Von den Wandlungen Gottes: Beiträge zur Systematischen Theologie [Reprint 2012 ed.] 9783110864878, 9783110109115

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Von den Wandlungen Gottes: Beiträge zur Systematischen Theologie [Reprint 2012 ed.]
 9783110864878, 9783110109115

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Carl Heinz Ratschow Von den Wandlungen Gottes

Carl Heinz Ratschow

Von den Wandlungen Gottes Beiträge zur Systematischen Theologie Zum 75. Geburtstag herausgegeben von Christel Keller-Wentorf und Martin Repp

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Walter de Gruyter · Berlin · New York 1986

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutseben Bibliothek

Ratschow, Carl Heinz: Von den Wandlungen Gottes : Beitr. zur systemat. Theologie ; zum 75. Geburtstag / Carl Heinz Ratschow. Hrsg. von Christel Keller-Wentorf u. Martin Repp. Berlin ; New York : de Gruyter, 1986. ISBN 3-11-010911-5

^töisrφ © Copyright 1986 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30. Printed in Germany - Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechts der Herstellung von Photokopien - auch auszugsweise vorbehalten. Satz und Druck: Saladruck, Berlin 36 Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin 61

Vorwort Von Carl Heinz Ratschow liegen bisher zahlreiche Veröffentlichungen vor. Doch richtet sich sein Interesse nicht primär auf die Edition seiner Studien. Vielmehr gilt ihm die Vermittlung seines Denkens in der lebendigen Beziehung zu seinen Hörern als wichtigste Aufgabe seines Lehramtes. Um sich aber eingehender mit den Vorlesungen und Vorträgen Ratschows befassen zu können und sie in die theologische Diskussion stärker einbezogen zu sehen, entstand in uns - gemeinsam mit vielen Hörern - der Wunsch nach ihrer Veröffentlichung. Demgegenüber hatte Herr Ratschow das Bedenken, er selbst könne die Wichtigkeit seiner Vorträge über ihre jeweilige Situationsbezogenheit hinaus nicht beurteilen. Doch dem Worte Luthers folgend: „Nun ich dem aber ja nicht wehren kann, und man gegen meinen Willen meine Bücher jetzt im Druck sammeln will . . . , muß ich sie die Kosten und Mühe daran wagen lassen" (WA 50, 657 f.), willigte er schließlich in unseren Plan einer Publikation ein und vertraute uns die Auswahl aus seinen unveröffentlichten wie veröffentlichten Studien zur Herausgabe an. In der Sichtung des umfangreichen Materials bildeten sich zwei thematische Schwerpunkte. Während der Titel „Von den Wandlungen Gottes" den zentralen Gedanken der dogmatischen Beiträge ausdrückt, charakterisiert die Bezeichnung des zweiten Bandes „Von der Gestaltwerdung des Menschen" die Mitte der anthropologischen und ethischen Studien Ratschows. Beim Lesen der beiden Bände wird man rasch erkennen, wie sehr die „Wandlungen Gottes" und die „Gestaltwerdung des Menschen" miteinander korrespondieren. Da das unveröffentlichte Material nur in der Form vorlag, wie es der Zweck des Anlasses erforderte, d. h. in Stichworten und ohne Belegangaben, mußten die ausgewählten Manuskripte in enger Zusammenarbeit mit Herrn Ratschow für den Druck überarbeitet werden. Dabei kam es uns darauf an, den Stil des mündlichen Vortrags zu erhalten. Unser Dank gilt den Verlegern der Originaldrucke von Ratschows Aufsätzen für die bereitwillige Abdruckerlaubnis, besonders aber dem Verlag Walter de Gruyter für die Ermöglichung dieser Edition.

VI

Vorwort

Mit der Veröffentlichung dieser Arbeiten danken wir Herrn Professor D. Dr. Carl Heinz Ratschow für die langjährigen Gespräche, für wesentliche Anregungen und für die Herausforderung unseres theologischen Denkens. Anläßlich seines 75. Geburtstages widmen wir ihm diese Sammlung von Aufsätzen. Christel Keller-Wentorf und Martin Repp

Inhalt

Vorwort

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ZUR THEOLOGIE ALS WISSENSCHAFT

Christentum als denkende Religion 3 Schrift und Tradition 24 Evangelische Theologie in einer sich wandelnden Welt 38 Die theologische Existenz des Gemeindepfarrers in ihrer Bedeutung für die Weiterbildung der Theologie 44 Bestimmung der sog. Praktischen Theologie und ihrer Eigenart aus der Sicht der Systematischen Theologie 69 Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche. Barmen-Gemarke 29. bis 31. Mai 1934 . . . 78 Weltbewußtsein und Gottesgewißheit in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts 102

ZUR THEOLOGIE

Von den Wandlungen Gottes Der Gott des 20. Jahrhunderts Ist Gott angesichts der Leiden in der Welt zu rechtfertigen? Das Heilshandeln und das Welthandeln Gottes. Gedanken zur Lehrgestaltung des Providentia-Glaubens in der evangelischen Dogmatik Die Lehre von der Kirche. Eine trinitarisch aufgebaute Skizze Gottesreich und Geschichtswelt Von den anthropomorphen Vorstellungen des Glaubens und den anthropomorphen Begriffen der Theologie

117 140 168

182 244 259 288

VIII

Inhalt ZUR SOTERIOLOGIE

Gott ja, aber wozu Christus? 299 Von der Auferweckung Jesu. Gedanken zu 1. Kor. 15 315 Rechtfertigung. Diakritisches Prinzip des Christentums im Verhältnis zu den anderen Religionen 336 Brauchen wir heute den christlichen Glauben? 376

REGISTER

Bibelstellen Personen Begriffe

399 400 403

Zur Theologie als Wissenschaft

Das Christentum als denkende Religion*'1" Den Begriff dieses Referates »Das Christentum als denkende Religion« entnehme ich den berühmten Vorlesungen Adolf von Harnacks über »Die Entstehung der christlichen Theologie und des Kirchlichen Dogmas«. Harnack verwendet hier den Begriff der »denkenden Religion«, um die Eigenart des Christentums gegenüber den Religionen zu kennzeichnen, in deren Umkreis es missionierend erwuchs. Er meint damit, daß »keine der anderen Religionen im römischen R e i c h . . . eine >Theologie< bzw. ein Dogma besessen oder sich um den Erwerb dieser Güter mit durchschlagendem Erfolg« bemüht haben. Harnack verkennt nicht, daß es in den hellenistischen Kulten allerdings Versuche in dieser Richtung gab. Aber er meint, diese Versuche seien entweder gescheitert oder sie hätten diese Religionen zu einer »sublimierten Philosophie« werden lassen. Letztlich müsse man doch auch vom Neuplatonismus sagen, daß eine »haltbare Synthese« von Religion und Wissenschaft dort nicht gelungen sei. Allerdings, das Judentum sei auch »denkende Religion« gewesen, nämlich mit Bezug auf das Gesetz. Aber über dies »Denken über das Gesetz« sei auch das Judentum nicht hinausgekommen. Das zeige zumal das alexandrinische Judentum, das »einen mächtigen Anlauf genommen, um sich mit Hilfe der griechischen Philosophie auf die Stufe der denkenden Religion zu erheben«. Dies sei in Philo zumal und einigen anderen auch gelungen — aber das ganze Unternehmen sei dann ja rasch zusammengebrochen. Das von den slawischen Kaisern zerschmetterte Judentum »schied um seiner Selbsterhaltung willen den Hellenismus mit seiner Wissenschaft radikal wieder aus« und zog sich auf sein Gesetz zurück. Was hier bei Harnack unter dem Begriff der »denkenden Religion« gemeint war, ist also klar: Es ist der Vorgang, in dem erstens eine Religion über ihren Kult selbst hinaus zur theoretischen Durchdringung desselben kommt, in dem zweitens eine Religion sich um die Durchdringung des

* Zuerst veröffentlicht in: NZSTh. 5. Bd., 1963, S. 16-33.

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Zur Theologie als Wissenschaft

Lebens ihrer Anhänger mit den Grundmotiven ihrer Religion müht, wie im Gesetz des Judentums, und in dem drittens in bestimmter Weise die Religion sich zu den Wissenschaften ihrer Umwelt — zumal zu ihrem philosophischen Mühen — verhält. Wir handeln hier nun ja aber nicht von der Frage, wie sich das Christentum zu einer bestimmten Zeit zu ebenso bestimmten Religionen verhalten habe, sondern ob und wie das Christentum überhaupt und grundsätzlich als »denkende Religion« angesprochen werden könne oder müsse. Das verändert nicht nur die Fragestellung sondern auch den Charakter des Begriffes der »denkenden Religion«. Im Zusammenhang dieser Problemstellung ist es ja offenbar keine Frage, daß auch andere Religionen sich um die theoretische Durchdringung des von ihnen geübten Kultes gemüht haben. Denken Sie nur an die großen Kulttheorien der ägyptischen Religion, wie das Mundöffnungs-Ritual, das Sciaparelli edierte, oder die Sargtexte des Alten Reiches. Es ist keine Frage, daß sie das tägliche Leben ihrer Anhänger von den gläubigen Prämissen ihrer Grundlagen aus durchdacht und durchformt haben. Ja, manche der außerchristlichen Religionen haben das noch weit stärker getan als das Christentum, wenn man ζ. B. an die Satipatthäna — die berühmte 10. Rede des Majjhima-Nikäya denkt. Und es ist auch keine Frage, daß sie sich denkerisch mit den Wissenschaften ihrer Umwelt, speziell ihrer Philosophie, auseinandergesetzt haben. Das gilt für die verschiedenen Schulen des Islam ebenso wie für die großen Systeme des mittelalterlichen und neuzeitlichen Hinduismus. Man braucht ja auch nur an die Systeme des Lamaismus zu denken, die diese drei Bezugskreise in exemplarischer Weise theologisch durchgeformt haben. Unsere Fragestellung kann daher nicht darum bemüht sein, zu erheben, ob und wie andere Religionen Dogmen und Dogmen-Systeme ausgebildet haben. Sie haben es getan, und sie sind dabei auf ganz analoge ProblemKreise gestoßen, wie z . B . das Dogma von der Zwei-Naturen-Lehre und der einen Hypostasis vom Islam an Hand des Qur'än und vom Buddhismus als Tri-Käya-Lehre entwickelt worden ist. Aber ich meine, es lohne sich allerdings, nach dem Christentum als denkender Religion zu fragen, indem wir versuchen zu klären, ob und in welcher besonderen Weise das Christentum ins Denken hineinführe. Es ist allerdings falsch zu vermuten, das Christentum allein sei »denkende Religion«, als habe nur das Christentum Theologie oder als sei alle außerchristliche Religion bloß enthusiastischer Kult oder ähnliches. Aber ich meine nun, daß allerdings das Christentum in einer Weise ins Denken führt, die es

Das Christentum als denkende Religion

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gleichwohl angemessen sein läßt, von ihm in besonderer Weise als »denkender Religion« zu reden. Diese Überlegung wird unseren Kreis, der sich mit der religionsphilosophischen Fragestellung befaßt, interessieren, denn wie immer man Aufgabe und Methode religionsphilosophischer Arbeit näher bestimmt, die Eigenart dessen, woran und woraufhin der Christ als Christ ins Denken gerät, wird für alle religionsphilosophische Bemühung von Belang sein müssen. — Wenn wir so an unsere Fragestellung herangehen, so wird eine erste kurze skizzenhafte Überlegung notwendig sein, die uns vergegenwärtigt, wieso alle Religion als Religion immer auch denkende Lebensbewegung ist, und woraufhin Religion als Religion eigentlich ins Denken gerät.

I. Alle Religion ist denkende Religion Joachim Wach sagt einmal: Das »Hinstreben religiöser Erfahrung zum Ausdruck ist eines ihrer (sc. der Religion) universalen Kennzeichen, die auch auf die Mystik und den Spiritualismus zutrifft« 1 . Wir sehen alle — auch die primitiven Religionen mit dem Problem befaßt, ihre Erfahrung an der Gottheit umzusetzen in Ausdrucks-Gestalt. Dabei werden sehr unterschiedliche Weisen solcher Ausdrucks-Gestalt erkennbar: Die Gebärde und die Handlung als kultischer Ritus wie als sittliches Tun gehören dazu wie das Wort und die Rede. In allen Formen und an allen Weisen des Ausdrucks macht sich aber ein theoretisches denkerisches Bemühen geltend, das sich auch eigene Ausdrucks-Gestalten schuf, deren vornehmste Arten man in aufsteigender Linie als: Symbol, Mythos, Lehre und Dogma wiedergeben kann. Das denkerische Bemühen, das wir in allen diesen theoretischen Ausdrucksgestalten am Werke sehen, besteht in dem Bestreben, das begegnete numen, das nun nicht mehr da ist, zu vergegenständlichen und seine impressio also objektiviert einzufangen und als eben diese, also individuiert, festzustellen. Der tief notwendige Anspruch an diese theoretischen Ausdrucks-Gestalten aber muß darin bestehen, daß dieser objektivierte und individuierte Ausdruck der empfangenen impressio dei konvenient sei. Dieser Anspruch muß erhoben werden, denn jene impressio dei muß im 1

Joachim Wach: Vergleichende Religionswissenschaft. Urban-Bücher Nr. 52, S. 82.

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Zur Theologie als Wissenschaft

Verweis des Ausdrucks bleiben — auch wenn dieser Verweis in seiner Ausdrücklichkeit ihre Bedeutsamkeit nicht einfangen kann. Das Ereignis von Religion besteht in dem Hervortreten der Gottheit, das in seiner ganzen Kontingenz erfahren Garant von Dasein, Leben und Heil besagt. Es geht auch in der theoretischen Ausdrucks-Gestalt um die Wiederfindung dieses Ereignisses als Lebens-Notwendigkeit. Dabei ist das Symbol als »endeiktische Ausdrucksform« 2 oder Hinweis das vornehmste Mittel, das den anderen Formen insofern überlegen ist, da es nicht an die Sprache gebunden, Zeichen und Gebärde zum Ausdruck denkender Fixierung des Ereignisses machen kann. Am Symbol wird am ehesten einsichtig, was Henri Focillon sagte: »prendre conscience, c'est prendre forme« = Bewußtwerdung heißt Formgebung 3 . Und man kann das Symbol nicht etwa einschränken auf Handlungen, sondern es ist Grundstruktur der Aussage bis ins Dogma hinein4. — Das Symbol hat eine Sonderstellung in den theoretischen Ausdrucksgestalten von Religion, es übergreift sie. Aber der symbolische und der begriffliche Ausdruck entstammen einem analogen Vorgang, in dem die Epiphanie oder die Gottheit aus dem lebensvollen Widerfahrnis heraus als eine mitteilbare und objektivierbare so ausgedrückt wird, daß man sich dieses Gottes wieder versichern kann, wo man seiner bedarf. Die denkerische Bewältigung, vor deren Aufgabe alle Religion steht, besteht in der Findung der Angemessenheit des Ausdrucks zum erfahrenen und wieder gesuchten numen. Dabei geht es auch nicht nur um das Wiederauffinden oder Zitieren als Herbeirufen, sondern auch um die Belebung und Stärkung der Aura des bestimmten Gottes wie in dem vedischen Preisliede. Der Mythos hat gegenüber der Lehre und dem Dogma zwar auch seine besondere Eigenart. Aber er ist nicht Ausdruck primitiven Welterkennens, das man eines Tages ersetzen könnte oder müßte, sondern er stellt zwischen dem Symbol einerseits und der Lehre und dem Dogma andererseits eine ganz eigene qualitas religiösen Ausdrucks dar, der sich in bestimmter Weise auch in Hochreligionen erneuert. Der Mythos ist Erzählung. Aber, wie Malinowski mit Recht sagt: er ist »nicht bloß erzählte Geschichte, sondern eine erlebte Wirklichkeit«5. Er wandelt sich vielfältig aus dem gelebten 2

Ebd. S. 80.

1

W. L o o f f : Der Symbolbegriff in der neueren Theologie und Philosophie. Köln 1955. S. 27.

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Ebd. S. 28.

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Zitiert bei J . Wach, a. a. O . S. 84.

Das Christentum als denkende Religion

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Umgang mit der Wirklichkeit der Gottheit, die in ihrer Epiphanie einen bestimmten Seinsbereich aitiologisch auf seine letzte Bedingtheit hin erschlossen hat. Was den Mythos auszeichnet, ist dies, daß die erfahrene Gotteswirklichkeit nicht nur auf ihren objektivierbaren Heilsgehalt reduziert, sondern zu einer Ereignisabfolge in Raum und Zeit verdichtet wird, so daß das mythisch erzählte Einzelgeschehnis »allgemeine sittliche und religiöse Realitäten« begründen kann 6 . Der Denkvorgang vollzieht sich zwischen dem Einzelnen des mythologisch Ergreifbaren, das immer auch ein Einzelnes in Raum und Zeit ist, und dem Allgemeinen des in seinen sich wandelnden Situationen lebenden Lebens. Die Denkbewegung am Mythos besteht in der Reduktion des Allgemeinen auf seine Inkorporation in jenem Einzelnen. Das ist nicht nur ζ. B. so im »tat tvam asi« der Brahman-AtmanMythologie, sondern ebenso in der Aufnahme von Gen 3 als Unterlage der sogen. Erbsünden-Lehre und ihrem Verhältnis zur aktualen Schuld, wie in der Götterlehre des Hesiod. Eine besondere Rolle spielt dabei die Aitiologie, d. h. die Frage nach dem zureichenden Grunde. Dabei ist der Mythos darin spezifisch religiös und der impressio dei verbunden, daß er Gott als die letzte alles bedingende Ursache verkündet. Gott ist es, der den Grund der Möglichkeit allen Daseins darstellt — sei es Stammesgemeinschaft, Bodenkultur, Herdenfruchtbarkeit oder das Sein in ihnen allen als Wirken. Die essentia wird stets als existentia ausgesagt, und die existentia wird stets an der essentia ausgelegt. Damit macht der Mythos die Gottheit und ihr Heil wiedererkennbar. Indem der Mythos divinatorisch objektiviert, individuiert er. Indem der Mythos das Einzelne fixiert, macht er das Allgemeine sichtbar. Seinem Wesen nach hängt er eng an dem widerfahrenen Ereignis des gottheitlichen Eingreifens, so daß er sich mit und nach ihm wandeln, erneuern und mit ihm absterben kann. Der Mythos kann aber auch gesammelt und kanonisiert werden und so die Unterlage, ja den wesentlichen Gehalt von Lehre bilden. An dem kanonisierten Mythos waltet die fortreichende Lebendigkeit religiöser Erfahrung als Auslegung und Deutung. Die Lehre trägt gegenüber Symbol und Mythos ihre Eigenart zunächst nur in der »systematischen Entfaltung« und damit a) in ihrer normativen Tendenz, die b) abweichende Meinungen bestreiten läßt. Robert Redfield

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W. Jaeger: Die Theologie der frühen griechischen Denker. Stuttgart 1953. S.22.

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hat in seinem Werk »The primitive World and its Transformation« 7 gezeigt, wie in den frühen Kulturen diese »Zusammenordnung« von Symbolen und Mythen als Lehre schon ihre bedeutende Stelle hat, was W. Jaeger analog z.B. für Hesiod zeigte. Jedenfalls ist es wohl zunächst wichtig zu sehen, daß und wie Lehre als rationale Ordnung der denkerischen Objektivierung und Individuierung in Symbol und Mythos nicht als Einbruch eines fremden Momentes nämlich des »Denkens« in religiöse Emotionen verstanden werden kann. Lehre dient in bestimmter Weise zur Handhabung der symbolischen Objektivationen und zur Verknüpfung der mythischen Formelemente. So wie der Ausdruck zur Religion gehört und den Ubergang aus der unvermittelten Begegnung in den denkerisch vermittelten Umgang mit der Gottheit als Symbol oder Mythos voraussetzt, so gehört die Lehre als Verknüpfung des individuierten Kontingenten zur Religion. Die Lehre hat dem Symbol und dem Mythos gegenüber insofern eine besondere Intentio, als die Zusammenordnung der als Symbol und Mythos mitteilbar gewordenen impressio numinis zum Behufe geordneter Unterweisung der Adepten geschieht. Der Priester-Schüler soll unterwiesen sein, damit er in der Lage ist, der Gottheit zu dienen. Zugleich dient die Lehre der notwendigen Abgrenzung im räumlichen Nebeneinander wie die Einordnung und Harmonisierung im zeitlichen Nacheinander verschiedener Kulte. Das heißt, mit der Lehre gewinnt ein Symbol und Mythos gegenüber neuartiges, theoretisches Interesse Platz als pädagogisches Zurichten und apologetisches Ausrichten. Die Lehre ist also als theoretischer Ausdruck von Religion weder die zufällige Explikation des Weltverständnisses aus ihrer der Welt Vorhandenheit heraus noch die notwendige Aussage der Möglichkeit meines Daseins aus Entscheidung heraus, wie R. Bultmann 8 die Lehre charakterisiert. Sie ist vielmehr die auf der Einsicht in die Natur der Daseinsbegründung ruhende, sie pädagogisch zurichtende und apologetisch ausrichtende Zusammenordnung der ihr in Symbol und Mythos zukommenden impressio dei. Dabei ist es wohl wichtig zu überlegen, daß Lehre in den außerchristlichen Religionen aus der Notwendigkeit der Traditio der letzten Wahrheit entspringt. Gegenüber dem Christentum liegt hier ein sehr wesentlicher Unterschied, da im Christentum diese Weitergabe als

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Vgl. auch J. Wach, a.a.O. S.87. Glauben und Verstehen. Bd. II. S. 160.

Das Christentum als denkende Religion

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Zeugnis oder Verkündigung jenseits von Lehre jedenfalls nicht nur als Lehre geschieht. Aber davon werden wir noch einiges zu sagen haben. Diese Lehre stellt dabei nicht notwendig den Ausschließlichkeitsanspruch, wie zumal die altägyptische Religion zeigt, deren Lehren in der wechselvollen Aufnahme und Verbindung der verschiedenen symbolhaft ergriffenen und mythisch gestalteten Götter-Systeme bestand. Erst unter dem Begriff des Dogmas können wir die Abgeschlossenheit beschreiben, die die Abgrenzung notwendig macht, die als Endergebnis zwar noch der Interpretation und dadurch auch der Aufnahme neuer Elemente fähig ist, die aber so fixiert bleibt, daß sie neuer Begegnung nicht mehr selbst offensteht. Die kurze Skizze der theoretischen Ausdrucksform von Religion war notwendig, um deutlich zu machen, wie wir den Rahmen abstecken, wenn wir von »denkender Religion« handeln. Man muß sagen, daß alle Religion in der Hinsicht denkende Religion ist, daß das Hervortreten der Gottheit den Menschen nicht nur in kultische Bewegung versetzt, sondern daß sie ihn mit dem Vergehen der impressio zu einem Ausdruck zwingt, der Mitteilbarkeit und Wiederaneignung oder Wiederfindung erlaubt. Das aber bedeutet, daß die Fähigkeit des Menschen, Eindruck und Anschauung als unmittelbares Widerfahrnis objektivierend zu fixieren und zu individuieren und in Symbol, Mythos, Lehre und Dogma die Vermittlungen bereitzustellen, die convenienter oder angemessen Wiederfindung als Schluß vom Einzelnen auf das Allgemeine ermöglichen, daß diese Fähigkeit des Menschen mit der Epiphanie der Gottheit in eminenter Weise herausgefordert ist. Dabei ist klar, daß Religion immer auch auf andere Weisen der erfahrenen Gottheit nachgeht. Im Symbol sind wir jenen anderen Weisen — den Dromena — noch ganz nahe, ja das Symbol hat oft jene Seite des unvermittelt Wirkenden noch ganz an sich. Jedoch man darf das nicht überspitzen. Gerade ein Studium der tantrischen Symbolik, wie sie im zentralasiatischen Lamaismus zur höchsten Perfektion gebracht ist, und ihr Gebrauch der Mandala lehrt einen, wie tiefgreifend denkerische Vermittlung zur Basis des Tantrismus gehört und wie romantisierend falsch die Auffassung von der bloßen Unvermitteltheit auch dort ist. Das Mandala wirkt aber allerdings nur unter Voraussetzung dessen, der seine ebenso tief wie kompliziert gedachte, rationale Zurichtung kennt. Es ist ja auch glücklicherweise in der Religionswissenschaft keine Einzelmeinung mehr, daß Mystik und Rationalismus eng zusammengehören und jedenfalls keine Gegensätze sind! Aber immerhin, Religion reagiert von ihrem Anstoß, dem

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Hervortreten der Gottheit, aus nicht nur denkend, sondern auch unvermittelt reaktiv. Jedoch das macht ihr Wesen nicht aus. Dies ist am ehesten daran zu erkennen, wie der Dämon sich von der Gottheit scheidet. Der Dämon ist das Wesen, dessen Wirken man zwar erfährt, das sich aber in einer so diffusen Unerkennbarkeit und Undurchschaubarkeit hält und verbirgt, daß kein gültiges Symbol und kein Name oder Begriff in den drohend verschwommenen Bereich seiner Wirksamkeit einzudringen vermag. Der Dämon kann aber zum Gott werden, und das ist da geschehen, wo er fixierbar wird, wo er mitteilbar wird, und wo über die Kontingenz der Begegnung hinaus ein Umgang möglich wird. Es ist ja nicht so, daß der Gott etwa gut und hilfreich, der Dämon aber böse wäre. Sondern die Grenze läuft auf der Linie möglicher denkender Objektivierung, Individualisierung und Fixierung — wie die Kultlegende vieler Gottheiten, die Dämonen waren, erkennen läßt. In unserer kurzen Übersicht hätten wir also zunächst gegenüber dem Proponendum von Harnack hervorzuheben, daß alle Religion denkende Bewegung ist. Das stimmt auch noch für die schamanistischen Kulturen. Der Schamane rast nicht nur und verfällt nicht nur in Trance, sondern er muß auch das Widerfahrnis ordnen, einordnen, deuten und zusprechen. Seine Schamanen-Krankheit und seine Ausbildung haben ihn zu beidem befähigt. Nicht nur die Wiedergabe seiner Geister-Reisen und die Deutung jener vielen Begegnisse dabei, sondern auch die Kunst der Krankenbehandlung ζ. B. setzen jenen dem Ausdruck grundlegenden Vorgang von Individuierung und Objektivierung des Numinosen voraus, so daß man der gesamten Erscheinung mit Erklärungen rein mediumistischer oder hysterischer Art nicht voll gerecht wird, so viel Richtiges auch daran ist. Jede Religion ist in bestimmter Weise denkende Religion, insofern sie mit der ihr eigenen Anlage auf Ausdruck hin darauf angewiesen ist, die Gottes-Begegnisse so zu objektivieren und zu individuieren, daß Symbol, Mythos oder Lehre zur angemessenen Wiederfindung der Gottheit taugen. Jede Religion ist aber nicht in gleicher Weise denkende Religion, denn die Unterschiedlichkeit der manifestativen bzw. inspirativen Gottesbegegnungen bedingt auch tiefgreifende Unterschiede im theoretischen Ausdruck der Religion. Es ist ja keine Frage, daß im Hinduismus der Mythos ebenso grundsätzlich und großartig durchdacht und denkerisch angeeignet ist, wie sich im Islam die mutakallimun, die Theologen, die den kaläm genannten äußersten Flügel der rationalistischen Theologie mit atomistischer Spitze führten, mit der Frage der Sprache als Rede Allahs und als Rede der

Das Christentum als denkende Religion

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Theologie befaßten'. Jedoch die hinduistische ätman-Lehre in ihrem Verhältnis zum Weltgrund z . B . ist von den Erörterungen der mutakallimun über die Eigenschaften Allahs u.a. so himmelweit verschieden, daß man sich fragt, ob man beides wirklich noch auf eine Ebene bringen kann. Es geht allerdings in beidem um mythenhafte Lehre, die in der oben skizzierten Funktion vor uns steht. Es geht in beidem auch um Lehre, die Folgerungen in den rechts- und naturphilosophischen Bereich hinein hat. Aber gleichwohl sind es zwei Welten, die von ihrem Grunde her unendlich geschieden einen Vergleich kaum zulassen. Die mutakallimun, deren Fragen nach Ibn Khaldun von der Wahrnehmung der dunklen Stellen im Qur'än hervorgerufen sind, verdanken ihr Dasein also einem Denkanstoß, der der Schriftgelehrsamkeit entwachsen der Hermeneutik als zentralem Problem huldigt und eine Scholastik heraufgeführt hat, der das gelebte Leben von Religion völlig entglitten ist10. Die hinduistischen Systeme kennen zwar auch Schriftgelehrsamkeit als Interpretation, der BhagavadGltä etwa, aber was sie charakterisiert, ist das unablässige Bemühen, denkerisch meditativ an der Gottheit selbst zu bleiben und dem religiösen Akt selbst erklärend und helfend zur Seite zu sein. Die Unterschiede, die die Religionen an sich tragen, lassen sich immer auch in diesem Bereiche des theoretischen Ausdrucks erheben, ja sie treten in diesen Zusammenhängen vielleicht besonders deutlich hervor. Jedoch wie groß diese Unterschiede auch sind, so können sie nicht übersehen lassen, daß der Ausdruck des religiösen Momentes in allen Religionen offenbar analogice immer auch in einem Vorgang des Objektivierens und Individuierens gesucht werden muß. Aber diesen Vorgang müssen wir uns noch genauer ansehen, um der Eigenart des Christentums auf die Spur zu kommen. Bevor wir das tun, muß noch einer Seite des Ganzen Erwähnung getan sein, die uns hier nur am Rande beschäftigen soll, die aber von zentraler Wichtigkeit ist. Alle Religion nämlich ist denkende Religion, insofern sie das Hervortreten Gottes stets nach seinen ethischen Folgen bedenkt. Der Übersetzungsvorgang von der impressio dei, die selbst fast immer einen ethischen Akzent hat, in die anwendbare Paränese hat die »Vernunft« immer wieder in besonderer Weise herausgefordert. Die einfache Form besteht in Ausführung empfangener Weisungen. Aber diese Weisungen ' Handbuch des Islam. Leiden 1937. Sp. 261 a. Ebd. Sp. 262 b.

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oder Gesetze erweisen sich ja als akkomodiert. Sie müssen ausgelegt und verändert werden. Die Wichtigkeit dieses ganzen Umdenkens ist darin begründet, daß der Gott sein Heil an ethische Bedingungen zu binden pflegt, daß dieser Vorgang also zur Ermöglichung der Wiederfindung der Gottheit gehört. In der Begründung der paulinischen Paränese ζ. B. wird ja deutlich, wie stark an dieser Stelle die Vernunft als Nüchternheit und Sachgemäßheit auch im Christentum gefordert erscheint. Dieses ganze große Gebiet des denkenden Religions-Ausdruckes in die Paränese hinein klammere ich aus, um nur das Wichtigste skizzieren zu können. Es umfaßt aber alle Religionen wie das Christentum in ganz analoger Weise. So wichtig dieser ganze Bereich tatsächlich ist, so sehr betrifft er uns nicht, weil in ihm das Christentum keine wesentlich besondere denkerische Bemühung übt, vielmehr ganz analog zu den anderen Religionen diesen Umsetzungsvorgang zu tun hat.

II. Der theoretische Ausdruck nach Grund und Folge Wir haben uns bisher um den theoretischen Ausdruck so gekümmert, daß wir seine Gestalten wie Symbol, Mythos und Lehre uns vorgestellt haben. Wir müssen nun aber das Geschehen, das sich im theoretischen Ausdruck vollzieht, und das sich in der Symbolfindung ganz analog wie in Mythos und Lehre vollzieht, noch kurz analysieren, ehe wir uns dann die Eigenarten des Christentums vorstellen. Wir gingen ja davon aus, daß das zentrale Ereignis von Religion das manifestative oder inspirative Hervortreten der Gottheit sei. Es kann nicht geleugnet werden, daß ein solches Ereignis jedenfalls im Bewußtsein der Anhänger einer Religion die Mitte und die Basis ihres Daseins als homines religiosi abgibt. Ich meine auch, es sei wenig sinnvoll, sich aus diesem Bewußtsein herauszustellen und es nach dem Modell eines utilitaristischen Pragmatismus erläutern zu wollen, wie es heute oft Brauch ist. Wir setzen also mit der Offenbarung als grundlegendem Datum ein. Für den von ihr betroffenen Menschen fixiert sich die Zeit nicht nur, sondern die zugehörige Welt mit Ortung, Wetter, Baum etc. von dieser Offenbarung her. An der Manifestation orientiert sich das eigene wie das gesellschaftliche Dasein. Dieser Ordnungsfaktor, der in der ganzen Breite gottheitlicher Anweisungen und Heilsgaben in allen Religionen von den Sammler-Kulturen an vor uns steht, umfaßt kosmogonische, soziogonische, arbeitstechnische und

Das Christentum als denkende Religion

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ethische Motive. Diese Bereiche haben sich im vorwiegend räumlich orientierten sogen, polytheistischen Religions-Bezirke auf mehrere Gottheiten verteilt. Die Welt als das Ungeheure, das für die Sammlerkulturen im ganzen ungeortet und ohne zeithafte Fixierung bleibt und das im Polydämonismus auch nur eine oberflächliche Ortung niemals aber seine Zeitigung erfährt, tritt mit der Manifestation in seine »Konstellation«. Die nun apperzipierbare Welt wird geheuer und reicht so weit, so weit der Lebensraum der Verehrer reicht. Jenseits dieses Lebensbereiches bleibt das udgard, das Ungeheure, bestehen. Der räumliche und zeithafte Bezugspunkt bleibt die Manifestation. In sehr vielen Kulturen bleibt dabei die Zeitigung im Banne raumhafter Vorstellungen. Dessen Zeichen ist der Zyklus als KreisBild und Wiederkehr des gleichen. Die deutlich erfahrene Kontingenz und Unvergleichlichkeit des Hervortretens der Gottheit wird einem räumlichen Denken mit der Kreisgestalt der Manifestation wieder angenähert. Aber der Mythos zeigt, wie die Gottheit und ihr Tun stets auch in der Zeit erlebt, durchdacht und erfaßt ist. Dieses »Damals war zunächst das, und dann tat er d a s . . . « schafft die lebendige Empfindung des Heute, das nicht mehr im »Damals« des Heils wohnt. Die lebendige Erfahrung der entfremdenden Distanz hat sich niedergeschlagen in den ganzen Mythen, die vom Abbruch der Gottesgemeinschaft durch Schuld berichten. Diese Entfremdung, die immer auch als Selbst-Entfremdung erfahren wird, ruht auf dem tiefen Abstandsgefühl vor dem Gotte, das mit seinem Hervortreten gegeben ist. Gott — der Mensch und seine Welt treten mit der Epiphanie des Gottes in ihre räumliche und zeithafte »Konstellation« als bestimmte Zuordnung und bestimmte Anordnung. Der Mensch und seine Welt gewinnen ihren Anfang, und das ist nicht etwa nur angesichts der spezifischen Urheber-Gestalten so, denn der ontische Beginn ist Ausdruck oder Conclusion aus dem Beginn der »Konstellation« als Zuordnung und Anordnung. Die Schöpfungsidee ist eine konsequente Folge aus dem Heil, das in Zuordnung und Anordnung unter der Weisung des Gottes geschah. Der Mensch aber erfährt sich darin als Mensch vor dem Gotte, als Sterblicher, Unreiner, Unheiliger vor dem Ewigen, Reinen und Heiligen. Darin erfährt er also seinen Abstand, seine Entfremdung erstens und grundsätzlich vor dem Gotte — darin aber von sich selbst als diesem in sich selbst und aus sich selbst in Frage gestellten Wesen und damit von der Welt, die zu ihm gehört. Religion ist in ihrem theoretischen Ausdruck als Symbol, Mythos, Lehre und Dogma der Vorgang, in dem diese »Konstellation«, Zuordnung

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wie Anordnung, die den Menschen in die Entfremdung und damit in die Möglichkeit von Objektivierung und Individuierung bringt, zunächst beschrieben und fixiert wird, und in dem die Gottheit — Inbegriff der heilvollen Möglichkeit der »Konstellation« — theoretisch signalisiert und wieder auffindbar gemacht wird. Das Symbol und der Mythos leben dabei weithin von der Uberzeugung, diese Wiederbringung Gottes aus sich selbst und mit sich selbst zu tun. Die Lehre und das Dogma verweisen auf die kultischen Vermittlungen, in denen diese Wiederbringung geschieht. Symbol und Mythos sind daher nur zum Teil theoretisch, bzw. sie trauen dem »Inbegriff« noch so viel Kraft zu, das Ereignis zu vollbringen. Beide Seiten, Symbol und Mythos wie Lehre und Dogma, sind aber davon durchdrungen, diese Wiederbringung auch tatsächlich zu vermögen — sei es vermittelt oder unmittelbar. Darin besteht ihr Wahrheitsanspruch. Er hat seinen Grund in der Konvenienz des Ausdrücklichen zum Heilsereignisse am Anfang. Grundsätzlich ist dieser Sachverhalt auch für das Christentum gegeben. Die Bedeutsamkeit der Epiphanie Gottes für Mensch und Welt in Anordnung und Zuordnung — auch gerade zeithaft; die darin angelegte Selbstentfremdung des Menschen als Folge des Nahewerdens Gottes; und die darauf ruhende Entfremdung vor der Welt — diese Momente, die den Grund dafür legen, daß der theoretische Ausdruck der Religion gesucht und gefunden werden kann, sind offenbar auch hier anzusetzen. Jedoch es ergeben sich bei näherem Zusehen einige bedeutsame Unterschiede.

III. Die Eigenart des Christentums 1. Das Zeugnis Wir gingen oben davon aus, daß es offenbar zur Religion als Religion gehört, ihrer Uberzeugtheit auch theoretischen Ausdruck zu verleihen. Diese Tatsache ist auch nicht nur eine Folge davon, daß der Mensch als animal rationale das nun mal so macht, sondern der Anlaß ist in dem Ziel des Ganzen schon deutlich ablesbar: Die Gottheit muß wiedererkennbar und wieder-holbar dargestellt sein — sei es als Symbol oder Mythos, sei es in Lehre und Dogma. Der theoretische Ausdruck löst das Problem der Wiederholung Gottes in seiner Weise. Da der Mensch durch das Hervorgetretensein der Gottheit als ein diesem seinem Gotte entfremdeter Mensch,

Das Christentum als denkende Religion

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ein unheiliger, nicht reiner, nicht ewiger etc. aufgedeckt ist und so seiner selbst wie seiner Welt entfremdet ist, ist ihm die theoretische Brücke notwendig, denn die Unmittelbarkeit ist verstellt. Religion kommt um die Vermittlung im theoretischen Ausdruck nicht herum. Der Anlaß und der Grund also liegen auf der Hand. Aber schon an dieser Stelle taucht für das Christentum ein Unterschied auf. Gewiß, auch das Christentum kommt um den theoretischen Ausdruck nicht herum. Seine Gläubigen teilen jenes Moment der Entfremdung in Analogie zu den Angehörigen anderer Religionen. Aber offenbar ist der Anlaß nun doch andersartig und nicht mit der Wiederholung der Epiphanie zu umschreiben. Wir werden von diesem Momente sogleich noch sprechen und sehen, dies kann für das Christentum wirklich nicht im Zielpunkte des theoretischen Ausdrucks liegen. Es schiebt sich vielmehr ein ganz anderes Moment in den Vordergrund, nämlich das »Zeugnis vor der Welt«. Das heißt, der theoretische Ausdruck betrifft nicht — jedenfalls nicht primär — die Wiederaneignung Gottes, davon ist sogleich zu handeln, sondern die Weitergabe der Botschaft. Es ist ja seit langem und immer wieder beobachtet, daß in diesem Momente eine Eigenart des Christentums den anderen Religionen gegenüber liegt. Gewiß, der frühe Buddhismus kennt einen Missionsbefehl Gautamas an seine Jünger. Aber dort ist diese Weitergabe doch sehr andersartig begründet — im Mitleiden, der mettä, mit den Wesen der Welt. Dieses Hinausgreifen des frühen und des gegenwärtigen Buddhismus ist nicht in der Sache selbst begründet. Das ist aber beim Christentum der Fall. Man kann ja wohl ohne viel Einschränkung die These vertreten, daß ChristSein Zeuge-Sein heißt, und daß christlicher Glaube jedenfalls nur voll da anzunehmen ist, wo das Zeugnis laut wird vor der Welt. Wenn Christentum aus seinem Ursprung heraus das Wort von der Versöhnung für die Welt und vor der Welt ist, so gehört es zur Sache, wenn das Christentum aus seinem Stehen vor dem Angesichte Gottes heraustritt, die Wendung zur Welt einnimmt und dabei sein »vor-Gott-Sein« auf diese Welt hin durchreflektiert. Das heißt aber in ganz spezifischer Weise ins Denken geraten: Der, für den diese Reflektion geschieht, ist ja eben die zuhandene Welt, die eine Welt des Hellenismus war und dann auch einmal eine Welt des Barock und die nun diese naturwissenschaftlich technisch bestimmte Welt der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts ist. Wenn es so ist, daß das Zeugnis-Ablegen von Gottes Tat in Christo zum Christentum gehört, Christentum, das Selbst-Genuß des Einzelnen oder der Gemeinde wird, defekt ist — und ich glaube, das kann nicht anders gesagt werden — dann ist hiermit ein erstes

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Moment gekennzeichnet, in dem das Christentum in spezifischer Weise über das, was Religion als denkende Religion stets ist, hinaus zur denkenden Religion wird. Es geht in diesem Momente also um das Heraustreten des Christen aus der Konfrontation zu Gott — aus dem Ich-Du, wie man das genannt hat — in das Ich-Er, wovon nun dieser bestimmten Welt gesagt sein soll. Dabei wird also diese bestimmte Welt als die Welt reflektiert, der eben das gilt, was Gott für den Christen beinhaltet. Dazu gehört das Bemerken, wovon wir gleich noch mehr sagen müssen, daß der Bezugspunkt allen christlichen Zeugnisses — nämlich das Alte und Neue Testament — selbst aus einer solchen Wendung zu ihrer Welt hervorging. Wenn man Paulus' Briefe an vorwiegend griechische Gemeinden mit denen an vorwiegend jüdisch bestimmte Gemeinden vergleicht, wie das in der Arbeit von Stürmer über »Auferstehung und Erwählung« geschehen ist, so bemerkt man, wie Paulus diese Notwendigkeit offenbar sehr genau empfunden und geübt hat. Dem Juden ein Jude und dem Griechen ein Grieche zu werden, gehört offenbar zum Zeugnis selbst dazu und stellt die Aufgabe dieses Denkvorganges. Es ist ja eigentümlich zu sehen, wie die großen asiatischen Religionen heute alle mit einem neuartigen Welt-Sendungs-Bewußtsein auftreten, was, wie im Hinduismus z.B., zu ihrem Wesen sich schlecht fügt. Man hat gezeigt, wie diese eminente Bewegung aus einer intensiven Öffnung zum Christentum in der 2. Hälfte des vorigen Jahrhunderts hervorging, die zu dieser neuartigen Integration der Religionen wurde. Und man kann nun sehen, wie mit diesem neuartigen Ansprüche unser Problem überall lebendig wird und eine Auseinandersetzung mit der modernen Welt allenthalben Problem Nummer 1 wird. Allerdings kann man auch sehen, wie das weithin in bloßer Apologetik landet und daß Apologetik nicht das ist, worum es hier geht! Es geht vielmehr darum, die Botschaft des Alten und Neuen Testamentes auf diese Welt hin so zu durchdenken, daß diese Welt hören kann: mea res agitur, oder meine Fragen werden hier beantwortet. Wer sich mit diesem unabschließbaren Prozeß befaßt, der weiß, wie eminent diese Aufgabe allein schon in der sachgemäßen Erfassung der Frage, die heute in bezug auf Gott gefragt wird, ist. Spezifisch aber ist diese Aufgabe darin, daß der Mensch dieser Welt in seiner Selbstauslegung vor seiner Welt zum Gegenstande der Reflexion wird, die mit dem Ziel geschieht, die Botschaft nicht überhaupt zu sagen, sondern sie diesem Menschen als sein Heil zusprechen zu können. A.Schweitzer hat in seiner »Mystik des Apostel

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Paulus«11 gesagt: »Lebendige Wahrheit kann das Christentum den aufeinanderfolgenden Geschlechtern nur werden, wenn in ihnen ständig Denker auftreten, die im Geiste Jesu den Glauben an ihn in den Gedanken der Weltanschauung ihrer Zeit zur Erkenntnis werden lassen«12. Es ist von hier aus einleuchtend, daß der theoretische Ausdruck des Christentums zumal in Lehre und Dogma eine andere Funktion erhält, als wir es oben für die Religionen meinten annehmen zu dürfen. Allerdings, das andere Moment, das wir in den Religionen beobachteten, ist auch da. Auch im Christentum wird der theoretische Ausdruck ζ. B. die Paulus-Briefe gepflegt, um das Problem der Vergegenwärtigung dieser bestimmten Gottesoffenbarung in Christo zu beschreiben, so daß sie der Grundsache konvenient geschehen kann. Aber die zentrale Linie des Interesses läuft von Zeugnis zu Zeugnis und gestaltet damit immer ein ganz spezifisches Denkproblem als wache Aufnahme der Zeit und ihrer geistigen Gründe, die so in anderen Religionen nicht da war. Darum fehlen den christlichen Kulturen viele retardierende Momente, die der freien Entfaltung z . B . in Islamischen Kulturen lange Zeit im Wege standen. —

2. Die Raum-Zeitlichkeit der Offenbarung Das Christentum ist wie alle Religion denkende Religion, die ihrer Erfahrung von Gott her theoretischen Ausdruck verleiht. Dies geschieht erstens in besonderer Weise, insofern das Christentum in besonderer Weise Zeugnis abzulegen vor der Welt impliziert. Dies geschieht aber zweitens noch in anderer Richtung spezifisch: Man hat mit Recht innerhalb der Religionen von dem »religionsphilosophischen Urphänomen« gesprochen, das in der »Alternative der Symbolisierung im Raum oder in der Zeit« besteht". H.Frick, der diese Aufstellung zumal vertrat, meint damit vor allem »die Bilder der religiösen Sprache«, »die im Raum und solche, die in der Zeit vorgestellt sind«14. Die Bilder werden Frick Hinweis auf bestimmte Grundveranlagung der Religionen, wobei das Christentum genuin der " 1930. S. 366. 12 Vgl. P. Althaus: Christliche Wahrheit, 1948. S. 11. 13 H.Frick: Vergleichende Religionswissenschaft. Sammig. Göschen. 1928. S. 112. 14 Ebd. S. 113.

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Wahrnehmung der Zeit zuzugehören scheint. P. Tillich hat diese Problematik in mehreren Untersuchungen aufgenommen, zumal in seiner »Theologie der Kultur«. Tillich hat einen Gegensatz aus diesem Ansatz gemacht und führt Polytheismus und Raum auf der einen Seite, die prophetische Botschaft des Alten und Neuen Testaments im grundsätzlichen Verhältnis zur Zeit auf der anderen Seite gegeneinander auf. An dieser Ausschließlichkeit Tillichs wird die Sache, um die es geht, zwar sehr klar, aber den Religionen geschieht doch Unrecht. So einfach scheint mir die Verteilung nicht zu sein. Aber diese Unterscheidung kann uns auf Phänomene aufmerksam machen, die das Christentum immer wieder in ganz besonderer Weise zu einer denkenden Religion gemacht haben. Daß die Botschaft des Alten und Neuen Testaments den Menschen in besonderer Weise in die Zeit stellen, oder daß sie ihm die Zeithaftigkeit seines Daseins in besonderer Weise aufdrücken, ergibt sich daraus, daß das offenbarte Heil selbst nur als ein raum-zeitliches Ereignis da ist, bzw. daß dies Heil und damit Gott nur in und durch raumzeitliche Ereignisse wahrgenommen werden kann, und daß — was damit offenbar aufs engste zusammenhängt — dies Heil oder dieser Gott immer zugleich auch als Verheißung für den Glauben da ist. Das heißt: Zwischen jenem Ereignis der Heilsaufrichtung und seiner »Erfüllung« am Ende aller Tage, zwischen diesen seinen beiden zeithaft vermittelten Bezugspunkten steht der christliche Glaube ausgespannt. Der Christ nimmt sich wahr vor Gott nicht nur in der Entfremdung seines Selbst als ein Nicht-Gott, Nicht-Ewig, Nicht-Heilig usw., von der wir oben gesprochen haben, sondern auch in jener zeithaften Entfremdung vom Heilsereignis »Damals« wie »Dann«! Dieses zweite Entfremdungs-Moment treibt das Fragen hervor, das wir in besonderer Klarheit der Aufklärung verdanken, das seither in harter Weise das geistige Schicksal der evangelischen Theologie geworden zu sein scheint, und das Lessing einerseits als die Frage nach dem garstigen breiten Graben und andererseits als die Frage nach den zufälligen Geschichtswahrheiten und den notwendigen Vernunftwahrheiten beschrieben hat. Sie wissen alle, was diese Bündel von Fragen bedeuten und wie tief wir nach wie vor in ihnen stecken. Dabei meine ich, sei gerade im religionsgeschichtlichen Vergleich eines wachzuhalten, was mir von größter Bedeutung zu sein scheint. Es ist ja nicht so, als wüßten die außerchristlichen Religionen um diese Probleme nicht. Sie wissen sehr wohl darum, denn sie beziehen sich alle in bestimmter Weise auf ein heilvolles Ereignis in Raum und Zeit zurück! Das heißt, das Problem stellt sich im Ansatz auch dort.

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Daher gibt es nicht nur Geschichtsschreibung als Annalistik, sondern ein Bewußtsein von Geschichte, wie man an der ägyptischen Religionskultur ebenso zeigen kann wie an der tibetischen, assyrischen oder chinesischen. Das Fanal dieses Bewußtseins aber sind die sterbenden Gottheiten, die als Sterbende, Gestorbene und so Vergangene, Bedeutsamkeit besitzen, und denen so ewas wie erneutes Leben oder Wiederaufleben oft erst post festum von heterogenen Momenten aus zuwächst. Das hat an Osiris z.B. Hermann Kees gezeigt. Die Gräber-Kulte sind Inbegriff des sehr vielen Religionen innewohnenden Bewußtseins von Zeit als Vergehen und Begehung als Tradition. Aber so gewiß man diese Momente nicht leugnen kann, so gewiß ist ein eminenter Unterschied darin, daß die Raumzeitlichkeit der außerchristlichen Offenbarungen die transzendente Gottheitlichkeit der Gottheit nicht verschlingt, sondern von ihr nur gerade angerührt ist. Die Epiphanie Apolls oder anderer kann zwar geortet oder gezeitet werden, ja das ist wichtig, denn man bedarf ja dieser Bezugsmomente. Aber damit geht Apoll in diese Raumzeitlichkeit nicht ein. Er tut das ebensowenig wie Vishnu in seine avatäras oder Krishna in den Wagenlenker Arjuna. Wo aber historische Personen als Grundstoff gottheitlicher Wesen sichtbar werden, wie Gautama Buddha für die großen zentralasiatischen Gottheiten, da ist die Bedingung ihrer Gottheitlichkeit ihre völlige Transzendierung. Das heißt, man kann in der Raumzeitlichkeit der Epiphanie die Gottheit stets als sie selbst schauen, und das muß man auch, wie die Bhagavad-Gltä zeigt, sonst ist das Ganze verdorben. Genau an diesem Punkte liegt die Andersartigkeit der biblischen Offenbarung. Man kann an ihr der transzendenten Gottheit Gottes nicht »einfach« inne werden. Sie hängt in der Raumzeitlichkeit fest — ja man faßt die Gottheit um so sachgemäßer, je tiefer man sie in die Menschheit hineinträgt, um in der christologischen Folgerung Luthers zu sprechen. Die Bindung Gottes an diese Raumzeitlichkeit macht den verheißenden, ins Eschaton weisenden Charakter dieser Offenbarung einsichtig. Dort im Eschaton gibt es Wahrnehmung Gottes als Gott. So hängt das ChristenDasein zwischen der raum-zeitlichen Offenbarung und dem ebenfalls raum-zeitlich erfaßten Eschaton zeithaft ausgespannt. Sie wissen, welche Probleme um diese Sätze heute dogmatisch herumstehen. Sie brauchen uns nicht zu befassen, denn für unsere Frage ist diese Tatsache als solche hinreichend. Der Gegensatz zu den Religionen ist deutlich: In den Religionen kann der theoretische Ausdruck die Gottheit, die in ihrer Transzendenz unab-

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hängig von Raum und Zeit wiedergeholt werden kann, voll vergegenwärtigen. Im Christentum nicht. Damit gerät das Christentum in jene unerhörte Spannung — gerade in seinem theoretischen Ausdruck: Es kann einerseits auf die geistige Aneignung nicht verzichten, und es kann andererseits daraus keine Methode der Vergegenwärtigung machen. Und zweitens: Es kann einerseits auf die Wahrnehmung Gottes z.B. in diesem Jesus von Nazareth nicht verzichten, um bei Heroisierungen Jesu oder ähnlichem haltzumachen, es kann aber andererseits die nuda maiestas dei nicht suchen wollen, indem es diese Raumzeitlichkeit der Offenbarung auf Transzendenz hin durchstößt. Eben das können aber die außerchristlichen Religionen. Wir erkennen, wie in diesen Momenten die Eigenart wie auch die Grenzen des theoretischen Ausdrucks im Christentum angelegt sind.

3. Das Weltwesen Gottes Wir müssen aber noch ein drittes Moment beachten, mit dem das Christentum in besonderer Weise befaßt ist und das zu der Eigenart seiner als denkender Religion Wesentliches hinzufügt. Dieses dritte Moment hängt daran, daß der Gott, der sein Volk aus Ägypten führte, wiedererkannt und verehrt sein will auch in den Taten der Ba'ale oder zwar anstatt der Ba'ale. Das Problem der Kanaanisierung besteht ja darin, daß Israel den Eindruck hat, Jahve gehöre zwar in den Bereich seiner Kriege: »Hand ans Banner Israel, Jahve ist ein Kriegsmann«; und er gehöre auch in den Bereich der amphiktyonischen Gesetze — aber der Gesamtzusammenhang von vitaler Fruchtbarkeit wie Sterben habe mit ihm nichts zu tun. Wir haben ja im Psalter noch so ein paar Hinweise, daß man gerade die religiös tief bedeutsame Sphäre des Todes von Jahve meinte trennen zu können. An diesen Nahtstellen strömte die Ba'alisierung ein. Von Arnos bis Hiob reicht der Kampf um dieses zentrale Problem: Ist der Heilsgott auch der Weltgott? Und wenn ja — wie werden wir damit fertig? Das Neue Testament hat diese Frage noch vertieft. Wie tief diese Frage tatsächlich lag, zeigt die Gnosis in aller Deutlichkeit. Diese Gnosis ist ja jedenfalls dies, daß Heilsgott und Weltgott nicht mehr miteinander verbunden werden können. Die Großkirche hat gegenüber der Gnosis sicher richtig entschieden: Nur wo die volle Wiedererkennung des Heilsgottes im Weltgott geschieht und der erste und zweite Artikel zusammenbleiben, da ist das Ganze der Botschaft des Alten und Neuen Testaments erhalten.

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Die tiefe Problematik dieser Wiedererkennung des Heilsgottes im Weltgotte gibt es für die übrigen Religionen nicht. Einerseits ist die Gottheit so transzendent, daß keine Hiobfrage sie erreicht, andererseits ist das Heil so transzendent, daß die Welt, wie sie da ist und verläuft, gar nicht als so gewichtig und ihre Zufälle gar nicht als so tiefgreifend anerkannt werden, oder drittens haben sich Heilsgottheit und schreckliche Gottheit so voneinander geschieden, daß das Leben und sein Gang in dieser Teilung klar durchschaut und bewältigt werden kann. Alle drei Möglichkeiten können im Umkreis der Grundeinstellung des Alten und Neuen Testamentes nicht befriedigen. Gott greift eben in den Weltverlauf, als Natur wie als Geschichte, nicht nur dann und wann einmal aus irgendeiner Hinterwelt ein, sondern er ist der Gebende und Nehmende in allem Großen und Kleinen. Er, Gott, bedingt das Sein und das Nichtsein, hält es und trägt es. Davon können wir mit Schöpfung und Providentia ebensowenig abstrahieren wie von der Einsicht, daß sich uns damit das Bild des liebenden Gottes immer wieder verstellt. Die in der Botschaft des Heils dem Sünder gegebene eindeutige Zusage von der Liebe und der Vergebung Gottes bricht sich an der Existenz des Bösen in der Welt, das wir nicht von Gott loszureißen vermögen, und das wir auch nicht von seiner offenbarten Liebe aus zu durchschauen vermögen. Damit ist das Fragmal gegeben, in dem die tiefste Beunruhigung, aber zugleich auch die eigentliche Lebendigkeit christlichen Glaubens angelegt ist. Luther war der Meinung, daß das stetige Austragen dieser Schwierigkeiten des Glaubens ihn erst zum Theologen gemacht hätte. Er spricht diesem ganzen Komplex des entschlossenen Aufnehmens des Weltgottes offenbar ganz eminente Bedeutung zu. Was in diesem dritten Moment angelegt ist für das Christentum in seinem theoretischen Ausdruck, das ist das Festhalten an der wirklichen Welt — Natur wie Geschichte — und die Unmöglichkeit, den theoretischen Ausdruck in »reine Spekulation« abgleiten zu lassen. Dabei heißt dies »reine Spekulation«, von Gottes Gottheit zureichend denken zu wollen, ohne den mir zugewandten Aspekt seines Gott-Seins in mundo dabei in Ansatz zu bringen. Dabei handelt es sich ja nicht nur darum, diese meine Welt etwa zur Kenntnis zu nehmen, sondern darum, sie als die Wirkungswelt Gottes auf den Deus in Christo hin zu durchdenken. Wir können diesen Problembereich ja auch an der großen Fragestellung von Gesetz als lex universalis und Evangelium als verbum Dei, das in sich selbst wieder die Frage von Gesetz und Evangelium trägt, ansprechen, um uns der ganzen geistigen Reichweite dieses dritten Momentes zu vergewissern.

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Wir hätten damit ja auch die Seite des ganzen Problems angesprochen, an der Luther den tiefsten Unterschied zwischen den Religionen und dem Christentum angezeigt fand. Ich glaube, daß Luther mit dieser Aufstellung einen sehr fruchtbaren Ansatz genommen hat, denn allerdings kann man den Vorgang der außerchristlichen Religion als Gesetz charakterisieren gegenüber dem Evangelium auf der Seite des Christentums. Nur, man darf nicht vergessen, daß dies große religionsgeschichtliche Problem im Christentum selbst noch einmal wiederkehrt, so gewiß das Christentum nicht bloße Evangeliums-Verkündigung, sondern immer auch Gesetzes-Predigt sein muß. Dieses dritte Moment zeigt von einer etwas anderen Seite aus, in welcher gespannten geistigen Aufmerksamkeit der Christ seiner Welt zugewandt sein muß. Er kann sich von der Möglichkeit einer aimee desinteressee nicht überzeugen! Diese seine Welt hat als die Welt Gottes — auch und gerade in den geistigen Konzeptionen ihres Daseins — einen tiefen Anspruch an ihn. Die ständige Not, in die ihn die Welt und sein Sein in ihren Zufällen mit all dem grauenvollen Geschehen in ihnen dadurch bringt, daß er den Gott, den Vater Jesu Christi, hier im Regimente weiß und wissen muß, diese ständige Not ist der unablässige Anstoß zu geistiger Bewältigung. Ich meine auch, daß man zeigen kann, daß die hohen Systeme der Theodizee dabei stets zu kurz schössen, schon allein darum, weil sie meinten, diesen unabschließbaren Prozeß doch in einem systematischen Ergebnis erfassen zu können. Der dritte Anstoß zum denkerischen Wagnis sieht den Christen also vor den beiden Aspekten Gottes als Heils- wie als Weltgott, und er kann sich diesem Wagnis auch nicht in Synthesen entziehen. Der Vorgang ist ebenso unabschließbar, wie er in jeder geistigen Bewegung von Generation zu Generation neuartig da ist.

IV. Das Christentum als denkende

Religion

Das Christentum ist wie alle Religion darauf angewiesen, dem tiefen Widerfahrnis Gottes immer auch theoretischen Ausdruck zu geben, und es ist in dreifacher Weise besonders und mehr als die anderen Religionen »denkende Religion«. Diese Eigenart hat es mit sich gebracht, daß innerhalb des Christentums in anderer Weise als in anderen Religionen ein tiefes Empfinden für die »geistige Wahrhaftigkeit« auch gerade im Glaubensakt

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immer wieder lebendig wurde. Es gilt für Augustin wie für Thomas, für Luther wie für Kierkegaard, daß christliches Glauben die aufrechte Redlichkeit menschlichen wahrhaftigen Denkens nicht nur verträgt, sondern fordert. Dieser Anspruch an diese »geistige Wahrhaftigkeit« ist für uns in Westeuropa seit der Aufklärung in einer besonderen Form wirksam geworden. Diese Form ist in ihrer historischen Eigenart wohl vergangen. Sie behält aber gleichwohl ihre uns verbindliche Anrede-Gewalt. Wir sind Menschen einer Welt, in der man ohne ganz einfache rationale Redlichkeit nicht leben kann — und das gilt auch für den Bereich des religiösen Daseins. Nun scheint es abschließend wichtig zu sein, festzustellen, daß die innere Nötigung zu der besagten »geistigen Wahrhaftigkeit« in dem Geschehen des Christen-Glaubens selbst angelegt ist und nicht in irgendwelchen Zwecken, sei es der »Leitung der Kirche« oder der »Kirchenleitenden Verantwortung für die Verkündigung der Pastoren« oder ähnlichem. Der christliche Glaube ist in seinem Geschehen Quelle nur denkerisch zu bewältigender Probleme. Der christliche Glaube ist daher aus seinem Geschehen heraus darauf angewiesen, Wahrheit eben gerade auch im Sinne der denkerisch zu ergreifenden Wahrheit zu suchen15. Sein Weg verläuft nämlich nur in dem wachen, d. i. auch kritischen Offen-Sein für seine Welt, in die hinein die Botschaft gesagt sein soll, in der die Offenbarung Gottes als Jesus von Nazareth in ihrer ganzen Raumzeitlichkeit gegeben ist und aus der heraus Gott mit seinem Walten entgegenkommt.

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Ich habe dieses Problem im Verhältnis zum Wahrheitsproblem überhaupt in meiner Arbeit »Der angefochtene Glaube« als 2. Grundproblem näher erörtert.

Schrift und Tradition* Das Problem von Schrift und Tradition heute zu verhandeln, hat seine besonderen Schwierigkeiten, die sowohl in der theologischen Erkenntnis von der Schrift wie in der kirchlichen oder gemeindlichen Stellung zur Tradition, wie drittens in der allgemeinen geistigen Situation unserer Gegenwart liegen. Wir werden von diesen drei Schwierigkeiten zu sprechen haben, wollen aber vorweg unsere Fragestellung selbst näher erläutern. Wenn wir nach dem Verhältnis von Schrift und Tradition fragen, wie es nach den reformatorischen Bekenntnissen zu beschreiben ist, so rühren wir damit an ein Grundproblem der Reformation überhaupt! Die Reformation trat mit der scriptura, mit der Schrift und ihrer Wahrheit gegen die theologischen Traditionen auf, die die Wahrheit Gottes gefangen hielten. Insofern ist mit der Frage nach Schrift und Tradition das ganze große Pathos der Reformation selbst angerührt. Wie groß bei diesem Unterfangen, mit der Schrift gegen die theologische Tradition aufzutreten, die Schwierigkeiten waren, wollen wir uns sogleich vorstellen. Die Reformatoren bekannten in der C A mit dem »Dekret der Nicaenischen Synode« die Dreieinigkeit Gottes, das eine Gottwesen in den drei Personen. Die katholische Gegenschrift der Confutatio beanstandete hieran, daß an dieser Stelle der Grundsatz des sola scriptura durchbrochen sei und auch durchbrochen werden müsse, da es für das trinitarische Dogma keinen eindeutigen Schriftgrund gebe. Melanchthon antwortete darauf in der Apologie (Art. I) mit einer einfachen Wiederholung des Glaubenssatzes selbst, dem er das sehr globale Urteil hinzufügte: »Diesen Artikel haben wir stets gelehrt und verteidigt und sind auch der Meinung, er habe sichere und gewisse Zeugnisse in der Heiligen Schrift, die nicht erschüttert werden können.« Dieser Vorgang war um so auffallender, als in den Schwabacher Artikeln durchaus noch ein Schriftbeweis für die Trinität mit Joh. 1 und Mt. 28 versucht war.

* Vortrag, gehalten in der Luther-Gesellschaft zu Münster/Westfalen am 16. August 1959.

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Was dieses Beispiel zeigt, ist der Vorgang, in dem die Reformation mit dem zentralen Anspruch des sola scriptura auftritt, sich aber davor hütet, hieraus in dem Sinne ein Prinzip zu machen, daß alles, was nicht mit biblischen Zitaten gesagt werden kann, ausgeschieden werden müßte. Bucer hatte in seinem Gutachten zu den Schwabacher Artikeln gesagt, es »were geraten, wo es je sein konte, dass die artikel alle mit bubiischen Worten, und das ufs klerest und curtzest gefaßt wurden«1. Aber auch er hat sich dann 1530 im ersten Artikel der Confessio Tetrapolitana anders verhalten, das Chalcedonense zitiert und sich auf die Väter berufen. Wir sehen also die Reformation mit dem Grundsatz auftreten, daß in allen Glaubenssachen allein der Schrift zu folgen sei, haben aber zu bemerken, daß die Reformatoren gleichwohl die altkirchlichen Bekenntnisse nicht nur rezipieren und zitieren, sondern daß sie sich auf die Kirchenväter als Autoritäten berufen können und also trotz des Grundsatzes des sola scriptura durchaus im Zusammenhang und in der Legitimation der dogmatischen Tradition stehen zu müssen meinen. Das in diesem Gedankenkreise anstehende Problem ist dann in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts noch dadurch verschärft, daß einerseits durch die innerevangelischen Lehrauseinandersetzungen und andererseits durch die gezielten Angriffe der jesuitischen Gegenreformation die Möglichkeit des reformatorischen sola scriptura unsicher wurde. Reichte die Klarheit der Schriftaussagen überhaupt hin, um den Glauben in seiner theologischen Durchdringung angemessen zu begründen? So stellte sich jetzt die Frage. Gab es ζ. B. für den Grundsatz »allein aus Gnaden ohne des Gesetzes Werke«, gab es für den Grundwiderspruch der Reformation gegen die Werkgerechtigkeit wirklich eine in sich eindeutige Schriftgrundlage, oder mußte man nicht doch den Werken eine Stelle im Ganzen des Glaubenslebens einräumen, weil es in der Schrift eben auch diese Linie gibt? Die jesuitische Angriffsfront zielte mitten in diese Schwierigkeit hinein: Die Schrift ist nicht klar genug, um allein den Glauben und seine theologische Durchdringung zu begründen. Man bedarf der theologischen Tradition, um sichergehen zu können. Und so war die evangelische Dogmatik gezwungen, den Versuch zu machen, die Klarheit und zureichende Weite der Schrift zu erweisen. Dabei hatte diese Dogmatik also einen scharfen Zweifronten-Krieg zu führen, denn sie stand mitten im Aufbruch des Pietismus, der mit seinen

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Werner Eiert, Morphologie des Luthertums, Bd. I, München 1931, S. 163.

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lebendigen Glaubenserfahrungen die Schrift unmittelbar zu handhaben wußte und demgegenüber die kirchliche Tradition zu verteidigen war. Diese Dogmatiker des 17. Jahrhunderts, die zum größten Teil selbst in der pietistischen Bewegung zu Hause waren, hatten also die Schrift und ihre Klarheit zugleich mit der Angemessenheit der theologischen Tradition zu verteidigen. Das ist ihnen auch weithin gelungen. Was wir an diesen Erörterungen erkennen, ist die Tatsache, daß die Frage nach Schrift und Tradition eine Frage ist, an der man die ganze Eigenart reformatorischen Glaubensverständnisses erheben kann, in der die Reformatoren ihre Positionen bezogen, sowohl gegenüber dem katholischen Traditionalismus wie gegenüber dem enthusiastischen Schwärmertum. Wir stehen mit dieser Frage im Zentrum reformatorischen Selbstverständnisses. Wenn wir hier zunächst sahen, daß die Reformatoren das sola scriptura vertreten und gleichwohl die altkirchlichen Bekenntnisse rezipieren und sich auf sie berufen können, so haben wir die ganze Frage noch unter einem zweiten Aspekt zu sehen. Unter dem Thema von Schrift und Tradition haben wir bisher die Begründungs-Zusammenhänge des Glaubens verstanden. Wie bei dem Glauben an den dreieinigen Gott die Frage gestellt werden kann, ob dieser Glaube mit klaren Schriftgründen erwiesen werden könne oder ob man dazu nicht der Tradition bedürfe, so kann man diese Frage bei der Durchdringung jedes Glaubensstückes stellen — ja man muß das auch wohl. Aber nun gibt es noch eine zweite, ganz andere Hinsicht auf Schrift und Tradition. Im 7. Artikel der Confessio Augustana, in dem von dem Grundereignis Kirche gehandelt wird, heißt es, daß von Kirche überall da und nur da geredet werden könne, wo das Evangelium rein verkündigt und die Sakramente recht gereicht würden. In dieser Definition liegt die nach lutherischem Verständnis hinreichende Kennzeichnung von Kirche als congregatio sanctorum. In dieser Definition ist die bislang von uns erörterte Problematik von Schrift und Tradition insofern enthalten, als es ja bei der »reinen« Verkündigung und bei der »rechten« Verwaltung der Sakramente um Entscheidungen geht, die mit der Schrift gegen die theologische Tradition gefällt worden sind, wie z . B . bei der Frage der Siebenzahl der Sakramente, die von den Reformatoren mit Hinweis auf die Schrift entschieden wurde. Mit Bezug auf das Neue Testament kann man eben nur bei der Taufe und dem Abendmahl von dem reden, was in der theologischen Tradition Sakrament heißt und wozu eine ausdrückliche Einsetzung ebenso gehört wie ein Element wie Wasser und Brot und Wein. Aber nun taucht

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daneben noch ein ganz anderes Moment auf. Der Artikel fährt ja fort: »Und zur wahren Einheit der Kirche ist es genügsam, übereinzustimmen über die doctrina evangelii (d. h. über die Verkündigung des Evangeliums) und über die Verwaltung der Sakramente.« Es wird hiermit also eine Wendung vollzogen und auf dem Boden der grundsätzlichen Erhebung darüber, wo Kirche geschehe, die Frage nach der vera unitas von Kirche gestellt. Der positiven Feststellung, was zu dieser wahren Einheit »genug« sei, folgt die negative: » U n d es ist nicht nötig, daß überall gleichförmig seien die traditiones humanae wie Riten und Ceremonien, die von Menschen eingerichtet wurden«. Hierzu zitiert die Confessio Augustana Eph. 4: »Ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller«. Mit diesen menschlichen Traditionen, die hier auftauchen, ist natürlich ein ganz andersartiger Traditionsbegriff herausgeholt als der, von dem wir bislang sprachen. Die Tradition, von der hier die Rede ist, umfaßt den ganzen großen Bereich der kirchentümlichen Morphologie: Die Kerzen auf dem Altar und die Gewänder, die liturgischen Haltungen wie der ganze gewaltige Raum des kirchlichen Brauchtums und der kirchlichen Sitte. Aber es gehören auch dazu große Teile des kirchlichen Institutionalismus. Dieser morphologische Bereich von Tradition ist darum so wesentlich, weil er sich gerade für den Gesichtspunkt der Gemeinde sehr stark bemerkbar macht. Man braucht ja nur an den Kampf um liturgische Melodien zu denken und sich zu erinnern, mit welcher Zähigkeit etwa die Bordnianski-Sätze der liturgischen Stücke verteidigt werden, um zu erkennen, welches Gewicht dieser Tradition zukommt. Die Gemeinde hängt — zum Teil auch berechtigtermaßen — gerade bei ihrer gottesdienstlichen Sitte am Hergebrachten! Sie sucht das Vertraute, auch wenn es sich dabei um Neuerungen des sonst nicht so geschätzten 19. Jahrhunderts handelt. Die Gemeinde sucht das Vertraute gerade im Gottesdienst. Wir wissen ja auch, was der Verlust dieser Tradition für sehr viele evangelische Christen aus der Ostzone bis heute an schmerzlichem Verzicht bedeutet und wie viele den Anschluß an die Gottesdienste der westlichen Landeskirchen einfach nicht finden können, weil diese traditiones humanae ihnen fremdartig sind und bleiben. Man wird aber auch daran denken, was es in einem Reise-Zeitalter wie dem unseren bedeutet, wenn wir evangelische Christen in den stillsten und fruchtbarsten Zeiten der Ferien am Ferienort nur selten einen unmittelbaren Kontakt zum Gottesdienst gewinnen können, da uns Gottesdienstordnung und Gesangbuch fremd sind. Die Traditionen der kirchlichen Morphologie, von denen die C A behauptet, ihre Einheitlichkeit tue zur wahren

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Einheit der Kirche nichts hinzu und an ihrer Verschiedenheit könne die wahre Einheit der Kirche nicht zerbrechen, haben offenbar eine ganz eigene Gewalt. Die Fragen um diese Tradition konnten so lange anstehen, solange mit den landesfürstlichen Kirchentümern der deutschen Einzelstaaten die Regelung des Augsburger Grundsatzes von der regio im Zusammenhang mit der fast fehlenden Freizügigkeit innerhalb Deutschlands Geschlossenheiten vortäuschten, die nicht da waren. Für uns taucht dieses Problem aber unabweisbar auf. Die Eigenart dieser Fragestellung und auch ihre Schwierigkeit liegt aber darin, daß die Klarheit der Scheidung von Einheit in der reinen Verkündigung einerseits und möglicher Verschiedenheit dieser menschlichen Tradition andererseits sich immer wieder verdeckt, ja, daß die kirchliche Morphologie und Sitte einen ausgesprochenen Hang zeigen, sich theologisch zu motivieren und unter Verwendung schweren theologischen Geschützes sich zu verteidigen. Aber man darf diese ganzen Dinge auch nicht auf die leichte Schulter nehmen, denn dieses ganze kirchliche Brauchtum samt dem kirchlichen Institutionalismus gehört ja auch mit zur Gestaltwerdung des Glaubens, und es gibt eben auch eine dem evangelischen Glauben unangemessene Gestalt. Das heißt, man kann sich nicht so einfach auf den Standpunkt stellen, daß an diesen Traditionen gar nichts hänge und daß sie nur gleichgültig seien. Die pietistisch erwecklichen und gemeinschaftlichen Bewegungen haben immer wieder von Jahrhundert zu Jahrhundert versucht, diese kirchlichen Traditionen abzubauen, um die Einfachheit und Reinheit des Wortes bewahren zu können. Sie haben in diesem Bestreben ein wichtiges Korrektiv bedeutet, würden aber in ihrer Einseitigkeit zu Gestaltlosigkeit verführen und so den schwärmerischen Hang gefährlich unterstützen. Wenn wir also von Schrift und Tradition reden, so haben wir es mit zwei sehr unterschiedlichen Problembereichen zu tun. Der erste Bereich kreist um die theologische Tradition, die zwischen dem Zeugnis der Schrift und unserem Glauben heute vermittelt. Bei diesem Bereiche also haben wir es mit dem Problem der möglichen Unmittelbarkeit zur Schrift zu tun. Der zweite Bereich kreist um die kirchentümliche Tradition, die sich als Gestaltwerdung christlichen oder evangelischen Glaubens ausweist. Bei diesem zweiten Bereich also haben wir es mit dem kirchlichen GestaltProblem zu tun. So gewiß diese beiden Problem-Kreise unterschieden sein wollen, so gewiß durchdringen sie sich ständig gegenseitig. Darin liegt eine Schwierigkeit, aber auch der große Reiz dieses Problems.

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Wir müssen unsere ganze Frage nun aber noch von einer ganz anderen Seite aus betrachten. Es ist sicher so, wie wir sagten, daß in diesem Problembereich von Schrift und Tradition das ganze reformatorische Pathos gegenüber dem römischen Katholizismus ruht. Es ist ja auch so, daß bis heute auf der Linie der Tradition die schärfste Markierung zwischen evangelischem und katholischem Glaubensverständnis verläuft. Das D o g m a von der leibhaften Aufnahme Mariens in den Himmel muß evangelischem Verstehen völlig unfaßbar bleiben, weil es ohne jede mögliche Schriftgrundlage nur aus der Tradition, und zwar in ihrer Form als »lebendiger Glaubenssinn der Gemeinde«, herausgebildet ist. Für ein solches Unternehmen fehlt uns nach wie vor jedes Verständnis, und wir können es ja nur mit tiefem Bedauern sehen, wie trotz mancher Annäherung an diesem Punkte etwas geschehen ist, was den tiefen Gegensatz zwischen dem römischen Katholizismus und den evangelischen Kirchen in ganz unheimlicher Weise als existent erweist. Wir können an diesem Punkte auch in besonders hervorstechender Weise erkennen, wie kirchentümliches Brauchtum sich auf den theologischen Definitionsbereich auswirken kann; denn es ist ja keine Frage, daß der Wildwuchs südeuropäischer MarienVerehrung das bewegende Moment dieser Dogmenbildung war, deren definierende Möglichkeit für dieses D o g m a ja erst sehr spät einsetzt. So gewiß also nach wie vor auf dem Problemfelde von Schrift und Tradition der zentrale Gegensatz zwischen dem römischen Katholizismus und den evangelischen Kirchen liegt, so haben wir auch zu bemerken, daß auf diesem Felde entscheidende innerevangelische Unterschiede ihre Wurzel haben. Zwischen Lutheranern und Reformierten ist das Verhältnis von Schrift und Uberlieferung im 16. Jahrhundert kontrovers gewesen. Dieser Unterschied zeigt sich praktisch darin, daß die Reformierten der Verbindlichkeit, die das Bekenntnis für den Lutheraner hat, meist verständnislos gegenüberstehen. Reformierterseits wird befürchtet, daß die lutherische Wertung des Bekenntnisses sich als Eigen-Größe vor die Schrift als alleiniger »Regel und Richtschnur« stellen und den bestimmenden Einfluß der Schrift hindern könnte. Es ist typisch, daß sich die lutherischen Landeskirchen eben lutherisch nennen und auf die C A als verbindendes und ausweisendes Dokument beziehen, daß die reformierten Kirchen sich aber ungern calvinistisch nennen lassen, aber beanspruchen, »nach Gottes Wort reformierte Kirchen« zu heißen. Schon in dieser ganz äußerlichen Firmierung wird ein Grundunterschied zwischen Lutheranern und Reformierten deutlich sichtbar. Dieser Unterschied betrifft die Frage, wie man

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die theologische Tradition als Vermittlung zur Schrift werten will. Dabei zeigt es sich, wie im Namen so auch in den zentralen theologischen Sätzen der beiden Konfessionen die Frage dieser Vermittlung zur Schrift verschieden beurteilt wird. Calvin hat zwar die theologische Tradition sehr genau gekannt. Er macht von ihr auch einen viel weitergehenden Gebrauch als Luther. Man denke nur an seine Verwendung Augustins. Aber Calvin hat in ganz anderer Weise den unmittelbaren Umgang mit der Schrift und ihren Aussagen für möglich und notwendig gehalten, als Luther es tat. Die Blickrichtung war dabei kontrovers. Luther ging darauf aus, Christus als lebendige Mitte der Schrift und als lebensvolles Gegenüber des Glaubens zu ergreifen und zu bezeugen. Wo es darauf ankam, da war Luther bereit, diesen Christus auch gegen ausdrückliche Schriftworte ins Feld zu führen. Der Christus, von dem Luther dabei handelt, war der in Bethlehem geborene Mensch, und sein Grundsatz war es, daß man es desto eindeutiger mit diesem Christus zu tun habe, je tiefer man ihn ins Fleisch zu bringen in der Lage wäre. Damit ging Luther die ganze tiefe Bedingtheit dieser christlichen Offenbarung in Raum und Zeit in einer Weise auf, daß sich ihm die Frage nach Vermittlungsgrößen unabweisbar stellte. In diesem Zugriff Luthers zu dem lebensvollen Gegenüber der Person Jesu war für ihn der Glaube als fiducia ausschlaggebend. Es geht um das tief menschliche Zutrauen und Gewiß-Sein, Größen, die im lebensvollen Umgang mit einem Gegenüber entstehen. Ganz anders ging es Calvin. Für ihn war der Glaube auch Gewißheit — aber vor aller Gewißheit stand die cognitio, die klare Erkenntnis. Damit läßt Calvin seinen Genfer Katechismus beginnen: »Welches ist das Hauptziel des menschlichen Lebens?« Antwort: »Gott zu erkennen«. Dem stehen Luthers Katechismen mit ihrem »Gott fürchten, lieben und vertrauen« gegenüber. Durch das schwere Gewicht der Gotteserkenntnis bei Calvin wird sein Umgang mit der Schrift ein anderer als bei Luther. Für Calvin ist der Aussage-Bestand Alten und Neuen Testamentes entscheidend. Während Luther ganze Partien des Alten Testamentes als unverbindlich und als in Christo erledigt beiseite schieben konnte, spielt das Alte Testament bei Calvin eine ganz zentrale Rolle. So kam es denn, daß Calvin sich bald gezwungen sah, zur Stützung seiner Schriftlehre die Inspirationslehre zu Hilfe zu nehmen. Diese wurde von den Lutheranern erst von 1546 an, und zwar vor allem durch Flacius, aus dem reformierten Bereiche übernommen. Wenn für Calvin die Schrift in ganz anderer Weise als für Luther Lehre war, so konnte Calvin den Versuch machen, diese Lehre in ihren einzelnen Sätzen auch unmittelbar zu beziehen und zu

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übernehmen. So kam es, daß Calvin die sogenannte geschichtliche Bedingtheit der christlichen Offenbarung lange nicht so klar erfaßt hatte wie Luther und daß er der Meinung sein konnte, eine Kirche der Gegenwart viel unmittelbarer nach Gottes Wort reformieren zu können, als das bei Luther der Fall war. Wir stehen mit diesen Bemerkungen, wie ich meine, am Schlüsselpunkt der innerevangelischen Kontroverse, und wir haben zu beobachten, wie sich von hier aus in merkwürdiger Verschränkung die abweichende Stellung zur Tradition ergibt. Wenn für Luther der Glaube dieses kindliche Zutrauen war, das sich auf Jesus von Nazareth richtete, den er als die viva vox Dei verstand, so zeigt sich schon in diesem Begriffe von der viva vox die innere Gefährdung und Anfälligkeit des jungen Luthertums für die Schwärmer. Das ist dann ja auch so gewesen, daß von Karlstadt und seinem Bildersturm in Wittenberg an die lutherischen Gemeinden immer wieder durch Propheten beunruhigt wurden, die im Geiste die Reformation auf das Reich Gottes hinausspielen wollten. Wie Luther ihnen gegenüber einerseits den dogmatischen Bestand des Glaubens in seiner überlieferten Form hochzuhalten versuchte, so hielt er andererseits auch an gottesdienstlichen Uberlieferungen fest, die ihm die Kennzeichnung der katholischen Eierschalen, die er nie los wurde, eingetragen hat. Mit der inneren Gefährdung des von Luther kühn als fiducia angesetzten Glaubens für die Schwärmerei verband sich Luthers Zögern gegenüber weitreichenden Neuerungen auf dem Gebiet der geschichtlichen Vermittlungen auf theologischem wie auf kirchentümlichem Gebiete. Für Calvin war die ganze Lage anders. Er war der Meinung, die Schriftwahrheiten in der bloßen Vermittlung der Erkenntnis eindeutig aufnehmen und kirchlich verifizieren zu können. Es war für Calvin also gar keine Frage, daß das alttestamentliche Bilderverbot selbstverständlich uns Christen genauso wie den Israeliten gelte. Luther schob das Bilderverbot souverän zur Seite, und daß es in der Bibel stand, störte ihn nicht im mindesten dabei, denn es war offensichtlich gegen die Götzenanbeter und Baalsdiener gerichtet. Calvin hat sich bis in den einzelnen Wortlaut an den Dekalog gehalten und auch gemeint, den Dekalog in direkter Weise in seinen Gemeinden durchführen zu können. Wir sehen hieran, wie die kontroverse Bestimmung der dogmatischen Tradition — also der Größe der Vermittlung — ganz unmittelbar, und zwar tief, einwirkt auf die Gestaltprobleme der jungen reformatorischen Kirche. Was uns diese Erwägungen zeigen, ist die Tatsache, daß sich an dem Problemkreis von Schrift und Tradition nicht nur die evangelischen Kir-

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chen von der römisch-katholischen trennen, sondern daß gewichtige Specifica ihrer evangelischen Selbstunterscheidung sich an dieser Frage zeigen lassen. Das kann auch nicht anders sein, denn wenn wir es bei der Frage von Schrift und Tradition einerseits mit der Frage nach der Vermittlung, andererseits aber mit dem kritischen Moment der kirchlichen Gestaltprobleme zu tun haben, so ist es klar, daß wir es in dieser Frage mit den zentralen Momenten christlichen Daseins überhaupt zu tun haben. Ein Glaube, der sich auf eine Offenbarung bezieht, die in Raum und Zeit gebunden ist, muß das Problem der raumzeitlichen Vermittlung stellen, und ein Glaube, der mehr sein will als ein Strohfeuer, das nur im Augenblick brennt, muß mit dem Gestaltproblem befaßt sein. Wir können uns die ganze Unterschiedlichkeit in der Beurteilung der Tradition durch die Konfessionen immer am deutlichsten daran machen, wie diese Konfessionen zu ihren Confessionen oder wie diese Kirchentümer zu ihren Bekenntnissen sich verhalten. Dabei sehen wir, daß im Ansatz nur die lutherische Kirche im eigentlichen Sinne eine Bekenntnis-Kirche ist, der also das Bekenntnis bindende Autorität ist und die sich stetig am Bekenntnis orientiert sein läßt. Für den römischen Katholizismus ist das Bekenntnis einerseits überwuchert von der Lehrgewalt des priesterlichen Amtes, speziell von der Unfehlbarkeit des päpstlichen Lehramtes, andererseits aber ist die sogenannte Tradition im römischen Katholizismus jener Schatz von vorerst unfixierten, latent vorhandenen Offenbarungswahrheiten, die das Lehramt wahrnimmt und nach und nach in den neuen Dogmen als Glaubenswahrheiten produziert. Für die reformierten Kirchen stellt demgegenüber das Bekenntnis ein Pluraletantum von vielen einander ablösenden Einzelbekenntnissen dar, die die Gemeinden sich in bestimmter Situation geben. Sie tragen viel mehr den Charakter von örtlich und zeitlich bedingten Kirchenordnungen und gelten für den französischen, schottischen oder schweizerischen Kirchenbereich. Grundsätzlich ist es eben die Schrift, die das kirchliche Leben regieren soll, so daß die Schweizer Kanton-Kirchen heute Kirchen ohne Bekenntnis-Bindung sein wollen und sind. Die Frage nach Schrift und Tradition ist daher im römisch-katholischen Kirchentum immer wieder zugunsten der Tradition beantwortet, und sie wird in reformierten Kirchentümern eindeutig zugunsten der Schrift aufgelöst. Sie bleibt eine ständig neu zu bewährende Frage nur im lutherischen Kirchentum. Hier werden Schrift und Bekenntnis als Verbindlichkeiten erachtet, und die Frage ist immer erneut zu lösen, wie diese beiden Größen miteinander so zum Austrag gebracht werden können, daß die Autorität der Schrift

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die eine Autorität bleibt, daß aber die Verbindlichkeit des Bekenntnisses als Garant der Vermittlung nicht unter den Tisch fällt. Wir müssen uns zu dieser lutherischen Lösung noch das Kernmoment vorstellen. Die Verbindung von Schrift und Bekenntnis verläuft nämlich im Luthertum über eine dritte Größe, der sowohl die Schrift wie das Bekenntnis zuzuordnen sind, nämlich über das Zeugnis und seine Vollmacht. Die Schrift ist ja nicht als Buchstabe Autorität, sondern sie wird als lebendiges Zeugnis, wie und wo Menschen es ausrichten, gewichtig. Die Schrift ist nicht ein papierener Papst, den man für alle Fragen bemühen könnte, um aus ihr wie aus einem Fragekasten Antworten zu ziehen. Die Schrift bezeugt vielmehr die Wahrheit, deren Träger ihre Autoren, Markus, Lukas oder Paulus, waren. In diesem Zeugnischarakter bleibt die Schrift — ubi et quando visum est D e o — O r t der Wahrheit. Das, worauf es uns ankommt, ist, daß Luther die dogmatische Tradition und daß die lutherischen Bekenntnis-Schriften sich selbst als Zeugnisse verstanden haben. Die Väter sind etwas, wo sie als Zeugen des Wortes der Wahrheit ergriffen werden können, und die Bekenntnisse der Reformation sind etwas, wo sie sich als Zeugnisse, wir können auch sagen, als Zuspruch des Wortes Gottes an die Welt, interpretieren lassen. Wenn man in diesem Horizont von der Theopneustie, d. h. von der Geistgewirktheit der Schrift redet, so liegt es nicht fern, auch von der Geistgewirktheit der Bekenntnisse zu reden. Das hat man dann auch getan. Diese Rede ist immer als lutherische Hypertrophie gegeißelt worden. Sie ist aber nichts anderes als die Feststellung, daß die Bekenntnisse den Charakter des Zeugnisses an sich tragen und nur so verstanden sein wollen. Wir finden also, daß im Luthertum die Autorität von Schrift und Bekenntnis unter einem gemeinsamen Ober-Begriff, nämlich dem des Zeugnisses vom Worte Gottes, ergriffen wird. Damit wird das Bekenntnis nicht dem Worte Gottes gleichgestellt. Aber es tritt mit der scriptura unter die gleiche kritische Position. Luther verfährt gegenüber aller Tradition so und kann von hier aus einerseits sagen, daß Kirchenväter und Konzilien ihn nichts angingen, wo sie nämlich Selbsterdachtes an die Stelle der Wahrheit des Wortes Gottes gesetzt hätten. Er kann von hier aus aber andererseits die »lieben heiligen Väter« und ihre Worte als ewig unumstößliche Wahrheit preisen, wo sie nämlich als treue Zeugen erfunden werden, die sich vom Worte Gottes willig meistern lassen. Mit dem bisher Gesagten haben wir einen Überblick über die Tragweite der Fragen nach Schrift und Tradition, wie zugleich einen Eindruck von der kontroversen Erfassung dieser Fragen in den evangelischen Kir-

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chentümern wie im römischen Katholizismus. Wir müssen uns nun abschließend noch zu den Momenten äußern, von denen wir einleitend als von der besonderen Schwierigkeit dieses ganzen Fragenkomplexes in der Gegenwart sprachen. Wie sieht es mit dem Verhältnis von Schrift und Tradition heute eigentlich aus? Wir haben, wenn wir im Kernmomente des Ganzen ansetzen, zunächst einmal zu sehen, daß unsere Gemeinde vor den Fragen der Tradition weithin ganz verständnislos dasteht. Im 17. Jahrhundert konnte noch gesagt werden, daß die Autorität der Wahrheit des Wortes Gottes als Norm gehandhabt werde durch membrum quodlibet der Kirche. Die evangelische Kirche ist ja auch arm dran, wenn sich die Glieder der Gemeinden der Verantwortungen des allgemeinen Priestertums begeben und stumm werden. Der innere Aufbau evangelischen Kirchentums wird zur Karikatur einer Pastorenkirche, wenn der Platz, den das membrum quodlibet einzunehmen hat, leer bleibt. Die theologisch tiefgreifende Erörterung nimmt den Charakter des Theologen-Gezänkes an, wenn die Gemeinde das tief geschichtlich geprägte Zeugnis nicht mehr austrägt. Wir können das auch so sagen, daß eine Gemeinde, die die Entscheidungen über geschichtliche Vermittlungen nicht mehr trägt, sondern nur hinnimmt, den lebendigen Gestaltwandel-Prozeß nur noch als willkürliche Vergewaltigung empfinden kann. Sie wissen ja z.B., daß sich in der Abendmahlsfrage offenbar ein tiefgreifendes Geschehen unter uns vollzieht, seit die lutherisch-reformierte Kommission der EKiD am Ende des letzten Jahres mit den sog. Arnoldshainer Thesen eine Abendmahls-Auffassung in ihren Grundsätzen kundgab, durch die die lutherische und reformierte Position, die ja unüberwindbar kontrovers zu sein schienen, überholt sein sollen. Mit diesem Faktum, daß eine Reihe von Abendmahls-Thesen vorliegen, denen lutherische und reformierte Theologen durch ihre Unterschrift zustimmten, ist etwas passiert, das für die Frage nach Schrift und Tradition offenbar etwas erregend Neues feststellt. Es ist nun allerdings auch eine streng theologische Frage, ob diese Thesen das Abendmahl angemessen beschreiben. Es ist aber auch und zumal eine Frage an die das Abendmahl feiernde Gemeinde, ob sie sich in diesen Thesen verstanden und recht geleitet fühlt. Jedoch, wenn man so in concreto nach der Gemeinde fragt, so wird man nicht kurzschlüssig sagen dürfen: N a ja, da haben wir es, das Interesse fehlt. Oder ebenso kurzschlüssig folgern, man müsse eben die Verschulung der Kirche noch weitertreiben und die Zeiten des kirchlichen Unterrichtes verlängern. Denn der Grund zu der Tatsache, daß unsere Gemeinden nicht

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mehr in der Lage sind, Lehre zu beurteilen, liegt tiefer. E r liegt in der fortschreitenden Uberlagerung der sog. geschichtlichen Bewußtheit in einer sich fortschreitend geschichtlich entordnenden Welt. Wir können uns diesen Vorgang an den geistigen Bewegungen klarmachen, die die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts praktisch bestimmt haben und deren Ende wir gegenwärtig miterleben. Ich meine die Konzeptionen des Vitalismus und der sog. Existenz-Philosophie, die man ja wohl nur im engsten Kontakt sehen und begreifen kann. Was diese Bewegungen zeigen, das ist die Hinlenkung und Wahrnehmung des geistigen Aktes auf seine reine Aktualität oder augenblickhafte Gegenwärtigkeit. Der Denkvorgang der Vitalisten wie der der Existentialisten besitzt keine zeithafte Tiefe als seine Bedingung im Gewordenen, sondern er lebt seiner Gegenwart, indem er sie als Werden versteht, also auf Zukunft hin ständig überschreitet. Damit muß der Denkakt sich der Tradition gegenüber souverän verhalten. Tradition gilt nur soweit, soweit sie lebendige Gegenwart sein kann, d. h. solange sie auf die Zukünftigkeit hin als relevant erkennbar wird. Wenn ich dies übersetzen darf: Von der theologischen Tradition ist so viel für unsere Gegenwart relevant, so viel wir davon für unsere kirchlichen Ziele von morgen gebrauchen können. Es ergibt sich aus diesem Ansatz, daß die tiefe Gebundenheit an Tradition, die auch bindet, zurücktritt, und es ergibt sich die Frage, wo ist eigentlich der Maßstab für das kirchliche Ziel von morgen. Dieser Maßstab wird im allgemeinen vitalistisch aus dem Erleben geschöpft. Weil es eine Erlebnisgemeinschaft der Konfessionen gegenüber dem Dritten Reiche gab, darum ist das kirchliche Ziel von morgen als Kirchengemeinschaft möglich. Wir wollen damit die Macht des Erlebens nicht verkleinern, denn auch der Vitalismus hat sein Wahrheitsmoment. Wir sind ja auch nicht der Meinung, daß geschichtlich Gewordenes wie die christlichen Konfessionen nun als Gewordenes ewig Gültigkeit besäße. Aber wir haben zu bemerken, daß mit dem existential-vitalistischen Hang des 20. Jahrhunderts das Gewicht von Tradition so zurücktritt, daß damit eine neuartige Gefährdung auftaucht; denn was heißt dieses Zurücktreten anderes, als daß die lebensvolle Vermittlung zum Gegenstande des Glaubens unsichtbares Nebenwerk — die Kirchengeschichte also eine Hilfswissenschaft — wird und daß das Gestaltproblem kirchlichen Daseins auf Aktualitäten aus sein muß und damit als Gestaltproblem in seine Gefährdung tritt! Ich meine, wir haben die Tatsache, daß unsere Gemeinden weithin zu stummen Befehlsempfängern werden konnten und daß ihre einstmals

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lebendige Gliederung zur amorphen uniformen Predigthörerschaft zusammenschrumpfte, im Licht dieser Problematik der Tradition und ihres Schwundes zu begreifen. Aber wir müssen unser Problem noch von einer ganz anderen Seite her sehen. Mit der existentialen Interpretation ist das Problem von Schrift und Tradition in einem völlig neuen Sinne deutlich geworden. Es wurde sichtbar, daß die Schrift selbst Tradition ist. Wir haben es bei dem Alten und Neuen Testament mit Gemeinde-Tradition zu tun, und von hier aus ist zwischen dem Römer-Brief und einem Briefe Augustins kein grundsätzlicher Unterschied. Das spannungsvolle Gegenüber von Schrift und Tradition ist also nicht mehr da. Es ist nun so, daß dabei die lutherische Position, der sich Schrift und Bekenntnis unter dem Begriff des Zeugnisses Zusammenschloß, formal in diese moderne Position tief hineinwirkt. Man sagt statt Zeugnis heute Kerygma, meint aber etwas ganz Analoges. Man kann gegen die Tatsache, daß die Schriften des Neuen Testaments selbst Uberlieferung sind, nicht das mindeste einwenden. Es fragt sich nur, was man mit dieser Uberlieferung macht. Was man in der modernen existentialen Interpretation damit macht, ist klar. Man eignet diese Uberlieferung »verstehend« als solche an. Sie ist der letzterreichbare Bezugspunkt der lebendigen Aneignung, und sie ist der Ruf vor die Kunft Gottes. Sie holt den Menschen nicht zurück auf den Jesus von Nazareth, sondern sie ruft ihn voraus auf den Kommenden. Das Heraustreten in die Offenheit vor den Kommenden ist die Struktur des Glaubens. Käme der Kommende jemals an — so wäre der Glaube um sich selbst gebracht. Da der Glaube als Akt aber das Heil bringt, so kann der Kommende niemals ankommen und die Wiederkunft Christi und der letzte Tag kann niemals anbrechen. In dieser Sicht ist die Schrift Anlaß und Anstoß zum Heraustreten in die Kunft Gottes. Sie ist Tradition, die so akut wird. Die vermittelnde Überlieferung aber hat nur als Epiphänomen etwas zu sagen. Sie ist als solche belanglos. Das Gestaltproblem aber ist als Problem und Aufgabe vergangen. Die lutherische Reformation meinte mit dem Zeugnischarakter der Schrift nun allerdings etwas völlig anderes; denn als Zeugnis von Jesus von Nazareth war Tradition wie Schrift Zurückholung des Menschen auf den Bezeugten, und das Stehen vor ihm in seinem Gelebt- und Gelitten-Haben wurde zum Innewerden seines Kommens in Macht. Damit wurde der Menschgewordene zum Regulativ wie zum Axiom, und die Bedeutsamkeit

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von Tradition als Vermittlung und Gestalt wurde zur entscheidenden Glaubenshilfe. Was wir an unserem Gedankengang erkennen, das ist die eminente Gefährdung, in der die Kirchen mit dem gesamten modernen Leben dadurch stehen, daß sich die geschichtliche Bewußtheit überformen lassen muß von der reinen Aktualität, die auf Werden angelegt ist. Das moderne europäische Leben tritt aus der in der lebendigen Tradition angelegten Geborgenheit von Ständigkeit und Kontinuum heraus in die Allfälligkeit und Geschicklichkeit des Momentanen, das sich ohne Schutz am Gestern auf das reine Morgen hin entwerfen muß! Es ist natürlich kein Wunder, daß uns unter der Voraussetzung dieser modernen Entwicklung die in der Tradition angelegte Spannung des Interkonfessionellen nicht mehr einleuchten will und daß wir alle mehr oder weniger bereit sind, die zwischen Lutheranern und Reformierten liegenden Unterschiede als belanglos zu erachten. Wir werden als Kinder des 20.Jahrhunderts aber gerade an dieser Stelle besonders vorsichtig sein müssen, damit wir unsere Kirchen und damit die ständige Wahrheit des Evangeliums nicht der Gestaltlosigkeit des Werdens ausliefern.

Evangelische Theologie in einer sich wandelnden Welt* Dieses Thema stellt die Frage, ob und wie die evangelische Theologie in dem offenbar immer rascher werdenden Wandel der modernen Welt dasteht. Wandelt sich die Theologie mit dieser Welt, oder verharrt sie auf einmal bezogenen Positionen? Man kann durchaus fragen, ob eine Theologie dem unaufhaltsamen Wandel der Welt überhaupt folgen soll. Sollte die Theologie mit ihren Erkenntnissen nicht vielleicht einen ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht darstellen? Mit dieser Frage rühren wir an ein sehr zentrales theologisches und kirchliches Problem. Wir müssen es sehr grundsätzlich anzusehen versuchen. Daß die Welt einem ständigen Wandel ihres zeithaften Werdens und Vergehens unterliegt, das hat man erfahren und bedacht, solange es Menschen auf der Welt gibt. Aber man hat demgegenüber auch gemeint, die religiösen Einsichten und Dogmen seien von einer anderen Art. Man sah sie so an, als nähmen sie teil an der Unvergänglichkeit der Götter, als hätten sie so etwas an sich von deren Ewigkeit. Daher sollten sich gerade die religiösen Uberlieferungen immer wieder als Wahrer von Althergebrachtem und als Rückgrat in der Erscheinungen Flucht ausweisen. Wandel der Welt und religiöse Einsicht scheinen sich danach gegenüberzustehen. Diese Meinungen konnten mehr oder weniger eindeutig hervortreten, solange es — wie im außerchristlichen Bereiche — um Dogmen und Einsichten ging, die im unmittelbaren Kontakt mit göttlichem Hervortreten gewonnen waren. Zum Beispiel gibt ja das Hervortreten Krishnas nach der Bhagavadgita Einsicht in das letzte ewige Wesen der Gottheit selbst. Der Mohammedaner kann der Meinung sein, Mohammed habe den authentischen Wortlaut eines ewigen unveränderlichen Göttlichen Buches abgelesen, und das sei der Qur'an. Aber dies wurde da anders, wo im Bereiche des biblischen Zeugnisses der Gott Israels nur in der Vermittlung durch raumzeitliche Ereignisse wie durch Jesus von Nazareth oder im Alten Testament durch die Herausführung Israels aus Ägypten sichtbar und erkennbar wurde. Jede * Zuerst veröffentlicht in: Universitas, 22. Jg. 1967, S. 6 2 3 - 6 2 8 .

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Gottesunmittelbarkeit ist hier verstellt. Man weiß von diesem G o t t nur das, was in der Vermittlung der raumzeitlichen Bindung seines Wortes erkennbar wird. Daher entsteht der unabweisbare Eindruck, daß dieser Gott selbst Wandlungen unterliegt: Er ist geglaubt als der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Dann aber ist er als der Gott von Sinaj her geglaubt worden. Die ganze vielfältige Bundesgeschichte, die dieser Gott mit Israel ging, bis hin zum Neuen Bunde zeigt diese sogenannten Wandlungen. Man hat auch von der »Heilsgeschichte« gesprochen, in der dieser Gott hervortritt. Wie immer man dies auch näher bezeichnet, das Heil dieses Gottes ist nur in raumzeitlichen Gebundenheiten wie z . B . in Jesus von Nazareth für die Welt da. Diese Tatsache bedeutet nun aber, daß das Problem sich erhebt, wie dieser Gott späteren Zeiten präsent werden kann. Wenn sein Hervortreten als Jesus von Nazareth ζ. Β. raumzeitlich gebunden ist, wie sollen dann spätere Generationen seines Heiles gewiß werden? Schon das Neue Testament hat diese Frage in den sogenannten Abschiedsreden des JohannesEvangeliums gesehen und mit einem Verweis auf Gottes Präsenz als Geist beantwortet. Das heißt, daß dieses Problem nochmals von Gott selbst beantwortet wird, der sich den späteren Zeiten als der Geist Gottes einbezieht. Dies aber geschieht wiederum nicht unvermittelt, sondern anhand und unter Voraussetzung Jesu bzw. des biblischen Wortes. Auch in dem Hervortreten Gottes als Heiliger Geist in den Zeiten der Kirche also gibt es keine unmittelbare Einsicht des Menschen in die Majestät Gottes. Wiederum geht es vielmehr um raumzeitlich gebundene Einsichten, die sich mit dem Wandel der geistigen Welt wandeln. Diese ganze Problematik kann man sich an der Bibel als Gottes Wort klarmachen. Wir haben ja auch in der Bibel nicht Gottes eigenes Wort so, daß wir meinen könnten, diese biblischen Sätze seien in ihrem hebräischen oder griechischen Wortlaut Gottes Worte. Diese biblischen Zeugnisse sind Wort des Jeremiah, des Chronisten, des Markus oder des Paulus. Sie haben an der ganzen raumzeitlichen Bindung ihrer Autoren teil. Sie teilen sich dem heutigen Menschen auch nicht unmittelbar mit, sondern sie wollen übersetzt werden, und sie müssen erklärt werden. Diese Ubersetzungsaufgabe bedeutet aber kein nur mechanisches Ubertragen, sondern ein neues Formen des Textinhaltes. Die Mission zeigt ja immer wieder ganz lebendig, wie tief diese Ubersetzungsprobleme in das Gesamtverständnis der Bibel wie in den Charakter der Sprache, in die der biblische Text hineingestellt werden soll, führen. Dieses neue Formen und Gestalten des Textinhaltes hat die Bibel

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bei Luther ζ. B. in das Verständnis des 16. Jahrhunderts gebracht. Damit ist die Aufgabe ja aber nicht erledigt. Die vielen Revisionen der Lutherbibel zeigen, daß diese Aufgabe sich immer wieder stellt. Obwohl das so ist, bleibt diese Bibel gleichwohl das Wort Gottes. Sie wirkt als das Wort Gottes, ζ. B. durch die Predigt. Sie erweist sich immer wieder als das Wort Gottes, wo sie Glauben weckt. Aber sie ist das Buch, dessen Schriften übersetzt und immer neu erklärt sein wollen. Unsere am Anfang gestellte Frage, ob eine evangelische Theologie dem Wandel der Welt folgen oder ob sie ihm gegenüber als ruhender Pol verharren soll, haben wir aus dem Kern der Sache, um die es aller christlichen Theologie geht, eindeutig beantwortet: Eine christliche Theologie, die sich dem Wandel der Welt verschließen wollte, würde ihre zentrale Aufgabe versäumen. Die Wahrheit Gottes, der im biblischen Worte für die Welt da ist, will wieder und wieder in die Raumzeitlichkeit dieser Welt eingehen, um ihr einsichtig zu werden. Diese Wahrheit Gottes ist nicht die eine unveränderliche abstrakte Wahrheit der mathematischen Lehrsätze, sondern sie will in die Ausdrucks- und Auffassungsgestalt der jeweiligen Gegenwart hineingewandelt sein. Ja, man kann geradezu sagen, daß die Theologie im Christentum dazu da ist, um die eine Wahrheit des Evangeliums neu und neu in die sich wandelnde Welt hineinzuübersetzen, damit diese Welt im Evangelium ihre Fragen beantwortet finden kann. In dieser Tatsache haben wir einen zentralen Ausdruck der Kondeszendenz, der Herablassung Gottes vor uns. Gott geht auf unsere Welt und die sich wandelnden Gestalten ihres Selbstverständnisses ein. Das zeigt seine große Barmherzigkeit und macht zugleich die letzte Unfaßbarkeit seines Gottseins an sich selbst und bei sich selbst aus. Die Reformation hat diesen Sachverhalt sehr klar erkannt. Er hat sich ihr ganz zentral als Ubersetzungsaufgabe der Bibel gestellt. Damit ist die Reformation zur Weckerin des nationalen Sprach- und Kirchenbewußtseins in den mittel- und nordeuropäischen Ländern geworden. Dabei hat die Reformation ganz eindeutig erkannt, wie in dieser großen unabschließbaren Aufgabe zwei Strebungen verbunden sein müssen: die erste Strebung muß es sein, die biblische Botschaft als die, die sie war, festzuhalten und nicht verfälschen zu lassen. Diese Aufgabe hat die Reformation ζ. B. darin erfaßt, daß sie die altkirchlichen Glaubensbekenntnisse sich voll zu eigen machte. Das sogenannte Credo oder Apostolicum ist das Leitbild aller dogmatischen und katechetischen Überlegungen der reformatorischen Kirchentümer gewesen. Ja, die Reformation verstand sich geradezu als Wahrerin der

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ursprünglichen Wahrheit des Evangeliums gegenüber späteren Entstellungen. Es ging ihr um ein »Zurück-Formen« des christlichen Glaubens auf die Ausgangswahrheit. Die Reformation hat sich in der Erledigung dieser Aufgabe gebunden gewußt an das, was im Texte steht, bzw. an das, was die Väter daraufhin erkannt hatten. Die zweite Strebung ist es dann, diese Botschaft in die Ausdrucks- und Denk-Gestalt der Gegenwart zu übersetzen. Diese zweite Seite des Ganzen kann nicht etwa in sklavischer Ubertragungsarbeit bestehen, sondern hier will die Gestalt der Wahrheit neu geformt, ja neu geschaffen sein. Ein eminentes Bewußtsein von Freiheit steht dahinter, wenn diese Aufgabe bewältigt werden soll. Freiheit, um auf die tiefsten und geheimsten Fraglichkeiten der Moderne einzugehen. Die Reformatoren wußten um die ganze Skrupulosität des Menschen des ausgehenden Mittelalters, und sie schritten einträchtig mit den Humanisten zum philologisch historisch arbeitenden Quellenstudium an der Bibel. Zur rechten Verbindung dieser beiden Strebungen bedarf es eines ebenso tiefgründenden Verständnisses der Botschaft selbst wie eines leidenschaftlichen Sicheinlassens auf die eigene Gegenwart. Das Umgehen mit dem biblischen Worte des Alten und Neuen Testamentes kann niemals ein nur abstraktes Erkennen-Wollen sein, sondern es geschieht um der eigenen Gegenwartswelt willen. Die biblische Botschaft schafft die Freiheit, die eigene Welt so nüchtern fern und zugleich so verbindlich nah zu erfassen, daß jene Ubersetzungsaufgabe getan werden kann. Vielleicht mag angesichts unserer Moderne — der Mitte des 20. Jahrhunderts — der Eindruck einer besonders tiefreichenden Umformung entstehen. Es sieht so aus, als seien die Gegenwartsprobleme, die sich mit der Welt der technischen Automation und ihrer naturgesetzlich oder soziologisch beschreibbaren Hintergründe stellen, schlechterdings neue. Man könnte denken, und man hat wohl auch behauptet, daß sich die Botschaft des Alten und Neuen Testamentes in diese so neu gewordene Welt gar nicht mehr übersetzen lasse. Was haben Aufgaben, die sich nur mit elektronischen Rechenmaschinen bewältigen lassen, mit dem zu tun, was Gott in die nomadisch lebende und empfindende Welt Abrahams hineinsprach? Was kann an dieser Welt, deren naturwissenschaftliche Geheimnisse bis auf wenige Grundprobleme entschleiert zu sein scheinen, dieser Gott noch tun? Was können dieser Welt, deren Abläufe biologisch wie soziologisch gesetzlich durchschaubar sind, Glaubensgewißheiten noch helfen? Der Fragen dieser Art sind viele. Aber das Entscheidende ist ja doch wohl dieses: unsere Welt ist in eine rasante Bewegung geraten, die vor keiner

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Tradition und vor keiner Sitte haltmacht. Alle Traditionen des gesellschaftlichen wie des familiären Daseins werden mit hineingerissen in den bedingungslosen Bewegungscharakter der Welt. Frühere Jahrhunderte konnten von Größen aus denken, die wie das »Sein« in sich ruhend vorgestellt den Eindruck von Haltbarkeit, Beharren und Bodenständigkeit machten. Mit diesen Grundlagen konnte man das Leben bewältigen. Das wird nun anders. Lange sich vorbereitend, schon zu Beginn der sogenannten Aufklärung für uns heute sichtbar, kommt das menschliche Leben, die Gesellschaft und die Welt in Bewegung. Man sieht diese Bewegung und entbindet sie damit zur Rasanz. Lange halten alte Vorstellungen von Ordnung und Gefüge noch stand. Aber die äußere Revolutionierung der technischen Vermögen und der sozialen Fortschritte wird zum Schrittmacher des beispiellosen Zerfalls von Ordnung und Gefüge. Wir stehen mitten in der Kulmination dieses Prozesses. Die evangelische Theologie hat diesen Vorgang auf seinen verschiedenen Sektoren frühzeitig in seiner Gewalt wie in seiner Berechtigung erkannt. In tiefgreifenden Krisen und Kämpfen ist die evangelische Theologie diesen geistigen Weg der Neuzeit mitgegangen und hat ihn zum Teil mit geprägt. Das gilt für die Einschätzung und Wahrnehmung des sozialen Aufbruches ebenso wie für die Ausgestaltung des historisch-kritischen Denkens oder die Rezeption der naturwissenschaftlich interpretierten Welt und des Menschenbildes. Auf breiter Front ist die evangelische Theologie diesen Entwicklungen erschlossen gewesen. Man braucht ja nur Namen wie Johann Hinrich Wichern und Adolf Stöcker oder Albert Schweitzer und Paul Tillich zu nennen, um diese Offenheit zu bemerken. In den krisenhaften Umschichtungen, die sich in der westeuropäischen Welt wie in den evangelischen Theologien vollzogen, mußte immer wieder viel gewagt werden! Aber es wurde auch viel gewonnen! Viel mußte gewagt werden in der Theologie auf diesem Wege, und man hat auch viele Holzwege dabei begehen müssen. So meinte man, die moderne Welt wollte sich säkular emanzipieren und man müsse sich nun auch in Theologie und Kirche säkular gebärden, um ihr nahe zu bleiben. Oder man meinte, die Rede davon, daß Gott tot sei, damit beantworten zu sollen, daß man sogenannte »nachtheistische Theologien« erdachte. Oder man meinte, man solle sich nicht mehr religiös ausdrücken, wenn man von religiösen Dingen rede. Aber mit diesen ganzen Überlegungen geht man an dem Kern vorüber. Diese unsere Welt versteht sich nicht säkular, so als wollte sie sich damit emanzipieren. Sie ist auch nicht areligiös und ist nicht

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der Meinung, Gott sei tot, sondern unsere Welt ist mit all ihrer Kraft mit der Unablässigkeit der Bewegung befaßt, als die sie alles erkannt hat, und ihre gespannte Aufmerksamkeit gilt dieser Bewegung. Sie versteht sich dabei weder säkular noch religiös. Diese Scheidungen sind ihr fremd. Sie sind ihr so fremd wie dem Christentum selbst! Jedenfalls hat die evangelische Theologie von vornherein dieser Unterscheidung verständnislos gegenübergestanden. Was heißt z.B. der Unterschied von Laien und Priester? Alles ist säkular — auch die Predigt des Wortes Gottes. Und alles ist von Gottes Gegenwart umstanden — auch das Arbeiten am WeltraumAug. Aber die evangelische Theologie hat auf diesem Wege auch viel gewonnen. Das Entscheidende dabei ist die Einsicht, daß der Gott der Bibel, wie er uns im Zeugnis seines Wortes und aus seiner Präsenz in dieser seiner Welt einsichtig wird, Bewegung, Wandel, zeithaftes Geschehen einschließt, umschließt und in der Tiefe erschließt, die allen Wandel und alle Bewegung und alles Geschehen gründet und grenzt. Diese Einsicht stellt den zentralen Gewinn des wagenden Weges der evangelischen Theologie in der sich wandelnden Welt während der letzten zweihundert Jahre dar. Diese Einsicht eint den Glauben an diesen Gott mit dem modernen Weltbewußtsein.

Die theologische Existenz des Gemeindepfarrers in ihrer Bedeutung für die Weiterbildung der Theologie* 1. Das

Thema

Man pflegt zu fragen und zu überlegen, was die Theologie für das Pfarramt austrage. Aber was das Gemeindepfarramt für die Theologie bedeute, das pflegt man nicht thematisch zu machen. Das soll hier geschehen. Dabei müssen wir uns über die beiden Seiten unseres Themas einleitend verständigen, was wir nämlich unter Weiterbildung der Theologie und was wir unter der theologischen Existenz des Gemeindepfarrers verstehen wollen. Im Zielpunkt unserer Überlegungen steht die Weiterbildung der Theologie! Das heißt also, es geht um den Fortgang der theologischen Erkenntnis. Dieser Fortgang bzw. diese Weiterbildung der Theologie ist hier in einem ebenso allgemeinen wie grundsätzlichen Sinne gemeint. Es gibt sehr verschiedene Möglichkeiten, eine Weiterbildung der Theologie ins Auge zu fassen. Da ist die Weiterbildung, die auf dem Boden zunehmender historischer Kenntnisse geschieht. Dabei kann man ζ. B. an das, was die Entdekkung des Thomas-Evangeliums oder der Qumran-Texte bedeuten, denken. Da ist ferner die Weiterbildung, die auf Grund fortschreitenden Verständnisses großer Männer der Kirche geschieht — also z.B. die LutherInterpretation der letzten 60 Jahre, und was das für die Theologie bedeutet hat. Aber das alles sind wohl Weiterbildungen, sie betreffen jedoch nicht den grundsätzlichen Sinn, in dem wir hier davon sprechen wollen. Es gibt eine Weiterbildung der Theologie, die mit dem Fortgang menschlichen Welt- und Selbst-Verständnisses aufgegeben ist. Die Theologie geschieht als lebendiges Korrelat zu dem fortschreitenden menschlichen Welt- und Selbst-Verständnis. Sie ist geradezu gezwungen, in der Korrelation zu diesen Weiterbildungen menschlichen Welt- und Selbst-Verständnisses * Vortrag, gehalten auf der Niederrheinischen Konferenz in Guntershausen am 11. Mai 1966.

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dazusein, denn sie ist als Theologie damit befaßt, das »Wort Gottes« in die Sprache und das Begriffsvermögen ihrer Gegenwart zu übersetzen! D a s »Wort Gottes« ist als das Zeugnis von Gottes Tun als Jesus von Nazareth in die Raumzeitlichkeit dieser Welt eingegangen. Es ist hebräisch, aramäisch oder griechisch »gestaltet« und soll nun »verdeutscht« werden. Das Wort Gottes ist in die Vorstellungs- und Begriffs-Welt des Spätjudentums eingegangen, und diese Welt ist nach Vorstellung und Begriff dem deutschen Menschen des 20. Jahrhunderts nicht ohne weiteres eingängig. Darum also muß übersetzt werden, und es muß immer neu übersetzt werden! Diese ganz allgemeine und grundsätzliche Bestimmung von Theologie ist unbestritten. In diesem Sinne reden wir hier von einer Weiterbildung der Theologie. Wir bemerken an diesem Gebrauch von Weiterbildung der Theologie also vor allem die durch die Eigenart des »Wortes Gottes« gegebene Korrelation von Theologie und fortschreitendem menschlichen Welt- und Selbstverständnis. Hierzu sind drei Momente wichtig: 1. Die Weiterbildung der Theologie aus der Korrelation zum menschlichen Dasein in seinem geschichtlichen Progreß ist wie der Progreß menschlichen Daseins selbst kein Fortschritt in dem Sinne, daß sich die Theologie aus primitiven oder naiven Anfängen zu immer imponierenderen Lehr- und Erkenntnis-Gebäuden erheben könne oder solle. Nicht Fortschritt kennzeichnet das menschliche Dasein, sondern ständiger Wandel. Dieser Wandel hat seine Höhepunkte, und er hat seine Tiefen. Er hat seine Aktivitäten und seine Ruhe. Die Theologie begleitet den Wandel dieses Daseins. Sie muß ihn begleiten, denn wie Gottes Wort als Wort Jeremias in die Begriffs- und Vorstellungs-Welt des 7. vorchristlichen Jahrhunderts und als Wort des Paulus in die Begriffs- und Vorstellungs-Welt des 1. nachchristlichen Jahrhunderts einging, so soll und will es z . B . als verbum praedicatum wieder und wieder Gestalt gewinnen, und das heißt, in eine bestimmte Zeit »eingehen«. In diesem GestaltWerdungsprozeß liegt die »Weiterbildung« der Theologie als Notwendigkeit beschlossen. Es ist ganz eindeutig, daß das kein Fortschritt ist, sein soll und sein kann! Diese Überlegung ist bei aller ihrer Selbst-Verständlichkeit dennoch nicht überflüssig. Immer wieder legt sich nämlich das Mißverständnis des Fortschrittes nahe. D a gibt es die Form des römisch-katholischen Redens von einer »fortschreitenden Offenbarung«. D a gibt es die Form des evangelischen Redens — zumal bei E. Troeltsch — von dem sich anreichernden und fortschreitenden »Christlichen Prinzip«. Aber da gibt es auch die sich

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unter der Hand mit dem Vollzug des wissenschaftlichen Arbeitens einstellende Meinung, es gebe doch einen Fortschritt, denn man will es ja »besser« machen als der Vorgänger, und mancher macht es ja auch vielleicht besser. Aber wenn man dann weiter zurücksieht — etwa auf die Zeit Schleiermachers oder der Reformation —, dann sieht man, daß kein Fortschritt, sondern oft auch ein Rückschritt da ist, da sein kann und immer wieder da sein wird. Theologie macht eine Generation »richtig« — und nicht »besser« als die Generation zuvor —, wenn sie das eine und selbe Evangelium ihrer Zeit »verständlich« ein-»gestalten« kann. Das bedeutet aber nicht, daß jede Zeitströmung als Modernität der Botschaft aufgedrückt werden müßte und daß damit die »Richtigkeit« der Weiterbildung gegeben sei. Die Botschaft kommt stets auch contra hominem. Damit taucht das Problem der immer neuen Gestaltwerdung der Botschaft als Weiterbildung der Theologie erst in seiner ganzen Realität vor uns auf. Dieser Vorgang heißt nicht, daß der Inhalt der Botschaft ζ. B. dem Denken der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einfach angeglichen werden sollte oder könnte. Es gibt vielerlei Parolen und Wegeröffnungen in jeder Zeit, wie auch in unserer Gegenwart, die Holzwege auftun und zu nichts führen als zu Verirrungen. Es geht also um die Unterscheidung, welche Elemente so bestimmend und tragfähig sind, daß sie einer Weiterbildung der Theologie dienen können. Man kann z . B . zeigen, wie stark und fruchtbar die Aufnahme der idealistischen Systeme die evangelische Theologie in ihrer Weiterbildung beeinflußte. Die aufklärerische Entfaltung der Theologie war, wie Schleiermacher zeigt, wie ein Intermezzo rasch vergessen. Sie taucht im Zusammenhang sehr andersartiger Motive heute erneut als »Aufklärung« auf. Oft scheint es freilich nur ein aufklärerisches Pathos vom »aufrechten Gang« zu sein, was »mystische« Emotionalität, die aus den verschiedensten Ecken stammt, modern machte und empfehlen soll. Die Weiterbildung der Theologie geschieht also nicht als mechanische Angleichung der theologischen Tradition an die »neue« Welt. Es geht vielmehr um die sorgsame und schwierige Aufgabe, die jeweilige »Modernität« darauf anzusehen, wie weit ihr die Botschaft ein-»gestaltet« werden kann, oder wie weit die Botschaft dieser oder jener Zeitströmung entgegengesetzt und fremd bleiben muß. Man kann sich das z . B . auch daran klarmachen, wie die Reformatoren sich sehr, sehr verschieden zum Humanismus ihrer Zeit verhielten, was sie rezipierten und was sie davon abstießen.

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2. Unsere Überlegung zeigt, daß die Weiterbildung der Theologie also offenbar nicht so geschehen kann, daß in einem frei aus der »Sache« des Wortes Gottes hervorgehenden Erkenntnisprozeß die Erkenntnis des Wortes Gottes als solche weitergebildet werde. Es ist nicht so, daß die Theologie aus dem Worte als ihrer »Sache« in eine fortschreitende Abstraktion geraten dürfe und sich so fortbilde. Es ist vielmehr so, daß die »Sache« der Theologie, nämlich das Wort Gottes, und das der Theologie gleichzeitige Welt- und Selbst-Verständnis in eine Korrelation gebracht sein wollen und müssen, die es erlaubt, das einige Wort Gottes, wie es in hebräischer, aramäischer oder hellenistisch-griechischer Begriffs- und Vorstellungsweise da war, Gestalt finden zu lassen in der Welt des Humanismus wie in der Welt der Aufklärung wie in der Welt des sog. Atomzeitalters. Es geht also in der Theologie um eine dialogische Aufgabe, wie man mit dem heute beliebten Begriff sagen könnte. — Das Wort Gottes, wie es im biblischen Zeugnis vorliegt, soll mit der jeweiligen Gegenwartswelt des Theologen so in Korrelation gebracht sein, daß seine Ubersetzung, in der ganzen Weite dieses Vorganges verstanden, möglich wird! Dabei hat die Theologie ihre Gegenwart ungemein genau zu reflektieren und ihr »aufs Maul zu schauen«, wie Luther sagte. Das aber bedeutet eine ganz eminente Schwierigkeit, denn »was er webt, das weiß kein Weber«! Mit der Aufgabe der Theologie ist diese Schwierigkeit da, denn der Dialog von Begriffs- und Vorstellungswelt der Bibel mit der Begriffs- und Vorstellungswelt der Gegenwart bildet den Grund der Möglichkeit von Verkündigung, von Unterricht und allem Zeugnis. Mit dieser Aufgabe, deren Lösung die Basis allen kirchlichen Handelns ist, hat die Theologie fertig zu werden, und das verlangt einen hohen Grad von Abstraktion. Wohlgemerkt, es geht ja nicht etwa um Kulturkritik, sondern um »Erkenntnis« der gegenwärtigen Kultur, um die beiden Größen ins Gespräch bringen zu können. Es geht darum, zu »erkennen«, was an Eigenart und Spannkraft in unserer Gegenwart gestaltbildende Kraft hat. Diese Aufgabe ist nicht ohne weiteres lösbar. Die eigentliche Gegenwart zu erkennen, ist, wie im Problem der Selbsterkenntnis deutlich zutage liegt, nahezu unmöglich. 3. Die Aufgabe der Theologie, das Wort Gottes mit seiner bestimmten Begriffs- und Vorstellungswelt in der Gegenwart ihres Begreifens und Vorstellens Gestalt werden zu lassen, vollzieht sich aber nicht nur zwischen den beiden Größen, dem Worte Gottes auf der einen Seite und dem gegenwärtigen Begriffs- und Vorstellungs-Vermögen auf der anderen Seite. Der Vorgang ist noch um einen Moment komplizierter. Das Wort Gottes

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hat nämlich in der Geschichte seiner Wirkung von Anfang an ganz bestimmte Gesamtverständnisse hervorgebracht, die seine Auslegung und neue Gestaltwerdung vorgängig beeinflussen und bestimmen. Das judenchristliche Gesamtverständnis steht dem heidenchristlichen gegenüber. Das römisch-katholische Gesamtverständnis steht dem griechisch-orthodoxen gegenüber. Das lutherische Gesamtverständnis steht dem reformierten gegenüber etc. Diese Gesamtverständnisse haben für die Vermittlung zwischen Wort Gottes und Gegenwart entscheidende Bedeutung. Sie sind in den Kirchentümern inkorporiert. Sie bestimmen ζ. B. die Ordinationsverpflichtung und den Katechismus, und damit beeinflussen sie vorgängig jede theologische Arbeit. Dabei braucht ihr Einfluß gar nicht streng bewußt zu sein! Sie wirken am tiefsten in den unkontrollierten »atmosphärischen« Vorurteilen des protestantischen, des orthodoxen, des römischen etc. Gesamtverständnisses. Auch diese Gesamtverständnisse unterliegen dem beredeten Wandel! Aber sie haben auch Ausdrucks-Gestalten — wie das Bekenntnis, die liturgische Formel oder die Bibelübersetzung für den gottesdienstlichen Gebrauch —, die dem Wandel zu trotzen scheinen. An diesen Stellen kann es dann zu Eruptionen künstlich gestauten Wandlungsdranges kommen wie im Apostolikums-Streit und ähnlichen Vorkommnissen. Diese Ereignisse zeigen dann, wie gefährlich es ist, die Gesamtverständnisse neu mumifizieren zu wollen, statt ständig zu neuen Gesamtverständnissen bereit zu sein und aufzubrechen. Die Ära der Unionen, die seit 150 Jahren im Schwange ist, zeigt, daß die historischen Gesamtverständnisse dem Leben offenbar nicht mehr voll gerecht werden können, daß man aber den Schritt nach vorne noch nicht wagt. Die Halbheit der unionistischen Maßnahmen zeugt für ihre Gefährlichkeit. Das sind die drei Momente, die zu der Frage der korrelativen Weiterentwicklung der Theologie zu bedenken sind. Nun auf der anderen Seite die »theologische Existenz des Gemeindepfarrers« : Wir sind nicht der Meinung, es könne oder sollte darum gehen, dem Gemeindepfarrer zuzumuten, an der theologischen Forschung teilzunehmen, so daß man von ihm wissenschaftliche Arbeiten verlangen oder erwarten könne. Man hat ja gemeint, man sollte durch solche Arbeiten den theologischen Bildungsstand der Pfarrerschaft überprüfbar und lebendig erhalten. Aber dagegen spricht nicht nur die Tatsache, daß die Zeit und die Kraft dazu fehlt, sondern dagegen spricht das Amt des Gemeindepfarrers. Der Pfarrer ist nicht dazu da, wochenlang einem Gedankenfaden zu folgen,

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um z . B . der Trinitätslehre oder der Christologie diese oder jene Seite abzugewinnen. Er würde damit sein officium verletzen. Aber der Gemeindepfarrer hat nun andererseits durchaus auch einen theologischen Auftrag. Ich habe geschwankt, ob ich das Thema nicht formulieren sollte: »Der theologische Auftrag des Gemeindepfarrers in seiner Bedeutung für die Weiterbildung der Theologie«. Aber der Begriff des »Auftrages« sieht dann leicht wie etwas aus, was der Gemeindepfarrer neben allem anderen und über alles andere hinaus auch noch »erledigen« soll. Mit der »theologischen Existenz« ist angedeutet, daß es sich um einen Vorgang handelt, der in allem Tun des Gemeindepfarrers in Predigt und Unterricht, in der ganzen Auseinandersetzung mit der säkularen Welt, in der Seelsorge wie in der Bautätigkeit von Kirche und Pfarrhaus und in allen anderen Amtsgeschäften mit dabei ist. Die »theologische Existenz« des Gemeindepfarrers meint, daß das Dasein eines Gemeindepfarrers im Einzelnen wie im Ganzen stets auch theologisch bestimmt ist. Was heißt hier theologisch? Theologisch heißt hier, daß ein Urteil wie eine Handlung in klarer Reflexion auf das Wort Gottes wie auf seine reformatorische Ausgelegtheit verantwortet wird. Theologisch, das ist hier die ebenso nüchtern bewußte, wie tiefgreifende Bindung an die heilschaffende Botschaft der Bibel wie an die Freiheit begründende Auslegung der Reformation. Man kann ja auch sehr anders handeln und urteilen. Man kann ζ. B. den Weg des geringsten Widerstandes suchen und alles so zu machen versuchen, wie es immer war! Aber das sollte gerade nicht geschehen. Die Tradition und die Routine sind keine zureichenden Gründe für ein Handeln im evangelischen Bereiche. Das bedeutet nun natürlich nicht, daß stets alles neu und anders gemacht werden müßte. Das Neue ist ja keinesfalls als das Neue auch schon das Empfehlenswerte. Es geht um das theologische Verantworten. Damit geht es um ein Nachdenken und Reflektieren im Horizonte des biblischen Zeugnisses in seiner reformatorischen Ausgelegtheit. Das heißt, daß ein Dasein sich für eine Gemeinde aus dem Wortes Gottes begründet. Dazu gehört nun nicht nur der jedem Christen eigene tägliche Umgang mit der Schrift. Sondern dazu gehört ein täglicher Umgang mit der Schrift in einer theologisch reflektierten Weise, d. h. nach dem Urtext mit neuen Kommentaren oder ein andersartiges Mitgehen mit der theologischen Forschung, ein Tun also, das zu einem theologisch verantwortbaren Urteilen und Handeln führt. Das kann sehr verschiedenartig aussehen. Es geschieht stets mit dem Ziele, die vielen Einzelentscheidungen der Amtsführung

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theologisch verantworten und begründen zu können. Zumal geschieht dies in dem »geistlichen Umschluß« eines Pfarrerlebens. Das scheint mir ebenso wichtig wie selbstverständlich. Theologisch wissenschaftliche Werke lesen kann jeder Mensch. Aber theologisch wissenschaftliche Werke lesen im Zusammenhang der geistlichen Ausrichtung und der Fragen eines PfarrerDaseins — darauf kommt es an! Das Christentum ist eine denkende Religion und theologische Existenz besteht in dem Begreifen, daß es ζ. B. ohne das Nachdenken über das Wort nicht abgeht — dazu gehört auch die methodisch gepflegte Exegese am Urtext in fortlaufender Arbeit an einem Buche der Bibel mit einem oder zwei guten wissenschaftlichen Kommentaren. Aber diese Exegese ist nicht die »theologische Existenz«. Sie führt aber dazu und bildet den Grundstock. Die »theologische Existenz« geschieht in der Begegnung mit den Presbytern, mit Sterbenden, mit Konfirmanden und mit all den vielen Menschen, mit denen wir es Tag für Tag zu tun haben. Sie geschieht in diesen Begegnungen als die Reflektiertheit des Urteils und des Handelns vor Gott für diese anvertrauten Menschen. Der Züricher praktische Theologe Walter Bernet hat vor einiger Zeit einen Rundfunk-Vortrag über das evangelische Gemeinde-Pfarramt als Dasein »zwischen Priester und Funktionär« gehalten und dabei gemeint, der Pfarrer sei seiner »Gemeinde die Theologie schuldig«.1 Das mache sein Amt aus. Nun, dies Urteil ist so wohl nicht richtig, denn das Zeugnis des lebendigen Herrn ist gerade immer und zunächst ganz anders als Theologie! Aber dieses Zeugnis, das der Pfarrer seiner Gemeinde schuldig ist, geschieht in theologischer Weise und auf Grund theologischer Einsichten. Insofern also könnte man das Verhältnis des Pfarrers zu seiner Gemeinde auch als spezifisch theologisch ansprechen. Bernet gibt für die theologische Haltung des Gemeindepfarrers drei Charakteristika, die für seine »theologische Existenz« kennzeichnend sind. Er sagt: 1. »Theologische Existenz ist freie Existenz!« 2 Damit meint Bernet das Verhalten des Pfarrers zu den verpflichtenden Formeln z . B . der Bekenntnisse. Sie werden in Freiheit übernommen, und theologische Existenz ist, das zu können und dabei ein solche Freiheit begründendes Urteil

1

Walter Bernet, Zwischen Priester und Funktionär, in: Kontexte Bd. 2, hg. von H . J . Schultz,

2

Ebd., S. 111.

Stuttgart 1966 (S. 106-112), S. 110.

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zu besitzen. 2. »Theologische Existenz ist kritische Existenz.« 3 Damit meint Bernet jenes so mißverständliche Stehen zwischen Glauben und Unglauben. Ich bin nicht der Meinung, daß es Sache des Pfarrers ist, zwischen Glauben und Unglauben zu stehen. Aber »kritisch« ist die Existenz des Gemeindepfarrers gleichwohl: Kritisch gegenüber allen Parolen des Tagesgespräches auch in der Theologie wie in der Politik und im ganzen öffentlichen Dasein. Diese kritische Nüchternheit der prüfenden Verantwortlichkeit zeichnet die theologische Existenz des Gemeindepfarrers wie jedes Christen aus. 3. »Theologische Existenz ist weltliche Existenz.«4 Der Pfarrer ist Theologe, und das heißt nach Bernet, er handelt ein »profanes Geschäft.« 5 Die Theologie ist eben »profan«, und der Pfarrer steht als Theologe neben den Gemeindegliedern in ihren profanen Geschäften. Bernet meint, diese Profanität der Theologie gebe dem Pfarrer die Ebene, auf der er seiner Gemeinde gerade nicht mehr gegenüber zu sein brauche. Es ist wohl keine Frage, daß die Theologie ein profanes Geschäft ist. Aber es ist eine Frage, ob man damit das Dasein des Pfarrers so charakterisiert sein lassen kann. Darauf werden wir noch zurückkommen. Jedenfalls — die »theologische Existenz des Gemeindepfarrers« geschieht in der Freiheit und kritischen Nüchternheit und sicher auch in der schlichten Weltlichkeit, die der Theologie eigen sind. Unser Thema postuliert nun, diese theologische Existenz des Gemeindepfarrers sei von Bedeutung für die Weiterbildung der Theologie: Was heißt das? Wir fassen unsere Überlegungen in drei Gruppen zusammen: 1. Von der Einheit und Ganzheit der Theologie. 2. Von dem Gespräch der Theologie mit dem Leben. 3. Von Theologie und Glauben.

2. Die Einheit und Ganzheit der Theologie Die sog. »theologische Existenz« des Gemeindepfarrers wird in einem akademischen Studium begründet. Als was ist damit diese »theologische Existenz« angelegt? Ein Studium besteht als Studium ja nicht darin, daß ' Ebd. 4

Ebd.

5

Ebd., S. 112.

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Wissen vermittelt wird, das einen als dieses Gewußte dann instandsetzt, für den Rest seines Lebens pfarramtliche Entscheidungen fällen zu können. So sieht es in der volkstümlichen Sicht oft aus, vergröbert in der Vorstellung, der Pfarrer lerne auf der Universität die Predigten, die er nachher hält. Dieses Mißverständnis des Studiums als Wissensanreicherung wird durch ein enzyklopädisch angelegtes Examen immer wieder gefördert. Dabei geht es im 1. Examen als einem wissenschaftlichen Examen grundsätzlich nicht um Wissen, sondern um Methode, d. h. um den Nachweis, daß man weiß, wie man das macht, einen Text zu exegesieren, was das heißt, die Bekenntnisse der Reformation zu handhaben, was es heißt, die Verantwortung des lutherischen Gesamtverständnisses zu reflektieren und sowohl dogmatisch wie ethisch zu erläutern, und was es heißt, den exegetischen Text an den Bekenntnissen der Reformation vermittelt sein zu lassen, darin in einem heute vertretbaren Gesamtverständnis zu halten und ihn so als Gottesdienst oder Unterricht zu konkretisieren. Das Studium vermittelt die Kenntnisse der Methoden, wie man diese Gedankengänge so vollzieht, daß man sich mit seiner Verkündigung und mit seinem Unterricht an der Wahrheit, d. h. am alt- und neutestamentlichen Zeugnis als norma normans wie am kirchentümlichen Selbstverständnis als norma normata halten kann, ohne den Kontakt mit der Gegenwart zu verlieren. In exemplarischer Weise werden die Methoden der einzelnen Fächer als Studium vermittelt. Sie werden in Vorlesungen demonstriert, in Seminaren eingeübt und im Examen als begriffen festgestellt. Die wissenschaftliche Theologie übt und erforscht die Methoden in den einzelnen Disziplinen und wendet sie exemplarisch an. Dabei liegt das Gewicht bei der einzelnen Disziplin. Die theologische Arbeit des Gemeindepfarrers zeigt demgegenüber die Eigenart, daß die einzelnen Disziplinen in ihr Zusammenspiel treten und in ihrem Nacheinander und Miteinander geübt werden. Jede Predigt und jede Unterrichtsstunde, jeder seelsorgerliche Rat und jedes Gespräch mit dem Angefochtenen, Zweifelnden oder Konvertierenden verlangt vom Pfarrer exegetische, also textbezogene Entschlüsse im Verein mit dogmengeschichtlich begründeten Entschlüssen in Hinsicht auf die kirchentümlich vorgegebenen Bekenntnisse, im Verein mit dogmatisch und ethisch auf die eigene Begriffs- und Vorstellungswelt reflektierten Einsichten, die homiletisch, katechetisch oder kybernetisch konkretisiert sein wollen! Wir brauchen nicht lange darüber zu handeln, daß es tatsächlich so ist. Es ist wirklich keine Frage, daß jedes seelsorgerliche Gespräch wie jede Predigt und jeder Unterricht dieses Ganze von

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theologischen Überlegungen verlangt. Es ist auch keine Frage, daß das weithin nicht geschieht. Im allgemeinen traktiert der Gemeindepfarrer nur die Exegese. Darin sieht er seine Vorbereitungsaufgabe. Er bedenkt nicht, wie unheilvoll er damit seine theologische Aufgabe verkürzt, wie er seiner Gemeinde ihr kirchliches Bewußtsein schwächt, wie unkontrolliert dabei der zentrale Ubersetzungsvorgang wird, denn dazu reicht nun mal die Exegese nicht aus, wie ungeschickt ζ. B. ein Unterricht ohne didaktisches Wissen und wie fruchtlos eine Predigt ohne homiletischen Takt werden muß. Aber nicht der abusus soll uns beschäftigen. Der usus theologiae in ministerio stellt uns den ständigen Umgang im Zusammenspiel der theologischen Disziplinen vor und zeigt uns als Gemeindepfarrer einen Theologen, der dieses Zusammenspiel ständig zu üben hat! In dieser Tatsache liegt die erste und, wie mir scheint, tiefe Bedeutung der theologischen Existenz des Gemeindepfarrers für die Weiterbildung der Theologie zutage. Der Gemeindepfarrer übt und weiß als Theologe um die Eigenart und Grenze, um die Möglichkeit und Fruchtbarkeit der Theologie als Ganzer, die wir auf der Universität nur noch im Wettstreit der Disziplinen kennen. Die Aufteilung der fünf klassischen Disziplinen geht auf die Lehrweise zum Teil schon im 16. Jahrhundert zurück. Aber sie blieb labil bis ins 18. Jahrhundert hinein. Sie ist bis in das 19. Jahrhundert sehr verschiedenartig interpretiert worden, wie man z.B. an Schleiermachers uns fernstehender Zuordnung der Disziplinen erkennen kann. Sie ist heute ziemlich fixiert und war in den letzten 20 Jahren durch ein starkes Ubergewicht der exegetischen Fächer gekennzeichnet. Man hat aus dieser momentanen Erscheinung auch ein Prinzip machen und die Exegese unmittelbar an die Predigt anschließen wollen. Aber diese Überspitzungen und Verzeichnungen gehen von alleine wieder zurück. Jedenfalls leidet die Theologie in ihrer Weiterbildung an dem Egoismus der Disziplinen. Die Mauern zwischen ihnen sind zum Teil hoch. Die eine sieht alle anderen als bloße Hilfsfächer an, und es ist sehr schwer, zu einem wirklichen Zusammenwirken zu kommen. Dies wirkt sich auf das Studium ungemein nachteilig aus, denn wie der Student sein Studium sinnvoll führt, um dann in den Genuß aller Disziplinen als eines Ganzen, wie er es braucht, zu kommen, das ist eine offene (!) Frage. Ob also z.B. der alte Weg von den Philologica zu den Exegetica und über die Historica zu den Systematica, um alles als die Practica zu bündeln, sich noch empfiehlt, ist fraglich! Genau an diesen Fragen wird die Bedeutung der theologischen Existenz des Gemeindepfarrers für die Weiterbildung der Theologie erkenn-

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bar. Der Pfarrer ist der Theologe, der um das Miteinander der Disziplinen wissen muß, weil er es ständig üben muß. Zumal übt der Pfarrer dies Miteinander um der täglichen Konkretion willen am einzig wahren »Objekt«, nämlich an den Menschen, denen er das Wort Gottes zu sagen hat. Die theologische Existenz des Gemeindepfarres bewahrheitet die unaufgebbare Einsicht von der Theologie als einer scientia practica. Damit ist eine scientia gemeint, die um willen lebendiger Menschen und um willen der Hilfe für sie getrieben wird. Das heißt, daß im Gemeindepfarrer und seiner theologischen Existenz an der Konkretion und als Konkretion die Theologie als Ganze zur Erscheinung kommt — ja zur Erscheinung kommen muß! Dieses Ganze der Theologie läßt sich nicht theoretisch zur Erscheinung bringen! Weder an der systematischen Theologie als systematischer Verfassung der übrigen Disziplinen noch an den methodischen Überlegungen der fälschlich sog. praktischen Theologie kann das Ganze der Theologie erörtert oder dargestellt werden. Das Ganze der Theologie geschieht als das Dasein von Kirche. Kirche geschieht als Predigt, Unterricht und Seelsorge. Dieses Geschehen vollzieht sich als theologische Existenz des Gemeindepfarrers. Darum ist der Pfarrer und sein Tun der Ereignisort, an dem die Einheit und Ganzheit von Theologie passieren muß. Wenn die Einheit und Ganzheit von Theologie an diesem Orte nicht geschieht, dann gerät das Nebeneinander der theologischen Disziplinen in eine Unordnung, die aus ihrem möglichen Miteinander ein Gegeneinander werden läßt. Dieses Gegeneinander aber ist theoretisch nicht zu lösen, sondern es löst sich nur als theologische Existenz des Gemeindepfarrers. An diesem Punkte, wo das mögliche Miteinander der Disziplinen zum Gegeneinander gerät, stehen wir. Die starke exegetische Verfremdung aller theologischen Disziplinen zeigt das wie auch die zentralen Verlegenheiten der dogmenhistorischen und systematischen Arbeit. Das ist so, müßten wir nach unseren Überlegungen sagen, weil der Gemeindepfarrer auf Grund von Zeitnot und Überdehnung der Gemeinden sein theologisches Amt nicht mehr wahrnehmen kann! Da helfen auch, nach meiner Erfahrung, die Versuche gemeinsamer Übungen der theologischen Disziplinen in den Übungen »Vom Text zur Predigt« z . B . sehr wenig. Andererseits zeigten die Arbeiten, die als theologia applicata von einem Pfarrerkreis in der »Pastoraltheologie« veröffentlicht sind, wie wichtig diese Dinge sein können. Aber lassen wir diese angewandten Überlegungen zunächst. Wir hätten jedenfalls ad 1 zu unserem Thema zu sagen: Die theologische Existenz

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des Gemeindepfarrers bedeutet für die Weiterbildung der Theologie nicht weniger als das Ereignis der Einheit und Ganzheit der Theologie, die als ihre Konkretion in Predigt, Unterricht und Seelsorge geschieht. Wir haben dabei angemerkt, daß diese Einheit der Theologie aus ihr selbst bzw. aus einer ihrer Disziplinen nicht zu erwarten ist. Auch die sog. »praktische Theologie« integriert die anderen Fächer nicht so, daß sie die Einheit der Theologie darzustellen vermöchte.

3. Theologie als Gespräch mit dem Leben Aber wir haben uns den Vorgang der genannten Konkretion noch einmal für sich genauer anzusehen. Er ist keine Frage, daß es die Aufgabe der Theologie ist, das Wort Gottes in seiner ganzen Konkretheit, wie es als Wort des Arnos an die Bewohner Samariens um 850 a. Chr., als Wort Jesu an Petrus oder Johannes im Jahre 29 p. Chr. oder als Wort des Paulus an die Korinther etwa im Jahre 56 oder 57 p. Chr. da war, wahrzunehmen. Es ist auch keine Frage, daß dieses so bestimmte W o r t nach Begriff und Vorstellungsweise aus seiner Sprach- und Sach-Welt in die unsere übersetzt werden muß. Es ist auch keine Frage, daß das eine spezifisch exegetische wie eine dogmenhistorische wie eine dogmatisch-ethische wie eine homiletischkatechetische und kybernetische Aufgabe ist. In all diesen Bemühungen theologischer Art geht es um das Sich-Einlassen auf unsere Gegenwart: Wie sie spricht und wie sie denkt, wie sie sich selbst und wie sie ihre Welt versteht und vorstellt. Zu diesem ganzen großen fachtheologischen Beginnen braucht nicht nochmals viel gesagt zu werden. Aber dieser ganze Konkretisierungsvorgang, wie ihn die Theologie vollzieht und wie er auch gewiß wichtig ist und wie er sich in einer Flut von Büchern niederschlägt, bleibt trotz aller Rede von der Konkretion immer theoretisch. U n d das kann auch nicht anders sein, und das darf auch nicht anders sein, denn die Theologie predigt nicht, und sie ist nicht dazu da, Glauben zu wecken und zu festigen; sondern sie ist unter der Voraussetzung von Glauben seine Reflexion auf dieses Heute hin. Jedoch ist die Theologie in diesem ihrem Vorhaben von Reflexion darauf angewiesen, zu wissen und sich vorzustellen, wie dieses Heute im Horizont von Glauben und Zweifel eigentlich aussieht. Das heißt, der Horizont, in dem sie sich mit der Konkretisierung zu befassen hat, muß ihr sichtbar werden. Das geschieht in den Selbstaussagen ihrer Welt. Wir

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sagten oben bereits, daß dieser Vorgang sehr schwierig ist, denn die Selbsterkenntnis einer Gegenwart ist sehr schwer. Es geht um Einschätzung und Verständnis der Selbstaussagen unserer Welt. Die physiognomische Bedeutung der Philosophie wie die in der Literatur und Kunst laut werdenden »weltanschaulichen« Systeme und Thesen lassen über das Heute viel von dem erkennen, woraufhin theologische Arbeit geschieht. Jedoch, all dieses ist ja selbst Denkgestalt des Lebens und seines Selbst- und WeltVerständnisses, das als Leben dahinter zurückbleibt. Der Erkenntniswert der Existenzphilosophie Heideggers für das Selbst- und Welt-Verständnis des 20. Jahrhunderts ist groß. Aber es ist nicht zu bestreiten, diese Existenzphilosophie ist selbst Theorie, auch wenn sie mit dem Existential arbeitet. Das gilt auch für den Ausdruckswert ζ. B. des »Homo faber« von Max Frisch oder der »Physiker« von Dürrenmatt oder des »Kaukasischen Kreidekreises« von Bert Brecht. Der Erkenntniswert dieser Werke für das Selbst- und Welt-Verständnis unserer Gegenwart ist groß. Aber es ist nicht zu bestreiten, diese Werke sind gestalteter Reflex hochgesteigerter künstlerischer Impression, auch wenn sie eine Mitteilungsform suchen, die die Sache selbst zu Worte kommen lassen soll. Die Theologie ist in ihrer Arbeit auf diese Reflexions-Gestalten, in denen sich die Gegenwart ausspricht, angewiesen. Aber das ist eben ein karger und nicht immer greifbarer Erfolg, der jedenfalls im Reflektierten bleibt und also Theorie ist. Die ganze Arbeit des Vitalismus hat auch eindeutig gezeigt, daß dieser Tatbestand nicht übersprungen werden kann. So ist die Theologie als Theologie denn auf Theoreme über ihre Gegenwart und die Begegnung und Bemeisterung derselben angewiesen. Da versucht der eine Theologe es »mit« Ernst Bloch und der andere »mit« Karl Jaspers, der dritte »mit« Martin Heidegger und so fort. Dieses Versuchen ist im ganzen wohl auch unvermeidlich. Die oft allzu unreflektierten Rezeptionen von weltanschaulich fixierten Tagesparolen haben unerfreuliche Nachwirkungen. Aber wenn solche »Ausleihen« auch in der nötigen Vorsicht geschehen, so bleibt jeder Versuch theologischer Theorie von der Theorie, damit aber von der »wirklichen« Gegenwart, getrennt. Diese Tatsache ist in den letzten 80 Jahren immer wieder als Vorwurf gegen die Theologie erhoben worden: »Was sollen uns alle diese theoretischen Entwürfe, die dazu ja noch kontrovers sind?« Ja, man räumt wohl ein, daß die moderne Theologie von Konkretion redet, aber im letzten vermißt man sie doch. Man wird darum theologiemüde und hört auf, bei der Theologie anzufragen. Diese Entwicklung ist zwar verständlich, aber

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unheilvoll. Die Theologie hat diesen Sachverhalt gesehen und zu ihrer eigenen Sache gemacht. Sie hat im Zusammenhang mit den Zusammenbrüchen des 1. Weltkrieges mit der sog. dialektischen Theologie unter der Wirkung Kierkegaards die entschlossene Wendung zur kirchlichen Konkretion und zur Anwendung im Existential vollzogen. Wir wissen heute, daß diese eminenten Versuche nicht so gelungen sind, wie man es erhoffte! Die völlig richtigen, von Kiergegaard und W. Herrmann angestoßenen Wendungen zum Existentiellen und »Vital«-Wahren haben zu einem übersteigerten Abstraktions-Vorgang geführt, der die Kluft zwischen Theologie und Pfarramt wie Gemeinde noch erweitert hat, der die Theologie selbst aber in ungewöhnlich harte Kontroversen führte. Die Theologie der letzten 50 Jahre wußte dabei um die Not des Theoretischen wie wenige Theologien voriger Jahrhunderte. Sie hat mit ihrer Wendung zum Existential den Weg dahin angetreten, sich selbst nicht mehr theoretisch zu verstehen, sondern den Akt der Glauben weckenden Zeugnisrede in ihr Theologietreiben selbst einfangen zu wollen. Dies sieht bei Rudolf Bultmann z . B . so aus, daß die Interpretation der Schrift die Schrift »selbst zum Reden bringen will als eine in die Gegenwart redende Macht«. 6 Das heißt, daß die theologische Bemühung als Exegese selbst als der Vorgang verstanden wird, der früher als praedicatio verbi divini einem ganz anderen Vorgang vorbehalten blieb. Diese Wendung der Exegese in das Zeugnis hinein ist für sehr viele junge Theologen zur Befreiung vom Druck des Theoretischen geworden. Lassen Sie uns nie vergessen, daß Bultmann von der Predigtnot und von der Sorge um die Abstraktheit der Verkündigung getrieben seinen Weg antrat. Nicht kritische Bedenken war das erste, sondern Sorge um die Predigt. Darin liegt die Anziehungskraft seiner Theologie. Dieser Tatbestand sieht bei Gogarten in seiner Christologie so aus, daß die christologische Bemühung die Aufgabe hat, »den Glauben Jesu« zur Sprache zu bringen, wie er mit einer terminologischen Anleihe bei Ebeling sagt. Dieses »zur Sprache bringen« heißt aber, daß das zur Sprache Gebrachte »für den, den es angeht, zu dem seine ganze Existenz Tragenden wird«.7 Die moderne Theologie empfindet die Not des Theoretischen so stark, daß sie sich selbst als »Kerygma« versteht oder als das Ereignis, dem

' Rudolf Bultmann, Glauben und Verstehen, Bd. II, Tübingen 1961, S . 2 3 3 . 7

Friedrich Gogarten, Jesus Christus Wende der Welt, Tübingen 1966, S . 3 3 .

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die sog. Vergegenwärtigung glücken soll. Man braucht ja nur an das zu denken, was aus sehr anderen Verhältnissen heraus der Bischof Robinson in seinen Büchern »Gott ist anders« und »Christliche Moral heute« an Tillich, Bultmann und Bonhoeffer preist: Das Herausbrechen aus dem Theoretischen in die Weltlichkeit der Welt. Diese Theologen wissen alle, daß Theologie ihren Gegenstand, das Wort Gottes, erst als Gespräch mit dem Leben zum Leuchten bringen kann. Alles theologische Reden über dies und das, z . B . in der Auseinandersetzung mit dem Idealismus, der Naturwissenschaft oder dem Vitalismus, ist auch wichtig — aber das Gespräch mit dem Leben oder das DemLeben-Ausgesetztsein ist das, was das Wort Gottes erst als das hervorkommen läßt, was es ist. Diese Intentio kann überhaupt nicht bestritten werden. Aber indem der theologische Vollzug selbst, als Exegese z . B . , sich als dieses Ereignis versteht, gelangte die Theologie als Exegese unmittelbar auf die Kanzel, und damit geschahen jene Kurzschlüsse, die überall da passieren müssen, w o man eine Gemeinde mit der theologischen Diskussion selbst konfrontiert. Da fehlt ein Mittelglied. Da fehlt die Vermittlung einer spezifischen Ubersetzung der theologischen Diskussion an die Gemeinde. Hier fehlt die theologische Existenz des Pfarrers (!) als Vermittlerin! Wir fragen uns, wieso und als was in diesem Belang die theologische Existenz des Gemeindepfarrers Vermittlerin sein kann. Wir haben uns klargemacht, und es ist eine eindeutige Einsicht, daß das Wort Gottes als Gottes Verwirklichung in der Welt nicht in theoretischen Reflexionen über das biblische Zeugnis und die gegenwärtige Situation geschieht, sondern im Gespräch mit dem Leben selbst. Nun ist der Gemeindepfarrer wohl fast der einzige Mensch in unseren Städten und Dörfern, der noch ständig an der Ganzheit gelebten Lebens teilhaben kann. Er hat ständig an Krankenbetten zu stehen, und er hat Woche für Woche Sterbenden beizustehen. Er kann wissen, wie es um die Sterbegewißheit in unserer Welt steht. Er nimmt ständig an den Entschlüssen Verlobter zur Ehe teil und kann ständig in Not und Glück dieser jungen Menschen hineinsehen. Er hat es ständig mit Eltern zu tun, die ihre Kinder zur Taufe bringen. Er kann daher ihre Wünsche und Bedenken hinsichtlich der Erziehung dieser Kinder kennen. Er hat es ständig mit der Jugend in den entscheidenden Jahren der Pubertät zu tun. Er kann daher Stimmung und Meinung dieses wesentlichen U m bruchalters kennen. Er sieht ständig Ehen zerbrechen und kann um all das Elend und Laster in unseren Familien wissen. Hierzu ist noch mehr zu sagen. Miller hat in seinem Buch »Säkularität — Atheismus — Glaube«

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davon geredet, wie die Aufmerksamkeit des Pfarrers auf »seine Welt« aussehen kann.8 Wenn der Gemeindepfarrer die theologische Methodik auf seine Gegenwart reflektiert, so braucht das nicht im Horizont Heideggers oder Kierkegaards, Brechts oder Borcherts zu geschehen, sondern es geschieht in dem Gestelltsein durch ein Todesschicksal und wie es getragen wird oder in der Teilhabe an einem großen Glück und wie es empfangen wird. Gemeindepfarrer sind Menschen in einer ganz unerhörten Direktheit vor dem Leben als ganzem. Ihre theologische Existenz kann daher Gespräch mit dem Leben sein. Ihre theologische Existenz kann daher die Vermittlung zwischen der Reflexion der theologischen Forschung und dem Leben selbst sein, weil die theologische Existenz des Pfarrers an Sterbebetten, im Traugespräch, im Konfirmandengespräch, im Beichtgespräch und so fort geschieht! Die Rolle, die der Gemeindepfarrer hier als Vermittler zu spielen hat, ist eminent. Er hat Theologie studiert, und er hat täglich theologische Urteile zu fällen. Er tut das in enger und umfassender Kenntnis des Gegenwartslebens. Er nur kann die Vermittlung zwischen Theologie und Leben der Gegenwart leisten. Aber er muß diese Vermittlung eben auch leisten. Genau an dieser Stelle ist offenbar etwas verschoben und zerstört. Das wird sichtbar an der Auseinandersetzung um die Bewegung »Kein anderes Evangelium«. Sie hat zum Thema ein hochtheologisches schwerwiegendes Problem, wie nämlich exegetische Bemühung am biblischen Text und Anspruch der Bibel auf Autorität als »Wort Gottes« zu vermitteln seien. Dieses Problem ist unter den Theologen der letzten drei oder vier Generationen auch immer erneut verhandelt worden. Dieses Problem platzte in den 50er Jahren mitten in die Gemeinde hinein, bzw. die Gemeinde wurde mit diesem Problem konfrontiert. Die Unmittelbarkeit dieser Konfrontation hatte verheerende Folgen. Unsere Gemeinden erwiesen sich dieser Problematik nicht gewachsen. Die Unruhe brach aus, Tageszeitungen und Magazine schürten, und so kam es zu den unerfreulichen und bedrohlichen Parteiungen und Zerteilungen in den Gemeinden. Die Vermittlung theologischer Arbeit zum Gemeindeglauben war nicht geschehen. Die Intentionen der neueren Theologie waren nicht umgesetzt in gemeindegemäßes Denken. 1

Samuel H . Miller, Säkularität — Atheismus — Glaube. Eine Analyse unserer Zeit. Neukirchen 1965, S. 126 ff.

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Wir bemerken mit diesen Überlegungen zur Theologie des 20. Jahrhunderts selbst einerseits und zur theologischen Existenz des Gemeindepfarrers andererseits, daß in unserem Jahrhundert etwas geschah, was nicht geschehen darf, daß nämlich mit dem eruptiven Anwachsen der Bevölkerung und dem analogen Anstieg der Gemeindeziffern der Gemeindepfarrer seine theologische Existenz nicht mehr wahrnahm. Damit fehlte der Theologie das Gespräch mit dem Leben. Sie drohte in die reine Reflexion abzugleiten. Aber sie formte sich selbst um zur unmittelbaren Kontaktaufnahme. Damit war das Auseinanderplatzen von theologischer Reflexion selbst und Gemeinde unvermeidbar, was seit den ersten Jahren dieses Jahrhunderts zu schwersten Krisen führte. Die theologische Reflexion bedarf der Vermittlung an das Leben. Sie kann das nicht selbst tun, da ihr Wesen nicht die Verkündigung, sondern die geordnete Reflexion ist. Die Theologie bedarf der theologischen Existenz des Gemeindepfarrers, damit die Vermittlung an das Leben aus seiner Gestelltheit durch das Leben heraus geschehen kann. Ein Pfarrerstand, der sein Dasein im gelebten Leben seiner Gemeinde nicht theologisch wahrnimmt, zerstört die Theologie als wissenschaftliche Leistung, weil die theologische Theorie ohne lebendige Vermittlung an die Gemeinde ihrer Zeit steril oder enthusiastisch werden muß.

4. Theologie und Glaube Wir müssen noch ein drittes Mal ansetzen, um noch einen Tatbestand zu erheben, der für unser Thema von Wichtigkeit ist. Wir erwähnten oben den Sachverhalt, daß die Theologie ein profanes Geschäft sei wie die Medizin, mit der die Theologen des 17.Jahrhunderts z.B. die Theologie immer verglichen, wenn es um die Theologie als scientia practica ging. Sowohl die exegetische wie die kirchen- und dogmenhistorische Methodik haben keine besonderen Erkenntnisprinzipien oder Methoden vor anderen interpretierenden Wissenschaften voraus. Auch die Systematische Theologie hat sowohl als Religions-Philosophie und Religions-Wissenschaft wie als Dogmatik und Ethik keine besonderen Verfahren vor anderen systematisch arbeitenden Disziplinen voraus. Ihre Reflexionen sind an die Logik gebunden wie alle menschliche Reflexion. Ihre Konklusionen können metaphysisch und vitalistisch angesetzt werden wie jede Konklusion ande-

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rer Wissenschaften auch. Wenn wir also das wissenschaftliche Verfahren der Theologie in ihren verschiedenen Disziplinen ansehen, so untersteht sie analogen Bedingungen wie andere Wissenschaften. Man kann in diesem Sinne gewiß sagen, die Theologie sei ein profanes Geschäft. Der Gegenstand der Theologie — also das Wort Gottes — kann zunächst auch in Analogie zu den anderen Wissenschaften gesehen werden, denn die Schriften des Alten und Neuen Testamentes sind Quellenschriften wie andere auch. Sie müssen und wollen auch stets wie andere Quellenschriften ausgelegt sein. Jedoch, die Relation des Theologen zu diesen seinen Quellen ist nun doch eine sehr andersartige als die, die den Graecisten mit Homer und den Germanisten mit dem Nibelungenliede verbindet. Man pflegt diese Relation den Glauben zu nennen, und dieser Glaube ist daher stets mit in der Voraussetzung der Theologie. Natürlich ersetzt der Glaube nicht etwa den philologisch sachgemäßen Umgang mit der Bibel als Quelle. Aber er bringt gleichwohl eine spezifische Verbindung zwischen dem Theologen und seiner Quellenschrift mit sich. Die Systematische Theologie wird daher weithin direkt als wissenschaftliche Besinnung des Glaubens definiert. Sie hat danach am Glauben ihren Gegenstand. Es ist auch nicht zu bezweifeln, daß der Glaube auch für den Exegeten in der Voraussetzung seines Tuns ist, wenigstens darin, daß er sich gerade mit diesen Zeugnissen befaßt. Aber so gewiß das ist, so gewiß ist andererseits, daß die Theologie als Wissenschaft nicht etwa aus Glaubensaussagen besteht. Dann wäre die theologische Rede Zeugnisrede. Aber damit verfehlt sie ihr Amt. Sie ist geordnete Reflexion über den Glauben, seine Inhalte und sein Wesen, seine Geschichte und seine Bedingtheiten wie seine Quellen und seinen maßgebenden Ursprung. In diesen Reflexionen handelt die Theologie also vom Glauben. Sie handelt von ihm in der exegetisch-historischen oder der philosophisch-systematischen Methodik wie in soziographischen, kulturkritischen, wissenschaftstheoretischen, didaktischen und anderen Hinsichten. Die Theologie handelt vom Glauben dabei zwar unter der Voraussetzung des Glaubens, denn der Theologe ist zunächst und vor allem Christ; aber die Theologie handelt vom Glauben so, daß sie ihn als die spezifische lebendige Bewegung auf die Welt zu, die er ist, objektiviert. Das heißt, daß sie vom Glauben und nicht »den« Glauben redet. N u n , man mag sagen, das sei eben die Eigenart des wissenschaftlichen Vorgehens, daß man in dieser Weise »verobjektiviere«. Die Wissenschaft von der Sprache geschieht nicht als Sprechen, sondern als Theorie vom Sprechen etc.

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Zur Theologie als Wissenschaft

Nun mag das ja bei allen wissenschaftlichen Gegenständen auch mehr oder weniger durchführbar sein, aber angesichts des Glaubens ist dieser Versuch der methodischen Verobjektivierung nicht nur eine große Schwierigkeit, sondern dieser Versuch ist unmöglich. Der Glaube ist selbst nur als eine Lebensbewegung da, im Vertrauen auf Gott diese unsere Welt und unser Geschick in ihr zu wagen, oder wie immer man diesen Vorgang beschreiben will. Man hat auch immer wieder empfunden, daß der Glaube in seine Krisis gerät oder schärfer, daß er abgestorben sein muß, ehe man ihn methodisch reflektieren kann. Wie das Evangelium ein Geschrei ist, nach Luther, und wie es darum nach seiner Meinung nicht neutestamentlich ist, Bücher zu schreiben, so ist der Glaube ein Akt in Raum und Zeit, und der reflektierte Glaube ist kein Glaube mehr, denn da ist notwendig von Raum und Zeit abstrahiert! Die Theologie hat diesen Sachverhalt — wir sprachen oben von einem ganz analogen Vollzug — unter dem Vorantritt Kierkegaards erkannt. Sie macht seit vielen Jahrzehnten unablässig Versuche, mit dieser Aporie fertig zu werden. Man versucht, den Verobjektivierungs-Vorgang zu umgehen, um den Glauben als reflektierbar zu zeigen. Das steckt hinter den ganzen modernen theologischen Versuchen — zumal hinter der Animosität gegen die Metaphysik und der Vorliebe für Existentiale und das Sprachereignis. Es ist letztlich ein vitalistisches Vorgehen. Aber diese ganzen Versuche scheinen nicht zum Ziele zu führen. So tief berechtigt diese ganzen Versuche gerade vom Standpunkt des Glaubens aus sind — eine starke Aversion gegen alles Orthodoxe verbinden den modernen Pietismus und diese theologischen Versuche —, so wenig scheinen sie bisher ihr Ziel, den lebendigen Glauben als ihn selbst in der theologischen Reflexion zu erhalten, erreicht zu haben. Man hat vielmehr den Eindruck, daß bei diesen Versuchen, den Glauben als ihn selbst in der theologischen Reflexion zu erhalten, der Glaube sein eigenes Schwergewicht verliert und ins Schweben gerät. Die Konturen seiner Gestalt, so könnte man mit einem anderen Bilde sagen, scheinen sich aufzulösen und zu verschwimmen im allzu Allgemeinen von Mitmenschlichkeit oder ähnlichem. Wenn wir demgegenüber die theologische Existenz des Gemeindepfarrers ansehen, so ist derselbe erstens nicht nur ständig mit der Einübung der Ganzheit von Theologie gegenüber allen Disziplinen beschäftigt, und er steht zweitens nicht nur in einer ständigen Vermittlerrolle von Theologie am gelebten Leben, sondern sein Dasein ist dadurch charakterisiert, daß er sein Theologe-Sein drittens nicht als Reflexionsarbeit über den Glauben

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lebt, sondern indem er »den« Glauben redet und nicht »vom« Glauben. Es gibt ja nichts Fürchterlicheres als den Pfarrer, der auf der Kanzel oder in der Seelsorge theoretisiert und Vorlesungen hält. Sein »Amt« als Theologe ist dann verletzt. Er bezeugt den Glauben in allen seinen Handlungen als Gemeindepfarrer, und er tut es als Theologe, d. h. nicht unreflektiert. Der Gemeindepfarrer studiert Theologie, um die Methoden der theologischen Disziplinen so zu lernen, daß er sie handhaben kann, um sich begründete Urteile bilden zu können. Aber seine Urteile erstrecken sich nicht auf Rechtfertigung und Versöhnung überhaupt, sondern auf die Rechtfertigung dieses ganz bestimmten Menschen. Das Ziel dieser seiner Urteilsbildung ist darum auch nicht, die Rechtfertigung begründet reflektieren zu können, sondern sein Ziel ist der Zuspruch der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Der Gemeindepfarrer ist auch in dieser Hinsicht der pontifex, der den Brückenschlag von der Reflexion der Rechtfertigung zu dem Zuspruch derselben tut! Die Reflexion eigenständig zu begründen, ist nicht seines Amtes. Aber die reflektierte Begründung zu verwirklichen und anzuwenden, zum Akt in Raum und Zeit werden zu lassen, das ist seines Amtes! Zunächst einmal, meine ich, besteht kein Zweifel, daß der Pfarrer tatsächlich so handelt bzw. tatsächlich so handeln sollte. O b er sich die theologischen Begründungen wirklich aneignet oder wie weit er RoutineEntscheidungen fällt, sei dahingestellt. In sehr vielen Fällen aber weiß ich, daß die Gemeindepfarrer sich um die eingehende Kenntnis und Prüfung der theologischen Begründungen mühen. Jedenfalls handelt er aufgrund dieser seiner Prüfung als GlaubensZeuge! O b das in der Seelsorge oder in der Konfirmandenstunde ist, er lehrt nicht umwillen einer Theorie über dies oder das, sondern er lehrt die Sache selbst — meinetwegen: »Er bringt sie zur Sprache«! Mit diesem Tun macht er ständig den fraglichen Prozeß einer wissenschaftlichen Verobjektivierung des Glaubens rückgängig, bzw. er zeigt, was es heißt, jene Theoretisierung nun ins Ereignis von Glauben und Zeugnis selbst zurückzuholen. Dieser Vorgang geschieht als theologische Existenz des Gemeindepfarrers unter uns alle Tage. Wir bemerken in diesem Tatbestand folgende drei Dinge: 1. Es ist die Sache der wissenschaftlichen Theologie in allen ihren Disziplinen, den Weg in die geordnete Reflexion über den Glauben, über das Wort Gottes, ja über Gott anzutreten. Die Theologie muß das tun. Dazu muß sie aber den Bereich des lebendigen Glaubens als das Sich-vor-Gott-an-die-Welt-Wagen verlassen, und sie muß auch die zum Glauben gehörigen Bezirke des

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Zeugnisablegens verlassen, um in der methodisch geordneten Reflexion ihre einzelnen Gegenstände nach Grund und Folge untersuchen und prüfen zu können. Damit steht der Theologe nicht etwa zwischen Glauben und Unglauben. Diese Kennzeichnung ist eine grobe Verzeichnung. Damit steht der Theologe auch nicht im methodischen Zweifel. Auch diese Kennzeichnung ist falsch und der Sache unangemessen. Aber der Theologe steht damit in der reflektierenden Distanz. Diese Distanz ist oft schmerzhaft. Sie hat ihre eigenen Gesetze. Aber sie ist einfach unumgänglich. Die Theologie weiß, daß diese Distanzierung zu der lebendigen »Sache« von Glauben, Wort Gottes und Gott völlig unangemessen ist. Aber er weiß auch, daß jeder andersartige Umgang mit seiner »Sache« die Theologie in die Nähe des ενθουσιασμός bringt! Damit auch fürderhin das Wort »richtig« verkündigt werden und die Sakramente »rein« verwaltet werden können, muß diese Distanzierung geschehen. Aber die Theologie braucht auch den ihr sowieso verschlossenen Weg aus dieser Distanzierung nicht anzutreten, denn der Gemeindepfarrer übt als Theologe jenen Prozeß, in welchem das »theologische Objekt« wieder zum Subjekt des Glaubenszeugnisses wird. Aber dieses Subjekt ist nun ein anderes — es ist ein reflektierendes, d. h. ein geordnetes, nach Grund und Folge überschaubares und darum nunmehr neu zu empfangendes! Die wissenschaftliche Theologie braucht nicht ihr Amt der methodisch geordneten Reflexion zu verlassen, denn was ihr schmerzhafte Aporie ist, löst sich als die theologische Existenz des Gemeindepfarrers. Die wissenschaftliche Theologie soll sich sehr wohl der Aporie bewußt bleiben, die ihr Arbeiten überschattet. Aber sie braucht nicht in fremdes Amt einzugreifen. Das führt zum »in Zungen zu reden«. 2. Es ist die Sache des Pfarrers, den christlichen Glauben zu bezeugen, das Wort zu verkündigen, die Sakramente zu verwalten und die Herde Christi zu weiden. Dies alles geschieht nun aber nicht auf Grund von Emotionen oder pragmatischer Routine. Es geschieht nur so lange recht, solange es auf Grund theologischer Einsicht geschieht. Der Gemeindepfarrer ist Lehrer seiner Gemeinde. Die ewige Erbaulichkeit und der ewige Aufruf zur Entscheidung ist ebenso langweilig wie unsachgemäß. Aber diese rechte Lehre des Pfarrers geschieht als Wagnis seiner theologischen Existenz im reflektierten Glaubenszeugnis. Christlicher Glaube ist denkender Glaube. Auch und gerade in der Gemeinde. Sonst verleugnen wir, daß Jesus wahrer Mensch war! Es geht um das Glaubenszeugnis, das »weiß«, was das einzelne Wort nach Grund und Folge heißt, was die einzelnen

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Begriffe tragen und was nicht, und das in der Lage ist, aller unnüchternen Gefühligkeit zu wehren. Christlicher Glaube ist nicht dumpfes Gefühl, sondern er ergeht in der Klarheit des Gedankens! Darum muß das Glaubenszeugnis des Pfarrers ein »bedachtes« Zeugnis sein und nicht ein wild unkontrolliertes Hinüberwuchern zur Welt. 3. Mit diesen Überlegungen erweisen sich Theologie als wissenschaftliches Unternehmen und Gemeindepfarramt in seiner theologischen Existenz erneut aufs engste aufeinander angewiesen. Weil es den Pfarrer in diesem seinen theologischen Amt gibt, darum braucht die Theologie in ihrer aporetischen Distanzierung von der Lebenswahrheit ihrer »Sache« weder zu verzeifeln noch unangemessene Mittel zu suchen. Weil und solange es eine »rechtschaffene« Theologie gibt, kann der Gemeindepfarrer Lehre üben, die auf der Klarheit abstrakter Reflexion fußend das Glaubenszeugnis nüchtern und rein erhält! In dieser gegenseitigen Angewiesenheit von wissenschaftlich arbeitender Theologie und Gemeindepfarramt als theologischer Existenz wird nun aber jene an sich richtige Rede von dem profanen Charakter der Theologie in einem neuen Lichte sichtbar. Wir sahen oben, daß Bernet, von dem profanen Charakter der Theologie ausgehend, den Pfarrer in diesem profanen Geschäft zeigte und seiner Gemeinde als diesen zuwies. Wir müssen dies doch nochmals überlegen. Allerdings ist die theologische Methodik und Schlußfolgerung profan. Wir haben das ja sehr deutlich gemacht. Die wissenschaftlich arbeitende Theologie geht in dieser Profanität vor sich. Das ist an sich auch in Ordnung. Aber wir sahen, wie sich aus dieser Feststellung eine ganz andere erhebt, die die ganze Vorläufigkeit dieser Feststellung sichtbar werden läßt. Allerdings sind die Formalia der Theologie profan. Aber schon die Bindung des Theologen an seine Sache — als Glaube — ist in dem gemeinten Sinne nicht profan. Die Theologie muß allerdings in jener ständig profanierenden Distanzierung verharren und dasein. Das ist ihre Not und nicht ihre Tugend. Und wer von dieser Not nichts weiß, weiß auch nicht, was Theologie ist. Aber in der theologischen Existenz des Pfarrers braucht und kann von dieser Profanität nicht die Rede sein. Der Pfarrer ist der Gemeinde nämlich nicht Theologie als solche schuldig, sondern Theologie, die sein Zeugnis unterfängt, begründet, reinigt und befestigt. Das heißt jene sog. Profanität der wissenschaftlichen Theologie wird durch das gar nicht profane, sondern stets geistlich geortete Theologe-Sein des Gemeindepfarrers zurecht gebracht. Diese Ergänzung gehört zum Wesen des oben Genannten.

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Wir können dieses letzte Moment in der Bedeutung der theologischen Existenz des Gemeindepfarrers für die Weiterentwicklung der Theologie auch so sagen, daß die geistliche Zucht und Lebendigkeit, in die das Dasein des Gemeindepfarrers die Theologie bringt, diese Theologie erst zu dem werden läßt, was sie sein kann und sein soll. Die Theologie selbst ist ein defekter Modus. Erst die theologische Existenz des Pfarrers verhilft ihr zu sich selbst!

5. Die Bedeutung

des Pfarramtes für die theologische

Forschung

Wir haben uns deutlich gemacht, wie die wissenschaftlich arbeitende Theologie innerhalb des Pfarramtes als einer »theologischen Existenz« in dreifacher Richtung erst zu sich selbst kommt, bzw. wie in dreifacher Richtung der Theologie eigene und unausweichliche Schwierigkeiten im Pfarramt ihre Auflösung erfahren. Erstens legte es sich uns nahe zu sagen, daß die der theologischen Forschung unumgängliche Disziplinenteilung, welche den Blick auf das Ganze der Theologie immer erneut verstellt, innerhalb des geistlichen Amtes vermittelt wird. Das Ganze der Theologie wird in der Predigt wie in der Seelsorge Wirklichkeit. Der Erfahrungsbereich der Theologie als ganzer ist das Pfarramt. Zweitens schien es uns einleuchtend zu sein, daß die Vermittlung der theologischen Forschung mit dem gegenwärtigen Leben nicht in der Theorie wirkungsvoll, d. h. wirklichkeitsnah vollziehbar sei. Diese Vermittlung geschieht aber im Pfarramt täglich. Ein Pfarrer, dem es nicht gelingt, seine Gemeinde da zu treffen, w o sie lebt, versagt. Das gilt zumal für die Vermittlung der theologischen Forschungseinsichten an die Gemeinde. Hier handelt es sich nicht um Vermittlung von Theologen und Laien. Drittens hatten wir den Eindruck, daß die der Theologie unvermeidliche Verobjektivierung ihres »Gegenstandes« erst im Pfarramt, d. h. im Zeugnis zu der angemessenen Stellung gelöst wird. Die Theologie muß verobjektivieren und damit auch entstellen. Christologie redet über Jesus Christus. Es gibt keine Methodik, Jesus Christus in der Christologie so »zu Worte« kommen zu lassen, daß darin christlicher Glaube begründet wird. Dazu ist die Christologie auch nicht da. Dazu ist aber Verkündigung da. Verkündigung kann daher auch nie christologische Formeln wiederholen. Die beiden Ämter der Theologie wie der Verkündigung sind verschieden. Die Verkündigung aber ruht auf der Theologie, denn es gibt auch »unrichtige« christologische Verkündigung.

Die theologische Existenz des Gemeindepfarrers

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In diesen drei Richtungen also läßt sich die hohe Bedeutung des Pfarramtes für die Theologie darlegen. Die Frage ist, was diese Darlegungen besagen? Ich meine, sie besagen, daß die Theologie als Wissenschaft die Erfahrungen braucht, die in diesen drei Richtungen im Pfarramt gemacht werden. Die Theologie bedarf dieser Erfahrungen als Kriterien und Regulative ihrer Arbeit. Was wir damit meinen, ist wohl hinreichend klar geworden. Aber es ist freilich eine Frage noch nicht berührt: Wir konnten in drei Überlegungen zeigen, wie wesentlich die theologische Existenz des Pfarrers für die wissenschaftliche Arbeit der Theologie de facto ist. Aber wie erfolgt denn eigentlich die Rückmeldung dessen, was im geistlichen Amt geschieht, an die Theologie? Daß die Theologie für ihre angemessene Weiterbildung dessen bedarf, was die Pfarrer im lebendigen Zeugnis »erfahren«, das liegt nach dem Gesagten auf der Hand. Aber wie erfährt dies die Theologie? Hierzu sind zwei Dinge zu sagen: 1. Wenn man die theologischen Zeitschriften zwischen 1880 und 1920 ansieht — wie ζ. B. die Zeitschrift für Theologie und Kirche —, so fällt einem auf, daß darin als Autoren vor allem Pastoren schrieben. Sie schrieben ihre Erfahrungen zu bestimmten wissenschaftlichen Fragen auf. Dies geschieht heute nicht mehr oder nur als Ausnahme. Daran ist auch die inzwischen auf das Dreifache angewachsene Zahl der Gemeindeglieder schuld. Diese Vergrößerung der Gemeinden — damals durchschnittlich tausend Seelen — hat dazu geführt, daß der Pastor sein Amt anders versteht. Er versteht sich in dem Vielerlei von »Werken«, »Kreisen« und Veranstaltungen als leitender Funktionär für alle möglichen weltanschaulichen, kulturellen und tagespolitischen Ziele. Daß der Pfarrer der verantwortliche »Sach«-Walter der Sündenvergebung ist, tritt dahinter zurück — und damit ist die theologische Existenz des Pfarrers verdunkelt, und eine Rückmeldung bleibt aus. 2. Es gab — noch in den fünfziger Jahren — an den Fakultäten Ferienkurse und in den Kirchen Pastoralkollegs, in denen Theologie getrieben wurde. Diese Begegnungen von Pfarrern und Professoren waren die Schaltstellen der Rückmeldung. Die Ferienkurse sind eingegangen, und die Pastoralkollegs betreiben Praxis für die Praxis. Das ist wie mit den PredigtMeditationen, anhand deren der Pfarrer seine Predigt vorbereitet. Er bekommt Theologie nur praxisgerecht. Aber er wird nicht mehr in seiner eigenen theologischen Existenz bestärkt — und zumal findet die Rückmeldung nicht statt.

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Zur Theologie als Wissenschaft

Wo immer die Gründe liegen, es scheint gegenwärtig so zu sein, daß die theologische Existenz des Pfarrers, die es ja gewiß gibt, nur noch sehr selten auf die Weiterbildung der Theologie zurückwirkt. Dies ist, wie aus dem Ganzen deutlich ist, für die Theologie ein schwerwiegendes Defizit, das wiederum auf die Ausbildung der werdenden Pastoren wirkt und die Weiterbildung der Theologie gefährdet.

Bestimmung der sogenannten Praktischen Theologie und ihrer Eigenart aus der Sicht der Systematischen Theologie51" / 1. Die theologischen Disziplinen verdanken sich in ihrer Eigenart den Denkbewegungen des christlichen Glaubens. Nicht akademisches Interesse oder Ausbildungsnotwendigkeit bringen primär Theologie hervor, sondern die Tatsache, daß der christliche Glaube »denkender Glaube« ist. 2. In dreifacher Weise wird der christliche Glaube ins Denken gezwungen: a) Durch die Angewiesenheit des Glaubens auf Wort, Werk und Person Jesu, die nur in historischer Abständigkeit für ihn da sind. Das heißt für den Glauben: Verobjektivierung und historische Vermittlung, also ein wirkungsgeschichtliches Bewußtsein. So entstehen die exegetisch-historischen Disziplinen. Die Eigenart ihres Arbeitens nennen wir die historische Methodik! b) Durch die Verfremdung des Vatergottes der Verkündigung Jesu in die Wirklichkeit des deus in vita. Diese Entfremdung zwingt ins Denken und bringt die Frage nach Gott an sich hervor, sowie die Frage nach der Weltrelevanz des Vater-Gottes Jesu. Aus diesem Vorgang gehen die systematischen Disziplinen hervor. Die Eigenart ihres Arbeitens nennen wir die religionsphilosophische Methodik. An dieser Stelle ist die Ethik anzusiedeln, c) Durch die Tatsache, daß der Christ als Christ Zeuge des von Gott in Christo Geschehenen ist. Indem er aus dem Widerfahrnis ins Zeugnisablegen eintritt, muß er die Wendung vollziehen: Aus der Begegnung in den Bericht davon. Das grundsätzlich missionarische Geschehen des christlichen Glaubens zwingt in diese objektivierende Denkbewegung. Aus ihr gehen die sog. praktisch-theologischen Disziplinen hervor. Die Eigenart ihres Arbeitens nennen wir die praktisch-theologische Methodik. 3. Der christliche Glaube als dreifaches Denken hat mit der Reformation durch ihre drei zentralen Neuansätze: a) das Wort in der Schrift und * Thesen zur Schlußdiskussion eines Kollegs zur »Theologischen Enzyklopädie«, Marburg 1974.

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der »Gott in den Windeln«, b) die Wahrnehmung der »Profanität« des glaubenden Daseins im täglichen Leben und c) die Thesen vom Priestersein aller Gläubigen die denkende Eigenart christlichen Glaubens in sein akutes Stadium gebracht. 4 a) Die drei theologischen Disziplinen sind eigenständig in ihrer Fragestellung in der Weise ihrer Objektivierung und in der methodischen Durchführung derselben. Die Disziplinen bilden also von den Exegetica und Historica über die Systematica zu den Practica keine aufsteigende Linie. Dies hat auch für den Ausbildungsgang Bedeutung. b) Andererseits sind die drei methodisch eigenständigen und eigenartigen Weisen, die Denknotwendigkeiten des christlichen Glaubens zu verwirklichen, nicht etwa unabhängig voneinander. Die drei Weisen sind nur relational untereinander durchführbar, woran ihre Eigenständigkeit sich konsolidiert. Das systematische Denken ist ohne das Moment des Missionarischen ebensowenig denkbar wie ohne die Eröffnung der Beziehung auf Jesus von Nazareth und die Kirche als Institution in der Zeit. Dies ist von den praktisch-theologischen und systematischen Disziplinen auch stets gehandhabt worden. Nur die exegetisch-historischen Disziplinen haben oft so getan, als gehe sie das systematisch-theologische oder das praktischtheologische Gespräch gar nichts an. »Man exegesierte so vor sich hin« — wahrscheinlich weil man meinte, dieses An- und Für-sich-sein sei für historische Grundlagen möglich.

II Die sog. Praktische Theologie vollzieht den Denkvorgang, in dem der Übergang von einem Erlebten und das Ganze der Person Ergreifenden zu einem Zeugnisbericht als Predigt wie Unterricht vor sich geht. 1. Daß die Theologie ein habitus θεόσδοτος practicus ist wie die Medizin, rührt daher, daß — wie J . Gerhard sagt — »finis theologiae ultimus non sit nuda γνώσς, sed πράξις«.1 Damit ist das »Tun« des Wortes gemeint. In diesem Sinne ist das »Praktische« der sog. Praktischen Theologie nicht gemeint.

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Joannis Gerhardi Loci Theologici, Tomus Primus, Berolini 1863, Prooemium De Natura Theologiae, § 1 0 und 12.

Bestimmung der sogenannten Praktischen Theologie

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2. Schleiermacher interpretiert die Praktische Theologie als die Technik, die zu dem Wissen um die kirchenleitende Tätigkeit gehört. Im Sinne dieser Technik können wir die praktische Tätigkeit nicht sehen. Wir sehen sie vielmehr im Zusammenhang der missio an die Welt und ihre Reflexionsaufgabe als den verfremdenden oder bewahrenden Ubergang aus der Konfrontation — ζ. B. im Gebet — zum missionarischen Bericht dessen, was dieser*Gott mir getan hat. 3. Es ist schon ganz richtig, wenn W. Jetter 2 sagt, die sog. Praktische Theologie sei die unablässige Betonung dessen, daß Theologie nicht um ihrer selbst willen dasein kann. Die Praktische Theologie betont mit Recht für alle Theologie, daß auch Exegetica, Historica und Systematica um willen weiterer Verkündigung und nicht in Selbstgenügsamkeit geschehen. 4. Indem die sog. Praktische Theologie die Wortgestalten — wie Predigt, Unterricht und Seelsorge — wahrnimmt, in denen sich die Lebensbewegung des Glaubens als μαρτυρία und missio vollzieht, kommt es ihr primär nicht auf die technische Durchführbarkeit z.B. von Predigt an, sondern auf die Reflexion, wie der lebendige Glaube — ζ. B. als Gebet — in der entfremdenden Mitteilung von Predigt und Unterricht bewahrt und nicht verfälscht wird. Insofern ist die Praktische Theologie »Theorie«. 5. Die Praktische Theologie ist also keine »pragmatische« Theologie, der es um die Technik in Predigt, Unterricht und Seelsorge geht. Sie ist primär die denkerische Aufgabe, den Ubergang von der Existentialität »Glauben« in gegenständliche Mitteilung darüber abzusichern. Der zureichende G r u n d für diese Reflexion ist die Tatsache, daß christlicher Glaube missionierender Glaube ist — und zwar grundsätzlich nicht als Sache von Theologen nur, sondern als Sache jedes Christen. Indem die Praktische Theologie diese Reflexion anstellt, sichert sie die »Ursprünge« missionierenden Handelns des Glaubens. 6 a) Es geht der Praktischen Theologie um die »angemessene« Gestalt, die der christliche Glaube gewinnen kann, wo er sein Zeugnis der Welt bringen will. Die Praktische Theologie kann diese ihre Reflexionsaufgabe nicht ausüben, ohne das Handwerkliche (τέχνη) von Predigt, Unterricht und Seelsorge zum Ausgangs- und ständigen Bezugspunkt ihrer Reflexion zu machen. b) Zwei Hinsichten werden also sichtbar: Erstens die Angemessenheit — das ist das theoretische Grundproblem der praktischen Theologie. 2

Werner Jetter, Die Praktische Theologie, in: ZThK 64.1967, S.464.

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Zweitens das Gestaltproblem: Glaube gewinnt Gestalt in den Formen, in denen die Botschaft z.B. als Predigt geschieht. Das zeigt als Gestaltproblem eine eigene Relevanz: In ihm geht es um Entsprechung. c) Die Frage der Angemessenheit oder Konvenienz kann von der Praktischen Theologie nur im engsten Zusammenhang mit der Systematischen Theologie bewältigt werden. Ja, dieses Problem ist ein systematisches Problem und kennzeichnet die Praktische Theologie in dieser ihrer Reflexion als eine in dieser Frage systematisch-theologische Denkbewegung. Aber so gewiß sich die enge Beziehung der praktisch-theologischen Reflexion zur systematisch-theologischen nahelegt, so sehr ist das Spezifische herauszuarbeiten.

III 1. Jede der theologischen Disziplinen hat das ihnen eigene Gestaltproblem. Die exegetischen und historischen Disziplinen haben es am Text Alten und Neuen Testaments wie an der Tradition der Kirche. Wie tief diese Gestalten den Gesamtzusammenhang christlichen Daseins bestimmen, bedarf keiner Erörterung. Die systematischen Disziplinen haben ihr Gestaltproblem am Leben des Christen in seiner Welt. Das ethische Problem ist ein spezifisches Gestaltproblem. Im Zielpunkt der Systematischen Theologie liegt die sittliche Gestaltwerdung christlichen Glaubens. Die praktisch-theologischen Disziplinen haben ihr Gestaltproblem an den Trägern der μαρτυρία. Wie alle Wege Gottes leibhaft sind, so gewinnt die μαρτυρία ihre eigene Gestalt als Grund der Möglichkeit ihres Geschehens, wie Gottesdienst und Gebet, Taufliturgie und Predigt etc. 2 a) Christliche Theologie ist mit Gestaltproblemen befaßt. Diese Gestaltprobleme sind nicht zweiter oder minderer Ordnung gegenüber den Reflexionsaufgaben. Dies ist für die christliche Theologie spezifisch. Hinduistische oder muslimische Theologie hat diese Probleme der Gestalt nicht in dieser Weise. Das liegt daran, daß die Erschließung dieses Gottes in Israel als Jesus von Nazareth wie als πνεΰμα im Sinne der Kondeszendenz in und an ganz konkreten raumzeitlichen Größen geschieht. b) Damit ist auch gegeben, daß diese Gestalten im Christentum niemals eine endgültig abschließende und daher als sakrosankt zu schützende Gestalt finden könnten. Es geht vielmehr um neue Gestaltwerdung in

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jeder neuen Generation. Das steht hinter der ecclesia semper reformanda als praktisch-theologischer Wahrheit. 3 a) Das Gestaltproblem ist in seinen Fragen und Gegebenheiten eigenständig gegenüber der oben berührten Angemessenheit, denn es ruht in Sachverhalten anthropologischer Art, die dem Glauben und seinem Ausdruckswillen vorausliegen. Im theologischen Bilde gesprochen: Die Gestalten, deren sich der Glaube als Rede, Lernprozeß oder Tröstung bedient, verhalten sich zu ihm, wie die Schöpfung sich zur Erlösung verhält. b) Dies gilt nicht nur für die Gestalten, in und an denen die μαρτυρία Gestalt gewinnt, sondern auch für die Buch- oder Traditionsgestalten, mit denen es die exegetisch-historischen Disziplinen zu tun haben, oder für die sittliche Gestaltung menschlichen Lebens, die Menschlichkeit verwirklicht und sich auf die theologische Ethik bezieht. 4 a) In der Reflexion also, wie sich der Glaube angemessen zu seinem »Leben«, zur Welt hin als »Zeugnis v o n . . . « äußern kann, und im Kontakt mit den Antworten auf diese Frage, geht es darum, welche Gestaltwerdung dieser Glaube als Gestalt seiner selbst finden kann: Angesichts der Gestaltungen und des Gestaltvermögens der Welt, in die hinein sich der Glaube heute als μαρτυρία gestalten muß. b) Diese Fragestellung ist ganz analog derjenigen in der sittlichen Gestaltwerdung des Glaubens. Auch dort zeigt sich das zentrale Problem, wie der christliche Gestaltwille sittlicher Einsicht sich in dem Gestaltvermögen seiner eigenen Gegenwart auszudrücken vermag. 5. Das heißt also: Der Vorgang der Praktischen Theologie besteht in der Reflexion der Angemessenheit der missionarischen Selbstentäußerung des Glaubens auf Welt hin, die nur im Zusammenhang der Frage beantwortet werden kann, welche Gestaltpotentiale, die in der Gegenwart am Leben sind, dem Zeugnis entsprechen. Man kann z . B . an der Geschichte der Kasualien sehr deutlich zeigen, was man an Gestaltpotential z . B . für eine Beerdigung heute nicht mehr zur Verfügung hat. Die beiden Seiten, einerseits also des Drängens des Glaubens auf Selbstentäußerung in der ganzen Angemessenheit, und andererseits der Gestaltmöglichkeit in der jeweiligen Gegenwart als Entsprechungsproblem, machen das Handeln der Praktischen Theologie aus.

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IV

1. Wie alle theologischen Disziplinen ist also die Praktische Theologie einerseits mit einem Erkenntnisproblem befaßt, das von der Eigenart christlichen Glaubens, μαρτυρία zu sein, bestimmt ist, und andererseits mit einem Gestaltproblem, das an der Stelle entsteht, an der der μαρτυρία gewordene Glaube in die Welt gestalthaft eintritt. In diesem zweiten Kreis, also in den verschiedenen Gestaltproblemen, arbeitet die Theologie in der Aufnahme welthafter oder anthropologischer Vorgegebenheiten. Die beiden Seiten des Vorgehens können ebensowenig wie Dogmatik und Ethik getrennt werden, aber sie können auch, wie Dogmatik und Ethik, nicht gleichzeitig verhandelt werden. 2. Der Wissenschaftscharakter der Theologie ist mit der Aufklärung im 18. wie im 20. Jahrhundert darin neu als Frage gestellt, als mit der sog. Anthropologisierung der theologischen Fragestellung sich schon im 18.Jahrhundert das Gestaltproblem verselbständigte und der Eindruck entstand, man könnte die Erkenntnisprobleme aus der Beantwortung der Gestaltprobleme lösen. Das sog. Theorie-Praxis-Problem wird dabei mit der These »Theorie aus der Praxis« gelöst, so wie das naturwissenschaftliche Experiment die Theorie bestimmen sollte. 3. Diese Hypothese ist, das leuchtet sogleich ein, offenbar betreffs der Praktischen Theologie insofern nicht annehmbar, als man das Problem der Angemessenheit der μαρτυρία nicht aus dem Gestaltproblem lösen kann, weil jenes Erkenntnisproblem eigenständig gegenüber dem Gestaltproblem ist. Die wissenschaftstheoretische Überlegung muß beide Problembereiche der Praktischen Theologie also offenbar zunächst in ihrer Eigenständigkeit ansehen, um ihre Aufeinanderbeziehung dann sicher vollziehen zu können. 4. Der erste Fragenbereich, wie die μαρτυρία des Glaubens dem widerfahrenen Grund des Glaubens konvenienter benannt, begrifflich erfaßt und so gesagt werden kann, hat sein ganz eigenes Theorie-PraxisProblem, insofern der Glaube aus seiner lebendigen Begegnung als Widerfahrnis qua experientia in die objektivierende »Begriffsbildung« der μαρτυρία von dem Erfahrenen überführt werden soll. Es geht hierin um wirkliche θεωρία in der Entstehung als Begriffsbildung oder Namengebung. Dabei ist dieses Problemes Kern, daß der Glaube als experientia Inhalte hat, die als diese Inhalte angemessen aus der Konfrontierung — z . B . das christliche Grundwiderfahrnis »Dir sind Deine Sünden vergeben« — in das

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Zeugnis — z . B . »Er, der Gott in Christo, vergibt Sünden« — überführt werden sollen. Dabei muß also im Zeugnis z . B . der Vergebende angemessen prädiziert werden, angemessen in bezug auf das lebendig Erfahrene. 5. In diesem Vorgang geht es aber praktisch-theologisch nicht darum, dogmatische Sätze zu bilden, sondern Zeugnissätze. Dieser Vorgang ist, auch zum Beispiel im Religionsunterricht, spezifisch gegenüber der systematisch-theologischen Begriffsbildung. Es ist dabei keine Frage, daß in der praktisch-theologischen Theorie die Unterschiede hinsichtlich der Predigt, des Unterrichts, der Seelsorge und anderer Zeugnisformen bestimmt werden müssen. Die dogmatische Begriffsbildung ist durch Abstraktion auf die ουσία oder die substantia der Sache, ζ. B. der Vergebung, vermittelt. In der praktisch-theologischen Begriffsbildung kann diese dogmatische Arbeit zwar hilfreich sein, aber sie kann nicht einfach übertragen werden. Das zeigt die dogmatische Predigt. D e r Umsetzungsvorgang ist hier in der Praktischen Theologie also spezifisch! Experientia fidei wird auf »die Rede v o n . . . « als Zeugnis entäußert. Das heißt, daß der Glaube ins Denken über seine Inhalte eintritt, denen er sich auf angemessene Mitteilbarkeit im Zeugnis hin entfremdet. Die experientia fidei specialissima wird in diesem Prozeß in Richtung auf eine experientia fidei generalis hin durchdacht. 6. In diesem Belang also ruht diese θεωρία auf der εμπειρία als einem Geschehen qua πράξις. Dabei gilt für die Praktische Theologie auch, daß sie als Wissenschaft diese ihre Begriffsbildung und Umsetzung nicht nur vollzieht, sondern daß sie die Gründe für diesen Vollzug aufsucht und benennt. Diese Gründe zeigen das Problem nochmals ganz scharf: Es werden nämlich sicher auch Gründe exegetischer, dogmengeschichtlicher wie auch dogmatischer Art sein. Entscheidend ist aber: Die Praktische Theologie hat aus der Wahrnehmung der Eigenart von μαρτυρία ihre ganz eigenen Begründungszusammenhänge. Auch in diesem Belang also ist sie nicht etwa ein appendix der übrigen Diziplinen. 7. Auf der anderen Seite ist die Praktische Theologie damit befaßt, das Gestaltproblem zu lösen, d. h. zu bestimmen, welche möglichen Gestalten von »Informationen«, Gottesdienst, Unterricht etc. gegenwärtig für das Selbstverständnis des Menschen »verträglich«, verständlich und vollziehbar sind und welche dieser Gestalten dem Zeugnis als seine Gestalten entsprechen. Die Geschichte der Gestaltwerdung des Zeugnisses zeigt sowohl in den europäischen als auch in asiatischen und afrikanischen Kirchentümern, daß bei diesem Vorgang a) die anthropologischen Gegebenheiten und ihre Beachtung von ausschlaggebender Bedeutung sind, b) das Zeugnis auch zu

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gewissen eigenständigen Gestaltgebungen in der Lage war, und c) die Frage der geistigen Entsprechung3 zu lösen ist. 8. Dieses Gestaltproblem ist gegenwärtig besonders schwierig, da der allgemeine Verlust an Gestaltfähigkeit und Stilbildung unübersehbar ist. Das bedeutet, daß die Theologie zur Erwägung eigenständiger Gestaltgebung in besonderer Weise herausgefordert ist. 9. Die Entscheidung des Gestaltproblems ist stets auch eine theoretische Frage, insofern die mögliche Gestalt dem Zeugnis entsprechen soll. Aber auch in dieser Frage ist diese an sich auch theoretische Problematik nur in engster Verbindung mit dem wirklichen Gestaltgeschehen in der Gemeinde, der Schule, der Diakonie etc. lösbar. Die Einsichten der Praktischen Theologie nehmen an der Wirklichkeit des Gestaltungsprozesses und ihrer Wandlungen unmittelbar teil, oder sie finden nicht statt. Die Problematik, die sich hier zeigt, wird deutlich einmal in der Frage der sog. »rückflutenden Erfahrung« aus dem Pfarramt an die Praktische Theologie, zweitens in der Besetzung der praktisch-theologischen Lehrstühle mit sog. Praktikern und drittens in der Teilnahme der Praktischen Theologie an gemeindlichen oder unterrichtlichen Aufgaben. 10. Das Geschehen der Gestaltung geht über die sog. »Aktualisierung des Christusgeschehens« hinaus und zielt auf Wandlung und Neubegründung von Tradition. Μαρτυρία ist auf Tradition angewiesen, und traditio ist nicht ohne Gestalt im Kontinuum von Raum und Zeit. Mit dieser Seite ihrer Tätigkeit ist die Arbeit der Praktischen Theologie das härteste Bollwerk gegen alle enthusiastischen Weltveränderungen in Richtung auf Aktion als Aktion. 11. Die Entscheidung des Gestaltproblems fällt in die Frage der »Entsprechung« zum Zeugnis, dessen Konvenienz im ersten Teil der praktisch-theologischen Arbeit festgestellt wurde. Ohne diese »Entsprechung« eingehend zu studieren, wird das Weltverhältnis der missionierenden Kirche zu einem wilden Hinüberwuchern zur Welt, das der Welt nicht hilft und dem Zeugnis schadet. Dieses Studium der »Entsprechung« wird wiederum nur in unmittelbarer Fühlung mit durchgeführter Gestaltung möglich sein. Die Durchführung der Gestaltung geschieht in der Erforschung der »Entsprechung« von Zeugnis und möglichen Gestalten als 3

Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica, Bd.I, q 13,5 R und q 13,5 ad 1. DeutschLateinische Ausgabe, Salzburg/Leipzig 1934, der die theologische Form der analogia entis als analogia actionis zeigt.

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anthropologischer wie zeitgeschichtlicher Gegebenheiten. Sie verläuft so, daß die Zeugniswirklichkeit — ϋεωρία aus der Angemessenheit — diese Durchführung als πράξις bestimmt. Das Gefälle des Vorgangs verläuft hier sozusagen von Theorie zu Praxis, wohingegen sie in der Prüfung der Konvenienz von Praxis zu Theorie verlief. 12. Die Arbeit der Praktischen Theologie vollzieht sich also in zwei gegenläufigen Prozessen, was das Theorie-Praxis-Problem angeht. Sie vollzieht sich als Vorgang der Konvenienz von Namengebung, deren das Zeugnis bedarf, und als Prüfung der Entsprechung in der Gestaltfindung der Zeugnisgestalten.

Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche Barmen-Gemarke 29. bis 31. Mai 1934* Wenn ich als Theologe vor Ihrem Kreis zur Barmer Theologischen Erklärung spreche, so verstehe ich meine Aufgabe darin, Ihnen die theologische Bedeutung zu erläutern bzw. einen Uberblick über die theologische Problematik dieser Erklärung zu geben. Die Nachbemerkung zu dieser Erklärung sagt deutlich, welche Sicht die Synodalen von der Bedeutung dieser Erklärung hatten: Die Synode sieht »in der Anerkennung dieser Wahrheiten und in der Verwerfung dieser Irrtümer die unumgängliche theologische Grundlage der Deutschen Evangelischen Kirche als eines Bundes der Bekenntniskirchen«. Es ist bei diesem Satz zu beachten, daß dieser Text erst in der letzten Fassung steht. In den vorhergehenden Fassungen war immer davon die Rede, daß die Anerkennung dieser Wahrheiten »die unumgängliche Bedingung der Einheit und damit des Bestehens der D E K « sei. Die »Einheit« der D E K fällt also in der letzten Fassung gegenüber der D E K als Bund der Bekenntniskirchen fort. Daß es sich in der Erklärung um die »theologische Grundlage« der D E K handele, ist ebenfalls erst in der letzten Redaktion eingefügt. In den früheren Fassungen ist von »Bedingung der Einheit« oder von »theologischer Bindung der Einheit« die Rede1. Das heißt also, daß im Schlußtext sehr deutlich die D E K als ein Bund von Kirchen bezeichnet wird, die ihren Bekenntnissen folgen, daß alle diese Verschiedenartigkeiten aber theologisch eine einheitliche Grundlage in der Anerkennung dieser Wahrheiten und der Verwerfung dieser Irrtümer haben. Die Synode hielt also den Gegenstand der Erklärung

* Vortrag, gehalten auf der Mitarbeitertagung der »Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht« am 6. Mai 1983. Zuerst veröffentlicht in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 28.1983, S. 3 7 0 - 3 9 1 . 1

Die verschiedenen Textfassungen sind sorgfältig abgedruckt bei G. Niemöller, Die erste Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche zu Barmen, I . B d . , Göttingen 1959, S. 1 0 2 - 1 1 3 .

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theologisch für so fundamental, daß er die Bekenntnisverschiedenheiten der in der Deutschen Evangelischen Kirche zusammengeschlossenen Kirchen übergreife. Dieser Gegenstand der theologischen Erklärung soll nach der letzten Fassung die »unumgängliche theologische Grundlage« der deutschen Landeskirchen sein. U m die Erhebung und Integration dieses Gegenstandes der Erklärung soll es in den folgenden Überlegungen gehen. Wir haben dabei zunächst einige allgemeine Bemerkungen zu der Bekenntnissynode sowie zur Theologischen Erklärung insgesamt zu machen (I), bevor wir die sechs Artikel der Erklärung interpretierend resümieren (II), um danach den Gegenstand der Erklärung bzw. ihre zentralen Intentionen einer abschließenden Überlegung (III) zuzuführen.

/ Die Bedeutung der Bekenntnis-Synode der Deutschen Evangelischen Kirche in Barmen-Gemarke vom 29. bis 31. Mai 1934 für den Widerstand der evangelischen Gemeinden und Christen im Dritten Reich kann kaum überschätzt werden. Mit dieser Synode und ihren Entschließungen gewann der Widerstand der Pfarrer und Gemeinden gegen das Dritte Reich einen ersten geschlossenen Ausdruck. In dem »Aufruf an die evangelischen Gemeinden und Christen in Deutschland« verwahrt sich die Synode dagegen, eine Union schaffen zu wollen bzw. die Einheit der evangelischen Kirche in Deutschland sprengen zu wollen. Vielmehr gehe es um Treue zu den Bekenntnissen und um Widerstand gegen die Versuche, den »Bekenntnisstand unserer Kirchen« aufzuheben 2 . In der »Erklärung zur Rechtslage der Deutschen Evangelischen Kirche« wird in besonders klarer Weise die Stellung der Synode gegenüber dem »derzeitigen Reichskirchenregiment« bei Namen genannt. Es geht dabei zentral um die Rettung der an »ihre« Bekenntnisse gebundenen Landeskirchen und um Widerstand gegen ihre Eingliederung als Gleichschaltung (Art. 3) bzw. den Ausbau einer administrativen Zentralgewalt, die dem reformatorischen Bekenntnis widerspricht (Art. 4). Kirchliche Einheit ist nur auf der Grundlage des Bekenntnisstandes der Kirchen möglich (Art. 5). Im letzten Absatz dieser Erklärung zur 2

Die Texte sind abgedruckt bei: Joachim Beckmann, Evangelische Kirche im Dritten Reich. Kirchliches Jahrbuch für die Ev. Kirche in Deutschland 1933-1944, Gütersloh 1948, S. 62-68.

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Rechtslage heißt es: »Im Gehorsam gegen den Herrn der Kirche liegt so starke einigende Kraft, daß wir trotz der Verschiedenheit der reformatorischen Bekenntnisse zu einem einheitlichen Wollen und Handeln in der Deutschen Evangelischen Kirche zusammenstehen können.« Das heißt, daß man in dieser Erklärung eine besondere Definition des gemeinsamen Handelns von Lutheranern, Reformierten und Unierten für notwendig hält. Ganz besonders in der »Erklärung zur praktischen Arbeit der Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche« wird der Widerstand klar, denn darin übernimmt die Bekenntnissynode »die Leitung der deutschen evangelischen Christenheit«. In diesem Schritt liegt die positive Leistung der Synode. Die Dahlemer Bekenntnissynode hat dem in der dort erstmals vorgenommenen Ordination von Geistlichen Ausdruck verliehen. Neben dem »Aufruf« und diesen zwei Erklärungen stehen die sog. »Entschließung der Bekenntnissynode« und als dritte die Theologische Erklärung. In der Entschließung anerkennt die Synode die Theologische Erkläung »im Zusammenhang mit dem Vortrag von Pastor Asmussen als christliches, biblisch-reformatorisches Zeugnis« und nimmt sie auf ihre Verantwortung (Abs. 1). Zugleich übergibt die Synode diese Erklärung den Bekenntniskonventen, die in den Landeskirchen gebildet werden sollten, »zur Erarbeitung verantwortlicher Auslegung von ihren Bekenntnissen aus« (Abs. 2). Das heißt, daß die Synode meinte, die Theologische Erklärung sei auslegungsbedürftig und diese Auslegung müsse von den verschiedenen Bekenntnissen aus geschehen. Auf diese Entschließung der Synode folgt die »Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche«. Diese Erklärung besteht aus einer Präambel in sechs nicht numerierten Absätzen, der Erklärung selbst in sechs numerierten Artikeln und einer Schlußbemerkung in einem Absatz, den wir oben bereits zitierten. Die Sache, um die es in dieser Theologischen Erklärung geht, wird in der Präambel ganz deutlich. Es geht um die Möglichkeit der Einheit der bekenntnisverschiedenen Kirchen in der Deutschen Evangelischen Kirche. Diese Einheit ruht im »Bekenntnis zu dem einen Herrn der einen, allgemeinen und apostolischen Kirche« (Abs.3) 3 . Mit dieser Formulierung wird

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Erst in der letzten Redaktion ist diese feierliche Formulierung eingefügt. Vorher ist nur vom »Bekenntnis zu der einen Kirche Jesu Christi« (vgl. G. Niemöller, aaO, S. 108) die Rede.

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sehr deutlich, daß man die Einheit der bekenntnis-verschiedenen Kirchen in dem Kyrios selbst findet, der seine eine Kirche regiert. Der Abs. 4 der Präambel macht sodann klar, daß diese Einheit der Deutschen Evangelischen Kirche im Kyrios durch die »herrschende Kirchenpartei der Deutschen Christen und des von ihr getragenen Kirchenregimentes« auf das Schwerste gefährdet sei. Man fügt hinzu, daß diese theologische Voraussetzung der Einheit der Kirchen durch die Deutschen Christen »dauernd und grundsätzlich durch fremde Voraussetzungen durchkreuzt und unwirksam gemacht wird«. Der Abs. 5 der Präambel begründet — wie wir das auch am Ende der Erklärung zur Rechtslage fanden — nochmals extra, daß und warum hier Glieder lutherischer, reformierter und unierter Kirchen gemeinsam, das meint univoce, reden. Der Grund ist: »Gerade weil wir unseren verschiedenen Bekenntnissen treu sein und bleiben wollen.« Man hat in der folgenden Theologischen Erklärung also etwas zu sagen, was die bedrohte Einheit der bekenntnis-verschiedenen Kirchen so stützen kann, daß dadurch die Treue gegenüber den verschiedenen Bekenntnissen gerade ermöglicht und nicht aufgehoben wird. Ein Schlußsatz fügt hinzu, daß die Synode es Gott befiehlt, »was diese Tatsache für das Verhältnis der Bekenntnisse untereinander für die Zukunft bedeuten mag« 4 . Wir werden heute sagen: Das gemeinsame Handeln von Lutheranern, Reformierten und Unierten im Widerstand gegen die akute Bedrohung des Bekenntnisses zu der einen Kirche des Kyrios hat unter Wahrung des Bekenntnisstandes über die akute Kampfgemeinschaft hinaus die Frage nach dem Kirchentrennenden in den verschiedenen reformatorischen Bekenntnissen nach 1945 neu stellen lassen. Dieser Uberblick über die Verlautbarungen der Bekenntnissynode von Barmen macht ganz deutlich, daß sich in Barmen eine überwältigend akute Gemeinsamkeit von Widerstandswillen und Zeugnis gegenüber dem deutsch-christlichen Kirchenregiment und damit letztlich gegenüber dem Dritten Reich ereignete. Sie war getragen von dem Willen, die Bekenntnisse der Reformation gegenüber dem administrativen Vorgehen der Reichskirchenregierung, das auf Gleichschaltung zuging, wie gegenüber der deutschchristlichen Schwärmerei von der Gottesstunde für das neue Volk unter 4

Dieser ganze Absatz ist erst in der zweiten Redaktionsphase (B.2) an den Rand geschrieben aufgetaucht, dann aber fast ohne Änderung bis zur Endredaktion beibehalten; vgl. G. Niemöller, aaO, S. 104.

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dem einen Führer, die auf eine Einheitskirche zuging, festzuhalten und auszuspielen. Die Bekenntnissynode von Barmen bedeutete für die Teilnehmer die ungeheure Erfahrung einer ereignishaften Gemeinsamkeit von Zeugnisbereitschaft. Die Teilnehmer empfanden dies als »geschenkt« und nicht als gemacht. In dieser gewaltigen Zeugnis-Bewegtheit von Barmen kam die monatelange Unsicherheit und Vereinsamung an ihr Ende. Karl Barth hat in der Festschrift für Martin Niemöller 1952 geschrieben, Barmen sei in »einem Akt von Geistes-Gegenwart« geschehen. Dahin ging die Erfahrung wohl aller Teilnehmer, daß diese Synode in ihrem Zeugniswillen wie in ihrem Handlungswillen die einigende Gewalt des Geistes Gottes und seiner akuten Gegenwart darstellte. Ernst Wolf schreibt in seinem Buch über die Barmer Synode, daß die Einheit des Zeugnisses in Barmen eine »Überraschung« war: »Ihr Kommen läßt sich eigentlich nicht ableiten; die Unableitbarkeit macht den echten Ereignischarakter von Barmen aus.« 5 Dieser »echte Ereignischarakter« prägt den viel zitierten Geist von Barmen. Das Entscheidende dabei war die Erfahrung, daß in dem klaren Willen zu den verschiedenen reformatorischen Bekenntnissen als Grund der Möglichkeit der Einheit der Deutschen Evangelischen Kirche eine Gemeinsamkeit des akuten Sich-Bekennens zu dem einen Kyrios Platz griff. Dieses akute Sich-Bekennen-zu nahm Gestalt an in dem univoce Reden in den drei Erklärungen — der Theologischen Erklärung, der Erklärung zur Rechtslage und der Erklärung zur praktischen Arbeit. Die Erwägung dieser Äußerungen der Barmer Synode zeigt also ein völlig klares Bild. Alle diese Erklärungen haben ihre Kraft in dem Ereignis dieses einenden Zeugniswillens. Keine dieser Erklärungen — auch die Theologische nicht — wollte »Union machen« im Sinne einer neuen Bekenntnisschrift. D a s ist der eindeutige Wille der Bekenntnissynode. Angesichts dieser für den heutigen Leser eindeutigen Betonung der Barmer Synode, daß man an den reformatorischen Bekenntnissen gerade in dem gemeinsamen Zeugnis der Erklärungen festhalten wolle, daß die Theologische Erklärung aber, bei der dies nicht so eindeutig sein mochte, daher in den Bekenntniskonventen verantwortlich ausgelegt werden sollte, muß man sich heute fragen, woher gerade der konfessionelle Widerstand gegen die Theologische Erklärung kam. Auch die Theologische Erklärung hat ja keine neue Bekenntnisschrift sein wollen. Ihre Autoren haben dies auch immer wieder betont. Es handelt sich um eine »theologische Grund5

Ernst Wolf, Barmen. Kirche zwischen Versuchung und Gnade, München 1957, S. 64 f.

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läge«, die die bekenntnis-verschiedenen Kirchen für ihr Selbstverständnis in der Situation gegenüber Deutschen Christen und Reichskirchenregiment »unumgänglich« brauchten'. In dem überwältigenden Aufschwung gemeinsamen Zeugnisgeistes jener Tage in Barmen regte sich natürlich die Frage danach, ob denn die konfessionellen Unterschiede durch diese Gemeinsamkeit nicht relativiert oder gar überholt seien. Aber in jeder Erklärung wurde betont, wie wir sahen, daß diese Gemeinsamkeit extra ordinem sei. Am weitesten wagt sich in dieser Hinsicht die Präambel der Theologischen Erklärung vor, indem sie sagt: »Wir befehlen es Gott, was dies für das Verhältnis der Bekenntniskirchen untereinander bedeuten mag« (Abs. 5). Daß mit diesem einenden Zeugniswillen das Verhältnis der Bekenntniskirchen untereinander verändert werden könne, lag als Frage auf der Hand. Aber, wie die Formulierung des Schlußabsatzes zeigt, wagte man nicht an der Bekenntnisverschiedenheit zu rühren. Man befahl dies Problem Gott und entzog es damit jeder kirchenpolitischen Manipulation. Neue Bekenntnisse zu schaffen, lag außerhalb des 1934 Möglichen. Aber nochmals die Frage: Wie kam es eigentlich , daß z . B . Eiert die Theologische Erklärung sogleich, und zwar in einem Aufsatz, als Confessio Barmensis angriff7 und als den Versuch schilderte, eine Konsensus-Union herzustellen? Nach dem bislang über die drei Erklärungen der Barmer Synode Gesagten ist dieser Angriff aus dem Wortlaut des Aufrufes wie der drei Erklärungen nicht zu verstehen. Ob das an dem Inhalt der Theologischen Erklärung selbst liegt? Wir haben diese Erklärung selbst bisher ja nur in ihrer Präambel wie in ihrem Schlußsatz herangezogen. Gehen wir also zur Interpretation der Erklärung selbst über.

II Die Theologische Erklärung der Barmer Synode war durch einen Ausschuß vorbereitet, der am 2. Mai 1934 in Berlin als Dreierausschuß — aus Asmussen, Barth und Breit bestehend — eingesetzt war. Auf der Sitzung des Reichsbruderrates in Kassel am 7. Mai wurde in Vorbereitung der Bekenntnissynode auch darüber gesprochen, wie dabei die Bekenntnisfrage zu handhaben sei. In der Aussprache wurde deutlich und zumal von ' So der Schlußabsatz der Theologischen Erklärung. 7

Der Aufsatz erschien in der A E L K Z vom 29. Juni 1934, Nr. 26.

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Bischof Meiser betont, daß ein Consensus nur über die jetzt drängenden Fragen zu erreichen sei. Als Punkte wurden genannt: das kirchliche Amt, die Befugnisse des Kirchenregimentes, der Führergedanke in der Kirche, die Vereinheitlichungsbestrebungen in den Kirchen und die Anklagen gegen die Deutschen Christen. Diese Punkte gingen dem theologischen Dreierausschuß zu8. Der Theologische Ausschuß traf sich am 13. und 16. Mai in Frankfurt a. M. Karl Barth legte hier ein Konzept vor, das in dem Aufbau der einzelnen Artikel mit Bibelspruch, These und Antithese wie im wesentlichen Inhalt von Asmussen und Breit übernommen wurde. Barth bezeichnete diesen Entwurf als »Frankfurter Konkordie«. Dieses Konzept hat im wesentlichen bereits den Wortlaut der Theologischen Erklärung. Besonderheiten vermerken wir bei der Besprechung der einzelnen Artikel. Bevor wir in die Einzelanalyse der Artikel übertreten, müssen wir zwei Erwägungen anstellen, die die Besprechung der Artikel dann erleichtern. Erstens müssen wir die biblizistische Einleitung der Artikel erwägen (a)). Zweitens müssen wir uns von vornherein über die Stoßrichtung, die Karl Barth der Erklärung gab, klar werden, um die Artikel angemessen verstehen zu können (b)). Drittens können wir dann die sechs Artikel in der gebotenen Kürze besprechen (c)). a) Was zunächst also die Einleitungssätze der Artikel angeht, die jeweils aus einem oder zwei Bibelsprüchen bestehen, so ist die Angemessenheit dieses Vorgehens grundsätzlich zu prüfen. Der Leser der Artikel bemerkt ja sogleich, daß zwischen den Bibelsprüchen und den Thesen wie den Verwerfungen nur ein zufälliges Verhältnis besteht. Man kann sich zu den Thesen auch ganz andere Bibelworte als Einleitungen denken, und man könnte auch das Gegenteil der Thesen mit Bibelsprüchen belegen. Es ist eine alte Erkenntnis, daß Glaubensüberzeugungen nicht in Satzwahrheiten bestehen und daß sie in biblischen Sätzen auch nicht irrtumssicher wiederzugeben sind. In der Reformationszeit hat zwischen Bucer und Luther hierüber ein Dissens bestanden. Luther hat 1525 eingehend dargelegt, wieso man die Wahrheit und Glaubensüberzeugung nicht durch biblische Zitate herstellen oder bewahren könne 9 . »Bloße« biblische Sätze, die aus ihrem Zusammenhang gerissen sind, werden mißverständlich. So ist es auch hier. Wir zeigen das kurz an zwei 8

Zu diesen Vorbereitungsschriften der Barmer Synode vgl. G. Niemöller, aaO, S. 56-67. ' Dies geschieht in der Schrift »Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sakrament«, WA 18, 141, 11 ff. = EA 29, 213 f.

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Stellen. Die Einleitung des II. Art. durch 1 Kor 1,30 belegt — in ihrem Kontext verstanden — nicht das, worauf es der These ankommt — nämlich den sittlichen Impuls der Vergebungsbotschaft. In 1 Kor 1,30 geht es um die Zusammenfassung der Antithesen der Verse 26-29 mit dem Ziel, in Christus Jesus das Handeln Gottes sub contrario zu erkennen, so daß all unser Mühen allein in dem Kyrios ruht. Auf dieses Zitat V. 31, das in der Einleitung zum II. Art. fehlt, läuft der ganze Satz zu! Man muß den Satz (V. 30) als Einleitung des II. Art. so verstehen, daß Jesus Christus uns von Gott zu dem und dem gemacht hat und uns in Bewegung zum dankbaren Dienst setzt. Das besagt dieser Satz aber gerade nicht. Er besagt, daß Christen keine Möglichkeit haben zum Selbstruhm — unsere Weisheit nämlich ist der Gekreuzigte! Auf den Gekreuzigten weist Paulus damit, daß Gott ihn zur Gerechtigkeit, Heiligung und Loskauf gemacht hat. Das heißt, daß diese Einleitung das nicht belegen kann, worauf These wie Verwerfung zugehen. Nicht viel anders ist das mit der Einleitung des V.Art, durch 1 Petr2,17. Was der Artikel sagen will, das ist die Anerkennung des Staates als Wohltat Gottes auf Grund göttlicher Anordnung sowie die Geltendmachung des Reiches Gottes, das die Regierenden und Regierten darüber hinaus in Verantwortung nimmt. Das Wort 1 Petr2,17 sagt dies aber nicht. Das Wort ist Zitat aus Prov 24,21. Dies Zitat formt den Grundtext um, wie Gunkel gewiß richtig erkennt, auf Grund des christlichen Widerspruchs gegen den Herrscherkult. Dies Zitat steht aber nicht in sich, sondern es ist gebunden in den Zusammenhang von V. 13 an. In diesem Leitvers (V. 13) wird jede »restriktive Distanz« gegenüber dem Staat aufgehoben! Das »ehret den König« aber ist in V. 27 einem »alle ehret« nachgeordnet, rangiert also nach der Generalklausel gegen alle antike Inhumanität — wie ζ. B. Sklaverei. Das heißt, wenn wir dies Wort in seinen Kontext stellen, so ergibt das eine ganz andere Sicht, als die These sie vorträgt. Die These mit ihrer Einführung der göttlichen ordinatio und ihrer Uberbietung durch das Reich Gottes paßt zu dem Konzept des 1. Petrusbriefes gar nicht10. Diese Erwägung kritisiert nicht die Exegese, die zu diesen Einstellungen der Bibelsprüche führte, sondern zeigt nur, daß Einzelsprüche, aus dem Zusammenhang gerissen, das nicht leisten können, was man durch

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Zur Auslegung vgl. Friedrich Schröger, Gemeinde im 1. Petrus-Brief, Passau 1981, S. 146.

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dieselben gerade »legitimieren« möchte11. Diese Bibelsprüche sollen ja doch legitimieren. Jedoch das gelingt mit der einfachen Zitation von einzelnen Sätzen nicht. Das heißt, wir bestreiten natürlich nicht, daß alleine biblische Begründungen einen theologischen Gedankengang bewahrheiten. Aber das kann, wie auch dies Beispiel lehrt, nicht durch die Zitation einzelner Sätze geschehen. b) Zweitens haben wir uns nun mit der Intention oder der Stoßrichtung der Erklärung zu beschäftigen. Asmussen hat in seinem Einführungsvortrag, mit dem er der Synode die Erklärung vorstellte, dazu sogleich Stellung genommen. Er hat nämlich gesagt, daß man mit dieser Erklärung »Protest gegen dieselbe Erscheinung« erhebe, »die seit mehr als 200 Jahren die Verwüstung der Kirche schon langsam vorbereitet hat«. Ernst Wolf betont dazu: »Man hat sich in Barmen auffällig wenig mit den D C beschäftigt.«12 Die Erklärung selbst erwähnt sie nicht einmal. Sie läßt es also bei dem bewenden, was dazu in der Präambel gesagt wurde. Die Erklärung vertieft den Gegensatz zu den Deutschen Christen auf eine Erscheinung, die seit 200 Jahren die Kirche verwüstet. Diese Erscheinung ist die von Barth sog. »Natürliche Theologie«. Nun hat Barth zu dieser Frage ja selbst Stellung genommen. In Bd. I I / l der Kirchlichen Dogmatik (KD) hat sich Barth zu der Theologischen Erklärung geäußert — zumal zu ihrem grundlegenden ersten Artikel. Barth sagt dort (S. 194), dieser Text sei darum so wichtig, »weil er das erste Dokument einer bekenntnismäßigen Auseinandersetzung der evangelischen Kirche mit dem Problem der natürlichen Theologie darstellt«13. Das heißt, Barth macht deutlich, wie er die von ihm 11

D e r Versuch von Karl Martin Fischer, den III. Art. und seine Einleitung Eph 4,15 f. aufeinander so zuzuführen, daß der Gesamtzusammenhang zwischen dem Epheserbrief und Barmen darin analogisiert wird, daß nämlich in beiden Situationen die Juden ihr Heimatrecht in der Kirche verlieren sollen, ist mißlungen. Dieses Problem taucht ja eben in der ganzen Erklärung überhaupt nicht auf! Daß man den III. Art. auf diese Frage beziehen könnte, liegt auf der Hand. W a r u m die ganze Erklärung das nicht tut, ist unten zu zeigen. Der Beitrag von Fischer ist abgedruckt bei Burgsmüller (Hrsg.), Kirche als >Gemeinde von Brüderngleichzuschaltendu wirst gerichtete So wie Gott nur von außen und vom Menschen her gerichtet wird, so wird er auch gerechtfertigt. Deswegen ist es notwendig, daß das Zitat >wie du gerichtet wirst< von Gott von außen her gesagt ist.«11 " Martin Luther, Vorlesung über den Römerbrief. Hg. von J.Ficker, Leipzig 1908, Bd. II, S. 72.

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Dieser Passus von der Wandelbarkeit Gottes hat also den Zweck zu erweisen, daß die »Wandlungen Gottes« nicht intrinseci sind und sein können, also daß sie nicht Gott an sich oder in sich selbst betreffen. Die »Wandlungen Gottes« sind vielmehr im Weltverhältnis Gottes begründet und betreffen dieses sein Weltverhältnis bzw. Gottes Verhalten zu den Menschen: Wie Gott uns erscheint! Diese Feststellung bedeutet nun aber für Luther ja nicht, daß man danach sagen könne, daß dann ja die »Wandlungen Gottes« eben nur vordergründig seien und daß sie auf die Innenseite Gottes hin durchstoßen werden müßten. Diese Beruhigung ist darum nicht angängig, weil Luther wohl nichts so eindeutig in seinen Aussagen über Gott festgehalten hat wie dies, daß die »nackte Majestät« oder die »nackte Gottheit« Gottes uns schlechthin unzugänglich sei und bleibe! Luther hat diese Einsicht immer wieder eingeschärft und darum auf das Wort verwiesen als den einzigen Zugang zu Gott, der auch nicht zu hinterfragen ist. Der Mensch Jesus, die Windeln von Bethlehem und alles, was in diesen Bereich gehört, ist der Zugang. Darum ist ja auch eine participatio legis aeternae im Sinne einer Lehre vom unveränderlichen Naturrecht qua Gottesrecht für Luther nicht möglich.12 Obwohl Luther stets die Erkenntnis der unwandelbaren Majestät Gottes abgewiesen hat, so ist es doch wesentlich, im Auge zu behalten, daß Luther die Wandlungen Gottes als extrinseca oder äußerlich kennzeichnet. Das heißt, daß wir darauf achten, daß die Rede von den »Wandlungen Gottes«, die ganz unvermeidbar ist, nicht aufgefaßt wird als eine Rede über Gott an sich, daß aber andererseits die Einsicht, daß wir ja nur etwas von Gott im Handeln zur Welt wissen, nicht dazu führen kann, Gott in dieses sein Handeln aufgehen zu lassen. Das heißt, so gewiß wir die nuda maiestas nicht wahrnehmen können, so gewiß ist Gott als Gott mehr als all sein Handeln, Wirken und Sich-Manifestieren. Und wenn wir von Gott reden, so können wir allerdings nur von ihm, wie er im Alten und Neuen Testament bezeugt ist und wie er sich in der Welt als Natur und Geschichte erweist, reden. Damit aber sind wir stets zugleich vor sein unerkennbares Mehr-Sein gestellt, das alle Erweise und Bezeugungen durchwaltet. Zu diesen Überlegungen gibt uns Ernst Troeltsch mit seiner Besprechung der »Wandlung« Gottes in seinem Werk »Der Historismus und seine Probleme« noch eine wichtige Ergänzung. Troeltsch handelt im 4. Abschnitt des II. Kapitels von der Gültigkeit unserer Maßstäbe im Verhältnis 12

J.Heckel, Lex caritatis. München 1953, S. 53 f.

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zu ihrer Unveränderlichkeit. Er stellt zunächst fest, daß »jene zeitlose Unveränderlichkeit als Merkmal wahren Seins und wahrer Geltung... der Rest eleatischen Denkens in der abendländischen Welt« sei.13 Er sagt: »Die Zeitlosigkeit und Unveränderlichkeit des Geltens mag für die formale Logik und Mathematik gelten, aber für die Erkenntnis der Erfahrungswissenschaften auf dem Gebiet der Natur wie der Geschichte... besteht sie nicht und kann sie nicht bestehen.« Es geht Troeltsch darum, »daß es echte und wahre Gültigkeit geben kann, die nicht zeitlos und unveränderlich ewige Gültigkeit, sondern die dem jeweiligen Bestand entsprechende und darum nur, soweit dieser reicht und dauert, auch allgemeine Gültigkeit ist«.14 Was Troeltsch hier befragt und postuliert, das können wir uns wieder am leichtesten an der Tatsache der Wandelbarkeit der ethischen Normen deutlich machen. Besitzen ethische Normen in ihrer zeithaften Verwandlung und trotz derselben Gültigkeit? Dieses Problem ist in der evangelischen Theologie der letzten Jahre ja wieder diskutiert, und es ist ganz eindeutig, daß die Gültigkeit der Norm nicht durch ihre geschichtliche Wandelbarkeit angetastet oder relativiert wird. In diesem Zusammenhang stößt Troeltsch zur Frage nach Gott vor, »der als irgendwie vorausgesetzte Grundvorstellung der Dinge hinter allem Denken liegt«. Troeltsch urteilt: »Jedenfalls gibt es ohne ihn oder irgendein Analogon zu ihm keine Maßstabbildung.« 15 Diese Feststellung ist dadurch bedeutsam, daß sie den oben ausgesprochenen Gedanken von Gott als dem Grunde des Seins und der Ordnung sachgemäß ausgelegt sein läßt auf die theoretische Frage oder das Problem des Urteils und der Wahrheit. Das ist sachgemäß, insofern da, wo von Gott gehandelt wird und wo die Betroffenheit des Menschen von Gott ins Blickfeld tritt, die Frage nach der »Maßstabbildung« oder nach den wahren Urteilen stets mit gesetzt ist. In diesem Zusammenhang sagt Troeltsch, daß da, wo man unter Gott »nur die zeitlose Unveränderlichkeit des Immer-sich-selbst-Gleichen« versteht, man nur »unwandelbare Urteile« für Gültigkeit halten könne! Das aber, so sagt Troeltsch, sei »rationalistischer Monismus, von dem es keinen Weg zur Vielheit der Wirklichkeit und ihrer Bewegung gibt«. Mit diesen Sätzen zeigt Troeltsch den tiefen Belang der »Wandlungen Gottes«. Unter ihrer Voraussetzung ist dieser »rationalistische Monismus«, der das Leben versklavt um 1J 14 15

Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme. Tübingen 1922, S. 182. Ebd., S. 183. Ebd., S. 184.

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einer unveränderlichen Idee oder Ideologie willen, nicht möglich. »Wir gewinnen die Lebenstiefe, aus der heraus mit der inneren Beweglichkeit und Wandlung Gottes selber auch die Wandlung und Beweglichkeit der Wahrheit... verständlich wird, zusammen mit einer trotzdem verbleibenden Einstellung auf eine letzte Wahrheit und Einheit, die aber nur Gott selber weiß, wenn man sein Wissen nennen darf.«16 Der letzte Halbsatz stellt uns vor dasselbe Problem, vor das uns Luther gebracht hat. Die »Lebenstiefe«, die wir gewinnen, wenn wir die »Wandlungen Gottes« ernst nehmen, bildet die Brücke zur »Wirklichkeit und ihrer Bewegung«. Ohne diese »Lebenstiefe« werden unsere Maßstäbe stets an der Wirklichkeit vorbeigehen. Aber diese »Lebenstiefe« ist nur so lange ein Weg zu »gültigen« Maßstäben, solange sie »zusammen mit einer trotzdem verbleibenden Einstellung auf die letzte Wahrheit und Einheit, die aber nur Gott selber weiß«, da ist. Die von Troeltsch so genannte »trotzdem verbleibende Einstellung« enthält das entscheidende Problem. Gott geht nicht in den Wandlungen seines Wirkens, in seinem Wort oder in seinem Weltwirken auf. Gott ist als Gott immer noch mehr und zwar unerkennbar mehr, als was uns sein Wort und Walten zeigen. Das »trotzdem« der Einstellung auf diese »letzte Wahrheit und Einheit, die aber nur Gott selber weiß«, ist das große T A M E N Luthers, mit dem er den Glauben in aller Angefochtenheit durch die beiden Weisen der »Wandlungen Gottes« charakterisierte. Es versteht sich nicht von selbst, daß diese Einstellung auf das Gottsein Gottes trotz der erfahrenen »Wandlungen Gottes« lebendig bleibt.

8 Wenn wir uns unsere Überlegungen bis zu dieser Stelle ansehen, so sieht es fast so aus, als ginge unsere Erwägung darauf aus, der christlichen Rede von Gott das Modell zu empfehlen, nach dem Kant die Erkenntnis erfaßte. Ich meine das so, daß die »Wandlungen Gottes« den großen Bereich der Erkenntnis darstellt, der auf Erfahrung angewiesen nur mit Erfahrung möglich ist. Aber so gewiß die Erkenntnis auf die Affektion durch Erfahrung angewiesen ist, so gewiß bleibt sie nur so lange sinnvoll geschlossener Erkenntnisvollzug, solange sie das unerfaßbare und darum 16

Ebd.

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nie thematisch werdende »Ding an sich« in ihrer Voraussetzung hat. Es könnte der Eindruck entstehen, daß wir, ja daß schon Luther das Reden von Gott so gemeint habe, daß man Gott an und für sich so wenig befragen und erkennen könne wie das kantische »Ding an sich«, daß man Gott in seiner verborgenen Gottheit aber gleichwohl nie aus der Voraussetzung verlieren dürfe. Wie sich alle auf Erfahrung angewiesene Erkenntnis auflöst, wo das »Ding an sich« nicht mehr den schweigenden Hintergrund bildet, so löst sich alles Wissen um Gott in seinem Heils- und WeltHandeln auf, wenn nur noch dieses Handeln Gottes in all seinen »Wandlungen« den Gegenstand des Wissens von Gott abgibt. Es ist nun gar nicht zu bestreiten, daß zwischen dem Modell der kantischen Erkenntnis und diesem Modell der Gottesvorstellung bei Luther eine gewisse Ähnlichkeit besteht. Dies zu beachten ist aber vor allem darum wichtig, daß man sich den grundsätzlichen Unterschied klarmacht, der zwischen dem unerkennbaren An-sich-Sein Gottes und dem unerfaßbaren Ding-an-sich besteht. Wenn wir unsere Frage nach den »Wandlungen Gottes« so im Zusammenhang mit der Frage nach Gottes An-sich-Sein stellen, so fragen wir nach dem Kontinuum oder der Ständigkeit Gottes, die alle »Wandlungen« durchhält. Auf diese Frage ist doppelt zu antworten. Wenn wir erwägen, was die Gotteszeugnisse des Alten und Neuen Testamentes wie auch die der kirchlichen Verkündigung zusammenhält bzw. was sie ständig trotz aller inhaltlichen Wandlungen durchwaltet, so stoßen wir auf ein Moment scheinbar formaler Natur, und das ist der Charakter der Verheißung. Gottes Heilshandeln und von da aus auch sein Welthandeln weist den davon betroffenen Menschen stets über sein Geschehen verheißend hinaus. So weist die Schöpfung und so weist der Erbe und so weist die Gabe des Landes und so weist das Gesetz über sich hinaus. Der Charakter von Verheißung umfaßt das Alte und das Neue Testament, denn auch und gerade das Handeln Gottes als Jesus von Nazareth weist ja über sich hinaus auf das kommende Reich, das in bestimmter Weise allerdings schon da ist. Dieser Charakter, Verheißung zu sein, den von Gott betroffenen Menschen also über den Akt des Hervortretens Gottes hinaus auf ein neuartiges Eintreten Gottes zu verweisen, ist den Gotteszeugnissen des Alten und Neuen Testamentes ebenso eigen, wie den Zeugnissen aus der Geschichte, die Gott der Heilige Geist mit der Kirche ging. Wir hätten also zunächst zu sagen, daß bei der Frage nach dem, was sich da in allen »Wandlungen Gottes« durchhält, mit dem Charakter des Wortes Gottes als Verheißung zu antworten ist. Diese Verheißung hat

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allerdings in bestimmter Weise inhaltlich an den »Wandlungen Gottes« teil. Die Verheißung an Abraham ist eine andere als die Verheißung Jeremias oder als die bei Paulus. Wir haben es also bei diesem VerheißungsCharakter des Gotteszeugnisses mit der formalen Struktur desselben zu tun. Dabei meinen wir nicht, daß diese »formale Struktur« »nur« formal, also nicht viel wäre. Wir können dieses Formale der Verheißung sehr wohl im Sinne der Forma verstehen, die man als Dynamis umschreiben könnte, durch die ein Geschehen zu dem wird, was es werden kann. Dieser Verheißungscharakter des Wortes und der damit implizierte Hoffnungscharakter des Glaubens an Gott sind schon wesentlich als formale Ständigkeit in allen »Wandlungen Gottes«. Aber man darf damit gewiß unsere Frage nicht als hinlänglich beantwortet empfinden. Tut man das, so wird Gott zu dem grundsätzlich »Kommenden«, und die »Kunft« soll zur zureichenden Bestimmung Gottes werden. Man kann diesem Mißverständnis im Gefolge Rudolf Bultmanns begegnen, bei dem manche Formulierungen in diese Richtung zu weisen scheinen. Aber die Charakterisierung Gottes als des »Kommenden« reicht nur formal aus. Auf der anderen Seite wird da, wo man mit dem Verheißungscharakter des Wortes Gottes unsere Frage als hinlänglich beantwortet empfindet, die formale Struktur des Glaubens, die Hoffnung ist, verabsolutiert und der Glaube als Hoffnung für den Schlüssel gehalten, der alle Türen der Theologie schließt. Auch dies ist zu wenig, so gewiß der Glaube ohne die ihm eigene Hoffnungs-Struktur nicht angemessen beschrieben ist. Der formale Charakter des Wortes, sich in allen »Wandlungen« als Verheißung zu erweisen, ist von großer Wichtigkeit für unser Reden von Gott, bleibt aber Form des Handelns Gottes. Er gibt die eine Seite der Ständigkeit im Handeln Gottes an. Er ruht auf dem Eingehen dieses Gottes in Raum und Zeit oder denn auf der Verborgenheit seines Handelns. Zweitens. Wenn wir nach der Materia fragen, die zu dieser Forma gehört, wenn wir also die Ständigkeit Gottes in seinen »Wandlungen« zu bestimmen versuchen, so haben wir das Wesentliche darüber uns bereits geklärt. Was diese »Wandlungen Gottes« angefangen von den ersten Blättern der Bibel bis Jesus von Nazareth hin ausmacht, das ist der Vorgang, in dem Gott die schuldhafte Entfremdung des Menschen zu seiner Voraussetzung macht. Oder wenn wir das etwas anders sagen: Die Ständigkeit des Handelns Gottes liegt darin, daß er mit seinem Wort oder als Jesus von Nazareth unter das »Geschick« des Menschen tritt, um dieses »Geschick« darin zu wenden. Die großen Bilder, unter denen das Neue Testament dies

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Geschehen gefaßt hat, konvergieren auf das Sich-selbst-Entäußern Gottes: Er hält seine Gottheit nicht fest, sondern gibt sie um unseretwillen daran. Der Vorgang dieser Entäußerung Gottes begleitet sein Wort oder sein Handeln durch alle »Wandlungen« hindurch. Die Begriffe, mit denen wir diese Entäußerung bezeichnet finden, wie Liebe oder Gnade, drücken das durch ihre lange Geprägtheit nur noch ungefähr aus. Was wir aus diesen Überlegungen lernen, ist dies, daß der materiale und der formale Charakter der Ständigkeit des Handelns Gottes in allen Wandlungen desselben auf das engste zusammengehören. Da Gott sich seines Gottseins in seinem Handeln an der Welt und für die Welt entäußert und als Gott mit seinem Wort oder als Jesus von Nazareth unter das »Geschick« der Welt tritt, so hat sein Handeln Verheißungscharakter. Es verweist auf die Gottheit Gottes selbst, wie sie ohne Entäußerung in unverstellter Klarheit auf die Welt wartet. Die Gottheit Gottes steht im Fluchtpunkt alles seines Handelns und aller Wandlungen dieses Handelns, als die die Schuld des Menschen löst und darin wieder sie selbst sein kann! Die Frage nach dem Kontinuum Gottes in allen »Wandlungen Gottes« führt also zu einer eschatologischen Antwort. Aber diese eschatologische Antwort hat einen sehr bestimmten Inhalt, und dieser Inhalt ist das Eingehen Gottes in welthafte Bedingtheit um der Welt willen, damit die Welt eingehen kann in die Klarheit Gottes um Gottes willen. Diese Aussage ist zugleich der strenge Verweis aus der Frage nach Gott selbst heraus wieder in sein Handeln hinein und der Verheißungsgehalt, Gottes unverstellte und unverhüllte Gottheit zu schauen. Das aber ist Gottes großer Vorbehalt von der Schöpfung an.

Der Gott des 20. Jahrhunderts51" 1. Einleitende

Überlegungen

Der Gott des 20. Jahrhunderts! Man kann sagen, das sei der Gott, der Vater Jesu Christi, von dem der I. Petrus-Brief sagt, »der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten«. Wir hätten dann unsere Frage nach Gott überführt in eine Aussage, was uns von ihm geschehen ist, und wir hätten es gemacht wie Thomas von Aquin, der meint, es sei für Gott überhaupt notwendig, ihn in seiner Gottheit durch seine effectus, seine Wirkungen an uns, definiert sein zu lassen. Aber diese Antwort wäre nur eine Antwort, die Christen einleuchtet; und das macht unsere Frage nach Gott im 20. Jahrhundert dringlich und in sich schwierig, daß wir in Westeuropa nicht mehr in einem corpus Christianum leben, daß es also einen hohen Prozentsatz von Nichtchristen unter uns gibt, für die diese Antwort nichts besagt. Aber wir können unsere Antwort noch weiter verfolgen: Wenn dieser Gott hier der ist, der uns wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung, so ist damit gesagt, daß Gott derjenige ist, der es uns in aller Hoffnungslosigkeit dieser Welt möglich macht, in einer lebendigen Hoffnung zu leben. Unser Leben kreist nicht in seinem eigenen Widersinn, es liegt nicht in der Verstrickung seines Todesloses befangen, sondern es überschreitet sich selbst auf ein neuartiges lebendiges Ziel hin, und dieses Ziel ist der Grund allen Seins — nämlich Gott! So etwa könnten wir die Aussage des I. PetrusBriefes paraphrasieren. Gott — das wäre also der, der dieses unseres Lebens letzter Grund und letztes Ziel ist! Wir hätten also danach zu fragen, wie es um das Wissen um einen solchen letzten Grund und um ein solches letztes Ziel in diesem Jahrhundert eigentlich bestellt sei.

* Vortrag, gehalten in Düsseldorf am 9. November 1964.

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Dabei fragen wir dieses unser Jahrhundert. Aber das ist keine abgeschlossene Kammer. Dieses Jahrhundert beginnt nur zahlenmäßig im Jahre 1900. Tief verbunden in einem Ereignisvollzug erhebt sich unsere Gegenwart aus den Konstellationen der Jahrhunderte vorher. Wenn man also diese letzten 60 Jahre unseres westeuropäischen deutschen Daseins ansehen will, so kann man das nicht tun, ohne den Vorgang der Reformation, in dem die Freiheit eines Christenmenschen sichtbar wurde, im Auge zu haben, ohne der Tat Descartes', in der das denkende Subjekt sich zur Grundlage der Selbst-, Welt- und Gottesvergewisserung machte, nicht zu vergessen, ohne die Aufklärung nicht aus dem Auge zu verlieren, in der sich dieses denkende Subjekt mit dem ganzen Pathos der Wahrhaftigkeit und der Realistik seiner Welt und seiner Selbst und seines Gottes bemächtigte. Wir können also mit dem 20. Jahrhundert nur meinen, daß wir uns über die zuletzt zu uns hin sichtbar gewordenen Wandlungen der Gottesvorstellungen klarwerden wollen. Denn so ist unser Thema doch wohl zunächst gemeint, daß wir uns über die Vorstellungen verständigen, die dieses 20. Jahrhundert von Gott hat. Dabei liegt es auf der Hand, daß das andere sind als die des Barock oder die des Idealismus. Mit dem Wandel der Geschichte wandeln sich auch die Gottesvorstellungen und Gottesdefinitionen. Es wandelt sich das Wissen von Gott. Aber wir müssen uns doch gleich hier die Frage vorlegen: Und wenn wir dann also von diesem Wissen von Gott sprechen, sprechen wir dann eigentlich nur von irgendwelchen Einbildungen oder »Divinationen der dichterischen Phantasie«? Reichen die sich geschichtlich wandelnden Vorstellungen von Gott nicht tiefer? Diese Wandlungen sind ja doch sehr tiefgehend, wenn wir nur an Paulus im Unterschiede zu Luther und an Luther im Unterschiede zu uns denken. Sind diese sich wandelnden Gottesvorstellungen eigentlich nur Veränderungen des menschlichen Vorstellens, Verstehens und Definierens? Das ist gewiß auch immer dabei. Aber ist das eigentlich alles? Wenn unser Vorstellen, Verstehen und Definieren alleine jene tiefen Wandlungen Gottes ausmachte, so müßten wir Feuerbach doch wohl recht geben, daß die Gottesidee eben eine menschliche Idee auf Grund seiner Weltabhängigkeit sei. Aber! Ist es nicht so, daß ζ. B. das Alte Testament viel von Wandlungen Gottes selbst zu sagen weiß? Da ist einmal die Geschichte der Bundesschlüsse Gottes, in der sich Gottes Weltanspruch wandelt. Und da ist jene tiefe Wandlung, in der Gottes fürsorgende Liebe sich so in Zorn verstellt, daß Hosea von Gott sagen kann, er sei wie ein Panther, der dem Volke am

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Wege auflauert! Oder denken wir an die ganze Geschichte mit der Sintflut, wo Gott seinen Willen mit der Welt wandelt — unverwandelbar aber bleibt in all dem Gottes- und Schicksalswandel der Mensch allein in all seiner »Bosheit von Jugend auf« (Gen. 6). Oder der Übergang vom Alten zum Neuen Testament! Oder Phil. 2! Das bedeutet aber, daß wir hinter den tiefen Wandlungen der Gottesvorstellungen mehr sehen müssen als bloße Veränderungen menschlicher »divinatorischer Phantasie«. Wir werden mit unseren Überlegungen gerade auch auf diese Frage achten müssen. Jedenfalls meinen wir unser Thema — zunächst als Arbeitshypothese — so, daß wir nicht nur die Gottesvorstellungen des 20. Jahrhunderts, sondern mit ihnen diesen Gott des 20. Jahrhunderts befragen. Dabei müssen wir nun aber, auch noch einleitend, unsere Fragen näher spezifizieren, denn welche Phänomen-Bereiche wollen wir mit unseren Überlegungen eigentlich angehen? Man könnte also z.B. das Problem anfassen, daß breite Kreise der Bevölkerung des 20. Jahrhunderts aus den Bezirken des Gottesglaubens auswandern, ja, daß diese industrialisierte Welt in ihren gesetzlich erkannten und lenkbaren Vollzügen dazu auch viel Anlaß bietet. Man könnte auch das theologische Gespräch des 20. Jahrhunderts darauf ansehen, was es eigentlich über Gottes Gottheit zu sagen hat. Wir werden das ζ. T. auch tun, aber ich meine, es sei gut, wenn wir uns in unserem Fragen noch spezieller ausrichten ließen. Wir können dies am besten damit tun, daß wir uns von einem Denkbilde leiten lassen, das für dieses 20. Jahrhundert sehr viel bedeutet hat und bedeutet und das Nietzsche diesem Jahrhundert wie ein Motto vorangestellt hat. Ich meine den »tollen Menschen« aus dem III. Buch der »fröhlichen Wissenschaft« im 125. Abschnitt. Warum holen wir dieses Stück gerade heraus? Ich meine, man kann daran recht viel sehen. Zunächst: Dieser »tolle Mensch« ist einer, der leidenschaftlich Gott sucht. Er zündet seine Laterne an am Vormittag, um suchen zu können. Sodann: Dieser »tolle Mensch« ist nicht etwa einer, der nicht an Gott glaubt. Die, welche nicht an Gott glauben, stehen da auf dem Markt herum und höhnen den »tollen Menschen« und verstehen nichts davon, was er sagt. Drittens: Dieser »tolle Mensch« kommt zu der Einsicht an dem Unverständnis der Gottlosen, daß seftie Zeit noch nicht kam. Die Menschen haben noch kein Ohr für seinen Ruf. Viertens: Sein Ruf aber ist: Wir alle — Gottsucher und Gottlose — haben Gott getötet. Das auch für ihn Ungeheuerliche dieses seines Rufes macht er deutlich.

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Sein Ruf ist also nicht etwa die gottlose, atheistische Feststellung: Es ist nichts mit Gott. Nein, er sucht ihn ja. Aber die Menschen haben ihn ermordet und damit die Erde von ihrer Sonne losgekettet. Dieses ungeheure Ereignis steht am Anfang der »höheren Geschichte«. Fünftens: Die christliche Gottesverkündigung wie die Kirchen sind »Grüfte und Grabmäler Gottes«. Sie haben ihn eingesargt, vielleicht auch mumifiziert. Aber »ihr« Gott lebt nicht. Wie immer man dies erregende Stück auch näher interpretieren mag, und ich glaube, daß Heidegger mit seiner Interpretation in den »Holzwegen« dem sehr nahekam, was Nietzsche meinte, so gibt es auch für unsere Überlegungen zwei wichtige Richtpunkte: Erstens: man wird dem, was unter uns an eminenter Bewegtheit weg vom ausgemünzten Gottesglauben und damit auch heraus aus der Kirche führt, wohl auch dem, was man so Säkularismus zu nennen pflegt, nicht mit der Einordnung »Atheismus« gerechnet. Das ist nicht so gemeint, daß jeder Atheismus Nonsens sein muß. Wenn man Gott den Gott nennt, der des ganzen Seins letzter Grund ist, dann kann es ja keinen Atheismus geben. Nein, so meine ich es nicht. Ich meine es so: Es gibt zwar auch heute Leute, welche nicht an Gott glauben. Die stehen auf dem Markt und reißen das Maul auf. Sie verstehen aber nichts von dem, was geschieht. Wir brauchen uns mit ihnen nicht zu befassen. Sie sind so spießig wie eh und je. Und das scheint mir an diesem Stück wichtig, daß Nietzsche uns darauf aufmerksam macht. Es kommt auf die »tollen Menschen« an, die »Gott suchen« und vor der von ihrer Sonne losgeketteten Erde schaudern. Zweitens: Wir müssen uns von Nietzsche fragen lassen und erwägen, ob die Kirche heute wirklich »Grüfte und Grabmäler Gottes« sind? Es läßt sich viel dafür sagen, und es ist ja auch christlicherseits und theologischerseits so gesagt worden. Damit hätten wir den Frageumkreis unserer Überlegungen bestimmt. II. Von der Repräsentation im 20. Jahrhundert Wenn wir uns besinnen, wo und bei welchen Erscheinungen wir eigentlich ansetzen wollen und können mit unseren Überlegungen, dann zeigt sich eine zunächst scheinbar rein formale Schwierigkeit. Wir können uns ja doch sehr rasch überzeugen, daß in der Dichtung wie in der Malerei, in der Philosophie wie in der Theologie so vielartige und einander sogar ausschließende Erscheinungen in diesen 60 Jahren hervorgetreten sind, daß wir eigentlich keine als repräsentativ ansprechen können.

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Das war vergleichsweise im 17. und 18. Jahrhundert keineswegs so. Wir können in den früheren Jahrhunderten sehr wohl einzelne geistige oder künstlerische Erscheinungen repräsentativ nehmen. Man kann Descartes wie Bach, man kann Kant wie Schiller und Hegel wie Marx in ihrer Repräsentanz für ihre Welt sehr deutlich bestimmen. Seit dem Zerfall der Hegel'schen Schule und mit dem Abbruch der Romantik ist das aber in zunehmendem Maße nicht mehr der Fall. Stephan George z.B. besitzt solche Repräsentanz für die ersten zwanzig Jahre unseres Jahrhunderts schon nicht mehr oder höchstens für den winzigen esoterischen Kreis der »Kosmischen Runde« in München. Von Rilke und Trakl aber kann man auch davon schon gar nicht mehr reden. Das gilt nun aber, wie man sich leicht vergegenwärtigen kann, sehr weitgehend. Wir müssen dazu nehmen, daß mit dem 20. Jahrhundert auch der eigentliche Bildungskosmos, der z.B. für die Welt Humboldts noch in faßbaren, gesellschaftlich bestimmbaren Kreisen oder in einer Bildungsschicht bestand, zerfallen ist. Dazu gehört, daß die breite Basis einer in ihren Traditionen lebenden bäuerlich-bürgerlichen Welt, die in ihrem Denken und Glauben das tragende Fundament der Bildungsschicht bildete — das auch seine eigene am Uberlieferten hängende Repräsentanz darstellt —, ebenfalls in die Auflösung geriet. Und zwar ist dieser doppelseitige Vorgang so zu beschreiben, daß am Ende des 19. und zumal im 20. Jahrhundert auf Grund der Umstellung der westlichen Welt in den Industrialisierungsprozeß hinein die sogenannte Bildung in einem rasanten Breitenwachstum die breite tragende Traditionsträgerschaft bürgerlich-bäuerlichen Daseins in sich aufzusaugen beginnt. Dieser Vorgang, der die technischen Mittel der Information und Belehrung zu seiner Voraussetzung hat, ist in seiner Bedeutung kaum zu unterschätzen. Mit dem eminenten Breitenwachstum der Bildung in die arbeitende Bevölkerung hinein — und dieser Vorgang ist nicht abgeschlossen, sondern tritt mit der Akademisierung aller Berufe in sein akutes Stadium —- ist das Zurücksinken der Repräsentanz gleichzeitig. Die Kontur des geistigen Ausdrucks repräsentiert nicht mehr ein Ganzes von Empfindung und Anschauung, von Lebensstil und Lebensgestaltung der Zeit. Nebeneinander stehen vielmehr die widersprechendsten Weisen, sich selbst und die Welt zu sehen. Aber dazu gehört noch die andere Beobachtung, daß der Kosmos des geistig religiösen Lebens, der bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder zu großen universal gedachten Konzeptionen auskristalli-

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sierte, nunmehr in zunehmendem Maße Risse und Sprünge aufweist, die sich offenbar — unter der Voraussetzung des einem naturwissenschaftlichtechnisch bestimmten Zeitalter lebensnotwendigen Positivismus — auch nicht verdecken, geschweige denn heilen lassen. Man kann sich das an dem weithin unverbundenen Nebeneinander mathematisch-naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Methodik deutlich machen. Wir dürfen gewiß nicht übersehen, daß hier in den Spitzengesprächen nicht nur schmale Brückchen, sondern auch tiefgreifende und tragende Gemeinsamkeiten gesucht und gefunden werden. Aber was trägt es aus, um nur ein Beispiel zu nennen, daß die führenden Naturwissenschaftler einen lebendigen Gottesglauben nicht ausschließen, sondern — auch für ihr Dasein als Mediziner, Mathematiker oder Physiker — wünschen, die breite Menge der — an ihren Ergebnissen und Methoden partizipierenden — sogenannten Gebildeten diesen Vorgang aber nicht nachvollziehen können, wie andererseits das Kirchenvolk nur sehr schwer oder gar nicht davon zu überzeugen ist, daß die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse von Weltentstehung, von Abstammung des Menschen etc. dem Glauben an die Schöpfung etc. keinen Abbruch tut und tun kann. Wir müssen diesen Gedanken noch nach einer Seite ausdehnen. Der Methoden-Zerfall in den Wissenschaften ist vielleicht noch nicht so tiefgreifend wie die Tatsache der technisch-zivilisatorisch angewandten Naturwissenschaft, der der geistig religiöse Kosmos mit seinen Vorstellungen von Kultur und wahren Werten gegenübersteht. In der Welt der technischzivilisatorisch angewandten Naturwissenschaft und der zugehörigen Hörigkeit des Menschen vor dieser Welt liegt der tiefste Riß: Wo ist die Repräsentanz dieser Welt? Kann sie überhaupt eine Repräsentanz besitzen? Die auf der Dokumenta wieder gezeigten sogenannten Kunstwerke aus Zahnrädern und Stahlstangen sind das wohl nicht. Mit diesen Beobachtungen wird der Stilzerfall des 20. Jahrhunderts angesprochen. Die Weisen zu bauen, sich zu kleiden, sich einzurichten und sich zu benehmen, sind in den 60 Jahren unseres Jahrhunderts in einer stetigen Auffächerung und Wandlung begriffen. Daher zeigt das Erscheinungsbild ein krasses Nebeneinander der verschiedensten Möglichkeiten. Auf der einen Seite wird mangels Gegenwartsmächtigkeit historisiert — das Stilmöbel hat nach wie vor seine große Bedeutung — und andererseits wird rein pragmatisch gehandelt oder mangels Traditionssinn darauflos modernisiert. Worauf es bei unseren Erwägungen ankommt, ist die Einsicht, daß es offenbar schwer, wenn nicht gar unmöglich ist, für unsere Frage nach dem

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Gott des 20. Jahrhunderts eine Größe zu finden, die so repräsentativ wäre, daß nicht sofort an anderen Größen das Gegenteil bewiesen werden könnte. Diese Einsicht ist ja auch nicht etwa nur ein Vexierbild, das auf Grund unserer Nähe zu dieser Zeit etwa entstünde, so daß man erwarten könnte, man werde in 100 Jahren anders urteilen. Man wird in 100 Jahren zwar sehr vieles am 20. Jahrhundert anders beurteilen, als wir es heute tun; aber diese Pluralität der Lebensstile wie der Weisen, das Geistige zu bewältigen oder dem Ästhetischen Ausdruck zu geben, dürfte auch in der Entfernung kaum zu übersehen sein, wenn auch die meisten Versuche sich als Eintagsfliegen erweisen werden. Wenn wir uns auf diese sogenannte Pluralität des wissenschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Daseins im 20. Jahrhundert zunächst rein formal als auf den Grund dafür beziehen mußten, daß wir uns außerstande sehen, an einzelnen Phänomenen wie ζ. B. am Vitalismus oder am Expressionismus unsere Frage als repräsentativ beantwortet zu erfassen, so hat diese Überlegung doch wohl auch schon inhaltliches Gewicht. Wenn wir nämlich große geschichtliche Epochen oder auch nur Episoden daraufhin ansehen, was in ihnen eigentlich das einigende Band war oder worin diese Epochen den Pol ansprachen, auf dem all die verschiedenen Magnetnadeln der Politik und des wirtschaftlichen Gebarens, der Wissenschaft und der Kunst einspielten, so bemerken wir rasch, daß als dieser Pol sich der je spezifische Gottesglaube ausweisen läßt. Ob wir an das perikleische Athen oder das karolingische Aachen, ob wir an das Ägypten Echnatons oder das Palästina Davids denken, diese großen Konzeptionen waren alle in ihrer Tiefe durch ein spezifisches religiöses Gehaltensein fundiert. Ja, sie weisen sich als Formen universaler Lebensbewältigung an ihrem Gottesglauben aus. Gott oder Aton, Apoll oder Jahwe waren es, welche in ihrer universalen Beziehbarkeit als universale Kulturkonzeption Gestalt gewannen. Diese Tatsache ist ja ganz klar an der europäischen Aufklärung oder am deutschen Idealismus zu zeigen. Wenn wir von hier aus den vielfältigen Zerfall der geistigen und kulturellen Einheit, den tiefen Riß zwischen den zivilisatorisch-technischen Höchstleistungen und den horrenden Zusammenbrüchen des eigentlich Menschlichen in diesem Jahrhundert ansehen, dann liegt es auf der Hand: Ein Pol, auf den die Magnetnadeln alle einspielten, ist nicht da! Jedenfalls ist es nicht Gott. Wir haben im 3. Reich ja noch einen Versuch erlebt, alle Lebensbelange universal zu polen. Wir haben dabei auch die Bemühungen gesehen, diese Einheit religiös zu begründen. Aber wir können auch wohl

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sagen, daß dieser Versuch, die Einheit modernen Lebens künstlich herzustellen, an der Erbärmlichkeit dessen scheiterte, was da die Rolle Gottes spielen sollte. Das zunächst formal gemeinte Bemerken der fehlenden Repräsentanz in diesem Jahrhundert hat offenbar doch schon inhaltlich etwas zu besagen für unser Thema! Aber wir müssen dieses Bemerken nun auch in einem Sachverhalt erkennen, der das Dasein der Christen in diesem Jahrhundert auszeichnet. Wir bemerken überall, wie das Dasein des Christen im Glauben unter dem Worte Gottes einerseits und sein Dasein als Kaufmann, Busfahrer, Ingenieur oder Lehrer andererseits nicht mehr bruchlos ineinander übergehen. Zwischen dem Glaubensleben und dem Weltleben des Christen klaffen überall Risse, und es wird offenbar immer schwieriger, dem Glauben im Alltagsdasein Ausdrucksgestalt zu geben. Wir müssen auch betonen, daß das nicht etwa an dem guten Willen liegt. Die Gründe liegen tiefer. Nicht umsonst ist dieses Problem zum Zentralthema einer ganzen großen kirchlichen Bewegung unserer Tage geworden: Die evangelischen Akademien haben eben die Heilung dieses Zerfalls zum Inhalt ihrer Arbeit. Was ist hier eigentlich geschehen? Auf der einen Seite wird Gott an und in dem Geschehen dieser Welt als Natur und Geschichte offenbar nicht mehr erfahren und nicht mehr gefunden. Gott wohnt scheinbar nicht mehr in dieser Welt. Auf der anderen Seite aber ist die Macht des kirchlich verkündeten Gottes, der Vater Jesu Christi, offenbar nicht weitreichend genug, um diese heute zu bestehende Welt noch zu erreichen und so dem Glauben den Ubergang in den Alltag zu gewährleisten. Das sind die beiden Seiten unseres Problems und das Ergebnis ist die mangelnde Universalität unserer Welt — in des Wortes wahrster Bedeutung — bzw. die Pluralität der Lebensstile, die sich in den vielen Bewußtseinsspaltungen unseres gegenwärtigen Daseins niederschlägt. Die beiden Seiten unseres Problems gehören zusammen, und wenn wir uns so fragen lassen, so bemerken wir, daß die letzten 40 Jahre — zumal die 20er Jahre unseres Jahrhunderts — von einer theologischen Bewegung erfüllt waren, der sogenannten dialektischen Theologie, in der einerseits alles getan wurde, um den stets in und an der Welt vorausgesetzten und erfahrenen Gott zu beseitigen. Man nannte es den Kampf gegen die natürliche Theologie, und man entzog in diesem Kampf bewußt dem Christen den Gott, der im Geschehen der Welt als Natur und Geschichte waltet. Andererseits versuchte man, alles Glauben an Gott auf das als Jesus

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Christus in die Welt getretene Wirken Gottes zu begrenzen. Man versuchte also den Gott, von dem Jesus als seinem Vater redete und den er als den Gott Israels weithin als bekannt voraussetzte, in dem Christusereignis selbst aufgehen zu lassen. Das heißt, diese dialektische Theologie wirkte genau auf den Punkt hin, an dem wir heute stehen. Es war daher aufschlußreich, daß Karl Barth die Möglichkeit einer theologischen Ethik lange Zeit verneinte, und es ist typisch, daß Friedrich Gogarten zu unserer Situation empfiehlt, der Glaube müsse sich aus der Welt, die der ratio gehöre, zurückhalten. Er habe in dieser Welt als Glaube nichts zu tun und die sogenannte Säkularisation sei die legitime Folge des Glaubens. Wir müssen also nicht nur erkennen, daß die Welt des 20. Jahrhunderts der universalen Mitte, nämlich Gottes, in ihrem Dasein entbehrt und daß der Christ daher sein Leben nicht mehr glaubend bewältigen kann, sondern daß die führende Theologie genau in diese Linie einbog und mit ihrer Totalisierung des christologischen Aspektes und der Gleichschaltung aller Glaubensbegründung auf diesen christologischen Aspekt hin den Verlust zu perfektionieren suchte. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die dialektische Theologie damit nicht nur gegen das Glaubenszeugnis der Bibel und der Reformation stand, sondern daß das Geheimnis ihres Erfolges in den 20er Jahren darin begründet lag, daß sie dem »Zeitgeist« folgte. Aber wie dem auch sei, wir erkennen zugleich, worum es eigentlich heute geht. Es geht darum, dem Christen, der auf dem Boden des biblischen Zeugnisses an Gott glauben will, eben bei seinem Glauben an Gott zu behaften. Was heißt schon Gott? Wenn es überhaupt einen Sinn haben soll, diese Vokabel zu gebrauchen, so heißt es, daß Gott sagen bedeutet, den nennen, der allen Seins und Geschehens letzter Grund und letzte Grenze ist. Es gibt keinen Sinn, und es gibt kein Geschehen — auch keine Kernspaltung und keine elektronische Rechenmaschine —, deren letzter Grund und Grenze nicht Gott wäre. Das heißt, man sagt das wohl besser umgekehrt: Das biblische und reformatorische Glaubenszeugnis geht von folgendem aus, wie Luther das 1. Gebot erklärt: Was ist ein Gott? Antwort: »Ein Gott heißt das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten. Also daß ein Gott haben nichts anders ist, denn ihm von Herzen trauen und gläuben . . . Denn die zwei gehören zuhaufe, Glaube und Gott. Worauf Du nu (sage ich) Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott«. Der Mensch fragt in seinem Leben als rationales Wesen nach Grund und Folge. Er macht sich stets deutlich,

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daß alles Sein einen letzten Grund hat, und er ahnt, daß dieser letzte Grund zugleich die Grenze des Seins umfaßt. Dieser letzte Grund aber ist Gott, und als Gott ist er mir unverfügbar überlegen. Um diesen Gott geht es zunächst als den Grund der Möglichkeit allen Seins und als seine Grenze. Gott waltet in dieser Welt als Natur und Geschichte, und das Geschehen überfällt uns als sein Tun. Der Mensch ist darin Mensch, daß er seine Welt auf diese ihre Tiefe hin ansieht, auf die die Frage nach dem letzten Grund, der letzten Grenze verweist. Und was er als den letzten Grund seines sich Verlassens anspricht, das ist sein Gott, denn Gott heißt nichts anderes als der letzte Grund des Sich-Verlassens des Menschen. Die Zumutung der Bibel an uns nun ist es, diesen Gott im Leben in dem bestimmten Gotte, dem Vater Jesu Christi, wiederzuerkennen. Und das ist die unabschließbare Aufgabe des Christen und die Geschichte seines Glaubens, diese Erkennung Gottes im Leben als diesen bestimmten Gott zu vollziehen. Das aber ist nicht leicht. Der Gott, der in der Welt als Natur und Geschichte waltet, ist der Gott der Gutes und Böses fügt und der hinter all dem Grauen dieser 60 Jahre des 20. Jahrhunderts steht als letzter Grund und als seine Grenze. Und dieser grausige Bewirker all des Elends sollte der Gott sein, dem der Vatername gebührt? Ja, das ist allerdings die Zumutung des christlichen Glaubenszeugnisses. Der Christ ist in seinem lebendigen Glauben der Ort, an dem das Widereinander von Weltgott und Heilsgott zum Austrag kommt. In all dem sinnverschlossenen Geschehen als Gottesgeschehen den Gott der Vergebung und des Heils zu glauben, ist die eminente Zumutung des biblischen Zeugnisses an den Christen. Und darin ist der Christ der in seinem Glauben Angefochtene — nicht von selbstgewählten Zweifeln, nicht von allfälligen Nöten angefochten, sondern von Gott selbst, der in dieser realen schönen und zugleich grausigen Welt waltet. Im letzten Jahr hat das Buch des anglikanischen Bischofs Robinson »Gott ist anders« auch in Deutschland die Gemüter bewegt. Es geht Robinson eben um dieses unser Problem, um den Gott in der Tiefe des Seins. Robinson meint, er solle die Transzendenz, also die Überweltlichkeit des christlichen Gottesbildes, für den Gottesschwund in unserer Welt verantwortlich machen. Daran ist auch etwas Richtiges. Zentral aber bleibt das Wagnis, Gott als die »Tiefe in unserem Leben«, als »das, was uns unbedingt angeht«, wie Robinson es im Anschluß an Paul Tillich nennt, zu ergreifen. Ich habe zwar den Eindruck, daß Robinson die beiden Seiten des

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Der Sachverhalt, von dem wir reden:

wurde früher vielfach wiedergegeben als:

Diese Lösung ist unzureichend. Luther erkennt das! Seine Lösung ist:

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Problems, wie wir es entfalteten, nicht genügend klar scheidet und daß er daher die Aufgabe und das Dasein des Christen nicht hinreichend klar erfassen kann, denn das ganze Problem ist nicht nur ein Problem der Welt, die Gott verlor, sondern ich meine, es sei zunächst einmal das Problem des Christen, der seines Glaubens Gewißheiten in seinem Leben nicht mehr anzuwenden weiß. In dem Hiatus zwischen dem Glauben und dem alltäglichen Leben des Christen bildet sich das Gesamtproblem des 20. Jahrhunderts ab. Und die Antwort darauf ist mit dem Verweis auf das Gottsein Gottes in der Welt als Natur und Geschichte zu geben, und in der Zumutung des biblischen Zeugnisses an diesem Gott im Leben den bestimmten Gott, den Vater Jesu Christi, glaubend auszutragen (siehe Schaubild). Wir müssen wohl Ernst damit zu machen versuchen, daß Gott im Leben der Grund-Glaubens-Halt der Bibel war. Er allein fügt Heil und Unheil. Dann aber ist der Christ mit der Helle der biblischen Verkündigung vor das Dunkel des waltenden Gottes gestellt. III. Pbysiognomische

Überlegungen

Wir müssen an das Beobachtete nun einige Überlegungen anfügen, die auch wieder bei ganz äußerlichen und offen zutage liegenden Sachverhalten ansetzen und die im Sinne einer Physiognomik diese äußeren Sachverhalte daraufhin ansehen, was sie für die Erfassung der Lebensbewegung und vielleicht einer Gottesbewegung in ihnen hergeben. Wenn wir nämlich die Beantwortung der Gottesfrage in der Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert ansehen, so muß man staunen, wie groß die Gegensätze sind, in denen sich die Haltung der staatlichen und bürgerlichen Öffentlichkeit während dieser 60 Jahre im Verhältnis zu den Kirchen bewegt hat. Die ersten 18 Jahre sind erfüllt von den ausgesprochen christlichen Zügen der Politik Wilhelms II. Das kaiserliche Deutschland förderte nicht nur Kirchenbau und christliche Volksbildung, sondern Seine Majestät griff persönlich in den berühmten Babel-Bibel-Streit ein und ließ unter seinem Namen jenes Bild »Völker Europas wahrt Eure heiligsten Rechte« hinausgehen. Er nahm sich insgesamt einer zwar etwas romantischen und zu Übertreibungen neigenden, aber sehr ernstgemeinten Verbindung von Thron und Altar an. Die letzten 19 Jahre sind erneut dadurch bestimmt, daß überwiegende Teile der Bevölkerung eine spezifisch als christlich

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ausgezeichnete Politik für wünschenswert erklärt haben. Die Unterschiede zwischen der Ära Kaiser Wilhelms II. und der Politik der C D U als der Regierungspartei liegen auf der Hand. Was beide Zeitspannen aber verbindet, ist die Uberzeugung, daß es eben auch politisch wesentlich sei, in bezug auf Gott und den Glauben keine indifferente Haltung einzunehmen. Zwischen diesen beiden ausgesprochen christlichen Abschnitten liegen die 15 Jahre der Weimarer Republik und die 12 Jahre Hitlers. In beiden Epochen sieht das Verhältnis sehr anders aus. In der Weimarer Zeit huldigen der Staat und die Wählerschaft dem Gedanken der staatlichen Neutralität in allen Sachen des Glaubens. Der Staat ist in all seinen Belangen soweit funktional vorgestellt, daß er zu Glaubensfragen keine Stellung beziehen kann. Es gehört dazu, daß damit der Glaube an Gott und Gott selbst privatisiert sind bzw. aus dem Pulsschlag des öffentlichen Lebens ausgeklammert sein sollen. In den Jahren des 3. Reiches ist unter der Devise des §24 des NSParteiprogramms vom Positiven Christentum einerseits alles JüdischChristliche immer stärker dem Rassenverdikt verfallen, und andererseits ist der schwärmerische Sog einer auf die unmittelbare Sprache des Blutes gebauten Religion von Boden, Geschick und Ariertum immer deutlicher geworden. An dem Nebeneinander und Gegeneinander dieser vier Haltungen in diesen 60 Jahren ist das eigentlich Auffallende, daß jeweils die überwiegende Mehrheit des Volkes mit der herrschenden Meinung offenbar einverstanden war. Man trat ohne merkliche Erschütterung aus dem Gottesglauben aus, und man trat wieder ein. Man privatisierte die Religion und man stimmte dann ihrer Offentlichkeitsgeltung zu. Nur eine konstante Entwicklung scheint sich in all dem Hin und Her abzuzeichnen, das ist die langsame Annäherung der sozialistischen Partei an das Christentum. Zwischen 1910, 1930 und 1960 sind da eminente Wandlungen sichtbar, die auch offenbar eine einheitliche Richtung zeigen. Die Beurteilung dieser Gegensätze kommt im allgemeinen zu dem Schluß, daß wir es bei diesen großen Umstellungen mit sogenannten Massenphänomenen zu tun hätten, die den einzelnen und seine religiöse Einstellung als unzureichend entschlossen zeigen. Man meint auf das einzelne Subjekt dabei herabsehen zu dürfen: Sie nennen sich alle Christen, a b e r . . . ! An dieser Einstellung mag etwas Richtiges sein. Aber die stillschweigende Voraussetzung ist, daß in Sachen des Gottesglaubens die einzelne Subjektivität allein entscheidend sei, ja, daß Gottesglaube im

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Verfolg einer rein subjektiven Entschiedenheit gesucht werden müsse. Aber ist das eigentlich wirklich so? Ehe wir dieser Frage nachgehen, müssen wir zu unseren seitherigen Beobachtungen noch etwas hinzufügen, was unser Bedenken in Richtung der gestellten Frage noch vertieft. Mit dem Abtreten der deutschen Fürsten 1918 waren die Landeskirchen nicht nur ihres Oberhauptes, sondern auch ihrer rechtlichen Geborgenheit beraubt. Sie mußten sie selbst werden als Körperschaften des öffentlichen Rechtes. Die Kirchen sind dieser neuen Lage nicht gerecht geworden. Sie haben sich — zumal seit 1945 — zu großen Offentlichkeitsmächten erhoben. Sie stellen neben den Parteien und den großen wirtschaftlichen Trusts und Verbänden eine eigene politisch-wirtschaftliche Blockbildung dar. Die Kirchen gebaren sich dabei analog zu diesen Machtfaktoren. Man wird diesen auffallenden Sachverhalt erst ganz verstehen, wenn man die innere Entwicklung dazunimmt, die schon abgeschlossen war, als die Kirche zum ersten Male politisch handelnd auftrat, nämlich gegenüber dem 3. Reich als »Bekennende Kirche«. Der eminente Ausbau der kirchlichen Position in den letzten 60 Jahren trifft nämlich zusammen mit der um 1905 liegenden Neuentdeckung der Reformation und dem damit anhebenden neuartigen Wissen um das, was Kirche sei. In diesem Denken über die Kirche ist gerade gegenüber dem 19. Jahrhundert in grundstürzender Weise bewußt geworden, daß der Einzelne mit seinem bewußten Sich-Entscheiden oder Tun nicht die Vorgabe von Kirche ist, sondern daß der Einzelne sich mit seinem Glauben und als Glaubender in der ihm vorgegebenen Kirche vorfindet, daß er ein Glied am Leibe Christi ist. Die Position Kierkegaards, der das Einzelner-Sein des Menschen vor Gott zur Grundbedingung des Christseins macht, wird in diesem Jahrhundert je länger, desto sichtbarer als unsachgemäß überholt. Im Zusammenhang des neuen Denkens von Kirche spricht sich ein neues Wissen darüber aus, daß der Einzelne und sein Glaube, daß die Subjektivität (einer »res cogitans«) nicht der Bezugspunkt oder Auftreffpunkt des Wortes Gottes und auch wohl nicht der Ansatz des Heils sei. Jenseits des Dafürhaltens und Urteilens der einzelnen vollzieht sich Kirche. Das SichSelbst-Aufgeben an diese Kirche als das Ganze, das immer mehr ist als die Summe der Teile, wird wesentlich. Nicht mehr das Gespräch zwischen Gott und der einzelnen Seele, das im berühmten stillen Kämmerlein stattfand, sondern das Gespräch zwischen Gott und der Gemeinde trägt das Gewicht, und der Einzelne partizipiert daran. Daher nimmt es ein Ende mit

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den Haustaufen und Familienabendmahlen, den verschlossenen Kirchentüren. Daher gliedert sich die Gemeinde nachhaltig in funktionalen Gruppierungen als Akademikerschaft, als Männerwerk, Frauenwerk, Betriebsgemeinde und deren ganzen Funktionäre. Wenn wir auf unsere beiden Beobachtungen einerseits von den eigentümlich gebundenen sogenannten Massenentscheidungen für oder gegen Gott im öffentlichen Leben und andererseits von dem sich neu gestaltenden Gebaren wie Wissen von Kirche zurücksehen, so bemerken wir leicht, daß diese beiden Sachverhalte offenbar konvergieren. Die wichtigsten Ereignisse des Glaubenslebens vollziehen sich offenbar in zunehmendem Maße nicht mehr als Bewegtheit des einzelnen aus der Einsamkeit seines VorGott-Seins heraus, sondern sie erheben sich aus gemeinsamen Aktionen von vielen. Der inkorporierte Mensch ist heute offenbar der Handelnde. Wie weit dies de facto schon reicht und wie wenig das einzelne Subjekt noch Träger wesentlicher Entscheidungen vor Gott ist, das kann man sich an Folgendem klarmachen: Für die evangelischen Kirchentümer des 20. Jahrhunderts ist ihre sogenannte ökumenische Bewegtheit, um das so abgekürzt zu sagen, von großer und charakterisierender Bedeutung. Es geht in diesem ökumenischen Gedanken um den körperschaftlichen Zusammenschluß der evangelischen Konfessionen. Was auf der Ebene der einzelnen Landeskirche noch die größten Schwierigkeiten macht, nämlich Lutheraner und Reformierte ζ. B. an einen Tisch zu bekommen, das wird auf der Ebene der ökumenischen Arbeit — von denselben Leuten übrigens, die zu Hause durchaus Verfechter ihrer konfessionellen Uberzeugung sind — glänzend überspielt, »brüderlich« überbrückt, dem »ökumenischen Anliegen« geöffnet, oder wie dergleichen sonst genannt wird. In dem ökumenischen Gespräche fallen ja Entscheidungen von größtem Gewicht. Es fallen dort eben auch gerade Glaubensentscheidungen oder Entscheidungen über Gott! Diese Entscheidungen werden korporativ gefällt, und der einzelne Christ ist an denselben nur als Glied seiner Landeskirche beteiligt. Der einzelne Christ erkennt diese Entscheidungen nur sehr bedingt. Ja, er ist auch nur sehr indirekt gefragt, denn das ganze ökumenische Gespräch spielt sich auf so hoher Ebene ab, daß der einzelne Christ außer sehr oberflächlichen Informationen und außer der mageren Tatsache, daß dann und wann einmal ein Inder auf seiner heimatlichen Kanzel erscheint, nichts davon erfährt und schon gar nichts davon verstehen kann. Wir können an diesen Beobachtungen sehr deutlich machen, daß sich in unserer Gegenwart eine Wende in dem Bereich vollzieht, der seit dem

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Einfluß Descartes immer stärker im Mittelpunkt des ganzen Glaubenslebens stand, nämlich im Bereich der glaubenden Subjektivität. Die Arbeit Descartes bedeutete, daß der Empfang des Gottesglaubens und der Grund der Gottesüberzeugtheit auf das urteilende Subjekt gebaut wurde, als alle Selbst- und Weltvergewisserung allein in der res cogitans angesetzt wurde. Als Gottes Wirklichkeit im Verfolg der Vergewisserung dieses denkenden Ichs erhoben wurde, da war der Grund dafür gelegt, den einzelnen und seine Entscheidungen nur noch als wesentlich für den Gottesglauben anzusetzen. Entscheidungen der Reformationszeit, von dem in Gott gebundenen Gewissen ζ. B., schienen diese Entwicklung zu bestätigen. Andere Momente wie Luthers Denken in Ständen, aus denen heraus der Mensch nur zu begreifen sei, oder Entscheidungen wie die des Augsburger Religionsfriedens — cuius regio eius religio — ließen sich als zeitgebunden abstreifen. Die geschichtliche Entwicklung ging jedenfalls auf den einzelnen als selbstverantwortlichen Träger des Glaubens zu. In dieser Entwicklung arbeiteten sich einerseits der Pietismus mit seiner These von der persönlichen Bekehrung, und andererseits die Aufklärung mit ihrem Drängen auf subjektive klare Uberzeugtheit in die Hände. Den äußersten Punkt erreichte diese Entwicklung in der Person Seren Kierkegaards, für den der einzelne die Voraussetzung des Glaubens überhaupt ist und für den Kirche keine andere Rolle spielt, als diese Entscheidungen äußerlich zu ermöglichen. Kierkegaard wurde im Zusammenhang seiner Versuche, diese seine Meinung von Selbstverständnis als Glaubensverständnis auszusagen, zum Erfinder des Existentials. Er leitete damit eine geistige Bewegung ein, die bis in unsere Tage reicht und die die existentiale Interpretation zur herrschenden Methode der Bibelauslegung machte. Von dieser Position aus hat gerade die kirchliche Zeitkritik bei dem sogenannten Phänomen der Masse immer wieder angesetzt und sich zum Anwalt der persönlichen Entscheidung qua Freiheit und der individuellen Verantwortlichkeit gemacht. Da ist auch fraglos sehr viel Wahres dran, und es ist in bestimmter Weise auch nicht zu bestreiten, daß der einzelne Mensch Träger und Verantworter seines Glaubens ist. Aber unsere Beobachtungen zeigen, daß genau in dem Bereich der Begründung des Gottesglaubens im entschiedenen Subjekt sich Veränderungen vollziehen. Dieser Sachverhalt scheint mir von Bedeutung zu sein. Seit Jahrzehnten schon weiß man auch, daß die auf Descartes ruhende Subjekt-Objekt-Theorie, genauer die Gesichtspunkte von res cogitans und res extensa, ein πρώτον ψεύδος alles neuzeitlichen Denkens enthalten.

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Aber man kann vorerst aus diesem Entweder-Oder nicht heraus — trotz aller Beteuerungen! Man hat auch in der Theologie gegen diese ObjektSubjekt-Spaltung Front gemacht. Das war die Meinung, als Rudolf Bultmann den Ansatz der Existenzphilosophie übernahm, daß man damit der Gegenständlichkeit Gottes Herr werden könnte. Diese Gegenständlichkeit Gottes oder die sogenannte theistische Behandlung Gottes hielt man — sicher mit Recht — für den zentralen Schaden im Glaubensverständnis. Die Gegenständlichkeit Gottes — das ist Gottes Objektivität, die man feststellen, über die man disputieren und sich ereifern kann, ohne daß man selbst engagiert wäre. Man übernahm die existentiale Analytik, um eben dieser Gegenständlichkeit Gottes und damit der ganzen Selbstbewahrung, des ganzen Ohne-mich-Standpunktes Herr zu werden. Man hat das auch geschafft. Aber man übersah, daß man mit der existentialen Analytik über die Objekt-Subjekt-Spaltung nicht hinauskam, sondern daß man die Spaltung nur aufgehen ließ in Je-Meinigkeit des befindlichen Daseins. Man gipfelte Descartes' Ansatz zur letzten Konsequenz. Das Ergebnis, wie es bei Herbert Braun sichtbar wird, ist entsprechend: Gott ist als Gott zum Verschwinden gebracht! Er ist überführt in eine Haltung des Subjektes, nämlich in die Mitmenschlichkeit! Gegenüber Bultmann, soweit er die Person Jesu in den akuten Entscheidungsruf aufgehen ließ, wie gegenüber Braun, soweit er Gottes Gottheit in »das Phänomen des gewissensmäßigen getrosten überzeugten Handeln-Könnens« 1 , wie er sagt, aufgehen ließ, hat man das Gegenüber Gottes, die Personalität Gottes, das An-sich-Sein Gottes und anderes mehr aufmarschieren lassen. Aber man kommt damit aus der Klammer nicht heraus, die seit Descartes da ist. Diese Klammer aber heißt, daß der denkende Mensch die einzige Stelle der Vergewisserung über Selbst, Welt und Gott ist und daß damit also das Subjekt, das das glaubt, in der Voraussetzung des Glaubens steht. Wir haben gesehen, genau an dieser Stelle vollziehen sich in den letzten Jahrzehnten Wandlungen. Erstens fallen die tatsächlichen Entscheidungen nicht mehr aus der vereinzelten Entscheidung heraus. Es wird immer deutlicher, daß diese ganze Kategorie der Entscheidung, vor die der Mensch durch Verkündigung und Unterricht gebracht werden soll, als solche bedenklich ist und eine sehr junge Erfindung darstellt. Zweitens ist 1

Herbert Braun, Gesammelte Studien zum N e u e n Testament und seiner Umwelt, Tübingen, 1962, S. 338.

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mit dem fortschreitenden Denken und Wissen von Kirche und Gemeinde immer klarer, daß der einzelne nicht als Subjekt, das so oder so sich entschließt, die Voraussetzung des Glaubens ist, sondern daß dieses Einverantwortlicher-einzelner-Sein die Folge des Glaubens ist. Die Voraussetzung des Glaubens ist Gott der Heilige Geist. Und der Heilige Geist ist immer auch der Gemeingeist von Kirche und Gemeinde: In der Tiefe ihrer geschichtlichen — das ist das angestammte Kirchentum — und in der Breite ihrer geographischen — das ist die ökumenische weite Kirche — Erstrekkung. Drittens ist hilfreich zu bemerken, daß der einzelne Psalmbeter ζ. B. gar nicht als der einzelne vor seinem Gott betend da ist, sondern daß er sich mit seinem Schicksal und mit seinem Glauben auf den Gerechten vor Gott, auf den Armen und Elenden, auf den von Gott Getrennten transzendiert. Für diese typischen transsubjektiven Seinsweisen vor Gott halfen ihm die vielen gottesdienstlichen Exempla. Indem der einzelne sein subjektives Sich-zu-Gott-Verhalten in dieser Weise »typisch« werden läßt, also auf die großen Ausdrucksgestalten des »Gerechten« etc. überschreitet, ist er nun nicht etwa weg! Das zeigen ja die Psalmen gerade, daß die Konkretion des einzelnen ganz da ist, aber sie ist als eine von diesem Gott »verstandene« da! Und darauf kommt es an. Wenn wir das in diesem zweiten Gedankengang Gesagte bedenken, so bemerken wir, es geht um die Befreiung Gottes aus dem Bann der subjektiven Voraussetzung. Oder angesichts der fürchterlichen Nöte und Katarakte des 20. Jahrhunderts kann man vielleicht auch sagen: In ihnen hat sich Gott aus dem Bann der subjektiven Voraussetzungen herausgerissen. An den persönlichen Schicksalen zerbrach der in des einzelnen Entscheidung verstrickte Gott. Ich meine, das sei am klarsten im Aufbruch der sogenannten Bekennenden Kirche. Gegenüber dem zunächst gar nicht erfaßbaren Angriff des Nationalsozialismus geschah ein spontaner Rückgriff auf das Lehrbekenntnis der Reformation. Und wenn viele auch meinen mochten, das subjektive Sich-jetzt-Bekennen sei das Wesentliche, so zeigen die Dokumente dieser Zeit sehr klar, daß dieses Sich-jetzt-Bekennen die Folge des Geworfenseins auf das Bekenntnis der Kirche war. IV.

Das »Jahrhundert

ohne

Gott*

Ein dritter Sachverhalt, auf den man oft das Hauptgewicht gelegt hat, muß uns beschäftigen. Das ist der Sachverhalt, der dazu führte, daß man die letzten Jahrzehnte das »Jahrhundert ohne Gott« nannte, daß man von dem

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»Verlust der Mitte« sprach oder daß man sich fragte: »Und Gott schweigt?« In diesen 60 Jahren des 20. Jahrhunderts tritt nach seiner Vorbereitung im 18. und 19.Jahrhundert ein Gottesschwund zutage, der so an anderen Zeiten nicht zu beobachten war. Die Beweggründe und Anlässe zu diesem Geschehen sind uneinheitlich. Man pflegt das ganze Phänomen als Säkularisation zu kennzeichnen. Aber mit solch einem reinen Formalbegriff ist wenig gesagt. Wir können wohl zwei Hauptgruppen in diesem Gottesschwund des 20. Jahrhunderts nach ihren verschiedenartigen Gründen und Intentionen unterscheiden. Diese beiden Richtungen überschneiden sich oder berühren sich vielfältig, aber man kann gleichwohl ihre Unterschiedlichkeit nicht übersehen. Die breiteste Schicht von Gottesnegation oder von einfachem Ausfall Gottes ist in der Zone des Geschehens gegeben, das in seiner naturwissenschaftlichen Beschreibung durchforscht, nach Grund und Folge erkannt ist und für das daraufhin die technische Bewältigung bereitstand. Diese so erforschte und erkannte Zone des Weltlebens ist sehr breit, und sie verbreitert sich täglich. Dazu gehört der Mensch selbst in seinem psycho-physischen Ergehen. Dazu gehört aber auch zu großen Teilen das menschliche Zusammenleben. Dazu gehören die ganzen pflanzlichen und tierischen, die geologischen und meteorologischen Sachverhalte, die unser Leben bedingen und erhalten. Dazu gehört das kosmische Geschehen bis ins Atommodell auf der einen und bis zum Spiralnebel auf der anderen Seite. Der Mensch durchschaut und beherrscht diese ganzen Sachverhalte. In dieser ganzen breiten Zone herrscht streng bestimmte Kausalfolge — und da kommt kein Gott mehr dazwischen. Gott hat in einem Geschehen, dessen Ablauf als so geschehend und als notwendig so geschehend erkannt und erwiesen ist, nichts mehr zu suchen. Er weicht aus in die vorerst unzugänglichen Bereiche — wie Geburt und Tod. Gott rückt an den Rand des Lebens und an den Rand der Welt. Was ist das eigentlich für ein Gott, der da langsam aber sicher im fernen Weltall verschwindet? Das ist ein Gott, der offenbar alles unbekannte und darum unheimliche Geschehen erklären sollte. Dieser Gott war im Grollen des Donners, und er führte den Blitz als Waffe. Dieser Gott, so sagt man, tauchte überall auf, wo der Mensch nicht mehr weiterwußte und sich erschrocken in das Lebens-und-Welt-Geheimnis »Gott« flüchtete. Wenn das so mit diesem Gott war, so leuchtet es ein, daß er zergeht wie Morgennebel, sobald man weiß, woher der Blitz kommt und was den Donner grollen läßt. Dieser Gottesschwund ist ganz unaufhaltsam.

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Aber man muß zwei Dinge dazu sagen: Erstens gibt es die ganz und gar läppische Gottesauffassung als Kennwort für unbekannte und unheimliche Natur- und Geschichtsabläufe erst seit 200 Jahren. Mit der Aufklärung hat man die biblischen und religionsgeschichtlichen Materialien so gedeutet, als seien die Götter eben als Ausdruck primitiven Weltstaunens entstanden. Mit dieser Aufklärung hat auch die christliche Gemeinde es gelernt, Gott in diesem Sinn als Erklärung für bislang unerkennbare Sachverhalte anzunehmen. Zweitens ist es erwiesen, daß diese primitiven Ansichten über die Entstehung der Götter falsch sind, und man kann sagen, daß auch der Gott des biblischen Zeugnisses mit Donner und Blitz, mit Saat und Ernte, mit Regen und Sonnenschein zwar sehr viel zu tun hat, aber nicht darum, weil diese Erscheinungen unbegriffen wären! Man hat damals für viele dieser Vorgänge genauso einleuchtende Erklärungen gehabt wie heute (vgl. Hiob 28), man hat aber trotzdem Gott mit dem ganzen Geschehen in Natur und Geschichte eng verbunden, aber nicht weil oder insofern sie unverstanden waren, sondern weil Gott, der Grund allen Seins, in allem Geschehen wirkt, sei es im Wachsen der Blumenschönheit oder im Verwelken des Grases, sei es im Zufahren des Blitzes oder Rauschen des Ernteregens. David hat den Grund seines Kampfes gegen Jerusalem genau gewußt. Er hat diesen Kampf genau berechnet, und er hat richtig gerechnet und daher gesiegt. Aber gleichwohl hat er Gott diesen Sieg zugeschrieben und ihm gedankt. Wir können also gegenüber diesem Gottesschwund auf Grund der fortschreitenden Erklärung der Welt als Naturgeschichte sagen: Daß das so ist, ist eine Folge der theologischen Fehlleistung der christlichen Kirchen in den letzten 200 Jahren. Die Kirche hat sich auf Gott als Garanten des wunderhaft Unverstandenen festlegen lassen, und in eiserner Konsequenz erscheint jetzt die Quittung. Mit dem Glauben an Gott, der der letzte Sinnund Seins-Grund allen Geschehens — des verstandenen wie des unverstandenen — ist, hat das allerdings nichts zu tun. Aber es ist erstaunlich, mit welcher Zähigkeit gerade solche Märchen festsitzen! Es ist auch erstaunlich, wie wenig dagegen eigentlich geschieht. Erziehen wir unsere Kinder eigentlich dazu, Gott im Alltäglich-Vertrau ten zu verehren? Da allein geht doch der Weg: Der im Vertrauten und Durchschauten verehrte Gott braucht neuen Erkenntnissen der Naturwissenschaft nicht auszuweichen. Oder ist Gott unseren Kindern zunächst doch ein etwas größerer Weihnachtsmann? Wie weit spielt die Einsicht, daß sehr viel daran hängt, Gottes Wirken im verstandenen Geschehen zu befestigen und Gott nicht auf das Wunder oder

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das Wunderbare abzuschieben, in der Didaktik des Religionsunterrichtes eine Rolle? Aber wie dem auch sei — wir sehen sehr klar, daß in dem Gottesschwund auf Grund der verstandenen Welt eine Fehlleistung der kirchlichen Verkündigung auf uns zukommt. Nicht die Bosheit der Welt oder die Weltlichkeit der Moderne hat hier die Schuld, sondern wir mit unserer Verkündigung! Die zweite Schicht von Gottesnegation und Gottesschwund in unserer Gegenwart ist unterschwellig wohl noch verbreiteter als die zuerst genannte. Aber sie tritt nicht so an die Öffentlichkeit. Es handelt sich hier um die Feststellung, daß der liebende Gott der Frohen Botschaft mit den Zusammenbrüchen unseres Jahrhunderts nicht fertig wird. Er ist so ohnmächtig offenbar, daß die Millionen Morde in deutschen KZ's, die Millionen Morde der russischen Sowjets und all das unsagbare Meer von düsterem Leid geschehen konnten. Der »ewig reiche Gott« erweist sich in all dem Elend unsagbar ärmlich. Er, der als allmächtig Gepriesene und Gütige, kann das Gute offenbar nicht zur Durchsetzung bringen in der Welt. Das ist der tiefste und zugleich oft geheimste Gottesschwund in unserer Welt. Die Tatsache dieses Denkens durchzieht Dichtung wie Malerei, Philosophie wie Propaganda dieses Jahrhunderts. Sie hat ihren bewegendsten Niederschlag in dem Werk des todgeweihten Wolfgang Borchert gefunden. Der alte Mann, »an den keiner mehr glaubt« 2 , das ist Gott in »Draußen vor der Tür«. Den bitter wahren Fragen, die Borchert ihm aus seinem Ergehen entgegenschleudert, kann dieser Gott nur weinerlich und hilflos gegenüberstehen. Ja, sagt Borchert, »aber Gott hat eine Entschuldigung... es gibt ihn nicht!« 3 . Was ist hier eigentlich geschehen? Was ist das eigentlich für ein Gott, der hier ad absurdum geführt wird? Der Vorgang ist doch offenbar der: Die Kirche hat ihre Botschaft von der Liebe Gottes, die das Verlorene sucht, ausgerichtet. Mit dieser Botschaft ist gemeint, daß Gott den Sünder, den Menschen, der sich von ihm, seinem letzten Grund, wandte, heimholt, daß er ihm diese Wendung aus der Hand Gottes heraus nicht vorrechnet, sondern vergibt. In dieser Vergebung spricht sich die Liebe Gottes aus und in ihr ist das ewige Heil des Menschen begründet. Diese Liebe Gottes ist auf 2

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Wolfgang Borchert, Draußen vor der Tür. In: Ders., Das Gesamtwerk, Hamburg, 1949, S. 104. Ebd. S. 170.

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diesen Gott als den Schöpfer der Welt übertragen. Das ist so im Alten Testament wie im Neuen Testament gemacht, und dieser Schluß auf den Schöpfer ist dem Glauben auch unvermeidbar, da Gott seines Daseins letzter Grund und Grenze ist. Im Zusammenhang mit der Aufklärung und ihrem Optimismus sehen wir nun, wie von der Liebe des Heils Gottes auf den Gott der Vorsehung weitergeschlossen wird, wie also von Gott dem Vater Jesu Christi und von seiner vergebenden Liebe das Weltgeschehen kurzschlüssig als Liebesgeschehen und große Gottesharmonie gefeiert wird. Das große Erdbeben von Lissabon rüttelte an den Verstrickungen dieses Kurzschlusses, vermochte aber die Kontakte nicht zu sprengen. Unabsehbar, aus kindertümlichen Redensarten und Gebeten immer wieder genährt, pflanzte sich dieses unmöglich naive Gerede vom »lieben Gott« bis ins 20. Jahrhundert fort. Und nun kommt es zum Platzen. Gott entreißt sich in den grausigen Schicksalen dieser Jahrzehnte endgültig den Verstrickungen in diese spielerischen Blasphemien. Der Schluß von der Liebe Gottes, die dem Sünder die Vergebung bereithält, auf das Welthandeln Gottes, als müßte das auch als lauter Lieben erscheinen, ist ein unmöglicher Kurzschluß. Wer mit der Liebe des Heilswillens Gottes, des Vaters Jesu Christi, das Welthandeln des Deus in vita messen will, der erleidet den Schiffbruch, den wir im Werke Wolfgang Borcherts oder Bert Brechts oder vieler Millionen unter uns vor Augen haben! Wie man Gottes Liebe nicht aus der Welt deduzieren kann, so kann man das Welthandeln Gottes nicht aus der väterlichen Güte seines Vergebungswortes heraus verstehen wollen. Hart stehen sie gegeneinander, der Gott dieser Welt und der Gott in Christo: Der Christ aber ist der Ort der Auseinandersetzung. Das macht die eminente Spannung im Christendasein aus. Darin liegt die unglaubliche Lebendigkeit christlichen Weltdaseins und seine Freude. Aber wie verhält es sich mit dem sich unter uns breitmachenden Gottesschwund in seiner zweiten Gestalt? Auch er ist die Folge einer theologischen und kirchlichen Fehlleistung. Es ist ja einfach nicht wahr, daß das christlich wäre, das Leid aus der Welt herauszudisputieren. Und wenn es nicht boshaft ist, so ist es einfach dumm, das heute noch anzunehmen.

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V. Der undefinierbare

Gott

Wenn also auch weite Bereiche unseres öffentlichen und privaten Lebens von Gott entblößt zu sein scheinen, so haben wir gleichwohl zu bemerken, wie aus dem Vakuum, das früher Gott erfüllte, der kalte Hauch einer tiefen Beunruhigung weht. Der Sinn des Lebens wird nicht mehr bei Namen genannt. Aber die Frage nach dem Sinn geistert allgegenwärtig herum. Und die tiefliegende Angst, die den modernen Menschen umkreist und erfaßt, rührt vielfach von dem Sog des Vakuums her, dessen Leersein offenbar nach Ausfüllung verlangt. Des Geschehens zerfallende Aspekte lassen sich mit den griffbereiten Kennzeichnungen theologischer Gotteslehren und frommer Uberlieferungen offenbar nicht mehr zusammenschließen, aber die Angewiesenheit des Menschen auf des ganzen Sinn, Grund und Grenzen blieb. Da erzählt Rilke seine »Geschichten vom lieben Gott«, in denen Gott die Schöpfung seiner Hände, den Menschen, nicht kennt, und in denen Gott nun gleichsam unbewußt dem menschlichen Treiben nahe und doch fern sein muß. Diese Geschichten erzählen vom Leben und vom Sterben, von Güte und von Schuld — und Gott? Er ist irgendwo darin. In diesen Geschichten sind Menschen, die ihm nahe sind, und sie wissen es nicht. Aber sie sind darin klar und ruhig heiter. Gott aber ist aufgegangen in ihr Schicksal. Er ist wohl nicht dieses Schicksal selbst, denn er kann — wie in der »Geschichte, dem Dunkel erzählt« — aus dem Schicksal erwartet werden. Ja, es ist wohl so, daß dieser Gott, wo man bewußt nach ihm greifen will, sich zurückzieht, und man erfaßt ein Stück Menschengeschichte mit Glück und Leid und mit Schuld. Der Gott dieser »Geschichten vom lieben Gott« ist wohl gar nicht eigentlich ein »Wer«. Aber er ist der Glanz in den Augen dieser Menschen. Er ist der Sonnenschein auf den Bergen. Er ist das Vermögen in der Güte, und er ist das Glück in der Treue. Dieser Gott ist weit hinausgerückt aus der Bewußtheit Helle. Er ist der definitorischen Kraft ausgewichen. Er ist zurückgenommen in das Geschehen, wo es Gestalt gewinnt, und die Kinder sind es, die ihn am ehesten erkennen. Oder, da schreibt Samuel Beckett sein »Warten auf Godot«. Die beiden Landstreicher, Menschen in des Lebens mühseligem Einerlei, die auf den Tod zugehen und eigentlich keinen Sinn in ihrem Dasein wissen. Der eine denkt darum auch immer wieder daran, sich aufzuhängen. Warum eigentlich nicht? Aber er hängt sich nicht auf, denn sie warten auf »Wen«.

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Wer das eigentlich ist, das wissen sie nicht. Aber er wird kommen. Seine Boten, die des Abends kommen, sagen, er werde bestimmt kommen. Und so warten sie auf sein Kommen. Was erwarten sie eigentlich davon? Oh, nichts Bestimmtes! Sie kennen den ja nicht, auf den sie warten. Aber er kommt bestimmt. Beckett macht an den Gegenfiguren deutlich, wie diese beiden Wartenden von sich selbst eigentlich losgekommen sind, wie sie in ihrer hilflosen, einfältigen Menschlichkeit eigentlich das Leben, seine Schrecken und seine Nöte bestehen, weil sie warten. Die Leere des Wartens auf den unbekannten Godot ist die Fülle ihres Daseins und sein Halt. Da ist kein bestimmter Inhalt und kein sachbeziehbarer Vorteil, den sie erwarten könnten. Da ist nur das Warten selbst auf den unbekannten Godot. Wie diese beiden Dichtungen zeigen, schwingt sich das Wissen um Gott über alle Faßlichkeiten und Inhaltlichkeiten und Definiertheiten hinaus in den weiten Raum des ungesicherten und nicht zu sichernden, unbegründeten und nicht begründbaren, namenlosen letzten Grundes oder Haltes oder unnennbaren Etwas, das das Leben und Geschehen füllt oder eben noch tangiert, aber gleichwohl hält. In diese Richtung weisen auch die Versuche, das Wissen von Gott in neue Bildungen oder Gruppierungen zu fassen. Ich denke an Wilhelm Hauer und seine Glaubensbewegung oder an Gerhard Szczesny und seine Humanistische Union. Ob dabei Gott mehr in dem Geschick des Menschen und Glaube in der Übernahme solchen Geschicks gesehen wird, wie bei Hauer, oder ob Gott mehr in den ethischen Aspekt und seine Bewältigung hineingenommen wird, wie bei Szczesny, das bleibt sich gleich. Es gehört offenbar zu diesem Jahrhundert, die Grenzen der Definiertheit Gottes zu lösen und ihn aus dem Leben, aus seinem Dunkel wie seinem Licht zu empfangen oder zu erwarten. Wir sollten uns hierzu noch des Lebenswerkes von Gottfried Benn erinnern. Dem Pastorensohn zerfällt der heimatliche Glaube im Medizinstudium rasch. In der Lückenlosigkeit der anatomischen Präparation finden Seele und Glaube, Liebe und Gott keinen Platz mehr. Benn nimmt den Heroismus der maskenlosen Übertragung des biologisch-medizinischen Ergebnisses auf das psychisch-personhafte Erleben auf sich. Im Gange seines dichterischen Werkes werden nun zwei nebeneinander hergehende Gedanken wichtig. Einmal sehen wir auch bei ihm, was wir bisher beschrieben, nämlich das Wahrnehmen der Stelle, an der früher Gott stand. Benn dichtet von »dem Dunklen« 4 , wo das Alter junge Sehnsuchtstrauer löscht, 4

Gottfried Benn, Gesammelte Gedichte, Wiesbaden, Zürich, 1956, S.268f.

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so daß nun »die Fluren leer und ausgeloht« daliegen: »Die Leere ist wohl auch von jenen Gaben, in denen sich der Dunkle offenbart«. Und wo die »Einsamkeiten größer werden« und »die schwarze Erde« herandämmert, muß man sagen: »Hier spricht der Dunkle, dem wir nie begegnen, erst hebt er uns, indem er uns verführt, doch ob es Träume sind, ob Fluch ob Segen, das läßt er alles menschlich unberührt«. Vor der unendlichen Wiederholung, die das Leben darstellt und in der es nur in mythischen Kategorien sachgemäß wiederzugeben ist, ist zu sagen: »und nur der Dunkle harrt auf seiner Stelle«. Benn hat noch andere Chiffren für den Dunklen. Er steht mit diesen Dichtungen in der Linie, den letzten Sinngrund des Daseins aufzulösen in das Sein selbst und in sein Geschehen, in sein Geschenk wie in seine Leere. Daneben steht nun aber noch eine andere Richtung: Benn nimmt den Gottesbegriff auf, um die dichterische Form damit auszuzeichnen: »Die Form ist Gott!« 5 Benn faßt in der Bedeutung des Wortes, das er in biblischen Anklängen und Reminiszenzen als das erste und letzte preist, und damit in dem formalen Charakter, den Welt als Dichtung gewinnen kann, die letzte Bewußtheit des Daseins als Halt nicht nur, sondern auch den letzten Sinn von Geschehen zusammen. Hier wird Benn die »Erkenntnis von der Möglichkeit einer neuen Ritualität« deutlich, und das dem Sterben gehörige Leben gerät als Form ins »Auferstehen«. Das künstlerische Schaffen tritt in die Nachfolge der Religion ein. Damit, meint Benn, komme er zumal dem nach, daß aus der zivilisatorischen Endepoche der Menschheit, wie er sagt, alle theistischen Motive verschwinden müßten. Wir haben also in diesen Gedanken zur Dichtung bzw. in dieser Verabsolutierung der dichterischen Form einen Spezialfall des Abbaus der theistischen Motive vor uns, der deswegen interessiert, weil die strenge Formalisierung dieses Vorgehens für alle ähnlichen Versuche kennzeichnend ist. Wenn wir diese Versuche, deren Zahl unendlich ist, ansehen, dem sich allen Definitionen entziehenden Gott nachzustoßen, so bemerken wir, daß in der Theologie dieses Jahrhunderts eine Linie deutlich sichtbar ist, die diesen Vorgang früh erkennt und fruchtbar zu machen sucht. Das ist die Theologie Paul Tillichs. In harter Antithese zur dialektischen Theologie, die Gott in den »unendlichen qualitativen Abstand zur Welt« bringt und nun nur noch christologisch definiert sein lassen kann, versucht Tillich, in der Deutung der proletarischen Situation Gott als den sichtbar zu machen, 5

Gottfried Benn, Doppelleben, Wiesbaden, 1955, S. 201.

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der als des Daseins Tiefe uns »letztlich angeht«. Tillich versuchte, Gott jenseits aller theologischen Definitionen als das »Unbedingte« zu erfassen und diesen Unbedingten dem Leben selbst nahewerden zu lassen. Wir beziehen uns damit auf Robinsons Buch und seine Anknüpfung an Tillich. Wir sehen diese Versuche, Gott innerhalb der Theologie ohne theistische Motive zu erfassen, von den Beobachtungen hier noch in einem besonderen Lichte. Ich meine, wenn man von dem Gott des 20. Jahrhunderts handelt, dann müßte man diesen Sachverhalt so wiedergeben, daß dieser Gott des 20. Jahrhunderts sich je länger, desto entschiedender als der aufdrängt, der gegenüber allen Definiertheiten der positiven Religionen als des Lebens letzter Inbegriff wirksam und lebendig ist. Die Versuche, den Gottesbegriff dogmatisch steril herauszuarbeiten, sind gescheitert. Sie sind an der Wirklichkeit Gottes gescheitert. Diese Wirklichkeit präsentiert uns Gott in seiner Tiefe, Grund wie Abgrund, Segen wie Fluch, Leben wie Tod, dem kein menschliches Begreifen folgen kann. Aber nun kommt es eben darauf an, darin würde ich Tillich und Robinson zustimmen, ob die Kirche diesen Weg Gottes jenseits der dogmatischen Uberschaubarkeit mitgeht. In den Bereichen dieser ungesicherten Ausgesetztheit des Menschen vor Gott, dem Unüberschaubaren, vollzieht sich heute das lebendige Angerührtsein von Gott. Es kommt darauf an, ob die Gemeinde diesen Weg Gottes in die Wüsten der Schicksale des 20. Jahrhunderts' hinein mitgeht. Ich meine nicht, daß das hieße, daß wir Jesus von Nazareth und sein Wort verlassen sollten oder müßten. Ich meine nicht, und darin unterscheide ich mich von Tillich und Robinson, daß der Vater Jesu Christi oder daß Gottes vergebende Liebe undefinierbar geworden wäre oder werden müßte. Aber ich meine allerdings, daß der Christ sich nicht nur der Welt, sondern daß er sich dem Gott in dieser Welt des 20. Jahrhunderts auszusetzen habe. Es ist ein anderes, sich mit dem christlichen Glauben der modernen Welt als einer Kreation des Menschen zuzuwenden, um ihr die Liebe anzubieten, als mit dem christlichen Glauben in dieser Welt Gott zu begegnen — Gott, der sein göttliches Werk als Weltkrieg und als Kernspaltung, als Traditionsabbruch und als Bildungschaos — oder, meinetwegen, als Nihilismus treibt. Es geht in dem Dasein des Christen um den Zusammenprall dieser beiden Götter, wie Luther das immer wieder gekennzeichnet hat. Man kann diese beiden Götter nicht einfach ineinander überführen. Nach beiden Seiten ist das in diesem Jahrhundert versucht, und beide Versuche sind gescheitert. Man kann das Widereinander dieser beiden Gottes-Wirklich-

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keiten nur austragen. U n d das heißt Christsein in der Welt und für die Welt. U n d wenn wir diesen Weg betreten wollen, so werden wir als Theologen dankbar bei denen in die Schule zu gehen haben, die diesen Undefinierten Gott länger kennen als wir: Bei Benn und Beckett, bei Bert Brecht und Dürrenmatt — sie wissen viel von ihm.

VI. Ausleitende

Überlegungen

Wir haben in unseren Beobachtungen zu dem Gott des 20. Jahrhunderts sehr vielfältig erregende Tatbestände aufgenommen, die wir ausleitend zusammenfassen müssen. In den Mittelpunkt unserer Gedanken trat immer wieder die Einsicht vom Wirken Gottes in aller Welt als N a t u r und Geschichte. Darum, so scheint es, geht es in unserer Gegenwart, daß wir an diesem Gotte, dem letzten Grund und Abgrund alles Geschehens, Neues zu lernen haben! Wir können und müssen dies auch wohl so sagen: Gott entreißt sich in seiner unzugänglichen Majestät der kirchlichen Definiertheit. Er legt sich in den Zusammenbrüchen dieses Jahrhunderts quer zu allen frommen Bestimmtheiten, und es ist die Frage, ob wir ihm in diese Wüsten folgen wollen oder ob wir lieber bei den kirchlichen Fleischtöpfen sitzen bleiben. Dabei ist es deutlich geworden: Es geht nicht darum, die christliche Gottesverkündigung zu ersetzen oder aufzulösen! Allerdings geht es um die Ausräumung vieler Vorurteile aus kirchlichen Fehlleistungen der letzten 200 Jahre. Aber das eigentliche Problem liegt tiefer! Es geht darum, ob sich Christen finden, die begreifen, daß sie mit ihrem Christenglauben das grausige Gottesbild dieses 20. Jahrhunderts auf sich zu nehmen, daß sie diesen fernen Wüstendämon als den bestimmten Gott ihres Heils auszutragen haben — und sei es vierzig Jahre hindurch! Wir Christen wissen eben auch nicht fertig zu werden mit all den grausigen Zugriffen, aber wir trauen uns und können uns trauen, Gott dazu zu sagen. 27000 junge Ungarn an einem Tag von den Russen erschossen! Gott der Handelnde in aller Welt, Gelobet sei sein Name? Geht das ohne Blasphemie? Ja, das ist die Meinung, daß Christen an Gottes Gottheit, wenn auch nicht in lautem Jubel, so doch in fester Fassung festhalten können. U n d das scheint mir schon viel zu sein. Das also ist das eine: Dieses Festbleiben in der Anerkenntnis Gottes als des Handelnden in aller Welt, als des letzten Grundes und Zieles in allem

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Geschehen. Dies, meine ich, sei nur noch Christen möglich, die die Liebe Gottes erfuhren, deren Herz voll Gotteslob ist aus dem Widerfahrnis des Heils. Ihr Mut ist hoch genug, um Gott in seine Wüsten zu folgen, um den Glutodem seiner Verborgenheit zu ertragen. Aber nun ist da noch die zweite Beobachtung, die uns zu denken geben muß. Das ist diese Tatsache, daß offenbar im Zentrum des Glaubenslebens, wo es um die zureichende Begründetheit des Glaubens geht, Verschiebungen sichtbar werden: Wenn in den letzten 300 Jahren in immer zunehmendem Maße der einzelne und seine Entscheidung die Mitte und den zureichenden Grund des Glaubens abgab, so ist das heute offenbar so nicht mehr der Fall. Der einzelne wird aufgehoben in überpersonale Gehaltenheiten wie Gemeinde oder Kirche. Ja, er ist offenbar nur in seiner Gliedschaft integrierbar. Er strebt daher danach, sich inkorporieren zu lassen, und wo das ausbleibt, geht er weiter! Sein ganzes Einzelnersein aber gewinnt er aus dieser Inkorporiertheit! Er will schon noch Einzelner sein — gerade! Aber nicht als Grund seiner Entscheidungen, sondern als ihre Folge. In dieser Wende, so scheint es, liegt das tertium vor uns zu jener Subjekt-Objekt-Spaltung, in der die Welt sich je länger, desto tiefer verstrickte. In dieser Wende geht die Problematik zwischen gegenständlicher oder existentieller Interpretation ihrem Ende entgegen — vielmehr sie ist längst überholt! Die eigentlich theologische Arbeit hat an den Fragen anzusetzen, die diesen Umformungsvorgang umstehen. Wir sehen damit, so meine ich, wie der Gott des 20. Jahrhunderts und seine glaubende Erfassung in diesen beiden tiefgreifenden Richtungen in Bewegung geraten ist. Dazu müssen wir aber nun noch ein Moment abschließend ins Auge fassen, nämlich das missionierende Auftreten der asiatischen Religionen in Westeuropa und Amerika. Indem diese Religionen hier auftauchen, stellt sich die Gottesfrage in ganz neuartiger Dringlichkeit. Es ist eine ganz eigene Überlegung, wohin uns diese Tatsache drängt. Aber es liegt auf der Hand, daß die Wahrnehmung des Undefinierten »Gottes im Leben« durch diese Religionen neuartige Züge bekommt. Gott hat in dieser oder jener Weise Gestalt angenommen.

Ist Gott angesichts der Leiden in der Welt zu rechtfertigen?"' Professor Dr. Ulrich Mann zum 70. Geburtstag

Einleitung Unser Thema charakterisiert sehr plastisch die Frage, die hinter den Fragen der Theodizee steht. Diese Fragestellung hat eine Voraussetzung, daß nämlich Gott und Leid oder Gott und das Böse oder das Übel nicht zusammengehören. Gott, so ist diese Voraussetzung, wirkt das Gute. Davon geht z.B. Piaton im Timaios aus. Er hat damit die europäische Geistesgeschichte tief geprägt. Er lehrt, daß der Schöpfer gut ist und daß er alles ihm möglichst ähnlich schaffe1. Daher schafft er kugelförmige Körper, weil nur sie eine vollkommene Gestalt haben2. Piaton hat diese Meinung schon in der Politeia vertreten. Er läßt dort seinen Sokrates sagen, das Gute könne nur Ursache von Gutem sein und man dürfe daher das Wort des Aischylos, daß Gott die Menschen schuldig werden läßt, wenn er ein Haus zugrunde richten will3, vor jungen Leuten nicht hören lassen. Gott und das Gute gehören zusammen. Das ist eine offenbar sehr allgemeine Annahme, die man auch gar nicht hinterfragt. Das sehen wir ja auch noch von Luther im Großen Katechismus zum Ersten Gebot angenommen, wo es heißt: »Was ist ein Gott? Antwort: Ein Gott heißt das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten« 4 . Luther weiß, wie wir sehen werden, auch ganz anders von Gott zu reden. Als pädagogischen Einstieg aber hält er diese Tradition für geeignet. * Vortrag, gehalten anläßlich des Akademischen Festaktes zum 70. Geburtstag Professor Dr. Ulrich Manns in Saarbrücken am 2. Dezember 1985. 1

Vgl. Piatonis Opera, ed. J. Burnet, Bd. IV, Oxford 1972, 29 e, 30 a.

2

Ebd., 34 a/b.

3

Ebd., 380 a.

4

Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen 1930, S.560, 9 ff.

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Der Mann freilich, dem wir den Begriff Theodizee verdanken — nämlich Leibniz —, war einer der wenigen, der dieses »Dogma« umging. Leibniz sah sehr klar, daß jeder Gottesglaube, der nur diesem Ansatz von der Einheit von Gott und Güte folge, keinen Bestand in der Welt haben könne, da er vor dem Leben versage. In seinen Essais de Theodicee, die er im Oktober 1710 als eines der wenigen Werke, die er drucken ließ, veröffentlichte, steht als Untertitel: »sur la bonte de Dieu, la liberte de l'homme et l'origine du mal«. Dieser Ursprung des Bösen ist ja das eigentliche Problem. Leibniz meint, daß man die Lösung dieses Problems nur als logische Operation vorführen könne. Die Existenz des Bösen folgt nämlich aus der Allmacht Gottes. Zur Allmacht Gottes gehört es logischerweise, daß Gott den Widerspruch zu seinen Ordnungen naturhafter wie sittlicher Art denken kann und also denkt. Insofern Gott diesen Widerspruch denkt, ist er in endlicher Form auch Wirklichkeit. Damit entsteht aus Gott in aller Wirklichkeit ein harter Widerspruch. Diesen Widerspruch in sich aufzunehmen und als solchen zu umgreifen, führt zur höchsten oder tiefsten Harmonie der Welt. Indem Leibniz das Gute wie das Böse in Gottes Wirksamkeit hineinnimmt, gibt er die Grundlagen dafür, die Fragen der Theodizee sinnvoll erörtern zu können. Leibniz hat mit dieser Schrift — obwohl sie seit 1710 vorlag — wenig Anhänger gefunden. Es sieht so aus, als werde erst das 20. Jahrhundert dem gerecht, was in dem Werk dieses großen Religionsphilosophen angelegt war. Die Philosophen kehrten lieber zu der simplen Überzeugung von der Güte Gottes zurück, womit die Theodizee dann ein unlösbares Problem wird. Aber uns sollen in unserem Zusammenhang die philosophischen Ansätze zur Lösung der Thema-Frage nicht befassen. Wir sollten vielmehr das religiöse Problem, das in dieser Frage steckt, aufsuchen und sehen, wie es in den Religionen gestellt und wie es in ihnen gelöst wurde. Dabei denke ich, sollten wir drei Weisen erörtern, wie in den Religionen unser Thema erfaßt wurde, und den Versuch machen, diese drei Weisen aufeinander zu beziehen.

I. Die Leiden der Welt sind Strafen eines Gottes Es gibt in den Religionen Uberzeugungen, die sich erstaunlich weit und immer wieder durchsetzen, wie z . B . der Glaube an die Vorsehung

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Gottes. Zu diesen Überzeugungen gehört auch die These, daß alles Unheil und alles Leiden eine Strafe sei — die Strafe eines Gottes für eine Untat. Die Ilias beginnt ja damit, daß Agamemnon den priesterlichen Vater der ihm als Beute verliehenen Chryses darum beleidigt, weil er das Mädchen nicht herausgibt. Der Priester-Vater betet zu Apoll. Der erhört ihn. Und nun geht es los: Der waffenklirrende Apoll schreitet vom Olymp wie Nachtdunkel herab, legt seine Pfeile an und sendet sie gegen die Griechen: »Maultiere nur erlegt er zuerst und hurtige Hunde. Dann aber gegen sie selbst die bitteren Pfeile gerichtet, schoß er: rastlos brannten die Totenfeuer in Menge«5. Diese Überzeugung gilt auch ζ. B. in den Weisheitslehren für Merikare aus der 10. ägyptischen Dynastie. Der königliche Vater ermahnt seinen Sohn: »Zerstöre nicht Gräber . . . Ich tat solches, und ähnliches geschah (mir); (denn) wie ich getan hatte, wurde ähnliches Böses mir seitens des Gottes getan«6. Das Böse ist Strafe! Das Leiden ist göttliche Reaktion auf menschliche Schuld. Den Gott also trifft keine Schuld am Leiden der Menschen. Ein Sargtext aus dem Ende des A. R. lautet: »Ich gebot ihnen nicht...« — sagt der Schöpfergott im Blick auf die Menschen — »daß sie Ü b l e s . . . täten, (sondern) ihre Herzen waren es, die mein Wort übertraten.. .«7. Der Gott steht gegen alles Übel. Die Menschen sind es, die Übertretungen aller Art vollführen, die damit nicht nur Leiden hervorrufen, sondern die damit auch die Gottheit provozieren — nämlich zur Strafe. Wir brauchen für diese Zusammengehörigkeit von menschlicher Schuld und göttlicher Strafe nicht viele Beispiele zu häufen. Wir müssen aber im Auge behalten, daß das Alte Testament z . B . den Zusammenhang von Tat und Tatfolge besonders eng sieht. Ein Beispiel ist Arnos 3,3-6: V. 3 Gehen zwei zusammen — ohne daß sie sich trafen? V. 4 Brüllt der Löwe im Wald — ohne daß ein Raub da ist? Erhebt der Junglöwe seine Stimme — ohne daß er einen Fang gemacht? V. 5 Fällt ein Vogel auf die Erde — ohne daß eine Schlinge da ist? Springt ein Klappnetz vom Boden auf — ohne daß es etwas fängt?

5

II. I, 50 ff.

6

Siegfried Morenz, Ägyptische Religion, Stuttgart 1960, S.61.

7

Ebd., S. 60.

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V. 6 Bläst man die Posaune in der Stadt — ohne daß die Leute erschrecken? Geschieht ein Unglück in der Stadt — ohne daß Jahwe es verursacht hat? Dazu ist zu bedenken, daß im Alten Testament eine Wurzel des Begriffes »Gerechtigkeit« diese Zusammengehörigkeit von Tat und Tatfolge ist: »Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein«. Das ist »gerecht«, und in und hinter solcher »Gerechtigkeit« steht Jahwe! Diese Zusammengehörigkeit von Leid und Strafe hat sich dann im Frühjudentum zu dem Dogma verhärtet, daß jedes Leid und Übel eine Untat als Ursache hat. Zur Zeit Jesu konnte man — wie Joh. 9 zeigt — angesichts eines Blindgeborenen fragen: Was haben die Eltern dieses armen Mannes getan? Jesus hat diesen Automatismus grundsätzlich bestritten. Aber Lk. 13 zeigt, daß er angesichts des Unglücks beim Bau der Wasserleitung von Siloah schließen kann: Wenn ihr euch nicht bessert, werdet ihr alle ebenso umkommen. Aber — die Lösung, Leiden ist Strafe, lebt immer neu auf. Wenn wir ζ. B. das Schrifttum nach 1945 ansehen, so bemerken wir, daß es Theologen wie Laien nahelag, die Ergebnisse dieser Jahre wiederum als Strafgericht zu verstehen. Oder wenn wir heute die Berichte zu der neuen Infektionskrankheit Aids ansehen, so sieht man immer wieder Anspielungen darauf: Die sexuelle Perversion und ihre Strafe. Offenbar ist diese Verbindung von Leiden und Strafe so überzeugend, daß sie auch im sog. säkularen Bereich plausibel erscheint. Es gibt zwei Entwicklungen, die dieses Schema vom Leiden als Strafe über sich hinausführen. Die eine wurde in Griechenland im 5.vorchr. Jahrhundert von den drei großen Tragikern, Aischylos, der 510 vierzehn Jahre alt war, Sophokles, der um 495 geboren wurde, und Euripides, der 480 geboren sein soll, geführt. Im Abstand der Lebenszeiten der drei Tragiker, der nicht sehr groß ist, vermutet man nicht die Eminenz der Wandlung, die Euripides de facto von Aischylos trennt. Aischylos lebte noch ganz in dem Vorstellungskreis des von den Mächten der Polis, des Staates wie der Ahnen geleiteten Menschen. Die Dike — als Tochter des Zeus schon Hesiod bekannt — wacht über das Tun der Menschen. Aischylos will den Glauben an Dikes Walten stärken. Hinter ihr aber steht ihr Vater Zeus. Das Verhältnis von Leiden und Strafe, z.B. im AtridenGeschlechte, wird von Aischylos als ehernes Gesetz verkündet. Für Euripides ist der Götterglaube vergangen. Die Götter sind für ihn nur noch

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Fassaden. Seine Welt ist daher von armen Einzelnen bevölkert, die dem Dämon ihres eigenen Daseins einerseits und der völlig unüberschaubaren Tyche andererseits verfallen sind. Das Leben dieser Entfallenen streift ständig den Selbstmord. Sie leben wie Herakles in tiefer Resignation. Aber der einzelne und sein Leiden sind nicht Strafe hoher Mächte, sondern der Dämon ihres eigenen Wesens und die namenlose Tyche — das Ungefähr der Situation8. Die zweite Entwicklung, die über das Miteinander von Leiden und Strafe hinausführte, wurde in Israel vollzogen und hat ihre Mitte im Buche Hiob. Dieses Buch ist um eben dieses Problem von Leiden und Strafe herumgeschrieben. Der Dialog Hiobs mit seinen Freunden entfaltet die verschiedenen Möglichkeiten, die Lösung der Leiden in Strafen zu sehen, denen sich Hiob selbst widersetzt. Er setzt dieser oberflächlichen Sicht, daß alles Leiden Strafe sei, seine Gewissensüberzeugung entgegen, daß Gott den Unschuldigen leiden lasse. Damit befindet er sich noch auf der Ebene seiner Gesprächspartner und meint, Gott tue Unrecht, wenn er den Gerechten leiden lasse. Dann aber wird ihm diese Argumentation aus der Hand geschlagen, denn Gott ist der Schöpfer. Das heißt, daß Gott für den Menschen als Geschöpf völlig unüberschaubar ist: Der Schöpfer kann vom Geschöpf nicht gemessen werden! Das heißt, daß Buch Hiob vertieft die Frage über ihre rationale Nachverstehbarkeit auf die souveräne Schöpferhoheit Gottes. Damit ist die Korrelation von Leiden und Strafe zerrissen. Der Bereich des Beters des Psalms 51 tut sich auf: »Allein an Dir habe ich gesündigt, und was Dir mißfällt, habe ich getan. Daß Du Recht behaltest in Deinem Reden, und rein bleibest in Deinem Richten« (V. 6). Der Glaubende steht in dem Abstand von Gott, den das Geschöpf vom Schöpfer bzw. den Sünder von dem reinen Gott trennt. Wo er diesen Abstand bewußt einhält, da ist Gottes Handeln seiner Beurteilung entnommen. Damit ist die Korrelation von Leiden und Strafe verlassen. Der Mensch, der sein Dasein vor Gott richtig einschätzt, bringt Gottes Anspruch an den Menschen so zur Geltung, daß das verwegene Eindringenwollen in die Pläne Gottes vergeht. Dies heißt, Gott in seinem Reden recht behalten lassen, wie es im Hiob-Buch von dem Schöpfersein Gottes aus, im Psalm 51 vom Sünder-Sein des Menschen aus geschieht.

8

Zur Tyche: Vgl. P.R. Franke, Die Tyche von Elis. In: MD ΑΙΑ, Bd. 99, 1984, S. 319-333.

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Die beiden Formen, in denen wir die Korrelation von Leiden und Strafe überstiegen sehen — bei Euripides und bei Hiob — , zeigen die beiden entgegengesetzten Wege. Auf der einen Seite, für Euripides, tritt Gott als Wirklichkeit des Lebens zurück und der leidende Mensch wird als Spielball seiner eigenen Dämonen und der Tyche erfaßbar. Auf der anderen Seite, für Hiob, tritt Gott als die Grundwirklichkeit alles Seins hervor, die sich dem rechnenden Verstehen entzieht und darin in ihrer Souveränität erscheint. Was hier geschieht, ist dies: Wo der Mensch sich vor Gott richtig einschätzt, da wird ihm deutlich, daß zum irdischen Dasein — bei Pflanze, Tier und Mensch — Leiden gehört. Es gibt kein »Recht« auf Leidlosigkeit! Darin sind sich Euripides und Hiob auch völlig einig. Aber für Euripides gibt es nur die Resignation. Für Hiob gibt es in der Resignation die Schöpfung, d.h. den Willen »Gottes« (!) zu dieser Welt in ihrem Leiden. Diese Anerkenntnis Gottes in seinem Schöpferwillen — die Weisheit Salomonis spricht von Gott als dem »Liebhaber des Lebens« — ist der Boden, auf dem die Resignation umschlägt in »das Lob Gottes aus der Tiefe« der Lebensleiden.

II. Ein Gott regiert seine Welt Ein Gott hat es mit der Welt zu tun, in der er und seine Verehrer zu Hause sind. Er ist der Herr dieser ihrer kleinen Welt. Das heißt, daß er sie »schuf«, und daß diese Welt sich von ihm her erschließt; denn er, dieser bestimmte Gott, ist die Zwischenbestimmung von Welt und Mensch. Seine Göttlichkeit läßt sich auf die Weltlichkeit so tief ein, daß man ihn in einzelnen hervorstehenden Weltaspekten — wie dem Krieg oder bestimmten siderischen Ereignissen oder der Liebe oder der Seefahrt — in besonderer, ja in scheinbar spezialisierter Weise präsent weiß. Der Gott und die Geschichten, die man von ihm weiß und wissen muß, gehören auf das engste zusammen. So eng ist diese Verbindung, daß die lebensfernen Handbücher nicht nur von Liebes-, Kriegs-, Regen- und Berg-Gottheiten reden zu können meinen, sondern in bestimmten Religionen auch von Augenblicksgöttern reden. Jeder Lebensaspekt zeigt eben seine bestimmte gottheitliche Seite, die sich in Geschichten erweist und an ihnen wiedererkannt und wiedergeholt werden kann. Man darf sich von diesen Handbuchweisheiten nicht verführen lassen.

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Die Tatsachen zeigen, daß jeder Gott ein Singularetantum ist. Jedes Gebet an jeden Gott ist ein Gebet an Gott überhaupt. Jeder verehrte Gott ist Gott schlechthin — in dieser Situation. Das ist so, daß der Ägypter in seinem Gaugott »den« Gott verehrt. Alle Verehrung und Frömmigkeit ist im strengen Sinne monolatrisch. Denn Gott ging in die Welt. Aber der Gott ist zugleich ein Pluraletantum: Der Zeus von Dodona ist ein anderer als der von Olympia oder gar Paestum, wie der Jahwe des Jahwisten ein anderer ist als der des Elohisten oder gar des Deuteronomisten. Der abstrakte Monotheismus war noch nie religiöse Wirklichkeit. Das zeigen die Awliya (Sing.: Wali) des Islam ebenso eindrücklich wie die katholischen Heiligen. Andererseits ist der Nachweis nicht schwer und längst erbracht, daß der Ägypter der vorchristlichen Zeit an seinen einen Gaugott glaubte. Dieser Gaugott repräsentierte all das, was man im Leben und Sterben brauchte. Aber Götter haben natürlich Namen, weil sie ihre Geschichten sind. Das sind Allah und Krishnan, Zeus und Aton, Ahura Mazda und Jahwe. Für uns entstehen viele Scheinprobleme dadurch, daß wir Gott sagen, und dazu kann man den Plural Götter oder, noch schlimmer, das Feminin Göttin bilden. Nein, es gibt nur Kali und Indra und Osiris, und die lassen sich nicht pluralisieren. Indra ist ein bestimmter persönlicher Weltzugang. Die Welt hat auch andere Zugänge — die kann man unter anderem Namen nennen. Man kann aber auch wie Ramakrishnan bei Kali bleiben und sich von Kali alle Weltgeheimnisse erschließen lassen. Er brauchte daneben keine andere Gottheit. Kali leitete ihn in alles Weltgeschehen ein. Ramakrishnan war in diesem Sinne Monotheist. Aber der Begriff ist in sich falsch und besagt nichts. Götter lassen sich nicht zählen. Das mittelalterliche und zumal das spätmittelalterliche Christentum lebte mit seinen vielen heiligen Mittlern ein welthaft lebendiges Leben. Kein Weltaspekt blieb leer vom Heiligen. Kein Welterfahren war ohne göttliche Zwischenbestimmung. Ob Zunftleben oder Feuersbrunst, ob Viehseuche oder Bankwesen, alles hatte seinen religiösen Platz im Ganzen des Daseins. Gott war zur Welt hin so vermittelt, daß vertrauter Weltumgang und damit Lebenssicherheit ebenso zugänglich war, wie man mit dem Sterben fertig zu werden wußte. Die Reformation — zumal Martin Luther — hat den Versuch gemacht, der Welt die biblische Gottesunmittelbarkeit zurückzugeben. Luther strich alle werkhaften Vergewisserungen ebenso wie alle Heiligen: Gott selbst war alles in allem. Er erfüllte alles Lebendige. Er trieb seinen »Mummenschanz« im Reifen des Korns wie in der Pest, in der Liebe junger Leute wie in der Türkennot. Gottes schöpferisches Handeln war

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unerhört nahe — jeder Stunde und jeder Stadt. Und wer ein »groß Holz spalten« konnte, ohne sich Glieder abzuklemmen, war ein Wundermann Gottes! Der Amtmann an seinem Pult hielt in seiner Arbeit Gottesdienst und die Magd in der Küche auch, wenn sie ihre Arbeit gut tat. Zwei Momente waren damit sogleich klar: Erstens war dieser nahe Gott ein wunderlicher Herr. Seine Verborgenheit sprengte alles dogmatische Wissen, und seine Uberfälle waren ebenso erschreckend wie beglükkend. Zweitens erschien dieser Gott als mutabilis quam maxime. Er war nicht stets mit sich selbst identisch. Er erwies sich hier so und dort so — diesem erschien er so und jenem so. Der Versuch Luthers, den biblischen Jahwe, den Vatergott Jesu, in sein Gottsein wieder einzusetzen, ihm also seine Welt erneut zu öffnen und — wie sollte es denn anders sein — alles von ihm zu empfangen, machte alles anders. Der Glaube an den »Guten« Gott hatte sich vor dem Weltwirken Gottes zu behaupten. Und das an jedem Tag! Da gab es keine Sicherstellung Gottes — er hatte das Heft wieder in der Hand! Zumal zwei Dinge sind zu bemerken: 1. Der christliche Gottesglaube wird eine Folge von erregenden Geschichten. In jedem Autounfall ist dieser Gott verwikkelt. Der Bolschewismus ist sein »Mummenschanz«, und das Verbrechen ist sein Tun. Die Fülle der Gotteserfahrungen und Gottesverwandlungen ist kaum zu bewältigen. Wenn er wirklich Gott ist, dann ist seine Nähe unbestreitbar. Glaube heißt, diese Gottesnähe aushalten und die ständigen Wandlungen des Verborgenen mit zu vollziehen. 2. Gott also handelt im Guten wie im Bösen »verborgen« in der Welt und an der Welt. Und Gott handelt in Jesus, in den Propheten, in der Verkündigung des Wortes die Welt mit sich selbst versöhnend (II. Kor. 5,18 ff.). Der Glaube geschieht als das ad-per-cipere, das Hinzudurch-Greifen der Gewißheit seines Heilshandeln auf sein Welthandeln. Diese Apperzeption ist die wesentliche Aufgabe des Glaubens. Wir können dies auch so sagen, daß der Glaube an das endgültige bzw. das endzeitliche Heilswollen Gottes sein verborgenes dunkles Welthandeln erhellt, daß der Glaube Gott aus den Finsterheiten seiner Weltverborgenheit löst, daß der Glaube Gottes Verborgenheit, sein opus alienum auf sein für die Welt sorgendes opus proprium hin auflöst (z.B. in der Seelsorge an Verzweifelten). Der Glaube hat eine für Gott selbst wesentliche Aufgabe an Gott in seiner Weltverborgenheit. Der Glaube spielt diese gewichtige Rolle in dem vor der Welt Aufgehen Gottes! So ist der Glaube selbst ein Stück des

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versöhnenden Handelns Gottes im »Dienst an der Versöhnung«. Das die Welt auf sich selbst hin verwandelnde Handeln (καταλλαγή) Gottes geschieht als diese Glaubenden, die der Welt dieses wahre Handeln Gottes personaliter vorstellen und darstellen (II. Kor. 5,20). Sie sind mit ihren Geschichten, die sie »erleben«, die lebendige Anrede dieses Gottes an die Welt. Wie der Glaube nie mit sich selbst identisch ist, so gelingt diese Rede von Geschichten des Glaubens an die Welt auch einmal mehr, einmal weniger. Das Übel und das Böse haben in dieser Sicht eine ganz neuartige Relevanz. Sie sind dem Glauben aufgegeben. Aber diese Sicht erschöpft sich nicht darin, daß der Glaube sich bewährt, daß er sich erprobt und daß er zu seiner Geschichte herausgefordert wird. Sondern der Glaube wird in seiner Bedeutsamkeit für die Welt wie für Gott erkennbar. Gott wartet darauf, daß der Glaube ihn aus seiner Verborgenheit in der Welt löst, daß er ihn manifest macht in der Welt und daß er darin der Welt zum Vermittler der Güte Gottes wird! Das ist eine hohe Aufgabe des Glaubens.

III. Ein Gott leidet an seiner Welt Wir müssen nun aber noch eine dritte Weise erfassen, in der die Religionen das Böse wie das Unheil und die durch sie ausgelösten Leiden in der Welt erfassen. Gehen wir dazu von einer Religion aus, die das Leiden zu ihrem zentralen religiösen Thema gemacht hat. Das ist der frühe Buddhismus, wie ihn Sidharta Gautama, der der Buddha wurde, in seiner Anfangs-Predigt in Benares verkündet hat. Die Leiden der Welt haben danach ihre allumfassende Macht aus dem Daseinsdurst aller Wesen. Alles Lebendige hängt am Dasein, und beim Menschen erreicht dieser Durst seine grundsätzlichste Gestalt. Der Mensch weiß eben nicht, daß dieser Durst ihn an das bindet, das sich verwandelt, um dann nicht mehr dazusein. Er lebt einem Phantom zugute, und das Ende ist nicht Leben, sondern Alter, Krankheit und Tod. Diese Einsicht Sidhartas kämpft gegen die Gedankenlosigkeit der triebhaften Daseinsverhaftung. Wir brauchen der Darlegung der vier edlen Wahrheiten vom Leiden, vom Ursprung der Leiden, von der Aufhebung der Leiden und vom achtfältigen Pfad zur Aufhebung des Leidens nicht zu folgen. Wir brauchen uns die »Kette der bedingten Entstehung« (paticca samuppäda) nicht im einzelnen vorzustellen, und auch der zentralen Nicht-Ich-Lehre brauchen

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wir nur eben zu gedenken. Diese Überzeugungen des Erleuchteten nehmen Überlieferungen der Upanishaden auf. Das heißt, der Buddha drückt seine Einsichten mit traditionellen Lehren aus — auch wenn sie, wie die Lehre vom karman, nicht sehr gut zu seinen Überzeugungen passen. Was uns interessieren muß, ist die Überzeugung des Erleuchteten, daß das nibbäna — der Übergang in das universelle, ganz und gar positiv verstandene Leersein — da eintritt, wo ein Mensch auf dem Wege der vier Schauungen sein trügerisches Hangen am Dasein löste. Der Buddhismus ist das Training dieser Lösungen. Die Vollendung dieser Lösungen impliziert das nibbäna. Diese Grundüberzeugung muß uns interessieren, weil sich aus ihr das Problem entwickelte, das den Buddhismus zur großen Religion machte. Es war nämlich so, daß Sidharta nach der Nacht der Erleuchtung in Bodh Gaya soweit war, das nibbäna zu betreten. Seiner Überzeugung nach hätten die fünf khandha's — die Daseinsgruppen, aus deren Relation der Mensch resultiert 9 — sich voneinander lösen und er der Leerheit anheimfallen müssen. So dachte sich das Mara, der Böse, auch. Er kam, nach der Tradition, im Morgengrauen an und sagte, es sei nun wohl Zeit, daß Sidharta das nibbäna betrete und sich also davon mache. Aber Sidharta verneint und macht sich auf, um seine Predigt in Benares zu halten. Das heißt, die Tradition sieht genau die Inkonsequenz im Leben des Erleuchteten. Er will seine Lehre lehren, um die Wesen der Welt ihrem Heil zuzuführen. Er entschließt sich zu einem Leben als Erleuchteter und als sammä-sambuddha, als vollkommener Erleuchteter. Das ist eine contradictio in adjecto. Aber damit war tatsächlich der religiöse Kern des Buddhismus geboren, daß der Buddha nämlich auf seine Erlösung verzichtet, damit alle Wesen aller Welt erlöst werden können. Diese religiöse Idee hat das Bodhisattva-Ideal geschaffen, d.h. den Willen zu dieser Erlösung aller Wesen aller Welt zu leben und immer nach 49 Tagen wiedergeboren zu werden — ein Entschluß zu allen Leiden der Welt —, bis die All-Erlösung vollendet ist. Dieser Idee verdanken die großen zentral- und ostasiatischen Bodhisattva- und Buddha-Gestalten wie Avalokiteshvara, der sich im Dalai-Lama inkarniert, oder der japanische Amida-Buddha ihr Leben. Alle diese großen Religionen Zentral- wie Ostasiens ruhen auf dem Entschluß Sidhartas, ein Leben als Erleuchteter zu führen um willen der Erlösung aller Wesen. ' Vgl. Samyutta Nikäya, ed. W.Geiger, München 1925, XII, 10.

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Zur Theologie

Die Erwägung dieser Tatsachen zeigt uns eine dritte Weise, mit der Frage, die die Leiden der Welt stellen, religiös fertig zu werden. Ein Gott geht um willen der Leiden der Welt ins Leiden. Er verzichtet auf seine Vollendung, um den Leidenden zur Hilfe zu eilen. Dies ist die Quintessenz der großen asiatischen Religionen. Wenn wir dieses Moment am Buddhismus gesehen haben und von hier aus in die Welt der Religionen hineinsehen, dann entdecken wir sehr rasch, daß der leidende und sterbende Gott, d.h. der Gott, der die Leiden der Welt um willen der Erlösung der Welt auf sich nimmt, eine fast universelle religiöse Bedeutung hat. Götter nehmen mit ihrem Sterben vielerlei Leiden der Welt auf sich. Das ist bei den sog. Dema-Wesen, wie Jensen die Kulturbringergottheiten nach einer Bezeichnung der Marind-Auius in Neu-Guinea benannt hat10, der Fall: Mit ihrem Tod geht die Urzeit zu Ende. Das Dema-Wesen basiert mit seinem Sterben die Ordnung des Lebens, wie es seither gelebt wird, ζ. B. durch seine Verwandlung in die Nutzpflanze, die menschliches Dasein erhält. Der Gedanke, daß ein Gott die Leiden der Welt auf sich vereint, um den Menschen den Weg aus den Leiden zu ermöglichen, prägt die sog. Mysterien-Religionen in der griechischen Religionsgeschichte, in denen sich das Erlösungswissen der Menschen in vielerlei verschiedenen Gestalten zusammenfaßt. Aber auch die reinen Gesetzes-Religionen wie der Islam wissen davon: Der Islam schafft sich in der schi'a den leidenden Erlösergott, dessen Wiederkunft allem Elend ein Ende bereiten wird. In besonderer Weise können wir diesen Weg am Alten Testament und an der Zusammenfassung seiner religiösen Geschichte in der Person Jesu beobachten. Wenn wir die Geschichte Jahwes mit seinem Volke Israel ansehen, so ist rasch zu bemerken, daß wir es mit einer Leidensgeschichte Jahwes zu tun haben. Die Propheten stellen das dar als die Geschichte eines Mannes, der zwei Schwestern heiratet, die ihn unablässig betrügen. Dieser Mann warnt sie wohl, er macht ihnen deutlich, daß seine Liebe auch einmal ein Ende hat. Aber diese Frauen sind, wie eine brünstige Kamel-Stute, nicht zu halten. Die ganzen Geschichten vom Exodus bis zur Landnahme haben ebenfalls diesen Ton. Vierzig Jahre lehnt sich das von Gott aus dem Hause der Knechtschaft befreite Volk gegen seinen Befreier auf: Ach, es war doch in Ägypten besser. Die Lebenssicherheit von Sklaven ist viel besser als diese Lebensunsicherheit der Freien, die ihr Dasein selbst zu verantworten 10

Vgl. A . E . Jensen, Hainuwele, Frankfurt/M., 1939.

Ist Gott angesichts der Leiden in der Welt zu rechtfertigen?

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haben. Diese Geschichten des Pentateuch sind quälend zu lesen. Aber Jahwe ist unerschütterlich. Er erduldet alles und leidet alles und wendet damit die schlimmsten Leiden von seinem Volk ab. Unter welchen Bildern und Gestalten die Geschichtsbücher und die Propheten diese eigenartige Geschichte Jahwes mit seinem Volke auch erzählten, es ist verständlich, daß sich diese ganze große Erfahrung dann am Ende dieser Geschichten in einer merkwürdig dunklen Gestalt zusammenfaßte — nämlich im »Knecht Jahwes«. Dieser »Knecht Jahwes« ist nicht der Prophet und auch nicht Israel. Er ist auch nicht der Messias. Die Lieder von ihm lassen keine einhellige Deutung zu. Er ist jedenfalls der, der Leiden und Krankheit, Wunden und Sterben erleidet, und zwar als Inbegriff des Leidens, das Jahwe von seinem Volk erfuhr. Das elende Dasein dieses Knechtes Jahwes macht das Dasein Israels vor Jahwe wieder möglich. Der δίκαιος, der Gerechte vor Jahwe, trägt diese Züge des Leidenden. Jesus hat sich selbst als diesen δίκαιος verstandern. Sein Dasein trug die Züge dessen, der vor Gott — die christliche Gemeinde sagte dann: als Gott — die Leiden der Welt als Todesleiden auf sich nahm. Dieser Vorgang, der sich in der Kreuzigung verfaßt, gilt den Leiden dieser Welt. Die frühe christliche Gemeinde verwendet dafür kultische Bilder wie die Sühne oder militärische Bilder wie den Loskauf der Gefangenen oder in anderer Richtung die Befreiung von Sklaven. Was gemeint war, ist deutlich: So wie Jahwe seit der Zeit der Patriarchen die Leiden dieser Weltzeit auf sich nahm, so nimmt nun dieser δίκαιος den T o d als den Exponenten allen Weltleidens auf sich, um den Menschen einen Weg aus dem Weltleiden zu zeigen. Wir sehen also in den Weltreligionen eine dritte Weise, die Fragen nach dem Weltleiden im Verhältnis zu Gott zu beantworten. Diese dritte Weise können wir so charakterisieren: Ein Gott übernimmt die Leiden der Welt um willen der Menschen oder aller Wesen aller Welt.

Schluß: Die Neuformulierung

der

Thema-Frage

Unsere Thema-Frage, ob Gott angesichts der Leiden in der Welt zu rechtfertigen sei, hat drei religiöse Antworten gefunden. Die erste Antwort ist, daß die Leiden der Welt Strafleiden sind. Diese Auffassung hat die Einheit von Tat und Tatfolge als Hintergrund. Offenbar steht hinter dieser Auffassung ein sehr tiefliegendes Empfinden, das diese Auffassung der

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Zur Theologie

Leiden immer wieder erneuert. Wie sahen aber auch, wie diese Sicht einerseits in der griechischen Tragödie, andererseits bei Hiob und im Psalter ihre Neufassung findet und der Mensch seine Leiden und die Leiden der Welt nicht als Strafe, sondern als zu übernehmende Herausforderung seiner letzten Selbsteinschätzung vor Gott erfaßt. Der Mensch rechtfertigt Gott, wie Luther das nannte; damit ist das alte Bild von dem waltenden Schicksal von Tat und Tatfolge zerbrochen. Der Mensch handelt an Gott. Seine Selbsteinschätzung hat eine Bedeutung für Gott und sein Dasein vor der Welt. Die zweite Behandlung der Thema-Frage führt dahin, daß der Glaube den in seinem Welthandeln verborgenen Gott aus dieser seiner stets doppeldeutigen Verborgenheit löst und zu lösen hat. Diese Behandlung des Themas entnahmen wir der Gotteserfahrung Luthers. Sie ist für seine Erfassung der Wirklichkeit Gottes typisch. Der Glaube also hat auch hier eine Aufgabe an Gott. In der Erfüllung dieser Aufgabe löst der Glaube Gottes Wirken aus den Zweideutigkeiten, mit denen ihn sein Welthandeln umgibt. Der Glaube räumt all die vordergründigen Verstellungen hinweg, damit Gottes Klarheit aus der Welt aufscheinen kann wie der Morgenstern. Der Glaube, der mit den vielen Gotteserfahrungen — den eigenen Geschichten mit dem nahen Gott — fertig wird, d. h. der in ihnen hindurchzugreifen vermag auf das lichtvolle Heilshandeln dieses Gottes, erfüllt eine Aufgabe an Gott, daß Gott als der vor der Welt sichtbar wird, der allein das Heil der Welt und das Leben will. Die dritte Weise, in der die Religionen die Thema-Frage lösen, zeigt den leidenden Gott, zeigt den Gott, der das Leiden der Welt selbst übernimmt. Menschenleiden kann das nicht leisten. Nur ein Gottesleiden ist in der Lage, mit den tiefen Verworrenheiten der Welt fertig zu werden. Ein Gott tritt unter das Weltleiden, um dasselbe zu beenden. Wenn wir diese drei Lösungen ansehen, so bemerken wir, wie in allen drei Fällen die Fragestellung sich eigentümlich verschiebt. Die etwas beleidigte Menschenfrage, ob und wie Gott denn wohl angesichts der Leiden der Welt zu rechtfertigen sei, verkehrt sich in die Betroffenheit vor der Tatsache, daß der Mensch der zu sein scheint, der gefragt werden muß. Sollte es nicht so sein, daß seine Selbsteinschätzung falsch ist und dadurch allererst die Frage entsteht? Gewiß, die Zumutung der Freunde Hiobs, er müsse ja wohl viel verschuldet haben, war nur dogmatisch richtig. Aber das Aufbegehren Hiobs, er sei ja wohl unschuldig und Jahwe sei ein ungerechter

Ist Gott angesichts der Leiden in der Welt zu rechtfertigen?

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Herr, lag tatsächlich ganz auf der gleichen Linie. Der vor Gott mit seinen Forderungen als seinen Rechten erscheinende Mensch verbannt Gott in die Ungerechtigkeit! Aber der vor Gott auf seine Rechte und seine Einsicht verzichtende Mensch hilft Gott zu seiner Reinheit und Gerechtigkeit. In der zweiten Weise, die Frage nach Gottes Rechtfertigung zu beantworten, ist der Mensch noch direkter gefragt. Gott will aus seiner Weltverborgenheit heraus geglaubt werden! Das kann nur der Glaube, der die Heilszusage Gottes ergriff, um so Gottes Verborgenheit, die er als Zweideutigkeit ertragen muß, zu lösen. In der dritten Weise wird es noch klarer. Gott läßt sich von Menschenschuld und Menschennot ins Leiden bringen. Der leidende Gott zeigt am deutlichsten, daß unsere Frage, ob Gott angesichts der Leiden der Welt zu rechtfertigen ist, falsch gestellt ist. Sie muß vielmehr lauten, ob der Mensch angesichts der Leiden Gottes zu rechtfertigen ist. Die Richtigstellung gilt auch im ersten Fall, in dem die Verschuldung des Menschen Gott in das opus alienum seines Zornes zwingt. Sie gilt auch im zweiten Fall, in dem des Menschen Gottlosigkeit Gott in seinem Weltleiden allein läßt, so daß er in all den Zweideutigkeiten verunehrt wird. Im dritten Fall aber ist es gar keine Frage, daß der die Leiden der Welt übernehmende Gott aus diesem Leiden heraus den Menschen in Pflicht nimmt, sein Werk an ihm zu tun. Der Mensch ist verantwortlich für die Gottheit Gottes geworden, wie Ulrich Mann das in den »Theogonischen Tagen« 11 ausgeführt hat.

11

Vgl. Ulrich Mann, Theogonische Tage, Stuttgart 1970, S. 176, 182, 639.

Das Heilshandeln und das Welthandeln Gottes*

Gedanken zur Lehrgestaltung des Providentia-Glaubens in der evangelischen Dogmatik Eine Erwägung über die theologische Lehre von der Providentia Dei sieht sich einer merkwürdig verworrenen Lage gegenüber, die wir uns skizzenhaft in vierfacher Richtung vergegenwärtigen müssen. 1. In unserer nach-christlichen Umwelt wie in unseren Gemeinden finden wir einen Glauben lebendig, der sich auf eines Gottes vollmächtig planendes und durchführendes Handeln bezieht. Solch ein Vorsehungsglaube spielt in den nach-christlichen Glaubens-Residuen des 20. Jahrhunderts weithin sogar die Hauptrolle. Wir haben die Vorsehung der HitlerReden noch im Ohr. Was bei Hitler vielleicht bloße Taktik war, das fand aber im Volke ein Echo, das beredter Beweis für die Lebendigkeit solchen Glaubens war. Die vielen Sonderformen modernen, auch technisch bezogenen, nach-christlichen Glaubens, wie des oft zitierten Fern-Fahrer-Aberglaubens z.B., konvergieren alle mehr oder weniger auf die Annahme einer Vorsehungs-Gewalt, die plant und lenkt, die regiert und vergilt. Gerade theologische Spekulationen dieser Art sind in naturwissenschaftlich halbund hochgebildeten Kreisen beliebt. Sie leben von der sehr bescheidenen These einer Welt-Vernunft. Obwohl sich solche Theologie im allgemeinen nicht mehr im Fortschritts-Optimismus wiegt, so ist es doch typisch, daß die Vorsehungs-Hypothese auch den Zusammenbruch des Fortschrittsglaubens überstand und sich offenbar auch pessimistisch und nihilistisch angehauchten Vorstellungen verbinden läßt. Kurzum, die nach-christliche Existenz des modernen Westeuropäers zeigt, daß der Vorsehungs»glaube« alle Zusammenbrüche des 20. Jahrhunderts überstehen konnte und daß er das Refugium bilden kann, wo christliches Glauben zerbrach. Damit erweist sich dem 20. Jahrhundert, was die Aufklärung des 18. Jahrhunderts bereits zeigte, daß nämlich der Vorsehungs»glaube« offenbar ganz eigen* Zuerst veröffentlich: in: NZSTh. l.Band, 1959, S. 25-80.

Das Heilshandeln und das Welthandeln Gottes

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ständige Bedeutung hat, die sich auch einer nach-christlichen Welt anbietet, daß er jedenfalls auch schwere Krisen des christlichen Versöhnungs-Glaubens, die sich in der Abwendung vom kirchlichen Dasein manifestieren, aushält. Aber dieser Vorsehungs-Glaube ist unter uns nicht nur kennzeichnend für das nach-christliche Dasein, sondern wir beobachten, daß auch in unseren Gemeinden der Glaube weithin nur noch in der allgemeinen Form von Vorsehung und Regierung des »Herrgottes« Lebendigkeit hat. Wer viel mit Vertriebenen umzugehen hatte, der weiß, daß dieses Zutrauen zu einem trotz Not, Vergewaltigung und Vertreibung im Regimente sitzenden Gotte der oft eigentlich nur noch lebendige Kern war, der vor der letzten Gottverlassenheit schützte. Die Beobachtung an Aufstieg und Zerfall des nationalsozialistischen Reiches hat diesen Glauben sehr gestärkt. Der Vorsehungs-Glaube ist, das sei nicht verkannt, oft Kristallisationskern neuer christlicher Gläubigkeit geworden. Aber, worauf es ankommt: Dieser sehr allgemeine Glaube an eine Weltgerechtigkeit, an eine Talion wie an eine fürsorgende Weisheit erweist sich auch mitten in den Gemeinden als durchhaltendes Glaubens-Motiv im allgemeinen Schwund sogenannter christlicher Substanz. Jedenfalls fällt der Vorsehungs-Glaube nicht mit, wo der Glaube an die Notwendigkeit der Rechtfertigung auf dem Boden des Kreuzeswerkes Christi verblaßt; und man kann offenbar auch im Zusammenhang von evangelischem Gottesdienst und Gemeinde »leben«, wenn man nur noch an diesem Vorsehungs-Glauben festhält. Mit dieser ersten Beobachtung wird der Vorsehungs-Glaube als ein Moment religiösen Verhaltens deutlich, das auch vor, außer und nach dem christlichen Glauben seine ganz eigene Bedeutung und offenbar auch seine ganz eigene Lebendigkeit und Uberzeugungskraft besitzt. Der VorsehungsGlaube ist, wie die Religionsgeschichte zeigt, sogar ein besonders wesentliches Stück religiösen Glaubens. Dabei ist es unwichtig, ob eine eigene Dogmatisierung dieser Vorsehung in einer Religion Platz griff, wie ζ. B. in der Stoa. Man kann ohne Ubertreibung sagen, daß das zentrale Trostmoment der antiken, vorderasiatischen, mittelamerikanischen wie zentralasiatischen großen Kulte eben in einem »Vorsehungsglauben« ruhte. Das ist in den Kulten der Primitiven nicht so der Fall. Für die Primitiven ist die weltumfangene Geborgenheit des Menschen in seinem ritischen Wissen um gegenwärtig Begegnendes so eminent, daß er die an »Zufall« und LebensPreisgegebenheit sich manifestierende Frage nach Plan und Dauer von Leben und Welt nicht stellt. An der Stelle aber, an der diese Geborgenheit der primitiven Kulturen zerbricht, tritt mit der göttlichen Manifestation der

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Zur Theologie

Vorsehungs-Glaube ein. Er bildet die Vermittlung zwischen dem Menschen und der ihm ins Zeithafte hinein entfremdeten Welt. Den bedrohenden Augenblick zwischen manifestem Gestern und fraglichem Morgen übergreift die währende göttliche Fürsorge. Von den Göttern hängt es ab, ob Brotgetreide und Ackerwerkzeug, Schiff und Nahrung, Mauerbau und Waffenschmiede da sind. Wo Götter hervortreten, da hebt sich der Trug des Zufallenden, die Undurchschaubarkeit des einzelnen und die Erschütterung des Augenblickes als »Zwischen« in währendes Dasein hinauf. Wo Götter hervortreten, da fügt sich das verworren Singuläre zum geordneten Ganzen — in Natur wie Geschichte. Die Götter schenken Leben, denn sie vermögen die Qual der Preisgegebenheit an die namenlose Dämonie von Ort und Augenblick zu lösen! Die zu den Göttern — zu dem »ganz Anderen« — aufgetane Welt ist die zu meisternde Lebenswelt. Wo die fremdfeindliche Welt sich zum Kosmos rundet, da ist der Mensch mit seiner Welt nicht allein. Der Brückenschlag führt über die Götter vom Menschen zur Welt. Ihre Manifestation schirmt das verletzliche Leben. In ihrem Dasein ist das zutiefst drohende Fatum vorerst verstellt. Die Manifestation der Gottheit rückt die drängende Lebensfrage des Menschen zurecht, so daß er seine Schutzsuche den Göttern anheimstellen kann. Dabei ist es wohl wichtig zu beachten, daß der Schöpfergott und sein Tun am Anfang aller Dinge im allgemeinen nicht als der Träger der gegenwärtigen Providentia verehrt wird. Der Gott der Providentia kann zwar ein Gott sein, der schafft und noch regiert, aber seine Tätigkeiten — Schöpfung und Providenz — sind nicht auseinander entwickelt und auch im allgemeinen nicht aufeinander bezogen. Das normale Bild ist es, daß der Urheber-Gott sich in verehrungslose Einsamkeit zurückzieht und die Menschen seiner nicht gedenken. Der Vorsehungsglaube ist im allgemeinen in den Religionen gegenüber dem Schöpfungsglauben eigenständig. Der Vorsehungsglaube ist aber offenbar auch eigenständig gegenüber dem Heils- und Erlösungsglauben. Die typischen Heilbringer- und Erlösergötter sind von den Gottheiten der Welterhaltung und Weltregierung weithin deutlich unterschieden. Es ist in sehr vielen Fällen so wie im tibetischen Lamaismus, daß Welterhaltung und Weltregierung von altheiligen Landes- und Flurgottheiten erwartet wird, die sich von den Gottheiten der Erlösung tief unterscheiden. Die Vorsehung liegt in Händen der Gottheiten der vor-buddhistischen Bön-Religion. Das ist wohl auch in den paganen Christentümern so, wie T. Heyerdahl das jetzt auf der Oster-Insel zeigen konnte. Die Vorsehung erwartet man von den Aku-Aku, deren

Das Heilshandeln und das Welthandeln Gottes

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Verehrung familiengebunden, neben der christlichen Erlösungsreligion herlebt. Die europäische Folkloristik kann zeigen, wie viele ortsgebundene Frühlings-, Saat- und Ernteriten sich unter der Decke der Kirchentümer zäh halten konnten. In ihnen ist der Vorsehungsglaube zu Hause. Er erstreckt sich auf Feld, Vieh wie Menschen und begleitet das Leben von der Geburt über Liebe und Hochzeit bis zum Tode. Aber das ist wohl ein ganz allgemeines Bild, das in der griechischen Religion sich ebenso zeigen läßt wie in den islamischen Volksreligionen. Der Vorsehungsglaube hängt an Gottheiten, die zunächst keine typischen Erlöser-Gottheiten sind. Es ist also offenbar so, daß der Vorsehungsglaube gegenüber dem Schöpfungs- und Heilsglauben eine ganz eigene Stellung einimmt. Er hat sich jenen andersartigen Glaubenselementen zwar auch immer wieder verbunden. Aber die Feld-Schützer und Familien-Horte nehmen von Hause aus die Vorsehung als etwas wahr, was Schöpfer- und Heilsgötter nicht ohne weiteres »leisten« können. Der Vorsehungsglaube ist also offenbar nach Stellung und Funktion eigenständig im Dasein der religiösen Menschheit. Er ist jedenfalls kein Anhängsel an Schöpfungs- und Heilsglauben und kann aus ihnen ebensowenig entfaltet werden, wie er sich trotz ihrer Wandlungen mit großer Zähigkeit und Konstanz als derselbe erhält. 2. Die theologische Bemühung um die Providentia-Lehre besteht darin, diese im »religiösen« Bereiche nicht gegebene Verbundenheit des Vorsehungsglaubens mit der zentralen Botschaft von der Vergebung der Sünden und dem Kommen des Reiches Gottes zu zeigen, und damit den Vorsehungsglauben der Dogmatik so einzuordnen, daß der Glaube an die Vorsehung als ein Stück spezifisch christlichen Gottesglaubens erkennbar werden kann. Man ordnet die Lehre von der Providentia der Gotteslehre ein, wo die Vorsehung dann in nahem Kontakt zur Prädestination gesehen wird. Man redet nochmals von der Vorsehung nach der Schöpfung, um den Weltaspekt der Providentia deutlich zu machen. Diese zweite Behandlung geschieht in nahem Kontakt zu den Engel-Mächten, den vornehmsten Vermittlern der Providentia, so ist es bei Thomas. Wir werden uns inhaltlich noch mit seiner Lösung zu befassen haben. Was aber bereits sein Aufbau zeigt, das ist der doppelte Aspekt, den die Lehre von der Vorsehung in der christlichen Dogmatik erhält. Einmal wird die Vorsehung nahe der Prädestination in den finalen Heilshorizont gerückt, so daß Luther ζ. B. den deutschen Begriff Vorsehung oder Versehung an zwei der drei vorkommenden Stellen in seiner Bibelübersetzung (Act 2,23 und I Ptr 2,2) prädestinatianisch gebraucht, wie das auch sonst in seinen deutschen Schriften der

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Fall ist1. Andererseits aber wird die Vorsehung im Kontakt mit dem Wunderbegriff und den Engeln an den Weltlauf in Natur und Geschichte herangebracht. In der Moderne aber zeigen die Bemühungen um die Eingliederung des Vorsehungsglaubens in die Dogmatik seit Albrecht Ritsehl einen anderen Charakter, daß nämlich der Vorsehungsglaube als Folge des spezifisch christlichen Versöhnungsglaubens gekennzeichnet wird. Er ist die »praktische Zweckbeziehung der Rechtfertigung« 2 , so daß »die Aktivität des Vorsehungsglaubens« 3 als weltzugewandte Seite der Versöhnung ins Licht tritt. Ritsehl hat bereits zu zeigen versucht, daß das 17. Jahrhundert diese wahre Position im Zuge des Aufbaues einer »natürlichen Theologie«, wie er es zuerst nannte, zersetzte. Seit Albrecht Ritsehl sind die Versuche solch grundsätzlicher Einordnung des Vorsehungsglaubens in die zentralen Aussagen christlicher Dogmatik immer wieder gemacht worden. Sie trugen mit dem Wachsen der christologischen Zentrierung der Gesamtdogmatik immer klarer die Züge christologischer Einordnung. Mit diesen Versuchen wurde die Behandlung des Vorsehungsglaubens in der evangelischen Dogmatik stark kontrovers, denn gegen Ritsehl erhob Wilhelm Lütgert sehr bald seine Bedenken, der die Möglichkeit, den Vorsehungsglauben dem Versöhnungsglauben ein- und unterzuordnen, sehr grundsätzlich bestritt. Die Linie Lütgens hat sich fortgesetzt, so daß wir abgesehen von einzelnen Unterschieden heute zwei im Ansatz geschiedene Behandlungen der Providentia-Lehre haben, nämlich eine christologisch oder heilsgeschichtlich fundierte und eine andere, die von anderen biblisch fundierten Erwägungen der Gotteslehre ausgeht. P. Althaus' Behandlung dieser Fragen bedarf eines besonderen Hinweises, da er die Providentia doppelt verhandelt, und zwar einmal nach der Schöpfung als Konkretisierung der Ur-Offenbarung mit dem biblischen Hintergrunde derselben und zweitens im Zusammenhang des Heilsglaubens, so daß hier die Meinung ausgesprochen wäre, daß die beiden dogmatischen Positionen der Neuzeit beide ihr Recht hätten und miteinander vereinbar wären. 1

Z . B . in den Exodus-Predigten von 1524/1527 zu Ex 9 am Ende vom 2 6 . 1 2 . 1 5 2 4 : »Also pflege ich sie abzuweisen, die viel von der Vorsehung fragen und wissen wollen . . . « E A 35, 173f.; W A 16, 147 vgl. Kirchen-Postille Trinitatis-Predigt zu R m 11,33f.: E A 9, 9 f . ; W A 21, 510.

2

Rechtfertigung und Versöhnung 1889 I . B d . S.348.

3

Ebd. III. Bd. S. 167 ff.

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3. In neueren Darstellungen der Entwicklung der Providentia-Lehre von der Reformation an hat sich das Schema Ritschis durchgesetzt, daß nämlich Luther und Melanchthon die Providentia klar soteriologisch begründet vorgetragen hätten, daß der späte Melanchthon bereits davon abgerückt sei, das 17. Jahrhundert aber eine »natürliche Theologie« entwikkelt und in ihrem Zusammenhang die Providentia dargestellt hätte. Eine Nachprüfung dieser Schematisierung fördert als wichtigstes die Beobachtung, daß Luther wie Melanchthon die Providentia als geschlossenen dogmatischen Behandlungskomplex im Sinne der dogmatischen Tradition, wie sie die späteren Dogmatiker dann auch wieder aufnehmen, nicht zu kennen scheinen. Der Terminus taucht in den Locis Melanchthons als Locus nicht auf, und wir suchen eine Behandlung der Sache unter diesem Stichworte bei Luther vergeblich. Wir werden unten zu erwägen haben, unter welchen Aspekt die Sache bei Luther tritt, fügen hier nur hinzu, daß in Ubereinstimmung damit die Bekenntnisschriften zumal die Confessio Augustana und Apologie eine eigenständige Lehraussage über die Providentia nicht bieten. Es sieht so aus, als ob die Erhaltung der Welt nur ein Modus der Schöpfung sei, und als ob eine theologische Aussage über die Providentia als Thema Gott den Schöpfer habe, wie er heute waltet. Die Feststellung ließe sich auch so sagen, daß die Providentia-Lehre eine Sache im Bereiche einer Theologie des I. Artikels sei, wo Luther in den Katechismen ja auch fraglos von der Erhaltung redet. Uber die soteriologische Erfassung der providentia wäre damit ja noch nichts Negatives ausgesagt. Aber gleichwohl bleibt die bedenkenswerte Beobachtung, daß Luther und Melanchthon an dieser Stelle die dogmatische Tradition offenbar nicht fortsetzen und ein eigenes Lehrstück von der Providentia nicht führen. Hierzu gehört nun aber als andere Seite die Feststellung, daß Zwingli und Calvin die dogmatische Tradition nicht verließen, sondern über die Vorsehung als Locus der Dogmatik handelten. Wir werden die Eigenart ihrer Behandlungsweise unten noch erörtern, stellen hier nur die Tatsache fest. Es ist die Meinung geäußert, diese Eigenart der reformierten Theologen hänge mit der Nähe von Vorsehung und Prädestination zusammen. Dies mag insofern zutreffen, als für Luther der Begriff der Vorsehung tatsächlich vorwiegend diesen prädestinatianischen Klang hatte, weshalb er davor warnt, sich mit diesen Vorsehungsfragen zu befassen. Es mag sein, daß dieser Wortklang hinsichtlich des Terminus bei den lutherischen Reformatoren eine Rolle spielte. Es ist aber wohl auch so, daß die reformierte Tradition des Vorsehungsglaubens, die von der lutherischen abweicht,

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Zur Theologie

allerdings die Prädestination sehr nahe der Vorsehung verband. Das ist hinsichtlich O . Cromwells ζ. B. dargestellt4, das gilt aber auch für die bundesgeschichtliche Orientierung der Providentia bei Coccejus. Es sieht so aus, als treffe die heilsgeschichtliche Fundierung der Vorsehung bei Ritsehl wie zumal die Hervorhebung ihres »Aktivitäts«-Charakters weitgehend mit einer Intention der reformierten dogmatischen Tradition zusammen. 4. Wir müssen noch bemerken, daß der Gegenstand der ProvidentiaLehre offenbar selbst nicht so geschlossen faßbar ist, daß sich daraus eine einhellige Lehrgestaltung ergeben hätte oder ableiten ließe. Was ist dieser Vorsehungsglaube eigentlich inhaltlich? Wir sehen schon bei einer flüchtigen Orientierung über Lehrausformungen dieses Locus, daß sein Inhalt sich sehr wandeln kann. Zu Zeiten geht die Lehre von der Providentia in einer Theodizee-Lehre auf. Zu Zeiten steht die Behandlung der Wunder ganz im Vordergrund. Die Providentia-Lehre mußte herhalten, um der Physico-Theologie ein ganzes Lehrgebäude zu erstellen. Sie wurde gegen moderne naturwissenschaftliche Entwicklungs-Mechanismen bemüht. Sie bildete das Reservoir der Kriegspredigten 1914. Aber so vielfältig diese Lehr-Beziehungen in der dogmatischen Tradition sind, so groß ist auch die Lehr-Unsicherheit hinsichtlich dieser Aussagen. Was ist denn nun der Gegenstand, wenn Vorsehungs-Glaube in der Dogmatik ausgesagt werden soll? Diese Fragestellung zeigt die ganze Schwierigkeit, denn der Vorsehungs-Glaube ist offenbar Proteus-ähnlich unfixierbar. Er ist im Zusammenhang einer christlichen Theologie jedenfalls schwer greifbar. Islamische Theologen kennen diese Schwierigkeit kaum, geschweige denn antike Mythographen. Der Gegenstand des Glaubens an die Vorsehung Gottes meint auch den Plan Gottes, aber wie man im 17. Jahrhundert immer wieder betont, ist dieser Plan nicht das Wesentliche, sondern die gegenwärtige Erhaltung, Lenkung und Führung in Natur und Geschichte. Die hochkomplizierte Definition dieses Lehrstückes im 17. Jahrhundert erweist die ganze Ratlosigkeit vor diesem ebenso ungeheuren wie unzugänglichen Bereiche. Da sind im 17. Jahrhundert die beiden Koordinaten, deren eine vom Generalen über das Speciale zum Hochspecialen der Glaubenssubstanz weist. Und diese drei Fixpunkte bedingen sich ja distinktiv gegenseitig. Und da ist die andere Koordinate, die von der conservatio über den 4

Κ. A. Viering: Grundformen des Vorsehungsglaubens: Zeitschr. f. Syst. Theol. V. Bd. 1927. S. 520 ff.

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concursus mit der gubernatio in die Teleologie Gottes zielt. U n d auch hier heißt es, die conservatio als concursus und gubernatio, den concursus in conservatio und gubernatio, die gubernatio aber aus der zwiespältigen Erfahrung von conservatio und concursus heraus zu erfassen. U n d man darf bei diesen drei sich durcheinander definierenden Größen der zweiten Definitionsreihe ja nicht vergessen, daß der einzelne Ort der zweiten Koordinate stets durch die erste Reihe mitbestimmt ist. Das DistinktionsSchema des 17. Jahrhunderts nimmt im reformierten Bereich einen viel objektiveren Charakter an als bei den Lutheranern, da er viel eindeutiger heils- und bundesgeschichtlich fundiert ist. Was in beiden Fällen aber sichtbar wird, das ist die Ungeheuerlichkeit des Gegenstandes. Eine ganze Natur- und Geschichts-Theologie muß man schreiben, wenn man diesen Gegenstand ergreifen will. U n d wo ist die Basis? Die dicta probantia der Dogmatiker des 17.Jahrhunderts jedenfalls zeigen, daß dafür scheinbar keine eindeutige Basis da ist. Dieses Vacuums haben sich andere Mächte aufklärerischer Art bemächtigt und aus der Vorsehungs-Lehre einerseits die immens geblähten Gebäude der Physico-Theologien gemacht, andererseits aber die subtilen Gebilde der Theodizee-Systeme geformt. U n d was blieb davon? Schleiermacher stellt, indem er die VorsehungsLehre beginnt 5 , fest, daß eigentlich gar nichts in der dogmatischen Tradition drin sei, was einen evangelischen Theologen festlege, oder was ihm wenigstens Weisungen zur Lehrgestaltung des Vorsehungsglaubens gebe. N u r einen »sehr freien Spielraum« gibt es »zu mannigfaltiger Bearbeitung« des Lehrstückes. Es ist jedenfalls für die lutherische Seite naheliegend, mit Schleiermacher zu sagen, daß »die ziemlich weitschichtigen und unbestimmten Ausdrücke der Bekenntnisschriften« eigentlich nur zeigen, daß »die Aufmerksamkeit der Reformatoren nicht hingelenkt wurde auf dies Lehrstück«. Es ist zwar fraglich, ob Schleiermacher recht hat, wenn er als Grund dafür angibt, das Lehrstück sei eben nicht kontrovers gewesen, aber nach unseren Bemerkungen haben wir Schleiermacher wohl darin zuzustimmen, daß »wir die Pflicht ernstlich zu prüfen« haben, »zumal diese Lehrstücke (sc. Schöpfung und Erhaltung) so mancherlei fremdartigen Einflüssen ausgesetzt sind«, was eigentlich in einer evangelischen Dogmatik recht zu lehren sei von der Erhaltung — ja ob nicht der »symbolische Ausdruck auch ganz zu verlassen« sei. Diese Möglichkeit bringt Schleiermacher mit der »weiteren Entwicklung des evangelischen Geistes und den 5

Glaubenslehre §37, 2.

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mancherlei Umwälzungen im Gebiete der Philosophie sowohl als den realen Wissenschaften« in Zusammenhang. Ob diese weiteren Entwicklungen wirklich solcher Art sind, daß sie den zureichenden Grund für eine Neugestaltung dieses Lehrstückes geben können, wird uns zweifelhaft erscheinen. Aber es scheint nach wie vor so zu sein, daß für eine dogmatische Behandlung des Vorsehungs-Glaubens nur ein »sehr freier Spielraum« zu mannigfaltiger Bearbeitung« da ist, wie das die modernen Dogmatiken denn ja auch ausweisen.

II. Wenn wir den Versuch machen, uns nun genauer an der dogmatischen Tradition darüber zu informieren, auf welchem Wege die ProvidentiaLehre gestaltet wurde, so sind es drei verschiedene Momente, die einzeln oder verbunden immer wiederkehren, um den Vorsehungs-Glauben zu beschreiben und seinen Gegenstand zu deuten. Das erste und vielleicht wichtigste Moment, die Providentia Dei dogmatisch zu erfassen, ist die Teleologie. Am ausgeprägtesten ist diese Lehrform bei Thomas von Aquino zu finden. Thomas begreift die Providentia Dei ganz unter dem Gesichtspunkt einer ordinatio omnium rerum in finem. Diese Fassung der Providentia geschieht nach dem Modell der prudentia, deren proprium es nach Aristoteles ist, ordinäre alia in finem (I, 22, 1, R). Es ist bei der Strenge der Durchführung dieses Aspektes nicht fernliegend, die praedestinatio der Providentia einzuordnen. Respectu omnium spricht Thomas von Providentia, respectu hominum specialiter spricht er von praedestinatio oder auch reprobatio (1,22). So unbedingt also ist die ordinatio in finem gemeint, daß der ordo ad aeternam salutem als sein Spezialfall erscheinen kann. Es ist von hier aus bereits deutlich, daß Thomas das Lehrstück von der Providentia ganz tief in den spezifisch christlichen Gottesglauben hereinzuholen versucht. Das Ziel dieser ordinatio ist in Analogie mit dem ewigen Heil zu sehen, geht also nicht in irgendwelchen immanenten Prozessen selbst auf. Das Ziel, dem die creaturae non rationales zugeführt werden, ist zwar ein finis naturae proportionatus, quem scilicet res creata potest contingere secundum virtutem suae naturae (I, 23, 1, R). Aber es bleibt der Kreatur von der praeexistenten ratio ordinis her überlegen. Der ordo Dei, von dem also mit der Providentia die Rede ist, wird in zwei Hinsichten erörtert, einmal hinsichtlich der ratio ordinis, die

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bei Gott praeexistiert, aeterna ist und immediate zur Wirksamkeit gelangt (I, 22) und zweitens hinsichtlich der executio ordinis, die unter dem Begriffe der gubernatio erscheint, temporalis ist und per media verwirklicht wird (I, 103—105). Zur näheren Kennzeichnung der Providentia sind zwei Gedanken wichtig. Einmal ist sicher zu stellen, daß alles der providentia unterliegt. Dies wird so erwiesen: omnia, quae habent quocumque modo esse, ordinata esse a Deo in finem. Grund: cum omne agens agat propter finem. Wenn also alles einem letzten agens unterläge, so wäre damit auch die Finalität bewiesen. Das ist so, denn die causalitas Dei, qui est primum agens, se extendit usque ad omnia entia (I, 22, 2, R). »Sein« ist daher gleichbedeutend mit »hingeordnet sein«. Am Sein teilhaben ist gleichbedeutend mit der Teilhabe an der providentia, die non est in rebus sed in intellectu provisoris (I, 23, 1, R). Zweitens ist es wichtig, daß diese ordinatio nicht nur am esse und als esse begriffen wird. Weil das principium rerum nämlich ein extrinsecum ist, so muß auch ihr finis quoddam bonum extrinsecum sein (I, 103, 2, R). Quoddam bonum, das ist der Leitfaden des Ganzen. Das Sein ist hingeordnet und die forma dieser Hinordnung ist das bonum. An dieser Qualifikation der ratio ordinis wird die Analogie zur Prädestination greifbar. Am bonum kann schon die Grundfrage, utrum mundus gubernetur ab aliquo zu ihrer Lösung gebracht werden. Einmal sehen wir ja in rebus naturalibus provenire quod melius est, und das wäre nicht möglich, nisi per aliquam providentiam res naturales dirigerentur ad finem boni. Zweitens aber ergibt sich die Antwort ex consideratione divinae bonitatis, denn es würde der Güte Gottes, die ja als principium essendi hinter der Schöpfung steht, nicht entsprechen, wenn sie res productas ad perfectum non perducat (I, 103, 1, R). Man kann unter diesem Gesichtspunkte sagen, daß rem producere et ei perfectionem dare nur zwei Hinsichten auf diesen einen Gott sind. Das Ziel ist dabei, ipsa sua bonitas, so daß das principium sich im finis wiederfindet. Die gubernatio aber ist die Durchführung dieser in sich notwendigen Vorgänge. Schöpfung und Vorsehung stehen sich also sehr nahe. Nach ihrer ratio in Gott sind sie unmittelbar zusammengehörig (I, 103, 5, R). Die gubernatio ist aber gegenüber der creatio andersartig. Sie hat als conservatio keine andere actio, aber per continuationem actionis ist sie ausgezeichnet (I, 104, 1, ad 4). Auf dem Wege der continuatio als influxus von esse (I, 104, 3, R) geschieht an der Schöpfung ihre Hinführung zur perfectio. Insofern sind creatio und gubernatio voneinander tief unterschieden. Das bonum, das in creaturis ist,

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ist doppelt zu erfassen, einmal als ein bonum ad substantiam rerum, sodann ein bonum ad ordinem earum in finem et praecipue in finem ultimum (I, 22, 1, R). Beide bona sind der Kreatur eingestiftet. An ihrem Unterschiede läßt sich der Unterschied zwischen creatio und Providentia aufzeigen. Bei dieser ganzen Erhellung des Providentia-Glaubens aus der Teleologie bemerken wir den strengen Analogie-Bezug, der in der Providentia in intellectu provisoris und der Providentia in rebus creatis waltet. Er ermöglicht das Ganze, verlangt aber die Hypothese eines bonum in creaturis ad ordinem in finem. Das fein ausgewogene Providentia-Denken bei Thomas ist, wie wir sahen, nach dem Modell der prudentia angelegt. Die theologische Hypothese dabei ist die, die göttliche actio qua Providentia nach diesem Modell begreifen zu dürfen. Eine biblische Grundlage hat solch strenge Teleologie nicht, und wenn Thomas Rm 13,1 (quae a Deo sunt, ordinata sunt) für den Notwendigkeitserweis heranzieht, daß alles, was ist, auch von Gott auf ein Ziel geordnet sein muß (I, 22, 2, R), so besitzt das wohl Illustrations-, aber keinen Belegwert. Die kategoriale Analyse des teleologischen Denkens von Nikolai Hartmann hat gezeigt6, daß es eine innere Notwendigkeit menschlichen Denkens ist, teleologisch zu verfahren, daß Teleologie aber keinen berechtigten Anhalt in der Wirklichkeit hat und daher nur Scheinprobleme hervorbringt. Wenn Thomas dieses Modell der teleologisch verfahrenden menschlichen prudentia benutzt, um das Wesen des Glaubens an die Vorsehung theologisch zu ergreifen, so verläßt er nicht nur seinen Grundsatz, die effectus des Handelns Gottes loco definitionis zu verwenden, sondern er interpretiert den Providentia-Glauben so, daß derselbe vor dem teleologischen Schein, aber nicht mehr vor der realen Wirklichkeit leben muß. Darin liegt die ganze Gefährlichkeit dieses Versuches. Der große Gedanke, der Thomas bewegt, ist der, Gott als das Ziel aller Wege in der Welt als Natur und Geschichte zu zeigen. Mit diesem Gedanken steht Thomas fest in der biblischen Eschatologie. Mit diesem großartigen »Gedanken« ist aber die Eschatologie zum Richtpunkte der Gedanken über die Providentia gemacht. Das ist als solches schon ein Unternehmen fraglicher Natur, denn die »Vollendung« aller Dinge ist nicht ihre Evolution ad bonum eis intrinsecum. Wo dieser Versuch nun noch am Modell der menschlichen prudentia ausgelegt wird und damit in den Zusammenhang einer immanenten Teleologie gerät, wie sie zur prudentia des Menschen ' Teleologisches Denken 1951.

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gehört, da mag zwar menschliches Fragebedürfnis menschlichem Einsehen gemäß erläutert sein, aber da ist Theologie zur explicatio hominis gemacht. Ja, die Frage der Providentia ist offenbar verfehlt, denn der Glaube an die Vorsehung Gottes fragt nicht dem endlichen »Vollendungs«-Ziel Gottes nach. Er fragt nach dem, wie das undurchschaubare Hier und Jetzt welthaften Daseins in Natur und Geschichte mit dem Deus verbunden und verbindbar sei, der der »Gegenstand« der christlichen Botschaft ist. Diese Frage wird mit dem eschatologischen Ziel, das am Bilde der teleologisch strukturierten prudentia ausgelegt wird, gleichsam »erschlagen« — aber nicht beantwortet. In klarer Weise finden wir ein zweites Lehrmoment in der theologischen Bewältigung der Aufgabe, die der Vorsehungs-Glaube stellt, bei Zwingli herausgearbeitet. Zwingli hatte 1529 in Marburg eine Predigt über die Vorsehung gehalten, die er 1530 zu einer Abhandlung de Providentia erweiterte, die 1531 in einer Übertragung von Leo Jud herausgegeben wurde 7 . In dieser Schrift, die zu den geschlossensten und großartigsten theologischen Leistungen Zwingiis gehört, wird die Vorsehung aus dem Gottsein Gottes deduziert. »Ist ein Gott — so muß auch ein Fürsichtigkeit sein« (S.234). In dieser These faßt sich die lapidare Einsicht Zwingiis zusammen. Man darf nicht verkennen, daß diese These auch hinter den Erörterungen bei Thomas steht, denn die ratio ordinis wie das bonum in finem sind ja aus dem Gottsein Gottes gefolgert. Aber gerade der Vergleich mit Thomas, der sich zumal im 1. Kapitel (S. 86—92) aufdrängt, da Zwingli hier die Gottheit Gottes als das »höchste Gut« wie als das »höchste Wahre« vorstellt, das als solches »aller Dinge wissend und verständig sein« muß, läßt auf die tiefen Unterschiede zwischen den beiden Konzeptionen aufmerksam werden. Für Thomas wird Gottes Gottheit zum Entfaltungsprinzip auf das Gute hin, und mit Thomas hat man alle Dinge mit Fug und Recht daraufhin anzusehen, daß sie eine Teleologie zeigen. In diesem »Mechanismus« tritt auch keine Störung ein. Bei Zwingli ist das anders. Gott ist nicht nur die Ursach aller Dinge, sondern er ist mit seiner Fürsichtigkeit alles bewirkend selbst nahe. In dieses Weltverhältnis Gottes, das also nicht in eine immanente Teleologie überführt wird, kommt dann plötzlich ein ganz neuer Ton, indem »der Mensch und das Gesetz« (4. Kapitel) eingeführt werden. Was bis dahin wie eine philosophische Erörterung über das höchste Gute und Wahre über Weisheit und Allmacht 7

Zwingiis Hauptschriften III. Teil S. 86-248; CR Bd. 90, 640 ff.

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aussah, das verändert nun sein Gesicht, und der Mensch, der am Gesetze scheitert, der »immer keinen Frieden mit sich selbst hat« (S. 137), tritt auf. Der Grund ist der, daß die Vorsehung hinsichtlich des Menschen, der »der Welt das ist, was Gott den Menschen ist« (S. 132), als eine andere wahrgenommen werden soll als die Vorsehung und Regierung der Welt und ihrer Geschehen. Dieser Unterschied gehört zur theologischen Tradition. Er taucht auch bei Thomas auf, wird dort aber rein auf die intellektuellen Fähigkeiten des Menschen bezogen und in diesem Unterschiede nur gesehen. Bei Zwingli kommt mit dem Menschen und dem Gesetz das Phänomen des Sündenfalls in den Blick und damit die Frage, ob die Weisheit Gottes an diesem entscheidenden Punkte nicht gefehlt habe (S. 155 f.). Zwingli löst diese Frage wenig überzeugend so, daß Gottes Güte als Gerechtigkeit dem Menschen nur über den Umweg der Ungerechtigkeit hätte bekanntgemacht werden können, und da Gott ja der Urheber von Ungerechtigkeit nicht sein könne, der Mensch also durch das Gesetz in diese Lage versetzt wäre. So wenig diese Erklärung zureicht, so klar ist die Intention dabei. Zwingli kann nämlich auf diesem Wege die Erwählung wie den Glauben in den theologischen Begriff der Vorsehung einbauen8. Zwingli befindet sich auch hiermit in der theologischen Tradition, denn wir sahen, wie bei Thomas die Prädestination als Spezialfall der Providentia erfaßt war. Aber was dort ein Spezialfall hinsichtlich des eschatologischen Zieles war, das wird hier zur breiten Mitte des Ganzen, um Gottes Güte nicht nur, sondern auch seine Freiheit zu konstatieren. Dabei verliert Zwingli den umfassenden Anspruch des Vorsehungs-Glaubens nicht aus dem Auge. Er fügt ein Kapitel Beispiele vorwiegend aus dem A T an (S. 206-234), aus denen hervorgeht, daß er in seinem Gedankengang die naturhaften Ereignisse ebenso im Auge hat wie die geschichtlichen. Allerdings treten alle Ereignisse in Natur und Geschichte nun unter den Maßstab von Erwählung und Verwerfung, daß dem einen alles zum Guten, den anderen aber alles zum Argen gerät (S. 234). Aber der Grundsatz, daß Gott sagen auch heiße Vorsehung sagen, ist somit voll in den Aspekt aufgenommen, der für Zwingli in der theologischen Aussage des christlichen Glaubens entscheidend ist. Der Glaube an die Providentia ist identisch mit dem Glauben an Gott. Gott aber ist der Gott der erwählenden Güte, die auch in der Verwerfung noch Anerkennung fordert. 8

Vgl. die Besprechung bei O . Ritsehl, Dogmengeschichte des Protestantismus 1926 III. Bd. S. 60 f.

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Die theologische Erfassung des Vorsehungs-Glaubens bei Zwingli ist bei aller Gebundenheit an die theologische Tradition und aller Vorliebe für philosophisch geschmückte Begrifflichkeit und Deduktion ein klarer Versuch, die Providentia in einen biblisch, und zwar stark alttestamentlich bestimmten Glauben einzubeziehen. Das Kriterium des Ganzen wird des Gottes Gottheit, der dem Menschen sein Gesetz gibt, um ihm seine Güte und Gerechtigkeit nahezubringen und der darin als der frei Erwählende oder Verwerfende handelt. Damit wird die Providentia in den Bereich von Sünde und Gnade einbezogen. Das Ergebnis dieses Versuches für den Vorsehungs-Glauben wird man nur sehr kritisch betrachten können. Diese theologische Setzung leitet den Glauben an, sich mit seiner Erwählungsgewißheit am Laufe der Welt im Guten bestätigt zu finden, sich aber im Argen von der Welt her in Frage gestellt zu sehen. Damit muß sich der Glaube von der Welt abhängig machen, und die Providentia wird dem Glauben zum Fallstrick. Der Syllogismus practicus steht in der Fluchtlinie dieser Konzeption, oder der Versuch, die Erwählung Gottes nun doch in die Nähe einer Apokatastasis panton zu bringen. Ein drittes Lehrmoment finden wir zumal von Calvin gehandhabt. Wir bedienen uns zur Darstellung der Form, die Calvin der ProvidentiaLehre in seiner Institutio von 1559 (I.Buch Kapt. 16-18) gegeben hat. Was bei Calvin schon im äußeren Aufbau der Institutio von 1559 für die Providentia-Lehre sichtbar wird, das ist ihre klare Zuordnung zur Schöpfung und ihre Trennung von der Prädestination, die im III. Buche verhandelt wird. Diese Trennung wird so durchgeführt, daß die Prädestination bei der Verhandlung der Providentia nicht erwähnt und auf die Providentia bei der Prädestination nicht rekurriert wird. Das ist bewußt so, denn Calvin hat diese Trennung erst in der Ausgabe von 1559 endgültig durchgeführt. Wenn auch, wie es in der Sache liegt, gleiche und analoge Termini hier und dort auftauchen', so ist diese Trennung für die Providentia-Lehre doch besonders wichtig, da sie ja ihren Platz, der 1539 und später nach der praedestinatio hinter der Rechtfertigungs- und Freiheitslehre war, verloren hat. Die Providentia ist ins I.Buch hinter die Schöpfung gerückt. Die Meinung dabei war offenbar die, daß die Providentia-Lehre aus der Schöpfungs-Lehre zu entfalten sei, da der Glaube an die Providentia den Glauben an Gott den Schöpfer zentral voraussetze. Hiermit bog Calvin nicht in eine Linie ein, die davon abstrahieren wollte, daß wir es bei dem Glauben an die ' P.Jacobs, Prädestination und Verantwortlichkeit bei Calvin 1937, S. 67-71.

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Providentia mit einem Stück spezifisch christlichen Glaubens zu tun hätten. Calvin setzt vielmehr an mehreren Stellen der Providentia-Erörterung einen Hörer voraus: quisquis vero edoctus est Christi ore (XVI, 2). Er ist auch der Meinung, daß diese Providentia einer Unterweisung durch den Heiligen Geist nur wahrhaftig einsichtig werden kann (XVII, 2). Calvin behandelt die Providentia also als ein Stück des Glaubens von Christen. Er entwickelt diesen Glauben aber eben aus dem Schöpfungsglauben. Und das ist das, was diese Lehrform auszeichnet. Es liegt noch eine besondere Nötigung vor, daß der Providentia-Glaube an dieser Stelle nach der Lehre von der Schöpfung stehen muß, die in der Schöpfungslehre begründet ist und uns unten noch genauer beschäftigen soll. Der Glaube an Gott den Schöpfer steht nämlich für Calvin in der Gefahr, daß man meint, man habe es mit einem momentaneus creator zu tun, qui semel duntaxat opus suum absolverit (XVI, 1). Diese Rede von der Einmaligkeit der Schöpfung ist zwar als solche richtig, aber nach Calvin muß man sagen, daß wir noch gar nicht richtig begriffen, was es heißt, Gott ist der Schöpfer, nisi ad providentiam eius usque transimus (ebd.). Es geht um mehr im Glauben (non nisi fide nos intelligere!), nämlich um die Anerkenntnis, daß der Schöpfer perpetuum moderatorem et conservatorem esse (ebd.). Aber dabei handelt es sich nicht um Einsichten allgemeiner und abstrakter Art, so stellt Calvin im gleichen Abschnitt fest. Es geht vielmehr um eine specialis Dei cura, aus der heraus man letztlich auf paterna eius favor geführt wird. An dieser Beziehung der Providentia auf singularis oder specialis cura Dei liegt Calvin in der ganzen Darstellung mit Recht sehr viel. In diesem Belange sieht er die entscheidende Trennung der theologischen von der philosophischen Vorsehungslehre (XVI, 1). Damit hält Calvin diese Lehre im Rahmen der Glaubensbelange, die ja keine generalen Einsichten vermitteln kann. Das ist der systematische Ansatz, mit dem Calvin sich veranlaßt sieht, die ProvidentiaLehre der Lehre von der Schöpfung zuzuordnen. Calvin kann sagen, daß niemand die Providentia Gottes recte et utiliter erwägen kann, der nicht bedenkt, daß er es dabei notwendigermaßen cum fictore suo mundique opifice zu tun hat (XVII, 2). Wo das nämlich nicht geschieht, fehlt die erforderliche reverentia, qua decet humilitate. Von einem in sich deutlichen Ansatz geht Calvin also aus. Die klare Bezeugung und der klare Inhalt der Schöpfungslehre bilden den Entwurf. Und man geht in diese Erörterung mit dem Empfinden hinein, von diesem Ausgangspunkt her eine faßbare Lehrgestalt von der Vorsehung zu finden. Diese Erwartung wird jedoch enttäuscht.

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Wenn wir nämlich fragen, worauf diese Lehre den Glauben an die Vorsehung hinweist bzw. wie diese Lehre den Glauben an die Vorsehung interpretiert, so bemerken wir erstaunt, daß die Providentia in einem occulto Dei consilio (XVI, 2) oder in einem arcano Dei consilio (XVI, 6) besteht, und daß wir im Glauben an die Vorsehung revereamur occulta eius iudicia (XVII, 1). Gehen wir also auf den tatsächlichen Inhalt der Providentia-Lehre bei Calvin, so sehen wir, wie er den Glauben in die Zumutung stellt, vor verschlossenen Türen zu verharren! Die Vorsehung Gottes ist undurchschaubar. Das ist alles. Es liegt an der imbecillitas nostrae mentis (XVIII, 3), daß wir hier keinen eigentlichen Zugang mehr besitzen. Es liegt an unseren verdunkelten, gebundenen Sinnen, daß wir die wahren Zusammenhänge in Natur und Geschichte nimmer zu erkennen in der Lage sind. Es geht um eine arcana Dei providentia (XVII, 2), und man muß dringend ermähnen, providentiam Dei non semper nudam occurrere (XVII, 4). So eindeutig diese Feststellung die ganzen Kapitel über die Vorsehung durchzieht, so klar ist zugleich deutlich gemacht, daß der Glaube, der es auf dem Boden der Schöpfungsüberzeugung schafft, an specialem Dei providentiam (XVI, 2), an providentiam non tantum generalem (XVI, 7) sich wahrhaft zu halten, suavissimos fructus (XVII, 6) dieses Glaubens gewinnt. Ja, das ist die Meinung Calvins: Wir haben es unter dieser Voraussetzung bei der Providentia mit einer utilissima doctrina zu tun (XVI, 3)! Was ist es mit diesem Glauben? Es ist Glaube von der Art, wie Hbr 11 ihn beschreibt, ein Glaube, der eben nicht sieht, sondern glaubt. Was bei Calvin den Providentia-Glauben mit dem Heilsglauben koppelt, das ist diese Glaubens-»Struktur«, nichts zu erkennen, nichts zu sehen, und dennoch zu glauben. Von hier kann Calvin die Geistgewirktheit dieses Glaubens postulieren. Die Schrift sagt es ja deutlich, Gottes Gerichte seien profundam abyssum (Ps 36,7), und dieser Abgrund gähnt hinter dem nahen Gesetz von Dtn 30,11. Aber Deus ad capienda haec mysteria . . . suorum mentes intelligentiae spiritu illuminat. Und so kommt das Unwahrscheinliche zustande, daß da, wo nur ungangbare Abgründe zu liegen scheinen, eine via sich auftut, in qua tuto ambulandum est. Und wie sieht das ambulare aus? Mundi gubernandi admirabilis ratio merito abyssus vocatur: quia, dum nos latet, reverenter adoranda est (XVII, 2). Das ist der Weg, die schlechthin verborgene Vorsehung im Glauben zu verehren. Calvin kann in hohen Tönen als große Frucht und hohe Nützlichkeit dieses Glaubens preisen, so zur freudigen Ergebung in den verborgenen Erhaltungswillen Gottes einzukehren.

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Was wir bei Calvin in seiner Institution von 1559 beobachten, ist also dieses: die Vorsehungslehre wird bewußt und energisch an die Schöpfungslehre herangerückt. Der Vorsehungsglaube wird als hoch-notwendige Ergänzung des Schöpfungsglaubens vorgestellt. Dieser Vorsehungsglaube wird bei dieser Einstellung dem christlichen Glauben aber nicht mehr über materialia theologica verklammert, wie bei Thomas über das summum bonum in teleologischer Ausrichtung oder wie bei Zwingli über electio und reprobatio oder wie in der Gegenwart über christologische Voraussetzungen. Calvin erweist den Vorsehungsglauben als spezifisch christlichen Glauben vielmehr durch den Erweis seiner Glaubensstruktur gemäß H b r 11,1 als Vertrauen in die paterna cura Dei specialis wider den Augenschein! Die tarditas nostrae mentis bleibt weit hinter der altitudo providentiae Dei zurück, so daß alles zwar durch ein Dei consilio certa dispensatione geordnet ist, uns aber alles gleichwohl zufällig zu sein scheint (XVI, 9). Bei dieser Lage kommt es eben auf Glauben an. Obwohl uns alle Ereignisse wirr und zufällig erscheinen, ist von diesem Glauben zu sagen: manet tarnen nihilominus cordibus nostris infixum, nihil eventurum quod non Dominus iam providerit (XVI, 9). Dieser Glaube hat seinen Grund in der Gottes- und Heilsoffenbarung des Neuen Testamentes. N u r ein solcher Glaube, der in verehrender Beugung vor Gottes väterlichem Liebeswillen zu stehen gelernt hat, ist in der Lage, die Zweifel zu tragen, die das Leben aufgibt. Die große Frucht des Providentia-Glaubens, die Calvin meint, besteht in einer Bescheidung, die das Leben meistern kann. Mit zwei Momenten theologischer Verklammerung sehen wir Calvin also arbeiten: Einmal mit dem Schöpfungsglauben und zweitens mit der formalen Struktur des biblischen Heilsglaubens, der sich auch hier erweisen soll. Das zweite Moment wirkt als ein Riegel gegen das Abgleiten der Providentia in fatalistische Zusammenhänge und geht in diesem abwehrenden Charakter auf. Das erste Moment trägt die eigentliche Begründung des Vorsehungsglaubens. Der Abstand dieser Vorsehungslehre zu Thomas und Zwingli ist sehr deutlich. Nicht das eschatologische Ziel regiert diesen Glauben, und nicht die Schrecken des Gerichtes korrespondieren dem »Zufall«, sondern der Gott, der die Welt geschaffen hat, wird von einem Glauben geglaubt, der an den Liebeserweisen Gottes gewachsen auch das Widerspiel des Lebens aushält und so an Gott bleibt! Die Verbindung des Vorsehungsglaubens mit dem Heilshandeln Gottes verläuft also nicht über Gott als endliches Ziel aller Wege und nicht über die Last des Gesetzes und der Verborgenheiten Gottes, sondern über die Schöpfung wie über dies

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spezifische an Christus gebildete und vom Geist geweckte Glauben von Christen. Man wird die Deute-Kraft dieser Erfassung der Providentia gerade im I. Buche der Institutio sehr hoch einschätzen, ohne zu übersehen, daß in dem O r t der Lehre im begründenden Anschlüsse an die Schöpfung und der Struktur dieses spezifischen Glaubens gerade hinsichtlich des I. Buches der Institutio und seines deduktiven Aufbaues ein Hiatus besteht. Es ist nicht ganz einsichtig, warum ein Providentia-Glaube von dieser spezifisch christlichen Artung ausgerechnet an den Deus als creator angeschlossen wurde. Aber dieses Moment wird uns im folgenden noch beschäftigen.

III. Die drei dogmatischen Motive, mit denen der Vorsehungsglaube eingeordnet wurde, zeigen, wie unsicher die dogmatische Tradition dieses Lehrstückes ist. Wir bemerkten bereits, daß bei Luther und in Melanchthons Loci die Geschlossenheit dieser Lehre offenbar überhaupt gesprengt wurde. Eine geschlossene Lehrgestaltung unter dem Begriffe der Vorsehung oder Providentia gibt es bei Luther und in Melanchthons Loci nicht. Der Frage, wo denn die Sache wahrgenommen sei, erschließt sich bei Luther folgendes Bild. Zunächst ist es ganz deutlich, daß auch bei Luther die Welterhaltung und Weltregierung der Schöpfung zugeordnet wird. Die Erläuterung zum I. Artikel von 152010 redet sogar von der Schöpfung nur in der Vertrauenshaltung vor seinem gegenwärtigen Handeln. Der Inhalt des Glaubens an Gott den Schöpfer ist: »Ich setz' mein Trauen auf keinen Menschen, auch nicht auf mich selbst... Ich setz' mein Trau auf kein C r e a t u r . . . Ich setz mein Treu allein auf den bloßen unsichtbaren unbegreiflichen einigen Gott, der Himmel und Erde erschaffen h a t . . . Wiederum entsetze ich mich nicht ob aller Bösheit des Teufels und seiner Gesellschaft, dann mein Gott über sie alle ist. Ich glaube nichts desto weniger in Gott, ob ich von allen Menschen verlassen und verfolgt wäre...« Der Glaube an die Schöpfung ist in dieser Erklärung also nichts anderes als dieses Glauben an das undurchschaubare Weltregiment Gottes heute. Im Guten und Bösen gilt diesem Gotte als dem Schöpfer alles Zutrauen. »So er Schöpfer Himmels und der 10

Cl. II, 48; WA 7, 215f.; EA 22, 16f.

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Erden ist und aller Dinge ein Herr: wer will mir etwas nehmen oder schaden? Ja, wie wollen mir nit alle Ding zu gut kommen und dienen, wenn der mir Gut gan, dem sie alle gehorsam und Untertan sein?« Im Glauben an den Schöpfer ist also dieses Vertrauen auf Gottes gegenwärtige Fürsorge impliziert, denn er regiert alle Dinge! In der Kirchenpostille hat Luther in einer Trinitatispredigt11 diese Fragen in der Richtung behandelt, wie weit die Einsicht, »daß eine göttliche Majestät alle Dinge regieret«, spezifisch christlicher Glaube sei. Der Unterschied zwischen Heiden und Christen in dieser Sache ist der, daß die Christen durch Gottes Wort »Gott nicht allein von außen« kennen, sondern »auch in sein inwendiges Wesen« geführt sind. Man muß ja doch sagen, »daß diese hohen göttlichen Sachen, das ist, beide, sein göttlich eigentlich Wesen, und auch sein Wille, Regiment und Werk schlecht über aller Menschen Gedanken, Verstand . . . kurz der ganzen menschlichen Vernunft . . . aller Dinge verborgen sei und bleibe«. Der Mensch ist eben auch vor der Welt, dem Werke und Regimente Gottes auf die Offenbarung angewiesen, da er Gottes Vater-Wesen kennen muß, um nicht zu versagen: »Und dies sind die unbegreiflichen Gerichte und unerforschlichen Wege Gottes; das ist sein Regiment und Werk«. Ihnen kann nur der standhalten, der Gottes inwendiges Wesen als sein Lieben kennt. Auf dem Boden solchen Glaubens kann man die Einsicht ergreifen: »er hat die Welt nicht also geschaffen, wie ein Zimmermann ein Haus bauet, und darnach davon gehet, läßt es stehen, wie es stehet; sondern bleibet dabei, und erhält alles wie er es gemacht hat, sonst würde es weder stehen noch bleiben können«. Die Problemstellung ist in diesem Komplex also ganz analog gesehen, wie Calvin die Vorsehung Gottes theologisch erfaßte. Im Anschluß an den Schöpfungsglauben und auf ihm basierend richtet sich gläubiges Christenvertrauen gehalten im trinitarischen Heilsglauben auf den Gott, der seine Welt nicht verläßt, sondern väterliph erhält. Dem Glauben müssen alle Dinge zum Guten dienen, das ist das Postulat, das der Glaube vor der Welt und ihren Schicksalsschlägen aufrichtet. Im großen Katechismus sagt Luther ganz analog, »was alles gefasset ist in das Wort >SchöpferReich< nicht als einen >BereichRegimentRuf mich an in der Zeit der Not und ich will dich erretten .< Also nu und durch die Weis will Gott uns bekannt werden.«" Diese Gotteserkenntnis bedeutet das Innewerden der Vergebungsbereitschaft Gottes: Wenn wir die religiöse Wahrheit über den Menschen hören, die ihn als den in doppelter Bedrohtheit Lebenden zeigt, und wenn wir Gott geben, was sein ist, nämlich das Regiment seiner Kreatur, dann wird die Rechtfertigung als das sichtbar, was sie ist: Die Not-Wendigkeit, die den Menschen freimacht, in Einigkeit mit sich selbst an einer ihm offenen Welt zu handeln. Dabei — darin liegt das Entscheidende für diesen IV. Teil — lautet die Voraussetzung, daß wir Gott geben, was sein ist, nämlich das Regiment in seiner Schöpfung. Es gibt kein Geschehen — Gutes wie Böses — das Gott nicht wirkt. Darin ist sein Gottsein ausgesagt! Alles, was wir von Gott wissen, ist die in der Schöpfung angelegte universale Abhängigkeit allen Seins und Geschehens von seinem Wirken. Angesichts des wirren Weltge" Apologie der Konfession. Art. IV. In: Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Göttingen 7. Auflage 1976, S . 1 7 2 .

Rechtfertigung

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schehens aber hat es sich zu Beginn der Christenheit sogleich nahegelegt, den Schöpfergott als den, der für die ganze Sinnwidrigkeit der Welt verantwortlich ist, von dem Erlösergott zu trennen, der die arge Welt seinem Heil zuführt. Diese Gnosis hat die junge Kirche in ihre schwerste Krise gestürzt. Wenn Gott nur zum Spezialisten für Liebe und Erlösung wird, wie das offenbar in unserer Gegenwart in Gemeinde und Theologie wieder beliebt wurde, dann ist es um den christlichen Glauben geschehen. Dann stirbt die Frage nach dem gnädigen Gott ab, und man versteht die Vergebung der Sünden nicht mehr. Man sieht den Sinn des Glaubens in der Mitmenschlichkeit, den Sinn der Taufe in der Initiation der Kirchengemeinschaft, den Sinn des Abendmahls in der Agape eines Gemeinschaftsmahles. An den entscheidenden Punkten wird die Vergebung der Sünden ausgeklammert, und damit wird das Christentum um seinen Sinn gebracht. Damit wird der Mensch aber auch, und hier liegt die Bedeutung des Geschehens, seiner Handlungsfähigkeit beraubt.

V. Gesetz und Evangelium 1. Die religiöse Mitte des christlichen Glaubens ist die Vergebung der Sünden. Dieser Vorgang bewirkt, daß die Menschen, die in ihrer Welt wegen der zu ihnen gehörigen Selbstzerfallenheit und Weltentfallenheit vor Elend und Sinnlosigkeit nicht zurechtkommen können, einen Weg aufgetan bekommen, auf dem sie »dennoch« — trotz ihrer Selbstzerfallenheit und Weltentfallenheit — als ganze Menschen in offener Umwelt leben können. Der Vorgang, in dem diese Wende aus der Not geschieht, heißt im Christentum Rechtfertigung. In allen Religionen geht es darum, daß der mit sich selbst und mit seiner Welt schwer ringende Mensch, der in sich und aus sich nur Scheitern, Tod und Vergehen findet, der in dieser Einsicht seine Durchsetzungskraft und Handlungsfähigkeit einbüßt und ein Nihilist wird — wir kennen solche Realistik sogar aus allen frühen Kulturen —, daß dieser um sein Leben ringende Mensch durch die Epiphanie seines Gottes in die Einheit mit seiner Welt und in die Ganzheit seiner selbst gehoben wird. Dadurch wird er dazu befreit, sein schweres Leben weiter zu leben und es kulturvoll, ja festlich zu gestalten. Das Christentum und die Religionen sind sich völlig einig darin, daß der Vorgang, den das Christentum Sündenvergebung und Rechtfertigung nennt, ihr Inhalt und ihr Sinn ist. Gottesgewinn ist Selbst-

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Zur Soteriologie

und Weltgewinn. Selbst- und Weltgewinn aber bedeutet die Freisetzung des Menschen zum Handeln in sittlicher Verantwortung. 2. Die Religionen leben von einem heilvollen Einmal her, in dem als Zuwendung der Gottheit der Selbst- und Weltgewinn möglich wird. Um dieses »Einmal« wieder-zuholen, bildet sich die Tradition des Kultes. Um diesen zu erfüllen, bildet sich das Gesetz als Bedingung der Teilnahme und als Bedingung des Gelingens. Die Gesetze betreffen den Kult ebenso wie das tägliche Leben von Selbst und Welt in bezug auf den Kult. Es geht dabei um das Selbst und die Welt, und damit um Handlungsfreiheit. Diese Handlungsfreiheit lebt innerhalb des Zauns der als Kult- wie LebensTradition gegebenen Gesetze. Selbst und Welt sind neu und neu zu erwerben. Sie hängen an einem Dritten, an einem Gott oder an einer göttlichen Macht, an dem sich die Einheit von Selbst und Welt konsolidiert. Dieser Dritte oder dieses Dritte muß wiedergeholt werden, damit er oder es unmittelbar nahe kommt, denn der Mensch bedarf seiner bei jedem Handeln. Selbst und Welt sind dadurch sakralisiert. Sie unterliegen dem religiösen Gesetz, das die kultische Wiederholung aus dem Ganzen des Lebens heraus bedingt. So prägen die Religionen das tägliche Leben mit ihrem sakralen Gesetz. Es geht ja um Selbstgewinn und Weltgewinn aus dem Dritten, an dem sich die Selbstzerfallenheit und die Weltentfallenheit zu Selbst- und Welt-Gewinn einen können. Alle Religion kämpft um die Ganzheit des Menschen und um seine Erschließung zur Welt. Das heilvolle »Einmal« leuchtet als eschatologisches Ziel dem schweren Weg der Gesetzeserfüllung voran, und der Kult sichert seine Nähe. Die kosmische Ordnung, das kultische Gesetz und das anthropologische Wissen bilden eine sakrale Universalität, die das gesamte Leben prägt und die mythisch, ritisch und lebensgestaltend ständig begangen werden muß. So entbindet Religion durch das religiöse Gesetz den Menschen zu sich selbst wie zu seiner Welt. Die Erfüllung des Gesetzes ist konstitutiv für das Heil. 3. Das Christentum ist eine Religion wie die anderen. Es gewinnt seine Lebensgestalt als Kirche, und es bedarf als solche Lebensgestalt der religiösen Tradition und des Gesetzes. Wir können aber zeigen, wie im Neuen Testament dem Gesetz als einem Konstitutivum des Heiles widersprochen wird. Die Gerechtigkeit Gottes ist ohne des Gesetzes Werke erschienen und für den Menschen erreichbar. So sagt Paulus (Rom. 3,21) in bezug auf Jesu Wort, Werk und Person. Jenseits aller Gesetze ist das Heil für jeden Menschen als Jesu Wort, Werk und Person da: Die Gerechtigkeit

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ist eine Person. Jesus selbst hat den Kampf gegen die Sakralisierung des Lebens, die Ausdruck der Gesetzlichkeit ist, begonnen. In aufreizender Weise stellte er die Profanität des Kommens des Reiches der israelitischen Sakralität entgegen. Damit kämpft er gegen Israels tiefreligiöse Kultur. Dabei war Jesus nicht der Meinung, das Reich Gottes schreite durch ein allgemeines »alles ist erlaubt« voran. Vielmehr ist für ihn der Anspruch dieses Reiches so radikal, daß die Jünger fragen: »Wer kann dann selig werden?« Da wird die Wechselseitigkeit, die für alles Gesetzliche kennzeichnend ist, gänzlich aufgehoben. Ein »do ut des« gilt weder vor Gott noch gegenüber den Menschen. Der Jünger handelt aus der Fülle des erschienenen Reiches heraus; er handelt als Verlängerung der Liebe, mit der Gott die Welt liebt. Die ihm widerfahrene Zuwendung Gottes macht ihn frei, sich der Welt zuzuwenden. Jesus ereignete in seinem Wort und Werk wie in seiner Person das Heil. Er ließ die Annahme des Menschen durch Gott Ereignis werden und setzte darum diesen Menschen frei, sich als Ganzer von Gott angenommen zu wissen und so die Welt als die Welt seines Gottes und damit für ihn offen erfahren zu können. Dadurch wurden die Jünger in eine neue Bewegung zur Welt hin versetzt. Ihr Handeln war aber dem Heil konsekutiv. Wenn sie die Worte Jesu zu erfüllen suchten, so geschah dies aus der widerfahrenen Annahme heraus. Gottes Zuwendung läßt sich nicht werkhaft erreichen. 4. Mit diesem Tatbestand war die Frage nach dem Verhältnis von Gesetz und Evangelium für die junge Christenheit in besonderer Weise gestellt, und Paulus befaßte sich mit diesem Problem besonders im Galaterund im Römer-Brief. Sein Grundtenor ist es, das Gesetz als Weg, um das Heil zu erwerben, zurückzuweisen. Diese Zurückweisung gilt Juden wie Hellenen gegenüber und stellt also das Christentum den anderen Religionen entgegen. Aber mit dieser Abgrenzung gegenüber dem religiösen Gesetz ist das Problem von Gesetz und Evangelium ja keineswegs gelöst. Der I. Korinther-Brief zeigt sehr deutlich, daß die frühe, sich eben entwickelnde Gemeinde eines Gesetzes bedurfte, um falsche libertinistische Folgerungen aus dem Evangelium zu vermeiden (I. Kor. 6,12-20; 10,23-33) und um die Gemeindegestalt vor Unrecht und Verbrechen zu schützen (I. Kor. 6,1-11; 5,1-5). Die christliche Gemeinde bedarf des Gesetzes aber auch insofern, als der die Gemeinde erfüllende und leitende Geist selbst einen Nomos, also ein Gesetz, darstellt (Rom. 8,2). Das ist insofern von großem Belang, weil darin deutlich wird, daß der Christ in doppelter Weise zum Welthandeln frei wird: Einmal in den

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Charismata des Geistes — wie Krankenheilung, Prophetie, Lehre und Diakonie; andererseits in dem Handeln in der Freiheit des Christenmenschen, wie sie die Haustafeln schildern. Diese beiden unterschiedlichen Weisen von Handlungs-Vollmacht und Handlungsfreiheit darf man nicht zusammenfallen lassen. Die Vollmacht der Charismata ist in unseren Gemeinden zwar nahezu ausgestorben, aber damit um so mehr unserer Aufmerksamkeit bedürftig. Mit der doppelten Handlungsfreiheit wird auch ein doppelter Nomos sichtbar: Das Handeln des Christen als Ehemann oder im Beruf und sein Handeln als Charismatiker stehen auf Grund des Glaubens unter besonderer Verbindlichkeit, die neben- und miteinander dem Selbst- wie dem Welt-Gewinn auf Grund des Glaubens Gestalt verleiht. Das Verhältnis von Gesetz und Evangelium ist mit dem Fragebereich der Rechtfertigung unmittelbar verbunden. Das Gesetz ist in allen seinen Formen der Versuch, das in sich bedrohte Selbst- und Welt-Verhalten des natürlichen und religiösen Menschen vor dem Chaos zu bewahren. Das Gesetz übt diese Wirkung aus, indem es den Menschen als religiöses, moralisches oder staatliches Gesetz konstitutiv für seine Bewahrung zu machen sucht. An diesem Versuch scheitert der Mensch, denn er vermag das Gesetz weder als religiöses, noch als moralisches oder als staatliches Gesetz zu erfüllen. Die Gesetzes-Religionen leben daher alle — wie das Judentum oder der Islam zeigen — in einer starken Heilsungewißheit, denn alles Heil ist sub conditione der Erfüllung des Gesetzes und damit ungewiß. Zwar kennen die außerchristlichen Religionen neben dem Gesetz und seiner Erfüllung die Möglichkeit der spontanen und unverdienten Epiphanie als Zuwendung des Heils. Sie kennen damit auch als Gesetzesreligionen die Frage nach dem Verhältnis von Gesetz und Evangelium. Dies wird in den mystisch genannten Bewegungen des Islam, des Judentums und des Hinduismus sichtbar. Aber das Verhältnis bleibt eindeutig so, daß das Gesetz und seine Erfüllung auch noch die Bereiche der freien Zuwendung des Heils erfüllt. Im Christentum gilt, wie wir bei Hosea, Paulus, Luther und Thomas zeigten, daß das Heil (d. h. die Vergebung der Sünde) »allein aus Gnaden« geschieht. Das Gottesbild des Christentums ist davon bestimmt, daß diese Gnade als heilvolle Zuwendung den Gott Israels, den Vatergott Jesu, bestimmt. Glaube heißt die Gewißheit, daß Gott für mich — so wie ich bin — mit seiner Gnade dasein will und mich annimmt. Indem er mich als diesen bestimmten, ganzen Menschen annimmt, entläßt er mich in seine

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Welt, die darin die mir zugewiesene Schöpfung ist und mit der ich als Geschöpf in einer tiefen Gemeinsamkeit lebe. In diesem Vorgang, den die Theologie Rechtfertigung nennt, waltet eine klare Heilsgewißheit ohne des Gesetzes Werke. Weil die Rechtfertigung den Menschen als den, der er ist — also qua peccator — nicht transsubstantiiert, sondern ihn als einen angenommenen Sünder entläßt, so gilt einerseits die neue Handlungsfreiheit, aber zugleich gilt ihm noch das Gesetz. Aber dieses Gesetz hat seine Rolle verloren, das Heil zu konstituieren, und damit kann es nicht mehr töten. Es wird neu, und zwar nüchtern, als brauchbar gehandhabt oder als unbrauchbar für antiquiert erklärt. So wird die Rechtfertigung allein aus Glauben als diakritisches Prinzip erkennbar, an dem sich das Christentum von den anderen Religionen unterscheidet: Während die Gesetzeserfüllung in den außerchristlichen Religionen das Heil konstituiert, ist die Gesetzeserfüllung im Christentum konsekutiv zu dem widerfahrenden und empfangenden Heil.

Brauchen wir heute den christlichen Glauben?*

Die Frage unseres Themas, ob wir heute eigentlich das Christentum brauchen, ist in diesen Ausführungen nicht rhetorisch gemeint. Sie ist auch nicht als Glaubensaussage gemeint, sondern sie stammt einerseits aus einer tiefen Beunruhigung und andererseits aus dem langjährigen Versuch, religionsvergleichend und gegenwartsbezogen die Fragen des Christentums zu durchdenken. Was die Beunruhigung anbetrifft, so ist dazu zu sagen: Wir haben alle den Aufbruch des Nationalsozialismus erlebt und haben seinen Zusammenbruch erlitten. Wir haben dabei gemeint, daß der tiefste Grund dieses grauenhaften Zusammenbruches darin läge, daß der Versuch gemacht wurde durch Hitler, über die Maßstäbe des christlichen Glaubens hinweg, einen Staat zu bauen. Die Maßlosigkeit der Ziele, die tiefe Verlogenheit der Propaganda, die Blindheit vor den Tatsachen waren die Folge, und diese Folge war der Anstoß zum Ende. Diese Maßlosigkeit der Ziele, die Verlogenheit der Propaganda und die sture Blindheit gegenüber Tatsachen sind, so meinten wir, Folgen davon, daß der Glaube an diesen Gott der Bibel verworfen wurde und daß ein anderer verschwommener Glaube von Blut und Boden an seine Stelle trat. Das deutsche Volk hat 1945 jedenfalls so reagiert. Es kehrte zurück in den Umschluß der christlichen Kirchen. Gewiß, es war viel Unehrlichkeit dabei, denn man wurde eben Christ, weil die Besatzungsmächte sagten, sie seien Christen und weil das Wort eines Geistlichen damals viel galt und ein pfarramtliches Gutachten manchen retten konnte. Gewiß, diese Dinge haben damals eine Rolle gespielt. Aber sie haben gewiß nicht die einzige Rolle gespielt. Es war schon viel echte Bewegung dabei. Aber dann ist das Ganze irgendwo steckengeblieben. Es ist offenbar eben doch nicht so, daß West-Deutschland oder gar West-Europa auf den Grund des Glaubens vorgestoßen sei, um zu neuen Zielen aufzubrechen, sondern irgendwo sind die Dinge versandet. Aber vielleicht ist das noch nicht einmal die tiefste Beunruhigung. Sie wird * Vortrag, gehalten in der Apostelkirche in Münster/Westfalen 1954, mit dem ursprünglichen Titel: Brauchen wir heute die christliche Religion?

Brauchen wir heute den christlichen Glauben?

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erst da sichtbar, wo wir uns klarmachen, daß sich in der Ostzone und im Block der Sowjet-Staaten noch einmal dasselbe abspielt wie im Dritten Reich — nur noch viel grundsätzlicher und bewußter, noch dämonischer. Und dazu müssen wir nun sehr nüchtern sehen, daß der Westen dem Osten nicht sehr viel entgegenzusetzen hat. Man spielt die Größe der Rüstungen gegeneinander aus. Man spielt die wirtschaftliche Produktion aus. Aber geistig, und d. i. faktisch, hat der Westen nicht so sehr viel. Das wird bei allen Treffen ζ. B. von ost- und westdeutschen Studenten sehr deutlich! Die Leute aus den Ost-Staaten sind nicht nur besser geschult, sondern man hat den Eindruck, sie haben klarere, faßbarere Ziele und anziehende Lösungen. Was tun wir hier im Westen eigentlich in dieser Richtung? Wir sind zwar beunruhigt, aber das hilft nicht viel weiter. Die Programm-Vorschläge für die Kommunistische Partei in Frankreich z . B . — wie etwa der von Jean Paul Sartre — sind sehr überzeugend, und ich frage mich, ob wir eigentlich etwa Echtes an geistiger Reserve haben, so daß uns der Osten mit seiner ganzen Dialektik nicht zu imponieren braucht. Gewiß, wir haben Kirchen, und wir sind hier in den West-Staaten im allgemeinen Christen. Aber besagt das etwas? Wenn wir meinten, im Dritten Reich erkannt zu haben, daß der ganze deutsche Konkurs damit zusammenhinge, daß dort ohne christlichen Glauben gehandelt worden ist, so wäre die Folge, jetzt zu sagen: Also, dieser Christenglaube hat die weltbewältigenden Kräfte, die es nun schaffen. Jedoch, das ist wohl eine recht verschwommene Sache, und wenn wir uns angesichts des herannahenden Ostens fragen, wieviel bei uns eigentlich an Glaubenssubstanz freie Energie sei, so müssen wir wohl sagen: Das ist nicht so weit her. Ja, wir müssen wohl noch einen ganzen Schritt weitergehen und sagen, daß die mit gutem Willen, wie ich nach wie vor meine, vom Deutschen Volk 1945 vollzogene Rückkehr in die Kirchen offenbar an geheimer Auszehrung, an Substanzschwund leidet, der den Erfolg und den Sinn des Ganzen in Frage stellt. Wir können uns offenbar nur schwer Rechenschaft darüber ablegen, was das eigentlich für uns heute heißt, daß wir Christen sind. Wir ahnen wohl alle, daß es nicht damit erledigt sein kann, daß wir zur Kirche gehen und Kirchensteuer bezahlen. Darüber braucht nicht lange geredet zu werden. Aber was heißt es denn nun positiv? Was bedeutet es für unser Leben? Wir wissen auch alle, daß es falsch wäre, diese Frage negativ zu beantworten: Ich stehle nicht. Ich betrinke mich nicht. Ich lebe nicht im Ehebruch. Zwar haben diese Dinge auch mit unserem Christsein zu tun. Aber wir müssen uns doch nach der positiven Seite überlegen, was es denn heißt, daß wir Christen sind. Dies ist aber

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offenbar schwer. Sind Christen fleißigere Leute als andere, sind sie sauberer? Da stehen wir vor unserer Frage, und dringlich ist diese Frage, denn nur von einer echten Beantwortung dieser Frage aus wären wir in der Lage, die Grundfrage zu klären, die so lautet: Haben wir als Christen dem Dämon des totalen Staates überhaupt etwas Echtes entgegenzuhalten? Wenn wir diese Frage bejahen könnten, so könnten wir sagen: Ja, wir brauchen heute die christliche Religion, denn an dem totalen Staat entscheidet sich die Welt-Situation! An der Frage der totalen Staaten entscheidet es sich, ob wir und unsere Kinder freie Menschen oder Sklaven sind. Mit dem Dritten Reich ist diese Frage nicht auszutragen. Denn das Dritte Reich ist von außen zerstört. Mit dem Bolschewismus hat die Ostzone diesen Kampf jetzt zu tragen. Und am Bolschewismus werden wir sie vermutlich eines Tages zu bewähren haben. Alle anderen Fragen verschwinden vor dieser Frage nach dem totalen Staat. Warum eigentlich? Nun, zunächst könnte man sagen, weil der totale Staat mit der Vernichtung des Rechts, mit den Methoden der Massenhinrichtung und der KZ's die grauenerregendste Gewalt heute auf Erden ist. Das ist natürlich an sich richtig und die Angstpsychose begleitet ja auch das Bild dieser Staaten, wo immer sie auftraten. Jedoch, das ist noch nicht das Erschreckendste. Das Erschrekkendste ist doch dies, daß wir bemerken müssen, daß das moderne öffentliche Leben auf der ganzen Welt so geartet ist, daß es mehr oder minder alle Staaten zwingt, totalitäre Ansätze wenigstens zu machen. Die fortschreitende Mechanisierung und Automatisierung der Wirtschaft macht es auf der ganzen Welt notwendig, die nationalen Wirtschaften mehr oder minder zu lenken. Dies geht ζ. B. über Zoll- und Kredit-Politik der Staaten. Aber wie immer das auch sei, klar scheint es uns allen zu sein, daß es ohne solche Lenkung nicht geht. Nun, es wird keinem einfallen, die sog. soziale Marktwirtschaft im heutigen Deutschland totalitär zu nennen. Aber es wird auch keinem entgehen, daß totalitäre Ansätze als Lenkungs-Notwendigkeit da sind und daß dies auch nicht anders geht. Dies geht über die Zwangsversicherung und über die gewerkschaftliche Gliederung zum Fraktionszwang der Parteien. Da hat es schon unmittelbar totalitäre Züge. Wie weit dies geht, hat die FDP-Auseinandersetzung im Winter gezeigt. Dies nimmt besonders krasse Züge in den skandinavischen Wohlfahrts-Staaten an, dies zeigte sich sehr klar in den Sozialisierungsmaßnahmen der englischen Kohle- und Stahl-Industrie. Es ließe sich dazu noch viel sagen. Was daran wichtig und erschreckend ist, ist die Bemerkung, daß der moderne Industrie-Staat anscheinend ohne totalitäres Gefalle nicht auskommt. Wir kön-

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nen auch so sagen: Wenn wir auch in einem demokratischen Lande leben, und wir wollen Wert und Wirklichkeit dieser Tatsache ja nicht verkleinern, so ist auch dieses Land hier und da von totalitären Momenten durchzogen, ohne die offenbar nicht auszukommen ist. Wenn das aber so ist, so stellt sich unsere Frage nicht nur mit neuer Dringlichkeit, sondern auch mit einem ganz neuen Akzent. Wir meinten ja doch annehmen zu können: Wenn sich das Christentum heute als Kraft erweisen soll, so hat es das gegenüber den totalen Staaten zu tun. Nun müssen wir sehen, diese totalen Staaten sind zwar besonders hervorstechende und zum Prinzip erhobene totalitäre Gebilde, aber sie haben offenbar Gründe, die viel tiefer im modernen Leben überhaupt angelegt sind, die wohl gar in jeder modernen Lebensäußerung stecken. Das moderne Leben läßt sich offenbar nicht ohne weitgehende totalitäre Maßnahmen bewältigen. Das hervorstehende Beispiel: Die Straßenverkehrsordnung oder ähnliche Spezialgesetze. Wir können also mit unserer Frage nicht vor dem totalen Staat stehenbleiben, sondern wir haben uns den Grundlagen modernen Lebens zuzuwenden. An ihnen ist unsere Frage zu bewähren. Ich wähle hierzu die Gestaltlosigkeit, um an ihr Frage und Antwort, Lebensbedrohung und Lebenssicherung zu erörtern. Das gewichtigste Moment, um das es uns bei unserer Fragestellung zu gehen hat, ist die Tatsache der Gestaltlosigkeit modernen Lebens. Was meinen wir damit? Wir zielen damit auf einen, wenn nicht den Grundaspekt allen Lebens, daß es nämlich als individuierte Gestalt da ist. Also z.B., wenn wir von dem Eichbaum reden, so reden wir ja erst konkret, wenn wir dabei eine bestimmte Eiche vor uns haben. Jede Eiche ist nach Wuchs und Umgebung besonders und hat eben Gestalt. Diese Gestalt aber ist nicht etwas Nebensächliches, sondern sie macht Eigenart und Qualität des Lebendigen aus. Wie das überhaupt so ist, so ist das in Hinsicht auf den Menschen ganz besonders. Jeder Mensch ist eine gestalthafte Eigenart, und das bezieht sich nicht nur auf seinen Wuchs und die Form seiner Glieder, sondern das bezieht sich auch auf die ihm zugehörige Umwelt. Dies kommt ζ. B. in der Kleidung heraus. Und wir wissen und sehen es: Obwohl unsere Kleidung heute fast uniform ist — jeder Anzug hat eine und dieselbe Grundform —, setzt sich trotzdem noch eine gestalthafte Eigenart durch. Das war sogar beim Militär ersichtlich. Die strenge Uniformierung Schloß die gestalthafte Prägung nicht aus. Wie der einzelne sein Koppel trug, seine Mütze aufsetzte, da war noch Gestalthaftes wirksam! Aber das war schon fast verdeckt, und von ferne gesehen glich einer dem anderen. Was hieran

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also sichtbar wird, ist: Das Gestalthafte ist die Eigenprägung des einzelnen, die sich Ausdruck gibt. Und dazu gehört nicht nur der Körperbau oder der eigene Name, sondern dazu gehört die Kleidung, und wie man seine Wohnung gestaltet und wie man seine Umgebung mit Atmosphäre erfüllt. Das alles ist die Gestalt als Gestaltung. Eine Beachtung dieser Gestalt heißt bemerken, daß alles Lebendige gestalthaft ist und daß es zum Lebendigen gehört, gestalthaft zu sein! Gerade zum Menschlichen scheint es zu gehören, gestalthaft zu leben. Das Menschliche ist verwirkt, wo es nicht mehr gestalthaft sein kann. Und das Menschliche bewährt sich geradezu daran, seine Umwelt zu gestalten. Was anderes ist die Kultur als so wahrhaft gestaltete Welt. Ja, man wird nicht zu viel sagen, wenn man feststellt, daß es eine Lebensbedingung des Menschen ist, sich gestaltend auswirken zu können. Aber nun haben wir zu bemerken, daß diese Gestalthaftigkeit immer schwerer wird. Wir haben schon auf Mode und Uniform verwiesen. Es ist zwar so, daß sich auch an der modernen Mode die Gestaltung noch auswirkt. Sie wirkt sich gerade noch aus. Aber sie ist schon zurückgedrängt. Jedenfalls stellt die heutige Mode keine Anforderung mehr an die Gestaltungskraft. Der Konfektionär nimmt uns die Fragen der Gestaltung ab, und es ist wohl zu beobachten, daß diese Kraft gestaltender Schau offenbar abnimmt. Das ist nicht ohne Gefährdung. Hinter der uniformierten Einheitlichkeit moderner fassadenhafter Gesichter tritt die Eigenart zurück. Denken Sie an die Hollywood-Gesichter! Wir bemerken: Angesichts der Anforderung, die eine moderne Welt an die Konfektion stellt, angesichts der Tatsache, daß keiner mehr spinnen, weben und schneidern kann, ist es wohl kaum anders möglich, als daß uniformiert wird. Aber damit ist die Sache nicht minder gefährlich. Man trägt heute dies und morgen das. Vor dem Man versinkt die Gestalt. Wenn dies nur ein Problem der Mode wäre oder der Möbelindustrie, so könnte man sagen, es ist nicht so schlimm. Aber es greift ja tiefer, denn nun müssen wir etwas ganz Analoges ζ. B. an unserem Berufsleben beobachten. Ich war in einer Tuchfärberei in Herdecke. Bei 1200 Arbeitern und Angestellten und einem hochkomplizierten Arbeitsablauf gab es in diesem ganzen Werk noch zwei Meister. Der ganze Betrieb war mit zwei Meistern zu bewältigen. Alles andere wurde durch sog. ungelernte Arbeiter erledigt, die die Maschinen bedienten. Dies ist ja mehr oder weniger überall so. Was heißt das aber? Das heißt doch, daß die Gestalthaftigkeit unserer Arbeit je länger desto mehr zurücktritt. Ob ich die Hebel einer Maschine bediene, die Gewinde dreht, oder einer Maschine, die Stoffe einfärbt, oder einer

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Maschine, die Brötchen formt oder Bonbons macht, das ist ziemlich egal. Nun natürlich, auch dieser Prozeß ist noch nicht abgeschlossen. Aber er schreitet vor. Die Automatisierung und Mechanisierung der Arbeit schreitet vor. Also denken wir ζ. B. an die großen elektronischen Rechenmaschinen. Sie rechnen ebenso gut aus, wie oft das Wort Liebe unter den Griechen gebraucht wurde, wie sie die Umdrehungen der Milchstraßengestirne, die Todeszahlen durch Embolie oder das Steuereinkommen einer Großstadt berechnen. Die Qualität, der Inhalt versinkt vor dem Zahlen- oder Quantitätsfaktor, und es scheint wirklich so zu sein, daß im modernen Leben überhaupt wie beim Elektronenhirn das Geheimnis der Weltbewältigung darin besteht, die Qualität in die Quantität umzuformen oder die Gestalt durch die Norm zu ersetzen. Das sind Dinge, die uns allen eigentlich bekannt sind. Wir müssen sie nur in der richtigen Weise zusammensehen. Mit dem Vorgang nun, daß wir das moderne Leben offenbar nur dadurch bewältigen können, daß wir die Qualität, d. i. die Gestalt, umformen in die Quantität oder die Norm, ist nun aber noch ein Moment gegeben, das wir beachten müssen: Dies besteht in der Funktionalität. Was heißt das eigentlich? Dieser Bogen der Funktion ist ja heute allgegenwärtig. Im gestalteten Leben ist es so, daß der einzelne an seinem Platz unauswechselbar ist. Der Geselle oder der Meister in seinem Handwerksbetrieb, der Bauer oder der Großknecht auf ihrem Hof, sie sind ebensowenig zu ersetzen wie Vater und Mutter in der Familie — und wenn sie ersetzt werden müssen, so geht das nur auf dem Wege einer echten Vertretung, einer gestalthaften Repräsentation. Die Mutter ist nicht dadurch ersetzt, daß jemand ihre Funktionen, also Essenkochen, Saubermachen, Wäschewaschen erfüllt. Eine Mutter ist, wenn überhaupt, dann nur durch echte tiefe Stellvertretung zu ersetzen, daß also ein Mensch da ist, der die Mutter gestalthaft mit allem, was an unwägbarer Liebe etc. dazugehört, stellvertretend wahrnimmt. Sie wissen, daß das gerade bei der Mutter eine der schwersten Aufgaben ist, denn die Mutter hat ja nicht nur Funktionen in der Familie, sie ist ja nicht nur dazu da, daß der Hausstand funktioniert — sie ist anderes und mehr. Sie gestaltet Leben. Wie es bei der Mutter ist, so ist das grundsätzlich in allem Leben. Der Mann ist an seiner Stelle im Beruf nicht nur Funktionär. Der Bauer ist nicht nur dafür gut, daß Saat und Ernte funktionieren. Er ist diesem Hofe als Bauer tiefer verbunden. Er gestaltet selbstverantwortlich, aber eben verantwortlich. Sein Herzblut geht in Tier, Pflanze und Haus ein, und das alles bildet eine Einheit. Das moderne Leben löst diese Verbundenheit gestalthafter Umweltformung auf in die Funktion.

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Der Arbeiter an der Maschine ist weithin nur noch für das Funktionieren verantwortlich. Auch er ist noch verantwortlich. Aber nicht mehr für ein Ganzes, Qualitatives, sondern nur für ein Methodisches, nämlich das Funktionieren der Maschine. Für die Qualität sorgt die Maschine. Auch an dieser Stelle ist es wie bei der Mode. Die Verantwortlichkeit ist nicht weg. Auch ein Maschinenmeister ist ein fast unersetzlicher Mann, und jeder, der mit einer Maschine umgeht, weiß darum, wie diese Maschine auf den Mann eingeht, der sie umgibt. Man merkt es, wenn ein Fremder seinen Wagen gefahren hat. Wagen, die immer wieder von anderen gefahren werden, verschleißen rasch. Das ist nicht nur die Folge des härteren Umgehens mit fremdem Eigentum, sondern die Maschine nimmt etwas an von dem sorgfältigen Meister. Also, auch in der Maschinen-Kultur gibt es noch ein echtes Gestalten, auch hier ist der Lebensvollzug nicht in die Funktion einfach aufgelöst. Aber das Gestalten ist minimaler geworden und viel verborgener. Es ist so verborgen, daß es fast übersehbar wird, und es wird immer wieder übersehen. Je weiter die Mechanisierung geht, um so weiter wird die Gestaltung des Menschen anscheinend ausschaltbar und sein Tun zur Funktion erniedrigt. Das ist auch im Bereich des Beamten und Angestellten zu sehen. Zum Beispiel ein Beamter im Finanzamt bei der Einkommensteuer-Erhebung. Die Gesetze sind so und müssen so sein, daß dieser Mann fast nur noch wie eine Funktion aussieht. Er rechnet die gegebenen Zahlen tabellenmäßig durch, bringt Sonderausgaben etc. in Anschlag und zieht das Fazit in Hinsicht auf die Klasse. Ein Vorgang, der völlig mechanisch aussieht. Ein Vorgang, den auch eine Rechenmaschine machen kann. Aber wenn man nun, wie ich, mit dieser Einkommensteuer zu tun hat, so merkt man ungeheuer stark, wieviel der Beamte tun kann und tatsächlich tut. Wenn er seine Sache als Funktionär auffaßt und mechanisch anfaßt, so ist der Steuerzahler verprellt. Das »Wie« tut es — nicht vor allem die Summe — ob man seine Steuern mit Ärger und Mißgunst oder mit Einsicht bezahlt. Es ist deutlich, wie weit hier heute auch schon das gestaltende Vermögen des Beamten zurücktritt. Aber Sie glauben kaum, wieviel das ausmacht, wenn da ein Mann sitzt, der ein Herz hat, wie man sagt, und der nicht Steuerfunktionär ist. Worauf es ankommt: Das moderne Leben drängt die Gestalt zurück und reduziert sie an allen Ecken und Enden auf die Funktion. Das geschieht im öffentlichen Leben der Politik, wo der Funktionär zum Schlagwort wurde, das geschieht in der Wirtschaft wie im Recht. Die tiefe Umformung der Qualität in die Quantität kommt im Anwachsen der Funktionen zum

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gefährdenden Ausdruck. Die Gestalt zieht sich zurück in die Unanschaulichkeit, und damit ist die ganze Gefährdung angezeigt. U m eine akute Gefährdung handelt es sich. Es ist natürlich einfacher, die Einkommensteuer-Erklärung mechanisch zu erledigen, statt sich dazu noch einmal Gedanken über den Mann und seine Familie zu machen, die das bezahlen sollen. Es ist einfacher, die Gewerkschaft wie eine Maschine zu behandeln, statt daran zu denken, wieviele Schicksale sich da vollziehen. Es ist einfacher, die Möbel in Serie zu kaufen, statt sich zu überlegen, was paßt denn nun wirklich zu meiner Frau und mir etc. Es ist dies alles nicht nur einfacher, sondern im gesamten Gefälle des modernen Lebens legt es sich sogar nahe, auf die Schwierigkeiten der Gestaltung zu verzichten und nur in Quantitäten zu denken und in Funktionen zu handeln. Damit tritt das Menschentum in seine Gefährdung. Die Gefahr taucht auf, daß der Mensch nur noch mechanisch handelt und nur noch mechanisch lebt. Er verliert seine Eigenart. Er wird eine Nummer, und das muß man sehen. Es gehört schon etwas dazu, sich diesen Schwung zur Gestaltung immer erneut zu geben und nicht zu versinken in N o r m , Zahl und Funktion! Damit stehen wir vor dem Kernproblem: Die Frage, wie denn nun der Mensch heute in dieser Entwicklung sich selbst versteht. Verstehen wir uns noch als Wesen, die in allem zur Gestalt gerufen sind? Wir bemerken, wie wir hiermit immer von dem Zentralanliegen des totalen Staates reden, denn der Mensch als Funktion ist ja der Mann des Stachanow-Systems, ist der Mann der politischen Aufmärsche, der Mann, den der totale Staat »einsetzen« kann. Der totale Staat gebraucht den Menschen als Schablone, der nicht mehr die Gestaltung als Ausdruck seiner selbst will, sondern der im Geist der Kolchose, im Kollektiv aufgeht, der kein Eigentum mehr verantwortlich zu gestalten hat, sondern der Fremdgüter, Staatsgüter quantitierend verwaltet. Für den totalen Staat ist einer wie der andere: Materie von lebendigen Zellen, die keine Eigengestalt als Eigenbelang und als Eigenwert anmelden, sondern die nur ausführen. Wir fragen also, wie es denn nun mit dem Selbstverständnis dieses Menschen in der Gefährdung sei? Wenn wir diese Frage stellen, so werden wir zur Beantwortung sachgemäß dahin blicken, wo sich die Menschen stets am wahrsten und tiefsten über sich selbst aussprechen — nämlich auf ihre Kunst. Die Kunst einer Zeit ist ja darin Kunst, daß sie das Selbstverständnis einer Epoche gestaltet. Was der Mensch im allgemeinen nicht vermag, dem nämlich Gestalt zu verleihen, was ihn im Tiefsten bewegt, das kann der Künstler. Dabei ist es ziemlich gleich, ob wir an die Malerei, die

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Dichtung oder an die Architektur denken. In allen Formen bildender Kunst spricht sich eine Epoche gestaltend aus. Wenn wir hier also das Gestaltproblem des Menschen angesprochen haben, so haben wir zentral den Bereich angesprochen, der von der Kunst wahrgenommen wird. Wenn wir unter diesem Aspekt den Bereich der Kunstgeschichte betrachten, so bemerken wir dann auch, daß die Aussagen der Kunst in eminenter Weise das Selbstverständnis einer Epoche wahrnehmen. Denken Sie z.B. an die Gotik, an die Renaissance oder an den Barock. In den Bauten wie in der Plastik, in den Versen wie in den Modeschöpfungen dieser Epochen haben wir jeweils einen eindeutigen und einheitlichen wie klaren Gestaltausdruck davon, was diese Epochen groß und klein sein ließ, was sie bewegte und was als Kraft in ihnen wohnte. Wenn wir nun mit diesem Aspekt unsere moderne Kunst ansehen, so werden wir allerdings höchst betroffen. Was wir bisher sahen, das ist ja die Feststellung: Der moderne Mensch ist am Gestaltproblem in der Gefährdung! Und was die moderne Kunst uns zeigt, das ist: Die Gestalt zerfällt. Dieses erregende Phänomen ist Ihnen allen an der modernen abstrakten Kunst ersichtlich. Die Gestalt zerfällt. Dabei ist es nun ja so: Da waren nicht einige, die sich eines Tages sagten: »Wir wollen 'mal abstrakt malen, wir wollen 'mal nur ein paar bunte Dreiecke hinsetzen, Wiese d'runterschreiben und dann sehen, was die Leute sagen.« Und die Leute sagten Kunst dazu, weil sie es nicht verstanden. So war es ja nicht, sondern es war anders. Da waren Künstler, und sie hingen an der Schönheit der Gestalt, wie es eben Künstler tun, und sie malten diese Gestalt von Mensch und Welt, wie es Franz Marc im Anfang tat. Aber dann, eines Tages, merkte er: Ich kann das nicht mehr. Ich werde unwahrhaftig, denn die Menschengestalt ist als Gestalt nicht da. Aber Franz Marc hing an der Gestalt, und so ging er zum Tier, und er malte die Gestalt des Tieres — seine Pferde sind ja wahre Gestalt. Aber auch aus diesem Bereich sah er sich eines Tages vertrieben, und, gezwungen von seiner Wahrhaftigkeit, ging er zur geometrischen Figur. Die Gestalt war zerfallen. Es blieb die Farbe als Funktion und die Figur als Norm. Dies vollzog sich bei Franz Marc vor dem Ersten Weltkrieg. Es vollzog sich in einer Welt, die noch kaum etwas ahnen ließ von der Gestaltgefährdung, in der wir heute stehen. Franz Marc hat etwas vorweggenommen, was heute am Tage liegt. Dieser Zerfall der Gestalt aber ist nun ja nicht nur eine Sache der bildenden Kunst geblieben. In der Dichtung vollzieht sich dasselbe. Ich nehme als Beispiel zwei Gedichte von Gottfried Benn:

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Ο daß wir unsere Ururahnen wären. Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor. Leben und Tod, Befruchten und Gebären glitte aus unseren stummen Säften vor. Ein Algenblatt oder ein Dünenhügel, vom Wind Geformtes und nach unten schwer. Schon ein Libellenkopf, ein Möwenflügel wäre zu weit und litte schon zu sehr.1 Was Benn hier zeigt, ist die Reduktion der menschlichen Gestalt auf die biologische Keimzelle: Der Einzeller im warmen Moor. Zurück zu diesem Einzeller geht die Sehnsucht. Er ist reine Funktion, Leben und Tod, Befruchten und Gebären, das gleitet aus stummen Säften hervor. Die Gestalt ist nicht mehr da — ein Klümpchen Schleim. Und dann taucht die Gestalt als Problem auf: »Ein Algenblatt oder ein Dünenhügel« — Was beide verbindet: »Vom Wind Geformtes und nach unten schwer.« Die Tropfenform als Gestalt. Mehr darf an Gestalt nicht sein — Funktion am Wind. Denn schon diese Gestalt: »Ein Libellenkopf, ein Möwenflügel wäre zu weit und litte schon zu sehr«. Benn setzt das menschliche Leiden in die Gestalt. Gestalt ist Leiden, und je höhere Gestalt, desto größeres Leiden. Der Tropfen, der sich dem Winde noch fügt, geschmeidig und nach unten schwer, der leidet noch nicht an zu viel Widerständigem. Aber schon der Möwenflügel, der nicht mehr den Wind fast reibungslos durchstreicht, sondern der ihn schlägt und sich an dieser Widerständigkeit erhebt, ist Leiden — ist zu viel Leiden. Und nun gar die menschliche Gestalt. Sie birgt die Fülle der Leiden als Ertragen der Fülle der Widerständigkeiten. Die Gestalt erscheint also in neuem Licht: Die Gestalt als Sammel- und Ausgangspunkt der Leiden! Darum die Sehnsucht zurück. Und die Gestalt als Gestaltung zerfällt: Was Er uns auferlegt, ist ohnegleichen, die Löwen lachen und die Schlange singt, sie leben in gewiesenen Bereichen, in die das Schicksal keine Reue bringt.

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Gottfried Benn, Gesammelte Gedichte. Wiesbaden 1956, S. 35.

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Was Er uns auferlegt, ist so verschlossen, man ahnt es manchmal, doch man sieht es nie, und was man sieht, ist schauerübergossen, grau, übergrau, gesteigertes Cap Gris. Was Er den Tag entlang und auch die Nächte uns auferlegt, ist einzig, daß man irrt, das Tränen macht, kein Glück und keine Mächte geben ein Etwas, welches Inhalt wird. Was Er dir auferlegt in deine Hände: ein Flockenspielen, das du nie gewinnst, Was Er dir auferlegt, das ist am Ende, das ist um dich ein gläsernes Gespinst.2 Dieses Gedicht zeigt uns, wie sich mit der Gestalt die Gestaltung auflöst. Der Löwe und die Schlange, die können froh sein und singen, denn sie leben in gewiesenen Bereichen — sie haben keine Gestaltung als Möglichkeit vor sich und auch keine verlorene Gestaltung als Reue hinter sich. Wir können das nicht. Uns ist Gestaltung auferlegt, und was heißt das? Man weiß das nie. Und es ist ohne jeden Inhalt! Bloße Norm — ein gläsernes Gespinst. Die Qualität steht nicht mehr da. Bloße Funktion: Ein Flockenspielen. Mehr nicht. Der Dichter erkennt den Menschen von heute als den, der völlig verständnislos vor seiner Welt steht und vor der Aufgabe zur Gestaltung und der das alles sinnlos und inhaltslos vorfindet — das ist am Ende ein gläsernes Gespinst. Da schaut man sich um nach Löwe und Schlange, die haben fein lachen und singen — denn sie leben in gewiesenen Bereichen. Der Mensch erstarrt vor der Wucht und Unzugänglichkeit der Gestaltungsaufgabe. Er reduziert sich auf das Tier. Aber auch da noch ist Gestalt und das heißt Leiden — Also geht er weiter zurück zur Urform, das Schleim-Klümpchen im sonnenwarmen Moor: »Thalassale Regression«, wie Benn es anderenorts nennt. Es mag hiermit zunächst an Material genug sein. Was wir bemerken, ist offenbar also dieses: Wir sehen, daß es uns in unserer modernen Welt schwer gemacht wird, uns als Gestalt und unser Leben als Gestaltung zur Durchsetzung zu bringen. Die moderne Welt legt es mit ihrer Mechanisierung und Uniformierung, mit ihrer Automatisierung und Normierung nahe, auf Gestalt als Ausdruck unserer selbst wie auf Gestaltung als 2

Ebd., S. 309.

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Lebensaufgabe zu verzichten. Die Gestaltungsmöglichkeit hat sich bis ins Unanschauliche zurückgezogen. Wir sind daran gewöhnt, in Quantitäten oder Methoden und nicht in Qualitäten oder Inhalten zu denken. Wir empfinden es heute gewiß besonders stark, daß Gestalt und Gestaltung Leiden ist, wie Benn sagt. Es gehört heute schon Mut dazu, seine Eigenart zu finden und zu halten. Denken Sie nur an die Frisuren und die Länge der Kleider. Aber das Ganze reicht ja viel tiefer. Wir alle wissen und bemerken immer wieder, wie arm unsere Welt an Originalen geworden ist. Ein Original ist ja nichts anderes als ein Mensch, der seine Eigenart gestalthaft zu leben wagt, und wir merken es, diese Originale sterben aus! Wir bemerken auch, daß unsere Kunst uns keinen Mut mehr zu Gestalt macht. Und diese Aussage der Kunst sehe ich nun als ungewöhnlich ernsthaft an. Diese Künstler tun das nicht aus Manier, sie tun es auch nicht aus bloßem Pessimismus. Damit hat das alles gar nichts zu tun. Diese Künstler finden in uns modernen Menschen den Willen zur Gestalt nicht mehr vor. Sie konstatieren leidend den eminenten Gestaltschwund in unserem Selbstverständnis. Damit ist die Kunst zur abstrakten Kunst geworden. Was wir an der Kunst bemerken, legt uns die Frage nahe: Woher soll denn dieser moderne Mensch die Kraft zur Gestalt und zur Gestaltung nehmen? Wir richten angesichts des Ausfallens der Kunst unseren Blick auf die Philosophie. Aber dort ist der Gestaltzerfall noch viel grundsätzlicher zum Prinzip erhoben als in der Kunst. Der modernen Philosophie ist die Gestalt verdächtig geworden als vorhandener Inhalt. Sie hat sich von seiner Erhebung abgewandt und sich auf die reine Methode geworfen, das »gläserne Gespinst«. Wir können sehen, wie jede Anfrage bei der Philosophie auf den Rat trifft, die Gestalt als überholtes Problem zu verlassen und vom Sein zum rein befindlichen Dasein fortzuschreiten. Es ist wohl genügend deutlich, was mit dem Gestaltproblem auf dem Spiele steht. Das menschliche Leben als Gestaltung in Eigenverantwortung steht auf dem Spiele. Jenseits der Gestalt steht das Kollektiv. Ist es soweit, daß wir vor dem sich anbietenden Kollektiv kapitulieren müssen? Denn Gottfried Benn irrt, der Weg vom Menschen geht nicht zurück in die Bereiche des Tieres, sondern er geht nur weiter, und da steht der Unmensch, der dem heraufdämmernden Nihilismus, der gestaltlosen Kollektivierung verfallen ist. Worum geht es? Es geht nicht darum, diese moderne Welt der Technik zu zerschlagen oder zu negieren. Das wäre absurd. Es geht um den gestaltenden Menschen in dieser Welt. Daß das sehr wohl möglich ist, weiß jeder. Zwei Zimmer, die beide mit haargenau den

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gleichen W-K-Möbeln eingerichtet sind, müssen dennoch nicht uniform sein. Zwar ist die Aufgabe dabei schwieriger als früher, denn die Möbel sind nun mal gleich in Farbe und Form. Aber diese Aufgabe ist dadurch vielleicht sogar schöner, intimer und reizvoller. Sie erstreckt sich auch nicht nur auf die eigene Note, die wir durch Bild oder Gardine hineinbringen, sondern ihre Schwierigkeit liegt darin, daß so ein Serien-Möbel zunächst so fatal seelenlos und schablonenhaft ist. Die Seele, die ein Schrank früher schon im Entstehen durch den eigenen Entwurf empfing, die langsame handwerkliche Herstellung und die so fast pflanzenhaft wachsende Gestaltung, diese Seele fehlt dem Serien-Schrank. Aber wir können sie ihm geben. Unsere Umwelt will geliebt und darin gestaltet sein. Gestalten aber heißt zuallererst, noch nicht einmal neue Formen zu finden, sondern Atmosphäre zu geben, d. h. sich selbst an diese Umwelt zu verlieren. Darum also geht es, diese unsere Welt mit ihrem ganzen technisch seelenlosen Funktionieren als die, die sie ist, zu gestalten. Wenn wir nun die Schwierigkeit sehen und wenn wir sehen, wie die Kunst die Gestalt verliert, dann stellt sich die Frage, woher wir eigentlich die Kraft nehmen sollen, diese Gestaltung zu vollziehen. Dabei richtet sich unser Blick nun fragend auf den christlichen Glauben. Sollte er diese Kraft bergen? Wenn wir diese Frage richtig beantworten wollen, so müssen wir vorher eine Erwägung anstellen. Wir müssen uns nämlich klarmachen, daß der christliche Glaube oder die christliche Kirche kein übernatürlicher Automat ist, aus dem man wahre Sätze ziehen kann, sondern daß dieses Christentum sich selbst heute ein Gestaltproblem ist. Gehen wir von einer ganz einfachen Beobachtung aus. In zunehmendem Maße hat unser eigenes Christentum die Gestalt des Privaten angenommen. Das liegt auf evangelischer Seite viel offener zutage als auf katholischer. Aber wenn ich recht sehe, ist es allgemein so, daß der Christ heute in hohem Maße seinen Glauben meint, in gestaltloser Innerlichkeit haben zu können und haben zu müssen. Diese innerliche Privatreligion krankt an der Einsicht des Gestaltproblems. Es gibt keinen Glauben — zumal keinen christlichen Glauben —, der nicht Gestalt gewinnt als Handeln an und in der Kirche. Dabei ist es im Raum der katholischen Kirche wesentlich leichter, diese Gestalt zu finden, weil schon der Kirchenraum selbst gestalthafter ist, weil die Ausdruckshandlungen der Messe wie der Prozession in besonders klarer Weise dem Glauben zur Gestalt verhelfen. Es ist also durchaus zu fragen, ob nicht die katholische Frömmigkeit daher heute in viel höherem Maße der Gestaltgefährdung hilfreich sein kann als die evangelische. Jedenfalls ist es wohl

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deutlich, daß hier, in der Frage nach der kirchlichen Gestalt des Glaubens, dieser christliche Glaube sich selbst Gestaltproblem ist. Sodann ist zu bemerken, daß wir Christen offenbar noch in ganz anderem Sinne mit unserem Glauben als Gestaltproblem zu tun haben. Unser Glaube hat sich ja nicht nur insofern in die Innerlichkeit verlagert, als er nicht mehr kirchliche Gestalt gewinnt, er ist ja andererseits auch insofern gestaltlos, als er unser tägliches Leben nicht mehr gestaltet. Dies hat etwas zu tun mit zunächst anscheinend ganz äußerlichen Dingen wie dem Tischgebet ζ. B., dem Morgen- und Abend-Gebet. So wenig solche Einweisung des Tageslaufes durch das Gebet etwas Äußerliches ist, sondern den Tag gestalten hilft, so sehr geht diese Frage nun über dieses ausdrückliche Gestalten hinaus in die Lebensgestalt aus Glauben überhaupt hinein. Dabei können wir hier sofort eine Bemerkung machen, die uns nachher noch beschäftigen muß. Wenn wir uns diese Frage der Lebensgestalt aus Glauben konkret überlegen und dazu den Beamten mal wieder als Beispiel nehmen, der die Einkommensteuer-Bescheide zu machen hat, so wird er an den Tabellen und Gruppen mit seinem christlichen Glauben — und sei er noch so groß — gar nichts ändern. An dem funktional mechanischen Was wird zunächst nichts anderes. Aber an dem Wie kann er gestaltend arbeiten, und an diesem Wie kann er offenbar auch als Christ beteiligt sein. Wenn er also jemanden bestellt, wie er ihm dann begegnet — das kann mit einer Herzensgüte natürlicher Art, oder mit Grobheit oder mit strenger Sachlichkeit sein, und gerade an und in der strengen Sachlichkeit könnte etwas sichtbar werden vom Glauben. Das ist noch zu erörtern. Jedenfalls am Wie kann der Glaube zur auswirkenden Gestaltung kommen und dadurch vielleicht auch am Was. Aber die Lebensgestalt des Glaubens hat ja nun außerhalb des Berufes in der Familie, auf dem Spaziergang, in der Wirtschaft, beim Bier wie im Urlaub noch gewaltige Bereiche zur Auswirkung, die nicht nur auf das Wie beschränkt sind, und es ist wohl keine Frage, daß diese Gestaltwerdung des Glaubens im Großen und Ganzen heute brach liegt. Warum eigentlich? Nun, das hat gewiß mit jener ganzen großen Säkularisierung zu tun und hängt daran, daß der Glaube die äußere Gestalt der Geselligkeit ζ. B. nicht mehr prägen kann, wie es ζ. B. in den Zünften der Fall war. In der dadurch zunächst erzwungenen Innerlichkeit aber ist er offenbar einfach »verkümmert«, denn es ist die Eigenart christlichen Glaubens, als Innerlichkeit nicht lebbar zu sein. In doppelter Hinsicht also hat der christliche Glaube an dem Gestaltproblem der Moderne selbst teil. Wenn wir uns nicht täuschen, sind die

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eminenten Gefahren, in die christlicher Glaube als Gestaltlosigkeit gerät, durch die fortschreitende bekenntnis-kirchliche Konsolidierung der Theologie wie der Gemeinden gesehen und angegriffen. Aber wie es auch sei — wir brauchen die Probleme hier ja nicht zu entfalten — jedenfalls ist die christliche Kirche in ganz analogen Problemen wie unsere Welt. Unser fragendes Urteilen ist also unter keinen Umständen in der Lage, von diesen Kirchen aus einfach zu argumentieren. Das würde kurzschlüssig sein, weil die Kirche als Erscheinung heutigen Lebens selbst Gestaltproblem ist. Wir werden also tiefer anzusetzen haben bei den Grundlagen des Glaubens von Christen. Wenn wir fragend ansetzen, was es um den Menschen als Gestalt und Gestaltung vor Gott und von Gott sei, wie uns dies in der Bibel bezeugt wird, so ist ein Zweifaches zunächst ganz deutlich. Erstens: Der Mensch ist der Bibel nur bekannt als einzelner vor Gott. Als ein bestimmter Einzelner, nämlich als Adam, geht er aus den Händen Gottes hervor, und als dieser einzelne wird er bei seiner Schuld vor Gott behaftet. Im innersten Kern der Gottesbegegnung des Menschen, wo er als Mensch vor Gott steht, da ist er der Täter seines Lebens, der als dieser Täter zurechnungsfähig und behaftbar ist. Als Täter ist der Mensch einzelne beziehbare Gestalt, als dieser Täter steht er vor seinem Gott. Er steht da als Täter des Bösen wie des Guten. Darin jedenfalls ist er gemeint, daß dieser Gott ihn als Täter stellt. Dieser Mensch kann nicht sagen: Ich habe meinem Trieb gehorcht, oder ich habe dem Kollektiv zuliebe gehandelt. Er kann sich nicht verstecken hinter Umstände oder Fraktionszwang, denn wie der Prophet Micha sagt: »Es ist Dir gesagt, Mensch, was Gut ist«. Zur Zeit des Propheten Ezechiel, der im babylonischen Exil mit den Judäern lebte, sagten die vertriebenen Juden: Unsere Väter haben saure Trauben gegessen und wir Kinder bekommen stumpfe Zähne. Das heißt, was die Väter in Juda verkehrt machten, das baden wir Kinder jetzt im Exil aus. Aber auch das weist der Prophet noch zurück. Jeder wird bei dem, was er selbst tat, behaftet. Paulus wiederholt es dann im II. Korinther-Brief. Die erste eindeutige Feststellung ist also, daß die Bibel den Menschen als einzelnen sieht, als bestimmte Gestalt, die täterhaft verstanden bei sich selbst behaftet bleibt. Jedes Aufgehen in kollektive Größen, jedes Sich-hinter-das-Verstecken, was man tut, ist nicht möglich. Dies ist für unsere Frage natürlich von Gewicht, denn wir sahen ja, daß es sich dem modernen Menschen nahelegt, auf das zu horchen, was man tut, was man trägt, was man läßt. Der einzelne wird bei sich als verantwortlichem Täter, als Gestalt behaftet.

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Zweitens ist aber auch klar, und eigentlich schon mitgesagt, daß der Mensch als Gestalt angesehen wird von der Gestaltung her. Wir beobachten dies ζ. B. an dem eigentümlichen Bericht von der dreifachen Verfluchung Adams, Evas und der Schlange nach dem Sündenfall. Wir erwarten ja, daß Adam selbst von diesem Fluch getroffen wird. Jedoch, das ist nicht der Fall. Der Fluch trifft vielmehr den Acker, den er bearbeitet, und die Steppe, die er abweidet. Sie erweisen sich als verschlossen. Sie geben ihre Frucht nicht ohne Mühe, und von selbst gibt der Boden nur Dornen und Disteln. Was hieran wichtig ist: Der Mensch wird von Gott an seiner Gestaltungsaufgabe gepackt. Die Gestaltung wird getroffen, wo die Gestalt versehrt ist. So unmittelbar wird Adam mit seiner Umwelt zusammengesehen. Zwei Aspekte also gewinnen wir zunächst: Den Menschen als individuierte, zur Täterschaft geforderte Gestalt und den Menschen, der seiner Welt so tief verbunden gesehen wird, daß sein Fluch und seine Schuld zu ihrem Fluch wird. Wir haben hiermit zunächst nur das Faktum hingestellt vom Menschen als behafteten Täter seiner Welt, also vom Menschen als Gestalt. Aber wir können und müssen noch mehr sagen. Die Bibel hat ja eine ganz ausgeprägte Anschauung von der Täterschaft des Menschen, das nämlich, was wir landläufig Schuld nennen oder Sünde. Was heißt das eigentlich? Das heißt folgendes: Der Mensch handelt ja nicht im luftleeren Raum, sondern er handelt an der Welt. Die Welt nun ist von der Bibel nicht als eine Anhäufung von Materie gesehen, sondern als von Gott geordnete. Ob das nun die großen Naturereignisse wie die Gezeiten oder ob es die kleinen Ereignisse wie die Ehe, das Königtum, die Eigentumsordnung oder die Hoheit des unantastbaren Lebens ist, diese ganze Welt ist Ordnung als Ordnung Gottes. Und nun wird es dem Menschen klar, daß er sich an dieser Ordnung immer erneut versehrt. Er schafft es einfach nicht. Ob es nun die Unwahrhaftigkeit oder die Unkeuschheit ist, ob es die fatale Lieblosigkeit oder der pure Diebstahl ist — er schafft es nicht. Der Mensch als der Täter greift frevelnd in die Ordnung der Welt ein. Dabei leugnet die Bibel nicht, daß es durchaus auch Leute gibt, die ehrwürdig und ordentlich sind — denken Sie an die Patriarchen. Aber gerade an diesen ehrwürdigen Gestalten zeigt das I. Buch Mose Lüge und Betrug und anderes auf. Oder denken wir an die ideale Gestalt Davids und an seinen Ehebruch oder an seine Volkszählung. So wenig die Bibel alles grau in grau malt, so sehr sie also bereit ist, das Große und Edle am Menschen zu würdigen, so klar ist ihr Urteil, dieses Edle sei gleichwohl

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nicht imstande, der Schuld in der Täterschaft zu entgehen. Was heißt das nun aber? Jedenfalls heißt es nicht, daß diese Menschen die Hände in den Schoß legen und sagen: »Na, dann hat es wohl keinen Zweck.« Ebenso klar ist es, daß diese Menschen eben darin auf Gott geworfen sind als den, der die Vergebung in Händen hat. Aber es heißt noch mehr: Indem diese Menschen nämlich nun von der Vergebung her kommen, können sie schon gar nicht mehr sagen, daß diese Welt sie nicht angeht, denn Gottes Liebe meint ja die Welt. Sie sind nun von der Vergebung her erst recht weltangewiesene Täter. Aber sie müssen bemerken, daß sie auch als diese Menschen von der Vergebung her versagen müssen und schuldige Täter werden. Dieser Vorgang ist das Leiden der Christen an der Welt. Seine Gestaltung wird ihm zum Leiden an seiner Gestalt wie an der Welt. Aber dieses sein Leiden macht ihn nicht zum Fatalisten oder zum Pessimisten, denn er weiß um Gottes Vergebung, die bereit bleibt und die diese Welt in all ihrer Schuld trägt. Wir haben oben bei dem Dichter Gottfried Benn gesehen, wie die Erkenntnis, daß die Gestalt Leiden bedeutet, zur Sehnsucht wurde, die Gestalt loszuwerden. Auch für den Christen — und für ihn noch viel tiefer als für Gottfried Benn — ist die Gestalt Leiden an der Welt, das Leiden des Schuldigwerden-Müssens. Aber auf dem Boden der Vergebung wird ihm dieses Leiden nicht zum Anstoß, die Gestalt zu verlassen, sondern zu immer erneutem Ringen um die Bewahrung gestalthafter Ordnung. Der Christ kann das, denn er lebt von der Vergebung. Aber wir müssen noch ein Drittes sagen: Der Mensch des Glaubens weiß um Gestalt als Täterschaft der Gestaltung, und er weiß um Gestalt als an der Ordnung Gottes sich verschuldende und darum an der Welt leidende Gestaltung. Aber er weiß noch mehr: Er weiß, daß Gott selbst Gestalt wurde in Jesus von Nazareth um der Welt willen, und er weiß, daß diese Gestalt Jesu das Leiden an der Welt austrug am Kreuz und aufhob in die Auferstehung hinein, und er weiß, daß das von der Bibel Liebe genannt wird. Für die Welt dazusein, das ist nun des Christen tiefstes Anliegen. Und wenn ihn sein schuldiges Versagen auch immer wieder umgibt als sein Gestalt-Leiden an der Welt, so kann er sich gleichwohl nicht davon dispensieren, der Welt zugute zu handeln und zu gestalten. Was wir also ganz eindeutig erkennen, ist dies: Der christliche Glaube hat in seinem Denken vom Menschen und von der Welt ebenso eindeutig wie klar die Gestalt und ihre Gestaltung zum Inhalt. Daran kommen wir nicht vorbei. Auch das Versöhnungsgeschehen in Christo führt daran nicht

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vorüber, sondern führt tief hinein. Wenn es also heute um die Gestalt als Problem geht und wenn wir sehen, wie der moderne Mensch an seiner Gestaltkraft in die Gefährdung gerät, so ist es deutlich, daß der christliche Glaube offenbar genau an dieser Stelle seine stärkste und eindeutigste Position hat, so daß man sagen kann, daß dieser christliche Glaube der Hort der Gestalt und der Wahrer echter Gestaltung sein muß. Diese Position ist in sich eindeutig, und es ist wohl auch eindeutig, was da als Schutz und Wall vor dem Kollektiven steht. Jedoch, wir werden diese Position wohl noch etwas näher erläutern müssen. Man könnte ja herkommen und sagen: Das heißt also, daß der Christ in dieser modernen Welt eigentlich nicht leben kann. Wir haben ja gesehen, wie die Gestalt heute bis in die Unanschaulichkeit versinkt und wie sie nur sehr indirekt zu haben ist. Wenn das aber so ist: Was soll dann noch der Christenglaube, der die Eigengestalt und ihre Täterschaft herausholt? Der Mann im Beruf, als Funktionär der Gewerkschaft oder als Beamter, hat wirklich weithin nicht mehr die Möglichkeit zu gestalthafter, eigengeprägter Tat. Er ist auf Schablonen angewiesen. Weiter: Die Welt, die uns umgibt, ist ja eine genormte Welt. Ich kann in bezug auf den Zuschnitt meiner Kleidung nicht gestaltend tätig werden, weil ich auf Konfektion angewiesen bin. Nur mit sehr viel Geld wäre dies unter Umständen möglich. Das Gleiche gilt für die Frage der sog. Wohnkultur oder für die wesentlichen Formen der Geselligkeit, ζ. B. Radio und Kino. Grace Kelly kann es sich leisten, gestaltend originell zu sein. Ein Beamter oder Angestellter, ein Arbeiter oder Kaufmann kann das aber nicht. Also, es legt sich die Frage so dar: Erstens: Das moderne Leben ist darauf angewiesen, genormt zu verfahren, Gestalt und Gestaltung also zurückzubilden auf Schablonen. Zweitens: Der Christ ist ein Mensch, der nicht nur den Drang, sondern auch die Kraft zu tätiger Gestalt als Gestaltung in Verantwortung vor der Welt hat. Aufgrund dieser beiden Gesichtspunkte ist zu fragen: Steht der Christ im flagranten Widerspruch zu dieser Welt? Muß er nicht zum Zerstörer dieser Moderne werden? Oder wo er das nicht vermag: Muß er dann nicht abseits stehen, unfähig, dieser Welt zugute zu handeln? Damit haben wir unsere Frage auf die Spitze getrieben, auf der sie tatsächlich steht. Weithin verharren die Christen wirklich abseits vom modernen Leben. Als Christen haben sie keinen Zugang zu dieser Welt der Norm und der Schablone. Mit dem Pathos der Innerlichkeit stehen sie abseits, mißtrauisch gegen den Fortschritt und bereit zur radikalen Kritik an dieser Welt. Aber ist das eigentlich richtig?

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Eine Erwägung zeigt, daß das offenbar nicht richtig ist. Die Bibel zeigt uns zwar Menschen, die im Umschluß einer patriarchal geordneten Welt, einer autarken Familien-Wirtschaft, einer monarchisch regierten Staatlichkeit leben. Aber die Bibel sagt nicht, nur in dieser Staats-, Wirtschafts- und Familien-Ordnung kann man leben. Das kann man sich an der Frage nach der Staatsform durchklären. Man kann nicht sagen, daß der Christ auf die Monarchie festgelegt sei, weil die Bibel nur diese Staatsform kennt und weil sie dieselbe von Gott eingesetzt sein läßt. Nein, es geht nicht um die einzelne Struktur, es geht um das der Welt gestaltende Zugute-Sein, unter welcher Strukturform auch immer! Also, als solche ist auch die Welt der Norm und der Schablone nicht verschlossen für das liebende Handeln des Christen. Aber nun stellt sich die Frage der Zugangsmöglichkeit. Ist an dieser Welt überhaupt Gestaltung möglich? Wir haben dies an zwei Stellen beobachtet: Einmal anhand der WK-Möbel, die als Einrichtung dienen, und die zunächst wirklich überall gleich seelenlose Schablone sind: Wir meinten sagen zu müssen, daß auch diese Serienmöbel zur eigenen Welt gemacht werden können, und zwar nicht nur durch Zutaten wie Teppiche, Gardinen und Bilder, sondern offenbar als sie selbst. Wir erleben das ja auch, wie die gleichen Serienanzüge am einen gut, am anderen schlampig aussehen. Was geschieht da? Offenbar teilt der gestaltungskräftige Mensch dieser Welt etwas mit, was diese Welt verändert. Gibt es das? Oh ja, das ist jedem bekannt. Jeder ζ. B., der mit Blumen oder Tieren zu tun hat, weiß davon, wie es Menschen gibt, denen Blumen eben gedeihen und anderen nicht. Also diese Wirkung besteht. Die einzige Frage ist, ob es heute noch Menschen gibt, die ihre Welt gestaltungsfroh angehen. Auch die Schablone ist gestaltungsoffen — aber wo sind die Menschen mit der starken Seele, die das tun? Da ist der Christ gerufen. Wenn es einen Menschen gibt, der Kraft und Mut zum gestaltenden Eingreifen hat, dann ist er es! Ich meine, wir sollten uns hier auch nochmals des anderen Faktums erinnern, daß selbst die Maschine solcher Einwirkung offen ist. Sie werden alle Erfahrungen mit Maschinen haben. Sei es mit Schreibmaschinen, Motoren, landwirtschaftlichen Maschinen oder dergleichen. Die Erfahrung lehrt einmal, daß die Maschine nicht gleichgültig dagegen ist, wer sie bedient. Das hat offenbar nicht nur damit zu tun, daß der eine genügend schmiert und der andere nicht! Sondern das liegt tiefer. Der Mensch nimmt an der Arbeit der Maschine gestaltend teil. Und die Maschine versagt sich dem Fremden. Es gibt also auch hier die Möglichkeit der Gestaltung. Wir brauchen nur den Mut und

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die Kraft. Wir haben uns daran gewöhnt, den Maschinenbereich nur instrumental zu betrachten. Und damit verderben wir ihn. Wir haben es offenbar in der Hand, auch an dieser Stelle gestaltend zu wirken. Wo aber gibt es unter uns Menschen, die stark genug sind, dies zu tun? Da, meine ich, ist der Christ gerufen. Wenn es einen Menschen gibt, der Kraft und Mut zum gestaltenden Eingreifen hat, dann ist er es!

Register

Bibelstellen

1 3 6 30,11

2,6 ff 9

28

18,27 31,2 36,7 42 43 51 51,6 81,6 101

24,21 42.6 I, 4 5,12 I I ,9 13. 7

3,3-6

Genesis

89 7,314 142,356

Deuteronomium

1. Samuel 2. Regnum Hiob

197

368 129

159

Psalm

133 352 197 234 234 172,340,361 133,172,237 282 206 f.

Proverbia Jesaja Hosea

Arnos

85 226 129 338 338 338

170

Matthäus 4,1-11 5,48 20,25 f 25 28 28,20

13 13,1-5 1 9

2 2,23

1,18 1.20 ff 1,24-32 2,1-11 2,4 2,12-29 3 3,1-20 3. 4 3.21 3,21-31 3,28 4.5 6,17 8 8,2 8,18-27 8,28 13 13,1

208 309 276 257 24 96 Lukas

171,279 278

Johannes 24,89,302 171,228,278 Acta

Römer

1. Korinther 1,26-29 85 1.3 0 85 1.3 1 85 5,1-5 373 6,1-11 373 6,12-20 373 7 253 10,23-33 373 11 125 15 300 f.,320-333 15,28 300

5 5,18 ff

245,247 185 2.16 f. 339 338 338 338 342 339 133,302 339 237 372 339 344 350 f. 361 242, 339 373 369 237 95 192

4 4,15 f

2

I II

1 2,2 2,13 2.1 7

2. Korinther

Galater

Epheser

Philipper

Hebräer

1. Petrus

96,309 175 f.

346

27 86

142

89 197 f.

300 185 85 85

Personen Ahlwardt 113 Aischylos 168, 171 Alexander der Große 108 Althaus, P. 17, 99, 186, 202 f. Aristoteles 106-108, 190 Arnauld, A. 107 Asmussen, H. 80, 83 f., 86, 98, 100 Augustin 23, 30, 36, 290, 342 Aulen, G. 117, 131 Bach, J.S. 144 Barlach, E. 128 Barth, K. 82-84,86-93,95-101, 148, 212-214, 217-219, 222, 240 Becken, S. 162 f., 166 Beckmann, J. 79 Bengel, J.A. 114 Benn, G. 163 f., 166, 384-387, 392 Bernet, W. 50 f., 65 Berkouwer, G. C. 93 Bloch, E. 56 Bonhoeffer, D. 58 Borchert, W. 59, 160 f. Bornkamm, H . 202, 204 Braun, H. 156 Brecht, B. 56, 59, 161, 166 Breit, Th. 83 f. Brockes, B.H. 113 Bruno, G. 103-106, 108 f. Brunstäd, F. 93 Bucer, M. 84 Bultmann, R. 8, 57f., 128,138,156,223, 275, 317 Burgsmüller, A. 86, 91, 94, 98 Calvin, J. 30 f., 187,195-198,200 f., 204, 217, 221, 239 Coccejus, J. 188 Cromwell, Ο. 188 v. Cues, Ν. 105 Dalai-Lama 177

Danielsmeyer, W. 244 Demokrit 104 Descartes, R. 103 f., 106 f., 109 f., 120,141, 144, 155 f. Dilthey, W. 104 Dinkier, Ε. 91 Dürrenmatt, F. 56, 166 Ebeling, G. 57 Elen, W. 25, 83, 99, 291 Epimenides 121 Erman, A. 260 Euripides 171, 173 Feuerbach, L. 120, 123, 141 Fischer, Κ. M. 86 Flacius, M. 30 Focillon, H. 6 Francke, A . H . 114 Franke, P.R. 172 Frick, H. 17 Friedrich der Weise 207 Friedrich Wilhelm I. 110 Frisch, M. 56 Galilei, A. 103, 105 f. Geiger, W. 177 George, S. 144 Gerhard, J. 70, 106 v. Glasenapp, H. 266 Goethe, J.W. 312 Gogarten, F. 57,117,119 f., 122 f., 127 f., 148, 308, 317 Gollwitzer, H. 293 f. Gottsched, J. Chr. 113 Gunkel, H. 85 v. Harnack, A. 3, 10 Hartmann, N . 192, 242 Hauer, W. 163, 299 f., 313 Heckel, J. 134 Hegel, G . W . F . 144, 290

Personen Heidegger, Μ. 56, 59, 143, 290 Heiler, F. 289 Hermann, R. 211 Herrmann, W. 57, 222 Hesiod 7 f., 171 v. Hessen-Rheinfels, E. 107 Heyerdahl, T. 184 Hirsch, E. 317 Hitler, A. 152, 182, 376 Homer 61, 263, 265, 272, 274 v. Humboldt, W. 144 Jacobs, P. 195 Jaeger, W. 7 f. Jaspers, K. 56 Jensen, Α. E. 178 Jetter, W. 71 Jud, L. 193 Junker, H. 261 Kahler, M. 336 f. Käsemann, E. 281 Kant, I. 112, 136 f., 144, 290, 363 Karlstadt (Andreas Bodenstein) 31 Katharina II. v. Rußland 366 Kees, H. 19 Kepler, J. 103 Khaldun, Ibn 11 Kierkegaard, S. 23,57,59,62,153,155,358, 369 Kittel, G. 99 Koch, K. 133 Kopernikus, N. 103 van der Leeuw, G. 124, 289 Leibniz, G.W. 103-111, 113f., 169, 362 Lessing, G. E. 18 v. Linne, K. 112 Lommel, H. 269 Looff, W. 6 Lütgen, W. 186, 212, 219-222 Lukrez 104 Luther, M. 19,21-23,30 f., 33,47,62, 84, 119,126, 128,131-134,136 f., 141,148, 150,155,165,168, 174f„ 180,185,187, 199-212,217,233,237,239 f., 276 f., 285 f., 307-309,322,333,340,343-352, 354 f., 361, 367, 374 Malinowski, B. 6

401

Mann, U. 168, 181 Marc, F. 384 Marx, K. 144 Meiser, H. 84 Melanchthon, Ph. 24, 128, 187, 199, 370 Miller, S . H . 58 f. Morenz, S. 170 Müller, G. 341 Müller, H. 300 Newton, I. 107 Niemöller, G. 78, 80 f., 84 Niemöller, M. 82 Nietzsche, F. 142 f. Oberlin, J . F . 114 Oetinger, F. Chr. 114 Origenes 251 Otto, R. 122, 291 Otto, W . F . 127 Palladius, P. 344 Pannenberg, W. 294 Pascal, B. 107 Peters, A. 343 Philo von Alexandrien 3 Piaton 168 Radhakrishnan, S. 267 Redfield, R. 7 Rendtorff, T. 102 Rilke, R . M . 144, 162 Ritsehl, A. 87 f., 90,98,186-188,210,212, 219, 222 Ritsehl, O. 194 Robinson, J . A . T . 58, 117, 149, 165, 290 Rothe, R. 87, 98 Sartre, J. P. 377 Sciaperelli, R. 4 Schadewaldt, W. 263 Scherzer, J . A . 107 Schiller, F. 144 Schleiermacher, F. D. E. 46,53, 71,87 f., 90, 98, 189 Schröger, F. 85 Schweitzer, A. 16, 42 Sethe, K. 261 f. Sokrates 168 Sophokles 171

402

Register

Spener, Ph. J. 114 Spinoza, B. 103 f., 109 Staerk, W. 223 Stöcker, A. 42 Stürmer 16 Suarez, F. 106 Szczesny, G. 163, 299 f., 313 Thielicke, H. 239 Thimme, H. 244 Thomas v. Aquin23, 76,140,185,190-194, 198,201,204,217,221,224,343, 349-355, 374 Thomasius, J. 107 Tillich, P. 18, 42, 58, 149, 164 f., 290, 341 Tillmann 344 Törnvall, Η. 204 Trakl, G. 144

Troeltsch, Ε. 45, 128, 134-136 Viering, Κ. Α. 188 Voltaire 366 Volz, P. 296 Wach, J. 5 f., 8 Weth, R. 98 Whitehead, Α. Ν. 364 Wichern, J. Η. 42 Wilhelm II. 151 f. Wilkens, E. 340 Wolf, E. 82, 86, 95, 100 Wolff, Chr. 109-112, 114 Zimmer, H. 290 Zwingli, H. 187, 193-195, 198, 204, 217, 221

Begriffe Abendmahl 34, 125 Adam 324 f., 390 f. Agape 252, 276 f., 333 Ahura Mazda 269 f. Allah 10 f. Anfechtung s. Glaube, angefochtener Anthropomorphismus 289 f., 293 Appoll / Appollon 19, 170, 264 Arjuna 19, 125, 267, 291 Atheismus 143, 342 Auferstehung/ Auferweckung 318-322, 324, 326 f., 331, 333-335 Aufklärung (18. Jh.) 103,109,113f., 161, 299 Barock 103, 105 f. Bekenntnis 32 f., 80 f. Bhagavad-Gita 19, 266-269, 272 Böses 21,102,108 f., 114,149,168-170,176, 356, 365 f., 368 Buddha (Sidharta Gautama) 15,19,118, 176 f., 305 f., 364 Buddhismus 15, 176-178, 303 f. Christ/Christsein 15,147,149 f., 161, 165-167,205 f., 211,250,285 f., 309 f., 314, 317, 333, 373 f., 377 f., 388, 392-395 Christentum - denkende Religion 4 f., 15 f., 22 f. - und Religionen 3,15 f., 22,122-125, 127,200,293,320,328,336 f., 362, 371-373, 375 Dämon 10, 124, 288 Deutsche Christen 81,83 f., 86-88,90 f., 97 f., 101 Dogma 9, 13 f. s. Gestalt, AusdrucksEnuma Elish 356 Entfremdung 13, 18, 102 s. Sünde

Eschatologie / eschatologisch 192 f., 225 f., 230, 232, 245 f., 255, 279, 295 Existenzphilosophie 35, 56, 156 Fortschritt/-sdenken/-sglaube 45 f., 107, 109, 111, 182 Freiheit 41, 349, 354 f., 374 Funktion / funktional 244-246,258,342, 381-383, 386 Gedächtnis 125 Gemeindepfarrer 48-51,53-55,58 f., 62-65, 68 Gerechtigkeit 171, 339, 345-347, 350f., 372 Gesetz 338 f., 372 - und Evangelium 21 f., 371-375 Geschichte 263, 266, 270 f., 279-287 Gestalt /Gestaltung 379-395 s. Glaube s. Kirche s. Kirchentum s. Theologie - Ausdrucks- 5 f., 9, 17, 48 s. Dogma s. Lehre s. Mythos s. Symbol - Gestaltlosigkeit 379, 390 Glaube 30,62-45, 75,138,155-157,175 f., 180 f., 240,245, 305,312,314,322,326, 331 f., 341, 344-346, 353, 371, 393 - angefochtener 132 f., 136,202,208-211, 238 f., 241, 286 f., 367 f. - denkender 64, 69 f., 75 - Gestalt(werdung) 28, 73, 388 f. - Gottes- 146, 152, 155 - Heils- 184 f., 198, 212 - Schöpfungs- 185, 198, 201, 279 - Versöhnungs- 210 f., 221 f. Gnosis 20, 286, 306 f., 371 Gott(heit) 7,43,108 f., 114,120-122, 124-126,134-137,140,143,148 f., 156, 158 f., 163-166,168 f., 173f., 179,194, 200, 209, 217, 237f„ 289, 300-302, 367

404

Register

- Deus absconditus 1 0 9 , 1 3 1 , 1 5 0 , 1 7 5 f., 181, 283, 286 f., 322 - Deus in Christo 75, 216, 222 - Deus in vita 149 f., 161, 167 - Deus revelatus 150, 287 - Epiphanie / Hervortreten / Manifestation 6 , 9 - 1 4 , 1 9 , 3 9 , 1 2 4 , 2 9 1 f., 295, 311, 371 - Heils- 20 f., 149 - Heilshandeln 126 f., 131, 226-229 - Kondeszendenz 40, 72, 130 - leidender, sterbender 178, 180 f. - naher 254, 284, 342 - passio magna 308, 323, 325 f., 331 f., 334 - Schöpfer- 184, 196, 199, 255, 346 - Ständigkeit 137-139 - Unmittelbarkeit 39, 125, 307, 313 f. - Wandlungen 39, 118, 127-134, 141, 175 - Welt- 20 f., 149 - Welthandeln 126 f., 1 3 1 , 1 6 1 , 2 2 7 - 2 2 9 , 296 - Welt 147, 159, 201, 223 - W e l t - M e n s c h 13, 2 2 , 1 0 2 , 1 2 1 - 1 2 3 , 132, 156, 173 f., 184, 348, 355, 371 f. s. Gerechtigkeit s. Glaube Gottesfrage 117-119, 123, 135, 167 Gottesschwund 158-161 Gottesvorstellung 141 f., 288, 290, 292 Heiliger Geist 39, 157, 245, 247, 250, 328 f. - Kondeszendenz 248, 251, 258 Hiob 172 f., 180, 223, 236 f., 283 Horns 261-263 Hosea 141, 337-340, 374 Ilias 263-266 Indigenisation 101, (308, 341) Individuation 109 f., 327-329, 333 Israel 225-232, 234 Jahwe/Jahve 2 0 , 1 7 1 , 1 7 5 , 1 7 8 - 1 8 1 , 2 9 2 , 337 f., 356, 368 Jesus Christus / Jesus von Nazareth 20, 23, 30 f., 3 6 , 3 8 f., 4 5 , 6 6 , 85, 8 8 - 9 0 , 1 2 5 , 1 3 0 , 1 3 7 , 1 7 9 , 2 0 3 , 2 2 7 f., 2 4 5 , 2 5 0 f., 275 f., 2 7 8 , 2 9 2 f., 300-308, 3 1 1 - 3 1 3 , 3 2 1 - 3 2 4 , 372 f., 392 Kirche 26 f., 54, 9 2 - 9 7 , 1 5 3 , 1 5 7 , 2 2 5 - 2 2 8 , 230-234, 244-249, 251 f., 256, 372

- Einheit 27 f., 80 f. - Geschichte 130 f. - Gestalt 93, 249, 388 - Gestaltproblem 32, 35 - Morphologie 27 f. Kirchentum 244, 248, 251, 256 f. - evangelisch 29, 154 - Gestalt 249 f. - Institution 93, 249 - lutherisch 29, 31-33 - Recht 93 f., 249, 252 - reformiert 29, 32 - römisch-katholisch 29, 32 - Transzendierung 251-254, 256, 258 Kontingenz 266, 283 f., 286 s. Gott s. Heiliger Geist Krishna 19, 38, 125, 267 f., 291 f. Kult / kultisch 124 f., 262 f., 2 7 0 , 2 7 3 , 2 8 0 , 372 Lehre 7 - 1 0 , 13 f. s. Gestalt, AusdrucksLeibhaftigkeit 326-329 Leiden 1 7 0 - 1 7 3 , 1 7 6 , 1 7 8 - 1 8 1 , 2 1 0 , 3 5 7 , 360, 392 Lutherischer Weltbund (Helsinki 1963) 340 f., 343, 365 Mechanismus 106, 108-111 Mensch 119 f., 149,180 f., 2 5 5 - 2 5 7 , 2 7 1 f., 274,319,338,340-343,354,356-363,367, 379 f., 383 f., 387, 391 - Existenz-Struktur 255 - homo ethicus 313 - homo religiosus 308, 313 - homo sapiens 313 - Menschlichkeit 109 f., 257, 260, 324-326, 332, 356 s. Gott-Welt-Mensch s. Leibhaftigkeit Mission 226 f., 231-232, 256 Mohammed 38, 310 Mythos/mythisch 6 f „ 10, 13f., 273f. s. Gestalt, AusdrucksOpfer 357, 362 Optimismus 107, 109, 161, 367 f. Ordnung (Erhaltungs-, Schöpfungs-) 239, 241, 281 Osiris 19, 262 f.

Begriffe Paulus 1 6 , 1 0 1 , 3 0 0 , 3 0 2 , 3 0 9 , 3 2 1 - 3 3 4 , 337-340, 351, 361, 369, 372-374, 390 Prädestination 185, 191, 195 Providentia 182-243

Ramakrishnan 174 Rechtfertigung 6 3 , 2 1 0 , 3 0 5 , 3 4 0 , 3 4 8 , 3 5 5 , 370 Reformation 24 f., 40 f., 69 f., 174 Reich Gottes 254-256, 258, 275-279 Religion - denkende 3 - 5 , 9-11 s. Gott(heit), Epiphanie Religionen 124, 255, 318 f., 357, 359 s. Christentum

Säkularität/Säkularisation 42 f., 122f., 143, 148, 158, 342, 389 Schabaka-Stein 260 f., 264 f. Schöpfung 191,195 f., 199, 201, 212-214, 219-222, 235-238, 241, 279-283, 370f. s. Glaube, SchöpfungsSchrift 28, 30, 33 Schwärmer/Schwärmerei 3 1 , 2 5 3 , 2 8 6 , 3 0 6 , 329 Selbstverständnis 44 f., 56, 245, 256, 287 Sinn 260, 271, 273 f., 282 f., 287 Sittlichkeit 349, 355 Skeptizismus 240 f. Staat 95 f. Stellvertretung 227-231, 234 Strafe 170-173, 278 Subjekt-Objekt-Spaltung 109, 155 f., 167 Sünde 1 3 0 , 2 2 2 , 3 0 4 f., 3 1 1 , 3 3 1 , 3 4 8 , 355-364, 369 f., 391 - transmoralisch, transrational 3 4 4 , 3 5 7 , 360 f., 364 Sola scriptura 25 Symbol 6, 10, 13 f. s. Gestalt, Ausdrucks-

Teleologie/teleologisch 112f., 190,192 f., 215-217, 219, 222, 224 f., 232 Theodizee 2 2 , 1 0 7 , 1 1 3 f., 133,168 f., 188 f., 223 Theologia crucis 307 f. Theologie 5 2 , 5 4 f., 5 8 , 6 0 f., 6 3 - 6 7 , 7 4 , 1 2 0 , 295 f., 341

405

-

Anthropologisierung 332 f. Aufgabe 39-41, 45, 47, 53, 55, 100, 364 Dialektische 57, 147 f., 164 Disziplinen 52, 69 f., 72 Gestaltproblem 72 f. Gegenstand 47, 61, 340 Natürliche 8 6 - 9 1 , 9 3 - 9 5 , 9 7 - 1 0 1 , 1 4 7 , 186 f. - Praktische 70-77 - Physiko- 110-114, 188 f. - Studium 51 f. - Weiterbildung 44-48, 53-55, 67 f. - 20. J h . 56-60 Tod 327 f., 331, 359 Tradition 28, 37, 76, 316 f. -sabbruch 316 Trinität 246, 301 Unendlichkeit 103-105, 109 Utilitarismus 111-113 Vergebung 160, 340 f., 348, 369 f., 392 Verheißung 137-139, 245 Verkündigung 66, 341 Versöhnung 360 f., 370 Vishnu 19, 267 f. Vitalismus 35, 56 Vollkommenheit 309f., 313f. Wandel 45 s. Welt s. Gott Wechselseitigkeit 252 f., 347, 373 Welt 239 f., 245, 257 f., 391 - Heil 226-230, 234 - moderne 41 f., 118, 315-317, 387, 393 - Verständnis 44 f., 56, 256, 287 - Wandel 38, 118 s. Gott-Welt-Mensch Wort Gottes 4 5 , 4 7 , 5 8 , 8 8 - 9 0 , 1 2 8 , 1 3 4 , 200, 294, 313 - Gestaltwerdung 45—47 Zarathustra 269-271 Zeugnis 1 5 - 1 7 , 3 3 , 5 7 , 7 4 - 7 6 , 2 4 6 , 2 5 0 , 2 7 5 , 282 f., 285 Zeus 264 f. Zwei-Reiche-Lehre / Zwei-Regimenten-Lehre 9 5 , 2 0 2 - 2 0 8 , 2 1 0 f., 276 f., 283-285, 287.

THEOLOGISCHE BIBLIOTHEK TÖPELMANN Vom Amt des Laien in Kirche und Theologie Festschrift für Gerhard Krause zum 70. Geburtstag Herausgegeben von Henning Schröer und Gerhard Müller Oktav. XII, 431 Seiten und Frontispiz. 1982. Ganzleinen DM 158ISBN 3110085909 (Band 39) JOACHIM RINGLEBEN

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