Von Tönen und Texten: Mozart-Resonanzen in Literatur und Wissenschaften 9783110492989, 9783110491364

You can certainly love Mozart, but can you truly "understand" or describe him? Giants of literary and cultural

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Von Tönen und Texten: Mozart-Resonanzen in Literatur und Wissenschaften
 9783110492989, 9783110491364

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Mozart – Das Ereignis der Kreativität
Konturen einer Mozart-Biographik
Mozart als Leser
Ernste Scherze. Über eine Denkfigur in Goethes Mozart-Rezeption
Die Entdeckung eines romantischen Mozart – Perspektiven auf (und von) K.F. Schinkel, E.T.A. Hoffmann und C.D. Friedrich
Anmutige Lebenskunst – vor dunklem Hintergrund
Mozart als Herausforderung für Bertolt Brecht
„…aus Mozart erklärt sich mir alles…“ – Mozart-Resonanzen im Werk von Thomas Bernhard
Die Intellektuellen entdecken Mozart
Mozart – evangelisch?
Smart Phono – Mozart und andere Effekte
Mozart in der Populärkultur: Von Amadeus bis heute
Die Frage nach dem Eigentlichen
Register

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Von Tönen und Texten

Studia Augustana

Augsburger Forschungen zur europäischen Kulturgeschichte

Herausgegeben von Hanno Ehrlicher, Mathias Mayer und Klaus Wolf

Band 19

Von Tönen und Texten Mozart-Resonanzen in Literatur und Wissenschaften

Herausgegeben von Mathias Mayer und Katja Schneider

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Mozart-Gesellschaft und der Universität Augsburg.

ISBN 978-3-11-049136-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-049298-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-049138-8 ISSN 0938-9652 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Mathias Mayer Mozart – Das Ereignis der Kreativität. Das Echo der Töne in Texten: Eine Einleitung 1 Ulrich Konrad Konturen einer Mozart-Biographik. Stationen der Lebensbeschreibung von 1791 bis heute 15 Laurenz Lütteken Mozart als Leser

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Thorsten Valk Ernste Scherze. Über eine Denkfigur in Goethes Mozart-Rezeption Stefan Schmid Die Entdeckung eines romantischen Mozart – Perspektiven auf (und von) K.F. Schinkel, E.T.A. Hoffmann und C.D. Friedrich 73 Helmut Koopmann Anmutige Lebenskunst – vor dunklem Hintergrund. Zu Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag 91 Jürgen Hillesheim Mozart als Herausforderung für Bertolt Brecht

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Susanna Löffler „…aus Mozart erklärt sich mir alles…“ – Mozart-Resonanzen im Werk von Thomas Bernhard 141 Marion Schmaus Die Intellektuellen entdecken Mozart. Zwischen Romantisierung und entwicklungsgeschichtlichem Denken 157 Bernd Oberdorfer Mozart – evangelisch? Der ‚geistliche Mozart‘ und seine protestantische Rezeption 175

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Inhaltsverzeichnis

Bernhard Hofmann Smart Phono – Mozart und andere Effekte

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Franz Körndle Mozart in der Populärkultur: Von Amadeus bis heute Jenny Erpenbeck Die Frage nach dem Eigentlichen Register

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Mathias Mayer

Mozart – Das Ereignis der Kreativität Das Echo der Töne in Texten: Eine Einleitung Von Genies – heute würde man vielleicht von Stars sprechen – geht eine eigentümliche Anziehungskraft aus, die dazu führt, dass wir irgendwie in ihre Nähe kommen möchten. Sie wirken wie ein Sog, faszinieren, fesseln und beschäftigen uns. Wo es mit der unmittelbaren Nähe schwierig ist, tritt heutzutage die Presse als Vermittler ein und bietet mit Fotos, Klatsch und Reportage den Anschein vermeintlicher Annäherung, denn es ist für viele Teil der Attraktivität, von dieser Kultfigur Bilder oder Geschichten zu erfahren. Der Wille zum Wissen um diese Figur gehört also ganz erheblich zu diesem Interesse, d. h. das was heute vielfach die Medien übernehmen, war früher eine Sache des weniger aufgeregten Wissens oder Wissenwollens. Dabei ist auffällig, dass dieses Wissenwollen eigentlich nie gestillt werden kann. Das zeigt schon ein kleines Beispiel: Sieben Orte stehen in Konkurrenz, als Geburtsort Homers zu gelten. Dieser Sachverhalt ist höchst instruktiv: Die Wissenslücke, dass wir eben nicht genau sagen können, ob der Begründer der abendländischen Literatur da oder dort oder hier geboren ist, setzt eine Flut von Spekulationen in Gang, d. h. je weniger wir wissen, desto mehr vermuten und spekulieren wir, weit hinaus über ein vernünftiges Maß. Ähnlich liegt der Fall bei Shakespeare – da haben wir nur ein biographisches Grundgerüst, das sich nicht wirklich ausfüllen oder gar belegen lässt, bis hin zur offenen Frage, warum er in seinem Testament der eigenen Frau nur das zweitbeste Bett hinterlassen hat? Anders liegt der Fall bei Goethe oder auch bei Richard Wagner – eine Fülle biographischen Wissens, durch Zeugnisse aus erster Hand ergänzt oder bestätigt, stillt ebenfalls nicht den Hunger der Wissenwollenden. Nach wie vor blüht der Zweig biographischer Recherchen und Spekulationen, auch wenn nicht wenige davon wieder verdorren. Im Fall Mozarts ist es wieder anders. In Augsburg freilich ist man sich der Tatsache schmerzlich bewusst, dass er eben doch in Salzburg geboren wurde, da scheint keine homerische Spekulation möglich. Auch sonst ist es um unser Wissen so schlecht nicht bestellt, wir können über die Familienbeziehungen und die meisten Reisen, über Arbeitsverhältnisse, vielleicht nicht alle Liebesverhältnisse recht genaue Auskunft geben, wenngleich sich in merkwürdiger Intensität das Unwissen schattenhaft vergrößert, wo es um die letzten Jahre, gar Krankheit und Tod Mozarts geht, bis hin zum unbekannten Grab. Aber es sind weniger die Fülle oder die Lücken des Wissens, die hier zu weiterem Suchen inspirieren, sondern vor allem die Rätselhaftigkeit und Widersprüchlichkeit, die kaum zu  



DOI 10.1515/9783110492989-001

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Mathias Mayer

vereinheitlichende Vielfalt der Perspektiven, die den einen Namen Mozart zu einer nach wie vor gigantischen Herausforderung machen. Mozart, das ist immer ein Schauplatz höchst unterschiedlicher, widersprüchlicher Lesarten. Die Begegnung mit seiner Musik, aber auch mit den Zeugnissen seiner Persönlichkeit, aus erster oder aus zweiter Hand, setzt wieder und wieder den Versuch und den Elan frei, das ganz Besondere, Unwiederholbare dieses Phänomens lesen, d. h. verstehen zu wollen, indem es eingeordnet und dadurch irgendwie begrenzt wird. Solche Lesarten aber arbeiten sich stets an Widersprüchen ab, und nicht zuletzt darin liegt seit 250 Jahren ein Teil dieser Faszination. So kann man Mozart als ein europäisches Phänomen bezeichnen, weit mehr als dies für England-affine Komponisten wie Händel oder Haydn gilt. Die frühen Reisen nach Italien erschließen ihm einen musikalischen Horizont, der in den Absetzbewegungen noch relevant bleibt. Die Begegnungen mit der Mannheimer Schule, die Echos, die der Tod der Mutter in den in Paris komponierten Werken findet, der Ausflug nach England – sie treten neben das spanische Kolorit von Mantel und Degen im Don Giovanni oder die vorrevolutionäre Stimmung in Frankreich von Beaumarchais’ Figaro. Das lateinische Mittelalter der Kirchenmusik1 steht im Kontrast zur orientalischen Welt der Entführung und den ägyptisch übermalten Ritualen der Zauberflöte. Aber diese Weltläufigkeit tritt wiederum neben die regionale, mitunter durch den Dialekt bezeugte Bodenständigkeit, sei es die Thomas Bernhard vorwegnehmende Hassliebe zu Salzburg2, Glanz und Elend der Nähe und Ferne zum Wiener Hof oder auch die familiäre Bedeutung Augsburgs. In jedem Fall ist Mozart ein Phänomen der Beweglichkeit, der Lebendigkeit zwischen hier und da, von regionalem Standpunkt und europäischer Perspektive, durch die er sich von der leichter instrumentalisierbaren Deutschheit eines Bach oder Beethoven absetzt. Es ist jedoch kaum möglich, seiner Musik ein ideologisches Programm zu unterlegen, die Spannungen zwischen den Menschenbildern seiner Opern ergeben keine einheitliche Linie. Immer wieder hat man daher auf die ProteusNatur Mozarts verwiesen, auf jene mythologische Gestalt eines Flussgottes, der die Meerkälber gehütet hat. In seiner 1791 erschienenen Götterlehre hat der gleichaltrige Karl Philipp Moritz (1756–1793) Proteus als denjenigen beschrieben, der „gleich der geheimnisvollen Natur, die unter tausend abwechselnden Gestalten den forschenden Blicken der Sterblichen entschlüpft, sich in Feuer und Wasser, Tier und Pflanze verwandeln konnte und nur denen, die unter jeder Verwandlung  

1 Vgl. dazu den Beitrag von Bernd Oberdorfer im vorliegenden Band „Mozart – evangelisch? Der ‚geistliche Mozart‘ und seine protestantische Rezeption“. 2 Zu Thomas Bernhard vgl. den Beitrag von Susanna Löffler, im vorliegenden Band„‚… aus Mozart erklärt sich mir alles…‘ Mozart-Resonanzen im Werk von Thomas Bernhard“.

Mozart – Das Ereignis der Kreativität

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ihn mit starken Armen festhielten, in seiner eigenen Gestalt erschien und ihnen das Wahre entdeckte“.3 Aber es ist im Fall Mozarts ein Spiel mit der Maske, das ebenso naiv wie sentimentalisch scheint, ebenso natürlich wie reflektiert. Es gibt keinen vermittelnden Erzähler, keine auktoriale Perspektive und auch kein lyrisches Ich, auf das man sich verlassen könnte, eher ist eine Dramaturgie am Werk, die höchst unterschiedliche Stimmen gleichberechtigt wirken lässt. Diese höchst lebendige Vielgestaltigkeit, die Virtuosität des Maskenspiels aus einem Fundus der immer wieder anders bezeugten Authentizität heraus, hat die Mozartdeutung entscheidend geprägt. Eine ganz andere Spannung, die gleichsam elektrisch unentladen bleibt und unsere Sympathie jedenfalls begleitet, vielleicht gelegentlich irritieren kann, ist diejenige der Mentalität – eine Spannung zwischen Ernst und Spott. Wenn es so leicht wäre, dann könnte man auf die eine Seite Mozarts Auseinandersetzung mit dem Tod buchen, die ihn in der eigenen Familie immer wieder herausgefordert hat. Ob der berühmte Brief an den Vater vom 4. April 1787 nun als Schlüsseldokument, als Manipulation oder gar als Fälschung zu bezeichnen sei, ist unter den Mozart-Biographen eine heiß diskutierte Frage.4 Hier fallen jedenfalls berühmt gewordene Formulierungen, die Mozarts Ernsthaftigkeit gegenüber den letzten Dingen beglaubigen könnten, sofern man sich eben auf dieses Dokument verlassen mag: Nun höre aber daß sie wirklich krank seyen! Wie sehnlich ich einer Tröstenden Nachricht von ihnen selbst entgegen sehe, brauche ich ihnen doch wohl nicht zu sagen; und ich hoffe es auch gewis – obwohlen ich es mir zur gewohnheit gemacht habe mir immer in allen Dingen das schlimmste vorzustellen – da der Tod [genau zu nemmen] der wahre Endzweck unsers leben ist, so habe ich mich seit ein Paar Jahren mit diesem wahren, besten freunde des Menschen so bekannt gemacht, daß sein Bild nicht allein nichts schreckendes mehr für mich hat, sondern recht viel beruhigendes und tröstendes! und ich danke meinem gott, daß er mir das glück gegönnt hat mir die gelegenheit [sie verstehen mich] zu verschaffen, ihn als den schlüssel zu unserer wahren Glückseeligkeit kennen zu lernen. – ich lege mich nie zu bette ohne zu bedenken, daß ich vielleicht [so Jung als ich bin] den andern Tag nicht mehr seyn werde – und es wird doch kein Mensch von allen die mich kennen sagn können daß ich im Umgange mürrisch oder traurig wäre – und für diese glückseeligkeit danke ich alle Tage meinem Schöpfer und wünsche sie vom Herzen Jedem meiner Mitmenschen.5

Aber selbst wenn es auffällig ist, dass gerade für dieses so persönlich wirkende Zeugnis das Autograph nicht mehr nachweisbar ist – wäre man denn angewiesen

3 Moritz 1979, 61. 4 Ortheil 1982, 178–181; Hildesheimer (Hg.) 1980, 133; Elvers (Hg.) 1982, 430. 5 Mozart an den Vater, 4. April 1787, in: Mozart 1962–2006, Bd. 4, 41.

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Mathias Mayer

auf einen solchen Beleg, um die Rolle des Todes bei Mozart zu demonstrieren? Gerade der große Anteil der Kirchenmusik, schon vor und außerhalb des Requiems, kann als ein Zeichen gelten, mit welcher Intensität und Abgründigkeit sich der Komponist auf das Ende aller Dinge eingelassen hat. Der Endgerichtcharakter des Requiems ist dann auch diesseits der biographischen Legendenbildung ein unüberhörbares Monument des Ernstes. Auf der anderen Seite, so würde es scheinen, stünde dann die scherzhafte und leichtlebige Seite Mozarts – etwa das Spiel mit der Frivolität und Obszönität, das beileibe nicht nur in Briefen, sondern auch in manchen Kompositionen zu finden ist. In der Form des Kanon haben wir im KV 89 ein Kyrie, aber eben auch, als KV 231, den Text „Leck mir den Arsch fein recht schön sauber“. Die derbe Freude am Skatologischen ist vielleicht vor allem deshalb der Aufmerksamkeit wert, weil die buchhalterische Lesart von Ernst hier und Spott dort nicht aufgeht – das Spiel mit dem, was der Mensch unter sich lässt, ist seinerseits eine gewissermaßen saturnalische Variante des Umgangs mit Vergänglichkeit und Endlichkeit. Es muss nicht nur der Knochen- oder der Sensenmann sein, der das ‚memento mori‘ in Erinnerung ruft, auch der Genuss der Sinne, des Essens wie des Stoffwechsels, hat etwas vom ‚carpe diem‘ und dem Wissen um die Endlichkeit dieses Tages. Es wird also sehr darauf zu achten sein, was sich aus dem Scheitern einer solchen buchhalterischen Opposition entwickelt: Alle großen Leser und Hörer des Don Giovanni, von E.T.A. Hoffmann über Søren Kierkegaard und Bertolt Brecht bis zu Theodor W. Adorno, reagieren gerade auf die prekäre, aber fesselnde Nähe von Tod und Spott, die in den vielleicht grandiosesten Szenen des Musiktheaters erprobt wird, in der Kirchhofszene und dem Schluss des Don Giovanni, wenn der Lebemann dem Ernst und der Statue des Komturs sein Lachen entgegenhält.6 Die Lesarten Mozarts müssen sich mit gerade solchen Szenarien zwischen den Polen auseinandersetzen. Wo, außer vielleicht bei Shakespeare, würde man solch spannungsgeladene Nachbarschaften oder Zwillingsgeburten beobachten können wie etwa bei dem Paar KV 515 und 516, das eine ein von Licht und Geist durchflutetes Streichquintett in C-Dur, das andere, dieselbe Besetzung, aber in g-Moll, das Werk melancholischer Verzweiflung? Ähnliche Fragen tauchen bei der Konstellation der beiden letzten Symphonien auf, der trostlos erscheinenden großen g-Moll-Symphonie und dem Strahlen der wieder in C-Dur gehaltenen sogenannten Jupitersymphonie. Was dabei einem flüchtigen Blick wie ein Kontrast oder Widerspruch erscheinen mag, zwischen Hell und Dunkel, zwischen Heiterkeit und Schwermut, erweist

6 Vgl. dazu den Beitrag von Marion Schmaus im vorliegenden Band: „Die Intellektuellen entdecken Mozart“. Zu Brechts Mozart-Bild vgl. den Beitrag von Jürgen Hillesheim: „Mozart als Herausforderung für Bertolt Brecht“, beide im vorliegenden Band.

Mozart – Das Ereignis der Kreativität

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sich bei näherem Hinsehen als Teil einer weitergespannten Regie: Die Beobachtungen von Peter Gülke und die Interpretation von Nicolas Harnoncourt haben gezeigt, dass die Werke tatsächlich, wie im Fall der Symphonien, als Dreigestirne eine komplexe Organisation bilden. Die g-Moll- und die C-Dur-Symphonie antworten nicht nur aufeinander, sondern jeweils auch auf die große Es-Dur Symphonie KV 543, deren gewichtige, langsame Einleitung entsprechend zur Einleitung in die Konstellation dieser drei Werke wird. Ein drittes Quintett dagegen kam damals wohl nicht zustande. Es ist jedoch davon auszugehen, dass Mozart nicht allein Plus und Minus gegeneinander stellen wollte, dass somit eine biedere Logik des Binären versagt. Wir haben es vielmehr mit einer dreigliedrigen Struktur zu tun, in der das Einzelne in einen weit aufgespannten Kontext gestellt ist: Mozart erweist sich dabei als meisterhafter Regisseur, der die Dinge aus dem Hintergrund leitet. Er ist auch außerhalb des Theaters ein begnadeter Musikdramatiker, dessen Spannungstaktik für das Werk gilt – und vielleicht selbst für manche Scheinkontraste seines Lebens, die sich nicht im Entweder-Oder erschöpfen.7 Ob dabei die Triplizität der Freimaurerbewegung oder des dialektischen Dreischnitts verantwortlich gemacht wird, ist erst in zweiter Linie relevant. Das Echo, das die Töne in den Texten gefunden haben, ist immer auch der Versuch eines Spiegelbildes. Die die Forschung wie die Liebhaber interessierende Frage nach der Zuverlässigkeit und Authentizität eines Mozart-Porträts – und es gibt ja eine Gruppe konkurrierender Anwärter wie im Fall von Homers Geburtsort – ist nicht zuletzt die Frage nach einer äußerlich sichtbaren Manifestation dessen, was in der Musik eine so unmittelbare Anziehungskraft auszuüben vermag. Dabei kann man daran denken, dass Mozart der Zeitgenosse der Physiognomik gewesen ist. Der Schweizer Pfarrer Johann Caspar Lavater, den auch Goethe kannte, war von einer lesbaren Affinität zwischen Äußerem und Innerem überzeugt. Der aufgeklärte Skeptiker Georg Christoph Lichtenberg propagierte das Misstrauen gegenüber solchen einfachen Lesarten, indes er nicht das bloße Sehen als zuverlässiges Instrument anerkannte, sondern dieses durch ein „Sprich, damit ich dich sehe“ korrigierte. Gleichwohl notierte er in den 1790er Jahren, kurze Zeit nach Mozarts Tod, die Unmöglichkeit, der Natur etwas auf direktem Weg ablauschen zu können: „Eines solchen Mannes wie Mozarts Ohr hätte man notwendig sezieren sollen, denn wenn wir nicht durch monströse Vergrößerung endlich der Natur dort etwas abmerken, so wird es nie geschehen.“8 Gerade die Tatsache, dass wir Mozartporträts haben, die miteinander konkurrieren und sich wechselseitig infrage stellen, verstärkt durch sprachliche

7 Gülke 1998. 8 Lichtenberg 1971, 462, Fragment K 343.

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Mathias Mayer

Schilderungen seiner äußeren Erscheinung, befördert die unbefriedigende Lesart, dass man sich ein zu dieser Musik irgendwie passendes Äußeres nicht vorstellen kann. Zur Subtilität etwa von Mörikes Künstlernovelle Mozart auf der Reise nach Prag (1855) wird gehören, dass er die unbefriedigende Situation nicht-authentischer Mozartporträts anspricht und ironisch kommentiert9 – und dann lieber gleich eine Phantasieporträtskizze des geliebten Meisters anfertigt.10 Bleiben wir einen Moment bei dieser Erfindung, dem Phantombild Mozarts aus der Hand Mörikes. Vieles spricht dafür, dass damit eine Absage an die Erwartung zum Ausdruck kommt, je eine Brücke bauen zu können, die die Macht dieser Töne mit den biographischen Dokumenten verbinden könnte. Mörike verzichtet darauf, aus Briefen oder Bildern einen quasi-authentischen Mozart zu rekonstruieren – er erfindet ihn vielmehr neu. Eine solche Skepsis gegenüber der planen Lesbarkeit eines Genies hat schon Goethe in den berühmten Zeilen über das Dämonische formuliert. Am Ende seiner großen Autobiographie spricht er von jener unfasslichen Kraft, die in all ihrer Wirksamkeit weder zu erklären noch zu beschreiben ist: Er glaubte in der Natur, der belebten und unbelebten, der beseelten und unbeseelten, etwas zu entdecken, das sich nur in Widersprüchen manifestierte und deshalb unter keinen Begriff, noch viel weniger unter ein Wort gefaßt werden könnte. Es war nicht göttlich, denn es schien unvernünftig, nicht menschlich, denn es hatte keinen Verstand, nicht teuflisch, denn es war wohltätig, nicht englisch, denn es ließ oft Schadenfreude merken. Es glich dem Zufall, denn es bewies keine Folge, es ähnelte der Vorsehung, denn es deutete auf Zusammenhang. Alles, was uns begrenzt, schien für dasselbe durchdringbar, es schien mit den notwendigen Elementen unsres Daseins willkürlich zu schalten, es zog die Zeit zusammen und dehnte den Raum aus. Nur im Unmöglichen schien es sich zu gefallen und das Mögliche mit Verachtung von sich zu stoßen. Dieses Wesen, das zwischen alle übrigen hineinzutreten, sie zu sondern, sie zu verbinden schien, nannte ich dämonisch, nach dem Beispiel der Alten und derer, die etwas Ähnliches gewahrt hatten. Ich suchte mich vor diesem furchtbaren Wesen zu retten, indem ich mich nach meiner Gewohnheit, hinter ein Bild flüchtete.11

Möglicherweise besteht die riesige und überdies einmalige Resonanz, die Mozart in so vielen Texten der Nachwelt gefunden hat, gerade in solchen ‚Bildern‘, in Entwürfen und Phantasien, eben weil sich das Geheimnis der Kreativität nicht wirklich erklären lässt. Die imposanten Angebote unterschiedlicher Kreativitätsforschung – sie reichen von der Psychologie über die Genforschung bis zur 9 Vgl. Mörike 2005, 246, 266. Vgl. dazu den Beitrag von Helmut Koopmann im vorliegenden Band: „Anmutige Lebenskunst – vor dunklem Hintergrund“. 10 Mörike 2004, Tafel IV. 11 Goethe 1982, 175–176. Zu Mozart in Weimar vgl. den Beitrag von Thorsten Valk: „Ernste Scherze. Über eine Denkfigur in Goethes Mozart-Rezeption“.

Mozart – Das Ereignis der Kreativität

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Ästhetik – bieten Rekonstruktionen und Annäherungen; alle Erklärungsversuche aber, so scheint es, münden ins Vage, ins Allgemeine, ins Allzumenschliche, um das es doch gerade bei diesem Einzelnen nicht gehen sollte. Selbst eine so plausible These, die mit Mozart-Quellen gespeist werden könnte, dass Kreativität mit der Vermeidung des Todes zu tun habe, bleibt in ihrer Schlichtheit ebenso unwidersprochen wie letztlich stumpf. Auch die Erklärung, ihre Struktur liege in der „Bipolarität der Produktmerkmale, Oszillation von Prozessfaktoren und Paradoxalität der Komponenten“,12 klingt vergleichsweise hölzern. Alle diese Versuche einer Annäherung lassen sich zusammenfassen als das vergebliche Bemühen, das Geheimnis seiner Kreativität in lesbare Spuren zu überführen. Letztlich geht es hier um den entscheidenden Punkt, das Echo der Töne nicht in Texte der Lesbarkeit zu verfälschen und vor allem das Klischee der Biographie zu verabschieden. Bereits 1798 war in Prag Franz Niemetscheks schmales Bändchen Leben des k. k. Kapellmeisters Wolfgang Gottlieb Mozart, nach Originalquellen erschienen. Denselben Anspruch des Authentischen und Dokumentarischen erhob dann Georg Nikolaus von Nissen, der seit 1809 mit Constanze, Mozarts Witwe, verheiratet war. Das umfangreiche Buch, mehr eine Materialsammlung als eine Biographie, konnte er allerdings nicht mehr selbst vollenden, es erschien zwei Jahre nach seinem Tod, 1828, als Biographie W. A. Mozarts. Nach Originalbriefen, Sammlungen alles über ihn Geschriebenen, mit vielen neuen Beylagen, Steindrücken, Musikblättern und einem Fac-simile. Fast scheint der Eifer dieser Beteuerung ein unfreiwillig komischer Kommentar zur Fragwürdigkeit solcher Ansprüche. Von der Biographie erwarten die Urenkel Sigmund Freuds im einundzwanzigsten Jahrhundert etwas anderes als die Leser des frühen neunzehnten Jahrhunderts. Das Verhältnis zwischen dem öffentlichen Lebenslauf einer Erfolgsgeschichte, die aus Daten sogenannter großer Ereignisse gespeist wird, und demjenigen, was als private Innenseite gelten kann, hat sich entscheidend verändert. Ebenso ist uns der naive Glaube an die Zuverlässigkeit biographischen Materials oder gar seiner Gruppierung abhandengekommen, wir achten vermehrt auf den Charakter der biographischen Inszenierung, auf die geheime Regie einer so oder so verfahrenden Erzählung, auf die Mischung von Dichtung und Wahrheit, auf Momente der Verdrängung und Zensur, auf einen kritischen Umgang mit den Quellen. Deshalb wird im Rahmen dieser Untersuchung ein eigener Beitrag der Frage gelten, wie man die Biographie eines Genies schreibt.13 Der Fall Mozart

12 Gumbrecht (Hg.) 1988, 11. 13 Vgl. dazu den Beitrag von Ulrich Konrad im vorliegenden Band: „Konturen einer MozartBiographik. Stationen der Lebensbeschreibung von 1791 bis heute“.

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bietet dafür eine der ertragreichsten Proben, denn so differenziert unser Einblick in die biographischen Umstände ist, so schwer fällt es auch, daraus einen roten Faden zu gewinnen. Dies zeigt sich gleich an einem prominenten Detail der Mozart-Überlieferung. Zu den privilegiertesten Möglichkeiten, an das innere Potential des Menschen Mozart heranzukommen und Einblicke in seine Kreativität nehmen zu können, gehören seine zahlreichen Briefe.14 Gerade in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts avanciert der Brief zu einem Schlüsselinstrument einer sich entwickelnden Subjektivität. Wie in keinem anderen Medium kommen im Brief die Möglichkeiten der Selbstaussprache und der Mitteilung, des Rückblicks auf Bisheriges und der Vorwegnahme des Künftigen zusammen. Dabei ist er aufgespannt zwischen dem aktuellen Wissens- oder Gefühlszustand des Schreibens und der durch den Brieftransport bedingten späteren Lektüre durch den Adressaten, womit eine Zeitspanne einzukalkulieren ist, mit der raffinierte Briefschreiber gekonnt und bewusst umgehen. Die Selbstaussprache im Roman der Empfindsamkeit wie die Intrige im Drama, man denke an Schillers Räuber oder Kabale und Liebe, greifen auf die Möglichkeiten von Wahrhaftigkeit, Inszenierung und Verstellung immer wieder zurück.15 Mozart hat wie wohl wenige andere diesen Bühnencharakter des Briefes durchschaut, geliebt und genutzt. Nicht nur, dass er, etwa in Figaros Hochzeit, einen zeitgenössischen, politisch brisanten Stoff auf die Bühne gebracht und seinerseits mit dem Briefduett16 von Gräfin und Susanne im dritten Akt erheblich zugespitzt hat: Zweifellos gehört Mozart zu den herausragenden, zu den originellsten Briefschriftstellern überhaupt – die Korrespondenz erstreckt sich lebensgeschichtlich über sein freilich nur kurzes Leben. Mozarts Briefe verfügen mit französischen und lateinischen Einsprengseln und weitläufigeren italienischen Partien nicht nur über ein erhebliches Spektrum an Sprachen. Immer wieder werden die Briefe zu einer Begegnung zwischen urbaner Weltläufigkeit eines außerordentlich weit gereisten Mannes, der sich „täglich in der französischen sprache geübt und nun schon 3 lectionen im Englischen genommen“ hat,17 und einem Bürger in höfischen oder bischöflichen Diensten, der als Mensch des späten achtzehnten Jahrhunderts die Entwicklung eines Nationalbewusstseins spiegelt: „das wäre Ja ein Ewiger Schandfleck für teutschland“, heißt es sarkastisch gegenüber dem Textdichter Anton von Klein am 21. Mai 1785,18 „wenn wir 14 15 16 17 18

Vgl. dazu den Beitrag von Laurenz Lütteken im vorliegenden Band: „Mozart als Leser“. Anderegg 2001; Bürgel 1976; Ebrecht 1990; Müller 1985; Nickisch 1991; Schmidt 1988. Vgl. Klotz 2000, 90–192. An den Vater, 17. August 1782, in: Mozart 1962–2006, Bd. 3, 221. Mozart an Klein, 21. Mai 1785, in: Mozart 1962–2006, Bd. 3, 393.

Mozart – Das Ereignis der Kreativität

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teütsche einmal mit Ernst anfiengen teutsch zu denken – teutsch zu handeln – teutsch zu reden, und gar teutsch – zu Singen!!!“ Gewinnen die Briefe Mozarts durch diese spannungsgeladene Vielstimmigkeit eine repräsentative Objektivität im Sinn ihrer Zeit, so zeichnet sich ihre letztlich völlig unverwechselbare Individualität durch eine Eigenheit aus, die nicht schlicht als Subjektivität erfasst werden kann, aber doch als eine bezeichnende, gleichwohl sich jeweils neu formulierende Reichhaltigkeit an Spielarten. Vor allem sind sie durch die Vielzahl unterschiedlicher Stile geprägt, die eigentlich ohne Nachfolge geblieben ist. Da ist der kindlich-naive Ton, humorvoll gegenüber der älteren Schwester schon auf den Italienreisen erprobt: „schreibe mir, und seye nicht so faul, altrimenti averete qualche bastonate di me. quel plaisir! Je te caßerei la tete“,19 da sind die skatologisch-derben Töne, die er 1777–1781 hauptsächlich an die Augsburger Cousine Maria Anna Thekla richtet: „iezt wünsch ich eine gute nacht, scheissen sie ins beet daß es kracht; schlafens gesund, reckens den arsch zum Mund; ich gehe izt nach schlaraffen, und thue ein wenig schlaffen“,20 da sind die Briefe an seine Frau Constanze. In deren mitunter konsequenter Subjektivität steigert sich das Private zu einer für Dritte unverständlichen Geheimsprache.21 Dazwischen stehen Briefe offizieller, objektiverer Art, etwa wenn er sich im Juli 1778 aus Paris an den Familienfreund Abbé Bullinger wendet, um über ihn den Vater auf die schmerzliche Nachricht vom Tod der Mutter vorzubereiten,22 oder auch die an den Logenbruder Michael Puchberg adressierten 21 Bittbriefe, in denen Mozart möglicherweise seine pekuniäre Lage dramatisiert haben mag. Ulrich Konrad, dessen Einführungsessay zum achten Band der Briefe und Aufzeichnungen (2005) zu den besten Darstellungen dieses Briefwechsels gehört, betont den spielerischen und immer wieder experimentellen, den sprachschöpferischen, aber gleichwohl dem Anspruch nach nicht literarischen Charakter dieser Briefsprache.23 Die Briefe, die heute auch als Ego-Dokumente bezeichnet werden, vermitteln einen Eindruck der Stimmenvielfalt, einer Polyphonie von Befindlichkeiten und Stimmungen, einer inneren Theatralizität, eines kaum zu vereinheitlichenden Vielecks. Die Schwierigkeit, aus dieser Vielfalt eine Harmonie herauszuhören, dürfte ganz entscheidend sein für das immer wieder neue Interesse, diese Partitur eines Mannes mit so vielen Eigenschaften lesen zu wollen. Das Neben- und Übereinander widersprechender Muster, der Zweifel an der Authentizität und die Faszination durch das Spielerische, sie bringen die Lebendigkeit dessen zustan-

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Briefnachschrift an die Schwester, Neapel, 5. Juni 1770, in: Mozart 1962–2006, Bd. 1, 358. 5. November 1777 aus Mannheim, in: Mozart 1962–2006, Bd. 2, 104. Etwa im Brief vom 13. April 1789 aus Dresden, in: Mozart 1962–2006, Bd. 4, 81. In: Mozart 1962–2006, Bd. 2, 390–391. Konrad, in: Mozart 1962–2006, Bd. 2, 9–40.

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Mathias Mayer

de, was als Resonanz dieses Künstlers in den Texten der Zeitgenossen, vor allem aber der Nachfahren beschrieben werden kann. Dabei lohnt es sich, einen knappen Blick auf die Vielfalt der Gattungen zu werfen, in denen man versucht hat, dem Geheimnis dieser Kreativität nachzukommen. Erscheint die Polyphonie der Briefe schon als eine schwer zu beschreibende Schichtung von Unmittelbarkeit und Spiel, von Lebensstoff und Reflexion, so manifestiert sich der Zugang zur Biographik des Kreativen vielfach in anderen Formen der Zwei- und Vieldeutigkeit, etwa der Anekdote. Schon bei den antiken Kronzeugen der Gattung Biographie, bei Plutarch, einer Lieblingslektüre Friedrich Schillers und Bertolt Brechts, war zu lesen, dass oft „ein geringfügiger Vorgang, ein Wort oder ein Scherz ein bezeichnenderes Licht auf einen Charakter“ werfen „als Schlachten mit tausenden von Toten“.24 Diese Lizenz der unmittelbaren Evidenz spielt im Umgang mit Mozart eine entscheidende Rolle. Die von Generation zu Generation weitergegebenen Legenden, etwa seine Partituren seien ohne jede Korrektur aufs Papier geworfen worden oder er habe bei erhöhter Stimmung angefangen in Versen zu sprechen, bahnen einer literarischen Gattung die Spur, die sich im Umgang mit Mozart als besonders lebendig beweisen sollte. Die Künstlernovelle, als Mischform zwischen historischer Einbindung und poetischer Gestaltung, hat sich bei E.T.A. Hoffmann und vor allem bei Eduard Mörike an Mozart entzündet, das Künstlerdrama, im Falle Puschkins, und noch der Amadeus-Film von Milos Forman werden sich daran abarbeiten.25 Beim Nachdenken und beim Schreiben über die Musik Mozarts stellt sich die Aufgabe, deren Wirkungen ins Wort, die Töne in den Text zu übersetzen. Nur eine möchte ich hier herausgreifen, weil sie von vielleicht beispielloser Radikalität ist, indem sie ganz auf Beschreibung verzichtet und alles auf die reine, auf die Reinheit der Wirkung setzt. In einem der mutigsten, aber auch wohl düstersten Romane des zwanzigsten Jahrhunderts, in Ingeborg Bachmanns Malina aus dem Jahr 1970, wird nicht nur der Katastrophen dieses Jahrhunderts gedacht, sondern die Geschichte einer Auslöschung, einer verzweiflungsvollen Auflösung erzählt, wobei das weibliche Ich sich in einem Austausch mit zahlreichen Werken der Literatur und Musik befindet. Aber nur ein Werk – eine Motette für Sopran und Orchester von Mozart – ragt heraus, als Beispiel einer Utopie des Außergewöhnlichen, des Unverfügbaren, eines Glücks, das die Musik Mozarts zu einem Zeichen ethischer Freiheit macht. Gegenüber der schieren Trostlosigkeit, die aus der gruftähnlichen Bibliothek des weiblichen Ich vermittelt wird, stellt die Passage ganz 24 Plutarch 2001, 9. 25 Vgl. dazu die Beiträge von Bernd Hofmann: „Smart Phono. Mozart und andere Effekte“ und Franz Körndle: „Mozart in der Populärkultur: Von Amadeus bis heute“, beide im vorliegenden Band.

Mozart – Das Ereignis der Kreativität

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andere Erfahrungen heraus, die durch Musik vermittelt sind, denn es müsse „auch andere geben, die müssen sein, wie Exsultate jubilate, damit man vor Freude aus der Haut fahren kann“.26 Diese Vision nimmt die Ich-Figur auf und entwirft folgende Utopie, in der die Musik Mozarts eine extrem anspruchsvolle, ethische Bedeutung zugesprochen bekommt, als eine Art Pfingstwunder ekstatischer Entrückung: Ein Brausen von Worten fängt an in meinem Kopf und dann ein Leuchten, einige Silben flimmern schon auf, und aus allen Satzschachteln fliegen bunte Kommas, und die Punkte, die einmal schwarz waren, schweben aufgeblasen zu Luftballons an meine Hirndecke, denn in dem Buch, das herrlich ist und das ich also zu finden anfange, wird alles sein wie Exsultate Jubilate. Wenn es dieses Buch geben sollte, und eines Tages wird es das geben müssen, wird man sich vor Freude auf den Boden werfen, bloß weil man eine Seite daraus gelesen hat, man wird einen Luftsprung tun, es wird einem geholfen sein, man liest weiter und beißt sich in die Hand, um vor Freude nicht aufschreien zu müssen, es ist kaum auszuhalten, und wenn man auf dem Fensterbrett sitzt und weiterliest, wirft man den Leuten auf der Straße Konfetti hinunter, damit sie erstaunt stehenbleiben, als wären sie in einen Karneval geraten, und man wirft Äpfel und Nüsse, Datteln und Feigen hinunter, als wäre Nikolaustag, man beugt sich, ganz schwindelfrei, aus dem Fenster und schreit: Hört nur, hört! schaut nur, schaut! ich habe etwas Wunderbares gelesen, darf ich es euch vorlesen, kommt näher alle, es ist zu wunderbar!27

Hier hätten wir einmal mehr, wie bei vielen anderen Mozarthörern, die Erfindung statt der Erklärung, einen ganz neuen und eigenen Mozart, aber gerade nicht den historischen, nicht die biographische Fotographie, sondern die subjektive Phantasie. Je unerklärbarer das Geheimnis dieser Kreativität bleibt, je mehr Möglichkeiten und Variationen setzt es frei. Deshalb wird dieser Band den einzelnen Stationen der Mozart-Resonanz jeweils Rechnung tragen. Die Klassiker in Weimar haben Mozart intensiv aufgeführt, die Romantiker haben in seiner Musik vor allem ihre eigene Weltanschauung gespiegelt gesehen. Es geht in den folgenden Beiträgen weniger um die Geschichte der musikalischen Mozartinterpretationen oder um die Geschichte seiner Bühnenwerke; ins Zentrum rückt vielmehr der Zusammenhang von Ton und Text: Mozart, der als Leser wie auch als Briefschreiber und als Komponist sakraler und dramatischer Texte ein untrügliches Gespür für die Dramaturgie der Schrift haben musste, erzeugt eine Fülle an Spiegelungen im Text, von denen die Literatur nur einen Teil ausmacht. Es ist daher gleichsam die unsichtbare Hand eines sein Leben und Werk in vielfachen Rollen führenden Geistes, die dazu führt,

26 Bachmann 1995, 334. 27 Bachmann 1995, 335–336.

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dass im vorliegenden Band Musik- und Literaturwissenschaftler, Theologen und KulturhistorikerInnen diese Wirkung vermessen, die sich so wenig wie Goethes Dämonisches auf einen Begriff bringen lässt. Vielleicht war es keine so schlechte Idee, der man aber etwas Nachhilfe geben möchte, das Phänomen Mozart in Gestalt einer Kugel zum Ausdruck zu bringen. Was auch immer gegen den schokoladigen Konsumartikel vorzubringen ist, als Idee, mit gleichsam geometrischer und kulturgeschichtlicher Absicherung, ist es so töricht nicht, Mozart als Kugel zu beschreiben – kommt darin doch das Vollendete wie das schwer Festzuhaltende zum Ausdruck; die Raumgestalt des Kreises ist in ihrer Dreidimensionalität Zeichen einer Unverfügbarkeit, die bald dem Glück, bald dem Schicksal zugesprochen wird, aber sich dem Menschen immer wieder entzieht. Alle Lesarten, alle Perspektiven sind zwar nicht in der derselben Weise immer nur oberflächlich, aber der Blick ins Zentrum bleibt doch verwehrt, – ein einfacher Schlüssel für das Phänomen Mozart existiert nicht. Die folgenden Beiträge verstehen sich als eine Expedition, als Erkundung unterschiedlicher Landschaften auf einem Globus Mozart, als Atlas unterschiedlicher Begegnungen mit Tönen und Texten.

Literatur Anderegg, Johannes: Schreibe mir oft! Zum Medium Brief zwischen 1750 und 1830. Göttingen 2001. Bachmann, Ingeborg: ‚Todesarten‘-Projekt. Kritische Ausgabe, hrsg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. 4 Bde., hier Bd. 3.1. München, Zürich 1995. Bürgel, Peter: „Der Privatbrief“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 50 (1976), 281–297. Ebrecht, Angelika u. a. (Hg.): Brieftheorie des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1990. Elvers, Rudolf (Hg.): Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. Kataloge der Musikabteilung. Erste Reihe, Handschriften. Bd. 6: W. A. Mozart, Autographen und Abschriften, bearb. und hrsg. von Hans-Günter Klein. Berlin, Kassel 1982. Goethe, Johann Wolfgang: „Dichtung und Wahrheit“, Buch 14–20, in: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, 14 Bde., hrsg. von Erich Trunz. 7. Aufl. München 1982. Bd. 10, 7–187. Gülke, Peter: ‚Triumph der neuen Tonkunst‘ – Mozarts späte Sinfonien und ihr Umfeld. Kassel 1998. Gumbrecht, Hans U. (Hg.): Kreativität – ein verbrauchter Begriff? München 1988. Hildesheimer, Wolfgang (Hg.): Mozarts Briefe. Frankfurt am Main 1980. Jahn, Otto: W. A. Mozart. Zweite durchaus umgearbeitete Auflage in 2 Theilen. Leipzig 1867. Klotz, Volker: Briefe auf der Bühne. Dramatische Sprengkraft vertraulicher Schriftstücke, in: Ders.: Gegenstand als Gegenspieler. Widersacher auf der Bühne: Dinge, Briefe, aber auch Barbiere. Wien 2000. Konrad, Ulrich: „Mozart, der Briefschreiber“, in: Mozart: Briefe und Aufzeichnungen, VIII, 9–40. Kunze, Stefan: Mozarts Opern. 2. Aufl. Stuttgart 1996.  

Mozart – Das Ereignis der Kreativität

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Lichtenberg, Georg Christoph: Schriften und Briefe, hrsg. von Wolfgang Promies, 4 Bde. München, Wien. Bd. 2, 1971. Mörike, Eduard: „Mozart auf der Reise nach Prag“, in: Ders.: Werke und Briefe, hrsg. von Hubert Arbogast u. a., 26 Bde. Bd. 6/1, hrsg. von Mathias Mayer. Stuttgart 2005. Mörike, Eduard: Eine phantastische Sudelei. Ausgewählte Zeichnungen, hrsg. von Alexander Reck. Stuttgart 2004, Tafel IV. Moritz, Karl Philipp Moritz: Götterlehre und Mythologische Dichtungen der Alten. Frankfurt am Main 1979. Mozart. Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe, hrsg. und erläutert von Wilhelm A. Bauer und Otto E. Deutsch, 8 Bde. Kassel, Basel, London, New York 1962–2006. Müller, Wolfgang G.: „Der Brief“, in: Prosakunst ohne Erzählen, hrsg. von Klaus Weissenberger. Tübingen 1985, 67–87. Niemetschek, Franz Xaver: Lebensbeschreibung des K. K. Kapellmeisters Wolfgang Amadeus Mozart, aus Originalquellen. 2. verm. Aufl. Prag 1808. Nickisch, Reinhard M. G.: Der Brief. Stuttgart 1991. Nissen, Georg Nikolaus: Biographie W. A. Mozart’s. Nach Originalbriefen, Sammlungen alles über ihn Geschriebenen, mit vielen neuen Beylagen, Steindrücken, Musikblättern und einem Fac-simile, hrsg. von Constanze Nissen. Leipzig 1828. Ortheil, Hanns-Josef: Mozart im Innern seiner Sprache. München 1982. Plutarch, Alexander-Biographie, in: Ders.: Fünf Doppelbiographien. Griechisch und deutsch. Übersetzt von Konrat Ziegler und Walter Wuhrmann, 2 Bde. Düsseldorf, Zürich 2001. Schmidt Irmtraudt: „Was ist ein Brief?“, in: editio 2 (1988), 1–7.  

Ulrich Konrad

Konturen einer Mozart-Biographik Stationen der Lebensbeschreibung von 1791 bis heute

Kein Ding sieht so aus, wie es ist. Am wenigsten der Mensch […]. Wer ist heutigen Tages noch so harmlos, daß er Weltgeschichten und Biographien für richtig hält? Sie gleichen den Sagen und Anekdoten, die Namen, Zeit und Ort benennen, um sich glaubhaft zu machen. Wilhelm Busch: Von mir über mich, 1886

1. Wenn heute vom Leben Mozarts die Rede ist, dann ist selbstverständlich nicht dieses selbst in unmittelbarem Vollzug, sondern seine aus der Überlieferung vermittelte Rekonstruktion im geschichtlichen Bewusstsein gemeint.1 Eine chaotische, für sich genommen bedeutungslose Menge an mit Mozarts Person verbundenen Informationen und Sachresten wird seit über zweihundert Jahren durch die Zeit fortgewälzt: kalendarische Daten, Schriftzeugnisse wie Briefe, Stammbucheinträge oder Besitzeintragungen in Büchern, Bilder, persönliche Habseligkeiten, verschiedenartigste wirkungsgeschichtliche Dokumente, Instrumente, auf denen er gespielt hat, Gebäude, in denen er gelebt hat, und vieles mehr. Dubiose Dinge ergänzen die Überlieferung, etwa fragwürdige Briefe, vermutlich gefälschte Bilder, ein vermeintlicher Schädel und was mehr sich nennen ließe. Dazu tritt das, was das Werk genannt wird. Genau genommen handelt es sich um die Überlieferungssumme musikalischer Texte in Form von Autographen, Fremdschriften oder Drucken. Primärer Zweck der meisten dieser Texte ist es, dass das in ihnen Aufgezeichnete zum Erklingen gebracht werde.2 Darin liegt, was immer sonst

1 Für die folgende Darstellung greife ich auf Argumentationsgänge zurück, die ich bereits früher ausgeschritten bin und die für den aktuellen Anlass zum Teil zusammengefasst, zum Teil konzentriert worden sind; vgl. Konrad 1999 und Konrad 2012. 2 Ausnahmen bilden die sogenannten Werkstattmaterialien wie Skizzen, Entwürfe und Fragmente, die in der Regel vom Komponisten nicht auf ein Erklingen im Sinne einer Werkaufführung hin angelegt werden, auch wenn sie grundsätzlich diese Möglichkeit bieten.

DOI 10.1515/9783110492989-002

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man mit ihnen noch anstellen mag, auch ihr wesentlicher Sinn: Die Notentexte bilden die unumgehbare Voraussetzung für die Kenntnis des musikalischen Werks Mozarts. Die chaotische Fülle lebensgeschichtlicher Zeugnisse und die Gesamtheit der verbürgten musikalischen Texte Mozarts treffen seit weit über zweihundert Jahren auf sie wahrnehmende Menschen. Die ununterbrochene Kette der Begegnungen betrifft allerdings die musikalischen Texte, besser: die nach ihnen zum Klingen gebrachten Musikstücke in bedeutend höherem Maße als die sonstige Überlieferung, ja jene funktioniert weitgehend ohne diese. Aber gerade weil das so ist, weil Mozarts Musik seit dem letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts in einer ganz bestimmten geistes- und sozialgeschichtlichen Konstellation ihre Wirkung entfalten konnte,3 eine – in Goethes vielzitierter Formulierung – „zeugende Kraft, die von Geschlecht zu Geschlecht fortwirket und sobald nicht erschöpft und verzehrt sein wird“,4 gerade darum scheint es sich mit der Kunst Mozarts beinahe zum ersten Mal in der Musikgeschichte ereignet zu haben, dass nicht nur sie, sondern auch ihr Schöpfer und dessen Lebensgeschichte im kulturellen Gedächtnis weiterleben sollte. Dieses Weiterleben fand und findet seine literarische Form in der Biographie. Sie bildet im Ordnen und Vergegenwärtigen der toten Gegenstände der Überlieferung eine Fiktion aus: die Fiktion der Zeitgenossenschaft mit der beschriebenen Persönlichkeit. Da dieses Mit-Leben immer nur aus zweiter Hand geschehen kann und immer wieder neu auf die gegenwärtigen Zeitverhältnisse abgestimmt sein muss – tatsächlich spielen Biographien in der jeweiligen Gegenwart, nicht in der Vergangenheit des zu Beschreibenden –, unterliegt es wie das wirkliche Leben der Endlichkeit. Die Gattung der Biographie ist nicht überzeitlich gültig, sondern selbst Gegenstand der Geschichte mit ihren sich wandelnden Formen, Funktionen und Ansprüchen. Sie stellt her und vermittelt weder den Verlauf des Lebens Mozarts noch liefert sie ein eindeutiges Portrait des Menschen, gleichsam den unverwechselbaren Fingerabdruck der mozartschen Persönlichkeit, sondern stets nur ein aus dem vertrackten hermeneutischen Wechselspiel zwischen his-

3 Die Konstellation aus historischen Wirkkräften der Spätaufklärung, des Rationalismus, der Französischen Revolution und der Frühromantik, um nur die wichtigsten zu nennen, prägte in kaum zu überschätzender Weise das Bewusstsein der Zeitgenossen von der Bedeutung der Kunst und des Künstlers im allgemeinen, von derjenigen Mozarts als eines Paradigmas des musikalischen Genies im Besonderen. In der Fülle ihrer ungemein vielfältigen Differenzierungen dürften diese Vorgänge bis heute noch kaum wirklich erfasst sein. Vgl. zum Problem aus verschiedenen Blickwinkeln u. a. Gruber 1985; Demuth 1997; Kreimendahl 2011; Hofe 2014. 4 Eckermann 1984, 580.  

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torischer Realität und dem im Bewusstsein des Betrachters vollzogenen Verstehen entworfenes Bild.5 Die Biographie ist vor allem anderen ein Abkömmling des Epos, mutiert zu einem Genre der erzählenden Prosa.6 Biographien sind Erzählungen. Eine narrative Struktur zeichnet sie, wie alle Geschichtsdarstellungen, vornehmlich aus. Im Fluss der ‚schriftlichen Rede‘, wenn dieser Ausdruck gestattet sein mag, spiegelt sich das Kontinuum des dargestellten Lebens; auf ihm schwimmen alle jene vereinzelten Daten und Begebenheiten, werden sie zur Bewegung gebracht. Biographien bedürfen des Erzählers. Er bringt die chaotische Masse an überkommenen Lebenszeugnissen in eine ihm sinnvoll scheinende chronologische Folge und stellt jedes dieser Zeugnisse gemäß der ihm zuerkannten Bedeutung an einen konkreten Platz in einer Hierarchie. Doch das Ergebnis dieser Arbeit bedeutet lediglich eine Vorstufe der Biographie. Sie selbst entsteht erst, wenn dieses Ordnungsgerüst im Erzählen in die Imagination eines sich vollziehenden Lebens aufgelöst wird. Ihr eignet bei diesem Vorgang ein großer Anteil an künstlerischer Gestaltung. Deshalb wird man die Biographie als Gattung der Literatur im Sinne eines Sprachkunstwerks zu bezeichnen haben. In dieser Tradition steht sie jedenfalls zumindest seit dem achtzehnten Jahrhundert und reicht damit bis in unsere Gegenwart. Ob und inwieweit das biographische Kunstwerk aus Dichtung und Wahrheit auch in die besondere Form einer wissenschaftlichen Biographie überführt werden könnte, hat das neunzehnte Jahrhundert beschäftigt. Darauf wird zurückzukommen sein.

2. Mit diesen allgemeinen, aber vielleicht doch nicht ganz überflüssigen Vergegenwärtigungen haben wir uns auf die Frage zubewegt, ob biographische Erzählungen mit, in unserem Fall, musikalischen Œuvres zusammengeführt werden können. Stehen das Leben und das Werk Mozarts in einer Korrelation, und wenn ja, in welcher? Lässt sich die menschliche Existenz Mozarts als die eines Künstlers im emphatischen Sinne erfassen, eines Künstlers, bei dem Leben und Werk, Werk und Leben in vielleicht nicht immer erkennbarer, aber doch ununterbrochen wirkender Kausalität verbunden sind? Transzendiert Mozarts Leben in seine Musik, ergeben seine Kompositionen eine tönende Biographie? Müssen wir das äußere Leben Mozarts kennen, um seine musikalischen Hervorbringungen zu

5 Gruber 1990; Konrad 2006 [2005], 23–27. 6 Wilpert 1979, 96–97.

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verstehen, oder erschließen diese uns jenes? Eröffnen die Kompositionen Wege zu Mozarts innerem Leben, erschließen sie dem Hörer dessen ideales Ich? Berechtigt das vermeintliche Erkennen dieses idealen Ichs zu einer Kunstanschauung, die im musikalischen Werk nicht das Abbild äußerer, empirisch nachprüfbarer, biographischer Vorkommnisse erkennen, sondern an die Konfession des idealen Subjekts glauben will? Welchem dieser Subjekte hat sich die Biographie zu verpflichten?7 Aus der zentralen Frage nach dem Verhältnis von Leben und Werk lässt sich eine lange Reihe um sie kreisender Fragen herleiten, eine weitaus längere, als sie hier begonnen wurde. Im wissenschaftlichen Diskurs erörtern lassen sie sich allesamt, eindeutig beantworten nicht. Vielleicht liefert diese mangelnde Aussicht den Grund dafür, dass in den Geistes- und Kulturwissenschaften eine Theorie der Biographik durchaus Gegenstand des Nachdenkens ist (die Autobiographie, die wir hier bewusst ausklammern, eingeschlossen),8 die Musikwissenschaft aber trotz vorhandenem Problembewusstsein zu ihr kaum etwas beizutragen weiß. Ihr auctor classicus heißt weiterhin Hermann Abert, dessen Leipziger Antrittsvorlesung von 1920 Über Aufgaben und Ziele der musikalischen Biographie auch angesichts späterer Beiträge9 bis heute kein ebenso gültiger Gegenentwurf gefolgt ist. Abert verband seine reichen Erfahrungen als Biograph Robert Schumanns, Niccolò Jommellis, Johann Joseph Aberts und nicht zuletzt Mozarts10 mit jener Forderung aus dem Vorwort von Goethes Dichtung und Wahrheit, der Gründungsurkunde der neueren Biographie; diese lautete: „Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt.“11

7 Dieser Fragenkreis hat seit jeher am stärksten die Beethoven-Deutung beschäftigt, ja, er ist vermutlich vom eigentümlichen Leben-Werk-Verhältnis dieses Komponisten erst provoziert worden. Siehe dazu beispielswese [Rundtischgespräch] 1978, 435–465; Goldschmidt 1977, hier besonders das V. Kapitel „Musik als biographisches Dokument“; Dahlhaus 1987, bes. 29–73; Brenner 2013. 8 Ein Forum der Diskussion bietet das Periodikum BIOS 1988 ff.; O’Connor 1991; Klein 2002; Bödeker 2003, 9–63; Klein 2014. 9 Abert 1920a, 417–433; wiederabgedruckt in: Abert 1929, 562–588 (hiernach die Zitate im Folgenden); Funk 1994; Reich 1953, 251–254; Vetter 1959, 132–142; Dahlhaus 1975, 82; Allroggen 1980, 23–29; Lenneberg 1988; Lenneberg 1994, Sp. 1545–1551; Gruber 2005. 10 Abert 1920b [1903]; Abert 1908; Abert 1983 [1916]; Abert 1955–1956. [1923]. 11 Goethe 1811, zitiert nach Goethe 1981, 9.  

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Diesem Grundgedanken, vor allem dessen letzter Abzweigung, folgte Abert hinsichtlich der Musiker-Biographie ohne Vorbehalte. „Bei einem Genie“, so heißt es bei ihm, „wird eine strikte Trennung von Leben und Werken nicht möglich sein. Denn wenn […] das künstlerische Schaffen die allerprimärste Form seines Lebens ist, so wäre es ganz widersinnig, daneben noch einen anderen, von diesem prinzipiell verschiedenen Trieb anzunehmen, der sein äußeres Leben beherrschte.“12 Doch zuvor hatte er sich an diesem Punkt bereits in einem Zirkelschluss verfangen: Und doch steht bei einiger Überlegung ganz außer Zweifel: daß über alle einzelnen Äußerungen eines Künstlers nur der richtig entscheiden kann, der ihn zuvor als Ganzes erlebt hat. Wie sollte er sonst Wesentliches und Unwesentliches zu unterscheiden vermögen? Und wer vermöchte z. B. die Eigenart einer Beethovenschen Sinfonie zu erfassen, der nicht zuvor ein Gesamtbild des Meisters in seiner Seele trägt? Das gewinnen wir aber durch kein noch so methodisches Durchstöbern des historischen Tatbestandes allein, sondern nur durch ein Erleben des Künstlers als einer Einheit. […]. Wer jenes Erlebens nicht fähig ist, sollte die Hände von der Biographie lassen.13  

Anders ausgedrückt: Aus den Werken eines Komponisten muss der Biograph im Erleben ein Gesamtbild gewinnen, um dann die Werke als Ausdruck dieses Gesamtbildes analysieren und dieses bestätigen zu können. Das hermeneutische Problem dieses Schlusses übersah er, freilich übersah er es nicht als einziger. Es gehört zu den Konstanten der Mozart-Biographien (und der anderer Komponisten) seit dem frühesten neunzehnten Jahrhundert, unabhängig davon, ob sie der mehr populär-belletristischen Erbauungsliteratur oder dem Genre der wissenschaftlichen, das heißt der sich ihrer Quellengrundlagen kritisch versichernden und ihre Aussagen argumentativ begründenden Biographie zuzurechnen sind.

3. Ein weiteres Mal gabelt sich der Gang unserer Überlegungen. Wir folgen ihm nicht in die Richtung einer theoretischen Behandlung der Biographie als eines Gegenstandes der musikalischen Historik – darauf werden wir jedoch später noch einmal kurz zurückkommen –, gehen also auch nicht weiter auf das soeben entwickelte Problem von sprachlicher Struktur und inhaltlicher Funktion im Wechselspiel von biographischer Erzählung und analytischer Beschreibung ein,

12 Abert 1929, 576. 13 Abert 1929, 573–574.

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sondern wenden uns vielmehr den Realien zu. In welcher Weise, so fragen wir, sind in biographischen Darstellungen Leben und Werk Mozarts aufeinander bezogen worden. Dass bei der Betrachtung der ausgewählten Biographien deren historischer Ort nicht außer Acht gelassen werden darf, sollte aus den bisherigen Darlegungen klar geworden sein. Diese Forderung gilt umso mehr, als die Musiker-Biographie, abgesehen von autobiographischen Schriften,14 ein Spätling der Kunstgeschichtsschreibung ohne bedeutende exempla vor dem frühen neunzehnten Jahrhundert ist – Dante hat in Boccaccio, Michelangelo und andere in Vasari, Karl XII. in Voltaire,15 aber kaum ein Musiker von Rang vor Mozart einen selbständigen Biographen gefunden. Nach dem Nekrolog Schlichtegrolls von 1793, dessen weitgehendem Nachdruck im Folgejahr, dann der unter dem Titel Mozarts Biographie in musikalischer Hinsicht von einem Anonymus in Prag publizierten Schrift von 1797 und der 1798 erstmals gedruckten Biographie Franz Xaver Niemetscheks sowie der von Friedrich Rochlitz lancierten, höchst einflussreichen Anekdoten-Reihe aus der Zeit von 1798 bis 180116 war es der aus Dessau stammende reformierte Theologe Ludwig Anton Leopold Siebigk, der im Jahre 1801 im Rahmen seines „Museums berühmter Tonkünstler“ Mozart mit „einer kurzen Darstellung seines Lebens und seiner Manier“17 würdigte. Diese Schrift, für unser Thema von einiger Bedeutung, hat in der Mozart-Forschung bislang kaum Beachtung gefunden. Sie enthält auf 70 Druckseiten eine summarische Werkliste (3–7), einen die bis dahin veröffentlichten Viten Mozarts geschickt zusammenfassenden Lebenslauf (7–27) und, als Hauptteil, „einen Versuch über Mozarts Manier“ (27–70). Siebigks Biographie erprobt somit zum ersten Mal im Mozart-Schrifttum das Modell der getrennten Studien zu Leben und Werk. Aber er tut noch mehr. Während sich die eigentliche Vita im ersten Teil in einer Mischung aus chronikalischem Bericht und Anekdoten auf das äußere Leben Mozarts beschränkt, gehen die Werkbetrachtungen ganz darauf aus, alle Kompositionen auf eine Grundgestimmtheit zurückzuführen, die mit derjenigen von Mozarts Persönlichkeit korreliert. Es lohnt sich, Siebigks Argumentation, deren Herkunft aus der zeittypischen deutschen Ausprägung von Aufklärung und Empfindsamkeit unverkennbar ist, etwas ausführlicher zu zitieren.

14 Einstein 1921, 57–65. 15 Boccaccio 1477; Vasari 1550, 21568; Voltaire [eigentlich Arouet] 1731/1732. 16 Schlichtegroll 1794 [1793, 82–112; 1794], 94–118; Niemetschek 1798; vgl. dazu Brauneis 1993, 491–503; Rochlitz 1798/1799a, Sp. 17–24, Sp. 49–55, Sp. 81–86, Sp. 113–117, Sp. 145–152, Sp. 177– 183; Rochlitz 1798/1799b, Sp. 290–291, Sp. 854–856; Rochlitz 1799/1800, Sp. 300–301; Rochlitz 1800/1801, Sp. 450–452, 493–497, Sp. 590–596; Konrad 1995, 1–22; Staehelin 2000, 85–109. 17 [Siebigks] 1988 [1801]; im Folgenden werden bei Zitaten die Seitenzahlen zunächst nach den Originalstellen, in Klammern dahinter nach Angermüllers Ausgabe angeführt.

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Es scheint mir eine sehr wahre Behauptung zu seyn, daß empfindsame Schriftsteller sowohl, als darstellende Künstler am liebsten und am glücklichsten diejenigen Empfindungen bey Andern hervorbringen, welche bey ihnen selbst das Uebergewicht haben, und also die herrschenden genannt werden können. […] man achte bey der Anhörung der Arbeiten eines Tonkünstlers auf diejenigen Stellen, wo derselbe seine Kunst und sein Genie, beydes in seinem ganzen Umfange, gezeigt hat; – und nun vergleiche man Temperament und Charakter und das ganze Vorstellungs- und Empfindungssystem dieser Künstler – in soweit man dasselbe aus Umgang oder aus mündlichen und schriftlichen Nachrichten kennt – mit den Empfindungen, welche sie in ihren Werken am natürlichsten und wahrsten ausgeführt haben: und man wird zwischen diesen Empfindungen und zwischen der wirklichen Beschaffenheit ihres Herzens eine sehr auffallende Aehnlichkeit finden. Und eben so läßt sich, meines Bedünkens, umgekehrt der gewöhnlichen Stimmung eines Künstlers, von den vorzüglichsten Neigungen desselben und von der Art und Weise, wie er diese Neigungen befriedigt, auf den Geist schließen, der in seinen Arbeiten wehet.18

Nach Siebigks bemerkenswert selbständiger Arbeit, die Constanze Mozart 1801 völlig zu Recht als „eine charakteristische“19 bezeichnete, verstrich mehr als ein Vierteljahrhundert bis zum Erscheinen einer weiteren deutschsprachigen und ambitionierten Biographie Mozarts. In diesen ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts führte das nur schwer auflösbare Gemisch aus romantischer Weltsicht, Nationalgedanken, sich ausbreitendem Historismus und auf das Kunstgenie gerichteter säkularisierter Hagiographie zu einer allmählichen Einbürgerung der Musiker-Biographie im literarischen Leben. Ein eigentlicher Typ war noch kaum ausgebildet. Dennoch lassen sich relativ leicht die Bestandteile aufzählen, die zumeist in derartige Biographien eingearbeitet sind: Augenzeugenberichte, Anekdoten und ausgewählte Dokumente für den Lebenslauf, Stilcharakterisierungen und rudimentäre Werklisten für die Ausführungen zur Musik. Diese Bestandteile zu einer umfassenden Mozart-Biographie auszugestalten fand der dänische Diplomat Georg Nikolaus Nissen, seit 1809 zweiter Ehemann Constanze Mozarts, geradezu ideale Bedingungen vor, standen ihm doch die noch kaum reduzierte Fülle authentischen Quellenmaterials und die zwar vielzüngige, aber in vielem doch seriöse Zeugenschaft mozartscher Familienmitglieder und der Zeitzeugen zur Verfügung.20 Es scheint jedoch gerade diese noch deutlich nachwirkende und im Wandel der Jahre sich eher verstärkende Nähe Mozarts bei den unmittelbaren Auskunftgebern gewesen zu sein, die Nissen an seiner Aufgabe scheitern ließ. Er verzweifelte an der spürbaren Lebendigkeit seines Helden

18 [Siebigks] 1988 [1801], 27–29 (73). 19 Angermüller 1987, 115–117, Zitat, 117. 20 Nissen 1828; siehe zur Geschichte dieser Biographie die ausführlichen Studien von Eric Offenbacher (1994, 1–63, bes. 1–19), und, mit grundlegend neuen Einsichten, Morgenstern 2014a, [21]–146; Morgenstern 2014b, [147]–159.

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in seiner Umgebung und am daraus resultierenden Mangel an Distanz. Erschwerend kam hinzu, dass Nissen keine schriftstellerische Begabung besaß und bestenfalls über das musikalische Verständnis eines Liebhabers verfügte. Seine sogenannte Biographie verdient denn auch den Namen nicht – was nichts über ihren großen Zeugniswert namentlich für die Mozart-Forschung des neunzehnten Jahrhunderts sagt. Über Mozarts Musik wagte Nissen offensichtlich kein eigenes Wort zu sagen, sodass lediglich in dem von dem musikalisch gebildeten Arzt Johann Heinrich Feuerstein verantworteten Supplement zu seiner Biographie etwas breitere analytische Auslassungen zu lesen sind. Leben und Werk präsentieren sich in diesem Werk als zwei getrennte Gegenstände. Nissens Biographie bot dem russischen Gutsbesitzer Alexandre Oulibicheff „das vollständige Bild des Thurmbaus zu Babel“.21 Immerhin provozierte die Lektüre des Werks bei dem leidenschaftlichen Mozart-Enthusiasten den von romantischem Geist durchdrungenen Plan einer ambitionierten „philosophischen Biographie“ seines Helden. Für Oulibicheff vollendete „Mozart als Universalkomponist […] die Geschichte der abendländischen Musik in einer genialen Synthetisierung aller Epochenstile“.22 Das Idealbild dieses Kunstgenies zu zeichnen und die Beschreibung der Kompositionen, vor allem der Opern – hier vornehmlich des „im Geiste Shakespeares“ seine Erfüllung als „höchste Schöpfung der dramatischen Tonkunst“23 findenden Don Giovanni – im Sinne seiner Kunstteleologie zu leisten, sah Oulibicheff als Hauptaufgabe an. Beides gehörte unauflöslich zusammen; eine Trennung von Leben und Werk verbot sich für ihn: „ein Ausschließen der kritischen Beleuchtung seiner Werke aus der Biographie eines Meisters“ heiße soviel „als über die hauptsächlichen Handlungen seines Lebens zu schweigen, die eben diese Werke bilden“.24 Diese Maxime galt trotz der Entscheidung Oulibicheffs, die Darstellung des Lebensgangs, eine allgemeine Geschichte der Musik und die Analysen der Werke – der Autor gebraucht das Wort explizit – in eigenständigen Teilen seines Buchs unterzubringen, und schon der Titel brachte das zum Ausdruck. Das Feld der im neuzeitlichen Sinne wissenschaftlichen Mozart-Biographie betrat endlich der Altertumswissenschaftler Otto Jahn mit seinem zwischen 1856 und 1859 erschienenen, schlicht mit W. A. Mozart betitelten Werk.25 Es markiert den Punkt, an dem der künstlerischen und belletristischen Mozart-Pflege ein

21 Oulibicheff 1859 [1843, 1847], Bd. I, XI. 22 Hofe 1995, 23–43, hier 39–40; zu Oulibicheff vgl. im selben Sammelband den Beitrag von Elena Sorokina, Mozart und die russische Kultur des 19. Jahrhunderts, 109–118. 23 Oulibicheff 1847, 352. 24 Oulibicheff 1847, XVI. 25 Jahn 1856/1858/1859.

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eigengearteter Seitenzweig erwuchs, nämlich derjenige einer veritablen MozartForschung.26 Mit jener wusste sich Jahn einig in der Überzeugung, dass das „Urteil über ihn [Mozart] als vollendeten Künstler“27 feststehe. Mit dieser aber, verstanden als eine Disziplin der allgemeinen Geschichtswissenschaft, strebte er das „Urtheil über den sich bildenden Künstler und über den Menschen“ zu begründen. Das Ethos war elementar: „Ihr letztes Ziel ist die Wahrheit, und nur diese zu finden und darzustellen habe ich mich bemüht.“28 Diese Wahrheit meinte die historische, die – und hier verwickelte sich Jahns kritischer Anspruch, wie wir Späteren zu erkennen vermögen, in einen Widerspruch – mit der selbstverständlichen ästhetischen Wahrheit in eins zu fallen hatte. Jahns Mozart-Biographie ist daher weniger die einheitliche Studie eines dem Historismus verpflichteten Philologen als vielmehr das doppelgesichtige Produkt eines unerbittlich auf „die sichere Feststellung und urkundliche Begründung des Thatsächlichen“29 drängenden Forschers und zugleich des hingebungsvollen, an einem klassizistischen Portrait malenden Verehrers des Komponisten. Die Nagelprobe erwuchs der jahnschen Position im Grenzbereich zwischen den faktisch feststellbaren Lebens- und Werkdaten einerseits und der, wie er es nannte, „musikalischen Charakteristik“30 andererseits. Es kennzeichnet die methodologische Bewusstheit Jahns, dass er die hier lauernden Probleme ausdrücklich zum Thema seines umfangreichen Vorworts machte. Er begrenzt sie in zweierlei Hinsicht. Entscheidend sei zwar, „durch das Wort in dem Leser eine dem Wesen des Kunstwerks entsprechende Vorstellung hervorzurufen“, doch sei es von vorneherein aussichtslos, dabei mit dem „unmittelbaren Eindruck des Kunstwerks“ konkurrieren zu wollen. Immerhin vermöchten, so Jahn, Betrachtungen der „künstlerischen Form“, ihrer „Gesetze und Normen“ sowie ihrer „technischen Bedingungen“ zumindest dem musikalisch erfahrenen Leser Kompositionen anschaulich zu machen.31 Diesen Bemühungen sei dort Einhalt zu gebieten, wo sie in „technisch eingehende Analysen einzelner Musikstücke“

26 Abert 1964, 22–27; Gruber 1980–1983, 10–17; Calder u. a. 1991 (darin Beiträge von Gernot Gruber über Jahns Bedeutung für die Mozart-Forschung, Andreas Eichhorns zu Jahns musikästhetischem Denken und Joachim Draheims zu Jahn als Komponist); Eichhorn 1995, 220–235; Schramm 1998; vgl. auch das von Dietrich Berke verfasste Kapitel „Philologie“ in: Leopold 2005, 676–691. 27 Jahn 1856, XXXI. 28 Jahn 1856, XXXI. 29 Jahn 1856, XXXI. 30 Jahn 1856, XXXII. 31 Jahn 1856, XXXII (alle Zitate).  

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übergingen, da solche nur „der Belehrung für den Musiker“32 dienten. Der Ausschluss des Versuchs, „durch Worte, am wenigsten durch eine Klimax stattlicher Beiwörter“,33 den Eindruck des klingenden Kunstwerks zu suggerieren, und Abstand von der dem Fachmann vorbehaltenen Analyse kennzeichnen Jahns Haltung. Jahns Mozart-Biographie sah sich schon bei den Zeitgenossen gewissen Anfechtungen ausgesetzt. Allmählich ausgehöhlt wurde das Werk allein vom Fortgang der mit ihren Erkenntnisinteressen immer weiter ausgreifenden MozartForschung und der zunehmenden Diskreditierung des Klassizismus im Laufe der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts: Ein populäres Schrifttum wirtschaftete Jahns schönes, doch zur Geschichte gewordenes Idealbild schließlich zum trivialen Kitschportrait herunter. Doch erst der seit 1912 erscheinende Essai de biographie critique der beiden Autoren Théodore de Wyzewa und Georges de Saint-Foix34 zerstörte endgültig die einst mühsam hergestellte Harmonie von Leben und Werk im Sinne Jahns und definierte das Verhältnis des einen zum andern grundlegend neu. Die äußeren Geschehnisse der bloßen Existenz eines Künstlers galten den beiden Autoren wenig oder nichts – „la biographie, telle que nous avons l’habitude de la concevoir, m’apparaît aujourd’hui parfaitement inutile“ –, die „vie musicale“ in ihrer kausalen Beziehung zum „œuvre“ dagegen

32 Jahn 1856, XXXIV (beide Zitate). Als Konsequenz aus dieser Haltung blieb beispielsweise die „Zergliederung des Finales aus Mozarts“ C-Dur-Symphonie KV 551, wie sie Simon Sechter 1843 im Anhang zu seiner Wiener Neuausgabe von Friedrich Wilhelm Marpurgs Abhandlung von der Fuge (Berlin 1753–1754.) veröffentlicht hatte, in Jahns Buch unberücksichtigt; Sechter 1923. 33 Jahn 1856, XXXII. – Gegenüber G. Hartenstein äußerte sich Jahn nach Erscheinen des Buches brieflich am 31. Dezember 1855 in folgender Weise zum Schreiben über Musik: „Sie sagten mir eher, daß Sie neugierig wären, wie ich es anfangen wollte über Musik ohne Beschreibung, Epitheta, Novellen usw. mich verständlich zu machen, und ich war es nicht weniger. Die Schwierigkeit habe ich natürlich auch fortwährend gefühlt, es ist mir aber immer ein Punkt erschienen, an den ich glaubte anknüpfen zu können … Ich glaube, was ich in der Vorrede gesagt habe, trifft den Kern der Sache, der meines Wissens so nicht hervorgehoben ist, weil jeder der damit zu thun hat sich um ein solches Eingeständniß lieber herumdrückt“, Jahn 1913, 119–120. An seinen Verleger Härtel kam er am 7. Juli 1856 auf diesen Punkt zurück: „Mit dem Beschreiben der Musik ist es eine schlimme Sache und ich habe das in der Vorrede auch nicht allein bekannt sondern den Hauptpunkt, in dem es liegt, schärfer als sonst meines Wissens bestimmt; und doch scheint mir die Aufgabe unvermeidlich durch Beschreiben und Besprechen von allen Seiten wenigstens den musikalischen analoge Vorstellungen immer bestimmter auszubilden“; Jahn 1913, 142. 34 Wyzewa/Saint-Foix 1912/1936/1939/1946. – An dieser Stelle mag die Erinnerung an die bis heute ungedruckt gebliebene deutsche Übersetzung des Gesamtwerks von Wolfgang Richter angebracht sein. Sie wurde in den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg vorgenommen, siehe Richter 1952, 65–69.

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alles.35 Dieses ‚musikalische Leben‘ als das eigentliche Mozarts empfängt seine Energie aus der ununterbrochenen Begegnung des tonkünstlerischen Genies mit der auf sein Ohr stoßenden Musik anderer Komponisten. Die Begegnung wirkt, wenn man sie mit einem Bild beschreiben darf, als Zündfunke und Brennstofflieferant zugleich: Sie entzündet die schöpferische Phantasie an einem Material, das von dieser in Brand gesetzt wird, im Verglühen Mozarts eigenen Tonstoff freisetzt und mit diesem verschmilzt. Somit ist jedes einzelne Werk eine Synthese aus fremder und eigener Materie. Der Analyse kommt die hauptsächliche Aufgabe zu, den jeweiligen Fremdanteil möglichst genau zu bestimmen und seiner Herkunft nach zu lokalisieren. Gelingt ihr das, so vermag sie in der Folge die Daten der „vie musicale“ festzulegen (Daten, die des eigentlichen Lebenslaufs nur mehr als ihrer beiläufigen Voraussetzung bedürfen) und einen innermusikalischen Entwicklungsgang, dem eine förmliche Werkchronologie entspricht, nachzuzeichnen. Bei Wyzewa/Saint-Foix neuartigem, seinerzeit revolutionär wirkendem Ansatz stoßen sich Relikte einer veralteten Ausdrucksästhetik einerseits und Ergebnisse der damals sich zur Methode verfestigenden Stilkritik als Austrieb der Formalästhetik andererseits hart im Raum. Doch das drang allenfalls am Rande ins Bewusstsein der Mozart-Forschung im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Entscheidend wirkte die endlich eröffnete Möglichkeit, das romantisierte Mozartbild zu zerschlagen und es durch ein modernes zu ersetzen, eines, das mit den Worten Hermann Aberts „alles auf den Boden des Greifbaren, Faßlichen, kurz der Wirklichkeit zurückzuführen“36 versuchte. Die zur gleichen Zeit von Guido Adler mit hohem kunsttheoretischen Bewusstsein recht eigentlich erst begründete musikalische Stilkritik37 und Wyzewas/Saint-Foixs’ mehr intuitiv betriebene Vergleichsverfahren trafen sich in dem Ziel, einerseits der Geschichtlichkeit der Musik, andererseits ihrem Kunstcharakter mit einer abgesicherten Methode gerecht zu werden, Historiographie und Ästhetik zu vereinen. Angewandt auf Mozart bedeutete das, ohne Verlust der geschichtlichen Dimension der analytischen Betrachtung seiner Werke und der Bestimmung ihrer Kunsthaftigkeit allein aus der Musik heraus den absoluten Vorrang vor dem positivistischen Sammeln von Lebenszeugnissen einräumen zu können. Als erster deutscher Apologet dieser Anschauung unternahm bereits im Jahre 1913 Arthur Schurig den „kecken Husarenritt“, wie er das nannte, nach „dem uralten strategischen Grundsatze: Wer eine feste Stellung erobern will, muß sie

35 Wyzewa/Saint-Foix 1912, Bd. I, [I] (Introduction). 36 Abert 1955, XV. 37 Adler 1929 [1911]; Adler 1919, bes. 110–191 (Stilkritik); Kalisch 1988.

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mit aller Gewalt überrennen“38 den neuen Gedanken Gehör zu verschaffen. Doch Schurig als einem musikschriftstellerischen Bramarbas gingen die Pferde durch, unter deren Hufen zwar Otto Jahn zermalmt wurde, die ihn aber nicht ans Ziel einer stringent aus dem Gedanken der „vie musicale“ entwickelten neuen MozartBiographie brachten. Immerhin erreichte das Buch eine in der deutschsprachigen Musikwissenschaft als heilsam empfundene Ernüchterung in der Schilderung der Heldenvita. Es blieb Hermann Abert vorbehalten, die Ergebnisse der französischen Forscher in einer Mischung aus respektvoller Anerkennung und kritischer Distanz im Rahmen einer großen Biographie fruchtbar zu machen. Anerkennend begegnete Abert dem Scharfsinn, mit dem Wyzewa/Saint Foix ihre Methode für die Bestimmung der Werkchronologie angewandt hatten; ohne Bedenken folgte er weitgehend den Datierungsvorschlägen des „nouveau classement“.39 Kritisch reagierte er auf die Negierung eines bedeutungsvollen Verhältnisses von Leben zu Werk, die er gemäß seiner Anschauung von der Ganzheit des Künstlers, wie wir sie bereits kennengelernt haben, nicht gelten lassen konnte. Er bestand auf dem „Hauptzweck der Biographie […], den Künstler dem Leser in einem lebendigen Gesamtbild vorzuführen, das ihn zum Nacherleben zwingt“. Die Ergebnisse „gelehrter Sammelarbeit und minutiöser Kritik und Analyse“40 dabei zu berücksichtigen, gehörte für Abert zu den selbstverständlichen Bedingungen einer biographischen Arbeit. Philologie und Analyse standen in diesem Zusammenhang im Rang von Hilfswissenschaften; ihre Aussagen waren von Belang, nicht aber das Vorgängige etwa der philologischen recensio oder der analytischen Bezeichnung harmonischer Vorgänge. Der Biographie als höchster Form historiographischer Darstellung hatten alle wissenschaftlichen Methoden nach Maßgabe des Biographen zu dienen. Schon den ersten Lesern der abertschen Mozart-Biographie erschien es als ein bedeutender Vorzug, dass der Autor gerade bei der Analyse vor jeder Abstraktion des als lebendig empfundenen musikalischen Werks Abstand gehalten hatte. Die Art und Weise der Synthese von Quellenauswertung, Lebensbeschreibung, ästhetischer Anschauung, musikgeschichtlicher Gesamtschau, analytischen Befunden und stilkritischen Vergleichen vorzuführen, muss hier unterbleiben, dürfte sich bei einem Standardwerk, wie Aberts Mozart-Biographie es bis heute unübertroffen darstellt, auch erübrigen – die ihr zugehörige theoretische Reflexion hat der Autor ja zudem selbst geliefert.

38 Schurig 1923 [1913], Bd. 1, 27. 39 Abert 1955, XII–XIII. 40 Abert 1920, 562 (beide Zitate).

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4. An dieser Stelle wollen wir daher für einen Moment den Blick von den konkreten Mozart-Biographien abwenden und uns den gattungsgeschichtlichen Implikationen der Leben-Werk-Beschreibungen aus einer theoretischen Perspektive widmen. Seit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, als Sammelbiographien, die in der Art von berufsständischen Kompendien Geschichten von Künstlern erzählten – man denke für das Gebiet der Musik etwa an Johann Matthesons Grundlage einer Ehren-Pforte von 1740 oder Johann Adam Hillers Lebensbeschreibungen von 178441 – allmählich von Einzelbiographien abgelöst wurden und gleichzeitig zu einer Geschichte der Kunst tendierten, vollzog sich eine Historisierung und Verwissenschaftlichung der vormaligen Vitenschreibung hin zur veritablen Biographie, also zur Gesamtwürdigung von Leben und Werk einer historischen Person. Der Prozess wurde getragen von einer Ideologie der Meister, der Genies, die als autonome Schöpfer althergebrachte Kunstformen überwinden, jeweils neue Ausdrucksmittel schaffen und somit das übergeordnete Gesetz einer sich unentwegt fortentwickelnden Geschichte unvergänglicher ästhetischer Werte zugleich repräsentieren und erfüllen. Das Leben der Meister steht im Dienst ihres Werks. Sofern heldenhaftes Handeln einzelner Künstler die Geschichte der Kunst durch Meisterwerke prägt, laufen der Erdenwandel von Künstlern und die Genese von Werken parallel und verdienen gleichermaßen verehrungsvolle Schilderung und Betrachtung. Lebensereignisse wirken auf die Entstehung der Werke ein, Werke lassen auf Charakter und Lebensweise des Künstlers schließen. Im späten neunzehnten Jahrhundert geriet dieses Meisterkonzept der Künstlerbiographie in immer schärfer sich artikulierende Kritik:42 Künstlergeschichte als Kunstgeschichte, die Verknüpfung von Individualität und historischem Prozess, schienen mehr und mehr den Zugang zum eigentlichen Gegenstand der Erkenntnis, nämlich den Werken, zu verstellen. Bereits 1875 hatte Jacob Burckhardt vom „alten Käse der Künstlergeschichte“43 gesprochen, und in seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen führte er aus: „Das jetzige Ausmalen von Dichterund Künstlerleben hat eine sehr ungesunde Quelle; besser, man begnüge sich mit den Werken.“44 Hinter diesem, auch von anderen artikulierten harschen Widerstand gegen eine weit verbreitete kunstgeschichtliche Darstellungsform stand das

41 Mattheson 1910 [1740]; Hiller 1975 [1784]; Kremer 2014. 42 Zu diesem Vorgang vgl. Hellwig 2005, Kapitel VI: „Die Künstlerbiographie als literarische Großform 1860 bis 1900 bis zu ihrer Ablehnung durch die Wiener Schule und Wölfflin“, 159–179. 43 Brief Burckhardts an Robert Grüninger vom 20. April 1875, zitiert nach Burckhardt 1966, 34. 44 Burckhardt 1929, 169.

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Ringen der verschiedenen, noch jungen historisch-künstlerischen Disziplinen um ihren Status als Wissenschaften. Die selbst zur Kunst tendierende Literazität der breit ausgeführten biographischen Erzählung bedrohte den Anspruch von Kunstgeschichte, Literatur- und Musikwissenschaft, sich als historisch-kritische Wissenschaften zu behaupten. Nach 1900 wurden biographische Methode und Künstlerbiographie daher zunehmend in Frage gestellt. Am prominentesten und wie ein Fanal wirkte in dieser Debatte die Formulierung im Vorwort von Heinrich Wölfflins epochemachender Abhandlung Kunstgeschichtliche Grundbegriffe von 1915, in dem der Autor erklärte, er verfolge eine „Kunstgeschichte, die nicht von einzelnen Künstlern erzählt“, kurzum, eine „Kunstgeschichte ohne Namen“.45 Der „Naturgeschichte der Kunst“ sollte das wissenschaftliche Interesse gelten, nicht „den Problemen der Künstlergeschichte“.46 Schon zehn Jahre früher hatte er ein Dürer-Buch mit dem programmatischen Titel Die Kunst Albrecht Dürers herausgebracht, in dem der Vita des Künstlers gerade einmal 16 Seiten, der Werkbeschreibung aber 300 Seiten eingeräumt worden waren.47 Die „Kunstgeschichte ohne Namen“ büßte in den 1920er Jahren ihre von Wölfflin in dieser apodiktischen Zuspitzung ohnehin nicht intendierte Alleinstellung ein, als die Methoden etwa der Geistesgeschichte, der Kulturwissenschaft oder der Ikonographie Terrain gewannen. Soziale Faktoren, kulturelle Traditionen, politisch-gesellschaftliche Ereignisse, kurzum, im weitesten Sinne die „Umwelt“ als Kraft, die auf Leben und Werk des Künstlers einwirkt und beide maßgeblich bestimmt, fand nun breiten Einlass in das biographische Forschen und Schreiben. Ihre Darstellung und dann der Versuch, sie mit der Vita und Charakterzeichnung des Künstlers zu verbinden, ihn, wie es dann heißt, im Kontext „seiner“ Zeit zu verstehen, wurden zum leitenden Paradigma der Biographie. Die Werke waren hier, sofern überhaupt noch Gegenstand, im wesentlichen Anlass zu kunstsinnigen Betrachtungen, die auf eine aus dem eigenen oder kollektiven Erleben gespeiste Verbalisierung des künstlerischen Ausdrucks zielten; sie beispielsweise in ihrer Form oder individuellen tonsetzerischen Machart zu analysieren, geriet mehr und mehr außer Acht. Künstlerbiographien nicht nur ohne Werkanalysen, sondern gänzlich ohne nähere Erörterung eines künstlerischen Œuvres sind seither alles andere als Ausnahmen.

45 Wölfflin 1915, V; Burioni u. a. 2015. 46 Wölfflin 1915, VIII. 47 Wölfflin 1905.  

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5. Der gattungshistorische Rekurs auf die Biographie kann an dieser Stelle abgebrochen werden. Auch wenn er nur die elementaren und selbst diese in vielleicht unzulässiger Verknappung erfassten Grundzüge der jüngeren Biographiegeschichte berührt hat, mag er doch als Hintergrund für die Sichtung und Einordnung von Mozartbiographien der letzten 80 Jahre genügen. Kehren wir also zu unserem ursprünglichen Darstellungsgang zurück. Für dessen weiteren Verlauf sei gleich vorweggenommen: Die Musiker- und damit auch die Mozartbiographien passen sich nahtlos in die skizzierte allgemeine Geschichte der Gattung ein. Zwar ergeben sich für die Musik aus dem Status ihrer medialen Präsentation als lesbarer Notentext und hörbares Klangereignis heraus gewisse Sonderbedingungen für die Behandlung der Werke – und diese aus der Differenz zwischen der primären Zeitkunst der Musik und den primären Raumkünsten etwa der Malerei oder der Bildenden Kunst erwachsenden Besonderheiten sollen nicht marginalisiert werden –, aber im Prinzip kann die Geschichte der Musikerbiographie wie die der Maler- oder der Dichterbiographie gelesen werden. Das sei an einer kleinen Auswahl an Mozartbiographien aus den Jahren 1933 bis 2006 in vier kurzen Abschnitten wenigstens kursorisch gezeigt. 1.) Für die anfangs des Jahrhunderts propagierte „Kunstgeschichte ohne Namen“ steht beispielhaft das Mozart-Buch des deutsch-böhmisch-österreichischen Musikbibliothekars Robert Haas.48 Zwar huldigt der Reihentitel seiner Biographie unübersehbar dem historiographischen ‚Meisterkonzept‘, aber in der Durchführung seiner Arbeit bietet Haas ein zu dem erwähnten Dürer-Buch Wölfflins analoges Modell: Auf 14 Seiten werden in einer tour d’horizon „geistige Grundlagen“, „österreichischer Lebensinhalt“, „Barocküberlieferung“, „alpenländischer Menschenschlag“, „Weltbürgertum“ und „Weltanschauung“ berührt, dann schließt sich auf 17 Seiten ein Lebensabriss an, und die restlichen 130 Seiten sind ganz der Werkbetrachtung gewidmet. Sie wird zwar durch die chronologische Anbindung an den Lebensgang strukturiert, steht aber ansonsten ganz in der stilgeschichtlichen Tradition von Haasens Lehrer Guido Adler. Äußeres Merkmal des Buches sind insgesamt 270 Notenbeispiele, die nicht bloß als Belege für verbale Erklärungen oder als Ausweis einer stupenden Werkkenntnis des Autors dienen, sondern selbst sprechendes Darstellungsmittel sind. Damit verweigert sich Haas dem Typ der Lesebiographie für ein breites Publikum, die einen romanhaft ausgebreiteten Stoff darbietet; vielmehr verfolgt er durchaus den wissenschaftlichen Anspruch eines Studienbuchs. Die analytischen Auslassun-

48 Haas 1980 [1933, 1950].

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gen – weit überwiegend formbezogen und eben stilkritisch-vergleichend – wenden sich an den notenkundigen Leser und hier wohl eher an den gebildeten Fachmusiker oder Wissenschaftler. 2.) Diese für ihre Entstehungszeit charakteristische Abhandlung fand keine nennenswerte Nachfolge, auch deshalb, weil sich das Gattungsbild von der Künstlerbiographie insgesamt bereits im Wandel befunden hatte – die Musikwissenschaft war der „Kunstgeschichte ohne Namen“ ohnehin mit der fachüblichen Verzögerung gefolgt. Kennzeichnend für das nun sich behauptende biographische Modell war, pointiert ausgedrückt, die Rücksetzung der Musik und ihrer analytischen Behandlung in den Hintergrund der Darstellung. In unterschiedlichen Ausprägungen belegen die Mozart-Biographien Alfred Einsteins und Erich Schenks49 diesen Wandel. Der Münchner Einstein, Schüler Adolf Sandbergers, hat sich intensiv und methodenkritisch mit dem Schreiben von Biographien auseinandergesetzt, angefangen bei seinem Schütz-Buch 1928 über die Beiträge zu Gluck, Mozart bis hin zur Schubert-Biographie von 1951.50 Das Vorwort zur letztgenannten Arbeit stellt in mancher Hinsicht sein Vermächtnis dar, gerade auch für unsere Frage nach der Rolle der Analyse in Biographien. Zu ihr nimmt er in folgender Weise explizit Stellung: Dies Buch ist keine Sammlung von Analysen. Es gehört zum Wesen der Analyse, daß sie dem nicht hilft, der das analysierte Werk nicht kennt, und daß, wer es kennt, sie nicht braucht. Man kann dem Eigentlichen der Musik mit dem Wort leider nicht beikommen, weder durch technische Analyse noch durch „poetisierende“ Andeutung. Mendelssohn hat einmal ganz treffend bemerkt, daß echte Musik eindeutiger, bestimmter, unmißverständlicher sei als jeder Versuch, sie zu erklären. Aber da man einmal in einem Buch über einen Musiker um Worte nicht herumkommt, so sagt ein suggestives Wort oft mehr als eine Beschreibung von Takt zu Takt. Dies Buch ist geschrieben für Leser, die Schubert kennen und lieben, ihn besser verstehen und mehr von ihm kennen lernen wollen. Es ist geschrieben für musikalische Leser, aber nicht lediglich musikalische. Denn zum Verständnis echter Musik muß man nicht bloß musikalisch sein, sondern musisch. Das ist ein großer Unterschied.51

Die von Einstein formulierte Reserve gegen die „technische“ Analyse ist von einer Ästhetik des Erlebens bestimmt. Danach erschließt sich das „Eigentliche“ der Musik dem musischen Menschen allein im Musizieren und verständigen Hören eines Werkganzen, nicht aber aus der Kenntnis von dessen Faktur oder durch außermusikalische Analogien. Gleichzeitig fallen für Einstein Komponist und

49 Einstein 1944; Einstein 1997 [1945, 1947, 1953]; Schenk 1990 [1955, 1975, 1989]. 50 Einstein 1928; Einstein 1954 [1936]; Einstein 1952 [1951]; Gehring 2007. 51 Einstein 1952, 7.

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Werk in eins: Schubert kennen heißt seine Musik kennen, seine Musik kennen ihn kennen (was immer das genau heißen mag). Freilich würde man diese Positionen gründlich missverstehen, sähe man in ihnen eine Lizenz für das Schreiben über einen Musiker und sein Schaffen ohne die gründlich erworbene Vertrautheit auch mit den technischen Gegebenheiten der Kompositionen. Das sagt Einstein zwar nicht explizit, aber die Art und Weise, wie er in seinen Biographien über die Musik schreibt, verrät diese Haltung auf Schritt und Tritt. Auch in seinem Mozart-Buch beschränken sich analytische Kommentare stets auf wenige knappe Bemerkungen im Sinne eines „suggestiven“ Worts; aber in einem solchen Wort finden sich oftmals tiefe Einsichten verdichtet, gewonnen in langem Umgang mit der Tonmaterie. Dass Einstein stärker an einem Zugang zum kompositorischen Œuvre als zu den Details des Lebensvollzugs gelegen war, lässt sich nicht nur an den Proportionen der Mozart-Biographie ablesen – die Leben- und Werk-Kapitel stehen im Verhältnis eins zu drei zueinander –, sondern auch an der bewussten Vermeidung einer chronologisch geordneten Lebensbeschreibung. Vollständig lautet der Titel seines Buchs denn auch: Mozart. Sein Charakter. Sein Werk, im Inhaltsverzeichnis ist der erste Untertitel „Sein Charakter“ stillschweigend ersetzt durch „Der Mensch“. Tatsächlich geht es Einstein, womit er sich in die Tradition der Künstlerbiographien aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts stellt, um die Parallelisierung von „persönlichem Charakter“ einerseits, „künstlerischem“ andererseits. So wie es für das Verständnis des ersteren nicht der lückenlosen Kenntnis aller biographischen Details bedarf, so für das des letzteren nicht der Ausbreitung analytischer Befunde. Einstein gestaltet eine Synthese aus Leben und Werk, ohne den Leser auf die zuvor von ihm, dem Autor, durchlaufene Bahn von biographischer Forschung und analytischer Werkerkundung zu schicken. Dass auch diese Biographie sich ausdrücklich an den Mozart-Kenner richtet, sagt Einstein übrigens gleich in den ersten Sätzen des Vorworts.52 3.) Eine radikale Abkehr von der „Kunstgeschichte ohne Namen“ hin zu einem ganz auf die Person und ihre Lebensumwelt ausgerichteten Mozart-Bild vollzog Erich Schenk mit seinem Buch von 1955. Der gebürtige Salzburger, wie Einstein Schüler von Sandberger, wandte sich programmatisch gegen die zeitweilige Verdrängung der biographischen Methode. Diese sei, so Schenk, Folge der „auch in der Musikforschung vor einem Halbjahrhundert bis zum Ausschließlichkeitsanspruch vertretene[n] Methode der ‚Kunstgeschichte ohne Künstler52 Einstein 1953, 7: „Dies Buch ist keine Einführung in Mozarts Leben und Werk. Es wendet sich an Leser, die bereits vertraut sind mit einigen Daten aus seinem Leben, und vor allem an solche, die zum mindesten einige seiner Werke gehört und liebgewonnen haben. Ihnen kann es vielleicht neue Anregungen und Erkenntnis liefern.“

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geschichte‘“ gewesen, „die zweifellos grundlegende phänomenologische Erkenntnisse und Bereicherung stilkundlichen Wissens gezeitigt, gleichzeitig aber auch zur Vernachlässigung historischer Grundlagenforschung geführt hat. Das mußte gerade in der Musikwissenschaft spürbar werden, die über minuziöse biographische Detailuntersuchungen noch nicht in gleichem Maße verfügte wie etwa die literatur- oder kunstgeschichtlichen Nachbardisziplinen.“53 Erst die Rückgewinnung geistesgeschichtlicher, orts- und territorialgeschichtlicher sowie kunstgeschichtlicher Vorgangsweisen habe dazu geführt, „daß die Revisionsbedürftigkeit manch herrschender Auffassung unverkennbar, der vorerwähnten abschätzige Standpunkt gegenüber der Biographik aufgegeben und die herrschende Stagnation überwunden wurde“.54 Schenk scheute sich nun nicht davor, die für einen Musikwissenschaftler eigentlich erstaunliche Konsequenz zu ziehen, Mozarts Musik ganz aus der Darstellung auszuklammern: Demnach wurde von jeder analytisch-ästhetischen Werkbetrachtung abgesehen. Das bedeutet wohl bewußt auferlegte Einengung von Blickfeld und Darstellungsgebiet, bedarf jedoch für den einsichtsvollen Fachmann keiner Rechtfertigung. Zumal solcher Standpunkt den Vorteil bietet, einem Leserkreis Mozarts Sein und Wirken näherzubringen, der nur allzusehr bereit ist, landläufige Musikerbiographien, da ihm teilweise unverständlich, zu meiden.55

Der Preis für diesen vermeintlichen Vorteil ist freilich hoch, führt er doch zu einer „Künstlergeschichte ohne Kunst“. Die hat seither in der Musikschriftstellerei Hochkonjunktur, ja, ein erklecklicher Teil der in den vergangenen 50 Jahren erschienenen Mozart-Biographien kommt ohne Mozarts Musik und eine analytische Annäherung an sie aus. 4.) Drei Gegenbeispiele aus jüngerer Zeit, deren Autoren die Problematik der Verbindung von Leben, Werk und Analyse thematisieren und bei der Anlage ihrer Biographien berücksichtigen, belegen indes, dass sich dieser Verzicht auf die Präsenz des künstlerischen Œuvres keineswegs in aller Breite durchgesetzt hat. Auch ließen sich den hier unter bewusster Einnahme einer internationalen Perspektive ausgewählten Mozart-Büchern von Jean und Brigitte Massin, Konrad Küster und Julian Rushton56 weitere Beiträge zur Seite stellen. Die voluminöse Mozart-Biographie des französischen Literaturwissenschaftlers Jean Massin und der Musikschriftstellerin Brigitte Massin aus dem Jahre 1959 separiert in ihrer Darstellung zwar die Lebensbeschreibung von der „histoire de l’œuvre“, sucht aber durch mannigfaltige Querbezüge den chronologischen Gang 53 54 55 56

Schenk 1989, 793. Schenk, 793–794. Schenk, 794. J./B. Massin 1970 [1959]; Küster 1995 [1990, 1991], Rushton 2006.

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der Vita mit der ebensolchen Folge der Werke zu synchronisieren. Lebensweg und „l’itinéraire de Mozart créateur“ laufen parallel.57 Um diese Verbindung zu erweisen, werden die überwiegend auf den Ausdrucks- und Stimmungsgehalt konzentrierten Aussagen über die Werke sehr häufig mit Mozarts jeweils aktueller Lebenssituation zusammengeschlossen. Technische Aspekte der Werkfaktur spielen praktisch kaum eine Rolle, allenfalls stilkundliche Befunde oder überblicksartige Schilderungen markanter Verläufe zehren von analytischen Befunden. Während im episch ausladenden Biographie-Teil starke Einflüsse der Dokumentarbiographie und der Allgemeinhistorie zu konstatieren sind, tendiert die katalogartige Artikelserie im Werk-Teil zum umfassenden Konzertführer: Das Buch kann als faktisch und dokumentarisch fundierter Leben-Werk-Roman gelesen und, im Nebeneffekt, auch als Kompendium für Werkauskünfte konsultiert werden. In ihrer Erzählhaltung verrät die Biographie eine Nähe zur französischen Epik des neunzehnten Jahrhunderts – nicht von ungefähr plante Jean Massin eine Biographie Victor Hugos und ist Herausgeber von dessen œuvres complètes.58 Die Anlage des 1990 publizierten Mozart-Buchs des aus der Tübinger Schule Ulrich Siegeles stammenden Konrad Küster als „Eine musikalische Biographie“ – so der Untertitel – zieht die Konsequenz aus der inzwischen erreichten Tiefenerschließung der Briefe, Dokumente und Werküberlieferung des Komponisten: „Eine ‚Musikerbiographie‘ hat sich fortan nicht mehr vorrangig dem Leben des Dargestellten zu widmen, sondern in verstärktem Maß auch den Details der Werke selbst; die Musik Mozarts, über eine heimische Phonothek bis in einst ferne Winkel des Köchel-Verzeichnisses hinein zugänglich, verlangt regelrecht danach, als neue ‚Quelle‘ der Mozart-Biographik berücksichtigt zu werden.“59 Für Küsters Arbeit bedeutet das in den Worten des Autors: „Die ‚Biographie‘ gilt daher in erster Linie dem ‚Schaffen‘ und dessen Stellung im ‚Leben‘: der künstlerischen Entwicklung, die vom Leben nicht zu trennen ist.“60 Mit diesem Konzept ist ein Schwenk zurück zur Künstlerbiographie aus dem früheren zwanzigsten Jahrhundert vollzogen, freilich mit der Einschränkung, dass ihr Ziel nicht die Kunstgeschichte, sondern die Künstlergeschichte aus der Perspektive der Kunst ist. Immerhin ermöglicht die Darstellungsform der 40 Werk-Leben-Kapitel eine prominente Erhöhung des analytischen Anteils, bei dem metrische Phänomene in

57 J./B. Massin 1970, Klappentext zur 1987 erschienenen Auflage; in gleichem Sinne die Formulierung im „Avant-Propos“: „Car nous avons tenté, en liaison avec la biographie de l’homme, d’y saisir et d’y retracer le développement du processus créateur de l’artiste.“ (o. S.). 58 Der Plan einer Hugo-Biographie wird im Klappentext zur 1987 ausgegebenen Auflage des Mozart-Buchs als aktuelles Arbeitsvorhaben des Autors genannt. – J. Massin 1967–1970. 59 Küster 1990, 10. 60 Küster 1990, 10.  

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Streichquartett-Menuetten, kontrapunktische Details in Fugen, harmonische Ereignisse in Opernarien oder instrumentatorische Eigenarten in Sinfonie-Sätzen zur Sprache gebracht werden. Das ergibt musikalische „Momentaufnahmen“, wie Küster sie selbst nennt,61 in denen – zumindest ausschnittweise – gezeigt werden soll, wie etwas gemacht ist und was es in einem historisch-künstlerischen Kontext bedeutet. Leser ohne Kenntnis der Kompositionen und Vertrautheit mit allgemeiner Musiklehre, also bloße Liebhaber, werden an dieser musikalischen Biographie freilich eher weniger „Satisfaktion“ finden. Die Ausrichtung auf eine Leserschaft, die sowohl über biographische als auch über musikalisch-technische Kenntnisse verfügt, kennzeichnet auch den MozartBeitrag des englischen Musikwissenschaftlers Julian Rushton zur renommierten Reihe „The Master Musician“. Auf den ersten Blick scheint mit diesem 2006 publizierten Buch eine weitere ,Meister-Erzählung‘ vorzuliegen. Aber anders als die Massins mit ihrem auf dokumentarische und kommentierende Totalität zielenden Ansatz bekennt sich Rushton zur Reduktion der biographischen Abhandlung auf wesentliche Grundlinien, und wie Küster erklärt er die Musik Mozarts zum zentralen Thema seines Buchs. Anders als sein deutscher Vorgänger nutzt er aber keine Auswahl an Kompositionen und deren analytische Betrachtung, um gleichsam nebenbei eine Biographie entstehen zu lassen, sondern führt lebensgeschichtliche und werkanalytische Ausführungen locker nebeneinander her. Ähnlich wie Einstein bemüht er sich um repräsentative allgemeine Aussagen zu Mozarts Musik, stärker als bei diesem aber gebunden an Beispiele, die analysiert werden, wobei die Präsenz von Notenbeispielen essentiell ist: Der Leser erhält im Text Hinweise auf musikalisch-technische Befunde und soll sie sogleich an den Noten nachvollziehen. Freilich geht es Rushton bei der Besprechung seiner Ausschnitte stets um die Vermittlung zwischen analytischem Sachverhalt und ästhetischer Bedeutung. So wird etwa die aufgewühlte Wehmut, wenn man die Stimmung einmal so nennen darf, die jeden Hörer gegen Ende des langsamen Satzes im Klarinettenkonzert KV 622 gleich nach der Wiederholung des Hauptthemas anrührt, zunächst als ein „spasm of nostalgia“62 charakterisiert. Mozart rufe diesen Eindruck, so Rushton, vor allem durch die harmonische Intensivierung hervor, mit dem er ein Motiv des Themas durchführt und, auf engstem Raum, in Berührung mit verschiedenen Moll-Tonarten bringt – der anschließende Partiturauszug ermöglicht die Anschauung des Gesagten.

61 Küster 1990, 12. 62 Rushton 2006, 222.

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6. Ob „Kunstgeschichte ohne Namen“, „Künstlergeschichte ohne Kunst“ oder „Künstlergeschichte aus der Perspektive der Kunst“: In diesen schlagwortartig aufgerufenen Konzepten von Künstler-, speziell von Musikerbiographien wird der Analyse von Werken verschieden hohe Bedeutung zugemessen. Die Verschiedenheit ist auch die Folge der Wahrnehmung einer bedeutsamen sprachlichen Differenz, nämlich derjenigen zwischen dem Narrativen einer Lebensbeschreibung und dem Deskriptiven einer Analyse. Dazu kommt die literarische Funktion der Künstlerbiographie, die dazu tendiert, Leben und Werk des Künstlers insgesamt als ästhetischen Gegenstand aufzufassen und zu gestalten. Vor diesem Hintergrund können Musikhistoriker drei Entscheidungen treffen: Erstens: Mozart-Biographien der Vergangenheit als Gegenstände der Musikgeschichtsschreibung mit dem Erkenntnisziel zu untersuchen, im Nachvollzug der einstmals beschrittenen Zugangswege zu Mozart deren historische Bedingtheiten zu erkennen. Zweitens können sie eine neue Mozart-Biographie im Bewusstsein von deren Historizität schreiben, vielleicht gerade unter Fruchtbarmachung dieses Bewusstseins. Drittens schließlich können Musikhistoriker angesichts der Historizität allen biographischen Bemühens resignieren und die Biographie für tot erklären, wie das schon vor längerem geschehen ist. Überzeugend ist es freilich nicht, Probleme lediglich zu entsorgen und nicht zu lösen. Außerdem lehrt die Erfahrung: Totgesagte leben länger.

Literatur Abert, Anna Amalia: „Methoden der Mozartforschung“, in: Mozart-Jahrbuch 1964, 22–27. Abert, Hermann: Niccolò Jommelli als Opernkomponist (mit einer Biographie). Halle 1908. Abert, Hermann: „Über Aufgaben und Ziele der musikalischen Biographie“, in: Archiv für Musikwissenschaft 2 (1920a), 417–433; wiederabgedruckt in: Abert, Hermann: Gesammelte Schriften und Vorträge, hrsg. von Friedrich Blume. Halle 1929 (Reprint Tutzing 1968), 562–588. Abert, Hermann: Robert Schumann. Berlin 1903. 4. Aufl. Berlin 1920b. Abert, Hermann: W. A. Mozart. Fünfte vollständig neu bearbeitete und erweiterte Ausgabe von Otto Jahns Mozart, 2 Bde. Leipzig 1919–1921, 7. Aufl. Leipzig 1955–1956. Abert, Hermann: Johann Joseph Abert. Sein Leben und seine Werke. Leipzig 1916 (Nachdruck Stuttgart 1983). Adler, Guido: Der Stil in der Musik. I. Buch: Prinzipien und Arten des musikalischen Stils (mehr nicht erschienen). Leipzig 1911, 2. durchgesehene Aufl. Leipzig 1929. Adler, Guido: Methode der Musikgeschichte. Leipzig 1919. Allroggen, Gerhard: „Die Persönlichkeit des Komponisten als Gegenstand musikhistorischer Forschung“, in: Musik, Edition, Interpretation. Gedenkschrift für Günter Henle, hrsg. von Martin Bente. München 1980, 23–29.

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Konturen einer Mozart-Biographik

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Konturen einer Mozart-Biographik

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Ulrich Konrad

Vetter, Walther: „Gedanken zur musikalischen Biographie“, in: Musikforschung 12 (1959), 132–142. Voltaire, François-Marie (eigentlich F.-M. Arouet): Histoire de Charles XII, Roi de Suède. Rouen 1731, Basel 1732. Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur. 6., verb. u. erw. Aufl. Stuttgart 1979. Wölfflin, Heinrich: Die Kunst Albrecht Dürers. München 1905, diverse Neuauflagen. Wölfflin, Heinrich: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilbildung in der neueren Kunst. München 1915. Wyzewa, Théodore de/Saint-Foix, Georges de: Wolfgang Amédée Mozart. Sa vie musicale et son œuvre. Essai de biographie critique, suivie d’un nouveau catalogue chronologique de l’œuvre complète du maitre. Bd. I und II Paris 1912. Bd. III ebda. 1936. Bd. IV ebda. 1939. Bd. V ebda. 1946 (die Bde. III–V stammen allein von Saint-Foix).

Laurenz Lütteken

Mozart als Leser Im vorliegenden Band geht es, wie Mathias Mayer es in seiner Einleitung dargelegt hat, um das Echo der Musik in literarischen Konstellationen, und zwar im weitesten Sinn. Das Phänomen dieses ‚Nachhallens‘ hat sich, fast 225 Jahre nach Mozarts Tod, in einer unendlich vielgestaltig erscheinenden Reihe aufgefächert, es ist so unübersehbar geworden, dass es sich dem ordnenden Überblick zu entziehen scheint. Es geht um das Nachklingen der vom Komponisten losgelösten Musik. In einem pointierten Essay hat Reiner Kunze dies präzise beschrieben: „Natürlich teilt sich uns in Mozarts Musik nicht die historische Person Wolfgang Amadeus Mozart mit, sondern das Mitteilenswerte am Menschen Mozart – und somit auch das Beste, das er von anderen in sich aufgenommen hat, nicht zuletzt als Musiker.“1 Form und Bedeutung dieses Mitteilenswerten hängen, was nicht trivial ist, von demjenigen ab, der es in sich aufnehmen will. Gerade deswegen legt dieser Band aber auch die umgekehrte Frage nahe, nämlich nach den Texten, die Mozart in sich aufgenommen hat oder aufgenommen haben könnte – und welche Rolle diese Texte für seine ‚Töne‘ oder am Ende sogar für seinen ‚Ton‘ spielen, wie sie also in seinen Kompositionen nachhallen. Die historische Person Mozart kommt auf diese Weise wieder ins Spiel, die Resonanzen seiner Musik sind letztlich, auf die unterschiedlichste Weise, immer auch ein Nachklang jener gedanklichen Konfigurationen, aus denen sie hervorgegangen ist. Es ist daher ersichtlich, dass es dabei nicht einfach um nachweisliche Lektüren Mozarts gehen kann, sondern um Wissenszusammenhänge im weitesten Sinne des Wortes – und deren Bedeutung für sein Schaffen. Diesem Thema, das in der so umfangreichen und unübersichtlichen Auseinandersetzung mit Mozart eine merkwürdig untergeordnete Rolle spielt, sei in den folgenden Überlegungen etwas genauer nachgegangen. Um dies jedoch in der angemessenen Präzision tun zu können, sei dafür ein einziges Beispiel ausgewählt, ein besonders aussagekräftiges allerdings, das in einer genauen Lektüre auf Mozarts eigene Wissenshorizonte und damit seine eigenen Lektüren befragt werden soll. Das Verfahren ist experimentell, aber die Ergebnisse können durchaus ein hohes Maß an Evidenz beanspruchen. Die Ereignisse um den Bruch mit dem Salzburger Erzbischof in Wien sind allein aus Mozarts Korrespondenz an seinen Vater bekannt. Sie lassen also, da es keine weiteren Dokumente gibt, durchaus einen weiten Deutungsspielraum zu.

1 Kunze 1983, [7].

DOI 10.1515/9783110492989-003

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Laurenz Lütteken

Allem Anschein nach hat Mozart den Konflikt vorsätzlich gesucht, ihn schließlich zugespitzt – und dann gleichsam als Eintrittsbillet in jenes freigeistige, entfesselte und libertine Wien genutzt, das in den ersten Jahren der Alleinherrschaft Kaiser Josephs II. von magnetischer Anziehungskraft für die Angehörigen seiner Generation gewesen ist. Insbesondere die ständische Durchlässigkeit hat ihn, ohne dass er sich ihres illusorischen Charakters bewusst geworden wäre, fasziniert: Ich habe hier die schönsten und Nützlichsten Connaißancen von der Welt – bin in den grösten Häusern beliebt und angesehen – man erzeugt mir alle mögliche Ehre – und bin noch dazu dafür bezahlt – und ich soll um 400 fl. in Salzburg schmachten – ohne bezahlung, ohne aufmunterung – schmachten und ihnen in nichts nützlich seÿn könen, da ich es doch hier gewis kan. Was würde das Ende davon seÿn? – immer das nemliche; ich müsste mich zu tode kränken lassen, oder wieder weg=gehen. – ich brauche ihnen nichts mehr zu sagen, sie wissen es selbst. Nur noch dieses; die ganze [Stadt Wien weiß schon meine Geschichte] – die ganze [Noblesse redet mir zu] ich soll [mich ja nicht mehr ein [vor?]führen lassen.2

Dem offenbar also sehr genau kalkulierten Bruch mit dem erzbischöflichen Hof folgte die vollständige Neuorganisation der eigenen Existenz über Kompositionen, Konzerte und Unterricht. Dabei galt ihm die Oper als in jeder Hinsicht zentraler Teil jenes Wiener Entrées, denn bereits einen Monat nach dem Ausscheiden aus den Salzburger Diensten stand der Auftrag für ein Werk am 1776 gegründeten Nationaltheater in Wien fest, gewissermaßen an den höfischen Hierarchien vorbei. Die Arbeit an der Entführung aus dem Serail, die alle Züge eines demonstrativen Wiener Einstands-Stückes trägt, auch in den politischen Konnotationen, hat Mozart eine vergleichsweise lange Zeit beschäftigt, von den Plänen bis zur endlich erfolgten Uraufführung am 16. Juli 1782 für über ein Jahr. Aus vielerlei Gründen hat er dem Vater vom Fortgang der Arbeit genau berichtet. In zwei ausführlichen Briefen vom Herbst 1781 ist er darin besonders deutlich geworden. Das zweite dieser Schreiben stammt vom 13. Oktober 1781, dort heißt es: Nun wegen dem text von der opera. – was des Stephani seine arbeit anbelangt, so haben sie freÿlich recht. – doch ist die Poesie dem karackter des dumen, groben und boshaften osmin ganz angemessen. – und ich weis wohl daß die verseart darin nicht von den besten ist – doch ist sie so Passend, mit meinen Musikalischen gedanken |: die schon vorher in meinem kopf herumspatzierten :| übereins gekomen, daß sie mir nothwendig gefallen musste; – und ich wollte wetten daß man beÿ dessen auführung – nichts vermissen wird. – was die in dem Stück selbst sich befindende Poesie betrift, könte ich sie wirklich nicht verrachten. – die aria

2 Wolfgang Amadé Mozart an Leopold Mozart am 12. Mai 1781, in: Mozart 1962–2006, Bd. 3 (1763), 114–115. – Abgeglichen mit der DME. http://dme.mozarteum.at/DME/briefe/letter.php? mid=1160&cat (31. Oktober 2015); die eckigen Klammer sind in der von den Mozarts gepflegten Geheimschrift notiert.

Mozart als Leser

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von belmont; o wie ängstlich p: könte fast für die Musick nicht besser geschrieben seÿn. – das hui, und kumer ruht in meinem schoos |: den der kumer – kann nicht ruhen :| ausgenomen, ist die aria auch nicht schlecht; besonders der Erste theil. – und ich weis nicht – beÿ einer opera muß schlechterdings die Poesie der Musick gehorsame Tochter seÿn. – warum gefallen den die Welschen komischen opern überall? – mit allem dem Elend was das buch anbelangt! – so gar in Paris – wovon ich selbst ein Zeuge war. – weil da ganz die Musick herscht – und man darüber alles vergisst. – um so mehr muß Ja eine opera gefallen wo der Plan des Stücks gut ausgearbeitet; die Wörter aber nur blos für die Musick geschrieben sind, und nicht hier und dort einem Elenden Reime zu gefallen |: die doch, beÿ gott, zum werth einer theatralischen vor=stellung, es mag seÿn was es wolle, gar nichts beÿtragen, wohl aber eher schaden bringen :| worte setzen – oder ganze strophen die des kompo=nisten seine ganze idèe verderben. – verse sind wohl für die Musick das unentbehrlichste – aber Reime – des reimens wegen das schädlichste; – die herrn, die so Pedantisch zu werke gehen, werden immer mit samt der Musick zu grunde gehen. – da ist es am besten wen ein guter komponist der das Theater ver=steht, und selbst etwas anzugeben im stande ist, und ein gescheider Poet, als ein wahrer Phönix, zusamen komen. – dan darf einem vor dem beÿfalle des unwissenden auch nicht bange seÿn. – die Poeten komen mir fast vor wie die Trompeter mit ihren Handwercks Possen! – wen wir komponisten immer so getreu unsern regeln |: die damals als man noch nichts bessers wusste, ganz gut waren :| folgen wollten, so würden wir eben so untaugliche Musick, als sie untaugliche bücheln, ver=fertigen. – Nun habe ich ihnen dünkt mich genug albernes zeug daher geschwäzt; […].3

Diese berühmt gewordenen Zeilen sind in der Mozart-Forschung intensiv erörtert worden, jedoch wurden sie bisher noch nie, vor allem im Blick auf die verwendete Terminologie, einer systematischen Lektüre unterzogen. Dies ist jedoch mehr als naheliegend, weil sich der Brief an seinen Vater gerichtet hat. Der Adressat war nicht nur der vertraute Gesprächspartner seit Kindertagen, sondern ein ausgesprochen gebildeter, belesener Mann, dessen intellektueller Horizont bisher erst ansatzweise untersucht worden ist. Seit seinen Studien auf dem Jesuitengymnasium in Augsburg und auf der Benediktineruniversität in Salzburg, einer der ambitioniertesten des süddeutschen Raumes, war er nicht nur mit der musikalischen Welt seiner Zeit bestens vertraut, sondern ebenso mit ihren wichtigsten intellektuellen Strömungen. So hat Leopold Mozart nachweislich etwa Gottsched und Muratori gelesen, Bodmer und Breitinger, Gellert und Gessner, Shakespeare und Butler, Euler und Diderot, er kannte Friedrich Melchior Grimm und die französischen Enzyklopädisten, kurzum: Er nahm auf ungewöhnlich intensive Weise an den geistigen Debatten seiner Zeit teil.4 Der Sohn konnte sich also sicher

3 Wolfgang Amadé Mozart am 13. Oktober 1781 an Leopold Mozart, in: Mozart 1962– 2007, Bd. 3 (1963), 166–168, hier 167–168. – Abgeglichen mit der DME. http://dme.mozarteum.at/DME/ briefe/letter.php?mid=1199&cat (31. Oktober 2015). 4 Vgl. Irvine 2008, 6–15 (die dort veröffentlichte Buchliste ist allerdings sehr vorläufig); Eisen 1997, 85–138; zudem Valentin 1987, 105 ff.  

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sein, dass sowohl die Stichworte dieser Erörterung als auch ihr Stil vom Vater genau registriert wurden, ja dass er derlei Präzision regelrecht erwartete – und dass sie gewiss lange mündliche Diskussionen der beiden widerspiegelt. Liest man den Brief unter diesen Voraussetzungen, so lassen sich die wichtigsten Aspekte folgendermaßen bündeln: 1. Für Mozart steht die wirkungsästhetische Vorherrschaft im Zentrum („weil da ganz die Musick herscht – und man darüber alles vergisst“). Diese Konzentration auf die Wirkung hat in der ästhetischen Debatte des achtzehnten Jahrhunderts einen konkreten Ort, galt dies doch als ein zentrales Charakteristikum und damit als eine Daseinsberechtigung des Theaters.5 Neben diesem theaterästhetischen existierte aber auch ein genuin musikästhetischer Zusammenhang, denn die Frage nach der Wirkung der Tonkunst galt als eines der schwierigsten Probleme der aufklärerischen Debatte über die Künste. Die Musik verweigerte sich einerseits der Unterwerfung unter die Nachahmung der Natur, weil es keine äußere Natur gab, auf die sie sich sinnvoll beziehen ließ. Zum anderen waren aber selbst ihre Grundlagen, also die Verhältnisse der Intervalle, rational nicht zuverlässig zu bestimmen, da eine arithmetisch saubere Operation zur Sprengung des Oktavrahmens führte, während die zu seiner Wahrnehmung notwendige logarithmische Berechnung niemals exakt sein konnte. Diese irrationalen Grundlagen taten der Wirkung auf den Hörer jedoch nicht etwa Abbruch, sondern im Gegenteil, sie erschien umso stärker und umso rätselhafter. Moses Mendelssohn, ein Autor, der im Hause Mozart nachweislich bekannt war, hatte dies jedoch ausdrücklich nicht mehr als ein Problem der Musik, sondern, erstmals in dieser Deutlichkeit, als ihren unvergleichlichen Vorzug gegenüber allen andern Künsten gedeutet: Göttliche Tonkunst! Du bist die einzige, die uns mit allen Arten von Vergnügen überraschet! Welche süße Verwirrung von Vollkommenheit, sinnlicher Lust und Schönheit! Die Nachahmungen der menschlichen Leidenschaften; die künstliche Verbindung zwischen widersinnigen Uebellauten: Quellen der Vollkommenheit! Die leichten Verhältnisse in den Schwingungen; das Ebenmaß in Beziehung der Theile auf einander und auf das Ganze; die Beschäftigung der Geisteskräfte in Zweifeln, Vermuthen und Vorherrschen: Quellen der Schönheit! Die mit allen Saiten harmonische Spannung der nervigten Gefäße: eine Quelle der sinnlichen Lust! Alle diese Ergötzlichkeiten bieten sich schwesterlich die Hand und bewerben sich wetteifernd um unsere Gunst. Wundert man sich nun noch über die Zauberkraft der Harmonie?6

5 Dazu etwa Fischer-Lichte 1999, 53–68; auch Lach 2004. 6 Mendelssohn 1929, 280–281.

Mozart als Leser

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In Mozarts Konzentration auf die Wirkung verbindet sich demnach die von Mendelssohn beschriebene Sonderstellung der Musik mit den Funktionen des Theaters, das dieser musikalischen Wirkungskraft gleichsam eine Darstellungsund Anschauungsform zu verleihen vermag. Das Staunen, vielfach beschrieben in der musikalischen Literatur, tritt dabei als Zentralaffekt in den Vordergrund,7 für Mozart nicht überraschend, denn er war auch schon vor der Wiener Zeit um dessen systematische Erkundung bemüht. In einem Pariser Brief vom 3. Juli 1778 wird diese Haltung bereits als bestimmend für seine kompositorischen Entscheidungen beschrieben, allerdings noch bezogen auf ein Instrumentalwerk, eine Sinfonie: […] und gleich mitten in Ersten Allegro, war eine Pasage die ich wohl wuste daß sie gefallen müste, alle zuhörer wurden davon hingerissen – und war ein grosses applaudissement – weil ich aber wuste, wie ich sie schriebe, was das für einen Effect machen würde, so brachte ich sie auf die lezt noch einmahl an – da giengs nun Da capo. Das Andante gefiel auch, besonders aber das lezte Allegro – weil ich hörte daß hier alle lezte Allegro wie die Ersten mit allen instrumenten zugleich und meistens unisono anfangen, so fieng ichs mit die 2 violin Allein piano nur 8 tact an – darauf kam gleich ein forte – mit hin machten die zuhörer, | wie ichs erwartete | beÿm Piano sch – dan kam gleich das forte – sie das forte hören, und die hände zu klatschen war eins.8

Eine derart auf Wirkung zielende Kalkulation bedarf nicht nur der kompositorischen Virtuosität, sondern auch einer ästhetischen Grundlegung. Sie ist gekoppelt an die Vorrangstellung der Aufführung, ein Problem, das im Berlinischen Schrifttum der 1750er und 1760er Jahre besonders intensiv erörtert worden ist – in einem Diskussionszusammenhang, der Leopold Mozart besonders gut vertraut war. Für Mozart war diese Grundlegung jedoch nicht nur an die unauflösliche Verbindung von Komposition und Aufführung gebunden, sie wurde überwölbt von der Darstellungsform des Bühnendramas. Im ersten langen Brief über die Entführung ist immer wieder von dieser Engführung die Rede, besonders deutlich im Blick auf das Finale des ersten Aktes: „das erste was angezeigt, ist sehr kurz – und weil der Text dazu anlaß gegeben, so habe ich es so ziemlich gut 3stimig geschrieben. Dan fängt aber gleich das major pianissimo an – welches sehr geschwind gehen muß – und der schluß wird recht viel lärmen machen – und das ist Ja alles was zu einem schluß

7 Vgl. zum Kontext auch Matuschek 1991; zur Mendelssohn-Kenntnis bei den Mozarts Valentin 1987, 130; sowie Konrad/Staehelin 1991, 77 ff. 8 Wolfgang Amadé Mozart am 3. Juli 1778 an Leopold Mozart, in: Mozart 1962–2006, Bd. 2 (1962), 388–389. – Abgeglichen mit der Digitalen Mozart-Edition. http://dme.mozarteum.at/DME/briefe/ letter.php?mid=1022&cat= (31. Oktober 2015).  

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von einem Ackt gehört – Je mehr lärmen, Je besser; – Je kürzer, Je besser – damit die leute zum klatschen nicht kalt werden. –“9 Schon in der Pariser Sinfonie ist erkennbar, dass das Staunen nicht für sich selbst steht, sondern eine tektonische Funktion besitzt – demonstrativ zu Beginn des von Mozart erwähnten Finalsatzes, an dem die Wiederholung der beschriebenen Passage diese Funktion regelrecht verdeutlicht. 2. Mozart spricht vom ‚Plan des Stücks‘. Die Verwendung des Begriffs ‚Plan‘ erfolgt offenkundig nicht zufällig. Er verweist auf die Debatten über Ordnungsgefüge, wie sie im Zeitalter der Aufklärung besonders intensiv geführt wurden. Der Terminus entstammt eigentlich der Architekturtheorie und wurde, vor allem in England, anfangs in die poetologische Debatte eingeführt.10 In der Musikästhetik, zunächst bei Charles Avison, dann bei Leonhard Euler, einem ebenfalls den Mozarts bekannten Autor, wurde der Begriff des ‚Plans‘ verwendet, um logische Ordnungsprinzipien in der begriffslosen Instrumentalmusik zu benennen, also neuartige Prinzipien einer formalen Architektur.11 Der ‚Plan des Stückes‘ zielt auf jenes Gefüge, jenes geheime Band, das in der überbordenden Vielfalt der Erscheinungsformen eine Einheit, einen inneren Zusammenhang zu garantieren vermag. Diese Einheit in der Mannigfaltigkeit, paradigmatisch in der Dichtungslehre des Horaz gefordert, äußert sich besonders deutlich im Umgang mit der sichtbaren Natur. Während der französische Garten, dies ein Topos der Spätaufklärung, durch den offenkundigen Rationalismus zwar als ordnungsstiftend, aber eben unnatürlich verstanden wurde, veranschaulichte der englische Landschaftsgarten das natürliche Wirken eines ‚Plans‘.12 Die Berufung auf einen solchen, der in der finalen, nächtlichen Gartenszene des Figaro zur anschaulichen Bühnenwirklichkeit finden sollte, lässt sich auf diese Debatte beziehen. Mozart spricht jedoch gerade nicht von der Instrumentalmusik, sondern von der Oper – und bezieht sich damit auf ein fundamentales opernästhetisches Problem des achtzehnten Jahrhunderts. Denn die von vielen Zeitgenossen, im deutschen Sprachraum zuerst von Leopold Mozarts Gewährsmann Gottsched, als ‚unvernünftig‘ verachtete Oper erfährt in der Berufung auf einen ‚Plan‘ einen unvermutet neuen Sinn. Erst durch solch einen ‚gut ausgearbeiteten‘ Plan erhalten die zahllosen Unregelmäßigen und Normverstöße der Oper einen Fluchtpunkt, erst so vermögen sich die Mannigfaltigkeiten zu einem Ganzen zusammenzufügen. Da

9 Wolfgang Amadé Mozart am 26. September 1781 an Leopold Mozart, in: Mozart 1962–2006, Bd. 3 (1963), 161–164, hier 163. – Abgeglichen mit der Digitalen Mozart-Edition. http://dme. mozarteum.at/DME/briefe/letter.php?mid=1195&cat= (31. Oktober 2015). 10 Dazu Nugel 1980. 11 Gerhard 2002, 130 ff. 12 Dazu etwa Maurer 1987.  

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Mozart, im Gegensatz zur englischen Diskussion, die Vorstellung des ‚Plans‘ auf die Oper bezieht und an ihr entwickelt, offenbart sich zugleich eine bedeutende Differenz: Mozart wird, dies eine der großen produktionsästhetischen Herausforderungen seines Wiener Jahrzehnts, die Vorstellung dann wieder zurückprojizieren auf die Geltungszusammenhänge der Kammer- und Orchestermusik, beispielhaft etwa im Finale des G-Dur-Klavierkonzerts KV 453, das sehr deutlich an Verfahrensweisen der opera buffa gemahnt. 3. Für Mozart nimmt die Zurücksetzung der regelpoetischen Normen im Musikalischen eine zentrale Bedeutung ein. Der Komponist bedient sich dafür des Vergleichs mit den organisierten Hoftrompetern, die er in Salzburg aus eigener Anschauung gut kannte. Der Fürsterzbischof verfügte, wie alle Herrscher, über ein Ensemble aus bestenfalls 12 Trompetern, zuständig ausschließlich für ritualisierte Funktionen, also Signalgebungen aller Art; in gestaffelten Diensten waren immer drei von ihnen im Einsatz.13 Bei Mozart gelten sie als Musiker, deren Aufgabe sich in dieser reinen Funktion erfüllt, die sich also nur über handwerkliche Regeln definieren. Regeln gelten ihm aber allein als ein zivilisatorischer Akt, erfunden zu einem Zeitpunkt, „als man noch nichts bessers wusste“. In der weit fortgeschrittenen Gegenwart sind sie dagegen obsolet geworden. Der Jurist Johann Gottlieb Benzin behauptete bereits 1751, bezogen auf die Ballette von Filippo Niccolini, es sei doch sinnlos, diese Stücke „nach den Regeln dieser längst verstorbenen Leute“ zu bemessen – und hiermit waren Aristoteles und Horaz gemeint.14 Mozart knüpft an solche Argumentationsmuster an. Doch reicht sein Vorbehalt gegen regelpoetische Normierungen in der Musik weiter. Ein zentrales Argument in den aufklärerischen Auseinandersetzungen über die Musik bildete stets die Rolle der Einbildungskraft, über die bereits im Berlinischen Schrifttum der 1750er Jahre diskutiert worden war – vor dem Hintergrund der beiden musikalischen Leitkulturen Frankreich und Italien, also der Frage, ob die Einbildungskraft weitgehend zu domestizieren sei wie in der französischen Musik oder ganz freizusetzen wie in der italienischen. Leopold Mozart, obwohl ein Freund des die französische Haltung vertretenden Friedrich Wilhelm Marpurg, neigte gleichwohl zur italienischen Position. Bei seinem Sohn spitzte sich jedoch dieser Konflikt zu. Mozart verwendet für die Hervorbringungen der Einbildungskraft den Terminus des „musikalischen Gedankens“ – und unterscheidet sich in dieser Begriffsverwendung von den meisten Autoren der 1760er und 1770er Jahre, bei denen ‚Gedanke‘ im Sinne von ‚Motiv‘ erscheint, der Begriff

13 Schmid 2006, 85 ff. 14 Benzin 1751, 5.  

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also ganz losgelöst ist von der Idee der Einbildungskraft.15 Die Vorstellung, Hervorbringungen der Einbildungskraft könnten auch in der Musik über eine feste Struktur verfügen – und nichts anderes bedeutet die Verwendung des Begriffs –, erweist sich vor diesem Hintergrund als ebenso neu wie ungewöhnlich; Leopold Mozart wird dies umgehend bemerkt haben. Die Auffassung, solche Gedanken führten ein Eigenleben, spazierten also im Kopf herum, bezieht sich auf Theorien der Einbildungskraft, wie sie vor allem von Ludovico Antonio Muratori entwickelt wurden – einem im Hause Mozart besonders geschätzten Autor. Noch die Szene der ‚belebten Statue‘ am Ende des Don Giovanni ist ohne solche Muratori-Lektüren, ohne dessen Theorie der Imagination nicht denkbar. Vor diesem Hintergrund definiert sich allerdings die Aufgabe der Poesie neu. Im achtzehnten Jahrhundert galt nach wie vor der Text als notwendige Präzisierung der affektiven Unschärfe von Musik, durch ihn erst konnte sich ein musikalischer Gedanke bilden. Diese Hierarchie stellt Mozart infrage, weil für ihn die Musik selbst bereits genuines Produkt der Einbildungskraft und damit Träger von ‚Gedanken‘ ist. Er ist folglich der Ansicht, dass die Poesie daher nur in der Lage sein müsse, den musikalischen Gedanken, der sich Geltung verschaffenden Einbildungskraft Deutlichkeit und Nachdrücklichkeit zu verleihen, in einer Inversion der traditionellen Zusammenhänge von Poesie und Musik, die kurze Zeit vor ihm auch Heinrich Wilhelm von Gerstenberg beschäftigt hat, als er eine ClavichordFantasie Carl Philipp Emanuel Bachs aus ähnlichen Motiven heraus mit Texten versehen hat. Bei Mozart ist jedoch ein solches Verfahren eingebettet in den ‚gut ausgearbeiteten Plan‘ des Stücks: Die Mannigfaltigkeiten seiner Ausführung obliegen der Musik, Verdeutlichung und Veranschaulichung dieser Mannigfaltigkeiten hingegen der Poesie. 4. Die deutliche Zurücksetzung des Reims gegen den Rhythmus bei Mozart folgt einer poetischen Tendenz, die sich einerseits in der Rekonstituierung antiker Versmaße, andererseits in der freirhythmischen Dichtung, vor allem bei Klopstock, zeigt. Mozart dürfte Klopstocks Oden gekannt haben, allemal die in Wien kursierenden, zum Teil bereits gedruckt vorliegenden Vertonungen Christoph Willibald Glucks, in denen gerade dieser Aspekt – die feinsinnige Beziehung von Musik und Rhythmus – zentral gewesen ist. Doch steht hinter Glucks Bemühen vor allem ein poetologisches Argument. Mozart hingegen geht es offenkundig um eine Beziehung von Musik und Sprache jenseits poetologischer Normen. So sehr einerseits ‚musikalische Gedanken‘ bereits an und für sich existieren, so bedeutend ist andererseits das Metrum als Quelle musikalischer Ordnung. Die zahlreichen Überlegungen um eine angemessene „musikalische Poesie“, seit Christi-

15 Zur Terminologie vgl. Leisinger 1990, 103–119.

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an Gottfried Krauses Buch von 1752 mit wachsender Intensität geführt,16 werden hier gleichsam zugespitzt. Gereimte Poesie gilt gewissermaßen als Instrument, musikalische Gedanken zu ordnen. In den Vorstellungen vom ordnenden Plan stehen sich im achtzehnten Jahrhundert stets zwei zentrale Bestandteile gegenüber: Skizze und Ausführung, die alles bestimmende Zeichnung und die hinzutretende Farbe, disegno und colore. In der Ästhetik des achtzehnten Jahrhunderts werden daher in der Regel die Worte als disegno, die Töne als colore gedeutet. Bei Mozart verkehrt sich dieses Verhältnis jedoch, ebenso überraschend wie spektakulär, ins Gegenteil: Bestimmend sind die Töne, sie liefern das disegno, die geheime Ordnung der Mannigfaltigkeiten der Gedanken, den Plan. Die Rhythmen der Verse hingegen gelten bloß als Färbung, als colore, als bereichernde Ausdifferenzierung. Erst so kann die wirkungsästhetische Vorherrschaft der Musik tatsächlich begründet werden. In einer Passage aus dem anderen langen Brief zur Entführung vom 26. September hält Mozart dies fest: „weil aber die leidenschaften, heftig oder nicht, niemal bis zum Eckel ausgedrücket seÿn müssen, und die Musick, auch in der schaudervollsten lage, das ohr niemalen be=leidigen, sondern doch dabeÿ vergnügen muß, folglich allzeit Musick bleiben Muß.“17 5. Eine zentrale Denkfigur des achtzehnten Jahrhunderts liegt in der Unterscheidung von Kenner und Liebhaber, von connaisseur und amateur. Das damit verbundene Bedeutungsfeld bezieht sich auf die nicht-professionelle Kunstübung und -wahrnehmung, dessen Hintergrund auch die institutionell stets vorangetriebene Professionalisierung in den Künsten bildet. Schon im frühen achtzehnten Jahrhundert wurde, mit der Herausbildung des musikalischen Geschmacksurteils, der Liebhaber ausdrücklich als Adressat von Musik definiert. Der Liebhaber in diesem Sinne ist zunächst der verständige Spieler und Hörer, dessen Tun durch die aus der seelenbewegenden Kraft der Musik abgeleitete Doppelfunktion des ‚prodesse et delectare‘, des ‚Nutzens und Erfreuens‘ beglaubigt ist. Der Kenner galt hingegen als derjenige, der sein Geschmacksurteil auf vernunftmäßige Erkenntnis, mithin auf klare Begriffe gründen konnte. Folglich wurde die Wendung von Musik an ‚Kenner und Liebhaber‘ gleichermaßen nicht nur zu einem verkaufsfördernden Umsatzkriterium v. a. gedruckter Klavier- und Vokalmusik, gerade beim in Wien auf besondere Weise rezipierten Carl Philipp Emanuel Bach. Vielmehr offenbart sich in ihr so etwas wie der ästhetische Anspruch, die Bedürfnisse sowohl des bloß Hörenden wie auch des differenziert Urteilenden in einem musikalischen Kunstwerk zu vereinen.

16 [Krause] 1752. 17 Mozart am 26. September 1781 (wie Anm. 9), 162.

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Mozart betont diesen Zusammenhang, der in der Violinschule seines Vaters ebenfalls Berücksichtigung findet, ausdrücklich. Denn die perfekte Vereinigung von Poesie und Musik, von Dichter und Komponist, von ihm ironisch mit dem Fabelwesen des Phoenix verglichen, führt nicht allein zur Befriedigung des Kenners, sondern auch des Liebhabers. Der Beifall „des unwissenden“ gilt ihm deswegen als Erfolg, weil der stimmige Plan es vermöge den Zuhörer in Erstaunen zu setzen, sein Nicht-Wissen aber kein Hinderungsgrund bei der Wahrnehmung sei. Am 28. Dezember 1782, also ein gutes Jahr später, schrieb er an den Vater: – nun fehlen noch 2 Concerten zu den Suscriptions Concerten. – die Concerten sind eben das Mittelding zwischen zu schwer, und zu leicht – sind sehr Brillant – angenehm in die ohren – Natürlich, ohne in das leere zu fallen – hie und da – könen auch kener allein satisfaction erhalten – doch so – daß die nichtkener damit zufrieden seÿn müssen, ohne zu wissen warum.18

Diese Maxime der Befriedigung von Kenner und Liebhaber gilt nicht nur für die Opernproduktion, sie knüpft fast im Wortlaut an eine Unterscheidung an, die Johann Friedrich Reichardt 1774 in seiner Schrift Über die Deutsche comische Oper getroffen hat: „Kenner ist der, der sich bemüht, die Regeln der Kunst zu studiren, in so weit sie nothwenig sind, ein musikalisches Stück aus Gründen beurtheilen zu können“, während „Liebhaber der Musik ist der eigentlich, der an dem Anhören, oder auch Ausüben musikalischer Stücke Vergnügen findet, ohne daß er sich weiter um die Gründe dieses Vergnügens und um die Regeln der Kunst überhaupt bekümmert“.19 6. Gewissermaßen als Quintessenz solcher Überlegungen definiert Mozart das Gesamtgefüge des Bühnenwerks, denn bei ihm soll „die Poesie der Musick gehorsame Tochter sein“. Es handelt sich dabei nicht, wie so oft behauptet, um die naive Vorliebe des Komponisten für sein Metier, die Musik. Gerade eine derartige Position hätte beim Adressaten Leopold Mozart mehr als Befremden ausgelöst. In den Briefen zur Entführung wird deutlich, dass Mozart den Kern seiner Wiener Existenz in den Bühnenwerken sieht – jedoch nicht wegen des vordergründigen Arguments größtmöglicher Öffentlichkeit. Vielmehr dient ihm die Oper (und dann insbesondere die opera buffa) als Möglichkeit zur psychologischen Ergründung menschlicher Verhaltensweisen, also für das, was im achtzehnten Jahrhundert Erfahrungsseelenkunde hieß. Die unvergleichliche Wirkungsmöglichkeit des Theaters bildet dafür die Grundlage. Die im achtzehnten Jahrhundert immer 18 Wolfgang Amadé Mozart am 28. Dezember 1782 an Leopold Mozart, in: Mozart 1962–2006, Bd. 3 (1963), 245–246. – Abgeglichen mit der DME. http://dme.mozarteum.at/DME/briefe/letter. php?mid=1160&cat= (1. September 2016). 19 Reichardt 1774, 22, 20.

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wieder kritisierte fehlende Möglichkeit der Musik zur Naturnachahmung wird dabei als Vorzug gedeutet. Viele Autoren des achtzehnten Jahrhunderts haben anstelle der Naturnachahmung die Nachahmung der menschlichen Affekte als Hauptaufgabe der Musik definiert. Doch Mozart geht weit darüber hinaus. Musik selbst gilt ihm als affektund gedankenfähig, sie kann also nicht nur ‚unscharfe‘ Affekte darstellen, sondern sui generis erkunden. Der ‚Plan‘ verleiht solcher Erkundung Wahrscheinlichkeit, er erlaubt also die Darstellung auf der Bühne, vor einem Publikum. Hieraus erklärt sich aber die von Mozart verwendete genealogische Metapher, dass die Poesie ‚Tochter‘ der Musik sein soll. In einem beispiellosen Akt der Umdeutung geläufiger Paradigmen wird der Primat der Musik neu erkundet und bestimmt, und zwar ausdrücklich nicht im Blick auf wortlose Instrumentalmusik, sondern im Blick auf die Oper. Leopold Mozart wird diesen atemberaubenden Argumentationsgang genauestens wahrgenommen haben. Damit aber wird zugleich ein zentrales Paradigma der Aufklärung berührt. Ursprünglich lag ein Hauptinteresse darin, die Dinge des Denkens und des Handelns auf den Begriff zu bringen, also auf den Begriff der Vernunft. In der Metapher von Mutter und Tochter hingegen vollzieht sich bei Mozart die Inversion. Der ‚Begriff der Vernunft‘ ist in der Musik die hochdifferenziert ausgelotete Begriffslosigkeit. 7. In einer letzten abrupten Wendung bezeichnet Mozart seine Überlegungen als „albernes zeug“ und Geschwätz. Hierbei handelt es sich nicht einfach um Ironie, sondern um eine ebenfalls erhellende gedankliche Figur. Dem Vater sollen die vorhergehenden, äußerst kondensierten und konzentrierten Überlegungen als das dargestellt werden, was sie sind: als dialogisch-rhapsodisches Raisonnement. Es geht und ging Mozart nie um systematische Abhandlungen, sondern um die gesprächsweise Erkundung von Geltungszusammenhängen – und der Vater dürfte dabei nur einer von vielen Gesprächspartnern gewesen sein, dem allerdings, wegen der räumlichen Entfernung, das Privileg der brieflichen Äußerung zuteil geworden ist – mit dem Nachteil der fehlenden Möglichkeit zur direkten Antwort. Dies ist eine Denkfigur der französischen, vor allem aber der italienischen Aufklärung, die Mozart aus eigener Anschauung kannte, die er überdies in den zahlreichen Wiener Salons, zu denen er umgehend Zutritt hatte, neuerlich erleben konnte. Vermittlung von Wissen, von Reflexion und von Kenntnissen durch das Modell des Dialogs, ein Modell, das kurze Zeit später der intellektuell in Venedig sozialisierte Lorenzo Da Ponte auf eine für ihn besonders wichtige Weise verkörpern sollte. Mozart geht es also, so präzise und weit gefächert seine Ausführungen auch sind, nicht um eine systematische Darlegung ästhetischer Überzeugungen. Vielmehr sind seine Überlegungen grundsätzlich nicht vom Werk selbst zu trennen. Deswegen erweist sich Mozart als Vertreter einer impliziten Ästhetik, seine Anschauungen vermitteln sich nicht neben dem Werk, sondern in

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ihm selbst. Die Entführung aus dem Serail ist somit nicht bloß ein Entrée in die musikalische Öffentlichkeit Wiens, sondern ein erster Prüfstein dieser impliziten Ästhetik. Und daran sollte Mozart während seiner gesamten Wiener Jahre und auch jenseits der Oper festhalten. Die Resonanz von Texten in Tönen bei Mozart führt notwendig zur Frage, über welche Erfahrungen Mozart als Leser eigentlich verfügt hat. Am 20. Dezember 1777 schrieb er aus Mannheim an den Vater: „um 6 uhr gehe ich zum Canabich und lehre die Mad:selle Rose; dort bleibe ich beÿm nacht essen, dan wird discurirt – – oder bisweilen gespiellt, da ziehe ich aber allzeit ein buch aus meiner tasche, und lese – – wie ich es zu salzburg zu machen pflegte.“20 Gleichwohl war die Lektüre nur ein Teil seines Wissenserwerbs, ebenso bedeutsam war der gemeinsame Austausch, das Gespräch, für das in Wien nochmals eine ganz neue Grundlage geschaffen worden ist. Mozart war nicht nur eine, sondern vielleicht die Zentralfigur im geistigen Panorama des intellektuellen Wien während des josephinischen Jahrzehnts. Der begrenzte und vergleichsweise kleine Bestand seiner privaten Bibliothek sollte nicht darüber hinwegtäuschen,21 dass sein Zugang zu Noten und Büchern nahezu unbegrenzt gewesen ist, allein schon über die riesige Bibliothek seines Gönners und Freundes Gottfried van Swieten. Doch hinzu kommt der Wissenserwerb über die zahllosen Gespräche in Zirkeln, Salons und Gesellschaften, an denen Mozart in Wien auf so reiche Weise teilgenommen hat.22 Gerade dies ist durchaus eine aufklärerische Denkfigur, die Aneignung von Wissen im Dialog – und der Austausch darüber. Mozart nahm an solchen Dialogen teil und hat mit offenbar seismographischer Präzision die für ihn zentralen Themen aufgespürt und vertieft. Ein Brief wie derjenige vom 13. Oktober 1781 lässt erkennen, auf wie genaue Weise Mozart, der Komponist, nicht nur mit musikalischen, sondern eben auch ästhetischen Positionen seiner Zeit vertraut war. Es ist offenkundig, dass er gerade dies dem gebildeten und gelehrten Vater vermitteln wollte – mit der alles entscheidenden Konsequenz, dass eben das Werk selbst als Spiegel dieser Erfahrungen gelten kann. Nimmt man die Vorstellung von ‚Mozart als Leser‘ ernst, so wird deutlich, auf wie verwickelte Weise Mozart Lektüreerfahrungen gemacht haben kann. Doch in seinen Kompositionen, in seinen Tönen schwingt die Auseinandersetzung mit den Texten nach, sie lassen sich, wie in der Entführung, als ein breiter Resonanzraum begreifen. Es gibt Hörer im achtzehnten Jahrhundert,

20 Wolfgang Amadé Mozart am 20. Dezember 1777 an Leopold Mozart, in: Mozart 1962–2006, Bd. 2 (1962), 199. – Abgeglichen mit der Digitalen Mozart-Edition. http://dme.mozarteum.at/ DME/briefe/letter.php?mid=958&cat= (31. Oktober 2015). 21 Vgl. Konrad/Staehelin 1991. 22 Dazu immer noch Braunbehrens 1986.

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die dies bereits bemerkt haben, in Wien etwa Gottfried van Swieten, in München Christian Friedrich Daniel Schubart oder in Weimar Johann Wolfgang von Goethe. Es könnte also reizvoll sein, Mozarts kompositorisches Denken und sein musikalisches Handeln vor diesem Hintergrund nochmals neu zu bedenken. Der hier unternommene Versuch, einen einzigen Brief gewissermaßen einer deutenden Belastungsprobe in dieser Hinsicht zu unterziehen, versteht sich daher durchaus als Baustein zu einem solchen Vorhaben.

Literatur Benzin, Johann Gottlieb: Versuch einer Beurtheilung der Pantomimischen Oper des Herrn Nicolini. Erfurt 1751. Braunbehrens, Volkmar: Mozart in Wien. München, Zürich 1986. Eisen, Cliff: „The Mozart’s Salzburg Music Library“, in: Mozart-Studies 2 (1997), 85–138. Fischer-Lichte, Erika: „Der Körper als Zeichen und als Erfahrung. Über die Wirkung von Theateraufführungen“, in: Dies./Schönert, Jörg (Hg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache. Göttingen 1999 (= Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa 5), 53–68. Gerhard, Anselm: London und der Klassizismus in der Musik. Die Idee der „absoluten Musik“ und Muzio Clementis Klavierwerke. Stuttgart, Weimar 2002. Irvine, Thomas: „Der belesene Kapellmeister. Leopold Mozart und seine Bibliotheken“, in: Acta Mozartiana 55 (2008), 6–15. Konrad, Ulrich/Staehelin, Martin: allzeit ein buch. Die Bibliothek Wolfgang Amadeus Mozarts. Weinheim 1991 (= Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 66). [Krause, Christian Gottfried]: Von der Musikalischen Poesie. Mit einem Register vermehrt. Berlin 1752. Kunze, Reiner: Ergriffen von den Messen Mozarts. Passau 1983. Lach, Roman: Characters in Motion. Einbildungskraft und Identität in der empfindsamen Komödie der Spätaufklärung. Heidelberg 2004 (= Germanisch-romanische Monatsschrift. Beiheft 20). Leisinger, Ulrich: „Was sind musikalische Gedanken?“, in: Archiv für Musikwissenschaft 47 (1990), 103–119. Matuschek, Stefan: Über das Staunen. Eine ideengeschichtliche Analyse. Tübingen 1991 (= Studien zur deutschen Literatur 116). Maurer, Michael: Aufklärung und Anglophilie in Deutschland. Göttingen, Zürich 1987 (= Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 19). Mendelssohn, Moses: „Ueber die Empfindungen [1761]“, in: Ders.: Schriften zur Philosophie und Ästhetik I, hrsg. von Fritz Bamberger. Berlin 1929 (= Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe 1). Mozart. Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe, hrsg. und erläutert von Wilhelm A. Bauer und Otto E. Deutsch, 8 Bde. Kassel, Basel, London, New York 1962–2006. Nugel, Bernfried: The just design. Studien zu architektonischen Vorstellungsweisen in der neoklassischen Literaturtheorie am Beispiel Englands. Berlin 1980 (= Komparatistische Studien 11).

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Reichardt, Johann Friedrich: Über die Deutsche comische Oper nebst einem Anhange eines freundschaftlichen Briefes über die musikalische Poesie. Hamburg 1774. Schmid, Manfred Hermann: Mozart in Salzburg. Ein Ort für sein Talent. Salzburg 2006. Valentin, Erich: Leopold Mozart. Porträt einer Persönlichkeit. München 1987.

Thorsten Valk

Ernste Scherze. Über eine Denkfigur in Goethes Mozart-Rezeption 1. Nur wenige Kilometer liegen zwischen der Weimarer Altstadt und dem im dreizehnten Jahrhundert erstmals erwähnten Ort Tiefurt, der sich heutzutage vor allem aufgrund seines weitläufigen Landschaftsgartens einer besonderen Aufmerksamkeit erfreut. Am Rande des von der Ilm durchflossenen Parks liegt ein aus dem sechzehnten Jahrhundert stammendes Gutspächterhaus, das zwischen 1775 und 1776 zu einem großzügigen, aber keineswegs herrschaftlichen Anwesen ausgebaut wurde. Wie die architektonische Gestaltung des Gebäudes unmittelbar vor Augen führt, ist die gängige Bezeichnung ,Schloss Tiefurt‘ nicht ganz angemessen. Wenn sie sich im allgemeinen Sprachgebrauch trotzdem hat durchsetzen können, so dürfte dies wohl daran liegen, dass das ehemalige Gutspächterhaus ab 1781 der Weimarer Herzogin Anna Amalia als Sommersitz diente. In den fünf Jahren zuvor hatte es bereits Prinz Friedrich Ferdinand Constantin bewohnt, der zweite Sohn Anna Amalias.1 Nachdem der Um- und Ausbau des alten Gutspächterhauses im Jahre 1776 weitgehend abgeschlossen war, begann man unter der Leitung des Prinzenerziehers Carl Ludwig von Knebel mit der Anlage eines ersten, anfangs noch relativ bescheidenen Landschaftsgartens, der während der Folgejahre wiederholt auch für Theateraufführungen genutzt wurde, so etwa für die Uraufführung des von Goethe verfassten Singspiels Die Fischerin am 22. Juli 1782.2 Gegen Ende des Jahres 1782 reiste Anna Amalia, die bereits 1775 sämtliche Regierungsgeschäfte im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach an ihren Sohn Carl August übertragen hatte, an den Dessauer Hof und lernte bei dieser Gelegenheit den zu seiner Zeit auf dem europäischen Festland noch völlig einzigartigen Landschaftsgarten in Wörlitz kennen. In der Folge dieser Reise fasste Anna Amalia den Entschluss, ihre eigenen Gartenanlagen zu erweitern und den Tiefurter Park nach dem Wörlitzer Vorbild neu zu gestalten. Besondere Bedeutung gewannen dabei verschiedene Porträtbüsten, Denkmäler und andere Parkarchitekturen, etwa der

1 Zum hof- und familiengeschichtlichen Kontext siehe Berger 2006, 135–161. 2 Über die musischen und gartenkünstlerischen Aktivitäten Anna Amalias in Tiefurt informiert Anger 1961.

DOI 10.1515/9783110492989-004

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Musentempel, der allerdings erst 1803 errichtet wurde. Zu den frühesten Büsten im Tiefurter Landschaftsgarten gehörten drei Bildnisse von Goethe, Herder und Wieland, die der Weimarer Hofbildhauer Martin Gottlieb Klauer geschaffen hatte. Im Jahre 1785 folgte ein Gedenkstein, den Anna Amalia zur Erinnerung an ihren bei einer Hochwasserkatastrophe ums Leben gekommenen Bruder Leopold errichten ließ; dem im Krieg gegen Frankreich gefallenen Sohn Prinz Friedrich Ferdinand Constantin widmete sie 1795 ein Kenotaph.3 Wiederum einige Jahre später, im Sommer 1799, errichtete man ein weiteres Denkmal – diesmal jedoch nicht zur Erinnerung an ein verstorbenes Mitglied der herzoglichen Familie, sondern zur Ehrung des Komponisten Wolfgang Amadeus Mozart. Die Idee, dem acht Jahre zuvor in Wien verstorbenen Tonkünstler ein Denkmal zu setzen, darf man, wenngleich eindeutige Hinweise fehlen, Goethe zurechnen, der seit 1791 das Weimarer Hoftheater leitete und binnen weniger Jahre sechs Mozart-Opern auf die Bühne gebracht hatte. Die konkrete Gestaltung des Tiefurter Mozart-Denkmals übernahm Goethes Kunstberater Johann Heinrich Meyer, während die Ausführung in gebranntem und mit weißer Ölfarbe gefasstem Ton, wie stets bei solchen Anlässen, der Werkstatt des Hofbildhauers Klauer oblag. Das Weimarer Mozart-Denkmal darf als das erste dem Komponisten außerhalb Österreichs gewidmete Ehrenmal angesehen werden, und auch wenn man Österreich einbezieht, gehört es zu den frühesten Zeugnissen einer memorialen Mozart-Verehrung im deutschsprachigen Raum. Für das im Tiefurter Landschaftsgarten errichtete Denkmal gab es keine direkten Vorbilder. Zwar war Mozarts Ruhm nach seinem frühen Tod im Jahre 1791 stetig gewachsen, sodass der Autor Franz Xaver Niemetschek bereits 1798 eine erste Biographie des Komponisten veröffentlichte und der Leipziger Verlag Breitkopf & Härtel fast zeitgleich eine Ausgabe sämtlicher Werke ankündigte. Doch Denkmäler zu Ehren Mozarts hatte zu diesem Zeitpunkt noch niemand errichtet, abgesehen von Franz Carl Deyerkauf, der bereits 1792 in Graz einen Gartenpavillon als Memorialort für den Komponisten hatte anlegen lassen.4 Neben der Tatsache, dass das Weimarer Mozart-Denkmal zu den ersten seiner Art im gesamten deutschsprachigen Raum zählt, ist der Umstand bemerkenswert, dass sich Herzogin Anna Amalia 1799 offenkundig bereit erklärte, das dem Komponisten gewidmete Denkmal in ihren Landschaftsgarten aufzunehmen, in dem bis dahin ausschließlich Büsten und Denkmäler errichtet worden waren, die sich auf Personen der herzoglichen Familie bezogen oder aber prominente Akteure des Weimarer Kulturlebens vergegen-

3 Zu den Denkmälern und weiteren Parkarchitekturen in Tiefurt siehe Ahrendt 2013, 92–117. 4 Vgl. hierzu den Brief von Constanze Mozart an Breitkopf & Härtel (27. November 1799), in: Mozart 2005, 300.

Ernste Scherze. Über eine Denkfigur in Goethes Mozart-Rezeption

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wärtigten. Das Mozart-Denkmal bildete somit einen Fremdkörper im Ensemble der Tiefurter Parkarchitekturen und transzendierte gleichsam deren gemeinsamen Bezugshorizont. Die Frage, warum Goethe trotz der vornehmlich privaten Atmosphäre des Tiefurter Parks ebendort, und zwar mit Zustimmung der Herzogin, ein Mozart-Denkmal errichten ließ, lenkt das Interesse schließlich auf dessen charakteristische Ikonographie: Bezeichnenderweise haben Goethe und Meyer auf eine Vergegenwärtigung des Tonkünstlers im Medium des Porträts verzichtet und stattdessen eine allegorische Darstellung gewählt, die man, im Grunde genommen, auf jeden Komponisten beziehen könnte, wenn die dreizeilige Inschrift auf dem Sockel nicht den Namen Mozarts nennen würde.5 Während des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts war die Präsentation von Komponistenbüsten im öffentlichen wie im privaten Raum keineswegs ungewöhnlich. Auch in Weimar erwarb man solche Büsten, um sie an exponierten Orten aufzustellen. Als Beispiel sei lediglich die vom französischen Bildhauer Jean-Antoine Houdon gefertigte Büste des Opernkomponisten Christoph Willibald Gluck erwähnt, die Herzog Carl August im Jahre 1775 während eines ParisAufenthaltes erworben hatte und die er nach 1781 in der herzoglichen Bibliothek aufstellen ließ, wo sie sich noch heute befindet.6 Wenn Goethe und Anna Amalia es gewünscht hätten, wäre es ihnen wohl möglich gewesen, eine Büste mit Mozarts Gesichtszügen anfertigen zu lassen. Doch offensichtlich verzichteten sie ganz bewusst darauf und ehrten den Komponisten stattdessen mit einem Denkmal, das auf einem Sockel in Gestalt eines antik-klassizistischen Rundaltars eine schlanke Leier zwischen zwei Theatermasken präsentiert (Abb. 1 u. 2). Die Masken sind aufgrund ihrer charakteristischen Gesichtszüge leicht als Figurationen der komischen und der tragischen Dichtkunst zu identifizieren. In einem Artikel, den Carl August Böttiger nur wenige Monate nach der Errichtung des Mozart-Denkmals für das in Weimar verlegte Journal des Luxus und der Moden verfasste, heißt es denn auch knapp und bündig: Das Denkmal, welches Hr. Hofbildhauer Klauer in Toreutika ausgeführt hat, spricht sich selbst so verständlich aus, daß es des Scholiastenwitzes zu seiner Deutung gar nicht bedarf. Die komische und tragische Maske, jene durch lachende Züge des Satyrs und den krummen Hirtenstab (pedum), diese durch den hoch über die Stirne gethürmten Wulst und das Heroenschwert (parazonium) erkennbar, werden durch die zwischen innestehende Lyra zu einem harmonischen Ganzen verbunden.7

5 Für wertvolle Hinweise zum Tiefurter Mozart-Denkmal danke ich Laurenz Lütteken (Universität Zürich) sowie Ulrich Konrad (Universität Würzburg). 6 Vgl. Werche 2007, 262; Bertsch 2012, 86–88. 7 Böttiger 1799, 584.

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Abb. 1: Kupfertafel aus dem Journal des Luxus und der Moden (November 1799) mit Johann Heinrich Meyers Entwurf für das Mozart-Denkmal im Tiefurter Park. © Klassik Stiftung Weimar.

Abb. 2: Mozart-Denkmal im Tiefurter Park, heutiger Zustand. © Klassik Stiftung Weimar.

Während die Masken die komische und die tragische Dichtkunst bildhaft vergegenwärtigen, evoziert die von ihnen gerahmte Lyra die Sphäre des griechischen Gottes Apollon, der indessen nicht nur durch die Lyra, sein wichtigstes Attribut, in das Bildprogramm des Denkmals einbezogen wird, sondern auch durch die Inschrift auf dem Rundsockel, wo in drei Zeilen die ebenso schlichte wie pointierte Widmung „Mozart und den Musen“ zu lesen ist. In der griechischen Mythologie gilt Apollon als Führer und Schutzpatron der Musen; eine seiner gängigsten Bezeichnungen lautet deshalb auch ,Apollon Musagetes‘. Wenn vor dem Hintergrund dieser mythologischen Zusammenhänge das Tiefurter Denkmal die Inschrift „Mozart und den Musen“ mit der figürlichen Darstellung einer Lyra und zweier Theatermasken verknüpft, so werden Mozart und Apollon zu einer Instanz verschmolzen: Mozart ist gleichsam der neue Führer der Musen, von denen das Denkmal

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allerdings nur zwei auch konkret vergegenwärtigt: Thalia, die Muse der komischen Dichtkunst, sowie Melpomene, die Muse der tragischen Dichtkunst. Warum das Tiefurter Denkmal den Mozart-Apollon so dezidiert mit Thalia und Melpomene assoziiert, erklärt Böttiger im Verweis auf den spezifischen Doppelcharakter des mozartschen Werks. Im Journal des Luxus und der Moden schreibt er: Der Zauberer in Tönen, dessen Nahme die Unterschrift mit dem der Musen vermählt, belebte das scherzhafte und ernste Singspiel, die Entführung aus dem Serail und die Clemenza di Tito mit seinen Tönen, und umschloß in seinem Don Juan eine ganze Welt der erhabensten und lieblichsten Tonweisen. Lieder des Scherzes und Lieder der Andacht entströmten in gleicher Fülle und Vollendung dieser Lyra, die, ach, nur zu bald verstummte. Der Schleier unter Melpomenens Maske ist also in mehr als Einer Bedeutung tragisch.8

Böttiger deutet das Tiefurter Mozart-Denkmal, indem er die Lyra des Apollon mit Mozarts kompositorischem Genius gleichsetzt und die beiden Masken der tragischen und komischen Dichtkunst direkt auf Mozarts Opern bezieht: auf die Entführung aus dem Serail als Beispiel für ein ,scherzhaftes Singspiel‘ und auf die Clemenza di Tito als Beispiel für ein ,ernstes Singspiel‘. Eine Sonderstellung attestiert Böttiger bezeichnenderweise dem Don Giovanni, der als ,Dramma giocoso‘ das Scherzhafte mit dem Ernsten beziehungsweise das Lustspielhafte mit dem Tragischen verbindet. Indem Böttiger den komisch-tragischen Doppelcharakter des Don Giovanni eigens akzentuiert, hebt er einen Aspekt hervor, der auch für Goethes Verständnis dieser Oper stets von zentraler Bedeutung gewesen ist. Dem jungen Schopenhauer gegenüber soll Goethe einmal erklärt haben, Mozarts Don Giovanni sei ein Werk, in dem es „nur auf der Oberfläche lustig zugehe, in der Tiefe aber der Ernst walte, und die Musik eben diesen doppelten Charakter vortrefflich ausdrücke“.9 Die Simultaneität von Ernst und Scherz im Medium der Kunst beschäftigte Goethe seit den 1790er Jahren immer wieder und avancierte zu einer zentralen Denkfigur in seiner klassischen wie nachklassischen Ästhetik. Hieraus wird auch ersichtlich, warum Goethe am 12. Februar 1829 im Gespräch mit Eckermann kurzerhand erklärte, Mozart hätte seinen Faust vertonen müssen, und zwar im Stile des komisch-tragischen Don Giovanni.10 Goethes Äußerung fußt auf dem ästhetischen Ideal einer wechselseitigen Durchdringung von Ernst und Scherz: Den Ernst im Scherz aufzuheben und das Scherzhafte auf ein Ernstes hin transparent zu halten, war für Goethe ein Wesensmerkmal seines Faust-Dramas, und zwar vor allem des

8 Böttiger 1799, 584. 9 Herwig 1998, 938. 10 Goethe 1999, 306.

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zweiten Dramenteils, weshalb er am 17. März 1832, nur wenige Tage vor seinem Tod, in einem Brief an Wilhelm von Humboldt erklären konnte: „Ganz ohne Frage würdʼ es mir unendliche Freude machen, meinen werten, durchaus dankbar anerkannten, weitverteilten Freunden auch bei Lebzeiten diese sehr ernsten Scherze zu widmen, mitzuteilen und ihre Erwiderung zu vernehmen.“11 Vor dem Hintergrund dieser Äußerung lässt sich nunmehr auch eine Antwort auf die bereits eingangs formulierte Frage wagen, warum man im Jahre 1799 ein allegorisches Mozart-Denkmal mit Lyra und Theatermasken in die Reihe der Tiefurter Parkarchitekturen integrierte: Einerseits zeugt das Denkmal von der außergewöhnlichen Bewunderung, die man dem Komponisten Mozart entgegenbrachte, andererseits gibt es sich jedoch auch als steinernes Manifest eines Kunstideals zu erkennen, das Goethe und sein Weimarer Umfeld während der 1790er Jahre zunehmend ausbildeten und das sich über Goethes klassische wie nachklassische Dichtungen hinweg bis ins Spätwerk des Faust II erhalten sollte.

2. Mit der Errichtung des Tiefurter Denkmals im Sommer 1799 fand die frühe Phase der Weimarer Mozart-Pflege ihren Abschluss. Begonnen hatte sie bereits 14 Jahre zuvor, als am 5. April 1785 mit der Entführung aus dem Serail zum ersten Mal eine Mozart-Oper in Weimar inszeniert wurde. Wenn man den zeitgenössischen Berichten Glauben schenken mag, so fand das Publikum der Residenzstadt großen Gefallen an den Aufführungen der von Joseph Bellomo geleiteten Schauspieltruppe. Goethe äußerte sich hingegen äußerst zurückhaltend, wie ein Brief vom 22. Dezember 1785 an den in Zürich lebenden Komponisten Philipp Christoph Kayser vor Augen führt: Neulich ward die Entführung aus dem Serail, componirt von Mozart gegeben. Jedermann erklärte sich für die Musick. Das erstemal spielten sie es mittelmäsig, der Text selbst ist sehr schlecht und auch die Musick wollte mir nicht ein. Das zweytemal wurde es schlecht gespielt und ich ging gar heraus. Doch das Stück erhielt sich und iedermann lobte die Musick. Als sie es zum fünftenmal gaben, ging ich wieder hinein. Sie agirten und sangen besser als iemals, ich abstrahirte vom Text und begreiffe nun die Differenz meines Urtheils und des Eindrucks aufs Publikum und weis woran ich bin.12

Goethes kritische Distanz gegenüber der in Weimar präsentierten Entführung aus dem Serail ist interpretationsbedürftig, nicht nur, weil sie so entschieden von den

11 Goethe 1993d, 550. 12 Goethe 1997, 611.

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allgemeinen Reaktionen des Publikums abweicht, sondern auch, weil sie bereits bei flüchtiger Lektüre einen unterschwelligen Abwehrreflex erkennen lässt. Wenn Goethe gegenüber seinem Korrespondenzpartner Kayser erklärt, der Text der Entführung sei „sehr schlecht“ und obendrein habe auch die Musik von Mozart wenig Eingängiges, so urteilt er keineswegs unvoreingenommen und im Bemühen um eine differenzierte Einschätzung. Vielmehr lässt seine Äußerung ein gewisses Konkurrenzbewusstsein durchscheinen.13 In der Tat hegte Goethe 1785 noch den Plan, zusammen mit dem Schweizer Komponisten Kayser eine deutsche Singspieltradition zu begründen. Doch die zunächst mit großen Hoffnungen begonnene, dann aber zunehmend schwierige Zusammenarbeit mit Kayser anlässlich des Singspiels Scherz, List und Rache führte in eine Sackgasse, was Goethe einige Jahre später mit dem großen Erfolg der Entführung im deutschen Sprachraum erklärte. In der Italienischen Reise heißt es zurückblickend: „Alles unser Bemühen daher, uns im Einfachen und Beschränkten abzuschließen, ging verloren als Mozart auftrat. Die Entführung aus dem Serail schlug alles nieder, und es ist auf dem Theater von unserm so sorgsam gearbeiteten Stück niemals die Rede gewesen.“14 Ungeachtet seiner anfänglichen Distanz gegenüber Mozarts Entführung sollte Goethe nach seiner Berufung zum Weimarer Theaterdirektor am 7. Mai 1791 ausgerechnet diese Oper als eine der ersten auf den neuen Spielplan setzen. Und anschließend ging es dann gewissermaßen Schlag auf Schlag weiter: Am 30. Januar 1792 wurde zum ersten Mal der Don Giovanni in Weimar aufgeführt (Abb. 3), am 24. Oktober 1793 folgte die Hochzeit des Figaro, am 16. Januar 1794 hatte die Zauberflöte ihre Weimarer Premiere, fast genau drei Jahre später, am 10. Januar 1797, wurde am Hoftheater erstmals Così fan tutte gegeben, und am 21. Dezember 1799, in jenem Jahr also, in dem auch das Tiefurter Mozart-Denkmal errichtet wurde, folgte noch La clemenza di Tito. Nicht weniger als sechs Mozart-Opern hat Goethe während seiner Intendanz auf die Bühne des Weimarer Hoftheaters gebracht.15 Ob er allerdings mit diesem Engagement lediglich einem allgemeinen Trend während der 1790er Jahre folgte oder über das an deutschen und europäischen Bühnen übliche Maß hinausging, mithin als einer der ersten großen Mozart-Förderer vor 1800 gelten darf, ist in der Forschung umstritten. Während Hans Joachim Kreutzer etwa erklärt, dass „eine sonderliche Betonung der Mozart-

13 Vgl. Spaethling 1987, 95–104. 14 Goethe 1993b, 468. Zur Zusammenarbeit zwischen Goethe und Kayser vgl. Miller 2009, 76– 131. 15 Als Theaterdirektor richtete Goethe sein besonderes Augenmerk auch auf die Libretti zu Mozarts Opern, für die in Weimar häufig neue Textfassungen – etwa von Christian August Vulpius – verfasst wurden. Siehe hierzu Köhler 1996 und Schröter 2012.

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Pflege“ während Goethes Weimarer Intendanz „nicht erkennbar“ sei,16 attestiert Dieter Borchmeyer dem Hoftheater unter seinem Direktor Goethe ganz besondere Verdienste im Kontext der frühen Mozart-Rezeption: „In einer Zeit, da Mozart durchaus noch nicht als repräsentativer Komponist seiner Zeit galt, in Wien etwa im Schatten der Italiener stand, ist Goethe einer der Wegbereiter seines Ruhms gewesen.“17 Dass die Einschätzungen hinsichtlich der Weimarer Mozart-Pflege so gegensätzlich ausfallen können, lässt sich auf die verschiedenartigen Aspekte zurückführen, anhand derer Goethes Engagement für Mozarts Opernwerk zu bewerten ist: Zu ihnen gehören etwa die spezifische Auswahl und Einrichtung der Opern, die Anzahl der Aufführungen und Wiederaufnahmen, das Echo in der Presse oder auch die zeitgenössischen Berichte des Weimarer Opernpublikums.18 Unabhängig von diesen offenen Fragen lässt sich festhalten, dass Goethes Bewunderung für Mozart während der 1790er Jahre kontinuierlich zunahm und in der Realisierung des Tiefurter Denkmals schließlich auch symbolischen Ausdruck fand. Insbesondere die programmatische Ikonographie des Denkmals führt vor Augen, dass Goethe in Mozarts Opern ein Kunstverständnis auszumachen glaubte, das mit seinen eigenen ästhetischen Grundsätzen und Überzeugungen korrespondierte. Welche Intensität die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit Mozarts Werk während der 1790er Jahre für ihn gewann, zeigt sich nicht nur an seiner Entscheidung, einige Opern gleich selbst zu inszenieren, sondern auch an den vielfältigen Resonanzen, die Mozarts Werke in seinem literarischen Œuvre gefunden haben. Oftmals sind es nicht allein Motivkorrespondenzen und analog konfigurierte Symbolwelten, mit denen Goethe an Mozarts Opern angeschlossen hat. Gelegentlich reichen die Kongruenzen weit über das Motivische hinaus bis in die gedankliche Grundstruktur der jeweiligen Werke. Da sich diese mal offensichtlichen, mal verborgenen Entsprechungen im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht umfassend herausarbeiten lassen, kann im Folgenden lediglich jene Mozart-Oper Berücksichtigung finden, die den vermutlich stärksten Nachhall in Goethes poetischem Kosmos gefunden hat und in welcher Goethe sein Ideal der „ernsten Scherze“ ebenso vollkommen verwirklicht fand wie im Don Giovanni. Die Rede ist von der Zauberflöte.

16 Kreutzer 2010, 156. 17 Borchmeyer 2005, 252. 18 Laut Ludwig Finscher wurde in Weimar vor allem dem Don Giovanni eine besondere Förderung zuteil: „Das Weimarer Hoftheater scheint eine der ganz wenigen Bühnen gewesen zu sein, auf denen Il dissoluto punito [der vollständige Titel der Oper lautet Il dissoluto punito ossia il Don Giovanni] ein Repertoirestück wurde, lange bevor man es allgemein zum klassischen Meisterwerk erklärte und dem immer stärker sich historisierenden Repertoire einverleibte. Von 1792 bis 1815 erschien es in jeder Spielzeit und mit insgesamt 68 Aufführungen“ (Finscher 1987, 20–21).

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Abb. 3: Theaterzettel zur Weimarer Premiere des Don Giovanni am 30. Januar 1792. © Klassik Stiftung Weimar.

3. Am 30. September 1791, nur wenige Wochen vor Mozarts Tod, erlebte die Zauberflöte in Wien ihre Uraufführung. Die Reaktionen des zeitgenössischen Publikums fielen, entgegen der etwas großspurigen Aussage des Librettisten Emanuel Schikaneder, zunächst gemischt aus. Zustimmung und Ablehnung hielten sich die Waa-

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ge. Ein Jahr später allerdings setzte Mozarts Oper dann zu einem sensationellen Siegeszug in ganz Europa an. Nach der Prager Premiere am 21. September 1792 wurde die Zauberflöte während des folgenden Jahres bereits an zahlreichen Opernhäusern auf die Spielpläne gesetzt, so etwa in Augsburg, Leipzig und Passau, in Graz, München und Warschau beziehungsweise in Dresden, Hamburg und Frankfurt am Main. Der Theaterdirektor Goethe ging vor diesem Hintergrund kein besonderes Risiko ein, wenn er die Zauberflöte im Januar 1794 auch am Weimarer Hoftheater erstmals aufführen ließ (Abb. 4). Einen guten Eindruck von der außergewöhnlichen Popularität, die Mozarts Oper bereits 1794 gewonnen hatte, vermittelt das Journal des Luxus und der Moden, das wenige Monate nach der Weimarer Premiere mit einem umfangreichen Artikel zur Zauberflöte aufwartete und Mozarts Oper als Sensationserfolg feierte: Sie ist nun schon seit einem Paar Jahren […] auf allen Bühnen und Buden, wo es nur noch anderthalb Kehlen, ein Paar Geigen, einen Vorhang und sechs Coulissen gab, unaufhörlich gegeben worden, hat die Zuschauer viele Meilen weit in die Runde […] gezogen, und die Theater-Cassen gefüllt. Für unsre Notenstecher und Musikhändler war sie eine wahre Goldgrube […]. Sie liegt auf allen Klavieren unsrer lernenden und klimpernden Jugend; hat unsren großen und kleinen Buben Papageno-Pfeichen, und unsern Schönen neue Moden, Coeffüren und Stirnbänder, Müffe und Arbeitsbeutel à la Papagena gegeben.19

Dass Ludwig von Baczko, der Autor dieses Artikels, nicht übertreibt, wenn er die Omnipräsenz der Zauberflöte während der 1790er Jahre in eindringlichen Bildern vor Augen führt, bestätigt eine Passage aus Goethes epischer Dichtung Hermann und Dorothea, die äußerst humorvoll zeigt, auf welche Weise Mozarts Oper bereits kurze Zeit nach ihrer Uraufführung einen festen Platz im Bildungskanon des städtischen Bürgertums gefunden hat. Wer wie der fleißige und rechtschaffene, aber eben auch etwas einfältige Hermann die Zauberflöte nicht kennt, darf sich des Spotts seiner bildungsbeflissenen Freunde sicher sein. „Als ich eintrat“, resümiert Hermann nach einem Besuch im Haus der benachbarten Kaufmannsfamilie, „kicherten sie; doch zog ichs auf mich nicht“. Und damit nimmt der Spaß seinen Lauf: Minchen saß am Klavier; es war der Vater zugegen, Hörte die Töchterchen singen, und war entzückt und in Laune. Manches verstand ich nicht, was in den Liedern gesagt war; Aber ich hörte viel von Pamina, viel von Tamino. Und ich wollte doch auch nicht stumm sein! Sobald sie geendet, Fragt’ ich dem Texte nach, und nach den beiden Personen.

19 Baczko 1794, 364–365.

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Abb. 4: Aquarell von Georg Melchior Kraus: Kostümierung anlässlich einer Aufführung der Zauberflöte. © Klassik Stiftung Weimar. Alle schwiegen darauf und lächelten; aber der Vater Sagte: nicht wahr, mein Freund, Er kennt nur Adam und Eva? Niemand hielt sich alsdann, und laut auf lachten die Mädchen, Laut auf lachten die Knaben, es hielt den Bauch sich der Alte. […] Und ich höre, noch heißʼ ich bei ihnen immer Tamino.20

Hermann macht sich zum Gespött der Kaufmannsfamilie, da er mit seiner schlichten Frage nach dem Urheber des Textes sowie nach den beiden Liebenden Tamino und Pamina verrät, dass er nicht à jour ist, mithin jene Oper noch nicht kennt, die 1796, im Entstehungsjahr von Hermann und Dorothea, zum Maß aller Dinge geworden ist. Dass der Theaterdirektor Goethe die allgemeine Begeisterung für Mozarts Zauberflöte teilte, beweist nicht nur sein vergeblicher Versuch, die Originalpartitur der Oper für seine eigene Autographensammlung zu gewinnen, sondern auch sein außergewöhnliches Engagement im Kontext der Weimarer Aufführung. Goethe leitete selbst die Proben am Hoftheater und zeichnete sogar einige Kulissenentwürfe, von denen sich einer erhalten hat, der die Königin der Nacht auf einer

20 Goethe 1994, 823–824.

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Mondsichel bei ihrem ersten Auftritt zeigt (Abb. 5). Während seiner Intendanz hat Goethe die Zauberflöte mehr als achtzigmal aufführen lassen, so häufig wie keine andere Mozart-Oper in Weimar. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Goethe keineswegs nur Mozarts Musik mit höchstem Lob bedachte, sondern auch dem bereits von vielen Zeitgenossen geschmähten Libretto Emanuel Schikaneders seinen Respekt zollte. Zwar erklärte er 1823 im Rückblick gegenüber Frédéric Soret, das Textbuch „wimmele von Unwahrscheinlichkeiten und Albernheiten“, doch attestierte er Schikaneder zugleich auch, dass er „sehr gründlich die Kunst verstanden“ habe, „theatralische Effekte zu erzielen“.21 Obwohl sich Goethe nur punktuell zur dramatischen Handlung und zum poetischen Gehalt der Zauberflöte jenseits ihrer musikalischen Dimension geäußert hat, ist doch offenkundig, dass er im Libretto vieles wiederfand, was ihm während der 1790er Jahre in seiner Eigenschaft als Schriftsteller, Theaterdirektor und nicht zuletzt auch als Politiker mit hoher gesellschaftlicher Verantwortung am Herzen lag. Die Verbindung von Volkstheater, moralischem Lehrstück und Zauberoper musste ihn ebenso fesseln wie die märchenhafte Symbolik des Bühnengeschehens und die aus freimaurerischem Geiste entwickelte Idee einer Erziehung zur Humanität. All diese Elemente verbanden sich mit seinen eigenen poetischen Tendenzen und gesellschaftspolitischen Orientierungen während der 1790er Jahre. Angesichts der Fülle inspirierender Motive und Ideen, die er in der Zauberflöte vorfand, und in Anbetracht des großen Erfolges, den die Oper in ganz Europa feierte, kann es nicht überraschen, dass Goethe bereits im Jahre 1795 den Entschluss fasste, eine Fortsetzung der Zauberflöte zu schreiben. Als sich Paul Wranitzky, der Orchesterdirektor der Wiener Hofoper mit der Frage an Goethe wandte, ob er ein Opernsujet zur Verfügung stellen könne, avisierte dieser ihm in einem langen Antwortschreiben einen zweiten Teil der Zauberflöte und skizzierte auch schon die Handlung. Zu einer Zusammenarbeit kam es trotzdem nicht, denn einerseits war Wranitzky nicht gewillt, auf Goethes ambitionierte Honorarforderungen einzugehen, und andererseits schien es ihm einigermaßen riskant, an den grandiosen Erfolg der Zauberflöte anschließen zu wollen. Welcher Komponist würde und dürfte es wagen, eine solche Herausforderung anzunehmen? Da Goethe und Wranitzky nicht übereinkamen, ließ der Dichter seinen Plan vorübergehend ruhen und griff ihn erst wieder auf, als zwei Jahre später August Wilhelm Iffland anlässlich eines Gastspiels in Weimar Station machte und die Idee einer Fortsetzung der Zauberflöte begeistert aufnahm. Indessen sollte auch der zweite Anlauf nicht zum Erfolg führen, was vermutlich nicht allein, aber doch zumindest teilweise an einer Intervention Schillers gelegen haben dürfte, der

21 Goethe 1993c, 31.

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Abb. 5: Bühnenbildentwurf von Goethes eigener Hand für die Weimarer Inszenierung der Zauberflöte, 1793/94. © Klassik Stiftung Weimar.

Goethe gerade erst zur Wiederaufnahme der Arbeit am Faust hatte bewegen können und es daher mit Sorge sah, wenn Goethe an Nebengeschäften so großes Interesse fand. Wohl wissend, wie er Goethe am sichersten zum Faust würde zurückführen können, schrieb er am 11. Mai 1798: „Wenn Sie zu der Fortsetzung der Zauberflöte keinen recht geschickten und beliebten Componisten haben, so setzen Sie sich, fürcht ich, in Gefahr, ein undankbares Publicum zu finden, denn bei der Repraesentation selbst rettet kein Text die Oper, wenn die Music nicht gelungen ist, vielmehr läßt man den Poeten die verfehlte Wirkung mit entgelten.“22 Goethe war Realist genug, um Schillers Warnung ernst zu nehmen, und so stellte er seine Arbeit abrupt wieder ein. Seine Zauberflöte blieb ein Fragment und wurde einige Jahre später als Torso ohne die zahlreichen Paralipomena in Friedrich Wilmans Taschenbuch auf das Jahr 1802 abgedruckt. Die Geschichte der Fortsetzung fand freilich auch mit diesem Schritt noch nicht ihr Ende, denn als sich der Berliner Freund Carl Friedrich Zelter im Folgejahr an Goethe wandte und nach einem brauchbaren Opernlibretto fragte, wurde die alte Idee wieder wach.23 Allerdings scheiterte auch der dritte Anlauf, sodass Goethe alle diesbezüglichen

22 Schiller 1977, 235. 23 Borchmeyer 2005, 258–259.

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Anstrengungen endgültig aufgab und sich fortan zu neuen Anfragen und Ermutigungen sowohl vonseiten Ifflands wie auch vonseiten Zelters nicht mehr äußerte.

4. Goethes Weigerung, das Fragment zur Fortsetzung der Zauberflöte nach 1803 noch einmal vorzunehmen und fertigzustellen, resultierte nicht allein aus Resignation oder mangelnder Hoffnung, doch noch einen geeigneten Komponisten zu finden. Wenn Goethe sein halbfertiges Libretto nicht mehr abzuschließen versuchte, so erklärt sich dies auch aus dem Umstand, dass die in den späten 1790er Jahren begonnene, jedoch nicht vollendete Fortsetzung zu Mozarts Oper zusehends als Bildspender, Motivarsenal und Gedankenreservoir für andere, just in dieser Zeitspanne entstandene Werke fungiert hatte, insbesondere für den Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre und für den ersten Teil des Faust-Dramas.24 Das poetische Substrat des Librettos war gleichsam nach und nach von anderen Werken aufgesogen worden. Doch auch über die Phase der wiederholten Arbeit am Libretto hinaus ließ sich Goethe von seiner Fortsetzung zur Zauberflöte anregen, so etwa im zweiten Teil des Faust, in den Wanderjahren und nicht zuletzt in der Novelle, an deren Ende ein morgenländischer Knabe mit dem Spiel auf seiner ,Zauberflöte‘ einen ausgebrochenen Löwen zähmt, der seinerseits die wilden Elementarkräfte in der humanen wie außerhumanen Natur verkörpert. In der Novelle avanciert das magisch-orpheische Flötenspiel des Knaben somit zum Symbol für die humanisierende Kraft der Musik.25 Was Goethe an Mozarts Zauberflöte besonders faszinierte und neben anderem wohl auch zu einer Fortsetzung anregte, war das freimaurerische Gedankengut, für das der Priester Sarastro und sein Bruderbund stehen. Goethe selbst war bereits 1780 in die Weimarer Loge Anna Amalia eingetreten und hatte, nach deren vorübergehender Schließung, für geraume Zeit dem Illuminaten-Orden angehört. Die philanthropischen Ideale des Freimaurertums fesselten ihn ebenso wie das streng ritualisierte Ordensleben mit seiner facettenreichen Symbolsprache. All dies begegnete ihm nun erneut und poetisch verdichtet bei Mozart. In seiner Fortsetzung der Zauberflöte hat Goethe das freimaurerische Gedankengut nicht nur aufgegriffen, sondern in mancherlei Hinsicht auch neu perspektiviert. So zielt etwa Sarastros Orden bei Goethe nicht nur auf die ethische Veredelung des einzelnen Subjekts, sondern er strebt auch eine Reform und Erneuerung der

24 Vgl. Seidlin 1963, 41–42; Koch 1969, 122. 25 Zur Novelle vgl. Borchmeyer 1977, 333–350.

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sozialen Ordnung außerhalb der solaren Geistwelt an. Es gilt, nicht nur den Einzelnen zu erziehen, sondern darüber hinaus auch das gesellschaftlich verfasste Gemeinwesen aus dem Geist der Aufklärung zu humanisieren, mithin die Reformideen des Freimaurertums in eine politische Praxis zu überführen. Dafür bedarf es freilich einer Öffnung des Ordens: Er muss Vertreter der weltlichen Macht in seine eigenen Reihen integrieren (was denn auch mit der Aufnahme Taminos in den Orden umgesetzt wird), und zugleich müssen seine Mitglieder die Sphäre des Lichts verlassen, um im Rahmen einer weltlichen Mission Ideal und Wirklichkeit einander anzunähern. In Goethes Fortsetzung der Zauberflöte kommt dies insbesondere dadurch zum Ausdruck, dass jährlich ein Mitglied der Priestergemeinde zu einer langen Wanderschaft aufbricht, deren tieferen Sinn Sarastro folgendermaßen umschreibt: „In diesen stillen Mauern lernt der Mensch sich selbst und sein Innerstes erforschen. Er bereitet sich vor die Stimme der Götter zu vernehmen; aber die erhabene Sprache der Natur, die Töne der bedürftigen Menschheit lernt nur der Wandrer kennen, der auf den weiten Gefilden der Erde umherschweift.“26 Aus dieser sehr knappen Skizze des von Sarastro geführten Bruderbundes wird bereits ersichtlich, wie viel von ihm auf die Turmgesellschaft in Wilhelm Meisters Lehrjahren übergegangen ist. Auch hier begegnet ein im Verborgenen wirkender, ordensähnlich verfasster Männerbund, der Wilhelm Meister auf dessen Bildungsweg begleitet, ja nicht selten auch führt, und der ihn schließlich zu einem von sozialer Verantwortung geleiteten Individuum formt. Doch der Turmgesellschaft geht es, ähnlich wie Sarastro und den Seinen, nicht nur um die Erziehung des Einzelnen, sondern auch um eine tiefgreifende Reform des Gemeinwesens. Nicht zuletzt antizipiert das Wandergebot des von Sarastro geführten Ordens ein zentrales Thema der Wanderjahre, an deren Ende der sogenannte ‚Bund der Auswanderer‘ ebenfalls ein strenges Gelübde formuliert, das nunmehr ganz im Zeichen einer sozial motivierten Tätigkeitsphilosophie steht. Was in den Wanderjahren freilich mit erheblichem Pathos verkündet wird, findet in der Fortsetzung der Zauberflöte auch einen spielerisch-humorvollen Ausdruck. Hier muss das von bösen Mächten in einen goldenen Sarg eingesperrte Kind von Tamino und Pamina ständig umhergetragen werden, da es nur so am Leben zu erhalten ist: ein ernster Scherz, wie er auch in anderen Passagen der goetheschen Zauberflöte immer wieder zum Ausdruck kommt. Während das freimaurerische Gedankengut der Zauberflöte nach seinen diversen Metamorphosen und Adaptationen in Goethes Libretto von den beiden Meister-Romanen aufgesogen wird, findet die bereits bei Mozart und Schikaneder

26 Goethe 1993a, 234–235.

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exponierte Hell-Dunkel- beziehungsweise Tag-Nacht-Symbolik ihren unverkennbaren Widerhall im Faust, nachdem Goethe sie zunächst in seiner Fortsetzung der Zauberflöte neu semantisiert hat. Auffällig ist vor allem, dass Goethe die Opposition zwischen Sarastro und der Königin der Nacht zu einem prinzipiellen Gegensatz zuspitzt, wie bereits Oskar Seidlin hervorgehoben hat.27 Mit anderen Worten: Die Rachegefühle, welche die Königin der Nacht gegenüber Sarastro hegt, resultieren nicht primär, wie noch bei Mozart, aus verletzten Muttergefühlen. Vielmehr verkörpert die Königin der Nacht nun den absoluten Gegenpol zu Sarastros solarer Geistwelt. Damit rückt sie jedoch an die Seite Mephistos. Sie negiert das Leben und propagiert die Auslöschung alles Existierenden. Wie bereits ihr erster Auftritt zu erkennen gibt, wandelt sie sich zu einer Figuration der Nichtexistenz: „Woget ihr Wolken hin, | Decket die Erde, | Daß es noch düsterer | Finsterer werde. | Schrecken und Schauer, | Klagen und Trauer | Leise verhalle bang, | Ende den Nachtgesang | Schweigen und Tod.“28 Was schon die beiden Meister-Romane kennzeichnet, gilt auch für den Faust: Die Arbeit an der Fortsetzung zur Zauberflöte prägt nicht allein den ersten Teil des goetheschen Opus magnum, dessen klassische Partien um 1800 entstehen, sondern entfaltet auch Fernwirkungen, die bis zum Faust II reichen. Jene Szene etwa, in der die glücklichen Eltern Tamino und Pamina ihren aus dem goldenen Sarg befreiten Sohn begrüßen, während dieser sich sogleich ungestüm in die Lüfte erhebt, antizipiert die Euphorion-Szene im Faust II. Wichtiger aber noch als diese Motiv- und Ideenkorrespondenzen ist der Umstand, dass Goethe während seiner Arbeit am zweiten Teil der Zauberflöte auch gattungsästhetische Fragen für sich klärt, die dann im Faust II ihre entschiedene Umsetzung finden werden. Durch die Arbeit an der Fortsetzung von Mozarts Oper setzt sich Goethe beispielsweise erstmals mit der Kunstform der großen und gleichsam zum Gesamtkunstwerk tendierenden Zauberoper auseinander. Er erprobt damit eine Dramenform, die in gattungspoetischer wie auch in medienästhetischer Hinsicht nahezu alles einschließt, was das Theater um 1800 zu bieten hat. Komik, burlesker Spaß und entfesselter Bühnenzauber berühren sich mit anspruchsvoller Reflexion, existentiellem Ernst und elaborierter Kunstsprache. In seiner Fortsetzung der Zauberflöte experimentiert Goethe mit einer neuen und in ihren Möglichkeiten gleichsam entgrenzten, sowohl gattungspoetisch wie auch medienästhetisch zum Gesamtkunstwerk tendierenden Literaturform, die dann im Faust II mit seinen „sehr ernsten Scherzen“ ihr Telos finden wird.

27 Seidlin 1963, 48–49. 28 Goethe 1993a, 224.

Ernste Scherze. Über eine Denkfigur in Goethes Mozart-Rezeption

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Stefan Schmid

Die Entdeckung eines romantischen Mozart – Perspektiven auf (und von) K.F. Schinkel, E.T.A. Hoffmann und C.D. Friedrich 1. Einleitung Dieser Beitrag widmet sich einer romantischen Perspektive auf Mozart im neunzehnten Jahrhundert. Was wir unter Romantik verstehen, ist am Beginn dieses Jahrhunderts (oder sogar einige Jahre früher) entstanden; von der Literatur ausgehend ist es auf die anderen Künste ‚übergesprungen‘ und hat sich im Fall der Musik besonders lange gehalten. Unsere heutigen Hörgewohnheiten sind durch diese Zeit bestimmt; das Konzept ‚Konzertsaal‘ und die damit verbundenen Rituale beispielsweise stammen aus dieser Zeit und damit auch die innere Haltung, mit der wir einer musikalischen Aufführung zuhören. Es handelt sich um eine Zeit, in der die Musik als ‚sprachloses Medium‘ besonders kultiviert wurde, dessen Sprach- und damit Bezugslosigkeit zu menschlichen Alltagsproblemen ausdrücklich propagiert und aufgenommen wurde. Völlig abgehobene Versenkung in die Musik war die angemessene Rezeptionshaltung, und so schloss man auch auf einen Wesenskern der Musik, der mit Begriffen wie ‚höchste geistige Symbolik‘ oder mit dem Wort ‚Universalsprache‘ beschrieben werden kann. Die literarische Romantik hat diese Haltung vorhergesehen und in den Texten E.T.A. Hoffmanns oder Wilhelm Heinrich Wackenroders bekannt gemacht, immer wieder im Zusammenhang mit dem schon länger bestehenden Geniebegriff, der so aber einen ganz neuen Wirkungsradius erlangte. Da Wolfgang Amadeus Mozart zweifelsohne eines der größten musikalischen Genies der Geschichte der Menschheit war, liegt tatsächlich die Versuchung nahe, ihn, obwohl er gar nicht darin gelebt hat, dem angesprochenen Zeitraum zuzuordnen oder ihn und sein Werk zumindest als von Vorahnungen determiniert zu betrachten. Das neunzehnte Jahrhundert war im hiesigen Kulturraum das ‚Jahrhundert der Musik‘ – und Mozart als einer der größten Musiker der Vergangenheit sollte nicht in irgendeiner Verbindung damit stehen? Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden. Man wird vielleicht bemerken, wie wenig sicher der Boden ist, auf dem hier argumentiert werden soll. Es kann gut sein, dass die ‚Entdeckung eines romantischen Mozart‘ auf einem Experimentierfeld stattfindet, dessen Ertrag zum Teil

DOI 10.1515/9783110492989-005

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hypothetisch bleiben wird. Immerhin, so hoffe ich, entsteht so (auch) eine Perspektive auf Mozart, wie sie heute gar nicht in Mode ist, wie sie aber vielleicht im neunzehnten Jahrhundert gegenwärtig war und für das ‚Verstehen dieses Genies‘ – soweit so etwas möglich ist – hilfreich sein kann.

2. Zum Stand der Forschung Wie stellt sich die Forschung (unterschiedlicher Disziplinen, vorrangig der Musikund Literaturwissenschaft) zum Thema des ‚romantischen Mozart‘? Martin Geck betitelt einen Aufsatz über die vor ca. 40 Jahren erschienene literarische MozartBiographie von Wolfgang Hildesheimer1 mit dem Schlagwort „Pure Romantik“2 (!) – und verweist darin auf den „Eindruck von Düsternis“,3 der sich beim Lesen dieser Biographie aufdränge: „Düster ist […] Hildesheimers Sicht auf seinen Gegenstand. Der Autor umzäune […] ‚das große Geheimnis Mozart als schwarzes Loch‘.“ Ein ständiges Raunen durchziehe das Buch: Mozarts Persönlichkeit werde uns, so gibt der Autor zu verstehen, mit wachsender Beschäftigung immer rätselhafter; ein Kontext zwischen Leben und Werk lasse sich schwerlich herstellen, die Werke selbst blieben Monaden, die jeder Erhellung durch einen musik- und zeitgeschichtlichen Kontext widerstünden. […] Zugleich wurden die der Musik Mozarts gewidmeten Aufsätze in ein geheimnisvolles Licht getaucht.4

Hildesheimers Biographie, die damals einige Diskussionen ausgelöst hatte, schöpfte ihre Erklärungsmuster also aus dem Repertoire vielfach für das Romantische in Anspruch genommener Motive: des Geheimnisvollen, des Dunklen und des Rätselhaften. Der Autor hat es damit zwar etwas übertrieben – insbesondere im Pathos der Darstellung –, konnte so aber auch breitere Leserkreise mit einer Botschaft erreichen, die bisher nur Experten und Kennern bekannt war, nämlich dass Mozarts Image des meist heiteren, „lichten Apollinikers, der hin und wieder dionysisch aus der Rolle fällt“5 ungerechtfertigt ist – zugunsten einer vielleicht zu sehr ins Romantische gewendeten Sichtweise. Es gehört zu den Stärken von Hildesheimers Ansatz, auch Mozarts Musik, so unglaublich eingängig und klar sie den Menschen oft vorkommt, unter dem Blickwinkel einer ‚Metaphysik der Kunst‘ zu betrachten oder zu hören, „die auf das Moment von Unverfügbarkeit 1 2 3 4 5

Hildesheimer 1977. Geck 2007. Geck 2007, 93. Geck 2007, 94. Geck 2007, 94.

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und auf den Rätselcharakter von Kunst abhebt“,6 und sei es nur, dass beispielsweise das unheimlich Selbstverständliche der Musik Mozarts unter diesem Aspekt befragt wird. Etwas überspannt wirkt zwar auch die von Hildesheimer provozierte, „für viele Leser wohl unerfreuliche Erkenntnis […], wie wenig man über Mozart als Mensch eigentlich wissen kann und auf welch spekulative Weise wir uns seine Person lediglich vorstellen können“,7 jedoch halte ich diese Herangehensweise für fruchtbarer als die selbstbewusstere, von vermeintlich genügend gesichertem Wissen ausgehende. Die Quellenlage zu Mozarts Leben ist in mancher Hinsicht problematisch, obwohl man immer wieder auf die Feststellung stößt, dass es gut dokumentiert sei. Vergegenwärtigt man sich zum Beispiel „die Fülle der gesicherten Zeugnisse, der Briefe und der anderen Aufzeichnungen der Familie – 1.200 sind es bis zu Mozarts Tod – [wird] allenfalls ein rudimentäres Bild [geliefert], schlimmer noch: In ihrem Reichtum an Informationen suggerieren sie eine Vollständigkeit, von der sie weit entfernt sind. Lange Phasen, in denen die Familie zusammen in Salzburg lebte und deshalb keine Briefe schrieb“,8 sind weniger gut dokumentiert. Natürlich möchte man die Erträge der Forschung nicht missen. Das neue Mozart-Handbuch deutet, ohne das Wort Romantik explizit zu benutzen, in den Ausführungen zum Mozartbild genügend Denkrichtungen an, die zu einem romantischen Mozart führen können, ohne sich aber festzulegen, [d]enn jede Zeit schuf sich ihr eigenes Mozart-Bild. Der frühvollendete Götterliebling, das von den Zeitgenossen verkannte und im Elend gestorbene Genie, der ewig heitere RokokoKomponist, der Donnerblitzbub, das ahnungslose Medium, durch das sich eine höhere Macht auf Erden musikalisch artikulierte, der Alltagsmensch, der mit schmutzigen Fingernägeln die himmlischste Musik zu Papier brachte – sie alle sind Projektionen aus späteren Zeiten, die mindestens so viel über die Visionen ihrer Schöpfer aussagen wie über die Person Mozarts. Kein anderer Komponist scheint darüber hinaus so viele verschiedene Identifikationsmöglichkeiten zu bieten wie Mozart: für Katholiken und Freimaurer, für Konservative und Progressive, für Patrioten und Kosmopoliten, für Österreicher und Deutsche und so fort. Kein anderer Komponist hat seit nunmehr fast zwei Jahrhunderten so viel wissenschaftliche, literarische und trivialbiographische Aufmerksamkeit parallel zueinander erfahren; bei keinem anderen haben sich die archivalischen, anekdotischen und frei erfundenen Informationen über die Jahrzehnte hinweg gegenseitig so überlagert, dass eine klare Trennung heute fast unmöglich erscheint, ja oft nicht einmal erwünscht ist.9

6 7 8 9

Geck 2007, 99. Fischerauer 2012. Leopold 2005, 15. Leopold 2005, 12.

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So Silke Leopold im Mozart-Handbuch; man kann daran sehen: Die anekdotischen, katholischen, konservativen, zum Teil auch nationalistischen Resonanzen, die der Begriff ‚Romantik‘ beinhaltet, wurden seit jeher von der Person Mozarts zum Schwingen gebracht; allem voran der Verweis auf das Übermenschliche in seinem Schaffen, das sozusagen außerhalb seiner Person am Wirken gewesen sei und ihn lediglich als Medium benutzte. Gleichwohl war Mozart keineswegs ein ‚unbewusstes Gefäß‘ göttlicher oder überweltlicher Eingebungen; die Mozartforschung kann gerade in Bezug auf das Schaffen Mozarts mit Sicherheit feststellen, dass er sich dezidiert als eigenständiger Künstler verstand. Dieser Künstlertypus war etwas Neues im achtzehnten Jahrhundert, und Mozart versuchte beharrlich, diesen Status für sich Realität werden zu lassen. Das Selbstbewusstsein dafür kann er aber nur aus dem Wissen über die Qualität seiner Musik gezogen haben; seine Trennung vom Salzburger erzbischöflichen Hof (die mit dem berühmten Fußtritt vollzogen wurde) entsprang nicht etwa Leichtsinn oder seiner „Empörung über die erzbischöfliche Geringschätzung seiner Person“, „sondern vor allem [der] Geringschätzung seiner Kunst“.10 Alle vorgenannten biographischen Interpretationen, die die Nachwelt angestellt hat und die die Möglichkeit eines ‚romantischen Mozart‘ andeuten, wiegen weniger als jenes Selbstverständnis Mozarts, der sich selbst in einem Brief vom 1. Mai 1778 als „Mensch von superieuren Talent welches ich mir selbst, ohne gottlos zu seyn, nicht absprechen kan“, bezeichnet.11 „Mozart, der das Los des Fürstendieners nicht mehr ertragen mochte, der sich in der Welt des Bürgertums als freischaffender Künstler ohne feste Anstellung aber auch nicht behaupten konnte“,12 zog diese Konsequenz nicht aus der missliebigen Situation, Diener am Hof zu sein, sondern aus der Überzeugung, dass seine Musik nicht mehr in eine dienende Rolle passte. Die Autonomie, die Mozart für sich beanspruchen wollte, war eine Konsequenz aus der Autonomie seines Werks. Hatten Generationen von Komponisten vor Mozart noch für die Kirche oder den Fürstenhof komponiert und damit für einen Teil der Repräsentation einer höheren Macht gesorgt, suchten die musikalischen Hauptfiguren der Wiener Klassik – Mozart, Haydn, Beethoven – je auf ihre eigene Art nach (freilich nie ganz vollständiger) Autonomie, wobei Mozart den riskantesten Weg wählte. Komponisten späterer, romantischer Generationen mag Autonomie in vollständigerem Maße gelungen sein, wenngleich der Preis immer hoch war und der Erfolg sehr unterschiedlich ausgefallen ist – man

10 Leopold 2005, 17. 11 Leopold 2005, 17. 12 Leopold 2005, 16.

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denke an Franz Schubert und Richard Wagner als Extrembeispiele des freien romantischen Künstlers. Eine mögliche Nähe Mozarts zum Komplex romantischer Befindlichkeit lässt sich nicht umfassend, sondern nur ausschnitthaft erproben. Im Folgenden sollen romantische Bildprogramme, ausgehend von der Zauberflöte, sodann Fragen der Gattungsentwicklung zwischen Klassik und Romantik, abschließend aber literarische Transformationen als Beispiele eines ‚romantischen Mozarts‘ geprüft werden.

3. Karl Friedrich Schinkels Bühnenbild der Zauberflöte Mit der Zauberflöte beteiligt sich Mozart – wenn man das so sehen möchte – an der ‚Grundsteinlegung‘ zur romantischen, deutschsprachigen Oper, die Carl Maria von Weber mit dem Freischütz dann als etwas wirklich Neues durchsetzen konnte und die die bekannte Fortführung in Richard Wagners Gesamtkunstwerk fand. Zu Mozarts Kernthemen der Oper: Liebe, Tod und Weisheit gesellen sich natürlich noch neue Themenfelder wie das Wirken unergründlicher Schicksalsund Naturkräfte, des Übernatürlichen, mythischer Sagen und der Vergangenheit, die mitunter einen märchenhaften, utopisch-ursprünglichen Zustand vertritt. Der Vortrag, aus dem dieser Beitrag hervorgegangen ist, fand an einem ungewöhnlichen, aber ungemein passenden Ort statt: Es ist nicht nur die ungewöhnliche Sitzhaltung, die man in einem Planetarium einnimmt; auch die als Projektionsfläche dienende Decke hat eine Besonderheit. Die charakteristische Kuppelform entspricht in verblüffender Weise dem bekanntesten Bühnenbild der Opern Mozarts, das sich in einer der in den Jahren 1816 bis 1824 entstandenen Versionen dem kollektiven Gedächtnis eingeprägt hat, nämlich Karl Friedrich Schinkels Bühnenbild Sternenhalle der Königin der Nacht (oder auch Sternenhalle im Palaste der Königin der Nacht)13 zu Mozarts Zauberflöte. Zu sehen ist in der unteren Mitte die Königin der Nacht auf bzw. hinter der Mondsichel stehend; unten ziehen die Wolken eines dämmernden Himmels; die ganze Szenerie wird vollkommen symmetrisch überwölbt von einem kuppelförmigen, nächtlichen Sternenhimmel, dessen Gestirne in Dreiergruppen die Form mitvollziehen, indem sie nach oben immer kleiner werden und im Bereich des ‚Nordpols‘ der Himmelskuppel zu verschwinden scheinen. Wolfgang Büchel schreibt über das Gemälde:

13 Vgl. Büchel 2005, 1.

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Abb. 1: K. F. Schinkel: Wolfgang Amadeus Mozart, Die Zauberflöte, Entwurf zur Sternenhalle im Palast der Königin der Nacht, 1815. Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett. Büchel 2005, 2. Schinkels einzigartiges Bühnenbild für den ersten Auftritt der Königin der Nacht ist eines der kraftvollsten Bilder der Romantik. Das erstaunlich Komplexe [der] Entwürfe umschließt neben allen theaterspezifischen Gehalten religiöse, mythologische, klassische, romantische, barocke, architektonische sowie moderne Verweise.14

In Schinkels Bühnenbild treffen somit drei Themenbereiche aufeinander, die bezogen auf die Romantik zum bestimmenden ideengeschichtlichen Repertoire gehören: die Nacht und damit auch die Nachtseiten der menschlichen Existenz wie Traum, Geheimnis und Tod, die Kosmologie als naturwissenschaftliche Errungenschaft, die den Menschen einer bis dahin wesentlichen Sicherheit, nämlich der Beheimatung auf oder nahe einem in der Schöpfung zentralen Gestirn beraubt, und zuletzt die Musik, die seit dem Mittelalter immer wieder in engem Zusammenhang mit der Astronomie gesehen worden ist, so z. B. im Quadrivium der ‚sieben freien Künste‘, worin der Arithmetik, der Geometrie und der Astrono 

14 Büchel 2005 (Abstract).

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Abb. 2: Caspar David Friedrich: Mondaufgang über dem Meer. Staatliche Museen zu Berlin, Alte Nationalgalerie. Wolf 2003, 74.

mie (also dem Kernbereich der damaligen Naturwissenschaften) die Musik als Disziplin auf Augenhöhe beigestellt wurde. Was aber bringt Büchel dazu, Schinkels Bühnenbild als „eines der kraftvollsten Bilder der Romantik“ zu bezeichnen? Man versteht es sofort, wenn man sich die Beschreibungen vergegenwärtigt, die die romantischen Landschaftsgemälde Caspar David Friedrichs entziffern. Darunter findet sich zum Beispiel eine Stelle, wo es zum Gemälde Mondaufgang am Meer heißt: Entfernungen sind rational nicht mehr abzuschätzen, so daß Wasser, Schiffe, Mond und Himmel ein zwischen Sehnsucht und Melancholie, zwischen Nähe und Ferne, zwischen Diesseits und Universum ausgespanntes Traumreich eröffnen und das Schauen zur meditativen Anschauung wird.15

15 Wolf 2003, 72.

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Wenn man für einen Moment die marienhafte Anmutung der Königin der Nacht nicht beachtet – die im Verhältnis zu den anderen Längen im Bild sehr geringe Höhe der Figur sollte man dagegen nicht vergessen –, erkennt man einige dieser Attribute in Schinkels Bühnenbild wieder: Das Verhältnis von der Nähe des gedachten Betrachters der Szenerie und der unvorstellbaren Ferne der gezeigten Gestirne, die Relation von Diesseits und Universum – diese Romantik-Motive werden von Schinkel geradezu wörtlich artikuliert. Auch an der Evokation eines Traumreichs, in dem das Licht der Aufklärung und der Vernunft eben nicht leuchtet, wird man nicht zweifeln; Mondsichel, nächtliche Szenerie und die Platzierung des Geschehens oberhalb der Wolken sprechen dafür. Aber auch das Apokalyptisch-Bedrohliche der Königin der Nacht in Schinkels Darstellung ist in Friedrichs Bildern gleichsam unterschwellig präsent. So wie bei Schinkel kann es bei Friedrich ganz deutlich aus der Bildmitte der Gemälde heraustreten, in scharf umrissenen Konturen, aus klarer kalter Luft – immer sind die Landschaften dann plötzlich lebensfeindliche Orte, fern aller ‚vernebelten‘ Darstellungsart, wie sie den Produktionen romantischer Kunst häufig vorgeworfen wird. Man rufe sich nur das Gemälde Felsenriff am Meeresstrand (um 1824) vor Augen. Besonders eindrücklich und nah wirken die spitzen Winkel in der im bekannten Bild Das Eismeer (um 1823/1824) zu Eis erstarrten Wasseroberfläche, deren zerklüftete Schollen sich übereinander schieben. Man erkennt im Eis ein gekentertes Schiff und Wrackteile. Plastischer, nüchterner, ja: realistischer kann man die Motive Kälte, Klarheit, Rationalität, Schiffbruch nicht in einem Bild zusammenbringen. Man darf dem Gemälde sogar unterstellen, es wollte in diesen Motiven eine Kausalitäts-Kette bloßlegen, die das Ergebnis menschlicher Hybris zeigt: Das Kühle der menschlichen Ratio hat der Kälte der Natur nichts entgegenzusetzen, und der Gedanke, mit Hilfe von ‚vernünftiger‘ Dienstbarmachung der Natur das Eismeer zu durchfahren, führt in dieser Darstellung zum Schiffbruch. Vor diesem Hintergrund birgt auch die scheinbar friedlich daliegende Wasserlandschaft im Gemälde Mondaufgang am Meer potentiell die Gefahren, die Friedrich in den anderen beiden (und einigen weiteren) Bildern ausgemalt hat. Hier wird die Bedrohung nicht wörtlich ‚ausgesprochen‘, aber sie ist erahnbar: In der Weite und Quasi-Leere des Raums, die aus ihrer klaren, physikalischen ‚Ordnung‘ heraus in der Lage ist, das zwischen dem Horizont von Himmel und Erde in kleinen menschlichen Figuren sich erhaltende Leben zu gefährden. Es ist die ästhetische Kategorie des Erhabenen, die in romantischen Gemälden wie denen von Schinkel und Friedrich am Werk ist und im Betrachter – wenngleich nur im mit einem entsprechenden Gespür für das Sublime ausgestatten Betrachter – Erstaunen und ein Gefühl des Unermesslichen auslöst.

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Wir erkennen – auch in den scharfen Konturen von Schinkels Bühnenbild – das Klare wieder (vielleicht auch das Kalte), das Wohlgeordnete des Raums und der Gestirne, die große Leere im Dazwischen und erahnen die Kleinheit des Menschen, wenn selbst die Königin der Nacht sich zwar zentral, aber doch relativ zierlich in diesen Palast einfügt. Auffällig ist auch die sich wiederholende Dreifachgruppierung der Sterne, hierzu verlangt das Schinkelsche ‚Planetarium‘ nähere Erläuterungen. Der Palast der Königin der Nacht ist nämlich ebenfalls eine Art Kuppelbau, der alle Himmelskörper enthält und die sphäroide Natur des Universums andeutet (bzw. der für die menschlichen Instrumente ‚sichtbaren‘ Teile davon). Die Dreiergruppierung der Sterne ist auffällig. Sie soll wohl dafür stehen, dass der menschliche Geist in der Lage ist, die Ordnung der Gestirne zu durchschauen, mithin die Gesetze der Himmelsmechanik zu erkennen (die Keplerschen Gesetze, die Relationen und Entfernungen der Himmelskörper zueinander usw.) und letztlich – moderne Astronomie und Astrophysik leisten dies auf sehr eindrucksvolle Weise – unser Weltbild maßgeblich von diesem Blickwinkel her zu bestimmen.

4. Romantik vs. Klassik Das Bühnenbild der Oper sei für einen Moment verlassen und dafür die Frage behandelt, worin sich die romantische und die klassische Kunstepoche überhaupt unterscheiden – vielleicht lässt sich das Problem des ‚romantischen Mozart‘ auf diese Weise fassen. Die Frage ist besonders im Fall der Musik schwer zu beantworten, kann hier nur kursorisch abgehandelt werden und birgt leider auch die Gefahr mancher Klischeevorstellung; dennoch sei es versucht: Grundsätzlich schreibt man klassischer Musik oder Literatur die Darstellung eines Gleichgewichts zwischen Pathos und Logos, zwischen Gefühl und Verstand zu. Das Licht der Aufklärung durchdringt die klassischen Werke, und der Ausdruckswille eines Künstlers entspricht seinem Gestaltungsvermögen. Man steht vor ‚vollständigen‘ Werken, die entlang dieser Ideale entstanden sind und unter anderem dadurch bis heute eine musterhafte, beispielgebende Qualität besitzen. Romantische Kunst hingegen scheint im Gegensatz dazu weniger das Ausgeglichene und Vollendete, Abgerundete zu suchen. Man begegnet oftmals einem Überschwang des Gefühls, der Maßlosigkeit der Phantasie, melancholischen Stimmungen und irrationalen Gedanken. Das Dunkle, menschlichen Sinnen und wissenschaftlicher Messung Unzugängliche, auch das Fragmentarische wird zum Thema. Das ist kein Wunder – gab doch der katastrophale Verlauf der Französischen Revolution, deren ideengeschichtliche Ursprünge auch in der mensch-

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lichen Vernunft zu verorten sind, Anlass zum berechtigten Zweifel an Vernunft und Rationalität. Es wurden, um Klassik und Romantik gegeneinander abzugrenzen, Begriffe verwendet, die auf literarische Werke leichter anzuwenden sind als auf die Musik. In der Tat ist die Unterscheidung auf musikalischem Gebiet viel schwieriger. Auf den ersten Blick hat sich durch den Übergang von der Klassik zur Romantik wenig geändert, insbesondere in den musikalischen Gattungen scheint es (bis auf kleinere Formen) nichts unbedingt Neues zu geben: Die Oper, die Sinfonie, das Solokonzert; aber auch die intimeren Gattungen wie Streichquartett und sonstige kammermusikalische Besetzungen bestimmen immer noch das musikalische Geschehen. Formal dominiert nach wie vor der Themendualismus in den Kopfsätzen, sehr oft auch noch die Periodik in der Melodie von Expositionen; überhaupt ist die Sonatenhauptsatzform noch lange nicht vom Tisch. Insofern spricht man häufig von der ‚klassisch-romantischen Epoche‘, um dem Problem eines Zwangs zu einer trennschärferen Unterscheidung auszuweichen.

5. Gattungen Gattungsgeschichtlich birgt die Romantik also zunächst wenig Neues – was es dem Komponisten der Wiener Klassik etwas leichter macht, ein Stück weit auch als Romantiker zu gelten, da beide sich sozusagen im gleichen Medium bewegen. Und schaut man sich die tatsächlichen Neuerungen an, die die musikalische Romantik bereithält, dann fällt auf, dass Mozart tatsächlich ein Wörtchen ‚mitgesprochen‘ hat. Zum romantischen, klavierbegleiteten Lied etwa, das die neuen Merkmale der Durchkomposition, der Gleichberechtigung von Gesang und Begleitung besitzt sowie starke Konzentration auf die lyrische Qualität legt (und dessen „Entstehung“ häufig und mit einigem Recht mit Franz Schuberts Gretchen am Spinnrade von 1814 angesetzt wird), kann man feststellen, dass Mozart ein zwar schmales, aber doch auch im romantischen Sinne gültiges Oeuvre an Liedkompositionen geschaffen hat. Von wahrscheinlich 33 Liedern sind heute noch 20 erhalten. Insbesondere dem Lied Abendempfindung KV 523 könnte eine besondere Romantik-Nähe unterstellt werden, da es eine Meditation über den zukünftigen eigenen Tod ergreifend zum Ausdruck bringt. Auch die einzige GoetheVertonung, die man von Mozart kennt, Das Veilchen KV 476, ist interessant: Hier wird zwar im Klaviervorspiel die Erwartung eines simplen Strophenliedes geweckt, aber Mozart geht durch den Auftritt der jungen Schäferin in der zweiten Halbstrophe andere Wege; harmonische und rhythmische Zäsuren öffnen Türen zu ganz unerwarteten Klängen (im Sinne von Harmonien), die den Strophenbau der Textvorlage hinter sich lassen. Musikalisch auffälliger als diese den Schubert-

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Liedern verwandten Gesänge ist allerdings eine Gruppe von Liedern, die irgendwo zwischen dem Strophenlied und dem durchkomponierten Lied angesiedelt ist. Beispiele hierfür sind Die Zufriedenheit KV 473 und besonders Das Lied der Trennung KV 519, in dem Mozart mal die Melodie, mal die Begleitung einer bekannten Zeile ändert und durch rhythmische Verschiebungen Experimente anstellt, die weit in die Musikgeschichte zurückreichen.

6. Und die Sinfonie? Was auf den ersten Blick stark gegen einen ‚romantischen Mozart‘ zu sprechen scheint, ist die durchaus lange Liste seiner Sinfonien, genauer deren Grundtonarten: Man sollte zwar die ‚Charakteristik der Tonarten‘ nicht überbewerten, trotzdem lässt sich einiges an dieser Systematik ablesen. In Mozarts Sinfonien dominieren die Tonarten C-Dur, G-Dur, A-Dur, D-Dur – wegen der vorgezeichneten Kreuze sogenannte Kreuztonarten; der Bereich der b-Tonarten (mit b-Vorzeichen) wird von F-, B- und Es-Dur vertreten. Man hat es also in beiden Gruppen mit Tonarten aus einem ‚weniger komplexen‘ Tonvorrat zu tun – wohin Mozart innerhalb einer Sinfonie moduliert, muss hier außen vor bleiben. Dies besagt, dass z. B. Tonarten mit vier Kreuzen und mehr, wie Fis-Dur, H-Dur, und nicht einmal E-Dur vorkommen. Genauso die komplizierteren Tonarten aus dem bBereich: As-Dur, Des-Dur und Ges-Dur sind nicht vertreten. Insofern ist Mozart ganz der Wiener Klassik verpflichtet. Das Gegenteil hierzu ist die Barockzeit, in der Johann Sebastian Bach zweimal monumental-beispielhafte Anstrengungen auf sich nahm, um zu zeigen, welche Tonarten auf einem entsprechend temperierten Instrument möglich sind, und auch sonst nicht mit Vorzeichen bei der Wahl seiner Haupttonarten sparte. In der Klassik, mitunter schon in der Übergangszeit, einigte man sich offenbar darauf, aus gängigeren Tonvorräten zu schöpfen. Natürlich hängt dies auch mit der instrumentalen Besetzung zusammen; es ist ja (noch dazu in dieser Epoche) selbstverständlich, dass ein Orchester, das aus Holz- und Blechbläsern, Streichern und sonstigen Instrumentengruppen zusammengesetzt ist (die jeweils eigene Klassen von Tonvorräten bevorzugen) mit C- statt mit Fis-Dur deutlich leichteres Spiel hat. Gleichwohl ist eine gewisse Experimentier-Unlust der Wiener Klassik im Hinblick auf Tonarten zu konstatieren – ich spreche weiterhin nur von den Haupttonarten der Werke – was in der Romantik dann grundlegend anders werden sollte, wie das folgende Argument deutlich machen wird. Denn ein Aspekt wurde im Hinblick auf die Haupt-Tonarten der MozartSinfonien noch gar nicht angesprochen: Wo sind die Moll-Tonarten? Über 40 Sinfonien hat Mozart geschaffen, und nur zwei davon stehen in einer Moll-Tonart:

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beide in derselben, nämlich g-Moll. Zwar betont Volker Scherliess, dass MollTonarten in Sinfonien der Wiener Klassik „keineswegs so selten wie es scheint“ gewesen seien – zum Beispiel habe es um 1770 „eine regelrechte Explosion von Moll-Werken“16 gegeben – Mozart jedoch scheint besonders im Hinblick auf sein sinfonisches Schaffen kaum das Bedürfnis oder die Gelegenheit gehabt zu haben, sich diesem kurzzeitigen Trend anzuschließen. Insofern bilden die beiden g-MollSinfonien (KV 183, die sogenannte Kleine g-Moll-Sinfonie von 1773 und die späte, populäre Sinfonie KV 550) bemerkenswerte Ausnahmen, die vor dem Hintergrund einer Tonartencharakteristik, wie sie beispielsweise der Romantiker Christian Friedrich Daniel Schubart in seinen Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst (erschienen 1806)17 formulierte, doch sehr aufschlussreich sind. Zu g-Moll notiert Schubart: „Mißvergnügen, Unbehaglichkeit, Zerren an einem verunglückten Plane, mißmuthiges Nagen am Gebiß; mit einem Worte: Groll und Unlust.“18 Diese Charakterisierung wird Mozarts g-Moll-Sinfonien zwar nur teilweise gerecht, da sie den darin enthaltenen ernsten, ja sogar tragischen Tonfall vielleicht nicht ganz trifft; ansonsten stimmt die Richtung aber geradezu wörtlich, was, wenn man Schubarts Charaktere der Tonarten kennt, erstaunlich ist – denn oft genug erweisen sie sich als Konstrukte, die sich nicht mit der ‚Intention‘ eines bestimmten Werks vereinbaren lassen. Insofern wirkt es sehr plausibel, wenn Scherliess konstatiert, dass Mozarts „kleine g-Moll-Sinfonie“ als „vor-romantisch“, „als Zeichen eines geistigen Umbruchs“ in der zeitlichen Nähe zu Goethes Werther (1774)19 empfunden wurde. Diese kleine Sinfonie bildet also nicht nur einen sozusagen geistesgeschichtlichen Vorgriff, sondern auch eine Vorbereitung zu Mozarts anderer g-Moll-Sinfonie, der Nummer 40 in der gängigen Zählung. Dieses Werk wiederum ist Teil der berühmten Dreiergruppe von Sinfonien, die – so wird vielfach angedeutet – in Mozarts Schaffen zum ersten Mal auch die Sinfonie als gefestigte, höchste musikalische Ansprüche reklamierende und über sich selbst hinausweisende Werkgattung repräsentiert. Schlagworte wie Transzendenz, Metaphysik, ‚letzte Dinge‘ – damit hatte sich Mozart bisher hauptsächlich in seinen Opern beschäftigt, besonders in der Zauberflöte oder ganz zentral im Don Giovanni. Die Sinfonie als reine Instrumentalgattung hatte sich damals erst noch von der Vorherrschaft der Vokalmusik zu emanzipieren, wenn es darum ging, ‚Aussagen‘ über höchste Dinge allein in der Sprache der Musik zu formulieren.

16 17 18 19

Scherliess 2005, 290. Schubart 1806. Schubart 1806, 377 Scherliess 2005, 290.

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7. Literatur Ein scheinbar banales Moment ist die zeitliche Einordnung Mozarts in die in Frage stehenden Epochen. Mozart hat einfach nicht im Jahrhundert der Romantik gelebt. Das neunzehnte Jahrhundert mag dem Historiker Eric Hobsbawm zufolge zwar ein ‚langes Jahrhundert‘ gewesen sein; er definierte es in den 1960er Jahren für den Zeitraum von 1789 bis 1914. Und besonders trifft der Terminus ‚langes neunzehntes Jahrhundert‘ ja auf das neunzehnte Jahrhundert der Musik zu, welches gut und gerne – unter einem gewissen Blickwinkel, versteht sich – 40 Jahre über Hobsbawms Zeitspanne hinaus, also bis 1945 dauern sollte. Mozarts Lebensspanne wurde von diesem langen Jahrhundert der Geschichte und noch mehr der Musik aber nur gestreift; inwiefern er die Französische Revolution und besonders deren geistesgeschichtlich verstörende und das ‚lange‘ Jahrhundert bedingende Nachwirkungen geahnt haben mag, ist spekulativ. (Mozart dürfte mit anderweitigen Problemen ausgelastet gewesen sein; er versuchte in seinen letzten Lebensjahren durch erneute und nach wie vor anstrengende Reisen über Prag bzw. von dort aus durch den heutigen Osten Deutschlands einer zunehmenden wirtschaftlichen Misere zu begegnen.) Trotzdem wurden die Musiker – auch Mozart – von romantischen Schriftstellern für eine romantische Musikästhetik in Anspruch genommen. Die literarischen und kulturhistorischen Grundlagen hierfür benennt Thorsten Valk in seinem Buch Literarische Musikästhetik unter anderem so: Neben der Tatsache, dass die um 1800 begründete Musikanschauung zunächst allein von Schriftstellern in poetischen und essayistischen Texten formuliert wird, berechtigt auch das gänzliche Fehlen einer romantischen Kompositionskunst dazu, die neue Ästhetik ihrem Ursprung nach als ein literarisches Phänomen zu betrachten: Die von Jean Paul antizipierte sowie von […] Wackenroder, […] Tieck und E.T.A. Hoffmann konzeptualisierte Musikanschauung gewinnt zu einem Zeitpunkt ihre Konturen, da Joseph Haydn seine Triumphe feiert und Ludwig van Beethoven in den Villen des Wiener Adels Fuß zu fassen beginnt. Die romantische Musikästhetik entwickelt sich somit parallel zur Wiener Klassik und geht den romantischen Kompositionen eines Franz Schubert […] um nahezu zwei Jahrzehnte voraus.20

Freilich greifen die bei Valk genannten Schriftsteller auf die gesamte bis dahin bestehende musikalische Literatur zurück, um ihre Ästhetik zu befestigen. Eines der prominentesten poetologischen Beispiele hat E.T.A. Hoffmann mit seiner Rezension zu Beethovens Fünfter Sinfonie (von 1810) geliefert, in der er die reine Instrumentalmusik, wie sie in der Wiener Klassik kultiviert wurde, zum Ideal

20 Valk 2008, 10.

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romantischer Musik erhob. Ganz im Gegensatz zu berechtigten Skrupeln, Mozart einer romantischen Epoche zuzuschlagen, hat Hoffmann damit überhaupt kein Problem. Er addiert die prominentesten Komponisten der klassischen Wiener Epoche bedenkenlos dazu: Sollte, wenn von der Musik als einer selbständigen Kunst die Rede ist, nicht immer nur die Instrumental-Musik gemeint sein, welche, jede Hilfe, jede Beimischung einer andern Kunst (der Poesie) verschmähend, das eigentümliche, nur in ihr zu erkennende Wesen dieser Kunst rein ausspricht? – Sie ist die romantischste aller Künste, beinahe möchte man sagen, allein echt romantisch, denn nur das Unendliche ist ihr Vorwurf. – Orpheus’ Lyra öffnete die Tore des Orkus. Die Musik schließt dem Menschen ein unbekanntes Reich auf, eine Welt, die nichts gemein hat mit der äußern Sinnenwelt, die ihn umgibt, und in der er alle bestimmten Gefühle zurückläßt, um sich einer unaussprechlichen Sehnsucht hinzugeben. […] Der romantische Geschmack ist selten, noch seltener das romantische Talent, daher gibt es wohl so wenige, die jene Lyra, deren Ton das wundervolle Reich des Romantischen aufschließt, anzuschlagen vermögen. Haydn faßt das Menschliche im menschlichen Leben romantisch auf; er ist kommensurabler, faßlicher für die Mehrzahl. Mozart nimmt mehr das Übermenschliche, das Wunderbare, welches im innern Geiste wohnt, in Anspruch. Beethovens Musik bewegt die Hebel der Furcht, des Schauers, des Entsetzens, des Schmerzes und erweckt eben jene unendliche Sehnsucht, welche das Wesen der Romantik ist.21

Man bemerkt, wie besonders in den berühmten Eingangssätzen die Musik gleichsam verabsolutiert wird; wie sie metaphysisch überhöht wird, um einen „unauflöslichen Gegensatz zwischen dem exklusiven Reich der Tonkunst und den Niederungen des [übrigen] profanen Kulturbetriebs“22 aufzurichten. Noch bei Eduard Mörike, eine gute Autorengeneration später und längst nicht mehr in der literarischen Romantik, wird Mozart als Mensch dargestellt, der zwischen angepasster Heiterkeit und depressiven Phasen schwankt, und der urplötzlich durch die Wiedergabe des Don-Giovanni-Finales jene romantischen Schauder über seine zunächst gut gelaunten Zuhörer hereinbrechen lässt, sodass sie geradezu existentiell erschüttert werden.23

21 Hoffmann 1957, Bd. 1, 99–101. 22 Valk 2008, 135. 23 Vgl. Valk 2008, 141.

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8. E.T.A. Hoffmanns Beschäftigung mit Don Giovanni So schwer es fällt, Mozart als dezidierten Romantiker aus der Perspektive des ‚langen‘ und nun schon lange vergangenen neunzehnten Jahrhunderts zu sehen, so sicher war sich E.T.A. Hoffmann darin, in Mozart sogar den ‚ersten‘ romantischen Musiker zu erblicken. Dies wird nicht nur in der oben zitierten BeethovenRezension deutlich, sondern auch in einem ganz besonderen Beispiel seines fiktionalen Werks. Die Handlung dieser im Vergleich zu den meisten anderen kanonisierten Beispielen der Gattung äußerst kurzen Novelle Don Juan ist schnell wiedergegeben: Ein reisender Enthusiast erzählt sie weitestgehend im Medium Brief24 dem Freunde Theodor, der später (1814) in der Rahmenhandlung der Fantasiestücke in Callot’s Manier wieder auftauchen wird. Hoffmann veröffentlichte die Erzählung zuerst isoliert, gliederte sie später jedoch in diese Sammlung ein. Der ‚reisende Enthusiast‘ logiert in einem Hotel eines ungenannten Ortes. Man macht ihn darauf aufmerksam, dass es von seinem Zimmer aus einen direkten Zugang zur Fremdenloge („Nr. 23“) des benachbarten Theaters gibt, in der zufällig am zweiten Abend seines Aufenthalts Mozarts Don Giovanni gegeben wird. Der Enthusiast lässt sich diese Gelegenheit nicht nehmen, beansprucht die Loge mit der geheimnisvollen Nummer und erlebt die Aufführung aus einer ziemlich individuellen Eigensicht, die sowohl Mozarts Musik wie Da Pontes Libretto in einigen Aspekten umdeutet, laut Thorsten Valk sich sogar „vom Libretto löst und ausschließlich die Musik zum Fundament der Deutung macht“.25 Die Nacherzählung der Opernhandlung geschieht allein auf der Basis ihres instrumental- und vokal-musikalischen Anteils – eine Art ‚Generalbass‘, der nur aus der romantischen UniversalVerbundenheit aller Künste erklärt werden und funktionieren kann. In der Pause erhält der Enthusiast Besuch von der Sängerin, die die Donna Anna verkörpert, deren Anwesenheit in der Loge er aber schon geahnt hatte, als die Aufführung noch im Gange war. Seine Verwunderung über diese Simultaneität weicht schnell einer vom Erzähler äußerst emotional erlebten Bestätigung seines romantischen Einfühlungs- und Verstehensvermögens, das die Sängerin – oder aber auch Donna Anna höchstselbst, dies lässt Hoffmann absichtlich in der Schwebe – in ihm erkannt hat. Sie rühmt sein Werk (offenbar ist er Komponist mindestens von

24 Zu den in der Literaturwissenschaft herrschenden Differenzen bezüglich des Briefcharakters der Novelle vgl. Schmidt 2006, 56–57. 25 Valk 2008, 14.

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Vokalmusik), und bedeutet ihm, im gemeinsamen Bewusstsein der Abgrenzung zu der das Theater umgebenden Welt der Philister: „Aber du – du verstehst mich, denn ich weiß, daß auch DIR das wunderbare, romantische Reich aufgegangen, wo die himmlischen Zauber der Töne wohnen!“26 Die Zeitspanne von zwei Stunden nach Mitternacht verbringt der Enthusiast erneut in der Loge, um in der nun stillen Theateratmosphäre Erlebtes und Geträumtes, adressiert an Theodor, zu Papier zu bringen. Die Novelle schließt in einem lapidaren Textabschnitt in dramatischer Form, worin der Erzähler durch die philiströsen Mitmenschen den plötzlichen Tod („heute morgens Punkt zwei Uhr“27) der Primadonna erfährt – „genau der Zeitpunkt, als der Erzähler ihre Anwesenheit in dem leeren Theater olfaktorisch und akustisch [noch einmal] gespürt hatte“.28 Bevor es aber zu diesem tragischen und in seiner Tragik durch den kurzen Abstecher in die dramatische Form verstärkten Abschluss kommt, lohnt der Blick auf die bis dorthin in Dienst genommene Prosa, die den Enthusiasmus beider Protagonisten unterstreicht. Wie schmal die Grenzlinie zum Lächerlichen in der Darstellung jedoch ist, dessen ist sich der Enthusiast – oder auch der sich in dieser Beziehung vielleicht ein wenig absichernde Autor – wohl bewusst. Es ist ihm dermaßen ernst mit dem romantischen Zustand, dass er mit Blick auf Donna Anna beständig fürchtet, sie werde das „Spiel“ plötzlich nicht mehr mitspielen: „Ein einziges Wort, das obendrein albern sein konnte, hätte mich auf eine schmerzhafte Weise herausgerissen aus dem herrlichen Moment der poetischmusikalischen Begeisterung!“29 Er meint auch Gründe zu haben, Donna Annas Begeisterung nicht ganz zu trauen, denn „ihr Mund (so schien es mir) verzog sich zu einem leisen ironischen Lächeln, in dem ich mich spiegelte und meine alberne Figur erblickte“.30 Doch so weit kommt es nicht; die Schauspielerin kann sich offenbar ihrem Beruf gemäß gut beherrschen (sofern sie denn als Schauspielerin auftritt und nicht als dem Bewusstsein des Enthusiasten entsprungene Erscheinung). Der Erzähler verfolgt das Geschehen weiter durch seine eigene Brille. „Don Juan ist neben Hamlet, Don Quijote und Faust die vierte literarische Gestalt von mythischer Größe, die die europäische Neuzeit hervorgebracht hat“,31 heißt es in der Nachbemerkung einer dieser Figur gewidmeten Anthologie. Obwohl zu überlegen wäre, ob nicht die eine oder andere Gestalt (wie zum Beispiel Werther) mit gleichem Recht Platz fände, ist doch die Bedeutung Don Juans im

26 27 28 29 30 31

Hoffmann 2005, 61. Hoffmann 2005, 71. Schmidt 2006, 65. Hoffmann 2005, 59. Hoffmann 2005, 60. Helmes/Hennecke 2011, 432.

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fiktionalen Raum gebührend hervorgehoben: Die Anthologie verzeichnet eine Auswahl von 50 (!) Lesetexten zum Thema. In einen nicht weniger eminenten Bedeutungsbereich erhebt E.T.A. Hoffmann Mozarts Don Giovanni, indem sein Enthusiast sie mit der seither vielfach aufgegriffenen Devise „Oper aller Opern“32 bezeichnet. Rüdiger Safranski sieht in Hoffmanns Erzählung eine Versuchsanordnung,33 die das Glücksversprechen durch Schönheit des Körpers überprüfe; Don Juan – in dieser Hinsicht gut ausgestattet, findet sein Glück letztlich trotzdem nicht, obwohl er „vom schönen Weibe zum schönern rastlos“ zu eilen in der Lage ist. Ein anderes Mittel, nämlich die Musik, das romantische Gefühl sei die Lösung, die aber das Körperliche vernachlässige. Safranskis Deutung ist sicher nicht falsch und auch sonst gut mit der Biographie Hoffmanns zu parallelisieren (was die vereinzelten Gleichsetzungen zwischen Autor, Don Juan und dem Enthusiasten erlaubt), jedoch halte ich die Fokussierung auf eine durch Körperlichkeit bestimmte Glückssuche nicht für zentral; jedenfalls nicht, wenn man nach der romantisch-philosophischen Grundierung der Szene fragt. Trotzdem führt Safranskis Argumentation zu einer wichtigen Diagnose, denn ganz zuletzt sei auch dieses unkörperliche Glück eine schale Angelegenheit, was sich bei Hoffmann (auch an anderen Stellen) in einem hohlen Pathos der Phrasen niederschlage – eine Beobachtung, in der Safranski uneingeschränkt recht zu geben ist. Hierin entkommt der Don Giovanni aber romantischen Bezügen und wird erst wieder von der Moderne aus fassbar.

9. Schluss Es spricht einiges dagegen, sich ein ‚zu romantisches‘ Bild von Mozart zu machen, dafür war er doch zu sehr prägender Gestalter der Wiener Klassik und der einzige der Wiener Trias, der das (nominelle) neunzehnte Jahrhundert nicht erlebte. Es ist jedoch für das Verständnis Mozarts nicht schädlich, einige seiner Werke einmal durch die ‚romantische Brille‘ zu betrachten oder sie mit ‚romantischen Ohren‘ zu hören. Ich halte das für eine auch den Diskurs um Mozart bereichernde Rezeptionshaltung, die den Hörer dafür sensibilisiert, den Romantiker Mozart immer genau dort zu entdecken, wo dies möglich ist – bestenfalls im Erlebnis einer gelungenen Aufführung.

32 Hoffmann 2005, 64. 33 Vgl. Safranski 1984, 258–259.

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Literatur Büchel, Wolfgang: Schinkel, Goethe und die Königin der Nacht. O.O. 2005. http://www.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/wissen/leserbeitraege/buechel_schinkel.pdf. Abstract: http://www.goethezeitportal.de/wissen/leserbeitraege.html (25. Oktober 2016). Eisen, Cliff: „Mozart, das Requiem und die Biographie der Romantik“, in: Mozart – Experiment Aufklärung im Wien des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Ostfildern 2006, 807–821. Fischerauer, Alexander: Wolfgang Hildesheimer-Mozart. O.O. 2012. http://contrapunkt-online. net/buchvorstellung-wolfgang-hildesheimer-mozart (25. Oktober 2016). Geck, Martin: „Pure Romantik – Hildesheimers ‚Mozart‘“, in: Mozart im Blick. Inszenierungen, Bilder und Diskurse, hrsg. von Annette Kreuzinger-Herr. Köln u. a. 2007, 93–101. Helmes, Günter/Hennecke, Petra (Hg.): Don Juan. Fünfzig deutschsprachige Variationen eines europäischen Mythos. Hamburg 2011. Hildesheimer, Wolfgang: Mozart. Frankfurt am Main 1977. Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus: Poetische Werke, hrsg. von Klaus Kanzog. 12 Bde. Berlin 1957–1962. Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus: Rat Krespel, Die Fermate, Don Juan. Stuttgart 2005. Leopold, Silke: „Einleitung“, in: Mozart-Handbuch, hrsg. von Silke Leopold unter Mitarbeit von Jutta Schmoll-Barthel und Sara Jeffe. Kassel 2005, 12–32. Safranski, Rüdiger: E.T.A. Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phantasten. München, Wien 1984. Scherliess, Volker: „Die Sinfonien“, in: Mozart-Handbuch, hrsg. von Silke Leopold unter Mitarbeit von Jutta Schmoll-Barthel und Sara Jeffe. Kassel 2005, 249–328. Schmidt, Ricarda: Wenn mehrere Künste im Spiel sind. Intermedialität bei E.T.A. Hoffmann. Göttingen 2006. Schubart, Christian Friedrich Daniel: Christ. Fried. Dan. Schubart’s Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst. Wien 1806. Valk, Thorsten: Literarische Musikästhetik – Eine Diskursgeschichte von 1800 bis 1950. Frankfurt am Main 2008. Wolf, Norbert: Caspar David Friedrich 1774–1840 – Der Maler der Stille. Köln 2003.  

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Anmutige Lebenskunst – vor dunklem Hintergrund Zu Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag Vom Reisen konnte Mozart lebenslang ein Lied singen; er war gerade sechs Jahre alt, als er erstmals in die Fremde musste: nach München. Zurückgekehrt nach Salzburg, wurde schon bald erneut gereist: man fuhr über Linz nach Wien. Die Einladungen häuften sich, es ging überall hoch her. 1763 wieder Salzburg, aber eigentlich nur, um erneut aufzubrechen: im gleichen Jahr war Frankreich das Ziel. An Erfolg mangelte es nicht. Vater Leopold berichtete: „Aller Orten werden wir durch die herrschaftlichen Wagen mit einem Bedienten abgeholt und zurückgeführt.“1 Sie traten so auf, dass der Vater schreiben konnte: „Alles gerieth in Verwunderung.“2 Nur gelegentlich ein Schatten: im Oktober 1762 erkrankte Wolfgang an Scharlach. Aber es ging noch einmal gut. Später nach Frankreich. Auf dem Weg nach Paris fast überall Konzerte, wo es sich nur ergab. Dann Paris; fünf Monate später ging es weiter nach London. Man reiste im Sommer dem Adel nach, der sich in die Seebäder begeben hat; weil man auf den angewiesen war, sah es mit den Einnahmen schlecht aus, wenn der fehlte. Am 27. November 1764 schrieb Leopold: „Noch ist die Noblesse nicht in der Stadt. Ich muß aus dem Beutel zehren.“3 Aber London wurde Leopold dann leid, und die Londoner wurden die Wunderkinder leid: es ging nach Paris zurück. Krankheiten der Kinder reisten mit, oft wochenlang, sie erholten sich nur mühsam.4 Reisegeld war häufig so gut wie nicht mehr vorhanden, aber Leopold hatte die Hoffnung, dass andere, die noch gar nicht davon wussten, etwas zu den Kosten beisteuern würden. Es geschah hin und wieder. Schließlich ging es dann endlich zurück nach Salzburg. Welch ein Leben, schon zu Lebensbeginn! Ein Wanderdasein, ein endloses, geprägt vom Glanz der öffentlichen Auftritte vor Grafen und Prinzessinnen, Kurfürsten und an den „größten Höfen Deutschlands“,5 aber auch von wirtschaftlicher Unsicherheit und Feinden hier und da und dort, und als Mozart zwölf war,

1 2 3 4 5

Ulibischeff 1859, Bd. I, 24. Ulibischeff 1859, Bd. I, 36. Ulibischeff 1859, Bd. I, 70. Ulibischeff 1859, Bd. I, 80. Ulibischeff 1859, Bd. I, 32.

DOI 10.1515/9783110492989-006

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hatte er München, Wien, Paris, London, Holland und die Schweiz gesehen. Nur ein wichtiges Land fehlte noch: Italien; auch dahin brach man bald auf, wohl mit einer eigenen Kutsche. Doch manchmal reiste man auch mit einer „Post-chaise“. War Mozart irgendwo gerne? Nur selten. Zur Ruhe kam er erst 1781 in Wien, jenem „Sammelplatz aller Virtuosen Europas“.6 Doch die Ruhe war trügerisch: in Wien gab es Kabalen, das Publikum schien nicht das beste zu sein; und da war auch der Erzfeind Salieri. Mozart wusste, dass er in Böhmen eine bessere Gesellschaft vorfinden werde. Im Februar 1787 kam er nach Prag: Die Hochzeit des Figaro wurde am Tage seiner Ankunft gegeben, und dem Komponisten, der bei der Vorstellung erschienen war, „klatschte […] das ganze Publicum Beifall und Willkommen zu“.7 Und weil er in Prag eine so gute Aufnahme gefunden hatte, beschloss er, für die Prager eine Oper zu schreiben: Don Giovanni. Als er zum zweiten Mal in Prag war, im September 1787, wohnte er bei seinem Freunde Duschek8 und vollendete in dessen Landhaus die Partitur – aber die Ouvertüre schien er vergessen zu haben. In einer Nacht schrieb er sie dann doch noch, nach Mitternacht, zwischen Schlafen und Wachen. Dann kam nicht mehr sehr viel: Leipzig, Berlin, wo Friedrich Wilhelm II. ihm das Angebot machte, dort nicht nur ehrenvoll, sondern auch mit einem guten Salär zu bleiben – was Mozart bekanntlich ausschlug. Er wollte, wir mögen es glauben, seinen alten Kaiser Joseph nicht verlassen. Was lange Zeit immer mitgereist war: ein mehr oder weniger leerer Geldbeutel, dafür die Forderungen einer Reihe von Gläubigern, die befriedigt werden wollten. Dann noch einmal Prag, mit La clemenza di Tito. Wie reiste man? Der Vater berichtete gelegentlich: „Uebrigens müssen wir zur Erhaltung unserer Gesundheit und zu meines Hofes Reputation noblement reisen.“9 Noblement ging es auch sonst zu: „Dagegen haben wir keinen Umgang, als mit dem Adel und distinguirten Personen“, schrieb Leopold, „und empfangen ausnehmende Höflichkeit und Achtung.“10 Aber sehr viel wissen wir über alle diese Reisen nicht; das Reisen war Mittel zum Zweck, gab keinen Anlass zu ausführlicherer Berichterstattung – wir haben im Wesentlichen ja nur die Briefe Mozarts und seines Vaters, und der berichtet viel von den Konzerten, die sie allerorten geben, aber sehr wenig über die Reiseumstände; manchmal ist von einer eigenen Kutsche die Rede, aber zuweilen fährt man auch mit der „Postchaise“. Mozart reiste manchmal sehr langsam, nahm sich für die Reise von Paris

6 Ulibischeff 1859, Bd. II, 133. 7 Ulibischeff 1859, Bd. II, 175. 8 Vgl. Ulibischeff 1859, Bd. II, 180. 9 Ulibischeff 1859, Bd. I, 38. 10 Ulibischeff 1859, Bd. I, 38.

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nach Salzburg, die er am 26. September 1778 antrat, ganze drei Monate Zeit;11 mit langem Zwischenaufenthalt in Mannheim und andernorts. Mozarts Biograph Ulibischeff hat über diese Reise ausführlicher berichtet – vor allem anhand der Briefe von Vater und Sohn Mozart. Und wir erfahren etwa, dass er nach der Mannheimer Zeit mit dem Reichsprälaten von Kaysersheim reiste und bei diesem auch über eine Woche im Hause wohnte; den Rest der Strecke bis nach Salzburg legte er mit einem Herrn Gschwender in dessen Wagen zurück; die Bagage sollte, so Vater Leopold, dem Postwagen aufgegeben werden. Aber wie die Reisen im Einzelnen aussahen, erfahren wir nicht; so gut wie nichts über die Unterkünfte, nichts über die alltäglichen Lebensumstände. Wir können auch kaum etwas über Mozarts zweite Reise nach Prag im Herbst 1787 in Erfahrung bringen; Ulibischeff hat darüber nur einen halben Satz verloren. Dennoch wissen wir über diese sehr genau Bescheid: durch Mörikes Erzählung. Mozart also auf dem Weg nach Böhmen, mit der Oper aller Opern im Gepäck. Und dort hören wir endlich auch, wie Mozart reiste. Aber wir haben es nicht mit einer Reiseerzählung der üblichen Art zu tun, der Titel ist trügerisch: Es ist ein Lebensbild – mit Einblicken in die erlesene Gesellschaft, in die die Reisenden auf ihrer Reise nach Prag hineingeraten, und mit Ausblicken in die Zeit davor und die Zeit danach. Ein ganzes reiches Dasein, in einen Tag gebracht. Mozart auf der Höhe seines Lebens. Doch in die Lebenslust mischt sich Melancholie, in die behagliche Lebensalltäglichkeit dringt das „geheimnisvolle Grauen der Musik“ des Don Giovanni hinein; da ist nicht nur das reine Glück eines herbstlichen Tages in festlicher Umgebung, sondern auch die Ahnung, dass Mozart „nur eine flüchtige Erscheinung auf der Erde seyn könne, weil sie den Überfluß, den er verströmen würde, in Wahrheit nicht ertrüge“. So heißt es am Schluss der Novelle.12 „Mozart auf seiner lezten Reise nach Prag“ sollte der Titel ursprünglich lauten.13 Höhepunkt und Endzeit eines Lebens: hier ist beides versammelt. Mörikes Novelle ist wohl die schönste dichterische Biographie über Mozart, sie ist auch wohl Mörikes schönste Novelle. Ihr voran geht eine lebenslange Beschäftigung Mörikes mit Mozart und besonders mit seinem Don Giovanni. Wir sollten vielleicht ergänzen oder besser sagen: Mörike war der Musik überhaupt auf eine geradezu leidenschaftliche Art ergeben. Der noch nicht Achtzehnjährige schreibt 1822 an seinen Freund Wilhelm Waiblinger ein offenherzig-leidenschaftliches Bekenntnis zur Musik:

11 Vgl. Ulibischeff 1859, Bd. II, 81. 12 Mörike 2005, 284. Im Folgenden Seitenzahlen im Text. 13 Mörike, Brief an Hermann Hauff vom 24. Dezember 1852, Mörike 2000b, 132.

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Wirklich thut die Musik eine unbeschreibliche Wirkung auf mich – oft ists wie eine Krankheit, aber nur periodisch. Ich sage Dir, eine bewegliche, nicht gerade traurige Musik – oft eine fröhliche, kann mir manchmal mein Innerstes lößen, da versink ich in die wehmüthigsten Phantasieen, wo ich die ganze Welt küssend voll Liebe umfassen möchte, wo mir das Kleinliche u. Schlimme in seiner ganzen Nichtigkeit u. wo mir Alles in einem andern verklärten Lichte erscheint. Wenn die Musik dann abbricht, möcht ich in meiner Empfindung v. einer hohen Mauer herabstürzen, möcht ich sterben […].14

Musik war so etwas wie eine Elementargewalt, und umgekehrt konnten Elementargewalten musikalische Empfindungen wecken. Im Juli 1832 tobte über ihm ein Gewitter, und Mörike beschrieb nicht nur das Unwetter, sondern auch das, was es bei ihm auslöste. In einem Brief an den Jugendfreund Johannes Mährlen heißt es: Da sah ich am Fenster ein Gewitter von der TeckSeite herziehen, eine Minute drauf rollte der erste Donner und alle meine Lebensgeister fingen an heimlich vergnüglich aufzulauschen. In unglaublicher Schnelle stand uns das Wetter überm Kopf. Breite, gewaltige Blize, wie ich sie nie bei Tag gesehen fielen wie Rosen-Schauer in unsre weisse Stube; und Schlag auf Schlag. Der alte Mozart muß in diesen Augenblicken mit dem Kapellmeister-Stäbchen unsichtbar in meinem Rücken gestanden und mir die Schulter berührt haben, denn wie der Teufel fuhr die Ouvertüre zum Titus in meiner Seele los, so unaufhaltsam, so prächtig, so durchdringend mit jenem oft wiederholten ehernen Schrei der römischen Tuba daß sich mir beide Fäuste vor Entzücken ballten.15

Synästhetische Erfahrungen: ein Blitz wird zu einem ehernen Schrei. Aber es war nicht nur Titus, es war vor allen Dingen Don Giovanni, mit dem Mörike nur zu sehr vertraut war. Don Giovanni war ein wenig literarisches Modethema in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts; 1809 hatte E.T.A. Hoffmann die Novelle Don Juan geschrieben und Kierkegaard 1843 in Entweder Oder über den Don Juan-Typ gehandelt. Aber für Mörike bedeutete diese Oper mehr. Am 15. August 1824 hatte er mit seinem Bruder August, seiner Schwester Luise und Tübinger Studienfreunden eine Don-Giovanni-Aufführung gesehen – es war eine einzigartige Erfahrung; Mörike sprach später vom „glücklichsten Tag“ seines Lebens und hat sich sein ganzes Leben lang an ihn erinnert. Doch da gab es auch Schatten: am 25. August 1824 starb Bruder August, und wir wissen nicht genau, woran; im Kirchenbuch ist von einem Nervenschlag die Rede, doch es gibt Hinweise darauf, dass August sich umgebracht haben könnte. Wenig später, am 31. März 1827, starb auch seine Schwester Luise. Vor allem der Tod des Bruders hat sich für Mörike lebenslang

14 Mörike, Brief an Wilhelm Waiblinger vom 25 (?) Februar 1822, Mörike 1982, 30. 15 Mörike, Brief an Johannes Mährlen vom 5. Juni 1832, Mörike 1985, 299.

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mit der Oper verbunden, und wenn in Don Giovanni der steinerne Gast auf der Bühne erscheint, so ist es die Wiederkehr eines zu früh Verstorbenen – für Mörike Todesnähe, der Verlust des Bruders ist ihm noch einmal bewusst geworden. Und noch 1843 fürchtete er sich vor der vollständigen Aufführung der Oper, weil sie für ihn zu viele „subjektive Elemente“ enthalte und weil sie, die Oper, so schrieb er, „einen Überschwall von altem Dufte, Schmerz u. Schönheit (August – meine Schwester Luise – Rud. Lohbauer &c.) über mich herwälzt […]“.16 1847 hören wir dann erstmals von der Mozart-Erzählung. Aber Pläne gab es offenbar schon früher, wie aus einem Brief Hartlaubs vom 8. Juni 1847 an Mörike hervorgeht, in dem von einem „Fragment Dichtung aus seinem Leben, wie Du einmal im Sinn hattest“, die Rede ist.17 Was Mörike letztlich zur Niederschrift seiner Erzählung bewogen haben könnte, wissen wir nicht – wahrscheinlich hat ihn die MozartBiographie des Russen Alexander Ulibischeff angeregt; Mörike hat sie gelesen und ihr einiges entnommen. Freund Hartlaub kannte sie auch und meinte, sie sei ganz ordentlich geschrieben, bringe aber nichts Besonderes – er denke, dass Mörike weit Besseres liefern könne. Doch die Arbeit an der Erzählung zog sich hin, erst 1855 erschien sie im Morgenblatt für gebildete Stände in Cottas Verlag. Mörike hat auch noch andere Quellen benutzt, etwa Franz Niemetscheks Mozart-Biographie; ein drittes Werk, die Mozart-Biographie von Georg Nikolaus von Nissen, der seit 1808 mit Constanze Mozart verheiratet war, hat Mörike während der Niederschrift nicht zur Kenntnis genommen, wie er selbst sagt, was aber wohl nicht ganz stimmt: zumindest kannte er Auszüge daraus. Mörike wollte im Übrigen seine Novelle mit Porträts des Künstlerpaares Mozart und Constanze schmücken – ein Bildchen Constanzes, solle sich, so schrieb er an Cotta, in der von Nissen herausgegebenen Biographie befinden.18 Doch wie dem auch sei: die Novelle ist also ein Werk der frühen 50er Jahre, und was immer sich an Authentischem in der Erzählung Mörikes finden mag: viele Einzelheiten aus Mozarts Leben sind in dieser Erzählung frei herbeiphantasiert. Mörike schrieb über seine Erzählung selbst: „Sie ist im Ganzen heiter, der Stoff dazu erfunden, doch der Mensch, wie ich hoffe, wahr, und nichts von dem darin was unsre Geistreichen überall zuerst suchen obs Ihnen gleich selbst nur halb schmeckt.“19 Was also geschah? Eigentlich passiert herzlich wenig, fast nichts an diesem 14. September 1787, der tatsächlich aber wohl ein Tag im Oktober war: die Mozarts waren am 1. Oktober aus Wien abgereist, kamen in Prag am 4. Oktober an. Wie

16 Mörike, Brief an Wilhelm Hartlaub vom 20. März 1843, Mörike 1994, 96. 17 Zitiert nach Mörike 2000a, 624. 18 Vgl. Mörike, Brief an Georg Freiherr Cotta von Cottendorf vom 6. Mai 1855, Mörike 2000b, 206. 19 Mörike, Brief an Karl Friedrich Hartmann Mayer vom 21. Mai 1855; Mörike 2000b, 211–212. Detaillierte Angaben über von Mörike Erfundenes in Mörike 2008, passim.

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Mozart früher gereist ist, darüber wissen wir, wie gesagt, nur wenig, das Reisen war Mittel zum Zweck, an Bequemlichkeiten dürfte es nicht selten gemangelt haben. Aber diesmal reist man in einer stattlichen, gelbroten Kutsche, wie wir erfahren – nicht von Mörike, sondern von einer Baronesse von T., die das an eine Freundin schreibt; und wir merken also schon gleich zu Anfang der Novelle, dass sie von quasi gebrochenen Wirklichkeiten handelt, dass etwas nicht an sich dargestellt ist, sondern von außen, von irgendjemand gesehen und beschrieben wird. Es bleibt aber nicht bei dieser schriftlichen Inaugenscheinnahme durch eine Fremde; Mörike (oder vielmehr der Erzähler dieser Novelle) findet das doch reichlich ungenau, und so wird dem Leser empfohlen, sich „einige Züge“ noch durch einen „Kenner des Geschmacks der achtziger Jahre“ ergänzen zu lassen. Welche sind es? Oder besser: welche könnten es sein, da ja die ungenaue Beschreibung des Wagens nur durch den Erzähler ins Genaue gerückt wird? Darüber hören wir Einiges: Der gelbrothe Wagen ist hüben und drüben am Schlage mit Blumenboukets, in ihren natürlichen Farben gemalt, die Ränder mit schmalen Goldleisten verziert, der Anstrich aber noch keineswegs von jenem spiegelglatten Lack der heutigen Wiener Werkstätten glänzend, der Kasten auch nicht völlig ausgebaucht, obwohl nach unten zu kokett mit einer kühnen Schweifung eingezogen; dazu kommt ein hohes Gedeck [= Verdeck] mit starrenden Ledervorhängen, die gegenwärtig zurückgestreift sind (255).

Was soll das alles, was hat das mit Mozart zu tun? Eigentlich gar nichts. Aber es zeigt Mörike als Miniaturenmaler, als einen frühen Realisten, dem es um Akkuratesse und Genauigkeit zu tun ist, für den eben auch die Dinge wichtig sind, nicht nur der Held seiner Erzählung, und eines vermittelt diese Kutschenbeschreibung auf jeden Fall: Anschaulichkeit. Die akkurate Beschreibung der Kutsche wird allerdings sofort wieder ins Zwielicht gerückt, denn es könnte ja nur so sein, ein Kenner des Geschmacks der 1780er Jahre würde das wohl so sehen; letztlich ist alles bloß zu vermuten. Anders gesagt: die Genauigkeit ist, weil sie eben nur eine vorgestellte ist, letztlich nur eine angenommene, denn in der Kutschenbeschreibung selbst wird das durch den Erzähler Vorgebrachte schon wieder zurückgenommen durch ein „So könnte es gewesen sein.“ Wir haben also sehr viel Genaues erfahren, das am Ende aber ins nur Vermutete, ins allenfalls Wahrscheinliche, bei aller Genauigkeit keinesfalls unbedingt Gesicherte gerät. Doch gerade deswegen wird der Leser fortan dem Erzähler vertrauen, hat er hier nicht nur genau recherchiert, sondern auch noch zugegeben, dass die Wahrheit teilweise eine nur vermutete ist. Der Leser weiß: was immer beschrieben wird, ist erdichtet – ob sich die Reise so zugetragen hat, kann niemand sagen, aber alles könnte sich so ereignet haben. Anders gesagt: wir treten in eine erzählte Welt ein, der es an Glaubwürdigkeit nicht mangelt. Doch zugleich erfahren wir: es ist eine

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Wirklichkeit sui generis. Manches ist nur wahrscheinlich, aber alles ist im Rahmen der Erzählung wahr. Das wird schon zu Beginn der Novelle unmissverständlich dargelegt, und so wissen wir Bescheid auch dort, wo wir eigentlich gar nichts wissen können. Genauigkeit ist weiterhin Erzählprinzip. Die Reisekostüme werden beschrieben, und hier geht es ähnlich penibel wie bei der Kutschenschilderung zu. Constanze hat den Anzug des Gemahls ausgewählt: „zu der gestickten Weste von etwas verschossenem Blau sein gewohnter brauner Überrock mit einer Reihe großer und dergestalt façonnirter [= besonders geformter] Knöpfe, daß eine Lage röthliches Rauschgold durch ihr sternartiges Gewebe schimmerte, schwarzseidene Beinkleider, Strümpfe, und auf den Schuhen vergoldete Schnallen“ (225–226). Madame kommt nicht so gut weg, was die Genauigkeit angeht: es ist nur von einem bequemen Reisehabit, hellgrün und weiß gestreift, die Rede, und wir merken schon: er ist der wichtige, nicht sie. Beide steigen an einem Waldrand aus, sie ergötzen sich an und in dem Tannenwald; Mozart hat eine kindliche Freude an dem, was er sieht, und er sieht tatsächlich wie ein Kind die kleinen Wunder des Waldes und spricht darüber zu Constanze. Und als sie weiterfahren, sagt er etwas, was auf seine Weise hintergründig ist: Die Erde ist wahrhaftig schön, und keinem zu verdenken, wenn er so lang wie möglich darauf bleiben will. Gott sey’s gedankt, ich fühle mich so frisch und wohl wie je, und wäre bald zu tausend Dingen aufgelegt, die denn auch alle nach einander an die Reihe kommen sollen, wie nur mein neues Werk vollendet und aufgeführt seyn wird. Wie viel ist draußen in der Welt, und wie viel daheim, Merkwürdiges und Schönes, das ich noch gar nicht kenne, an Wunderwerken der Natur, an Wissenschaften, Künsten und nützlichen Gewerben! (228).

Sein Wunsch ist verständlich. Aber wir wissen ja: nichts davon wird sich erfüllen. Die Mozarts vor der Kutsche, am Waldesrand: es ist ein Gespräch, das immer wieder zum Selbstgespräch wird, es ist aber auch eine Betrachtung, die der Erzähler anstellt, und es ist vor allem eine „schmerzliche Betrachtung“: dieser unglaublich empfängliche Mensch, also Mozart, „so viel er auch in seiner kurzen Spanne Zeit erlebt, genossen und aus sich hervorgebracht“ habe, habe, so hören wir, „ein stetiges und rein befriedigtes Gefühl seiner selbst“ doch lebenslang entbehrt (229). Die Sphären verwischen sich. Eigentlich reisen wir ja mit Mozart und seiner Frau Constanze in der Kutsche weiter in Richtung Prag, aber nun mischt der Erzähler sich aufs deutlichste ein – und gibt ein Charakterbild, indem er erzählt, wie Mozart es so zuhause treibt, dort und außerhalb: „Vergnügungen, bald bunt und ausgelassen, bald einer ruhigern Stimmung zusagend“ – es seien entlastende Stunden, nach „ungeheurem Kraftaufwand“ seines Musikerlebens. Und dann fällt auch das entscheidende Stichwort, das Mozart wie kein anderes charakterisieren soll; er ist ein „Genie“ (230). Dieses Genie hat es wahrlich nicht

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leicht, das hören wir schon hier; es arbeitet am Rande des Erträglichen, seine Gesundheit ist angegriffen, ein immer wiederkehrender Zug von Schwermut bestimmt sein Leben ebenfalls, und mehr noch: die Ahnung eines frühzeitigen Todes, die ihn zuletzt auf Schritt und Tritt begleiten wird (231). Er ist ein törichter und leichtsinniger Verschwender, auch was seine eigenen Kräfte angeht, seiner Zeit voraus, was seine Kompositionen betrifft, aber immer wieder vom „Trübsinn“ geplagt, und Geldnot trägt nicht wenig dazu bei. Dann aber geht der Bericht des Erzählers unversehens wieder in das Gespräch über, man kommt sozusagen auf der erzählerischen Reiseroute ein Stück weiter voran, und Constanze phantasiert sich in etwas hinein, wovon sie noch gar nichts wissen kann, denn die Rede ist von Mozarts Besuch in Berlin – der wird ja erst später stattfinden, aber hier wird schon von ihr in einem heiteren Imaginationsspiel ausgemalt, wie es ihm in Berlin ergehen wird, wie er den giftigen Konkurrenten Salieri auszustechen gedenkt und dessen Oper Tarare: großes Illusionstheater in der Reisekutsche, das Fuhrwerk wird zur Bühne, auf der Mozarts Leben noch einmal abrollt, obwohl ja von dem Berichteten noch gar nichts geschehen ist; diese Reise nach Potsdam und weiter nach Berlin wird ja erst noch kommen. Nichts davon ist wirklich, alles ist nur vorgestellt. Ein kühner Schachzug des Erzählers: die Gegenwart wird bedeutungslos, Zukünftiges als schon vergangen ausgegeben. Dem Leser soll es bei aller Genauigkeit etwas konfus werden. Die Zeiten werden durcheinandergewirbelt, und wir spüren: die Imagination ist wichtiger als die Gegenwart. Und so reist man denn weiter, nach diesem „Spiel mit bunten Seifenblasen einer erträumten Zukunft“ (237). Der Erzähler weiß mehr: leider wird sich der Lebenstraum niemals, auch nicht „im bescheidensten Maße“, erfüllen; Mozart wird sich „schnell und unaufhaltsam in seiner eigenen Gluth“ verzehren (283), wie wir am Schluss der Novelle lesen. Doch vorerst sind wir noch in der Reisekutsche. Die Fahrt bringt Neues. Ein kleines Schloss kommt ins Blickfeld, dort soll Mittag gehalten werden. Constanze ruht sich im Gasthaus aus, Mozart geht durch die Schlossanlagen, hört einen Springbrunnen, Tisch und Bank locken zum Verweilen: er sieht unversehens einen Pomeranzenbaum von mittlerer Größe vor sich „voll der schönsten Früchte“, und er erinnert sich an den Süden, an seine erste Reise nach Italien, pflückt gedankenlos eine Apfelsine: „künstlerische Geistabwesenheit“, wie es im Text heißt (239), und schneidet die Apfelsine, die Pomeranze von oben nach unten langsam durch. Er möchte ein dunkles Durstgefühl gehabt haben, so lesen wir, aber er atmet nur den köstlichen Geruch ein, und dann starrt er minutenlang die beiden inneren Flächen an, „fügt sie sachte wieder zusammen, ganz sachte, trennt und vereinigt sie wieder“ (240). Wir werden später noch hören, was es mit diesem Trennen und Sich-wiederVereinigen auf sich hat. Aber zunächst hat das Abpflücken der Orange nur höchst

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unangenehme Folgen: der Gärtner, der hinzugekommen ist, stellt ihn zur Rede, und es kommt heraus, dass die Früchte gezählt und der Baum vom Schlossherrn, einem Grafen, zu einem Fest bestimmt ist. Eine Verlobung soll begangen werden, und Mozart, überrascht und beschämt, sieht sich zu einer Rechtfertigung veranlasst und schreibt an die Frau Gräfin ein Brieflein (und es sei zitiert, weil es von der Briefkultur, und mehr: von der Sprachkultur der Rokokozeit wie kaum etwas anderes zeugt, und zugleich von Mörikes Briefschreibekunst): Gnädigste Frau! Hier sitze ich Unseliger in Ihrem Paradiese, wie weiland Adam, nachdem er den Apfel gekostet. Das Unglück ist geschehen, und ich kann nicht einmal die Schuld auf eine gute Eva schieben, die eben jetzt von Grazien und Amoretten eines Himmelbetts umgaukelt, im Gasthof sich des unschuldigsten Schlafes erfreut. Befehlen Sie und ich stehe persönlich Ihro Gnaden Rede über meinen mir selbst unfaßlichen Frevel. Mit aufrichtiger Beschämung Hochdero untertänigster Diener W. A. Mozart, auf dem Wege nach Prag (241).

Die Worte sind so elegant wie beziehungsvoll gewählt, aber so leicht kommt er nicht davon. Der etwas „jähe“, also schnell jähzornige Graf ist empört: ein Wiener Musikus? Er meint: „Vermuthlich irgend solch ein Lump, der um ein Viaticum läuft und mitnimmt was er findet?“ Reisende Musikanten waren gefürchtet – sie tauchten auch literarisch immer wieder auf, so etwa in Eichendorffs TaugenichtsNovelle, wo es ebenfalls darum geht, sich ein Viatikum, also etwas Reisegeld, zu verdienen. Mit der Violine käme man nicht weit, sagt dort ein Waldhornist, und fügt hinzu: Da gehn die blasenden Instrumente schon besser […]; wenn so eine Herrschaft ganz ruhig zu Mittag speist, und wir treten unverhofft in das gewölbte Vorhaus und fangen alle drei aus Leibeskräften zu blasen an – gleich kommt ein Bedienter herausgesprungen mit Geld oder Essen, damit sie nur den Lärm wieder loswerden.20

Auch Mörikes Graf möchte den Musikus rasch wieder loswerden, aber der Gärtner meint, der sähe nicht nach einem musikalischen Lumpen aus, und: „Er däucht mir nicht richtig im Kopf; auch ist er sehr hochmüthig. Moser nennt er sich. Er wartet unten auf Bescheid.“ (242) Als der Graf den Gärtner, Velten mit Namen (auch darüber später noch einiges), seiner Pflichtvergessenheit und Unaufmerksamkeit wegen gerade zur Rede stellen will, tritt die Gräfin ein: dieser Moser sei Mozart aus Wien, der berühmte Komponist. Und: „Ihr, Velten, seyd ihm doch

20 Eichendorff 1953, 417.

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höflich begegnet?“ Dann erfahren alle, was Mozart getan hat, aber Moser alias Mozart kommt jetzt doch noch einmal davon: man weiß nur zu gut, wer er ist. Die Mozarts werden ins Schloss geholt, der Postillion entlassen, und nun wendet sich das Geschehen ins höchst Erfreuliche. Jemand „hatte den Flügel geöffnet“, so lesen wir; Figaros Hochzeit liegt dort aufgeschlagen, und dann singt die Verlobte, Eugenie, begleitet von ihrem zukünftigen Ehemann, dem Baron, die Arie der Susanna aus dem 4. Akt, wo wir „den Geist der süßen Leidenschaft stromweise, wie die gewürzte sommerliche Abendluft, einathmen“. Die Braut hält sich zunächst ein wenig zurück, aber dann fällt jede beklemmende Fessel von ihr ab, und: „Sie hielt sich lächelnd, sicher auf der hohen Woge, und das Gefühl dieses Moments, des einzigen in seiner Art vielleicht für alle Tage ihres Lebens; begeisterte sie billig.“ (245) Des einzigen Gefühls in seiner Art vielleicht für alle Tage ihres Lebens: das Mozarts endet nach vier Jahren, das einzige Gefühl jener Eugenie wird sie aber wohl lange noch, vielleicht jahrzehntelang, begleiten. Zeit, Tod und Ewigkeit sind die untergründigen, eigentlichen Themen der Erzählung, und hier werden sie gebündelt in einen Satz. Wie geht es weiter? Wir verlassen zunächst kurz den Gang der Handlung, weil jetzt eigentlich gar nicht mehr viel passiert, denn das, was geschieht, geschieht im Gespräch, nur unterbrochen von einiger Musik, unterbrochen auch von dem Bericht des Erzählers, der an einer Stelle sogar Frau Constanze in der Berichterstattung ablöst. Also herzlich wenig an Vorfällen, keine sogenannte unerhörte Begebenheit, die das Wesen einer Novelle, so Goethes berühmte Definition, auszumachen hat – die Geschichte von der eher versehentlich gepflückten Orange hat sich zwar ereignet, aber unerhört ist sie gewiss nicht. Was dann? Man hat von einer Figurennovelle gesprochen, aber auch das reicht zur Charakterisierung dieser eigentümlichen Erzählung nicht hin – doch es fragt sich ohnehin, ob wir mit dem Begriff der Novelle überhaupt uneingeschränkt operieren dürfen. Wenn wir uns einen Augenblick aus dem Lauf der Erzählung ausblenden und uns fragen, was die Eigenart dieser Erzählung ausmacht, so müssen wir etwas weiter ausholen, denn in dieser Erzählung Mörikes scheinen sich quasi zwei Modelle der Erzählung zu treffen, sich zu verbinden zu einer Einheit, die aber ihre Herkunft aus ganz unterschiedlichen Traditionen nicht leugnen kann. Mörike macht daraus – und das ist eine literarische Leistung eigener Art – etwas ganz Neues. Einen ersten Fingerzeig hat er selbst gegeben, als er am 6. Mai 1855 an seinen Verleger Cotta schrieb: „Meine Aufgabe bei dieser Erzählung war, ein kleines Charaktergemälde Mozarts (das erste seiner Art so viel ich weiß) aufzustellen […].“21 Das klingt zunächst ganz unverbindlich, aber dem Literarhistoriker ist

21 Mörike, Brief an Georg Freiherr Cotta von Cottendorf vom 6. Mai 1855, Mörike 2000b, 205.

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bewusst, dass Mörike damit einer Tradition, um nicht zu sagen: einer Mode folgt, die sich im neunzehnten Jahrhundert breitgemacht hatte: Es waren „Charaktere“, „Charakteristiken“, meist dargeboten in Form von Charakternovellen. Derartige Charaktere gab es vor allem in der liberalen Literatur etwa seit 1840. Gustav Kühne veröffentlichte 1838 Weibliche und männliche Charaktere und später (1864/ 65) Deutsche Charaktere, Alexander Jung, ein heute völlig unbekannter Autor, 1848 Charaktere, Charakteristiken und vermischte Schriften, Theodor Mundt gab 1837 Charaktere und Situationen heraus. Und Karl Gutzkow publizierte 1842 seine Kritiken und Charakteristiken. Aber es gab bereits Vorgänger: schon Friedrich Schlegel hatte zusammen mit seinem Bruder August Wilhelm 1801 Charakteristiken und Kritiken verfasst. Es ist anzunehmen, dass Mörike mit dieser literarischen Modeströmung durchaus vertraut war, und wenn er von dem kleinen „Charaktergemälde“ spricht, dann ordnet er sein Erzählen also ein in ein Genre, das die Zeitgenossen schätzten. Dieses Interesse an Charaktergemälden hängt, weiträumig gesehen, mit dem seit der Frühromantik, also seit der Wende zum neunzehnten Jahrhundert aufgekommenen Interesse am Individuum zusammen, am großen Einzelnen, am außergewöhnlichen Menschen, für das sich, sofern er ein ‚Kraftkerl‘ war, sogar schon die Literatur des Sturm und Drang, also die der 1770er und 1780er Jahre, begeistert hatte. Aber das Interesse am ‚Kraftkerl‘ war in jenen Jahrzehnten anders motiviert: da empörte sich eine zumeist junge Generation gegen das Überkommene, und das hatte im weitesten Sinne politische Gründe. Im achtzehnten Jahrhundert würde man außerhalb der Dramatik des Sturm und Drang, in der sich Protest austobte, derartige Charakteristiken, die mit Rebellion nichts zu tun hatten, vergeblich suchen, sie kamen im frühen neunzehnten Jahrhundert nicht nur mit dem Interesse am Individuum auf, an ‚Charakteren‘, sondern im Übrigen auch mit dem an der ‚Novelle‘. Auch dazu ein (germanistisches) Wort. Als „Novelle“ (so der Untertitel) ist Mörikes Erzählung gedruckt worden. Mörike speiste sich damit ein in einen anderen großen Strom des literarischen Interesses, der sich in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts weitgehend vom Drama auf die Prosa verlagert hatte. Theodor Mundt, einer der Sprecher des Jungen Deutschland, jener frühen liberalen Literaturbewegung der dreißiger und vierziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts, schrieb, die Novelle sei „in neuester Zeit der eigentliche Mittelpunct für die productive Literatur der Prosa“ – so in seinem Buch Die Kunst der deutschen Prosa, 1837, 1843 schon in 2. Auflage erschienen.22 Novelle konnte im Übrigen damals so gut wie alles sein, was erzählt wurde, von der kleinen Anekdo-

22 Mundt 1837, 361.

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te bis zum großen Roman. Gattungsspezifische Eigenheiten kamen der Novelle gar nicht mehr zu, mancher zwei- oder dreibändige Roman trug den Untertitel ‚Eine Novelle‘. Das muss man wissen, um den Untertitel ‚Novelle‘ recht zu verstehen, oder vielmehr: um ihn nicht missverstehen. Novellen konnten also auch mehrbändige Romane sein, und so schien es manchmal geboten, sich abzusetzen. Das geschah damals auch: so gab es Reisenovellen, selbst Gebirgsnovellen, es gab Klosternovellen und was dergleichen Kuriositäten mehr waren – 1834 war schon davon die Rede, dass die Novelle so etwas wie ein deutsches Haustier sei.23 Mörike aber wollte ja nicht nur allgemein eine Novelle erzählen, sondern mit dem Wort „Genie“ (230) wird schon zu Beginn der Erzählung deutlich, dass er so etwas wie eine Künstlernovelle im Sinn hatte. Und damit ordnet er sich auch thematisch ein in einen größeren Zusammenhang: Künstlergeschichten gehören zum neunzehnten Jahrhundert, und es mag das Interesse der bürgerlichen Welt an dieser sonderbaren, so ganz andersartigen und zumeist unbürgerlichen Spezies der Menschheit gewesen sein, das hinter den zahlreichen Künstlergeschichten stand. In die bürgerliche Welt passten Künstler eigentlich nicht hinein – und in der Regel sind sie, die Künstler, denn auch alles andere als besonders ausgezeichnete Zeitgenossen. Künstler sind nicht mehr gottgleiche Figuren, wie sie noch in der deutschen Klassik verherrlicht wurden. Von Schiller gibt es ein großes Gedicht Die Künstler aus dem Jahre 1788. „Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, bewahret sie!“, kann man dort lesen, und schon vorher galt der Künstler als alter deus, sozusagen als Weltenschöpfer zweiten Ranges, über ihm gab es eigentlich nichts Menschliches mehr. Aber wie hat sich das schon in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts geändert! Mehr als ein Jahrhundert lang hatte der Künstler unangefochten auf seinem hohen Piedestal gestanden, aber jetzt wurde er heruntergeholt und geriet in die Gesellschaft der Sonderlinge, der Abenteurer; mit dem göttergleichen Ansehen der Künstler war es vorbei, sie waren eher krank als gesund, die Phantasie drohte zuweilen mit ihnen durchzugehen; sie pflegten den Müßiggang, verfielen aber häufig auch der Melancholie, und ihr Verhältnis zur Realität war fast immer ein höchst fragwürdiges. Verkannt waren sie fast immer. Nicht wenige scheiterten an ihrer eigenen Bürgerlichkeit – so der Grüne Heinrich in Kellers gleichnamigem Roman. Grillparzers Erzählung Der arme Spielmann handelt von einem Musiker am Rande der Gesellschaft und auch am Rand des Wahnsinns – es waren fast schon borderlineExistenzen, die da auftraten. Auch Mörikes Maler Nolten ist ein Künstler-Roman – es sind die Nachtseiten der Romantik, die sich hier präsentieren, der Wahnsinn lodert an den Rändern der Gesellschaft, schizophrene Phänomene werden be-

23 Vgl. Mundt 1834, 157.

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schrieben, wenn etwa aus einer Person zwei werden oder dort, wo zwei sich zu einer Gestalt verbinden, und wir kennen das Urteil des Tübinger Freundes Ludwig Bauers vom 10. November 1832 über diesen Roman Mörikes: „[…] unheilkündend ist der ganze Horizont, der Noltens Leben umfängt, selbst die Farbe der Gegenden, der Flug der Vögel ist wie vor Ausbruch eines Gewitters. Es ist nicht möglich, etwas zu hoffen und almählig geht das düstre Vorgefühl in ein Grauen über, wie es nur die Mitternacht oder Shakespeare in mir wecken konnte.“24 Der Künstler steht aber auch sonst unter Generalverdacht. Wenige Jahre später wird es noch düsterer. 1864 schrieb der italienische Arzt und Psychiater Cesare Lombroso sein berühmt gewordenes Buch Genio e follia, ins Deutsche 1885 als Genie und Irrsinn bzw. 1890 als Der geniale Mensch übersetzt, und da konnte man lesen, dass Genialität und Kriminalität ein und derselben Geisteshaltung entstammten: das Genie war in die Nähe der Verbrecher gerückt. Und noch ein wenig später, zur Jahrhundertwende hin, geraten die Künstler in die Nähe von Hochstaplern, sind Künstler fast überall zwielichtige Abenteurer, die sich nur noch am Rande der guten Gesellschaft bewegen. Sie sind noch nicht entgleist, aber sie sind nicht weit davon entfernt – unheimliche Gestalten, die die Kehrseite des schönen Lebens der feinen Leute sichtbar machen und die manchmal eigentlich in die geschlossene Abteilung einer psychiatrischen Anstalt gehören. Vor allem das ‚Genie‘ – wir erinnern uns, das Stichwort fällt in der Mörike-Novelle – wurde entlarvt. Lombroso hatte 1876 auch ein Buch mit dem Titel L’uomo delinquente geschrieben, deutsch als Der Verbrecher übersetzt, und dort konnte man über das Genie lesen: „Das Genie […] verachtet alle Anderen und glaubt um so mehr Recht zu haben, über Jedermann zu lachen, je weniger es selbst den Spott oder auch nur die Zumuthung einer reinen Kritik verträgt.“25 Die moderne Erscheinungsform des ‚Künstlers‘ war die in seiner tiefen Zweideutigkeit: als Gaukler, Artist, Volksverführer, Abenteurer und Betrüger. Von solchen Typen lebte die Literatur um 1900 in nicht geringem Ausmaß. Manche spielten nur mit im großen Spektakel der Welt, wurden zum Clown, waren bloß auf Täuschung, Hochstapelei und Trickserei aus. Aber das war noch die mildere Erscheinungsform – gefährlicher waren die, die sich nicht mehr nur als Scharlatane entpuppten, sondern die, in denen ein Dämon lauerte und die die Menschheit zu beherrschen suchten. Wo steht Mörikes Mozart in dieser Reihe, die vom Künstler als fast schon sakraler Figur einerseits bis zum Künstler als wahnsinnigem Genie andererseits reicht? Er ist wohl etwa in der Mitte anzusiedeln. Einiges haben wir ja schon

24 Bauer 1976, 88. 25 Lombroso 1987–1890, Bd. II, 36.

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durch den Erzähler von ihm gehört. Mozart: das ist noch nicht der malkontente Künstler, der an der Gesellschaft scheitert oder der dem Wahnsinn nicht fern ist, das ist kein outcast wie Kellers Grüner Heinrich und kein verkommener Maler, das ist kein verrückt gewordener Musiker wie der arme Spielmann Grillparzers. Er ist eben das ‚Genie‘, das sein Spiel ‚bewußtlos treibt‘ – zumeist nächtlicherweise: der Komposition sind stets die späten Stunden gewidmet. Ein Ausnahmemensch, immer noch eine fast göttliche Erscheinung. Aber da ist auch seine Reizbarkeit, da sind seine Verstimmungen, ihn verfolgen Melancholie und Trübsinn. Und er hat unzweifelhaft seine Marotten, befindet sich eigentlich fernab der wirklichen Wirklichkeit, lebt mehr in der Vergangenheit oder in der Zukunft als in der Gegenwart, ist ein Spieler im besten Sinne des Wortes. Mit Geld kann er nicht umgehen, und wenn er unerwartet etwas bekommt, so nimmt er es für eine Gabe des Himmels. Ohne Constanze kann er nicht leben und wäre in der Welt verloren, ist aber durchaus nicht abgeneigt, gelegentlich eine fremde schöne Frau zu küssen. Zu Possen ist er jederzeit aufgelegt; er ist ein Tausendsassa, ein liebenswerter Kindskopf, dabei ungeschickt und manchmal reichlich tölpelhaft: er vergießt versehentlich schon auf der Hinfahrt in der Kutsche das kostbare Parfüm seiner Frau. Wir hören auch, dass er das Billard über Gebühr liebt und sich nächtlicherweise in Vorstadtkneipen herumtreibt – und manchmal danach noch komponiert. Er fasziniert und befremdet zugleich, und der Gärtner Velten hatte nicht ohne Grund gesagt: „Er däucht mir nicht richtig im Kopf; auch ist er sehr hochmüthig.“ (242) Letzteres ist er gewiss nicht, aber an diesem einen Tag auf der Reise nach Prag lebt er auf der Höhe des Lebens, ist er ein fast anbetungswürdiger Gast, bewegt sich leichtfüßig und wie selbstverständlich in der feudalen Sozietät. Sie antwortet auf Mozarts Erscheinung mit der Sensibilität einer kultivierten Zeit; auf dem Schloss ist beste Adelsgesellschaft nach dem Vorbild des Hofes von Ludwig XIV. versammelt. Mozart weiß ebenso geistvoll zu plaudern wie seine Gastgeber, er ist einen Tag lang unangefochtener Mittelpunkt einer vornehmen Umgebung, kann immer ohne weiteres mithalten und beherrscht, wie man heute zu sagen pflegt, den Code dieser Welt, die großzügig auf ihren weitläufigen Besitzungen lebt und keine Sorgen hat. Mozart gehört temporär zu ihr – und steht doch zugleich außerhalb, eben weil er Künstler ist und nicht ein nur genießender und vom Luxus verwöhnter Zeitgenosse einer Gesellschaft, die, so könnte man kritisch sagen, nichts anderes kennt als sich selbst. An diesem einen Tag ist Mozart ein galanter Gesellschaftsmensch, weit weg von aller Künstler-Einsamkeit. So zeigt ihn Mörike, und damit ordnet sich seine Erzählung ein in eine noch andere Tradition jenseits der Künstler-Novelle, über die wir auch noch zu sprechen haben. Es ist die Gesellschaftserzählung, wie sie vor allem in der Romantik aufkam. Es war besonders Ludwig Tieck, der für das Ansehen dieser literarischen Form mit etwa vierzig Novellen das meiste getan hat. Theodor Mundt schrieb in

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seiner Kunst der deutschen Prosa: „Das gesellschaftliche Leben der Zeit wurde darin [in diesen Novellen] nach allen Seiten hin aufgegriffen.“26 Dabei ist die Gesellschaftsnovelle vor allem Konversationsnovelle: Gespräche bestimmen Form und Struktur der damals überall verbreiteten tieckschen Novellen – man hat nachgerechnet, dass bei ihm die Gespräche im Durchschnitt 70 bis 80 Prozent des gesamten Textes beanspruchen.27 Ein gutes Beispiel liefert seine Künstlernovelle Dichterleben – ein Porträt Shakespeares, aber vor allem ist es Konversationsdichtung, am Beispiel Shakespeares. Und Gespräche nehmen auch in Mörikes Erzählung einen großen Raum ein: es ist Konversation im Rahmen einer geschlossenen adeligen Gesellschaft, zu der der Künstler aber als gleichrangig zugelassen ist. Diese Gesellschaft weiß elegant zu plaudern, kann auch literarisch mithalten. Der Dichter Ramler wird erwähnt, Horaz ist alles andere als unbekannt, und der Bräutigam kennt nicht nur die französische Literatur seiner Zeit, sondern auch die aus einer Zeit, „wo deutsche Verse in der höheren Gesellschaft wenig galten“ – Hagedorn, Götz und andere Rokokodichter, die damals eigentlich nicht zum Leserepertoire gehörten, weil die deutschsprachige Literatur nicht zuletzt durch Friedrich den Großen in Misskredit geraten war. Es ist eine hochgebildete Gesellschaft, diese Adelsgesellschaft, und es sind die Gespräche, die das kenntlich machen. Mozart: immer dabei, so witzig wie nachdenklich, dabei naiv wie ein Kind, wobei zu bedenken ist, dass das Naive im achtzehnten Jahrhundert einen hohen kulturellen Stellenwert hatte: es war ein Abglanz des Goldenen Zeitalters darin zu erkennen. Mozart ist im Übrigen ein „Tausendsassa“, ausgestattet mit unerschöpflicher Phantasie, aber bei allem bescheiden, treuherzig und doch imstande, sein Publikum in jedem Augenblick „zum höchsten Ergötzen“ zu bringen (248). Die Unterhaltung bewegt sich im Empfangszimmer, wo der Flügel steht, „in allen Richtungen“ (248); später erhebt man sich, wechselt die Lokalität, und im runden Speisesalon, aus dem den Eintretenden „ein festlicher Blumengeruch“ entgegenweht, parliert man weiter – Mozart ist der „distinguirte Gast“, sitzt dem Brautpaar gegenüber. Aber man speist nicht nur, Mozart erzählt noch einmal die Geschichte von der zweigeteilten Pomeranze: das Lachen will kein Ende nehmen. Dann weitet sich die Gesprächsrunde ins Vergangene: Mozart berichtet von seiner ersten Italienreise, von einem Schauspiel zwischen fünf Jünglingen und „einer gleichen Anzahl artiger Mädchen, ihren Geliebten“. Die Erzählung ist breit ausgemalt, und Höhepunkt ist etwas, was er in Neapel in der Villa Reale gesehen hat, ein Theaterstück, von einer Bande sizilianischer commedianti aufgeführt: eine Art Wurfspiel, goldene Äpfel werden zwischen Mädchen und jungen Männern hin-

26 Mundt 1834, 362. 27 Vgl. Klussmann 1981, 139.

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und hergeworfen – eine hübsche Posse, wie Mozart bemerkt; man stürzt sich ins Wasser, dann besteigt eine Partei das Schiff der anderen, aber am Schluss verhandelt man gütlich, und schließlich sind alle wieder auf ihren eigenen Schiffen. Das alles wird von Mozart (oder sollen wir sagen: Mörike?) graziös präsentiert, und Eugenie, die Braut, spricht aus, was sie eigentlich gehört hat: „[…] wir haben hier eine gemalte Symphonie von Anfang bis zu Ende gehabt, und ein vollkommenes Gleichniß überdies des Mozartischen Geistes selbst in seiner ganzen Heiterkeit! Hab’ ich nicht Recht? ist nicht die ganze Anmuth Figaro’s darin?“ (252). Mozart erinnert sich an all das, was er damals in Neapel sah und hörte: Ich glaubte wieder dieselbe Musik in den Ohren zu haben, ein ganzer Rosenkranz von fröhlichen Melodien zog innerlich an mir vorbei, Fremdes und Eigenes, Crethi und Plethi, eines immer das andre ablösend. Von ungefähr springt ein Tanzliedchen hervor, Sechsachteltact, mir völlig neu. – Halt, dacht’ ich, was gibt’s hier? Das scheint ein ganz verteufelt liebliches Ding! Ich sehe näher zu – alle Wetter! das ist ja Masetto, das ist ja Zerlina! (253)

Und dann erklärt er, wie er, mit den neapolitanischen Melodien im Ohr, sich noch einmal der lachenden Landschaft am Golf von Neapel erinnernd – er trällert ganz lustig den Anfang des Liedchens vor sich hin –, wie er da das große Unheil mit der Pomeranze angerichtet habe. Die Nemesis aber habe schon an der Hecke gelauert und sei hervorgetreten, der entsetzliche Mann im galonierten blauen Rock; was kommen werde, sei nur zu sehr zu fürchten gewesen, aber – und damit geht die Geschichte wieder auf den Anfang zurück – Constanze habe ja schon im Wirtshaus erfahren, dass die gnädige Herrschaft wirklich eine gnädige sei, und es kommt heraus, dass Mozart darüber höchst erfreut war und animiert, auf der Stelle ein Liedchen zu schreiben – „ein Brautlied aus dem Stegreif“ (255); er will es in die schönen Hände Eugenies legen, aber der Graf nimmt es ihm ab und verlangt noch etwas Geduld. In dem Augenblick öffnen sich die Flügeltüren, und der Orangenbaum, von dem Mozart eine Frucht gepflückt hatte, wird hereingetragen: er drohte einzugehen, aber nun ist er wieder ein prächtiges Bäumchen geworden, und wir erfahren aufs Neue von Vergangenem, nämlich von der Geschichte des Baumes, der in Frankreich, in Versailles, erst verkümmert, aber dann zu neuem Leben herangewachsen sei. Das Fest nimmt seinen weiteren, heiteren Fortgang. Lustigkeit und Mutwillen steigen, wie es heißt, ein Toast auf Mozart wird ausgebracht, Mozart und der Graf beginnen einen Wechselgesang, der auf den Kollegen Salieri zielt, den Erzfeind Mozarts, und da ist vom Teufel die Rede, denn der möge den Monsieur Bonbonnière, wie Salieri auch genannt wird, weil er den Süßigkeiten maßlos zugetan ist, der Teufel also möge Salieri schließlich holen. Dann tanzt man, und als der Abend kommt, öffnet sich der imaginäre Vorhang noch einmal: Constanze erzählt mehr aus Mozarts Leben, von seinen immer wieder verlorenen Spazierstöcken,

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von seiner fatalen Neigung, im Gasthaus über die Zeit zu bleiben. Dann löst der Erzähler Frau Constanze ab und berichtet von Mozarts etwas verquerem Ankauf von Werkzeug für einen Garten, den es gar nicht mehr gibt, und von seinem Eintreten für ein junges Liebespaar, dem es an Geld zur Heirat mangelt. Madame berichtet, dass auf einer Abendgesellschaft in ihrem Haus der Vorschlag gemacht worden sei, für das junge Paar ein Benefizkonzert zu geben; eben das sei geschehen, das beglückte Paar habe am Ende sogar noch einen Überschuss gehabt. Mozart der Menschenfreund. Die Gesellschaft im Schloss des Grafen reagiert mit Jubel. Dabei hatte Mozart selbst kein Geld, aber die schwierige Finanzsituation endete überraschend: Frau Constanze berichtet, dass Mozart vom Fürsten Esterhazy quasi aus heiterem Himmel sechzig Dukaten bekommen habe – weil der von Mozarts neulich wieder aufgeführten Quartetten so angetan gewesen sei. Kein geringerer als Haydn sei der Überbringer dieser frohen Botschaft und der pekuniären Danksagung gewesen. Die Esterhazy-Geschichte ist reine Erfindung Mörikes,28 aber Haydn soll, so berichtet Ulibischeff, zu Mozarts Vater tatsächlich einmal gesagt haben: „Ich sage Ihnen vor Gott und als ein ehrlicher Mann, daß ich Ihren Sohn für den größten Componisten anerkenne, von dem ich nur immer gehört habe.“29 Und überliefert ist auch Haydns Wort: „Nie in meinem Leben werde ich sein Spiel vergessen. Das ging zu Herzen.“30 Es wird spät und später, es ist fast acht Uhr; man nimmt den Tee. Und man erinnert Mozart daran, dass er schon mittags versprochen habe, die Gesellschaft mit dem „Höllenbrand“ bekannt zu machen, mit dem Ende des Don Giovanni. Mozart ist ohne Zögern bereit, spielt „das überschwenglich schöne“ Sextett, und dann berichtet er, wie er nächtlicherweise vor einer anderen Reise das Finale geschrieben habe, und durch die Totenstille des Zimmers erklingt schließlich, nachdem er die Kerzen auf dem Flügel gelöscht hat, „jener furchtbare Choral: ‚Dein Lachen endet vor der Morgenröthe‘“. Der Komtur erscheint, und Mörike erzählt, was es mit diesem Ende, dem „ganze[n] lange[n], entsetzenvollen Dialog, durch welchen auch der Nüchternste bis an die Grenze menschlichen Vorstellens, ja über sie hinaus gerissen wird, wo wir das Übersinnliche schauen und hören, und innerhalb der eigenen Brust von einem Äußersten zum andern willenlos uns hin und her geschleudert fühlen“ (279), was es mit diesem Ende, in dem Lust und Angst sich verbinden, auf sich habe. „Der Componist war am Ziele“, lesen wir. „Eine Zeitlang wagte niemand, das allgemeine Schweigen zuerst zu brechen“ (280).

28 Vgl. die Erläuterung in Mörike 2008, 270. 29 Ulibischeff 1859, Bd. 2, 164. 30 Zitiert nach Mörike 2008, 259 (zu 246, 11–25 von Mörike 2005).

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Doch dann spricht man wieder. Ehe die Gesellschaft auseinandergeht, hebt sich die Unterhaltung noch einmal „unversehens auf ein Neues, ward nochmals ernsthaft und bedeutend“ (282). Endlich trennt man sich, lange nach Mitternacht. Am anderen Morgen fragt der Graf, wie ihm der hübsche Reisewagen gefalle, der da steht, und als Mozart meint: „Sehr gut; er scheint äußerst bequem“ – und da sagt ihm der Graf, dass er ihm zum Geschenk gemacht werde. Ja, das war ein Tag in einer galanten Gesellschaft, der viel vom Theater an sich hatte; die Übergabe des Reisewagens an Mozart war ein „letzter fröhlicher Auftritt“, lesen wir im Text. Ein Allerletztes folgt aber noch, ein Postscriptum. Eugenie, tiefer als die anderen von dem „unschätzbaren Erlebniß“ betroffen, die eigentlich reines Glück empfinden sollte mit dem „wahrhaft geliebten Mann“, Eugenie ist schon am Abend vorher von Todesfurcht beschlichen worden, durch allen unsäglichen Reiz der Musik hindurch. Und als sie das Klavier schließt, fällt ihr jene Abschrift eines böhmischen Volksliedes ein, das sie und Franziska früher manchmal gesungen haben: Ein Tännlein grünet wo, Wer weiß, im Walde; Ein Rosenstrauch, wer sagt, In welchem Garten? Sie sind erlesen schon, Denk es, o Seele, Auf deinem Grab zu wurzeln Und zu wachsen. Zwei schwarze Rößlein weiden Auf der Wiese, Sie kehren heim zur Stadt In muntern Sprüngen. Sie werden schrittweis gehn Mit deiner Leiche; Vielleicht, vielleicht noch eh’ An ihren Hufen Das Eisen los wird, Das ich blitzen sehe! (285)

Es ist ein düsterer Epilog zu einer heiteren Erzählung, die von anmutiger Lebenskunst zeugt. Oder sagen wir: der dunkle Hintergrund, der hier am Schluss der Erzählung noch einmal sichtbar wird. Mozart in guter Gesellschaft, Gast in erlesener Umgebung, er gerät in eine Festlichkeit hinein und wird nicht davongejagt, sondern ist ihr Mittelpunkt. Er spielt schon anfangs einen Teil eines Konzerts, worin, so die Novelle,

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die reine Schönheit sich einmal, wie aus Laune, freiwillig in den Dienst der Eleganz begibt, so aber, daß sie gleichsam nur verhüllt in diese mehr willkürlich spielenden Formen und hinter eine Menge blendender Lichter versteckt, doch in jeder Bewegung ihren eigensten Adel verräth und ein herrliches Pathos verschwenderisch ausgießt. (246)

Wenn Mozart den Schluss des Don Giovanni seinen Zuhörern vorspielt, ist es auch hier die Wirkung der Musik, die sie dem Leser nahebringt. Ein einzelner abgerissener Akkord, beim Vorübergehen gehört, trifft den Vorübergehenden „wie elektrisch“, es ist „etwas von jener süßen Bangigkeit, wenn wir in dem Theater, so lange das Orchester stimmt, dem Vorhang gegenüber sitzen […]“. Wir lesen, was Mozarts Oper angeht: Der Mensch verlangt und scheut zugleich aus seinem gewöhnlichen Selbst vertrieben zu werden, er fühlt, das Unendliche wird ihn berühren, das seine Brust zusammenzieht, indem es sie ausdehnen und den Geist gewaltsam an sich reißen will. Die Ehrfurcht vor der vollendeten Kunst tritt hinzu; der Gedanke, ein göttliches Wunder genießen, es als ein Verwandtes in sich aufnehmen zu dürfen, zu können, führt eine Art von Rührung, von Stolz mit sich, vielleicht den glücklichsten und reinsten, dessen wir fähig sind. (276)

Es ist Eugenie, die mit ihrem Verlobten wohl als einzige so zuhört, „wie der Meister sie sich wünschen mußte“ (277). Aber da ist noch etwas anderes: So wie die Todesahnungen Mozart beschäftigen und Eugenie weiß, dass er nicht mehr lange leben wird, weil er sich heillos und hoffnungslos selbst verbrennt, so gibt es noch einen größeren Horizont. Der Erzähler weist deutlich genug darauf hin: Das so gloriose feudale saeculum geht zu Ende, es war das alte Zeitalter, so lesen wir, „das schon eine unheilvolle Zukunft in sich trug, deren welterschütternder Eintritt dem Zeitpunkt unserer harmlosen Erzählung bereits nicht ferne mehr lag“ (257). In der Tat: die Französische Revolution wird 1789 dieser Welt ein jähes und blutiges Ende bereiten. Wie dieses Ende aussah, haben auch andere geschildert, etwa Eichendorff in seiner Geschichte von der Zerstörung des Schlosses Dürande oder in seiner Schrift Der Adel und die Revolution: die Mine, die in Frankreich explodiert war, brachte Schrecken und ungeheure Verwirrung, aber der Adel, so Eichendorff, verstand zunächst nicht recht, was geschehen war, manche lächelten vornehm und ungläubig und ignorierten den impertinenten Pöbelversuch, Weltgeschichte schreiben zu wollen; andere sahen in der Revolution ein ganz neues und höchst pikantes Amüsement und „stürzten sich häufig kopfüber in den flammenden Krater“.31 Die Revolution wird auch die Welt des Schlosses, auf dem eine Verlobung gefeiert wird, hinwegfegen. Und wir wissen: Mörike war kein Freund der

31 Eichendorff 1953, 1095.

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Französischen Revolution und keiner der 1848er Revolution, die Revolution war Aufruhr, öffentliche Katastrophe, Plünderung und Gesetzlosigkeit. In seiner Ballade vom Feuerreiter hat er davon berichtet, vom ‚Höllenschein‘ der Revolution – das Wort „Höllenbrand“ (275) fällt auch in Mörikes Reiseerzählung (und einmal auch in Mörikes Maler Nolten), und wenn hier, in Mörikes Novelle, damit das Ende des Don Giovanni gemeint ist: Höllenschein hier, Höllenschein dort – die Revolution steht vor der Tür, und mit ihr ist das Ende der „alten schönen Zeit“, wie Eichendorff sie einmal genannt hat, gekommen. Das alles ist dem Mörike-Text abzulesen, die Hinweise auf den Tod und den Untergang der Alten Welt sind deutlich genug, um den historischen Hintergrund der Pomeranzengeschichte auszuleuchten. Aber wir wollen zum Schluss noch auf eine andere Dimension aufmerksam machen, die der Mörike-Geschichte ebenfalls eingeschrieben ist und die sie ebenfalls in die Nähe des biedermeierlichen Erzählens bringt, das freilich alles andere als ein betuliches Erzählen war. Der Münchner Germanist Friedrich Sengle, der große Kenner der biedermeierlichen Welt und Zeit, hat einmal von der „biedermeierlichen Transparenz der Wirklichkeit“ gesprochen,32 und er meinte damit die in Mörikes Novelle immer wieder angedeutete „Todesnähe des sich genial verschwendenden jungen Meisters“. Doch es gibt noch einen anderen doppelten Boden: die Geschichte hat ihren mythologischen Hintergrund, und der wird in der Gesprächskunst der auf dem Schloss des Grafen von Schinzberg Versammelten (der Ort ist von Mörike erfunden) deutlich. Nachdem die Adelsgesellschaft und damit auch wir gehört haben, wozu das Orangenbäumchen gedacht gewesen war, erzählt der Bräutigam noch einmal in seinem dichterischen Beitrag, also im Verlobungscarmen, die Geschichte des Orangenbaums, oder vielmehr: die mythologische Geschichte, die hinter der wirklichen Geschichte des Orangenbäumchens steht. Denn der Orangenbaum oder vielmehr sein Urbild sei schon einmal eine Hochzeitsgabe gewesen, nämlich von Mutter Erde, also der Erdgöttin Gäa, für Juno gedacht; der Brauch, eine herrliche Braut mit einem Baum der Hesperiden als Hochzeitsgabe zu beschenken, sei von den Göttern vorlängst auch unter die Sterblichen gekommen. Die Liebste, der er zugehören soll, sei lange abwesend gewesen; als sie endlich zurückkommen sei, habe sie den Baum verdorrt vorgefunden; Apollo jedoch habe sich seiner Tochter angenommen – sie sei es, die zurückgekehrt sei. Der Baum habe wieder Früchte getragen, dreimal drei, und der Schluss des Gedichtes nimmt ohne jeglichen Vorwurf Bezug auf die geteilte saftigste der schönen Früchte: das Vergehen Mozarts ist nachträglich vom Verlobten der Braut poetisch legitimiert.

32 Sengle 1981, 195.

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Rauschender Beifall für den Dichter, für diese nacherzählte Szene aus dem Goldenen Zeitalter. Die Geschichte mit dem Zuwerfen der goldenen Bälle mag noch als Posse gelten, obwohl es ebenfalls eine höchst anspielungsreiche Geschichte war, sind es doch im Mythos die Äpfel der Hesperiden, Liebesäpfel, die man hier einander zuwirft. Das könnte man noch überlesen; aber wenn schon in dieser neapolitanischen Komödiantengeschichte aus einem eingebundenen Segel ein rosiger Knabe hervortritt mit silbernen Schwingen, mit Bogen, Pfeil und Köcher, in anmutiger Stellung frei auf der Stange schwebend, so ist Amor präsent, die ganze Geschichte mit dem Orangenbaum mythologisch grundiert, und das nicht in Form einer von weit hergeholten Nacherzählung jener Komödiantenaufführung, sondern in der unmittelbaren Präsenz der Mythologie im Gespräch der Adelsgesellschaft, Mozart in dieses eingeschlossen. Die Geschichte von den goldenen Bällen aus Neapel war so gesehen eigentlich nur ein Vorspiel zu dem, was in der Geschichte vom Baum der Hesperiden zur Sprache kommt. Das alles ist in Mörikes Novelle oder vielmehr im Poem des Bräutigams ausführlich erzählt. Aber was nicht erzählt ist, ist das, was es mit der zerschnittenen Orange auf sich hat. Und nun, ein letztes Mal, zu ihr. Dass es sich um eine quasi symbolische Orange handelt, merkt jeder, der sich nur etwas Sensibilität für den mörikeschen Text bewahrt hat. Man kann allerdings zuweilen ebenso überraschende wie absurde Deutungen finden. So lautet eine Erklärung, dass das Orangenbäumchen das Ancien Régime symbolisiere, also „jene restaurative Politik, deren ‚Früchte‘ die Französische Revolution jäh ‚zerschnitt‘, wie es auch der mozartschen Orange ergeht“.33 Das kann nur einem etwas schräg nach links denkenden Germanisten in den Sinn kommen. Aber die Frucht symbolisiere darüber hinaus, so dieser Interpret, auch die Kunst. Ja wie denn das? Wie passt das Eine zum Anderen? Es passt überhaupt nicht, dieses ist so unsinnig wie jenes. Wir wollen eine andere Deutung anbieten, ausgehend vom mythologischen Substrat dieser Erzählung. Mörike war, wie wir alle wissen und der Reisegeschichte ja nur zu gut entnehmen können, ein hochgebildeter Kenner der antiken Literatur und auch der Mythologie, und so wird er jenen Mythos vom Kugelmenschen gekannt haben, von dem in Platons Symposion die Rede ist. Der Mythos besagt, in Kürze, dass die Menschen ursprünglich kugelförmige Rümpfe mit vier Gliedmaßen hatten, sehr mutig waren und sogar die Götter angreifen wollten – Zeus aber rächte sich, indem er jeden von ihnen in zwei Hälften zerschnitt. Diese, so der Mythos, seien die heutigen zweibeinigen Menschen. Diese halben Kugelmenschen aber litten unter ihrer Unvollständigkeit, suchten die jeweils andere Hälfte, suchten Vereinigung des Getrennten; und Aristophanes,

33 Luserke-Jaqui 2004, 117.

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der in Platons Symposion Eros als menschenfreundlichsten Gott rühmt, sieht die erotische Attraktion in dieser Welt der getrennten Kugelhälften: wenn es jedem gelänge, die zu ihm gehörende andere Hälfte zu finden, so wäre die Menschheit, so Aristophanes, geheilt und glückselig. Und die sich so gefunden hätten, blieben ihr ganzes Leben lang miteinander verbunden; sie müssten sich auch im Tode und nach dem Tode in der Unterwelt nicht voneinander trennen. Die Kugelgestalt der mythischen Urmenschen aber erkläre sich aus ihrer Abstammung von den kugelförmigen Himmelskörpern, Sonne, Mond und Erde; die Kugel gelte im Übrigen, so Platon, als vollkommener Körper von höchster Schönheit. Sollte nicht dieser Mythos hinter dem Bild von der zerschnittenen Orange stecken? Wer eine Orange essen will, schält sie, schneidet sie nicht in zwei Hälften. Der Orangenbaum, gelegentlich unsinnigerweise als Symbol des Ancien Régime gedeutet, gehört Apoll zu, und wenn noch in Mörikes Text darauf hingewiesen wird, dass sich hier „eine Szene aus dem goldenen Weltalter“ ereignet habe – „und haben wir sie nicht erst heute erlebt?“ (259), heißt es –, dann scheint der Zusammenhang mit jenem Mythos vom Kugelmenschen, dessen zwei Hälften aus Liebe zueinander nach Wiederherstellung des Einen, der Einheit verlangen, einleuchtend zu sein. Mozart fügt ja die beiden Hälften der von ihm heruntergerissenen und zerschnittenen Orange wieder zusammen, ganz sachte drückt er sie gegeneinander, trennt sie und vereinigt sie wieder. Natürlich wachsen die Hälften nicht wieder zusammen. Aber die beiden Hälften werden dann dem Brautpaar präsentiert, zusammen mit des Meisters Autograph, dem kleinen Brautlied, das der Graf neben die zerschnittene Orange steckt. Der ist Mozarts musikalischer Kommentar zur Verlobungsfeier Eugeniens, oder anders gesagt: es ist, wie es die Geschichte vom Baum der Hesperiden besagt, eine „Hochzeitsgabe“, und wenn dann noch in dem Hochzeitsliedchen von Phöbus die Rede ist, wenn der Gott der Töne von der saftigen Orange Besitz nimmt, wenn es heißt: „Laß uns theilen holde Schöne, / Und für Amorn – diesen Schnitz“ (259), also dieses Zerschneiden, dann ist die Liebesmetaphorik offenbar; der Gott der Töne, Mozart, hat die Apfelsine zerschnitten, aber Amor wird sie wieder zusammenfügen – in der Verlobung Eugenies mit ihrem Geliebten. Das alles wird noch einmal gespiegelt in jenem alten braunen englischen Kupferstich, den die Freundin Franziska herbeibringt und auf dem die schönsten Apfelsinen zu sehen sind – sie senken sich zu Apoll herunter. Der werde in seiner Zerstreutheit gleich eine herunter holen (260), meint Franziska. War nicht auch Mozart zerstreut, als er die Orange vom Bäumchen pflückte? Apoll, das sei, so meint die Freundin Franziska auch, ja eigentlich Mozart, der noch einmal in seiner Zerstreuung eine Apfelsine pflücken werde – aber nein, das geschieht diesmal nicht, Mozart schließt den Mund der etwas vorlauten Franziska mit einem Kuss, und damit ist das Spiel mit den Pomeranzen vorerst beendet. Aber doch noch nicht ganz: denn unter dem Bild stehen Verse aus

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einer berühmten horazischen Ode, und dort ist die Rede von einem nicht untätigen Bogen und von des Hauptes goldenen Locken, die in die kastalische Flut getaucht werden. Schwer zu verstehen, meint der Graf, mit Bogen sei natürlich der Geigenbogen gemeint, nicht etwa der von Pfeil und Bogen. Er irrt sich, es ist umgekehrt, aber Mozart wird nicht zur Liebesgefahr werden, Apoll wird ihm nicht sein Gesicht und seine langen gelben Haare borgen, Mozart trägt weiterhin seinen Zopf, und den wird er nicht in die kastalische Flut tauchen, er wird „kein Unkraut zwischen zwei zärtliche Herzen“ säen. Scherz und Lustigkeit und Mutwillen gehen weiter, und schließlich kommt es zum Tanz („Apoll besinnt sich eben auf ein lange vergessenes arkadisches Tänzchen“, so hatte Max, der Bräutigam, das englische Bild kommentiert), und zuletzt küsst Mozart auch den schönen Mund der schönen Braut. Liebeskunst in guter gesellschaftlicher Form, herum um den Mythos von den Kugelmenschen, die es nach der anderen Hälfte der Kugel verlangt. Alles ist Spiel. Ein heiteres Spiel mit dem Liebesmythos von den getrennten Hälften, die wieder zusammenkommen sollen. „So ist’s! nicht anders!“, applaudiert auch Franziska, die das Bild, den alten englischen Stich, herangebracht hat. Es ist ein Spiel, wie es die Adelsgesellschaft liebte, und es sind die Variationen der alten Mythengeschichte, die den Reiz des Erzählens ausmachen. Das ist Anspielungskunst vom Feinsten, und da erscheint eigentlich noch ein anderer Mozart, nicht der kindlich-naive Fant, dem im wirklichen Leben so wenig gelingen will, sondern eben Mozart als Apoll, der auch jenes arkadische Tänzchen bekommt, von dem das englische Bild berichtet. Eigentlich war der ganze Hintergrund schon in dem Entschuldigungsbrief sichtbar, den Mozart an die gnädigste Frau Gräfin schrieb. Da ist vom Paradies die Rede: er, Mozart, sitze dort wie weiland Adam, nachdem er den Apfel gekostet. Eva sei nicht schuld, er, Hochdero untertänigster Diener W. A. Mozart, habe den ihm selbst unfasslichen Frevel begangen, so hatten wir gehört. Das ist die Geschichte vom Sündenfall, die auch noch eingeblendet wird, eigentlich eine Gegengeschichte zu der, die hier von den beiden Hälften der Orange erzählt wird, denn die Hälften sollen ja wieder zusammenkommen, und sie kommen das auch, sinnbildlich, in der Verlobung Eugenies mit dem Baron. Nun, wenn vom Paradies die Rede ist, pflegt gelegentlich auch vom Teufel die Rede zu sein, und auch den können wir in Mozarts Erzählung ausmachen. Da ist der Gartenpolizist, der Mozart zur Rede stellt, ein „Unhold“, wie es im Text heißt, und er hat auch einen Namen. Denn die Gräfin sagt zu dem Rüpel, der den Garten bewachen sollte: „Ihr, Velten, seyd ihm doch höflich begegnet?“ Nein, das ist er nicht, und Mozart hat auch noch einen anderen Namen für den entsetzlichen Mann im galonierten blauen Rock: „Der Satan der! so heiß hat mir nicht leicht jemand gemacht. Ein Gesicht wie aus Erz.“ (254) Er möchte wohl dem grausamen römischen Kaiser

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Tiberius ähnlich sehen, meint Mozart. Satan also, und da kommt ein anderer Mythos ins Spiel, oder vielmehr tatsächlich eine Teufelsgeschichte. „Potz Velten“, pflegt man gelegentlich zu sagen, was ungefähr mit „Zum Teufel“ zu übersetzen wäre. Velten – das ist natürlich Valentin, aber der Name des Heiligen trat, wie wir wissen, oft an die Stelle des Teufels, den man sich zu nennen scheute. Die Volkskunde weiß im Übrigen, dass man den Namen Valentin aber auch auf Valant zurückführte, eine Verhüllungsform für ‚Teufel‘, und so erfahren wir denn, wer eigentlich am Eingang des Gartenparadieses stand. Potz Velten – ein Teufelsfluch. So tut sich noch einmal hinter der liebenswürdigen Geschichte mit der Schilderung jener anmutigen Lebenskunst auf dem gräflichen Schloss ein Untergrund auf, ein mythologisch-biblischer, und hier ist, im Sinne Friedrich Sengles, wenn auch anders als von ihm gemeint, das Biedermeier tatsächlich transparent geworden. Wir wissen, dass auch andere Geschichten des neunzehnten Jahrhunderts einen doppelten Boden, ein mythologisches Substrat haben. Die Götter sind in dieser Zeit überall präsent, bei Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer wimmelt es nur so von mythischen Anspielungen: in Kellers Sinngedicht ist der Pygmalion-Mythos gegenwärtig, in den Sieben Legenden häufen sich mythologische Anspielungen; Keller ist sogar als „Dichter mit mythischen Augen“ bezeichnet worden.34 Mythisches, wohin man sieht – Diana und Aktaion in Kellers Grünem Heinrich, und auch zuvor schon Mythisches. Walter Benjamin hat in Goethes Wahlverwandtschaften „ein mythisches Schattenspiel in Kostümen des Goetheschen Zeitalters“ gesehen,35 in Goethes Faust ist Mythologie ständig zum Greifen nahe, ebenso in Schillers klassischer Lyrik: Apollo, Venus und Minerva geben sich überall die poetische Türklinke in die Hand. Bei Hölderlin setzt sich fort, was nicht erst bei Schiller begonnen hat: Hyperion ein neuer vaterländischer Apoll, Empedokles nichts anderes als ein neuer Jupiter. Kleist ist ohne mythologische Kenntnisse nicht zu verstehen, auch bei Eichendorff ist Mythologisches mehr oder weniger ständig präsent, selbst wenn man manchmal nicht genau unterscheiden kann, ob von Frau Venus und Diana die Rede ist oder von Maria. Und Heine inszeniert ein Götterspektakel, das seinesgleichen sucht. Pallas Athene und Apollon, Dionysos und Venus, Bacchus und diverse andere griechische Gottheiten geben sich bei ihm ein munteres Stelldichein, und wenn die alten Götter auch durch das Christentum vertrieben worden sind: in den Göttern im Exil, seiner Erzählung von den vertriebenen Himmlischen, feiern sie eine fröhliche poetische Wiederauferstehung. Friedrich Sengle hat seinerzeit auch festgestellt: „Die klassi-

34 So Muschg 1953, 619. 35 Benjamin 1955, 72.

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zistische Mythologie durchdrang alles in allem das gesellschaftliche und literarische Leben der Biedermeierzeit innig. Sie war nicht nur Mode.“36 Ja, im sogenannten Realismus ist das Mythische überall dicht unter der Oberfläche anwesend. Manchmal genügten einfache Hinweise: Meyers Schuß von der Kanzel, eine Geschichte, die freilich erst 1877/1878 erschien, spielt in Mythikon – das war für die Zeitgenossen deutlich genug. Auch bei Raabe und Fontane gibt es ähnliches, die Realität wird nicht verklärt, sondern wird durchlässig für mythische Vorgänge, die in die Wirklichkeit eindringen und die das Erzählen zum kunstvollen und anspielungsreichen Arrangement machen. Das ist der größere Rahmen, innerhalb dessen auch Mörikes Geschichte von Mozarts Reise nach Prag zu verorten ist. Mythologie: hier ist es freilich ein geistreiches gesellschaftliches Spiel, elegante Konversationskunst, und eines ist uninteressant: die pure, reine, alltägliche Wirklichkeit. Mörike erweist sich mit seiner Geschichte als exzellenter Kenner der antiken Mythologie. Und die spielt hier nicht auf verstörende, sondern eher auf liebliche Weise in diese Geschichte von Mozart auf der Reise nach Prag hinein, wo sich das Melancholische und das Heitere die Waage halten und Mörike gleichsam als Equilibrist auf dem dünnen Drahtseil zwischen Scherzhaftigkeit und Hintergründigkeit das zu Erzählende durchquert. Mörike gilt nur zu oft als Verfertiger schwäbischer Idyllen, aber er bewegt sich in seiner Welt so ähnlich, wie Mozart sich in der Adelsgesellschaft bewegt: höchst graziös, in seinem Erzählen ist die anmutige Lebenskunst der adeligen Welt von damals gewissermaßen Wort geworden. Ja, so könnte es damals gewesen sein. Triumph und Glanz eines Lebens, zuweilen von Schwermut überschattet, auch von Todesahnungen. Aber der Tod hatte für Mozart nichts Grässliches. Schon am 4. April 1787 hatte er an seinen Vater geschrieben: Da der Tod, genau genommen, der wahre Endzweck unseres Lebens ist, so habe ich mich seit ein paar Jahren mit diesem wahren, besten Freunde des Menschen so bekannt gemacht, daß sein Bildniß allein nichts Schreckendes mehr für mich hat, sondern sehr viel Beruhigendes und Tröstliches! Und ich danke meinem Gott, daß er mir das Glück gegönnt hat, mir die Gelegenheit zu verschaffen, ihn als den Schlüssel zu unserer wahren Glückseligkeit zu betrachten. Ich lege mich nie zu Bette, ohne zu bedenken, daß ich vielleicht, so jung als ich bin, den andern Tag nicht mehr seyn werde. Und es wird doch kein Mensch von allen die mich kennen, sagen können, daß ich im Umgange mürrisch oder traurig wäre; und für diese Glückseligkeit danke ich alle Tage meinem Schöpfer, und wünsche sie von Herzen jedem meiner Mitmenschen.37

36 Sengle 1971, 356. 37 Zitiert nach Mörike 2008, 252.

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Und eben dieser begegnet uns auch in Mörikes Erzählung von Mozart auf der Reise nach Prag. * Mörike hat in einem Brief angedeutet, dass er später vielleicht „in einem Pendant auch die andern, hier nur angedeuteten Elemente seines Wesens und seine lezten Lebenstage darzustellen“ versuchen werde.38 Aber dazu ist es nicht gekommen. Es wäre auch gar nicht nötig gewesen. Denn eigentlich war in diesem „kleinen Charaktergemälde Mozarts“ alles gesagt.

Literatur Mörike, Eduard: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe […] hrsg. von Hubert Arbogast †, Hans-Henrik Krummacher, Herbert Meyer †, Bernhard Zeller [= HKA]. 6. Bd.: Erzählungen, Erster Teil, Text, hrsg. von Mathias Mayer. Stuttgart 2005; Zweiter Teil, Lesarten und Erläuterungen, hrsg. von Mathias Mayer. Stuttgart 2008. 10. Bd.: Briefe 1811–1828, hrsg. von Bernhard Zeller und Anneliese Hofmann. Stuttgart 1982. 11. Bd.: Briefe 1829–1832, hrsg. von Hans-Ulrich Simon. Stuttgart 1985. 14. Bd.: Briefe 1842–1845, hrsg. von Albrecht Bergold und Bernhard Zeller. Stuttgart 1994. 15. Bd.: Briefe 1846–1850, hrsg. von Albrecht Bergold und Bernhard Zeller. Stuttgart 2000[a]. 16. Bd.: Briefe 1851–1856, hrsg. von Bernhard Thum. Stuttgart 2000[b]. Bauer, Ludwig Amandus: Briefe an Eduard Mörike, hrsg. von Bernhard Zeller und Hans-Ulrich Simon [= Marbacher Schriften. Hrsg. vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar]. Marbach 1976. Benjamin, Walter: „Goethes Wahlverwandtschaften“, in: Schriften, hrsg. von Theodor W. Adorno und G. Adorno. Frankfurt am Main 1955, 55–140. Eichendorff, Joseph Freiherr von: Neue Gesamtausgabe der Werke und Schriften in vier Bände, hrsg. von Gerhart Baumann in Verbindung mit Siegfried Grosse. Bd. II: Erzählende Dichtungen. Vermischte Schriften. Stuttgart 1953. Klussmann, Paul Gerhard: „Ludwig Tieck“, in: Handbuch der deutschen Erzählung, hrsg. von Karl Konrad Polheim. Düsseldorf 1981, 130–144. Lombroso, Cesare: Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung. In deutscher Bearbeitung von M. O. Fraenkel. 2 Bde. Hamburg 1887–1890. Luserke-Jaqui, Matthias: Eduard Mörike. Tübingen, Basel 2004. Mundt, Theodor: Die Kunst der deutschen Prosa. Aesthetisch, literargeschichtlich, gesellschaftlich. Berlin 1837, 2. Aufl. 1843. Mundt, Theodor: Moderne Lebenswirren. Briefe und Zeitabenteuer eines Salzschreibers. Leipzig 1834. Muschg, Adolf: Tragische Literaturgeschichte. 2. Aufl. Bern 1953.

38 Mörike, Brief an Georg Freiherr Cotta von Cottendorf vom 6. Mai 1855, Mörike 2000b, 206.

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Niemetschek, Franz: Leben des K. K. Kapellmeisters Wolfgang Gottlieb Mozart, nach Originalquellen beschrieben. Prag 1798. Nissen, Georg Nikolaus von: Biographie W. A. Mozart’s. Nach Originalbriefen, Sammlungen alles über ihn Geschriebenen, mit vielen neuen Beylagen, Steindrücken, Musikblättern und einem Fac-simile. Leipzig 1828. Sengle, Friedrich: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Bd. I. Stuttgart 1971. Sengle, Friedrich: „Biedermeier“, in: Handbuch der deutschen Erzählung, hrsg. von Karl Konrad Polheim. Düsseldorf 1981, 192–205. Ulibischeff [Oulibicheff], Alexander: Mozart’s Leben und Werke. 2 Bde. 2. Aufl. Neu bearbeitet und wesentlich erweitert von Ludwig Gantter, o. J. 1859, Neudruck als Reprint 1986. [Mörike nutzte eine frühere Ausgabe: Oulibicheff, Alexander: Mozart’s Leben, nebst einer Übersicht der allgemeinen Geschichte der Musik und einer Analyse der Hauptwerke Mozart’s. Für deutsche Leser bearbeitet von A. Schraishuon (deutsch 1847).]

Jürgen Hillesheim

Mozart als Herausforderung für Bertolt Brecht Musik muss, will man sich in erlaubter Weise mir ihr befassen, sei es als Künstler oder als Hörer, eine gesellschaftliche Funktion haben. Dies ist ein kommunistisches Credo, dem Brecht sich einen großen Teil seines Lebens ausgesetzt sah, demgegenüber er sich zu verhalten, Stellung zu beziehen hatte. Es fiel ihm nicht immer leicht, politisch korrekt zu sein, schließlich gab es immer wieder Affektives, kulinarische Begegnungen mit der Musik, tiefgreifende Erlebnisse gar, die Brecht selbst gerne in seine Jugend, in die eigene voraufklärerische Zeit gewissermaßen, zurückverlegte bzw. wesentlich später distanziert von ihnen sprach. So schreibt er am 16. August 1944 in sein Tagebuch über eine frühe Begegnung mit dem Werk Bachs: „Schon als Junge, als ich die Matthäuspassion in der Barfüßerkirche gehört hatte, beschloß ich, nicht mehr so wo hinzugehen, da ich den Stupor verabscheute, in den man da verfiel, dieses wilde Koma […]. Bach kann ich jetzt, wie ich denke, ungestraft hören.“1 Dies, so scheint es, hatte Brecht, nachdem Bachs Werk nachweisbare Spuren in Baal und in der Ballade von des Cortez Leuten hinterlassen hatte,2 bereits spätestens mit dem Lehrstück Die Maßnahme bewiesen. Hier kommt, in der musikalischen Adaption Hanns Eislers, der Matthäus-Passion in hohem Maße deutender, analysierender, kommentierender Charakter zu, und Eisler komponierte seine Musik nicht etwa für sich, sondern stimmte sich, wie bei Brecht stets in seiner Zusammenarbeit mit Komponisten, eng mit dem ‚Stückeschreiber‘ ab. Das vermeintlich Wertvolle, der gestische, zeigende Charakter der Musik, wurde, so der Eindruck, aus der Matthäuspassion absorbiert und gesellschaftlich nützlich gemacht. Das Hörerlebnis von einst war also lediglich verstörender Impetus, die Musik Bachs nun sozusagen kathartisch geläutert einzusetzen, zu instrumentalisieren, politisch „anzuwenden“.3 Dazu passt Brechts Sprachduktus, der bewusst nachlässig, fast beiläufig über seine erste Begegnung mit der Matthäus-Passion erzählt, wenn er so tut, als käme es darauf nicht an, so als erinnere er sich an dieses unwichtige Detail nicht mehr: Die Aufführung der Matthäus-Passion, bei der Brecht zugegen war, fand, wie man erst seit kurzem weiß,4 am 29. März 1914 statt, 1 2 3 4

Brecht, 27, 200. Vgl. hierzu: Hillesheim 2014, 23–32. Vgl. hierzu: Bucek 2012, 37. Vgl. hierzu: Hillesheim 2015, 213–231.

DOI 10.1515/9783110492989-007

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Jürgen Hillesheim

und nicht etwa in der Barfüßerkirche, in der Brecht getauft und konfirmiert worden war, sondern in St. Anna, Augsburgs evangelischer ‚Hauptkirche‘. Die Mozart-Rezeption Brechts, die lange Zeit nur mehr oder weniger nebenbei wahrgenommen wurde und die das Epische Theater in Theorie und Praxis wesentlich bestimmte, setzt vor Brechts erster Beschäftigung mit dem Marxismus ein. Auch hier stand am Anfang das Erlebnis, die tiefgreifende Wirkung, die Brecht durch die Musik Mozarts erfahren hatte. Man weiß darüber aus einer Erzählung Elisabeth Hauptmanns, der Geliebten und Mitarbeiterin Brechts, die sie zu dessen zehntem Todestag, also 1966, unter dem Titel Das Tafelklavier zu Papier brachte. Hauptmanns Beitrag basiert auf einem Bericht Dr. Georg Geyers, eines Jugendfreundes Brechts, der Hauptmann nach dessen Tod besucht hatte. Geyer erzählte nicht nur allgemein über Brechts Affinität zu Mozart und seine Freude an dessen Musik, sondern er legte ihr auch unvermittelt eine Partitur vor: Er nahm einen Band und legte ihn auf den Flügel. Es waren die mir so gut bekannten MozartSonaten, Edition Peters. Dann schlug er eine bestimmte Seite auf und wies auf zwei Stellen hin: Über je zwei Takten in der 11. Sonate war etwas stenografiert, mit Bleistift, klein, klar und sauber […] Ich wußte sofort: Das ist von Brecht, denn ich hatte von ihm Stenografiertes sehr oft gesehen. Da stand: Und er hauchte in seine Hand und roch An seinem Atem Und er roch faulig, da dachte er bei sich, ich sterbe bald. […] Wann sei das gewesen? Ich glaube, Dr. Geyer sagte mir, etwa 1915. […] Auch fing um diese Zeit Brechts Mutter, an der er sehr hing und die früh starb, zu kränkeln an.5

Die Angabe zur Klaviersonate Mozarts ist irreführend, es handelt sich um die Sonate KV 280.6 Hauptmann berichtet weiter: Als ich Paul Dessau Brechts stenografierte Zeilen zeigte, machte er mich gleich auf eine Aufzeichnung über Mozarts Tod am 5. Dezember 1791 aufmerksam; es heißt da: „Seine Schwägerin Sophie Haibl besuchte ihn am Tage vor seinem Tode, also am 4., da sagte er noch zu ihr: „Ach gut, liebe Sophie, daß Sie da sind, heut nacht bleiben Sie bei mir, Sie müssen mich sterben sehen. Und dann: „Ich habe ja schon den Totengeschmack auf der Zunge….“7

Albrecht Dümling folgert daraus: „Möglicherweise kannte Brecht diesen Ausspruch Mozarts und hatte ihn im Sinn, als er seine Zeilen in die Klaviernoten eintrug.“8 Dies ist durchaus konkretisierbar: Welche Mozart-Biographien existier5 6 7 8

Hauptmann 1977, 195–196. Vgl. hierzu ausführlich: Hillesheim 2014, 61–62. Hauptmann 1977, 68. Dümling 1985, 36.

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ten um 1915? Kann Brecht, der, wie ein Foto, das ihn mit einer Beethoven-Biographie unter dem Arm zeigt und ihn damit zumindest als Leser solcher KünstlerBiographien ausweist,9 besagte Überlieferung gekannt haben? Beschränken wir uns zunächst auf die beiden großen Klassiker der alten Mozart-Biografen: Franz Xaver Niemetschek, Zeitgenosse des Komponisten, befasst sich ausführlich mit dem Requiem und dessen geheimnisvollem Auftraggeber; den Tod Mozarts schildert er knapp: „Mozart blieb während seiner Krankheit bey vollkommenem Bewußtsein bis an sein Ende, und starb zwar gelassen, doch sehr ungern.“10 Noch wesentlich umfangreicheres Quellenmaterial als Niemetschek konnte Georg Nikolaus von Nissen verwerten, der Mozarts Witwe Constanze geheiratet hatte; nach dem Tode Nissens, 1828, gab sie dessen Mozart-Biographie heraus. Hier nun findet sich erstmals der Bericht der Sophie Haibl, allerdings in einer anderen Variante: „‚Gut, daß Sie da sind: heute Nacht bleiben Sie bey mir: Sie müssen mich sterben sehen‘. Ich machte mich stark und wollte es ihm ausreden. Allein er erwiederte mir: ‚Ich habe ja schon den Todtengeruch auf der Zunge, ich rieche den Tod‘.“11 Sehr nahe an dieser Variante, möglicherweise sie sogar vor Augen habend, überliefert auch der nächste bedeutende Mozart-Biograf Otto Jahn, dessen Werk erstmals 1856–1859 erschien, diese Szene: „‚Gut, daß Sie da sind, heute Nacht bleiben Sie bei mir, Sie müssen mich sterben sehen‘. Da sie sich zusammennahm und ihm solche Gedanken auszureden suchte, antwortete er ihr: ‚Ich habe ja schon den Todtengeruch auf der Zunge – ich rieche den Tod‘.“12 Es ist müßig zu spekulieren, ob Paul Dessau nun eine andere Mozart-Biographie vorlag oder Elisabeth Hauptmann aus dem Gedächtnis falsch zitierte. Fest steht, dass die früheste, von Nissen und in dessen Nachfolge von Jahn überlieferte Variante des Berichts der Schwägerin Mozarts derart dicht an den in die Partitur stenographierten Zeilen Brechts ist, dass mit allergrößter Wahrscheinlichkeit von einer Abhängigkeit auszugehen ist. Nicht um „Totengeschmack“ geht es, sondern seine sinnliche Wahrnehmung bezeichnet Mozart als Geruch. Dieser „Todtengeruch“ ist der der Verwesung; Brecht modifiziert dies leicht, fasst das biografische Detail in poetische Sprache, die aber sehr nahe an der Vorlage bleibt. Er machte also 1915 nichts anderes, als Mozart sich selbst eine Art Requiem schreiben zu lassen; als Impuls, resultierend aus dem Klavierspiel des Freundes Georg Geyer. Mit seinen Zeilen direkt in die Partitur, Edition Peters, 177,13 schrieb

9 Vgl. Schumacher, Ernst/Schumacher, Renate 1979, 31. 10 Nemetschek 1808, 53. 11 Nissen 1828, 573–574. 12 Jahn 1996, 2, 542. 13 Vgl. Bertolt-Brecht-Archiv, BBA 2194/45.

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Brecht zu wenigen Takten mozartscher Musik einen Text, der zwar brechtsche Lyrik ist, aber auf eine Vorlage von Mozart selbst zurückgeht. Die Klaviersonate wird so durch Brecht zu Mozarts eigenem kleinen Abgesang. Wie bei Bach gehen auch bei Mozart fast grenzenlose Verehrung und Instrumentalisierung für das eigene Werk ineinander über. Halten wir zunächst die Verehrung fest, die neuerliche Überwältigung im Exil in den USA anlässlich einer Radio-Sendung von Don Giovanni. Am 8. Juni 1943 schreibt Brecht in für ihn ungewöhnlicher Euphorie und Pathos in sein Tagebuch: „Höre nachts den letzten Akt von Don Giovanni übers Radio. Dieser Gipfel ist nie wieder erreicht worden, und er erhob sich gleich am Beginn!“14 Mit „Beginn“ dürfte er den der ‚etablierten‘, bekannteren Musikgeschichte meinen, die wohl mit dem Barock, also mit Bach und Händel, ihren Anfang nimmt. Mozarts Don Giovanni also ist deren Höhepunkt, bereits ziemlich am Anfang dessen, was der gebildete Bürger im Allgemeinen zu kennen hat. Dies mag den Hintergrund für den sehr andersartigen Umgang mit Mozart bilden, den es auch gab. Brecht zögerte nicht, dessen Werk als ‚Negativ-Folie‘ zu benutzen, wenn es darum ging, sich für die eigene Position im Kulturbetrieb der Weimarer Republik einen Platz und – vor allem – Aufmerksamkeit zu verschaffen. Stets allerdings betonte er auch diese gesellschaftliche Relevanz, man könnte sagen: das ‚verfremdende Potenzial‘ der Kunst Mozarts, und fast immer ging es nun, anders als früher, um die Oper. In Brechts Bemerkungen zu Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny heißt es: Die alte Oper schließt die Diskussion des Inhaltlichen absolut aus. Geschähe es etwa, daß der Zuschauer bei der Darstellung irgendwelcher Zustände zu diesen Zuständen Stellung nähme, hätte die alte Oper ihre Schlacht verloren, der Zuschauer wäre „drausgekommen“. Die alte Oper enthielt natürlich auch Elemente, die nicht rein kulinarisch waren […] Zauberflöte, Figaro, Fidelio enthielten weltanschauliche, aktivistische Elemente. Jedoch war das Weltanschauliche, etwa das Wagnis, stets so kulinarisch bedingt, daß der Sinn der Oper sozusagen ein absterbender war und dann in den Genuß einging.15

Hier bemüht sich jemand vergeblich, intellektuell weder überzeugend noch virtuos, die eigene Wahrnehmung von Musik und die daraus resultierende tiefgreifende gesellschaftliche Erkenntnis in Übereinstimmung mit einer Ideologie zu bringen, mit der Brecht als Bühne für das eigene Werk experimentierte. Schon die Formulierung „alte Oper“ ist in diesem Kontext abwertend: Sie erscheint als abgetanes, überholtes Kulturgut, das dazu dient, den dergleichen Genießenden nicht nur seiner Saturiertheit zu überlassen, sondern diese noch zu befördern;

14 GBA 27, 152. 15 GBA 24, 80.

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eine Art ästhetisches Opium für den Bürger. Wer dumm ist und es sich in dieser Dummheit bequem machen will, der, so Brecht, höre „alte Oper“. Die Beispiele, die er dann für in nuce gesellschaftlich relevante Beispiele der Operngeschichte nennt, fügen sich in die Klischeehaftigkeit seiner Ausführungen. Da ist Mozarts Zauberflöte und ihre doch sehr unkonkret-märchenhafte Utopie einer Gesellschaft des Guten und Humanen. Brecht nennt des Weiteren Le nozze di Figaro, die Oper, die immer schon als verkapptes Revolutionsstück galt, obwohl die Repräsentanten des ‚niederen Standes‘ am Ende genauso dumm dastehen wie Graf und Gräfin. Wer schon möchte in Figaros Haut stecken, dem so schlau-subversiven und doch selbst vielfach Gehörnten? Soll er etwa Garant, Hoffnungsträger einer neuen Gesellschaft sein? Als letzte Oper nennt Brecht dann auch noch Beethovens Fidelio mit deren mutiger Protagonistin Leonore, und Beethovens ‚revolutionäres Potenzial‘ ist hinreichend bekannt. Aber ausgerechnet Beethoven als einer der Gewährsmänner und Autorität Brechts? Doch nun zu sehr anderen Aussagen Brechts über Mozart: Er schreibt am 8. März 1941, ebenfalls im Exil und nun in großer Virtuosität, wenn auch wohl nicht nach jedermanns Geschmack: Anläßlich Diderots Jacques le fataliste: Auffällig, daß wir in Deutschland keinerlei Anzeichen einer verfeinerten Sinnlichkeit haben! Die Liebe ist dort (siehe Faust!) etwas Himmlisches oder etwas Teuflisches, aus welchem Dilemma man sich zog, indem man eine Gewohnheit daraus machte! Nur Goethe und Mozart wären zu nennen, und der letztere verlegte seine Liebesdramen weislich auf ausländische Schauplätze. […] Der deutsche Adel war genußunfähig, das Bürgertum dann idealiter puritanisch, d. h. realiter schweinisch. Der deutsche Student „tat es“ nach solchem Bierkonsum, daß andere gekotzt hätten, wo er koitierte.16

Mozarts Opern seien von derartiger sinnlicher Raffinesse und Filigranität, dass sie nicht zum Deutschen passten und daher anderswo, in der limpidezza Italiens und Spaniens, ihren Schauplatz hätten. Das sollte als versteckte Liebeserklärung gelten. Episierende Elemente allerdings kommen in Brechts Stellungnahmen zu Mozart keineswegs zu kurz. Es geht vor allem um die Da Ponte-Opern, die im Zentrum der Mozart-Rezeption Brechts zu stehen scheinen. In seinen Ausführungen zu einer zeitgemäßen Bühnenmusik aus dem Frühjahr 1943 schreibt er in Bezug auf den von ihm geliebten Don Giovanni: Diese Musik drückte sozusagen die Manieren des Menschen aus – wenn man darunter genug versteht. Mozart drückte die gesellschaftlich belangvollen Haltungen der Menschen aus,

16 GBA 26, 468.

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Produktionen wie Kühnheit, Grazie, Bösartigkeit, Zärtlichkeit, Übermut, Höflichkeit, Trauer, Servilität, Geilheit usw.17

Damit ist Brecht fast explizit mitten in seiner Theorie des Epischen Theaters angelangt. Die ‚Haltung‘ als gesellschaftlicher Gestus ist dabei ein zentraler Begriff, der, wie das Historisieren, kein Affekt, sondern künstlich, artifiziell herbeigeführt ist, um Mechanismen gesellschaftlichen Miteinanders zu demonstrieren, sie offen zu legen und sie so als veränderbar zu erweisen. Deshalb schreibt Brecht in Zusammenhang mit jenen „Manieren“ von „Produktionen“: Es handelt sich nicht um spontane Einfälle des Künstlers, in diesem Falle Lorenzo Da Pontes oder Mozarts, sondern um inszenatorisch bewusst kalkulierte Effekte. Nichts ist da dem Zufall überlassen, keine als idealistisch zu verstehende Inspiration spielt, wie Brecht unterstellt, im Werk Mozarts eine Rolle, sondern es geht um die berechnend herbeigeführte, nicht zuletzt gesellschaftliche Wirkung. Mozarts Oper also als Raum episierender wie experimenteller Darstellung menschlichen Miteinanders – diese Sichtweise bestätigt Brecht später noch einmal beeindruckend in einer anderen Stellungnahme gegenüber der Kunst Mozarts : Im August 1946, noch nicht zurück aus dem amerikanischen Exil, schreibt er an Ferdinand Reyher in Zusammenhang mit dem Medium der Fotographie und deren Anfängen: Ein solcher Fotograf der ersten Zeit (die Neuheit des Mediums macht die Pioniere sehr weitblickend; besser als ihre Nachfolger überblicken sie die ganze Weite des Operationsfelds, vergleiche das Shakespeare-Theater, die Mozart-Oper usw.) könnte auch den Eindruck studieren, den seine Bilder auf die Abgebildeten machen. […] Zum ersten Mal (der Spiegel kann da nicht konkurrieren) sehen die Leute sich selbst. Und je nachdem der Fotograf wünscht, daß sie sich sehen.18

Hier nun erscheint Mozart, neben dem im Messingkauf als solchen hinreichend gewürdigten Shakespeare, sogar als eine der großen Autoritäten des Epischen Theaters, die Oper als klinisches Operations- und Demonstrationsmedium, als Zeigeanstalt des Soseins des Menschen in gesellschaftlichem Kontext. Schon Mozart also zeigte Brecht, wie der Mensch wirklich ist. Als Pionier der Aufklärung, der ‚neuen‘, zeitgemäßen Oper wird er nun deklariert; er, den er Jahre zuvor noch als Repräsentant jener ‚alten‘ gescholten hatte. Versichert Brecht sich selbst und seiner Theatertheorie so, post quem, Autoritäten verschiedenster intellektueller und künstlerischer Sparten, in deren erlesene Reihe er sich stellen, diese aber dann übertreffen kann? Knüpft er an schon

17 GBA 23, 21–22. 18 GBA 29, 390–391.

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Dagewesenes an, um dies im eigenen Werk virtuos mit bahnbrechend Neuem angereichert und inspirativem marxistischen Segen zu einem Gipfelpunkt zu führen? Das Gegenteil ist der Fall: Für sein Episches Theater brauchte er weit weniger Marx und dessen Theater-Apologeten, wie beispielsweise Erwin Piscator, als Mozart. Bevor dies aber anhand einer Oper Mozarts und eines frühen Dramas Brechts gezeigt wird, sei, um die umfassende Mozart-Rezeption Brechts darzulegen, ein Blick auf Baal geworfen. Wie kaum ein anderes Theaterstück scheint es Brechts Ästhetik der Materialverwertung geradezu demonstrieren zu wollen. Er kokettiert mit einer Fülle zum Teil disparatester Quellen, die er zu einem durchaus überzeugenden ästhetischen Ganzen amalgamiert. Es kommen Anlehnungen an das Alte Testament, an den Expressionismus, an Brechts Augsburger Umfeld, an Goethes Faust, an Bachs Matthäus-Passion zusammen, und darüber hinaus verfügt das Drama auch über eine Mozart-Ebene: Baal, der Protagonist, lässt sich schlüssig als eine weitergedachte Variante Don Giovannis deuten. Wie viele andere Spuren Mozarts in seinem Werk, z. B. in der Hauspostille, hier im Gedicht Gegen Verführung und in Nehers Zeichnung Der Wasser-FeuerMensch,19 sind Brechts Anlehnungen an Don Giovanni in Baal bereits ausführlich dargestellt,20 sie durchziehen das gesamte Drama. Exemplarisch seien sie anhand des Chorals vom großen Baal und einer Szene vorgeführt, die den Titel bzw. die Szenenanweisung „Hölzerne braune Diele. Nacht. Wind“21 trägt. Nichts Düsteres, Bedrohliches scheint es zunächst zu geben, als Baal mit Ekart, seinem Freund, der nicht selten Merkmale eines Dieners aufweist und so mit Leporello partiell vergleichbar ist, eine Schenke betritt: Es soll gefeiert werden, Champagner hat Baal dabei, den er großzügig anbietet, die Anwesenden in Feierlaune zu bringen. Dies ist ein zentrales Motiv, wie grundsätzlich der auch sexuell konnotierte „Tanz als Inbegriff geselligen Vergnügens“22 die Da Ponte-Opern Mozarts bestimmt. In Baal wird das heißen: „Tanz und Musik und Trinken!“23 Dies ist der Gegenstand einer der wenigen kurzen Arien, die Komponist und Librettist dem Protagonisten zugestehen. Es ist „Don Giovannis aufpeitschender, explosiver Reigen“, voller „atemloser Hektik“, die sprudelnde Lebensfreude suggeriert, jedoch einen „verschlingenden Wirbel entfesselt“,24 der gleichfalls auf das Ende weist. Gleichzeitig ist es ein recht kurzes, die Handlung beschleunigendes Element und insofern auf die Stretta der italienischen Oper vorausdeutend. Der Tod tanzt hier mit, von Don

19 20 21 22 23 24

Vgl. Hillesheim 2014, 68–72, 116–125. Vgl. Hillesheim 2014, 79–102. GBA 1, 58. Busch-Salmen 1993, 47. GBA 1, 94. Kunze 1996, 413.

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Giovanni unbemerkt oder in Kauf genommen. Beide Szenen ähneln einander in ihrem verweisenden Charakter. Es ist die Champagner-Arie, in der Don Giovanni seine ‚Lebensweisheit‘, sein Motto komprimiert und explizit auf sein ‚Register‘ zu sprechen kommt, das er, von Leporello eingeführt, nun vergrößern möchte. Ausgelassenheit, Lebensgenuss, Unerschrockenheit vor dem Tode, ausschweifende Sexualität sind seine in die Dynamik des Tanzes eingebetteten Prämissen; solche, an denen er letztlich scheitert. Auch Baal hat ein in die Form der Musik eingekleidetes Lebensmotto, das der Protagonist wie der Mozarts sich selbst singt und seine Existenz programmatisch auf den Punkt bringt. Es ist hervorzuheben, dass Baal, trotz seiner Rohheit und Grobschlächtigkeit, trotz seiner sexuellen Gefräßigkeit, ein sensibler Lyriker ist, der die Monologe seiner Selbstdarstellungen auch als musikalische Darbietung betrachtet. Von „Arien“ spricht er in diesem Zusammenhang explizit,25 und sein Freund Ekart, der nicht nur Diener, sondern auch Komponist ist,26 konstatiert: „Du bist ein Tenor geworden!“27 Man könnte ergänzen: ein lyrischer Tenor. Auch sei darauf hingewiesen, dass Brecht, der gleichfalls mit Baal einige Gemeinsamkeiten hat, im Allgemeinen, aber auch speziell für das Dichten, musikalische Termini wie „ad libitum“28 verwendet; auch ihm erscheint der literarische Schöpfungsprozess in vielerlei Hinsicht als ein Vorgang, der der musikalischen Komposition ähnlich ist. Wie Don Giovanni protzt auch Baal im einführenden Choral vom großen Baal mit Zahlen, er will den Genuss maximieren: Zehn Frauen will Mozarts Held seiner Erfolgsbilanz hinzufügen, Baal hingegen geht inflationär mit Lastern um und rät hintersinnig, sich mindestens zwei auszusuchen, da eines „zuviel“ sei.29 Es ist zwar kein beschwingtes Lied, in diesem Falle auch keine Arie, sondern ein ins Blasphemische gekehrter Choral, und Baal „trottet“ und „torkelt“30 auch eher durch die Welt, als dass er sie sich tanzend zu eigen macht, aber Inhalt und Ende sind der Champagner-Arie und dem Tod Don Giovannis verblüffend ähnlich: Der Choral vom großen Baal ist dem Drama vorangestellt. Lasterhaftigkeit, zu der ungezügelte Sexualität ebenso gehört wie Alkoholgenuss, sowie eine materialistische Gleichgültigkeit der Endlichkeit gegenüber zeichnen auch diesen Gesang aus.31 Wie in der Oper Mozarts werden der Champagner und seine Konnotationen

25 26 27 28 29 30 31

Vgl. GBA 1, 91. Vgl. z. B. GBA 1, 127. GBA 1, 94. GBA 26, 132, siehe aber auch: z. B. „hohes C“; GBA 26, 140; „lento“, GBA 26, 200. GBA 1, 20. GBA 1, 19. Vgl. GBA 1, 19–21.

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zum wiederkehrenden Motiv; Baal wird sich ihn auch später, in der Branntweinschenke, bestellen,32 ausgerechnet in der Szene, in der er Ekart ersticht. Auch hier wird deutlich: Der Champagner kündet einen Tanz an, der zum Totentanz wird, von dem Baals Lebensethos zunächst unberührt bleibt. Doch sein Tod konterkariert dies, Don Giovannis Champagner-Arie wie der Choral vom großen Baal erweisen sich am Ende als widerlegt, als laut und fordernd vorgetragener Anspruch, der sich als unerfüllbar erweist. Der Sprung vom motivischen Verweisen zum expliziten Zeigen gelingt Brecht mit Trommeln in der Nacht zeitlich beinahe simultan zu Baal. Dazu dient ihm Così fan tutte, jene Da Ponte-Oper Mozarts, die explizit den Vorführcharakter, das Pragmatische33 und Experimentelle voraussetzt. In scheinbarer Absicht, die prinzipielle Untreue von ‚Frauenzimmern‘ mehr oder minder komödiantisch zu erweisen, werden in Form einer Wette Gesetzmäßigkeiten menschlichen Miteinanders demonstriert. Diese stellen sich nicht wie selbstverständlich aus der Handlung heraus dar, als deren überraschendes Ergebnis möglicherweise, sondern sie werden dem Zuschauer didaktisch, lehrhaft nahe gebracht. Diese Rolle übernimmt Don Alfonso, der alternde Zyniker, dem das Leben außer Vorführanstalt nichts mehr ist. So provoziert er die glücklich verliebten Ferrando und Guglielmo zu jener für sie letztlich verhängnisvollen Wette, um dann das Geschehen zu bestimmen, während dessen sich die Untreue der beiden Frauen erweisen soll. Ansonsten ist er selbst nicht Teil der Handlung, sondern Außenstehender, Betrachtender und Vorantreibender. Immer wieder nimmt er eine Metaebene ein, von der aus er auf den Verlauf seines experimentellen Versuchs und dabei gleichzeitig auf die Theatralität, den Vorführcharakter des Ganzen verweist. Don Alfonso spricht nicht mit seinen Bühnenpartnern, sondern über sie. Rechenschaft legt er ab über den momentanen Stand der Demonstration und über die Marionetten, an deren Fäden er zieht. Wendet er sich an sie, so nicht selten, um ihnen Anweisungen für seinen Versuch zu geben: „Secondate mi.“34 Es ist genau so, wie Brecht Jahre später im Exil konstatieren sollte: Die Oper Mozarts ist ein Operationsfeld, auf dem zu lernen, von dem für das Theater des ‚Wissenschaftlichen Zeitalters‘ nicht nur zu profitieren ist, sondern das sogar einige dessen wichtigster Regeln vorgibt. So werden in diesem „exemplarischen Spiel“35 Ferrando, Guglielmo und der Zuschauer gleichermaßen belehrt: Alle Frauen sind wie die vorgeführten beiden, wahre Liebe gibt es nicht. Mit Così fan tutte ist die Vorstellung vom frei ent32 33 34 35

Vgl. GBA 1, 75. Vgl. hierzu: Steptoe 1988, 139. Steptoe 1988, 179. Vgl. Kunze 1996, 437.

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scheidenden Subjekt zu Grabe getragen. Es verhält sich wie bei einem naturwissenschaftlichen Experiment, das wiederholbar sein muss: Die Protagonisten sind austauschbar, würde das Spiel auf andere zurückgreifen, käme es zum selben Ergebnis. Così fan tutte ist, so Stefan Kunze, ein „unnachgiebiges Lehrstück“36 über die „Zergliederung der Naturgesetze“, über „die mechanischen Gesetzlichkeiten der Liebe“37 und bezeichnet damit das „Ende der mozartschen Klassik“.38 Es sind vier wesentliche Entsprechungen zwischen der Oper Mozarts und dem frühen Stück Brechts, die festzuhalten sind: 1. Oper wie auch Drama sind als Komödien ausgegeben, obwohl es bei näherer Betrachtung keine sind. Mozart selbst führt die Da Ponte-Opern als „opere buffe“ auf, aber es herrscht Einigkeit, dass es sich bei allen um eine Mischform aus opera buffa und opera seria handelt.39 2. Beiden Werken ist das spezifische Motiv eigen, dass Männer in den Krieg ziehen, ihre Frauen sich während ihrer Abwesenheit auf andere Partner einlassen, in der Vermutung oder Hoffnung, dass die Verlobten bzw. Geliebten von einst schon nicht zurückkehren, also den Krieg nicht überleben werden. 3. Mittelpunkt beider Werke ist ein Experiment, das Aufschluss geben soll über soziale Mechanismen. Menschen werden jeweils in eine Entscheidungssituation gestellt und ihr Verhalten analysiert. 4. Oper und Drama verfügen über eine Figur mit deiktischer Funktion, einen ‚Spielleiter‘. Der Frontheimkehrer Andreas Kragler, den der Erste Weltkrieg vier Jahre seines Lebens und die Verlobte gekostet hat, soll für die Räterevolution angeworben werden. Der alten Gesellschaft soll er vollends den Garaus machen und für eine bessere kämpfen, sich möglicherweise aber auch für eine solche opfern. Das ist nichts anderes als eine idealistische Sichtweise politischer Verhältnisse und der menschlichen Natur; so wie der Liebesbegriff in Così fan tutte, der Ferrando und Guglielmo dazu veranlasst, sich sofort auf eine Wette auf die Treue ihrer Geliebten einzulassen. Diese werden enttäuscht, so aber auch der Leser von Trommeln in der Nacht, in dessen traditioneller Sichtweise Kragler sich wie selbstverständlich der Revolution anschließen müsse, um gegen die bürgerliche Gesellschaft zu kämpfen, die ihn in den Krieg getrieben hatte und nun im Begriffe ist, ihm seine soziale Existenz zu rauben. Tut er aber nicht, sondern er arrangiert sich. Kragler 36 37 38 39

Vgl. Kunze 1996, 435. Kunze 1996, 438. Kunze 1996, 435. Vgl. hierzu: Büsch 2006, 32–34.

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geht den ehrlosen, unanständigen, aber nutzbringenden Weg, seine inzwischen von einem Konkurrenten geschwängerte, aber nicht besonders gut behandelte Verlobte zurückzunehmen und dadurch ein angesehener und finanziell abgesicherter Geschäftsmann zu werden. Er erkennt die Spielregeln, nach denen das Leben und die Gesellschaft funktionieren und entspricht ihnen. Wenn man Trommeln in der Nacht überhaupt Komödienhaftes zugestehen will, so liegt dies in dieser überraschenden Entscheidung des Kriegsheimkehrers, dem, entgegen der Zuschauerhaltung, nicht viel an humanen und moralischen Kategorien liegt, wenn seine Existenz auf dem Spiel steht. Dieser unerwartete komische Effekt funktioniert allerdings nur, wenn das Publikum jene idealistische Haltung hat und so überrascht werden kann. Auch Kragler also befolgt am Schluss den Rat Don Alfonsos, der den Paaren trotz der Untreue nahelegt, zu heiraten. Dies tut Kragler, indem er sich entschieden dem „großen, weißen, breiten Bett“40 seiner zukünftigen Frau zuwendet. Dass die Basis seines zukünftigen Lebens ein Arrangement mit den bestehenden Verhältnissen ist, das nicht unbedingt zu individuellem Glück führt, dürfte ihm mindestens so bewusst sein wie den ‚Schützlingen‘ Don Alfonsos. Dieser kehrt, als theatralisch wichtigste Entsprechung zu Così fan tutte, in Trommeln in der Nacht wieder, in schäbiger Variante, aber eindeutig. Auch tritt er in Brechts Drama nicht von Beginn an so klar als Leiter einer experimentellen Untersuchung und Regisseur in Erscheinung, aber er erfüllt genau diese Funktionen in der Rolle Babuschs, des verkrachten Journalisten. Von ihm wird das Heimkehrerschicksal Kraglers ebenso mit verfremdenden Elementen als ‚Theater im Theater‘ vorgeführt, wie Così fan tutte, um auf diese Formulierung Stefan Kunzes zurückzukommen, als „Komödie über die Komödie“. Mit dem zweiten Akt, der in der Picadillybar spielt, fängt diese Art von Vorführung an. Brecht macht nun deutlich, dass es in der Tat ein Spiel, eine Demonstration gesellschaftlicher Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten auf dem Forum des Theaters ist. Er macht damit explizit auch sein Medium zum Objekt, was jegliche Art von traditioneller Einfühlung von vornherein ausschließt.41 Nur über diese Theatralität ist ein Rekurs auf die Realität möglich. Das Guckkastentheater wird mit seinem Anspruch, Abbildung von Wirklichkeit zu suggerieren, überwunden, indem das Artifizielle, „die raffinierte Andeutung der Bühne“,42 direkt angesprochen und damit vermittelt wird, dass es sich, wie im Falle von Così fan tutte, um Kunst handelt, die Wirklichkeit analysiert.

40 Vgl. GBA 1, 82. 41 Vgl. hierzu: Schott 2012, 304–305. 42 GBA. 26, 193.

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Der erfolglose Journalist Babusch beginnt den Akt mit den Worten eines Schaubudenbesitzers, der marktschreierisch die Menschen in sein Panoptikum zu bringen versucht: „Immer herein in die Menagerie, Kinder!“43 Der Begriff der Menagerie, der eine historische Form der Tierhaltung bzw. des zoologischen Gartens bezeichnet und in der Verwendung Brechts zweifellos eine Reminiszenz an Wedekinds Lulu-Dramen darstellt, lässt keinen Zweifel daran, dass nun etwas gezeigt, ‚ausgestellt‘ wird. Er spielt überdies auf die letztlich tierische Natur der Handelnden, ihr Raubtierdasein an. Das führt direkt zum Beginn von Così fan tutte: Hier möchte sich Don Alfonso vor der Wette versichern, „von welcher Art Lebewesen die Frauen sind, um die es geht: letztlich haben sie etwas Tierisches“. Um eine rein anatomische,44 mechanistische Betrachtungsweise, an die sich Babusch direkt anzuschließen scheint, handelt es sich. Entsprechend folgen die Fabrikbesitzer Balicke, Murk, deren neuer Schwiegersohn in spe und Vater ihres noch nicht geborenen Enkels, aber auch Kragler selbst Gesetzen und Mechanismen ihrer Bürgerlichkeit, die sie nicht reflektieren.45 Eine Entscheidungsfreiheit der Charaktere wird von vornherein ausgeschlossen und damit abermals Front gegen das traditionelle Theater, das aufklärerisch-individualistische Menschenbild gemacht. Es ist nichts anderes als der beschriebene Habitus des Lehrers und Weisen, damit auch gleichzeitig der Don Alfonsos, den Brecht damit einnimmt. Kraglers Metamorphose vom „Lamm zum Schwein“46 wird vorgeführt, und – Vorhang auf! – das Publikum hat hinzuschauen, um die gesellschaftlichen Mechanismen zu verstehen, die solches möglich machen. Dass der Zuschauer aufmerksam bleibt und nicht in Gefahr gerät, sich entspannt dem Flusse einer Handlung hinzugeben, stellt Brecht auch schon in diesem frühen Drama sicher; denn er fährt fort mit Mitteln episierender Kunst, noch bevor Kragler die Picadillybar betritt. Als Balicke dazu aufruft, nun Verlobung zu feiern, unterbricht seine Tochter Anna unvermittelt das Geschehen. Nicht Sektkorken knallen, wie erwartet, sondern zusammenhanglos hält sie einen scheinbar aus der Handlung herausfallenden Monolog: Huch, das Pferd! Wie das komisch war! Mitten auf dem Pflaster, da blieb es einfach stehen. Friedrich, steig heraus, das Pferd will nicht. Und mitten auf dem Pflaster da stand das Pferd. Und zitterte. Es hatte aber Augäpfel wie Stachelbeeren, ganz weiß, und Friedrich gickste es in die Augen mit einem Stocke, da hüpfte es. Es war wie im Zirkus.

43 44 45 46

GBA 26, 188. Vgl. Kunze 1996, 438. Vgl. hierzu auch Baal: „Sie sind das Tier. Das Untier“; GBA 1, 55; vgl. auch GBA 1, 33. Vgl. GBA 1, 225, 228–229.

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Solche Einschübe und Unterbrechungen, die die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf sich ziehen, erfand Brecht nicht neu. Von vielen Autoren, solcher mittelalterlicher Mysterienspiele bis hin zu Shakespeare, ließ er sich inspirieren, und auch Così fan tutte bietet hier Modelle: Nicht nur, dass Don Alfonso in beinahe regelmäßigen Abständen die Theatralität thematisiert, indem er seine beiden Wettpartner für ihr gutes Spiel lobt,47 er konstruiert auch Leerstellen, Pausen in der Handlung und gibt dem Publikum vor, diese nun sinnvoll zu nutzen. So möchte er die Zeit überbrücken, die Ferrando und Guglielmo für das Anlegen ihrer Maskerade brauchen. Mit Mitteln traditioneller Opern- oder Theaterillusion wäre das leicht zu lösen, ohne dies auch nur im Entferntesten thematisieren, also vor den Zuschauern rechtfertigen zu müssen. Hier allerdings ist es ein episierendes Stilmittel, das das Reale des Experiments wie auch die Spielsituation vor Augen führt: „Infin che vannoi due creduli sposi, comío loro commissi a mascherarsi, pensiam cosa può farsi.“48 Das ist funktionell nichts anderes als ein Umbau von Kulissen zwischen den einzelnen Szenen und Akten auf offener Bühne, fast schon Regietheater. Diese Pause als in der Wahrnehmung des Publikums retardierendes bzw. die Handlung unterbrechendes Element und Verdeutlichung des inszenatorischen Spiels nutzen Da Ponte und Mozart allerdings äußerst geschickt. Denn bis Ferrando und Guglielmo ihren Mummenschanz angelegt haben, ist Don Alfonso auch mit Despina handelseinig geworden. Er hat ihr inzwischen Geld angeboten und kann sich nun darauf verlassen, dass sie ihm bei seinen Versuchen an den lebenden Objekten assistiert. Das ist eine bedeutsame Voraussetzung für den weiteren Verlauf des Experiments. Die traditionelle Theaterstrukturen durchbrechenden Elemente und Handlungsstringenz greifen hier ineinander. Vergegenwärtigt man sich Brechts spätere Kritik an der „kulinarischen“ Oper,49 die „die Opernrezipienten durch einschläfernde Räusche an der Änderung der Wirklichkeit zu hindern und den Status quo abzusegnen“,50 so geschieht in diesem frühen Stück genau Gegenteiliges: Ästhetische Verfahren der Mozart-Oper dienen Brecht der ‚Aufklärung‘, der Bewusstmachung gesellschaftlicher Mechanismen und ihrer potenziellen Veränderbarkeit. So wie der Akt begann, endet er, mit Babusch, der in seiner Eigenschaft als ‚Theaterdirektor‘ oder ‚Zeremonienmeister‘ den Vorhang des zweiten Aktes gleichsam wieder zuzieht: Er schaut nämlich aus dem Fenster, aus der Szenerie heraus in die neue, nächste Szenerie, um anzukündigen, dass nun der dritte Akt beginnt: „Es geht los. Die Massen erheben sich.“51 47 48 49 50 51

Mozart II, 5, 18, 1, 87. Mozart II, 5, 18, 1, 142. Vgl. GBA 24, 81–83. Schott 2012, 331. GBA 1, 204.

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Tatsächlich sieht sich der Zuschauer unmittelbar danach auf den „Weg in die Vorstädte“52 versetzt. Dies ist der Rahmen des Experiments, das nun gleichfalls „los geht“ und sich während der letzten drei Akte stetig zuspitzt. War es in Mozarts Oper die Frage, ob zwei Frauen ihren Männern, die abwesend sind, untreu werden, wenn man ihnen nur genug zusetzt, so lautet das Experiment, das in Trommeln in der Nacht vorgeführt wird: Lässt sich ein Soldat des Ersten Weltkriegs, der an der Front traumatisiert wurde und nach seiner Heimkehr von der Gesellschaft missachtet wird, seine soziale Einbindung verloren hat und von seiner Verlobten verlassen wurde, für die politische Gegenbewegung, für eine kommunistische Revolution, einspannen? In umgekehrter Dynamik nimmt sich Babusch – sehr im Gegensatz zu Don Alfonso in Così fan tutte – immer mehr zurück, dies im Besonderen im vierten und fünften Akt, doch bei genauerem Hinsehen erweist sich, dass er der Regisseur und Konstrukteur der Arrangements bleibt, die nun folgen. Die Handlung gewinnt mit Beginn des dritten Aktes an Schwung: Personentableaus, bei Balickes zuhause und in der Picadillybar, die die ersten beiden Akte bestimmen, lösen sich auf; scheinbar ist es die in das Geschehen hereinbrechende revolutionäre Dynamik, die dies bewirkt. Auch Kragler, von allen verlassen und nur noch in Begleitung Maries, einer der Prostituierten, begibt sich in die Vorstadt, wo die revolutionären Kämpfe erwartet werden. Dann, unvermittelt, plötzlich, eine Szenenanweisung in Kursivdruck, der die staccatoartigen Dialoge, die die Szene bisher prägten, unterbricht: „Von links jetzt der ganze Walkürenritt: Anna, wie fliehend. Neben ihr in einem Frackmantel, aber ohne Hut, der Kellner Manke aus der Picadillybar, der sich wie besoffen aufführt. Hinter ihnen kommt Babusch, der Murk schleppt, der betrunken ist, bleich und aufgedunsen.“53 Es ist Babusch, der den „Walkürenritt“ leitet und ordnet. So bereitet er die Szenerie vor auf das Kommende: Es geht um Kragler, nur über ihn, „der den Mond im Kopf hat, der mutmaßlich jeder Trommel hinterherläuft“,54 wird gesprochen. Aber er ist nicht anwesend, sondern kurz zuvor mit Marie abgegangen. Also kommandiert Babusch, der alles im Blick hat: „Halt der ganze Walkürenritt! Wo wollen Sie hin?“55 Dies ist eine äußerst wichtige Stelle, weil sie Auskunft gibt über die Funktion Babuschs. Er übernimmt mit „Walkürenritt“ explizit einen Begriff aus der vorangehenden Bühnenanweisung und begibt sich damit direkt in die Rolle des Autors oder des Regisseurs: Er ist deren Instrument, ihr verlängerter Arm, beinahe sie selbst. Wieder wird gegen alle Regeln des aristotelischen Thea52 53 54 55

Vgl. GBA 1, 204. GBA 1, 206. GBA 1, 206. GBA 1, 206.

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ters verstoßen; wie in Così fan tutte durch Don Alfonso vorgegeben – auch er greift in das Personenarrangement ein, wenn er zum Beispiel im zweiten Akt der Oper Dorabella und Fiordiligi den verkleideten Ferrando und Guglielmo zuführt: „La mano a me date, movetevi un po´“56 – wird nun nicht nur die Barriere zwischen Akteur und Zuschauer aufgehoben, sondern auch die von Autor bzw. Regisseur, Schauspieler und Zuschauer. So wird nicht nur das Experiment mit Kragler als Protagonisten vorgeführt, sondern das Experiment selbst wird zum Experiment und als solches thematisiert, eine Theaterinszenierung lotet neue Akzentverschiebungen und Grenzen aus bzw. überwindet sie. Für Babusch gibt es zwei Möglichkeiten, deren beider Kern es ist, dass sich Kragler jeglicher Solidarität, jeglicher revolutionären Verantwortung entzieht und sich ins Private begibt bzw. dass er macht, was er will: Entweder ihn scheren die bürgerkriegsähnlichen Vorgänge in den Zeitungsvierteln nicht und er geht lieber in die Kneipe, oder er begibt sich in die Revolutionsszenerie, aber nicht um ‚Revolution‘, sondern ‚Klamauk‘ zu machen. Dies bezeichnet ein nicht ganz ernst gemeintes aufgeregtes Spektakel,57 Rummel oder auch eine billige turbulente Komödie, will man im Bereich des Theaters verbleiben. Was auf alle Fälle nicht gemeint ist, ist ein ernsthafter Versuch, politische Verhältnisse unter einer neuen Ideologie zu verändern; Kragler, so die Ansicht Babuschs, ist durch seine Jahre an der Front zu desillusioniert, als dass er Kriegszustände noch anders als leidbringendes Schmierentheater betrachten könne. An der Front hat er Lebenserfahrung gesammelt, die ihn den bürgerlichen Alltag besser bewältigen und ihn immun gegenüber Drückebergern und ‚Verführern‘ wie Glubb sein lassen. Insofern erweist sich auch hier Trommeln in der Nacht als Theater, das Theater thematisiert, nämlich das revolutionäre nach Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg. Dass der Kragler so unterstellte Pessimismus Babuschs eigenem entspricht, erweist ein Vorgriff auf den fünften Akt, in dem er die Revolutionäre und ihre Aktionen direkt kommentiert: „Sie fetzen Zeitungen in die Regenlachen, schreien Maschinengewehre an, schießen sich ins Ohr, meinen, sie machen eine neue Welt. Da kommt wieder ein Haufen von ihnen.“58 Im dritten Akt jedoch, als Kraglers Entscheidung noch aussteht, bleibt Babusch bei seiner Funktion, die Theatralität, den Spielcharakter des Experiments zu verdeutlichen. Fast alle seiner spärlichen Einlassungen beinhalten einen zur eigenen Rolle Distanz schaffenden Begriff aus dem Bereich des Theaters oder der Dichtung: „Und das alles ist das Stück: Der

56 Vgl. Mozart II, 5, 18, 2, 355–356. 57 Vgl. hierzu auch Oesmann 1997, 147–148. 58 GBA 1, 220.

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Engel in den Hafenkneipen!“59 „Jetzt geht aber der Walkürenritt in die Binsen, Junge.“60; „Jetzt entschwindet sie bei Gott wie eine letzte Strophe!“61 Der Journalist bleibt also das, was er von Beginn an war: Eine die Handlung vorantreibende und kommentierende, aber außerhalb stehende Instanz, eine Variante Don Alfonsos, die bald den ‚Taktstock‘ an Kragler, den Protagonisten, weitergeben wird. Kraglers Fatalismus führt allerdings dazu, dass er sich zunächst vereinnahmen lässt. Zwar trägt der fünfte und letzte Akt von Trommeln in der Nacht den Titel „Das Bett“, womit er auf den überraschenden Schluss deutet. Sein Anfang jedoch zeigt Kragler mitten in den revolutionären Kämpfen. Dies ist bedeutsam, weil es Kraglers letztendliche Verweigerung akzentuiert bzw. verschlimmert. Von drei Jahren Fronteinsatz kehrte er heim, nachdem Deutschland im November 1918 kapituliert hatte. Es steht zu vermuten, dass er ohne dies auch noch länger Kriegsdienst geleistet hätte. Jetzt aber desertiert er. Auch wenn er zunächst nicht explizit seine Zugehörigkeit zu den Revolutionären erklärt hat, so schließt er sich ihnen zumindest an, um sich dann abrupt von ihnen abzuwenden, in kommunistischer Diktion zum „Arbeiterverräter“ zu werden, der Exponent der kapitalistischen Gesellschaft wird. Bezeichnenderweise ergreift Babusch als erster das Wort und referiert wie von einer Warte aus Anna und dem Publikum das bisherige Geschehen, von dem zunächst nichts zu sehen ist: „Nach 2 Uhr haben sie die Kasernen gestürmt“62 und Kragler war dabei. Babusch weiter: „Das letzte Mal, gegen 4 Uhr schien es mir, als sei er abgefallen, er schwamm tüchtig, kam aber nicht mehr hoch.“63 Der Kontext ergibt, dass damit eindeutig Kragler gemeint ist, den Babusch mitten im Getümmel beobachtet und immer wieder einmal aus den Augen verliert. Was genau Kragler da macht, ob er kämpft oder sich nur mitreißen, treiben lässt, bleibt diffus. Dann wird es unbequem für den kommentierenden Beobachter: „Ich habe keine Zigarre mehr.“64 Das ist so wichtig, ein derart großer Mangel, dass er gleich nochmals auftritt, unmittelbar bevor Kragler in den Kämpfen entdeckt wird und sich die Ereignisse überschlagen. Babusch wiederholt: „Das ist das Fieber und ich habe keine Zigarren mehr!“65 So erweist er sich nicht nur als ‚alter ego‘ des Autors und ‚Regisseurs‘ Bertolt Brecht, zu dessen Erscheinungsbild bereits zu dieser Zeit obligatorisch die Zigarre gehörte, sondern

59 60 61 62 63 64 65

GBA 1, 208. GBA 1, 210. GBA 1, 210. GBA 1, 220. GBA 1, 220. GBA 1, 220. GBA 1, 220.

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damit zusammenhängend wird abermals sein Abstand zum Geschehen hervorgehoben. Er ist Beobachter, und um das zu bleiben, benötigte er eigentlich neue Zigarren: „Durch das Rauchen wird es möglich, zu bestimmten Vorgängen Distanz einzunehmen, die sich so deutlicher erkennen und letztlich besser meistern lassen.“66 Kragler erleidet eine Art Tobsuchtsanfall in der folgenden Auseinandersetzung mit Anna, Babusch sieht dies als theaterreife Einlage und quittiert es dem angemessen: nämlich mit Applaus, so wie Don Alfonso gelegentlich die Handlungen seiner „Probanden“, in diesem Fall Ferrandos verzweifelte Cavatina, ironisch mit einem Bravo-Ruf quittiert.67 Dies ist Babuschs letzter wichtiger Kommentar in dem Stück: Babusch klatscht quer über den Kampfplatz zu Kragler hin und erklärt ihm, seine zerknautschte Zigarre kauend: Jetzt wissen Sie, wo die Kugel im Fleisch sitzt. Sie sind der liebe Gott, sie haben gedonnert. Die Frau ihrerseits ist schwanger, sie kann auf dem Stein nicht sitzen bleiben, die Nächte sind kühl, vielleicht sagen sie was…68

Die Zigarre ist zu Kautabak geworden, doch sie erfüllt noch ihre Aufgabe. Babusch spitzt die Situation zu, indem er die Fakten komprimiert, den verzweifelten Kriegsheimkehrer seiner von einem anderen schwangeren Braut entgegenstellt und Kragler nun zu einer Entscheidung drängt und damit die Handlung ein letztes Mal forciert. Damit ist Babuschs Funktion erfüllt. Zwar bleibt er als stiller Beobachter auf der Bühne, doch er meldet sich nicht mehr zu Wort, weil nun Kragler die Handlung bestimmt. Die Entscheidungssituation, in Così fan tutte durch die Paar-Konstellation im zweiten Akt notwendigerweise auf mehrere Szenen verteilt, spitzt sich zu. Nun vollzieht sich das, was Don Alfonso/Babusch in den Zeitungsvierteln recht genau vorausgesehen hatte. Kragler ist Herr des Geschehens und droht Anna sogar an, sie mit Gewalt mitzunehmen. Immerhin geht es um seine zukünftige Existenz als Geschäftsmann, die er nur mit Anna führen kann. Dann reißt er die Kulisse nieder und unterläuft die Guckkastensituation, indem er dem Publikum verbietet, das Geschehen emotional angerührt zu verfolgen: „Glotzt nicht so romantisch.“69 Dies alles geht streng einher mit dem inhaltlichen Motiv des Anständigen und dem des Bettes, das sich in Varianten durch diesen Akt zieht: So wie Anna durch ihr Verhältnis mit Murk gegen die traditionellen Werte verstieß, verstößt Kragler gegen sie, indem er die ‚beschädigte Braut‘ für sich akzeptiert, und wirft nun die 66 67 68 69

Brecht–Lexikon 2006, 270. Vgl. Mozart II, 5, 18, 2, 448. GBA 1, 222. GBA 1, 229.

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Formen des traditionellen Theaters über Bord, dies nun aber auf der Bühne, in aller Öffentlichkeit, im Gegensatz zu Annas zunächst heimlichem Liebesverhältnis. Offenbar wird so das Reale hinter dem Illusionstheater, das Material der Kulissen, die u. a. die Vorstellung erzeugten, als handele es sich um einen Mond. Dabei steckt hinter ihm ein schnöder Lampion. Gleich real, materiell, schnöde und frei von Illusionen, sind die Interessen Kraglers. Brechts frühes Drama hat Mozarts Oper Wesentliches zu verdanken, in erster Linie den Charakter des Experiments und Mozarts „Techniken“, die ihn auch in den Augen Eislers als „einen kühnen Neuerer“70 erscheinen lassen. Doch der junge Autor übernimmt nicht nur einfach die Vorlage Da Pontes und Mozarts, um zu diesem Thema eine Variation zu schreiben, sondern er führt sie fort, denkt sie weiter. Überschreitet die Oper immer wieder die Grenzen kulinarischer Kunst, nicht zuletzt, indem sie die idealistische Vorstellung des frei entscheidenden Subjekts ad absurdum führt, so hebt sie sie nicht endgültig auf. Così fan tutte zerstört trotz der ‚Modernität‘ und der eindeutigen Grenzüberschreitungen nicht die traditionelle Form der Oper dieser Zeit, sondern kehrt in jener für Mozart typischen Aufhebung im Komödiantischen zu ihr zurück – trotz allem Unbehagen, das dem Zuhörer bleibt. Das Experiment endet mit dem von Don Alfonso vorausgesagten Ergebnis, seine Wette ist gewonnen, und damit ist das Werk in wesentlichen Punkten gerundet, abgeschlossen. In Trommeln in der Nacht geht mit der Überwindung des traditionellen Ehrencodexes der Untergang des aristotelischen Theaters einher, der buchstäblich vorgeführt wird. Hier werden nicht nur bestimmte Konstanten des Dramas wie sein tektonischer Aufbau und die Einheit von Zeit, Raum und Ort modifiziert bzw. unterminiert, sondern es wird gleich das ganze Theater abgerissen. Angst und bange werden muss dem Zuschauer angesichts des Wütens, das ‚Berserker‘ Kragler am Schluss an den Tag legt. Direkt angesprochen hat er schon das Publikum – und damit abrupt eine imaginäre Trennungslinie überschritten, nicht zuletzt in dieser Aggressivität entgegen aller Tradition, und sich das ‚romantische Glotzen‘ verbeten. ‚Was geschieht jetzt noch?‘, wird sich der Zuschauer beinahe zwangsläufig fragen. Babusch bringt das Geschehen, permanent zeigend und deutend, zwar voran, aber eine Wette bzw. ein Experiment initiiert er nicht. Nicht er ‚hetzt‘ die Parteien, personifiziert im Kriegsheimkehrer und den Figuren der Räterevolution, aufeinander, sondern dies tut die historische Situation. Babusch beschränkt sich auf das Beobachten, Präsentieren und Kommentieren, wie Don Alfonso allerdings scheint ihm das Ende, die Entscheidung Kraglers vor Augen zu stehen, wie sich nicht zuletzt an der Distanz des Journalisten den Räterevolutionären gegenüber  

70 Eisler 1987, 272.

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ablesen lässt. Dass Kragler, der die Regie am Ende übernommen hat, mit den bürgerlichen Idealen auch gleich das ganze bürgerliche Theater über Bord wirft, ist nur konsequent und auf den zweiten Blick hin einleuchtend. Einher mit der ‚Rücknahme‘ der ehemaligen Verlobten gehen soziale Absicherung, gesellschaftliches Ansehen und Wohlstand. Der „Klamauk“ am Schluss ist alles andere als ein Chaos. Kragler ist in seiner Nüchternheit weiter als der Zuschauer, der ein rührselig-tragisches Ende erwartet. Der eigenen Abgeklärtheit und der konkreten gesellschaftlichen Situation, in der er sich wiederfindet, verschafft er eine angemessene künstlerische Form: Das Theater, das nun durch sein Nichtmehrvorhandensein den Blick auf die Realität freigibt und Illusionen nicht mehr zulässt, entspricht der bedachten Entscheidung des Protagonisten, dem Eigennutz vor Allgemeinnutz geht, besonders, wenn sich letzterer in Form einer politischen Ideologie präsentiert. Dies lehrt Trommeln in der Nacht, vor allem dieser Schluss. Das Bürgertum ist anders, als es zu sein vorgibt, wie Kraglers eigener schäbiger Weg in die Bürgerlichkeit nun zeigt, und das kulinarische Theater nicht mehr der angemessene Ort, dies zu zeigen. Das Ende dieses frühen Dramas ist offen, was auch dadurch deutlich wird, dass Brecht zwei Positionen gegeneinander ausspielt. Auf der einen Seite die der politischen Ideologien, gleich welcher couleur, auf der anderen eine konsequent bürgerliche Position, wie sie der Nüchternheit Kraglers zugrunde liegt. Nicht aus pazifistischen Gründen,71 sondern aus Eigennutz verweigert er sich der Revolution. So tut er dem Ergebnis nach das einzig Richtige. Konrad Feilchenfeldt hat, von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, Recht: Trommeln in der Nacht ist eine „Allegorie auf die Veränderbarkeit einer Welt, die nicht veränderbar ist“.72 Es bleibt nur ein Sichheraushalten wie das Kraglers, aber auch das Don Alfonsos, der schon lange das ist, was Andreas Kragler, neben seiner Funktion als künftiger Firmenchef erst werden wird: Privatier, der sich aufgrund seiner Erfahrung auskennt, in der Oper aus zynischer Distanz seine Fäden zieht, ohne persönlich noch davon betroffen zu sein. Welcher Ort aber könnte es nun sein, solche Zusammenhänge und Mechanismen zu demonstrieren? Die Menagerie, das Terrarium, der Zoo, in dem sich beobachten lässt, nach welchen Gesetzen sich die hier lebenden Raubtiere verhalten? Mit diesem Motiv spielt Babusch ja immer wieder. Experimente gehören ins Laboratorium oder in ein „Lehrstück“, wie gut zehn Jahre später Die Maßnahme zeigen sollte; überdies benötigen sie bisweilen Zeit. 1918/1919, mit Trommeln in der Nacht, zerstörte Brecht in der Entwicklungsgeschichte seiner Werke zunächst einmal die aristotelische Bühne und ihre Illusionswelt.

71 So Fraunhofer 1997, 370. 72 Feilchenfeldt 1976, 88.

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Damit war der Grundstein des „Thaeters“ gelegt, wenn auch der Bau und die konkreten Pläne noch ausstanden, und gleichzeitig der Zuschauer eines „wissenschaftlichen Zeitalters“73 antizipiert. Dass trotz ihres Analysewerks Mozarts Musik für Brecht aber auch stets Musik blieb und, trotz ideologischer ‚Beckmesser‘ wie Hanns Eisler, nicht zur bloßen „Misuk“74 degenerierte, ist ein Faktum. Vieles spricht dafür, dass die Kategorie des Ästhetischen, für die Brecht in seinem Kleinen Organon für das Theater dann doch noch einen Platz in seiner Theatertheorie fand,75 auch auf die eminente Wirkung von Musik, nicht zuletzt der Mozarts, zurückzuführen ist.

Literatur Brecht, Bertolt: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hrsg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller. Berlin, Weimar, Frankfurt am Main 1988–2000 (in den Fußnoten abgekürzt: GBA). Brecht, Walter: Unser Leben in Augsburg, damals. Erinnerungen. Frankfurt am Main 1984. Brecht-Lexikon, hrsg. von Ana Kugli und Michael Opitz. Stuttgart, Weimar 2006. Bucek, Tina: Frei aber bedeutungslos? Das Dilemma der Kunst im 21. Jahrhundert. Eine ästhetische Spurensuche mit Hanns Eisler. Essen 2012. Büsch, Sabine: Die Psychologie der dramatischen Personen in den Da Ponte-Opern Mozarts unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Text und Musik. Köln 2006. Busch-Salmen, Gabriele: „‚fate mi un menuetto‘ – Das Motiv ‚Tanz und Ball‘ in Mozarts Opern“, in: Wege zu Mozart. W.A. Mozart in Wien und Prag. Die großen Opern, hrsg. von Herbert Zeman. Wien 1993, 30–41. Dümling, Albrecht: Laßt euch nicht verführen. Brecht und die Musik. München 1985. Eisler, Hanns: Fragen Sie mehr über Brecht. Gespräche mit Hans Bunge. Darmstadt, Neuwied 1986. Eisler, Hanns: „Mozart“, in: Ders.: Materialien zu einer Dialektik der Musik. Berlin 1987. Feilchenfeldt, Konrad: Bertolt Brecht. Trommeln in der Nacht. Materialien, Abbildungen, Kommentar. München 1976. Fraunhofer, Hedwig: „The Fascist Brecht? The Rhetoric of Alterity in ‚Drums in the Night‘“, in: Brecht-Jahrbuch 22 (1997), 357–373. Hauptmann, Elisabeth: „Das Tafelklavier“, in: Dies.: Julia ohne Romeo. Geschichten, Stücke, Aufsätze, Erinnerungen. Berlin 1977, 192–197. Hillesheim, Jürgen: „Ich habe Musik unter meiner Haut“. Bach, Mozart und Wagner beim frühen Brecht. Freiburg i.Br. 2014. Hillesheim, Jürgen: „Von St. Anna in Augsburg bis zur ‚Maßnahme‘. Brecht und die ‚MatthäusPassion‘ Johann Sebastian Bachs“, in: „Man muß versuchen, sich einzurichten in Deutschland“. Brecht in den Zwanzigern, hrsg. von Jürgen Hillesheim. Würzburg 2015, 213–231.

73 Vgl. GBA 23, 70. 74 Vgl. Rienäcker 2004, 149. 75 Vgl. GBA 23, 66.

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Jahn, Otto: W. A. Mozart. Zweite durchaus umgearbeitete Auflage in 2 Theilen. Leipzig 1867. Kunze, Stefan: Mozarts Opern. 2. Aufl. Stuttgart 1996. Mozart, Wolfgang Amadeus: Neue Ausgabe sämtlicher Werke, hrsg. von der Internationalen Stiftung Mozarteum Salzburg. Kassel u. a. 1955–2007. Niemetschek, Franz Xaver: Lebensbeschreibung des K. K. Kapellmeisters Wolfgang Amadeus Mozart, aus Originalquellen. 2. verm. Aufl. Prag 1808. Nissen, Georg Nikolaus: Biographie W. A. Mozart’s. Nach Originalbriefen, Sammlungen alles über ihn Geschriebenen, mit vielen neuen Beylagen, Steindrücken, Musikblättern und einem Fac-simile, hrsg. von Constanze Nissen. Leipzig 1828. Oesmann, Astrid: „The Theatrical Destruction of Subjectivity and History: Brecht’s ‚Trommeln in der Nacht‘“, in: German Quarterly 70 (1997), 136–150. Rienäcker, Gerd: „Misuk oder Musik. Anmerkungen zu Brechts Musik-Verstehen“, in: Ders.: Musiktheater im Experiment. Fünfundzwanzig Aufsätze. Berlin 2004, 145–158. Schott, Hans-Joachim: „Unterm Kleid seid ihr nämlich alle nackt…“ Kynismus, Ideologiekritik und Interpretationismus beim jungen Brecht (1913–1931). Würzburg 2012. Schumacher, Ernst/Schumacher, Renate: Leben Brechts in Wort und Bild. Berlin 1979. Steptoe, Andrew: The Mozart-Da Ponte Operas. The Cultural and Musical Background to ‚Le nozze di Figaro‘, ‚Don Giovanni‘ and ‚Così fan tutte‘. Oxford 1988.

Susanna Löffler

„…aus Mozart erklärt sich mir alles…“1 – Mozart-Resonanzen im Werk von Thomas Bernhard 1. Im zweiten Band seiner Autobiographie Der Keller beschreibt Thomas Bernhard, wie ihm dank seines eingeschlagenen Weges in die „entgegengesetzte Richtung“2 – von der verhassten Schule zur Kaufmannslehre ‒ unverhofft ein Geschenk zuteil wurde. Mit der ihm „von der Natur geschenkten“ Bassbaritonstimme konnte er nun der Welt zeigen, dass er ein Künstler war!3 In typisch bernhardscher Übertreibungsmanier stilisiert sich der Autor autobiographisch zum großen Sänger, der die schwierigsten Partien gemeistert habe.4 Solche immer wieder auftauchenden Glorifizierungen seines Sängertums scheinen Teil der literarischen Stilisierung des studierten Regisseurs Thomas Bernhard in der Inszenierung seiner Lebensgeschichte zu sein.5 Bernhards fünfbändige Autobiographie muss deshalb ob ihres tatsächlichen Realitätsgehalts mit Vorsicht aufgenommen werden. Dennoch finden sich in und zwischen den Zeilen dieser sowie in Bernhards umfangreichem Werk immer wieder Hinweise, die einen partiellen, meist nur kurz aufblitzenden, manchmal auch verschlüsselten Blick auf den Autor selbst, seine persönlichen Vorlieben, Gedanken und Empfindungen geben. Dass die Musik Thomas Bernhards „lebenslange Liebe“6 war, bezeugen die zahlreichen musikalischen Spuren in seinen Werken. Wenn man diese, die Interviews, den Nachlass und besonders die Erinnerungen von Zeitzeugen auf musikalische Belange hin untersucht, kann die reale musikalische Welt des Thomas Bernhard gut nachvollzogen werden. Es ist dies eine Welt, die vorwiegend in den musikästhetischen Idealen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts verhaftet ist ‒ spezielle Vorlieben für einzelne Komponisten und deren Werke ausgenommen ‒ und zumindest in seinem

1 2 3 4 5 6

TBW 5, 90. TBW 10, 113. TBW 10, 196. TBW 10, 196. Dreissinger 2011, 7. TBW 10, 193.

DOI 10.1515/9783110492989-008

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literarischen Werk auf einige große Namen der Musikgeschichte bzw. deren Werke eingegrenzt werden kann. Aus der Fülle von musikalischen Erwähnungen, Referenzen und Bezugnahmen im Werk hebt sich eine Handvoll Komponisten hervor: Mozart, Beethoven, Bach, Händel, Haydn und Schubert. Mozart ist nicht nur im literarischen Werk am häufigsten vertreten (in 31 Werken),7 sondern dominiert auch Bernhards Schallplattensammlung ‒ u. a. beinhaltet diese Gesamtaufnahmen von Die Hochzeit des Figaro, Don Giovanni, Die Zauberflöte und Così fan tutte ‒ und den persönlichen Notenbestand.8 Bedenkt man, dass ganze Werke Bernhards mit einem Musikstück thematisch oder strukturell verwoben sind und sich infolgedessen eine unglaubliche Häufung von musikalischen Referenzen ergibt, erhöht sich Mozarts Relevanz noch beträchtlich, wie beispielsweise durch die Thematisierung der Zauberflöte in Der Ignorant und der Wahnsinnige. Es ist jedoch nicht allein die statistisch hervortretende Dominanz Mozarts, die dem Salzburger Komponisten im bernhardschen Werk eine Sonderstellung einräumt; auch nicht des Autors wiederholte Auseinandersetzung mit der Geniethematik spielt für Mozarts zentrale Position eine entscheidende Rolle; es ist etwas Persönliches zwischen Bernhard und Mozart: „Händel liebte ich von meiner frühesten Kindheit an, Bach bewunderte ich, aber er ist immer nur in die Nähe meines Herzens gekommen, Mozart war meine ureigene Welt.“9 Die drei Worte „meine ureigene Welt“ sind es, die die bereits angedeuteten, zwischen all den Übertreibungen und Stilisierungen erlaubten Blicke ins Innerste des Thomas Bernhard freigeben. Während Bach nur in die Nähe seines Herzens gekommen ist, hat Mozart den Autor offensichtlich tief berührt und gehört zu seiner persönlichen, ihm eigenen Welt. Adäquat dazu genießt Mozart im literarischen Werk Bernhards fraglose Anerkennung und bleibt von des Autors Invektiven verschont. Denn trotz Bernhards Bekenntnis seiner Liebe zur Musik, zu konkreten Komponisten bzw. deren Werken macht die den Texten eingeschriebene und für den Autor charakteristische Ambivalenz auch vor der Musik nicht halt. Abwertenden Charakterisierungen von Komponisten und/oder deren Werken steht nicht selten Bewunderung derselben gegenüber. Mozart jedoch bleibt von Bernhards Kritik ausgenommen. Betrachtet man allerdings Bernhards Darstellung der Königin in Der Ignorant und der Wahnsinnige sowie die gesamte Dramaturgie des Theaterstücks, die der Zerstörung eines mozartschen Idylls gleichkommt, könnten Zweifel aufkommen. Dennoch, Mozart bzw. Die Zauberflöte sind  

7 Bloemsaat-Voerknecht 2006, 231‒321. 8 Vgl. Kuhn. 9 TBW 10, 196.

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‚nur‘ Modell einer spezifischen Kritik,10 die Musik Mozarts bleibt ungeachtet des Kunstkritikdiskurses in Der Ignorant und der Wahnsinnige unbeschadet. In Der Schein trügt konkretisiert der Autor in personam des Protagonisten Karl Mozarts Relevanz: „Alles schmerzt / mehr oder weniger / aber sie [Karls verstorbene Lebensgefährtin] spielte zu schlecht Klavier / Mozart / an Mozart vergriffen.“11 „Am Sonntag ließ ich sie / die Mozartsonate spielen […] Um diese Zeit hat sie sich an den Flügel gesetzt / die Mozartsonate gespielt / Obwohl alles falsch gespielt war / Der Dilettant vergreift sich am Allerhöchsten / am Allerheiligsten.“12 Mozarts Positionierung als das Allerhöchste bzw. Allerheiligste verleitet nun freilich zur logischen Schussfolgerung, dass Mozart Bernhards Lieblingskomponist war. Allerdings erfasst eine so geartete Pauschalisierung nicht alle Facetten der Beziehung des Autors zu Mozart, sondern bedarf einer detaillierteren Betrachtung. Der schon angesprochene persönliche Aspekt kann im Fall der Mozart-Bernhard Beziehung als fundamental angesetzt werden. Bernhards biographische Verortung sowie seine frühen Musikerfahrungen sind hierbei von prägender Bedeutung. In einem Interview mit Viktor Suchy vom 5. März 1967, fünf Jahre vor der Uraufführung des Theaterstücks Der Ignorant und der Wahnsinnige, spricht der Autor über Mozart: VS: Was war der größte Theatereindruck Thomas Bernhards, auch Musiktheater? TB: Das war die „Zauberflöte“ sicher und der „Don Juan“, also die zwei – wahrscheinlich alles von Mozart. VS: Die Prägung der Mozartstadt, die hier mitentscheidend ist. . .. TB: Ja, das hab’ ich von Kindheit an mitgemacht…13

Mozarts Zauberflöte erweist sich als zentrales Werk, von dem „alles ausgeht“. Im autobiographischen Band Der Keller liest man, wie der jugendliche Bernhard abends auf den Mönchsberg gestiegen ist, sich unter einen Baum gesetzt und der in der Felsenreitschule aufgeführten Oper gelauscht hat: Die Zauberflöte, die Oper, die in meinem Leben die erste Oper ist, die ich gehört und gesehen habe und in welcher ich gleich drei Partien gesungen habe, den Sarastro, den Sprecher und

10 In gewissem Sinne verleiht Bernhard Mozarts Kritik an Salzburg noch Nachdruck, ‒ „wie mir Salzburg verhasst ist! […] kein Ort für mein Talent“ (Mozart Brief vom 7. August 1778. http://dme. mozarteum.at) ‒ indem auch er die Kunstfeindlichkeit der Salzburger in Der Ignorant und der Wahnsinnige und u. a. auch in seiner Autobiographie thematisiert (TBW 10, 11‒12.). Auch Bernhards Statement nach dem Notlichtskandal: „Eine Gesellschaft, die zwei Minuten Finsternis nicht verträgt, kommt ohne mein Schauspiel aus“ (Telegramm vom 2. August 1972, in: Mittermayer/ Veits-Falk, 221) referiert auf das mangelnde Kunstverständnis der Festspielstadt. 11 TBW 19, 16. 12 TBW 19, 29, 31. 13 Bayer u. a. (Hg.) 2011, 64 (VS = Viktor Suchy, TB = Thomas Bernhard).  



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den Papageno. In dieser Oper, die ich in meinem Leben sooft als möglich gesehen und gehört habe, hatten sich mir alle musikalischen Wünsche auf die vollkommenste Weise erfüllt. Da saß ich unter dem Baum und hörte zu, und nichts auf der Welt hätte ich eingetauscht für diese Empfindung.14

Hier offenbart sie sich wieder, die ureigene Welt des Thomas Bernhard als Empfindung, die dem Autor alle musikalischen Wünsche erfüllt, erneut gepaart mit der Stilisierung zum ‚großen‘ Sänger. Bernhard hat sicherlich die Basspartien der Zauberflöte studiert, aber ob er jemals öffentlich am Mozarteum während seines Gesangstudiums oder im semi-privaten Raum damit aufgetreten ist, bleibt ungewiss. Der Klavierauszug der Zauberflöte, der sich in Bernhards Nachlass befindet und auch von mir persönlich eingesehen werden konnte, gibt Hinweise auf Bernhards Arienstudium. Handschriftlich vermerkt der Autor auf Seite 3 am Beginn der Ouvertüre „Zuckmayer 19.8.49“.15 Alle Auftritte und Arien des Sarastro zeigen größere Gebrauchsspuren (Flecken, geklebte Seiten), vermehrte Bleistifteintragungen sowie Artikulationszeichen, wobei diese allerdings nicht eindeutig Bernhard zugeordnet werden können, da es sich aufgrund der damals schlechten finanziellen Situation der Familie um ein gebrauchtes Notenexemplar handelt. Wie intensiv sich der Autor mit Mozarts Gesangspartien beschäftigt hat und dass er viele davon auswendig konnte, bestätigen zudem einige Zeitzeugen. Christine von Kohl beschreibt eine gemeinsame Autofahrt von Eisenstadt nach Wien, wo sie und Thomas Bernhard in ein Gewitter kamen: „Ich hatte Wein getrunken und er auch, und um mir und sich selber die Angst zu nehmen, sang er Mozart-Arien mit Texten, die sich auf die Verkehrslage vor uns bezogen.“16 Peter Hamm, Kulturredakteur des Bayerischen Rundfunks, erzählt, dass Thomas Bernhard nächtelang Opernparodien gesungen und Theaterstücke improvisiert hat. Eines Abends aßen sie in einem Restaurant einen verdorbenen Saibling: „Bernhard hat dann die ganze Nacht in allem, was er gesungen oder geredet hat, immer das Wort Saibling untergebracht. Er sang also Mozart-Arien, ersetzte aber das Wort Don Juan oder was weiß ich durch Saibling (‚Reich mir die Hand, mein Saibling …‘).“17 Auch wenn im Laufe der Jahre der Schriftsteller nach und nach den ‚Sänger‘ Thomas Bernhard ablöst, so bleibt doch des Autors Liebe zur Musik und im speziellen zum Gesang ein Leben lang bestehen. Wolfgang Amadeus Mozart und

14 TBW 10, 200. 15 W.A. Mozart: Die Zauberflöte, Klavierauszug, Leipzig: C.F. Peters. (Quelle: ehemaliges Thomas Bernhard Archiv Gmunden, Notenbestand eingesehen am 27. März 2014) Das Datum 19.8.49 ist das Datum der letzten Aufführung der Zauberflöte in der Salzburger Festspielsaison 1949 (Kaut 1982), möglicherweise eine Erinnerung an eine Verabredung? 16 Fialik 1997, 107‒108. 17 Dreissinger 2011, 18.

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vor allem Die Zauberflöte sind für Bernhards musikalische Welt prägend, wie der Autor selbst und durch die Stimme seiner Protagonisten des Öfteren betont. „In die Zauberflöte / Das ist das schönste Erlebnis für ein Kind / zum ersten Mal in die Oper / und noch dazu in die Zauberflöte …“,18 so der alternde Schauspieler in Einfach kompliziert. In einem Interview mit Norbert Beilharz spricht Bernhard über sein erstes Theatererlebnis. Schon damals habe ich das Gefühl gehabt, dass in der Zauberflöte alles was das Theater ist immer gleichzeitig vorhanden ist […] unten oben, hinten, vorne, es ist eine fortwährende Einheit, es zerfällt nicht, wie man immer sagt, genau das Gegenteil behauptet man nämlich und […] in der Zauberflöte ist eben alles was Theater ist und alles was Musik ist, alles was Oper ist, alles was Schauspiel ist […] sprechen, singen, immer auf höchstem Niveau, wie man weiß Märchen, Drama, Religion, Physik, Metaphysik, also alles …19 N. B.: Gibt es eine Musik in der Zauberflöte, eine Situation sagen wir mal und eine Musik die Sie besonders ergreift, die am stärksten den Kern ihres Wesens trifft? T. B.: (denkt lange nach) Die Königin der Nacht, würd ich sagen, doch, Rezitativ und Arie und Bei Männern welche Liebe fühlen, [. . .] diese zwei Sachen, die Gegensätze, [. . .] die halten die Oper zusammen, [. . .] diese zwei Stellen, das ist eben wie bei Feuer und Wasser, musikalisch, in der Musik, in der Philosophie, in der Dichtung …20

2. Als Bernhard sein Theaterstück Der Ignorant und der Wahnsinnige für die Salzburger Festspiele schreibt, greift er einerseits auf sein ‚Fundament‘ zurück, andererseits liegt es fast auf der Hand, dass er die mit der Geschichte der Festspielstadt eng verbundene Zauberflöte als Folie für seine Thematik heranzieht. Bernhards Drama um den Leistungsdruck einer am Höhepunkt ihrer Karriere stehenden Koloratursopranistin, die den Anforderungen des Kunst- und Kulturbetriebs nicht mehr standhalten kann, ist ungemein vielschichtig mit Mozarts Oper verknüpft. Auf der makrostrukturellen Ebene gleicht das Drama den zwei Akten der Zauberflöte, „In der Oper“ und „Bei den drei Husaren“. Des Autors generelle Vorliebe für Zahlendispositionen zeigt sich in den ostentativen Zahlenspielen um die im Freimaurerkontext stehende Zahl Drei.21 Drei namenlose Protagonisten ‒ Königin der Nacht, Doktor und Vater ‒ agieren als gegenseitige Projektionsflächen in einer

18 TBW 20, 42. 19 Beilharz 1978. Die mit […] bezeichneten Stellen stehen für das von Bernhard im Gespräch immer wieder eingestreute Wort „nicht“. 20 Beilharz 1978. (NB = Norbert Beilharz, TB = Thomas Bernhard). 21 Eine ausführliche Darstellung der den Text Schikaneders sowie die Musik Mozarts prägenden Zahl 3 und ihre Rolle im freimaurerischen Kontext in: Löffler 2015, 80‒93.

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Kunstwelt,22 die Königin als ‚leblose‘ Koloraturmaschine, der Doktor, dessen wahnsinnige Leidenschaft für die Leichenobduktion seiner Verehrung für ein lebloses Kunstgeschöpf gleicht, und der blinde, alkoholsüchtige, ignorante Vater. Folgt man Bernhards Regieanweisungen, spiegelt sich diese Dreierbeziehung auch im Bühnenbild beider Akte wider. Auffällig plakativ ist Bernhards Wahl des Wiener Nobellokals „Bei den Drei Husaren“ für den 2. Akt. Die Zahl 222 lässt sich auf die 22 musikalischen Abschnitte der Zauberflöte zurückführen (Ouvertüre plus 21 Nummern), spitzfindig fügt der Autor eine dritte Zwei hinzu, sodass auch die 222 Auftritte der Königin der Nacht im Dreierkonzept vernetzt sind. Die Zahl 12 ‒ herangezogen für die zwölfbändige wissenschaftliche Arbeit des Doktors, sowie für den Vater, der immer in der zwölften Reihe sitzt, da er da am besten hört23 ‒ passt ebenso in dieses bernhardsche Zahlenspiel.24 Wissentlich greift der Autor die text- sowie musikstrukturelle Dreizahldominanz der Oper auf und stimmt die strukturellen Dispositionen seines Dramas darauf ab. Direkt aus Mozarts Zauberflöte entlehnt der Autor eine der meist umjubelten Figuren, die Königin der Nacht. Bernhards Königin wird jedoch nur zur Hälfte der Opernvorlage gerecht.25 Menschliche Emotionen wie Leidenschaft und Rachsucht werden ausgeblendet. Bernhards Königin, die in dieser Rolle weltweit Erfolge feiert, ist ein Kunstgeschöpf, ein stimmlicher Koloraturmechanismus, jeglicher Menschlichkeit beraubt wird sie nur mehr als „die Stimme“ wahrgenommen. Solche Lakunen zwischen musikalischem Modell und literarischer Umsetzung scheinen gezielt gesetzt, um schonungslos die Schattenseiten des Künstlertums aufdecken zu können. In der Vorführung der Entmenschlichung einer Künstlerin und ihrer Instrumentalisierung für die Gesellschaft, die präzise, technisch perfekt reproduzierte Musik einfordert, greift Thomas Bernhard den Kunst- und Kulturbetrieb massiv an. Der ‚studierte‘ Sänger Thomas Bernhard hat für seinen Kunstkritik-Diskurs einen äußerst radikalen Weg gewählt, denn auch das von Mozart und Schikaneder thematisierte Humanitätsideal bekommt keinen Platz im Drama. Bernhard dekodiert Die Zauberflöte in ihrer heterogenen Struktur und blendet speziell ihre humanistische Substanz komplett aus. Das vorangestellte NovalisZitat „Das Märchen ist ganz musikalisch“ als Motto deutet scheinbar eine Affinität zur deutschen Frühromantik an; eine romantische Märchenauflösung oder, wie speziell in Mozarts Zauberflöte, eine Lösung durch den Sieg der Humanität über

22 Die beiden Nebenrollen, die Garderobiere Frau Vargo und der Kellner Winter verkörpern Menschen der realen Welt, sie sind daher bewusst nicht namenlos. 23 TBW 15, 298. 24 Die Zahl 12 kann auf ihre Ziffernsumme bzw. auf die 21 Nummern der ‚Zauberflöte‘ rückgeführt werden. 25 Gruber 2000, 112.

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„die bösen Mächte“ lässt Thomas Bernhard nicht zu. Von Beginn an ist der Verlauf des Dramas in der Person des Doktors vorgezeichnet. Präzise beschriebene Seziervorgänge ziehen sich leitmotivisch durch das Theaterstück; dabei fungiert die medizinische Ebene als Spiegelbild des inneren Zerfalls der Königin. Ihr Weg führt ‒ vom einstigen Licht des Ruhms und Erfolgs ‒ in die nihilistische Finsternis, in den (seelischen) Tod, versinnbildlicht durch die immer wiederkehrenden Monologe über die perfekte Technik der Obduktion. Schon Jean-Marie Winkler hat Bernhards Theaterstück als eine „Parodie und im ganzen eine Dekonstruktion des mozartschen Schemas, das in sein Gegenteil münden würde“ bezeichnet, denn „statt Einweihung folgt Zerstörung, statt Ordnung herrscht am Ende Chaos, und das Licht wird konsequenterweise durch Finsternis ersetzt“.26 Auch wenn Bernhard in seiner Kritik an einer Kunstausübung, die der Artistik näher steht als der musikalischen Empfindung, die humanistische Substanz der Zauberflöte „zertrümmert“,27 greift er Mozart dabei nicht an. Ganz im Gegenteil, schon in den ersten Sätzen verweist der Text auf die Zauberflöte, als „… ein unsterbliches Werk / ein Genie etcetera“.28 Während des gesamten 1. Akts „In der Oper“ findet die Aufführung der Zauberflöte parallel zum Geschehen in der Künstlergarderobe auf der nicht sichtbaren Opernbühne statt, die Musik erklingt fragmentarisch über Lautsprecher in der Garderobe und durch Kommentare des Vaters oder Doktors wird darauf hingewiesen, wie weit die Opernaufführung gerade fortgeschritten ist. Nach und nach spitzt sich die Handlung auf den ersten Auftritt der Königin der Nacht zu, sie verlässt die Garderobe und über Lautsprecher hören Vater und Doktor ihren Auftritt, das Rezitativ „Oh zittre nicht mein lieber Sohn“ und die Arie „Zum Leiden bin ich auserkoren“. Doktor zum Vater: In dem / das man haßt / agieren zu müssen / weil man Talent hat / unter Umständen Genie hat / geehrter Herr / oder weil man dazu / von allen möglichen Umständen / beispielsweise vom eigenen Vater / gezwungen ist / ist fürchterlich jetzt Rezitativ „Oh zittre nicht, mein lieber Sohn“ aus dem Lautsprecher Das Theater / insbesondere die Oper / geehrter Herr / ist die Hölle Arie aus dem Lautsprecher DOKTOR und VATER bis zum Ende der Arie unbeweglich.29

Beides, Text und Musik – letztere vor allem im Affektgehalt der Koloraturen ‒ werden zum tragischen Spiegelbild des Innersten der Protagonistin. In Kenntnis der sich kontinuierlich steigernden Dramatik in der Musik Mozarts verlangt 26 27 28 29

Winkler 1995, 230. Winkler 1995, 238. TBW 15, 227. TBW 15, 286‒287.

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Bernhard dezidiert die Einspielung des gesamten Auftritts der Königin der Nacht, da die virtuosen, affektgeladenen Koloraturstellen erst gegen Ende des Allegro moderato-Teils der Arie beginnen30 und als gesanglich-musikalischer Höhepunkt der Opernszene unverzichtbar sind. Obgleich schon der Text der Arie intertextuell auf den Kontext „Leid und Verzweiflung“ referiert, steigert die Musik Mozarts diese Thematik affektvoll; die zu Ende des 1. Aktes hörbaren, extremen stimmlichen Anforderungen an die Koloratursängerin machen die Tragik ihres Künstlerdaseins direkt spürbar. Während dieser fünf Minuten der Musikeinspielung ergeben Text und Musik mit den Regieanweisungen des Autors ein Schlussbild des 1. Aktes, dessen musikdramatische Wirkung die Tragödie noch zuspitzt. Die Musik evoziert nicht nur eine atemlose Spannung, wenn die beiden männlichen Protagonisten minutenlang unbeweglich zuhören, sondern überragt in ihrer Wirkung bei weitem das Wort.31 Die Empfindung, die Mozarts Musik im jugendlichen Bernhard, am Mönchsberg sitzend und der Oper lauschend, hervorgerufen hat, fließt nun ins Drama ein, denn unter Zuhilfenahme der wirkungsästhetischen Ebene der Musik kann Bernhard noch über die Sprache hinausgehen. Claus Peymann und Hermann Beil haben zudem bestätigt,32 dass der Autor als Königin der Nacht die in dieser Rolle legendäre Sängerin Wilma Lipp eingespielt haben wollte. Demnach ist Bernhard von einer ganz konkreten musikalischen Vorstellung ausgegangen, die sein dramaturgisches Konzept vervollständigen sollte. Seine Verbundenheit mit Mozarts Zauberflöte hat der Autor in Der Ignorant und der Wahnsinnige „kompositionstechnisch“ ungemein virtuos umgesetzt, Motive werden verknüpft, variiert, umgekehrt, zusammengeführt u.v.m., sie sind Bausteine eines musikalischen Vorgangs,33 eingebettet in ein äußerst komplexes, intermediales Bezugssystem zwischen Sprache und Musik,34 ganz nach dem Motto „Das Märchen ist ganz musikalisch“.

30 Der gesamte 1. Auftritt der Königin der Nacht setzt sich musikalisch aus einem Rezitativ (Allegro maestoso) von 20 und Arie (Andante-Allegro moderato) von 83 Takten zusammen. 31 Nachdem Bernhards Königin nur mehr als Stimme wahrgenommen wird, sieht man sie, folgt man Bernhards Regieanweisungen, bei ihrem Auftritt auch nicht. 32 Claus Peymann Klassik-Treffpunkt in Ö 1 vom 30. März 2013; Interview mit Hermann Beil, in: Löffler 2015, 341‒361. 33 „Das sind die Sätze, Wörter, die man aufbaut. Im Grunde ist es wie ein Spielzeug, man setzt es übereinander, es ist ein musikalischer Vorgang …“, Interview Drei Tage, in: Bernhard 1971. 34 Je tiefer man in die Struktur und Thematik beider Werke eindringt, umso mehr Bezugspunkte finden sich. Aus platztechnischen Gründen kann ich hier nicht alle Zusammenhänge erwähnen und verweise auf Winkler 1995; Bloemsaat-Voerknecht 2006; Löffler 2015 u. a.  

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3. Nicht alle Werke Bernhards zeigen Mozarts Präsenz derart polyvalent in das dramaturgische Konzept verwoben und nicht immer erweisen sich des Autors musikalische Textbausteine als Indikatoren einer dem Werk inhärenten Bedeutungsebene. Vielfach greift Bernhard „nur“ auf seine musikalischen Kenntnisse und Vorlieben zurück, im Namedropping-Verfahren ohne tieferen Zusammenhang mit dem Text ruft der Autor Mozarts Werke auf. Doch immer wieder lässt Bernhard durchblicken, dass Mozart für ihn musikalisch das Allerhöchste ist. So wird Mozart in Verstörung als „Sehr groß!“35 beschrieben, der junge Krainer habe, als er noch gesund war, schon als achtjähriges Kind die Symphonien Mozarts auswendig auf dem Klavier spielen können.36 In Ritter, Dene, Voss bewirkt beispielsweise das Lesen der Mozartbiographie, dass Halsschmerzen nur mehr halb so schlimm sind.37 Zu den von Bernhard bevorzugten Opern zählt auch Mozarts Così fan tutte. Im Theaterstück Die Berühmten – für die Salzburger Festspiele 1976 geplant38 – kommt die Protagonistin Gundi zu spät zur Feier des Bassisten, da sie an diesem Abend noch als Fiordiligi auftritt. Ein klarer Verweis auf Bernhards reale Erfahrungen, denn in der Person der Gundi ist unschwer Gundula Janowitz zu erkennen, eine Sängerin, die nachweislich in Salzburg u. a. auch 1972/73 die Rolle der Fiordiligi unter dem Dirigat von Karl Böhm gesungen hat.39 Der Großindustrielle Herrenstein, Protagonist im Drama Elisabeth II., geht nur in Mozartopern, die ihn zwar auch langweilen, aber auf höchstem Niveau: „. . . das einzige das mir in der Oper immer gefallen hat /. . . war wirklich Così fan tutte / da ist es mir auch egal wer dirigiert / das ist ja eine Musik die nicht umzubringen ist / alles Andere ist ja doch immer haarsträubend.“40 Zieht man die deutsche Übersetzung der Oper „So machen’s alle“ in Betracht, stellt sich die Frage, inwieweit Bernhard auf das dem Protagonisten Herrenstein verhasste städtische Großbürgertum und seine Gewohnheiten anspielt. Lässt doch der Autor ‒ im Gegensatz zur Musik, die nicht umzubringen ist ‒ die Repräsentanten dieser Gesellschafts 

35 TBW 2, 81. 36 TBW 2, 79. 37 TBW 19, 278. 38 Nachdem Festspielpräsident Kaut Bernhards Theaterstück vorab lesen wollte, kam es zu Unstimmigkeiten mit dem Autor, Bernhard zog sein Theaterstück zurück und es wurde in Wien uraufgeführt. 39 Kaut 1973. Es ist anzunehmen dass Bernhard Gundula Janowitz in dieser Rolle gehört hat, da ja 1972 sein Drama Der Ignorant und der Wahnsinnige in Salzburg aufgeführt wurde. 40 TBW 20, 142.

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schicht letztendlich vom Balkon in den Tod stürzen! Bernhards generelle Vorliebe für Mozart-Opern findet ihre Resonanz im Werk in mehrfachen Nennungen von Mozarts Titus (La Clemenza di Tito), Zaide, (Die Hochzeit des) Figaro, Die Entführung (aus dem Serail) und Don Giovanni. Dass der Autor dabei nicht auf die vollen Titel der Opern, sondern auf geläufige Kurzformen zurückgreift, soll zweifelsfrei Kennerschaft signalisieren bzw. vom Leser voraussetzen, könnte aber auch auf Bernhards musikalisches Sprachrhythmusempfinden zurückzuführen sein.41 Bernhards Vorliebe für Mozarts Symphonie Nr. 35, genannt Haffnersymphonie, beruht hingegen auf seiner Freundschaft mit Paul Wittgenstein, die der Autor im Prosawerk Wittgensteins Neffe beschreibt, in dem jedoch auch, wie in seiner Autobiographie, Realität mit Fiktion bzw. Überzeichnung gepaart ist. In der Erzählung ist eine Debatte über die von Schuricht im Musikverein dirigierte Haffnersymphonie für die Freundschaft Bernhards mit Paul Wittgenstein ausschlaggebend. Niemals in seiner musikalischen Existenz habe er (Bernhard) „ein vollendeteres Konzert gehört“.42 Pauls Leidenschaft für die Musik habe ihn als seinen „neuen, ganz und gar außerordentlichen Freund erkennen und annehmen lassen“.43 Nachdem ihm Paul Wittgenstein das mathematische Rätsel der Haffnersymphonie „aufgeschlüsselt“ hat, empfindet er die Symphonie als „mathematisches Wunder“.44 Immer wieder weist der Autor auf die Verbindung zwischen Mathematik und Musik hin, der Topos „mathematisch-musikalisch“ zieht sich kontinuierlich durch Bernhards Werk. Das mathematische Rätsel der Haffnersymphonie bleibt jedoch, wie viele musikalische Statements, unbegründet. Manch Rezensent hat Bernhard vorgeworfen, dass dieser musikalische Werke heranziehe, unerläutert bewerte und somit immer an der Oberfläche bleibe.45 Wie jedoch bereits gezeigt werden konnte, erklären sich musikalische Bezüge und Statements im Text meist durch die detaillierte Kenntnis musikalischer Werke. Das mathematische Rätsel der Haffnersymphonie bezieht sich offenbar auf das für klassische Sonatensätze unübliche 5-taktige Hauptthema im 204 Takte dauernden 1. Satz der Symphonie, da der Großteil klassischer Themen auf einem geradtaktigen 2-er bzw. 4-er Schema und ihren Vielfachen aufbaut. Hermann Beil meinte auf meine diesbezügliche Nachfrage, dass er diesen Topos nie hinterfragt habe, er fand das einfach „eine interessante Setzung“.46 Jedenfalls bereitet auch dem Protagonisten Rudolf in Beton das Lösen des mathematischen Rätsels der Haffnersymphonie „das

41 42 43 44 45 46

Siehe Zitat in diesem Text, 11. TBW 13, 222. TBW 13, 223. TBW 13, 244. Vgl. u. a. Doberstein 2000, 209‒210. Löffler 2015, 352.  

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größte aller Vergnügen“47 und vor allem beruhigt es ihn. Im Roman Das Kalkwerk ist Mozarts Symphonie die Lieblingsschallplatte von Konrads Frau, auch sie kommt zur Ruhe, wenn sie diese Musik hört.48 Im Theaterstück Die Jagdgesellschaft macht Bernhard vom oftmals verwendeten Requisit eines Plattenspielers Gebrauch, die Haffnersymphonie untermalt die Schlussszene, bis das Drama mit dem Selbstmord des Generals abrupt endet. Auf den ideellen Zusammenhang zwischen dem eingespielten Eingangssatz der Symphonie und der Schlussszene kann hier weder formalanalytisch noch wahrnehmungsästhetisch detailliert eingegangen werden, angedeutet sei nur, dass das fanfarenartige kräftige Thema mit großen Intervallsprüngen in seinem energischen Charakter einer gewissen Dramatik nicht entbehrt und somit der Schlussszene musikalisch Nachdruck verleiht.49 Ein nicht zu vernachlässigender Aspekt in der Mozartaufnahme in Bernhards Werk ist des Autors humoristische Seite, die oftmals im Zuge einer gewissen Pauschalisierung zum „Skandalautor“ übersehen wird. Bernhards Humor, changierend zwischen Komik und Tragik, erschließt sich meist über diverse Subebenen der Texte. Das vielleicht irritierendste Beispiel ist die Aufnahme von Mozarts Serenade Eine kleine Nachtmusik in das den Nationalsozialismus thematisierende Drama Vor dem Ruhestand. Ein im Theaterstück beklemmend düsteres Szenario bricht Bernhard mit Elementen des absolut Banalen und Komischen, wie schon der Untertitel Eine Komödie von deutscher Seele andeutet. Das nach der Uraufführung „von der Zeitungs-Kritik empört zurückgewiesene Nebeneinander des niemals Zusammengehörigen“ ist jedoch keine unglückliche komische Verbindung, sondern die „sprachliche Inszenierung einer psychischen Realität“.50 Gegensatzpaare wie Auschwitz und Kümmelwürste oder Hinrichtung und Skifahren werden in einem Atemzug genannt, die Abgründigkeit dieser Menschen, die im belanglosen Geplauder alltägliche Banalitäten und Schrecken emotionslos nebeneinander nennen, als würden sie von Urlaubsfotos sprechen, entsprach leider der traurigen Realität. In diesen Kontext setzt Bernhard als Reminiszenz an die Zeit, als Vera ihren nationalsozialistisch belasteten Bruder Rudolf nach dem Krieg zehn Jahre im Keller versteckt hat, Mozart ein. Die Regieanweisung lautet: „VERA fängt an zu spielen, phantasiert etwas über die Kleine Nachtmusik von Mozart.“51

47 TBW 5, 90. 48 TBW 3, 81. 49 Dass das Einspielen eines Musikstückes bei Bernhard immer im Kontext des jeweiligen Werkes steht wird in meiner Dissertation ausführlich behandelt. Hermann Beil spricht davon, dass die Stücke im Text von Bernhard „mitkomponiert“ worden sind (Löffler 2015, 343.). 50 Höller 1996, 254. 51 TBW 18, 70.

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Rudolf hat es immer geliebt, wenn er sich nachts aus seinem Versteck in die Wohnung gewagt und ihm seine Schwester am Klavier vorgespielt hat. Auf einen ersten flüchtigen Blick würde Mozarts Serenade freilich als rein funktionale Nachtmusik passen, allerdings wirkt die Komposition, im musikhistorischen Kontext der leichten unterhaltsamen Gesellschaftsmusik stehend, als Stimmungsbild einer NS-Vergangenheit vollkommen deplatziert. Bernhard spielt offensichtlich mit diesem unpassenden Musikbeispiel auf die Persönlichkeitsstrukturen der NSTäter an. Lässt man sich auf diese nur scheinbare Verharmlosungsebene ein, wird das Entsetzen noch gravierender. Nach dem Prinzip der durch irritierende Komik geschärften Ideologiekritik findet Mozarts heitere Kleine Nachtmusik, als Mesalliance offenbar bewusst gesetzt, ihren Platz im dramaturgischen Konzept. Adäquat zur Sprache der Gefühls- und Geisteskälte pointiert Bernhard mit Mozarts spielerisch, tänzerischer Serenade die Emotionslosigkeit der NS-Täter. Ein ähnlicher Kontext zeigt sich im Dramolett Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen. Peymann und Bernhard gehen, nachdem sich Peymann eine neue Hose gekauft hat, ins Restaurant Die Zauberflöte essen. Dort sitzen sie, umgeben von lauter hohen Persönlichkeiten der Politik, lauter „alte Nazis“, wie Bernhard dem in Wien neu bestellten Burgtheaterdirektor erklärt. Unbeeindruckt davon bestellt Peymann: Mal Rindsuppe mit Leberknödel / dann Tafelspitz mit Semmelkren / und dann noch ne Mehlspeise / nehm wa doch Millirahmstrudel mit Tunke […] Tolle Stadt Bernhard / tolles Land Bernhard / Österreich ist schon n Hammer Bernhard / streckt die Beine aus, bevor er den ersten Löffel Suppe ißt und wie in einem plötzlichen Glücksgefühl ausruft / Hier wundert mich bald gar nichts Bernhard / rein gar nichts rein gar nichts…52

Aus der Nazi-Zeit belastete Politiker sitzen in einem Restaurant, dessen Namensgleichheit mit der Oper insofern irritiert, da diese vom unbedingten Humanitätsgedanken durchdrungen ist. Der Gegensatz zwischen dem symbolischen Aufrufen eines im Gedankengut der Humanität stehenden Werkes und nationalsozialistisch belasteten Politikern könnte größer nicht sein.

4. Angesichts der Vielschichtigkeit musikalischer Bezugnahmen ist daher nicht nur bei der Mozart-Aufnahme, sondern generell bei allen musikalischen Referenzen im bernhardschen Werk der jeweilige musikalische Kontext zu hinterfragen.

52 TBW 20, 96.

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Bernhard hat seine Musikbeispiele sorgfältig ausgewählt, er nützt seine musikalischen Kenntnisse, seine sängerische Erfahrung, er gibt uns Einblick in seinen Musikgeschmack, seine bevorzugten Dirigenten und InterpretInnen. Mehrfach weist der Autor auf die Bedeutung der Musik in seinem Werk hin, verbleibt aber meist in vager metaphorischer Andeutung. Um darauf zurückzukommen, wie ich meine Bücher schreibe: Ich würde sagen, es ist eine Frage des Rhythmus und hat viel mit Musik zu tun. Ja, was ich schreibe, kann man nur verstehen, wenn man sich klarmacht, daß zuallererst die musikalische Komponente zählt und daß erst an zweiter Stelle das kommt, was ich erzähle. Wenn das erste einmal da ist, kann ich anfangen, Dinge und Ereignisse zu beschreiben […]. Mir schafft das musikalische Element eine ebenso große Befriedigung, da zum Vergnügen an der Musik noch das an dem Gedanken dazukommt, den man ausdrücken will.53

Bernhards teils ausschweifend fantasievolle „Erklärungen“ werfen die Frage auf, inwieweit Interviews und Aussagen überhaupt von des Autors Literatur zu trennen sind und nicht ebenso als literarisch ästhetische Kunstform inszeniert wurden? Dass die Musik und insbesondere Mozart für Bernhard einen großen Stellenwert hatten, steht zweifelsfrei fest. Des Autors Vorliebe, seine Werke musikalischmetaphorisch „zu erklären“, ist entweder geschickt in Szene gesetzt oder vielleicht tatsächlich ein gezielter Hinweis. Sieht und hört man genau hin, so entdeckt man in den in die Texte aufgenommenen Musikbezügen oftmals zusätzliche Bedeutungsebenen, die einen sinnstiftenden Zusammenhang mit Personen und/ oder der Thematik herstellen bzw. zur Manifestierung eines besonderen Aspektes dienen. Manchmal erkennen wir auch einfach nur den Musikliebhaber Thomas Bernhard und dürfen an seinen Begegnungen mit der Musik teilhaben. Ich vertrete die These, dass jede Musikreferenz im Werk Thomas Bernhards wohlüberlegt vom Autor ausgewählt wurde, auch wenn sie nicht immer in thematischer Verbindung zum jeweiligen Werk steht. Doch öfter als man denkt, zeigt sich auf den – von mir so bezeichneten – musikalischen Subebenen der Texte ein Zusammenhang, der zusätzliche Verständnisebenen erschließt, eine sprachliche Ausformung ersetzt und/oder die gewählte Thematik noch schärfer konturiert und mit Nachdruck zum Ausdruck bringt. Um wieder auf Mozart zurückzukommen sei hier abschließend noch ein Beispiel gebracht. In Beton plant der Protagonist Rudolf, eine Studie über den Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy zu schreiben. Einige Versuche sind schon gescheitert, nun wählt Rudolf für den Beginn der Studie den 27. Jänner. Dieses Datum, schon im ersten Satz des Romans präsent, scheint für ihn der ideale Zeit-

53 Dreissinger 1992, 109.

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punkt zu sein, um mit seiner Studie beginnen zu können, (nicht!) zufällig ist dies Mozarts Geburtsdatum. Im letzten Drittel des Romans ‒ leicht zu überlesen und scheinbar nebensächlich ‒ findet sich nicht nur der entscheidende Link zum Datum des Beginns der Studie, sondern auch zum Autor selbst und seinen musikalischen Wurzeln: …mein Haus hat die beste Akustik, die sich denken lässt und ich füllte es an mit der Haffnersymphonie. Ich setzte mich und machte die Augen zu. Was wäre alles ohne die Musik, ohne Mozart! Immer wieder ist es die Musik, die mich rettet. Indem ich mir immer wieder selbst mit geschlossenen Augen das mathematische Rätsel der Haffnersymphonie löste, was mir immer das größte aller Vergnügen gemacht hat, beruhigte ich mich tatsächlich. Gerade Mozart ist für meine Arbeit über Mendelssohn Bartholdy der wichtigste, aus Mozart erklärt sich mir alles, denke ich, ich muß von Mozart ausgehen.54

Literatur Bayer, Wolfram/Fellinger, Raimund/Huber, Martin (Hg.): Thomas Bernhard. Der Wahrheit auf der Spur – Reden, Leserbriefe, Interviews, Feuilletons. Berlin 2011. Beilharz, Norbert: Die Feuer- und die Wasserprobe, Gespräche mit Thomas Bernhard, Produktion des Saarländischen Rundfunks 1978. (DVD Mitschnitt privat). Bernhard, Thomas: Werke in 22 Bänden, hrsg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main 2003–2015 (Kurzform:TBW). Bd. 2: Verstörung, hrsg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler 2003 (TBW 2). Bd. 3: Das Kalkwerk, hrsg. von Renate Langer 2004 (TBW 3). Bd. 5: Beton, hrsg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler 2005. Bd. 10: Die Autobiographie, hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer 2004. Bd. 13: Erzählungen III, hrsg. von Hans Höller und Manfred Mittermayer 2008. Bd. 15: Dramen I, hrsg. von Manfred Mittermayer und Jean-Marie Winkler 2004. Bd. 18: Dramen IV, hrsg. von Bernhard Judex und Manfred Mittermayer 2007. Bd. 19: Dramen V, hrsg. von Martin Huber, Bernhard Judex und Manfred Mittermayer 2011. Bd. 20: Dramen VI, hrsg. von Martin Huber und Bernhard Judex 2012. Bernhard, Thomas: Der Italiener. Salzburg 1971. Bloemsaat-Voerknecht, Liesbeth: Thomas Bernhard und die Musik. Würzburg 2006. Doberstein, Volker: „Beton–Musik“, in: Die Musik, das Leben und der Irrtum, hrsg. von Otto Kolleritsch. Wien, Graz 2000, 203–212. Dreissinger, Sepp (Hg.): Von einer Katastrophe in die andere. 13 Gespräche mit Thomas Bernhard. Weitra 1992. Dreissinger, Sepp (Hg.): Was reden die Leute. 58 Begegnungen mit Thomas Bernhard. Salzburg, Wien 2011. Fialik, Maria: Thomas Bernhard. Das Theatrale in Leben und Werk oder „Solche Menschen muss ein Mensch haben“. Bd. 3. Wien Univ. Dissertation 1997.

54 TBW 5, 89‒90.

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Gruber, Gernot: „Die Metaphern von Musik und musikalischem Virtuosentum in ‚Der Untergeher‘ und ‚Der Ignorant und der Wahnsinnige‘“, in: Die Musik, das Leben und der Irrtum, hrsg. von Otto Kolleritsch. Wien, Graz 2000, 111–123. Höller, Hans: „Thomas Bernhard, Vor dem Ruhestand“, in: Dramen des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1996. Bd. 2, 239–259. Kaut, Josef: Die Salzburger Festspiele 1920/1981. Mit einem Verzeichnis der aufgeführten Werke und der Künstler des Theaters und der Musik, zusammengestellt von Hans Jaklitsch. Salzburg, Wien 1982. Kaut, Josef: Die Salzburger Festspiele. Salzburg 1973. Kuhn, Gudrun: Thomas Bernhards Schallplatten und Noten. Wien, Weitra o. J. Löffler, Susanna: „… ich bin ja ein musikalischer Mensch“. Wahl und Funktion der Musik in Thomas Bernhards literarischem Werk. Wien Univ. Dissertation 2015. Mittermayer, Manfred/Veits-Falk, Sabine (Hg.): Thomas Bernhard und Salzburg. 22 Annäherungen. Salzburg 2001. Mozart Briefe und Dokumente ‒ Online Edition. http://dme.mozarteum.at (4. August 2016). Winkler, Jean-Marie: „Zwischen Parodie und Zurücknahme: Thomas Bernhards ‚Der Ignorant und der Wahnsinnige‘ und Wolfgang Amadeus Mozarts ‚Zauberflöte‘“, in: Tamás Lichtmann (Hg.): Nicht (aus, in, über, von) Österreich. Frankfurt am Main, Wien 1995, 229–240.

Marion Schmaus

Die Intellektuellen entdecken Mozart Zwischen Romantisierung und entwicklungsgeschichtlichem Denken Der Beitragstitel konturiert ein schwer zu bestellendes Feld: Wer oder was sind Intellektuelle? Und was ist ihnen Mozart? Als Vorläufer- und Konkurrenzbegriffe zum Intellektuellen wurden im achtzehnten Jahrhundert das Genie, im neunzehnten Jahrhundert bildungsbürgerlich der Gelehrte bzw. in marxistischer Prägung der geistige Arbeiter gehandelt.1 Im zwanzigsten Jahrhundert spricht Karl Mannheim von den um 1800 entstehenden, „sozial freischwebenden Intellektuellen“2 im Hinblick auf eine gesellschaftliche Kultursynthese, und Theodor W. Adorno sieht im Intellektuellen die „Departementalisierung des Geistes“3 aufgehoben. Bei den hier zu besprechenden Philosophen, Theologen und Soziologen handelt es sich um Mozart-Enthusiasten, die sich ihrem Gegenstand zumeist aus der Perspektive des Laien zuwenden und ihn in andere disziplinäre Felder eintragen.4 Mozart wird ihnen für eine übergreifende Lebens-, Gesellschafts- und Kunstdeutung symptomatisch. Der Eigenname Mozart kann metonymisch für die historische Person, das Werk oder das musikalische Genie stehen. In der im Folgenden vorzustellenden Mozart-Kommentierung wird uns dieser als Genie, in den seltensten Fällen als historische Person, vorrangig aber als Opernkomponist begegnen. Innerhalb seines Opernwerks ist es dann noch einmal eine Oper, die bei den Intellektuellen besonders Resonanz findet, nämlich Don Giovanni. Charakteristisch für die hier vorgestellte Mozartrezeption ist die spanische Namensvariante, was u. a., wie im Folgenden zu zeigen, auf die Prägekraft von E.T.A. Hoffmanns Novelle Don Juan zurückzuführen ist. Diese ausdrückliche Wertung ist in vieler Hinsicht erstaunlich: Die mozartsche Instrumentalmusik wird nahezu gänzlich vernachlässigt. Wenn auch die durch ihre Verbindung mit dem Wort stärker semantisierte Opernmusik der philosophischen oder soziologischen Auslegung entgegenkommt, so wäre innerhalb des Opernwerks mehr Variation zu erwarten, ebenso wie eine deutlichere Konkurrenz zwischen Don Giovanni und Zauberflöte. Auch bei E.T.A.  

1 Vgl. Röttgers/Mackenthunk 1976, 448, 455. 2 Mannheim 1964, 454. 3 Adorno 1969, 15. 4 Informative Überblicke über die Mozartrezeption geben der Sammelband Zuviel Noten, lieber Mozart (2005) sowie die Artikel von Gruber 2009 und Engel 1954.

DOI 10.1515/9783110492989-009

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Hoffmann, Heinrich Gustav Hotho, Søren Kierkegaard, Wilhelm Dilthey und Hermann Cohen steht die Mozart-Oper des Jahres 1787 im Zentrum der Auslegung. Ihre Deutungen weisen erstaunliche Gemeinsamkeiten auf, die intertextuelle Bezugnahme bekunden, so hat etwa Hotho Hoffmann gelesen und Kierkegaard beide Autoren.5 Schließlich wird mit Mozart ein gedanklich-musikalisches Erbe des achtzehnten Jahrhunderts bearbeitet und in der Rezeption archiviert und aktualisiert, das für das philosophische, psychologische, ästhetische und soziologische Denken des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts strukturbildend bleibt. Die Mozartausleger schreiben sich mit ihrem Gegenstand in eine gemeinsame Genealogie ein. Im Folgenden soll dies anhand zweier Rezeptionslinien gezeigt werden, die sich nicht strikt voneinander scheiden, allerdings in ihren Akzentsetzungen deutliche Unterschiede erkennen lassen. Die eine Rezeptionsweise wird unter dem Vorzeichen ‚Romantisierung Mozarts‘ vorgestellt. Als ihre Methodik wird die um 1800 sich ausbildende Hermeneutik als Kunstlehre vom Verstehen von Kunstwerken zum einen, des Lebens zum anderen ausgewiesen. Hier dominiert die Einzelwerkanalyse. Die andere Rezeptionsweise sei mit den Stichworten ‚Hegelianisierung‘ und ‚entwicklungsgeschichtliches Denken‘ umrissen, sie wird über Friedrich Nietzsche, Wilhelm Dilthey, Hermann Cohen und Norbert Elias konturiert. Hier wird Mozart in übergreifende Formen einer Musik- oder Kulturgeschichtsschreibung eingebunden.

1. Romantisierung Mozarts oder Hermeneutik der Lebenskunst: E.T.A. Hoffmann, Heinrich Gustav Hotho, Søren Kierkegaard In diesem Rezeptionsstrang werden über die Analyse des Don Giovanni ästhetische und hermeneutische Grundfragen diskutiert: Was ist ein Kunstwerk? Was heißt es, ein Kunstwerk zu verstehen? Dieses, sich in der Mozartauslegung dokumentierende hermeneutische Kunstverständnis sei kurz skizziert. Ihm zufolge werden das Kunstwerk sowie das es verstehende Individuum als ein individuelles Allgemeines aufgefasst, sie gleichen einander und treten zueinander in eine gleichsam liebende Interaktion. Analogien zwischen Kunstproduzent und seinen Figuren – etwa zwischen Mozart und Don Giovanni – oder zwischen Figuren und

5 Vgl. Hotho 1835, 24, 27, 86, 89; Kierkegaard 2005 [1843], 97–98; Barfoed 1967; Bartha 2008; Grage 2008.

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Rezipienten sind hier keine Seltenheit. Auch wird auf die enge Verbindung von Kunst und Leben, die sich in der Zeit auch im Begriff der Lebenskunst dokumentiert,6 aufmerksam gemacht. So können Figuren aus dem Kunstwerk heraustreten, wie dies E.T.A. Hoffmanns Novelle Don Juan imaginiert, in der Donna Anna sich dem erstaunten Opernbesucher in seiner Loge zugesellt, oder der Rezipient kann in die Welt der Kunst gesogen werden, wie dies ebenfalls ein Grundthema des Hoffmannschen Gesamtwerkes ist. Eine Engführung von ästhetischer und ethischer Existenzweise ist ein verbindendes Element dieser romantisch-hermeneutischen Mozartrezeption, das am ausgeprägtesten bei Hoffmann, Kierkegaard und Cohen zu finden ist. Schließlich gehört zu einem hermeneutischen Kunstverständnis seit der Romantik, dass sich das Kunstwerk im Zuge seiner Rezeption weiterentwickelt, sich die Deutungen daran anlagern und sich darin das von seinem Schöpfer unabhängige Eigen- und Nachleben des Kunstwerks zeigt. Gerade dieser letzte Aspekt lässt sich an Hoffmanns Don Juan eindrücklich zeigen, denn dieser fügt der Handlung mit der Verführung Donna Annas durch Don Juan etwas hinzu, das fortan in vielen Deutungen, z. B. bei Kierkegaard, zum festen Bestandteil des Stücks gehört und sogar die Aufführungs- und Besetzungspraxis der Donna Anna-Figur nachhaltig verändert hat.7 Und sein Verfahren, eine musikalische Handlung jenseits des Librettos zu imaginieren, nur „in der Musik, ohne alle Rücksicht auf den Text“,8 ist ebenso stilbildend geworden. Insgesamt ist Hoffmanns literarische Mozartinterpretation für die nachfolgende Kommentierung durch die Intellektuellen so maßgeblich geworden, dass sie hier Erwähnung verdient.9 Als äußeres Indiz dieser Relevanz ist zu werten, dass Hoffmanns Novellentitel Don Juan Mozarts italienischen Operntitel in der deutschsprachigen Rezeption fast verdrängt hat. E.T.A. Hoffmann (1776–1822), seines Zeichens Komponist und Schriftsteller, auch Zeichner und Justizrat, bekundet seine Mozartverehrung bereits in der Abwandlung seiner Vornamen; eigentlich als Ernst Theodor Wilhelm getauft, wandelt er den letzten 1805 in Amadeus um.10 Die Brief-Novelle mit Nachtrag Don Juan ist 1812 entstanden, und sie wurde 1814 im ersten Band der Fantasiestücke in Callot’s Manier veröffentlicht. Die Novelle schildert den Opernbesuch des im Untertitel der Sammlung erwähnten, hier erstmals auftauchenden reisenden Enthusiasten. Dieser namenlos bleibende Ich-Erzähler des Textes wohnt, noch schlaftrunken, einer Aufführung des Don Giovanni bei, die in Auszügen geschil-

6 Vgl. Schmaus 2002. 7 Vgl. Hoffmann 2006, [Kommentar] 677–679. 8 Hoffmann 2005, 54. 9 Siehe hierzu auch den Beitrag von Stefan Schmid in diesem Band. 10 Vgl. Hoffmann 2006, [Kommentar] 537.

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dert wird. Währenddessen besucht ihn Donna Anna zweimal in seiner Loge, einmal am Ende des ersten Aktes, obwohl sie doch eigentlich auf der Bühne sein müsste, einmal um zwei Uhr in der Nacht, nachdem der Enthusiast zum Briefschreiben in die Opernloge zurückgekehrt war. Für beide Erscheinungen der Donna Anna, einmal in voller Gestalt, einmal ist nur ihre Stimme zu hören, liefert der Text Dementi in satirischem Stilbruch aus dem Munde von Philistern an der Wirtstafel: den „Zwischenakt hindurch soll sie in Ohnmacht gelegen haben“ und „Signora ist heute morgens Punkt zwei Uhr gestorben“.11 Hoffmann-typisch wird diese Wahrnehmungsdiskrepanz zwischen dem Enthusiasten und den Wirtshausgästen nicht aufgelöst, sondern ist der Entscheidung des Lesenden überlassen. Hat sich durch die magischen Klänge Mozarts ein Reich der Poesie geöffnet, in dem sich Opernbesucher und Donna Anna begegnen können? Oder handelt es sich um spiritistische Geisterseherei, um Träume oder um durch Mozarts Musik ausgelöste Wahnvorstellungen des Enthusiasten? Die Romantisierung Mozarts ist so vordergründig bereits im Sinne der Schauerromantik zu erkennen, aber auch an der Umschreibung von Mozarts Don Giovanni in den Don Juan des Enthusiasten. In der Kommentierung durch den Ich-Erzähler wird die Oper gänzlich auf die Beziehung zwischen Don Juan und Donna Anna reduziert. Jener wird nicht als „skrupelloser Verführer“ dargestellt, sondern als ein romantisch-faustischer Charakter, der seine rastlose Sehnsucht nach dem Überirdischen vergeblich in sinnlichem Begehren zu stillen sucht. Und erstaunlich genug, in der weiteren Mozartrezeption wird dieser Hoffmannsche Don Juan weiterleben. Der Mörder und Sexualstraftäter ist mit dieser Novelle so gut wie begraben. Aus der Nebenfigur Donna Anna wird hingegen die zentrale „tragische Heldin“.12 Hoffmann figuriert in der Beziehung zwischen Opernbesucher und Donna Anna das romantischhermeneutische Kunstverstehen als Liebesverhältnis. In Gestalt Donna Annas wendet sich das Kunstwerk oder auch Mozart dem reisenden Kunstenthusiasten – einem Hoffmann-Alter-Ego im Text – liebevoll zu und redet ihn an: „Aber du – du verstehst mich: denn ich weiß, daß auch dir das wunderbare, romantische Reich aufgegangen, wo die himmlischen Zauber der Töne wohnen!“13 Und zwei weitere hermeneutische Grundannahmen bringt Hoffmanns Text zur Darstellung: 1. Die Homologie zwischen Kunstwerk und Verstehenden, denn es sollen sich zwei Gleichgesinnte begegnen, wie Donna Annas Worte implizieren und das Credo des Enthusiasten dann noch einmal wiederholt: „Nur der Dichter versteht den Dichter; nur ein romantisches Gemüt kann eingehen in das Romantische.“14 Das ist in der 11 12 13 14

Hoffmann 2005, 57. Hoffmann 2006, [Kommentar] 680. Hoffmann 2005, 47. Hoffmann 2005, 51.

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Romantik nicht exklusiv, sondern als Einladung zum Weiterschreiben und Weiterkomponieren an alle gedacht, Novalis’ Diktum folgend: „Der wahre Leser muß der erweiterte Autor seyn.“15 2. Hoffmann veranschaulicht durch die Doppelstruktur von Novelle und poetologischem Text die Verbindung von Kunstwerk und Kunstkritik, und auch darin werden die Don-Juan-Exegeten Hoffmann folgen. Es finden sich weitere semi-literarische Texte bei Hotho, Kierkegaard und Cohen, in denen die Schreibenden im Enthusiasmus zu imaginären Opernbesuchern und sogar zum Bestandteil des Werkes werden. In Heinrich Gustav Hothos fast 500seitigen Vorstudien für Leben und Kunst (1835) nimmt die Auseinandersetzung mit Mozarts Don Giovanni nahezu 150 Seiten ein. Der Philosoph und Kunsthistoriker Hotho (1802–1873) ist heute vornehmlich als Herausgeber von Hegels Ästhetik bekannt, deren erster Band ebenfalls 1835 veröffentlicht wurde. In den Vorstudien zeigt sich Hotho allerdings nicht als Hegelianer, sondern als Romantiker. Die hier vorliegenden „Kunstbekenntnisse“ eines reisenden Enthusiasten, der „in der Kunst allein das Leben gesucht und gefunden habe“,16 erweisen sich v. a. in ihrer semi-literarischen Form als Nachfolger von Hoffmanns Fantasiestück, auf das sich auch explizit mal konstruktiv, mal kritisch berufen wird.17 Hotho stellt sich im Vorwort als Herausgeber von Briefen eines Kunstenthusiasten vor, dessen Leben dann in der Ich-Form in Gestalt eines Bildungsromans erzählt wird, wobei das erste Drittel der Kindheit, der Jugend und des Studiums allein auf ein Bildungserlebnis, nämlich Mozarts Don Giovanni, fokussiert ist. Über einen ersten Opernbesuch mit neun Jahren, ein Nachspielen und -singen der Oper mit Freunden im Jugendalter sowie mehrfache Versuche eines Wiedererschaffens des Werkes durch Nachdichtung der einzelnen Charaktere wird berichtet. Diese Mozart-, respektive Don-Giovanni-Besessenheit soll dann durch Kontextualisierung mit anderen Mozartopern, mit der italienischen und der französischen Oper, durch das Studium der Musiktheorie sowie schließlich durch die Dichtung einer eigenen Don-Giovanni-Novelle geheilt werden. Jedoch weder die „wissenschaftliche“ noch die „poetische Reproduction“ erzielt die angestrebte Erlösung aus diesen „Tonschlingen“.18 Erst ausgedehnte Reisen ins In- und Ausland, die andere Kunsteindrücke der Architektur, der Literatur und Malerei ermöglichen, bringen Abhilfe. Nach den Mozartpassagen verliert der Text zunehmend den Duktus biographischer Fiktion. Vieles, was sich bei Hoffmann schon fand und fortan zum Repertoire der Mozartdeutung gehört,

15 Novalis 1965, 470. 16 Hotho 1835, [Vorwort] o. S. Zu Hothos Mozartdeutung, zumeist im Kontext Kierkegaards wahrgenommen, vgl. Barfoed 1967; Grage 2008. 17 Vgl. Hotho 1835, 24, 27, 86, 89. 18 Hotho 1835, 164, 45.

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versammelt der Text: das alleinige Hören auf die Musik, jenseits der „Albernheiten“ des Textes, die Faust-Don-Giovanni-Analogie sowie jene zwischen Mozart und Shakespeare, die Verbindung von Komik und Tragik, die literarische Beschreibung von Opernbesuchen, wobei Hotho mit einer 50seitigen Schilderung einer Don-Giovanni-Aufführung Hoffmann im Umfang bei weitem übertrifft.19 Don Giovanni ist nach Hotho die Personifikation des „freien Lebens“, des „Genusses der Gegenwart“, dem ein „Echogenuß des eigenen Ich […] einzig die Liebe“ gibt. Gegen die „Prosa“ der bürgerlichen Verhältnisse stellt Don Giovanni das „Zauberwort einer Poesie des Lebens“.20 Und dies ist eine der wenigen Textstellen, an denen kurz eine hegelsche Diktion – in der Prosa der Verhältnisse – herauszuhören ist, in diesem ansonsten durch und durch romantisierten Kunstverständnis. Hotho findet für die romantisch-hermeneutische Auffassung des Kunstwerks als Individuum eine treffende Formulierung: Die „Kunst“ verlange „für die ächte Welt ihrer Gebilde die freie Selbstständigkeit auf sich selbst beruhender Individuen“.21 Den Abschluss der Reihe der Mozart-Romantisierungen unter dem Vorzeichen ‚Lebenskunst‘ kann mit gutem Recht der dänische Philosoph, Theologe und Schriftsteller Søren Kierkegaard (1813–1855) für sich beanspruchen, denn er erläutert das Stadium der ästhetischen Existenz mit Mozarts Don Giovanni. Biographische Dokumente zeugen davon, dass Kierkegaard von dieser Mozart-Oper ähnlich ergriffen war, wie dies Hotho an seinem Kunstenthusiasten geschildert hatte.22 Mit Hoffmann und Hotho verbindet sich Kierkegaards Mozartdeutung auch in ihrer Textgestalt. Die Abhandlung Die unmittelbar-erotischen Stadien oder das Musikalisch-Erotische, die sich insgesamt der Don Giovanni-Exegese widmet, findet sich in der Textsammlung Entweder – Oder. Ein Lebens-Fragment, die Kierkegaard unter dem Pseudonym Victor Eremita herausgibt. Herausgeber-Fiktion, Briefform, das Spiel mit Autorschaft und Identität der Vorangehenden wiederholen sich hier noch einmal. Der erste mit Mozartanklängen durchzogene Teil wird der Autorschaft des Dichters A zugesprochen, er erläutert aus der IchPerspektive die ästhetische Existenzform, der zweite Teil B, der in Briefen an A die ethische Existenzform vorstellt. Im Zusammenhang der Teile erscheint die „ästhetische Existenzweise“ als „noch vorsittlich, da sie nicht frei gewählt wurde: Unmittelbar betrachtet ist der Mensch immer schon ästhetisch bestimmt; er muss sich die Welt durch seine Sinne einverleiben und nach Erfüllung seines Begehrens streben – unreflektiert (Don Juan).“ Erst ein Akt autonomer Selbstbestimmung 19 Hotho 1835, 9, vgl. 15–17. 20 Hotho 1835, 14, 12. 21 Hotho 1835, [Vorwort] o.S. 22 Vgl. Wiora 1978, 39–40. Kierkegaards Don Juan-Rezeption ist im Weiteren kommentiert worden von Barfoed 1967; Görner 1983; Gruber 1999; Zimmermann 1991 und 2004; Grage 2008.

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eröffnet eine ethisch verantwortete Lebensform, als „Wahl, mit der man Gut und Böse wählt“.23 Der Titel Entweder – Oder indiziert eine solche Wahl zwischen den Alternativen von ästhetischer und ethischer Existenz. Dem Ästhetiker A erscheint nun Mozarts Don Juan als Verkörperung des Lebensprinzips des sinnlichen Genusses in Reinform. Er ist „Macht der Sinnlichkeit“ und „dämonische Lebenslust“,24 er verleiht allen anderen Figuren Leben, hat über alle anderen Figuren bis auf den Komtur Macht. Die Klassizität von Mozarts Werk begründet der Ästhetiker über diese Synthese, er habe das Grundmotiv der ästhetischen Existenzform, den Lebensgenuss in seiner Zentralität und zum Ideal abstrahiert zur Darstellung gebracht. Eine besondere Pointe dieser Auslegung ist, dass Kierkegaard hierin das Wesen der Musik sieht, die in Don Juan so gleichsam zu sich selbst kommt.25 Abschließend bleibt zu überlegen, ob mit Kierkegaards Mozartdeutung dem ästhetischen Zustand nicht auch eine Wendung zum Ethischen zugesprochen werden kann. Der Nachtrag zu Don Juan scheint dies anzudeuten, wenn hier von Mozarts Glück und vom Glück des Mozart-Verstehens die Rede ist: „Ich zumindest fühle mich unbeschreiblich glücklich darüber, einen Mozart, wenn auch nur von ferne, verstanden und sein Glück geahnt zu haben.“26 Glück ist seit der Antike ein Begriff der Individual-, der Strebensethik. Beruht der Übertritt vom ästhetischen in den ethischen Zustand des Menschen nach Kierkegaard auf distanzierender Reflektion, so sind Mozarts Idealisierung des Lebensgenusses und der verstehende Nachvollzug dieser Idealisierung Akte auf dem Wege freiheitlicher, ethischer Selbstbestimmung. Mit diesem Glück des Verstehens sei der Überblick über die romantisch-hermeneutische Mozartrezeption der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts abgeschlossen.

2. Hegelianisierung und entwicklungsgeschichtliches Denken: Friedrich Nietzsche, Wilhelm Dilthey, Hermann Cohen, Norbert Elias Für die Etablierung geschichtsphilosophischen Denkens im neunzehnten Jahrhundert sind maßgeblich Hegel und die Hegel-Schule verantwortlich, indem sie

23 Pieper 2009. 24 Kierkegaard 2005, 115. 25 Vgl.: „Don Juans Wesen [ist] Musik. Er löst sich für uns gleichsam in Musik auf“, Kierkegaard 2005, 121. 26 Kierkegaard 2005, 122.

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die Vorstellung eines in der Geschichte sich dialektisch in These, Antithese und Synthese explizierenden Weltgeistes einführen. Auch in der Kunst- und Musikgeschichtsschreibung kommt dies bald zur Anwendung, wenn vom Dreigestirn der Wiener Klassik – Haydn, Mozart und Beethoven – die Rede ist und damit auch Fortschritt und Überbietung gemeint sind. Die Entgegensetzung von Mozart und Beethoven bürgert sich ein, überwiegend zu Ungunsten Mozarts, dem die Rolle des Vorläufers zukommt.27 Hegels Differenzierung der klassischen Kunstform als einer an der Antike orientierten Einheit von Inhalt und Form gegenüber der romantischen, stärker subjektiv-reflektierenden Kunstform findet Aufnahme in Ausführungen zum Klassiker Mozart und dem Romantiker Beethoven. Beispiele für eine solche Form der Musikgeschichtsschreibung bieten E.T.A. Hoffmann, wenn er, in Abgrenzung von Haydn und Mozart, Beethoven als „rein romantische[n] Komponisten“28 bezeichnet, und Richard Wagner, der konstatiert, dass sich der „Feuerstrom“ von Mozarts Musik erst bei Beethoven aus den Begrenzungen konventioneller Formen befreien und zum „mächtigen Meere“29 anschwellen habe können. Der Philosoph und Komponist Friedrich Nietzsche (1844–1900) widmet Beethoven und Mozart in seiner Aphorismensammlung Menschliches, Allzumenschliches eine Reflexion, in der dem Jüngeren ein philosophisches Element zugesprochen wird. In der Charakterisierung findet sich ein Nachhall der hegelschen Kunstformen des Klassischen und Romantischen. So zeichne sich in Beethovens „tiefbewegte[r] Betrachtung“, in seiner „Musik über Musik“ ein Überhang der Reflexion ab, ihm seien „Melodien“ „verklärte Erinnerungen aus der ‚besseren Welt‘: ähnlich wie Plato es sich von den Ideen dachte“. Mozart hingegen wird das Hier und Jetzt, das „Schauen des Lebens, des bewegtesten südländischen Lebens“30 zugeordnet. In den Schriften der 1880er Jahre entwickelt Nietzsche ein bio-psycho-soziales Denken, in das die Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Wissenschaften, mit Darwins Evolutionstheorie, mit Physiologie und Psychologie eingegangen ist. Das Subjekt der Geschichte ist nicht mehr der hegelsche Weltgeist, sondern eine Lebenskraft – auch ‚Wille zur Macht‘ genannt –, die sich in biologischorganisch gedachter Zyklik entwickelt. Die eigene Zeit hat Nietzsche bekanntlich als Verfallsepoche begriffen und unter den Begriff der Dekadenz gefasst. Im Fall Wagner und Fragmenten aus dem Umfeld wird Dekadenz auch zu einem musikgeschichtlichen Theorem. Das zeigt ein mit Wille zur Macht als Kunst überschrie27 28 29 30

Siehe hierzu Gruber 2009, 352–357. Hoffmann 2006, 54. Wagner 2005, 88. Nietzsche 2005, 144. Zu Nietzsches Mozartauslegung siehe Gruber 1983; Zimmermann 2004.

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benes Fragment, das die Musik als „Gesellschafts-Ausdruck“ und „Décadence“Phänomen bezeichnet. Die Begriffe ‚klassisch‘ und ‚romantisch‘ tauchen hier erneut auf und werden auf Mozart und Beethoven bezogen, wenn es heißt, „daß die Musik als Romantik ihre höchste Reife und Fülle erlangt – noch einmal als Reaktions-Bewegung gegen die Classicität … / Mozart – eine zärtliche und verliebte Seele, aber ganz achtzehntes Jahrhundert, auch noch in seinem Ernste … Beethoven der erste große Romantiker“.31 Goethes bekanntes Diktum „Das Classische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke“32 scheint hier mitzuschwingen, wie überhaupt Mozarts südlicher Geist, seine Klassizität, seine Schönheit verschiedentlich als Therapeutikum für die eigene Zeit und Person angesprochen wird. Das Erstaunliche an diesem Fragment und anderen Aphorismen ist jedoch, dass die Musik sich als ein zyklisch-wiederkehrendes Dekadenzphänomen andeutet, allerdings als eines mit deutlichem semantischem Mehrwert für eine umfassendere Kulturgeschichtsschreibung. In der Musik als letzter dekadenter Blüte einer Zeit wird eine Epoche gleichsam auf ihren Begriff, ihren Grundton gebracht. In Nietzsches Spekulation klingen in der Musik Ideen, Grundwerte, Lebens-, Kultur- und Staatsformen sowie politische Ereignisse einer Epoche zusammen, und sie klingen in dieser aus. Sie bringt ihre Zeit auf Kurzformeln, wie im Aphorismus aus Jenseits von Gut und Böse zu lesen ist. Mit „Mozart“ wird die „‚gute alte‘ Zeit“ eines achtzehnten Jahrhunderts und einer großen europäischen Tradition auf die Kurzformel von „Rokoko“, „gute Gesellschaft“, „Kinderlust am Chinesischen und Geschnörkelten“, „Höflichkeit des Herzens“ und „Glaube an den Süden“ gebracht. Während mit Beethoven das Politisch-Historische dieser Epoche, „jener Übergang Europa’s von Rousseau zu Napoleon und zur Heraufkunft der Demokratie“, intoniert worden sei. In Beethoven und mehr noch in Mozart sei die Musik „die Stimme für die Seele Europa’s“33 gewesen. Damit hat Nietzsche der Musik eine sozialutopische Dimension eingeschrieben und sie zum Verständigungsmedium par excellence einer Zeit und eines Kulturkreises erklärt. In Nietzsches in den Musik-Aphorismen bloß angedeutetem Kontextualismus der Kulturgeschichtsschreibung, etwa auch in dem Notat „Mozart städtisch-social-höfisch“,34 lassen sich Anlagen zu historischer, politischer und soziologischer Musikbetrachtung erkennen, wie sie später Norbert Elias am Beispiel Mozarts ausbuchstabieren wird. Mit seiner Zeichnung Mozarts als Europäer reagiert Nietzsche auf die Nationaldiskurse seiner Zeit, und es zeigt sich auch an diesem 31 32 33 34

Nietzsche 1888. Goethe 1890, 40. Nietzsche 1886. Nietzsche 1884.

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Beispiel, dass Nietzsche nicht zum Gewährsmann eines deutschen Nationalismus gemacht werden kann. Denn als „ganz unbedenklich gute Deutsche“ gelten ihm nur solche, die „Vermittler gewesen“ und „europäisch gearbeitet [haben] (wie Mozart und die Historiker usw.)“.35 Bei anderen Mozartrezipienten sieht dies vordergründig anders aus, etwa in Anbetracht von Hermann Cohens am 14. Oktober 1914 vor der Berliner Kantgesellschaft gehaltenem Vortrag Über das Eigentümliche des deutschen Geistes oder Wilhelm Diltheys 1933 aus dem Nachlass veröffentlichter Studie Von deutscher Dichtung und Musik. Beiden ist die Wagner-Nietzsche-Dialektik, das Deutsche an Mozart gerade in seinem Europäer- bzw. Weltbürgertum zu sehen, verwandt; an beiden Texten zeigt sich allerdings auch die Instrumentalisierbarkeit der durchaus sympathischen und keineswegs auf einen einsinnigen Nationalismus zulaufenden Ansätze nationaler Kulturgeschichtsschreibung der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts für Kriegspropaganda oder nationale Ideologien im zwanzigsten Jahrhundert. Der Theologe und Philosoph Wilhelm Dilthey (1833–1911) arbeitet um 1900 an Studien zur Geschichte des deutschen Geistes, die eine umfassende Kulturgeschichtsschreibung liefern, die die kulturellen Objektivationen aus Wissenschaft, Religion und Kunst vor dem Hintergrund des Alltagslebens sowie politischer, sozialer und wirtschaftlicher Zusammenhänge interpretiert. Seine umfassende Philosophie des Lebens versteht sich als eine Hermeneutik des Lebens: „Aus Steinen, Marmor, musikalisch geformten Tönen, aus Gebärden, Wort und Schrift, aus Handlungen, wirtschaftlichen Ordnungen und Verfassungen spricht derselbe menschliche Geist zu uns und bedarf der Auslegung.“36 In seinem zu den Studien gehörendem Aufsatz Die grosse deutsche Musik des 18. Jahrhunderts zeigt er, dass in Mozarts Opern eine Mannigfaltigkeit des menschlichen Lebens zum Ausdruck gelange, die in der zeitgenössischen Literatur zwar intendiert, aber nicht erreicht werde. Im Besonderen führt Dilthey dies an Mozarts Aneignung der italienischen Opernform aus, die über Rezitativ, Duett, Terzett etc. und Arie feste Formen für den Zusammenhang von „Situation, Charakter und Handlung“37 vorgegeben habe. Menschliches Fühlen, Wollen, Denken, Handlungs- und Ausdrucksgeschehen werde so auf der Opernbühne in einer aufsteigenden Skala durchschritten, dies werde als ein intersubjektives Geschehen gezeigt, in dem v. a. das „Heraustreten von Wort und Tat aus der Innerlichkeit“ adäquater zum Ausdruck komme als in der „damaligen deutschen Dichtung“,

35 Nietzsche 1880. 36 Dilthey 1990, 319. 37 Dilthey 1933, 277.

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wobei namentlich Goethes Iphigenie und Schillers Wallenstein genannt werden. Die Künstlichkeit der Opernform, ihr „von der Wirklichkeit losgelöste[r] Stil“ scheint dem entgegenzukommen. Und man mag hier u. a. an die Opernkonvention der Arie als Ausdruck für den „stehenden Habitus“, den „Gefühlston“ einer Person denken,38 im Vergleich zum schweren Stand, den der Monolog seit dem Sturm und Drang auf der Theaterbühne hatte. Am Don Giovanni insgesamt und im Besonderen noch einmal an der Festszene im Schloss führt Dilthey dann ein weiteres Überbietungsmerkmal des musikalischen gegenüber dem Wortdrama an, nämlich den gleichzeitigen polyphonen Gesang, während das Wortdrama an das Nacheinander gebunden bleibe. Die Oper könne so „eine der größten ästhetischen Gefühlswirkungen schlechthin“ erzielen, „nämlich die der Verbindung der Mannigfaltigkeit der Charaktere zu einer Einheit des Lebens“.39 Widersprechendes, Unterschiedenes und Individuelles kann so als Einheit des Lebensreichtums dargestellt werden. Auffällig an Diltheys Argumentation der nur musikalisch erzielbaren Gleichzeitigkeit bleibt der Sachverhalt, dass er die Oper nicht in ihrer Zeichenform als Partitur und Libretto wahrnimmt, sondern nur als Aufführung. Das schließt an die romantisch-hermeneutische Mozartrezeption des imaginierten Opernbesuchs bei Hoffmann und Hotho an. In Diltheys apodiktischer Zusammenfassung „Mozart ist das größte dramatische Genie des 18. Jahrhunderts“40 kommt nicht mehr der Geniebegriff dieser Zeit zum Tragen, nachdem im Genie „die Natur der Kunst die Regel gibt“ (Kant),41 sondern das „Genie“ ist aufgelöst in das Individuum und das „umgebende Schicksal“.42 Im Konkreten wird Mozarts Genie auf eine besondere mimetische Begabung, auf die virtuose Handhabung der italienischen Opernformen der Opera seria und buffa, auf eine günstige Stoffwahl sowie auf die Ideen seines Zeitalters, von Schiller, Goethe, Wieland und Lessing, zurückgeführt. Auf eine Kurzformel gebracht ist Mozarts Genie Resultat von „italienische[r] Oper“ und „deutscher Tiefe“.43 Die letztgenannte Wendung ist eines der wenigen Beispiele für Diltheys Verwendung des Adjektivs ‚deutsch‘ im Kontext der Musik des achtzehnten Jahrhunderts, es bezeichnet kein deutsches Wesen oder Volk, geschweige denn eine deutsche Rasse, sondern es bezieht sich auf die oben genannte literarische Konstellation des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts von Lessing bis zu Goethe und Schiller, die Dilthey als Referenzrahmen für die mozartschen Opern aus 

38 39 40 41 42 43

Dilthey 1933, 277. Dilthey 1933, 278. Dilthey 1933, 280. Kant 1983, 406 (§ 46, B 181). Dilthey 1933, 287. Dilthey 1933, 276.

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macht. Allein durch die Publikation von 1933 und das mit nationalen Ideologemen aufwartende Vorwort der Herausgeber Herman Nohl und Georg Misch wird Diltheys Mozartdeutung in den Dunstkreis des Nationalsozialismus gerückt. Bei Hermann Cohens Deutschtum in seinem Vortrag Über das Eigentümliche des deutschen Geistes von 1914 ist die Sachlage schon sehr viel schwieriger, denn dort heißt es im Oktober 1914, zwei Monate nach Beginn des Ersten Weltkriegs im August 1914: „Wir führen Kriege nur zur Wahrung unserer Grenzen und zur Erhaltung deutschen Blutes und Stammes.“ Diese Kriegsrhetorik, die sich am Anfang und am Ende des Vortrags findet, lässt sich allerdings nur schwer mit den im Mittelteil zu findenden Ausführungen zum deutschen Geist des achtzehnten Jahrhunderts vermitteln, der als ein Geist „weltbürgerliche[r] Humanität“44 bezeichnet und u. a. an Mozart illustriert wird. Das Eigentümliche dieses Geistes sei ein „Universalismus“ als „Umgestaltung und Verwandlung alles Fremden“.45 Im Fall Mozarts heißt dies für Cohen: „Mozarts Oper ist die Übersetzung Shakespeares in Musik“; ihre Vollendung habe sie in der Zauberflöte gefunden, die in ihrem freimaurerischen Gehalt Mozarts Glauben „an den ewigen Frieden der Menschheit“46 zum Ausdruck bringe. Bei diesen Ausführungen handelt es sich um Selbstzitate aus Cohens Mozarttexten der Jahre 1905/1906 und 1912,47 die sehr weit entfernt sind von Blut- und Stammesdenken. Es liegt hier also der Fall vor, dass ein Denker sein eigenes Werk durch eine rahmende ideologische Rhetorik entstellt und nur um den Preis der Inkohärenz und semantischer Brüche Kriegspropaganda und ästhetisches Denken zusammenzwingt. Hermann Cohen (1842–1918), jüdischer Religionsphilosoph und Mitbegründer der Marburger Schule des Neukantianismus, stellt mit seiner Verbindung von Judentum und Deutschtum, die seiner Meinung nach letztlich in einem mit Kant begründeten Weltbürgertum ihre Gemeinsamkeit haben, eine eigentümliche Variante der Nationaldiskurse des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts dar, allerdings keine singuläre. Er reagiert, ähnlich wie Nietzsche und Dilthey, mit seinem philosophischen Programm auf den positivistischen Empirismus der Naturwissenschaften seiner Zeit durch eine Rückwendung auf Kants Apriorismus. In Anlehnung an Kants drei Kritiken legt Cohen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ein dreiteiliges System vor: Logik der reinen Erkenntnis (1902), Ethik des reinen Willens (1904), Ästhetik des reinen Gefühls (1912). In dieser Ästhetik nimmt Mozart eine herausgehobene Stellung ein, indem Cohen dem musikalischen Ausdruck die Fähigkeit zuspricht, eine ethische Erfahrung zu provozieren. Der Um 

44 45 46 47

Cohen 1997, 293. Cohen 1997, 240–241. Cohen 1997, 291. Vgl. Poma 1993.

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schlag von ästhetischer in ethische Existenz, der sich in Kierkegaards Entweder – Oder andeutete, vollzieht sich bei Cohen beim Zuhörer des Don Giovanni. Der Musik kommt in Cohens Ästhetik die Funktion zu, eine „Innenwelt des Gefühls“, ein „Selbstgefühl“48 zu erzeugen. Sie stellt gleichsam eine neue Welt her, in der der Mensch sich rein in seiner ästhetischen Bedeutung, ohne Umwelt und nicht als soziales Wesen, konstituiert. Als „Liebe“ wird dieses reine Gefühl an den Opern Mozarts dann konkretisiert und zwar nicht als zwischenmenschliche Liebe, sondern als Selbstliebe, als „Liebe zur Einheit des Menschen in der Einheit seiner Leib-Seelennatur“.49 Mozarts Oper trage den „Urmomente[n] des Schönen im Erhabenen und im Humor“50 Rechnung. Ein auch von Beethoven nicht wieder erreichtes Höchstmaß an Erhabenheit in der Oper sieht Cohen im Don Giovanni erreicht, der den Zuhörer in eine andere Welt entrücke. Es heißt: „nicht Erschütterung“, noch „Beseligung“, sondern „schlechthin Entrückung. Der Mensch wird ein anderes Wesen, weil eine andere Welt sich vor ihm auftut.“51 In diesem Passus wird Kants Begriff des Erhabenen aus der Kritik der Urteilskraft angesprochen: Gegenüber dem „Furcht erregenden Gegenstand“ werden wir uns nach Kant unseres „Vermögens zu widerstehen“52 bewusst, das im vernünftig-sittlichen Wesen des Menschen begründet liegt. Bei Kant nimmt die Ästhetik eine Brückenfunktion ein, die die Kluft zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, dem Reich der Naturerkenntnis und dem Reich der Ethik schließen soll. Nach Cohen soll sich der Mensch im und durch Don Giovanni als einheitlicher, als erkennendes und ethisches Wesen wahrnehmen. Abzuschließen ist die mit Nietzsche begonnene Reihe der Mozartrezeption mit dem Soziologen jüdischer Herkunft Norbert Elias (1897–1990) und seiner Monographie Mozart: zur Soziologie eines Genies, die um 1980 entstanden und 1991 postum aus dem Nachlass ediert worden ist. Der zeitliche Abstand zu Nietzsche, Dilthey und Cohen ist zwar beträchtlich, allerdings konnten bei Nietzsche und dann v. a. bei Dilthey Ansätze zu einem Denken aufgezeigt werden, das das Individuum psychologisch, soziologisch und historisch versteht, und mit diesen drei Attributen wäre auch Norbert Elias’ Soziologie zu umreißen. Elias selbst weist seine Mozart-Studie als Seitenstück seiner großen Arbeiten Über den Prozess der Zivilisation – zuerst 1937 im Exil veröffentlicht, wirkungsmächtig dann erst durch die Taschenbuchausgabe von 1976 geworden – und Etablierte und Außenseiter (engl. 1965, dt. 1990) aus. Anders als die vorherigen Kommentierungen Mozarts,

48 49 50 51 52

Cohen 2005, 135. Cohen 2005, 181. Cohen 2005, 176. Cohen 2005, 182. Kant 1983, 348, 349 (§ 28, B 102, 104).

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die sich nahezu ausschließlich auf das Werk beschränkten, geht es Elias um die psychoanalytische und soziologische Analyse des historischen Individuums Mozart. Idealiter ist eine Verbindung von „Künstler“ und dem „Menschen Mozart“,53 von Leben und Werk in der Analyse angestrebt, und sie wird partiell eingelöst, indem die psychologischen Bedingungen für Mozarts Werk in einem besonderen Sublimierungsvermögen festgemacht werden, also produktionsästhetisch argumentiert wird. Tatsächliche Werkanalysen finden sich jedoch nicht. Psychoanalytisch argumentiert Elias an zwei Punkten, zum einen, wenn er Mozarts Tod als ein Aufgeben schildert, zum anderen, wenn er den Prozess der Kunstproduktion als Sublimierung ausweist. Einleitend greift Elias Freuds Theorem der Wunscherfüllung auf, das dieser an den Tagträumen erläutert hatte: „Um einen Menschen zu verstehen, muß man wissen, was die beherrschenden Wünsche sind, nach deren Erfüllung er sich sehnt.“54 Elias benennt hier für Mozart: die Liebe seiner Frau und die Gunst des Wiener Publikums. Nach Entzug dieser zwei zentralen Formen intersubjektiver Anerkennung in den letzten Lebensjahren überschreibt er Mozarts frühen Tod dementsprechend mit der Kapitelüberschrift „Er gab sich auf und ließ sich fallen“. Das Genie Mozart wird durch Freuds Theorem der Sublimierung analysiert, demzufolge sich Triebenergien durch Sublimierung in kulturelle Objektivationen, etwa Kunstwerke, verwandeln können. Für Mozart hat das den besonderen Vorteil, dass Elias sich das, worüber die meisten Kommentatoren nur betreten schweigen, die Analmetaphorik der Mozartbriefe, als Ausweis ausgeprägter Triebenergien argumentativ zu Nutze machen kann. Das Genie Mozart wird dann allerdings nicht allein am Es seiner außergewöhnlichen Libido, sondern auch am außergewöhnlich ausgebildeten künstlerischen Über-Ich festgemacht. Und dies wird nicht allein auf die enge Vaterbindung zurückgeführt, sondern soziologisch erweitert auf seine ungewöhnlich breite Kenntnis des Musikkanons seiner Zeit. Diese wiederum gründet nach Elias in den weitläufigen Reisen des Wunderkindes Mozart, die ihn an fast alle europäischen Höfe führten. Das im Vorangehenden bei Nietzsche, Dilthey und Cohen hervorgehobene Europäertum und Mozarts Virtuosität in der Handhabung der klassischen Opernformen bindet Elias an dieses biographische Detail. Diltheys Beobachtung „Musik ist seine Sprache“55 – in Ersetzung der Wortsprache – erscheint bei Elias als Resultat der spezifischen Pädagogik des Vaters Leopold Mozart, der jede „musikalische Leistung“ seines Sohnes „mit einer hohen Zuneigungsprämie“56 belohnt habe. In der Kunstproduktion zeige sich so ein komplexes Zusammenspiel 53 54 55 56

Elias 1991, 77. Elias 1991, 14. Dilthey 1933, 281. Elias 1991, 78.

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von Es, Ich und Über-Ich, wobei Elias unter dem Es die in einen musikalischen Phantasiestrom sublimierten Triebenergien versteht, unter dem Ich die bewusste Arbeit am musikalischen Material unter Meisterung der Eigengesetzlichkeit dieses Materials sowie unter dem Über-Ich ein durch die Pädagogik des Vaters und die ausgedehnten Reisen besonders ausgebildetes „künstlerische[s] Gewissen“.57 Neben dieser psychoanalytischen Erhellung des Geniebegriffs, in der das Genie als Resultat einer erfolgreichen Konfliktlösung erscheint, zeichnet Elias’ Studie allerdings auch die Tragödie des Genies. Neben den psychischen Konfliktlagen sind auch sozial-historische zu bewältigen, für die das Individuum nicht gleichermaßen gerüstet ist, und für die es auf das Mitspielen seiner Umwelt angewiesen wäre. Die Tragödie Mozarts ist es, nach Elias, ein „Genie vor der Geniezeit“58 gewesen zu sein. Sie liegt in seinem Versuch begründet, sich als freier Künstler in einer noch höfisch geprägten Musikkultur etablieren zu wollen, die im Musiker den Handwerksmusiker, den Bediensteten, die ‚Hofschranze‘ sah. Bereits zehn Jahre später in einem dann schon funktionierenden öffentlichen, vom Hof abgelösten Musikmarkt wird Beethoven glücken, woran Mozart noch scheiterte. In solchen Beobachtungen liegt Elias zufolge der Beitrag der Soziologie für das Kunstverstehen, indem sie nicht allein das Einzelschicksal schildere, sondern „zugleich ein Modell der gesellschaftlichen Strukturen seiner Zeit“, insofern sie „Machtdivergenzen begründen“.59 Und Elias versteht seinen Ansatz im Weiteren als Prozesssoziologie, die keine statischen Verhältnisse beschreibt, sondern die „das sich wandelnde Schicksal der Menschen, die musikalische und andere Kunstwerke hervorbringen, im Wandel der Gesellschaftsentwicklung aufzuhellen“60 trachtet. Darin liege die Außenseiterexistenz Mozarts begründet und die Tragödie des Genies: zwischen zwei sozialen Welten mit divergierenden Verhaltens- und Geschmackskonventionen letztlich unbehaust geblieben zu sein. Eine Bleibe hat Mozart, wie das Vorangehende gezeigt hat, bei den Intellektuellen gefunden, denen er zum sprechendsten Ausdruck der Zauberwelt der Poesie in der Prosa der Verhältnisse (Hoffmann, Hotho), der ästhetischen Existenz (Kierkegaard), des Lebens in seiner widersprüchlichen Mannigfaltigkeit (Dilthey) sowie der Einheit von ästhetischer und ethischer Existenz (Cohen) geworden ist. Der Gesamttenor lautet, in Mozart erklängen die Ideen, Werte und Kunstideale des achtzehnten Jahrhunderts, er sei die Stimme der Seele Europas (Nietzsche).

57 58 59 60

Elias 1991, 83. Elias 1991, 30. Elias 1991, 23. Elias 1991, 37.

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Bernd Oberdorfer

Mozart – evangelisch? Der ‚geistliche Mozart‘ und seine protestantische Rezeption Selbst eine lebenslange persönliche Affinität zur Musik Mozarts kann den Anfangsverdacht wohl kaum verhindern, dass der protestantische Theologe in Sachen Mozart als Auskunftsgeber eher wenig in Frage kommt. Denn Mozart im evangelischen Klangraum – das scheint keine allzu starken Resonanzen hervorzurufen. Das hat vermutlich schon schlicht damit zu tun, dass die sakrale Musik, die Mozart schrieb, weitgehend aus Messen besteht – eine Form, die sich sperrt gegen die Benutzung in evangelischen Gottesdiensten. Der Einwand liegt nahe, dass das doch auch für die Bachsche h-Moll-Messe gelte. Damit ist aber schon ein weiterer Punkt angesprochen. Denn zweifellos ist die musikalische Sakralkultur im (deutschen) Protestantismus seit dem neunzehnten Jahrhundert geprägt, um nicht zu sagen: dominiert vom Werk Johann Sebastian Bachs. Vor allem die Passionen – Matthäus noch etwas stärker als Johannes – und das Weihnachtsoratorium (und – wenn ich recht sehe, in ihrem Schlepptau – dann eben auch die h-Moll-Messe) sind zum Inbegriff protestantischer Kirchenmusik geworden. Ja, der Besuch einer Bachpassion in der Passionszeit, idealerweise an Karfreitag, gehört selbst noch zum bildungsreligiösen Ritual säkularisierter, kirchenferner Protestanten. Und wenn neben diesen konzertanten Aufführungen aufwändige Kirchenmusik auch in den Sonntagsgottesdiensten Eingang findet, dann sind es eben häufig Bach-Motetten, die in den liturgischen Ablauf kunstvoll eingefügt werden. Dies hat die Vorstellung davon, was protestantische Kirchenmusik ist und zu sein hat, die emotionale Gestimmtheit, die damit verbunden, deren SichEinstellen dabei erwartet wird, tief geprägt und damit natürlich auch Kriterien für Geschmacksurteile etabliert und inkulturiert im Blick darauf, was als angemessene oder weniger angemessene evangelische Kirchenmusik gelten kann. Wollte man dies verbildlichen, böte sich ein Diagramm konzentrischer Kreise an, die in unterschiedlicher Nähe und Ferne um Bach gezogen werden. Dagegen hat es Mozart schwer. Nicht, dass es keine protestantischen Mozartliebhaber gäbe. Vermutlich bestehen in dieser Hinsicht keine signifikanten Unterschiede zwischen den Konfessionen und auch nicht zwischen religiösen Menschen generell und Agnostikern oder Atheisten. Man muss nicht gläubig sein, um Mozart zu lieben. Aber was seine Kirchenmusik betrifft, so hat sie es weiterhin schwer, im protestantischen Raum beheimatet zu werden. Und wenn 2006 zum 250. Geburtstag in München unter dem Titel „Mozart evangelisch“ alle seine 17 Messen in evangelischen Kirchen (und bewusst im Gottesdienst) aufgeführt

DOI 10.1515/9783110492989-010

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worden sind, dann spricht dies nicht gegen den Befund, sondern bestätigt ihn auf seine Weise, wurde es dadurch doch gerade als außergewöhnlich gekennzeichnet. Es ist nicht ganz klar, inwieweit bei der evangelischen (Nicht-)Würdigung von Mozart als Kirchenkomponist auch musikexterne Faktoren eine Rolle spielen wie etwa Mozarts Ruf als leichtlebiges, moralisch und auch religiös nicht ganz zuverlässiges Genie. Vielleicht ist es kein Zufall, dass von Mozarts sakraler Musik, wenn überhaupt, dann namentlich das Requiem Beachtung findet – schon vom Genre her eine ernst-feierliche Musik, der nicht der Charakter des Heiter-Verspielten anhaftet. Denn vielleicht ist es eben dieser landläufig Mozarts Musik pauschal zugeschriebene Nimbus, der sie zwar für die weltliche Erheiterung, aber nicht für die geistliche Erbauung geeignet erscheinen lässt. Es gibt indes in der evangelischen Theologie des letzten Jahrhunderts eine große Ausnahme: den leidenschaftlichen Mozartverehrer Karl Barth. Eine Ausnahme ist Barth auch insofern, als er seine Mozartliebe nicht im Privaten beließ (bekannt ist, dass er den Tag mit Mozartmusik begann1 – eine Praxis, die nach seinem Tod auf den seiner Theologie gewidmeten Karl-Barth-Tagungen auf dem Leuenberg bei Basel fortgeführt wurde); er deutete sie vielmehr im Horizont seines eigenen theologischen Entwurfs. Er theologisierte seine Mozartliebe gleichsam. Man könnte auch sagen: Er gab seiner musikalischen Geschmackspräferenz eine umfassende theologische Rechtfertigung. Mehr noch: Er machte sie sich theologisch (und theologiepolitisch!) zunutze. Das ist ausgesprochen lehrreich und, wie meistens bei Barth, von nicht geringem Unterhaltungswert. Doch bevor ich das nachzeichne, muss noch etwas anderes geklärt werden. Nicht nur in der theologisch-kirchlichen Rezeption, sondern auch in der werkund lebensgeschichtlichen Forschung hat das sakrale Werk Mozarts eine eigentümliche Stellung.2 Welche Bedeutung hatte es in Mozarts Selbsteinschätzung? In welchem Verhältnis steht es zu seinem ‚profanen‘ Werk? Wie ist sein musikalischer Wert zu beurteilen? Und, nicht zuletzt: War es Ausdruck von Mozarts Religiosität? Und wenn ja, was sagt es darüber aus? Hier reicht das Spektrum sehr weit: Die Tatsache, dass die Kirchenkompositionen nahezu ausnahmslos Auftragswerke waren, kann als Indikator dafür herangezogen werden, dass sie nur Nebenwerke waren, die zudem in keiner Weise Mozarts religiöse Überzeugungen widerspiegelten. Umgekehrt können unverkenn-

1 „Ich habe zu bekennen, dass ich (dank der nicht genug zu preisenden Erfindung des Grammophons) seit Jahren und Jahren jeden Morgen zunächst Mozart höre und mich dann erst (von der Tageszeitung nicht zu reden) der Dogmatik zuwende.“ Barth 1987, 7–8. 2 Zur musikwissenschaftlichen und musikhistorischen Einordnung vgl. die detaillierte Studie von Fellerer 1985.

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bar religiöse Aussagen Mozarts (etwa in Briefen) das Argument stützen, dass die kirchlichen Kompositionen auch in Mozarts eigener Einschätzung zum Nennwert genommen werden müssten und dürften, sprich: dass es Mozart durchaus auch inhaltlich ernst damit gewesen sei, wenn er die Messtexte angemessen zu vertonen versuchte. Manche Autoren meinen gar, Mozarts ganzes Werk müsse von dieser religiösen Grundhaltung her verstanden werden, sodass die Sakralmusik sogar eine Schlüsselstellung einnähme. Wieder andere lesen die religiösen Äußerungen als völlig konventionell und floskelhaft und schreiben ihnen keinerlei Aussagekraft im Blick auf Mozarts innere Überzeugungen zu; Entsprechendes gilt dann auch für die kirchlichen Kompositionen. Sehr strittig diskutiert wird in diesem Zusammenhang auch, dass Mozart keine Hemmungen hatte, für sakrale Werke weltliche Melodien zu übernehmen und umgekehrt musikalisches Material, das er für die Kirche entwickelt hatte, in profanen Werken zweitzuverwerten. Erkennen die einen darin religiöse Gleichgültigkeit, so sehen andere hier eine gleichsam tiefer gelegte Religiosität, die die Unterscheidung von sakral und profan als oberflächlich entlarvt und beide Bereiche als Sphäre des Göttlichen übergreift. Diesem Fragekomplex will ich mich jetzt noch etwas ausführlicher zuwenden, ehe ich im zweiten Teil Karl Barths eigenwillige theologische Mozartdeutung untersuche.

1. Mozarts Kirchenkompositionen – eine religiöse Musik? War Mozart religiös? Wie religiös war Mozart? Wie war Mozart religiös? Schon dass diese Fragen gestellt werden, ist alles andere als selbstverständlich. Würde man sie bei Palestrina stellen, bei Schütz, bei Bach? Würde man ein Buch wie Mozart und der „liebe Gott“3 über Hindemith, über Schostakowitsch, über Henze schreiben? Die Fragen zu stellen setzt voraus, dass es in Mozarts Werk Anlässe gibt, nach Religion zu fragen. Und es setzt voraus, dass die Religion Mozarts für die, die danach fragen, ein Problem ist. Beides hängt eng zusammen. Der Anlass ist natürlich der für explizit kirchliches Setting komponierte, an Umfang nicht unerhebliche und also nicht einfach ignorierbare Teil seines Werkes. Und ein Problem ist das zunächst für die, die – sehr schlicht gesagt – Mozarts Musik lieben und von ihr fasziniert sind, mit einer religiösen Motivation aber nicht viel anfangen können. Dann liegt es nahe, die Wirkung der Musik von einer ihr gegebe-

3 Gärtner 1997. – Vgl. zum Thema ferner Herten/Röhring (Hg.) 2009; Tschugnall (Hg.) 2009.

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nenfalls zugrunde liegenden religiösen Motivation abzukoppeln. Genau dies bestreitet die Gegenposition, die den religiösen Charakter von Mozarts Kirchenmusik betont und daher an der Authentizität von Mozarts religiöser Motivation festhalten möchte. Verkompliziert wird die Sache noch dadurch, dass auch das Verhältnis von Mozarts sakraler zu seiner profanen Musik mitbedacht werden muss. Ich will einmal versuchen, die unterschiedlichen ‚Strategien‘ des Umgangs mit diesem Fragenkomplex zu systematisieren: Strategie 1 – nennen wir sie die ‚säkulare‘ – versteht Mozarts Musik als autonomes Kunstwerk und marginalisiert sein sakrales Werk entweder oder deutet es seinerseits als autonom. In gewisser Weise dient dabei das profane Werk als hermeneutischer Schlüssel für das sakrale und als Kriterium für dessen Beurteilung. Dabei wird auch das geistliche Werk von seiner religiösen Motivation abgekoppelt. Dies kann noch einmal stärker akzentuiert werden durch die Annahme, dass Mozart selbst nicht wirklich religiös motiviert gewesen sei. Möglich ist aber auch die schwächere Variante, dass die sakralen Werke verstehbar (und genießbar) sind unabhängig von ihrer (vorhandenen oder nicht vorhandenen) religiösen Motivation. Strategie 2 – die ‚religiöse‘ – betont die grundlegende Bedeutung der Sakralmusik für Mozarts Werk. Sie dient als hermeneutischer Schlüssel auch für das profane Werk. Umso wichtiger ist es dann, für das geistliche Werk eine religiöse Motivation des Komponisten zu unterstellen. Bei Karl Barth und seinem Schüler Karl Hammer4 lässt sich eine Variante der ‚religiösen‘ Strategie feststellen, die aber so eigenständig ist, dass man sie besser als Strategie 3 bezeichnet – ich nenne sie behelfsweise die ‚theologische‘ –: Barth und Hammer unterlaufen gewissermaßen die Unterscheidung von sakralem und profanem Werk. Sie gehen nicht von der Kirchenmusik aus, sondern unterstellen eine religiöse Motivation Mozarts für das gesamte Werk, und besonders Hammer rekonstruiert diese Motivation durch eine konzise Interpretation, die zuerst an den Opern ansetzt, um dann auch auszugreifen auf das sakrale Werk. Wie ist religiöse Motivation aber zu erschließen? Hier stößt man auf massive methodische Probleme, die auch erklären, warum die Antworten auf die Frage nach Mozarts Religiosität so unterschiedlich ausfallen. Ebenso naheliegend wie unvermeidlich ist es, sich auf Selbstaussagen zu stützen (und d. h., die biographischen Hintergründe auszuleuchten). Was Religiosität betrifft, können solche Selbstaussagen aber – zumal im achtzehnten Jahrhundert in Zentraleuropa – auch ganz konventionell sein und verraten dann wenig über die Innenwelt des Individuums; oder sie sind kontextuell veranlasst, wenn der Betreffende z. B. bei  

4 Vgl. zu ihm ausführlich unten Teil 2.

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seinem Arbeitgeber oder bei möglichen Sponsoren etwas erreichen will (und unterstellen muss, dass die Exposition religiöser ‚Gesinnungen‘ dies erleichtert) oder wenn er den Adressaten trösten möchte (etwa den frommen Vater nach dem Tod der Mutter). Gerade moderne Autoren neigen dazu, die subjektive Authentizität von Mozarts religiösen Äußerungen dergestalt zu relativieren. Dies ist nicht illegitim, wenn es nicht allein geleitet ist von abstrakten areligiösen Vorannahmen (die religiösen Aussagen etwa a priori Realitätsgehalt absprechen), sondern Anhalt findet in Ambiguitäten und Spannungen in Mozarts Lebensäußerungen selbst (und dies ist ja auch tatsächlich der Fall; wir werden z. B. auf Mozarts Freimaurerei noch zurückkommen müssen). Illegitim wäre es freilich, die religionsdistanzierte Deutung von Mozarts religiösen Äußerungen zur einzig sachgerechten, weil vermeintlich unparteiischen und voraussetzungslosen Deutung zu erklären. Gegenläufige Interpretationen, die Mozarts bekenntnisartige religiöse Aussagen als authentischen Ausdruck subjektiver Überzeugung beurteilen, können durchaus ebenfalls ein konsistentes Bild von Mozarts Persönlichkeit entwickeln (was immer daraus dann folgt für das Verständnis seines Werkes). Mehr als ohnehin scheint auf dem religiösen Feld die Voreinstellung des Betrachters die Analyse der Lebenszeugnisse zu beeinflussen. Dies nötigt natürlich zur Vorsicht auch bei der eigenen Interpretation. Das Problem verschwindet im Übrigen auch nicht, wenn man auf die Ausleuchtung der Biographie verzichtet und sich ganz auf die Werkinterpretation beschränkt. Denn auch hier ist eine Eindeutigkeit im Blick auf das Verhältnis von Inhalt und Absicht nicht ohne weiteres gegeben. Gerade bei Mozarts geistlichem Werk zeigt sich vielmehr, dass die einen etwa Mozarts tiefsinnige Ausdeutung der vorgegebenen Glaubenstexte (etwa des Credo) bewundern, während andere eben darin eine Handwerksarbeit zu erkennen meinen, bei der die heiligen Worte nur das Material darstellen, das Mozart möglichst kunstvoll und kunstgerecht zu formen sucht, ohne dem Inhalt größere Bedeutung zuzumessen (von subjektiver Anteilnahme ganz zu schweigen). Im Bewusstsein dieser Problematik will ich nun den Blick auf einige Lebenszeugnisse Mozarts wagen, die ein Schlaglicht auf sein Verhältnis zur Religion werfen können, zumindest: auf seine Thematisierung von Religion. Zunächst ist gewiss zu beachten, dass Mozart in einem tief katholischen Milieu aufwuchs. Er war mit den privaten und öffentlichen Frömmigkeitsformen des Katholizismus bis zur Selbstverständlichkeit vertraut und praktizierte sie auch. Diese Vertrautheit hat allerdings einen Doppeleffekt, der hermeneutisch bedacht sein will: Sie bewirkt zum einen eine Verinnerlichung, Internalisierung, innere Aneignung der ritualisierten Frömmigkeitshandlungen, deren Vollzug dann nicht mehr durchgängig mit Bewusstsein verbunden sein muss, ohne dass dadurch die subjektive Authentizität verloren gehen müsste; umgekehrt muss dann der Nicht-

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vollzug nicht notwendig den Verlust subjektiver Glaubensüberzeugung indizieren. Sie bewirkt zum anderen aber auch eine Veräußerlichung, die den Vollzug unter Abkopplung der inneren Beteiligung ermöglicht. Man macht mit, ohne innerlich dabei zu sein. Dies erzeugt einen Spielraum innerer Distanznahme, die äußerlich nicht erkennbar sein muss. Mit anderen Worten: Mozarts selbstverständliche Gewandtheit im Katholischen macht ihn nicht per se zum frommen Mann. Sie erlaubt es aber auch nicht, ihn pauschal als nur oberflächlichen Konventionschristen zu deuten, der sich innerlich vom kirchlichen Glauben weit entfernt hätte. Bei Mozart kommt noch etwas hinzu: Er erlebte die Kirche als Organisation, um nicht zu sagen: als Arbeitgeber. Zu einer Verklärung der irdischen Realität der Kirche gab ihm das keinen Anlass. Er sah schon an seinem Vater die Abhängigkeit vom guten Willen, besser: von der Willkür der kirchlichen Obrigkeit, er sah dessen – letztlich vergeblichen – Kampf um eine angemessene Stellung (Leopold Mozart blieb zeitlebens „Vicekapellmeister“). Gewiss erfuhr er – schon als ‚Kinderstar‘ – vielfältige Förderung durch die Kirche. Die fast ausschließlich in den Salzburger Jahren als Auftragswerke entstandenen Messen legen davon Zeugnis ab. Er erlebte aber auch, wie der bloße Wechsel im Amt des Salzburger Fürsterzbischofs sein Geschick wenden konnte. Auch der berühmte Fußtritt des Grafen Arco symbolisiert nicht nur die faktische Subalternität seiner Stellung. Er katapultierte ihn vielmehr unfreiwillig aus einem System feudal-klerikaler Abhängigkeit in eine Freiheit des ‚Selbst-Unternehmers‘, für die es freilich noch keine tragende soziale Form gab. De facto tauschte er die Unfreiheit des Klerikalfeudalismus mit der Unfreiheit des freien Marktes, in der er inhaltlich weniger gebunden, aber von der umso ungewisseren Auftragslage abhängig war. Hier wäre der Ort für einen kurzen Exkurs, um dem Fürsterzbischof Hieronymus Graf Colloredo von Wels und Waldsee Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und das religionskulturgeschichtliche Profil der Mozartzeit ein wenig zu differenzieren. Colloredo hat sich ja in der Mozart-Biographik die Rolle des Bösewichts redlich verdient, der – ohne Sinn für die Musik und ohne Verständnis für die besonderen Bedürfnisse eines genialen Individuums – Mozart seine Stellung als einer von vielen kleinen Angestellten deutlich zu spüren gab, seinen Entfaltungsdrang kleinlich einschränkte und ihn dann kühl vor die Tür setzen ließ. Daran ist viel Wahres. Gleichwohl ist interessant zu sehen, dass dieser Mann als aufgeklärter Reformer nach Salzburg kam. In seinem Arbeitszimmer hingen Porträts von Rousseau und Voltaire.5 Schon bei seinem Einzug in Salzburg hatte er auf den üblichen

5 Dass dies damals weniger anstößig war, als es heute erscheinen mag, sei nur nebenbei erwähnt. Immerhin war Voltaire am Ende mit der Kirche versöhnt und also formal als Katholik gestorben.

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Prunk verzichtet; er war also sozusagen ‚im Fiat vorgefahren‘. Er reformierte die Verwaltung und brachte die Finanzen wieder in Ordnung, „die sein Vorgänger in desolatem Zustand hinterlassen hatte“.6 Er wandte sich freilich auch gegen die in seinen Augen bzw. Ohren übertrieben üppige musikalische Ausgestaltung der Gottesdienste und betrieb also eine Liturgiereform, die die Einfachheit und Klarheit der Messform wieder deutlicher sichtbar machen sollte. Er gefährdete damit allerdings Arbeitsplätze im – sagen wir: künstlerisch-musikalischen Sektor. Zudem legte er Wert darauf, dass seine Angestellten ihre Präsenzzeiten konsequenter als bisher einhielten; dass Mozart senior („Vicekapellmeister“, wie gesagt) und Mozart junior („Concertmeister“) monatelang auf Konzertreisen unterwegs waren, wollte er nicht länger dulden. Das ist alles nicht unvernünftig, und vermutlich würde auch heute beispielsweise manch ein ehrgeiziger Dekan an einer deutschen Universität kaum anders handeln, wenn er etwas in Bewegung setzen wollte. Colloredo war also kein Reaktionär, sondern ein dynamischer Modernisierer, der ganz auf der Höhe der Zeit – der neue Kaiser Joseph II. dachte ähnlich – die Verhältnisse verbessern wollte. Es war der Geist des aufgeklärten Absolutismus katholischer Provenienz, der in ihm eine würdige Verkörperung fand – typisch in seinem sozialreformerischen, volkspädagogischen Elan, in seiner Orientierung am Pragmatisch-Zweckdienlichen, typisch aber eben auch in der strikten Regulierung des Einzelnen im Namen des Allgemeinen, in der Verachtung des Verspielt-Ornamentalen, in der rein funktionalen Würdigung des Musischen. In bestimmter Weise bilden sich in Colloredo also Größe und Grenzen der Aufklärung ab. Dass hier Konflikte mit einem sich seiner selbst und seiner Begabung bewussten, den Eigenwert seiner Kompositionen betonenden Künstler auftreten konnten, liegt auf der Hand. Wir sollten freilich vorsichtig sein, daraus gleich einen Grundlagenkonflikt zu zimmern. Gewiss war Mozart kein dezidierter Aufklärer. Aber er war eben auch kein pauschal aufklärungskritischer Antimodernist. Er ist schwer einzuordnen: In der Resistenz gegen das aufgeklärte Nivellierungspathos blieb er vormodern – und war in seinem stolzen Pochen auf die künstlerische Autonomie zugleich moderner, zukunftweisender als sein Erzbischof. Als Mitglied der Freimaurer war er doch auch auf der Höhe der aufgeklärten Zeit. Gleichwohl ist es atmosphärisch vielleicht aussagekräftig, mit welchem Abscheu er sich einmal über Voltaire äußert. Nach dessen Tod schreibt er nämlich dem Vater aus Paris: „Nun gebe ich ihnen eine nachricht die sie vielleicht schon wissen werden, daß nehmlich der gottlose und Erzspizbub Voltaire so zu sagen wie ein hund – und wie ein vieh crepiert ist – das ist der lohn!“7

6 Gärtner 1997, 76. 7 Brief vom 3. Juli 1778; zitiert nach Gärtner 1997, 77.

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Dieses Wort (das zu drastisch ist, um es allein aus dem Interesse zu erklären, den konservativen Vater zufrieden zu stellen) steht in eigentümlichem Kontrast zu der Voltaire-Verehrung des Erzbischofs. Es belegt eine Distanz zu dessen gut katholischer Aufklärungsfrömmigkeit, aber keineswegs ein gespanntes Verhältnis zur katholischen Tradition generell, im Gegenteil. Damit wären wir wieder beim Thema. Ein Indiz für eine ungebrochene lebensweltliche Einbettung Mozarts in den volkstümlichen Katholizismus ist die Entstehungsgeschichte der sogenannten Großen Messe c-moll. Diese verdankt sich nämlich einem Gelübde, das Mozart 1782 Gott gegenüber ablegte, als seine damalige Verlobte Constanze Weber schwer erkrankt war: Er werde eine Messe schreiben und in Salzburg zur Aufführung bringen, wenn sie von der Krankheit genesen und es sodann zur Hochzeit kommen werde.8 Als dies so eingetroffen war, löste er das Gelübde durch die Komposition der genannten Messe ein, und bei der Uraufführung 1783 sang Constanze sogar die „Hauptpartie“.9 Natürlich ist dies als solches noch kein Ausdruck starken Glaubens, und es greift sicher zu weit, daraus eine besondere Innigkeit der Textauslegung in der Messkomposition abzuleiten. Dennoch zeigt gerade die Konventionalität eines solchen Gelübdes, sein volksreligiöser Charakter, der eine Nähe zum Abergläubischen einschließt, dass Mozart durchaus nicht in gepflegter Distanz zu seinem Herkunftsglauben lebte. Auch die expliziten religiösen Aussagen in seinen Briefen offenbaren ein theologisch wenig elaboriertes, aber eben auch nicht aufgeklärt-kritisch reflektiertes Vertrauen in die Vorsehung des gütigen Vatergottes. Besonders aussagekräftig sind in dieser Hinsicht die Briefe, die Mozart angesichts der schweren, schließlich tödlichen Krankheit der Mutter 1778 in Paris an den fernen Vater schreibt. Da heißt es etwa: Verlassen sie sich auf gott – da müssen sie ja Trost finden; Meine liebe Mutter ist in händen des allmächtigen – will er sie uns noch schencken, wie ich es wünsche, so werden wir ihm für diese gnade dancken, will er sie aber zu sich nehmen, so nutzt all unser ängsten, sorgen und verzweifeln nichts – geben wir uns lieber standhaft in seinen göttlichen willen …10

Und weiter (die Mutter ist schon tot, der Vater soll es aber noch nicht erfahren): … ich bin nun schon lange Tag und nacht zwischen forcht und hofnung – ich habe mich aber ganz in den willen gottes gegeben […]; – ich bin getröstet, es mag ausfallen wie es will – weil ich weis daß es gott, der alles, wens uns noch so quer vorkömmt, zu unsern besten anordnet, so haben will; denn ich glaube, und dieses lasse ich mir nicht ausreden,

8 Vgl. Gärtner 1997, 15–16. 9 Gärtner 1997, 16. 10 Zitiert nach Gärtner 1997, 78.

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daß kein Doctor, kein mensch, kein unglück, kein zufall, einem menschen das leben geben, noch nehmen kann, sondern gott allein …11

Dieses Vorsehungsvertrauen erstreckt sich auch aufs Jenseits: „In jenen betrübten umständen“, schreibt er dem Vater (den er mittlerweile über den Tod der Mutter in Kenntnis gesetzt hat), habe ich mich mit drey sachen getröstet, nemlich [erstens] durch meine gänzliche vertrauensvolle ergebung in dem willen gottes – dann [zweitens] durch die gegenwart ihres so leichten und schönen Tods, indemm ich mir vorstellte, wie sie nun in einem augenblick so glücklich wird – wie viell glücklicher das sie nun ist, als wir – so, daß ich mir gewunschen hatte in diesem augenblick mit ihr zu reisen – aus diesem Wunsch … entwickelte sich endlich mein dritter Trost, nemlich, daß sie nicht auf ewig für uns verlohren ist – das wir sie wieder sehen werden, als auf dieser welt; Nur die Zeit ist uns unbekant – das macht mir aber gar nicht bang – wann gott will, dann will ich auch.12

Dass dies nicht nur eine von Rührung dominierte (und vom Wunsch, den Vater zu trösten, geleitete) Momentaufnahme ist, belegt ein im Jahr zuvor, also 1777, ebenfalls an den Vater gerichteter Brief, in dem es heißt: „Ich habe Gott immer vor augen, ich erkenne seine Allmacht, ich fürchte seinen Zorn; ich erkenne aber auch seine liebe sein mitleiden und barmherzigkeit gegen seine geschöpfe. er wird seine diener niemalen verlassen.“13 All diese Aussagen zeigen das durchaus konsistente Bild einer „vertrauensvollen ergebung“ in den Willen eines allmächtigen und allgütigen Gottes, dem das Ergehen seiner Geschöpfe nicht gleichgültig ist, sondern der diesen in Liebe und Barmherzigkeit zugeneigt ist und sie auch im Tod nicht verlassen wird. Dieses Bild entbehrt jeder Originalität. Es ist gewiss christlich grundiert (Gott ist ja eben durch Liebe und Mitleid charakterisiert), aber ohne Rückbindung an die christologische Kernbotschaft des Christentums; Christus kommt praktisch nicht vor. Genau dies ist indes zeittypisch, und Mozart ist damit gar nicht so weit entfernt vom Aufklärungschristentum evangelischer wie katholischer Provenienz, für das auch Fürsterzbischof Colloredo steht. Wegen dieser unspezifischen Weite ist es dann auch gar nicht so überraschend, dass Mozart Zugang fand zur Freimaurerloge „Zur Wohlthätigkeit“. Die Freimaurer sind in bestimmter Hinsicht Inbegriff des Aufklärerischen. Das klingt zunächst paradox, scheint ihr Charakter als Geheimorden sie doch als ‚lichtscheu‘

11 Zitiert nach Gärtner 1997, 125–126. 12 Zitiert nach Gärtner 1997, 128. 13 Brief vom 23./25. Oktober 1777; zitiert nach Gärtner 1997, 5.

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und damit als das glatte Gegenteil der schon in der Selbstbezeichnung zum Licht strebenden „Aufklärung“ (englisch noch sprechender: ‚enlightenment‘) zu erweisen. Doch ist die Abschottung in Wahrheit Teil eines Aufklärungsprogramms. Denn die Freimaurer gehören zu jenen Gruppenbildungen im achtzehnten Jahrhundert, die „im geschützten Innenraum“ einer vorstaatlichen Sphäre „neue, freie Gemeinschaften [probten], in denen an die Stelle der zwangsweisen Eingliederung des Menschen in durch Herkommen und Geburt vorgeprägte Gebilde die freie Persönlichkeit trat“ und die Mitglieder einander „als bloße Menschen“ begegneten.14 Ähnliche Ideale vertraten auch die in Bildungskreisen populären „Freundschaftsbünde“, die freilich auf die Geheimhaltung verzichteten.15 Bei den Freimaurern diente die Geheimhaltung mithin dem Schutz der Freiheit, damit im Innenraum jene standübergreifende Gemeinschaft gelebt werden konnte, die es ‚draußen‘ eben nicht (oder: noch nicht?) geben konnte. Dass das für Mozart attraktiv sein musste, der unter demütigender standesbedingter Benachteiligung massiv zu leiden hatte, ist leicht nachvollziehbar. Die Freimaurer waren auch nicht anti-, nicht einmal areligiös. Ihr Humanitätsethos war an den Glauben an ein umfassendes höchstes Wesen gebunden, aber eben bewusst konfessions- und religionsübergreifend. Letzteres machte sie natürlich den Kirchen verdächtig, und offiziell war die Mitgliedschaft Katholiken unter Exkommunikationsdrohung verboten. Was nicht verhinderte, dass selbst Geistliche die Aufnahme beantragten; Mozart traf etwa einen Kaplan in seiner Loge. Er konnte also durchaus darauf vertrauen, dass Freimaurerei und katholischer Glaube nicht schlechterdings unvereinbar seien; sein unspezifischer Vorsehungsglaube war es ohnehin nicht. Es gibt jedoch eine interessante Episode, in der Mozart die konfessionelle Differenz zwischen Katholiken und Protestanten selbst zum Thema macht, und zwar im Blick auf die Kirchenmusik, und nicht ganz unpolemisch. Während seines Aufenthalts in Leipzig 1789, zwei Jahre vor seinem Tod, habe – so wird berichtet – auf einer Abendgesellschaft beim Thomaskantor Friedrich Doles ein Gast darüber geklagt, welchen Schaden viele große Musiker erlitten hätten, „indem sie ihre ungeheuren Kräfte auf meistens nicht nur ‚unfruchtbare, sondern auch geisttötende Sujets der Kirche‘ verschwenden mußten“.16 Daraufhin habe

14 Schuler, 1; zitiert nach Gärtner 1997, 156. Die Idee der Achtung des Menschen schlicht als Menschen, unabhängig von Volks- und Religionszugehörigkeit, ist im Übrigen auch leitend für Lessings Nathan. Vgl. dazu Oberdorfer 2004, 107–124. 15 Vgl. dazu Oberdorfer 1995, 6–9. 16 Gärtner, 1997, 206; die Zitate aus: Nissen 1984. Nissen greift offenbar auf einen zeitgenössischen Bericht von Friedrich Rochnitz in der „Allgemein musikalischen Zeitung“ zurück (Gärtner 1997, 202, ohne nähere bibliographische Angaben).

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Mozart aufgebracht geantwortet, „ohne Rücksicht auf den Gastgeber von der anderen Konfession“:17 Das ist mir auch einmal wieder so ein Kunstgeschwätz! [. . .] Bei euch aufgeklärten Protestanten, wie ihr euch nennt, wenn ihr eure Religion im Kopf habt – kann etwas Wahrs darin sein; das weiß ich nicht. Aber bei uns (Katholiken) ist es anders. Ihr fühlt gar nicht, was das will: Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, dona nobis pacem und dergleichen. Aber wenn man von frühester Kindheit, wie ich, in das mystische Heiligtum unserer Kirche eingeführt ist, wenn man da, als man noch nicht wußte, wo man mit seinen dunklen, aber drängenden Gefühlen hin solle, in voller Inbrunst seines Herzens seinen Gottesdienst abwartete, ohne eigentlich zu wissen, was man wollte, und leichter und erhoben daraus wegging, wenn man diejenigen glücklich pries, die unter dem rührenden Agnus Dei hinknieten und das Abendmahl empfingen und beim Empfang die Musik in sanfter Freude aus dem Herzen der Knieenden sprach: Benedictus qui venit und so weiter, dann ist’s anders. Nun ja, das geht freilich dann durch das Leben in der Welt verloren; aber – wenigstens ist’s mir so – wenn man nun die tausend Mal gehörten Worte nochmals vornimmt, sie in Musik zu setzen, so kommt alles wieder und steht vor einem und bewegt die Seele.18

Der Wortlaut ist zwar nur im Gedächtnisprotokoll des „anekdotenreichen“19 Friedrich Rochlitz überliefert und in der Diktion im Einzelnen erkennbar protestantisiert („Gottesdienst“, „Abendmahl“). Aber es ist durchaus denkbar, dass Mozart sich durch den blasierten Dünkel eines aufgeklärten Bildungsprotestanten dazu herausgefordert sah, jedenfalls die Lebensechtheit einer sich vorrationalen religiösen Initiations- und Sozialisationsprozessen verdankenden Glaubensvertrautheit mit den immergleichen liturgischen Vollzügen zu verteidigen gegen den selbstgefälligen Überlegenheitsgestus der „aufgeklärten Protestanten, wie ihr euch nennt“. Ein religiöses ‚Bekenntnis‘ im engeren Sinn, also ein Glaubensbekenntnis, würde ich das trotzdem nicht nennen;20 deutliche Distanzindikatoren sind ja eingebaut („das geht freilich dann durch das Leben in der Welt verloren“). Mozart bekennt sich aber gewiss zu der Seelenintensität der katholischen Glaubenswelt, und zweifellos spricht aus diesen Worten ein kompositorischer Ernst, der es verbietet, Mozarts sakrales Werk als bloße Auftragsmusik zu bagatellisieren, deren Anfertigung er ohne innere Beteiligung hinter sich gebracht hätte. Ob diese innere Beteiligung explizit als religiös qualifiziert werden muss, ist dann noch eine andere Frage.

17 Gärtner 1997, 202. 18 Nissen 1984, 659; zitiert nach Gärtner 1997, 206–207. 19 Gärtner 1997, 202. 20 Gegen Gärtner 1997, 207. Gärtner, der generell stark apologetisch ausgerichtet ist, spricht sogar davon, „daß hier der Meister ein überzeugendes Bekenntnis abgelegt hat“.

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2. Musik für die Engel: Karl Barths theologisierte Mozartverehrung Es ist anzunehmen, dass dem großen Schweizer calvinistischen Theologen Karl Barth Mozarts Zornausbruch gegen den aufgeklärten Bildungsprotestantismus gut gefallen hat.21 Denn Barths theologisches Innovationspathos, mit dem er nach dem Ersten Weltkrieg die evangelische Theologie vom Kopf auf die Füße (oder von den Füßen auf den Kopf) zu stellen beanspruchte, speiste sich aus einer fundamental angelegten Polemik gegen die neuzeitliche Entwicklung der protestantischen Theologie. In dem verzweifelten Versuch, den Anschluss an die Moderne nicht zu verpassen, habe sie ihre genuine Aufgabe, die Verkündigung des Wortes Gottes zu reflektieren und dadurch zu fördern, aus den Augen verloren und sei faktisch zu einer Art Anthropologie mutiert. Schon in der Aufklärung, vollends aber bei und seit Friedrich Schleiermacher, habe die Theologie sich letztlich damit begnügt, statt von Gott „in etwas erhöhtem Ton vom Menschen [zu] reden“.22 Sie sei dadurch unfähig geworden, sich von den kulturellen Fehlentwicklungen der Moderne zu distanzieren. Dies sei 1914 in der kritiklosen Unterstützung der deutschen Kriegspolitik durch den deutschen Protestantismus manifest geworden, und 1933 sah Barth sich durch die nationalsozialistische Machtergreifung bestätigt, die er nicht als antimoderne Revolution, sondern als innere Konsequenz der Moderne interpretierte. Hier zeigt sich der kulturdiagnostische Hintergrund von Barths Polemik: Er liest die Neuzeit nämlich in umfassendem Sinn als das „Zeitalter des Absolutismus“ in der präzisen Bedeutung eines Zeitalters der ‚Loslösung‘. Nicht nur politisch, sondern auch wissenschaftlich, philosophisch, kulturell und lebensweltlich habe der Mensch sich von der Rückbindung an Gott ‚losgelöst‘ und beanspruche jetzt, das ‚absolute‘ Maß aller Dinge zu sein. „Absolutismus“, so Barth, „kann offenbar allgemein bedeuten: ein Lebenssystem, das gegründet ist

21 Barth kannte die Episode, erwähnt sie mehrmals, instrumentalisiert sie aber nicht für seine innerprotestantische Polemik. Einmal, in einem „Dankbrief an Mozart“, bekennt er sich dazu, „einer von den Protestanten“ zu sein, „von denen Sie einmal gesagt haben sollen, was es mit dem Agnus Dei, qui tollis peccata mundi auf sich habe, könnten wir wohl nicht so recht verstehen“, und weist dies milde zurück: „Entschuldigen Sie: wahrscheinlich sind Sie jetzt [sc. im Himmel] auch darüber besser unterrichtet“ (Barth1987, 9–8). Ein andermal konstatiert er schlicht Mozarts Katholizismus „(ohne besonderen kirchlichen Eifer)“ und fügt unkommentiert hinzu, dass „wir Protestanten ihm darum nicht recht gefallen konnten, weil wir unsere Religion (‚kann etwas Wahres daran sein, ich weiß es nicht‘) zu sehr ‚im Kopfe‘ hätten“ (Barth 1987, 15–16). 22 Barth 1990, 158.

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auf die gläubige Voraussetzung der Allmacht des menschlichen Vermögens.“23 In der seiner Geschichte der protestantischen Theologie im neunzehnten Jahrhundert vorgeschalteten langen Abhandlung „Der Mensch im 18. Jahrhundert“24 illustriert er dies u. a. an der Gartenkunst: Das achtzehnte Jahrhundert habe, „wenigstens in den höheren Ständen, ein sehr starkes Verhältnis zur Natur“ gehabt. Es sei aber „eine humanisierte, d. h. eine vom Menschen für sein Empfinden und Genießen zurecht gemachte, in Form gebrachte, eine idealisierte, und zwar am liebsten auch sichtbar idealisierte Natur, die dabei gemeint ist: der Bach als Springbrunnen, der See als reinlicher Teich, [. . .] der mit der Gartenschere modellierte Baum“.25 Diesem Anthropozentrismus sei auch die Theologie anheimgefallen, wenn sie sich etwa mit Schleiermacher als Auslegung des menschlichen „Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit“ entwerfe. Barths Gegenprojekt ist eine strikt theozentrische ‚dialektische Theologie‘, die konsequent ausgeht von der dem Menschen unverfügbaren Gottheit Gottes, der sich – und das macht die ‚Dialektik‘ aus – in seiner freien Offenbarung zugleich gibt und entzieht. Barth beruft sich dabei auch auf Kierkegaard und beansprucht, zentrale Einsichten der Reformation, namentlich bei Luther und Calvin,26 wieder neu zur Geltung zu bringen, die in der Neuzeit in Vergessenheit geraten seien. Was hat dies alles mit Mozart zu tun? Nun, wie bereits erwähnt, Barth war ein großer Mozartliebhaber. Und er hat diese seine musikalische Leidenschaft immer wieder auch öffentlich artikuliert. Während bei Barth selbst – wie zu zeigen sein wird – die fast schwärmerische Bewunderung im Vordergrund steht und der theologische Ansatz sich allenfalls andeutet, profiliert die von Barth angeregte und betreute Dissertation seines Schülers Karl Hammer, musikwissenschaftlich ungleich informierter und detaillierter, Mozarts Musik sehr viel schärfer im Kontext von Barths Neuzeitdeutung und etabliert auf dieser Grundlage einen typologischen Gegensatz zwischen Mozart und Beethoven. Doch zunächst zu Barth. Barth bekennt, „daß ich, wenn ich je in den Himmel kommen sollte, mich dort zunächst nach Mozart und dann erst nach Augustin und Thomas, nach Luther, Calvin und Schleiermacher erkundigen würde“.27 In einem an Mozart gerichteten „Dankesbrief“ schreibt er:  

Wie es mit der Musik dort steht, wo Sie sich jetzt befinden, ahne ich nur in Umrissen. Ich habe die Vermutung, die ich in dieser Hinsicht hege, einmal auf die Formel gebracht: ich sei

23 Barth 1981, 19. 24 Barth 1981, 16–59. 25 Barth 1981, 37. 26 Reservierter ist er gegenüber Zwingli und Melanchthon, die stärker vom Humanismus beeinflusst und dadurch in seinen Augen eher der Gefahr des Anthropozentrismus ausgesetzt waren. 27 Barth 1987, 8.

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nicht schlechthin sicher, ob die Engel, wenn sie im Lobe Gottes begriffen sind, gerade Bach spielen [eine ironische Spitze gegen die lutherische Bach-Monopolisierung ist unüberhörbar] – ich sei aber sicher, daß sie, wenn sie unter sich sind, Mozart spielten und daß ihnen dann doch auch der liebe Gott besonders gerne zuhört.28

Die Gründe für diese Vermutung (die zugleich die Gründe für Barths Mozartliebe sind) lassen sich in dem Begriff der Absichtslosigkeit zusammenfassen. Barth spricht betont vom „Spielen“: Zum täglichen Brot gehört auch das Spielen. [. . .] Ich höre in Mozart eine Kunst des Spielens, die ich so bei keinem anderen wahrnehme. Schönes Spielen setzt voraus: ein kindliches Wissen um die Mitte – weil um den Anfang und um das Ende – aller Dinge. Ich höre Mozart aus dieser Mitte heraus, von diesem Anfang und Ende her musizieren.29

An anderer Stelle rühmt er „die große freie Sachlichkeit [. . .], in der Mozart seinen Weg gegangen ist“:30 „Das Subjektive wird bei ihm nie Thema. Er hat die Musik nicht dazu benützt, sich über sich selbst, seine Lage, seine Stimmungen auszusprechen. [. . .] Mozarts Leben diente seiner Kunst, nicht sie ihm.“31 Diese sachorientierte Absichtslosigkeit macht seine Besonderheit aus. Mozarts Musik ist im Unterschied zu der von Bach keine Botschaft und im Unterschied zu der von Beethoven kein Lebensbekenntnis. Er musiziert keine Lehren und erst recht nicht sich selbst. [. . .] Mozart will nichts sagen, er singt und klingt nur eben. Und so drängt er dem Hörer nichts auf, verlangt von ihm keine Entscheidungen und Stellungnahmen, gibt ihn nur eben frei. [. . .] Er will auch nicht das Lob Gottes verkündigen. Er tut es nur eben faktisch: gerade in der Demut, in der er, gewissermaßen selber nur Instrument, nur eben hören läßt, was er offenbar hört, was aus Gottes Schöpfung auf ihn eindringt, in ihm emporsteigt, aus ihm hervorgehen will.32

Zur Absichtslosigkeit gehört auch die unbefangene Offenheit für die Fülle des Wirklichen, eine Universalität, aus der nichts a priori wertend ausgeschlossen ist.33 Mozart

28 Barth 1987, 12. Einschränkend fügt er allerdings hinzu: „Nun, die Alternative mag falsch sein.“ 29 Barth 1987, 8. 30 Barth 1987, 36. 31 Barth 1987, 36. Nicht in einem allgemeinen kunsttheoretischen Sinn, sondern konkret auf Mozart bezogen lehnt Barth denn auch einen Rückschluss vom Leben auf das Werk ab: „Ich wüsste keinen Fall, wo man den Charakter eines seiner Werke mit einiger Sicherheit aus einem gleichzeitigen Erlebnis seines Lebens erklären könnte, geschweige denn, dass aus ihrer Folge so etwas wie eine biographische Linie abzulesen wäre“ (Barth 1987, 36). 32 Barth 1987, 25–26. 33 Vgl. Barth 1987, 23: „Mozart ist universal.“

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musizierte das wirkliche Leben in seiner Zwiespältigkeit, aber ihr zum Trotz auf dem Hintergrund der guten Schöpfung Gottes [. . .]. Es gibt bei ihm keine Flachheiten, aber auch keine Untiefen. Er macht es sich nicht billig. Er lässt sich aber auch nicht gehen, er leistet sich keine Exzesse. Er sagt bloß begrenzend, wie alles ist. Darin ist seine Musik schön, wohltuend, bewegend.34

Ausdrücklich äußert sich Barth auch zu Mozarts „oft (auch von ernsthaften Kennern) beanstandeten Kirchenmusik“.35 Gegen den Vorwurf, sie sei „zu weltlich, ja opernhaft“, verteidigt er Mozart mit dem Argument, zwar folge dieser in der Tat nicht dem „bekannte(n) Programm: es habe der Ton dem Wort nur zu dienen, dieses nur auszulegen“;36 jedoch sei dies auch nicht die einzig mögliche Form des musikalischen Umgangs mit dem Text. Bei Mozart sei der Ton stattdessen „in seiner kirchlichen wie in seiner sonstigen Musik ein freies Gegenbild zu dem ihm jeweils vorgegebenen Wort. [. . .] Er entspricht ihm – und das heißt allerdings: er bekommt und hat ihm gegenüber ein eigenes Leben.“37 Mozart „hört, er respektiert das Wort in seinem bestimmten Gehalt und Charakter hier wie dort [in den Opern wie in den Messen], aber dann macht er hier wie dort Musik, seine Musik dazu – ein durch das Wort gebundenes, aber in seiner Bindung daran auch souveränes Gebilde eigener Art“.38 Die Frage des angemessenen musikalischen Umgangs mit dem Text müsse dann jeweils am Einzelfall entschieden werden. Dies dürfe nicht „voreingenommen durch eine allgemeine Unterscheidung von geistlicher und weltlicher Musik“39 erfolgen. Überhaupt betont Barth, dass „auch Mozarts kirchlicher Ton von einem Ort aus vernommen und wiedergegeben ist, von dem her zwar nicht Gott und die Welt in eines zu setzen, wohl aber die Kirche und die Welt (auch sie nicht zu verwechseln noch zu vertauschen) in ihrer bloß relativen Unterschiedenheit, in ihrer letzten Zusammengehörigkeit erkennbar und erkannt sind: beide von Gott her, beide zu Gott hin“.40 In Barths Mozart-Texten – allesamt Gelegenheitsschriften populären Anlasses – bleiben sein theologischer Ansatz und seine Neuzeitdeutung dezent im Hintergrund, allenfalls indirekt kommt in der Betonung des Absichtslos-Sachorientierten eine Distanz zum Absichtsvoll-Selbstzentrierten, das er der Moderne

34 Barth 1987, 22–23. In der Rede „Mozarts Freiheit“ unterscheidet er diese „mozartische Mitte“ polemisch von der bei „dem großen Theologen Schleiermacher“ diagnostizierten Mitte „des Ausgleichs, der Neutralität und schließlich der Indifferenz“ (Barth 1987, 42). 35 Barth 1987, 26–28, hier 26. 36 Barth 1987, 26–28, hier 26. 37 Barth 1987, 26–27. 38 Barth 1987, 27. 39 Barth 1987, 27. 40 Barth 1987, 27–28.

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zuschreibt, zum Vorschein. Gelegentlich streut Barth sogar irenische Bemerkungen ein: „Gegen keinen von den anderen [sc. großen Komponisten] soll damit auch nur ein Wort gesagt sein. Nur eben dies: daß ich mich in diesem Sinn nur zu Mozart bekennen kann.“41 Sehr viel pointierter zur Sache geht hingegen die bereits angesprochene Dissertation von Karl Hammer, die sich schon im Titel als „eine theologische Deutung“ vorstellt.42 In den Grundzügen folgt Hammer der Mozart-Deutung seines Lehrers Barth und führt sie kenntnisreich und detailliert am ganzen Spektrum von Mozarts Werk durch, von den Opern bis zu den Messen. Aber er theologisiert sie zugleich radikal bzw. – wenn man Barths Einverständnis mit diesem Vorgehen unterstellt – er entfaltet die theologischen Implikationen dieser Deutung mit großer Konsequenz und Unerschrockenheit. Der dritte Teil der Arbeit untersucht etwa „Mozarts Musik im Licht des Evangeliums“ (283–320). Dabei wird Mozarts Werk in seiner Universalität und „größtmögliche[n] Vielfalt“ (287) als „Gleichnis“ für die „gehaltliche Vielgestaltigkeit und Totalität des Kosmos“ (287– 288) bezeichnet und daraufhin Beethoven als ihrem „instruktivsten Antityp“ (292) gegenübergestellt, ehe auf dieser Folie Mozarts Musik als Ausdruck einer evangeliumsgemäßen Anthropologie etabliert wird. Dieses in der Tat instruktive Vorgehen will ich abschließend noch kurz skizzieren. Hammer geht von der Diagnose aus, dass Beethovens Musik von einer „tiefen Disharmonie“ geprägt sei, die „gerade als solche das Idol unzählig vieler, bewußt ‚moderner‘ Menschen“ darstelle (292). Hammer sieht diese „Disharmonie“ darin gegründet, dass Beethovens Musik „den Lebenskampf des Individualisten (verkünde)“ (292). Dieser Kampf sei aber nicht „getragen [. . .] von wirklich starker Hoffnung und Zuversicht“ (293). Dies sei nicht überraschend, denn es sei „der Kampf individueller Selbstbehauptung“ (293). Beethoven sei zwar „kein Atheist“ (293): „Aber ein Vertrauen, welches zuerst und vor allem anderen Selbstvertrauen ist und als solches das Gottvertrauen erst sekundär, nachträglich und erst dann, wenn es nicht anders zu gehen scheint, zu Hilfe nimmt, muß notwendig zu schwach sein, um diesen Kampf glücklich führen zu können.“ (293) Entsprechend sei bei Beethoven „alles auf das Unten, das Irden-Menschliche, das eigene Selbst und seine Kraft gesetzt und gebaut“ (294). Etwas grundsätzlicher gefasst, lautet Hammers Urteil: „Beethovens Weg zur Lebensbewältigung ist der eines einsamen

41 Barth, 1987, 8 und 43, zum Stichwort „Mozart und die anderen Musiker“ die Einleitung: „Befürchten Sie nicht, jetzt noch etwas Fanatisches von mir zu hören, was dann gewiß nur etwas sehr Unmozartisches sein könnte!“ 42 Hammer 2005 [offenbar vom Vf. im Eigenverlag verantworteter unveränderter Nachdruck der Erstausgabe, was aber nicht angegeben ist; auch fehlen Erscheinungsort und -jahr der Erstausgabe (Zürich 1964)]. Die folgenden Belege im Text beziehen sich auf dieses Werk.

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Individualisten, des im kantischen wie faustischen Sinne in moralischem Rigorismus und zähem Kampf um das ‚moralische Gesetz in sich‘ sich einsetzenden Menschen, der keine Nach- und Rücksichten gegen sich und andere kennt.“ (295) Und Hammer fragt: „Ist es nicht der ewige Pharisäer, welcher mit Gott rechten und rechnen zu können meint, der sich hier überall zu Worte meldet?“ (295) Buchstäblich im Kleingedruckten weist Hammer darauf hin, dass es ihm nicht darum gehe, „über Beethoven ‚vom grünen Tisch‘ den Stab zu brechen. Dies wäre [wie er maliziös hinzufügt] gerade allzu beethovenisch und gewiß nicht nach dem Evangelium, dessen wiederholte Warnung ‚Richtet nicht!‘ ja nur eine ins Neue Testament verlängerte Interpretation der Geschichte vom Sündenfall ist.“ (297) Am Urteil, dass sich hier „in evangelischer Sicht eine der mozartschen entgegengesetzte Haltung“ (294) artikuliere, ändert dies allerdings ebenso wenig wie die gleichsam zähneknirschend eingeräumte Einsicht, „daß es außer dem unnahbaren Heroen Beethoven auch einen anderen, leichter aufzunehmenden Beethoven“ gebe (297),43 der aber letztlich doch nicht „dasselbe Gewicht beanspruchen“ dürfe (298). Dass angesichts einer solchen Alternative „aus evangelischer Sicht“ nur Mozart in Betracht kommt, liegt auf der Hand. In einer Art Dogmatik im Grundriss will Hammer nun zeigen, dass sich in Mozarts Musik ein der Bibel entsprechendes Bild des Menschen abspiegelt: „Wo Beethoven um die Freiheit und Befreiung des Individuums ringt, da steht bei Mozart die Vielfalt und Gemeinsamkeit von in Freiheit entlassenen Menschen.“ (299) Dabei stellt Hammer mitunter recht unvermittelte Beziehungen zwischen Bibel und Mozart her. Dies kann und muss nicht im Einzelnen entfaltet werden. Als Beispiel nenne ich nur die Konvergenz, die Hammer zu erkennen meint zwischen Mozarts Darstellung der Liebe und dem neutestamentlichen Liebesverständnis: „Wieviel diese ungeheuchelte Liebe fertigbringt, welcher Überwindung von Strapazen und Opferbereitschaft sie fähig ist, davon hat in lebendiger Anschaulichkeit von 1. Kor 13,4–7 Mozart in seinen Opern einen vielfältigen Kommentar gegeben.“ (304)44 Diese Deutung dokumentiert in ihrer Einseitigkeit jenes „Fanatische“, das Barth selbst doch als „etwas sehr Unmozartisches“ vermeiden wollte. Sie macht zudem aus Mozart auf ihre Weise ebenso ein unvergleichliches, gleichsam extraterrestrisches Wesen, wie es auf seine Weise das neunzehnten Jahrhundert tat, das ihn als kindlich-heiteres Genie kategorisierte. Mindestens einen guten Effekt

43 Vgl. Hammer 2005: „Neben, ja zwischen der III., V., VII. und IX. stehen die I., II., IV., VI. und VIII. Symphonie.“ 44 Vgl. in Hammer 2005 die Fortsetzung: „An welchen Gestalten der Weltliteratur und Musikliteratur würde es klarer, daß diese Liebe ‚alles erträgt, glaubt, hofft, erduldet‘ (V. 7), als an Donna Elvira, selbst Don Ottavio im Gegensatz von Donna Anna, oder der Gräfin?“

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hatte sie allerdings: Die Liebe zu Mozart nötigte seine theologisierenden Verehrer, die Fülle, Vielfalt und Vielspältigkeit der irdischen Wirklichkeit, wie sie sich etwa in seinen Opern (und vielleicht auch in seinem Leben) artikuliert, ernster zu nehmen, für Zwischentöne im wörtlichen wie im übertragenen Sinn aufmerksamer zu werden und so mehr ‚Welt‘ in ihr theologisches Denken hinein zu lassen. Dafür bedarf es indes der Dämonisierung Beethovens nicht. Sie hat, wenn ich recht sehe, auch keine Nachfolger gefunden.

Literatur Barth, Karl: „Dankbrief an Mozart“, in: Ders.: Wolfgang Amadeus Mozart, in: Ders.: Wolfgang Amadeus Mozart: 1756/1956. 12. Aufl. Zürich 1987, 9–13. Barth, Karl: „Bekenntnis zu Mozart“, in: Ders.: Wolfgang Amadeus Mozart: 1756 /1956. 12. Aufl. Zürich 1987, 15–29. Barth, Karl: „Mozarts Freiheit“, in: Ders.: Wolfgang AmadeusMozart: 1756/1956, 12. Aufl. Zürich 1987, 31–46. Barth, Karl: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, 4. Aufl. Zürich 1981. Barth, Karl: Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie (1922), in: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 3 (Teilbd. 4): Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, hrsg. von Holger Finze. Zürich 1990, 144–175. Fellerer, Karl Gustav: Die Kirchenmusik W. A. Mozarts. Laaber 1985. Gärtner, Heinz: Mozart und der „liebe Gott“. Genie zwischen Gläubigkeit und Lebenslust: Die Geschichte seiner Kirchenmusik. München 1997. Hammer, Karl: W.A. Mozart – eine theologische Deutung. Ein Beitrag zur theologischen Anthropologie. Weil am Rhein 2005. Herten, Jochim/Klaus Röhring (Hg.): Wie hast Du’s mit der Religion? Wolfgang Amadeus Mozart und die Theologie. Würzburg 2009. Nissen, Georg Nikolaus von: Biographie W. A. Mozarts. Neudruck Hildesheim 1984. Oberdorfer, Bernd: Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit. Die Theorieentwicklung Friedrich Schleiermachers bis 1799. Berlin, New York 1995. Oberdorfer, Bernd: „‚Die geheime Kraft, vor Gott und Menschen angenehm zu machen‘. Lessings ‚Nathan der Weise‘ und die Humanisierung der Religionen“, in: Jan Rohls/Gunther Wenz (Hg.): Protestantismus und deutsche Literatur. Göttingen 2004, 107–124. Schuler, Heinz: „Mozart in der Wohlthätigkeit“, in: Mitteilungen der Internationalen Stiftung Mozarteum, 36. Jg., H. 1–4. Tschugnall, Peter (Hg.): Mozart und die Religion. Anif/Salzburg 2009.

Bernhard Hofmann

Smart Phono – Mozart und andere Effekte Die Frage nach den Resonanzen Mozarts lässt sich nicht nur in historischer und theoretischer Perspektive entfalten, sondern – wenn auch begrenzt – auch mit Methoden empirischer Forschung. Der folgende Beitrag skizziert psychologische und neurobiologische Studien, die nicht nur in der Wissenschaft, sondern in der pädagogischen und bildungspolitischen Diskussion deutlich vernehmbaren Widerhall fanden. Die Studie erschien 1993 in der Zeitschrift Nature, einem der renommiertesten Wissenschaftsjournale der Welt.1 Ein kurzer Artikel berichtete von einem sensationellen Befund. Die Psychologinnen Frances Rauscher und Katherine Ky sowie der Physiker Gordon Shaw vom Zentrum für Neurobiologie des Lernens und des Gedächtnisses der University of California präsentierten die Ergebnisse eines Experiments, die aufhorchen ließen. 36 College-Studenten hatten drei Serien von Aufgaben zur räumlichen Wahrnehmung aus einem Intelligenztest bearbeitet. Unmittelbar vor den Tests wurden die Probandinnen drei verschiedenen, je zehn Minuten langen Hörsituationen ausgesetzt. Sie hörten Stille oder Instruktionen zur Entspannung bzw. Blutdrucksenkung – oder sie hörten die Sonate für 2 Klaviere KV 448 von Wolfgang Amadeus Mozart. Rauscher und Kollegen fanden heraus, dass die Studierenden nach dem Hören der Mozart-Sonate signifikant bessere Testleistungen erzielten als nach den beiden anderen Bedingungen. Umgerechnet in IQ-Werte lagen die Ergebnisse nach dem Hören von Mozart acht bis neun Punkte höher, im Durchschnitt also ein IQ-Wert von 119 nach Mozart gegenüber 111 nach der Entspannungsinstruktion und 110 Punkte nach der Stille. Konnte die Ursache für diesen Effekt womöglich in einer Änderung des allgemeinen Aktivierungszustandes zu suchen sein? Die Forscher maßen die Herzschlagfrequenz der Studienteilnehmerinnen jeweils vor und nach den drei diversen Treatments. Die Pulsraten unterschieden sich bei den drei Versuchsbedingungen jedoch nicht. Daraus schlossen die Forscher, dass die vegetative Aktivierung bei allen drei Bedingungen identisch war. Somit konnten die unterschiedlichen kognitiven Leistungen nicht auf einen allgemeinen, unspezifischen Effekt zurückgeführt werden, aber auf die Musik.

1 Rauscher 1993.

DOI 10.1515/9783110492989-011

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Abb. 1: Nach Rauscher et al. 1993, 611.

Die Forschergruppe räumte zwar ein, dass ein einziges Musikbeispiel eines einzigen Komponisten keine Rückschlüsse auf andere Musikstile erlaube. Und sie stellte auch heraus, dass die beobachtete Verbesserung der Testleistungen nur zeitlich begrenzt auftrat und nicht länger als 10–15 Minuten anhielt. Doch interpretierten die Autorinnen ihre Ergebnisse nicht als Korrelation, sondern als kausale Beziehung zwischen Musik, Musik-Kognition und der Fähigkeit zu räumlich-zeitlichem Denken – anders gesagt: Sie vertraten die These, dass die Ursache für die Verbesserung in der Musik selbst bzw. in der Musikverarbeitung im Gehirn zu suchen sei. Die Forschergruppe prophezeite: „Wir sagen voraus, dass Musik, der es an Komplexität mangelt oder die sich wiederholt, abstraktes Denken wahrscheinlich eher stört als verbessert“2 – das würde z. B. auf Musik von Carl Orff ebenso zutreffen wie für Minimal Music von Steve Reich oder auf Techno von Sven Väth. Diese Studie löste Mozart-Resonanzen der besonderen Art aus. Medien prägten die griffige Formel vom „Mozart-Effekt“ – und in dieser Aufmachung geriet der Befund zur weltweiten Sensation. Mozart macht schlau! Klug durch Klang! Das schien nun wissenschaftlich bewiesen. Und wenn schon zehn Minuten langes Mozarthören solch einen Effekt zeitigte, wie würde sich dann erst regelmäßiges und häufiges Mozarthören auswirken, zumal in der frühkindlichen

2 Rauscher 1993, im englischen Original: „We predict that music lacking complexity or which is repetitive may interfere with, rather than enhance, abstract reasoning.“

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Entwicklung, wenn die Formbarkeit des Gehirns am größten ist? Hier schien sich ein musikpädagogischer Königsweg aufzutun, eine mühelose Methode, um Kinder gescheit zu machen: Fort mit dem Nürnberger Trichter, her mit dem Salzburger Smart Phono. Die Begeisterung blieb nicht ohne Konsequenz, nicht ohne Mozart-EffektEffekt, sozusagen. Zell Miller, Gouverneur von Georgia, ordnete an, dass dem Geschenkpaket, das alle neugeborenen Babys bzw. ihre Eltern im US-Bundesstaat erhielten, eine CD mit klassischer Musik beizulegen sei: Das Hören von Musik im frühkindlichen Alter, so Miller, fördere „das räumliche und zeitliche Denken, das die Grundlage für Mathematik, Ingenieurwissenschaften und sogar Schach bildet“.3 Ein Abgeordneter fragte nach, ob diese CD nicht auch andere Musik enthalten könnte, zum Beispiel Musik des Country-Sängers Charlie Daniels. Er bekam zur Antwort, klassische Musik habe größeren positiven Effekt.4 Der US-Bundesstaat Florida verpflichtete alle staatlich geförderten Einrichtungen zur Kinderbetreuung und -erziehung dazu, alle Kinder unter fünf Jahren jeden Tag 30 Minuten lang klassische Musik hören zu lassen. „Mozart-Effekt“ – diese Formel wurde als geschütztes Markenzeichen eingetragen. Es bildet die Grundlage eines offenbar recht einträglichen Geschäftsmodells, das an der Schnittstelle von Esoterik, Musik, Ideologie, Geschäftssinn und Populärwissenschaft lagert. „Entdecken Sie die transformatorischen Kräfte der Musik für Gesundheit, Erziehung und Wohlfühlen“ – so lockt die Website „Mozarteffect.com“.5 Und man findet dort ein reichhaltiges Angebot: CDs zur Förderung der geistigen Entwicklung von Kindern, CDs zur Entspannung des gestressten Vorstandsvorsitzenden. Eine CD mit Musik, die „das Gehirn auflädt“,6 ist gerade im Sonderangebot, man kann sie zum Sonderpreis von 9,95 Dollar bestellen. Als Begleitlektüre preist sich das Buch The Mozart Effect von Don Campbell7 an – Campbell war es, der sich den Begriff „Mozart-Effekt“ patentieren ließ. In seiner Schrift erzählt er wunderbare Dinge. So berichtet er, er „habe durch Summen, Beten und Selbst-Suggestion von einer vibrierenden Hand an der rechten Seite seines Schädels ein Blutgerinnsel im Hirn verschwinden lassen“ – für den Neurologen Lutz Jäncke „eine wohlfeile Behauptung“ jener Sorte, „die weder bewiesen noch widerlegt werden“ könne.8 Jäncke fragt spitz nach, wie

3 4 5 6 7 8

Sack 1998. Sack 1998. http://www.mozarteffect.com (2. Oktober 2015). http://www.mozarteffect.com (2. Oktober 2015). Campbell 1997. Jäncke 2009, 35.

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sich, da Musik doch so heilsam sei, in Campbells Hirn überhaupt ein Gerinnsel entwickeln konnte. Habe er „vielleicht versehentlich Rap gehört“?9

„Mozart-Effekt“ – Neurophysiologische Grundlagen Bei aller Mozart-Effekt-Hascherei rückte in den Hintergrund, dass die Untersuchung von Rauscher, Shaw und Ky solch steile Interpretationen weder vorbringt noch stützt. Denn die Studie fußt auf neuropsychologischen Grundannahmen, die sich seriös und durchaus nicht reißerisch ausnehmen. Shaw und Kollegen hatten sie in den 1980er Jahren in angesehenen wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht.10 Es handelt sich um sogenannte kolumnare kortikale Strukturen. Die Annahme ist folgende: Bestimmte Denk- und Wahrnehmungsprozesse sind mit jeweils spezifischen Aktivierungsmustern im Gehirn gekoppelt. Shaw unterscheidet zwei unterschiedliche Typen des Denkens, zwei unterschiedliche Typen intellektueller Funktionen, nämlich 1. sprachlich-analytisches Denken und 2. räumlich-zeitliches Denken. Beide Denktypen, so Shaw, sind grundlegend für unser Problemlösen und für unsere Kreativität, sie dienen uns abwechselnd als Strategien. Die sprachlich-analytische Strategie steht vor allem dann im Vordergrund, wenn wir zu verbalen oder quantitativen Ergebnissen kommen. Die Strategie des räumlich-zeitlichen Denkens fungiert bei der Verarbeitung mentaler Bilder, und wir nutzen sie bei der Lösung von entsprechenden Problemen, zum Beispiel beim Schachspiel, wenn wir mehrere Züge im Voraus planen – so Shaw. Räumlichzeitliche Verarbeitungsmuster, so der Forscher, sind zudem grundlegend für kognitive Prozesse beim mathematischen Problemlösen, beim Schlussfolgern, beim logischen Denken. Die dafür spezifische Hirnaktivierung löst, so Shaws Annahme, ikonische Verarbeitungsstrategien aus, also bildhafte Vorstellungen und Visualisierungen. Diese räumlich-zeitliche Hirnaktivität spielt auch bei der Wahrnehmung und Verarbeitung bestimmter Musikstücke eine große Rolle. Wenn aber, so Shaws These, sich bei der Verarbeitung von Musik strukturelle Nähe zu jener räumlich-zeitlichen Hirnaktivität zeigt, die für das Lösen von räumlichen Denkaufgaben spezifisch ist, dann müsste sich eine Stimulierung des Gehirns durch Musikwahrnehmung und -verarbeitung positiv auf das Lösen dieser Denkaufgaben auswirken. Die Aktivierung durch Musik dient den Hirnarealen gewis-

9 Jäncke 2009, 35. 10 Shaw u. a. 1985.  

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sermaßen zur Vorbereitung und Übung, Musik öffnet, so Shaw, ein „Fenster zu höheren Hirnfunktionen“.11

Aber warum gerade Mozart? Shaw und Rauscher gingen davon aus, dass Mozart schon im Alter von vier Jahren komponiert habe und in der Lage gewesen sei, eine vollständige Komposition niederzuschreiben, ohne dabei auch nur eine einzige Note zu ändern.12 Doch der Zusammenhang mit dem Experiment bleibt unklar – wie ist er zu verstehen? Hierzu haben die Forscher nur wenig geäußert. Lutz Jäncke rekonstruiert die Argumentationskette so:13 Offenbar diente den Forschern diese Aussage als Indiz, Mozart „außergewöhnliche Fähigkeiten im Hinblick auf die Visualisierung von Noten“ und herausragende Lern- und Gedächtnisleistungen zu attestieren.14 Vermutlich gingen sie davon aus, dass sich diese Leistungen in der von Mozart komponierten Musik „niedergeschlagen“ hätten, sodass in der Musik gewissermaßen ein klingendes Abbild jener Aktivierungsmuster erscheint, die Mozarts Hirn beim Kompositionsprozess zeigte. Umgekehrt sollte wohl die spezifische Komplexität der Musik beim Hörer dieselben „Hirnaktivierungen“ bewirken, welche „bei Mozart vorlagen, als er die Musik komponierte“.15 „Rauscher und Shaw“ so der Neurologe, „haben zwar nie explizit den Bezug zu Mozarts Hirnaktivierungen gezogen, aber aus den wenigen ihrer diesbezüglichen Zitate ist für mich nur diese logische Schlussfolgerung nachvollziehbar.“16

„Mozart“- und „Adagio“-Effekt: Replikationen Als Goldwährung für die Absicherung von Forschungsergebnissen gilt in den experimentellen Wissenschaften die sogenannte Replikation. Wenn Versuche unter gleichen Bedingungen wiederholt werden, sollten sie zu gleichen Ergebnissen führen. Solche Replikationen können dann zusammengefasst und miteinander verglichen werden, das erfolgt in so genannten Metaanalysen. Auch zum Mozart-Effekt wurden Replikationen und Metaanalysen angestellt. Ergeb-

11 12 13 14 15 16

Shaw 2004, 36. Shaw 2001, 611. Jäncke 2009, 27. Jäncke 2009, 27. Jäncke 2009, 27. Jäncke 2009, 27.

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nisse einer Studie von Christopher Chabris publizierte erneut die Zeitschrift Nature.17 Er wertete 16 Arbeiten aus, die in einem Zeitraum von fünf Jahren in wissenschaftlichen Zeitschriften erschienen waren. In diesen Studien wurden 20 Experimente mit einer „Mozart“ versus „Ruhe“-Bedingung beschrieben. Alle Studien verwendeten die Klaviersonate KV 448, alle insgesamt 714 Versuchspersonen wurden dieser Sonate zehn Minuten lange ausgesetzt. Die Studien verwendeten jedoch unterschiedliche Aufgaben aus unterschiedlichen Tests, also nicht nur Papierfaltaufgaben, sondern auch Tests zur nonverbalen Intelligenz, Arbeitsgedächtnisaufgaben oder Kurzzeitgedächtnistests. Chabris konnte über alle psychologischen Tests keine bzw. nur geringfügige Unterschiede in den Teilleistungen zwischen der Mozart- und der Ruhebedingung feststellen. Bei Tests, die das räumlich-zeitliche Verarbeiten maßen, fand sich zwar ein leicht positiver Unterschied von 2,1 IQ-Punkten, bei Tests zum abstrakten Denken ergab sich ein leicht negativer Zusammenhang (0,2 IQ-Punkte). Die Werte von Rauscher, Shaw und Ky ließen sich in den Replikationsstudien auch nicht annähernd erzielen.18 Allerdings ist weiter zu bedenken, dass Replikationsstudien in pädagogischen und psychologischen Domänen notwendiger Weise immer unter veränderten Bedingungen stattfinden – Faktoren wie Tageszeit, Ernährungszustand der Probanden, Laborausstattung etc. lassen sich kaum einheitlich gestalten; auch können unbewusste Einflussnahmen von Versuchsleitern das Ergebnis beeinflussen. Die von den Medien suggerierte Annahme, das Hören mozartscher Musik wirke sich fördernd auf die allgemeine Intelligenz aus, war freilich nicht länger aufrecht zu erhalten – eine Behauptung, die Rauscher, Shaw und Ky indes auch nie aufgestellt hatten. Ihre Studie lieferte Anhaltspunkte dafür, dass sich das Hören eines Mozart-Stücks auf den Bereich räumlich-visueller Fähigkeiten positiv ausgewirkt hatte. Bei aller Mozart-Effekt-Manie blieb zudem unbeachtet, dass zwischen kurzfristigen und langfristigen kognitiven Effekten ein entscheidender Unterschied besteht. Und darauf hatten Rauscher, Shaw und Ky ausdrücklich hingewiesen. Der Schluss von kurzfristigen auf langfristige Effekte des Musikhörens ist daher ein Kurzschluss, der aus wissenschaftlicher Sicht nicht belegt und unzulässig ist. Um den vermuteten Zusammenhang zwischen Hirnaktivitäten beim Problemlösen, Hören und musikalischer Struktur zu belegen, wählten Rauscher und andere ein alternatives Verfahren. Wenn dieser neurologische Zusammenhang bestünde, wenn Mozarts Musik also spezifische Hirnaktivitäten beeinflussen und

17 Chabris 1999. 18 Chabris 1999.

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das Problemlösen verbessern könnte, so müsste sich dieser Effekt nicht allein bei Menschen, sondern auch bei Tieren zeigen. So führten Rauscher, Robinson und Jens Experimente mit Ratten durch.19 Die Tiere wurden in Gruppen eingeteilt und im Mutterleib und 60 weitere Tage nach der Geburt vier verschiedenen Hörbedingungen ausgesetzt, nämlich der Mozart-Sonate (KV 448), einem Minimal-MusicStück von Philip Glass, weißem Rauschen oder Stille. Anschließend wurden sie fünf Tage lang getestet: bei drei Versuchen täglich sollten sich die Nager in einem Labyrinth zurechtfinden. Bereits am dritten Testtag bewältigten die Mozart-Ratten die Aufgabe schneller und mit weniger Fehlern als die anderen Versuchstiere, und der Leistungsunterschied steigerte sich bis zum fünften Versuchstag. Damit, so die Forschungsgruppe, sei die These der neurophysiologischen Mechanismen beim Musikhören erhärtet. Allerdings konnte Kenneth Steele von der Appalachian State University in Boone, North Carolina, diese Studie widerlegen.20 Er machte darauf aufmerksam, dass Ratten taub geboren werden und im Mutterleib nichts hören können. Ferner zeigte er, dass das Gehör von Ratten für einen anderen Frequenzausschnitt empfänglich ist als das der Menschen. Anders gewendet: Ratten können einen Großteil der Töne in Mozarts Sonate schlicht nicht wahrnehmen. Steele zufolge lassen sich die Ergebnisse der Untersuchung von Rauscher und ihren Kollegen mit methodischen Fehlern wie Selektions- und Experimentatoreffekten erklären: Demnach wurde die Zuordnung der Ratten zur Versuchs- und Kontrollgruppe nicht vollständig nach dem Zufallsprinzip vorgenommen, und es ist ebenfalls wahrscheinlich, dass die Erwartungshaltung der Versuchsleiter Einfluss auf das Ergebnis genommen hat. Doch das beantwortet noch nicht die Frage, welche Ursache jener MozartEffekt hatte, der in manchen Studien zwar in unterschiedlicher Stärke, aber eben doch wahrnehmbar auftrat. Eine plausible Erklärung konnten die kanadischen Wissenschaftler William Thompson, Glenn Schellenberg und Gabriela Husain 2001 elegant herausarbeiten.21 Auch sie ließen 24 Studierende unterschiedlichen Alters die bekannten Papierfalt-Testaufgaben lösen, und sie setzten sie zuvor verschiedenen Bedingungen aus, nämlich zehn Minuten Hören der Mozart-Sonate, zehn Minuten Stille – oder zehn Minuten Hören jenes berühmten Adagio in g-moll, das gemeinhin Tomaso Albinoni zugeschrieben wird, aber tatsächlich wohl von Remo Giazotto stammt.

19 Rauscher/Robinson/Jens 1998. 20 Steele 2003. 21 Thompson/Schellenberg/Husain 2001.

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Um sicherzustellen, dass die Testpersonen der Musik konzentriert lauschten, wurde ihnen mitgeteilt, dass sie nach dem Hören zu diesen Musikstücken befragt würden. Dies erfolgte dadurch, dass die Probanden anhand eines Fragebogens ihre Stimmung beim Musikhören bewerteten. Bei der ersten Auswertung ergab sich das gewohnte Bild: Nach dem Hören der Mozart-Sonate wurden bessere Testleistungen erzielt als nach der RuheBedingung. Insofern schien sich der Mozart-Effekt zu bestätigen. Interessanterweise ergab die Auswertung der Adagio-Bedingung ein anderes Ergebnis: Hier lag die Leistung deutlich niedriger als bei der Mozartbedingung. Die Ergebnisse nach dem Hören des Adagios unterschritten sogar diejenigen, welche nach der Stille erbracht wurden. Die genauere Analyse erbrachte interessante Erkenntnisse. Bei der Auswertung der Fragebogen zeigte sich nämlich, dass die Mozarthörer durchwegs angaben, beim Hören freudig erregt und gehobener Stimmung gewesen zu sein, während die Adagio-Hörer eher gedämpfte Stimmung und geringere Erregung vermeldeten. Dieser Befund zeigt: Ursächlich für die besseren Leistungen waren offensichtlich weder die Struktur mozartscher Musik noch die Analogien von Hirnaktivitäten beim Hören und Problemlösen. Vielmehr erklärte sich die Leistungssteigerung schlicht dadurch, dass sich die Mozarthörer in wohlgespannter Erregung und besserer Stimmung befanden. Dieses Ergebnis bestätigte sich statistisch. Nachdem die Forscher die Einflussfaktoren der Stimmung herausgerechnet hatten, konnte kein Leistungsunterschied der Mozart- und der Adagio-Bedingung mehr festgestellt werden. Und das Ergebnis bestätigte sich in weiteren Studien. So fanden Nantais und Schellenberg, dass sich ähnliche Effekte auch nach dem Hören einer Sonate von Schubert zeigten. Als Bedingung führten sie außer Musik und Stille auch das Vorlesen einer spannenden Kurzgeschichte von Stephen King ein – die Forscher gingen davon aus, dass die Probanden auch dadurch in Spannung und Erregung versetzt würden, und in der Tat zeigte sich hier ein interessantes Ergebnis: Auf die Frage, ob sie die Musik oder das Vorlesen bevorzugt hätten, entschieden sich etwa gleich viele Probanden für eine der beiden Bedingungen. Und es zeigte sich, dass diese Präferenz die Leistungen beeinflusste: Die Musikfans unter den Probanden erzielten bessere Ergebnisse nach der Musikbedingung, die Geschichtenliebhaber bessere Ergebnisse nach dem Vorlesen.

Fazit: Macht Mozart klug? Der Mozart-Effekt führte zu heißen Diskussionen und weithin vernehmbaren Mozart-Resonanzen. Rauscher, Shaw und anderen wurde zwar weltweites Me-

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dienecho und viel Aufmerksamkeit zuteil, doch schlagzeilenhafte Verkürzungen und Missverständnisse verzerrten ihre Ergebnisse. Zusammengefasst lässt sich feststellen: 1. Ein Zusammenhang zwischen Musikhören, insbesondere zwischen dem Hören einer bestimmten Mozart-Sonate und Problemlösen lässt sich nicht zweifelsfrei nachweisen. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass sich bei einigen Versuchspersonen beim Hören der Mozartsonate ein Hirnaktivierungsmuster einstellt, das eine optimale Grundlage für die Testbearbeitung gibt. 2. Fördernde Effekte traten auch nach dem Hören anderer Stimuli, zum Beispiel dem Vorlesen einer Geschichte auf. 3. Die Effekte lassen sich auf die Struktur von Musik nicht zurückführen, wohl aber auf subjektiv erlebte Stimmungen und persönliche Präferenzen. Auch wenn man in der Forschung nie ‚nie‘ sagen sollte – Hoffnungen, Kinder via Mozart zu Wunderkindern zu machen und per Smart Phono fernzusteuern,22 sind, jedenfalls derzeit, unbegründet.

Literatur Campbell, Don G.: The Mozart Effect: Tapping the Power of Music to Heal the Body, Strengthen the Mind, and Unlock the Creative Spirit. New York 1997. Chabris, Christopher F.: „Prelude or requiem für the ‚Mozart effect‘“?, in: Nature, Vol. 400, 8 (1999), 826–827. Jäncke, Lutz: Macht Musik Schlau? Neue Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften und der kognitiven Psychologie. Bern 2009. Rauscher, Frances (H.)/Shaw, Gordon L./Ky, Katherine N.: „Music and spatial task performance“, in: Nature, Vol. 365 (1993), 611. Rauscher, Frances H. u. a.: „Listening to Mozart enhances spatial-temporal reasoning: Towards a neurophysiological basis“, in: Neuroscience Letters, Vol. 185 (1), 2 (1995), 44–47. Rauscher, Frances H. u. a.: „Music training causes long-term enhancement of preschool children’s spatial-temporal reasoning“, in: Neurological Research, Vol. 19, 2 (1997), 2–5. Rauscher, Frances H./Robinson K.D./Jens J.J.: „Improved maze learning through early music exposure in rats“, in: Neurological Research, Vol. 5, 7 (1998), 427–32. Sack, Kevin: „Georgia’s Governor Seeks Musical Start for Babies“, in: New York Times, 15. Januar 1998. http://www.nytimes.com/1998/01/15/us/georgia-s-governor-seeks-musical-startfor-babies.html. Shaw, Gordon L.: The Mozart Effect: To the editor. Epilepsy & Behavior 2/6 (2001), 611–613. Shaw, Gordon L.: Keeping Mozart in Mind. 2nd Ed. Amsterdam 2004.

22 Vgl. hierzu das Titelbild des SPIEGEL Nr. 41, 2. Oktober 2015.

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Shaw, Gordon L./Silverman, Dennis J./Pearson, John C.: „Model of cortical organization embodying a basis for a theory of information processing and memory recall“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, Vol. 82, 4 (1985), 2364–2368. Steele, Kenneth M.: „Do rats show a Mozart effect?“, in: Music Perception, Vol. 21 (2003), 251– 265. Steele, Kenneth M.: „Unconvincing evidence that rats show a Mozart Effect“, in: Music Perception, Vol. 23 (2006), 455–458. Thompson, William Forde/ Schellenberg, E. Glenn/Husain, Gabriela (2001): „Arousal, mood, and the Mozart effect“, in: Psychological Science, Vol. 12, 5 (2001), 248–251.

Hinweis: Der Text folgt dem Duktus des Manuskripts, das für den mündlichen Vortrag erstellt wurde.

Franz Körndle

Mozart in der Populärkultur: Von Amadeus bis heute Es gibt kaum ein Entrinnen: Wir erleben – oder vielleicht oftmals: erleiden – eine enorme Präsenz Mozarts bis in die Gegenwart, auch wenn es manchmal lediglich der Name ist, der Konsum-Produkte oder Dienstleistungen schmücken soll. Und wir hören Musik des Komponisten. Wir hören sie mit unseren Ohren, die Ohren des einundzwanzigsten Jahrhunderts sind. Es wird daher über die Möglichkeiten, als Hörer Mozart zu begegnen, zu sprechen sein. Dabei wird der Film Amadeus ins Zentrum meiner Ausführungen rücken, jener Blockbuster, der im Jahr 1984 in die Kinos gekommen war und eine sensationelle Erfolgsgeschichte schreiben sollte. Es bietet sich daher an, über das Hören von Mozarts Musik anhand von Beispielen aus dem Kino zu berichten. Nach 32 Jahren ist das nicht mehr so einfach, denn von den jüngeren Generationen werden viele den Film eventuell gar nicht kennen. Die Handlung dreht sich um die Karriere und den Tod des Komponisten und um seinen Rivalen Antonio Salieri, der behauptet, er habe Mozart umgebracht. Beschäftigt man sich auf schriftlichem Weg mit Film und Musik, begibt man sich erschwerender Weise in die Gefahr nicht nur des Unanschaulichen, sondern Unangemessenen, wie es in dem vielzitierten Bonmot zum Ausdruck kommt, das gerne auf Franz Grillparzer zurückgeführt wird,1 beschriebene Musik sei wie ein erzähltes Mittagessen. Daher kann wenigstens der Versuch unternommen werden, den Appetit mit dem Ziel anzuregen, sich nach der Lektüre dem Genuss der Filme hinzugeben. Vor der Auseinandersetzung mit Amadeus sollen freilich andere Filme und ihre Musik angesprochen sowie die Omnipräsenz des Komponisten Mozart im Marketing der letzten 30 Jahre überflogen werden. Den Anfang macht das Fernsehen. Es mag der Erwähnung wert sein, dass Anfang 2016 bei der Verleihung der so genannten Golden Globes in der Kategorie Fernsehproduktionen auch Mozart in the Jungle nominiert war.2 Besonders aussagekräftig wirkt dieser Titel nicht gerade. Man kann aber erahnen, dass die Geschichte etwas mit klassischer Musik zu tun haben dürfte. Und Dschungel bietet mit den Assoziationen Durcheinander, Gefahr und Exotismus doch wenigstens einige Anhaltspunkte. Kurz gesagt, es handelt sich um eine Soap, die im Orchester der New York Symphoniker angesie-

1 Storck 1910, 155. 2 Lista 2016, 163.

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delt ist. Das Ganze beruht auf dem Buch der Oboistin Blair Tindall Mozart in the Jungle. Sex, Drugs, and Classical Music.3 Das intendierte Erfolgsrezept ist leicht auszumachen: Man kreuzt Sex and the City4 mit dem voyeuristischen Blick hinter die Kulissen eines großen Symphonieorchesters. Der erwartete exotische Aspekt wird mit dem Thema ‚Musiker und ihr Geschlechtsleben‘ eingebracht. Hier kann diese Serie einstweilen vernachlässigt werden. Sie läuft inzwischen in der dritten Staffel, so dass es möglich ist, sich selbst davon zu überzeugen. Nur so viel soll an dieser Stelle noch verraten werden: Es wird alles sehr nett und für die Familie geeignet präsentiert. Die beiden Golden Globes für die beste Serie und für den besten Hauptdarsteller verwundern nicht.5 Diese Serie wird ihren Weg finden und ein erstauntes Publikum ansprechen, an den Erfolg von Amadeus wird sie wohl kaum anschließen, auch wenn die Filmmusik weitestgehend von Kompositionen Beethovens, Mendelssohns und sogar Mozarts gespeist wird. Amadeus holte 1985 vier Golden Globes.6 Bei der Oscar-Verleihung im selben Jahr erhielt der Komponist Maurice Jarre den Academy Award in der Kategorie Filmmusik für A Passage to India.7 In der kurzen Ansprache anlässlich der Preisvergabe brachte er seine Dankbarkeit zum Ausdruck und sagte „I was lucky Mozart was not eligible this year.“8 Was für ein Glück, dass Mozart in diesem Jahr nicht zur Wahl stand. In der Tat war A Passage to India in diesem Jahr für insgesamt elf Oscars nominiert gewesen, war aber in den meisten davon – genauer gesagt in neun – ohne Erfolg geblieben, denn der große Konkurrent räumte damals acht Trophäen ab – der Spielfilm Amadeus von Regisseur Milos Forman.9 Gewiss hätte Amadeus noch einen weiteren Oscar mitgenommen, wäre es möglich gewesen, den Urheber des Soundtracks überhaupt zu nominieren. Tatsächlich verwendet der Film fast ausschließlich Kompositionen von Wolfgang Amadé Mozart.10 Da aber die Kategorie „Beste Filmmusik“ seit Mitte der 1970er Jahre nur noch untergliedert ist in „Original Score“, „Original Song Score“ und „Best Filmsong“, blieb die Filmmusik zu Amadeus sozusagen außer Konkurrenz, was Maurice Jarre den Oscar-Gewinn ermöglichte. Es dürfte kein Zweifel bestehen: Mit Mozart als Kandidaten für die Filmmusik hätte Amadeus wohl den neunten Oscar verdient gehabt. Dabei war das Projekt als Film über klassische Musik, mit langen altertüm-

3 Tindall 2005. 4 Fernsehserie beruhend auf Bushnell 1996. 5 Weihser 2016. 6 Szabó-Knotik 1999, 154. 7 Franks 2005, 251. 8 Waxman 1999. 9 Atkinson 2005, 97–98; Szabó-Knotik 1999, 105. 10 MacDonald 2013, 331.

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lichen Namen für die Personen, mit Perücken und Kostümen nach Aussage von Milos Forman unter keinen besonders günstigen Umständen begonnen worden. Keines der größeren Studios wollte den Film finanzieren.11 Im Nachhinein erwies sich das Urteil der angefragten Produzenten als eines der deutlichsten Fehlurteile der Filmgeschichte. Amadeus war zudem nicht nur bei den Oscars erfolgreich, sondern auch bei den Golden Globes, den BAFTA Awards und etlichen anderen Auszeichnungen. Von insgesamt 53 Nominierungen gewann der Film nicht weniger als 40.12 Wolfgang Amadeus Mozart war spätestens in diesen Jahren zum Superstar gemacht worden, durchaus orientiert an Maßstäben der modernen Popkultur. Der Hamburger Musikwissenschaftler Helmut Rösing zählte 1993 unter den Ursachen des aufkommenden Hypes um den Komponisten neben dem Hollywood-Film die Mozart-Biographie von Wolfgang Hildesheimer aus dem Jahr 1977 und den PopSong „Rock Me Amadeus“ von Falco auf, der sich unmittelbar an den Film anschloss. Heute kann man sich Mozarts Musik als Klingeltöne herunterladen, und U-Bahnstationen werden mit seiner Musik beschallt, um die Kriminalitätsrate zu senken.13 Das bei weitem herausragend beliebteste Mozart-Produkt dürfte die Mozartkugel sein. Rösing gibt an, sie sei 1905 als „Mozartbombe“ erfunden worden, wobei der Name einen frühen Erfolg zunächst verhindert hätte.14 Das ist nicht ganz richtig. Bereits 1890 brachte der Salzburger Konditormeister Paul Fürst sein „Mozart-Bonbon“ heraus, 1905 wurde dieses Konfekt auf der Pariser Weltausstellung als Mozartkugel mit der Goldmedaille ausgezeichnet. Schon 1914 stellten zehn verschiedene Konditormeister die angeblich einzig echte, originale Mozartkugel her. Um die Rechte, Gehalt und Gestalt hat es zahlreiche Streitereien und Gerichtsurteile gegeben, weshalb die Anordnung von Pistazienmarzipan, Nougat und Marzipan unter der Zartbitterschokoladenhülle variiert.15 Es gibt daher auch Kugeln, die gar keine Kugeln sind, sondern eine flache Seite aufweisen, weil sie diese – rechtlich vorgeschrieben – aufweisen müssen. Original sind nur die Mozartkugeln, bei denen ein kleines Loch mit Kuvertüre verschlossen ist.

11 http://www.avclub.com/article/milos-forman-13764 (25. 10. 2016): „And in the ‚80s, with MTV on the scene, we are having a three-hour film about classical music, with long names and wigs and costumes. Don’t forget that no major studio wanted to finance the film, for these reasons.“ 12 Bomnüter 2013, 324. 13 Rösing 2005, 115–123. Ursprünglich in Fuchs (Hg.)1993, 367–380. 14 Rösing 2005, 116. 15 Schmitz/Ure 2016, ohne Seitenangabe, Stichwort „Mozart-Kugel“.

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Die Allgegenwärtigkeit Mozarts in der modernen Vermarktungswelt dokumentiert sich in Stichworten wie Mozart-Waffeln, Mozart-Taler, Mozart-Rolle, Mozart-Stäbchen, Mozart-Likör und dem Toast Mozart, der sich mit 120g Rumpsteak zeitweise im Speiseangebot der DB fand. Kaum eine Stadt verzichtet auf ihre Mozartstraße, Restaurants werden nach ihm benannt, ebenso Cafés, Schulen, Passagierschiffe und Seniorenwohnheime (etwa das ‚Kurstift Mozart: Die 1. Klasse für Senioren‘).16 Mit den Kompositionen geht die Werbebranche genauso selbstverständlich um wie mit dem Namen, wobei aus der Vielzahl der Werke doch eine erstaunliche Reduktion erfolgt. Und wenn es nicht der erste Satz aus der Kleinen Nachtmusik sein soll, dann nimmt man eben das Rondo daraus, wie es der Antiviren-Software-Hersteller Kaspersky Lab im Jahr 2011 getan hat. Im gleichen Jahr bediente sich Air France am Adagio aus dem Klavierkonzert A-Dur KV 488. Bei seinem frühen Tod hinterließ Mozart der musikinteressierten Nachwelt mehrere unvollendete Kompositionen, darunter das Requiem, das von dem Grafen Franz von Walsegg im Jahr 1791 durch Boten in Auftrag gegeben worden war.17 Knapp zwei Drittel konnte Mozart selbst noch erarbeiten. Da Constanze, die Witwe, großes Interesse nicht nur an der vollständigen Bezahlung des Auftrags hatte, sondern unter allen Umständen die bereits erhaltene Anzahlung von einer Hälfte nicht wieder zurückerstatten wollte, ließ sie das Werk von den Schülern ihres Mannes Joseph Eybler und Franz Xaver Süßmayr vervollständigen. So entstand auch eine Abschrift, die dem Auftraggeber samt gefälschter Unterschrift ausgehändigt wurde.18 Im Kern bildete die Fassung Süßmayrs das Aufführungsmaterial bis ins zwanzigste Jahrhundert. Nachdem es wiederholt Kritik an dieser Fassung gegeben hatte, legte 1971 Franz Beyer eine eigene Version19 vor, wobei er vor allem die Instrumentierung Süßmayrs auflockerte und satztechnische Korrekturen vornahm. Die Frage der Autorschaft von Sanctus, Benedictus und Agnus Dei, wozu Mozart keine Note mehr beigesteuert hatte, kümmerte Beyer nicht. Er verbesserte einfach Süßmayr. Wesentlich tiefere Eingriffe und Revisionen nahmen danach 1978 Hans-Josef Irmen, 1988 Richard Maunder, 1991 Robbins Landon sowie im gleichen Jahr Duncan Druce und Robert Levin vor.20 Kein Wunder, ging es doch um das 200. Todesjahr des Komponisten. Zum Geburtsjubiläum 2006 fertigten dann Clemens Kemme21 und schließlich Benjamin-Gun-

16 17 18 19 20 21

Rösing 2005, 116. Wolff 2003, 11. Wolff 2003, 23–33. Mozart 1971. Keefe 2012, 234. Kemme 2009, 85.

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nar Cohrs22 im Jahr 2013 eine weitere Version. Es muss für alle diese acht Bearbeiter also eine starke Motivation von dem Gedanken ausgegangen sein, sich in Mozarts Schaffensweise zu vertiefen und mit dem Schöpfer des Requiems so weit eins zu werden, dass eine solche Rekonstruktion überhaupt möglich werden kann. Allem Anschein nach wähnen sich die Neu-Komponierer gern in einer Zeitgenossenschaft mit Mozart. Zugleich wird vergessen, dass die ‚alte‘ RequiemFassung von Süßmayr einen bedeutenden Vorzug genießt. Sie stammt von einem wirklichen Zeitgenossen, der zudem auch noch Schüler Mozarts war.23 Gleichwohl, es war nicht zuletzt das Requiem und der damit verbundene Mythos, der zum unvergänglichen Ruhm des Komponisten beigetragen hat. Es mag an dieser Stelle interessant erscheinen, den Möglichkeiten nachzuspüren, die man als Hörer der Musik Mozarts hat. Gerade in der Zeit der Wiener Klassiker hatte sich in der Musikästhetik ein Wandel vollzogen. Vor allem im Bereich der Instrumentalmusik lässt sich eine Emanzipation von der Vokalkomposition beobachten, die sich neu entwickelnden Gattungen der Sinfonie oder auch des Streichquartetts zeugen davon. Damit einher ging eine Abkehr von der gerne gepflegten Natur-Nachahmung.24 Sollte man aus Kompositionen wie den bekannten Vier Jahreszeiten von Antonio Vivaldi noch Sturm, Gewitter mit Donner und Blitz heraushören oder auch den schlafenden Hirten mit einem bellenden Hund, wollte die jüngere Musikästhetik davon nichts mehr wissen. Die Musik könne viel stärker mit ihren eigenen Mitteln wirken, sie erzähle ihre eigenen Geschichten, jedoch ohne Worte. In dieser Abstraktion stellten Wackenroder und Tieck die Instrumentalmusik über alle anderen Künste. In seinem neunten Kapitel über „Symphonien“ aus dem zweiten Abschnitt der Phantasien über die Kunst ging Wilhelm Heinrich Wackenroder so weit, die Aufführung von Ouvertüren vor dem Beginn von Schauspielen abzulehnen.25 Er hatte von einem berühmten Tonkünstler die Symphonie vor dem Trauerspiel Macbeth gehört, die mich so entzückte und berauschte, daß ich die großen Eindrücke aus meinem Gemüte immer noch nicht entfernen kann. [. . .] Ich sah in der Musik die trübe nebelichte Heide, in der sich im Dämmerlichte verworrene Hexenzirkel durcheinanderschlingen und die Wolken immer dichter und giftiger zur Erde herniederziehen. Entsetzliche Stimmen rufen und drohn durch die Einsamkeit und wie Gespenster zittert es durch all die Verworrenheit hindurch, eine lachende, gräßliche Schadenfreude zeigt sich in der Ferne.26

22 23 24 25 26

Mozart 2013. Kemme 2009, 85–86. Hierzu etwa: Seifert 1994, 87–88. Tieck (Hg.) 1799, 266–269. Tieck (Hg.) 1799, 264–265.

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Nach der hier kurz angedeuteten Beschreibung seiner Empfindungen beim Hören dieses musikalischen Vorspiels äußert sich Wackenroder zum eigentlichen Drama: „Viele Szenen des Stücks waren mir nach dieser großen Erscheinung trüb und leer, denn das Schrecklichste und Schauderhafteste war schon vorher größer und poetischer verkündigt. Ich dachte immer nur an die Musik zurück, das Schauspiel drückte meinen Geist und störte meine Erinnerungen.“ Es wäre daher schöner, „wenn unsere großen Schauspiele oder Opern mit einer kühnen Symphonie geschlossen würden“.27 Wackenroders Überlegung, wenn sie denn je mehr als eine Idee, ein Gedanke war, ist Utopie geblieben, und es wäre auch heute kaum vorstellbar, eine Symphonie nach dem Ende von Goethes Faust zu spielen. Allerdings macht die Filmmusik genau von dem bei Wackenroder beschriebenen Verfahren Gebrauch. Wenn am Ende eines Films die Namen der daran Beteiligten im Abspann laufen, bekommt die Musik einen einzigartigen Soloauftritt. Dann dürfen die Komponisten in oft mehr als zehn Minuten wesentliche Passagen der Komposition wie eine Suite als Reminiszenz vorführen. Wir könnten es einmal so ähnlich machen, auch wenn es in einer schriftlichen Abhandlung im Grunde bei der Imagination bleiben muss. Als Beispiel soll Mozarts Le nozze di Figaro dienen. Die Geschichte sollte – nach mehr als 200 Jahren Aufführungstradition – als bekannt vorausgesetzt werden, weshalb sich die Ouvertüre als Einzelstück so hören lässt, als würde sie nach dem Theater gespielt. Hier nur eine kleine Gedächtnis-Auffrischung: Der Kammerdiener Figaro ist mit Susanna verlobt, die die Kammerzofe der Gräfin ist. Der Graf Almaviva, ihr Mann, ist auch auf Susanna aus. Am Ende tauschen Susanna und die Gräfin die Kleider, um den Grafen beim abendlichen Rendezvous buchstäblich hinters Licht zu führen. Figaro, der das Spiel durchschaut, erklärt dann allerdings der verkleideten Susanna seine Liebe, die der Graf im Dunkeln für seine Gemahlin hält. Er ist empört und eifersüchtig. Bei Licht kommt es zum allgemeinen Erkennen, der Graf muss um Verzeihung bitten. Die Geschichte arbeitet mit dem Vermischen der Ebenen der ständischen Gesellschaft mit dem Ende, dass ein Graf blamiert dasteht. Sie war in der zunehmend aufgeklärt denkenden Welt des späten achtzehnte Jahrhunderts natürlich umstritten, da der Adel sich ungern lächerlich gemacht sehen wollte.28 Das hier vorgestellte Umkehren der ständischen Ebenen macht sich John Landis in seinem Film Trading Places (in deutschen Kinos Die Glücksritter) aus dem Jahr 1983 zunutze. Er zeigt eine in Philadelphia spielende moderne Geschich-

27 Tieck (Hg.) 1799, 269 (beide Zitate). 28 Ruf 1977, 88, 135–138.

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te, in der aufgrund einer Wette zweier erfolgreicher Börsenspekulanten aus einem schwarzen Bettler ein Geschäftsführer wird und im Gegenzug ein Broker auf der Straße landet. Ärgerlich für die Wettpartner ist nur, dass sich die beiden ‚Opfer‘ kennenlernen und mit Hilfe eines Tricks die beiden Makler in den Ruin getrieben werden. Der Film kombiniert nun die neue Geschichte mit der Musik Mozarts. Während des Vorspanns ist die – von 294 auf 261 Takte gekürzte – Figaro-Ouvertüre zu hören. Das ist natürlich ohne Wissen vom Inhalt des Films erst einmal befremdlich, zumal die dazu eingesetzten Bilder überhaupt nicht dazu zu passen scheinen: Eine Trainingsgruppe auf dem Schylkill River mit den Bootshäusern der University of Pennsylvania im Hintergrund, Verkäufer auf einem Markt, öffentliche Verkehrsmittel und Kinder beim Basketballspiel auf der Straße, Arbeitslose und Bronze-Statuen von Helden oder Politikern der amerikanischen Geschichte.29 Zu allem Überfluss erscheint bei den eingeblendeten Credits unter der Rubrik „Music“ auch noch der Filmkomponist Elmer Bernstein, dessen Komposition aber gar nicht zu hören ist. Erst am Ende geht das Gezeigte in einen Handlungszusammenhang über. Man sieht einen Butler, der für seinen Dienstherren das Frühstück bereitet und ihn anschließend rasiert, sich also als Figaro betätigt. An dieser Stelle wird ein Minimum an Verstehen möglich mit der Assoziation von Rasur einerseits und Figaro-Ouvertüre andererseits. Es dürfte dennoch unklar bleiben, wer aus dem amerikanischen Kinopublikum 1983 Assoziationen aus Figaros Hochzeit ins Filmtheater mitgebracht hat. Heute, nach mehr als 30 Jahren, würde der geringe Anteil des vorausgesetzten Bildungsbürgertums auf einen verschwindenden Rest zusammengeschmolzen sein. Die Bilder im Vorspann sind freilich als gar nicht so willkürlich zu verstehen, wie sie auf den ersten Blick anmuten, repräsentieren sie doch die ständische Gesellschaft der Vereinigten Staaten von Amerika in der Vergangenheit und in den 1980er Jahren.30 Die Anspielungen dürften im Publikum genauso untergehen wie der Witz mit der Rasur. Elmer Bernstein belässt es jedoch nicht bei den Anspielungen, die sich aus der Ouvertüre ergeben. Wenige Augenblicke nach der eröffnenden Frühstücks- und Rasur-Szene macht sich der soeben eingeführte Held Louis Winthorpe III. auf in Richtung Stadt und Arbeitsplatz. Dabei pfeift er Figaros Arie „Se vuol ballare signor Contino“. Dieses Lied, in dem der Kammerdiener andeutet, dass er die Intentionen und Machenschaften des Grafen aufdecken wird, war zu Mozarts Zeit rasch als Angriff auf das Ancien Régime inter-

29 Lowe 2007, 173. 30 Lowe 2007, 172–174.

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pretiert worden.31 Dank der Qualität der Musik konnte bald jedes Kind die Melodie auf der Gasse pfeifen. So ließ sich mit Musik Politik machen. Und so läuft das auch bei Landis. Ganz ohne Text vermittelt die Musik den Angriff auf das Establishment. Die Instrumentalfassung von Elmer Bernstein greift die Melodie auf und leitet damit über zur Szene, in der Billy Ray Valentine, der schwarze Bettler, erstmals auf die beiden Börsenmakler trifft, mit ihnen in Konflikt gerät und verprügelt wird. Aus diesem Beispiel ist klar zu sehen, dass sich der Regisseur eines Films bei Verwendung bereits vorab geschaffener Kompositionen mit dem Schnitt daran orientieren muss. Bei Trading Places sollten also die gezeigten Szenen des Vorspanns mit dem Ende der Ouvertüre zu einem Abschluss kommen. Auch wenn Mozarts Ouvertüre um zwei Abschnitte von acht und einen von 17 Takten gekürzt wurde, blieb der Eingriff mit ca. 11 % gering und entfernte lediglich Wiederholungen. Um die gesamte Anfangssequenz mit den eingeblendeten Credits zeitlich im Rahmen zu halten, blieb weiterhin noch die Option des rasant vorgelegten Tempos. Die wahrnehmbar um fast einen Viertelton angehobene Tonlage deutet in die Richtung einer Zeiteinsparung, denn 1983 war ein beschleunigtes Abspielen des unterlegten Soundtracks noch immer mit einer Verschiebung der Frequenzen nach oben verbunden. Die Verwendung präexistenter Kompositionen entfaltet in jedem Fall eine nicht zu unterschätzende und ins Kalkül zu ziehende Eigengesetzlichkeit, die auch die Dramaturgie von Filmszenen in erheblichem Ausmaß festlegen wird. Weiterhin verdeutlichen die Beispiele aus Trading Places, wie Musik entsprechend Wackenroders Überlegungen durchaus mit ihren eigenen Mitteln wirken kann. Sie funktioniert aber noch besser, wenn sie mit einer Bedeutung aufgeladen wird. Versetzt man Musik von dem einen in einen anderen Kontext, erhält sie die Funktion einer eigenen semantischen Ebene; in den beiden gezeigten Beispielen erzählt die Musik mehr als die rein visuell erlebbaren Szenen selbst. Auch wenn es nicht im Sinne Wilhelm Heinrich Wackenroders gewesen war, genau das beabsichtigten die Komponisten auch bei den Opern. Die Ouvertüren sollten vorab einen Einblick geben in das zu erwartende Geschehen. So beschreibt Georg Nikolaus Nissen in seiner Mozart-Biographie von 1828 das Vorspiel zu Don Giovanni: Die Ouvertüre zu Don Juan ist keine Thüre zu jeder Oper, sie führt uns nur zu Don Juan ein, und ist wie eine passende Vorrede, die uns über den Inhalt und Plan des Werkes nöthigen Aufschluss giebt, nur zu diesem Kunstwerke passend geschrieben. Kennte man auch den

31 Ruf 1977, 85; Roberts 2015, 61–62; Wright 2011, 161.

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Inhalt der Oper nicht näher, man würde schon hinlänglich durch sie belehrt, dass schauerlich Ernstes darin mit frevlem Muthwillen in abentheuerlicher Mischung abwechselt. So bereitet uns das Grave schon auf den grausen Inhalt mehrerer Scenen vor, auf Mord, GeisterErscheinung und Höllenfahrt.32

Die beiden Anfangs-Akkorde aus der Ouvertüre zu Don Giovanni eröffnen auch den Film Amadeus, der 1984, ein Jahr nach Trading Places, in die Kinos kam. Und hier lagen alle Stücke für den Soundtrack schon lange vor, sie stammen mit kleinen Ausnahmen bekanntlich von den Hauptpersonen selbst, Mozart und auch Salieri. Die Musik eröffnet also mit d-Moll, gefolgt von einem A-Dur-Sextakkord.33 Wie bei Trading Places setzten der Regisseur und die für das musikalische Arrangement verantwortlichen Neville Marriner und John Strauss auf die Vorkenntnisse des Auditoriums. Dann tut sich das Unheil bereits in vollem Umfang auf, das Drama um Mozart und Salieri, das mit dem Tod Mozarts enden wird. Und es verhält sich genauso, wie es bei Nissen beschrieben ist. Man muss den Don Giovanni gar nicht kennen, allein durch die beiden Akkorde wird man „belehrt, dass schauerlich Ernstes darin mit frevlem Muthwillen in abentheuerlicher Mischung abwechselt“. Mehr müsste man gar nicht ausführen; was Nissen einst vortrug, lässt sich auf Amadeus in vollkommener Weise anwenden. Bis heute hat diese Wirkung nichts von ihrer Macht verloren, wenn der Film mit den dramatischen Klängen der Ouvertüre zu Don Giovanni einsetzt. Es dauert dann nur wenige Minuten, bis Salieri mit den ersten hörbaren Worten bestätigt, was die Musik nach dem Text Nissens allein gekonnt hätte: „Mozart! Mozart! Forgive your assassin! I confess, I killed you! Truely, I killed you!“

Abb. 1: W. A. Mozart, Ouvertüre zur Oper Don Giovanni mit den Worten des Salieri am Beginn des Films Amadeus.

32 Nissen 1991, 507. 33 Joe 2006, 66.

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Die Stimme Salieris – er selbst ist zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht zu sehen – behauptet nichts anderes, als dass er Mozart ermordet hätte. Damit scheint der Film genau das Gerücht zu bedienen, das sich schon bald nach dem Tod des Komponisten zu verbreiten begann. Bereits 1798 hatten sowohl Friedrich Rochlitz als auch Franz Xaver Niemetschek Informationen gegeben über die letzten Lebensmonate Mozarts und zur Entstehung seines letzten Werkes, des Requiems.34 Beide Autoren geben an, ihre Darstellung beruhe auf Gesprächen mit der Witwe des Komponisten, Constanze. Der teilweise identische Wortlaut in beiden Berichten macht es wahrscheinlich, dass sowohl Rochlitz wie auch Niemetschek schriftliche Aufzeichnungen von Constanze erhielten, schließt aber auch nicht aus, dass der eine vom andern abgeschrieben hat. In eben diesen Formulierungen erschien die Geschichte dann in der genannten Mozart-Biographie von Georg Nikolaus Nissen, der seit 1798 bei Constanze Mozart im Haus wohnte und sie 1809 ehelichte. Nach seinem Tod 1826 bemühte sie sich um die Fertigstellung des Buches und gab es 1828 bei Breitkopf & Härtel in Leipzig heraus.35 Darin ist von einem Boten die Rede, von dem Mozart den Auftrag zur Totenmesse erhalten habe. Über der Arbeit erkrankte er. Diese Erkrankung „stimmte ihn zur Schwermuth“, daher36 fing Mozart an [zu Constanze] vom Tode zu sprechen, und behauptete, dass er das Requiem für sich setze. Dabey standen ihm Thränen in den Augen, und als sie ihm den schwarzen Gedanken auszureden suchte, sagte er: ‚Nein, nein, ich fühle mich zu sehr, mit mir dauert es nicht mehr lange: gewiss, man hat mir Gift gegeben.‘

Nach der Publikation der Mozart-Biographie Nissens nahm sich bald die Literatur des Themas an, der inzwischen zu Berühmtheit gelangte Komponist könnte seinerzeit durch einen Rivalen umgebracht worden sein. Alexander Puschkin brachte in seinem Dramenfragment Mozart und Salieri 1830 den Gedanken ins Spiel, Salieri habe in Mozart eine von Gott gegebene Genialität erkannt und dann die – unbeantwortbare – Frage stellen müssen, warum der leichtfertige Mozart, der seine Begabung nicht ernst nehme, und nicht er selbst, der doch die Musik so über alles liebe, diesen Vorzug bekomme.37 Die damit verbundene Überlegung, wo die Gerechtigkeit Gottes bleibe, führt ihn in die Aporie, aus der er nur noch mit der Tötung Mozarts zu entkommen glaubt. Puschkin verknüpft dieses ausweglose Spiel naheliegender Weise mit der Komposition des Requiems. Bei einem Besuch entdeckt Salieri die Noten zur Totenmesse und fragt: „Du komponirst ein Re34 35 36 37

Stafford 1991, 3–28; Keefe 2012, 11–24; Konrad 1995, 1–22; Stafford 2003, 200–211. Einstein 1945, 75–76. Nissen 1991, 562. Keefe 2012, 26.

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quiem? Seit wann?“38 Und Mozart berichtet vom Besuch des Boten, der eines Tages angeklopft habe: „Ich ging hinaus. Ein Mann in Schwarz gekleidet grüßt höflich mich, bestellt ein Requiem und geht davon.“ Wenig später kommt Mozart im Gespräch über die Hochzeit des Figaro auf Beaumarchais, wobei er die Frage stellt, ob es wahr sei, dass dieser jemanden vergiftet habe. Anschließend schüttet Salieri selbst Gift in Mozarts Glas. Puschkins Werke waren noch nicht ins Deutsche übersetzt, da brachte 1835 der Schriftsteller und Komponist Gustav Nicolai seine Novelle Der Musikfeind heraus, die sich ebenfalls mit dem Requiem und dem Tod Mozarts befasst.39 Der Widersacher ist dabei mit dem Namen „Doloroso“ versehen. Aus dem Boten ist bei Nicolai nun „ein durchaus grau gekleideter Mann“ geworden. Wie bei Nissen äußert sich Mozart: „Mit mir dauert es nicht mehr lange: gewiß, man hat mir Gift gegeben.“ Am Ende kommt Doloroso/Salieri nochmals auf den Requiem-Auftrag:40 „Kennst Du den grauen Boten? Den Schrecklichen, der ihm den Brief brachte?“ Dann gesteht er die Tötung Mozarts ein bzw. behauptet diese Tat:41 „Ich bin der Mörder Mozarts“; schließlich versucht er, sich mit einem Rasiermesser das Leben zu nehmen. Mit Puschkin und Nicolai sind die beiden Paten für Peter Shaffers Theaterstück Amadeus ermittelt, auf dessen Grundlage Milos Forman den Film konzipierte. Shaffer übernimmt fast alle Ingredienzen, die die Literatur schon bereitgestellt hat, bis hin zum Selbstmordversuch Salieris nach der Eigen-Anklage, seinen Gegner umgebracht zu haben. Am Rande: Shaffer ist viel zu raffiniert, um Salieri einfach mit der Vergiftung zu belasten. Sein Salieri wird zwar irre an dem Gedanken, er habe Mozart getötet, von einer solchen Tat sieht man im ganzen Stück aber nichts. Damit nimmt Shaffer die übelste Kolportage aus seiner Konstruktion heraus und gibt der Geschichte kurzzeitig den Anschein des Dokumentarischen, das ja nicht weiß, woran Mozart tatsächlich gestorben ist. Es könnten ganz einfach auch Krankheit und Erschöpfung das Leben des Genies beendet haben. Natürlich ist diese Zurückhaltung nichts anderes als Ironie. Ansonsten bedient sich Shaffer und mit ihm dann auch Forman an allem, was belegbare Biographie und Anekdoten hergaben. Ein Heiratsantrag an die Schwester des Kaisers Joseph II., Marie Antoinette,42 wird ebenso wenig ausgelassen wie das Bild des genialen Schöpfers, der keine Kompositionsskizzen braucht und alles im Kopf konzipiert.43 Dazu gehören auch das permanent alberne Gehabe, die unge-

38 39 40 41 42 43

Puschkin 1855, 169–171. Nicolai 1835, Bd. 1, 103, 107. Nicolai 1835, 288–289. Nicolai 1835, 292. Stafford 1991, 37. Konrad 1992, 21–28.

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zügelte bis ordinäre Sprache und schließlich das schlechte Wetter, weswegen niemand mit zur Beerdigung kommt. Alles dies beruht durchweg auf den Klischees, die im Lauf von 250 Jahren unser Bild von Mozart bestimmt haben. Dazu gehört selbstverständlich auch unser „grauer Bote“, der den Auftrag zum Requiem überbringt. Im Film tritt er erst spät in Erscheinung, aber äußerst fein gesponnen zieht sich ein roter Faden durch den Film, in den die Musik mit eingewoben wird, und führt eben genau dorthin, zum grauen Boten. So wie zu Beginn des Films die beiden Akkorde nicht nur das tödliche Drama ankündigen, enthalten sie auch die Information ihres ursprünglichen Kontexts in der Oper Don Giovanni. Am Ende des zweiten Aktes erscheint der zum Gastmahl geladene tote Komtur als Geist, um den jede Reue ablehnenden Don Giovanni in die Hölle zu befördern. Shaffers Salieri betrachtet auch sein Gegenüber Mozart als einen solchen Unhold, der nicht in der Lage ist zu bereuen. Und selbst der Vater, Leopold, ermahnte seinen Sohn von Anfang an zu einem soliden Lebenswandel. Im Film wird Leopold, der Jesuitenzögling aus Augsburg, zum Übervater stilisiert, dessen Vorstellungen der Sohn schon lange nicht mehr entspricht. Beunruhigt vom Gedanken, Wolfgang könne ohne sein Einverständnis geheiratet haben, reist er nach Wien, wo es zu einer Überraschung kommt. Die Szene spielt etwa in der Mitte des Films. Dabei stellt Forman eine Parallele zur Eröffnungssequenz her. Wolfgang kehrt gerade zurück von einer frustrierenden Unterrichtsstunde im Haus Schlumbergs, und die dort zuletzt gespielte Musik des Klavierkonzerts in B-Dur KV 450 begleitet ihn. Von einem abschließenden B-Dur-Akkord springt die Musik beim Eintritt ins Wohnhaus in das terzverwandte, aber düstere d-Moll der Don Giovanni-Ouvertüre. Man sieht den Vater oben an der Treppe stehen, ähnlich der Darstellung auf dem Film-Plakat, ganz in schwarz und mit einem breit getragenen Dreispitz. Nach einer Sekunde des Schrecks beim ersten Akkord bringt Wolfgang heraus „Papa“, ebenfalls nach dem zweiten Akkord (Abbildung 2). Aber anstatt in Begeisterung über den Besuch auszubrechen oder wenigstens seine Freude zum Ausdruck zu bringen, fragt er sogleich „Why are you here?“ Leopold antwortet: „Am I not welcome?“ Erst dann heißt ihn der Sohn willkommen, zehntausendmal willkommen. In einem Interview erklärte Milos Forman 2006, er habe in dieser Szene Wolfgangs erste Begegnung mit dem Tod darstellen wollen.44 Er vermittelt das hier, indem er das Bild des Vaters zusammenführt mit der Musik zum Komtur aus dem Don Giovanni.

44 http://www.dga.org/Craft/DGAQ/All-Articles/0604-Winter2006-07/Shot-to-Remember-Amadeus.aspx (25. Oktober 2016): „Here, for the first time Mozart encounters the image of death. That’s why I led him to this close-up where we can see very clearly his change of expression. So in the split second before he realizes it’s his father, he’s panicked because it’s like an image of death.“

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Abb. 2: Wiedersehen von Wolfgang mit Leopold Mozart in Wien zur Musik aus der Ouvertüre zu Don Giovanni.

In der folgenden Szene begeben sich Wolfgang, Constanze und Leopold zu einem Kostüm-Ball. Dazu suchen sich alle drei in einem Laden passende Masken aus, Leopold bekommt ausgerechnet eine komplett dunkelgraue, die auf der einen Seite ein lachendes, auf der Rückseite aber ein grimmiges Gesicht trägt. Der Film erzählt dann von der Entstehung und Aufführung des Figaro und bringt dagegen gestellt eine Oper von Salieri. Es sind also einige Jahre vergangen, als Mozart die Nachricht vom Tod seines Vaters aus Salzburg erhält. Einen Moment nachdem Constanze die Information vermittelt hat, schwenkt die Kamera auf das gemalte Porträt Leopolds und es erklingt erneut Musik aus der Komturszene im Don Giovanni, zu der sogleich übergeblendet wird. Der Komtur sieht folgerichtig in dieser Inszenierung aus wie Vater Leopold bei der Ankunft in Wien. Dazu vernimmt der Beobachter dann den Kommentar des alten Salieri: „And I knew – only I understood – that the horrifying apparition was Leopold, raised from the dead. Wolfgang had actually summoned up his own father to accuse his son before all the world.“ Am Ende erlebt der Zuschauer, wie ein Dienstbote die bekannte grauschwarze Maske, die vorher Leopold getragen hatte, beim Kostümverleih abholt und in eine Privatwohnung bringt. Zu keinem Zeitpunkt sieht man es, aber man weiß, es muss Salieri sein, der unter der Maske zu Mozart geht, um die Totenmesse in Auftrag zu geben. In diesem Abschnitt kann man sehr schön erkennen, wie die

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Filmmusik in Amadeus funktioniert.45 Zu Beginn hört man Mozarts Klavierkonzert Nr. 20 in d-Moll KV 466 mit der ziemlich geheimnisvollen und finsteren Einleitung des ersten Satzes. Die Musik Mozarts ist absolut unverändert, d. h. alle Schnitte sind nach der Musik gemacht und trotzdem wird der Eindruck erweckt, die Musik sei für den Film geschrieben. Genau in dem Moment, in dem der Karton mit der Maske übergeben wird, erklingt erstmals das Orchestertutti im Forte, die folgende Überleitung im Piano zeigt Mozart bei der Arbeit, dann wieder Forte beim Öffnen des Kartons. Der Eintritt des Seitenthemas zeigt wieder Mozart am Schreibtisch, das nächste Orchesterforte kommt, wenn Salieri Mozarts Haus betritt. Die abschließende Kadenz, die sich zur Haupttonart d-Moll richtet, mündet wieder in den Beginn des Don Giovanni. Und dieses Mal genügt ein einzelner Akkord, um die gewünschte Wirkung zu erreichen. Nachdem Salieri mit der Frage „Do you accept“ die Anzahlung ausgehändigt hat, gibt Mozart keine Antwort. Stattdessen erklingt der Beginn der Requiem-Komposition mit dem Orchestervorspiel zum Introitus. Es bedarf keiner Worte, hier spricht die Musik. Der Kinobesucher erlebt die Musik im Grunde so als wäre sie normale Filmmusik. Dass dies möglich wird, verdanken wir nicht nur dem Komponisten selbst, sondern den für den Soundtrack Verantwortlichen, Neville Marriner und John Strauss, die aus den Werken die passenden Stücke auswählten und zueinander fügten. Die zuletzt gezeigte Sequenz beruht auf drei Kompositionen, die allesamt in der gleichen Tonart stehen, nämlich d-Moll. Da ist es beinahe unheimlich, dass sich darunter mit dem Don Giovanni und dem Requiem gerade zwei für das Skript des Filmes zentrale Werke befinden. Mit dieser Auswahl vermittelt der Film doch ein etwas einseitiges Bild vom späten Mozart. Aber Forman wollte keinen biographischen Film präsentieren, sondern ein für das Theater hinreißend konzipiertes Drama mit den Möglichkeiten des Hollywoodkinos einem großen Publikum aufbereiten. Dafür nutzte er mit Peter Shaffer die historischen Gerüchte, die historischen Berichte, die Literatur von Puschkin und Nicolai. Last but not least hilft ihm die Musik Mozarts selbst. So wie etwa der Erfolg der Zauberflöte eher zum geringen Teil ein Verdienst von Emanuel Schikaneder gewesen sein dürfte, leisten auch beim Amadeus-Film immer noch die Kompositionen ihren großen Anteil am Gelingen des Werks, auch wenn sie in einen vollkommen neuen Kontext gestellt werden. Damit aber war es möglich, mit dem d-Moll-Klavierkonzert, mit dem Requiem und dem Don Giovanni eine historische Wirklichkeit zu emulieren, die eine so erfundene Geschichte benötigt. Die Musik kann uns nicht zurückführen in die Vergangenheit, aber sie kann uns diese vergangene Epoche in der Gegenwart ästhetisch erlebbar machen. Das passiert freilich nicht nur im Film,

45 Joe 2006, 64–66.

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das geschieht in jedem Konzert, wenn Musiker aus den Noten im Sinne eines ReEnactments die Schöpfungen jener Zeiten zu neuem Leben erwecken.

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Jenny Erpenbeck

Die Frage nach dem Eigentlichen Sehr geehrte Damen und Herren, es hat viel Mozart gegeben in meinem Leben. Angefangen hat es in meiner DDR-Kindheit mit einem meiner liebsten Kinderbücher, es hieß: Komm, lieber Mai und erzählte davon, wie der junge Mozart Musik finden lernt: im Klackern von Schuhabsätzen auf Kopfsteinpflaster, den Glöckchen an einem Pferdeschlitten, beim Zusammenschlagen zweier Topfdeckel – eigentlich so wie jedes Kind. Das war eine Erfindung der Kinderbuchautorin, aber mir gefiel es, und von da an war nur noch die Frage, was aus mir geworden sein würde mit 34 Jahren. Oft sang mir meine Mutter zur guten Nacht das Lied, das ihm auch seine Mutter gesungen hat: „Bona Nox, bist a rechter Ochs, bona notte, liebe Lotte, oui, oui…“. Als ich selbst begann, Klavierspielen zu lernen, begleitete mich Mozart von den leichten Stücken zu den schwereren, aber erst nach einigen Jahren verstand ich, dass das sogenannte Schwere bei Mozart nicht eigentlich die technischen Schwierigkeiten sind, sondern dass die große Kunst darin besteht, sich bei seinen Stücken zurückzunehmen, klar zu spielen, dass bei ihm Eitelkeit, Sentimentalität und bloßes Virtuosentum nicht zum Eigentlichen führen. Dass das Schwere darin besteht, einfach zu spielen. Nun mag man sagen, das sei bei allen großen Komponisten so, aber Mozarts Musik selbst bringt Bluff und Täuschung zum Vorschein, lässt die bloße Pose ins Leere gehen. Wie sie das macht? Ja, das fragt man sich. Die linke Hand spielt einen gebrochenen Dreiklang, die rechte eine Melodie, es gibt eine kleine Molleinfärbung, ein winziges Zögern vielleicht, und irgendwo dazwischen liegt: das Eigentliche. Und was ist denn das – das Eigentliche? Ja, das fragt man sich. Ich hatte in meinem Leben viele Gelegenheiten, mich das zu fragen.

Das d-Moll-Klavierkonzert war die Musik meiner ersten großen Liebe. Es war auch die Musik, die mein damaliger Freund später für seine Trauerfeier bestimmt hat. Im vorletzten Frühjahr wurde es dort gespielt. Ich studierte Opernregie und begann nach dem Studium als Regieassistentin am Opernhaus Graz, da konnte es vorkommen, dass ich in der Zauberflöteninszenierung als ein auf Stelzen hereinstaksendes, maskiertes Zaubertier einHinweis: Text der ersten Augsburger Mozart Lecture, unter dem Titel „Jenny Erpenbeck spricht über Mozart“ am 7. Dezember 2016 vorgetragen.

DOI 10.1515/9783110492989-013

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springen musste. Und mit der Oper Cosí fan tutte reisten wir als Gastspiel bis nach Singapur, wo Mozart ungefähr so fremd wirkte, wie hier eine Aufführung des Kabuki-Theaters. Als ich dann selbst begann, Regie zu führen, inszenierte ich unter anderem Mozarts kurzes Singspiel Der Schauspieldirektor, und vor einigen Jahren schrieb ich eine Textfassung für sein Opernfragment Zaide, um das Ganze dann als Kombination aus Schauspiel und Oper auch zu inszenieren. Soliman, der Sultan in diesem Stück, ist übrigens ein Namensvetter von Mozarts dunkelhäutigem Freimaurerkollegen Soliman, dem in meinem letzten Roman Gehen, ging, gegangen mehrere Seiten gewidmet sind: Im heutigen Nigeria geboren, auf dem Sklavenmarkt für ein Pferd eingetauscht und nach Europa weiterverkauft, rettet er dem Fürsten von Lobkowitz in einer Schlacht das Leben und hat von da an eine bevorzugte Stellung. Er lebt in Wien, heiratet eine Wienerin, bekommt mit ihr eine Tochter, wird, wie gesagt, sogar Freimaurer, ist scheinbar vollkommen integriert in die sogenannte ‚gute Gesellschaft‘. Aber als er stirbt, erweist sich: Er war doch nur ein ‚Mohr‘. Die braven Wiener ziehen ihm die Haut ab, stopfen ihn aus und stellen ihn wahrhaftig in eine Vitrine ihres Raritätenkabinetts. Die flehentlichen Bitten der Tochter, dass ihr die Haut ihres Vaters „ausgefolget“ werden möge, bleiben unbeantwortet. „Es gibt schwarze Vögel auf der Welt, warum nicht auch schwarze Menschen?“ – zitiere ich in meinem Buch auch aus Mozarts Zauberflöte. Mit diesem weisen Satz Schikaneders scheint mir das Thema der Hautfarben erschöpfend behandelt. Wenn man mich heute fragt, was ich gern inszenieren würde, wenn überhaupt, sage ich immer: Cosí fan tutte – aber erst, wenn ich soweit wäre, im Alter, wenn ich vielleicht mehr verstanden hätte vom Leben. Manchmal, wenn ich heutzutage das Radio einschalte und wieder eines der Mozart-Highlights dudeln höre, macht es mich traurig, dass Mozart so berühmt geworden ist. Sein unbestrittenes Berühmtsein hat paradoxerweise dazu geführt, dass das wirkliche Hinhören schwer geworden ist. In Zeiten, in denen die Kultursender durch Budgetkürzungen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt werden, ist von Mozart nicht viel mehr übrig geblieben als eine ‚Marke‘. Nun habe ich das Glück, mit einem Mann verheiratet zu sein, der Dirigent ist, dessen Beruf also das genaue Hinhören ist, und so machen wir uns manchmal den Spaß, Aufnahmen zu vergleichen, um herauszufinden, warum zum Beispiel der eine Pianist das Eigentliche, das hinter Mozarts oder auch hinter Schuberts Musik ist, zum Vorschein zu bringen vermag, während irgendein anderer einfach nur gut, ja, auch sehr gut – Klavier spielt. Was ist das Eigentliche? Das ist ja immer die Frage. Nun, und hier sei eine Schleichwerbung erlaubt, unsere privaten Forschungen nach diesem Eigentlichen haben meinen Mann

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und mich, was Klaviermusik angeht, immer wieder zu Friedrich Gulda geführt, der in seiner Verspieltheit wie in seinem Ernst prädestiniert dafür scheint, Mozart zu spielen. Trotzdem möchte ich heute nicht über Klaviermusik von Mozart sprechen, sondern über ein Stück, in dem sich Musik und Text überkreuzen, also einen Ausflug in mein erstes Metier unternehmen – die Oper. Ich möchte das Wunderkind Mozart einmal vergessen, den berühmten Mozart vergessen, den vergessen, der, wie es in einem neuzeitlichen Witz heißt, „die Klingeltöne für unsere Handys komponiert hat“, und mich wieder aufs genaue Hinhören besinnen. Bis heute sage ich, wenn ich nach meiner Verbindung zur Musik gefragt werde, dass letztendlich auch das geschriebene Wort Klang sei, dass ich die Texte, die ich schreibe, auch innerlich höre. Und es ist sicher kein Zufall, dass praktisch alle Bücher, die ich geschrieben habe, nicht nur aus dem Prinzip der Mehrstimmigkeit heraus konzipiert sind, aus der Überlagerung verschiedener Zeitschichten oder verschiedener Blickrichtungen, sondern dass dieses Bauprinzip, diese Konstruktion, wie manche es nennen würden, eben viel mehr ist als nur eine technische Finesse, sie ist der Versuch, verschiedene, sogar miteinander streitende Stimmen gleichberechtigt zu Wort kommen zu lassen, verschiedene Arten von Wahrnehmung derselben Wirklichkeit hörbar – also fühlbar! – zu machen, um dann einen Schritt zurücktreten und in jedem dieser autark agierenden Einzelwesen ein Stück von sich selbst wiedererkennen zu können: die eigene Begrenztheit also, aber auch die Möglichkeiten, die man im Zusammenwirken mit anderen hat – auf diesem Planeten, auf dem die Gleichzeitigkeit uns Lebende zusammenschließt. Das I. Finale aus Mozarts Don Giovanni war für mich immer der Inbegriff eines solchen Zusammenklingens, des Fühlbarmachens der Gleichzeitigkeit. Auch die Fragilität einer solchen musikalischen Koexistenz lässt sich an kaum einem anderen Stück Musik besser studieren als an dieser Szene. Was ist das für eine Situation, in der so viele einsame Gedanken Musik ergeben? Wir haben Don Giovanni, der das junge Bauernmädchen Zerlina auf ihrer eigenen Hochzeitsfeier verführen will. Dazu lädt er die ganze bäurische Hochzeitsgesellschaft kurzerhand auf sein Schloss ein. Wir haben eben diese Zerlina, die Braut. Die Frage, ob sie von Don Giovanni verführt werden will oder nicht will, oder zwar nicht will, aber auch nicht anders kann, ob es eine Vergewaltigung ist, die Don Giovanni ihr antun wird, oder eine Überwältigung, ob die Verführung durch ihn ein Privileg ist, eine Offenbarung, oder schlichtweg ein Missbrauch – oder ob, was ihr geschieht, eine aus all diesen widerstreitenden Gefühlen zusammengesetzte Erfahrung ist, diese Frage wird in jeder Inszenierung aufs neue gestellt.

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Wir haben Giovannis Diener Leporello, der seinem Herrn dabei behilflich sein soll, den Bräutigam der Zerlina, Masetto, abzulenken, eigentlich besser: ihn zurückzuhalten, damit Don Giovanni sich mit Zerlina allein vergnügen kann. Dieser Bräutigam Masetto ist natürlich auch mit auf der Bühne, er ahnt, was geplant ist, er ist von Zweifeln an der Treue seiner Braut geplagt, und überdies, als sie hörbar in Bedrängnis kommt, außerstande, ihr zu Hilfe zu eilen, eben weil Leporello ihn daran hindert. Außerdem auf der Szene ist ein Komplott aus drei anderen Opfern Don Giovannis: Donna Anna, die ahnt, dass Don Giovanni der Maskierte war, der neulich bei ihr eingebrochen ist, um ihr Gewalt anzutun, und der dann obendrein noch ihren Vater erschlagen hat. Don Ottavio, ihr Verlobter. Und Donna Elvira, eine ehemalige Geliebte von Don Giovanni. Alle drei gemeinsam wollen auf dem Fest Gewissheit darüber erlangen, ob der Verdacht, den Donna Anna gegen Don Giovanni hegt, berechtigt ist. Neben den sieben Solisten, die ich eben aufgeführt habe, gibt es in diesem Finale auch noch vier verschiedene Orchestermusiken: 1. Das Orchester für die Adligen spielt ein Menuett. 2. Das Orchester für den Tanz Giovannis mit Zerlina spielt einen Kontertanz. 3. Das Orchester für Leporello, der Masetto zum Tanzen zwingen will, spielt einen Deutschen Tanz. 4. Und das Orchester an sich spielt natürlich die Oper. Schwerlich kann man sich eine komplexere Anordnung von verschiedensten Seelen und verschiedensten Seelenzuständen, auf einer Bühne und in einem Stück Musik vereint, vorstellen. Der erste Teil dieses Finales beginnt mit einer Szene zwischen den beiden Brautleuten. Masetto ist eifersüchtig und will nicht zulassen, dass Zerlina Don Giovanni allein trifft, er versteckt sich, unmittelbar bevor Don Giovanni zum Rendezvous mit Zerlina auftritt, beobachtet die Szene einige Zeit aus dem Verborgenen und tritt dann hervor. Grundiert wird sein verhaltener Zorn, mit dem er sich an Giovanni wendet, übrigens von denselben Tönen, denen wir später beim endgültigen Strafgericht, als Giovanni zur Hölle fährt, wiederbegegnen. Gegen Ende der kurzen Szene hören wir von jenseits der Bühne, wo der Festsaal angenommen wird, also aus dem Off, zum ersten Mal das Orchester I – das Orchester für das Menuett. Man darf annehmen, dass es schon einige Zeit gespielt hat, aber erst durch Don Giovannis Hinweis auf das schon im Gange befindliche Fest wird es plötzlich hörbar. Durch die Musik wird also nicht nur die Situation, sondern auch die Wahrnehmung erzählt. Wir wechseln vom intimen Dialog der drei Personen zurück in die große Gesellschaft. Giovanni, Zerlina und Masetto begeben sich ins Schloss.

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Nun treten die drei Maskierten auf: Donna Anna, Donna Elvira und Don Ottavio. Leporello, der Diener Don Giovannis, entdeckt sie vor dem Schloss und ruft ihnen aus dem Fenster eine Einladung zu. Wir hören im Hintergrund wieder das Orchester I, das nun bereits ebenjenes Menuett spielt, das auch später von Bedeutung sein wird, hier allerdings in F-Dur. Die drei Maskierten, wohlgemerkt noch vor – nicht im! – Schloss, antworten in der Melodie des Menuetts und nehmen so die Einladung an. Aber jetzt, unmittelbar bevor sie das Schloss betreten, sozusagen auf der Schwelle, passiert etwas ganz Unglaubliches: Die Tonart wechselt von F-Dur zu B-Dur, die Streicher führen in der Einleitung buchstäblich in die Tiefe und verabschieden sich dann, zurück bleiben die drei maskierten Sänger und Holzbläser, also nur die Musik, die aus dem Atmen kommt. Was ist da los? Es ist ja nicht nur das Fest und die Aufklärung des vermuteten Verbrechens, was den Maskierten im Schloss bevorsteht. Sondern jeder von den dreien weiß, d. h. Mozart weiß, dass ihnen selbst möglicherweise Lebensentscheidendes widerfahren wird. Jedem und jeder auf seine, ihre Weise. Es ist Da Pontes genialischem Theaterverstand zu verdanken, dass die drei maskiert sind, aber erst durch die Musik Mozarts wird diese Maskierung auch lesbar als Ermöglichung, versteckt unter dem fremden Gesicht das Ureigene sagen zu können. Die Maske wirkt nach außen hin als Täuschung, nach innen aber hilft sie bei der Bewahrung des Eigenen. Bewahrung, kein Wunder, dass dieses Wort von der Wahrheit kommt. Das Eigene, das Eigentliche hinter der Maske – was also ist das hier, in diesem Terzett? Die Wahrheit über Don Giovanni zu erfahren, wird für Donna Anna bedeuten, die eigene Blindheit, aber vielleicht auch den Wunsch nach Täuschung eingestehen zu müssen. Oder ihre Verführbarkeit? Für Donna Elvira wird die Erkenntnis, einen Mörder und Betrüger geliebt zu haben, einen, der ihrer Liebe nicht würdig ist und ihrer auch gar nicht würdig sein will, für sie wird diese Erkenntnis bedeuten, mit ihrer Liebe auf immer allein zu bleiben. Und Don Ottavio? Zu sehen, dass der Rücksichtslose gewinnt, wir selbst haben Ähnliches gerade bei der Wahl Trumps zum Präsidenten Amerikas erlebt, das zu sehen bedeutet, mit der eigenen Entmachtung, der eigenen Schwäche fertig werden zu müssen. Was den reinen Text angeht, singen Donna Anna und ihr Verlobter Don Ottavio gemeinsam: „Es möge der gerechte Himmel den Eifer meines (bzw. ihres) Herzens beschützen!“, und singt Donna Elvira: „Es möge der gerechte Himmel meine verratene Liebe rächen!“ Aber die Musik erzählt uns davon, dass alle drei sich hinter der Maske ihr Eigentliches fragen: Was, wenn das sogenannte Gute

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nicht ausreicht? Wenn es darauf gar nicht ankommt? Was, wenn jede Freundschaft von nun an einen doppelten Boden hat? Was, wenn man sich selbst aus einem Liebenden, einem Freund in einen Richter verwandeln muss? Wer wird man dann sein? Es sind diese Fragen, die auf der Schwelle von einem Augenblick zum nächsten, von einem Schritt zum nächsten, plötzlich die Zeit aufheben und einen Innenraum öffnen, der uns einen Blick auf diesen schmerzhaften, unumkehrbaren Prozess einer bevorstehenden Verwandlung gewährt. Bühnentechnisch gesehen ist es nur der Schritt in einen Festsaal, den die drei Maskierten vor sich haben, aber seelisch ist es der Schritt ins Unbekannte, nicht Abgesicherte, es ist ein Abschied von dem, was man zu kennen geglaubt hat, und zwar unaufgefangen, ohne die Euphorie eines Neubeginns oder Aufbruchs. Was wir hier wiedererkennen, ist die Unumkehrbarkeit unseres eigenen Weges, unser eigenes Vergehen in der Zeit. Es gibt noch ein anderes Terzett Mozarts – in der Oper Cosí fan tutte, das in einem ähnlichen Moment gesungen wird. Und weil diese Momente des Übergangs das sind, was ich eigentlich in all meinen Büchern zu verstehen versuche, das sind, woran ich immer wieder aufs Neue scheitere, möchte ich mir hier den Luxus einer kurzen Abschweifung leisten. Auch das sogenannte Winde-Terzett in Cosí fan tutte wird von zwei Frauen, Fiordiligi und Dorabella, und einem Mann, Don Alfonso, gesungen – und zwar nach der vermeintlichen Abreise der beiden Verlobten der Damen, zweier junger Männer, die angeblich in den Krieg ziehen müssen. Diese Abreise aber ist nur eine Inszenierung des Spielmachers Don Alfonso, eines Freundes der vier jungen Leute, der dritten Stimme im Terzett. Wir wissen, und vor allem Mozart weiß es natürlich: Die beiden jungen Männer werden alsbald in Verkleidung wiederkehren, um die Treue ihrer Frauen auf die Probe zu stellen. Auch hier wird es um Selbsterkenntnis und Verwandlung gehen, die der Frauen ebenso wie die der Männer, wird es darum gehen, sich vom Sicheren und Heilen auf immer zu verabschieden und sich einer Zukunft anheimzugeben, die aus lauter Fragen gemacht ist. Um das Ungeheure in uns selbst, das wir aushalten müssen. Die Elemente mögen unseren Wünschen, unseren Sehnsüchten, gewogen sein, „risponda ai nostri desir“, singen die beiden Frauen gemeinsam mit Alfonso. Sachlich gesehen bezieht das Wort desir – zu Deutsch ‚Wunsch‘ oder ‚Sehnsucht‘ – sich hier nur auf die in den ersten vier Textzeilen geäußerten Wünsche, nämlich, dass 1. den beiden abreisenden Männer die Winde gnädig und 2. die Wellen des Meeres nicht zu bewegt sein mögen. Aber dann schreibt Mozart zwei Trugschlüsse ausgerechnet auf dieses Wort desir. Die Wünsche gehen fehl, wie man hören kann, und gleichzeitig sagen uns die beiden ver-

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minderten Akkorde: Es wird eng. Der Weg verschwindet. Wir wissen nicht mehr, wie die Auflösung, das ‚Happy End‘, gelingen könnte. Mozart zeigt uns, dass wir es nicht wissen, und zeigt gleichzeitig, dass die Ungewissheit schon in diesem Moment über den Personen des Dramas schwebt, noch bevor ihnen am Ende des Stücks die Frage wirklich gestellt wird. Die Musik, die er ihnen gibt, ist sängerische Gegenwart, aber auch prophetischer Blick in die Zukunft. Durch seine Musik verstehen wir: Erfahrung wird in diesem Stück, wie auch für die drei Maskierten im Don Giovanni, darin bestehen, auszuhalten, dass es die eigenen Wünsche, die eigenen Sehnsüchte sind, die uns in die Irre führen. Dass wir uns in uns selbst verlieren. Kehren wir nun zum Don Giovanni zurück. Alles, was ich weiter oben beschrieben habe, findet seinen großartigen Fortgang in der Szene, in der die drei Masken den Festsaal betreten und Don Giovanni zu ihrer Begrüßung einen Lobgesang auf die Freiheit anstimmt. Die drei Masken fallen ohne zu zögern ein, als gäbe es zumindest die eine Freiheit nicht: nämlich die, beim Lob der Freiheit stumm zu bleiben. Sind sich etwa doch alle einig? Nun, Masetto und Zerlina singen nicht mit. Auch der Chor der Bäuerinnen und Bauern nicht. Und auch nicht der Chor der Diener. Einig ist sich also nur die hohe Gesellschaft. Aber ist wenigstens die sich wirklich einig? Kann die barocke Freiheit, die sich ein Don Giovanni zum Beispiel Zerlina gegenüber herausnimmt, dieselbe sein wie die Freiheit des verdeckten Ermittelns der drei Maskierten, die Freiheit der ‚Aufklärung‘? Oder meint Giovanni mit ‚Freiheit‘ nur ganz konkret seine Gastlichkeit, das blinde Vertrauen, das er den drei Unerkennbaren entgegenbringt? Vielleicht auch fordert er die neuen Gäste durch das Lob der Freiheit zum Einverständnis auf – in Hinsicht auf gewisse Freiheiten, die man sich auf so einem Fest erlauben wird? Dann wäre das Mitsingen so etwas wie das Eintrittsbillett für die Veranstaltung, und zeugte mehr vom Opportunismus der drei Maskierten als von ihrer Freiheitsliebe. Oder werden sie wirklich von Giovannis Freiheitsliebe mitgerissen? Am Ende ist es einfach nur so, dass Mozart sich hier die Freiheit nimmt, die Freiheit zu besingen. Ein Jahr vor der französischen Revolution… Wir jedenfalls sollten vergessen, wie oft wir diesen Einsatz der drei Maskierten gehört haben, wie selbstverständlich er uns inzwischen vorkommt. Wir sollten den selbstverständlichen Mozart vergessen und uns klarmachen, dass er zu seiner Zeit Fragen stellte, und nicht Antworten gab. Mir fiel, als ich diese Musik jetzt noch einmal neu hörte, unwillkürlich Beethovens Musik zu Schillers Ode an die Freude ein. Auch diese Musik hat, besonders seit sie Europas Hymne geworden ist, etwas so Selbstverständliches, dass es schwerfällt, zu hören, was hier von Beethoven und Schiller eigentlich gemeinsam gehofft und gesagt wird: Freude sei das, was die Menschen verbinde. Die Zauber der Freude sollen binden, „was die

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Mode streng getheilt“. Aber wie wenig Freude hat Europa im Moment zu verschenken. Nun aber zurück zu Mozarts „Ode an die Freiheit“. Fakt ist: Es gibt großes Orchester, und dieses stolz und frisch und höchst geordnet angestimmte Lob der Freiheit (welcher Freiheit also auch immer) – dieses marschartige Ensemble setzt den Ausgangspunkt für die nun folgende Zerrüttung, das Auseinanderbrechen, das Aufreißen der vermeintlichen Einigkeit. Behalten wir das Nachdenken darüber, was hier mit Freiheit gemeint sein könnte, im Hinterkopf und kommen endlich zu der Szene, die für mich, wie eingangs gesagt, der Inbegriff von Vielstimmigkeit ist, und zwar, weil hier beide: das Gelingen von Vielstimmigkeit ebenso wie ihr Scheitern von Mozart komponiert sind. Der dreifache Tanz, in letzter Konsequenz die Zerstörung der Ordnung, wird eröffnet durch das strengstens reglementierte, höchst geordnete Menuett. Wir haben es, wie gesagt, neben dem Orchester im Graben tatsächlich mit drei Bühnenmusiken und sieben Solisten zu tun, von der tanzenden Festgesellschaft, die man auf der Bühne zwar nicht hört, aber natürlich sieht, einmal ganz abgesehen. Noch einmal zur Vergegenwärtigung: Das 1. Bühnenorchester, das einsetzt, spielt das Menuett, nach dem bis zum Ende der Szene die Maskierten und offenbar auch die meisten der anderen Anwesenden tanzen – anders als sonst damals üblich also nicht nur Adlige und Bürgerliche, sondern auch die Bauern. Aber das mag hier eher der Notwendigkeit, die Menschenmenge auf der Bühne zu organisieren, geschuldet sein. Das 2. Bühnenorchester spielt einen Kontertanz für Don Giovannis Tanz mit Zerlina. Dieser Tanz ist ein Gruppentanz, dessen Reiz bezeichnenderweise darin besteht, dass die Paare permanent neu gebildet werden. Das 3. Bühnenorchester spielt den Deutschen Tanz, mit dem Leporello Masetto zum Tanzen zwingen will. Der Deutsche Tanz ist ein Drehtanz für Einzelpaare, der wegen des engen Körperkontakts als unzüchtig galt und deshalb ausgerechnet im Salzburger Land um 1770, also nur knappe 20 Jahre, bevor Mozart den Don Giovanni komponierte, verboten wurde. Besonders pikant wird er hier dadurch, dass ein Mann einen anderen Mann zu diesem Tanz zwingt. Abgesehen von der Entwürdigung, die dieser Vorgang besonders auf Masettos eigener Hochzeit darstellt, soll dieser wohl auch durch allzu vieles Drehen schwindlig gemacht werden, die Orientierung verlieren. Und 4. spielt das eigentliche Opernorchester im Graben, allerdings nur bis zum Beginn des Menuetts. Dann setzt es erst wieder in dem Moment ein, als uns das Tanzvergnügen plötzlich um die Ohren fliegt. Aber da sind wir noch nicht. Mozart macht zunächst etwas Geschicktes und quasi Realistisches, um die Orchester, eins nach dem andern, einzuführen: Er lässt sie die Instrumente

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noch während des jeweils vorausgehenden Tanzes einstimmen und dann erst beginnen. Wenn man die Partitur ansieht, fällt eines auf: Das Menuett, vorhin haben wir es in F-Dur gehört, als Leporello die drei Maskierten eingeladen hat – dieses Menuett steht hier plötzlich in G-Dur. Dieselbe Melodie, derselbe Rhythmus – aber alles einen Ton höher. G-Dur ist die Dominante von C, also der Tonart, die an dieser Stelle der Ausgangspunkt ist. Aber ebenso gut hätte Mozart auch bei F-Dur bleiben können, der Subdominante von C. Warum tut er das nicht? Sie alle haben sicher schon oft die Sirene eines Krankenwagens gehört. Nähert der Krankenwagen sich, scheint der Klang der Sirene höher zu werden, ist er vorübergefahren, sinkt die Tonhöhe plötzlich ab – wenn die Entfernung schnell ab- oder zunimmt, nimmt man die Tonwellen anders wahr, der Ton scheint plötzlich höher, bzw. tiefer zu sein. Mozart hat nun zwar sicher niemals in seinem Leben die Sirene eines Krankenwagens gehört, und hat sich bestimmt auch niemals mit einer Geschwindigkeit bewegt, die diesen sogenannten Doppler-Effekt hätte hervorrufen können, aber dennoch scheint mir die Verschiebung derselben Musik um einen Ganzton nach oben genau diesen Effekt zu haben: Wir spüren instinktiv, dass wir plötzlich ganz nah ‚dran‘ sind. Auch die anderen beiden Tänze, die später einsetzen, stehen in G-Dur. Damit sind die Gemeinsamkeiten allerdings auch schon erschöpft. Denn das Menuett steht im ¾-Takt, der Kontertanz im 2/4-Takt, und der Deutsche Tanz im 3/8-Takt. Das heißt, auf 1 Takt Menuett kommen 11/2 Takte Zerlina, bzw. 3 Takte Masetto. Das heißt auch, dass es immer erst nach 6 Takten Masetto eine allen drei Tänzen gemeinsame schwere Zählzeit auf 1 gibt, die das Ganze überhaupt spielbar macht. Dazwischen aber gibt es auf buchstäblich jedem Viertel des Menuetts eine schwere Zählzeit irgendeines der beiden anderen Tänze. Der Charakter des Tanzens an sich, also der Wechsel von betonten und unbetonten Taktteilen, der aus Einzelwesen eine Gemeinschaft macht, das kollektive ‚Spiel‘ wird auf diese Weise ausgehebelt, jede rhythmische Orientierung wird unmöglich, jede Leichtigkeit, jeder Atem wird der Musik so genommen. Hinzu kommt die hochkomplexe und extrem verwirrende Mikrostruktur innerhalb der Takte. Denn wie in der damaligen Musik üblich, gibt es Viertel-, Achtel- und Sechzehntelnoten im Wechsel. Beim Menuett und auch bei Zerlinas Kontertanz kommen auf 1 Viertel 2 Achtel und 4 Sechzehntelnoten. Auf einen Viertelschlag des Menuetts kommen aber auch 3 Achtel eines Masetto-Takts.

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Und auf diese naturgemäß kürzeren Achtel wohl auch hier und da gleichfalls 2 Sechzehntel. Für die Dauer eines Viertels im Menuett gäbe es also folgende Entsprechungen: I (Viertel Menuett und Kontertanz Zerlina) II (Achtel Menuett und Kontertanz Zerlina) III (Achtel Deutscher Tanz Masetto) II II (Sechzehntel Menuett und Kontertanz Zerlina) IIIIII (Sechzehntel Deutscher Tanz Masetto) Das bedeutet, auf ein Viertel des Menuetts kommen manchmal zwei, manchmal drei, manchmal vier, durch Punktierungen fünf, oder schließlich gar sechs Noten. Und manchmal auch all das gleichzeitig. Die Luft ist sozusagen mit Tönen gespickt, es gibt überhaupt keinen Freiraum mehr. Wer von Ihnen Klavier spielt, weiß, wie verteufelt schwer es schon ist, drei auf zwei zu spielen. Die genaue Bruchrechnung aber dessen, was Mozart hier macht, darf ich Ihnen ersparen. Lange kann das nicht gutgehen, das ist ganz klar. Das sensible Gleichgewicht aus Lust und Ordnung, das der Tanz herstellt, wird hier durch dreifaches, gleichzeitiges Tanzen auf die Spitze und in die Gefährdung hineingetrieben, das Menuett versucht sich hier dem Kontertanz, da dem Deutschen Tanz ein wenig anzudienen, aber unter der Oberfläche wohlgesetzter Schritte braut sich Unheil zusammen. Die Beherrschbarkeit von Lust und Gewalt durch Form wird hier mit ungeheurem Spaß, wirklich ungeheurem!, von Mozart in Grund und Boden komponiert. Und gleichzeitig zeugt das, was er hier macht, von einer anderen Art der Ordnung: Durch die komplexe Überlagerung der verschiedenen Musiken und Texte gelingt ihm der Schnitt durch all diese, jeweils ganz anders wahrgenommenen, Zeiten – und damit eine Art von Erzählung, die nichts mehr mit Chronologie zu tun hat: Während wir zum Beispiel sehen, wie Giovanni mit Zerlina zu tanzen beginnt, hören wir Masetto zu Leporello sagen: „Ich will nicht tanzen.“ Und hören unmittelbar darauf Donna Anna, wie sie zu ihrer Freundin Elvira sagt: „Ich kann nicht mehr widerstehen.“ Wenn Don Giovanni zu Zerlina sagt: „Komm mit mir, mein Leben!“, singt gleichzeitig Masetto: „Laß mich! Ach, nein!“ Durch die musikalische Schichtung gelingt es Mozart, derjenigen eine Stimme zu geben, die keine mehr hat, die plötzlich verstummt ist: Zerlina. Dies alles treibt Mozart bis zu dem Punkt, an dem Zerlina, die Giovanni inzwischen tanzend hinweggeführt hat, plötzlich von jenseits der Bühne um Hilfe ruft. Alle drei Bühnenmusiken brechen in diesem Moment abrupt ab – das große Orchester im Graben übernimmt wieder.

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Der verminderte Akkord, den Mozart hier verwendet, ist dem zuvor erwähnten verminderten Akkord im Windeterzett auf dem Wort desir in seiner musikalischen Auflösung eines erkennbaren Weges, der komponierten Darstellung der Ungewissheit, nicht unverwandt. Die drei Maskierten laufen hierhin, laufen dorthin, brechen sogar eine Tür auf und finden schließlich das Bauernmädchen. Mithilfe des verminderten Akkordes sind wir statt wie bisher in G-Dur plötzlich in ganz anderen Tonarten, es gibt kein Generalvorzeichen mehr, schnelle Durchgänge durch diverse Moll-Tonarten führen bis hin zu A-Dur. Aus anderer Richtung erscheint nun Don Giovanni in herrscherlicher Pose und F-Dur. Wie wir später sehen werden, ist es subdominantes F-Dur, er spielt Komödie und beschuldigt seinen Sub-Ordinierten, den Diener Leporello, Zerlina belästigt zu haben – kommt damit aber nicht durch: In chromatischen Figuren und Rückungen, sozusagen einer verfünffachten Rachearie, setzen ihm die Maskierten und Masetto mit Zerlina zu. Insistiert wird von den Rächern allerdings immer brav auf G, also der Dominate von C-Dur, der Schluss ist ein einziger Dominantseptakkord, ein spannungsvolles Warten auf Auflösung, als deren Basis jedoch C-Dur, also die Tonart auf uns wartet, in der Giovanni vor einiger Zeit das Lob der Freiheit angestimmt hat. Kurz vor dem Ende des Finales kommt er mit seinen Verwirrungstonleitern – ich würde sagen: fingierten Verwirrungstonleitern – schon darauf zurück, und richtig: In der Stretta, dem letzten, schnellen Stück dieses furiosen Ensembles, sind wir endlich wieder ganz und gar in C. Kommt man aus diesem C-Dur nie hinaus? Ist das eine Gummiwand, an der sich Don Giovannis Opfer ihre Schädel einrennen? Hat er schon wieder die Kontrolle über die Szene übernommen? Was singt er denn am Ende dieses Finales? „Mir mangelt es nicht an Mut! Ich gebe nicht auf und ich lasse mich nicht beirren, stürzte auch die Welt zusammen! Nichts vermag mir je Angst einzujagen, stürzte auch die Welt zusammen.“ Im Original: „Nulla mai temer mi fa!“ Der Fall war tief, die Verwirrungen und die Turbulenzen enorm, aber angekommen sind wir also nur dort, wo wir schon einmal waren – in C-Dur, und damit beim Ausgangspunkt: der Idee von der schönen und einfachen, in letzter Konsequenz aber eben auch rücksichtslosen Freiheit. Mit dieser Ahnung entlässt uns Mozart am Ende des Ersten Aktes. All dies sollte nur einen kurzen Eindruck davon geben, was beim genauen Hinhören zu entdecken sein kann, und warum es mir so unselbstverständlich erscheint, dass Mozart auf so vielen Ebenen gleichzeitig zu erzählen vermag. Wie unselbstverständlich, dass es ihm gelingt, durch Musik, die ja in der Zeit stattfindet, die Zeit aufzuheben. Und wie unselbstverständlich erst, dass sich das Eigentliche in seiner Musik manchmal auf der Ebene des Schweigens abspielt. Das, was ich an seiner Musik als zutiefst wahr empfinde, kommt, so scheint mir,

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nicht nur aus seinem tiefen Wissen über das, was Menschen bewegt, wenn sie ganz bei sich sind, sondern ebenso aus seinem großen Spaß an deren Verstellungs- und Täuschungsmanövern, das heißt sowohl an dem, was Stimmen jenseits eines Textes oder über einen Text hinaus auszudrücken vermögen, als auch an dem, was ohne das Wissen der Personen, quasi unterbewusst, im musikalischen Ausdruck durchscheint – also an all dem, was sich mit Worten eben nicht sagen lässt. Dass wir es dennoch verstehen, und zwar wortlos verstehen, ist vielleicht nur möglich, weil dieses Eigentliche, auf das seine Musik sich bezieht, weil dieses unnennbare Eigentliche wohl der allen Menschen gemeinsame Erfahrungs-Urgrund unserer Endlichkeit ist. So wie die Erdkugel unter unseren Füßen eigentlich uns allen gehört, eigentlich nichts weiß von den Grenzen, die da oder dort, für längere oder kürzere Zeit, auf ihr festgelegt werden. Von ihr kommen wir alle, und zu ihr kehren wir, das ist uns wohlbekannt, als Staub oder Asche, zurück. Berlin, Dezember 2016

Register Abert, Hermann 18, 25 f. Adler, Guido 25, 29 Adorno, Theodor W. 4, 157 Anna Amalia, Herzogin 55–57 Avison, Charles 46  

Eichendorff, Joseph von 99, 109 f., 114 Einstein, Alfred 30 f., 34 Eisler, Hanns 119, 136, 138 Elias, Norbert 165, 169–171 Erpenbeck, Jenny 219–230 Euler, Leonhard 43, 46 Feilchenfeldt, Konrad 137 Forman, Milos 10, 204, 213 f., 216 Freud, Sigmund 7, 170 Friedrich, Caspar David 79 f.  



Bach, Carl Philipp Emanuel 48 f. Bach, Johann Sebastian 2, 83, 119, 122, 125, 142, 175, 177, 188 Bachmann, Ingeborg 10 f. Barth, Karl 176–178, 186–190 Beethoven, Ludwig van 2, 76, 85–87, 142, 164 f., 169, 171, 187, 189–191, 225 Beil, Hermann 148, 150 Beilharz, Norbert 145 Bellomo, Joseph 60 Benzin, Johann Gottlieb 47 Bernhard, Thomas 2, 141–154 Bernstein, Elmar 209 f. Boccacio, Giovanni 20 Bodmer, Johann Jakob 43 Böhm, Karl 149 Borchmeyer, Dieter 62 Böttiger, Carl August 57, 79 Brecht, Bertolt 4, 119–138 Breitinger, Johann Jakob 43 Büchel, Wolfgang 77 f. Bullinger, Abbé 9 Burckhardt, Jacob 27  













Geck, Martin 74 Gellert, Christian Fürchtegott 43 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von 48 Gessner, Salomon 43 Geyer, Georg 120 f. Gluck, Christoph Willibald 48, 57 Goethe, Johann Wolfgang 1, 6, 16, 18, 53, 55–71, 82, 84, 125, 165, 167 Gottsched, Johann Christoph 43, 46 Grillparzer, Franz 102, 104, 203 Grimm, Friedrich Melchior 43 Gulda, Friedrich 221 Gülke, Peter 5  

Haas, Robert 29 Hagedorn, Friedrich von 105 Haibl, Sophie 121 Hamm, Peter 144 Hammer, Karl 178, 187, 190 f. Händel, Georg Friedrich 2, 122, 142 Harnoncourt, Nicolas 5 Hauptmann, Elisabeth 120 f. Haydn, Joseph 2, 76, 142, 164 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 161, 163 f. Herder, Johann Gottfried 56 Hildesheimer, Wolfgang 74 f., 205 Hiller, Johann Adam 27 Hillesheim, Jürgen 119–139 Hindemith, Paul 177 Hoffmann, E.T.A. 4, 10, 73, 85–89, 94, 157–162, 164, 167, 171 Hofmann, Bernhard 193–202 Homer 1, 5  

Calvin 187 Campell, Don 195 f. Carl August, Herzog 57 Chabris, Christopher 198 Cohen, Hermann 158 f., 161, 166, 168 f., 171 Colloredo, Hieronymus Graf 180 f.  













Da Ponte, Lorenzo 51, 124, 136 Dante Alighieri 20 Darwin, Charles 164 Dessau, Paul 120 f. Diderot, Denis 43 Dilthey, Wilhelm 158, 166–171 Dümling, Albrecht 120  

DOI 10.1515/9783110492989-014

232

Register

Horaz 46, 105 Hotho, Gustav 158, 161 f., 167, 171  

Iffland, August Wilhelm 66, 68

Massin, Jean 32 f. Mattheson, Johann 27 Mayer, Mathias 1–12, 41 Mendelssohn Bartholdy, Felix 153 Mendelssohn, Moses 44 f. Meyer, Johann Heinrich 56 f. Michelangelo 20 Misch, Georg 168 Mörike, Eduard 6, 10, 86, 93–116 Moritz, Karl Philipp 2 Mozart, Constanze 7, 9, 21, 95, 182, 212, 215 Mozart, Leopold 3, 9, 42–53, 91–93, 170, 179– 183, 214 f. Mundt, Theodor 101, 104 Muratori, Ludovico Antonio 43, 48  



Jahn, Otto 22–24, 26, 121 Jäncke, Lutz 195–197 Janowitz, Gundula 149 Jommelli, Niccolo 18 Joseph II. 42, 181



Kant, Immanuel 167–169 Kayser, Philipp Christoph 60 f. Keller, Gottfried 102, 104, 113 f. Kierkegaard, Søren 4, 94, 158 f., 161–163, 169, 171 Klauer, Martin Gottlieb 56 Klein, Anton von 8 Klopstock, Friedrich Gottlieb 48 Knebel, Carl Ludwig von 55 Kohl, Christine von 144 Konrad, Ulrich 9, 15–40 Koopmann, Helmut 91–116 Körndle, Franz 203–218 Kraus, Georg Melchior 65 Krause, Christian Gottfried 49 Kreutzer, Hans Joachim 61 Kunze, Reiner 41 Kunze, Stefan 128 Küster, Konrad 32–34 Ky, Katherine 193, 196–198  





Landis, John 208–210 Lavater, Johann Caspar 5 Leopold, Silke 76 Lessing, Gotthold Ephraim 165 Lichtenberg, Georg Christoph 5 Lipp, Wilma 148 Löffler, Susanna 141–155 Lombroso, Cesare 102 Luther, Martin 187 Lütteken, Laurenz 41–54



Nicolai, Gustav 213, 216 Niemetschek, Franz Xaver 7, 20, 56, 95, 121, 212 Nietzsche, Friedrich 164 f., 166, 168, 171 Nissen, Georg Nikolaus von 7, 21 f., 95, 121, 210 f. Nohl, Herman 168 Novalis 146, 161  





Oulibicheff, Alexandre (auch: Ulibicheff) 22, 93, 95 Peymann, Claus 148, 152 Piscator, Erwin 125 Plutarch 10 Puchberg, Michael 9 Puschkin, Alexander 10, 212 f. 216  

Rauscher, Frances 193 f., 196–200 Reichardt, Johann Friedrich 50 Rochlitz, Friedrich 20, 185, 212 Rösing, Helmut 205 Rousseau, Jean-Jacques 180 Rushton, Julian 32, 34  

Safranski, Rüdiger 89 Saint-Fox, Georges de 24 f. Salieri, Antonio 92, 98, 203, 210–216 Sandberger, Adolf 30 f. Schenk, Erich 30–32 Scherliess, Volker 84  

Mährlen, Johannes 94 Mannheim, Karl 157 Marpurg, Friedrich Wilhelm 47 Marx, Karl 125



233

Register

Schikaneder, Emanuel 63, 66, 69, 146, 220 Schiller, Friedrich 8, 66 f., 167, 225 Schinkel, Karl Friedrich 77 f., 80 Schlegel, August Wilhelm 101 Schlegel, Friedrich 101 Schleiermacher, Friedrich 186 f. Schlichtegroll, Friedrich 20 Schmaus, Marion 157–173 Schmid, Stefan 73–90 Schopenhauer, Arthur 59 Schostakowitsch, Dimitri 177 Schubart, Christian Friedrich Daniel 53, 84 Schubert, Franz 31, 77, 82, 142, 200, 220 Schumann, Robert 18 Schurig, Arthur 25 f. Seidlin, Oskar 70 Shaffer, Peter 213 f., 216 Shakespeare, William 1, 4, 22, 43, 105, 124, 131, 162 Shaw, Gordon 193, 196–198 Siebik, Anton Leopold 20 f. Soret, Frédéric 66  



Suchy, Viktor 143 Süßmayr, Franz Xaver 206 f. Swieten, Gottfried van 52 f.  



Tieck, Ludwig 104, 207







Valk, Thorsten 55–72, 85, 87 Vasari, Giorgio 20 Voltaire, François Marie A. 20, 180 f.  

Wackenroder, Wilhelm Heinrich 207 f., 210 Wagner, Richard 1, 77, 164, 166 Waiblinger, Wilhelm 93 Wedekind, Frank 130 Wieland, Christoph Martin 56, 167 Winkler, Jean-Marie 147 Wittgenstein, Paul 150 Wölfflin, Heinrich 28 f. Wranitzky, Paul 66 Wyzewa, Théodore de 24 f.  







Zelter, Carl Friedrich 67 f.