Von der Konjunkturforschung zum Kompetenzzentrum: 95 Jahre Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung [1 ed.] 9783205215684, 9783205215660, 9783205215677

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Von der Konjunkturforschung zum Kompetenzzentrum: 95 Jahre Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung [1 ed.]
 9783205215684, 9783205215660, 9783205215677

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FELIX BUTSCHEK GUNTHER TICHY EWALD WALTERSKIRCHEN

VON DER KONJUNKTURFORSCHUNG ZUM KOMPETENZZENTRUM

95 JAHRE ÖSTERREICHISCHES INSTITUT FÜR WIRTSCHAFTSFORSCHUNG

© 2022 Böhlau, ein Imprint der Brill-Gruppe ISBN Print: 9783205215660 — ISBN E-Book: 9783205215677

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Felix Butschek · Gunther Tichy · Ewald Walterskirchen

Von der Konjunkturforschung zum Kompetenzzentrum 95 Jahre Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung

Böhlau Verlag wien köln

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Veröffentlicht mit der Unterstützung durch  : Amt der N.Ö. Landesregierung Arbeiterkammer Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; d ­ etaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 Böhlau, Zeltgasse 1, A-1080 Wien, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore  ; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland  ; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Korrektorat  : Constanze Lehmann, Berlin Einbandgestaltung  : Michael Haderer, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-205-21566-0

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Inhalt Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  9 1.

Gründer Hayek und Nachfolger Morgenstern  : Strikte Trennung von wissenschaftlicher Konjunkturanalyse und persönlicher Beratung . . . . . 11

1.1 Theoriegeleitete problemorientierte Konjunkturanalyse . . . . . . . . . 11 1.2 Südosteuropaforschung – Das Institut im Kriege . . . . . . . . . . . . . 22 2.

Die Wiederbelebung durch Franz Nemschak  : Das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung als Dienstleister für Politik und Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7

Probleme einer Übergangswirtschaft.. . . . . . . . . . . . . . Erste Ansätze der Sozialpartnerschaft . . . . . . . . . . . . . . Der Kampf um die Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . Die Wandlung der Ökonomen-Szene . . . . . . . . . . . . . . Die Rückkehr zur Konjunkturforschung.. . . . . . . . . . . . Das »Goldene Zeitalter« mit dem Ende der Ära Nemschaks. . Eine neue Forschungsrichtung – Osteuropaforschung . . . . .

3.

Hans Seidel  : 1973 bis 1980 – Der Wirtschaftsforscher als politischer Berater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

3.1 Sachkundige und objektive Vermittlung zwischen den Sozialpartnern als wichtige Aufgabe des WIFO. . . . . . 3.2 Der liberale Keynesianismus der »Großen Synthese«. . . 3.3 Austro-Keynesianismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Wirtschaftspolitik in der Kreisky-Ära . . . . . . . . . . . 3.5 Das WIFO in der Seidel-Ära . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Finanzierung des WIFO . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Verwissenschaftlichung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3 Wichtige WIFO-Arbeiten in den Jahren 1973 bis 1980. . 3.6 Der Wechsel Seidels ins Finanzministerium. . . . . . . . 4.

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33 37 42 46 48 52 55

63 64 65 66 68 68 69 70 72

Helmut Kramer  : 1981 bis 2005 – Zunehmende Internationalisierung der Wirtschaftsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

4.1 Helmut Kramer – Persönlichkeit und Arbeitsstil . . . . . . . . . . . . . 74 4.2 Das WIFO-Leitungsteam. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

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6 | 

Inhalt

4.3 4.4 4.5 4.6

Expansion des WIFO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internationalisierung der Wirtschaftsforschung.. . . . . . . . . . . . Strukturkrise der 1980er-Jahre als Herausforderung für das WIFO .. EU-Beitritt Österreichs dominierte die Wirtschaftsforschung in den 1990er-Jahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.1 Auswirkungen der Ostöffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.2 EU-Beitritt Österreichs im Jahr 1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.3 Einführung des Euro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.4 Regierungswechsel im Jahr 2000 traf das WIFO . . . . . . . . . . . . 4.7 Wichtige Arbeiten der fünf Forschungsbereiche . . . . . . . . . . . . 4.7.1 Makroökonomie und europäische Wirtschaftspolitik.. . . . . . . . . 4.7.2 Arbeitsmarkt, Einkommen und soziale Sicherheit . . . . . . . . . . . 4.7.3 Industrieökonomie, Innovation und internationaler Wettbewerb . . . 4.7.4 Strukturwandel und Regionalentwicklung.. . . . . . . . . . . . . . . 4.7.5 Umwelt, Landwirtschaft und Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8 Wirtschaftsforscher zwischen Theorie, Statistik, Politik und Medien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.1 Medienpräsenz des WIFO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.2 Das WIFO und die Hochschulen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.3 Heimische Konkurrenz in der Wirtschaftsforschung . . . . . . . . . . 5.

 81  82  83  84  85  88  88  90  91  92  93  94  94  95  96

Die Ära Aiginger 2005 bis 2016  : Internationalisierung durch Großprojekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  99

5.1 5.2 5.3 5.4

Die nicht realisierbare Anhebung des Wachstumspfads . . . . . . . Expansion und zunehmende Internationalisierung des Instituts.. . Die »Verwissenschaftlichung« der Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . Die Aushängeschilder der Ära Aiginger  : Nationale und internationale Großprojekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Wirtschaftsforschung im Spannungsfeld von Theorie, Empirie und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Gegenwind durch Krisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.

 78  79  80

. 100 . 104 . 106 . 108 . 114 . 116

Der Wandel der Wirtschaftsforschung in neun Jahrzehnten  : Von der Konjunkturanalyse zum Kompetenzzentrum. . . . . . . . . . . 117

6.1 Die zentrale Bedeutung von Unabhängigkeit und Grundfinanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 6.2 Von der Konjunktur- über Wirtschafts- und Politikanalyse zum Kompetenzzentrum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

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Inhalt 

6.3 Der Trend zur Verwissenschaftlichung des Instituts . . . . . . 6.4 Spezifische Zielgruppen und Bedeutung der Politikberatung . 6.4.1 Wechselnde Zielgruppen der Institutsarbeit. . . . . . . . . . . 6.4.2 Politikberatung  : Neutrale Analyse, indirekte oder direkte Empfehlungen  ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3 Erwünschte und unerwünschte Politikberatung.. . . . . . . . 6.4.4 Wirtschaftspolitische Stellungnahmen der Mitarbeiter. . . . .

| 7

. . . . 120 . . . . 123 . . . . 123 . . . . 124 . . . . 127 . . . . 128

Epilog. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

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Vorwort Das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung zählt zu den ältesten in Europa. Es wurde 1927 von Ludwig Mises und dem späteren Nobelpreisträger Friedrich A.  Hayek als Institut für Konjunkturforschung gegründet, feiert also 2022 sein 95-jähriges Jubiläum. Hayek nahm auch die Stelle des ersten Direktors ein. Ihm folgte nach seiner Berufung an die London School of Economics 1931 Oskar Morgenstern, der diese Position bis 1938 innehatte. Das Institut erlangte in kürzester Zeit internationale Anerkennung. Seine Mitarbeiter zählten zu den Spitzen der Nationalökonomie  ; sie standen in engem Kontakt mit ihren ausländischen Kollegen. Die Forschungsarbeit konzentrierte sich auf die Analyse der Konjunktur und bemühte sich um wertfreie Darstellung. Nach dem deutschen Zwischenspiel als Institut für Südosteuropaforschung erlebte es seine Neugründung als Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung. Obzwar es sich organisatorisch an die Tradition als Einrichtung der Sozialpartner anlehnte, kamen ihm nunmehr ganz andere Aufgaben zu. Es galt, sämtliche Aspekte der heimischen Wirtschaft zu analysieren und das Resultat dieser Untersuchungen der Öffentlichkeit in den Monatsberichten als Basiswissen über die österreichische Wirtschaft als Öffentliches Gut wertfrei zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus stand das WIFO der Bundesregierung beratend zur Verfügung. Das Institut wurde in hohem Maße durch seine Direktoren geprägt. Den stärksten Widerhall in der Öffentlichkeit fand Franz Nemschak, der in einer eige­ nen Schriftenreihe sehr akzentuierte Meinungen zur Wirtschaftspolitik vertrat, wodurch er mitunter in scharfen Gegensatz zur Bundesregierung geriet – gelegentlich mit entsprechenden Folgen für die Institutsfinanzierung. Eine ganz andere Position nahm Hans Seidel ein. Er repräsentierte den Wirtschaftsforscher schlechthin. Er verband theoretisches Wissen mit der präzisen Kenntnis der wirtschaftlichen sowie der politischen Gegebenheiten des Landes. Er war immer um Ausgleich der Gegensätze bemüht, wodurch ihm eine zentrale Funktion im Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen zukam. Helmut Kramer bemühte sich stets, die unparteiische Stellung des Hauses zu unterstreichen und in seinen Vorträgen ebenfalls einen ausgleichenden Ansatz zu verfolgen. Karl Aiginger ging über die reine Forschung hinaus, indem er aktiven Einfluss auf die Wirtschaftspolitik ausübte und die dafür notwendigen Instrumente erarbeitete. Allerdings gelang es ihm nicht, die angestrebte Wachstumsbeschleunigung zu realisieren. Wohl aber vermochte er den Aufgabenbereich des WIFO auf

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Vorwort

neue Gebiete auszuweiten, vor allem jenen der Umweltproblematik. Unter diesem breiten Ansatz war er in der Lage, ein großes EU-Projekt (Welfare, ­Wealth and Work for Europe) zu übernehmen. Überdies bemühte er sich, die Verwissenschaftlichung des Hauses voranzutreiben. Die jüngere Entwicklung wurde nicht in die Untersuchung einbezogen, ­einerseits, weil sie der Gegenwart zu nahekam, andererseits die langfristige Auswirkung der Corona-Pandemie auf das Institut noch nicht abgeschätzt werden konnte. Die Studie wurde in hohem Maße durch ständige Diskussion der drei Autoren geprägt1. Schwerpunktmäßig betreute Felix Butschek die Kapitel 1 und 2 (Hayek, Morgenstern, Nemschak), Ewald Walterskirchen die Kapitel  3 und 4 (Seidel, ­Kramer) sowie Gunther Tichy die Kapitel 5 und 6 (Aiginger, Resümee). Unser Dank gilt allen Institutionen, welche durch finanzielle Unterstützung den Druck des Buches förderten, insbesondere dem gegenwärtigen Direktor des WIFO, Gabriel Felbermayr. Ebenso Christa Magerl, welche die Redaktion der Studie übernommen und in gewohnter Perfektion zur Druckreife geführt hat.

1 Zur besseren Lesbarkeit wird in der vorliegenden Arbeit auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Es wird das generische Maskulinum verwendet, wobei beide Geschlechter gleichermaßen gemeint sind.

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1. Gründer Hayek und Nachfolger Morgenstern  : Strikte Trennung von wissenschaftlicher Konjunkturanalyse und persönlicher Beratung

Friedrich A. Hayek

Oskar Morgenstern

© WIFO

© WIFO

1.1 Theoriegeleitete problemorientierte Konjunkturanalyse Die Anfänge der Konjunkturforschung in Österreich gehen auf den Hofrat der k. k. Statistischen Zentralkommission, Professor Franz Xaver Neumann-Spallart, zurück. Er stellte seit 1870 regelmäßig statistische Übersichten für ein Statistisches Jahrbuch zusammen. 1878 erweiterte er dieses Material und publizierte es unter dem Titel »Uebersichten über Produktion, Verkehr und Handel in der Weltwirthschaft«. Die Daten für die Messung der Wirtschaftslage teilte er in primäre (Produktion, Konsum, Verkehr, Handel), »welche regelmäßig den Charakter der nothwendigen Verursachung ökonomischer und socialer Folgeerscheinungen im ursprünglichen Sinn an sich tragen«, sekundäre (Güterpreise und Arbeitslöhne, Diskontsätze, Gründungen und Emissionen, Rentabilität, Kurswert, Fallimente), »welche sich vorwiegend als Folge der vorausgehenden ergeben … und mit geringerer Wichtigkeit betrach-

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Gründer Hayek und Nachfolger Morgenstern

tet werden können« sowie reflektorische Symptome (Arbeiterentlassungen, Strikes, Ein- und Auswanderung, Bevölkerungsbewegungen, sozialethische Symptome), »die nicht das Wirthschaften, sondern die aus demselben hervorgehenden gesellschaftlichen Erscheinungen mit rückwirkender Bedeutung betreffen«. Danach gliederte er das statistische Material, um es zu interpretieren (Tichy, 1973, S. 55). Die Bedeutung Neumann-Spallarts sowie seines Nachfolgers, Sektionschef Professor Franz Juraschek, lässt sich daran ermessen, dass seine Arbeit nur 15  Jahre nach der ersten Konjunkturtheorie von Juglar und drei bis vier Jahrzehnte vor den Materialsammlungen von Mitchell und Spiethoff erschienen ist. Mit dem Zerfall der Monarchie und den ökonomischen Folgen des Ersten Weltkrieges ging das Interesse an der Konjunkturforschung verloren. Die Konjunkturforschung begann in den USA. Dort entstanden Konjunkturforschungsinstitute, wie das Harvard Committee of Economic Research (1917) und das National Bureau of Economic Research (1920), sowie auch zahlreiche kommerzielle Forschungseinrichtungen. Ab den 1920er-Jahren griff diese Entwicklung auch auf Europa über, wo es zur Gründung solcher Institute kam, und zwar in Russland (1920), in Schweden (1922) sowie in England und Frankreich (1923) und schließlich in Deutschland (1925) (Tichy, 1973, S. 58). In Österreich wurde Friedrich A. Hayek aktiv, damals juristischer Konsulent des Abrechnungsamtes für Vorkriegsschulden, welches unter der Leitung von Ludwig Mises, leitender Sekretär der Wiener Handelskammer, stand. Im Rahmen eines 15-monatigen Karenzurlaubes, jedoch auf eigene Kosten (Reichmann, 2010, S. 47), besuchte er 1923 die USA, um dort die Methoden und Einrichtungen der Konjunkturbeobachtung zu studieren. Die Ergebnisse dieses Forschungsaufenthaltes stießen auf Interesse bei Mises, welcher seinerseits die Initiative ergriff, um ein Institut ins Leben zu rufen, welches derartige Aufgaben für Österreich übernehmen könnte. Vorstellungen, dieses Projekt im Rahmen der Wiener Handelskammer zu verwirklichen, erachtete er als unzweckmäßig, da die Ergebnisse der Forschung damit einen politischen Stempel trügen. Mises schlug daher vor, das Institut als einen privaten Verein zu etablieren, dessen Träger der Bund, öffentliche Stellen sowie die Interessenvertretungen sein sollten (Hayek, 1977, S.  13). Dieser Auffassung trat zunächst Benedikt Kautsky entgegen, der den »Konjunkturstatistischen Dienst« dem Bundesamt für Statistik eingliedern wollte. Mises vermochte jedoch Kautsky zu überzeugen, dass auf diese Weise die erforderliche Unabhängigkeit der Einrichtung gefährdet wäre, nicht zuletzt wegen der dadurch gegebenen Weisungsgebundenheit (Mautner Markhof – Nemschak, 1967, S. 6). Im Herbst 1926 legte Mises schließlich eine Denkschrift über die Gründung eines »österreichischen Konjunkturbeobachtungsdienstes« vor. Am 20. Septem­

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Theoriegeleitete problemorientierte Konjunkturanalyse 

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ber 1926 beschloss die Präsidentenkonferenz der österreichischen Handelskammern, ein Proponentenkomitee für die Gründung eines österreichischen Konjunkturforschungsinstituts zu bilden. Am 6.  Oktober 1926 wurde dieser Beschluss verwirklicht. Ihm gehörten Vertreter des Bundeskanzleramtes, des Bundesamts für Statistik, des Handelsministeriums, der Arbeiterkammer, des Bankenverbandes, des Niederösterreichischen Gewerbevereines und des Gremiums der Wiener Kaufmannschaft an. Am 30. Oktober 1926 wurde ein Entwurf der Vereinsstatuten beschlossen. Am 15. Dezember 1926 trat die konstituierende Vollversammlung zusammen und gründete den Verein »Österreichisches Institut für Konjunkturforschung«. Dieses nahm am 2. Jänner 1927 seine Tätigkeit in der Wiener Handelskammer auf (Mautner Markhof – Nemschak, 1952, S. 9 f.). Als Organe dieses Vereines waren ein Präsidium, ein Vorstand (ursprünglich »Ausschuss«) – der allerdings eher die Funktion eines Aufsichtsrats wahrzunehmen hatte – sowie ein Kuratorium vorgesehen. Die Geschäftsordnung bestimmte, dass die Position des Präsidenten stets jenem der Handelskammern zufallen sollte  ; die Wissenschaft wurde durch Richard Reisch sowie Ludwig Mises vertreten. Diese umfangreiche Organisation sollte das Institut nicht nur im Bereich der Wirtschaft verankern, sondern vor allem die partei- und interessenpolitische Neutralität sicherstellen. Die Finanzierung des Instituts übernahmen in erster Linie die Mitglieder des Vorstands (Reichmann, 2010, S. 64). Doch trug dieses selbst durch Verkauf der Monatsberichte ebenso wie durch Akquisition ausländischer Mittel, insbesondere der Rockefeller Foundation, einiges dazu bei. Übersicht 1  : Die Finanzierung des Österreichischen Instituts für Konjunktur­ forschung 1929   Jahresbudget                  

Schilling 60.000

Handelskammern

10.000

davon  : Handelskammer Wien

6.000

Arbeiterkammer Wien

3.000

Österreichische Bundesbahnen

5.000

Hauptverband der Industrie

2.500

Oesterreichische Nationalbank

10.000

Börsekammer

2.000

Bankenverband

5.000

Bundesregierung

4.950

Quelle  : Klausinger (2017), S. 936.

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Gründer Hayek und Nachfolger Morgenstern

Freilich war ursprünglich die Proportionalität zwischen den Organen und der Forschungsarbeit nicht gegeben, weil das Institut vorerst nur aus Hayek und seiner Sekretärin bestand. Diesen beiden gesellte sich in Folge ein Graphiker hinzu. Die Gründung und rechtliche Basis des Österreichischen Instituts für Konjunkturforschung erweist sich in vieler Hinsicht als bemerkenswert. Da ist zunächst das steigende Interesse an wirtschaftsstatistischen Daten. Die Kammer für Arbeiter und Angestellte gab bereits ab 1925 das »Wirtschaftsstatistische Jahrbuch« heraus. Dieses enthielt nicht nur alle greifbaren offiziellen Statistiken, sondern auch solche, welche von der Arbeiterkammer oder den Gewerkschaften selbst erhoben oder zusammengestellt wurden. Auf der Basis dieser Daten erarbeitete die Abteilung für Volkswirtschaft und Statistik der Arbeiterkammer bereits umfangreiche Konjunkturanalysen (Butschek, 1996, S. 46). Weiters aber scheint es, dass mit der Gründung dieses Instituts bereits die Basis für die wirtschaftliche Zusammenarbeit der Sozialpartner gelegt wurde, welche für die Zweite Republik charakteristisch und bedeutsam werden sollte. Man muss sich vor Augen halten, dass diese Kooperation in einer Atmosphäre zustande kam, welche durch gravierende innenpolitische Spannungen gekennzeichnet war, die sich schließlich in einem Bürgerkrieg entluden. Das autoritäre Regime änderte das Institut grundsätzlich nicht, allerdings übernahmen die Vertretung der Arbeiterkammer nunmehr Exponenten des Systems. Die Berichterstattung wandelte sich dadurch auch nicht und Benedikt Kautsky blieb unverändert Mitglied des Kuratoriums. 1931 wurde Hayek an die London School of Economics berufen. Seine Nachfolge übernahm Oskar Morgenstern, Assistent von Hans Mayer, Professor an der Universität Wien. Unter seiner Leitung wurde der Stab wissenschaftlicher Mitarbeiter ausgeweitet. Die Monatsberichte wiesen für 1933 Gottfried Haberler als solchen aus, 1935 folgten Reinhard Kamitz und Ernst John. Daneben aber existierte eine beträchtliche Zahl weiterer Ökonomen, welche in einem loseren Verhältnis zum Institut standen. Dazu zählten Adolf Kozlik, Max Mitic, Josef Steindl, Gerhard Tintner und Abraham Wald. Auch Alexander Gerschenkron war kurze Zeit am Institut tätig sowie, nach eigenen Angaben, welche durch eine briefliche Mitteilung durch Morgenstern bestätigt wurden, Bruno Kreisky (Kreisky, 1977, S. 48). Am 17. Juni 1927 erschienen nach halbjähriger Vorbereitung die ersten »Monatsberichte« des Instituts, ab Juli sodann regelmäßig gegen Monatsende. Das Institut orientierte sich in seiner Arbeit an dem von der Universität Harvard entwickelten »Konjunkturbarometer«. Dieses enthielt drei Kurven  : Die A-Kurve fasste

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Theoriegeleitete problemorientierte Konjunkturanalyse 

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im Wesentlichen die durchschnittliche Bewegung der Aktienkurse zusammen, die B-Kurve kombinierte die Großhandelspreise mit Umsatzzahlen und mit der Roheisenproduktion, die C-Kurve enthielt die Veränderung der Eskomptesätze sowie Einlagen und Kredite der New Yorker Banken. Diese trend- und saisonbereinigten Kurven repräsentierten in der angegebenen Reihenfolge vorauseilende, gleichzeitige und verzögerte Konjunkturindikatoren. Aus deren Bewegungen ließen sich Hinweise auf die Konjunkturlage gewinnen und – vorsichtige – Prognosen erstellen (WIFO-Monatsberichte, 1–6/1927, S. 11). Für das Institut galt es nun, gleichfalls die statistischen Daten zu sammeln, aber auch die Schaffung neuer solcher anzuregen und schließlich diese laufend zu publizieren. Eine Aufgabe, welcher es sich durchaus mit Erfolg widmete, da die Zahl der statistischen Reihen in den Monatsberichten ständig zunahm. Freilich blieben sie von einem wünschenswerten Ausmaß auch nach Meinung ­Hayeks noch weit entfernt, und manchmal erwiesen sie sich noch als problematisch, wie etwa der Index der Industrieproduktion. Darüber hinaus jedoch schien es zweckmäßig, die interessierte Öffentlichkeit über das analytische Vorgehen der Forscher aufzuklären. Daher widmete sich das erste Heft in umfassender Weise dieser Aufgabe. So wurden die Leser über die grafische Darstellung der Reihen informiert, über die Ausschaltung von Saisoneinflüssen sowie des Trends und eben auch die Funktionsweise des Konjunkturbarometers. Darauf folgte jedoch bereits die eingehende Beschreibung der wirtschaftlichen Situation Österreichs, aber auch der internationalen Konjunkturlage. Schließlich enthielt das Heft sämtliche jeweils verfügbaren österreichischen Wirtschaftszahlen. In seiner laufenden Konjunkturanalyse verwendete das Institut eine österreichische Version des Harvard-Barometers. Wohl wurde dieses in Heft 1–6/1927 für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg vorgestellt und mit jenem anderer Staaten verglichen (S. 14), in den folgenden Jahren aber nicht verwendet. Hayek erklärte dies folgendermaßen  : »Der Konstruktion eines ausgearbeiteten Barometers von der Art, wie sie für die Vorkriegszeit versucht wurde, stehen aber in nächster Zeit noch unüberwindliche Hindernisse entgegen. Die völlig unterbrochene Kontinuität der Entwicklung der österreichischen Wirtschaft schließt es bei den meisten heute laufend zur Verfügung stehenden Reihen völlig aus, ihre rein konjunkturbedingten Bewegungen zu isolieren und in periodischen Werten gegenüberzustellen, wie dies im Harvard-Barometer geschieht« (WIFO-Monatsberichte, 1–6/1927, S. 16). Hauptstütze der Berichterstattung wurden »einige typische Reihen zur Konjunkturentwicklung in Österreich«, welche in drei ähnlichen Gruppen organi-

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Gründer Hayek und Nachfolger Morgenstern

siert waren wie das Harvard-Barometer  : Effektenmarkt, Warenmarkt, welcher allerdings auch Arbeitsmarktdaten sowie Preise umfasste, sowie Geldmarkt. Um aber eine Messgröße für die laufende Konjunkturentwicklung zur Verfügung zu stellen, konstruierte das Institut einen »Index des allgemeinen Geschäftsganges«. Dieser enthielt die saisonbereinigten Werte von Produktion, Verbrauchsgüterumsätzen, reagiblen Warenpreisen, Lohnsumme in Wien, Rohstoffeinfuhr, Wagengestellungen der Bundesbahn sowie Giroumsätze der Nationalbank und der Postsparkasse. Trotz des intensiven Engagements, mit welchem Hayek an die Konjunkturforschung heranging, erstaunt aus heutiger Sicht die Skepsis gegenüber den Resultaten dieser Bemühungen, die immer wieder in den Texten zu erkennen ist. Eine Reserve, welche sich nicht nur aus der gebührenden Zurückhaltung des Forschers einem neuen Ansatz gegenüber erklärt oder dem Entschluss, ausschließlich die Daten sprechen zu lassen – also »measurement without theory« zu betreiben. Es war, wie Tichy ausgearbeitet hat, die theoretische Position der Akteure, welche diese Skepsis erklärt. Die Methodik der Österreichischen Schule geht vom Primat der Theorie aus. Eine solche als Resultat empirischer Forschung erschien unter diesem Gesichtswinkel als undenkbar. Und die theoretische Fundierung des Zyklus betrachtete Hayek als viel zu wenig entwickelt, um sie der empirischen Forschung zugrunde legen zu können (Tichy, 1973, S. 59). »Man wird also im Ganzen ohne Übertreibung sagen können, daß der praktische Wert der Konjunkturforschung in erster Linie von der Richtigkeit der ihr zugrunde liegenden theoretischen Vorstellungen abhängt. Die Entscheidung der wichtigsten Probleme des Konjunkturverlaufes bleibt der Theorie überlassen, und ob der große Aufwand von Arbeit und Mittel, der in den letzten Jahren der Konjunkturforschung zugewendet wird, einen entsprechenden Erfolg bringt, wird in erster Linie davon abhängen, ob die Entwicklung des theoretischen Verständnisses mit der Tatsachenforschung Schritt hält« (Hayek, 1928, zitiert nach Tichy, 1973, S. 59). Morgenstern ging noch weiter. Während Hayek es noch als sinnvoll erachtete, aus der konjunkturellen Analyse auch prognostische Aussagen zu gewinnen, lehnte dies Morgenstern strikt ab. Für ihn gehörte »… die Prognose in die vorwissenschaftliche Periode …, die derjenigen der Astrologie im Vergleich zur Astronomie entspricht …« (Morgenstern, 1928, S. 108, zitiert nach Tichy, 1973, S. 70). Diese rigoristische Position änderte freilich nichts daran, dass auch in den 1930er-Jahren nach Einschätzung der gesamtwirtschaftlichen Lage stets ein kurzer Ausblick auf die künftige Entwicklung angeschlossen wurde.

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Theoriegeleitete problemorientierte Konjunkturanalyse 

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Überflüssig zu sagen, dass sich damit auch jede Beurteilung der Wirtschaftspolitik verbot, ebenso wie politische Ratschläge zu erteilen. Das galt freilich nur für die Monatsberichte. Privatim erfolgte die Beratung der Regierung sowie der Notenbank in der Ära Morgenstern durch den Institutsleiter sehr intensiv. Der Institutsleiter übernahm sogar mehrere Funktionen in der Verwaltung. So wurde er Berater des Handelsministeriums mit Verantwortung für die Eisenbahn-Infra­ struktur, Mitglied der Kommission für die regulierten, vorwiegend agrarischen Preise und vertrat Österreich auf internationalen Konferenzen (Klausinger, 2006, S. 37). Darüber hinaus engagierten sich sowohl die Mitarbeiter des Instituts als auch die ihm nahestehenden Ökonomen, wie etwa Fritz Machlup, intensiv in der Öffentlichkeit. Zwischen 1931 und 1934 erschienen regelmäßig Beiträge im »Neuen Wiener Tagblatt«. Sie trugen teilweise einführenden Charakter in die Nationalökonomie, vor allem in den Glossen Machlups, aber auch Stellungnahmen zu aktuellen wirtschaftspolitischen Problemen. Sie waren durchwegs geprägt von der Österreichischen Schule der Nationalökonomie (Klausinger, 2005). Schließlich wurden gegen Ende der Weltwirtschaftskrise sowie in den folgenden Jahren die strengen Regeln der Monatsberichte mehr und mehr aufgegeben und die Autoren gingen dazu über, Warnungen vor verfehlter Wirtschaftspolitik in das Heft aufzunehmen. Das bezog sich vor allem auf präkeynesianische Ansätze, welche von den Kritikern aus dem Kreis des Instituts perhorresziert wurden. Dabei warnte man nicht nur vor Crowding Out (WIFO-Monatsberichte, 4/1931, S. 70), sondern immer wieder vor der Gefahr des »Inflationismus« ­(Butschek, 1993, S. 176). Die theoretische Position Hayeks lässt sich auch daran ablesen, dass er sich in der Konjunkturforschung zwar an die Erfahrungen der amerikanischen Kollegen anlehnte, aber Bestrebungen des National Bureau of Economic Research, eine Art Volkseinkommensrechnung zu erstellen, keinerlei Interesse entgegenbrachte. Die österreichische Wirtschaft bot nach Ende des Ersten Weltkriegs, obwohl keine Kampfhandlungen auf dem Staatsgebiet stattgefunden hatten, ein katastrophales Bild. Die Bevölkerung hungerte, es fehlte nicht nur an Lebensmitteln, sondern auch an Rohstoffen und Heizmaterial. Die Arbeitskräfte waren geschwächt, die Infrastruktur sowie die Produktionsanlagen übermäßig genutzt worden. Der Markt von 52 Millionen Einwohnern war zerfallen, die Nachfolgestaaten schlossen sich gegen die österreichischen Importe ab und die Friedensverträge brachten zusätzliche Belastungen. Das Land schien »nicht lebensfähig« zu sein und die Politik sowie Teile der Bevölkerung strebten einen Anschluss an Deutsch-

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Gründer Hayek und Nachfolger Morgenstern

land oder an die Schweiz an. Eine Ambition, die durch den Friedensvertrag von St. Germain unterbunden wurde. Das Niveau des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bewegte sich etwa bei der Hälfte jenes von 1913. Dazu kam noch ein fundamentaler politischer Umbruch, mit dem ein »spätfeudaler« Staat in eine demokratische Republik verwandelt wurde, in welcher der Arbeiterschaft erstmals eine wesentliche Position zukam. Dies führte zu einer umfassenden Sozialgesetzgebung. Einer Koalition aus Sozialdemokraten und Christlichsozialen gelang jedoch rasch eine politische und soziale Stabilisierung des Landes, sodass schon 1919 ein relativ kräftiger Aufschwung einsetzte. Dieser erreichte zwar bei weitem nicht die Stärke jenes nach 1945, fiel aber doch recht kräftig aus. Allerdings sah sich die Regierung gezwungen, die Finanzierung des Budgets durch Notenbankkredite, wie während des Krieges, auch danach fortzusetzen, wodurch sich die Inflation verstärkte. Deren katastrophales Ausmaß veranlasste letztlich den Völkerbund, einzugreifen und sie durch die »Genfer Sanierung« 1923 zum Stehen zu bringen. In diesem Jahr wurde auch der Aufschwung unterbrochen, setzte sich aber in den Folgejahren bis 1929 fort. Durch den tiefen Ausgangspunkt wurde zwar nicht das Einkommensniveau der europäischen Industriestaaten erreicht, aber der Zuwachs bewegte sich in diesem Rahmen. 1929, am Höhepunkt der Nachkriegsexpansion, lag das österreichische BIP bei 105 % des Wertes von 1913 (Butschek, 2011, S. 207). Diese hoffnungsvolle Entwicklung fand mit dem Auftreten der Weltwirtschaftskrise ihr Ende. Diese führte auch in Österreich zu einem dramatischen Einbruch der Produktion, der durch den drohenden Zusammenbruch der Credit-Anstalt 1932 noch verschärft wurde. Die Arbeitslosigkeit erreichte 1933 mit einer Quote von 27,2 % ihren exzessiven Höhepunkt. Die in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre einsetzende Erholung vermochte an der Situation nichts Wesentliches zu ändern. Das BIP erreichte 1937 nur 94 % des Niveaus von 1913 und lag damit am Ende der europäischen Industriestaaten (Butschek, 2011, S. 235). Orientiert man sich am Index des allgemeinen Geschäftsganges, dann lässt sich sagen, dass das Institut die Veränderungen der Wirtschaftslage grundsätzlich richtig wiedergegeben und auch prognostiziert hat, freilich nur tendenziell. Die Dramatik der ökonomischen Entwicklung wurde nicht vorhergesehen. Vielfach wurde Hayek das Verdienst zugesprochen, den Einbruch von 1929 relativ früh erkannt zu haben. Tatsächlich wurde seit Jänner 1928 in den Institutsanalysen ein warnender Unterton hörbar und im Dezember des Jahres wird bemerkt, die »Konstellation der Kurven« weise auf den Beginn einer Depressionsperiode hin. Allerdings erwartete das Institut im April 1929 einen eher schwachen Rückschlag (Tichy, 1973, S. 66). Hayek selbst meinte dazu  : »Was ich tatsächlich im Juni 1929

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in den Konjunkturberichten ausdrückte, war, dass für die europäische Wirtschaft keine Hoffnung auf Besserung bestünde, bevor die amerikanische Börsenkonjunktur zusammengebrochen sei, denn die Zinssätze seien momentan so hoch, so daß Investitionen nicht in Frage kämen. Dieser Hinweis auf den erwarteten Krach der amerikanischen Börse, den ich nur mit Rücksicht auf die europäischen Zinssätze gemacht hatte, hat mir den nicht ganz verdienten Ruhm eingetragen, daß ich die große Börsenkrise vorausgesehen hätte« (Hayek, 1977, S. 17). Übersicht 2  : Die Wirtschaftsentwicklung Österreichs 1920 bis 1937 Nominell

Zu Preisen von 1937 Mio. Schilling

Veränderung in % 10.802



1913 = 100

1913

10.116

100,0

1920



7.175

–5,7

66,4

1921



7.942

+10,7

73,5

1922



8.657

+9,0

80,1

1923



8.562

–1,1

79,3

1924

9.257

9.565

+11,7

88,5

1925

10.296

10.211

+6,8

94,5

1926

10.283

10.378

+1,6

96,1

1927

11.110

10.697

+3,1

99,0

1928

11.678

11.194

+4,6

103,6

1929

12.087

11.358

+1,5

105,1

1930

11.560

11.042

–2,8

102,2

1931

10.360

10.154

–8,0

94,0 84,3

1932

9.550

9.107

–10,3

1933

9.020

8.803

–3,3

81,5

1934

8.980

8.875

+0,8

82,2

1935

9.140

9.056

+2,0

83,8

1936

9.316

9.321

+2,9

86,3

1937

9.822

9.822

+5,4

90,9

Quelle  : Butschek (2011), S. 566.

»Überrascht somit die Genauigkeit der Diagnose und – soweit vorhanden – der Prognose, so kann man der – allerdings selten geäußerten – wirtschaftspolitischen Linie der Monatsberichte kaum je folgen. Das Fehlen von Kreislaufvorstellungen im heutigen Sinn und die Überbetonung der Disproportionalitäten, die in der Hochkonjunktur entstehen und durch die Depression beseitigt werden müssen,

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ließ bei den Mitarbeitern des Österreichischen Institutes für Konjunkturforschung jegliches Verständnis für expansive Maßnahmen in der Depression fehlen  ; sie würden bloß die Beseitigung der Disproportionalitäten und damit einen echten Aufschwung verhindern« (Tichy, 1973, S. 66). Trotz der zunächst bescheidenen personellen Ausstattung des Instituts wurde die doch recht beträchtliche Arbeit nicht nur für die österreichische Leserschaft bewältigt, sondern das Institut gewann einiges internationales Renommee. Bereits im März 1928 fand die erste Tagung der europäischen Konjunkturforschungsinstitute in Wien statt. Von 1929 bis 1938 unterstützte die Rockefeller Foundation das Institut und ermöglichte ihm damit die Herausgabe der Schriftenreihe »Beiträge zur Konjunkturforschung« (Mautner Markhof  – Nemschak, 1952, S. 12). Der Völkerbund betraute Gottfried Haberler, damals Referent der Wiener Handelskammer und Mitarbeiter des Konjunkturforschungsinstituts, mit einer Untersuchung über die Ursachen der Wirtschaftskrisen sowie über die Möglichkeiten, diese zu bekämpfen. Daraus resultierte das klassische Werk »Pros­perity and Depression«, welches 1937 auf Englisch sowie Französisch erschien und 1948 nach einer dritten, erweiterten Auflage ins Deutsche übersetzt wurde (Mautner Markhof – Nemschak, 1952, S. 14). Der wissenschaftliche Ruf des Hauses wurde auch durch eine Reihe weiterer Publikationen unterstrichen, welche externe Mitarbeiter verfassten. Das waren zunächst die »Beilagen zu den Monatsberichten des Österreichischen Instituts für Konjunkturforschung«. Dazu zählten beispielsweise Nr.  5  : Strigl,  R., Der Aufbau des österreichischen Arbeitsmarktes, Heft 10/1936 oder Nr. 8  : Wald, A., Extrapolation des gleitenden 12-Monatsdurchschnitts, Heft 11/1937. Noch gewichtiger erscheint die Buchreihe »Beiträge zur Konjunkturforschung«. Diese präsentierte einige »Klassiker« der Wirtschaftstheorie und Ökonometrie. So etwa Hayek,  F.  A., Geldtheorie und Konjunkturtheorie (1929) und ders., Preise und Produktion (1932)  ; ferner Machlup, F., Führer durch die Krisenpolitik (1934), Nurkse,  R., Internationale Kapitalbewegungen (1935) sowie Wald,  A., Berechnung und Ausschaltung von Saisonschwankungen (1936). Schließlich gab das Institut gemeinsam mit der London School of Economics Tintner, G., Prices in the Trade Cycle heraus. Jedenfalls stellte der Harvard-Statistiker Charles Bullock als Gutachter der Rocke­feller Foundation Ende 1935 fest  : »The Institute is now recognized as one of the most important of the organizations in Europe concerned with business cycle research …« (zitiert nach Klausinger, 2017, S. 938). Manche Autoren sehen in der Aktivität des Instituts für Konjunkturforschung auch eine Art »Sezession« der jungen Ökonomen von der Hochschulökonomie.

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Theoriegeleitete problemorientierte Konjunkturanalyse 

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Das betraf nicht nur den Gegenstand der Forschung, sondern auch die Publikationsmöglichkeiten, die internationalen Verbindungen sowie den ökonomischen Diskurs schlechthin und schließlich auch die Chancen, an die Wiener Hochschulen berufen zu werden (Guger, 2016, S. 46). Tatsächlich macht die Darstellung der Berufungen an die Hochschule für Welthandel Anfang der 1930er-Jahre durch Klausinger (2015) verständlich, dass sich die jungen Ökonomen aus dem Umkreis des Konjunkturforschungsinstituts geringe Chancen für eine Berufung ausrechnen konnten. Allerdings müsste man diese Entwicklung in einen etwas weiteren Rahmen stellen. Zwar existierten Kreise, in welchen ökonomische – aber andere – wissen­ schaftliche Fragen auf hohem Niveau diskutiert wurden. Als bekanntestes galt das Seminar von Mises in der Wiener Handelskammer. Doch bemühten sich die führenden Ökonomen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, diese Aktivitäten auf eine breitere Basis zu stellen. So kam es Ende 1918 zur Gründung der »Nationalökonomischen Gesellschaft« durch Hans Mayer und Ludwig Mises unter der Präsidentschaft von Joseph Schumpeter. Nach außerordentlich erfolgreichem Beginn kam es nicht zuletzt durch die Spannungen zwischen Mayer, Mises und Othmar Spann zu einer Stagnation, welche erst wieder 1927 kurzzeitig überwunden werden konnte. Charakteristischerweise fanden die Sitzungen der Gesellschaft anfänglich in einem Kaffeehaus statt (Klausinger, 2019). In die gleiche Richtung weist die Gründung der »Zeitschrift für Nationalökonomie«, welche sich in den 1930er-Jahren zu einem führenden Organ im deutschsprachigen Raum entwickelte (Rothschild, 2004). Allen diesen Bemühungen war gemeinsam, eine Basis für einen ökonomischen Diskurs zu schaffen, in dessen Rahmen eine theoretisch fundierte Diskussion auf internationalem Niveau möglich wäre. In diesem Bestreben fiel natürlich dem Institut für Konjunkturforschung eine zentrale Rolle zu. Vor allem über Mayer existierten gewisse Beziehungen zur akademischen Welt. Dies dokumentierte sich auch darin, dass Mises den Titel eines außerordentlichen Professors trug, Morgenstern hatte als Assistent von Hans Mayer begonnen und wurde an der Wiener Universität habilitiert, ebenso wie Hayek und Haberler. Allerdings zog Machlup seine Habilitationsschrift infolge massiver antisemitischer Intrigen zurück (Klausinger, 2006, S.  30). Viele von ihnen dozierten im Rahmen von Lehraufträgen. Letztlich hat die Geschichte bereits das Urteil über die österreichischen Ökonomen dieser Zeit gesprochen. Jene aus dem Umkreis des Österreichischen Instituts für Konjunkturforschung erlangten in kürzester Zeit internationales Ansehen, was man weder von den Professoren der Universität Wien noch von denen der Hochschule für Welthandel sagen kann.

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1.2 Südosteuropaforschung – Das Institut im Kriege Nach der deutschen Okkupation Österreichs bot das Institut ein recht wechselhaftes Bild. Anfang 1938 reiste Morgenstern in die USA, weil ihm dort ein Forschungsstipendium gewährt worden war. Für die Zeit seiner Abwesenheit beauftragte er Reinhard Kamitz, welcher seit 1934 im Institut tätig war, mit seiner Vertretung. Unmittelbar nach der Besetzung wurde zunächst offenbar daran gedacht, das Institut zu liquidieren. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Ernst Wagemann, hatte sich schon am 15. März 1938 zu diesem Zweck nach Wien begeben. Doch wurde diese Absicht durch Interventionen von Viktor Kienböck, ehemals Präsident der Oesterreichischen Nationalbank, und Hjalmar Schacht, sein Pendant in Deutschland, verhindert, da Letzterer die Dienste des Hauses für die Integration der österreichischen Wirtschaft in jene Deutschlands in Anspruch nehmen wollte (Reichmann, 2010, S. 57). Daher betraute die deutsche Reichsregierung nunmehr Wagemann mit der kommissarischen Leitung des österreichischen Instituts. Dessen Vertreter und – laut Impressum – für den Inhalt verantwortlich blieb weiterhin Reinhard Kamitz. Als neue juristische Basis des Hauses diente ein »Verein der Freunde und Förderer des Wiener Instituts für Wirtschaftsforschung«, die Finanzierung lag offenbar in hohem Maße bei der Wiener Handelskammer (Mautner Markhof – Nemschak, 1952, S. 15). Die politische Veränderung schlug sich auch in der Arbeit des Instituts nieder. Zunächst verursachte sie schmerzhafte Verluste an qualifizierten Mitarbeitern  : Adolf Kozlik, Josef Steindl und Abraham Wald verließen Österreich (Mautner Markhof – Nemschak, 1967, S. 26). Morgenstern hielt sich zwar ohnehin in den USA auf, doch wurde er, offenbar wegen politischer Gründe, aus dem Institut entlassen (Seidel, 2012a, S. 1). In den Folgejahren wechselten Reinhard Kamitz sowie Max Mitic in den Dienst der Wiener Handelskammer. Aber auch der Inhalt der Monatsberichte änderte sich. Die bisher ausschließliche empirische Analyse der Konjunkturentwicklung im Inland und Ausland wurde nunmehr durch umfangreiche Fachartikel ergänzt, welche sowohl theoretische Aspekte berücksichtigten als auch Bewertungen vornahmen. Das entsprach auch den politischen Intentionen der neuen Machthaber. Und so enthielt Heft  3/1938 einen umfangreichen Artikel über die Entwicklung der österreichischen Wirtschaft der Ersten Republik sowie eine Evaluation der damaligen Wirtschaftspolitik (»Österreichs Wirtschaftsnot und Wirtschaftspolitik vor der Eingliederung in das Reich«). Dieser Aufsatz blieb, der bisherigen Tradition des Hauses folgend, ungezeichnet. Die Redaktion fühlte sich jedoch bemüßigt, ihm

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Südosteuropaforschung – Das Institut im Kriege 

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eine Bemerkung voranzustellen, dass er »… den Veröffentlichungen des Instituts für Konjunkturforschung in Berlin entnommen …« sei. Ob er auch dort erschienen war, bleibe dahingestellt, verfasst wurde er zweifellos von einem österreichischen Autor, wie dessen außerordentliche Sachkenntnis beweist. Nach Mitteilung von Hans Seidel war Reinhard Kamitz der Verfasser. Fast alle folgenden Monatsberichte enthielten Sachartikel, so etwa »Die Landwirtschaft in Großdeutschland« (Heft 4–5/1938) oder »Die Kreditwirtschaft in der Ostmark und im Altreich« (Heft  6/1938). Sämtliche Hefte des Jahres 1938 brachten eingehende Analysen über die fortschreitende Integration des Bundesgebiets in die deutsche Wirtschaft sowie über die eingesetzten wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Daneben finden sich auch Berichte über die laufende Wirtschaftsentwicklung in Österreich. Freilich war das Institut in dieser Zeit bereits formalen Veränderungen unterworfen  : So wandelte es sich vom »Österreichischen Institut für Konjunkturforschung« ab Heft 7/1938 zu einem »Institut für Konjunkturforschung. Zweigstelle Wien«, von Heft  9–10/1938 an zu dem »Wiener Institut für Wirtschafts- und Konjunkturforschung« und schließlich zum »Wiener Institut für Wirtschaftsforschung«. In Heft 1/1939 legte man noch einmal die juristische Position des Hauses fest. Das Institut wurde zwar dem »Stabe des Reichskommissars für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich« zugeordnet, blieb aber dem Berliner Institut für Konjunkturforschung unter dessen Präsidenten Ernst Wagemann angeschlossen. Nichtsdestoweniger erhielt es einen, nunmehr definitiven, Leiter, und zwar Geheimrat Prof. Dr. Otto Zwiedineck-Südenhorst. Dieser aus Graz gebürtige Ökonom zählte zu Anfang des 20. Jahrhunderts zu den renommiertesten deutschsprachigen Universitätslehrern. Geprägt durch die historische Schule wurde er vor allem durch Arbeiten über Lohn- und Sozialpolitik bekannt. Sein 1911 erschienenes Buch »Sozialpolitik« zählte zu den damaligen Standardwerken. Der Wirtschaftsforschung stand er offenbar recht fremd gegenüber. Anscheinend ging es hier um den Namen und die Herkunft. Nach dem Ausscheiden von Kamitz zeichnete nunmehr Ernst John für den Inhalt der Monatsberichte verantwortlich. Das Jännerheft 1939 enthielt einen offenbar programmatischen Artikel von Wagemann über den deutschen Südost-Handel und den weltwirtschaftlichen Rückschlag 1937/38. Daneben wurde aber unverändert recht ausführlich über die »Wirtschaftsentwicklung in der Ostmark« berichtet, und man führte die entsprechenden Statistiken weiter. Heft 2–3/1939 enthielt schließlich eine umfangreiche und detaillierte Darstellung der ostmärkischen Wirtschaft im ersten Jahr der deutschen Besetzung sowie einen historisch-politischen Artikel  : die »Wirt-

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schaftseinigung« von Zwiedineck-Südenhorst, in welchem er die bilaterale Handelspolitik zwischen Österreich und Deutschland bis zur Zeit des Zollvereines zurückverfolgte. Dieser redaktionelle Stil setzte sich auch in den folgenden Heften fort, wenngleich sich Studien mit ostmitteleuropäischem Charakter dazugesellten, wie etwa über die Wirtschaftsbeziehungen mit dem böhmisch-mährischen Raum (Heft  4/1939) oder »Die Ostmark im großdeutschen Südosthandel« (Heft  5–­ 6/1939). Die Umstellung auf den neuen Fokus des Wiener Instituts für Wirtschafts- und Konjunkturforschung wird erst in Heft 8/1939 deutlich. Ab jetzt erscheinen nur mehr Arbeiten über Südosteuropa. Die »Ostmark« tritt lediglich im Vergleich zu anderen deutschen Wirtschaftsgebieten auf. Auch die Statistiken werden in Richtung Südosteuropa ausgeweitet. Ab Heft 11–12/1939 entfallen dann die österreichischen Statistiken vollkommen. Diese Aktivitäten müssen auch vor dem Hintergrund gesehen werden, dass das nationalsozialistische Regime bestrebt war, jede Erinnerung an ein österreichisches Gebiet auszumerzen, damit sich dort kein Gemeinschaftsgefühl entwickeln könne. Das ging so weit, dass nach kurzer Zeit der Begriff »Ostmark« verschwand. Wenn es sich nicht vermeiden ließ, diese Region irgendwie zu bezeichnen, dann wurde die Wendung »Alpenund Donaugaue« verwendet. Ab 1940 konzentrierte sich die Institutsarbeit fast ausschließlich auf südosteuropäische Länder. Lediglich in Einzelfällen wurde ein österreichisches Thema bearbeitet, wie etwa die »Wandlungen in der wirtschaftlichen Struktur der Bevölkerung der Ostmarkgebiete« (Heft 9–10/1940) oder nur im Hinblick auf ehemalige Bundesländer, wie »Die täglichen Arbeitswege in Oberdonau« (Heft 7–8/1940) oder »Der Wohnungsbedarf in Wien« (Heft 5–6/1941). Gleichzeitig verschwand der »Stab des Reichskommissars für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich«, weil ja dessen Aufgabe als erledigt betrachtet wurde, aber auch der kurzzeitige Institutsleiter Zwiedinek-Südenhorst. Als Leiter fungierte wieder Ernst Wagemann, doch wurde festgehalten, dass das Institut mit der »Süd­europa-Gesellschaft. Wien, verbunden« sei. Für den Inhalt verantwortlich fungierte unverändert Ernst John. Erst ab Heft  10–11/1942 trat Elisabeth ­Rabitsch vertretungsweise an die Stelle des im »Wehrdienst« befindlichen John. Die faktische Leitung des Hauses übernahmen turnusweise eingesetzte Mitarbeiter des Berliner Instituts, nämlich Otmar Emminger (später Präsident der Deutschen Bundesbank), Hans Heinrich Bischoff, Wilhelm Bauer (später ­Leiter des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung), Arnold Seifert und Hubert Kelter (Mautner Markhof – Nemschak, 1967, S. 26). Franz ­Nemschak

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stieß 1941 zum Institut und Grete Kohlhauser, welche nach 1945 zur Stamm­ belegschaft des Hauses zählte, folgte Ende 1943. Ersterer wurde Anfang 1943 zum Wehrdienst eingezogen, doch im Jänner 1945 aus diesem entlassen. Es muss festgehalten werden, dass zwar das Forschungsobjekt des Hauses gewechselt hatte, aber nicht unbedingt der Arbeitsstil, welcher – mit wenigen Ausnahmen – weiterhin stark quantitativ orientiert blieb. Offensichtlich bewirkte der Einfluss des Berliner Instituts keine merkbare Einschränkung der Qualität. Wohl aber reduzierte sich im Laufe der Kriegsjahre die Erscheinungshäufigkeit. Die letzte Publikation erschien im August 1944 (Heft 1–3/1944). Allerdings beschränkten sich die Arbeiten des Instituts nicht auf die in Heften publizierten Aufsätze über Südosteuropa, sondern auch auf »streng geheime« Studien zu österreichischen Angelegenheiten. Hier ist die Studie »Die Entwicklung der Lebenshaltungskosten und Löhne in Wien seit der Wiedervereinigung« (Wien, 1941) zu nennen. Diese kam zu dem Ergebnis, dass sich das Realeinkommen einer 4-köpfigen Arbeiterfamilie in Wien während dieser Periode um 15 % verschlechtert hatte. Zwar wich dieses Resultat von der Entwicklung des offiziellen Preisindex ab, wurde jedoch mit der Qualitätsverschlechterung der Waren und dem Zwang, teurere, rationierte zu erwerben, begründet. Jedenfalls kann aus dem Inhalt sowie der Diktion dieser Studie abgeleitet werden, dass sich die nationalsozialistischen Sympathien des Hauses in Grenzen gehalten haben mussten. Diese Entwicklung hatte zur Folge, dass ab Herbst 1939 keine laufenden Analysen über die österreichische Wirtschaft mehr existierten. Allerdings gelang es Ende der 1970er-Jahre, aus verschiedenen Statistiken für das Bundesgebiet, analogen Schätzungen mit der deutschen Entwicklung sowie ökonometrischen Methoden ein Bild der Wirtschaftsentwicklung im Bundesgebiet zu rekonstruieren (Butschek, 1978). Daraus ergibt sich ein recht widersprüchliches Bild. 1938 und 1939 kam es zu einem nachgerade explosiven Wirtschaftswachstum. Da das Problem der Devisenknappheit weggefallen war, strömte die deutsche Nachfrage nach Österreich. Dieser stand freilich ein Exportrückgang in das westliche Ausland gegenüber. Die maßgeblichen Elemente der Expansion lagen in den öffentlichen und privaten Investitionen – der Wirtschaft flossen 1938 Mittel im Ausmaß von 8 % des BIP von 1937 zu. Dazu kam die Ausweitung des privaten Konsums als Folge des raschen Abbaus der Arbeitslosigkeit sowie die Zunahme der Beschäftigung und Einführung diverser Sozialleistungen. Mit Ausbruch des Krieges ging diese Ausnahmesituation zu Ende. 1940 und 1942 kam es zu einer Schrumpfung des BIP, welches 1943 nochmals um 2,4 % expandierte. Ende 1944 und vor allem Anfang 1945 brach die Wirtschaft als Folge massiver Luftangriffe

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Gründer Hayek und Nachfolger Morgenstern

und zuletzt auch der Bodenkämpfe zusammen und dürfte auf etwa die Hälfte des Niveaus von 1937 gefallen sein. Am 17. März 1945 vernichtete ein Bombentreffer jenen Trakt des Börsegebäu­ des, in welchem das Institut untergebracht war. Tags darauf gruben weibliche Angestellte des Sekretariats und der statistischen Abteilung zusammen mit Nemschak, welcher Anfang 1945 aus dem Wehrdienst entlassen worden war, Archiv, Statistiken, Möbel, Schreib- und Rechenmaschinen aus den Trümmern ­(Mautner Markhof  – Nemschak, 1967, S.  27). Offenbar vergaß Nemschak, Grete Kohl­ hauser zu erwähnen, die ja gleichfalls im Institut tätig war. Eine zusammenfassende Beurteilung der Pionierzeit des Österreichischen Instituts für Konjunkturforschung vermittelt ein äußerst eindrucksvolles Resultat. Da sind einmal die Akteure  : Der Motor des Projektes, Friedrich A. Hayek, der spätere Nobelpreisträger, wurde zu einem der berühmtesten Sozialwissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Ludwig Mises, der Organisator des Instituts, stand ihm lange Zeit an Bekanntheit kaum nach. Ähnliches gilt für Hayeks Nachfolger, ­Oskar Morgenstern. Aber auch die anderen, dem Institut nahestehenden Forscher zählten – wie bereits angedeutet – zu den Glanzlichtern der internationalen Nationalökonomie, ob es sich nun um Haberler, Machlup, Tintner, Nurkse oder Wald handelte. Die meisten von ihnen nahmen Lehrstühle in den Vereinigten Staaten ein. Der lange Zeit wichtigste Mitarbeiter des Konjunkturforschungsinstituts, Reinhard Kamitz, galt als einer der renommiertesten Finanzminister der Zweiten Republik und übernahm in der Folge die Position eines Präsidenten der Oesterreichischen Nationalbank. Man kann auch keinesfalls etwa nur von Nachruhm sprechen, denn alle Ökonomen waren ihren Zeitgenossen in aller Welt bekannt und wurden entsprechend geschätzt. Die Mehrzahl von ihnen fühlte sich der Österreichischen Schule der Nationalökonomie zugehörig. Den neueren fiskalpolitischen Ansätzen vermochten sie sich in diesen Jahren nicht zu nähern. Im Gegenteil, die Monatsberichte vergaßen mit einem Mal ihre theoretische Abstinenz und griffen in die wirtschaftspolitische Diskussion ein. Bemerkenswert erscheint auch die Organisation des Instituts sowie die dahinterstehende Geisteshaltung  : nämlich die größtmögliche Objektivität der Forschungsarbeit dadurch sicherzustellen, dass das Haus von den Sozialpartnern und der Verwaltung getragen werde. Einer der ersten Hinweise auf die künftige politische Struktur Österreichs. Erstaunlicherweise vermochte das deutsche Intermezzo die Tradition des Hauses nicht grundlegend zu verändern. Wohl wandelte sich das Forschungsobjekt, an die Stelle der österreichischen Wirtschaft trat jene der südosteuropäi-

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Südosteuropaforschung – Das Institut im Kriege 

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schen Länder, und viele Mitarbeiter gingen dem Haus verloren, doch wurde die gesamte Kriegszeit hindurch saubere wirtschaftsanalytische Arbeit geleistet. Gewiss, ökonomische Glanzlichter wird man in dieser Zeit nicht finden.

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2. Die Wiederbelebung durch Franz Nemschak  : Das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung als Dienstleister für Politik und Unternehmen Franz Nemschak © WIFO

Das Institut für Konjunkturforschung der Zwischenkriegszeit erfuhr nach 1945 eine Wiederbelebung als Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO). Dieses repräsentierte im Wesentlichen abermals das Resultat einer persönlichen Initiative, freilich auch wissenschaftlicher Tradition. Unmittelbar nach Kriegsende setzte Franz Nemschak völlig spontan die ersten Schritte zur Neugründung des Hauses. Er übernahm die Verwaltungsstruktur des früheren Konjunkturforschungsinstituts, nämlich als einer Einrichtung der Sozialpartner – mit Unterstützung des Staates sowie der Notenbank. Am 20. Oktober 1945 trat ein Gründungsausschuss zusammen und konstituierte unter dem Vorsitz Eduard Heinls, des Präsidenten der Handelskammer für Wien und Niederösterreich sowie Staatssekretär für Handel, den gemeinnützigen Verein »Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung«.

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Die Wiederbelebung durch Franz Nemschak

Neben den klassischen Gremien, nämlich Präsidium, Vorstand und Kurato­ rium, führte er eine »Mitgliedschaft« ein – praktisch ein Abonnement der Monatsberichte. Dieser Akt wurde bereits vor Etablierung der Provisorischen Staatsregierung vollzogen. Die konstituierende Generalversammlung fand am 20. Oktober 1945 statt. Nemschak vermochte daher, dem Handelsminister Heinl bereits ein abgeschlossenes Projekt zu präsentieren, als er ihm die Notwendigkeit eines Wirtschaftsforschungsinstituts für Österreich erläuterte. Heinl akzeptierte die Vorschläge Nemschaks vollinhaltlich und fungierte auch als erster Präsident des neuen Hauses. In diesem Zusammenhang scheint es sinnvoll, sich näher mit der Persönlichkeit Franz Nemschaks zu befassen, da er eine ganz außergewöhnliche Position in der österreichischen Wirtschaftspolitik einnahm. Er kam 1907 in Graz zur Welt. Sein Vater war in den Puch-Werken beschäftigt. Nemschak absolvierte das juristische Studium und wurde 1931 promoviert. Während des Studiums hatte er von 1926 bis 1933 bei Kastner & Öhler als Werkstudent gearbeitet. Er schloss sich der Sozialdemokratischen Partei an, wechselte nach deren Zerschlagung 1934 mit mehreren Gesinnungsgenossen zur Kommunistischen Partei. Als jedoch die KPÖ von ihrer Politik des Boykotts der Einrichtungen des Ständestaates zugunsten ihrer Unterwanderung abging, engagierte er sich in der »Sozialen Arbeitsgemeinschaft« der Vaterländischen Front, die geschaffen worden war, um die Arbeiterschaft politisch aufzufangen. Alle Bemühungen, in diesem Rahmen die Unabhängigkeit Österreichs zu bewahren und die von Schuschnigg initiierte Volksbefragung erfolgreich abzuhalten, vermochten nichts an der Okkupation des Landes zu ändern. Nemschak floh mit Freunden über Triest nach Frankreich, kehrte jedoch nach kurzer Zeit wieder nach Österreich zurück. Das trug ihm zunächst eine Gestapohaft ein und die Klassifikation »Wehrunwürdig«. 1941 trat er in den Dienst des Instituts für Südosteuropaforschung, wurde 1943 zum Wehrdienst eingezogen, jedoch im Jänner 1945 wieder entlassen. Er nahm im Haus keineswegs eine leitende Funktion wahr. Seine Zeit kam nach Kriegsende. Aus den physischen sowie organisatorischen Trümmern des Südosteuropainstituts errichtete Nemschak – wie bereits dargelegt – das neue Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung. Ursprünglich war die Leitung des Hauses für Franz Nemschak und Ernst John gemeinsam vorgesehen. Letzterer repräsentierte als Einziger die persönliche Kontinuität mit dem Institut für Konjunkturforschung der Zwischenkriegszeit. John sollte daher die wissenschaftlichen Aufgaben übernehmen und Nemschak das Management sowie die Vertretung nach außen. Tatsächlich zog Letzterer je-

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Die Wiederbelebung durch Franz Nemschak 

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doch nach kurzer Zeit die gesamte Leitung, einschließlich der Themenwahl sowie die Art ihrer Bearbeitung, an sich (Seidel, 2012b, S. 461). Diese Entwicklung vermag rückblickend nicht zu überraschen. Das ergab sich einerseits daraus, dass zunächst die Hauptlast der Arbeit, einschließlich der Verfassung der Monatsberichte, bei Nemschak lag, andererseits aber auch aus dem Charakter der beiden Persönlichkeiten. Ernst John zeigte eher eine zurückhaltende Verhaltensweise, die führende Positionen eher mied. Das erwies sich nicht nur im persönlichen Umgang, sondern auch in seinem Arbeitsstil. Aus den langen Jahren seiner Mitgliedschaft im Haus nach 1945 ist keine schriftliche Arbeit bekannt. Nemschak legte vollkommen andere Charakterzüge an den Tag. Er floss über vor Energie und Initiative, welche keineswegs nur im Institut durch seine Beiträge zu den Monatsberichten sowie generell in deren Gestaltung ihren Niederschlag fanden, sondern auch in steigendem Maße in seiner Öffentlichkeitsarbeit. Er gab sich nicht nur mit den sachlichen Erfolgen des WIFO zufrieden, er fühlte sich verpflichtet, mündlich, aber auch schriftlich  – in einer eigenen Publikationsreihe – die ökonomischen Fakten, aber auch wirtschaftspolitische Ratschläge in verständlicher Sprache zu vermitteln, denn er verstand die Institutsarbeit als »staatspolitische Aufgabe« (Seidel, 1973a, S. 8). Auf diese Weise erwarb er sich ungeheures Ansehen, was zur Folge hatte, dass ihm, neben der Führung des WIFO, von der Regierung zusätzliche Aufgaben übertragen wurden, wie die Leitung des auf Initiative der USA gegründeten »Österreichischen Produktivitätszentrums« oder der volkswirtschaftlichen Abteilung des für die Abwicklung des Marshallplans geschaffenen ERP-Büros. Darüber hinaus wurden ihm mehrfach hohe Posten in der Wirtschaft oder der Regierung angeboten, welche er jedoch stets ausschlug (Seidel, 2012b, S. 462). Seine geradezu charismatische Position lässt sich auch an seinen Vorträgen ablesen. Jedes Jahr vor Weihnachten präsentierte Nemschak eine sozusagen »State-of-the-Union«-Botschaft für die österreichische Wirtschaft. Aus diesem Anlass versammelte sich die gesamte Elite des Landes, einschließlich vieler Bundesminister und des Nationalbankpräsidenten, um seinen Ausführungen zu lauschen, welche er in einer sehr spezifischen Rhetorik – »halb Parsifal, halb Kassandra« (Streissler, 1973, S. 28) – vortrug. Und obwohl die Fakten ja oft bekannt waren, vermochte der Vortragende immer wieder neue interessante Aspekte zu präsentieren – oder die Besucher hörten sie zumindest heraus. Wenn auch der außerordentliche Ruf des WIFO in Österreich zunächst in beträchtlichem Maße auf die Position Nemschaks im öffentlichen Leben zurückging, spielte auch eine Rolle, dass es ihm gelungen war, in kurzer Zeit eine Reihe

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Die Wiederbelebung durch Franz Nemschak

hervorragender Mitarbeiter einzustellen. Schon 1946 stand Hans Seidel (späterer Leiter des WIFO) zur Verfügung. Dessen Qualitäten lagen derart deutlich zu Tage, dass ihm Nemschak bereits 1947 die Redaktion und Koordination der Monatsberichte anvertraute. Dieser übte diese Funktion so gewissenhaft aus, dass er sämtliche Beiträge zu einem gemeinsamen Stil umschrieb. Nachdem es Nemschak gelungen war, John als Ministerialrat im ERP-Büro des Bundeskanzleramts zu deponieren, etablierte er Seidel 1962 als seinen Stellvertreter. 1947 wurde Kurt Rothschild (später Universitätsprofessor) auf Empfehlung von Hayek aufgenommen und 1950 Josef Steindl (später Honorarprofessor), der schon von 1935 bis 1938 im Konjunkturforschungsinstitut tätig gewesen war. Dazu kamen Lothar Bosse (nachmaliger Präsident des Statistischen Zentralamts) sowie Stephan Koren (später Universitätsprofessor und Präsident der Oesterreichischen Nationalbank). Trotz der oft sehr entschiedenen Position Nemschaks in der Öffentlichkeit herrschte im Institut eine sehr offene, der sachlichen Diskussion zugewandte Atmosphäre. Für seine politischen Positionen suchte Nemschak nie die Unterstützung durch die Institutsmitglieder, diskutierte aber intensiv mit ihnen über deren Abfassung. Es gab keine hierarchischen Strukturen im Haus, was er auch dadurch demonstrierte, dass er nur den Titel »Leiter« trug. (Nicht wissend, dass solches eigentlich von den Nationalsozialisten bevorzugt wurde  : Sie ersetzten den »Chefredakteur« durch den »Schriftleiter«. Nicht zu reden von den »Politischen Leitern«.) Er sorgte für angemessene Entlohnung  – zuweilen mit paternalistischen Akzenten. Ersteres ergab sich daraus, dass er außerordentliche Erfolge in der Institutsfinanzierung aufweisen konnte. Das WIFO erzielte unter allen deutschsprachigen Einrichtungen den größten Anteil an Einnahmen durch die öffentliche Hand, die Sozialpartner, die Nationalbank sowie Großbetriebe. Er nahm Anregungen zur Schaffung einer Zusatzkrankenversicherung und einer Zusatzpension wohlwollend zur Kenntnis und realisierte beides. Die ökonomisch geschulten Mitarbeiter des Hauses hatten zunächst kein entsprechendes Studium absolviert, da ein solches an den österreichischen Universitäten nicht angeboten wurde. Die meisten Kollegen waren daher Juristen. Sie eigneten sich ihre spezifischen Kenntnisse durch Selbststudium an. Lediglich Rothschild und Steindl hatten in England entsprechende Abschlüsse erreicht. Die wissenschaftlichen Mitarbeiter gliederten sich im Haus in Referenten und Sachbearbeiter, was aber keine hierarchische Abstufung, sondern lediglich Gehaltsdifferenzen spiegelte. Ein weiteres Kennzeichen des Instituts lag darin, dass sich die – wachsende – Zahl von Mitarbeitern in fachspezifische Ökonomen und Statistikerinnen aufteilte. Letztere, meistens Maturantinnen, übernahmen die Aufbringung sowie

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Probleme einer Übergangswirtschaft 

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Bearbeitung der statistischen Daten für die Fachreferenten. Dadurch wurde die Arbeitsproduktivität des Hauses enorm gesteigert – auch etwa im Vergleich mit den Universitäten.

2.1 Probleme einer Übergangswirtschaft Wenn die Aufgaben und Tätigkeiten des WIFO in der Nachkriegszeit dargestellt werden sollen, sei noch rekapituliert, um welche Art von Wirtschaft es in diesen Jahren ging, um welches Koordinationssystem es sich handelte. Das Institut der Zwischenkriegszeit analysierte im Prinzip eine Marktwirtschaft – den Kapitalismus. Das bedeutete, dass die Frage, was, wie viel, für wen, durch wen und womit produziert werden soll, durch Preissignale geregelt wird, welche sich auf den Märkten, mittels Konkurrenz, herausbilden. Die wirtschaftspolitischen Eingriffe können in diesem System grundsätzlich nur indirekten Charakter tragen, also etwa durch Geld- oder Fiskalpolitik. Das galt nicht für die Wirtschaftssysteme der Kriegs- und Nachkriegszeit. Hier erfolgte die Koordination von Angebot und Nachfrage in hohem Maße durch behördliche Regelung. Im Extremfall wurden dem Betrieb die Produktion vorgeschrieben und die Rohstoffe zur Verfügung gestellt. Ebenso legte man fest, an wen zu liefern wäre. Das Gleiche galt für die Zuteilung, welche im Bereich des privaten Konsums etwa durch Lebensmittelmarken erfolgte, im Produktionsbereich durch Bezugscheine. Hier entsteht also die Notwendigkeit eines direkten Eingriffs einer Behörde in den Ablauf von Erzeugung und Verteilung, weil die automatische Wirkung des Marktes fehlte. Österreich hatte daher 1945 eine Fülle von Bestimmungen übernommen, welche die Kriegswirtschaft Deutschlands reguliert hatten. Als eine der wichtigsten erwies sich der Preisstopp gemäß der Verordnung vom 29. März 1938. Danach war jegliche Preiserhöhung untersagt. Das verursachte jedoch größte Probleme, da die übernommene Preisstruktur auf die Bedürfnisse des Krieges ausgerichtet war und sich die Knappheitsrelationen seither gravierend geändert hatten. Zwar blieb den Unternehmern die Möglichkeit, Ausnahmegenehmigungen zu beantragen, aber damit wurde das System durchlöchert, welches angesichts des Missverhältnisses von Geld- und Gütermenge unbedingt aufrechterhalten werden sollte. Parallel dazu wurde auch der Produktions- und Verteilungsbereich »bewirtschaftet«. Die Verbrauchsgüter, insbesondere die Lebensmittel, erfassten behördliche oder quasibehördliche Stellen (Kammern) und teilten sie mengenmäßig den Verbrauchern zu. Ebenso wurden nicht nur Brennstoffe erfasst

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Die Wiederbelebung durch Franz Nemschak

und zugeteilt, sondern auch Baustoffe oder Chemikalien sowie Eisen, Stahl und Metalle und schließlich Holz. Zuletzt wurde eine »Kreditlenkungskommission« geschaffen, welche die Ressourcen nach den Vorstellungen der Regierung vermitteln sollte (WIFO-Monatsberichte, 1–2/1945, S. 8 ff.). Eine »Zentrale Lohnkommission« sollte Lohnsteigerungen begrenzen. Nicht nur der Außenhandel mit Waren, ebenso jener mit Devisen blieb strikt geregelt, Exporte mussten bewilligt werden. Auch im Bereich der Produktion sorgte das sogenannte »Untersagungsgesetz« dafür, dass sich die Konkurrenz nicht durch Markteintritte intensivierte. Die Aufgabe des Instituts unter den solchen Gegebenheiten lag nunmehr nicht allein in der Beschreibung der Wirtschaftsentwicklung, sondern ebenso sehr in der Evaluierung der administrativen Herausforderungen durch die Bewirtschaftung. Letzteres erforderte Statistiken, die zunächst gesammelt und präsentiert werden mussten. Die ersten Monatsberichte enthielten daher oft sehr detaillierte Industriestatistiken auf regionaler Basis, die bis zu einzelnen Produkten heruntergingen. Dazu kam, dass das Statistische Zentralamt Daten generell nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stellen konnte. Das WIFO ging daher daran, eigene statistische Reihen zu konstruieren. Es erhob selbst Verbraucherpreise sowie Umsätze im Einzelhandel und verdichtete diese zu Indizes der Lebenshaltungskosten und der Einzelhandelsumsätze. Aus vorhandenen Primärstatistiken wurden Indizes der Industrieproduktion, der Tariflöhne und der Verdienste berechnet. Mit Hilfe dieser Indizes wurde monatlich die Entwicklung der österreichischen Wirtschaft in der vom alten Konjunkturforschungsinstitut übernommenen Gliederung präsentiert. Anfang der 1950er-Jahre stellte das Statistische Zentralamt diese Statistiken mehr und mehr zur Verfügung. Von bleibender Bedeutung erwiesen sich der Konjunktur- und Investitionstest, ein Konzept, das das WIFO vom ifo Institut in München übernommen hatte (Seidel, 2012b, S. 463). Neben den Berichten über die österreichische Wirtschaft enthielten die frühen Hefte auch Aufsätze (»Die wirtschaftliche Entwicklung der Tschechoslowakei seit der Befreiung«, 10–12/1946) sowie mehrere Sonderhefte, die sich mit spezifischen Problemen der österreichischen Wirtschaft beschäftigten, wie etwa »Der Wiener Wohnungsbedarf und die Wohnbaufinanzierung«. Angesichts der veränderten ökonomischen Gegebenheiten gegenüber der Vorkriegszeit stand die makroökonomische Analyse der Wirtschaft im Vordergrund. Nach verschiedenen Ansätzen erzielte 1948 Richard Stone den entscheidenden Durchbruch durch die Schaffung des Systems der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Diese wurde in Österreich vom WIFO durch den früh verstorbenen Mitarbeiter Richard Strigl aufgenommen, kurz danach durch Hans

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Probleme einer Übergangswirtschaft 

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Seidel ausgebaut. 1950 erstellte er auf Basis der Keynesʼschen Kreislaufanalyse die erste volkswirtschaftliche Bilanz für die Jahre 1948 und 1949. 1951 gründeten WIFO und Zentralamt gemeinsam eine Forschungsstelle zur Aufstellung volkswirtschaftlicher Bilanzen. Deren letzte Publikation erschien 1957 (Tichy, 1973, S. 74). Einen epochalen Erfolg im Zusammenhang mit der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung bedeutete die 1965 von Anton Kausel, Nandor Németh und Hans Seidel ausgearbeitete Studie »Österreichs Volkseinkommen 1913 bis 1963« (WIFO-Monatsberichte, 1965, 14. Sonderheft), weil damit erstmals eine historische Volkseinkommensrückrechnung erstellt wurde. Letztlich ergab sich ein neues Element der Institutsarbeit aus der erwähnten Übernahme staatlicher Funktionen durch Nemschak. Seine Entscheidungen mussten im Institut vorbereitet werden. So stellte Seidel aus den Unterlagen der Ministerien den für die Vergabe von Hilfsgeldern maßgeblichen Bericht an die Marshallplan-Organisation in Paris zusammen und vertrat diesen auch anlässlich des Österreich-Hearings. Diese enge Beziehung mit der OEEC (Organi­ zation for European Economic Co-operation) sowie der Nachfolgeorganisation OECD (Organization for Economic Co-operation and Development) blieb über Jahrzehnte hin aufrecht (Seidel, 2012b, S. 465). Daraus ist ersichtlich, dass dem Institut in der Wiederaufbauphase eine einzigartige Position in der österreichischen Öffentlichkeit zukam. Diese resultierte zwar in erster Linie aus der Tatsache, dass das WIFO die einzige Einrichtung mit an der Praxis orientiertem, ökonomischem Sachverstand repräsentierte – wie dies immer wieder von ausländischen Besuchern betont wurde. Die Universitäten blieben in dieser Zeit von solchen Anforderungen der Wirtschaftspolitik sowie der staatlichen Verwaltung weit entfernt. Das Haus profitierte aber auch wesentlich vom außerordentlichen Ansehen, das Nemschak in der Öffentlichkeit genoss. Die Position des WIFO ließ sich etwa mit der eines Ministeriums vergleichen. Streissler beschrieb sie mit den Worten, dem Institut sei das »Monopol wirtschaftsempirischer Wahrheit« zugekommen (Streissler, 1973, S. 28). Freilich war sich Nemschak der Bedeutung der Tradition für das WIFO durchaus bewusst. Diese unterstrich er nicht nur durch ähnliche Verwaltungsstruktur sowie durch Format und Gestaltung der Monatsberichte, sondern auch damit, dass er darin die Statistiken der Zwischenkriegszeit dokumentierte, einschließlich sämtlicher Publikationen aus dieser Zeit. Gleichermaßen bemühte er sich, persönliche Kontakte wiederherzustellen. Diese beschränkten sich freilich auf den gesellschaftlichen Bereich, etwa auf Ausflüge sowie Heurigenbesuche. Inhaltlich unterschied sich die Arbeit des WIFO doch recht deutlich von der des Konjunkturforschungsinstituts. Das betraf weniger die Monatsberichte.

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Die Wiederbelebung durch Franz Nemschak

Beide Institute bemühten sich um eine sachliche, möglichst klare Darstellung der Wirtschaftslage. Auch das WIFO enthielt sich in den Monatsberichten weitgehend einer Kritik von wirtschaftspolitischen Maßnahmen oder auch solchen Empfehlungen. Die monatlichen, zusammenfassenden Konjunkturberichte wurden sogar im Entwurf den Regierungsstellen und Sozialpartnern zur Abstimmung übermittelt  ; es gab allerdings nie ernste Einwände. Die übrigen Arbeitsbereiche gestalteten sich jedoch vollkommen unterschiedlich. Das Konjunkturforschungsinstitut gab zwar keine wirtschaftspolitischen Empfehlungen ab. Doch erfolgten solche – wie erwähnt – intensiv außerhalb der Monatsberichte. Auch das WIFO versorgte die Politik mit umfassenden Informationen. Akzentuiert kritische Ratschläge erfolgten durch Nemschak in der Reihe »Vorträge und Aufsätze«. Inhaltlich verstand Nemschak die Arbeit des WIFO als praxisorientiert  ; sie sollte der Wirtschaftspolitik zu Hilfe kommen (Seidel, 2012b, S. 461). Exempla­ risch mag die folgende Darstellung für die Funktionen des Instituts in dieser Zeit gelten  : »Der für Wirtschaftsplanung und Vermögenssicherung zuständige Minis­ter Krauland sandte in kurzen Abständen schriftliche Fragen zu komplexen ökonomischen Sachverhalten an das WIFO und erwartete eine umgehende Antwort auf längstens einer halben Schreibmaschinenseite« (Seidel, 2012b, S. 462). Zwar akzeptierte Nemschak wohlwollend die Arbeit der Theoretiker auch im WIFO. Er verfügte ja mit Kurt Rothschild und Josef Steindl über zwei international renommierte Theoretiker, aber auch diese verfassten im Rahmen ihrer Institutstätigkeit in erster Linie praxisorientierte Beiträge. Berühmt wurde die Studie Steindls »Wie wirkt die Ausgabe einer zusätzlichen Milliarde Schilling  ?« (WIFO-Monatsberichte, 1956, 9. Sonderheft). Ihre theoretischen Studien veröffentlichten sie außerhalb des Hauses. Eine Publikationsreihe, wie die »Beiträge zur Konjunkturforschung« zwischen den Kriegen, welche theoretisch orientiert war, existierte im WIFO zunächst nicht. Dieses Faktum führte schließlich anlässlich der Gründung des Instituts für Höhere Studien zu Auseinandersetzungen mit dem früheren Institutsdirektor Morgenstern, welchem das Verständnis für den Empirismus des WIFO fehlte (Seidel, 2012b, S. 462). Ein weiterer gravierender Unterschied gegenüber dem Institut der Zwischenkriegszeit resultierte aus den vollkommen geänderten exogenen Faktoren. Die Analyse der Konjunktur trat in den Hintergrund, weil konjunkturelle Veränderungen in einer weitgehend regulierten und von absoluten Knappheiten betroffenen Wirtschaft kaum eine Rolle spielten. Wenn ein Kennzeichen des Konjunkturforschungsinstituts darin lag, dass seit seiner Gründung engste Kontakte mit ausländischen Kollegen gepflogen wurden,

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Erste Ansätze der Sozialpartnerschaft 

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fehlten solche Initiativen von Seiten des WIFO vollständig. Abgesehen von allen anderen möglichen Ursachen war es in der Nachkriegszeit nahezu ausgeschlossen, Devisen für Auslandsaufenthalte zugewiesen zu bekommen. Wenn sich dennoch allmählich für Institutsmitglieder internationale Kontakte ergaben, dann resultierte dies aus der westlichen Institutionenstruktur, aus Einrichtungen wie der OEEC und OECD und dem Internationalen Währungsfonds. Deren Tagungen sollten von allen Mitgliedstaaten besucht werden. Da jedoch in Österreich die Verwaltung über keine ökonomisch gebildeten Fachleute verfügte, mussten diese Aufgaben vom WIFO übernommen werden. Damit entstanden neue, sozusagen administrative, Auslandskontakte. Insbesondere Seidel vertrat lange Jahre die Republik gegenüber der OECD (Seidel, 2012b, S. 465). Nemschak legte großen Wert auf eine klare, verständliche Sprache in den Monatsberichten. Deren Stil wurde im Haus durch Otto Seidel sichergestellt, bei größeren Arbeiten erfolgte die stilistische Korrektur durch Max Mitic von der Bundeshandelskammer. Tatsächlich wurden die Monatsberichte in den frühen Jahren häufig auch von interessierten Nichtökonomen gelesen. Die Arbeiterkammer abonnierte die Hefte für alle ihre Kammerräte. Vizekanzler Pittermann ermahnte das WIFO, diesen Stil beizubehalten.

2.2 Erste Ansätze der Sozialpartnerschaft Trotzdem die OEEC, also die Marshallplan-Verwaltung, noch explizit Planungsunterlagen für die Gewährung der Unterstützungen angefordert hatte, gingen die westeuropäischen Industriestaaten in der Folgezeit allmählich wieder in eine mehr oder minder ausgeprägte Marktwirtschaft über. Österreich entwickelte allerdings für diesen Weg ein Modell, das noch längere Zeit starke Planungselemente enthielt. Es handelte sich um die »Preis-Lohnabkommen«, ein System, welches auch Auswirkungen auf das künftige Verhältnis der Marktparteien zeitigen sollte. Da in einer Demokratie ein Preisstopp nicht mit der gleichen Konsequenz durchgesetzt werden kann wie in einem totalitären Staat (Nemschak, 1947, S. 16), setzte im Lauf des Jahres 1946 ein gewisser Preisauftrieb ein. Um dessen Beschleunigung zu vermeiden, ergriffen die Interessenvertretungen (Arbeiterkammer bzw. ÖGB, Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft, Landwirtschaftskammern) die Initiative, um diese Entwicklung einzudämmen. Der Grundgedanke des Preis-Lohnabkommens bestand darin, die Produktion in das gegebene Preisniveau hineinwachsen zu lassen, aber doch den Un-

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Die Wiederbelebung durch Franz Nemschak

ternehmen die Möglichkeit zu geben, eine realistischere, der im Vergleich zur Vorkriegszeit gesunkenen Arbeitsproduktivität angemessene, Preisstruktur anzustreben, ohne dass dieses Vorhaben von der Lohnseite her erschwert würde. Man könnte das System als eine »kontrollierte Anpassungsinflation« bezeichnen. In Anerkennung der Disparitäten von Preisen, Löhnen und Produktion strebten die Gewerkschaften grundsätzlich nur ein konstantes Realeinkommen ihrer Mitglieder an, berücksichtigten also die  – beträchtlichen  – Produktivitätssteigerungen vorerst nur marginal. Hier entstand zum ersten Mal nach 1945 ein Gegensatz zwischen dem WIFO, genauer gesagt, zwischen Nemschak und der österreichischen Politik. Dieser insistierte darauf, dass im Rahmen der Abkommen überhaupt keine Lohnerhöhungen ins Auge gefasst werden dürften, weil das Produktionsvolumen noch bei weitem nicht das Niveau von 1937 erreicht habe (Nemschak, 1948, S. 11) und somit inflationäre Effekte zu erwarten seien. Das trug ihm den Vorwurf ein, dass er den Kompromiss der Sozialpartner erschwere. Daher wurde er zu den folgenden Verhandlungen des Abkommens nicht mehr eingeladen (Seidel, 2012b, S. 464). Die Sozialpartner wollten das Ziel der Abkommen erreichen, indem sie die wichtigsten Kosten der Lebenshaltung fixierten (70  % der Ausgaben eines Arbeiterhaushalts) und der Rest – mehr oder minder – unter Preiskontrolle blieb. Daraus ergab sich allerdings, dass Preiserhöhungen in jenem Bereich voll abzugelten waren. Das betraf im Rahmen des ersten Preis-Lohnabkommens vor allem die erhöhten Agrarpreise, aber auch eine Reihe von Tarifen und Gebühren. Die Lohnerhöhung wurde mit dem Zusatz beschlossen, dass es drei Monate lang keine Lohnbewegung geben sollte (WIFO-Monatsberichte, 8/1947, S. 172). Als bemerkenswert muss in diesem Zusammenhang hervorgehoben werden, dass die Beschlüsse der Leitungsgremien in den beteiligten Interessenvertretungen von der Mitgliedschaft in der Regel anstandslos durchgeführt wurden. Nur auf der Basis der unbestrittenen Autorität dieser Führungsorgane vermochte das System überhaupt zu funktionieren. Auch waren sich die Sozialpartner über die Zweckmäßigkeit dieser Vorgangsweise vollkommen einig. So erklärte Reinhard Kamitz, damals Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung der Bundeshandelskammer, dem späteren Generalsekretär der Vereinigung österreichischer Industrieller, Franz C.  Fetzer, zur Freigabe der Preise  : »Sie haben recht, aber im Augenblick ist es unmöglich, Ihren Wunsch zu verwirklichen, denn wenn wir unvermittelt die Preise freigeben, müssen wir auch die Löhne freigeben, und was meinen Sie, werden dann, auf längere Frist gesehen, die Folgen sein  ? Wir können die Bewirtschaftung nur langsam

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Erste Ansätze der Sozialpartnerschaft 

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abbauen und auch gegenüber berechtigten Wünschen der Wirtschaft muss Zurückhaltung geübt werden  !« (Diwok – Koller, 1977, S. 440). Die ersten drei Abkommen erwiesen sich als erfolgreich, weil die Inflation zumindest unter Kontrolle gehalten werden konnte und die Wirtschaft Zeit gewann, um den Wiederaufbau reibungslos zu vollziehen. Im November 1947 hatte man mit dem Währungsschutzgesetz überdies einen neuerlichen Versuch unternommen, die Geldmenge zu reduzieren.

Abbildung 1  : Löhne, Verdienste und Lebenshaltungskosten 1946 bis 1952 Quelle  : Butschek (1985).

1949 hatte das österreichische Bruttoinlandsprodukt schon das Niveau von 1937 erreicht und die Produktivität war entsprechend gestiegen. Sowohl die Bewirtschaftung als auch die Preisregulierung wurden beträchtlich eingeschränkt. Der Zeitpunkt zum Abgehen von den Preis-Lohnabkommen zugunsten der marktwirtschaftlichen Koordination wäre gegeben gewesen. Dennoch hielt man an dem System fest, weil es die Möglichkeit zu bieten schien, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme relativ einfach und auf einvernehmliche Weise zu lösen. Das vierte Abkommen wurde diesen Erwartungen schon deshalb nicht mehr gerecht, weil über die »Korea-Hausse« die Inflation von außen angeheizt wurde. Dieses Abkommen führte sogar zu Arbeiterunruhen, welche die Kommunistische Partei zu putschartigen Aktivitäten veranlasste. Ein

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Die Wiederbelebung durch Franz Nemschak

fünftes Abkommen vermochte seine Ziele überhaupt nicht mehr zu erreichen, es beschleunigte im Gegenteil durch entsprechende Unternehmererwartungen die inflationären Tendenzen. Damit wurde in stets weiteren Kreisen einsichtig, dass das System der Preis-­ Lohnabkommen insofern nicht länger funktionierte, als auf diese Weise der inflationäre Auftrieb nicht beendet werden konnte. Der Übergang zur marktwirtschaftlichen Koordination schien angezeigt. Eine Auffassung, welche Nemschak von Anfang an vertreten hatte, die aber nunmehr besondere Aktualität erlangte. Der unmittelbare Anstoß dazu kam allerdings von den USA sowie der Europäischen Zahlungsunion (EZU). Diese hatten nicht nur die mangelnde Funktionsfähigkeit des Systems erkannt, sie waren überdies zu dieser Zeit bereits entschlossen, die westeuropäischen Volkswirtschaften stärker in Richtung der marktwirtschaftlichen Koordination zu drängen und vor allem auch die österreichische von der Auslandshilfe unabhängig zu machen. Ihren Niederschlag fand diese Position darin, dass die USA sowie die EZU ultimativ eine solche Umstellung verlangten, unter Androhung, andernfalls die Auszahlung der ERP-Counterpartmittel zu sperren (Seidel, 2005, S. 488). Daraufhin reagierte die österreichische Wirtschaftspolitik  : Die monetäre Stabilisierung wurde zunächst durch klassische Instrumente wie die Erhöhung der Bankrate 1951 um 1,5 Prozentpunkte auf 5 % und 1952 auf 6 % sowie den Budgetausgleich und eine administrative Beschränkung des Kreditvolumens bewirkt. Preise und Löhne wurden schließlich weitgehend freigegeben. Allerdings trugen auch die Sozialpartner zur Stabilisierung bei. Die Unternehmervertreter initiierten eine »Preissenkungsaktion« und die Gewerkschaften sicherten einen Lohnstopp von 1½ Jahren zu. Tatsächlich sank 1953 der Verbraucherpreisindex um 5,4 % (Butschek, 2011, S. 281 f.). Nach der »Stabilisierungskrise« 1953 begann der Aufstieg ins »Goldene Zeitalter« unerwartet rasch. Man hatte das nicht annehmen können, da die Voraussetzungen dafür 1945 schlechter schienen als 1918, als das Bundesgebiet ja damals kein Kriegsschauplatz geworden war. Im Gegensatz dazu hatte nunmehr das Land schwerste Zerstörungen erlitten. Allerdings wurde Österreich massive ausländische Hilfe zuteil. Zunächst deckte die UNRRA die unmittelbare Not der Nachkriegszeit. In der Folge jedoch flossen Hilfsmittel seitens des amerikanischen Kongresses, entscheidend aber wurde die Unterstützung durch den sogenannten »Marshallplan«, das ERP (European Recovery Program). Damit ging die wirtschaftliche Kooperation aller westeuropäischen Volkswirtschaften, welche ihre organisatorische Basis zunächst in der OEEC, später in der OECD fand,

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Erste Ansätze der Sozialpartnerschaft 

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einher. Vielleicht sollte man an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die beschriebene Periode den Glanzpunkt der US-Außenpolitik darstellt. Auf die Bedeutung der Marshallplan-Hilfe sei vor allem aus zwei Gründen verwiesen. Zunächst wegen ihrer Bedeutung für die österreichische Wirtschaft, aber auch, weil das Institut mit ihrer Realisierung eng verflochten war. Ihr Charakteristikum lag darin, dass die Hilfe großteils den betroffenen Ländern als Geschenk zufloss. Die Käufer von Gütern aus dem Dollar-Raum hatten jedoch den Preis in Landeswährung in einen »Counterpart-Fonds« an der jeweiligen Notenbank einzuzahlen, welche die Mittel als niedrig verzinste langfristige Kredite, im Zusammenwirken mit der amerikanischen ERP-Verwaltung, Investoren zur Verfügung stellte. Die ERP-Hilfe erwies sich von entscheidender Bedeutung für den Wiederaufbau der österreichischen Wirtschaft. Sie erreichte hier nach Norwegen den zweithöchsten Pro-Kopf-Wert von allen in das Programm eingeschlossenen Staaten und überstieg einige Jahre 10 % des BIP. Dadurch konnten zwei der schwierigsten Wirtschaftsprobleme Österreichs gelöst werden. Einerseits kam es zu keiner Passivierung der Leistungsbilanz, weil in diesen Jahren mehr als die Hälfte der Importe aus ERP-Mitteln bezahlt wurden, andererseits war es in einem verarmten Land mit niedriger Sparquote möglich, reichlich Investitionsmittel zur Verfügung zu stellen. Es waren genau diese Pro­bleme, welche die österreichische Wirtschaft nach dem Ersten Weltkrieg schwerstens belasteten. Das WIFO war in die Abwicklung dieser Programme zunächst dadurch eingeschaltet, dass Seidel – wie bereits erwähnt – offiziell die Verbindung mit der OECD aufrechterhielt, andererseits Nemschak zum Leiter des ERP-Büros im Bundeskanzleramt ernannt worden war, welchem die inländische Abwicklung oblag. Natürlich wäre es verfehlt, das Wachstum der österreichischen Wirtschaft allein auf die Wirtschaftspolitik zurückzuführen. Das »Goldene Zeitalter« charakterisierte ganz Westeuropa, wovon auch der österreichische Export profitierte. Dazu kamen noch einige weitere Elemente, welche die Expansion generell begünstigten, wie die politische Stabilität und die Zusammenarbeit der Arbeitsmarktparteien  ; die zurückhaltende Lohnpolitik der Gewerkschaften führte zu einer hohen Investitionsquote (Eichengreen, 1996), die sich nicht zuletzt auf den Ausbau der sozialen Sicherheit zurückführen lässt (Pizzorno, 1978). Besonderes Gewicht kam auch dem Umstand zu, dass die Länder den technischen Rückstand gegenüber den USA aufholen konnten. Nicht zu übersehen ist auch, dass nicht nur die Politik das Wirtschaftswachstum ins Zentrum ihrer Aktivitäten stellte, sondern dass für die gesamte Bevölkerung die ökonomische Expansion, welche

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ja die Basis für die Steigerung der Einkommen bildete, zum zentralen Wert geworden war.

2.3 Der Kampf um die Unabhängigkeit In der österreichischen Innenpolitik hatte sich die aus der Nachkriegssituation geborene Koalition zwischen der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) und der Sozialistischen Partei Österreichs (SPÖ) verfestigt. Deren positiver Aspekt umfasste auch die Kooperation zwischen Arbeiterschaft und Unternehmern. Andererseits versuchten nunmehr beide politischen Kräfte, eine gewisse Kontrolle über Aussagen in der Öffentlichkeit zu erlangen. Das ging damit einher, dass insbesondere den jeweiligen Kammern allmählich auch wirtschaftspolitisch kompetente Mitarbeiter zur Verfügung standen, sodass die Aussagen des WIFO und Nemschaks nicht unbesehen akzeptiert wurden wie in den ersten Nachkriegsjahren. Daraus entstanden Diskrepanzen zwischen den Vertretern der Wirtschaftspolitik, wie sie im Zusammenhang mit dem Preis-Lohnabkommen dargestellt wurden. Sie schlugen sich zunächst darin nieder, dass – wie erwähnt – Nemschak nicht mehr zu den Verhandlungen eingeladen wurde. Zum Eklat kam es, als Nemschak in einer Rede am 20. November 1951 noch einmal in drastischen Worten das System der Preis-Lohnabkommen und damit die österreichische Wirtschaftspolitik schlechthin kritisierte. Er führte deren Verfehlungen hauptsächlich darauf zurück, dass infolge der Nachkriegsgegebenheiten den wohlorganisierten Interessenvertretungen in der Wirtschaftspolitik ein übermäßiges Gewicht zukäme, was zur Folge hätte, dass vor allem deren Anliegen realisiert, wogegen die gesamtwirtschaftlichen Interessen vernachlässigt würden (Nemschak, 1951, S. 9). Es sei daher dringend erforderlich, ein »gesamtwirtschaftliches Konzept« zu entwickeln, um der österreichischen Wirtschaft Entwicklungsmöglichkeiten zu eröffnen. Der Inhalt seines Konzepts bezog sich im Wesentlichen darauf, die wirtschaftliche Koordination wieder den Marktkräften zu überlassen  : Es sei »möglich und im Interesse der Sanierung und Erhaltung Österreichs notwendig, an Stelle der bisherigen, vielfach nur improvisierenden, den Sparsamen, Tüchtigen und Ehrlichen entmutigenden und das ganze Volk demoralisierenden, in ihren Auswirkungen absolut leistungshemmenden und produktivitätsfeindlichen Wirtschaftspolitik eine neue Wirtschaftspolitik zu konzipieren und durchzusetzen, die in weit höherem Maße als bisher dem Gedanken der gesamtwirtschaftlichen Produktivitätssteigerung Rechnung trägt« (Nemschak, 1951, S. 32).

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Der Kampf um die Unabhängigkeit 

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Sachlich war seine Position sicherlich gerechtfertigt. Aber die Politik hat oft auch extraökonomische Aspekte ins Auge zu fassen. Als krasses Beispiel sei der Beschluss der damaligen Bundesregierung genannt, 1918 allen Kriegsheimkehrern eine Arbeitslosenunterstützung im Bedarfsfalle zu gewähren, auch wenn kein Leistungsanspruch bestand. Obwohl es evident erschien, dass diese durch ein massives Budgetdefizit finanzierte Leistung die Inflation beschleunigen musste, schien es sinnvoll, auf diese Weise revolutionäre Tendenzen aufzufangen. Nun war zwar nach dem Zweiten Weltkrieg die Situation nicht annähernd so dramatisch, doch schienen gewisse Kompromisse sinnvoll, um die Arbeiterschaft zufriedenzustellen und damit die Zusammenarbeit der Sozialpartner zu ermöglichen  – umso mehr, als man stabilisierende Effekte der Geldpolitik erwarten konnte (Währungsschutzgesetz). Für derartige Überlegungen fehlte Nemschak das Verständnis, zumal er eben die Preis-Lohnabkommen nicht als geeignetes Instrument betrachtete, das interne finanzielle Gleichgewicht herzustellen, sondern eine entsprechende Währungsreform als unausweichlich betrachtete (WIFO-­Monatsberichte, 8/1947, S. 176  ; 10/1947, S. 239). In dieser Angelegenheit manifestierte sich ein kennzeichnender Charakterzug Nemschaks. Wenn er einmal in einer Sachfrage zu einer bestimmten Überzeugung gelangt war, dann hielt er nicht nur an dieser fest, sondern war auch zu keinen wirtschaftspolitischen Kompromissen bereit. Dazu kam, dass – wie bereits dargelegt – das WIFO in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine derart dominierende Position für die österreichische Wirtschaftspolitik einnahm, dass er sich als dessen Leiter berufen fühlte, dieser auch Anweisungen zu erteilen. Eine Vorgangsweise, welche von den Politikern allmählich immer weniger akzeptiert wurde. Auch blieb seine Beurteilung der innenpolitischen Situation in Österreich vollkommen verfehlt, wenn er eine Diskrepanz zwischen den Interessen der Sozialpartner und der Bundesregierung zu erkennen glaubte. Das österreichische Nachkriegssystem beruhte auf einem Ausgleich zwischen den großen sozialen Gruppierungen und wurde nicht nur von den Interessenvertretungen getragen, sondern auch von den großen politischen Parteien, welche sich zu einer Koalition zusammengeschlossen hatten. Auch vermochte Nemschak damals, die positiven Auswirkungen stabiler sozialer sowie politischer Gegebenheiten für das Wirtschaftswachstum nicht zu erkennen, wenn er der österreichischen Wirtschaftspolitik ausschließlich negative Wirkungen auf das wirtschaftliche Wachstum zuschrieb. Denn tatsächlich vollzog sich der ökonomische Wiederaufbau in den späten 1940er-Jahren in eindrucksvollem Ausmaß. 1949 hatte das Bruttoinlandsprodukt bereits das Niveau von 1937 überschritten.

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Angesichts der sehr pointierten Ausführungen konnte der bei diesem Vortrag anwesende Finanzminister Margarétha nur mit Mühe daran gehindert werden, den Saal zu verlassen (Seidel, 2012b, S. 466). In der Folge wurden Stimmen laut, welche die Abberufung Nemschaks als Leiter des WIFO verlangten. Dazu kam es nicht, aber die Sozialpartner zeigten sich entschlossen, das Institut unter Aufsicht zu stellen. Dieses Ziel sollte anlässlich der kommenden Generalversammlung realisiert werden. Nemschak verschob darauf diese mehrfach und machte sich daran, durch intensive Diskussion mit den maßgeblichen Stellen die Gefahr abzuwenden. Seine Bemühungen wurden allerdings dadurch begünstigt, dass sich indessen die Funktionsunfähigkeit der Preis-Lohnabkommen erwiesen hatte und die internationalen Stellen den Übergang zur Marktkoordination urgierten. Und es war ein früherer Angehöriger des Instituts, Reinhard Kamitz, der als Finanzminister diesen Schritt setzte (Nemschak, 1956, S. 89). In den neuen, 1952 erlassenen Statuten des WIFO wurde dessen Unabhängigkeit ausdrücklich bestätigt und die Finanzierung sichergestellt. »Gleichzeitig verzichtete das Institut auf das bis dahin übliche ›Dreinreden‹ in wirtschaftspolitischen Fragen. Einschlägige Aussagen des Leiters wurden von da an explizit als persönliche Auffassungen gekennzeichnet« (Seidel, 2012b, S. 466). Überdies hatte das WIFO – wie schon erwähnt  – jeweils die »Einleitung« zu den Monatsberichten betroffenen Ministerien und Kammern vorzulegen – woraus sich in der Folge allerdings nie Probleme ergaben. Neue Verstimmungen entstanden, als das Institut die negativen Auswirkungen der Stabilisierungskrise 1952/53 darstellen musste. Diese verflüchtigten sich erst mit dem Anspringen der Konjunktur Ende 1953, als es nur Positives zu berichten gab. Ein kühlerer Wind frischte jedoch schon Ende 1954 auf, als nämlich das WIFO vor einer Überhitzung der Konjunktur warnte. Das erregte in allen politischen Lagern Verärgerung, man warf ihm eine »Manie der Gefahrsucht« vor. Auch diese Querelen fanden damit ein Ende, als die Überhitzung tatsächlich eintrat (Nemschak, 1956, S. 92). Eine weitere Reibungsfläche resultierte daraus, dass Kamitz, Institutsmitglied der Vorkriegs- und der Kriegszeit, 1952 das Finanzministerium übernahm. Er war es, der die Stabilisierung der österreichischen Wirtschaft unter marktwirtschaftlichen Aspekten vollzog. Aber seine Politik beschränkte sich keineswegs auf diesen kurzfristigen Aspekt, sondern er ging daran, sozusagen die marktwirtschaftlichen Mechanismen der österreichischen Wirtschaft, welche noch immer als Folge der Kriegs- und Nachkriegswirtschaft blockiert waren, wieder in Gang zu setzen. Diesem Zweck diente eine Fülle von gesetzlichen Maßnahmen. So etwa die Kapitalmarktgesetze, nämlich das Bankenrekonstruktionsgesetz, das

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Der Kampf um die Unabhängigkeit 

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Versicherungswiederaufbaugesetz und das Nationalbankgesetz 1955. Der Außenhandel wurde liberalisiert und die Währung konvertibel gemacht. Das Schilling­ eröffnungsbilanzgesetz 1954 ermöglichte den Unternehmern, ihre Anlagegüter noch einmal zum Zeitwert zu bilanzieren. Das Sparförderungsgesetz versuchte, den heimischen Kapitalmarkt zu stärken, und schließlich kam es zur Fixierung eines realistischen Wechselkurses von 26 Schilling je Dollar. Das Wachstum wurde gleichfalls vielfältig angeregt. Beispielsweise durch dreimalige Senkung der Lohn- und Einkommensteuern sowie durch vorzeitige Abschreibung von Wirtschaftsgütern. Mit dem Ausfuhrförderungsgesetz verwirklichte Kamitz die Rückvergütung der Umsatzsteuer für Exporte ebenso wie die »Exportrisikohaftung« und die Bundeshaftung für Exportgeschäfte. Die Handelsdelegierten der Bundeshandelskammer, welche aus dem diplomatischen Dienst ausgegliedert wurden, erwiesen sich als äußerst effizient (Diwok – Koller, 1977). Die Expansion der sozialen Sicherheit  – 1955 wurde das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG) beschlossen, 1957 folgten das Gewerbliche Selbständigen-Pensionsversicherungsgesetz (GSPVG) sowie das Landwirtschaftliche Zuschussrentenversicherungsgesetz (LZVG) – ging auf die Initiative des sozialistischen Koalitionspartners zurück. Diese Wirtschaftspolitik erwies sich als außerordentlich erfolgreich. In Österreich wurde das Wachstum lediglich geringfügig von der Bundesrepublik Deutschland übertroffen, je Einwohner lag es sogar an der Spitze der europäischen Industriestaaten (Butschek, 2011, S. 299). Die ÖVP versuchte, diesen außerordentlichen Erfolg für sich auszunutzen, indem sie ihn als Resultat des »Raab-Kamitz-Kurses« präsentierte. Kamitz erwartete dafür die Unterstützung des WIFO, welche nicht erfolgte. Es wurde ein Ausspruch Nemschaks kolportiert  : »Wir brauchen keinen Raab-Kamitz-Kurs, sondern ein gesamtwirtschaftliches Konzept«. Wiewohl sich diese Position verständlicherweise aus der streng unparteiischen Einstellung des Instituts erklären lässt, zerbrach daran die alte Freundschaft der beiden Männer und führte sogar zu Sanktionen des Finanzministeriums. Daraus ergaben sich Finanzierungsengpässe für das WIFO, welche nur teilweise durch Sonderfinanzierungen überbrückt werden konnten.

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2.4 Die Wandlung der Ökonomen-Szene Die 1960er-Jahre brachten Veränderungen der ökonomischen sowie institutionellen Entwicklung Österreichs. Obwohl das Wirtschaftswachstum unter späteren Gesichtspunkten als zufriedenstellend betrachtet werden kann – es erreichte zwischen 1962 und 1967 2  % real  –, bezeichneten die Zeitgenossen diese Periode als »Strukturkrise«, weil die Wachstumsrate knapp unter den europäischen Durchschnitt gesunken war. Tatsächlich zeichneten sich einige Strukturprobleme ab. Das Wachstum der bis dahin dominierenden Industrie übertraf jenes des BIP kaum mehr und die Industrieinvestitionen gingen zurück. Diese Entwicklung resultierte aus Veränderungen auf dem Weltmarkt, wo Rohstoffe und Halbfertigwaren, wie Eisen, Stahl und Aluminium oder Rotationspapier, weniger nachgefragt wurden. Diese Problematik betraf vor allem die Verstaatlichte Industrie, welche mit ihrer Produktion zum Träger des Nachkriegsbooms geworden war. Damit ging eine Verlangsamung der österreichischen Exporte mit einer stärkeren Passivierung der Handelsbilanz einher. Einen gewissen Ausgleich für den Mangel an industrieller Dynamik schuf der Ausländerfremdenverkehr. Dieser hatte sich bis Anfang der 1950er-Jahre nur zögerlich entwickelt, wurde aber nach dem Staatsvertrag 1955 zu einer »Wachstumsindustrie« und vermochte auf diese Weise, die sich verschlechternde Handelsbilanz zu entlasten. Dazu kamen Auswirkungen des europäischen Integrationsprozesses, welcher sich zuletzt in der Gründung der beiden Handelsblöcke, nämlich der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ab 1958 sowie einer Freihandelszone, European Free Trade Association (EFTA), ab 1960 niederschlug. Obwohl Österreich aufgrund seiner geografischen Lage die Hälfte seines Außenhandels mit der EWG abwickelte und nur etwa 10 % mit den EFTA-Ländern, musste es sich infolge seines Neutralitätsstatus mit der Mitgliedschaft bei Letzterer begnügen. Natürlich setzten infolge der Zolldiskriminierung Handelsumleitungen ein, welche per Saldo gleichfalls die Exporte dämpften (Butschek, 2011, S. 324). Der EFTA-Beitritt Österreichs erregte den erbitterten Widerstand Nemschaks. Er befürchtete katastrophale Auswirkungen für die österreichische Wirtschaft und lehnte diese Entscheidung vehement ab. Er stand damit keineswegs allein. Berühmt wurde der Ausspruch des steirischen Landeshauptmanns Josef Krainer, Österreich werde »in Neutralität verhungern«. Der Versuch von Außenminister Kreisky, Nemschak telefonisch die Gründe für den EFTA-Beitritt zu erläutern, schlug vollkommen fehl und endete in einem Schreiduell. Gerüchte wollten wis-

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Die Wandlung der Ökonomen-Szene 

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sen, dass sich Nemschak zu Hallstein (Präsident der EWG-Kommission) begeben habe, um auf eigene Faust den EWG-Beitritt Österreichs herbeizuführen. Die Situation beruhigte sich zwangsläufig dadurch, dass ein solcher Beitritt auch von der EWG nicht ins Auge gefasst wurde. Darüber hinaus traten zwar die dargelegten negativen Folgen für Österreichs Wirtschaft ein, erwiesen sich jedoch weder als katastrophal, noch blieben sie lange spürbar. Freilich bleibt zu bemerken, dass sich Österreich in den Folgejahren intensiv um eine Assoziation mit der EWG bemühte. Es muss in diesem Zusammenhang betont werden, dass der Kampf für einen EWG-Eintritt Österreichs von Nemschak rein privat geführt wurde. Das Institut war in keiner Weise in diese Kampagne involviert. Das galt sowohl für den wissenschaftlichen Leiter, Hans Seidel, als auch die meisten Mitarbeiter des Hauses. Im Gegenteil, manche Aufsätze nahmen eine eher kritische Position ein. So etwa Rothschild in einer Studie »Österreich, Schweiz, Schweden. Ein Wirtschaftsvergleich« (WIFO-Monatsberichte, Beilage 77, 1964), in der implizit gezeigt wurde, dass der Nicht-Beitritt keine negativen Folgen hätte. Die wirtschaftliche Entwicklung dieser Periode wurde überdies von einer permanenten, wenngleich mäßigen, Inflation begleitet. Unter den Maßnahmen, welche die Wirtschaftspolitik zu deren Bekämpfung ergriff, sticht die 1957 erfolgte Gründung der »Paritätischen Kommission für Preis- und Lohnfragen« hervor. Mit dieser Einrichtung, welche die drei Kammern und den ÖGB umfasste, sollte eine gewisse Kontrolle von Löhnen und Preisen erfolgen. Damit wurde faktisch der Grundstein zur österreichischen Sozialpartnerschaft gelegt. Genauer gesagt, setzte man den durch die Preis-Lohnabkommen eingeschlagenen Weg nach kurzer Unterbrechung wieder fort. Das entsprach in erster Linie den Anliegen der Gewerkschaften, welche stets danach trachteten, in die Gestaltung der Wirtschaftspolitik eingebunden zu sein. Zur fachlichen Vorbereitung der Kommissionsarbeit wurden Unterausschüsse für Preis- und Lohnfragen geschaffen. Von entscheidender Bedeutung für die Wirtschaftspolitik im Allgemeinen sowie deren Stil erwies sich jedoch die auf Anregung des Gewerkschaftsökonomen Heinz Kienzl erfolgte Gründung des dritten Unterausschusses  : des »Beirats für Wirtschafts- und Sozialfragen«. In dessen Untergruppen arbeiteten Vertreter der Sozialpartner, der Ministerien sowie des WIFO zusammen, um Studien zu den aktuellen Fragen der österreichischen Wirtschaftspolitik zu konzipieren, welche von den Präsidenten der Sozialpartner approbiert wurden und sich damit zu wichtigen Hinweisen für die Politik entwickelten. Diese institutionellen Veränderungen zeitigten Konsequenzen für das WIFO sowie auch für die Position Nemschaks. Das Institut blieb nicht mehr das »Mo-

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nopol wirtschaftsempirischer Wahrheit«, wie es Streissler bezeichnet hatte, sondern es entwickelten sich andere Zentren ökonomischer Forschung. Das galt zunächst für die Universitäten, welche zuvor an den aktuellen Problemen der Wirtschaftspolitik geringes Interesse an den Tag gelegt hatten. Das änderte sich nunmehr. Theodor Pütz edierte eine Sammelarbeit über die Sozialpartner und Erich Streissler ebenso wie Adolph Nußbaumer – beide zeitweise auch Mitarbeiter des WIFO  – meldeten sich ständig mit wirtschaftlichen Analysen zu Wort. Sowohl die Arbeiterkammer als auch die Handelskammer hatten ihre wirtschaftswissenschaftlichen Abteilungen massiv ausgebaut und mit hochqualifizierten Ökonomen besetzt. Und letztlich erarbeiteten auch die politischen Parteien eigene Wirtschaftskonzepte, welche auf fachökonomischer Basis beruhten. So entwickelte der ehemalige Mitarbeiter des WIFO, Universitätsprofessor Stephan Koren, als Staatssekretär ein wirtschaftliches Reformprogramm für die ÖVP, den »Koren-Plan«. Auf Seiten der sozialistischen Opposition hatte der neue Parteivorsitzende, Bruno Kreisky, eine Kommission ins Leben gerufen, welche gleichfalls die Aufgabe hatte, ein »Programm zur Reform der österreichischen Wirtschaft« auszuarbeiten. Deren einzelne Kapitel wurden zwar in größerem Rahmen (»1.400  Experten«) diskutiert, aber die wesentliche Arbeit oblag Wirtschaftsfachleuten aus dem beschriebenen Personenkreis, von welchen viele Ressorts im späteren Kabinett Kreisky übernahmen  – Hannes Androsch, Hertha Firnberg, Josef Staribacher, Ernst Eugen Veselsky und Oskar Weiss. Außer Androsch kamen alle aus der Arbeiterkammer (Butschek, 2011, S. 331). Das WIFO war in diesem Kreis durch Butschek vertreten. Seidel akzeptierte ein derartiges politisches Engagement, wenn der Betreffende stets sachliche Beiträge leistete.

2.5 Die Rückkehr zur Konjunkturforschung Die beschriebenen Veränderungen in Wirtschaft und Politik führten auch zu grundlegenden Wandlungen in der Arbeitsweise des WIFO. Zwar lässt sich nicht sagen, dass das Institut nach Überwindung der Nachkriegsprobleme und »Normalisierung« der wirtschaftlichen Entwicklung zur Konjunkturforschung im engeren Sinne zurückgekehrt sei, das schloss schon sein umfassendes Aufgabengebiet aus. Dazu kam auch noch, dass Konjunkturprobleme nunmehr hinter Wachstums- und Strukturprobleme zurücktraten  : »Man diskutierte, ob es einen Konjunkturzyklus überhaupt noch gäbe oder ob nicht bloß mehr oder weniger systematische Schwankungen in Einzelreihen wie Lagern, bestimmten Arten von

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Die Rückkehr zur Konjunkturforschung 

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Investitionen oder Exporten übriggeblieben wären  ; man sprach von fluctuations and tendencies und vermied so gut wie möglich die Begriffe cycle und cyclical« (Tichy, 1973, S. 73). Dennoch fand die Konjunkturanalyse wieder ihren festen Platz im Arbeitsbereich des Instituts und spielte auch international eine Rolle. Mit der Publikation »Indikatoren der österreichischen Konjunktur 1950 bis 1970« (Tichy, 1972) wurden erste Schritte zum Verständnis der Konjunktur als Trendabweichung gesetzt. Gewisse Änderungen in den Inhalten der Monatsberichte resultierten daraus, dass sich die Versorgung mit Statistiken durch das Statistische Zentralamt erheblich verbessert hatte, sodass sich das Institut wieder stärker den eigentlichen ökonomischen Forschungsaufgaben zuwenden konnte. Dieser Umstand schlug sich auch in der Neugestaltung der Monatsberichte nieder. So gelang es Seidel, Rothschild und Tichy, den zögernden Nemschak dahin zu bringen, die monatlichen Teilbereichsanalysen aufzulassen, wodurch Platz für größere Artikel entstand. Ein neuerer Ansatz für eine Konjunkturforschung wurde vom WIFO dadurch früh aufgegriffen, als es ab 1963 auf Anregung Rothschilds Jahresprognosen des Bruttoinlandsprodukts erstellte, welche vierteljährlich revidiert wurden. Diese Prognosen wurden in der Folge in einer Arbeitsgruppe für vorausschauende Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung des Beirats für Wirtschafts- und Sozialfragen diskutiert. Allmählich wurde dieser Arbeitsbereich in Richtung mittel- und langfristiger Prognosen ausgeweitet. Diese wurden vor allem vom Finanzministerium für die mittelfristige Budgetvorschau benötigt. An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass das WIFO die erste mittelfristige Prognose 1961 im Auftrag des US-Landwirtschaftsministeriums über »Die Erzeugung und den Verbrauch landwirtschaftlicher Produkte in Österreich« bis 1975 ausarbeitete. Diese beruhte auf der Schätzung des Produktionspotenzials der österreichischen Wirtschaft mit Hilfe der Entwicklung des Arbeitsvolumens, der Arbeitsproduktivität sowie auch der Kapitalbildung und der Kapitalproduktivität. Der geschätzte Wert von 4 % real erwies sich als weitgehend zutreffend (Kramer, 1973, S. 93). Die neuen Gegebenheiten fanden auch ihren Niederschlag in den WIFO-Publikationen. So erreichte Rothschild als Betriebsratsobmann, dass die nunmehr häufig erscheinenden Aufsätze gezeichnet werden konnten. Aber das Haus setzte 1966 einen weiteren Schritt durch die Publikation einer neuen Buchreihe »Studien und Analysen«. Man kann darin ein Anschließen an jene des Konjunkturforschungsinstituts der Ersten Republik sehen. Hier sollten Probleme umfassend auf Basis der theoretischen Forschung abgehandelt werden. In Nr. 1 »Die regio­nale Dynamik der österreichischen Wirtschaft« setzten Seidel, Butschek

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und Kausel neue Maßstäbe für die Wirtschaftspolitik. In Nr. 2 griff Steindl mit »Bildungsplanung und wirtschaftliches Wachstum. Der Bildungsbedarf in Österreich bis 1980« einen neuen Bereich der Wirtschaftspolitik auf. 1974 tat das Institut einen weiteren Schritt, indem es ein neues Journal mit dem Namen »Empirica« herausgab, welches sich stärker auf die eher grundsätzlichen Aspekte seiner Arbeit konzentrierte. Schließlich steuerten sämtliche Referenten des Hauses 1973 in einer Festschrift für Nemschak eine umfassende Darstellung der »Wirtschaftsforschung in Österreich. Eine Standortbestimmung« bei. Anfang der 1960er-Jahre trat eine neue Generation von Mitarbeitern ins WIFO ein. Durch die stärkere Konzentration auf grundsätzliche Fragen erreichten sie dabei eine derartige Qualifikation, dass sie in der Öffentlichkeit bald als kompetente Vertreter dieses Fachbereichs betrachtet wurden. Das ergab sich auch daraus, dass sie den Medien stets bereitwillig Auskunft erteilten. Darüber hinaus aber hielten sie engen Kontakt zu den einschlägigen Bundesministerien. Das galt für Gerhard Lehner und das Finanzministerium, Matthias Schneider und das Landwirtschaftsministerium sowie Felix Butschek und das Sozialministerium. Letzterer gab im Auftrag des Sozialministeriums 1975 ein Sammelwerk über »Die ökonomischen Aspekte der Arbeitsmarktpolitik« heraus. Jan Stankovsky wurde zum unbestrittenen Spezialisten der osteuropäischen Volkswirtschaften. Das bedeutete keineswegs, dass hierbei stets die Meinung der Ministerien vertreten wurde, aber jeweils eine enge sachliche Zusammenarbeit. Letztlich kam es 1963 zur Gründung des »Instituts für Höhere Studien und Wissenschaftliche Forschung«. Die Initiative dazu ging von den beiden exilierten Österreichern, dem Soziologen Paul F. Lazarsfeld sowie von Oskar Morgenstern, dem ehemaligen Direktor des Österreichischen Instituts für Konjunkturforschung (siehe Kapitel 1) aus. Dieses wurde zunächst von der Ford Foundation, aber auch vom Bund und der Stadt Wien finanziert. Hauptmotiv für seine Gründung bildete die Absicht, ein Zentrum der postuniversitären Lehre zu errichten, womit auch die Forschung verbunden sein sollte. Diese umfasste sämtliche Sozialwissenschaften, fand aber einen Schwerpunkt in der Ökonomie. Damit war die Monopolstellung des WIFO in der Wirtschaftsforschung beendet und eine gewisse Konkurrenz entstanden. Doch arbeiteten beide Institute seit den 1960er-Jahren freundschaftlich zusammen. Viele Absolventen des IHS fanden ihre Arbeitsplätze im Institut für Wirtschaftsforschung und entwickelten sich zu außerordentlich erfolgreichen Mitarbeitern. Das WIFO konnte überdies die sehr leistungsfähige Rechenanlage des IHS benutzen. Die ökonometrischen Berechnungen wurden damals von Franz Glinsner ausgeführt. Allerdings veralteten diese Einrichtungen rasch und im WIFO

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Die Rückkehr zur Konjunkturforschung 

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entstand der Bedarf an einer eigenen Anlage. Die Institute traten daher Anfang der 1970er-Jahre an den Bund mit dem Ersuchen heran, beiden Einrichtungen eine moderne, leistungsfähige solche zu finanzieren. Der damalige Finanzminister Androsch traf die Entscheidung, eine Anlage beiden Instituten zur Verfügung zu stellen. Es gab lebhafte Diskussionen darüber, welche anzuschaffen wäre, vor allem aber, wo diese zu stehen hätte. In diesem Zusammenhang entstand eine Auseinandersetzung zwischen Nemschak und Morgenstern, welcher dem WIFO die Wissenschaftlichkeit absprach, weil ihm das Verständnis für die neue praxisorientierte Funktion dieses Instituts fehle (Seidel, 2012b, S. 462). Er beanspruchte das Rechenzentrum für das IHS. Die Lösung dieser Streitfrage wurde schließlich in der Gründung eines gemeinsamen Vereins gefunden, welcher den EDV-Bedarf beider Institute decken sollte  : das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Rechenzentrum (WSR). Diese Konstruktion erwies sich als erfolgreich, allerdings ging die Bedeutung des Rechenzentrums infolge der technischen Entwicklung verloren. Die Bündelung der »Rechenintelligenz« in einem teuren Großrechner, an dem »unintelligente« Terminals angeschlossen sind, wurde immer mehr durch preiswerte »intelligente« Terminals ersetzt. Das IHS schied daher Mitte der 1990er-Jahre aus dem WSR aus, welches nunmehr ausschließlich den Rechenbedarf des WIFO zu decken hatte. In diesem Rahmen hatte das WIFO eine volkswirtschaftliche Datenbank aufgebaut, welche der Öffentlichkeit zur Verfügung stand (Mitteilung des damaligen administrativen Leiters, Karl Musil). Ein weiterer Versuch, die Unabhängigkeit des WIFO zu beschränken, ergab sich aus dem Vorhaben des Beirats – angeregt durch die französische »Planification« – eine mittelfristige Prognose einzurichten (Seidel, 1993, S. 43). Ursprünglich sollte diese im Rahmen des WIFO etabliert werden, aber unter der direkten Kontrolle des Beirats stehen. Ein Anliegen, das von Nemschak brüsk abgelehnt wurde. Daher gründeten die Sozialpartner 1968 ein eigenes, paritätisch besetztes, Institut. Diesem war jedoch kein glückliches Schicksal beschieden, denn es wurde nach kurzer Zeit wegen Erfolglosigkeit aufgelöst. Zwar hatte das WIFO sein wirtschaftsanalytisches Monopol verloren, und auch die wirtschaftspolitische Beratung erfolgte nunmehr durch mehrere Stellen, andererseits waren seine Mitarbeiter besonders nachgefragt, weil die zahlreichen neuen Gremien deren sachkundigen Beitrag benötigten. So gab es in den Arbeitsgruppen des Beirats für Wirtschafts- und Sozialfragen keine ohne Institutsmitarbeiter. Häufig übernahmen sie auch den Vorsitz dieser Gremien. In besonderem Maße traf das auf Hans Seidel zu. Dessen Hochschätzung durch sämtliche Teilnehmer dokumentierte sich darin, dass er zum Vorsitzenden

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des Beirats gewählt wurde. Diese Stellung vermochte er nicht nur deshalb mit großem Erfolg auszuüben, weil ihn seine ökonomische Sachkunde dazu befähigte, sondern auch, weil es seinem Temperament entsprach, stets Wege zu einer Übereinkunft zunächst widerstreitender Positionen zu suchen. Es liegt auf der Hand, dass diese neue Konstellation die bis dahin dominierende Position Nemschaks in der Öffentlichkeit abschwächte. Das galt in geringerem Maße für die Regierung Klaus, desto akzentuierter für die Regierung Kreisky. Dieser Umstand führte sogar zu Spannungen im Haus. Nemschak warf Seidel vor, die Institutsarbeit zugunsten der Beiratstätigkeit zu vernachlässigen. Er ging sogar so weit, den Chefökonomen der Oesterreichischen Nationalbank, Direktor Georg Albrecht, zu sich zu bitten und ihm die Stelle des stellvertretenden Leiters des WIFO anzubieten. Dieser lehnte den Vorschlag mit dem Argument ab, für einen solchen Posten nicht ausreichend theoretische Kenntnisse aufzuweisen. Tatsächlich dachte Albrecht nicht im Entferntesten daran, Seidel zu konkurrenzieren. Es stellt sich auch rückblickend die Frage, ob Nemschak die politische Situation richtig einschätzte. Es scheint vollkommen ausgeschlossen, dass der Institutsvorstand einer Absetzung des nunmehr hoch angesehenen Seidel zugestimmt hätte. Noch weniger angesichts des Konflikts zwischen Nemschak und der Bundesregierung über den EFTA-Beitritt.

2.6 Das »Goldene Zeitalter« mit dem Ende der Ära Nemschaks Die Periode des »Goldenen Zeitalters« setzte sich in Österreich zwischen Ende der 1960er-Jahre und Mitte der 1970er-Jahre voll durch. Man sprach vom »längsten Aufschwung der Nachkriegszeit«, weil sich die internationale Rezession 1971/72 in Österreich nicht auswirkte. Das Wirtschaftswachstum in der Ära Kreisky bewirkte, dass das Land, welches nach dem Ersten Weltkrieg und demgemäß auch nach dem Zweiten zu den ärmsten Industriestaaten Europas gehört hatte, nunmehr eine überdurchschnittliche Position unter den europäischen OECD-Staaten einnahm. Eine der wesentlichen Ursachen für diesen Erfolg lag in der Sozialpartnerschaft, in der Zusammenarbeit der Marktparteien auch in der Wirtschaftspolitik. Ihren sinnfälligen Ausdruck fand diese Tatsache darin, dass Österreich, zusammen mit der Schweiz, das Land mit den wenigsten Streiks wurde. Diese Veränderung schlug sich auch in der Geldpolitik nieder. Zuvor ging die Wirtschaftspolitik davon aus, dass Österreich eine eher unterentwickelte Ökonomie mit beschränkter Wettbewerbsfähigkeit repräsentiere. Daher vermied sie es,

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Das »Goldene Zeitalter« mit dem Ende der Ära Nemschaks 

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Aufwertungen anderer Staaten zu folgen, wie etwa anlässlich der D-Mark-Aufwertung von 9,3 % im Jahr 1969. Mit dem Antritt der Regierung Kreisky und Hannes Androsch als Finanzminister wurde ein neuer Weg der Geldpolitik beschritten  : jener der »Hartwährungspolitik« (Handler, 1982). Es wurde ein »Währungskorb« konstruiert, in welchen die Außenhandelspartner nach ihrem jeweiligen Gewicht eingingen und der die Wechselkurspolitik bestimmte. Angesichts der steigenden Volatilität der unterschiedlichen Kurse begann man, sich an wenigen ausgewählten zu orientieren, und landete 1976 letztendlich an jenem der D-Mark, der stabilsten Währung. Mit dieser »Hartwährungspolitik« kam die veränderte Position der österreichischen Wirtschaft deutlich zum Ausdruck. Darin manifestierte sich auch die Tatsache, dass der ÖGB grundsätzlich stets die gesamtwirtschaftlichen Erfordernisse im Auge behielt und eine dementsprechend zurückhaltende Lohnpolitik betrieb. Das dokumentierte sich auch im Zusammenhang mit der Erdölpreiskrise 1973/74. Die dramatische Vervielfachung des Erdölpreises führte zu einem ebensolchen Nachfrageausfall in Europa mit entsprechenden Folgen für die Wirtschaftsentwicklung. Während viele OECD-Staaten dazu übergingen, eine expansive Fiskalpolitik durch Währungsabwertungen abzusichern, blieb Österreich bei der Hartwährungspolitik. Man ging davon aus, dass man die Lohnpolitik zur Kostenreduktion einsetzen, also eine interne Abwertung vollziehen könne. Diese Politik wurde unter dem Namen »Austro-Keynesianismus« (Seidel) international bekannt. Übersicht 3  : Die Wirtschaftsentwicklung Österreichs 1968 bis 1975  

Nominell

 

Zu Preisen von 1976 Mio. Schilling

1968

306.833

509.115

Veränderung in %

1913 = 100

+4,1

268,7 283,4

1969

335.000

536.937

+5,5

1970

375.885

571.472

+6,4

301,6

1971

419.624

600.686

+5,1

317,0

1972

479.544

637.985

+6,2

336,7

1973

543.458

669.162

+4,9

353,1

1974

618.563

695.551

+3,9

367,1

1975

656.116

693.029

–0,4

365,7

Quelle  : Butschek, 2011, S. 567.

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Die Wiederbelebung durch Franz Nemschak

Freilich soll nicht verschwiegen werden, dass diese Rechnung nicht vollständig aufging, weil die sich verschlechternde Leistungsbilanz 1977 den Finanzminister zwang, eine Luxussteuer einzuführen, welche vor allem deutsche Autos traf. Insgesamt zeitigte die Erdölpreiskrise vergleichsweise geringe negative Effekte für die österreichische Wirtschaft, vor allem blieb die Arbeitslosigkeit nahezu unverändert (Butschek, 2011, S. 358). In dieser Periode kam – wie schon im Zusammenhang mit dem Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen  – Nemschak keine zentrale Position für die Formulierung der österreichischen Wirtschaftspolitik mehr zu. Die maßgeblichen Persönlichkeiten dieser Ära waren zunächst Finanzminister Hannes Androsch, ferner Nationalbankpräsident Universitätsprofessor Stephan Koren, zuvor Spitzenpolitiker der ÖVP, welcher von Kreisky auf diesen Posten berufen worden war. Sodann Gewerkschaftsökonom Heinz Kienzl, späterer Generaldirektor der Notenbank, der stets von Gewerkschaftspräsident Anton Benya unterstützt wurde, sowie Hans Seidel, damals stellvertretender Leiter des WIFO. In diesem Kontext soll darauf hingewiesen werden, dass Kreisky, trotz griffiger Formulierungen, kein Anteil am Konzept der österreichischen Wirtschaftspolitik zukam. Sein Beitrag bestand darin, die politische Stabilität des Landes geschaffen und bewahrt zu haben. Wenngleich also die dominierende Position Nemschaks infolge der institutionellen Veränderungen in Wirtschaftsforschung und Wirtschaftspolitik, insbesondere in Kreisen der Ökonomen, erheblich eingeschränkt schien, blieb sein Einfluss in der Politik beträchtlich. Dies dokumentierte sich vor allem im Zusammenhang mit der Errichtung eines eigenen Bürogebäudes für das WIFO. Angesichts der stets wachsenden Aufgaben des Instituts musste der Personalstand deutlich ausgeweitet werden. Damit erwies sich die bisherige Unterbringung in einer Eigentumsetage auf dem Hohen Markt als unzureichend. Bemühungen, die bisherige Arbeitsstätte zu erweitern, fanden im Vorstand keine Unterstützung. Daher beschloss Nemschak schließlich spontan, dem WIFO ein eigenes Haus zu errichten. Natürlich wäre das aus dem laufenden Budget niemals zu finanzieren gewesen. Er trat daher an die Vorstandsmitglieder sowie andere öffentliche Körperschaften, wie etwa die Gemeinde Wien, mit dem Ersuchen heran, einen Beitrag zu den Kosten des Hauses in der Höhe von insgesamt 30 Mio. Schilling zu leisten. Diese Aktion zeitigte – entgegen den Erwartungen aller Mitarbeiter – einen durchschlagenden Erfolg, indem Nemschak sogar einen höheren Beitrag zu realisieren vermochte, als ursprünglich vorgesehen. Die Eröffnung des neuen Hauses im »Arsenal-Komplex« wurde 1969 unter Anwesenheit der gesamten Bundesregierung des Kabinetts Klaus festlich begangen. Der Schreiber dieser Zeilen war an Staatssekretär Heinrich Neisser mit der

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Eine neue Forschungsrichtung – Osteuropaforschung 

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Anregung herangetreten, Nemschak bei dieser Gelegenheit einen Orden zu verleihen. Neisser nahm diesen Vorschlag gerne auf und so wurde dem Institutsleiter nach der offiziellen Eröffnung von Handelsminister Otto Mitterer das Große Goldene Ehrenzeichen der Republik Österreich verliehen. Dieser Akt erwies sich jedoch insofern als problematisch, als Nemschak – nach einem kurzen Danke – den Minister scharf kritisierte, weil ihm trotz seiner ungeheuren Verdienste dieser Orden so spät verliehen werde. Das neue Gebäude bot nicht nur dem Mitarbeiterstab des WIFO genügend Raum, sondern schuf auch die Gelegenheit, das Rechenzentrum gleichfalls im Haus unterzubringen. Letztlich ergab sich auch die Möglichkeit, einer der letzten Schöpfungen Franz Nemschaks Raum zu geben.

2.7 Eine neue Forschungsrichtung – Osteuropaforschung In der letzten Phase seiner Tätigkeit im WIFO wandte sich Nemschak einer neuen Forschungsaufgabe zu. Die zunächst eisigen Beziehungen zwischen Österreich und der Sowjetunion machten nach dem Staatsvertrag von 1955 korrekten Kontakten Platz, welche sich in den 1960er-Jahren als Folge der österreichischen Neutralität allmählich zu einem gewissen Wohlwollen auf Seiten der Letzteren entwickelte. Die Kontakte zu den meisten übrigen osteuropäischen Staaten blieben trotz unterschiedlicher politökonomischer Systeme als Folge gemeinsamer Traditionen enger als in anderen westeuropäischen Ländern. Damit entstand verschiedentlich im Westen und speziell auch in Österreich ein Forschungsinteresse an der Entwicklung in diesen Ländern, welches 1958 zur Errichtung des »Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts« in Wien führte. Dieses beschäftigte sich mit vielen Bereichen der Donaustaaten. Sein Ostwirtschaftsreferat befasste sich vor allem mit deren laufender Wirtschaftsentwicklung sowie mit der Erstellung von praxisbezogenen Berichten für die österreichische Wirtschaft. Eine eingehende Beschäftigung mit den Problemen der zentralgelenkten Wirtschaft oder die Durchführung systemvergleichender Arbeiten war in diesem Rahmen zwar nicht vorgesehen, dennoch veranstaltete das genannte Institut im September 1965 in Gösing (NÖ) eine internationale Konferenz »Economic Planning and Economic Growth«. Daran nahmen Ota Šik und Bedřich Levčik vom ökonomischen Institut an der tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften, Branko Horvat vom jugoslawischen Wirtschaftsforschungsinstitut, Józef Pajestka vom nationalen Planungsinstitut in Warschau und Francis Seton von der Universität Oxford teil.

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Die Wiederbelebung durch Franz Nemschak

Dadurch wurde das bereits bestehende Interesse an diesem Problembereich intensiviert. Nemschak erkannte die Bedeutung dieses Themas und begann, die Errichtung eines gemeinsamen Forschungsinstituts in Angriff zu nehmen. Er warb dafür durch zahlreiche Besuche in Belgrad, Budapest, Moskau und Prag, aber auch im Westen (Mayrhofer, 2015, S. 6). Auch entsandte er seine Mitarbeiterin Ingrid Gazzari in die Bundesrepublik Deutschland, um zu prüfen, welchen regionalen Schwerpunkten sich die deutschen Forschungsinstitute widmeten. Das Ergebnis dieser Recherchen ergab, dass dort vor allem die Sowjetunion sowie Polen im Zentrum der Analysen lagen. Ostmitteleuropa wurde wenig bearbeitet (Mitteilung Ingrid Gazzari). Wesentliche Unterstützung wurde Nemschak aus den USA zuteil. Präsident Lyndon B.  Johnson beauftrage McGeorge Bundy, die Möglichkeiten einer wissenschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Ost und West zu prüfen. Nach einer Reise durch Europa fasste er 1967 seine Eindrücke in einem Artikel »Where East may meet West« zusammen und fasste die Gründung eines Ost-West-Forschungsinstituts ins Auge. Nemschak las diesen Artikel und schlug in einem Brief die Etablierung eines solchen Instituts in Wien als dem »weltbesten Standort für Ost-Westforschung« vor. Bundy wollte einen Vertreter der Ford Foundation nach Wien senden, es kamen aber die Ereignisse 1968 in Prag sowie die antisemitische Repression in Warschau dazwischen. Doch gerade diese erweckten ein neues Interesse der USA, weil dadurch eine hohe Zahl von Nationalökonomen diese Länder verließ und Wien als Exil ins Auge gefasst wurde. Ein entsprechender Vorschlag wurde Nemschak unterbreitet (Mayrhofer, 2015, S. 6). Zwar hatte Nemschak schon zuvor osteuropäischen Emigranten Arbeitsmöglichkeiten im WIFO eröffnet, doch ergriff er nunmehr eine weitergehende Initiative und ging daran, im Rahmen des WIFO eine eigene Abteilung für Internationale Wirtschaftsvergleiche aufzubauen. Er engagierte einen Abteilungsleiter aus Deutschland (Peter Knirsch), welcher nach zwei Jahren durch den polnischen Ökonomieprofessor Kazimierz Łaski abgelöst wurde. Auf diese Weise wurde die Zusammenarbeit des kleinen Stabes im WIFO mit Ökonomen aus den Oststaaten in Gang gesetzt. Die Aktivitäten dieser Abteilung wurden dadurch erleichtert, dass sich die Forscher auf den gesamten Apparat des Hauses stützen konnten. Schließlich übernahm der aus der ECE kommende tschechoslowakische Ökonom und ehemalige Minister Friedrich Levčik die wissenschaftliche Leitung, welcher eine eigene Publikationsreihe »Studien über Wirtschafts- und Systemvergleiche« sowie laufende »Forschungsberichte« initiierte. Als Nemschak die Leitung des WIFO 1972 mit seinem 65.  Lebensjahr zurücklegte, erhob sich die Frage nach dem künftigen Schicksal der Ost-West-For-

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Eine neue Forschungsrichtung – Osteuropaforschung 

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schung im Rahmen des WIFO. Diese gewann insbesondere dadurch an Bedeutung, als Bundeskanzler Bruno Kreisky in hohem Maße am Fortbestand dieses Instituts interessiert war. Es entsprach seinen außenpolitischen Intentionen, da er Österreich als neutralen Mediator zwischen den beiden Blöcken platzieren wollte. Er trat daher zunächst an Hans Seidel mit dem Ersuchen heran, die Leitung dieser Abteilung in der Nachfolge Nemschaks zu übernehmen. Seidel lehnte dieses Anliegen unter Hinweis auf seine sonstigen Forschungsverpflichtungen ab, sodass schließlich die Lösung in der Verselbständigung dieser Abteilung als »Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche« (wiiw) unter der Leitung von Franz Nemschak und seinem Stellvertreter Friedrich Levčik, dem auch die wissenschaftliche Führung zukam, lag. Dieser Schritt war auch mit der Ford Foundation abgesprochen (Mayrhofer, 2015, S. 7). Die Verbindung des neuen Instituts mit dem WIFO gestaltete sich zunächst außerordentlich eng. Das wiiw blieb in dessen Haus. Die rechtliche Struktur ähnelte jener des WIFO. In seinem Vorstand – der auch hier die Aufgaben eines Aufsichtsrats ausübte  – fanden sich Vertreter des Bundes, der Nationalbank sowie der Sozialpartner. Die Leiter beider Institute fungierten als Vorstandsmitglieder des jeweils anderen. Gleicherweise blieb auch die fachliche Zusammenarbeit eng, nicht nur konnte das wiiw die Infrastruktur des WIFO benutzen, die Mitarbeiter beider Institute verfassten häufig Beiträge für das jeweils andere. In diesem Zusammenhang ergaben sich interessante, wenngleich zufällige, Bezüge zum Österreichischen Institut für Konjunkturforschung der ersten Republik. Mises, der Gründer des Instituts, hatte bereits 1920 in seinem berühmten Artikel »Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen« die These aufgestellt, dass in einem Wirtschaftssystem von Privateigentum an Produktions­ mitteln und ohne Markt eine rationale Wirtschaftsrechnung unmöglich sei. Der Autor warf in diesem Kontext auch die Frage nach der Verantwortung und Initiative in gemeinwirtschaftlichen Betrieben auf. Demgegenüber wies 1908 Barone darauf hin, dass eine entsprechende Lösung durch ein umfassendes Gleichungssystem möglich sei, vorausgesetzt, dass die erforderlichen Informationen zur Verfügung stünden, was freilich fast unmöglich wäre. Die Diskussion wurde von Hayek in einem Sammelband »Collectivist Economic Planning« unter Berücksichtigung aller bisher erschienen Arbeiten zusammengefasst und gelangt damit zu folgendem Ergebnis  : Es sei zumindest theoretisch denkbar, dass eine Zentralinstanz im Sozialismus die Mengen und Preise aller zu produzierenden Güter bestimmen kann, vorausgesetzt, dass sie über alle

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Die Wiederbelebung durch Franz Nemschak

relevanten Daten verfügt. Entscheidend sei nicht die formale Struktur des Systems, sondern Art und Anzahl der benötigten Informationen. Diese Argumentation griff wieder Oskar Lange in seinem Aufsatz »On the Economic Theory of Socialism« auf und proponierte eine Methode des trial and error. Das zentrale Planungsamt müsse sich auf diese Weise den Gleichgewichts­ preisen nähern, eine Vorstellung, welche Lange in seiner Zeit als Vorsitzender des Wirtschaftsrats beim Ministerrat in Polen (1957 bis 1963) offensichtlich nicht umzusetzen vermochte (Stankovsky – Gazzari, 1973, S. 238). Bemerkenswerterweise griffen in der kurzen liberalen Phase vor 1968 mehrere tschechoslowakische Ökonomen wieder diese Problematik auf, indem sie sich auf die Argumente Hayeks stützten und die Realisierungsmöglichkeiten der Vorstellungen Langes in Zweifel zogen (Stankovsky – Gazzari, 1973, S. 240). Im Übrigen verschob Hayek später diese Diskussion von der technischen Ebene, also der Realisierbarkeit, zur politischen, wenn er in seinem berühmten Buch zu Ende des Zweiten Weltkriegs »The Road to Serfdom« eine Planwirtschaft als massive Bedrohung der individuellen Freiheit sah und diese daher vehement ablehnte (Butschek, 2021, S. 153). Für die Beziehungen zwischen den östlichen und westlichen Ländern wesentlich erwiesen sich zwei Programme des wiiw  : Das erste fasste »Studienaufenthalte« ins Auge, das Stipendien für Gastforschende aus beiden Regionen vorsah, sowie »Workshops on East-West European Economic Interaction«. Zu beiden Programmen wurden international besetzte Gremien geschaffen, welche die personelle Auswahl der Teilnehmer sowie die inhaltliche Ausrichtung bestimmten (Mayrhofer, 2015, S. 8). Nach der »Wende« veränderten sich Institutionen und Personen sowie die wirtschaftspolitische Problematik in den osteuropäischen Ländern. Das führte schließlich dazu, dass die Workshops 1993 eingestellt wurden und das wiiw andere Schwerpunkte für seine Tätigkeit fand (Mayrhofer, 2015, S. 24). Diese relativ ausführliche Darstellung resultiert daraus, dass im Rahmen des WIFO ein neuer und wichtiger Forschungsbereich geschaffen worden war, dass dieser beträchtliche Zeit innerhalb des Hauses realisiert wurde und auch danach noch eng mit dem Institut verbunden blieb. Damit ging eine Ära des WIFO zu Ende, die durch spezifische Züge gekennzeichnet ist. Wiewohl Nemschak sich bemühte, die Kontinuität des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung mit jenem für Konjunkturforschung zu unterstreichen, ergaben sich doch fundamentale Unterschiede. Zunächst solche rein sachlicher Natur  : Das Institut in der Ersten Republik konzentrierte sich, seiner Gründungsaufgabe entsprechend, auf die Analyse der Konjunktur und

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Eine neue Forschungsrichtung – Osteuropaforschung 

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agierte offiziell vollkommen staatsfern. Das WIFO hatte sämtliche Aspekte der Wirtschaft laufend zu erforschen. Darüber hinaus blieb es aber engstens mit der Wirtschaftspolitik des Landes verbunden. Diese Verflechtung ging weit über das hinaus, was von einem Forschungsinstitut erwartet werden kann. Das ergab sich zwar teilweise aus Gegebenheiten der Nachkriegszeit, jedoch in hohem Maße auch von der Position, die Nemschak sich in der österreichischen Wirtschaftspolitik aufgebaut hatte. Er sah es als Aufgabe des WIFO, der Wirtschaftspolitik unmittelbar nützlich zu sein. Daraus resultiert ein weiterer Unterschied zwischen den Instituten. Das ältere analysierte zwar laufend die Konjunktur, blieb aber darüber hinaus eng der Theorie verbunden und zog auch Ökonomen in seinen Wirkungsbereich, welche nicht Mitarbeiter des Hauses waren. Das WIFO verfügte zwar auch über international renommierte Ökonomen und manche Mitarbeiter wechselten zu den Universitäten, aber diese verfolgten ihre Ziele quasi privatim. Die Mehrheit blieb bei der pragmatischen Wirtschaftsforschung. Eine spezielle Aufgabe erwuchs dem WIFO in der Bewahrung seiner Unabhängigkeit. In der Ersten Republik mag dieses Problem nicht entstanden sein, weil Forscher und Regierung in der Beurteilung der Lage weitestgehend übereinstimmten. Das war nach 1945 nicht immer der Fall und wurde von Nemschak akzentuiert vorgebracht. Trotz gewisser Kompromisse blieb das Haus in seinen Analysen unabhängig. Jedenfalls war das WIFO zwischen 1945 und 1972 in all seinen Facetten in hohem – wenngleich abnehmendem – Maße durch die Persönlichkeit Franz Nemschaks geprägt.

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3. Hans Seidel  : 1973 bis 1980 – Der Wirtschaftsforscher als politischer Berater

Hans Seidel © Parlamentsdirektion/ Carina Ott

Hans Seidel hat wie kein anderer die Wirtschaftsforschung in Österreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt1. Seine Kindheit war gekennzeichnet von der Massenarbeitslosigkeit und der politisch aufgeladenen Atmosphäre der 1930er-Jahre2. Das waren die Wurzeln seines unbändigen Eifers, an der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit mitzuwirken und die politischen Gräben zu überwinden. Sein Vater war in den 1930er-Jahren arbeitslos, dieses Schicksal teilte er mit so vielen. Die keynesianische Botschaft »Vollbeschäftigung als erreichbares wirtschaftspolitisches Ziel« fiel hier auf besonders fruchtbaren Boden. Aufgewachsen in einer Zeit, in der Heimwehr und Schutzbund einander 1 Dieses Kapitel stellt eine überarbeitete und erweitere Fassung eines Artikels dar, der in »Wirtschaft und Gesellschaft« publiziert wurde (Walterskirchen, 2016). 2 Siehe dazu  : Seidel im Gespräch mit dem Herausgeber, in Mahlich – Schediwy (2008), S. 157–185.

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Hans Seidel  : 1973 bis 1980

bewaffnet gegenüberstanden, wollte Seidel an einer Versöhnung dieser feindlichen Lager mitwirken. Er war somit prädestiniert als Ökonom der Sozialpartnerschaft. Im Jahr 1946 trat Seidel ins Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung ein. Er stieg rasch zum wissenschaftlichen Redakteur und Koordinator auf, obwohl der Leiter Nemschak zunächst meinte, Seidel sei zu sehr Theoretiker. Er redigierte die WIFO-Monatsberichte, schrieb Artikel um und ließ Beiträge in seiner Schublade verschwinden, wenn sie ihm nicht passten. Im Jahr 1962 wurde Seidel stellvertretender Leiter des WIFO neben Nemschak. De facto war er schon in den 1960er-Jahren der wissenschaftliche Leiter des WIFO. Damit bestimmte er zwei Jahrzehnte lang die wissenschaftliche Ausrichtung des WIFO und zwischen 1973 und 1980 war er Leiter. Er führte das WIFO von einem Institut, das die konjunkturelle Entwicklung minutiös genau beschrieb, zu einem Forschungsinstitut von internationalem Niveau, das ökonomische Theorie, statistische Evidenz und Wirtschaftspolitik verband. Seidel fühlte sich zur Beratung der Wirtschaftspolitik berufen. Er war sich dabei im Klaren, dass ein Berater der Regierung immer in den Verdacht gerät, regierungsfreundlich zu sein. Seidels Rat wurde von vielen Regierungschefs und Ministern geschätzt, insbesondere von Finanzminister Androsch  – der wirtschaftspolitischen Leitfigur der Regierung Kreisky. Einen beträchtlichen Teil seiner aktiven Laufbahn verbrachte er in den »Vorhöfen der Wirtschaftspolitik« (Seidel, 2012b, S. 462). Eine akademische Laufbahn strebte er nicht an (nicht einmal ein Doktorat war ihm wichtig). Zur mathematischen ökonomischen Theorie bewahrte er eine gewisse Distanz, dennoch begann er nach seiner Pensionierung, Mathematik zu studieren. Was den EWG-Beitritt betrifft, war Seidel zweifellos ein Verfechter. Er strebte diesen Beitritt aber nicht so früh an wie Nemschak und kam deshalb nicht so sehr in Konflikt mit der Neutralitätsdebatte und zu befürchtenden Protesten der Sowjetunion. Er versuchte, die Spitzen der Sozialdemokratie, die Bedenken hatten, von den Vorteilen der EWG zu überzeugen. Schließlich sah er es als große Leistung der Sozialpartner an, dass sie geschlossen für den EU-Beitritt plädierten. Seidels Tätigkeit am WIFO endete, als ihn Bundeskanzler Kreisky 1981 als »bürgerliches Korrektiv« in die sozialdemokratische Regierung holte. In dieser kurzen Episode als Staatssekretär im Finanzministerium war er vor allem mit Finanzierungs- und Kreditagenden betraut. Er machte sich überdies dadurch verdient, dass er die österreichische Wirtschaftspolitik im Ausland präsentierte. Nach dem Ende der Regierung Kreisky wurde Seidel Leiter des Instituts für Höhere Studien. Nach seiner Pensionierung war Seidel Konsulent am WIFO. Er verbrachte fast jeden Vormittag am WIFO und verfasste hier vor allem wirt-

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Sachkundige und objektive Vermittlung 

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schaftshistorische Arbeiten. Sein Buch »Österreichs Wirtschaft und Wirtschaftspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg« erschien im Jahr 2005. Sein Buch über die »Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der Kreisky-Ära« (2017) konnte er nicht mehr vollenden. Seine Manuskripte wurden von Walterskirchen und Tichy zu einem Buch zusammengestellt.

3.1 Sachkundige und objektive Vermittlung zwischen den Sozialpartnern als wichtige Aufgabe des WIFO Es lohnt sich, Seidels ökonomische Positionierung näher zu betrachten. Schließlich drückte er dem WIFO mindestens zwei Jahrzehnte lang seinen Stempel auf. Wirtschaftsforschung lag für ihn an der Schnittstelle von Theorie, Empirie und Politik. Er hielt den »Beirat« und seine vielen Arbeitsgruppen in Öster­reich für eine besonders wichtige Einrichtung zur Verknüpfung dieser drei Bereiche. Der »Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen« (siehe Abschnitt 2.5) wurde im gleichen Jahr (1963) gegründet wie der deutsche Sachverständigenrat und hatte auch eine ähnliche Funktion. Nur vertraute die Politik hierzulande mehr auf die Experten der Sozialpartner und des WIFO als auf Universitätsprofessoren. Seidel widmete Beiratsarbeit und -diskussion mehr Zeit, als man von einem Institutsleiter erwarten konnte. Im Beirat spielte er seine Fähigkeit aus, unterschiedliche Standpunkte auf einen Nenner zu bringen. Sein Bemühen um Objektivität brachte ihm Respekt von allen Seiten ein. Die Wirtschaftspolitische Aussprache, die von Bundeskanzler Klaus eingeführt wurde, war Seidel ein besonders wichtiges Anliegen. Vor diesem Forum stellte er die konjunkturelle Lage dar und präsentierte seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen. Der Beirat bot aber auch vielen anderen WIFO-Mitarbeitern die Möglichkeit, ihre Ideen in die wirtschaftspolitische Diskussion einzubringen. Als profunder Kenner der Materie schrieb Seidel ein Buch über den Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen (Seidel, 1993). In Deutschland gab es theoretisch-philosophische Diskussionen über den Ordo-Liberalismus und den Begriff der sozialen Marktwirtschaft. In Österreich wurde die Sozialpartnerschaft zum prägenden Merkmal der Wirtschaftsordnung. Die fruchtbare Zusammenarbeit der Sozialpartner war eine der Ursachen für den wirtschaftlichen Aufholprozess Österreichs. Seidel sah das WIFO nicht nur als Vermittler zwischen den Sozialpartnern, sondern auch zwischen internationalen Vorgaben und nationalen wirtschaftspolitischen Positionen. Er strebte eine Vernetzung der dominanten Konzepte der internationalen Wirtschaftspolitik mit der österreichischen Reali-

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Hans Seidel  : 1973 bis 1980

tät an. In kleinen WIFO-Gesprächsrunden breitete Hans Seidel gerne seine noch unfertigen Ideen aus, auch um sich über seine eigenen Gedanken klar zu werden.

3.2 Der liberale Keynesianismus der »Großen Synthese« In den »drei glorreichen Jahrzehnten« nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte der Keynesianismus in Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik. Nach 1945 wurden weder Hayek noch Mises in Österreich zitiert, das WIFO stellte jedoch aus Imagegründen (»Ahnengalerie«) eine Kontinuität mit dem Institut für Konjunkturforschung der Vorkriegszeit her, das von Hayek und Mises 1927 gegründet worden war. Seidel war ein Liberaler, der sich an der amerikanischen Spielart des Keynesianismus orientierte, die eine Synthese von Keynesianismus und Neoklassik herstellte. In Seidels Worten klingt das so  : »Die Keynes’sche Lehre lässt freilich einen breiten Interpretationsspielraum zu. Mag sein, dass mir der ›wahre Keynes‹ verschlossen blieb. Der Keynesianismus, den ich vertrat, war auf das korporatistische System zugeschnitten, das auf der Zusammenarbeit von Arbeit und Kapital aufbaute. In der Arbeiterbewegung setzte sich Anfang der 1950er-Jahre die Auffassung durch, dass Planwirtschaft unter den gegebenen Umständen nicht machbar wäre, doch wäre auch im Kapitalismus eine Politik der Vollbeschäftigung möglich. Bürgerliche Finanzminister gingen in der Rezession Budgetdefizite ein, um die effektive Nachfrage zu stützen. Dieser ›KonsensKeyne­sianismus‹ deckte sich weitgehend mit den im deutschen Sprachraum weit verbreiteten Lehrbüchern von Paul Samuelson und Erich Schneider (neoklassische Synthese)« (Seidel, 2012b, S. 466). Den »New Keynesianism« von Mankiw u. a. hielt Seidel für einen »Etikettenschwindel«. Das sei bloß eine Variante der neoklassischen Theorie. Dem Linkskeynesianismus, der auf Kalecki und Robin­ son zurückging, konnte Seidel wenig abgewinnen. Er sah diese heterodoxe ökonomische Richtung als internationale Randerscheinung. Das WIFO war aber libe­ ral genug, einen international hoch angesehenen Linkskeynesianer wie Steindl zu beschäftigen. Seidel war primär an jener herrschenden Theorie interessiert, welche die internationalen Rahmenbedingungen festlegte, mit denen er die österreichische Entwicklung in Einklang bringen wollte. Es fehlte ihm jede quasi-religiöse Verehrung für die Begründer ökonomischer Schulen, er zeichnete sich jedoch durch eine umfassende Kenntnis der ökonomischen Literatur aus. Die Bevorzugung des Keynesianismus der »Großen Synthese« durch Seidel entsprach den Anforderungen der Zeit. Die Verringerung der Arbeitslosigkeit – und damit der Konjunktur­

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Austro-Keynesianismus 

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einbrüche  – war damals für alle großen Parteien das H ­ auptanliegen der Wirtschaftspolitik. In Österreich gab es ein Konjunkturausgleichsbudget, das immer dann eingesetzt wurde, wenn die WIFO-Wachstumsprognose ­einen bestimmten Wert unterschritt. Seidel blieb zeitlebens Makroökonom, die Mikro­ökonomie und die Angebotspolitik interessierten ihn relativ wenig. Den Paradigmenwechsel von der keynesianischen zur neoklassischen Theorie interpretierte er so  : Der Keynesianismus hatte gegen die Stagflation der 1970er-Jahre kein wirksames Rezept. Die von den Keynesianern geforderte Einkommenspolitik konnte auf internationaler Ebene der Inflation nicht Herr werden – wohl aber in Österreich, international gelang das erst der Volcker’schen restriktiven US-Geldpolitik. Der Paradigmenwechsel führte zu einem wirtschaftspolitischen Vorrang für Preisstabilität und ein ausgeglichenes Budget. Die Fed und die EZB verfolgten auch in den letzten Jahrzehnten eine Politik, die eine konjunkturelle Feinsteuerung mit Hilfe der Geldpolitik anstrebte. Diese Politik war lange Zeit erfolgreich (»Great Moderation«), bis die Deregulierung der Finanzmärkte in die Finanzkrise und die Große Rezession führte.

3.3 Austro-Keynesianismus In Österreich gelang es, die Inflationsrate nach dem ersten Erdölpreisschock stark zu verringern (auf 2 bis 3 %), ohne dass es zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit kam. Die österreichische Wirtschaftspolitik erlangte dadurch hohe internationale Anerkennung. Es gab sogar eine Anhörung des US-Kongresses, bei der Seidel die österreichische Einkommenspolitik vorstellte. Das American Enterprise Institute veranstaltete 1981 ein Österreich-Symposium. Seidel prägte für die österreichische Politik den Begriff Austro-Keynesianismus. Er verstand darunter einen Policy Mix aus expansiver Budgetpolitik zur Nachfrage- bzw. Beschäftigungssicherung und sozialpartnerschaftlicher Einkommenspolitik zur Stabilisierung der Preise und der Leistungsbilanz. Tichy betonte zusätzlich die »keynesianische« Stabilisierung der Erwartungen, die vor allem mit der Sozialpartnerschaft verbunden war. Die österreichische Politik war jedoch auf »Durchtauchen« ausgerichtet. Man hoffte, dass es nach dem ersten Erdölpreisschock wieder zu einer normalen Aufwärtsentwicklung kommen werde. Der zweite Erdölpreisschock machte dieser Hoffnung jedoch ein Ende. Eine Anpassung an die neuen internationalen Rahmenbedingungen war notwendig. Das Ende des Austro-Keynesianismus war spätestens Mitte der 1980er-Jahre besiegelt. Es bahnte sich nach Seidels Auffassung in zwei Schritten an  : Zunächst

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Hans Seidel  : 1973 bis 1980

führte die Hartwährungspolitik dazu, dass Österreich die restriktive Geldpolitik der Deutschen Bundesbank übernehmen musste. Ab 1981 wurde der Schilling strikt an die D-Mark gebunden, ohne jede Bandbreite. Hartwährungspolitik als Stoßdämpfer gegen die Erdölpreisschocks erschien Seidel angemessen, aber die D-Mark als Fixpunkt für die Wirtschaftspolitik zu wählen und die Geld- und Zinspolitik damit an die Deutsche Bundesbank zu delegieren, ging ihm zu weit. Der zweite Schritt in der politischen Abkehr vom Austro-Keynesianismus lag im Auslaufen des Konjunkturausgleichsbudgets. Dieses wurde zwar noch in den Bundesvoranschlägen vorgesehen, aber in den 1980er-Jahren in schlechten konjunkturellen Zeiten nicht mehr genutzt. Die langfristige Budgetkonsolidierung trat in den Vordergrund. Seidel begrüßte eine Senkung des Budgetdefizits, um Spielraum zu schaffen für die zu erwartenden Belastungen aus der Altersversorgung bei steigender Pensionistenquote. Die Große Koalition beschloss 1987, das Nettodefizit des Bundeshaushalts schrittweise von 5,2  % des BIP im Jahr 1986 auf 2,5  % im Jahr 1992 zu senken. (Diese 2,5  % entsprachen der sogenannten »Seidel-Formel«.) Nach den Maastrichter Vereinbarungen sollten in der EU die Budgetdefizite 3 % des Staatshaushalts nicht überschreiten. Das wurde großteils erreicht (Seidel, 1992).

3.4 Wirtschaftspolitik in der Kreisky-Ära Hans Seidel würdigte die erfolgreiche Wirtschaftspolitik der Regierung Kreisky  : »Es war jene Zeit, in der die österreichische Wirtschaftspolitik wegen ihres Erfolges hohes internationales Ansehen genoss. Der wirtschaftliche Aufholprozess Österreichs war eklatant  : Bis Ende der 1960er-Jahre war die österreichische Wirtschaft Nachzügler, in der Kreisky-Ära machte sie einen Sprung nach vorne. 1969 war das Pro-Kopf-Einkommen (zu Kaufkraftparitäten) noch um 4 % niedriger als in den 15 (alten) EU-Ländern, 1983 aber bereits um 10 % höher« (Seidel, 2017, S. 15). Nach einem länderübergreifenden Vergleich von Scharpf (1987) schnitt Österreich von den vier Ländern mit sozialdemokratischen Regierungen (Großbritannien, BRD, Schweden, Österreich) ökonomisch am besten ab. Die österreichische Regierung ließ ausländische Arbeitskräfte in großer Zahl zu und erweiterte damit den Produktionsspielraum  – trotz gleichzeitiger Verkürzung der Normalarbeitszeit von 45 auf 40 Stunden zwischen 1970 und 1975. Die Inflation konnte in turbulenten Zeiten in Grenzen gehalten werden. Die Gewerkschaften, welche die Arbeitszeitverkürzung auf ihre Fahnen schreiben konnten, blieben in ihren Lohnforderungen maßvoll. Der Schilling musste trotz

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Wirtschaftspolitik in der Kreisky-Ära 

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hoher Leistungsbilanzdefizite (1977) nicht abgewertet werden. Die gesamte Wirtschaftspolitik schwenkte aber auf einen zahlungsbilanzorientierten Kurs ein. Die OECD und der Internationale Währungsfonds lobten Österreich, und ausländische Professoren interessierten sich für den österreichischen Weg, die Inflation durch Hartwährungspolitik und zurückhaltende Einkommenspolitik zu bekämpfen. Mit dem SPÖ-Wirtschaftsprogramm (»1.400  Experten«) hat sich die Regierung Kreisky »aus der Bevormundung durch die Sozialpartner gelöst« (Seidel, 2017, S.  13). Die Planification nach französischem Muster, die im Wirtschaftsprogramm der Sozialdemokraten stand, wurde nicht verwirklicht. Seidel merkte aber auch an, dass die makroökonomischen Kriterien ein zu positives Bild zeichneten. Denn die Regierung Kreisky hinterließ mikro- und makroökonomisch Ungleichgewichte (Verstaatlichtenkrise, Budgetdefizite), die von den darauffolgenden Regierungen beseitigt werden mussten. Für die Erhaltung der Vollbeschäftigung hatte die Regierung Kreisky einen hohen Preis bezahlt. Besonders kritisch war Seidel gegenüber den letzten Jahren der Kreisky-Regierung, als panik­artig versucht wurde, die Vollbeschäftigung mit allen Mitteln zu halten. Kreisky kam es auf jeden Arbeitsplatz an. Die hohen Budgetdefizite in Österreich spiegelten nicht nur die schwere Rezession, sondern auch die absolute Priorität für die Vollbeschäftigung wider. Insgesamt zog Seidel freilich eine sehr positive Bilanz der Kreisky-Ära  : Der ökonomische Aufholprozess war eklatant. Das Pro-Kopf-Einkommen in Österreich, das niedriger als in der Europäischen Union war, stieg bis 1983 deutlich über den EU-Durchschnitt. Die Inflation wurde auf ein erträgliches Maß reduziert, dennoch blieb die Vollbeschäftigung erhalten. Der Modernisierungsschub erfasste nicht nur die Wirtschaft, sondern die gesamte Gesellschaft. Die Regierung Kreisky hatte – in Seidels Worten – »Leadership-Qualitäten«3, sie schielte nicht bloß auf die Ergebnisse von Meinungsumfragen. Die Erhaltung der Vollbeschäftigung in turbulenten Zeiten führte Seidel auf die Anpassung des Arbeitskräfteangebots (Gastarbeiter), den Rückgang der Arbeitsproduktivität, die Reallohnflexibilität und die hohen Budgetdefizite zurück. Erst in den 1980er-Jahren wurde die Budgetkonsolidierung – vor allem von Ferdinand Lacina – ernstlich in Angriff genommen. Seidel bezeichnete Lacina als einen der besten Finanzminister Österreichs in der Nachkriegszeit4. 3 Justizminister Broda ist ein Paradebeispiel dafür. Er setzte die Fristenlösung gegen den Widerstand der katholischen Kirche in die Tat um – auch auf die Gefahr hin, dass die nächste Wahl verloren wird. 4 Gespräch mit Professor Hans Seidel (Mahlich – Schediwy, 2008, S. 27).

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Hans Seidel  : 1973 bis 1980

Während Österreich mit den ungünstigeren internationalen Rahmenbedingungen noch relativ gut zurechtkam, gerieten viele europäische Volkswirtschaften außer Tritt. Die Vollendung des Binnenmarktes hat der EU nicht den erhofften Auftrieb gegeben. Nachdenklich stimmte Seidel, dass die Wirtschaftspolitik in einigen Ländern zu resignieren schien. Sie beschränkte sich darauf, »die sozialen Konsequenzen der Unterbeschäftigung zu mildern, statt mit einer offensiven Strategie für wirtschaftliche Dynamik mit einem hohen Beschäftigungsgrad zu sorgen«5. In seinem letzten Lebensjahrzehnt arbeitete Seidel an einem Buch »Österreichs Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der Kreisky-Ära«. Er konnte es jedoch nicht mehr fertigstellen. Walterskirchen und Tichy haben seine Entwürfe zu einem Buch zusammengestellt und Nora Popp hat die statistischen Daten auf den neuesten Stand gebracht. In diesem Buch beschrieb Seidel den »überzogenen Aufschwung« 1970/1974, den Wachstumsknick, das Ende des Golden Age und den Schwenk zu einer zahlungsbilanzorientierten Wirtschaftspolitik. Der Schwerpunkt der vollendeten Kapitel des Buches lag beim Wandel der Geldpolitik.

3.5 Das WIFO in der Seidel-Ära 3.5.1 Finanzierung des WIFO

Die Finanzierung des WIFO war in der Seidel-Ära leichter als in späteren Perioden. Das WIFO konnte die Zahl seiner Mitarbeiter stark ausweiten6, auch individuelle Gehaltsanhebungen über das Gehaltschema hinaus kamen häufig vor. Viele wissenschaftliche Mitarbeiter erhielten relativ früh einen Pensionsvertrag. Darüber hinaus konnte es sich das WIFO leisten, viele Studien zu verfassen und im Gustav Fischer Verlag zu publizieren (siehe Abschnitt  3.5.3) und die neue theoretisch orientierte Zeitschrift »Empirica« herauszugeben. Die relativ leichte Finanzierbarkeit des Instituts hatte mehrere Gründe  : Seidel war persönlicher Berater von Finanzminister Androsch und anderen Politikern. Dieses Naheverhältnis erleichterte die vom WIFO gewünschte Anhebung der Grundfinanzierung. Weiters standen aufgrund des hohen Wirtschaftswachstums zumindest in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre hinreichend Budgetmittel zur Verfügung. Die Finanzierung des Instituts erfolgte zu dieser Zeit noch ganz über5 Gespräch mit Professor Hans Seidel (Mahlich – Schediwy, 2008, S. 32). 6 Im Jahr 1972 wies der Generalversammlungsbericht 36 wissenschaftliche Mitarbeiter aus.

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Das WIFO in der Seidel-Ära 

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wiegend durch die Grundfinanzierung, die von den Trägern des WIFO (Finanzministerium, Notenbank, Sozialpartner usw.) gewährt wurde. Die ständige Suche nach bezahlten Gutachten spielte damals kaum eine Rolle. 3.5.2 Verwissenschaftlichung

In den zwei Jahrzehnten nach dem Krieg war das Institut primär ein »Dienstleistungsbetrieb«. Es lieferte Statistiken, Umfrageergebnisse und Konjunkturberichte an Betriebe und öffentliche Stellen. Bei allen diesen Leistungen handelt es sich um »Öffentliche Güter« (siehe Abschnitt  6.4), die allen zur Verfügung stehen und deshalb sinnvollerweise durch die Grundfinanzierung – nicht durch spezielle Aufträge und Gutachtenerlöse  – finanziert werden. Anfänglich war auch die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR) am WIFO angesiedelt. Seit 1955 wird die endgültige VGR allein vom Statistischen Zentralamt (heute Statistik Austria) betreut. Weiters wurden regelmäßig Konjunkturumfragen (»Konjunktur- und Investitionstests«) durchgeführt, die erst relativ spät für Konjunkturprognosen genutzt wurden. In den darauffolgenden Jahrzehnten wurde das WIFO immer mehr zu einem international agierenden Forschungsinstitut, ohne dass die bisherigen Dienstleistungen ganz aufgegeben wurden. Die Verwissenschaftlichung des Instituts wurde von Rothschild, Seidel und Tichy7 vorangetrieben. Es war gern gesehen, wenn die Mitarbeiter im WIFO-Zeitschriftenzimmer ökonomische Top-Journals (American Economic Review, Economic Journal usw.) ausborgten und studierten. Streissler, der die Ökonomie an der Universität Wien an internationale Standards heranführte, war nicht nur Vizepräsident des WIFO, sondern auch häufig und regelmäßig am WIFO anwesend. Rothschild, einer der international renommiertesten österreichischen Ökonomen, unterrichtete an der Universität Linz viele spätere WIFO-Mitarbeiter. Wie schon erwähnt, war Rothschild vorher viele Jahre am WIFO tätig. In der Seidel-Ära gab es am WIFO zwei Gehaltsschemata für Wissenschaftler  : eines für Sachbearbeiter und ein gehobenes für Referenten. Der Aufstieg ins Referentenschema erfolgte, wenn sich der Mitarbeiter durch wissenschaftliche Inter­essen und/oder intensive Zusammenarbeit mit Trägern des Instituts (Finanzministerium, Wirtschaftskammer, Arbeiterkammer usw.) auszeichnete. Mitarbeiter blieben dagegen lange oder für immer im Sachbearbeiterschema, 7 Tichy war Mitglied der Leitung und für Konjunkturprognosen zuständig, die damals zentrale Bedeutung hatten. Er wechselte 1974 in die Girozentrale und wurde später Ökonomieprofessor an der Universität Graz.

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Hans Seidel  : 1973 bis 1980

wenn sie nur Statistiken erstellten, interpretierten und die Öffentlichkeit über Medien und WIFO-Monatsberichte darüber informierten. 3.5.3 Wichtige WIFO-Arbeiten in den Jahren 1973 bis 1980

Aus wirtschaftlicher Sicht lässt sich die Seidel-Ära in zwei Abschnitte teilen. Die erste Hälfte war vom wirtschaftlichen Boom geprägt, die zweite von den Auswirkungen des Erdölpreisschocks. Der kräftige Aufschwung in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre kam überraschend, weil in den 1960er-Jahren Strukturschwächen der österreichischen Wirtschaft vermutet wurden. Die steigenden Inflationsraten im Gefolge der Erdölpreisschocks sowie die Rezessionen 1975 und 1981 ließen kein »business as usual« zu, rasche Entscheidungen waren angesichts der neuen Situationen gefragt. Die wirtschaftlichen Herausforderungen spiegeln sich in den Arbeiten des Instituts. In den Jahren 1973 bis 1980 erschienen acht umfangreiche Studien des WIFO im Gustav Fischer Verlag. Zunächst lieferten Seidel und Kramer als Herausgeber im Jahr 1973 eine Standortbestimmung der Wirtschaftsforschung in Öster­reich. Die Rezession 1975 war das Thema eines Symposiums zum 50-jährigen Bestehen des WIFO  : »Die Rezession 1974/75  : ein Wendepunkt der langfristigen Wirtschaftsentwicklung  ?« Das WIFO ahnte schon damals wie viele andere Institute, dass es mit den hohen Wachstumsraten der Wirtschaft vorbei sein könnte. Das Buch, das die Ergebnisse des Symposiums zusammenfasste, wurde von Seidel und Butschek herausgegeben. Die Folgen der Rezession waren der Anlass zu einer weiteren WIFO-Studie  : »Ist Arbeitslosigkeit unvermeidlich  ?« (1979). Die steigenden Budgetdefizite weckten Zweifel an der Möglichkeit, die Arbeitslosigkeit dauerhaft zu bekämpfen. Die OECD beschäftigte sich zunehmend mit der Lohn- und Arbeitsmarktflexibilität als Instrument der Beschäftigungspolitik. Auch dieses Buch über die Vermeidbarkeit der Arbeitslosigkeit wurde von Seidel und Butschek herausgegeben. In weiteren Buchbänden demonstrierte Skolka die Input-Output-Analyse am Beispiel der österreichischen Wirtschaftsstruktur und Schulmeister erstellte »Modellprognosen für den Reiseverkehr«. Butschek, Mitglied der Leitung, verlagerte sein Interessengebiet zunehmend vom Arbeitsmarkt zur Wirtschaftsgeschichte. Im Jahr 1978 publizierte er eine große wirtschaftshistorische Arbeit  : »Die österreichische Wirtschaft 1938 bis 1945«. Auf Wunsch des Finanzministeriums verfasste Seidel mehrere »Finanzberichte« zur Budgetlage in Österreich. Aufgrund von Seidels Arbeitsüberlastung wurden diese Finanzberichte oft zu spät fertiggestellt und deshalb urgiert. Androsch beschrieb in der Einleitung zu Seidels Finanzbericht 1978 ein wider-

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Das WIFO in der Seidel-Ära 

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sprüchliches Phänomen in allen Industriestaaten  : Die Anforderungen an den Staat steigen beträchtlich, gleichzeitig sinkt aber die Bereitschaft, die dafür notwendigen Steuern zu zahlen. Schebeck und Thury bauten ein Makromodell für die österreichische Wirtschaft, das vor allem für Simulationen verwendet wurde. Mit Hilfe dieses Modells wurden die Auswirkungen von Beschäftigungsprogrammen, EU-Integrationsschritten, Arbeitszeitverkürzungen usw. abgeschätzt. Dieses Makromodell war ein großer Schritt in Richtung Verwissenschaftlichung der Institutsarbeit. Ein weiterer Schritt in diese Richtung war die Zeitschrift »Empirica«, die zunächst vom WIFO und später gemeinsam mit der Nationalökonomischen Gesellschaft herausgegeben wurde. Ihre erste Ausgabe erschien im Jahr 1974. Diese Zeitschrift richtete sich an die Fachwelt. Karl Aiginger war zu dieser Zeit Industriereferent  ; er wies frühzeitig auf die Bedeutung der Standort- und Forschungspolitik (F&E-Ziele) hin. Die immer größere Bedeutung der Geldpolitik in allen Ländern spiegelt sich in den Arbeiten von Seidel, Tichy, Handler und Mooslechner wider. Steindls Stagnationstheorie wurde in der Krise der 1970er-Jahre wiederentdeckt. In der Neuauflage seines Buches »Maturity and Stagnation in American Capitalism« führte Steindl eine Reihe von Gründen an, warum es nach dem Krieg keine Stagnation, sondern die »trente glorieuses« (Fourastie) gab. In den WIFO-Monatsberichten erschienen zunehmend anspruchsvollere analytische Arbeiten. Seidel schrieb über »Wachstum und Strukturwandel der österreichischen Industrie« und Kramer analysierte die Situation der österreichischen Aluminiumindustrie. Butschek und Walterskirchen beleuchteten verschiedene »Aspekte der Ausländerbeschäftigung«. Die monatlichen Berichte zur Wirtschaftslage blieben aber weiterhin ein wesentlicher Bestandteil der Monatsberichte. Überdies gab es regelmäßige Routineberichte über die Internationale Konjunktur, die RGW-Länder, den Cashflow in der Industrie, den Konjunktur- und Investitionstest (nach dem Vorbild des ifo Instituts in München), den Bundesvor­ anschlag, die Sozialversicherung und die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. Die Berichterstattung blieb – mit wenigen Ausnahmen – auf Öster­reich, auf die nationale Wirtschaft, beschränkt. Das internationale Geschehen interessierte damals  – vor der großen Globalisierungswelle in den 1980er-Jahren  – nur am Rande.

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Hans Seidel  : 1973 bis 1980

3.6 Der Wechsel Seidels ins Finanzministerium Seidel hat ein halbes Jahrhundert lang die österreichische Wirtschaftsforschung geprägt. Er war politischer Berater in einem Ausmaß und einer Dauer, wie es kein Wirtschaftsforscher vor und nach ihm war. Später konstatierte er, dass es viel mehr Ökonomen gebe als früher, ihr Einfluss auf die Wirtschaftspolitik aber geringer geworden sei. Seidel vermisste zuletzt eine Diskussionskultur zwischen Ökonomen und Politikern. Nach Seidels Ansicht könnten die Wirtschaftsforscher dazu beitragen, die Risiken verschiedener Strategien auszuloten. Seine Arbeit im Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen habe gezeigt, dass in sachlichen Gesprächen trotz aller weltanschaulichen Differenzen oft ein gemeinsamer Nenner gefunden werden könne. Bundeskanzler Kreisky holte Seidel im Jahr 1981 als Staatssekretär in sein Team. Dieser gab die Leitung des WIFO ab, weil eine Karenzierung nicht möglich war. Nemschak hatte immer auf die Unabhängigkeit des WIFO gepocht und darauf bestanden, dass ein politisches Amt nicht mit einer Leitungsfunktion am WIFO vereinbar wäre. Seidel war als ökonomischer Berater für Finanzminister Herbert Salcher – einen Juristen – gedacht, der davon aber wenig wissen wollte. Als Seidel einmal in einer TV-Sendung die Besteuerung des 13. und 14. Gehalts in Österreich andiskutierte, brach ein Sturm der Entrüstung los. Bis heute hält Österreich an dieser aus internationaler Sicht »Abnormität« des Steuersystems fest.

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4. Helmut Kramer  : 1981 bis 2005 – Zunehmende Internationalisierung der Wirtschaftsforschung Helmut Kramer © Birgit Novotny

Nach dem Wechsel Seidels ins Finanzministerium leitete Kramer das WIFO von 1981 bis 2005. Die zweieinhalb Jahrzehnte unter Kramers Führung waren eine wirtschaftlich turbulente Zeit, die vom Goldenen Zeitalter bis zur Finanzkrise reichte  : Im Gefolge der beiden Erdölpreisschocks erfasste die europaweite Krise der Grundstoffindustrien die Verstaatlichte Industrie in Österreich. Nach zwei Jahrzehnten der Vollbeschäftigung wurde Arbeitslosigkeit in den 1980er-Jahren wieder zu einem beherrschenden Thema. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die aus konjunkturellen Gründen gedrückten Einnahmen des Staates führten zu hohen Budgetdefiziten, welche die Institutsfinanzierung erschwerten. In den 1990er-Jahren rückten internationale Themen in den Vordergrund. Die Ostöffnung wurde nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zu einer großen Herausforderung für die österreichische Wirtschaft. Jahrzehntelang hatten vor allem die Ostregionen unter der wirtschaftlichen Abschottung gelitten. Jetzt boten sich

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Helmut Kramer  : 1981 bis 2005

neue Chancen, aber auch Risiken. Das ganz große Thema der 1990er-Jahre war – auch für die Wirtschaftsforschung  – der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union. Franz Nemschak hatte sich schon vor Jahrzehnten für den EU-Beitritt eingesetzt. Jetzt wurde sein Traum Wirklichkeit. Auch die Einführung des Euro ging reibungslos vonstatten, die langfristigen Auswirkungen wurden jedoch für einige ehemalige Weichwährungsländer Südeuropas zum Albtraum. Die zunehmende Einbettung Österreichs in die Europäische Union und in die Weltwirtschaft stellte das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung vor völlig neue Aufgaben  : »Aus einem nationalen Institut wurde seit Anfang der 1980er-Jahre ein internationales Forschungszentrum« (Aiginger, 2005b, S. 419). Der Haupteinfluss auf die Tätigkeit des WIFO ging von den internationalen Strömungen, der EU-Politik sowie insbesondere vom herrschenden ökonomischen Paradigma aus. Ausmaß und Tempo der Reaktion des Instituts auf den Wandel von Wirtschaft und Politik wurden vom WIFO-Chef entscheidend mitgeprägt.

4.1 Helmut Kramer – Persönlichkeit und Arbeitsstil Helmut Kramer, 1939 in Bregenz geboren, leitete das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung fast zweieinhalb Jahrzehnte lang. Er begann seine Tätigkeit am WIFO im Jahr 1963. Zunächst war er Referent für Industrie- und Strukturpolitik, später Konjunkturreferent. Im Jahr 1971 wurde er stellvertretender Leiter und 1981 WIFO-Chef. Als Leiter des WIFO war er gleichzeitig Mitglied des Beirats für Wirtschafts- und Sozialfragen. Im Jahr 1991 wurde er zum Honorarprofessor ernannt. Er blieb WIFO-Chef bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2005. Im Allgemeinen war Kramer eher zurückhaltend1, vor allem den Medien gegenüber. Er hatte ein sehr gutes wirtschaftspolitisches Gespür. Mit seinen ausgefeilten Formulierungen eckte er fast nie an. Seine Haltung zum EU-Beitritt und zur Integration Osteuropas war klar und dezidiert. In manchen anderen Bereichen – z. B. Ausmaß der Privatisierungen – war er weniger eindeutig. Kramers (und auch Seidels) vorsichtige wirtschaftspolitische Äußerungen stehen in diametralem Gegensatz zu den politischen Ansagen der Gründerväter des WIFO in den 1930er-Jahren. Hayek, Mises und Morgenstern nahmen in ihren privaten Stellungnahmen in der Tagblatt-Kampagne kein Blatt vor den Mund und wetterten gegen die »inflationäre Politik« der Notenbank, die Devisenbewirtschaftung, 1 Wenn er  – noch in seiner Zeit als WIFO-Referent  – Vorträge vorbereitete oder Artikel schrieb, prangte ein Schild an seiner Tür  : »Bitte nicht stören«.

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Helmut Kramer – Persönlichkeit und Arbeitsstil 

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die falsche Politik der Konjunkturankurbelung und die »Irrlehren des Herrn Keynes«. Klausinger (2005) hat der Nachwelt die Tagblatt-Kampagne der frühen WIFO-Chefs in vorbildlicher Weise bewahrt. Im Gegensatz zu den WIFO-Gründern war der Ausgleich der verschiedenen politischen Interessen für Kramer ein echtes Anliegen. Er war um allgemeinen Konsens in der Wirtschaftspolitik bemüht. In seinem Verhalten war er konziliant, nie autoritär. Objektivität hatte für ihn oberste Priorität. Eine gute persönliche Gesprächsbasis hatte Kramer – nach eigenen Aussagen – mit Bundeskanzler Vranitzky und Finanzminister Androsch. Im Laufe der Jahrzehnte scheinen die Kontakte der WIFO-Chefs und der WIFO-­ Mitarbeiter zu den Spitzenpolitikern der Regierungen geringer geworden zu sein. Das WIFO rückte von den politischen Institutionen näher zu den Universitäten hin. Honorierte Gutachten, zum Teil von Professoren begutachtet, traten an die Stelle persönlicher Kontakte. Es besteht jedoch ein großer Unterschied zwischen direkter Beratung und Gutachten. In persönlichen Gesprächen informieren die wirtschaftspolitischen Berater meist über Für und Wider verschiedener Maßnahmen. Sie können ihre Meinung ziemlich ungeschminkt äußern. Schriftliche Gutachten werden in der Regel von Beamten und Funktionären – nicht von Politikern – in Auftrag gegeben. Sie dienen nicht selten dazu, die Wichtigkeit eines bestimmten Fachbereichs oder Themas durch unabhängige Experten zu untermauern. Manchmal sollen sie auch eine bestimmte Politik bestätigen. Kramer konnte blendend formulieren, er war wohl der beste Präsentator unter allen WIFO-Chefs. In TV-Interviews, Prognosesitzungen und Vorträgen konnte er seine Formulierungskunst ausspielen. Er hielt viele Vorträge im ganzen Land, damit blieb er in Kontakt mit der Welt der Unternehmen und Banken. In seinen Arbeiten und Vorträgen setzte er sich intensiv mit den Folgen der Globalisierung (Kramer, 2004b), des EU-Beitritts und der Integration Osteuropas auseinander. Mit den großen makroökonomischen und wirtschaftspolitischen Fragen beschäftigte er sich lieber als mit den Details einzelner Fachgebiete. Wenn die Themen politisch heikel wurden, verloren sich die Aussagen oft im Nebel der Worte. Die ökonomische Theorie lag ihm nicht besonders am Herzen  – jedenfalls nur so weit, als sie wirtschaftspolitisch relevant war. Gegenüber Modellrechnungen hatte er eine gesunde Skepsis. Seine ökonomische und wirtschaftspolitische Orientierung kann man am besten an seinen Vorbildern erkennen. Kramer bewunderte den Ökonomen Rothschild uneingeschränkt (Kramer, 2004c). In seiner Laudatio zum 90. Geburtstag bezeichnete er sich als »Rothschildianer«. Kramer bekannte sich zu einer empirisch orientierten Ökonomie, die keine ehernen, allgemeingültigen Gesetze kennt, sondern situations- und zeitbezogen ist und weder Macht noch Oligopolsituationen ausklammert. Der Staat hat in einer sol-

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Helmut Kramer  : 1981 bis 2005

chen Ökonomie zweifellos mehr Aufgaben, als das Funktionieren der Märkte zu gewährleisten. Rothschild sprach von einer »Toolbox«, in welche Ökonomen und Politiker je nach Situation hineingreifen. Kramer nahm – ebenso wie Roth­ schild  – die Beschränkungen und die Fehlerhaftigkeit der Daten ernst  : »Man könne nicht mit ökonometrischen Kanonen auf statistische Spatzen schießen« (Kramer, 2004c, S. 3). Kramer schätzte auch die kritischen Studien von Rodrik zur Globalisierung. Die Ökonomen hätten zu lange verleugnet, dass die Globalisierung nicht allen nützt, sondern dass es auch Verlierer in den westlichen Industriestaaten gibt – die zu populistischen Parteien tendieren. Die negativen Auswirkungen der Globalisierung auf die alte Mittelschicht in den Industrieländern glaubte Rodrik durch einen effizienten Sozialstaat mildern zu können. Es gehe jedoch nicht nur um die wirtschaftliche Situation der Betroffenen, sondern auch um die Anerkennung ihrer Werte und ihres Lebensstils.

4.2 Das WIFO-Leitungsteam Butschek und Musil waren ständige Mitglieder der Leitung. Dazu kamen in der Regel zwei aus dem Kreis der Wissenschaftler gewählte rotierende Mitglieder. Butschek wurde schon in der Ära Seidel im Jahr 1981 Mitglied der Leitung. Er war früher mit Arbeitsmarkt- und Sozialversicherungsthemen befasst. Jetzt wurde er zum Wirtschaftshistoriker des Instituts. Er verfasste zahlreiche Bücher und Artikel zur Wirtschaftsgeschichte Österreichs und Europas. Von Kramer wurde er mit besonderen Aufgaben der Außenkommunikation betraut. Für Finanzen, Organisation und Administration interessierte sich Kramer weniger. Hier hatte er am WIFO mit Musil, Handler und Aiginger tatkräftige Unterstützung. Handler war bis zu seinem Wechsel ins Wirtschaftsministerium als stellvertretender Leiter ein fachkundiger, umsichtiger und geschickter Organisator. Buchhaltung und Finanzen lagen in der Obhut von Musil, der ein gutes Gefühl für Geldanlagen hatte. Musil war auch das Bollwerk, das sich gegen überzogene Wünsche nach Neueinstellungen stemmte. Viele Mitarbeiter sahen sich nur in der Lage, neue Gutachten zu übernehmen, wenn dafür ein neuer Mitarbeiter eingestellt wurde. Dem versuchte Musil aus budgetären Gründen einen Riegel vorzuschieben. Die für die laufende Arbeit zuständigen Leitungsmitglieder wechseln bis heute routinemäßig alle zwei Jahre. Eine Verlängerung auf vier Jahre ist üblich, aber nur einmal möglich. Das eine rotierende Leitungsmitglied ist für die interne Koordination und Ressourcenplanung zuständig, das andere für die Außenbeziehungen

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Das WIFO-Leitungsteam 

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des WIFO. Alle Leitungsmitglieder sind stellvertretende Leiter. Das Rotationsverfahren für leitende Angestellte ist eine eigenwillige Konstruktion, die vom Betriebsrat gefordert wurde. In Wirtschaft und Verwaltung ist es nicht üblich, dass die für die Außenkontakte zuständigen Manager routinemäßig wechseln. Die Funktion eines rotierenden Leitungsmitglieds ist – vom öffentlichen Prestige abgesehen – nicht besonders attraktiv2. Zu den rotierenden Mitgliedern der Leitung zählten in der Kramer-Ära zunächst Schneider, Aiginger, Walterskirchen, Handler, Bayer und später Köppl, Guger, Hutschenreiter u. a. Ihre schwierigste Aufgabe war die erforderliche Steigerung der Gutachteneinnahmen. In den ersten Jahren seiner Leitungstätigkeit besprachen Kramer und der zuständige stellvertretende Leiter mit fast jedem wissenschaftlichen Mitarbeiter dessen Arbeitsprogramm (besonders die honorierten Gutachten), später reichte die Zeit dafür nicht mehr aus. Da die Grundfinanzierung immer weniger reichlich floss, war das WIFO gezwungen, Jahr für Jahr mehr Einnahmen aus Gutachten – insbesondere für Ministerien und die EU – zu erwirtschaften. Die Industriellenvereinigung verschob Finanzmittel vom WIFO zu kleinen wirtschaftsnahen Instituten. Beflügelt von Kramers kooperativem, nicht-autoritärem Verhalten, entwickelte sich am WIFO eine Kooperationsbereitschaft und ein Teamgeist, der an den Hochschulen seinesgleichen sucht. Mehrere WIFO-Mitarbeiter führten ihre Karriere in anderen Institutionen weiter. Sie wechselten fast ausschließlich in drei Bereiche  : Hochschulen, heimische und internationale Institutionen. Handler wurde karenziert und war viele Jahre Sektionsleiter im Wirtschaftsministerium. Mooslechner wurde Abteilungsleiter und später Direktor in der Notenbank. Bayer wechselte ins Finanzministerium und von dort zur Weltbank, Busch ging zur EU-Kommission nach Brüssel. Mehrere WIFO-Mitarbeiter wurden Professoren an Universitäten  : Breuss an der Wirtschaftsuniversität, Pfaffermayr und Egger an der Universität in Linz. Biffl wurde nach ihrer Pensionierung am WIFO Professorin an der Universität in Krems3.

2 Ein WIFO-Mitarbeiter sagte einmal  : »Wenn ich diesen Job machen muss, dann kündige ich.« Dank dieser Drohung musste er diese Funktion nie ausüben. 3 Sie beklagte die Diskriminierung der Frauen, deren Arbeitsleben schon mit 60 Jahren vom Arbeitgeber beendet wird.

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Helmut Kramer  : 1981 bis 2005

4.3 Expansion des WIFO Im Laufe der Jahrzehnte ging das Institut immer weiter über seinen ursprünglichen Bereich der Konjunkturforschung hinaus. Die Aufgaben der Wirtschaftsforschung nahmen zu. Die Wirtschaftspolitik musste sich im Zuge der Globalisierung an eine offenere Volkswirtschaft und freie, ungezügelte internationale Kapitalmärkte anpassen. Die Themen Globalisierung, Wettbewerb und Standort gewannen damit für das Institut an Bedeutung. Seit den 1980er-Jahren erlebte das WIFO eine gewaltige Expansion. Die Zahl der WIFO-Mitarbeiter stieg kontinuierlich von 80 zu Beginn der 1980er-Jahre auf 110 im Jahr 2012 (Tichy, 2012, S. 473). Die Hälfte davon waren Wissenschaftler, der Rest vor allem wissenschaftliche Assistentinnen  – worum die Universitätsinstitute das WIFO bis heute beneiden. Neben der qualifizierten wissenschaftlichen Assistenz sind die WIFO-Datenbank und die WIFO-Bibliothek ein großes Asset des WIFO. Der befristeten Aufnahme von akademischen Trainees (Dissertanten) für Großprojekte waren damals noch sehr enge Grenzen gesetzt.

Abbildung 2  : Entwicklung des Personalstandes Quelle  : Tichy (2012), S. 474.

Das Budget des WIFO hat sich innerhalb eines Vierteljahrhunderts fast vervierfacht, die Einnahmen aus honorierten Forschungsaufträgen haben sich versie-

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Internationalisierung der Wirtschaftsforschung 

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benfacht. Im Jahr 2005 machten die international akquirierten Aufträge fast 20 % der Einnahmen aus, 25 Jahre davor waren sie nahe null (Aiginger, 2005b, S. 420). Diese Steigerung war notwendig, weil eine Anhebung der Grundfinanzierung in einer Zeit der Budgetkonsolidierung wesentlich schwerer durchzusetzen war als in den Jahrzehnten davor. »Noch bedeutender für die Entwicklung des WIFO als die Änderungen in Wirtschaftsstruktur und -politik war die zunehmende Bedeutung der Volkswirtschaftslehre und -politik im letzten Vierteljahrhundert« (Tichy, 2012, S.  473)  – zumal Österreich hier einen Nachholbedarf gegenüber anderen Industrieländern hatte. Erst ab der Mitte der 1960er-Jahre konnte man in Österreich Volkswirtschaftslehre studieren. Die verkrusteten Universitäten waren im Bereich der Wirtschaftswissenschaften bis in die 1960er-Jahre unbedeutend (Nowotny, 2017). Das Institut für Höhere Studien schloss diese Lücke, indem es in zweijährigen Kursen Ökonometriker ausbildete. Eine Reihe von ihnen kam ans WIFO  : Thury, Schebeck, Suppanz, Handler u. a. Nach Einführung des Ökonomiestudiums bewarben sich viele Absolventen um eine Stelle am WIFO – mit einer Empfehlung von Streissler oder Rothschild.

4.4 Internationalisierung der Wirtschaftsforschung In der Kramer-Ära wurde das WIFO von einem rein nationalen zu einem immer stärker international orientierten Institut4. Das ökonomische und politische Umfeld bot dafür die Möglichkeit. Im Zuge der Globalisierung und der Verwirklichung des EU-Binnenmarktes arbeiteten die europäischen Wirtschaftsforschungsinstitute enger zusammen. Gleichzeitig wurden sie aber auch Konkurrenten um EU-Aufträge. Dem WIFO gelang es in dieser Zeit noch nicht, den Lead in einem Großprojekt der EU zu übernehmen. Das Konjunkturteam erhielt mit dem internationalen Netzwerk ­»Euroframe« einen Auftrag der EU, jedes Jahr eine Konjunkturprognose für die EU zu erstellen. Dem Konsortium, an dem das WIFO beteiligt war, gelang es auch, den Auftrag für die deutsche Gemeinschaftsprognose an Land zu ziehen. Der WIFO-­Konjunkturreferent Walterskirchen war in beiden Gremien aktiv. Das Industrieteam (Peneder u. a.) lieferte jedes Jahr analytische Grundlagen für den Competitive­ness Report der Europäischen Union. Die Baureferentin des WIFO, 4 Zwar war schon Seidel eng mit der OECD und dem Internationalen Währungsfonds vernetzt. Jetzt gewann aber die Internationalisierung an Breite.

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Czerny, spielte eine tragende Rolle bei der Erstellung der Euroconstruct-Prognose. ­ utschek und später Biffl verfassten jährlich einen Bericht für das OECD-KomiB tee für Migrationsfragen.

4.5 Strukturkrise der 1980er-Jahre als Herausforderung für das WIFO In den 1980er-Jahren verwendeten die Medien gerne den Begriff »Eurosklerose«. Verkrustete Strukturen sollten die Wachstumsschwäche und insbesondere das Zurückbleiben der europäischen gegenüber der japanischen Industrie erklären. Elektrogeräte und Autos waren zunehmend zur Domäne der japanischen Wirtschaft geworden. Der Catching-up-Prozess war nun vorbei  : »Um die Mitte der 1970erJahre war das europäische wie das österreichische Aufholwachstum zu Ende gegangen. Erdöl- und Stahlkrise wie die zunehmende Konkurrenz von Billigländern erforderten eine Umorientierung von der Grundstoffindustrie zur hochwertigen Verarbeitung und zu Dienstleistungen, von Investition zu Innovation, von Fertigprodukten zu Zulieferung und Vernetzung« (Tichy, 2012, S. 472). Nach der ausgezeichneten Entwicklung der österreichischen Wirtschaft in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre kam nun Sand ins Getriebe. Zunächst sprach man vom »Durchtauchen« in der Rezession 1975 mit Hilfe fiskalpolitischer Maßnahmen. Die Leistungsbilanzkrise 1977 zeigte, dass das Durchtauchen nicht so einfach war. Dank dem Einsatz von Koren und Kienzl konnte eine vom Internationalen Währungsfonds empfohlene Abwertung des Schillings gerade noch abgewendet werden. Die Stahlkrise der späten 1970er-Jahre traf zwar alle europäischen Stahlproduzenten, die österreichische Verstaatlichte jedoch in besonderem Maße. Denn die Verstaatlichte wurde in Österreich von der Regierung dazu angehalten, keine Arbeitnehmer freizustellen. Die Vollbeschäftigung konnte in Österreich auch nach dem zweiten Erdölpreisschock dank der Hortung von Beschäftigten in der Verstaatlichten Industrie und dem massiven Einsatz von Frühpensionierungen erhalten werden. Die anhaltend hohen Subventionen an die Verstaatlichte Industrie erzwangen jedoch ein Ende dieser Politik  : »Mit dem faktischen Zusammenbruch der Verstaatlichten Stahlindustrie ging 1986 eine Ära zu Ende. Österreich war bis dahin jener westliche Staat gewesen, der über den höchsten Anteil an Betrieben im öffentlichen Eigentum verfügte. Mit der Verstaatlichung hatten sich nicht nur manche  – politischen  – Hoffnungen verbunden, die österreichische Wirtschaft war auch tatsächlich in beträchtlichem Maße dadurch geprägt worden« (Butschek, 2011, S. 370). In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre erlebte die Verstaatlichte Industrie einen echten Einbruch. Ihr Umsatz sank zwischen 1985

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und 1990 nominell um 12  %, ihr Beschäftigtenstand um fast 30  % (Butschek, 2011, S. 375). Der Großteil der Verstaatlichten Industrie wurde privatisiert. Damals war die Zerschlagung des »einzigen österreichischen Großkonzerns« umstritten. Heute können wir die Privatisierung der meisten Unternehmensgruppen der Verstaatlichten Industrie (OMV, VA-Tech, VA-Stahl) als Erfolg ansehen (Aiginger – Sieber, 2009). Die VOEST wurde zum Weltmarktführer für Spezialstahl, und die OMV konnte ihre internationalen Aktivitäten enorm ausweiten. Das WIFO reagierte auf die »Strukturkrise« der Wirtschaft mit einer umfassenden Strukturberichterstattung, die von Schulmeister koordiniert wurde. Diese umfangreiche Studie stellte die strukturellen Veränderungen nach Wirtschaftsbranchen in mehreren Bänden dar. In den WIFO-Publikationen aus dieser Zeit findet sich überraschend wenig zur Zerschlagung der Verstaatlichten Industrie. Wahrscheinlich war das Thema zu heikel für ein Institut, das von den Sozialpartnern getragen wird. In Österreich rissen die Krise und ihre Bekämpfung tiefe Löcher in die öffentlichen Budgets. Die international hohen Zinssätze zur Eindämmung der Inflation verschlimmerten die Situation weiter. Der sozialdemokratische Finanzminister Lacina sah sich zunehmend mit dem Problem konfrontiert, Steuermittel für Zinszahlungen an relativ Begüterte ausgeben zu müssen. Sanierungs- und Konjunkturprogramme wechselten einander ab. Das WIFO berechnete die Wirkungen des »Mallorca-Belastungspakets« ebenso wie jene der Beschäftigungsprogramme. Der WIFO-Experte Lehner – einer der wenigen Fachleute, die sich auch in den Länderbudgets auskannten – verfasste zahlreiche Studien zur Budgetsituation von Bund, Ländern und Gemeinden. Er war in vielen Beratergremien aktiv. Eine Auseinandersetzung mit Bruno Kreisky gab es, als das WIFO den Bau des UNO-Zentrums in Wien hinterfragte, das Bruno Kreisky so sehr am Herzen lag. Das WIFO meinte, das Geld könnte besser investiert werden. Als das Institut einmal die ungünstigen Ergebnisse des WIFO-Investitionstests publizierte, kritisierte Finanzminister Salcher, dass das WIFO den Standort Österreich schlechtrede.

4.6 EU-Beitritt Österreichs dominierte die Wirtschaftsforschung in den 1990er-Jahren Die Ostöffnung im Jahr 1989, der EU-Binnenmarkt, die EU-Erweiterung und die Globalisierung haben die internationale Landschaft gewaltig verändert. Für Österreich bedeutete der Beitritt zur Europäischen Union (damals noch EG) am

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1. Jänner 1995 eine entscheidende Weichenstellung. Das WIFO musste seine Aktivitäten an diese neuen Rahmenbedingungen möglichst rasch anpassen. 4.6.1 Auswirkungen der Ostöffnung

Kramer schrieb 1992 einen Artikel über die Integration Osteuropas in die Weltwirtschaft (Kramer, 1992). Er gab vor allem einen Überblick über Theorien und Studien, die sich mit der Frage beschäftigten  : Welche Wirtschaftsstrukturen werden sich in Osteuropa herausbilden, wenn die Anpassung gelingt  ? Er schrieb das zu einer Zeit, als die Perspektiven Osteuropas durch die kurzfristigen Auswirkungen der Schocktherapien noch verdüstert waren. Die östlichen Regionen Österreichs waren jahrzehntelang durch den Eisernen Vorhang in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung behindert. Mit der Ostöffnung und später der EU-Ost­ erweiterung boten sich neue vielfältige Möglichkeiten, speziell für Ostösterreich. Das WIFO reagierte auf diese Herausforderung mit Regionalstudien. Das Großprojekt »Preparity«, das von Palme, Mayerhofer und Huber betreut wurde, widmete sich allen diesen regionalpolitischen Fragestellungen. Eine Studie von Sinabell – unter der Mitwirkung von Kramer – untersuchte die wirtschaftlichen Möglichkeiten des Waldviertels. Hohes Vertrauen in österreichische Expertisen hatten auch die östlichen Nachbarländer  : Das WIFO wurde beispielsweise mit einem Entwicklungskonzept für die Region Nograd in Ungarn beauftragt. Die Gewerkschaften fürchteten die Konkurrenz der niedrigen Löhne in Osteuropa. Per Saldo überwogen aber die positiven Nettowirkungen der Ostöffnung. Stankovsky, der Außenhandels- und Osteuropaexperte des Instituts, beschrieb die Erfolge der österreichischen Unternehmen in vielen Arbeiten und Interviews. Der WIFO-Experte Breuss quantifizierte die Effekte der EU-Osterweiterung mit Hilfe von Modellrechnungen. Die Bauwirtschaft und vor allem die österreichischen Banken konnten in Osteuropa gut Fuß fassen. Die Banken kamen freilich durch ihre Fremdwährungskredite zeitweilig in Bedrängnis. Ein heikles Thema waren Übergangsfristen für die Zuwanderung im Zuge der EU-Osterweiterung. Die EU-Kommission wollte davon nichts wissen, denn der freie Personenverkehr ist eine der vier Grundfreiheiten in der Europäischen Union. Walterskirchen (WIFO) und Dietz (wiiw) erhielten den Auftrag, diese Frage von allen Seiten zu untersuchen. Reine Modellrechnungen waren in diesem Fall wenig verlässlich, weil der Erweiterungsprozess samt Wanderungen historisch ohne Parallele war. Die Studienautoren unterstützten die Forderungen Österreichs – und auch Deutschlands – nach siebenjährigen Übergangsfristen. Denn nach sieben Jahren würden die Lohnunterschiede zwischen West und Ost so weit geschmolzen sein,

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dass die Zuwanderung bewältigbar wäre (Walterskirchen – Dietz, 1998). Kramer betonte, dass die Übergangsfristen nicht als Wartezeiten verstanden, sondern offensiv genutzt werden sollten. Großbritannien verzichtete bekanntlich auf solche Übergangsfristen und erlitt damit Schiffbruch. 4.6.2 EU-Beitritt Österreichs im Jahr 1995

Ein EU-Beitritt Österreichs, der schon von Nemschak vehement gefordert wurde, war durch die immerwährende Neutralität Österreichs blockiert. Die österreichische Bundesregierung – insbesondere Kreisky – hatte immer wieder außenpolitische Bedenken gegen einen EU-Beitritt geäußert. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und Gorbatschows Glasnost war nun nicht mehr mit einem Widerstand Russlands gegen einen EU-Beitritt Österreichs zu rechnen. Die Europäische Union bereitete in dieser Zeit überdies die Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes und einer gemeinsamen Währung vor. Von dieser Liberalisierung und Integration erwartete man starke wirtschaftliche Impulse für die EU. Das machte die Beitrittsfrage für Österreich noch vordringlicher. Die Industrie war die treibende Kraft. Die Gewerkschaften waren eher skeptisch, sie fürchteten vor allem den Verlust an wirtschaftspolitischer Autonomie. Subventionen an die Verstaatlichte Industrie, die in den 1980er-Jahren reichlich flossen, wären in der EU nicht möglich gewesen. Bundeskanzler Vranitzky stand dem EU-Beitritt positiv gegenüber. Er lud Seidel und Kramer einmal zu einem Treffen in Baden ein. Dort befragte er sie intensiv zu ihrer Haltung zum EU-Beitritt Österreichs und holte sich Argumentations- und Schützenhilfe für die innerparteiliche Diskussion. Kramer äußerte einmal, dass die Wirtschaftsforscher damit einen positiven Beitrag zum EU-Beitritt geleistet hätten. Denn Vranitzky gelang es schließlich, seine Parteigenossen von der Zweckmäßigkeit des EU-Beitritts zu überzeugen. Schon Ende der 1980er-Jahre hatte das WIFO die Ausgangslage Österreichs für eine Integration in den Binnenmarkt als ausgesprochen günstig bezeichnet (Breuss et al., 1989). Im Gegensatz zur Süderweiterung (Griechenland, Portugal, Spanien) habe Österreich die wichtigsten makroökonomischen Ziele erreicht  : Die Leistungsbilanz sei mittelfristig ausgeglichen, die Inflationsrate und die Arbeitslosenquote seien nur etwa halb so hoch wie im Durchschnitt der europäischen OECD-Staaten. Österreichs Bruttoinlandsprodukt war Ende der 1980erJahre etwas höher als im EG-Durchschnitt. Das WIFO beklagte jedoch, dass Österreich bei den Zukunftsträgern erheblichen Nachholbedarf habe. Im Falle einer Mitgliedschaft wäre Österreich ein Nettozahler in die EG-Kassen im Aus-

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maß von etwa 13 Mrd. Schilling. Das WIFO-Resümee lautete  : Österreich habe kurzfristige Anpassungskosten zu tragen, könne aber langfristige Produktivitätsgewinne lukrieren. Knapp vor der EU-Volksabstimmung am 12.  Juni 1994 erstellte das WIFO neuerlich eine umfassende Studie zu den Auswirkungen des EU-Beitritts. Kramer fasste die Ergebnisse so zusammen  : »Nach sorgfältiger Abwägung der Beitrittseffekte im Vergleich zum Festhalten am bisherigen Status und der erkennbaren Chancen und Risiken auf längere Sicht kommen die WIFO-Untersuchungen zum Ergebnis, dass der Beitritt für die österreichische Volkswirtschaft und für die weit überwiegende Mehrheit der Wirtschaftszweige, Berufe und gesellschaftlichen Klassen ein Vorteil und daher aus wirtschaftlicher Sicht zu empfehlen ist« (Kramer, 1994). Das WIFO beurteilte die Auswirkungen des EU-Beitritts somit eindeutig positiv. Ein Wertmutstropfen blieb jedoch auch in dieser Studie  : Das Budgetdefizit würde wegen der Nettozahlungen Österreichs an die EU steigen. Die Regierung intervenierte massiv. Vor der Volksabstimmung über den EU-Beitritt dürfe eine solche Aussage nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Das WIFO gab klein bei und änderte den Text. Man räumte ein, dass sich nicht exakt prognostizieren ließe, ob die Nettozahlungen an die EU größer oder kleiner sein würden als die vermehrten Steuereinnahmen, die vom höheren Wirtschaftswachstum (infolge des EU-Beitritts) zu erwarten wären. Bei der Volksabstimmung befürworteten schließlich zwei Drittel der Abstimmenden den geplanten EU-Beitritt Österreichs. Laut einer WIFO-Studie aus dem Jahr 2010 profitierte Österreich stark von der europäischen Integration  : »Die 15-jährige Mitgliedschaft Österreichs in der EU ist eine Erfolgsgeschichte. Sie brachte Österreich einen zusätzlichen Wachstumsimpuls von jährlich 0,6 Prozentpunkten und ermöglichte die Schaffung von 14.000 Arbeitsplätzen« (Breuss, 2010, S. 130). Die treibende Kraft war der Export in andere EU-Staaten. Das Preisniveau lag dank der Abschaffung von Zöllen und anderen Handelshemmnissen niedriger, als es ohne EU-Beitritt wäre. 4.6.3 Einführung des Euro

Wir können heute also sagen, dass sich die erwarteten günstigen Effekte im Großen und Ganzen bestätigt haben. Die positiven Auswirkungen der Ostöffnung und EU-Erweiterung wurden wohl eher unterschätzt, die positiven Effekte der Währungsunion für die gesamte EU dagegen überschätzt (Eurokrise). Kramer gab einmal in einem »Standard«-Interview (Sator, 2017) zu, dass sein größter Fehler die zu positive Einschätzung der Europäischen Währungsunion war. Das

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war nicht nur sein Fehler, sondern der fast aller Ökonomen. Sie hatten damit gerechnet, dass sich die Weichwährungsländer – ähnlich wie Österreich schon früher  – an die Lohnentwicklung der Hartwährungsländer anpassen würden. Streikfreudigere Gewerkschaften in Südeuropa und vor allem ein anfänglicher wirtschaftlicher Boom, der durch den abrupten Verfall der Realzinssätze in den Weichwährungsländern ausgelöst wurde, verhinderten jedoch die erwartete Lohnanpassung an die Hartwährungsländer. 4.6.4 Regierungswechsel im Jahr 2000 traf das WIFO

Im Jahr 2000 kam die ÖVP-FPÖ-Koalition an die Macht. Das drängte die Sozial­ partnerschaft und auch das WIFO als »Sozialpartnerinstitut« zurück. Das Klima zwischen Finanzministerium und WIFO wurde rauer. Die großen wirtschaftsund sozialpolitischen Themen in den Jahren 2000 bis 2005 waren Pensions­ reform, Budgetkonsolidierung, Privatisierung und Steuerreform. Die Schüssel-­ Regierung führte eine große »Pensionssicherungsreform« durch, welche die budgetären Zuschüsse verringern und damit die Pensionen langfristig sichern sollte. Internationale Organisationen und WIFO-Autoren (Url, Mayrhuber) hatten wiederholt das niedrige Pensionsantrittsalter in Österreich kritisiert. In der Pensionsreform 2000 wurde das Mindestalter für die vorzeitige Alterspension auf 61½ bzw. 56½ Jahre erhöht. Bei frühzeitigem Pensionsantritt gab es höhere Abschläge. In der Pensionsreform 2003 wurde die vorzeitige Alterspension wegen Arbeitslosigkeit abgeschafft, ebenso jene wegen langer Versicherungsdauer. Der Bemessungszeitraum wurde auf 40  Jahre ausgedehnt, die jährlichen Abschläge bei Frühpensionen wurden weiter erhöht (Dirninger, 2017). Die OECD hat diese große Pensionsreform ausdrücklich begrüßt, der ÖGB hat im Mai 2003 dagegen gestreikt. Ein weiterer Kernbereich der neuen Regierung war die Forcierung der Privatisierungen. Im April 2000 wurde ein neues ÖIAG-Gesetz beschlossen. Die Privatisierungen, die der Entschuldung dienen sollten, wurden auf BUWOG-Wohnungen, andere Immobilien und öffentliche Dienste ausgedehnt (Dirninger, 2017, S. 282). Das oberste Ziel von Finanzminister Grasser war, das Nulldefizit zu erreichen. Im Jahr 2001 gelang ihm das auch ein einziges Mal, großteils durch budgetäre Einmaleffekte und die massive Erhöhung spezieller Verbrauchsteuern und Gebühren (um 13 Mrd. €). Marterbauer – Walterskirchen (2000) errechneten, dass das untere Drittel der Haushalte von dieser Steuererhöhung weit stärker betroffen war als das obere. Das untere Einkommensdrittel musste 1,6  % seines Einkommens für die zusätzlichen Abgaben aufwenden, das obere Einkom-

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mensdrittel nur 0,8 %. Im Jahr 2003 kritisierte das Finanzministerium das WIFO öffentlich wegen budgetpolitischer Aussagen. Ein Sprecher des Finanzministeriums unterstellte dem WIFO die Behauptung, dass eine Erhöhung des Budgetdefizits in Deutschland und Frankreich automatisch zu mehr Wachstum und damit auch zu einer besseren Konjunktur der Wirtschaftspartner führen würde. Kramer nahm dazu in einer Pressenotiz dezidiert Stellung  : »Das Finanzministerium verdrehe die Argumentation des WIFO offenbar bewusst um 180 Grad«. Diese Kontroverse soll nur als ein Beispiel für die angespannte Situation zwischen dem WIFO und dem Finanzministerium in dieser Zeit dienen. Kramer sprach in einem »Standard«-Interview (Sator, 2017) sein Zerwürfnis mit Finanzminister Grasser an. Dieser hätte aus dem WIFO gern ein Hayek-Institut gemacht. Das war aber mit Kramer und der WIFO-Mannschaft nicht zu machen5. Tichy (1973) hatte schon viel früher betont, dass die wirtschaftspolitischen Vorschläge aus der Pionierzeit des WIFO aus heutiger Sicht nicht überzeugen könnten. Die Beziehung des WIFO zu Bundeskanzler Schüssel war entspannt. Das WIFO sah die Notwendigkeit einer Pensionsreform und unterstützte die Bemühungen um eine Senkung der Lohnnebenkosten. Der WIFO-Budgetexperte Lehner beriet viele ÖVP-Politiker in Budgetangelegenheiten und war Mitglied einiger Reformkommissionen. Kramer hielt sich strikt an das Prinzip, auf keinen Parteiveranstaltungen aufzutreten  : Es sollte kein Foto des WIFO-Chefs mit einem Parteiemblem im Hintergrund geben. In den Jahren 2004/05 führte die Regierung eine große Steuerreform durch, welche die öffentlichen Haushalte etwa 9 Mrd. € kostete. In einer ersten Evaluierung der Effekte dieser Steuerreform stellte das WIFO fest  : »Von den Steuerentlastungen für Kapitalgesellschaften und Personenunternehmen durch die Senkung der Körperschaftssteuer sowie die Begünstigung der einbehaltenen Gewinne für die Personengesellschaften können … mittel- und langfristig weitere positive Wachstums- und Struktureffekte erwartet werden« (Aiginger – Kramer – Schratzenstaller, 2004). Die großen wirtschaftspolitischen Themen wurden immer häufiger von der EU – insbesondere der Lissabon-Agenda – vorgegeben. In einer Studie aus dem Jahr 2004 stellte das WIFO fest  : »Gemessen an der Lissabon-Agenda hat Österreich seit 2000 in vielen Reformbereichen sichtbare Fortschritte vorzuweisen, am eindrucksvollsten in den Bereichen Pensionsreform, Steuerreform, Wettbewerbskontrolle, Liberalisierung der Netzwerkindustrien, Privatisierung, Arbeitsmarktflexibilität, Incentives für F&E sowie Erleichterung 5 Hayek war gemeinsam mit Mises 1927 Gründervater des WIFO, 1971 erhielt er den Nobelpreis. In der keynesianischen Epoche dazwischen war er ein ökonomischer Außenseiter.

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der Unternehmensgründung. In den meisten dieser Bereiche hatte Österreich traditionell Anpassungsdefizite, die teilweise mit der konsensualen Entscheidungsfindung der Wirtschaftspolitik unter Einbindung der Sozialpartner zusammenhängen« (Handler et al., 2004, S. 43). Die Lissabon-Strategie ließ die abweichende Position Österreichs bzw. den Aufholbedarf, gemessen an der Lissabon-Strategie, deutlich werden. Auch der Internationale Währungsfonds attestierte der österreichischen Bundesregierung, wichtige Strukturreformen eingeleitet zu haben. Neben der Pensions- und Steuerreform hob der IWF Schritte zu einer weiteren Liberalisierung der Ladenschlusszeiten hervor. An einer Vielzahl von EU-Strukturindikatoren wurde der Rang Österreichs im EU-Vergleich gemessen. Da die Staatsverschuldung in Österreich den Zielwert von 60 % übertraf, wurde Österreich von der EU-Kommission nahegelegt, auf die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen besonders zu achten. Österreich wurde von der EU-Kommission, der OECD und dem Internationalen Währungsfonds gelobt, wenn es die Lissabon-Strategie implementierte, welche die EU zur Spitzen-Wirtschaftsregion der Welt machen sollte6. Angesichts dieser internationalen Vorgaben waren einer autonomen nationalen Politik natürlich enge Grenzen gesetzt. Am 1.  Mai 2004 wurde die Europäische Union um zehn Mitgliedstaaten erweitert. WIFO-Chef Kramer nahm dazu Stellung  : »Für Österreich bedeutet die Erweiterung in wirtschaftlicher Hinsicht die weitgehende Herstellung von Binnenmarktverhältnissen, die bis 1918 gegeben waren. Dies ist eine einzigartige Chance für die österreichische Volkswirtschaft. … Der erwartete volkswirtschaftliche Nutzen verspricht größer zu sein als die Kosten und Verluste, die Integration unvermeidlich mit sich bringt« (Kramer, 2004a). Die Verschärfung des Wettbewerbs löste freilich Unbehagen und Ängste aus. Am WIFO hielten sich länger als an anderen europäischen Instituten keynesianische Vorstellungen. Das mag mit dem Einfluss von Rothschild und Steindl auf das ökonomische Denken jüngerer WIFO-Mitarbeiter, aber auch mit der sozialpartnerschaftlichen Struktur des Instituts zusammenhängen. Im Laufe der Zeit passte sich aber auch das WIFO zunehmend den liberalen Strömungen an, die von der internationalen Politik, der EU, der OECD, dem Internationalen Währungsfonds sowie den Hochschulen ausgingen. Ausgeglichene Budgets, Preisstabilität, mehr Wettbewerb, Standortfragen und größere Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt wurden zu den dominierenden wirtschaftspolitischen Themen. 6 Ein OECD-Experte stellte einmal die Frage, warum Österreich eine so gute Wirtschaftsentwicklung aufweise, obwohl es bei den Strukturreformen, der Liberalisierung und Flexibilisierung eher Nachzügler sei.

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4.7 Wichtige Arbeiten der fünf Forschungsbereiche Das Institut war jahrzehntelang in Form von etwa zwölf kleinen Referaten organisiert. In diesen Referaten  – z. B. Konjunktur, Industrie, Außenhandel, Arbeitsmarkt usw. – gab es in der Regel einen oder mehrere Wissenschaftler und eine Statistikerin, heute wissenschaftliche Assistentin genannt. Mit zunehmender Zahl an Mitarbeitern stieß diese Organisationsform an ihre Grenzen. Die Referate wurden deshalb zu fünf Forschungsbereichen zusammengefasst, die heute folgende Bezeichnung tragen  : • • • • •

Makroökonomie und europäische Wirtschaftspolitik Arbeitsmarkt, Einkommen und soziale Sicherheit Industrieökonomie, Innovation und internationaler Wettbewerb Strukturwandel und Regionalentwicklung Umwelt, Landwirtschaft und Energie

Aiginger, der sich durch strategische und organisatorische Fähigkeiten auszeichnet, hat sich für diese Neuorganisation besonders eingesetzt. Die organisatorischen Veränderungen wurden im Konsens zwischen Leitung und Belegschaft festgelegt. Jeder dieser fünf Forschungsbereiche hat einen Koordinator – keinen Abteilungsleiter. Der Koordinator wird von allen Mitarbeitern des Forschungsbereichs gewählt und wechselt alle zwei Jahre. Die Idee dahinter ist  : Jeder wissenschaftliche Mitarbeiter soll nach einer Periode ausgedehnter organisatorischer Arbeit wieder zu wissenschaftlicher Tätigkeit zurückkehren und damit auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft bleiben. Während an den Hochschulen nicht selten jeder gegen jeden kämpft, ist die hohe Kooperationsbereitschaft der WIFO-­ Mitarbeiter ein Asset des Instituts. Die flachen Hierarchien tragen ihren Teil dazu bei. Die Verlagerungen zwischen den Forschungsbereichen haben eine klare Richtung  : Der Konjunkturbereich (Makroökonomie) nahm langfristig deutlich ab, alle anderen Forschungsbereiche wurden ausgeweitet. In den 1970er-Jahren hat das Themenfeld Konjunktur zwei Fünftel der Publikationen des WIFO ausgemacht, in den Jahren 2000 bis 2010 nur noch ein Viertel (Tichy, 2012, S. 476). 4.7.1 Makroökonomie und europäische Wirtschaftspolitik

Die Auswirkungen des EU-Beitritts, der Osterweiterung und der Währungsunion waren – wie bereits erwähnt – ganz große Themen für diesen Forschungsbereich. Auch die Effekte von Beschäftigungsprogrammen (Breuss – Walterskir-

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chen, 1982)7, Steuersenkungen und Arbeitszeitverkürzungen (Baumgartner et al., 2001) waren sehr gefragt. Die Konjunkturprognosen stießen nach wie vor auf großes Medienecho. Der dafür notwendige Arbeitsaufwand wurde jedoch deutlich verringert. Das hohe Interesse an kurz- und mittelfristigen Prognosen zeigte sich auch in der Inanspruchnahme der Online-Dienste des WIFO. Aufgrund der medialen Aufmerksamkeit besteht in der Öffentlichkeit oft der Eindruck, dass die Wirtschaftsprognosen den Großteil der WIFO-Aktivitäten ausmachen. Tatsächlich beträgt der Anteil der Prognosen an der WIFO-Arbeit nur etwa 5 bis 10 %. Die Finanzkrise 2008 wurde in ihrem vollen Ausmaß von niemandem vorhergesehen. Das WIFO erkannte den starken Einfluss der Haus- und Wohnungs­ preise (Marterbauer – Walterskirchen, 2005). Die Wachstumsunterschiede zwischen den EU-Staaten in den Jahren 1995 bis 2003 gingen in beträchtlichem Maße auf die Entwicklung der Haus- und Wohnungspreise zurück. Es wurde klargesehen, dass der Zusammenbruch der Spekulationsblase  – im Gefolge einer Zinsanhebung  – negative Auswirkungen auf die Konjunktur haben würde. Von einem Platzen der Immobilienblase mit verheerenden Auswirkungen auf die Weltfinanzmärkte war jedoch keine Rede8. In der mittelfristigen WIFO-Prognose der Weltwirtschaft (Schulmeister, 2007) wurde für die Jahre 2007 bis 2011 sogar eine Beschleunigung des weltwirtschaftlichen Wachstums vorhergesagt. Sechs Jahre nach der Finanzkrise konstatierte Kramer einen »Reformbedarf der Nationalökonomie« (Kramer, 2014). Die Ursachen der Finanz- und Wirtschaftskrise seien noch lange nicht restlos geklärt. Hahn (2008) analysierte in den WIFO-Monatsberichten die internationale Finanzkrise und den damit verbundenen Vertrauensverlust in das Bankensystem. Er skizzierte hier die Grundzüge einer Neuorientierung der Bankenaufsicht. Ein besonders heikles Thema waren die Gegengeschäfte für Waffenlieferungen (Euro­fighter). Kramer und Hahn setzten sich damit auseinander. Der Budgetbereich wurde über Jahrzehnte von Lehner abgedeckt, der zuvor im Finanzministe­ rium gearbeitet hatte. Ihm folgten Schratzenstaller für Steuerfragen und Pitlik für öffentliche Ausgaben.

7 Die Berechnungen wurden inspiriert von Steindls Arbeit aus den 1950er-Jahren  : »Wie wirkt die Ausgabe einer zusätzlichen Milliarde Schilling  ?«. 8 Queen Elizabeth II. stellte die legendäre Frage zur Entstehung der Finanzkrise  : »Why did nobody see it coming  ?« Paul Krugman’s Antwort war sinngemäß  : Alles, was wie eine Bank aussieht, muss strikt kontrolliert werden. Aber niemand kannte das ungeheure Ausmaß der unkontrollierten Schattenbanken. Es gab keine Daten.

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Butschek schrieb eine Geschichte der österreichischen Wirtschaft im 20. Jahrhundert (Butschek, 1985). Ein knappes Jahrzehnt davor hatte er sich mit der österreichischen Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit beschäftigt. Butschek konnte sich auf lange Reihen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung stützen (bis 1913 zurück), die Kausel Ende der 1960er-Jahre zusammengestellt hatte. Kausel hat sich – zunächst am WIFO, danach bei Statistik Austria – um die Volkseinkommensrechnung in Österreich in hohem Maße verdient gemacht. Er verehrte den wirtschaftlichen Aufholprozess Österreichs geradezu. Im Jahr 1998 pries er den ökonomischen Aufstieg Österreichs in einer Sondernummer der »Finanznachrichten«  : »Ein halbes Jahrhundert des Erfolges. Der ökonomische Aufstieg Österreichs im OECD-Raum seit 1950.« 4.7.2 Arbeitsmarkt, Einkommen und soziale Sicherheit

Die sozialdemokratische Regierung versuchte, nach den beiden Erdölpreiskrisen die Beschäftigung mit allen Mitteln – vor allem Subventionen und Frühpensionierungen – zu halten. Da diese Maßnahmen sehr teuer waren, interessierte sich die Regierung für den schwedischen Weg. Das WIFO wurde damit beauftragt, die aktive Arbeitsmarktpolitik in Schweden zu untersuchen (Walterskirchen  – Guger – Knöbl, 1991). Die Strategie der Schweden war  : zuerst intensive Vermittlung, dann Umschulung bzw. Weiterbildung und erst zu allerletzt finanzielle Unterstützung der Arbeitslosen. Das schwedische Arbeitsmarktservice stellte klar  : Ein bestimmter Arbeitsplatz kann den Arbeitern nicht garantiert werden, wohl aber ein anderer Arbeitsplatz oder eine Ausbildungsstelle. Rehn, der »Erfinder« der aktiven Arbeitsmarktpolitik, ging zur OECD nach Paris und verbreitete von dort aus seine Ideen. Auf Initiative der schwedischen und finnischen Regierung wurde die Kreisky-Kommission für Beschäftigungsfragen in Europa gegründet. Der WIFO-Experte Walterskirchen wurde von Kreisky zum wissenschaftlichen Koordinator dieser Kommission bestellt. Der Bericht »20 Millionen suchen Arbeit« – der auf Zukunftsinvestitionen, nicht auf Reallohnflexibilität setzte – fand ein beachtliches Echo in den internationalen Medien9.

9 Paavo Lipponen, Mitglied der Kreisky-Kommission und ehemaliger EU-Kommissionspräsident sinngemäß  : Die von der Kreisky-Kommission vorgeschlagenen Zukunftsinvestitionen in Infrastruktur, Technologie, Umwelt und Bildung rücken heute immer mehr in den Blickpunkt der nationalen und europäischen Politik. Die von der OECD seit den 1980er-Jahren vertretene Flexibilität der Löhne und des Arbeitsmarktes hat an Bedeutung verloren.

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Butschek verfolgte nicht nur die Entwicklung der Wirtschaft, sondern auch jene des Arbeitsmarktes historisch immer weiter zurück  : Im Jahr 1992 publizierte er eine umfangreiche Arbeit über die Entwicklung des österreichischen Arbeitsmarktes seit der Industrialisierung (Butschek, 1992). Auf die Migrationsproblematik wies das WIFO schon frühzeitig hin  : »Im Gefolge der Öffnung der Grenzen in Osteuropa setzte in Österreich eine Einwanderungswelle ein, wie sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr verzeichnet worden war. Der Großteil der Ausländer suchte einen Arbeitsplatz und trug somit zu einer stürmischen Steigerung des Arbeitskräfteangebots bei. Obschon die Beschäftigung ebenfalls kräftig zunahm, konnte ein Anstieg der Arbeitslosigkeit nicht verhindert werden« (Biffl, 1990, S. 557). Ein wichtiges Aufgabengebiet des WIFO war die Analyse der langfristigen Tendenzen der Einkommensverteilung (Guger  – Marterbauer, 2005). In einer Studie aus dem Jahr 2005 errechnete das WIFO, dass die Verteilung der Bruttoeinkommen in Österreich nach 1980 deutlich ungleicher wurde. Die bereinigte Lohnquote ging von 72 % Ende der 1970er-Jahre auf 58 % im Jahr 2004 zurück, weil die steigende Arbeitslosigkeit die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften schwächte und die Vermögenseinkommen stark stiegen. Die Lohninflation verlangsamte sich durch zwei Ereignisse  : die Krise in der Verstaatlichten Indus­ trie und die Budgetkonsolidierung, welche den Lohnauftrieb in den betroffenen Wirtschaftszweigen dämpfte (Pollan, 1991). Nach WIFO-Berechnungen hat das Abgabensystem in Österreich kaum umverteilende Wirkung, hingegen begünstigen die Ausgaben des Sozialstaats die unteren Einkommensschichten. Der soziale Schutz ist in Österreich für Normalarbeitsverhältnisse relativ hoch, für Arbeitskräfte mit Werkvertrag, freiem Dienstvertrag, für geringfügig Beschäftigte und neue Selbständige jedoch gering. 4.7.3 Industrieökonomie, Innovation und internationaler Wettbewerb

Das WIFO äußerte sich in den 1980er-Jahren kaum zum heiklen Thema der Privatisierungen. Zwei Jahrzehnte später resümierten Aiginger – Sieber (2009)  : »In den 1990er-Jahren wurden praktisch alle Unternehmen teilweise oder ganz privatisiert, wobei es allen großen Industrieunternehmen gelang, die Firmenzentralen in Österreich zu halten. Heute sind die Nachfolgebetriebe fast ausnahmslos gewinnstarke und internationalisierte Unternehmen«. Aiginger – Sieber bezeichneten die österreichische Industriepolitik als Erfolgsstory  – auf dem Weg von der Investitions- zur Innovationsförderung. Die europäische Wirtschaft konnte trotz der Lissabon-Strategie nur unzureichend von der hohen Dynamik der Weltwirtschaft profitieren. Aiginger nannte

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sieben Bereiche, um den mittelfristigen Wachstumspfad zu heben  : Innovation und Forschung, Bildung, Weiterbildung, Infrastruktur, Arbeitsmarktförderung, Betriebsgründungen und Umwelttechnologien. Die einzelnen Punkte wurden für Österreich im Detail ausgeführt. In der politischen Realität war eine Ausweitung der Zukunftsinvestitionen bei gleichzeitigem Wunsch nach Steuersenkung und Budgetkonsolidierung schwer durchsetzbar. Aiginger setzte sich intensiv mit der Bedeutung des Wettbewerbs für eine Volkswirtschaft auseinander. In einem Vortrag fasste er die Ergebnisse so zusammen  : »Wettbewerb kann die Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit einer Wirtschaft steigern, ihre Dynamik beschleunigen und die Beschäftigung erhöhen … Die OECD schätzt, dass Österreich jährlich auf ein Produktivitätswachstum von 0,4 % verzichtet, weil viele Dienstleistungsmärkte nicht liberalisiert sind« (Aiginger, 2009c, S. 1). Außenhandelsfragen wurden über viele Jahrzehnte von Stankovsky behandelt, der insbesondere ein großes Wissen über Osteuropa aufgebaut hatte. Ihm folgte Wolfmayr, die sich vor allem mit Export- und Standortfragen befasste. Probleme der Weltwirtschaft und des Welthandels wurden hauptsächlich von Schulmeister analysiert. 4.7.4 Strukturwandel und Regionalentwicklung

Im Regionalbereich nahm das Preparity-Projekt eine zentrale Stelle ein. D ­ ieses transnationale Projekt zur Vorbereitung der EU-Erweiterung wurde von der Euro­päischen Union kofinanziert. Die Strukturpolitik und Raumplanung an der mitteleuropäischen EU-Außengrenze war das Leitthema. Das Preparity-Projekt bestand aus mehreren Teilprojekten, eines behandelte beispielsweise die trans­ nationalen Direktinvestitionen und Kooperationen. Am WIFO arbeiteten vor allem Mayerhofer, Palme und Huber an diesem Projekt. Im Rahmen des Preparity-­ Projekts wurden auch die regionalen Arbeitsmarktwirkungen der Ostinte­gration untersucht  : Die Zuwanderung aus den neuen Mitgliedstaaten betraf vor allem die Ostregion Österreichs, in der etwa drei Viertel aller Migranten aus Ostmitteleuropa wohnten. Diese räumliche Konzentration – besonders auf Wien – galt auch für die Pendelwanderungen. Übergangsregelungen im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit wahrten zumindest für mehrere Jahre die Kontrolle über die Zuwanderung (Huber, 2001). Der Tourismusbereich wurde über Jahrzehnte von Smeral betreut, der enge Beziehungen zum »Modul« und zu internationalen Prognosenetzwerken aufgebaut hatte. Puwein betreute das Verkehrsreferat. Er verglich u. a. die Produk­

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tivität der ÖBB mit jener der Schweizer Bahn. Aufgrund seiner Arbeiten wurde er zum ÖBB-Aufsichtsrat gewählt. Seine regelmäßigen Berichte über die Seilbahnen in Österreich schienen damals ein Randthema zu sein. Erst seit der Ischgl-­Affäre wissen wir, welche politische Bedeutung die Seilbahnen in Österreich haben. 4.7.5 Umwelt, Landwirtschaft und Energie

Die ständige Verschlechterung der Umweltsituation löste weltweit ein Überdenken der bisherigen Umweltpolitik aus. Für die OECD wurde »sustainable development« zum wirtschaftspolitischen Ziel. Das WIFO publizierte im Jahr 1990 eine umfangreiche Monografie zum Thema »Umweltabgaben und Steuerreform« (Bayer et al., 1990). Während die Umweltpolitik bisher auf Gebote, Verbote und Auflagen setzte, spielten nun Abgaben und Steuern auf umweltbelastendes Verhalten eine zunehmend wichtige Rolle. Im Jahr 1995 beschäftigte sich das WIFO erneut und vertiefend mit den Auswirkungen einer umweltorientierten Energiebesteuerung (Köppl et al., 1995). Das Thema ist bis heute hochaktuell. Umweltpolitik wurde als Teil einer Wachstumsstrategie verstanden (Köppl et al., 2006), die zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit beitragen und die Innovationskraft der Wirtschaft stärken könne. Dabei verlagerte sich die Umweltdiskussion immer mehr von der nationalen auf die europäische und globale Ebene. Im Forschungsbereich Umwelt, Landwirtschaft und Energie spielten Energieprognosen immer eine wichtige Rolle. Zunächst war Musil dafür zuständig, dann erstellte Kratena im Auftrag des Wirtschaftsministeriums regelmäßig Energieprognosen mit Hilfe eines Input-Output-Modells. Zu den tragenden Säulen des WIFO zählte über Jahrzehnte der Agrarexperte Schneider. Er kannte die österreichische Landwirtschaft wie kaum ein anderer und war deshalb ein geschätzter politischer Ratgeber. Schneider hielt vielbeachtete jährliche Vorträge zur Lage der österreichischen Landwirtschaft. Besonders gefragt war seine Expertise zu den Auswirkungen des EU-Beitritts auf die Landwirtschaft. Als Burgenländer war er rastloser Betreiber des Projekts »Ziel-1-Gebiet Burgenland.« Zu den Folgen der EU-Osterweiterung für die österreichische Landwirtschaft äußerte sich Schneider eher skeptisch  : Die EU-Beitrittskandidaten Ostmitteleuropas seien viel stärker agrarisch geprägt als Westeuropa. Arbeitskräfte und fruchtbarer Boden seien dort reichlich verfügbar und billig. Das ergebe ein hohes agrarisches Potenzial, das noch nicht voll ausgeschöpft sei. Schneider sah die längerfristigen Aussichten der Landwirtschaft mit Sorge. Letztlich komme es aber auf die konkrete Ausgestaltung der Politik an.

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4.8 Wirtschaftsforscher zwischen Theorie, Statistik, Politik und Medien Für Seidel wird Wirtschaftsforschung im Spannungsverhältnis von Empirie, Theo­rie und wirtschaftspolitischer Relevanz betrieben, Die Bedeutung, die diesen drei Eckpunkten im WIFO beigemessen wurde, änderte sich im Laufe der Zeit (Seidel, 2012b, S. 461). Streissler beschrieb – in der Festschrift zum Ausscheiden von Nemschak aus dem WIFO – die Aufgabe der Wirtschaftsforschung so  : »Der Wirtschaftsforscher müsse zum Unterschied von akademischen Ökonomen zu den Daten die Theorie und nicht umgekehrt finden.« Klarer lässt sich die Aufgabe der empirischen Forschung kaum umreißen. Der Wirtschaftsforscher muss eine theoretische Erklärung für seine empirischen Daten finden. Seine Aufgabe ist es nicht, bestimmte Theorien mit Daten zu illustrieren. Seidel sah sich in seiner Funktion als WIFO-Chef in einer doppelten Vermittlerrolle  : nicht nur als Mediator zwischen den Sozialpartnern, sondern auch zwischen internationalen Einflüssen und nationalen wirtschaftspolitischen Positionen. Im Zuge der Globalisierung wurde für Kramer die Vermittlung zwischen übermächtigen internationalen Einflüssen und nationalen Positionen noch vordringlicher und schwieriger. 4.8.1 Medienpräsenz des WIFO

Die Ökonomen am WIFO können schwerpunktmäßig in drei Gruppen untergliedert werden. Die einen haben einen besonderen Hang zu den Hochschulen, die anderen zu politischen Institutionen und wieder andere zu den Medien. Wahrscheinlich ist es für Wirtschaftsforscher von Vorteil, seine »Fühler« in alle diese drei Bereiche auszustrecken. Wirtschaftsforscher mit einer Neigung zur Theorie und zur Lehrtätigkeit an Hochschulen wandern oft dorthin ab oder sie übernehmen Lehraufträge und schreiben Journal-Artikel. WIFO-Mitarbeiter mit einer Affinität zu politischen Institutionen wandern nur gelegentlich in Kammern oder Ministerien ab. Meist sind sie die Verbindungsstellen zu diesen Institutionen und schreiben WIFO-Gutachten in deren Auftrag. WIFO-Mitarbeiter mit einem Naheverhältnis zu Medien bleiben in aller Regel am WIFO und beantworten die unzähligen Anfragen. Immer mehr Wissenschaftler des WIFO waren – in der relativ wenig zensurierten Kramer-Ära – tagtäglich mit Interviews für Zeitungen und den ORF beschäftigt. Das war ein gutes Zeichen für die Praxisnähe und Demokratisierung des Instituts. Die Emanzipation der Mitarbeiter von der Nichtzeichnung ihrer Beiträge in der Pionierzeit des WIFO bis zu weitgehend unkontrollierten Medi-

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enkontakten war ein weiter Weg. Interviews können aber auch lästig und zeitaufwendig sein – insbesondere für jene, die sich mehr zur Theorie hingezogen fühlen. Die meisten Interviewer interessierten sich in dieser Zeit für den Außenhandel und die Oststaaten (Stankovsky), das Budget (Lehner), den Arbeitsmarkt (Geldner und Biffl), die Konjunktur (Walterskirchen und Marterbauer), die Auswirkungen des EU-Beitritts (Breuss), Verteilungsfragen (Guger) sowie die Weltwirtschaft (Schulmeister). Nach der Finanzkrise wurde Hahn, der Experte für das Finanz- und Bankwesen, zu einem der wichtigsten Interviewpartner am WIFO. Wirtschaftspolitik war lange Zeit die Domäne des Leiters gewesen. Wirtschaftspolitische Äußerungen von Mitarbeitern wurden nicht gern gesehen. In den Arbeitsgruppen des Beirats für Wirtschafts- und Sozialfragen konnten jedoch WIFO-Mitarbeiter seit den 1960er-Jahren ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen einbringen. In der Kramer-Ära hatten die WIFO-Mitarbeiter viel Freiraum, ihre private politische Meinung zu äußern. Es gab immer wieder Probleme mit der unscharfen Trennung von Privatmeinung und WIFO-Position. Die Leitung erließ deshalb genaue Vorschriften, um Privatmeinungen von WIFO-Aussagen auseinanderzuhalten. Am WIFO nannte man das »Lex Schulmeister«. 4.8.2 Das WIFO und die Hochschulen

Das WIFO steht in relativ engem Kontakt mit den Hochschulen10. Viele Mitarbeiter halten Lehrveranstaltungen an Universitäten und Fachhochschulen ab, einige davon sind habilitiert und streben eine akademische Karriere an. Andererseits hat das WIFO in der Vergangenheit ausgewählte Universitätsprofessoren als Konsulenten an das Haus gebunden  : z. B. Rothschild, Steindl, Tichy. Zeitweise nahm das Konsulentenwesen am WIFO schon inflationäre Züge an. Theodor Pütz, Professor an der Universität Wien war lange Zeit Vizepräsident des WIFO, ihm folgte Erich Streissler. In den Leitungsperioden von Seidel und Kramer war Streissler häufig und regelmäßig am WIFO. Er interessierte sich für alle WIFO-Belange und hatte prägenden Einfluss auf viele WIFO-Mitarbeiter. Einige junge Wissenschaftler waren seine Studenten, die er dem WIFO empfohlen hatte. Besonders beliebt waren seine alljährlichen »Verrisse« der Gutachten des Deutschen Sachverständigenrates. In späteren Jahren neigte Streissler zu 10 Der Kontakt ist aber nicht so eng wie in Deutschland. Das ifo Institut in München ist z. B. Teil des Hochschulbetriebs. Institutschefs in Deutschland erhalten gleichzeitig eine Professur an der Hochschule.

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überspitzten medialen Äußerungen. So prognostizierte er einmal, dass nach der Weltfinanzkrise ein großer Aufschwung erst 2045 kommen werde. Realistischer war da schon seine Feststellung  : »Heute sind die internationalen Finanzmärkte die erste Weltmacht, noch mächtiger als die USA.« Mit seiner fundierten Kritik an der Abwicklung der Deutschen Wiedervereinigung ist Streissler heute noch vielen in Erinnerung. Kramer merkte in einem rezenten »Standard«-Interview (Sator, 2017) an, dass sich die Universität Wien leider auf eine theoretische Position zurückgezogen habe und keine praxisorientierte Forschung mehr betreibe – wie das unter Erich Streissler und Georg Winckler noch der Fall war. Kramer bedauerte den Abgang Georg Wincklers von der Forschung in die Verwaltungstätigkeit eines Universitätsrektors. An der Wirtschaftsuniversität wurde die Praxisorientierung durch die Präsenz von Nowotny, an der Universität Linz durch Rothschild und an der Universität Graz durch Tichy gesichert. Ende 2004 berief das WIFO 15 internationale Forscher in den Wissenschaftlichen Beirat. Dazu zählten u. a. die Professoren Alesina, Boeri und Bofinger. Dadurch sollte das WIFO stärker in die »International Scientific Community« eingebunden werden. Diese Forscher nahmen insbesondere Stellung zum Arbeitsprogramm des WIFO. Gleichzeitig mit der Intensivierung der Kontakte zu den Universitäten wurde die Beziehung der WIFO-Mitarbeiter zu den sozialpartnerschaftlichen Trägern des Instituts weit weniger eng. Studien des Beirats für Wirtschafts- und Sozialfragen, an denen WIFO-Mitarbeiter oft federführend beteiligt waren, verloren schon seit den 1980er-Jahren an Bedeutung. Früher fanden sich in den »Wirtschaftspolitischen Blättern« der Wirtschaftskammer und in der Zeitschrift »Wirtschaft und Gesellschaft« der Arbeiterkammer regelmäßig Artikel von WIFO-Mitarbeitern, im Laufe der Jahre wurden sie immer seltener. 4.8.3 Heimische Konkurrenz in der Wirtschaftsforschung

Das WIFO hat eine besondere Stellung unter den Wirtschaftsforschungsinstituten. Der frühere Chef der Wirtschaftskammer, Christoph Leitl, der gleichzeitig Präsident des WIFO war, bezeichnete das Institut einmal als das »wirtschaftspolitische Gewissen« des Landes. In der EU-Prognosesitzung in Brüssel präsentierte das WIFO beispielsweise die Prognose für Österreich. In allen anderen Ländern war das die Aufgabe eines Ministeriums. Das war aber keine neue Entwicklung. Schon Seidel fuhr als WIFO-Chef zu den Sitzungen der »Working Party One« der OECD. Das Neue war, dass jetzt Gelder von der EU-Kommission oder auch aus Deutschland für WIFO-Gutachten gezahlt wurden.

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Das Institut für Höhere Studien (IHS) ist das zweite große Wirtschaftsforschungsinstitut in Österreich. Das WIFO und das IHS präsentieren ihre Konjunkturprognosen jedes Quartal gemeinsam der Öffentlichkeit. Während der schwarz-blauen Koalition hatte das IHS wegen der guten persönlichen Beziehungen zwischen Finanzminister Grasser und IHS-Chef Felderer eine besondere Stellung. Das WIFO galt damals als »keynesianisch-linkslastig«. Felderer wurde 2006 Mitglied und danach Präsident des Österreichischen Staatsschuldenausschusses. Das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) war zunächst unter der Leitung von Łaski und Levčik auf Osteuropastudien beschränkt. Mit der Wende 1989 kam es zu einer Ausweitung der Aktivitäten. Das wiiw wurde unter der Leitung von Michael Landesmann zu einem internationalen Thinktank ausgebaut. Es beschäftigte sich nur am Rande mit der österreichischen Wirtschaft und stellte diesbezüglich kaum Konkurrenz für das WIFO dar. Kramer wurde einmal gefragt (Sator, 2017), was er von den vielen neuen klei­nen Wirtschaftsforschungsinstituten (Agenda Austria, EcoAustria usw.) in Öster­reich halte. Er antwortete diplomatisch  : Es arbeiten dort viele qualifizierte Ökonomen. Aber diese Institute würden alle von der einen oder anderen Institution finanziert, deren Interessen sie als Lobbyisten vertreten müssen. Der Vorteil des WIFO besteht darin, dass es keine Partikularinteressen vertritt. Der Vorstand garantiert die Unabhängigkeit des WIFO, die Finanzierung ist relativ breit gestreut (Finanzministerium, Nationalbank, Sozialpartner usw.). Die Unabhängigkeit des WIFO ist in den Statuten verankert. Die kleinen Institute sind Think­ tanks von Pressure-Groups. Sie sind den großen Instituten bezüglich Politiknähe und Marketing manchmal überlegen. Ihre internationalen Aktivitäten und ihre Kontakte zu den Universitäten bleiben jedoch beschränkt. Zusammenfassend können wir also feststellen  : Das WIFO entwickelte sich in der Kramer-Ära von einem nationalen Konjunkturforschungsinstitut in Richtung auf einen internationalen Thinktank hin. Es begleitete die Ostöffnung und den EU-Beitritt Österreichs mit seinen Analysen und Modellrechnungen. Das WIFO hat zwar in den zehn Jahren nach dem EU-Beitritt noch keinen Lead in einem EU-Großauftrag übernommen, aber viele WIFO-Mitarbeiter konnten sich in der zunehmenden Zahl von internationalen Forschungsgemeinschaften und Meetings so gut präsentieren, dass das WIFO seinen internationalen Ruf festigte und damit die Weichen für die weitere Internationalisierung stellte.

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5. Die Ära Aiginger 2005 bis 2016  : Internationalisierung durch Großprojekte Karl Aiginger © eric krügl

Als Nachfolger von Helmut Kramer beauftragte der Vorstand des Instituts – der Empfehlung einer internationalen Auswahlkommission folgend – Karl Aiginger mit der Leitung des WIFO ab 1. März 2005. Aiginger war der erste Leiter mit formaler volkswirtschaftlicher Ausbildung1. Er hatte von 1966 bis 1974 an der Universität Wien und 1978 an der Purdue University (Indiana, USA) studiert. Am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung war er ab 1970 beschäftigt und trug als Sachbearbeiter wesentlich zum Ausbau des Industriereferats und zur Entwicklung einer innovationsorientierten Wirtschaftspolitik bei (Volk, 1982). Sein Interesse an Wettbewerbsfragen ging über die eher praxisorientierte Arbeit am WIFO hinaus und führte zu Publikationen in wissenschaftlichen Journalen (siehe z. B. Aiginger, 1997  ; 1998  ; 2006)  ; so arbeitete er etwa heraus, dass Wettbe­ 1 Bis Mitte der 1960er-Jahre konnte man – wie erwähnt – in Österreich Volkswirtschaftslehre nicht studieren.

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werbsfähigkeit keineswegs nur Kosteneffizienz erfordere, sondern in Ländern wie Österreich vor allem einen Qualitätsvorsprung durch Innovationen. Seine Expertise trug dazu bei, dass das WIFO ab 1996 an der Erarbeitung der Wettbewerbsberichte der EU (Competitiveness Report) führend beteiligt war. Seine Konzentration auf europäische wirtschaftspolitische Strategien, auf das Europäische Wirtschafts- und Sozialmodell sowie auf Umweltfragen sah er als Mission. Unmittelbar nach seiner Bestellung als Leiter präsentierte Aiginger im Märzheft der Monatsberichte seine Strategie in Form eines Editorials  : »Unser Ziel ist es, die Qualitätsführerschaft des WIFO in der wissenschaftlichen Analyse und Politikberatung in Österreich in den kommenden Jahren auszubauen. In fünf bis zehn Themenbereichen wollen wir das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung zu einem europaweit anerkannten Kompetenzpartner machen  : Die Tätigkeit des WIFO soll in diesen Forschungsgebieten international bekannt sein, und das WIFO soll als Netzwerkpartner und in einigen Projekten als Lead (Projektleiter) an internationalen Projekten beteiligt sein. … Wir wollen dazu beitragen, wirtschaftspolitische Entscheidungen abseits kurzfristiger politischer Interessen wissenschaftlich zu fundieren und an langfristigen Zielen zu orientieren. Die traditionell kritisch-konstruktive Grundhaltung des WIFO sowie der Einsatz der jeweils relevanten Methoden und Daten sichern die Unabhängigkeit und Objektivität der Analysen und Empfehlungen. Die Stärke des WIFO liegt in der hohen Qualifikation seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter« (Aiginger, 2005a, S. 136). 2012, im achten Jahr seiner Leitung, anlässlich der Feier »85 Jahre WIFO«, resümierte er selbstbewusst  : »Das WIFO entwickelte sich von einem ›Kronzeugen‹ der österreichischen Wirtschaftsentwicklung zu einem ›Kompass‹ der österreichischen Wirtschaftspolitik. In der Zukunft soll es zu einem ›Kompetenzzentrum‹ für ein dynamisches, sozial ausgewogenes und ökologisch nachhaltiges europäisches Wirtschaftsmodell werden« (Aiginger, 2012, S. 509).

5.1 Die nicht realisierbare Anhebung des Wachstumspfads Aiginger trat sein Amt problem- und sendungsbewusst an  : »Die Volkswirtschaf­ ten Europas durchlaufen eine spannende Phase mit entscheidenden Herausforderungen an die Wirtschaftspolitik  : Das Wachstum ist historisch gesehen und im Vergleich mit den USA und einigen asiatischen Ländern gering, die Erfüllung ökologischer Ziele nicht gesichert, die Abdeckung der Risiken durch einen modernen und effizienten Sozialstaat bedarf umfangreicher Reformen.

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Die nicht realisierbare Anhebung des Wachstumspfads 

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Als neuer Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung sehe ich es als Aufgabe des WIFO, die österreichische Wirtschaftspolitik und die europäische Diskussion durch fundierte, objektive Analysen zu unterstützen« (Aiginger, 2005a, S.  135). »Wichtigstes Ziel der Wirtschaftspolitik ist es, den Wachstumspfad der österreichischen Wirtschaft anzuheben. Wir erleben in den letzten Jahren sowohl in Österreich als auch in Europa ein unbefriedigendes Wachstum. Es reicht, um die Beschäftigung zu steigern, nicht aber um die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Das macht es schwierig, die öffentlichen Haushalte ins Gleichgewicht zu bringen und das Sozial-, Pensions- und Gesundheitssystem zu finanzieren. Eine Umschichtung der öffentlichen Mittel zu wachstumswirksamen Ausgaben ist nötig, die Investitionen in Forschung, Ausbildung, Weiterbildung und in die Infrastruktur müssen forciert werden, um gemeinsam mit einer umsichtigen Makropolitik das Wachstum zu erhöhen. Eine Parallelstrategie auf europäischer Ebene würde den österreichischen Zielen hilfreich sein« (Aiginger, 2005a, S. 137). Zunächst erfüllte sich Aigingers Wunsch nach beschleunigtem Wachstum  : 2006 wie 2007 erhöhte es sich auf 3½  %, und noch im Dezember 2007 analysierten die Monatsberichte  : »Anhaltend gute Industriekonjunktur, starker Preis­ auftrieb bremst Konsum« (Marterbauer, 2007, S. 911). Doch bereits im darauffolgenden Monat wurde für 2008 und 2009 eine Verlangsamung des Wachstums prognostiziert (Marterbauer, 2008a), und das Augustheft 2008 musste das Ende des Konjunkturaufschwungs ankündigen  : Das BIP wäre im II. Quartal, bereinigt um Arbeitstags- und Saisoneffekte, real nur noch um 0,4 % gewachsen (Marterbauer, 2008b, S.  555). Der konjunkturellen Abschwächung folgte im Weiteren eine Serie anhaltender, einander überlappender Krisen, die Aigingers Strategie, den Wachstumspfad anzuheben und die öffentlichen Haushalte ins Gleichgewicht zu bringen, massiv entgegenwirkten. Nach der Lehman-Pleite vom September 2008 sahen die Monatsberichte Österreich »Auf dem Weg in die Rezession« (Walterskirchen, 2008, S.  899). Die Finanzkrise hatte die Realwirtschaft, wenn auch in Stufen, so doch unerwartet heftig getroffen (Aiginger, 2009b). Auf die Blase des amerikanischen (Subprime-)Immobilienmarkts, die durch destabilisierende Finanzinnovationen und Deregulierung ausgelöst und verstärkt worden war, folgte, davon zunächst unabhängig, die südeuropäische Überschuldungskrise, die europäische Bankenkrise, ausgelöst durch Refinanzierungsprobleme im Gefolge des Zusammenbruchs des amerikanischen Geldmarkts, und die südeuropäische Staatsinsolvenz-Kreditkrise (Tichy, 2020, S.  203). Das BIP sank als Folge dieser einander überlappenden Krisen 2009 um 3¾ %, und zeigte in den folgenden Jahren keine Tendenz, den Verlust aufzuholen (Tichy, 2019a,

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S. 48)  ; das BIP blieb bis zuletzt weit unter der Entwicklung, die eine Fortsetzung des Trends der Kramer-Ära impliziert hätte (siehe Abbildung 3)2.

Abbildung 3  : Entwicklung des realen BIP Quelle  : Eigene Berechnung basierend auf WIFO-Datenbank. Das Wachstum in der Ära Aiginger war schwächer, weil die Finanzkrise nicht nur den Einmaleffekt eines Niveauverlusts hatte, sondern den Pfad auch längerfristig dämpfte. Ohne Finanzkrise und bei Fortsetzung des Wachstumstrends der Ära Kramer wäre das BIP 2017, am Ende der Ära Aiginger, um fast ein Zehntel höher gewesen.

Die heimischen Aspekte der Finanzkrise als solche beschäftigten das WIFO damals allerdings relativ wenig  ; es problematisierte eher die konjunkturellen Folgen der amerikanischen Rezession (Scheiblecker, 2008  ; Ederer et al., 2008). Url (2009) sah makroökonomische, regulierungs-/aufsichtsbezogene und anreiz-/kontrollbezogene Ursachen der internationalen Krise und schlug wie Hahn (2008  ; 2009) vor, den bestehenden (internationalen sowie nationalen) Regulierungsrahmen durch leistungsfähige makroorientierte Kontroll- und Steuerungselemente zu verstärken. Aiginger (2009a) überlegte, wie die nationalen Wirtschaftsstrukturen schockresilienter gemacht werden könnten. Erhebliche Aufmerksamkeit widmete 2 Die Wachstumsschwäche in der Aiginger-Ära war ein gesamteuropäisches Problem  : Die österreichische Wachstumsrate von kumulativ 10 % entsprach der des Euroraums, lag allerdings unter jener der EU27 (13 %) oder jener Deutschlands (19 %).

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Die nicht realisierbare Anhebung des Wachstumspfads 

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das Institut hingegen dem heimischen Budgetdefizit  : »Die aktuelle Krise schafft für die Budgetpolitik die schwierigsten gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen seit dem Zweiten Weltkrieg. Das Maastricht-Defizit und die Schuldenquote überschreiten zwischen 2009 und 2013 deutlich die Maastricht-Grenzen. Das strukturelle (konjunkturbereinigte) Defizit steigt ebenfalls, da neben den konjunkturbedingten Mehrausgaben und Mindereinnahmen weitere einnahmenund ausgabenseitige Maßnahmen gesetzt wurden« (Schratzenstaller, 2009, S. 583). Das Institut akzeptierte die Strategie der Regierung, das Maastricht-Defizit bis 2013 auf 2,7 % des BIP zu senken  ; mittelfristig wäre das erforderlich, um wieder budget- und wirtschaftspolitischen Handlungsspielraum zu gewinnen und um mögliche unerwünschte Verteilungswirkungen der Staatsverschuldung zu vermeiden. Erfolgsbedingung einer wachstums- und beschäftigungsneutralen Konsolidierungsstrategie wäre jedoch eine begleitende »Aktivkomponente« in Form forcierter wachstumswirksamer Ausgaben (Aiginger  – Pitlik  – Schratzenstaller, 2010, S. 219  ; Aiginger – Schratzenstaller, 2010, S. 943). Die Konsolidierung des Budgets sollte primär ausgabenseitig erfolgen, vor allem in den Bereichen Verwaltung, direkte Unternehmensförderungen, Gesundheitswesen und Pensionssystem (Pitlik – Budimir – Gruber, 2010  ; Pitlik – Gruber – Walterskirchen, 2010). Einnahmenseitig käme die Erhöhung spezieller Verbrauchsteuern, die Intensivierung der Vermögensbesteuerung, der Abbau steuerlicher Ausnahmen mit nicht erwünschten wirtschaftspolitischen Effekten sowie die Privatisierung ausgewählter Unternehmensbeteiligungen der öffentlichen Hand in Frage (Böheim et al., 2010). Tichy (2019b  ; 2019c) wies allerdings darauf hin, dass die Budgetdefizite Folge (zu) hoher heimischer Ersparnisbildung seien, die die Investitions- und Verschuldungsbereitschaft der Privaten übersteigt  ; die Budgetdefizite seien daher nachfragepolitisch erforderlich, solange die Spar-/Investitionsdiskrepanz anhält. Die unvermeidliche Beschäftigung von Öffentlichkeit, Politik und Wirtschaftsforschung mit der Finanzkrise und ihren Folgen dämpfte das Interesse an Aigingers weitreichenden Reformstrategien. Demgemäß betonte das Institut nachdrücklich die Bedeutung von Innovationspolitik (Janger  – Reinstaller, 2009), Forschungspolitik (Falk, 2009  ; Mayer – Fischl – Streicher, 2009  ; Mayer et al., 2009) sowie von Energie- und Umweltpolitik (Kratena – Meyer  – Wüger, 2009  ; Kletzan-Slamanig  – Köppl, 2009  ; Kletzan-Slamanig et al., 2009). Als 2011 die Freizügigkeit der Arbeitskräfte3 aus den acht neuen 3 Als Folge der Angst vor einer »Flutwelle« billiger Arbeitskräfte aus den neuen Mitgliedstaaten führte die EU, nicht zuletzt auf österreichischen Druck, »Übergangsregelungen« ein, die es den Mitgliedstaaten ermöglichten, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer aus den neuen Mitgliedstaa-

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EU-Ländern4 Politik und Öffentlichkeit ängstigte, beruhigte das WIFO  : Die Auswirkungen auf die Arbeitslosigkeit wären insgesamt eher gering, nur in einzelnen Teilbereichen des Arbeitsmarkts könnte es zu einer Verdrängung inländischer Arbeitskräfte kommen (Huber – Böhs, 2012). Die Arbeitslosen­ quote stieg dennoch, da die Krise der Europäischen Währungsunion die weltweite Wachstumsdynamik dämpfte (Schulmeister, 2012) und die südeuropäische Staatsschuldenkrise auch die (österreichische) Realwirtschaft erfasste (Scheiblecker, 2012). Das Wachstum war unbefriedigend (Abbildung 3) und instabil, und die nächsten beiden Krisen, die Flüchtlingskrise (2015/16) und die COVID-19-Pandemie (2019), standen vor der Tür  ; sie betrafen allerdings nicht mehr die Ära Aiginger. Angetreten, den Wachstumspfad der österreichischen Wirtschaft anzuheben und die Strukturen zu modernisieren, musste das WIFO unter Aiginger die österreichische Wirtschaftspolitik beim Krisenmanagement unterstützen. Die großen Strukturreformen blieben aus, und die Wirtschaft wuchs, trotz der guten Konjunktur zu Beginn, in der krisengeschüttelten Ära Aiginger deutlich langsamer als in der Ära Kramer  ; die Arbeitslosenquote stieg von 7,3 % der Unselbständigen zu Beginn auf 9,1 % am Ende. Wie die folgenden Abschnitte zeigen, erarbeitete das Institut zwar umfangreiche wirtschaftspolitische Konzeptionen für die EU sowie für Österreich, doch gingen diese im Trubel der Krisen weitgehend unter und wurden bestenfalls ansatzweise umgesetzt.

5.2 Expansion und zunehmende Internationalisierung des Instituts Die Periode der nahezu unangefochtenen Monopolsituation des WIFO, die schon in der Ära Kramer bedroht war, fand in der Ära Aiginger ihr endgültiges Ende. Auch die primär nationale Finanzierung tendierte unsicherer zu werden  : Die Beiträge der institutionellen Mitglieder flossen spärlicher, Industriellenvereinigung und Raiffeisen reduzierten 2009 ihre Beiträge wegen behaupteter Linkslastigkeit des Instituts. Die Einnahmen aus international akquirierten Aufträgen konnten hingegen gesteigert werden (Aiginger, 2005b, S. 420). Allerdings gelang es Aiginger, Mittel für die Sanierung des Institutsgebäudes zu akquirieren  : 2014 konnte das Haus, das seit der Errichtung im Jahr 1969 in nahezu unveränderter ten für einen Zeitraum von bis zu sieben Jahren einzuschränken. Anders als etwa Großbritannien nutzte Österreich diese Frist voll aus. 4 Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Slowenien und Ungarn.

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Expansion und zunehmende Internationalisierung des Instituts 

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technischer Ausstattung genutzt wurde, den Zubau (Speisesaal und Seminarsaal) aufstocken und das Hauptgebäude umfassend thermisch-energetisch sanieren5. Die Monopolposition des Instituts erodierte in dieser Periode infolge zunehmender Konkurrenz. Das Institut für Höhere Studien, das 1963 primär als Ausbildungsstätte gegründet worden war, widmete sich aus finanziellen und Image-Gründen zunehmend der Wirtschaftsforschung und konkurrierte das WIFO ab dem Ende der 1960er-Jahre auch im Bereich der Konjunkturanalyse und -prognose. Die Nationalbank, verschiedene Ministerien, die Kammern und große Banken hatten eigene volkswirtschaftliche Abteilungen aufgebaut6. Das von Nemschak gegründete Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (siehe Abschnitt 2.7) widmete sich nach dem Zusammenbruch des Ostblocks zunehmend breiteren Themen, und weitere Wirtschaftsforschungsinstitute wurden gegründet  : Economica (2005), EcoAustria (2011) und Agenda Austria (2013), die mit tendenziell liberaler Ausrichtung Industrieinteressen nahestehen, sowie das eher linksgerichtete momentum (2019). Auf die zunehmende fachliche sowie finanzielle Konkurrenz antwortete das WIFO einerseits mit einer Ausweitung und Vertiefung seiner Analysen, andererseits mit einer Strategie der Internationalisierung  : Damit forcierte Aiginger eine Entwicklung, die schon unter Kramer eingeleitet worden war  : »Internationalität  : von einer Notwendigkeit zu einem definierenden Strategieziel« (Aiginger, 2012, S. 505). Bereits seit der Mitte der 1960er-Jahre hatten die Arbeitsmarktreferenten des WIFO an den verschiedenen Jahrgängen des SOPEMI Report on Labour Migration mitgewirkt. Die Baureferentin des WIFO hatte seit 1995 die österreichischen Beiträge für die Euroconstruct-Prognose geliefert. Das Industrieteam (zunächst Aiginger, dann Peneder u. a.) lieferte seit 1997 Jahr für Jahr analytische Grundlagen für den Competitiveness Report der Europäischen Union, und 2004 gelang es, den Lead im diesbezüglichen internationalen Konsortium zu erlangen. Aiginger setzte die Internationalisierung verstärkt fort. Das Institut konnte nicht nur einen Auftrag der EU erhalten, im Rahmen des internationalen Netzwerks »Euroframe«7 5 Die Gesamtsanierung umfasste neben der umfassenden thermischen Sanierung des viergeschoßigen Gebäudes den Einbau einer Lüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung sowie die Optimierung von Heizungsanlage und Beleuchtung. Darüber hinaus wurde auf den Dächern eine Photovoltaikanlage installiert. 6 Sie lieferten nicht bloß konkurrierende Konjunktur- und Wirtschaftsanalysen, sondern entwickelten auch Analyseinstrumente  : so etwa ein Wirtschaftsbarometer (WKÖ und Industriellenvereinigung) oder einen Einkaufsmanager-Index (Bank Austria). 7 Das EUROFRAME – European Forecasting Network – vereint zehn renommierte Wirtschaftsforschungs- und Prognoseinstitute Europas.

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halbjährlich einen Bericht über die wirtschaftliche Lage im Euroraum zu erstellen, sondern auch einen Auftrag, an der deutschen Gemeinschaftsprognose mitzuwirken. 2012 gewann das WIFO die EU-Ausschreibung für das Projekt WWWforEurope (siehe dazu Abschnitt 5.4). Eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg der Internationalisierung waren die Bemühungen um eine »Verwissenschaftlichung« des Instituts. Aiginger hatte erkannt, dass die internationale Anerkennung von Wissenschaftlern in zunehmendem Maße von ihren Publikationen in referierten wissenschaftlichen Journalen abhängt. Er bemühte sich selbst um solche Publikationen und drängte seine Mitarbeiter dazu, jährlich eine Arbeit in einem internationalen Journal zu publizieren (siehe dazu Abschnitt 5.3). Er selbst gründete das »Journal of Industry, Competition and Trade« (JICT) und schaffte es 2014, die Monatsberichtsaufsätze in der ECONLIT-Datenbank zu platzieren.

5.3 Die »Verwissenschaftlichung« der Mitarbeiter Die zunehmende Zahl nationaler sowie internationaler Aufträge und die Groß­­ projekte bedingten eine rasche Ausweitung des Personalstands. Formal nahm die Zahl der wissenschaftlichen Mitarbeiter in der Ära Aiginger um 15 (von 49 auf 64) zu, die der wissenschaftlichen Assistenten (-1) und der Mitarbeiter im Dienstleistungsbereich (+1) blieb nahezu unverändert8  ; die Zahl der Konsulenten erhöhte sich von 11 auf 26. Von den Wissenschaftlern waren allerdings drei bloß teilzeitbeschäftigt (neben ihrer Fulltime-Professur), andererseits waren, vor allem bei den Großprojekten, zahlreiche Studenten, Diplomanden und Dissertanten eingesetzt, die in den obigen Zahlen nicht enthalten sind. Insofern nutzte Aiginger seine Gastprofessur an der Wirtschaftsuniversität und seine Honorarprofessur an der Universität Linz zur Personalakquisition und zur Nutzung von Studentenarbeit (Master-, Diplomarbeiten und Dissertationen) für das Institut. Die Bemühungen um eine stärkere wissenschaftliche Basis zeigten sich einerseits in der stärkeren Hochschulbindung der Mitarbeiter, andererseits in der rasch zunehmenden Zahl von Publikationen in wissenschaftlichen Journalen. Trotz seines Drängens auf »wissenschaftliche« Publikationen betonte Aiginger (2012, S. 500) allerdings, dass »reine Theorie« keinen Platz in der Wirtschaftsforschung habe9. 8 Die etwa gleichbleibende Zahl der wissenschaftlichen Assistenten bei kräftiger Zunahme der Wissenschaftler wurde durch die Digitalisierung ermöglicht. 9 »…  jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter soll alle drei Interessen mitbringen  : Theoriekennt-

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Die »Verwissenschaftlichung« der Mitarbeiter 

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Die zunehmende Hochschulbindung des Instituts lässt sich daran erkennen, dass von Aigingers Mitarbeitern sieben Vollbeschäftigte habilitiert waren und einer eine Vollprofessur innehatte  ; drei hauptberufliche Universitätsprofessoren unterstützten die Institutstätigkeit als Teilzeitbeschäftigte oder Konsulenten. Die Publikationen in internationalen referierten Journalen nahmen von sechs pro Jahr zu Beginn der Ära Aiginger auf 15 bis 20 in den folgenden Jahren zu10  ; nicht bloß relativ zu den etwa 60 Monatsberichtsaufsätzen ist das eine beachtliche Leistung. Dazu kommt noch eine erhebliche Zahl von Buchbeiträgen und Aufsätzen in nationalen und Fachzeitschriften11. Berücksichtigt man weiters, dass die nationalen und internationalen Aufträge und Gutachten in dieser Periode zugenommen haben, dürfte sich auch die Produktivität der Mitarbeiter erhöht haben. Aus Verwissenschaftlichung und Internationalisierung folgte einerseits eine Tendenz zur Teamarbeit  : Etwa die Hälfte der Monatsberichtsaufsätze (ohne die monatliche Konjunkturanalyse) und fast alle Aufsätze in internationalen Journalen wurden von zwei oder mehr Autoren verfasst. Andererseits wendeten sich die Publikationen zunehmend weniger an »die Wirtschaftspolitik und die breite Öffentlichkeit«, was für Nemschak zentral und für Seidel wichtig gewesen war12  ; sie sprachen vielfach primär Experten an, und selbst die Lektüre der Monatsberichte erforderte häufig Fachkenntnisse. Das Bemühen um »Verwissenschaftlichung« verstärkte den schon unter Kramer einsetzenden Rückgang der Teilnahme an der breiteren wirtschaftspolitischen Diskussion in nationalen Fachzeitschriften (siehe Abschnitt 4.8.2).

nis, empirisches Forschungsinteresse und Streben nach wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen. Evidenzbasierte Politikberatung ist das Ziel. Die Anforderung der ›Dreifachbegabung‹ an jeden Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin ist anspruchsvoll. Die Kombination wird auch an den Universitäten nicht gelehrt und muss in der Regel durch zusätzliche Ausbildung sowie Eigeninteresse und Learning by Doing erarbeitet werden« (Aiginger, 2012, S. 500). 10 Die Zahlen – obwohl auf einer Zählung beruhend – sollten nur als Indizien angesehen werden  : Einerseits, weil die Qualifikation »referiertes internationales Journal« früher weniger klar war als heute, andererseits weil die zeitliche Zuordnung der Publikationen problematisch ist, da es bei den meisten Journalen von der Einreichung bis zur Publikation relativ lang dauert, daher unklar ist, wann der Artikel verfasst wurde. Aiginger selbst hatte vor seiner Berufung zum Leiter etwa eineinhalb Dutzend Arbeiten in referierten Journalen publiziert. 11 Letztere sind für ein Wirtschaftsforschungsinstitut insofern wichtig, als sich gerade dort die nationale wirtschaftspolitische Diskussion abspielt(e), und das WIFO dort seine Vorschläge verbreiten konnte. 12 Jede Institutspublikation wurde damals zuerst von Hans Seidel, später von seinem Bruder Otto, redigiert, und jeder Mitarbeiter erhielt damals ein Buch »Sag’ es treffender« zur Verbesserung seines Stils.

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Die Organisation der flachen Hierarchie – fünf Forschungsbereiche statt Abteilungen und Rotation der (stellvertretenden) Führungspositionen  – behielt Aiginger trotz der breiteren und stärker diversifizierten Personalstruktur bei. Stärker als der späte Kramer bemühte er sich um persönliche Kontakte zu den Mitarbeitern und um Teamgeist  : Ein gemeinsames Bier nach Dienstschluss war keine Seltenheit, und das Freitagnachmittag-Fußballspielen (zuerst im Überschwemmungsgebiet) jahrelange Tradition. Die seit Kramer gelebte Meinungsvielfalt im Institut akzeptierte Aiginger und sah sie als sinnvoll an  : »Im Sinne der Bildung einer Institutsmeinung wird versucht, in Bereichen mit Unsicherheit oder unterschiedlichen Lehrmeinungen zusätzlichen Aufwand für Forschung und Kommunikation zu tätigen. Forschungsergebnisse werden in einem internen  – und oft auch externen  – Gutachterprozess überprüft  ; dabei kommen nach Möglichkeit Persönlichkeiten zum Zug, die dem Ergebnis wahrscheinlich kritisch gegenüberstehen. Das Ergebnis von Forschung und Begutachtung wird dann – mit einem gewissen Spielraum – von allen Mitarbeitern vertreten. Wenn ein Mitarbeiter dennoch eine sehr unterschiedliche Meinung hat und auch nach Kommunikation mit den Studienautoren oder den Gutachtern nicht überzeugt werden kann, wird diese Meinung nicht als WIFO-Meinung publiziert, kann aber in Vorträgen oder Interviews als Privatmeinung dargelegt werden. Diese Vorgangsweise ist liberaler als in anderen Wirtschaftsforschungsinstituten, die Medienarbeit ist auch weniger auf die Leitung konzentriert, in der Regel präsentieren die Mitarbeiter ihre Ergebnisse selbst und beantworten Medienanfragen selbständig, wobei allerdings auf andere Forschungsergebnisse im WIFO und in der Literatur Rücksicht zu nehmen ist. Interessanterweise kommt selbst aus den Medien oft Kritik an der liberalen Vorgangsweise, sie wollen nicht Vielfalt, sondern eine klare, einfache ›WIFO-Position‹ (Aiginger, 2012, S. 501 f.).

5.4 Die Aushängeschilder der Ära Aiginger  : Nationale und internationale Großprojekte Nicht nur wegen der Probleme und der Unsicherheit primär nationaler Finanzierung sowie zunehmender Konkurrenz forcierte Aiginger die Sichtbarkeit des Instituts und setzte auf eine Strategie der Internationalisierung und auffälliger Großprojekte  ; er versuchte damit zugleich, seine Ziele umzusetzen, »die Qualitätsführerschaft des WIFO in der wissenschaftlichen Analyse und Politikberatung  … auszubauen« und »die österreichische Wirtschaftspolitik und die

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europäische Diskussion durch fundierte, objektive Analysen zu unterstützen« (Aiginger, 2005a, S. 137). Unmittelbar nach seiner Bestellung zum Leiter schlug Aiginger vor, im Rahmen eines Weißbuchs über Wachstum und Beschäftigung eine konsistente Strategie für die österreichische Wirtschaft zu entwerfen, die sich an den Erfahrungen erfolgreicher europäischer Länder orientiert. Die Sozialpartner griffen diese Idee auf und erteilten dem WIFO einen entsprechenden Auftrag, der von der Oesterreichischen Nationalbank sowie von anderen Institutionen und Unternehmen finanziell unterstützt wurde. Das Weißbuch  : »Mehr Beschäftigung durch Wachstum auf Basis von Innovation und Qualifikation« hatte eine Arbeit von Aiginger (2005c) über »Strategien zur Steigerung von Wachstum und Beschäftigung in Österreich« als Vorläufer  ; dieser lag wiederum ein Ersuchen der österreichischen Bundesregierung zugrunde, für den Regierungsgipfel im Mai 2005 Maßnahmen zur Hebung des Wachstums in Österreich vorzuschlagen. Das Weißbuch selbst (Aiginger – Tichy – Walterskirchen, 2006) basiert auf 22 Teilstudien und empfiehlt eine Dreiphasenstrategie  : Eine Kick-off-Phase (2007/08), in der die Verfestigung der Arbeitslosigkeit durchbrochen werden sollte, eine Reformphase (2009 bis 2015), in der die Positionierung Österreichs im höchsten Qualitätssegment von Waren und Dienstleistungen erreicht werden sollte, und eine High-TechPhase (etwa ab 2015) mit dem Ziel, die Erwerbsquote (und die Immigration von qualifizierten Arbeitskräften) mit zusätzlichen Maßnahmen zu erhöhen  ; technischer Fortschritt und Qualifikationsverbesserungen wären in dieser Phase die wichtigsten Quellen des Wachstums. Österreich müsse im oberen Segment der mittleren Technologiestufe und in der Hochtechnologie positioniert sein. Dazu entwarf das Weißbuch elf Strategielinien zur Steigerung von Wachstum und Beschäftigung. Jede besteht aus zahlreichen Einzelinstrumenten  : Innovation, Aus- und Weiterbildung sowie Ausbau der Infrastruktur zur Erhöhung des mittelfristigen Wachstumspfads, kurzfristig über Nachfrage-, langfristig über Angebotseffekte und technischen Fortschritt. Ausgewogene Flexibilisierung und neue Wettbewerbsgesinnung sowie bessere Anreize im Bereich von Steuereinnahmen und -ausgaben (»Qualität des öffentlichen Sektors«) sollten die Wachstumsbremsen lockern, Forcierung gegebener Stärken (in Technologien und Dienstleistungen) und innovative Energie- und Umweltpolitik das Wachstum steigern und Exportchancen schaffen  ; Angebot, Qualität und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt sollten durch Genderstrategie, Umwandlung von informeller Arbeit in Erwerbstätigkeit und ein innovatives Sozialsystem erweitert werden. Technisch wurde vorgeschlagen, die Wachstumsstrategie des Weißbuchs in acht Paketen zu realisieren  : Beschäftigungspaket, Nachfragestimulierungspaket, Produktivi-

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tätsoffensive, Forcierung von Wettbewerb und Flexibilität, Qualifizierungsoffensive, Integrationspaket, Energie- und Umweltpaket sowie Dienstleistungs- und Export­paket. Die Strategieempfehlungen des Weißbuchs fanden zwar teilweise Eingang in das Regierungsprogramm  ; strategische Orientierung und Meilensteine für die Umsetzung fehlten jedoch weitgehend, sodass statt eines gesamtwirtschaftlichen Konzepts bloß einige isolierte Einzelmaßnahmen realisiert wurden. Wie schon früher13 gelang es auch in diesem Fall  – trotz differenzierterer Ausarbeitung  – nicht, Politik und Öffentlichkeit für ein koordiniertes Vorgehen zu gewinnen  ; die Reaktion blieb auf Lippenbekenntnisse beschränkt. Das Weißbuch bildete den Anfang von Aigingers Projekt-Offensive. 2006 konnte das Konjunkturteam, wie in Abschnitt 5.2 erwähnt, einen Auftrag der EU für einen halbjährlichen Bericht über die wirtschaftliche Lage im Euroraum erhalten, weiters einen Auftrag zur Mitarbeit an der deutschen Gemeinschaftsprognose. Gleichfalls 2006 wurde der »Forschungsschwerpunkt Internationale Wirtschaft (FIW)« gegründet, ein Vorzeigeprojekt für die Vernetzung und Kooperation von Universitäten, angewandten Forschungsinstituten, Sozialpartnern, Wirtschaftspolitik und interessierter Öffentlichkeit, der vom Wirtschafts- und Forschungsministerium unterstützt wird14. Als Forschungsplattform zu außenwirtschaftsrelevanten Themenbereichen soll er die Rahmenbedingungen zur theoretischen und empirischen wirtschaftswissenschaftlichen Forschung sowie der wirtschaftspolitischen Beratung im Bereich internationale Wirtschaft verbessern und die Sichtbarkeit der beteiligten Forschungseinrichtungen in der internationalen Forschungscommunity erhöhen. Weitere Ziele sind die Bündelung von institutionsübergreifenden Forschungsstärken und die internationale Positionierung des FIW als Vernetzungsplattform zu den gesellschaftlichen und ökonomischen Herausforderungen im Bereich Globalisierung und Welthandel. Der Schwerpunkt besteht bis heute und wird im Rahmen des Projektbüros des Kompetenzzentrums vom WIFO koordiniert. Der größte Erfolg von Aigingers internationaler Projektoffensive war das Projekt »Welfare, Wealth and Work for Europe (WWWforEurope)«. Es wurde 2012 im 7. Forschungs-Rahmenprogramm der EU als zentrales wissenschaftliches Be13 Die Forderung nach einer konsistenten und strategisch orientierten Wirtschaftspolitik zieht sich durch die gesamte Politikberatung des Instituts, beginnend mit Nemschaks (1951, S. 9) Forderung nach einem »gesamtwirtschaftlichen Konzept«. 14 Beteiligt sind neben dem Konsortialführer WIFO das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw), das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Rechenzentrum (WSR), die Wirtschaftsuniversität Wien sowie die Universitäten Linz, Innsbruck und Wien.

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gleitprojekt zur Europa-2020-Strategie ausgeschrieben  ; von der EU mit 8 Mio. € dotiert (Gesamtbudget 10,4 Mio. €), sollte es Grundlagen für eine dynamischere, ökologischere und sozialere Gesellschaft liefern. Experten aus 34 Forschungsinstitutionen aus 12 EU-Staaten arbeiteten unter der koordinierenden Leitung des WIFO vier Jahre lang an Strategien zur Bewältigung der neuen Herausforderungen, denen sich Europa stellen muss  : Finanzkrise, Globalisierung, demografische Veränderungen, Klimawandel und neue Technologien  ; es geht aber auch um die Probleme des europäischen Wohlfahrtsstaats, die Folgen ökologischer Nachhaltigkeitspolitik auf Wachstum und Beschäftigung, um die Rolle der Industrie- und Innovationspolitik als Treiber des Wandels und um die erforderlichen Anpassungen der europäischen Governance-Strukturen – ein wahrlich breites Programm  ! Ziel war, die sozioökologische Transformation und Dynamik unter den Neben­bedingungen hoher Beschäftigung, sozialer Inklusion und Geschlechtergerechtigkeit zu untersuchen und Instrumente zu ihrer Realisierung zu erarbeiten. Wohlbefinden in einer nachhaltigen Umwelt (wellbeing in a sustain­able environment) sollte die Fixierung auf das BIP-Wachstum ablösen  ; als erfolgsrelevant wurden drei strategische Leitprinzipien formuliert  : Gleichrangigkeit der Ziele, anspruchsvoller Entwicklungspfad (high-road ambition) und – angesichts der hochgesteckten Ziele – Implementierung in zwei Stufen  : zunächst Konsolidierung und erst in deren Gefolge sozioökonomische Transformation. Als Treiber des Übergangs zu den neuen Zielen sieht das Konzept Innovation, Verringerung von Ungleichheit und Unsicherheit, Sozialinvestitionen statt S­ ozialschutz (from ex-post protection to social investment), Ausbildung (upgrading skills), Entkopplung von Energie und Output (resources  : ­decoupling energy from output), Reform des öffentlichen Sektors (public sector  : an all-­important game changer) vor, und – etwas hochtrabend – ­Anpassung des Finanzsektors an die Bedürfnisse der Gesellschaft (financial sector  : re-committing to the real sector and aligning to the needs of society)15. Unterstützung bedürften die Reformen durch Überwindung der Reformaversion (overcoming reform resistance), einen pluralistischen und polyzentrischen Ansatz (pursuing a plura­listic and poly­ centric ­approach), Beteiligung aller Betroffenen (participation of stakeholders, civil society & NGOs, bottom-up initiatives, new actors) und begleitende Kon­ trolle (monitoring progress). 15 Schärfere Regulierung und Kontrolle riskanter Finanzinnovationen könnten zwar die Risikoanfälligkeit des Sektors vermindern, ein darüber hinausgehendes, wie immer definiertes »aligning to the needs of society« würde allerdings eine grundlegende, mit der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung schwer vereinbare Systemreform bedeuten.

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Die Breite des Projekts, die von der Generaldirektion Forschung und Innovation in der Ausschreibung gefordert wurde16, machte eine unmittelbare und umfassende Umsetzung von vornherein wenig wahrscheinlich  ; insofern war das Projekt wohl eher als Beitrag zur Bewusstseinsbildung (nicht zuletzt der anderen Generaldirektionen der EU) gedacht. Doch selbst das gelang bloß beschränkt. 2016, als das Projekt termingerecht fertiggestellt war, konzentrierten sich die nationale sowie internationale Aufmerksamkeit auf die Flüchtlingskrise, die Spätfolgen der Finanzkrise und die Staatsschulden-Problematik  ; das Interesse an tiefgreifenden Strukturreformen war – zumindest temporär – verloren gegangen. Für das Institut bedeutete das Großprojekt WWWforEurope eine außerordentliche Organisationsleistung und eine  – trotz Personalausweitung  – erhebliche Kraftanstrengung der Mitarbeiter, die zwangsläufig zu einer gewissen Erschöpfung führte. Nicht bloß deswegen, sondern auch wegen der Austeritätspolitik und des Regierungswechsels erwies sich die Akquisition weiterer Großprojekte als schwierig. Das nächstgeplante Großprojekt »Österreich 2025« fand zunächst keinen Financier  ; Aiginger entschloss sich daher, es als eigenfinanziertes Forschungsprogramm zu beginnen. Teile wurden in weiterer Folge in mühsamer Akquisitionsarbeit von verschiedenen Ministerien, der Nationalbank, der Arbeiter-, Wirtschafts- und Landwirtschaftskammer, vom Klima- und Energiefonds sowie von der Hannes Androsch Stiftung bei der Österreichischen Akademie der Wissenschaften finanziell unterstützt. Das Programm untersuchte einerseits wirtschaftspolitische Strategien zur Steigerung des mittelfristigen Wachstums, andererseits potenzielle Handlungsoptionen, die selbst in einem Szenario eines weiterhin schwachen Wachstums die Aufrechterhaltung von sozialen und ökologischen Standards ermöglichen. Die Ergebnisse wurden 2016 und 2017 in Form von 19 Projektpublikationen veröffentlicht, in gekürzten Fassungen auch als Monatsberichtsaufsätze. Janger et al. (2017) etwa untersuchten die »Frontier« in Wissenschaft, Technologie, Innovationen und Wirtschaft  ; Bilek-Steindl et al. (2017) den Einfluss der Bildungsstruktur auf das langfristige Wirtschaftswachstum und Bock-Schappelwein – Huemer (2017) die Rolle ausreichender Basiskompetenzen in einer digitalisierten Arbeitswelt. Fragen der Wettbewerbsfähigkeit und Wettbewerbspolitik wurden von Christen et al. (2017), Hölzl et al. (2017) sowie Böheim – Pichler (2016) behandelt. Eppel – Leoni – Mahringer (2017) untersuchten die Segmentierung des Arbeitsmarkts und die schwache Lohnentwicklung, Eppel – Mahringer – Sauer (2017) die Rolle der aktiven Arbeitsmarktpolitik, Huemer et al. (2017) die heterogene 16 »Europe moving towards a new path of economic growth and social development«.

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Verteilung der Arbeitszeit, insbesondere zwischen Frauen und Männern. Huber – Horvath – Bock-Schappelwein (2017) sahen Österreich als Zuwanderungsland mit unzureichender Integration. Eppel – Leoni – Mahringer (2016) zeigten die Bedeutung der Gesundheit für die Beschäftigungsfähigkeit, Famira-Mühlberger et al. (2017) die Herausforderungen und die volkswirtschaftlichen Effekte der Pflegevorsorge. Die Zukunft der Telekommunikationspolitik und Perspektiven einer regional differenzierten Wohnungs- und Verkehrspolitik behandelten Friesenbichler (2016) und Klien (2016). Schließlich gab es noch Studien über Effizienzstreben und Reformwiderstände bei der Verwaltungsreform (Pitlik, 2017), Umweltinnovationen (Kettner-Marx – Kletzan-Slamanig, 2016), über regionale Aspekte weltweiter Wertschöpfungsketten (Streicher – Fritz – Gabelberger, 2017) und die Perspektiven der Landwirtschaft (Sinabell, 2016  ; Sinabell – Unterlass – Walder, 2017). Aiginger  – Scheiblecker (2016) versuchten eine Zusammenfassung des finanzierungsbedingt eher heterogenen Projekts. Die Konzentration auf internationale Großprojekte trug sicherlich zum Bekanntheitsgrad und zum nationalen und internationalen Renommee des Instituts bei  ; eine auf Großprojekte konzentrierte Strategie ist allerdings nicht ohne Probleme. Das unangenehmste davon ist das Personalproblem  : Die vorhandenen Mitarbeiter müssen für die neue, mit ihrem angestammten Referat selten identische Aufgabe motiviert werden, es müssen rasch zusätzliche geeignete Mitarbeiter angestellt17 und in das Team integriert werden. Gelingt es, sie zu integrieren, fällt es nicht leicht, sie nach Ende des Projekts zu kündigen. Rechtzeitig ein weiteres Großprojekt zu akquirieren, bei dem dasselbe Team beschäftigt werden kann, ist jedoch selten möglich. Im WIFO zeigten sich diese Probleme tatsächlich. In den Krisen der letzten sechs Jahre schwand das Interesse der internationalen sowie der nationalen Auftraggeber an Großprojekten, und das Institut hatte mit dem überhöhten Personalstand und den daraus resultierenden Finanzierungsproblemen zu kämpfen.

17 Mit temporären Verträgen können qualifizierte und erfahrene Mitarbeiter kaum gewonnen werden, und Werkvertragsnehmer sind schwer in das Team zu integrieren.

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5.5 Wirtschaftsforschung im Spannungsfeld von Theorie, Empirie und Politik »Wirtschaftsforschung wird im Spannungsverhältnis von Empirie, Theorie und wirtschaftspolitischer Relevanz betrieben. Sie benötigt Daten, diese Daten müssen intelligent interpretiert werden und die Ergebnisse von einem Abnehmerkreis als nützlich betrachtet werden« (Seidel, 2012b, S. 461). Was allerdings der »Abnehmerkreis« ist und was er als »nützlich betrachtet«, hat sich in der Geschichte des WIFO ebenso geändert wie die Vorstellungen der jeweiligen Leiter über die Frage, wer wen beraten soll und darf. Abnehmer können Institutionen, Politiker oder die Öffentlichkeit sein (Pitlik, 2001)  ; die Beratung kann gewünscht sein oder im Wege publizierter Studien »aufgedrängt« werden, und sie kann durch »das Institut«, zumeist personalisiert durch den Leiter oder dezentralisiert durch die Mitarbeiter erfolgen. In der Geschichte des WIFO reicht die Spannweite von reiner Konjunkturanalyse in den Monatsberichten und engagierten privaten Politikempfehlungen der Leiter (Institut für Konjunkturforschung und z. T. auch Nemschak  ; siehe die Abschnitte 1.1 und 2.4) über persönliche und »Institutionenberatung« (Seidel  ; siehe Abschnitt 3.1) bis zur Schwerpunktverlagerung von persönlicher Beratung zu Gutachten und Distanz zu parteipolitischen Auseinandersetzungen (Kramer  ; siehe Abschnitt 4.6.4). Aiginger war  – wie bereits erwähnt  – bezüglich wirtschaftspolitischer Aussagen seiner Mitarbeiter liberal und hatte persönlich einen starken Drang, die nationale sowie die EU-Politik zu beeinflussen  : Im Vergleich der wirtschaftspolitischen Empfehlungen des WIFO mit denen anderer empirischer Wirtschaftsforschungsinstitute fällt seiner Meinung nach »der stärkere proaktive Ansatz besonders auf. Negative Entwicklungen werden nicht als exogen und unverrückbar angenommen. Ein Anstieg der Arbeitslosigkeit wird nicht als ›natürlich‹ erklärt, eine Verlangsamung des Wachstums nicht als Folge einer europäischen Wachstumsschwäche und damit als unveränderbar dargestellt« (Aiginger, 2012, S. 500). Und weiter  : »Das WIFO betreibt strategische Datenentwicklung in Bereichen, in denen es Defizite erkennt, in denen Analysebedarf besteht, aber keine Information verfügbar ist, und in denen in Österreich internationale Defizite bestehen. Es begegnet Defiziten durch eigene Umfragen (die auch über Konjunkturfragen hinausgehen) und aktualisiert Daten mit modernen Zeitreihenanalysen und Schnellschätzungen« (Aiginger, 2012, Fußnote 8). Aiginger bekennt sich somit zu Öffentlichkeitsberatung und Nudging der Wirtschaftspolitik  – der österreichischen wie jener der EU  – durch »Themensetting«, »gegen den nationalen und internationalen Trend« (Aiginger, 2012,

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Wirtschaftsforschung im Spannungsfeld von Theorie, Empirie und Politik 

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S.  502)  : Das Institut befürwortete stets die Öffnung der österreichischen Wirtschaft, besonders in der Periode vor dem EU-Beitritt und in der Phase von Ost­ erweiterung und Globalisierung  ; es verwies die Wirtschaftspolitik nicht bloß auf die Bedeutung von Wettbewerb und Wettbewerbsfähigkeit (so etwa Aiginger, 1987), sondern forcierte auch einen neuen Begriff der Wettbewerbsfähigkeit, der weit über das gängige Kostendenken hinausgeht (Aiginger, 2006). Umweltthemen wurden früh in die Forschung aufgenommen  ; die Gefahren des Klimawandels und die Notwendigkeit der Einsparung von Energie und Rohstoffen wurden vom WIFO stärker herausgearbeitet als durch andere Wirtschaftsforschungsin­ stitute mit breitem Fokus. 1990 publizierte das Institut eine umfangreiche Monografie zum Thema »Umweltabgaben und Steuerreform« (Bayer et al., 1990)  ; statt auf Gebote, Verbote und Auflagen sollte die Umweltpolitik primär auf Abgaben und Steuern auf umweltbelastendes Verhalten setzen. Auch der höhere Stellenwert von Vollbeschäftigung und Verteilungsfragen oder die Rolle von Forschung, Bildung oder Kinderbetreuung für den wirtschaftlichen Erfolg waren Prioritäten, die das WIFO stärker betonte als andere Institute (Aiginger, 2012, S. 502). Das WIFO schlug Strategien vor, wie Österreich Wachstum und Vollbeschäftigung sichern, welche Optionen in der Gestaltung der Steuerstruktur liegen und wie die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte erfolgen könnte. Das Institut übernehme dabei eine »Kompassfunktion«, allerdings mit der Einschränkung, dass die Forschung nur Optionen nennen könnte, die Ziele jedoch von der Politik vorgegeben werden müssten (Aiginger, 2012, S.  509). Als vielleicht wichtigstes Spezifikum der Politikempfehlungen des WIFO betonte Aiginger die Forderung nach Abstimmung aller wirtschaftspolitischen Teilstrategien (»Synergien«)   ; unkoordinierte Einzeleingriffe kämen teuer und seien ineffizient. WIFO-Weißbuch und Österreich 2025 für Österreich sowie WWWforEurope für die EU sind dafür typische Beispiele. Es ging ihm um die großen Herausforderungen der Umwelt, der Bildung und der Verteilung, denen er mit großen konsistenten gesamtwirtschaftlichen Konzepten antworten wollte  ; Tagesprobleme und Details der Umsetzung interessierten ihn weniger. Für die wirtschaftspolitische Beratung sah Aiginger drei Probleme  : Erstens, dass die Politik immer dann Empfehlungen wünsche – und zwar eindeutige –, wenn sie selbst keinen politischen Lösungsansatz anzubieten habe, Zwischenrufe der Wirtschaftsforschung hingegen vehement ablehne, wenn sie eine bestimmte Lösung »präferiert«. Zweitens stelle sich für die Wirtschaftsforschung die Frage, ob und wieweit sie in komplexen unsicheren Situationen Empfehlungen abgeben solle, wenn diese empirisch nicht voll zu begründen sind und ihre Wirkung nicht präzise abschätzbar ist. Drittens, ob das Institut in solchen Situationen die Viel-

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falt des Meinungsspektrums darlegen solle oder die Institutsmeinung, die nach Ausschöpfung aller wissenschaftlichen Methoden erarbeitet wurde (Aiginger, 2012, S. 501). Entschieden hat sich Aiginger in aller Regel für die beiden letzteren Varianten.

5.6 Gegenwind durch Krisen Aiginger startete mit den wirtschaftspolitischen Zielen, den österreichischen Wachstumspfad anzuheben, die Arbeitslosenquote zu senken und umfangreiche Reformen zur Abdeckung der Risiken eines modernen und effizienten Sozialstaats einzuleiten. Als institutspolitische Ziele setzte er sich Internationalisierung und Qualitätsführerschaft. Die Erreichung der wirtschaftspolitischen Ziele verhinderte eine Serie voneinander nicht unabhängiger Krisen, die Austeritätspolitik sowie die Verunsicherung und die daraus resultierende Konsum- und Investitionszurückhaltung. Das Wachstum war in der Ära Aiginger demgemäß schwächer und die Arbeitslosigkeit höher als zuvor. Die institutspolitischen Ziele erreichte Aiginger hingegen, und es gelang ihm, bedeutende Aufträge zu akquirieren. Die weitreichenden und langfristig orientierten Maßnahmenkataloge seiner Großprojekte hatten jedoch gleichfalls mit dem erheblichen Gegenwind der verunsicherungsbedingten Konzentration der Wirtschaftspolitik auf unmittelbar kurzfristige Ziele zu kämpfen.

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6. Der Wandel der Wirtschaftsforschung in neun Jahrzehnten  : Von der Konjunkturanalyse zum Kompetenzzentrum

In den neun Jahrzehnten seiner Existenz wurde das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung stets von starken Persönlichkeiten geleitet, die die jeweilige Ära mit ihren spezifischen Vorstellungen und Kapazitäten prägten. Daher wurde dieser Band zwangsläufig nach Leitungsperioden gegliedert. Dabei kam allerdings bloß zwischen den Zeilen heraus, dass sich das Institut über die gesamte Zeit seiner Existenz hinweg mit ähnlichen generellen Problemen herumschlagen musste, die von den Leitern zeit- und persönlichkeitsbedingt recht unterschiedlich gelöst wurden. Es geht dabei um die Unabhängigkeit des Instituts, seine Finanzierung, den Umfang seiner Tätigkeit, seine Zielgruppen sowie Form und Ausmaß der (politischen) Beratung. Da die Argumente überwiegend aus den vorstehenden Kapiteln entnommen werden, wird auf Zitierungen im Folgenden weitgehend verzichtet.

6.1 Die zentrale Bedeutung von Unabhängigkeit und Grundfinanzierung Bereits bei seiner Gründung wurde die Unabhängigkeit des Instituts kontrovers diskutiert. Mises, einer der zentralen Proponenten der Gründung, erachtete es – obwohl leitender Sekretär der Wiener Handelskammer – als unzweckmäßig, das Projekt im Rahmen der Wiener Handelskammer zu verwirklichen, da die Ergebnisse der Forschung damit einen politischen Stempel tragen würden. Kautsky plädierte für eine öffentliche Einrichtung und wollte das Institut dem »Konjunkturstatistischen Dienst« des Bundesamts für Statistik eingliedern. Mises setzte durch, das Institut als privaten Verein zu etablieren, dessen Träger der Bund, sonstige öffentliche Stellen sowie Interessenvertretungen sein sollten. Das Institut ist bis heute als Verein organisiert, da Nemschak bei der Wiedererrichtung die Organisationsstruktur des früheren Konjunkturforschungsinstituts übernahm – als Einrichtung der Sozialpartner mit Unterstützung des Staates und der Notenbank  ; diese Organisationsform wurde bis zuletzt nicht in Frage gestellt.

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Der Wandel der Wirtschaftsforschung in neun Jahrzehnten

Die Organisation als privater Verein sichert die Unabhängigkeit des Instituts allerdings nicht zwangsläufig1. In der Ersten Republik war Unabhängigkeit noch kein Problem, weil sich das Institut auf die Analyse beschränkte und Forscher und Regierung in der Beurteilung der Lage weitgehend übereinstimmten. In der Zeit des Dritten Reichs wurde das Institut »Filiale« des unter Regierungseinfluss stehenden Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung  ; zumindest die Themen der Forschung waren damals eingeschränkt bzw. vorgegeben. Subtilere Formen der Einschränkung der Unabhängigkeit setzen später bei der Finanzierung an. Für die effektive Unabhängigkeit eines wissenschaftlichen Forschungsinstituts ist eine ausreichende und stabile Grundfinanzierung von entscheidender Bedeutung  ; nur sie ermöglicht es, Wissenskapital zu erarbeiten und als Öffentliches Gut zur Verfügung zu stellen2. Eine ausreichende Grundfinanzierung unterscheidet wissenschaftliche Institute von Consulting-Unternehmen, die infolge der ausschließlich von Kunden beauftragten Untersuchungen von diesen abhängig sind. In der Zwischenkriegszeit kam die Grundfinanzierung des Instituts für Konjunkturforschung von den Vereinsmitgliedern  ; von 1929 bis 1938 gab es eine Unterstützung durch die Rockefeller Foundation. In der Nachkriegszeit sah Nemschak zur Sicherung der Unabhängigkeit eine Drittelfinanzierung vor  : Ein Drittel der Grundfinanzierung von der öffentlichen Hand, ein Drittel von den Vereinsmitgliedern und ein Drittel eigene Einnahmen. Das hielt im Großen und Ganzen bis zuletzt, allerdings nur bei enger Definition von öffentlicher Hand  : Im Budget 2020 (13,6 Mio. €) machte die Grundfinanzierung 65 % (8,8 Mio. €) aus  ; zur Grundfinanzierung trugen der Bund 47 %, die Nationalbank 19 % und die Sozialpartner 27 % bei. Fasst man Bund und Nationalbank zusammen, erreicht der Anteil der öffentlichen Hand am Grundbudget somit 67 % und am Gesamtbudget 43 %. Teils hielten die Beiträge der sonstigen Vereinsmitglieder mit dem kräftigen Wachstum des Instituts nicht Schritt, teils reduzierten sie ihre Beiträge bewusst und finanzierten ihnen ideologisch nahestehende Institute. Ein dominierender Einfluss der öffentlichen Hand eröffnet Möglichkeiten einer Einflussnahme auf die Tätigkeit und die Aussagen des Instituts über Drohun­ gen einer Kürzung der Grundfinanzierung  ; explizit erfolgte das in der Früh-

1 Nemschak war bewusst, dass der Freiheitsspielraum für wissenschaftliche Arbeit nicht durch einen einmaligen Gründungsakt gesichert werden könne, sondern immer wieder durch Leistungen und persönlichen Einsatz neu gewonnen werden muss (Seidel, 1973a, S. 8). 2 Das bedeutet etwa, dass die Forschungsergebnisse, auch von Auftragsarbeiten, generell publiziert werden, dass z. B. Konjunkturanalysen und -prognosen sowie die Ergebnisse eigener Erhebungen (wie Konjunkturtest, Investitionstest usw.) der Öffentlichkeit gratis zur Verfügung gestellt werden.

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Von der Konjunktur- über Wirtschafts- und Politikanalyse zum Kompetenzzentrum 

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phase der Ära Badelt3. Zunehmend wird auch versucht, Einfluss im Wege einer Umschichtung von Grundfinanzierung zu Auftragsforschung zu nehmen. Die Forcierung interessentengesteuerter Forschung rüttelt allerdings an der Wissenschaftlichkeit und leitet eine Annäherung an ein von den Auftraggebern gesteuertes Consulting-Unternehmen ein. Auch die Konkurrenz von WIFO und IHS wird von manchen Financiers genützt, um durch Verlagerung der Finanzierung (Grundfinanzierung wie Aufträge) unangenehme Analysen und Vorschläge zu verhindern oder wenigstens abzuschwächen. Von einzelnen Krisenjahren abgesehen, konnte das Institut mit diesen Problemen bisher allerdings im Großen und Ganzen zurechtkommen. Dennoch wäre eine Gestaltung der Finanzierung nach deutschem Vorbild vorzuziehen. Dort werden die gesamten Mittel der außeruniversitären Forschungsförderung der öffentlichen Hand einem Dachverband der Forschungseinrichtungen (Leibniz Gemeinschaft) überwiesen, der sie nach transparenten Qualitätskriterien (Evaluierung alle sieben Jahre) auf die rund hundert angeschlossenen Institute verteilt. Die Mittel fließen kontinuierlich (»Forschungspakt«), was den Instituten Planungssicherheit gibt.

6.2 Von der Konjunktur- über Wirtschafts- und Politikanalyse zum Kompetenzzentrum Die Monatsberichte des Instituts für Konjunkturforschung beschränkten sich in der Zwischenkriegszeit auf die empirische Analyse der Konjunktur sowie auf einige Elemente der Wirtschaftsstruktur, die aus der zugrunde liegenden monetären Konjunkturtheorie resultierten (»Disproportionalitäten«). Als repräsentativer Nutznießer und Leser galt der Unternehmer (Seidel, 1973b, S. 25). Daneben gab es die theoretische, Rockefeller-finanzierte Reihe der Buchpublikationen. In der Ära Nemschak konzentrierten sich die Monatsberichte auf permanente Konjunkturbeschreibung, jedoch ohne explizite theoretische Basis  ; darüber hinausgehende Aufsätze erschienen in den Beilagen zu den Monatsberichten. Seidel 3 Damals drohte der Generalsekretär des Finanzministeriums mit einer Kürzung der Grundfinanzierung um ein Viertel, teils wegen allgemeiner Kürzungen, nicht zuletzt aber wegen »allgemeiner Unzufriedenheit mit dem Institut« im Ministerium (profil, 2021, 42, S.  35). Versuche einer Einflussnahme auf die Publikationen gab es auch schon früher, etwa unter Nemschak (siehe Abschnitt 2.3) sowie unter Kramer (Abschnitt 4.6.2). Deutlicher ausgeprägt waren die Versuche einer Einflussnahme der Politik auf das stärker von Staatsfinanzierung abhängige IHS (Die Presse, 9.10.2021, S. 4  ; profil, 2021, 42, S. 32 f.), nicht zuletzt bei der Bestellung des Leiters an der Jahreswende 2015/16 (Die Presse, 20.10.2021, S. 13).

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Der Wandel der Wirtschaftsforschung in neun Jahrzehnten

leitete den Wandel von der Konjunkturbeschreibung zu Konjunktur- und Wirtschaftsanalysen ein  ; er öffnete die Monatsberichte für breiter angelegte Aufsätze (siehe dazu Abschnitt 2.5). Unter Kramer kam es zu einer Verbreiterung der Forschungsthemen. Infolge des raschen Strukturwandels und der daraus resultierenden Probleme erlangte Strukturberichterstattung besondere Bedeutung  ; auch die Auswirkungen von EU-Beitritt, Osterweiterung, Währungsunion, Migration und Einkommensverteilung wurden wichtige Themen. Nach der Jahrtausendwende verloren die Konjunkturanalysen weiter an Bedeutung. Zunächst standen Industrie und Industriepolitik sowie nationaler und internationaler Wettbewerb im Zentrum des Interesses, danach überwogen Klima- und Umweltfragen sowie Bildung und Gesundheit. In der späteren Phase der Ära Aiginger dominierten nationale und EU-weite Gesamtkonzeptionen der Wirtschafts- und Umweltpolitik sowie Bemühungen, das Institut zu einem internationalen Thinktank zu profilieren4. Die darauffolgende Ära Badelt war unter dem Druck von Finanzie­ rungsproblemen und der Corona-Pandemie gezwungen, sich mehr auf die Untersuchung der unmittelbaren nationalen wirtschaftspolitischen Probleme zu konzentrieren.

6.3 Der Trend zur Verwissenschaftlichung des Instituts Die Spannung zwischen reiner Wissenschaft und überwiegender Praxisorientierung ist ein generelles Problem der Wirtschaftsforschung  ; als Eckpunkte können das in Themenwahl sowie in der Durchführung rein wissenschaftlich orientierte, amerikanische National Bureau of Economic Research (NBER) auf der einen Seite und die von Interessenten gegründeten Stakeholder-gesteuerten, praxisnahen, Consultant-ähnlichen Institute5 auf der anderen Seite gesehen werden. Das WIFO war in seiner Frühphase (Institut für Konjunkturforschung) überwiegend wissenschaftsgesteuert  – Basis war die monetäre Konjunkturtheorie der österreichischen Schule  –, was in den Monatsberichten allerdings weniger deutlich zum Ausdruck kommt als in den Interessen und Beratungsaktivitäten der Autoren (Hayek, Morgenstern), wie in der Rockefeller-finanzierten Buchreihe. Nach 4 Als Thinktank werden nach Wikipedia Institute bezeichnet, die durch Erforschung, Entwicklung und Bewertung von politischen, sozialen und wirtschaftlichen Konzepten und Strategien Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung nehmen und sie so im Sinne von Politikberatung fördern. 5 In Österreich etwa EcoAustria oder momentum, in Deutschland das Institut der deutschen Wirtschaft oder das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung.

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Der Trend zur Verwissenschaftlichung des Instituts 

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dem Zweiten Weltkrieg übernahm Nemschak zwar die äußere Form der Monatsberichte, doch wendeten sie sich nicht mehr primär an Unternehmer, sondern an die Politik. Pragmatismus dominierte – mangels Daten und theoretischer Grundlage  ; beide mussten durch »Zahlengefühl« (Seidel, 1989, S. 23) und Diskussion der unterschiedlichen Einschätzungen der Mitarbeiter6 ersetzt werden. Das störte zunächst wenig, da die Mangelwirtschaft der Nachkriegsperiode eher eine Beschreibung der jeweiligen Wirtschaftslage und ihrer Probleme erforderte als theoretisch vertiefte Konjunkturanalysen. Überdies mangelte es dem Institut relativ lange an ausgebildeten Ökonomen. Die Mitarbeiter hatten damals Abschlüsse in Jus, Betriebswirtschaft oder Staatswissenschaften  ; nur Roth­schild (ursprünglich gleichfalls Jurist) und Steindl waren in England mit der modernen Volkswirtschaftslehre vertraut worden. Die Leistungen des Instituts in dieser früheren Periode müssen daher unter dem Aspekt des weitgehend »autodidaktischen« Qualifikationserwerbs der Mitarbeiter und des Fehlens der heute selbstverständlichen technischen Ausrüstung gesehen werden7. Wie in Kapitel 2 ausgeführt, dienten die Monatsberichte zunächst primär der Beschreibung der aktuellen Konjunktur. Sie bestanden aus einer zusammenfassenden »Einleitung«, gefolgt von Beschreibungen der jeweiligen Lage in den einzelnen Referaten (im »Institutsstil«8)  ; es folgten ein bis zwei kleine Aufsätze. In den frühen 1960er-Jahren drängten Rothschild, Seidel und Tichy den zögernden Nemschak auf eine Reform  : Ab Jahrgang 1963 wurden die monatlichen Referatsbeiträge (»Klettermaxe«) auf die Quartalshefte beschränkt, um Platz für größere, tieferschürfende Artikel zu schaffen  ; die übrigen Hefte brachten neben der »Einleitung« Aufsätze, die ab 1964 namentlich gezeichnet wurden. 1966 wurde die Schriftenreihe »Studien und Analysen« gegründet, in der grundsätzliche und stärker theorieorientierte Arbeiten veröffentlicht wurden. Die Verwissenschaftlichung der Institutsarbeit folgte nicht nur dem Selbstverständnis des Instituts,

6 Kausel (1989, S.  215) zitiert Nemschaks Bonmot, die einzig wahre Wirtschaftsprognose wäre ­Koren (»Kassandra vom Dienst«) plus Kausel (»Optimist vom Dienst«) dividiert durch zwei. 7 Noch in den 1960er-Jahren mussten die Wissenschaftler mit Rechenschiebern und einfachen Handrechenmaschinen arbeiten. Der weltweit erste industriell hergestellte PC wurde im Januar 1977 vorgestellt, der erste IBM-PC 1981  ; Laptops kamen 1986 auf den Markt. Über eine leistungsfähige Computeranlage verfügte das Institut erst seit den frühen 1970er-Jahren. 8 Wegen der breiten Beschreibung der Auf- und Abwärtsbewegungen der jeweiligen Reihen wurden die monatlichen Referatsbeiträge von den Mitarbeitern als Klettermaxe bezeichnet. Es ist umstritten, ob diese spöttische Charakterisierung durch die jüngeren Mitarbeiter auf einen Film aus den Jahr 1952 zurückgeht oder auf einen kontemporären Wiener Einbrecher, der seinen Weg über die Fassaden nahm.

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sondern auch der Nachfrage  – als Folge der zunehmenden Verwissenschaftlichung der Wirtschafts- und Unternehmenspolitik9. In den 1990er-Jahren setzte sich die Verlagerung von der Konjunkturanalyse zur wissenschaftlichen Wirtschaftsforschung verstärkt fort. Das Themenfeld Konjunktur schrumpfte von zwei Fünftel der Publikationen in den 1970er-Jahren auf ein Viertel  ; alle anderen Forschungsbereiche wurden ausgeweitet. Die zunehmende Verwissenschaftlichung war möglich, weil das Institut seit den frühen 1970er-Jahren zunehmend in Österreich ausgebildete Volkswirte und Absolventen des IHS anstellen konnte, und sie war erforderlich, weil die Nachfrage nach einfachen Konjunkturanalysen weiter zurückging, als Interessenvertretungen, Ministerien und Nationalbank zunehmend eigene volkswirtschaftliche Abteilungen gründeten. Ein zusätzlicher Druck auf Verwissenschaftlichung ging vom internationalen Markt für Ökonomen aus  : Zunehmend wurde deren Qualifikation (und das Image ihrer Arbeitgeber) an der Zahl ihrer Publikationen in referierten wissenschaftlichen Journalen gemessen. Aiginger drängte die Mitarbeiter daher, in solchen Journalen zu publizieren. Das dadurch gesteigerte Image des Instituts trug dazu bei, internationale Aufträge zu akquirieren und die Unabhängigkeit von inländischen Financiers zu verringern. Überdies forcierte Aiginger den Kontakt zu den Hochschulen10. Schon seit 2004 hatte das Institut einen Wissenschaftlichen Beirat von 15  internationalen Forschern, die vor allem das Arbeitsprogramm des Instituts begutachten, und es band zunehmend Universitätsprofessoren als Konsulenten an das Haus. Viele Mitarbeiter halten Lehrveranstaltungen an Universitäten und Fachhochschulen, einige Mitarbeiter sind habilitiert und streben vielfach akademische Karrieren an. Zugleich mit der Intensivierung der Kontakte zu den Universitäten wurde allerdings die Beziehung der WIFO-Mitarbeiter zu den sozialpartnerschaftlichen Trägern des Instituts lockerer  : Studien des Beirats für Wirtschafts- und Sozialfragen, an denen WIFO-Mitarbeiter zuvor oft federführend beteiligt waren, verloren schon seit den 1980er-Jahren an Bedeutung, und die Beiträge von WIFO-Mitarbeitern in österreichischen wirtschaftspolitischen Zeitschriften wie »Wirtschaftspolitische Blätter« oder »Wirtschaft und Gesellschaft« wurden seltener.  9 »Wirtschaftspolitische und unternehmerische Entscheidungen stützten sich nicht mehr ausschließlich auf Intuition und praktische Erfahrungen, sondern zunehmend auch auf objektive Fakten und wissenschaftliche Analysen« (Seidel, 1973b, S. 22). 10 Der Kontakt ist aber nicht so eng wie bei manchen deutschen Instituten. Das ifo Institut in München etwa ist Teil des Hochschulbetriebs  ; überdies erhalten Institutschefs in Deutschland zumeist zugleich eine Professur an der Hochschule.

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Spezifische Zielgruppen und Bedeutung der Politikberatung 

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6.4 Spezifische Zielgruppen und Bedeutung der Politikberatung »Wirtschaftsforschung wird im Spannungsverhältnis von Empirie, Theorie und wirtschaftspolitischer Relevanz betrieben. Sie benötigt Daten, diese Daten müssen intelligent interpretiert werden und die Ergebnisse von einem Abnehmerkreis als nützlich betrachtet werden« (Seidel, 2012b, S. 461). Was allerdings der »Abnehmerkreis« ist und was er als »nützlich betrachtet«, hat sich in der Geschichte des WIFO mehrfach geändert. Geändert haben sich darüber hinaus auch Art und Umfang der Nachfrage nach Beratung, die Position des Instituts zu seiner Beratungstätigkeit und die Aufteilung der Beratungstätigkeit auf Leiter und Mitarbeiter. 6.4.1 Wechselnde Zielgruppen der Institutsarbeit

Wissenschaftliche Erkenntnisse haben im Allgemeinen den Charakter von Öffentlichen Gütern  ; sie sind zumeist durch Nicht-Rivalität und Nicht-Ausschließbarkeit charakterisiert. Konjunkturanalysen und -prognosen etwa sind nicht-rivalisierend, wenn auch grundsätzlich ausschließbar, doch ist es effizient und zweckmäßig, auf Letzteres zu verzichten und sie stattdessen öffentlich zu finanzieren und der Öffentlichkeit gratis zur Verfügung zu stellen. Ähnliches gilt für Studien über die Folgen des Klimawandels, demografische Entwicklungen oder die Finanzierbarkeit von Pflege oder Pensionen. Insofern ist die Zielgruppe der grundfinanzierten Studien die Öffentlichkeit – Öffentlichkeitsberatung ist somit zentrale Aufgabe des Instituts. Darüber hinaus hat das WIFO auch die Ergebnisse der Auftragsforschung in aller Regel publiziert, also der Öffentlichkeit (in elektronischer Form zumeist gratis) zur Verfügung gestellt11. Neuerdings haben WIFO und IHS einen ethischen Code für Auftragsstudien entwickelt, demzufolge sich die Auftraggeber verpflichten, die Studien zu veröffentlichen, sofern sich jemand darauf öffentlich bezieht. Die Wirtschaftsforschung wendet sich allerdings nicht bloß generell an die Öffentlichkeit, sondern hat auch spezifische Zielgruppen im Auge, sofern sie beabsichtigt, an der Gestaltung der Wirtschaftspolitik mitzuwirken. In der Zwischenkriegszeit wendete sich das Institut für Konjunkturforschung als solches an Unternehmer und Öffentlichkeit, wirtschaftspolitische Beratung fand, wie erwähnt, außerhalb des Instituts durch die Leiter in persönlicher Funktion und 11 Gemäß einer Parlamentsanfrage der NEOS veröffentlichen die Ministerien bloß ein Viertel der von ihnen beauftragten Arbeiten (profil, 2021, 42, S. 23).

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Der Wandel der Wirtschaftsforschung in neun Jahrzehnten

Verantwortung statt. Für Nemschak war die Regierung die dominierende Zielgruppe  ; er legte großen Wert darauf, ökonomische Fakten sowie wirtschaftspolitische Ratschläge in verständlicher Sprache zu formulieren, da er die Institutsarbeit als »staatspolitische Aufgabe« verstand (Seidel, 1973a, S. 8). Für Seidel waren neben der Regierung die Sozialpartner die dominierende Zielgruppe  ; er sah sich in seiner Funktion als WIFO-Chef in einer doppelten Vermittlerrolle, als Mediator zwischen den Sozialpartnern sowie zwischen internationalen Einflüssen und nationalen wirtschaftspolitischen Positionen. Die Vermittlung zwischen internationalen Einflüssen und nationalen Positionen wurde für Kramer angesichts zunehmender Globalisierung noch vordringlicher und schwieriger. Internationale Organisationen wurden eine wichtige Zielgruppe, die Öffentlichkeit verlor an Bedeutung  : als Folge zunehmender Komplexität, gesteigerter Ansprüche an die Analysen und der Tendenz zur Verwissenschaftlichung. Neben der Regierung wurden unter Aiginger internationale Institutionen zur dominierenden Zielgruppe  ; die Projekte nahmen an Größe und Breite des Ansatzes zu und richteten sich primär an Experten, für »normale« Politiker und Laien wurden sie schwer verständlich. Maßgebend dafür war das Bestreben, den »Kundenkreis« des Instituts auszuweiten und die finanzielle Abhängigkeit von der öffentlichen Hand zu verringern. Die Strategie war insofern etwas überzogen, als es sich als schwierig erwies, jeweils entsprechend große Anschlussprojekte zu akquirieren und Experten als Zielgruppe nicht ausreichten. Unter dem Druck der Krisen, unzureichender Finanzierung und versuchter politischer Einflussnahme tendierte das Institut nach Aiginger wieder stärker auf die Zielgruppe der Mitglieder zu achten – eine partielle Rückkehr zur Position von Nemschak. 6.4.2 Politikberatung  : Neutrale Analyse, indirekte oder direkte Empfehlungen  ?

Grundsätzlich stellt sich für die Wirtschaftsforschung die Frage, ob sie sich auf »neutrale« Analysen beschränkt oder ob und wieweit sie darüber hinaus wirtschaftspolitisch aktiv sein möchte und entsprechende Empfehlungen ausarbeitet. Dabei darf nicht übersehen werden, dass so gut wie alle Analysen direkt oder indirekt wirtschaftspolitische Konsequenzen implizieren oder sogar nahelegen, selbst wenn das nicht ihre primäre Zielsetzung war. Entscheidet sich die Wirtschaftsforschung für Politikberatung, kann das direkt in Form persönlicher Kontakte mit den Entscheidungsträgern, durch Beratung von Gremien, schriftlich in Form von bestellten Gutachten oder auch – ungefragt und möglicherweise sogar unerwünscht – durch Studien in Eigeninitiative erfolgen. Da Beratung vor allem in unsicheren, komplexen Situationen gefragt und auch wichtig ist, stellt sich die

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Spezifische Zielgruppen und Bedeutung der Politikberatung 

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Frage, ob und wieweit konkrete Maßnahmen auch dann vorgeschlagen werden sollen, wenn sie empirisch nicht voll begründbar und ihre Wirkung nicht präzise abschätzbar ist  ; sollte das Institut in solchen Situationen nicht bloß die Vielfalt des Meinungsspektrums darlegen  ? Die Antworten auf diese Fragen hängen von der jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Lage sowie von den beteiligten Persönlichkeiten (auf beiden Seiten) ab. Hayek und Morgenstern verfochten – wie bereits mehrmals erwähnt – eine strikte Trennung von »neutraler« Analyse in den Monatsberichten und ideologiegeprägter Beratung als unabhängiger Wissenschaftler12  ; gegen Ende der Weltwirtschaftskrise lockerten sich die strengen Regeln allerdings, und auch die Monatsberichte warnten gelegentlich vor verfehlter Wirtschaftspolitik. Nemschak verstand die Arbeit des Instituts als praxisorientiert  : Sie sollte der Wirtschaftspolitik zu Hilfe kommen (Seidel, 2012b, S. 461) – auch ungefragt. Zwar enthielt sich das Institut in den Monatsberichten auch unter seiner Leitung weitgehend wirtschaftspolitischer Empfehlungen und der Kritik wirtschaftspolitischer Maßnahmen. Er selbst hatte jedoch z. T. sehr ausgeprägte wirtschaftspolitische Vorstellungen und propagierte diese, und zwar auch in seiner Funktion als Institutsleiter. Dabei kam es zwangsläufig zu Konflikten  : So etwa, als er insistierte, dass die Preis-Lohnabkommen keine Reallohnerhöhungen vorsehen dürften oder dass die Sozialpartner die gesamtwirtschaftlichen Interessen vernachlässigten (siehe die Abschnitte 2.2 und 2.3). Die Konflikte eskalierten, als Nemschak Mitte 1951 das Niveau der Inflation in Österreich (zu Recht) kritisierte und die Regierung dem WIFO in der Folge einen »Maulkorb« umhängen wollte  – die Monatsberichte sollten einer Vorzensur der Sozialpartner unterworfen werden (Seidel, 2012b, S. 466)13. Als Kompromiss verzichtete das Institut auf das bis dahin übliche »Dreinreden« in wirtschaftspolitische Fragen  ; einschlägige Aussagen des Leiters wurden von da an explizit als persönliche Auffassungen gekennzeichnet. Nemschak verzichtete jedoch keineswegs auf prägnante Stellungnahmen  : So wandte er sich etwa strikt gegen den forcierten Ausbau der Grundstoff-, vor allem der Stahlindustrie (Seidel, 1989, S.  20), zerstritt sich mit dem Finanzminister wegen seiner Kritik am Raab-Kamitz-Plan (Seidel, 2012b, S. 466), was Finanzierungsprobleme auslöste (Seidel, 2012b, S. 466) und kämpfte missionarisch 12 Morgenstern übernahm sogar Funktionen in der Verwaltung  : So wurde er Berater des Handelsministeriums, verantwortlich für die Eisenbahn-Infrastruktur, Mitglied der Kommission für die regulierten, vorwiegend agrarischen Preise, und er vertrat Österreich auf internationalen Konferenzen. 13 Der Entwurf des monatlichen zusammenfassenden Konjunkturberichts (»Einleitung«) wurde tatsächlich den Regierungsstellen und Sozialpartnern übermittelt, doch ist nicht bekannt, dass es dabei zu ernstlichen Auseinandersetzungen kam (Seidel, 2012b, S. 466).

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für einen Beitritt zur EWG. Seinem Ansehen schadeten seine proaktiven, analytisch nicht immer ausreichend belegten wirtschaftspolitischen Aussagen jedoch höchstens gegen Ende seiner Leitungsperiode. Seidel tendierte, nicht zuletzt in Reaktion auf die Aktivitäten seines Chefs und Vorgängers, eher zur Abwägung wirtschaftspolitischer Alternativen und zur Erarbeitung von Kompromissvorschlägen. Er agierte in der Beratung überwiegend nicht als Leiter des WIFO, sondern als Wissenschaftler und zog – anders als Nemschak – persönliche Beratung und Diskussion in Gremien öffentlichen Enunziationen vor. Seidel spielte im Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen eine bedeutende Rolle als »neutraler Experte« (»Institutionenberatung«) und beriet persönlich vor allem den Finanzminister (Seidel, 2012b, S.  465). So arbeitete er u. a. Vorschläge zur Budgetsanierung aus und entwarf die sogenannte »Seidel-Formel«, der zufolge das Budgetdefizit maximal 2½ % des Bruttoinlandsprodukts ausmachen sollte. Kramer hatte zunächst auch eine gute persönliche Gesprächsbasis mit Spitzenpolitikern  ; doch änderte sich die Beratungslandschaft im Laufe seiner langen Ära  : Persönliche Beratung verlor an Bedeutung. Maßgebend dafür waren Globalisierung, Aufbau ökonomischer Expertise in Notenbank und Ministerien, Abschirmung der Politiker durch die Kabinette, zunehmende innere Heterogenität der Parteien, Mangel an dominierenden Führungspersönlichkeiten, abnehmendes Vertrauen in die Politik sowie zunehmende Kritik der Politik an unangenehmen Aussagen  ; zugleich rückte das WIFO von den politischen Institutionen näher zu den Universitäten. Der Schwerpunkt der Beratung verlagerte sich zu Gutachten, die zumeist von der Administration vergeben wurden. Das WIFO war auch aus finanziellen Gründen gezwungen, sich um Aufträge für Gutachten zu bemühen, weil der Anteil der Grundfinanzierung langfristig zu sinken tendierte. Obwohl Kramer ein gutes wirtschaftspolitisches Gespür hatte und mit seinen ausgefeilten Formulierungen fast nie aneckte, kam es gelegentlich zu Konflikten  : So etwa als er knapp vor der Volksabstimmung über den EU-Beitritt eine WIFO-Studie zusammenfasste, der zufolge der Beitritt zu empfehlen sei, obwohl dadurch das Budgetdefizit steigen würde (siehe Abschnitt 4.6.2). Aiginger hatte persönlich einen starken Drang, die nationale sowie die EU-Politik im Wege auch ungefragter Beratung zu beeinflussen  : Er bemühte sich um Aufträge zur Erarbeitung umfassender wirtschaftspolitischer Konzeptionen (Weißbuch, WWWforEurope, Österreich 2025) und betonte den im Vergleich zu anderen empirischen Wirtschaftsforschungsinstituten stärker »proaktiven Ansatz« der wirtschaftspolitischen Empfehlungen des WIFO (unter seiner Leitung)  :

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Negative Entwicklungen würden nicht als exogen und unverrückbar hingenommen  ; ein Anstieg der Arbeitslosigkeit werde nicht als »natürlich« erklärt, eine Verlangsamung des Wachstums nicht als Folge einer europäischen Wachstumsschwäche und damit als unveränderbar dargestellt (Aiginger, 2012, S. 500). Das WIFO betreibe strategische Datenentwicklung in Bereichen, in denen es Defizite erkennt, in denen Analysebedarf besteht, aber keine Information verfügbar ist, und in denen in Österreich internationale Defizite bestehen. Es begegne Defiziten durch eigene Umfragen und aktualisiere Daten mit modernen Zeitreihenanalysen und Schnellschätzungen (Aiginger, 2012, Fußnote 8). Regierung sowie Europäische Kommission akzeptierten und finanzierten vielfach die ihnen aufgedrängte Beratung, die Umsetzung der Ergebnisse erwies sich jedoch als überschaubar. 6.4.3 Erwünschte und unerwünschte Politikberatung

Dass sich ein Wirtschaftsforschungsinstitut, das über Analysen hinaus wirtschaftspolitische Beratung beabsichtigt, um entsprechende Aufträge bemüht, erscheint selbstverständlich. Allerdings ist das nicht ohne Probleme. Manche Auftraggeber suchen weniger neues Wissen als »wissenschaftliche« Bestätigung ihrer jeweiligen Position  ; bei Konkurrenz mehrerer Institute können sie dasjenige beauftragen, von dem sie eine, der eigenen ähnliche, Position erwarten. Die Beratung wird damit zweckentfremdet, und das »beratende« Institut kann überdies in den Ruf geraten, Gefälligkeitsgutachten zu erstellen. Dazu kommt, dass die Politik vor allem dann Empfehlungen wünscht – und zwar eindeutige –, wenn sie selbst keinen politischen Lösungsansatz anzubieten hat, Zwischenrufe der Wirtschaftsforschung hingegen vehement ablehnt, wenn sie eine bestimmte Lösung »präferiert«. Neben der von den Entscheidungsträgern nachgefragten Beratung muss die Wirtschaftsforschung daher stets auch Beratung »aufdrängen« bzw. Öffentlichkeitsberatung im Wege grundfinanzierter Studien über selbstgewählte wichtige Probleme der Wirtschaftspolitik betreiben, um eine Asymmetrie der Beratung zugunsten der Auftraggeber zu vermeiden. Nemschak sowie Aiginger waren typische Vertreter einer »Aufdrängungs«-Beratung. Bei Nemschak erfolgte das in Form einer Öffentlichkeitsberatung  : Er hatte ausgeprägte Vorstellungen über wirtschaftspolitische Maßnahmen und vertrat diese vehement in der Öffentlichkeit, um dadurch Druck auf die Entscheidungsträger auszuüben. Aiginger hingegen wendete sich direkt an die Politik  : Er betrieb Nudging der Wirtschaftspolitik  – der österreichischen sowie jener der EU – durch »Themensetting«, zumeist gegen den nationalen und internationalen

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Trend. Er wendete viel Energie auf, seine Vorstellungen den Entscheidungsträgern einzureden und seine Beratungsvorschläge in erwünschte Beratung in Form umfassender Konzepte zu wandeln. 6.4.4 Wirtschaftspolitische Stellungnahmen der Mitarbeiter

Wirtschaftspolitische Beratung durch wissenschaftliche Institute wirft stets die Frage auf, durch wen sie erfolgt  ; eine einheitliche Institutsmeinung wird wohl bloß in seltenen Fällen zu erzielen sein. Mehrheitsmeinung plus Minderheitsgutachten wäre eine Lösung, die allerdings von den Auftraggebern wenig geschätzt wird. In hierarchisch organisierten Instituten wird die Institutsmeinung in der Regel durch den jeweiligen Direktor repräsentiert. Das WIFO war jedoch von Anfang an durch eine sehr flache Hierarchie gekennzeichnet  ; Nemschak bezeichnete sich bloß als »Leiter«, und bis in die späte Kramer-Ära bestanden gleichrangige sachgebietsspezifische Referate (z. B. Konjunktur, Industrie, Außenhandel, Arbeitsmarkt usw.) mit zumeist einem Referenten14 sowie statistisch-rechentechnischer Unterstützung. Wirtschaftspolitik war unter Nemschak Domäne des Leiters  : Er äußerte sich – wie erwähnt – zu wirtschaftspolitischen Fragen prägnant und explizit als Leiter  ; er repräsentierte die Institutsmeinung, wirtschaftspolitische Äußerungen der Mitarbeiter sah er nicht gern15. Für seine politischen Positionen suchte Nemschak zwar nie die Unterstützung durch die Institutsmitglieder, diskutierte aber intensiv mit ihnen über deren Abfassung. Seine jährlichen Vorträge über Wirtschaftslage und -politik fanden breites Interesse, auch der Politiker, selbst wenn er in Konflikt mit der Regierung geriet. Unter Seidel, in öffentlichen Statements zur Wirtschaftspolitik erheblich zurückhaltender als Nemschak, nahm der Freiraum für wirtschaftspolitische Äußerungen der Mitarbeiter deutlich zu. Vor allem in den Arbeitsgruppen des Beirats für Wirtschafts- und Sozialfragen konnten die Mitarbeiter ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen einbringen. Die Monatsberichte wurden jedoch nach wie vor vom Leiter gemäß dem »Institutsstil« redigiert. Unter Kramer gewannen die WIFO-Mitarbeiter weiteren Freiraum, ihre politische Meinung zu publizieren, und sie wurden von den Medien auch vielfach befragt. Zwangsläufig gab es Probleme mit der unscharfen Trennung von Pri14 Zwar gab es eine Differenzierung in Sachbearbeiter und Referenten, doch bedeutete das keine hie­ r­archische, sondern bestenfalls eine Gehaltsdifferenzierung. 15 Mit einer gewissen Ausnahme von Koren und eingeschränkt Seidel (der im Beirat – für Nemschak eher zu intensiv – agierte).

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vatmeinung und WIFO-Position, nicht zuletzt wegen zunehmender parteipolitischer Polemik  : Der jeweilige Autor unangenehmer Ergebnisse gehöre der jeweils anderen politischen Richtung an. Da Kramer großen Wert darauf legte, nicht in parteipolitische Auseinandersetzungen hineingezogen zu werden, erließ er Vorschriften zur Differenzierung von Privatmeinungen und Institutsaussagen. Am generellen Freiraum der Mitarbeiter und an der flachen Hierarchie änderte sich dadurch jedoch nichts, auch als die zunehmende Zahl an Mitarbeitern dazu zwang, die Referate zu fünf Forschungsbereichen zusammenzufassen16. Aiginger, der  – anders als der diesbezüglich eher zurückhaltende Kramer  – persönlich einen starken Drang hatte, die nationale sowie die EU-Politik zu beeinflussen und wirtschaftspolitische Beratung sowie öffentliches Auftreten schätzte, behielt die flache Hierarchie – fünf Forschungsbereiche statt Abteilungen und Rotation der (stellvertretenden) Führungspositionen  – trotz der viel breiteren und stärker diversifizierten Personalstruktur bei. Er schätzte die Vielfalt der Meinungen und ließ den Mitarbeitern Spielraum für wirtschaftspolitische Äußerungen, nicht zuletzt auch in den Monatsberichten.

16 Die Forschungsbereiche sind gleichfalls nicht hierarchisch organisiert  ; sie wählen einen Koordinator mit einer begrenzten Funktionsperiode.

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Epilog In diesem Buch wird die Entwicklung des WIFO über fast ein Jahrhundert nachgezeichnet und interpretiert. Es sollte keine »Festschrift« zum 95. Geburtstag des WIFO werden, sondern eine kritische Würdigung durch ehemalige Mitarbeiter, die zugleich die Probleme der Wirtschaftsforschung in Österreich aufzeigt. Es begann mit einigen wenigen theoretischen Ökonomen, die – im Gegensatz zu den Universitäten – die Anbindung an die führende angelsächsische Ökonomie suchten und auch fanden. Sie gründeten das Institut zur Beschreibung der Konjunkturentwicklung  ; ihre aus heutiger Sicht problematischen wirtschaftspolitischen Vorstellungen, die aus ihren theoretischen Positionen resultierten, publizierten sie nicht im Institut, sondern im »Neuen Wiener Tagblatt«. In den drei Jahrzehnten nach dem Krieg wurde das WIFO zu einem angesehenen nationalen Konjunkturforschungsinstitut, das der Öffentlichkeit Konjunk­ turberichte, Unternehmensumfragen, Prognosen usw. lieferte. Am WIFO sammelten sich zu dieser Zeit das ökonomische Know-how und die Fähigkeit zu wirtschaftspolitischer Beratung. In der öffentlichen Verwaltung waren ökonomische Kenntnisse damals noch dünn gesät, weil die Möglichkeit zu einem volkswirtschaftlichen Studium bis zur Mitte der 1960er-Jahre fehlte. Während der letzten Jahrzehnte entwickelte sich das WIFO immer mehr zu einem international agierenden Kompetenzzentrum der angewandten empirischen Wirtschaftsforschung, dessen Aufgabenbereich sich, weit über nationale Konjunkturanalysen hinaus, zum Brückenbau zwischen Theorie, Empirie und Politik wandelte, der Bewältigung sozioökonomischer Herausforderungen und der Schaffung sachlicher Entscheidungsgrundlagen. Es wurden viele neue wirtschaftspolitische Problemfelder – wie Humankapital, Innovation, internationale Standortkonkurrenz, Migration oder Umweltschutz – aufgegriffen und integriert. Mit der verstärkten Globalisierungswelle seit den 1980er-Jahren nahm der Anteil der internationalen Aufträge kräftig zu. Mit allen neuen Aufgaben war eine deutliche Ausweitung des Mitarbeiterstandes und damit des Finanzbedarfs verbunden. Wie wird es weitergehen  ? Auf vier Problemfelder wird besonders zu achten sein  : Die Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit, die Sicherung einer forschungsadäquaten Finanzierungsstruktur, eine entsprechende Streuung der Aufträge und die Verhinderung des Missbrauchs der Auftragsforschung. Die Unabhängigkeit des Instituts konnte – vom Zwischenspiel im Dritten Reich abgesehen  – über die gesamte Geschichte des Instituts bewahrt werden  ; gele-

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gentliche Anfechtungen konnten abgewehrt werden. Maßgebend dafür waren die Organisation als Verein mit breit gestreuter Mitgliedschaft, die diversifizierte Finanzierungsstruktur und das Renommee des Instituts. Diese Assets gilt es sorgfältig zu bewahren. Das zweite Problemfeld, die Sicherung einer forschungsadäquaten Finanzierungsstruktur, ist heikler. Forschungsfinanzierung ist generell eine schwierige Aufgabe, da (publizierte) Forschungsergebnisse Vielen nutzen, auch denen, die zu ihrer Finanzierung nichts beigetragen haben, von ihrer Nutzung aber nicht ausgeschlossen werden können (Trittbrettfahrer). Insofern wird wissenschaftliche Forschung als Öffentliches Gut zumeist von der öffentlichen Hand finanziert  ; der Anteil der staatlichen Grundfinanzierung sollte mit der Nähe zur Grundlagenforschung steigen. In Österreich hält sich zwar der Bund weitgehend an das Prinzip einer ausreichenden Grundfinanzierung, weniger jedoch die anderen öffentlichen oder halb-öffentlichen Hände  : Die Nationalbank zieht sich aus der Grundfinanzierung von WIFO, IHS und wiiw zugunsten einer von ihr gesteuerten Auftragsforschung zurück. Das bringt diese Institute in eine schwierige finanzielle Situation. Nicht alle Sozialpartner beteiligen sich an dem durch die zunehmenden Aufgaben steigenden Finanzbedarf, teilweise schichten sie ihre Mittel auf abhängige Institute um. Mit einer deutlich sinkenden Grundfinanzierungsquote entstünde für das WIFO die Gefahr einer Annäherung an ein von Auftraggebern abhängiges Consulting-Unternehmen. Damit verbunden ist das dritte Problem, eine entsprechende Streuung der Aufträge. Seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bemühte sich das Institut um internationale Aufträge, und im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts gelang es, neben einem nationalen auch einen sehr großen internationalen Auftrag zu akquirieren. Großaufträge werfen allerdings nicht unerhebliche Probleme auf  : So geht die Konzentration der Ressourcen zwangsläufig zulasten anderer Kunden. Auch fällt es nicht leicht, entsprechend dimensionierte Anschlussaufträge zu bekommen, um das qualifizierte Personal weiterzubeschäftigen. Eine entsprechend breite Streuung der Aufträge nach Größe und Auftraggebern bleibt daher ein ernstes Problem, vor allem bei reduzierter Grundfinanzierung. Eng verbunden damit ist das vierte Problem, die Verhinderung eines Missbrauchs der Auftragsforschung. Abgesehen davon, dass sich manche Auftraggeber gerne an Forschungseinrichtungen wenden, von denen sie ihnen genehme Ergebnisse erwarten, verschwinden Studien mit nicht genehmen Ergebnissen vielfach in versteckten Schubladen. Die Öffentlichkeit erfährt daher nur einen Teil der Forschungsergebnisse, gerade die kritischen werden nicht bekannt, was Zweifel an der Objektivität des Instituts entstehen lassen könnte. Um das zu ver-

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hindern, hat das WIFO 2020 gemeinsam mit dem IHS beschlossen, die Auftraggeber zu verpflichten, mit öffentlichen Geldern erstellte Studien grundsätzlich zu veröffentlichen  ; Ausnahmen wären seitens des Auftraggebers zu begründen und von den Instituten zu dokumentieren. Das könnte natürlich dazu führen, dass Aufträge an weniger strenge Institute vergeben werden. Insofern ist erfreulich, dass sich zuletzt drei weitere wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Institute der Initiative angeschlossen haben (Center for Innovation Systems & Policy am Austrian Institute of Technology, Joanneum Research Instituts Policies und Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche). Ein Missbrauch der Auftragsforschung wird dadurch zumindest erschwert.

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Literatur

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Literatur

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Anhang Zeittafel Leiter

Präsident

Vizepräsident

Vizepräsident

Österreichisches Institut für Konjunkturforschung 1927 bis 1931 1932 bis 1933 1934 bis 1937

Friedrich A. Hayek Oskar ­Morgenstern

Friedrich Tilgner Ernst Streeruwitz

Franz Domes Karl Weigl

Richard Reisch

Johann Staud

Wiener Institut für Wirtschaftsforschung (Zweigstelle des Instituts für Konjunkturforschung, Berlin) 1938 bis 1945

Ernst Wagemann

Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) 1945 bis 1951

Eduard Heinl

Karl Mantler

Hans Mayer

1952 bis 1955 1956 bis 1963

Franz Nemschak

1964 bis 1967

Manfred Mautner Markhof

1968 bis 1971

1976 bis 1980

Alexander Mahr

Wilhelm ­Hrdlitschka

1972 1973 bis 1975

Karl Maisel

Hans Seidel

Theodor Pütz Rudolf Sallinger

1981 bis 1988

Adolf Czettel

1989 1990 bis 1991 1992 bis 1993

Heinz Vogler Helmut Kramer Leopold ­Mader­thaner

1994 bis 1996

Eleonore Hostasch

1997 bis 1999 2000 bis 2002

Herbert Tumpel

2003 bis 2007 2008 bis 2012

Karl Aiginger

Christoph Leitl

2013 bis 2016 2017 2018 bis 2021 2022

Erich Streissler

Christoph Badelt Rudolf Kaske

Christoph Badelt Gabriel Felbermayr

Harald Mahrer

Renate Anderl

Ingrid Kubin

Quelle  : Eigene Zusammenstellung.

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Personenregister Aiginger, Karl 9f, 71, 74, 76f, 79, 81, 86, 88, 91f, 99ff, 112ff, 120, 122, 124, 126f, 129, 135f, 147 Albrecht, Georg 52 Alesina, Alberto 96 Anderl, Renate 147 Androsch, Hannes 48, 51, 53f, 62, 68, 70, 75, 112 Badelt, Christoph 119f, 147 Barone, Enrico 57, 136 Bauer, Wilhelm 24 Baumgartner, Josef 89, 136 Bayer, Kurt 77, 93, 115, 136 Benya, Anton 54 Biffl, Gudrun 77, 80, 91, 95, 136 Bilek-Steindl, Sandra 112, 136f Bischoff, Hans Heinrich 24 Bock-Schappelwein, Julia 112f, 136, 139 Boeri, Stefano 96 Bofinger, Peter 96 Böheim, Michael 103, 112, 136, 138 Bosse, Lothar 32 Breuss, Fritz 77, 82ff, 88, 95, 136 Broda, Christian 67 Bullock, Charles 20 Bundy, McGeorge 56 Busch, Georg 77 Butschek, Felix 10, 14, 17ff, 25, 39f, 45f, 48ff, 53f, 58, 70f, 76, 80f, 90f, 137 Christen, Elisabeth 112, 137 Czerny, Margarete 80 Czettel, Adolf 147 Dietz, Raimund 82f, 145 Ederer, Stefan 102, 137 Egger, Peter 77 Emminger, Otmar 24 Eppel, Rainer 112f, 137

Falk, Martin 103, 138 Falk, Rahel 138 Famira-Mühlberger, Ulrike 113, 138f Felbermayr, Gabriel 10, 147 Felderer, Bernhard 97 Fetzer, Franz C. 38 Firgo, Matthias 138 Firnberg, Hertha 48 Friesenbichler, Klaus 113, 138 Fritz, Oliver 113, 138, 144 Gazzari, Ingrid 56, 58, 144 Geldner, Norbert 95 Gerschenkron, Alexander 14 Glinsner, Franz 50 Glocker, Christian 136f Gorbatschow, Michail 83 Grasser, Karl-Heinz 85f, 97, 142 Guger, Alois 21, 77, 90f, 95, 138, 145 Haberler, Gottfried 14, 20f, 26, 139 Hahn, Franz R. 89, 95, 102, 138 Hallstein, Walter 47 Handler, Heinz 53, 71, 76f, 79, 87, 136, 138 Hayek, Friedrich A. 9ff, 14ff, 26, 32, 57f, 64, 74, 86, 120, 125, 138f, 147 Heinl, Eduard 29f, 147 Hölzl, Werner 112, 138 Horvat, Branko 55 Horvath, Thomas 113, 139 Hostasch, Eleonore 147 Hrdlitschka, Wilhelm 147 Huber, Peter 82, 92, 104, 113, 136, 138f Huemer, Ulrike 112, 136, 139 Hutschenreiter, Gernot 77 Janger, Jürgen 103, 112, 139 John, Ernst 14, 23f, 30ff Johnson, Lyndon B. 56 Juglar, Clément 12 Juraschek, Franz 12, 139

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Personenregister

Kalecki, Michał 64 Kamitz, Reinhard 14, 22f, 26, 38, 44f, 125, 137 Kaniovski, Serguei 136 Kaske, Rudolf 147 Kausel, Anton 35, 50, 90, 121, 139 Kautsky, Benedikt 12, 14, 117 Kelter, Hubert 24 Kettner-Marx, Claudia 113, 139 Keynes, John Maynard 35, 64, 75, 138 Kienböck, Viktor 22 Kienzl, Heinz 47, 54, 80 Klaus, Josef 52, 54, 63 Klausinger, Hansjörg 13, 17, 20f, 75, 139 Kletzan-Slamanig, Daniela 103, 113, 139f Klien, Michael 113, 140 Knirsch, Peter 56 Kohlhauser, Grete 25f Köppl, Angela 77, 93, 103, 139f Koren, Stephan 32, 48, 54, 80, 121, 128, 139f, 143 Kozlik, Adolf 14, 22 Kramer, Helmut 9f, 49, 70f, 73ff, 79, 82ff, 86f, 89, 94ff, 99, 102, 104f, 107f, 114, 119f, 124, 126, 128f, 135, 140, 142ff, 147 Kratena, Kurt 93, 103, 140 Kreisky, Bruno 14, 46, 48, 52ff, 57, 62f, 66ff, 72, 81, 83, 90, 140, 142ff Krugman, Paul 89 Kubin, Ingrid 147 Kügler, Agnes 138f Lacina, Ferdinand 67, 81 Landesmann, Michael 97 Lange, Oskar 58 Łaski, Kazimierz 56, 97 Lazarsfeld, Paul F. 50 Lehner, Gerhard 50, 81, 86, 89, 95 Leitl, Christoph 96, 147 Leoni, Thomas 112f, 137 Levčik, (Bedřich) Friedrich 55ff, 97 Lipponen, Paavo 90 Lutz, Hedwig 139 Machlup, Fritz 17, 20f, 26, 139 Maderthaner, Leopold 147 Magerl, Christa 10

Mahr, Alexander 147 Mahrer, Harald 147 Mahringer, Helmut 112f, 137 Maisel, Karl 147 Mankiw, Nicholas Gregory 64 Mantler, Karl 147 Margarétha, Eugen 44 Marterbauer, Markus 85, 89, 91, 95, 101, 136ff, 141 Mautner Markhof, Manfred 12f, 20, 22, 24, 26, 138, 140f, 147 Mayer, Hans 14, 21, 147 Mayerhofer, Peter 82, 92 Mayrhuber, Christine 85, 139 Meyer, Ina 103, 140 Mises, Ludwig 9, 12f, 21, 26, 57, 64, 74, 86, 117, 139, 141 Mitchell, Wesley Claire 12 Mitic, Max 14, 22, 37 Mitterer, Otto 55 Mooslechner, Peter 71, 77 Morgenstern, Oskar 9ff, 14, 16f, 21f, 26, 36, 50f, 74, 120, 125, 139, 141, 143, 147 Musil, Karl 51, 76, 93 Neisser, Heinrich 54f Németh, Nandor 35 Nemschak, Franz 9f, 12f, 20, 22, 24, 26, 29ff, 35ff, 40ff, 49ff, 54ff, 62, 72, 74, 83, 94, 105, 107, 110, 114, 117ff, 121, 124ff, 138, 140ff, 147 Neumann-Spallart, Franz Xaver 11f, 142 Nowotny, Ewald 79, 96, 142 Nowotny, Klaus 138 Nurkse, Ragnar 20, 26 Nußbaumer, Adolph 48 Oberhofer, Harald 137 Pajestka, Józef 55 Palme, Gerhard 82, 92 Peneder, Michael 79, 105, 138 Pfaffermayr, Michael 77 Pichl, Claudia 140 Pichler, Eva 112, 136 Pitlik, Hans 89, 103, 113f, 135, 142 Pittermann, Bruno 37

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Personenregister 

Pollan, Wolfgang 91, 142 Popp, Nora 68 Pütz, Theodor 48, 95, 147 Puwein, Wilfried 92, 136 Queen Elizabeth II. 89 Raab, Julius 45, 125 Rabitsch, Elisabeth 24 Rehn, Gösta 90 Reinstaller, Andreas 103, 138f Reisch, Richard 13, 147 Robinson, Joan 64 Rodrik, Dani 76 Rothschild, Kurt 21, 32, 36, 47, 49, 69, 75f, 79, 87, 95f, 121, 140, 142 Salcher, Herbert 72, 81 Sallinger, Rudolf 147 Samuelson, Paul 64 Schacht, Hjalmar 22 Scharpf, Fritz W. 66, 142 Schebeck, Fritz 71, 79, 140 Scheiblecker, Marcus 102, 104, 113, 135, 142f Schleicher, Stephan 136, 140 Schneider, Erich 64 Schneider, Matthias 50, 77, 93, 136 Schratzenstaller, Margit 86, 89, 103, 135f, 143 Schulmeister, Stephan 70, 81, 89, 92, 95, 104, 137, 143 Schumpeter, Joseph 21 Schuschnigg, Kurt 30 Schüssel, Wolfgang 85f Seidel, Hans 9f, 22f, 31f, 34ff, 40f, 44, 47ff, 51ff, 57, 61ff, 76, 79, 83, 94ff, 107, 114, 118f, 121ff, 128, 140, 143f, 147 Seidel, Otto 37, 107 Seifert, Arnold 24 Seton, Francis 55 Sieber, Susanne 81, 91, 136 Šik, Ota 55

Sinabell, Franz 82, 113, 140, 143 Skolka, Jiri 70 Smeral, Egon 92 Spann, Othmar 21 Spiethoff, Arthur 12 Stankovsky, Jan 50, 58, 82, 92, 95, 136, 144 Staribacher, Josef 48 Steindl, Josef 14, 22, 32, 36, 50, 64, 71, 87, 89, 95, 121 Stone, Richard 34 Streicher, Gerhard 103, 113, 138, 141, 144 Streissler, Erich 31, 35, 48, 69, 79, 94ff, 144, 147 Strigl, Richard 20, 34 Suppanz, Hannes 79 Thury, Gerhard 71, 79 Tichy, Gunther 10, 12, 16, 18, 20, 35, 49, 63, 65, 68f, 71, 78ff, 86, 88, 95f, 101, 103, 109, 121, 136, 144 Tintner, Gerhard 14, 20, 26 Tumpel, Herbert 147 Url, Thomas 85, 102, 136, 144 Veselsky, Ernst Eugen 48 Vogler, Heinz 147 Volcker, Paul 65 Volk, Ewald 99, 144 Vranitzky, Franz 75, 83 Wagemann, Ernst 22ff, 147 Wald, Abraham 14, 20, 22, 26 Walterskirchen, Ewald 10, 61, 63, 68, 71, 77, 79, 82f, 85, 89f, 95, 101, 103, 109, 136ff, 141f, 144f Weiss, Oskar 48 Winckler, Georg 96 Wolfmayr, Yvonne 92 Wüger, Michael 103, 140 Zwiedineck-Südenhorst, Otto 23f

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