerwünscht‹ markierten Kategorie sowohl von ökonomisch fundierter Selektion als auch von sozial- und kulturbedingten Zuordnungen abhängig ist.381

378 379 380 381

Ebd. Vgl. Hartleb 2017, S. 116. Bhabha 2019, S. 70. Vgl. Kluge / Bostanci 2012, S. 20.

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3.1.2 Migranten als ein sozialpolitisches Problem Bei der Betrachtung der globalen Migrationsprozesse kann man in Anlehnung an Collier die These wagen, dass die Flucht aus armen in reichere Länder angesichts des potenziellen Einkommensgewinns weit größer ist, als bei der lokal verlaufenden Land-Stadt-Migration, die innerhalb eines Landes erfolgt. Nicht unbedeutend sind vor diesem Horizont kulturelle und identitäre Aspekte: »Während es unwahrscheinlich ist«, so Collier, »dass die Land-Stadt-Migration über die erste Generation hinaus einen psychologischen Preis verlangt, kann das Gefühl der Fremdheit in einem anderen Land unter Umständen länger bestehen bleiben.«382 Bei der internationalen bzw. globalen Migration erscheint hingegen als besonders bedrohlich die Tatsache, dass fortlaufend anfallende psychologische Kosten die Gewinne mehrerer Generationen aufzehren können, sodass die Migration nachhaltig als keine Investition mehr erscheint, sondern sich letztendlich als Fehler herausstellen kann.383 Der Verlauf der internationalen bzw. globalen Migrationsprozesse lässt sich zweifelsohne auch in Bezug auf Polen als ein signifikanter Faktor einstufen, der die Wahrnehmung und mediale Abbildung der seit 2015 fortdauernden ›Krise‹ auf eine bedeutende Art und Weise mitgestaltet. Die bisher durchgeführten Forschungen bestätigen, dass politische Impulse sowie mediale Berichte über ein massives Erscheinen von Geflüchteten und über die von radikalen Islamisten verübten Terrorakte dazu beigetragen haben, dass selbst junge Polen und Polinnen die Aufnahme der Hilfesuchenden negativ beurteilen. In der 2016 von CBOS [Meinungsforschungsinstitut] durchgeführten Umfrage äußerten sich 61 % der Befragten aus der Altersgruppe von 18 bis 24 Jahren ablehnend gegenüber der potenziellen Aufnahme von Geflüchteten in Europa.384 Da CBOS die Einstellung polnischer Bürger zur Aufnahme der Geflüchteten regelmäßig untersucht, wurden auch 2017 Umfragen durchgeführt, in denen sich die Befragten noch skeptischer gegenüber den Migranten aus dem Nahen Osten und Afrika zeigten: Gegen die Aufnahme und Integration der Hilfesuchenden waren laut dieser Umfrage 382 Collier 2015, S. 187. 383 Vgl. ebd. In diesem Zusammenhang ist die Annahme nicht unbegründet, dass das Gelingen der Integration bzw. Assimilation sich auf eine längere Zeitspanne und auf mehrere Generationen erstreckt: »Ob der psychologische Preis nun von der ersten Generation oder immer wieder von Neuem zu bezahlen ist, hängt davon ab, ob sich die nachfolgenden Generationen im Aufnahmeland zu Hause oder aber weiterhin fremd fühlen.« Ebd. 384 Vgl. Bergmann, Magdalena: Problematyka migracji w edukacji globalnej w Polsce. [Die Migrationsproblematik bei der global orientierten Bildung in Polen]. In: Pasamonik, Barbara / Markowska-Manista, Urszula (Hrsg.): Kryzys migracyjny. Perspektywa pedagogicznopsychologiczna [Die Migrationskrise aus der pädagogisch-psychologischen Perspektive] Bd. 2. Warszawa: Wydawnictwo Akademii Pedagogiki Specjalnej 2017 Bd. 2, S. 172–188, hier S. 176.

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74 % der Befragten, 43 % davon drückten ihre eindeutige und kategorische Ablehnung aus. Für die Aufnahme plädierten lediglich 22 % der Befragten.385 Bei der Darstellung der Nachteile von Migration wurde als besonders beunruhigend der Umstand genannt, dass 73 % der Geflüchteten junge Männer sind und über die Hälfte (53 %) aller Migranten zu der Altersgruppe 18–34 gehören. Übersehen wurde allerdings die Tatsache, so Barbara Pasamonik, dass seit dem Beginn der sog. Flüchtlingskrise vor allem junge Männer vor dem Krieg fliehen müssen, außerdem ist gerade für sie deutlich wahrscheinlicher, die lebensgefährlichen Strapazen der Flucht nach Europa überhaupt zu überstehen.386 Eine sichtbare Beunruhigung in der polnischen Gesellschaft ruft ebenfalls die öffentlich manifestierte feindliche Einstellung seitens mancher Geflüchteten hervor, die nicht selten aus Verzweiflung und unverarbeitetem Trauma resultiert. Vor diesem Hintergrund muss man berücksichtigen, dass sie auf ihrer Reise nach Europa nicht nur neue Migrationswege von Süd nach Nord bestimmten, sondern auch mehrere Staatsgrenzen überschreiten und unterwegs dem Misstrauen und der Feindlichkeit seitens der Einheimischen ausgesetzt sind. Da die Migration aus Nordafrika und dem Nahen Osten von Anfang an einen massenhaften und extremen Charakter hatte, kann es nicht wundern, dass es unterwegs zu vereinzelten Verstößen, wenn nicht gar Straftaten oder Verbrechen (Erpressungen, Diebstählen, sexualisierter Gewalt) kam, die dann von den Rechtsradikalen, Anti-Migrations-Aktivisten und manchen Medien geschickt als ›Beweismaterial‹ gegen die Migration genutzt wurden. Eine entsprechend verstärkte mediale Darstellung der Gräueltaten wurde demnächst nicht nur in Polen, sondern europaweit als ein schwerwiegendes Argument gegen die Aufnahme von Migranten erhoben.387 In Polen, wo gegen die Geflüchteten von Anfang an Misstrauen gehegt wurde, bildeten die kulturelle, sprachliche bzw. religiöse Anpassungsfähigkeit sowie die Vergleichbarkeit ihres ursprünglichen Staatsystems mit dem polnischen ein grundsätzliches Kriterium ihrer potenziellen Akzeptanz. Nicht unbedeutend erscheint hierbei die äußere Ähnlichkeit der Geflüchteten zu den Einheimischen.388 Vor diesem Hintergrund kann es nicht wundern, dass die Migration aus

385 Vgl. Siadkowski, Adrian K.: Islam. Anatomia strachu [Islam. Anatomie der Angst]. Warszawa: Wydawnictwo Difin 2018, S. 160. 386 Vgl. Pasamonik 2017, S. 30. 387 Vgl. ebd., S. 24. 388 Außerdem darf man nicht vergessen, dass seit dem Beginn der sog. Flüchtlingskrise ausgerechnet die mediale Berichterstattung ein negatives Bild der Migranten und Asylsuchenden kreiert. Des Weiteren wird von Anfang an gerne auf die misslungene Integration der »alten« Generationen verwiesen: »Weitgehend unter Vernachlässigung der verfügbaren empirischen Untersuchungen zur Integration dieser Immigrantenpopulationen wird in der Öffentlichkeit das Bild einer großteils gescheiterten Integration popularisiert, deren Ursa-

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dem Nahen Osten sowie aus dem Nord- und subsaharischen Afrika nach wie vor auf eine ziemlich radikale Weise reglementiert wird. Dies betrifft im Grunde nahezu die gesamte Gruppe der Hilfesuchenden, die sich zum Islam bekennen.389 Polen erscheint hierbei wiederum als kein Einzelfall, denn auch in Westeuropa werden die Migranten restriktiven Prozeduren unterzogen, die mehr oder weniger offensichtlich die kulturelle und soziale Anpassungsfähigkeit der Fremden überprüfen: Die Unterstellung, MigrantInnen kämen per se aus archaisch-patriarchalen Kulturen und müssten per Test dazu gezwungen werden, sich öffentlich gegen ihre unterstellte »fremde Herkunftskultur« auszusprechen, ist immanenter Bestandteil dieser Unterwerfungsgeste. […] So wurde in den Niederlanden etwa ein »Willkommensvideo« für MigrantInnen produziert, in dem diese den Anblick sich küssender Männer und barbusiger Frauen »ertragen« mussten. In Baden-Württemberg wiederum wurde ein eigener Test für MigrantInnen aus muslimischen Ländern gestaltet (im Feuilleton bald »Muslimtest« genannt), in dem sie unter anderem angeben müssen, dass sie kein Problem damit hätten, für eine weibliche Chefin zu arbeiten oder zu erfahren, dass der eigene Sohn homosexuell ist.390

Vergleichbare Prozeduren, wie die gerade dargestellten, wurden in Polen nicht vorbereitet, da seit 2015 ein massenhafter Andrang und eine bedeutende Präsenz der Geflüchteten aus fremden Kulturen ausgeblieben waren. Man kann nur spekulieren und rhetorische Fragen stellen, ob im Falle, in dem Polen von der Migration unmittelbar betroffen wäre – wie es in manchen anderen europäischen Ländern der Fall war – die Geflüchteten isoliert gewesen oder – wie es Baberowski formuliert – sogar in unsichtbaren Strukturen gefangen wären. Eine solche Erscheinung wird dann gewöhnlich vom Umstand begleitet, in dem die Fremden in gesellschaftlichen Systemen ausgeschlossen werden und selbst wenn sie keiner unmittelbaren Gewalt zum Opfer fallen, stoßen sie dennoch regelrecht auf die weitgehende Ignoranz seitens der Mehrheitsgesellschaft.391 Zum besseren Verständnis der Migrationsproblematik in Polen ist es bestimmt ratsam, auch konfessionelle Aspekte zu berücksichtigen. Nach Ewa SowaBethane ist die Zugehörigkeit zum christlichen Glauben in diesem Zusammenhang ein wichtiger integrationsbegünstigender Faktor, da ein bedeutender Teil der polnischen Gesellschaft der Kirche zugehört und die meisten Feierlichkeiten einen christlichen Charakter haben. Solche Feste und Feiern wie Weihnachten, Ostern, Taufe, oder Hochzeit – welche die polnische Identität auf bedeutende Weise prägen – werden gewöhnlich im Kreis der Familie nach alten Traditionen chen primär in mangelndem Integrationswillen und in der kulturellen Fremdheit der Immigranten zu suchen sind.« Aumüller 2009, S. 36. 389 Vgl. Chrus´ciel / Gajewski / Górka-Winter / Gruszko, S. 97. 390 Scheibelhofer 2012, S. 76. 391 Vgl. Baberowski 2012, S. 38.

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zelebriert. Ungeachtet der stereotypen Betrachtung beteiligen sich aber immer häufiger auch die Zugewanderten an den soeben erwähnten Feierlichkeiten. Sowa-Bethane macht darauf aufmerksam, dass 63 % der Ausländer, die in Polen geheiratet haben, samt ihren neuen Lebenspartnern am traditionellen kulturellen Leben beteiligt sind. Als Beweis für einen rapide voranschreitenden Assimilationsprozess gilt darüber hinaus die Tatsache, dass die meisten von ihnen die polnischen Traditionen respektieren und nur wenige sich in geschlossenen Strukturen sowie Verbänden und Organisationen ihrer nationalen Minderheit ›abgrenzen‹.392 Nichtsdestotrotz werden die Migranten in Polen nach wie vor pauschal als gefahrbringende Fremde eingestuft, die mehr oder weniger begründete Angst und Befürchtungen hervorrufen.393 Bei der Betrachtung ihres Wesens gewinnen also vor allem Angstgefühle die Oberhand. Auch wenn – wie es Marc Beise formuliert – solche Wahrnehmungen ein schlechter Ratgeber sind, da sie die zwischenmenschliche Solidarität töten und ein kluges Handeln verhindern, bleibt Angst das, so Beise, was auch »die Terroristen von Paris und anderswo verbreiten wollen.«394 Auffällig ist darüber hinaus der Prozess, innerhalb dessen die Bedrohungsgefühle von der Einzel- auf die Kollektivperspektive der fremden Kultur überspringen. Für Jutta Aumüller ist vor diesem Hintergrund ebenfalls die als Bedrohung empfundene Wirkung der Kulturlabilität nicht unwichtig: Als bedrohlich wird nicht nur die andere Kultur als solche empfunden. Vielmehr verschwindet Kultur als »homogener Block«, als der stabile Überbau der eigenen Orientierung und der Einordnung eigenen Handelns. Es ist die Vielfältigkeit der Migrantenkulturen, die schwindlig macht, auch die (erzwungene) Fähigkeit vieler Migranten, zwischen Zuschreibungen und Kulturen zu wechseln und sich damit flexibel den jeweiligen Gegebenheiten und Anforderungen ihrer unterschiedlichen Lebenswelt anzupassen.395

392 Vgl. Sowa-Behtane 2017, S. 129. 393 Eine solche Art negativer Emotionalisierung ergibt sich freilich aus dem Gefühl der Bedrohung. Ihr Wesen erläutert aus der somatisch fundierten Perspektive Judith Herman: »Eine Bedrohung erregt zunächst das vegetative Nervensystem, sodass der Bedrohte einen Adrenalinschub spürt und in Alarmzustand versetzt wird. Gleichzeitig konzentriert er sich sofort auf die unmittelbare Situation. Außerdem verändert die Bedrohung manchmal die Wahrnehmung: In Gefahr können Menschen oft Hunger, Müdigkeit, oder Schmerz ignorieren. Schließlich ruft die Bedrohung intensive Angst und Wut hervor.« Herman 2003, S. 46. 394 Beise 2015, S. 17. Dem Angstphänomen wendet sich auch Martha Nussbaum zu und setzt es dem Mitgefühl entgegen. Als nicht unbedeutend erscheint hierbei die rein somatische und evolutionsbezogene Ebene: »Angst ist ein sehr urtümliches Gefühl; Mitgefühl hingegen verlangt ein perspektivisches Denken und ist somit nur wenigen Tierarten zugänglich. Anders als etwa die Wut, die kausales Denken bezüglich dessen voraussetzt, dem man die Ursache eines Schadens zuweisen kann, braucht die Angst kein entwickeltes Denken.« Nussbaum 2014, S. 31. 395 Aumüller 2009, S. 212.

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Die bedrohliche Wirkung der Vielfältigkeit der fremden Kulturen kann aber wesentlich vermindert werden, wenn die Fremden absichtlich den Weg der Anpassung nehmen und sich mehr oder weniger assimilationswillig zeigen. Auf der Beispielsebene kann das der Heirat mit polnischen Staatsbürgern sein, der den Inklusionsprozess sichtbar vorantreibt. Dies hat bestimmt auch zur Folge, dass die von außen Kommenden plötzlich nahezu automatisch in die polnische Gesellschaft integriert werden. Sie werden folglich nicht mehr als bedrohliche Fremde, sondern plötzlich als Familienmitglieder betrachtet bzw. als jene, die der Gruppe von Arbeitskollegen bzw. dem Kreis der Nachbarschaft angehören. Ferner vermindert sich auch die soziale Distanz zwischen den Einheimischen und den Zugewanderten und die noch kurz zuvor Fremden nähern sich kontinuierlich dem Bereich des Eigenen und Vertrauten an.396 Von einer vollständigen Inklusion trennt sie aber ungeachtet dessen noch ein relativ langer Weg. Man muss doch bedenken, dass die kulturellen Aufnahmekapazitäten der polnischen Gesellschaft eher beschränkt sind. Hinzu kommt der Umstand, dass die kollektiv geteilte negative Wahrnehmung der kulturfremden Migranten seitens polnischer Publizisten und Politiker, so Rafał Cekiera, durch Kolportage von Feindbildern und Instrumentalisierung terroristischer Anschläge nur noch verstärkt wird. In einem solchen Darstellungsduktus werden die Täter leichtfertig mit Geflüchteten gleichgesetzt und die Terrorakte als ein überzeugendes Argument gegen jegliche Hilfe für Migranten genutzt.397 »Die Darstellung von Geflüchteten als potenzielle Terroristen«, so Reinke de Buitrago, »und somit als potenzielle Gefahr für europäische Gesellschaften und deren Bürger ist […] wirkmächtig.«398 Wenn dabei Angst und Unbehagen unter den Bürgern erzeugt werden, dann wird freilich auch – durch explizit verkündete Zurückweisung von Asylsuchenden – den Erwartungen der öffentlichen Meinung Folge geleistet. Detlef Pollack vertritt diesbezüglich den Standpunkt, dass die Politik gegenüber Haltungen und Einstellungen der Bevölkerung durchaus nicht insensitiv bliebt, sondern vielmehr in der Lage ist, »Mehrheitsmeinungen aufzunehmen und auf diese sensibel zu reagieren«.399 Auf der anderen Seite will sich die öffentliche Meinung von der Überzeugung nicht abbringen lassen, dass die Regierung bzw. Vertreter des Staates wahrhaftig und kompetent ihre Interessen vertreten. Nur im Idealfall wenden sich die Regierenden entschieden gegen Populisten: Hierzu gehört nicht nur die Überzeugung, die Vertreter des Staates seien Garanten des verfaßten Werte- und Rechtekanons, sondern auch die Erwartung, daß Regierungs396 397 398 399

Vgl. Sowa-Behtane 2017, S. 131. Vgl. Cekiera 2017, S. 243. Reinke de Buitrago 2018, S. 77. Pollack 2013, S. 89.

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Imaginierte Flüchtlingswelle. Die ›Migrationskrise‹ aus polnischer Perspektive

vertreter dies genauso sehen und daher niemals der populistischen Versuchung nachgehen, kurzfristige Wahlerfolge durch die geschürte Emotionalisierung kontroverser Themen zum Preis der politischen und sozialen Entrechtung und gesellschaftlichen Ausgrenzung von Minderheiten erreichen zu wollen.400

Abgesehen von der gerade erwähnten Beziehung zwischen der Politik und der öffentlichen Meinung muss man nochmals darauf verweisen, dass sich im Verlauf der sog. Flüchtlingskrise einige politisch bedingte Wendepunkte klar erkennen lassen. Einer unter ihnen war bestimmt der terroristische Angriff auf die Redaktion des Satire-Magazins Charlie Hebdo in Paris, der die Wahrnehmung der politischen Verantwortung nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa bedeutend veränderte. Der brutale Terrorakt, der sich Anfang Januar 2015 mitten in Paris ereignete, umfasste auch Mitarbeiter und zufällige Besucher eines jüdischen Supermarkts sowie Politzisten, die während ihres Streifeneinsatzes erschossen wurden. All diese terroristischen Handlungen offenbaren sich hierbei als kein vereinzeltes Geschehen mit einer regionalen Reichweite, denn nahezu zeitgleich wurden »Ortschaften im Norden Nigerias dem Erdboden gleichgemacht und Hunderte, wenn nicht Tausende von Bewohnern massakriert oder verschleppt. Die Täter sind in beiden Fällen islamistische Terroristen.«401 So beschreibt ihre Ziele und ihr Wesen Treibel: Sie wollen keine Pluralität der Lebensformen und Heterogenität der Herkünfte, sondern vor allem eines: Homogenität. Die rechten Terroristen zielen auf Homogenität in völkischer Hinsicht, die islamistischen Terroristen auf Homogenität in religiöser Hinsicht. Ihre zentrale Gemeinsamkeit ist die Gewalt, mit der sie wiederum Gewalt provozieren wollen. Am Ende geht es um Macht.402

Das Drohen mit angeblich vor den Grenzen Polens stehenden Hunderttausenden von Islamisten und Terroristen, die kraft vermeintlicher, auf der EU-Ebene geschlossener geheimer Übereinkünfte nach Polen kommen sollten, um das Leben und die Gesundheit der Einheimischen mit gefährlichen Krankheiten und Pa400 Zepf 1995, S. 225. 401 Treibel 2015, S. 84. Nach der Position von Anette Treibel sollte man »die Terroristen nicht als »Kämpfer« (meist sogar ohne Anführungszeichen) bezeichnen. Ungewollt verharmlost man dadurch diese Verbrechen und unterstützt die Täter in ihrem Wunsch nach Heroisierung.« Ebd., S. 83. Außer den Mitgliedern der terroristischen Organisationen werden zweifelsohne auch andere radikalisierte Gruppen als Bedrohung eingestuft, deren Attraktivität darin besteht, wie es Treibel formuliert, eine »Sinnlücke« zu schließen, die in den gesellschaftlichen Zersetzungsprozessen entstanden ist. Die Anziehungskraft solcher Organisationen richtet sich verständlicherweise vor allem an die Jugendlichen, die allzu leicht auf eine Verheißung anspringen, »einen sozialen Ort zu finden, Teil einer globalen Mission zu werden und große Gefühle auszuleben und zu erzeugen. Es geht also um große Affekte und große Effekte, die ein Leben jenseits der vorgesehenen Bahnen attraktiv machen.« Ebd., S. 90. 402 Ebd., S. 94.

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rasiten zu bedrohen, wurde zum wesentlichen Bestandteil der populistischen ›Informationskampagnen‹ und Wahlkampfstrategien einiger politischer Parteien. Vor diesem Hintergrund erscheint die Annahme legitim, dass Angst nach wie vor als bequemes und effizientes Werkzeug der soziotechnisch fundierten Handlungen angewendet wird, das eine äußerst starke kollektive Steuerungskraft hat und Impulse geben kann, die nicht nur die öffentliche Meinung, sondern auch die Wahlergebnisse bedeutend beeinflussen können. Von daher kann es nicht wundern, dass Politiker immer stärker dazu tendieren, diesen längst geprüften Mechanismus bewusst in Gang zu setzen, d. h. Ängste zu schüren, sowie ungeprüfte oder gänzlich falsche Informationen zu kolportierten und vor einem, wie es Cekiera formuliert, »Armageddon« zu warnen, das infolge der Ankunft von Migranten die einheimische Gesellschaft zugrunde richten soll.403 Eine nach solchen Prinzipien verlaufende Wahrnehmung der angeblich von außen kommenden zerstörerischen Gefahr relativiert dennoch Ashkenasi in folgender Aussage: In den europäischen Ländern, die durch einen starken Ethnozentrismus gekennzeichnet sind, sind die demographischen Verhältnisse dergestalt, daß nur eine pathologische Perzeption besteht, nicht jedoch eine reale Gefahr. Die sogenannte Überschwemmung ist nur Chimäre, die Perzeption aber verdrängt die Realität.404

Ungeachtet dessen erscheint es in Polen als keine einfache Aufgabe, die äußerst negative Einstellung zu den muslimischen Migranten zu verändern bzw. zu relativieren. Selbst Papst Franziskus, der bereits am 8. Juli 2013 auf der Insel Lampedusa die mangelhafte brüderliche Verantwortlichkeit kritisierte und um Verzeihung wegen der allgegenwärtigen Gleichgültigkeit bat, war schon damals nicht imstande, die Gemüter in Polen bedeutend zu beeinflussen. In seiner Predigt auf Lampedusa sprach er von der globalen Reichweite der indifferenten und gleichgültigen Einstellung zu den Hilfesuchenden und wies darauf hin, dass sich heutzutage viele mit dem Leiden der Anderen dermaßen abgefunden haben, dass es nun lediglich zu einem der sozialen Probleme geworden sei.405 403 Vgl. Cekiera 2017, S. 241–242. 404 Ashkenasi 1998, S. 16–17. 405 Vgl. Mróz, Maciej: Wojna w kawałkach. Franciszek i dyplomacja papieska wobec wybranych problemów mie˛dzynarodowych 2013–2018 [Der Krieg in Bruchteilen. Papst Franziskus und die päpstliche Diplomatie vor dem Hintergrund ausgewählter internationaler Problematik 2013–2018]. Torun´: Wydawnictwo Adam Marszałek 2018, S. 151. In Anlehnung an die Predigt von Papst Franziskus erscheint darüber hinaus eine provozierende Frage von Till Bastian relevant: »Die Seele – ein in seinem Fortbestand gefährdetes Wesen, das des Artenschutzes bedarf, weil seine Existenzgrundlagen durch die technokratische Industriegesellschaft Zug um Zug zerstört werden?« Bastian 2012, S. 16. Die wachsende Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Geflüchteten und Hilfesuchenden ist bestimmt auch auf die verhängnisvolle Wirkung des allgegenwärtigen Konsums zurückzuführen, denn »Konsum ist heutzutage zu einem universalen Kompensationsmedium geworden. So wie die Politik

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Auf der anderen Seite ist in Polen in den letzten Jahren eine Tendenz sichtbar, den Einfluss der Migration vor allem hinsichtlich ihres Nutzens für den Arbeitsmarkt zu bewerten. Auch wenn er grundsätzlich als positiv bewertet wird – zumindest wenn die Zugewanderten schnell beschäftigt werden und ihre Qualifikationen den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes entsprechen – verweisen einige Politiker und Publizisten darauf, dass im Falle langfristiger Erwerbslosigkeit die Migration die soziale Belastung für das Aufnahmeland nur noch vergrößert und den Prozess der Verarmung sowie des sozialen Ausschlusses der Geflüchteten intensiviert. Von daher tendieren manche Autoren zur Annahme, was sich am Beispiel der Publikation Polska w europejskim kryzysie migracyjnym [Polen in der europäischen Migrationskrise] zeigen lässt, dass der Einfluss der Migration auf die Wirtschaft nach der Berücksichtigung der potenziellen Vorund Nachteile eher neutral bleibt.406 Bei der Darstellung der Migrationsproblematik wird häufig hervorgehoben – und dieser Diskurs ist auch in Polen präsent –, dass die Aufnahme der Hilfesuchenden dem Prozess der Alterung der Gesellschaft nicht effektiv vorbeugen kann. Von daher müsse das ›alternde Europa‹ nach anderen Maßnahmen suchen, die imstande wären, negative demographische Trends effizient zu stoppen.407 Laut Einschätzungen, die auf gegenwärtigen statistischen Daten und Trendforschungen basieren, werden bis 2060 sogar 5 Millionen Geflüchtete nach Polen kommen,408 die vor allem im Rahmen der sog. Arbeitsmigration ihr Heimatland verlassen werden. Unabhängig von intern bedingten, demografischen Prozessen (dazu zählt vor allem die schwächelnde Geburtenrate) muss Polen darauf vorbereitet sein, eine immer größere Zahl von Migranten aufzunehmen. Dies wird wahrscheinlich auch in bedeutendem Maße mit der gesamteuropäischen Migrationspolitik der EU zusammenhängen, notwendig wird schließlich die Umverteilung einer großen Anzahl von Geflüchteten sein.409 Das Problem der Migration und der illegalen Zuwanderung erstreckt sich heutzutage auf mehrere Länder, wobei Deutschland, England und Frankreich besonders stark betroffen sind. Nicht unberechtigt erscheint in diesem Zusam-

406 407 408

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am Ende für alle Probleme verantwortlich gemacht wird, die anderweitig nicht mehr zurechenbar sind, vor allem aber von niemandem sonst verantwortet werden wollen, fungiert der Konsum als gesellschaftliches Trostpflaster für alle Belastungen, die uns Tag für Tag zugefügt werden.« Hellmann 2019, S. 12. Vgl. Chrus´ciel / Gajewski / Górka-Winter / Gruszko, S. 4. Vgl. ebd. Die Ursache neuer »Migrationswellen« erklärt in einer kurzen Feststellung Stockmann: »Intoleranz, Vorurteile und Haß sind hierbei der Anschub für die psychische und physische Vernichtung ganzer Völker oder Individuen. Insbesondere im Hinblick auf die drakonischen Maßnahmen gegen Randgruppen auf der ganzen Welt, ist mit einer weiter explodierenden Migration zu rechnen.« Stockmann 1995, S. 230. Vgl. Chrus´ciel / Gajewski / Górka-Winter / Gruszko, S. 92.

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menhang die Annahme, dass sich die Migrationsziele in den nächsten Jahren sichtbar verschieben werden und die Geflüchteten aus dem Nahen Osten bzw. Nordafrika nicht in die bisher ›beliebten‹ EU-Länder, sondern auch nach Polen, Ungarn oder Tschechien auswandern werden. Durchaus vorstellbar ist bestimmt auch die Situation, in der die östliche Flanke der EU unter dem Druck anderer EU-Länder dazu aufgefordert wird, die neue Verteilung der Migranten zu akzeptieren. Polnische Publizisten scheinen sich des potenziellen Verlaufs der neuen Migration bewusst zu sein. Die Autoren der Studie Polska w europejskim kryzysie migracyjnym [Polen in der europäischen Migrationskrise] werfen nun die Frage in die öffentliche Debatte ein, ob die neuen Geflüchteten dem polnischen Arbeitsmarkt zugute kommen und zwar angesichts der Befürchtung, dass die meisten Hilfesuchenden wahrscheinlich junge Leute ohne Berufsqualifikationen sein werden. Die Autoren der Publikation machen sich des Weiteren Sorgen um die Sprachkenntnisse der Zugewanderten und diagnostizieren eine unüberbrückbare Unvereinbarkeit ihrer Kultur, die die erfolgreiche Integration gravierend erschweren, wenn völlig unmöglich machen wird.410 Die mehr oder weniger strategisch bedingte Erzeugung von Angst in der polnischen Gesellschaft bleibt nicht ohne Folgen für die Wahrnehmung der heutigen und künftigen Migrationsprozesse. Polizeiberichten zufolge wächst in Polen die Anzahl von Straftaten mit rassistischem und ethnischem Hintergrund rapide: Bereits im Jahr 2015 – also zu Beginn der sog. Flüchtlingskrise – richtete sich die Aggression des radikalisierten Teils der Gesellschaft gegen die als ›kulturfremd‹ eingestuften Araber und Muslime. Auf das Problem der gewalttätigen Radikalisierung machen seit langem prominente Vertreter der polnischen Hochschulen aufmerksam, die die Atmosphäre einer zunehmenden Feindseligkeit gegenüber ausländischen Studierenden diagnostizieren und mit wachsender Sorge die immer offensichtlicheren Gewaltakte gegen Migranten beobachten.411 Die gerade genannten Umstände führten unmittelbar dazu, dass bereits zu Beginn der sog. ›Flüchtlingskrise‹, am 12. Oktober 2015, eine Manifestation »Polacy przeciw imigrantom« [Polen gegen Immigranten] in Warschau veranstaltet wurde. Anwesend war dabei die nationale Bewegung [Ruch Narodowy], propagiert wurden solche Parolen wie »Polska dla Polaków« [Polen den Polen], »Stop islamizacji Polski« [Stopp der Islamisierung Polens], »Islam to s´mierc´« [Der Islam ist der Tod] oder »Uchodz´cy muzułman´scy to kon´ trojan´ski dla 410 Vgl. Chrus´ciel / Gajewski / Górka-Winter / Gruszko, S. 92. 411 Vgl. Cekiera 2017, S. 248. Gemeint ist dabei nicht nur die physische, sondern auch die symbolische Gewalt. Auch wenn die zweite Art der Gewalttätigkeit scheinbar unsichtbar ist, kann sie dennoch, »weil sie sich Zeit lässt und dauerhaft präsent ist, das Leben von Menschen verändern und diese als Individuen zerstören.« Baberowski 2012, S. 46.

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Imaginierte Flüchtlingswelle. Die ›Migrationskrise‹ aus polnischer Perspektive

Europy« [Muslimische Flüchtlinge sind ein trojanisches Pferd für Europa].412 Einer der Anführer der nationalen Bewegung, Robert Winnicki, versuchte dabei die Meinung durchzusetzen, dass die Anzahl der Geflüchteten, die Polen aufnehmen kann, gleich null ist, und Polen für die »grundfalsche Migrationspolitik« der westlichen Länder keine Verantwortung trägt.413 In den oben zitierten Parolen und Stellungnahmen, die während der Demonstrationen instrumentell eingesetzt wurden, lässt sich des Weiteren die Wirkung einer starken symbolischen Gewalt erkennen, die nicht nur die Ehre und kulturelle Existenz der Migranten, sondern auch ihr Wertesystem verletzt bzw. in Frage stellt. Gleichzeitig führt die Anwendung der symbolischen Gewalt zu einer sichtbaren sozialen Exklusion der Fremden »und ist ebenso zerstörerisch und umfassend in ihrer Wirkung wie physische Gewalt.«414 Der Gebrauch einer exkludierenden Rhetorik und verbaler Angriffe wird häufig durch den Prozess der Schuldverschiebung komplementär ergänzt. So erklärt Stockmann das Wesen dieser Erscheinung und ihren Zusammenhang mit der Täter-Opfer Perspektive: Ja, dem Täter gebührt eine gerechte Bestrafung, aber was erhalten wir, die wir die Zugehörigkeit zu den Tätern und die Entsolidarisierung mit den Opfern verleugnen? Es fällt unserer sozialen und individuellen Leidensfähigkeit sehr schwer, die Mitverantwortung zu tragen. Es ist viel leichter, andere »Fremde oder Fremdes« zu hassen als zu trauern.415

412 Solche Parolen beinhalten zweifelsohne ein auffällig starkes negatives Affektpotenzial. Negative Emotionen, so Kastner, können unter dem Einfluss von äußeren Umständen eskalieren und zu extremen Affekten wie Wut führen. Und gerade Wut mit ihrem starken zerstörerischen Potenzial offenbart sich als jene menschliche Basisemotion, die man als »Teil der conditio humana und Teil unseres ureigenen Verhaltensrepertoires« einstufen kann. Vgl. Kastner, Heidi: Wut. Plädoyer für ein verpöntes Gefühl. Wien: Kremayr & Scheriau 2014, S. 9–10. Der Prozess der Radikalisierung von Anschauungen, der vor dem Hintergrund der Migrationsprozesse besonders stark zunimmt, ist allerdings nicht nur für Polen signifikant. Auf seinen internationalen – wenn nicht gar globalen Charakter – verweist Florian Hartleb, indem er zugleich Angriffe auf prominente Politiker thematisiert: »Von Dänemark über Frankreich bis Polen ertönt harsche Ablehnung. Der österreichische Rechtspopulist Heinz-Christian Strache bezeichnete Angela Merkel vor dem österreichischen Nationalfeiertag im Oktober 2016 gar als »gefährlichste Politikerin Europas«.« Hartleb 2017, S. 118. 413 Vgl. Pasamonik 2017, S. 24. Die Funktion und Wirkung solcher Darstellungstendenzen analysiert Bude, dessen Überlegungen sich zwangsweise auf die Befürworter der demagogischen Rhetorik richten: »So sind sie auch bereit, rachsüchtigen Demagogen zu folgen, die ihnen das Blaue vom Himmel versprechen. Aber aus ebendiesen Gründen stellen sie eine Gefahr für alle dar: Sie verzehren die Grundlagen des Wohlfahrtsstaats, bilden eine unerreichbare Parallelwelt und fungieren als unberechenbarer Resonanzboden für populistische Bestrebungen.« Bude 2008, S. 249. 414 Schulze / Mantey / Witek 2016, S. 193. 415 Stockmann 1995, S. 241.

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Die Entsolidarisierung mit den Opfern zieht zweifelsohne weitreichende Folgen nach sich. Diese Erscheinung lässt sich nicht so einfach aufhalten, zumal viele Publizisten und Politiker in Polen dazu tendieren, die Unvereinbarkeit der arabischen Kultur ausdrucksstark zu betonen. Helena Tendera-Właszczuk verweist darauf, dass heutzutage eine akute Gefahr besteht, dass die sog. ›Flüchtlingswelle‹ eine weitreichende Krise in der europäischen Gemeinschaft verursachen kann, da sich die von Zugewanderten mitgebrachten Wertvorstellungen und Gewohnheiten mit dem Wertesystem der Aufnahmeländer nicht in Einklang bringen lassen. Die systembezogene Aufdrängung der europäischen Werte hingegen – die von Vertretern der arabischen Kultur weitestgehend abgelehnt wird – würde laut der Autorin der Publikation unter ihnen Angst, Unzufriedenheit oder Hass hervorrufen.416 Darüber hinaus, und diesen Standpunkt vertritt Ewelina Zalewska, kann der ›Aufprall‹ der Kulturen schnell das Gefühl der Rat- und Orientierungslosigkeit in einem völlig unbekannten sozialen Ausmaß nach sich ziehen. Dies würde besonders dann schwerwiegende negative Folgen haben, wenn dazu noch der Umstand käme, dass sich die idealisierten Wunschvorstellungen einer sicheren Existenz in den Aufnahmeländern mit Eigenerfahrungen der Migranten überhaupt nicht decken würden.417 Wenn man den Verlauf der sog. Migrationskrise näher analysiert, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die bittere Erfahrung von Gleichgültigkeit bzw. von migrationsfeindlichen Einstellungen oder Xenophobie für die Geflüchteten besonders schmerzhaft ist. In den gesellschaftlichen Strukturen der Aufnahmeländer lässt sich bestimmt ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Anwesenheit von Zugewanderten und der Fremdenfeindlichkeit feststellen. Darüber hinaus begegnen die Geflüchteten häufig einem offensiv positionierten Ethno- bzw. Europazentrismus sowie einer religiös oder rassistisch motivierten Intoleranz, z. B. in Form von »Negrophobie«.418 Vor diesem Horizont kann es nicht wundern, dass die arabischstämmigen Migranten (vor allem Jugendliche) ein sichtbares Problem mit klaren Identitätszuordnungen haben. Dies 416 Vgl. Tendera-Właszczuk, Helena: Kryzys migracyjny zagroz˙eniem dla realizacji projektu zjednoczonej Europy. [Die Migrationskrise als Bedrohung für die Umsetzung des Projekts des vereinten Europas]. In: »Krakowskie Studia Mie˛dzynarodowe«, XIII: 2016 Nr. 3, S. 10. 417 Vgl. Zalewska 2017, S. 100. 418 Die sozialen Umstände, die mit dieser exkludierenden Erscheinung zusammenhängen, erklärt Loïc Wacquant: »Die Ächtung von Negrophobie in der Öffentlichkeit hat die Furcht und die Verachtung nicht ausgelöscht, die Weiße gewöhnlich gegenüber einer Gruppe empfinden, die sie weiterhin mit Argwohn betrachten und deren Unterklassen sie mit sozialem Chaos, mit sexueller Zügellosigkeit, mit dem Verfall der Schulen, mit Sozialschmarotzertum, mit Verwahrlosung von Wohngewohnheiten, mit ökonomischem Rückschritt und vor allem mit Gewaltverbrechen identifizieren.« Wacquant, Loïc: »Rasse« als staatsbürgerliches Verbrechen. In: Schmidt, Robert / Woltersdorff, Volker (Hrsg.): Symbolische Gewalt. Herrschaftsanalyse nach Pierre Bourdieu. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2008, S. 289–331, hier S. 291.

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ergibt sich u. a. aus der Konfrontation mit der völlig neuen existenziellen Lage in der kulturell fremden europäischen Welt. Von daher sind die Zugewanderten häufig nicht imstande, sich ohne Weiteres den neuen Verhältnissen anzupassen. Ihre Selbstwahrnehmung wird dabei durch eine tiefreichende Zerrissenheit gekennzeichnet, nach Ziad Abou Saleh: Während ihre Seele und ihr Herz stets an die alte Heimat gebunden sind, bindet sich ihre neue Existenz allmählich an einen neuen, fremd wirkenden Ort. Ihre Sehnsüchte und Träume richten sich hingegen auf imaginative Sphären, die es in Wirklichkeit nicht mehr gibt. Folglich spielt sich ihr Leben in einem ungeordneten und kulturell instabilen Raum ab, sie befinden sich, wie es Saleh formuliert, stets »unterwegs«, »dazwischen« oder schlicht »nirgendwo«.419 Vielleicht trägt der gerade skizzierte Umstand bedeutend dazu bei, dass die arabische Welt in Europa so uneinheitlich ist. Einerseits gibt es nämlich eine beachtliche Gruppe von Muslimen, welche eine westeuropäische Schulbildung absolvierten, fließend europäische Sprachen sprechen und demokratische Werte ohne Bedenken als eigene akzeptieren. Sie lehnen hierbei jegliche Gewalt ab, wodurch sie zwischen Europa und arabischen Ländern erfolgreich vermitteln können. Auf der anderen Seite gibt es aber eine intern uneinheitliche Gruppe von meist jungen, radikalisierten Muslimen, deren Weltanschauung von der wahabitischen Interpretation des Islams geprägt ist, die die kulturelle Integration mit dem Westen vehement ablehnen und ihre Andersartigkeit in geschlossenen Gruppen innerhalb einer Diaspora kultvieren. Auffällig ist, dass sie häufig die Rückkehr in ihre arabische Heimat anstreben, die westliche Zivilisation als ein feindliches und gottloses System verwerfen und in ihren radikalisierten Positionen selbst die arabischen Länder des Nahen Ostens, die vom Westen unterstützt werden, vehement kritisieren.420 Die europäische Flüchtlingskrise zeigte ganz deutlich das seit langem in Europa schlummernde Potenzial von Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus und Tribalismus.421 Auch in Polen – worauf schon oben ansatzweise aufmerksam gemacht wurde – wird auf die wachsende Zahl von Geflüchteten mit Protesten 419 Vgl. Saleh, Ziad Abou: Identyfikacja kulturowa pokolen´ postmigracyjnych – młodziez˙ pochodzenia arabskiego w wybranych krajach europejskich [Kulturelle Identität der Postmigrationsgenerationen – arabischstämmige Jugendliche in ausgewählten europäischen Ländern]. In: Pasamonik, Barbara / Markowska-Manista, Urszula (Hrsg.): Kryzys migracyjny. Perspektywa społeczno-kulturowa [Die Migrationskrise aus der sozial-kulturellen Perspektive]. Bd. 1. Warszawa: Wydawnictwo Akademii Pedagogiki Specjalnej 2017, S. 135– 154, hier S. 147. 420 Vgl. ebd., S. 152. 421 Tribalismus ist dabei einerseits als Zergliederung der Gesellschaft in kleinere Gruppen (Stämme), andererseits als anpassungsvolle Einstellung zu verstehen, so Theodor Itten, welche oft narzisstische, größenwahnsinnige Personen kennzeichnet, »die übermäßige Bewunderung benötigen und von übertriebenen Erwartungen ausgehen.« Itten 2016, S. 37.

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gegen die Migration, wachsendem Zulauf der Rechtsparteien oder sogar faschistoiden Tendenzen geantwortet. Darüber hinaus wächst deutlich – wie im Übrigen auch in vielen anderen Ländern Europas – die Anzahl der Hassverbrechen (hate crimes) mit rassistischem Hintergrund. Solche Erscheinungen machen sich in Polen insbesondere in Grenz- und Peripheriegebieten bemerkbar, was sich am Beispiel der schon erwähnten Woiwodschaft Podlachien [województwo podlaskie] zeigen lässt.422 Die heutige ›Migrationskrise‹ zeigt nach Ickiewicz-Sawicka in Konfrontation mit der ethnisch homogenen polnischen Gesellschaft das schlummernde Potential von Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit. In Podlachien (insbesondere in solchen Städten wie Białystok, Sokółka oder Hajnówka) lässt sich nicht nur ein intensiverer Gebrauch von Hassrhetorik beobachten, sondern es kommt dort immer häufiger zu rassistisch bzw. ethnisch fundierter Gewalt.423 Eine solche Tendenz zeigt sich allerdings nicht nur in der so genannten polnischen Provinz; in der Reportage Skóra. Witamy uchodz´ców [Die Haut. Flüchtlinge willkommen] beschreibt Iza Klementowska einen Zwischenfall in der Warschauer U-Bahn zwei Tage nach den Pariser Terrorangriffen vom 13. November 2015: Als zwei dunkelhäutige, fremd aussehende Personen in einen Zug einstiegen, verließen viele polnische Passagiere an der nächsten Station fluchtartig den U-Bahnwagen.424 Die sich in Europa verbreitende ›Migrationskrise‹ beeinflusst nach Magdalena Bergmann unmittelbar auch die Gemüter der polnischen Jugendlichen und veranlasst sie dazu, manche radikale, häufig oberflächliche Forderungen zu stellen, welche die kollektiv geteilten Stereotype und Vorurteile gegenüber anderen Nationen und Religionen unreflektiert befestigen. Ein solches Vorgehen signalisiert, so die Autorin der Publikation, dass das Wissen junger Polen und Polinnen über die Migrationsproblematik, insbesondere über Fluchtursachen sowie über Gründe von Kriegshandlungen nach wie vor viel zu wünschen übrig lässt.425 In Polen wird darüber hinaus eine kollektive Angst spürbar, dass die zahlenmäßigen Proportionen zwischen den Einheimischen und Migranten sich rapide verschieben werden und dass dieser Prozess sich dann nicht mehr aufhalten lässt. Auch wenn eine solche Art der Emotionalisierung im Grunde einen imaginativen Charakter hat, bleibt sie nicht ohne Wirkung auf die kollektive 422 Vgl. Ickiewicz-Sawicka 2017, S. 187. Signifikant sind vor diesem Hintergrund auch Erinnerungs- und Verbalisierungsprozesse, die zu Intensivierung der symbolischen Gewalt, Exklusionshandlungen und Vergeltung beitragen: »Eine Beleidigung, die vergolten ist, wenn auch nur durch Worte, wird anders erinnert als eine, die hingenommen werden mußte, und der Sprachgebrauch bezeichnet auch charakteristischerweise eben das schweigend erduldete Leiden als »Kränkung«.« Freud, Sigmund: Hysterie und Angst. Berlin: S. Fischer 1982, S. 22. 423 Vgl. Ickiewicz-Sawicka 2017, S. 198. 424 Vgl. Klementowska 2019, S. 5. 425 Vgl. Bergmann 2017, S. 177.

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Wahrnehmung der Migrationsproblematik. Denn wer Angst vor kriminellen Flüchtlingen hat, so Ann-Kathrin Eckardt »der wird auch bald von ihnen umgeben sein – zumindest gefühlt.«426 Die steigende Tendenz zur affektiv fundierten Interpretation von Migrationsfragen bleibt freilich nicht ohne Einfluss auf die Herausbildung neuer Identitätsformen. Dies betrifft allerdings nicht nur Polen, sondern auch andere Länder Europas, wo die Mehrheitsbevölkerung sowohl kulturell als auch statusbezogen klar gegenüber den Zugewanderten dominiert. Ungeachtet dessen wirft die neue soziale Situation auch dort »nicht nur Organisationsfragen, Kostenfragen und Sicherheitsprobleme auf, sondern auch die Frage nach der Identität.«427 Das Wiederbeleben der nationalistischen und ethnozentrischen Tendenzen zieht zwangsläufig das Erscheinen von verschiedenen Identitätsangeboten für Einheimische nach sich, was gewöhnlich zum Preis der Ausgrenzung von Fremden geschieht. »Das Spielen der nationalen Karte zum gegenwärtigen Zeitpunkt«, so Zepf, »verführt mit scheinbaren Sinnangeboten jene Inländer, die sozialen Entwurzelungsprozessen ausgesetzt sind, zur Kompensation ihrer bedrohten Identität mittels nationaler Überheblichkeit bis zur scheinbar staatlich legitimierten Diskriminierung gegenüber den Fremden.«428 Weil ein solcher Vorgang für die Solidarisierungsprozesse und interne Kohärenz der Gesellschaft gefährlich werden kann, kann der Verweis auf seine nachhaltig negativ wirkenden Konsequenzen nicht wundern: Wenn die Regierung eines Staates nicht dafür kämpft, durch ihr Handeln Gemeinsinn zu fördern, künstlich Trennendes zu überwinden und sozial Schwächeren und ethnischen Minderheiten besonderen Schutz zukommen zu lassen, wird sie zwangsläufig Tendenzen der Entsolidarisierung, der sozialen Ausgrenzung, der partikularen Gruppenegoismen verstärken.429

Und die nationale Identität entwickelt und verfestigt sich, wie schon früher erwähnt, in einem engen Zusammenhang nicht nur mit affektbezogenen Umständen, sondern auch in Verbindung mit räumlichen Kategorien und Grenzaspekten. Außerdem wird die Identität im weiteren Sinne nach Reinke de Bui426 Eckardt 2017, S. 68. 427 Schwarz 2017, S. 188. 428 Zepf 1995, S. 218. Von Bedeutung ist ferner auch die Hervorhebung der reziproken Wirkung zwischen Zugehörigkeitsgefühlen und nationalistischen sowie fremdenfeindlichen Tendenzen: »In dem Maße, in dem man sich mit der eigenen Gruppe verbunden fühlt, können sich folglich kritische und skeptische Einstellungen gegenüber fremden Gruppierungen verstärken. So könne etwa eine stärkere Ausprägung nationalistischer Gefühle, wie Stolz auf die eigene Nation, einen negativen Effekt auf die Akzeptanz von Muslimen haben.« Pollack 2013, S. 93. 429 Zepf 1995, S. 222.

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trago »immer zusammen mit und gegenüber einem äußeren Anderen konstruiert.«430 In einer solchen Konstellation wird zwischen Selbst und Anderem unterschieden, erzeugt werden ferner auch Zugehörigkeitsgefühle, deren Dynamik sich in der Bildung und Anerkennung von staatlichen Strukturen wiederfinden lässt.431 Wenn man in diesem Zusammenhang nach Kipping annimmt, dass Nationalkulturen im Grunde nachträglich geschaffene Konstruktionen sind, die durch bewusste Auslassungen entstehen,432 dann erscheint auch die Fragestellung relevant, warum ausgerechnet in jenen Staaten, die in der identitären Hinsicht fragil geworden sind, die Massengewalt bedeutend zunimmt. In diesem Kontext stellt sich freilich auch die Frage, welchen Zusammenhang es zwischen der identitären Fragilität von Staaten und dem Wirtschaftswachstum gibt, welches im heutigen Europa – im Vergleich zu früheren Zeiten – relativ gleichmäßig verteilt ist.433 In Anlehnung an die Position von Kipping kann man darüber hinaus die These wagen, dass angesichts der voranschreitenden sozialen Ausgrenzung sowie postdemokratischer Verhärtung der Institutionen und ökologischer Katastrophen die Versprechen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit immer unrealistischer erscheinen. Und da die Zukunft immer feindlicher und bedrohlicher erscheint, führt dies unweigerlich »vielfach zu einer »neuen Angst«, die vor allem als etwas Atmosphärisches, als eine Stimmung, eine bange Beklommenheit daherkommt.«434 Auf der anderen Seite wird das Auftreten von negativen Affektpotenzialen auch durch das Fehlen des so genannten »kulturellen Kapitals« verstärkt, was sich am Beispiel der privatbezogenen und familiären Umstände zeigen lässt.435 Hierzu kommt der Umstand, dass gerade jene Menschen, deren materielle Situation schlechter ist, bzw. die in einfachen Verhältnissen aufgewachsen sind, zugleich das starke Bedürfnis haben, sich von dem besser situierten Teil der Gesellschaft abzugrenzen. Und diejenigen, die zwar nicht zu den armen Schichten gehören, sich aber dennoch von Erwerbslosigkeit bedroht

430 431 432 433 434 435

Reinke de Buitrago 2018, S. 71. Vgl. ebd. Vgl. Kipping 2016, S. 131. Vgl. Betts / Collier 2017, S. 35. Kipping 2016, S. 138. Eine solche Tendenz ist auch in Überlegungen von Pierre Bourdieu sichtbar, worauf Treibel verweist: »Familien mit niedrigerem sozialem Status fehlt es an »kulturellem Kapital«, wie der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1983) es nennt. Als kulturelles Kapital bezeichnet er dasjenige Kapital, über das ein Mensch durch seine schulische Ausbildung verfügt. Es ist vor allem Bildungskapital und wird sichtbar in den Abschlusszeugnissen, die man in Bildungseinrichtungen erworben hat. Es ist aber keine nur individuelle Größe, sondern durch Familientradition vererbbar und vermehrbar.« Treibel 2015, S. 101.

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fühlten, richten gewöhnlich ihre Abneigung – auch wenn es paradox erscheinen mag – vor allem gegen die Fremden oder Langzeiterwerbslosen.436 Was die existenzbezogenen Bedürfnisse der sog. Fremden anbelangt – und dies erscheint vor dem Hintergrund der sog. Flüchtlingskrise bestimmt nicht irrelevant – streben auch sie nach einer sicheren materiellen Position, d. h. nach stabiler Beschäftigung, eigenem Wohnraum und Teilnahme am öffentlichen Leben. Dies nähert sie bedeutend an die einheimische Mehrheitsbevölkerung an; auch ihr kommt ein solches Bestreben bestimmt als etwas durchaus Vertrautes und Verständliches vor. Von daher müssen die populistisch argumentierenden Autoren und Migrationskritiker dementsprechend viel ideologischen Aufwand betreiben, »um die vermeintlich Anderen erst als anders erscheinen zu lassen. Die Erkenntnis, dass Abstiegs- und Existenzängste gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit befeuern, spricht wahrlich niemanden frei.«437 Zu der weiteren Gruppe von Phänomenen, die im Zusammenhang mit ethnischer Feindschaft und Ausgrenzung von Fremden stehen, gehört ebenfalls die sog. »Kaskade«. Sie setzt voraus, dass Menschen als soziale Wesen auf das Verhalten von Anderen reagieren, sich ihnen anschließen oder sich von ihnen mehr oder weniger deutlich abgrenzen. Wenn sie das wegen der Reputation der Anderen tun, dann ist von der »Reputations-Kaskade« die Rede. Wenn sie sich aber ihnen anschließen, weil sie der Auffassung sind, dass das Verhalten von Anderen sie zu neuen Erkenntnissen führen kann, dann kommt ein Phänomen zum Vorschein, das als »Informations-Kaskade« bezeichnet wird.438

3.1.3 Die stigmatisierende Wirkung medialer Berichte Schon zu Beginn der sog. Flüchtlingskrise ließ sich etwas bemerken, was Pasamonik als »klassische mediale Panik« bezeichnet. In unzähligen medialen Berichten wurde damals in Polen verkündet, dass Europa von einer ›Flüchtlingswelle‹ erfasst werde [»Europe˛ zalewa fala uchodz´ców«].439 Darüber hinaus wurden Geflüchtete als folk devils dargestellt und zur Bedrohung für die soziale, kulturelle und ökonomische Sicherheit Polens stilisiert. Den Mythos von den ›bösen Ausländern‹ missbrauchen nach Stockmann in solchen Situationen nicht nur die Medien, sondern auch die politischen Eliten, um den gesellschaftlichen Adrenalinspiegel dadurch in die Höhe zu treiben und folglich »das außer Kon-

436 437 438 439

Vgl. Kipping 2016, S. 140. Ebd., S. 141. Vgl. Nussbaum 2014, S. 39. Vgl. Pasamonik 2017, S. 27.

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trolle geratene gewalttätige Kollektiv auch als Grund für Verfassungs- und Ausländerrechtsänderungen anzugeben.«440 Nicht unbedeutend ist eine weitere Begleiterscheinung, nämlich die, dass die Medienberichte kontinuierlich an der Verbreitung von Rassismus und Xenophobie beteiligt waren. Der liberale Teil der Berichterstattung hingegen war nicht imstande, das Bild der Hilfesuchenden und Geflüchteten zu verändern bzw. abzumildern.441 Dies alles, so Pasamonik, trug unmittelbar zum Entstehen einer einzigartigen »moralischen Panik« bei, obwohl dem geschlossenen, fremdenfeindlichen Teil der Gesellschaft – worauf schon oben verwiesen wurde – nicht selten eine offene und tolerante Einstellung entgegengesetzt wurde.442 Die Atmosphäre der ersten Monate der sog. Migrationskrise lässt sich auf überzeugende Weise in Anlehnung an die Position von Stockmann darstellen, der auf die Bedeutung und mediale Wirkung der Stereotype und Vorurteile aufmerksam macht. In seiner Darstellung verzahnen sich verschiedene, manchmal kontrastiv zusammengestellte Werte und Selbstbilder; relevant sind in diesem Darstellungsmodus ebenfalls diverse Spannungsfelder zwischen dem Eigenen und Fremden: »Darüber hinaus verhelfen Vorurteile dazu, das einmal erschaffene Werte- und Selbstbild zu erhalten. Neues und Fremdes wird abgelehnt und stigmatisiert. Durch die Identifizierung mit der starken Macht der Mehrheit werden eigene Schwächen kompensiert.«443 Die medial vermittelten Bilder und Inhalte gestalteten die Wahrnehmung der sog. Flüchtlingskrise besonders stark in den ersten Monaten der massenhaften Flucht nach Europa, sie trugen des Weiteren bedeutend zur Entstehung von kollektiven Ängsten bei.444 Nicht mit Unrecht konstatiert diesbezüglich Reinke de Buitrago: 440 Stockmann 1995, S. 232. 441 Die Wahrnehmung der sog. Flüchtlingskrise war zweifelsohne anders im westlichen Teil Europas, auch wenn dort – was sich am Beispiel ausgewählter EU-Politiker zeigen lässt – die prominenten Vertreter der europäischen politischen Strukturen und Regierungen von der neuen sozialpolitischen Situation profitierten: »Es spricht Bände, dass anlässlich der Reise von 30 (sic!) syrischen und irakischen Flüchtlingen aus Griechenland nach Luxemburg am 4. November [2015] neben dem griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras auch EUIntegrationskommissar Dimitris Avramopoulos, EU-Parlamentspräsident Martin Schulz und Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn am Flughafen erschienen.« Balcerowiak 2015, S. 118. 442 Vgl. Pasamonik 2017, S. 27. Zu den Schwächen der »liberalen« bzw. »fremdenfreundlichen« Darstellung der sog. Migrationskrise gehört vor allem der Umstand, dass sie nicht konsequent genug das Unrecht und die inhumanitären Handlungen anprangert: »Doch leider ist es ganz normal, dass schockierende Ereignisse sich in die langweilige Routine der Normalität verwandeln – dass moralische Panik sich selbst verbraucht hinter dem Schleier des Vergessens und aus den Augen und dem Sinn verschwindet.« Bauman 2016, S. 8. 443 Stockmann 1995, S. 238. 444 Die Atmosphäre der Beunruhigung und Erwartung erstreckte sich damals nicht nur auf Polen; auch in Deutschland spitzte sich die Lage im Sommer 2015 immer deutlicher zu:

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Die Medien können als aktiver Akteur im öffentlichen Diskurs betrachtet weden. Bei der aktuellen Geflüchteten-Krise als auch in den migrationspolitischen Diskussionen nehmen die Medien in der Tat eine sehr aktive Rolle ein. Allerdings gehen Medienberichte bei der Themenwahl selektiv vor – sie konzentrieren sich auf bestimmte Aspekte und ignorieren andere.445

Bei der Betrachtung der in Polen betriebenen medialen Vermittlung in der Zeit der sog. Migrationskrise kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die herannahenden Gruppen von Geflüchteten von Beginn an mit auffälliger Konsequenz und Intensität als akute Bedrohung für die einheimische Bevölkerung dargestellt wurden. Nicht zufällig war hierbei die Auswahl des Bildmaterials, die zweifelsohne auf die Verstärkung der Angstgefühle und auf negative Wahrnehmung von Migranten ausgerichtet war. Sowohl im Internet als auch in Informationsprogrammen wurden nämlich stundenlang fremd wirkende, gewaltbereite Gruppen von Männern gezeigt, welche Grenzschutzbeamte und Sicherheitsbehörden angreifen, bzw. ihre Arroganz gegenüber der polnischen Obrigkeit manifestieren. Das Erscheinen der kulturell Fremden hatte zweifelsohne nicht nur eine symbolische Dimension; ihre Anwesenheit in der medialen Berichterstattung zog konkrete Konsequenzen nach sich. Migranten wurden folglich zu jenen stilisiert, die für zerstörte Grenzinfrastruktur und Angriffe auf Vertreter der Staatsmacht verantwortlich waren. Außerdem wurde mit großer Intensität darauf hingewiesen, dass ein Großteil der Geflüchteten die Grenze illegal überschreiten wolle. Der Umstand, dass sie ohne Personalausweis bzw. Reisepass unterwegs sind, wurde folglich als ein Versuch ihrerseits interpretiert, die spätere Identifizierung (in der überspitzten Rhetorik der Medien eigentlich die ›Identifizierung der Täter‹) unmöglich zu machen.446 Des Weiteren wurde in medialen Berichten »Der Druck im Kessel wurde immer höher. Die meisten Medien und Politiker außerhalb Bayerns scheuten sich davor, die Konsequenzen zu ziehen und Flüchtlinge abzuweisen. Deshalb wurde die Forderung immer lauter, die anderen europäischen Staaten müssten sich an der Aufgabe beteiligen, weil Deutschland allein es doch nicht schaffen könne.« Palmer 2017, S. 28. Eine bestimmte Klimax der affektiv fundierten Interpretation der Migrationsproblematik bildet in dieser Hinsicht das Attentat am Breitscheidplatz: »Am 20. Dezember 2016 raste ein von einem polnischen Fahrer gekaperter Lkw im Herzen Berlins, am Breitscheidplatz, in einen Weihnachtsmarkt. Zwölf Menschen starben, 48 wurden verletzt. Die deutsche Öffentlichkeit stand kurz vor dem Fest des Friedens dem Treiben ebenfalls fassungslos gegenüber. Der 2015 als Flüchtling eingereiste Tunesier hatte Kontakte zur deutschen Salafistenszene.« Hartleb 2017, S. 121. 445 Reinke de Buitrago 2018, S. 72. 446 Vgl. Korczak, Jarosław: Pogla˛dy na temat imigrantów formułowane przez uz˙ytkowników portalu sadistic.pl, [Die Ansichten über Migranten auf der Homepage sadistic.pl] In: Pasamonik, Barbara / Markowska-Manista, Urszula (Hrsg.): Kryzys migracyjny. Perspektywa społeczno-kulturowa [Die Migrationskrise aus der sozial-kulturellen Perspektive]. Bd. 1. Warszawa: Wydawnictwo Akademii Pedagogiki Specjalnej 2017, S. 68–91, hier S. 69. So beschreibt diesen Umstand Boris Palmer: »Ohne Papiere sind die Chancen zu bleiben für viele einfach besser. Auf ein Handy kann verständlicherweise so gut wie kein Flüchtling

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die mangende Sprachkompetenz der Zugewanderten hervorgehoben, an erster Stelle der Umstand, dass sie nicht nur der Sprache des Ziellandes nicht mächtig sind, sondern dass ebenfalls ihre Englischkenntnisse viel zu wünschen übrig lassen. Bei einer nach solchen Prinzipien gestalteten Berichterstattung liegt die Vermutung nahe, dass dabei eine pragmatisch fundierte, bewusst unternommene Meinungsbildung und Instrumentalisierung der Medien im Gange sein muss. Wenn nämlich die in den Medien dargestellten Krisensituationen außer Kontrolle geraten und bestimmte Deutungsmonopole in Frage gestellt werden, dann vereinnahmen die Medien die Gewalt als eine attraktive und sich gut ›verkaufende‹ Art der Mitteilung. Nur wenige Empfänger der fertigen Produkte der Berichterstattung sind sich dabei darüber bewusst, dass gerade die Medien die Gewalthandlungen im bestimmten Ausmaß beeinflussen, organisieren und sanktionieren. Vielmehr rechtfertigen sie gelegentlich sogar die Gewaltanwendung oder rationalisieren sie im Namen der intern uneinheitlichen Gruppe von Nationalisten, Revolutionären, Terroristen und Kritikern bzw. populistischen Politikern.447 Die häufig flüchtigen und emotionalen Fernseh- und Internetberichte, so Rafał Cekiera, verstärken die Durchschlagskraft der Darstellung und werden leicht zu einem gefährlichen und zugleich verbindenden Bestandteil der negativen Affektbildung. Da die Migranten zweifelsohne nicht zum Bild der Wohlstandsgesellschaft passen, werden sie auf der symbolischen Ebene sichtbar stigmatisiert, angeprangert oder sogar verbannt. Letztendlich hat man bestimmt auch mit einer Verdrängungsstrategie zu tun, denn, wie es Heinz Bude formuliert: »Auf der sonnigen Seite der Straße will man gut gelaunte, fit erscheinende und erfolgsgewohnte Leute sehen. Die aussortierten und abgehängten Gestalten sollen sich zu ihresgleichen verziehen oder ganz von der Bildfläche verschwinden.«448 Darüber hinaus kolportiert ein beträchtlicher Teil der ins Internet gestellten Inhalte – die nicht selten von anonymen Internetnutzern erstellt werden – regelrecht entweder unwahre Informationen oder solche, die auf unüberprüfbaren Meinungen beruhen und auf arbiträre und stark subjektiv geprägte Eindrücke und Vorstellungen zurückgreifen. Ein solches Phänomen, das mit den gegenwärtigen radikalen Umgestaltungen der gesellschaftlichen Kommunikationsregeln zusammenhängt und globale Ausmaße hat, hat sogar einen separaten Namen, nämlich Post-Truth, erhalten.449

verzichten. Daher schaffen sie es nahezu alle, das Smartphone auf der ganzen Reise bei sich zu behalten.« Palmer 2017, S. 162. 447 Vgl. Baberowski 2012, S. 47. 448 Bude 2008, S. 259. 449 Cekiera 2017, S. 247. Ein auffällig großer Teil der im Internet geführten Diskussionen und Debatten über das Flüchtlingsproblem wird nicht nur über Texte, sondern auch über Meme kolportiert. Deren Inhalt ist häufig von Fremdenfeindlichkeit und Xenophobie stark ge-

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Imaginierte Flüchtlingswelle. Die ›Migrationskrise‹ aus polnischer Perspektive

Positive Wahrnehmung der Migration in Polen

3.2.1 Historischer Rückblick Obwohl Polen stereotyp zu jenen EU-Ländern gezählt wird, die mit sichtbarer Vorsicht auf Migrationsprozesse reagieren, macht der vertiefte Blick auf die polnische Geschichte die These legitim, dass Migration, Emigration und das Leben in der Fremde mit der polnischen Geschichte untrennbar verbunden sind.450 Bereits zur Zeit der Teilungen Polens, insbesondere nach dem 1792 verlorenen Krieg gegen Russland, verließen die politischen und kulturellen Eliten Polens – vor allem die gegen die Teilungsmächte vereinigten Oppositionellen und Mitglieder des Vierjährigen Sejm [Sejm Czteroletni] sowie die Befürworter der Verfassung vom 3. Mai 1791 – ihr Heimatland. Zu dieser Gruppe gehörten viele prominente Staatsmänner und Intellektuelle, wie Ignacy Potocki, Hugo Kołła˛taj oder Tadeusz Kos´ciuszko. Sie flohen entweder nach Sachsen (Dresden, Leipzig) oder nach Paris.451 Nicht anders war die Lage der polnischen Eliten nach 1795; auch damals retteten sich viele mit der Flucht ins Osmanische Reich, nach Frankreich oder Italien. In dem letztgenannten Land gründete General Henryk Da˛browski die polnischen Legionen [Legiony Polskie], denen sich 7000 geflüchtete polnische Soldaten anschlossen. Nicht zufällig gibt es in der polnischen Nationalhymne den Refrain »Marsz, marsz Da˛browski / z ziemi włoskiej do Polski« [Marsch, Marsch Da˛browski, von Italien nach Polen].452 Auch einige Jahrzehnte später, kennzeichnet, zu deren Hauptzielen gehört es schließlich, Ängste zu schüren, Geflüchtete zu stigmatisieren und ihre Menschenwürde zu verletzen. Vgl. ebd., S. 247. 450 Auf den universellen Charakter der Migration, die durch das Prisma historischer Kontexte gedeutet werden kann, macht Kipping aufmerksam: »Auch ein Blick in die Geschichte lehrt, dass Reinheitsgebote in Bezug auf Kultur nicht angebracht sind. Zirkuläre und dauerhafte Migration und die damit einhergehende kulturelle Hybridisierung sind der historische Regelfall. Der Homo sapiens ist immer auch »Homo migrans«.« Kipping 2016, S. 130. Ähnlicher Argumentation bedient sich Ann-Kathrin Eckardt: »Sesshaftigkeit ist historisch gesehen eher ungewöhnlich, Wanderung der Normalzustand. Schübe von Massenmigration sind auch in der Neuzeit kein Sonderfall, sie wiederholen sich.« Eckardt 2017, S. 185. 451 Vgl. Pasamonik 2017, S. 19. 452 Die Hervorhebung der bilateralen Beziehungen zwischen den Nationen – neben Italien wird auch Frankreich (Napoleon Bonaparte) erwähnt – und die damit verbundenen räumlichen Zuordnungen spielen in der polnischen Nationalhymne eine durchaus wichtige Rolle. Vor diesem Horizont – auch wenn dieser Aspekt mit der Flüchtlingsproblematik nur bedingt korrespondiert – erscheint die Reflexion von Belang, die sich auf territoriale und raumbezogene Aspekte sowie ihre Bedeutung für die heutige, globalisierte Welt bezieht: »Raum und räumliche Konstruktionen, wie zum Beispiel nationale Grenzen, erfüllen – sogar in einer globalisierten Welt – wichtige Funktionen: Raum wird politisch geteilt und geschaffen; er ist eine wichtige staatliche Ressource und aufgrund dessen innerhalb nationaler Beziehungen oftmals umkämpft.« Reinke de Buitrago 2018, S. 69. Nicht weniger sinnstiftend

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nach dem Novemberaufstand 1830, verließen nicht nur die berühmten Dichter Adam Mickiewicz und Juliusz Słowacki, sondern auch Fürst Adam Jerzy Czartoryski und der wohl bekannteste polnische Komponist dieser Zeit, Fryderyk Chopin, Polen. Gleich danach erblühte im Ausland (vor allem in Paris) innerhalb der ›Großen Emigration‹ – und zwar dank den musikalisch und literarisch engagierten Geflüchteten – das polnische Kulturleben.453 Während zu Beginn des 19. Jahrhunderts eindeutig Frankreich zum wichtigsten Ziel- und Aufnahmeland der polnischen Emigration wurde, erscheint einige Jahrzehnte später – in der Zeit nach 1850 – die Auswanderung der polnischen Schwerindustriearbeiter nach Deutschland, vor allem ins Ruhrgebiet, ausschlaggebend: Mit dem massenhaften Import polnischer Arbeiter gegen Ende des 19. Jahrhunderts in das Ruhrgebiet, den sogenannten »Ruhrpolen«, die dazu beitrugen, dass zwischen 1871 und 1910 die Bevölkerungszahl von 550.000 auf 3 Millionen anstieg, entstand dann eine für die beginnende Industriegesellschaft typische gemischte Bevölkerungsstruktur.454

Die Migrationstendenzen flauten auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht ab. Viele Polen verließen damals ihr Heimatland, entweder um vor dem Krieg zu fliehen oder um ein besseres Leben in der Fremde zu beginnen. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang vor allem die Flucht der sog. »polnischen Armee« [»armia polska«] im Jahre 1942 in den Iran. Insgesamt verließen damals 116 131 polnische Staatsbürger ihre Heimat, darunter 41 128 Zivilisten und 14 922 Kinder.455 Die Aufnahme einer so großen Menge von Hilfesuchenden – und dies kann aus der heutigen Zeitperspektive etwas ungewöhnlich erscheinen – wurde von den Behörden in Teheran vorgeplant und durchgeführt. Für die Geflüchteten und Hilfesuchenden entstand damals eine komplette Infrastruktur; nur für die polnischen Kinder wurden gezielt 21 Betreuungs-, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen zur Verfügung gestellt. Ergänzend ist noch zu erwähnen, dass polnische Geflüchtete unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg im Libanon, in Palästina in Ost- und Südafrika, sowie in Indien, Mexiko und Neuseeland aufgenommen wurden.456

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erscheint die Rolle der Staats- und Nationalgrenzen, auch wenn ihr Konstruktionscharakter ganz offensichtlich ist: »Als soziale und politische Konstruktion werden Grenzen inszeniert und erfahren; sie werden in verschiedenen Grenzschutzpraktiken ausgeführt. In ihren unterschiedlichen Graden der Durchlässigkeit und der aufgewandten Kontrolle trennen Grenzen mehr oder weniger stark das Innere vom Äußeren – ebenso abhängig von der (gefühlten) Bedrohung des Äußeren für das Innere.« Reinke de Buitrago 2018, S. 69. Vgl. Pasamonik 2017, S. 19. Hofbauer 2018, S. 180. Vgl. Pasamonik 2017, S. 19. Vgl. ebd.

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Die Emigration aus Polen in den Westen fiel auch auf die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Dies geschah zu jener Zeit – wie es Collier formuliert – als sich wieder einmal ein finsterer Abgrund zwischen der reichen und der armen Welt auftat.457 Die Wirtschaftsmigration dieser Zeit ist umso verständlicher, als erst Ende der 1990er Jahre die vermögensbezogene Ungleichheit zwischen Ost und West allmählich zurückging, und die meisten – lange Zeit weniger vermögenden europäischen Länder – zu den reicheren kontinuierlich aufschlossen.458 Was die Migration aus Polen betrifft, so profitiert das Land auch im 21. Jahrhundert stark davon, dass einige europäische Länder – wie Großbritannien – eine sichtbar liberale Migrationspolitik betreiben. Collier hebt in diesem Zusammenhang vor allem politische und demographische Aspekte hervor: Die britische Einwanderungspolitik war in Bezug auf polnische Migranten auffallend liberal. Als Polen der Europäischen Union beitrat, erhielten die Mitgliedsländer für eine Übergangsphase das Recht, die Einwanderung aus Polen zu beschränken, bis die polnische Wirtschaft sich dem gemeinsamen Markt angepasst hatte. […] Dass sich die britische Regierung nicht dafür entschied, hing vermutlich mit der von ihren eigenen Beamten gemachten Voraussage von 2003 zusammen: Nur wenige Osteuropäer – nicht mehr als 13 000 pro Jahr – würden nach Großbritannien auswandern wollen. Diese Erwartung erwies sich auf spektakuläre Weise als falsch, denn tatsächlich wanderten in den folgenden fünf Jahren rund eine Million Menschen aus Osteuropa nach Großbritannien aus.459

Offen für die Arbeitsmigranten aus Polen zeigte sich einige Jahre später ebenfalls Deutschland. Die Freizügigkeit innerhalb des Schengen-Raums ermöglicht heute den EU-Bürgern ohne Visum nach Deutschland einzureisen und zu arbeiten. Statistisch gesehen, waren es 2013 rund 1,2 Millionen Menschen, davon stammte mehr als die Hälfte aus EU-Ländern, die meisten aus dem ehemaligen Ostblock oder aus Südeuropa, d. h. aus Polen, Rumänien oder Italien.460 Die Migration und Konfrontation mit dem Fremden (bzw. mit der Fremdheit) sind von daher als ein untrennbarer Teil der polnischen Vergangenheit und Gegenwart anzusehen. Vor diesem Hintergrund kann es nicht wundern, dass – ungeachtet der medial vermittelten stereotypen Bilder und Zuordnungen –, auch ein Großteil der heutigen polnischen Gesellschaft sich der Einwanderung aus dem Ausland mehr oder weniger offen zeigt. Man kann dabei den Eindruck gewinnen, dass die Zugewanderten bzw. Geflüchteten selektiv betrachtet, d. h. in zwei Kategorien eingeteilt werden: Während zu der ersten die ›guten‹ bzw. ›er457 Vgl. Betts / Collier 2017, S. 32. 458 Aus der globalen Perspektive gesehen sind die spektakulärsten Fälle bis heute China und Indien, wo ein Drittel der Menschheit lebt und der Lebensstandard sich rapide verbessert. Vgl. ebd., S. 32. 459 Collier 2015, S. 26. 460 Vgl. Eckardt 2017, S. 191.

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wünschten‹ Migranten – also die Angehörigen anderer EU-Länder, die Wirtschaftsmigranten aus der Ukraine sowie die Bürger aus den USA und Kanada zählen – bilden die Geflüchteten und Hilfesuchenden aus dem Nahen Osten und Nordafrika die zweite, ›unerwünschte‹ Kategorie. Ungeachtet dieser kulturell und religiös fundierten Kategorisierung muss man sich dennoch dessen bewusst sein, dass die Erhaltung der heutigen demografischen Struktur Europas die Aufnahme von weiteren 100 Millionen Migranten in der breit aufgefassten Zeitperiode 1995–2050 verlangt. Um dabei die stabile Anzahl der Beschäftigten im Produktionsalter zu erhalten – so die Statistiken – müssten sogar 161 Millionen Migranten nach Europa eingelassen werden. Um eine Erwerbstätigenzahl auf dem Niveau von zwei Dritteln der Gesellschaft zu erzielen, müssten schließlich in der oben genannten Zeitperiode 235 Millionen Migranten eingesetzt werden.461 Vor diesem Hintergrund ist die Position von Renata Laszko nicht überraschend, die die Migration als einen untrennbaren Teil unserer Zivilisation klassifiziert. Die ›Völkerwanderung‹, so die Autorin, begleite die Menschen schließlich seit Jahrhunderten, wenn nicht gar Jahrtausenden und erscheint aus einer breiteren Perspektive als ein durchaus nicht ungewöhnlicher kultureller und gesellschaftlicher Prozess.462 Unabhängig davon, ob der Mensch zur Migration gezwungen wird oder sie freiwillig wählt – um beispielsweise nach Wegen einer neuen Entwicklung zu suchen – bleibt in allen Fällen vor allem das Migrationsphänomen selbst relevant. Seine Präsenz und interne Dynamik sind dabei auf mehrere Ursachen zurückzuführen: Es kann u. a. aus der Unterdrückung oder aus der Suche nach einer besseren Existenz resultieren.463 Nicht zu Unrecht konstatiert in diesem Zusammenhang Regina Ammicht Quinn: »Menschen waren und sind aus den unterschiedlichsten Gründen und über die unterschiedlichsten Grenzen hinweg auf Wanderschaft, dauerhaft oder temporär. Sie fliehen vor Gewalt, Diskriminierung oder folgen ihren Familien, die sich an einem anderen Ort der Welt niedergelassen haben.«464

461 Vgl. Fihel / Górny / Kudła / Walczyk 2017, S. 186. Die düstere Perspektive des Mangels von Arbeitskräften betrifft natürlich auch den westlichen Nachbarn Polens: »Deutschland, diese alternde, manchmal verzagte Nation, braucht frische Kräfte, braucht Anstoß von außen. Das Flüchtlingsproblem ist für die Betroffenen eine große Katastrophe, für Deutschland kann es eine große Chance sein, die am Ende Land und Menschen, Einheimischen wie Migranten zugute kommt.« Beise 2015, S. 23. 462 Vgl. Laszko, Renata: Pierwsze zadanie Kos´cioła: głosic´ Jezusa Chrystusa migrantom [Die erste Aufgabe der Kirche: Den Migranten die Lehre von Jesus Christus zu verkünden]. In: Ostrowski, Maciej / Partyka Józef (Hrsg.): Kryzys migracyjny – destrukcja czy szansa? Społeczne i pastoralne aspekty [Die Migrationskrise – Destruktion oder Chance? Soziale und pastorale Aspekte]. Kraków: Uniwersytet Papieski Jana Pawła II w Krakowie, Sulkhan Saba Teaching University w Tbilisi, Kraków – Tbilisi 2019, S. 77–80, hier S. 77. 463 Vgl. ebd. 464 Ammicht Quinn 2013, S. 112.

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3.2.2 Solidarität mit Geflüchteten – politische Parteien, kirchliche Institutionen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) Bereits zu Beginn der sog. Flüchtlingskrise, am 15. Oktober 2015, lediglich zehn Tage vor der Parlamentswahl, also im entscheidenden Moment der Wahlkampagne, wurde eine beachtenswerte Initiative – der Tag der Solidarität mit Geflüchteten [»Dzien´ solidarnos´ci z uchodz´cami«] – organisiert, eine Veranstaltung, an der viele öffentliche Institutionen, Kultureinrichtungen, NGOs465 und Medien teilnahmen. In einem speziell aus diesem Anlass vorbereiteten Memorandum wurde u. a. festgestellt: An diesem Tag möchten wir allen mitteilen, die aus ihrer Heimat vor Krieg, Chaos, Hunger, Brand und Not fliehen: Ihr seid bei uns herzlich willkommen! Da Polen für seine Gastfreundschaft und Solidarität berühmt ist. Weil das Schicksal der Geflüchteten und Emigranten ein Teil unserer Kultur und Geschichte ist. Weil wir imstande sind, den Anderen Hilfe zu leisten und ihnen Mitleid zu zeigen.466

Der Tag der Solidarität mit Geflüchteten war allerdings keine vereinzelte Initiative. Schon am nächsten Tag, am 16. September 2015, plädierten einige Politiker des polnischen Sejm in ihren Reden explizit dafür, den Geflüchteten und Hilfesuchenden entgegenzukommen und ihnen finanzielle sowie organisatorische Unterstützung zu gewähren. In der von heftigen Emotionen begleiteten Debatte stellte u. a. die damalige Ministerpräsidentin Ewa Kopacz öffentlich die Frage, ob Polen bereit wäre, Solidarität mit jenen zu zeigen, die ihr Land verlassen mussten, um ihr Leben zu retten. Die damalige polnische Regierungschefin fragte darüber hinaus rhetorisch, ob ein Staat mit 40 Millionen Einwohnern doch nicht imstande wäre, Solidarität mit jenen zu zeigen, die sie nun dringend brauchen.467 Sie war sich schon damals bewusst, dass eine ablehnende Politik gegenüber den Geflüchteten sowie die Vorenthaltung von Bürgerrechten auf Dauer wenig er465 Gerade die NGOs (non-government organizations) und die öffentliche Meinung spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Nach Zepf gilt es »nämlich weiterhin, daß beispielsweise beim Thema Unverzichtbarkeit von Minderheitsrechten oder Schutzgarantien für Verfolgte zunächst nicht die Regierung als Ausdruck des Staatlichen, sondern relevante Teile der Gesellschaft zu gewinnen sind, die sich für diese Ziele engagieren.« Zepf 1995, S. 228. 466 Vgl. Pasamonik 2017, S. 25. Die Sorge um die Hilfesuchenden ist durchaus verständlich, wenn man bedenkt, dass zwischen 2000 und 2015 rund 28 500 Migranten im Mittelmeer ertranken. In dieser Zeitperiode wurden des Weiteren laut Missing Migrants Project weltweit 40 000 Todesfälle während der Wanderung registriert. Dies bedeutet gleichzeitig, dass das Mittelmeer zu den gefährlichsten Fluchtrouten auf der Welt gehört. Vgl. Luft, Stefan: Kryzys uchodz´czy – przyczyny, skutki, konflikty [Die Flüchtlingskrise – Ursachen, Folgen, Konflikte]. Poznan´: Wydawnictwo Nauka i Innowacje 2019, S. 139. 467 Vgl. Łotocki, Łukasz: Kryzys migracyjny w Europie w polskim dyskursie publicznym w latach 2015–2018 [Die Migrationskrise im polnischen öffentlichen Diskurs in den Jahren 2015– 2018]. Warszawa: Dom Wydawniczy ELIPSA 2019, S. 234.

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folgsversprechend sind und rasch zu einem kontraproduktiven und integrationshemmenden Faktor werden würden. In diesem Zusammenhang erscheinen die Überlegungen von Aumüller relevant, in denen Demokratie, Assimilation468 und Integration mit positiven Folgen verknüpft werden, auch wenn sie nicht selten einen dauerhaften, manchmal sogar lebenslangen Lern- und Erziehungsprozess voraussetzen.469 Als besonders wichtig muss hierbei die gelungene Integration angesehen werden, die sich als eins der erwünschten Endprodukte des Migrationsprozesses offenbart; die Vertreter der Migrationsgruppen gelten in diesem Modell erst dann als integriert, wenn sie die Grundlagen der Aufnahmegesellschaft kennen und akzeptieren, ohne sich aber notwendig an alle Regeln anpassen zu müssen.470 Und die gelebte Demokratie, ist, wie es Kipping formuliert »langfristig immer noch das beste Mittel gegen Autoritarismus, Rassismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit.«471 Vor dem Hintergrund der oben erwähnten Debatte im polnischen Parlament muss betont werden, dass sich die Richtlinien der damaligen Regierung aus der heutigen Zeitperspektive als mutig erwiesen, da sie kaum mit den Erwartungen, Einstellungen und Überzeugungen der Mehrheit der polnischen Gesellschaft korrespondierten. Zwar stand die polnische Ministerpräsidentin – abgesehen von Erwartungen seitens der EU – nicht unter unmittelbarem Druck des Auslands (da die Migrationspolitik schließlich nicht von den Regierungen der Herkunftsländer, sondern von denen der Aufnahmeländer bestimmt wird), so muss man dennoch darauf hinweisen – und auch dies ist bestimmt keine bahnbrechende Entdeckung –, dass in demokratischen Gesellschaften die Regierung zwangsweise dazu tendiert, die Interessen der Mehrheit zu vertreten. Auf der anderen Seite ist es absolut wünschenswert und aus ethischer Sicht durchaus verständlich, so Collier, »wenn für die Bürger sowohl die einheimischen Armen als auch die in den ärmsten Ländern lebenden Menschen Gegenstand ihrer Sorgen sind.«472

468 Die Autorin verweist auf die historisch begründete Notwendigkeit der Assimilationsprozesse: »Im Verlauf der Geschichte sind immer wieder Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher Herkunft »ineinander aufgegangen«; Assimilation erscheint als eine historische Notwendigkeit in einem sozialen Evolutionsprozess.« Aumüller 2009, S. 32. 469 Vgl. Tobo 2018, S. 356. Eine integrationsstiftende Wirkung, so Tobo, hat dabei die Möglichkeit der freien Selbstbestimmung, die vor den Zugewanderten eröffnet wird: »Die Integration von Neuankömmlingen sollte mit dem demokratischen System und seinem Versprechen einer freien Selbstbestimmung in Einklang gebracht werden.« Ebd., S. 356–357. 470 Vgl. Lehmann, Karsten: Religion und Integration – Spezifika der politischen Debatte und Perspektiven der Forschung. In: Nagel, Helga / Jansen, Mechtild M. (Hrsg.): Religion und Migration. Frankfurt am Main: VAS Verlag 2007, S. 29–44, hier S. 29. 471 Kipping 2016, S. 150. 472 Collier 2015, S. 31.

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Was die Debatte im polnischen Sejm zu Beginn der sog. Flüchtlingskrise anbelangt, stand die polnische Ministerpräsidentin damals mit ihren Bestrebungen nach mehr Offenheit gegenüber den Geflüchteten und Hilfesuchenden allerdings nicht allein und konnte auf starke Unterstützung aus den Reihen ihrer Partei rechnen. Die Analyse der damaligen Aussagen führt unweigerlich zum Befund, dass auch andere Mitglieder der Bürgerplattform (PO) ähnlich starke Argumente wie die Regierungschefin vorbrachten, darunter Marcin S´wie˛cicki, der schwerwiegende, nahezu provozierende Motive und Akzente in seine Rede einflocht: Wir debattieren hier unter dem Zeichen des Kreuzes, auf dem Jesus Christus abgebildet ist, der auch ein Flüchtling war. Wir hörten den Apell von Papst Franziskus, der uns ermahnte, die Geflüchteten aufzunehmen, wir sahen zugleich seine symbolischen Gesten. Mit dem Apell, die Hilfesuchenden aufzunehmen zu empfangen, wandte sich an uns auch der polnische Primas. Von daher möchte ich nun fragen, warum sich unsere Parlamentskammer 1050 Jahre nach der Taufe Polens der europäischen Solidarität, dem Willen entsagt, den Anderen Hilfe zu leisten?473

Nicht weniger ausdruckstark war während der Sejm-Debatte der Bezug auf die Notwendigkeit der internationalen Kooperation innerhalb der EU hingewiesen worden. Die polnische Ministerpräsidentin erinnerte daran, dass die Mitgliedschaft in der europäischen Gemeinschaft von Staaten und Nationen mit bestimmten Verpflichtungen verbunden sei. Mit sichtbarer Verbitterung stellte sie abschließend fest: »Heute jenen den Rücken zu kehren, die die Hilfe brauchen, verursacht, dass wir diese Gemeinschaft moralisch und geistig verlassen.«474 473 Vgl. Łotocki 2019, S. 239. Vor dem Hintergrund der gerade dargestellten unzureichenden Solidarität und der willkürlichen Interpretation der religiösen Gebote ist darauf zu verweisen, dass die Notwendigkeit den Bedürftigen entgegenzukommen und ihnen Mitleid zu zeigen, sich nicht nur aus religiösen, sondern auch aus rein humanitärer Motivation ergeben soll. Man darf schließlich das tragische Schicksal der Hilfesuchenden nicht außer Acht lassen, wie es Beise formuliert: »Wer dem Terror entkommen will und sich auf den weiten Weg ins sichere Europa macht, der ertrinkt womöglich im Mittelmeer, Tausende sind es in diesem schrecklichen Jahr 2015 gewesen, Frauen, Kinder, Männer. Die es schafften, wurden auf europäischem Boden in Lagern oftmals unter entwürdigenden Bedingungen zusammengepfercht. Dann weitergeschickt, und im nächsten Land wieder kaserniert, eine Odyssee.« Beise 2015, S. 11. Um die Betrachtungsperspektive zu erweitern ist ferner darauf zu verwiesen, dass jene Argumentation wenig überzeugend ist, in der die Geflüchteten als eine wohlorganisierte und antieuropäisch eingestellte Gruppe gezeigt werden. Ohne zu übertreiben kann man feststellen, dass sie keine einheitliche Gruppe sind, die eine subversive, zersetzende Wirkung auf die Aufnahmegesellschaft mit sich bringen könnte. Treibel verweist darauf, dass Muslime sich intern in vielerlei Hinsicht so untereinander unterscheiden, »wie sich Muslime und Christen unterscheiden. Die Strenggläubigen sind sich untereinander und den in ihren Augen weniger Gläubigen gegenüber sogar besonders feindlich gesonnen.« Treibel 2015, S. 87. 474 Vgl. Łotocki 2019, S. 243. Ähnlich argumentiert Holtkamp: »Wenn sich die Europäische Union als Gemeinschaft versteht, müssen alle EU-Länder Flüchtlinge aufnehmen und sich der Verantwortung stellen. Das zeigt aber auch, dass die bisherigen Maßnahmen in der

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In Anlehnung an die gerade zitierten Aussagen kann man freilich die These wagen, dass die liberal denkenden polnischen Politiker sich schon damals dessen bewusst waren, dass die wichtigsten Voraussetzungen und Prinzipien der EU, wie z. B. die Bewegungsfreiheit innerhalb des gemeinsamen EU-Raumes, sich nur dann aufrechterhalten lassen, »wenn man die Normen und Verfahren für die Immigration vereinheitlichte.«475 Während der Debatte ist auch klar geworden, dass ethnozentrische, populistische und fremdenfeindliche Stellungnahmen sich auf Dauer als eine politische Sackgasse erweisen. Etwas Ähnliches behauptet Kipping: Die Vorstellung einer homogenen nationalen Kultur hat in der Lebenswirklichkeit keine wirkliche Entsprechung. Die Gesellschaft setzt sich aus ganz verschiedenen, einander überlappenden Parallelwelten zusammen. Wenn man diese künstlerisch darstellen würde, käme wahrscheinlich eine Art kubistische 3-D-Installation heraus, die sich beständig im Wandel befindet.476

Die Bestrebungen der Politiker der Bürgerplattform (PO) im polnischen Parlament – die oben ansatzweise veranschaulicht wurden – waren keine vereinzelte politische und gesellschaftliche Initiative, denn sie korrespondierten und deckten sich größtenteils mit offiziellen Stellungnahmen der christlichen Kirchen in Polen. Bischof Jerzy Samiec, das Oberhaupt der Evangelisch-Augsburgischen Kirche zum Beispiel, veröffentlichte bereits am 30. April 2015 einen Appell, der als Hirtenbrief Dos´wiadczajmy mocy modlitywy! [Lasst uns die Kraft des Gebets erfahren!] verlesen wurde. Darin schreibt der evangelische Geistliche voller Sorge:

Flüchtlingspolitik der Europäischen Union zu kurz gegriffen haben.« Holtkamp 2016, S. 157. Im weiteren Verlauf seiner Überlegungen lässt sich allerdings eine kritische Einstellung gegenüber der europäischen Solidarität erahnen: »Europa driftet so immer weiter auseinander. Dringend geboten ist eine Annäherung und Verständigung über ein gemeinsames Vorgehen in der Asyl- und Flüchtlingskrise in Europa. Notwendig sind einheitliche Standards beim Asylverfahren, in der Unterbringung und bei der Anerkennung.« Ebd., S. 155. 475 Betts / Collier 2017, S. 94. Von Bedeutung bleibt natürlich auch die weitestgehende Anerkennung des Asylrechts und der Menschenrechte; in diesem Zusammenhang muss man auf die Tätigkeit einiger Organisationen, darunter des Vereins »Nigdy wie˛cej« [Nie Mehr] verweisen, die in Polen erbittert gegen Fremdenfeindlichkeit und hassmotivierte Verbrechen kämpfen. Vgl. Ickiewicz-Sawicka 2017, S. 191. 476 Kipping 2016, S. 129. Die Autorin verweist in diesem Zusammenhang ebenso auf den Unterschied in der synchronen und diachronen Erfassung bestimmter Kulturformen: »Jede konkrete in einem Moment eingefangene Kultur stellt also lediglich eine Momentaufnahme einer Synthese der Kulturen der Welt dar. Insofern braucht keine Kultur weder in Europa noch in Deutschland noch in irgendeinem imaginären Abendland den Schutz vor dem angeblichen Fremden. Denn über die Sedimente der Geschichte und über die modernen Technologien des Austausches findet die permanente Neuzusammensetzung wie in einem Prisma sowieso beständig statt.« Ebd., S. 131–132.

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Wir öffnen unsere Herzen auch vor jenen, die vom Leben in unserem Land träumen. Wir Polen, wir evangelische Christen, erinnern uns daran, wie unsere Angehörigen freundlich aufgenommen wurden, nachdem sie ihre Heimat auf der Suche nach einem besseren Leben hatten verlassen müssen.477

Noch vor der Veröffentlichung des Hirtenbriefes wurde ein Schreiben an die Gemeinden der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen mit der Frage nach der Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen versendet. Da viele Gemeinden ohne Weiteres eine solche Bereitschaft erklärten, kündigte der Bischof unverzüglich die Reise einer Arbeitsgruppe nach Deutschland an, die sich dann vor Ort zahlreichen Herausforderungen stellt und sich die Arbeit mit Migranten und Geflüchteten vertraut machen sollte. Der Bischof informierte des Weiteren ausführlich über den Stand der Arbeiten bei der Vorbereitung und Durchführung einer angemessenen Fortbildung in der Kirche.478 Ein Jahr später, am 30. Juni 2016, als die sog. Flüchtlingskrise europaweit durch das Prisma der Terrorangriffe479 und der scheinbar unüberwindbaren lo477 Vgl. Glaeser, Zygfryd / Giemza, Grzegorz: Swój i obcy w konteks´cie współczesnego kryzysu migracyjnego. Dos´wiadczenia i zadania Kos´ciołów i społeczen´stwa [Eigene und Fremde vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Migrationskrise. Erfahrungen und Aufgaben der Kirchen und Gesellschaft]. Übers. aus dem Polnischen von Marta Brudny, Christiane Schultheiss, Boz˙ena Meske. Warszawa: Wydawnictwo Warto 2017, S. 195. Maciej Ostrowski erinnert daran, dass die Tugend der Gastfreundlichkeit ungeachtet der sozialen und politischen Umstände auch heute an Aktualität nicht verloren hat. Obschon reiche Gesellschaften, in welche sich die Geflüchtete begeben, ganz offensichtlich von Egoismus und Tendenz zur Bildung geschlossener Elitegruppen gekennzeichnet sind, sollte man dennoch versuchen, die Solidarität mit Hilfesuchenden zu zeigen. Auch wenn es nicht einfach ist, so der Autor der Publikation, Geflüchtete so wie sie sind aufzunehmen und zu akzeptieren, sollte ihre Aufnahme – ungeachtet aller sozialen und finanziellen Herausforderungen – zur Manifestation der Wahrhaftigkeit des eigenen Christentums werden. Vgl. Ostrowski, Maciej: Refleksja pastoralno-teologiczna nad dokumentem Stolicy Apostolskiej »Przyje˛cie Chrystusa w uchodz´cach i przymusowo przesiedlonych« [Die theologisch-pastorale Reflexion über das Dokument der Apostolischen Hauptstadt »Christus in Flüchtlingen und Zwangsausgesiedelten empfangen«]. In: Ostrowski, Maciej / Partyka Józef (Hrsg.): Kryzys migracyjny – destrukcja czy szansa? Społeczne i pastoralne aspekty. [Die Migrationskrise – Destruktion oder Chance? Soziale und pastorale Aspekte]. Kraków: Uniwersytet Papieski Jana Pawła II w Krakowie, Sulkhan Saba Teaching University w Tbilisi, Kraków – Tbilisi 2019, S. 15–25, hier S. 21. 478 Vgl. Giemza, Grzegorz: Der Polnische Ökumenische Rat angesichts der aktuellen Migrationskrise. In: Glaeser, Zygfryd / Giemza, Grzegorz (Hrsg.): Swój i obcy w konteks´cie współczesnego kryzysu migracyjnego. Dos´wiadczenia i zadania Kos´ciołów i społeczen´stwa [Eigene und Fremde vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Migrationskrise. Erfahrungen und Aufgaben der Kirchen und Gesellschaft]. Übers. aus dem Polnischen von Marta Brudny, Christiane Schultheiss, Boz˙ena Meske. Warszawa: Wydawnictwo Warto 2017, S. 193–214, hier S. 198. 479 In diesem Zusammenhang erscheint eine sportliche Initiative erwähnenswert: Ungeachtet der kollektiv empfundenen terroristischen Bedrohung trug ausgerechnet im Jahre 2016 bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in Rio de Janeiro »erstmals nicht die Vertreterin oder der Vertreter eines nationalen Teams die olympische Fackel ins Stadium, sondern ein

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gistischen und organisatorischen Schwierigkeiten gesehen wurde, wurde in Warschau nichtsdestotrotz ein Dokument unterzeichnet, das die hoffnungsvolle Botschaft der christlichen Kirchen Polens an Geflüchtete beinhaltete. Die offizielle Stellungnahme von damals gilt als die gemeinsame Stimme jener christlichen Kirchen, welche Mitglieder des Polnischen Ökumenischen Rates [Polska Rada Ekumeniczna] und der Polnischen Bischofskonferenz [Konferencja Episkopatu Polski] sind. In den Vordergrund rücken darin Argumente, die zur menschlichen Solidarität aufrufen und an das Gewissen der Christen appellieren: »Polen ist jetzt ein wohlhabendes Land, aber man sollte die Zeiten des Mangels, in denen uns geholfen wurde, in Erinnerung behalten« schrieben die Autoren des Briefes. Sie erinnerten auch an historisch fundierte Kontexte: »Gedenket der Geschichte Polens, sowohl der Zeiten, in denen Polen Flüchtlinge waren, als auch der Zeiten, als in Polen Flüchtlinge aus religiösen Gründen aufgenommen wurden«.480 Nicht weniger ausdrucksstark ist die religiös ausgerichtete Argumentation mit einem stark appellativen Charakter: »Gedenket der christlichen Ethik, Theologie und des Gebotes der Nächstenliebe.«481 Wenn im polnischen Migrationsdiskurs religionsbezogene Kontexte und Argumentationslinien angewendet werden, dann wird auch häufig Bezug auf die Meinung prominenter Vertreter der Kirchen genommen. Die wichtigste Persönlichkeit für die katholische Kirche ist und bleibt in diesem Zusammenhang naturgemäß Papst Franziskus, der allerdings nicht nur als Oberhaupt der Kirche, so Bauman, sondern auch als eine global anerkannte ethische Instanz gilt. Auch er scheute sich nicht vor einer eindeutig kritischen Beurteilung der Migrationsprozesse: Papst Franziskus ist – meines Erachtens – eine der wenigen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die uns vor der Gefahr warnen, wie Pontius Pilatus unsere Hände in Unschuld zu waschen, wenn es um die Folgen gegenwärtiger Prüfungen und Beschwernisse geht, in denen wir alle in gewissem Maße zugleich Opfer und Täter sind.482

Abgesehen von der gerade veranschaulichten Position des Papstes, bleiben die Bewältigung der Angst und die Eindämmung negativer Affektbildung von Be-

Flüchtling, Mitglied des ersten Flüchtlingsteams, das jemals bei Olympischen Spielen angetreten ist.« Bhabha 2019, S. 8. 480 Giemza 2017, S. 208. 481 Ebd. Als besorgniserregend erscheint vor diesem Horizont an erster Stelle die sog. Verzweiflungsmigration, die Bhabha aus subjektiver Perspektive wie folgt definiert: »In meiner Sicht umfasst Verzweiflungsmigration mehrere andere Begriffe, die üblicherweise für »erzwungene Migration« verwendet werden, wie Flucht vor Verfolgung und Überlebensmigration, reicht aber darüber hinaus.« Bhabha 2019, S. 72. 482 Bauman 2016, S. 25.

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deutung,483 die aus dem Kontakt mit den Fremden resultieren. Die Berücksichtigung der schwierigen Lebenslage der Migranten kann allerdings zweideutige Emotionen nach sich ziehen: »Impulsive Angst angesichts der Fremden«, so Bauman, »die unergründliche Gefahren mit sich bringen, tritt in Wettstreit mit dem moralischen Impuls, den der Anblick menschlichen Elends auslöst.«484 Dass die Angst häufig unbegründet ist, hängt freilich auch damit zusammen, dass die Mehrheit der Fremden – allen Klischees und Vorurteilen zum Trotz – gewöhnlich friedliebende Menschen sind. Wie es in der Publikation Wir schaffen das alleine! ausgedrückt wird, bilden sie normalerweise Gemeinschaften, »die in Freiheit ein zufriedenes, glückliches Leben führen möchten, gestaltet nach ihren ganz persönlichen Vorstellungen von Glück. Sie wollen einfach in Ruhe und Frieden leben. Daran sollte kein Zweifel bestehen.«485 Von daher kann auch das Postulat von Kipping nicht verwundern, die den imaginativen Charakter der Angst vor den Fremden unterstreicht: »Wer früh lernt, dass Angst und Hass schlechte Berater sind und dass »die Anderen« einem doch eigentlich ziemlich ähnlich sind, der vergisst das womöglich nie wieder.«486 Aus diesem Grund erscheint es wichtig, die Fremdheit möglichst effizient zu ›domestizieren‹ und beim Kontakt mit den Vertretern fremder Kulturen realitätsgetreue Einschätzungen zu bevorzugen. Nicht weniger signifikant ist der im Grunde unscharfe wertbezogene Unterschied zwischen dem Eigenen und Fremden, der von Klingl wie folgt dargestellt wird: Selbstverständlich gibt es Probleme, wenn Menschen unterschiedlicher Einstellung und verschiedener Erfahrungen aneinandergeraten. Das allerdings trifft auf alle Menschen zu und nicht nur auf Fremde. Den meisten Ärger hat man im Leben mit einfältigen, starrsinnigen, unprofessionellen oder unerzogenen Leuten. Ob die aus derselben Gasse oder von einem anderen Kontinent stammen, ist nicht von Relevanz.487

Eine solche Annahme lässt sich darüber hinaus auf religiöse und konfessionelle Verhältnisse übertragen. Die Wahrnehmung und Interpretation der sog. Flüchtlingskrise lässt sich sogar, wie in der Publikation Migracje w Pis´mie S´wie˛tym na wybranych przykładach [Migrationen in der Heiligen Schrift anhand ausge-

483 Den Zusammenhang zwischen der misslungenen bzw. übertriebenen Assimilation und einer auf dieser Basis entstandenen Emotionalisierung beschreibt Ghassan Hage: »Wenn eine Beziehung besteht, dann resultiert der Hass aus der Frustration über eine Überassimilation und aus dem Gefühl, nicht anerkannt zu werden. Es resultiert aus einer Erfahrung der Zurückweisung.« Hage 2015, S. 79. 484 Bauman 2016, S. 104. Dabei wird die Angst »bei der Verdrängung nicht neu erzeugt, sondern als Affektzustand nach einem vorhandenen Erinnerungsbild reproduziert.« Freud 2010, S. 12. 485 Marquart / Bagus 2017, S. 111. 486 Kipping 2016, S. 149. 487 Klingl 2015, S. 15.

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wählter Beispiele] mit der Flucht von Maria und Josef vergleichen. Die Autorinnen gehen dabei von rein topografischen und zeitbezogenen Umständen aus und behaupten, dass die Flucht von Nazareth nach Bethlehem auch vor zwei Tausend Jahren bedeutende Strapazen mit sich brachte, zumal Maria in den letzten Tagen ihrer Schwangerschaft war. Höchstwahrscheinlich verbrachte die Heilige Familie, so die Autorinnen der Publikation, drei oder vier Nächte unter freiem Himmel, unterwegs begleiteten sie zweifelsohne Angst und Unsicherheit. Als sie endlich in Bethlehem ankamen – hier wird zugleich eine eindeutige Parallele zur heutigen Situation der Migranten gezogen – wollte ihnen niemand Obdach geben.488 Die oben als Beispiel angeführte biblische Geschichte kann uns zugleich zur existenziellen Reflexion veranlassen und die Frage provozieren, welchen Stellenwert die allgemeinmenschlichen Werte – und zwar unabhängig von der Zeitperspektive – haben. Als nicht weniger relevant erscheint vor diesem Horizont die Notwendigkeit der respektvollen Einstellung zu Hilfesuchenden sowie zu Randgruppen und gesellschaftlich Exkludierten: Die Gesundheit einer zivilisierten Gesellschaft läßt sich aber insbesondere daran messen, wie sie mit Randgruppen umgeht. Die sozial Schwächergestellten, einstmals eine Zielgruppe für soziale Unterstützung, begegnen nun immer stärker einen kalten Ellenbogengesellschaft mit zunehmender Desintegration. Immer weiter erkrankt unsere Gesellschaft am sozialen Bindegewebe und leidet unter Gleichgewichtsstörung zwischen sozialer Verantwortung und Egozentrismus.489

Religiöse Motivation, so Maciej Ostrowski, erscheint in Polen als ein starkes Argument für die Aufnahme der Geflüchteten und Hilfesuchenden. Einen solchen Zusammenhang erblickt auch Renata Laszko, die darauf verweist, dass heutzutage – also zur Zeit der neuen massenhaften Migration – aufs Neue die Situation zum Vorschein kommt, in der die Christen aus allen Ländern, Nationen und Sprachen die Liebe Christus zu jedem Menschen, darunter auch die Liebe zu

488 Vgl. Pniaczek, Klaudia / Sadza, Weronika / Szczotka, Monika / Woda, Ewelina: Migracje w Pis´mie S´wie˛tym na wybranych przykładach. [Migrationen in der Heiligen Schrift anhand ausgewählter Beispiele]. In: Ostrowski, Maciej / Partyka Józef (Hrsg.): Kryzys migracyjny – destrukcja czy szansa? Społeczne i pastoralne aspekty. [Die Migrationskrise – Destruktion oder Chance? Soziale und pastorale Aspekte]. Kraków: Uniwersytet Papieski Jana Pawła II w Krakowie, Sulkhan Saba Teaching University w Tbilisi, Kraków – Tbilisi 2019, S. 59–62, hier S. 60. Ergänzend weisen die Autorinnen darauf hin, dass auch der Hl. Paulus den Weg zwischen christlichen Gemeinden zu Fuß zurücklegte und dabei die Distanz von rund 20 000 km überwand. Unterwegs war er zweifelsohne vielen Gefahren ausgesetzt, als Reisender in der damaligen gefährlichen Welt war er bestimmt nicht frei von Verfolgung. Vgl. Pniaczek / Sadza / Szczotka / Woda 2019, S. 62. 489 Stockmann 1995, S. 234.

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jedem Geflüchteten verkünden müssen.490 Dies soll dann in der Überzeugung begründet sein, dass alle Menschen eine große Familie bilden und Gott alle Menschen zur Existenz berufen hat, in der sie eine große, harmonische und friedliebende Gemeinschaft bilden sollten.491 Ähnliches postulieren die Vertreter der Kirchen in Polen und versuchen ihre Gläubigen zur Wohlfahrtstätigkeit zu motivieren. Sie gehen dabei davon aus, dass bei der Unterstützung von Migranten und Hilfesuchenden nicht nur Vertreter der katholischen und evangelischen Kirche beteiligt sein sollten. Wenn man sich die Aktivität der kirchlichen Organisationen näher anschaut, kommt man freilich auch zur Überzeugung, dass selbst kleinere Kirchengemeinden, wie z. B. die Baptistenkirchen, am Hilfswerk für Migranten beteiligt sind und deren Mitglieder sich stark für die Unterstützung der christlichen Geflüchteten aus Syrien einsetzten. Auch in der polnischen Orthodoxen Kirche, in der die Unterstützung der Geflüchteten stark auf Migration aus der Ukraine fokussiert ist, spielt die Seelsorge für verzweifelte Geflüchtete aus den Kriegsgebieten von Anfang an eine besondere Rolle.492 Was hingegen die organisatorischen Aspekte betrifft, leistet die polnische Filiale von Caritas eine weitverzweigte Hilfe für Migranten, die die Hilfesuchenden im Rahmen des Programms »Nowy Dom Polska« [Neues Haus Polen] unterstützt. Geleistet wird vor allem soziale und psychologische Hilfe, geboten werden dabei interkulturelle Beratung sowie Förderung bei der Integration mit der polnischen Mehrheitsgesellschaft. Das Programm umfasst zahlreiche Initiativen, die in den Jahren 2016–2017 an 5 000 Personen gerichtet waren. Angesichts der Tatsache, dass bereits im ersten Quartal 2016 rund 2600 Ausländer internationalen Schutz in Polen beantragten, darunter 1200 Kinder, ist die Tätigkeit solcher Organisationen nicht zu überschätzen.493 Zu den Empfängern gehören auch jene Hilfesuchenden, die keinen offiziellen Aufenthaltsstatus er490 Vgl. Laszko 2019, S. 78. Geboten wird dabei eine möglichst große Offenheit und der Verzicht auf eine stereotype und exkludierende Denkweise. Dies wird von Taleb unter Anwendung der Metapher von weißen und schwarzen Schwänen veranschaulicht: »Erfahrungsgemäß erwarten wir, daß nur weiße Schwäne auftauchen. Mit anderen Worten: Wir rechnen mit dem Gewohnten und erliegen nur zu leicht den Vorstellungen von einer rational konstruierten, verläßlich geordneten und entsprechend prognostizierbaren Welt. Bankiers, Versicherungsfirmen, Politiker und viele Wissenschaftler bestätigen uns in diesem Irrtum.« Taleb 2008, S. 8. 491 Vgl. Ostrowski 2019, S. 20. 492 Vgl. Giemza 2017, S. 209. 493 Vgl. Katarzyn´ska, Agnieszka / Nieduziak, Angelika / Radwan´ska, Katarzyna / Sotwin, Sylwia: Działania Caritas Polska w celu pomocy uchodz´com i migrantom [Die Tätigkeit von Caritas Polska im Rahmen der Hilfe für Geflüchtete und Migranten]. In: Ostrowski, Maciej / Partyka Józef (Hrsg.): Kryzys migracyjny – destrukcja czy szansa? Społeczne i pastoralne aspekty [Die Migrationskrise – Destruktion oder Chance? Soziale und pastorale Aspekte]. Kraków: Uniwersytet Papieski Jana Pawła II w Krakowie, Sulkhan Saba Teaching University w Tbilisi, Kraków – Tbilisi 2019, S. 119–130, hier S. 120.

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hielten und gewissermaßen im ›Verborgenen‹ bleiben. Was besorgniserregend sein kann, ist der Umstand, dass nach den Schätzungen der Sozialforscherin Vogel nicht weniger als 35 Prozent der als illegal eingestuften Bevölkerung Europas Frauen sind.494 Abgesehen von den oben genannten Organisationen initiierte auch Caritas Polska das auf Integration gerichtete und familienfördernde Programm »Rodzina Rodzinie« [Familie für Familie]. Die Aktion versteht sich als Antwort auf den Appell von Papst Franziskus, der die Gläubigen dazu aufgerufen hat, alle Hilfesuchenden in Not um jeden Preis zu unterstützen. Im Rahmen des Programms wird vor allem materielle Hilfe für jene Familien geleistet, die infolge von militanten Konflikten in Syrien ihr Hab und Gut verloren haben. Das Programm wurde am 4. Oktober 2016 initiiert, schnell stellte sich heraus, dass die polnischen Freiwilligen und Aktivisten den Bedürftigen gegenüber nicht gleichgültig blieben. Bereits nach einem Monat erfasste die Hilfe schon 1100 Familien, Ende 2017 erhielten zusätzliche 9000 Familien systematische Hilfeleistungen. Bis Dezember 2017 unterstützte Caritas Polska Familien aus Syrien mit Geldüberweisungen in Höhe von 30 Mio. Zloty (rund 6,5 Mio. Euro).495

3.2.3 Systembezogene Unterstützung und regelmäßige Hilfeleistung In den Aussagen der polnischen Publizisten wird häufig darauf aufmerksam gemacht, dass zur gezielten Form der Hilfe für Geflüchtete die Vorbereitung eines Systems von Kursen und Schulungen gehört, dank derer Integration und Assimilation bedeutend beschleunigt werden. Solche Initiativen setzen sich hauptsätzlich zum Ziel, entsprechende sprachliche und kulturelle Kompetenzen unter den Zugewanderten zu entwickeln sowie ihre beruflichen Qualifikationen zu verbessern. Ein solches Angebot sollte letztendlich keine Bevorzugung, sondern ein Chancenausgleich für die Migranten sein, die demnächst in jene Wirtschaftszweige transferiert werden, wo es momentan am meisten an Arbeitskräften mangelt.496 494 Vgl. Bebenburg / Thieme 2012, S. 178. 495 Vgl. Katarzyn´ska / Nieduziak / Radwan´ska / Sotwin 2019, S. 125. 496 Vgl. Chrus´ciel / Gajewski / Górka-Winter / Gruszko, S. 96. Beunruhigend erscheint dabei die Tatsache, dass einige EU-Länder davor nicht scheuen, den Aufenthaltsrecht an reiche Bewohner außerhalb Europas einfach zu verkaufen. Besonders gern machten davon vor allem die vermögenden Vertreter der sich rapide entwickelnden Regionen der Welt Gebrauch. Eine solche Vorgehensweise wird in der Publikation von Betts und Colier wie folgt dargestellt: »Portugal zum Beispiel erließ eine Verordnung, nach der jeder, der 500 000 Euro in portugiesischen Besitz investierte, für sich und seine Familie ein Aufenthaltsrecht im Schengen-Raum bekam. Offenbar tätigten reiche Chinesen diese Investition, damit ihre Kinder an prestigeträchtigen Orten wie Paris studieren konnten. Die Regierung Maltas verkaufte

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Von primärer Bedeutung für die gelungene Integration der Zugewanderten erscheint nach wie vor die Verbesserung ihrer Sprachkenntnisse. Da die von polnischen Universitäten diesbezüglich erarbeiteten Systemlösungen häufig nicht zum Einsatz kamen oder ihre Anwendung nicht rechtzeitig umgesetzt werden konnte, sind die Migranten nicht selten auf die Hilfe seitens sozialkultureller Verbände bzw. Nichtregierungsorganisationen (NGOs) angewiesen. Als Beispiel kann die Organisation »Dla Ziemi« [Für die Erde] herangezogen werden; sie organisiert vor allem Unterstützung für Lehrkräfte, die in ihrem Alltag mit Geflüchteten arbeiten. Zwar bietet die Organisation keine systematische und dauerhafte Hilfe, dennoch entspricht ihre Tätigkeit den Erwartungen der Lehrer, die in interkulturellen Schulen solche Kompetenzen brauchen.497 Darüber hinaus wurde in Polen in den letzten Jahren eine Initiative in Angriff genommen, die Kindergartenerzieher und Grundschullehrer auf die Probleme der Geflüchteten und Migranten zu sensibilisieren. Vorbereitet wurde sogar, worauf Emilia S´miechowska-Petrovskij verweist, ein separates Nachbildungsstudium, um den Einsatz hochqualifizierter Lehrkräfte nachhaltig zu ermöglichen. Die hohe Bewertung der Lehrprogramme, Unterrichtsmethodik und Organisation der weiterbildenden Studien sowie die Offenheit der Lehrer gegenüber Geflüchteten, Ausländern und nationalen Minderheiten führen dazu, dass die künftigen Lehrkräfte zur Verbesserung des Bildungsangebots motiviert werden, sodass das Wissen der Absolventen folglich nicht nur einen deklarativen, sondern ebenso einen applikativen Charakter bekommt.498 Abgesehen von der Vorbereitung der Lehrkräfte im Rahmen der soeben genannten Kurse für Integrationsunterricht muss man dennoch auf die Notwendigkeit der Verbesserung der allgemeinen Bildung der Gesellschaft verweisen, denn je

das Recht, sich im Schengen-Raum niederzulassen, zu dem etwas höheren Preis von 650 000 Euro. Aber beide Länder sind kürzlich von Ungarn unterboten worden, das für 360 000 Euro ein permanentes Aufenthaltsrecht im Schengen-Raum anbietet.« Betts / Collier 2017, S. 97. 497 Vgl. Kawa, Magdalena: Dziecko uchodz´cze w polskiej szkole [Das Flüchtlingskind in der polnischen Schule]. In: Pasamonik, Barbara / Markowska-Manista, Urszula (Hrsg.): Kryzys migracyjny. Perspektywa pedagogiczno-psychologiczna [Die Migrationskrise aus der pädagogisch-psychologischen Perspektive] Bd. 2. Warszawa: Wydawnictwo Akademii Pedagogiki Specjalnej 2017, S. 134–153, hier S. 150. 498 Vgl. S´miechowska-Petrovskij, Emilia: Program kształcenia nauczycieli w zakresie wspierania uczniów z trudnos´ciami adaptacyjnymi (uchodz´ców, cudzoziemców, reemigrantów). Załoz˙enia i ewaluacja [Bildungsprogramm für Lehrer im Rahmen der Förderung von Schülern mir Adaptationsschwierigkeiten (Geflüchtete, Ausländer, Reimmigranten). Richtlinien und Bewertung]. In: Pasamonik, Barbara / Markowska-Manista, Urszula (Hrsg.): Kryzys migracyjny. Perspektywa pedagogiczno-psychologiczna [Die Migrationskrise aus der pädagogisch-psychologischen Perspektive] Bd. 2. Warszawa: Wydawnictwo Akademii Pedagogiki Specjalnej 2017, S. 15–33, hier S. 30.

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höher Menschen gebildet sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie anderen Religionsgemeinschaften mit Toleranz begegnen, denn mit dem Bildungsniveau steigt, so ist anzunehmen, die Reflexivität und die Bereitschaft zur Selbstkritik und damit auch die Offenheit gegenüber kulturell differenten Einstellungen, Erfahrungen und Praktiken.499

Notwendig für die Einführung des Integrationsunterrichts – und dies postuliert Magdalena Kawa – wäre ein interdisziplinäres Integrationsprogramm, das allerdings nicht nur an Flüchtlingskinder, sondern an ganze Klassen gerichtet wäre. Die Einführung eines Weiterbildungsangebots, im Rahmen dessen die polnischen Kinder und die Kinder mit Migrationshintergrund bessere Chancen hätten, sich gegenseitig besser kennen und respektieren zu lernen, würde freilich bewirken, dass die Angst vor den Anderen eingedämmt würde und folglich eine Klassengemeinschaft entstünde, die dann freilich auch imstande wäre, unabhängig von nationalen Unterschieden und Zuordnungen zusammenzuhalten.500 In manchen Schulen und Einrichtungen, wie z. B. dem Os´rodek dla uchodz´ców przy ul. Ksie˛z˙nej Anny w Warszawie [Flüchtlingszentrum in der Herzogin-Anna Straße in Warschau] arbeiten schon jetzt die sog. Kulturvermittler [pos´rednicy kulturowi]. Sie bieten Sprechstunden im Gemeinschaftsraum der Schule, sie verfügen über sehr gute Kompetenzen in der Sprache der Flüchtlingskinder und kennen die Wirklichkeit und den Alltag ihres sozial-kulturellen Milieus.501 Die Schulbildung in Polen, so zumindest behaupten die Autorinnen des Beitrags Edukacja je˛zykowa dzieci migrantów [Die Sprachbildung der Migrantenkinder], nahm im Laufe der Zeit einen vielsprachigen und multikulturellen Charakter an. Da viele der Geflüchteten schon jetzt als künftige polnische Staatsbürger behandelt werden, gewinnt das Beherrschen der polnischen Sprache verständlicherweise immer mehr an Bedeutung und spielt eine erstrangige Rolle im Prozess der weiteren Integration.502 Angesichts des Umstands, dass Polen heutzutage zur Gruppe der Aufnahme- und Zielländer für Migranten gehört und die Schüler in polnischen Bildungsanstalten in kultureller Hinsicht immer ausdifferenzierter sein werden, darf man die sprachlichen Bedürfnisse der Migranten nicht unterschätzen, u. a. angesichts des Umstands, dass unter den Neuzugewanderten gerade die Kinder und Schüler eine beachtenswerte Gruppe bilden. Die Sozialisierung der nichtpolnischen Schüler, die sich freilich auch aus der allgemeinen Schulpflicht ergibt, sollte in Umständen erfolgen, so die Auto499 Pollack 2013, S. 91. Nicht weniger relevant ist des Weiteren die richtige Anwendung der Medien, wodurch die intern verlaufende Abgrenzung von den Aufnahmeländern sichtbar geschwächt wird. Selbst das Internet verbessert nicht nur interkulturelle Kompetenzen, sondern »liefert einen zusätzlichen Beitrag zur Kohäsion und Aufrechterhaltung der kulturellen Gruppe sowie zur Integration ihrer Mitglieder.« Hugger 2009, S. 56. 500 Vgl. Kawa 2017, S. 151. 501 Vgl. Zalewska 2017, S. 112. 502 Vgl. Krasuska-Betiuk / Kotarba 2017, S. 71.

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rinnen der gerade erwähnten Publikation, in denen die allgemeine Entwicklung der Sprachkompetenzen gefördert und stimuliert wird. Eine richtige Einleitung der Akkulturationsprozesse kann dabei ein gut vorbereiteter Lehrer sichern, der gleichzeitig die Rolle des Kulturvermittlers übernimmt und die polnische Sprache auf überzeugende und korrekte Weise anwendet.503 Die geschickt organisierte Bildung für Geflüchtete ist naturgemäß nicht das einzige Postulat der polnischen Publizisten und Gelehrten, die auf die Notwendigkeit der erfolgreichen Integration verweisen. Jerzy Szmagalski vertritt den Standpunkt, dass die rechtzeitige Erkennung der Traumawirkungen, die richtige Diagnose von posttraumatischen Belastungsstörungen, die Verbindung der sozialen Hilfe mit individuellen therapeutischen Interventionen, Hilfe bei der Überwindung von Scham- und Schuldgefühlen, Erkennung kulturbezogener Barrieren zwischen den Geflüchteten und der Mehrheitsgesellschaft sowie Durchführung der Therapie für Familien dazu bedeutend beitragen können, dass die gemeinsame erfolgreiche Koexistenz in grundverschiedenen Kulturen auf einmal möglich sein wird.504 Es unterliegt keinem Zweifel, dass ein bedeutender Teil der nach Polen Geflüchteten infolge von Kriegshandlungen oder angesichts der erheblichen Fluchtkosten ihr ganzes Hab und Gut verloren hat. Außerdem kann man in Anlehnung an die durchgeführten Umfragen schlussfolgern, dass der frühere materielle Status der Familie einen unmittelbaren Einfluss auf die Erwartungen

503 Vgl. ebd., S. 88. Auf die möglichen Schwierigkeiten bei der sprachlichen Integration macht Treibel aufmerksam: »Während Misserfolge und Schwierigkeiten das sozial Erwartete zu sein scheinen, werden vollzogene Integrationsprozesse, etwa in sprachlicher Hinsicht, häufig nicht für »normal« gehalten, sondern als etwas Besonderes klassifiziert – als Ausnahme.« Treibel 2015, S. 109. 504 Vgl. Szmagalski, Jerzy: Praca socjalna z uchodz´cami. Wybrane teorie i załoz˙enia praktyki [Sozialarbeit mit Geflüchteten. Ausgewählte Theorien und Praxis]. In: Pasamonik, Barbara / Markowska-Manista, Urszula (Hrsg.): Kryzys migracyjny. Perspektywa społeczno-kulturowa [Die Migrationskrise aus der sozial-kulturellen Perspektive]. Bd. 1. Warszawa: Wydawnictwo Akademii Pedagogiki Specjalnej 2017, S. 92–113, hier S. 95. Auf die verhängnisvolle Wirkung der Traumatisierung, insbesondere unter den Minderjährigen, verweist auch Kipping: »Es gibt unter den Flüchtenden auch viele unbegleitete Minderjährige: Jugendliche, die womöglich für immer von ihren Eltern getrennt sind. Sie brauchen ein neues Zuhause und professionelle Hilfe, um ihre bisherigen Verluste im Leben zu verarbeiten.« Kipping 2016, S. 152. Collier hingegen macht auf die allgemeine miserable Geistesverfassung der Geflüchteten aufmerksam, die allerdings nicht unbedingt aus der Entscheidung zur Flucht selbst resultieren muss: »So zeigen etwa mehrere Studien, dass Migranten in der Regel weniger glücklich sind als die einheimische Bevölkerung. Aber daraus zu schließen, dass die Migration sie unglücklicher gemacht hat, als sie andernfalls gewesen wären, erfordert einen ungesicherten Gedankensprung: Es gibt keinen Grund für die Annahme, dass sie vor der Migration ebenso glücklich waren wie die Bevölkerung des Aufnahmelandes.« Collier 2015, S. 184.

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in der künftigen europäischen Notunterkunft hat.505 Von diesem Standpunkt gesehen, muss man auch berücksichtigen, dass je schwieriger die Lebenserfahrungen und private Tragödien der Geflüchteten waren, umso bescheidener später ihre Erwartungen gegenüber den sozialen Leistungen und Einrichtungen in den Aufnahmeländern sind. In den Vordergrund rückt dann hingegen vielmehr das Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit.506 Die Migration – und darauf wurde schon mehrmals aufmerksam gemacht – kann natürlich auch eindeutig positive Folgen haben. Ihr Auftreten lässt sich vor allem in jenen Ländern beobachten, in denen das Wirtschaftswachstum auf einem liberalen Modell des Staates und der Wirtschaft aufgebaut ist. Vor diesem Horizont ist die Annahme legitim, dass zur Optimierung der Migrationstrends eine Deregulierung und Anpassung an natürliche sozial-wirtschaftliche Prozesse vonnöten ist und nicht die unflexible Durchsetzung von oben aufgezwungener bürokratischer Zwangsmaßnahmen.507 Außerdem muss man Informations- und Medienkampagnen in die Wege leiten, die das stereotype Bild der Migranten weitgehend relativieren bzw. vollständig verändern, um Migrationsprobleme geschickt zu lösen: Für den durchschnittlichen Medienkonsumenten mag es so aussehen, als würde Europa von Flüchtlingen und Armutsmigranten überrannt. Die Statistik lehrt anderes. Von den mehr als 56 Millionen Menschen, die auf diesem Erdball aus Gründen von Krieg, Vertreibung, Diktatur, Armut und Klimawandel umherirren, bleiben 87 Prozent im eigenen Land oder werden von Entwicklungsländern aufgenommen.508 505 Das traurige Schicksal der Migranten wird auch im Buch Schleppen, Schleusen, Helfen gezeigt: »Glück hat, wer in ein Lager gepfercht wird, in einem kleinen Zimmer mit Unbekannten, mit Familien aus anderen Kontinenten und Kulturen haust. Hier schlafen Männer und Frauen, Kleinkinder und Kranke. Die Türen bleiben immer offen. An Nachtruhe ist kaum zu denken.« Rabinovici, Doron: Vorwort. In: Anderl, Gabriele / Usaty, Simon (Hrsg.): Schleppen, Schleusen, Helfen. Flucht zwischen Rettung und Ausbeutung. Wien: mandelbaum verlag 2016, S. 10–11, hier S. 10. 506 Vgl. Zalewska 2017, S. 105. Von daher wäre es ratsam, sich Mühe zu geben, weitgehende Offenheit und Toleranz zu fördern, auch wenn es im Kontakt mit der fremden Kultur wegen der Ich-zentrierten Positionen und stereotypen Wahrnehmung der Fremdheit zweifelsohne nicht einfach ist: »Wir schenken dem winzigsten Strohhalm im Wind Glauben, wenn er unsere Werte bestätigt, während wir Beweise, die für das Gegenteil sprechen, mit Verachtung und Geringschätzung strafen. Was die Migration betrifft, so sind die ethischen Vorlieben polarisiert, und jedes Lager neigt dazu, nur jene Argumente und Fakten anzuerkennen, die sein Vorurteil untermauern.« Collier 2015, S. 19. 507 Vgl. Chrus´ciel / Gajewski / Górka-Winter / Gruszko, S. 95. 508 Klingl 2015, S. 15. Selbst eine allgemeine Analyse der obigen Argumentation genügt zur Annahme, dass ausgerechnet die Medien – insbesondere das Internet – eine wichtige Rolle bei der Wahrnehmungsgestaltung bezüglich der sog. Flüchtlingskrise spielen: »Vor diesem Hintergrund übernimmt das Internet eine immer wichtigere Funktion für die gesellschaftliche Teilhabe von Migranten und bietet ihnen gleichzeitig einen neuartigen Raum für soziale Interaktion, Informationsaustausch, Identitätsprozesse und politisches Engagement.« Kissau / Hunger 2009, S. 7. Nicht weniger relevant und integrationsfördernd ist der

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Wichtig ist abgesehen davon ein im staatlichen System einprogrammierter Mechanismus, der zur Unterbindung von Gewalttaten sowohl auf der symbolischen, als auch auf der physischen Ebene führen wird. Baberowski erkennt nicht ohne Recht, dass – auch wenn in jeder Kultur der Welt Gewaltverbote ausgesprochen und kodifiziert werden –, sie dennoch überall übertreten werden, weil die meisten den Verlockungen nicht widerstehen können, welche die Gewalt als Handlungsoption mit sich bringt.509 Die Fragen nach den Ursachen der Gewalt kommen auch in der Publikation Wir schaffen das alleine! vor. Die Autoren gehen dabei hauptsächlich von starken externen Impulsen aus. Zum Beispiel sind das autoritäre Machtstrukturen, die ihren Staat angeblich beschützen wollen, oder (quasi auf der ›Mikroebene‹) z. B. Eltern, die ihre Kinder bzw. Familien in Schutz nehmen und folglich zu Taten bereit sind, die sie sonst nie begehen würden. Bei der Betrachtung der Gewaltprozesse erscheint es doch als evident, dass in Konfliktsituationen und kriegsähnlichen Umständen die Regeln der Zivilisation ausgesetzt werden und Zerstörung bzw. Tod urplötzlich zu einem gesellschaftlich akzeptierten Modell und Ziel werden.510 Von daher kann das Postulat nicht wundern: »Jeder Versuch, alles Menschenmögliche sollte unternommen werden, dass Menschen solch grausame Erfahrungen erspart bleiben.«511 Ungeachtet dessen sollte man sich keine Illusionen machen und sich mehr oder weniger damit abfinden, so Baberowski, dass das Böse nicht mehr wegzudenken ist, da es seit jeher ein Bestandteil unserer Existenz ist und bleiben wird. »Wäre die Welt gewaltlos«, so der Autor der Publikation, »benötigte man keinen staatlichen Zwangsapparat als Vorkehrung gegenseitigen Schutzes. Man bekommt die Gewalt nicht aus der Welt. Wer an den endgültigen Sieg der Gewaltlosigkeit glaubt, gibt sich unerfüllten Träumen hin; die Sehnsucht nach dem ewigen Frieden ist nichts als Schwärmerei.«512

509 510 511 512

Umstand, »dass Internetnutzer sich nicht nur aufgrund gemeinsamer Interessen und Aktivitäten, sondern auch aufgrund gleicher ethnischer Herkunft als Gemeinschaft betrachten.« Ebd., S. 9. Vgl. Baberowski 2012, S. 41. Vgl. ebd. Marquart / Bagus 2017, S. 113. Baberowski 2012, S. 40. Diese Worte erscheinen heute angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine als besonders aktuell und relevant.

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