Von allen Dingen das Maß ist der Mensch: Essayistische Betrachtungen zu einer sophistischen Provokation 9783534404896, 9783534404919, 9783534404902

Die universalistische Deutung des Homo-Mensura-Satzes bewegt sich im Medium einer kommunikativ konzipierten Vernunft. Zi

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Von allen Dingen das Maß ist der Mensch: Essayistische Betrachtungen zu einer sophistischen Provokation
 9783534404896, 9783534404919, 9783534404902

Table of contents :
Cover
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung
I Vorbereitung
1 Die sophistische Idee
2 Der Homo-mensura-Satz (Hms)
2.1 Der Satz
2.1.1 Das Ganze
2.1.2 Die Teile
2.2 Hegels Interpretation
II Der analytische Rahmen
1 Das anthropologische Fundament
1.1 Frage- und Problemstellung
1.2 Eingrenzung und Überblick
1.3 Herder
1.4 Kant
1.5 Scheler, Plessner, Gehlen: 20. Jahrhundert
1.6 Andere Ansätze: Tugendhat, Lévi-Strauss
1.7 Zusatz: Theorien sozialer Evolution
1.8 Fazit
2 Zuhause draußen sein (Sprache)
2.1 Zugang
2.2 Zeichen, Referenz und System
2.2.1 Zeichen
2.2.2 Referenz und Existenz
2.2.3 System und Struktur
2.3 Semantik – Bedeutung und Sinn
2.4 Pragmatik – Rede und Diskurs
2.5 Fazit
3 Draußen zuhause sein (Sein)
3.1 Sein – de dicto oder de re
3.2 Tun – Arbeit und Interaktion
3.3 Nichts – Trieb und Wille
4 Fazit
III Universale Vernunft?
1 Einstieg
2 Logos (Vernunft) und Nomos (Gesetz)
3 Denken und Erfahrung
4 Gesellschaft
5 Lebenswelt und Lebensformen
6 Ich-Identität und Ich
6.1 Ich-Identität
6.2 Ich
IV Schluss
Register
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis

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Johannes Schmitz-Sauermann

Von allen Dingen das Maß ist der Mensch

Johannes Schmitz-Sauermann

Von allen Dingen das Maß ist der Mensch Essayistische Betrachtungen zu einer sophistischen Provokation

Das Titelbild, ein Foto der italienischen 1 Euro-Münze, wurde gewählt, um den Dingbegriff chremata mit dem Wertbegriff der Ökonomie (Marx) und der Sprache (Saussure) auf den sozialen Geltungsbereich auszudehnen: Geld = Geltung = Wert = Gültigkeit = Zeichen → Maß. Das Gleichheitszeichen drückt die Äquivalenz aus, von der die Mathematiker und Logiker im Tausch (Ersetzen) von Zeichen träumen (Identität). Mit einer Münze kann ich mir alles kaufen, was zu der Zahl auf dem Geldstück gleichwertig ist, sofern es käuflich ist.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://​dnd.d-nb.de abrufbar

wbg Academic ist ein Imprint der wbg © 2021 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Umschlagsabbildungsnachweis: © Iris Sauermann Satz und eBook: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40489-6 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-40491-9 eBook (epub): 978-3-534-40490-2

Inhaltsverzeichnis Vorwort............................................................................................................................... 7 Einleitung..........................................................................................................................12 I Vorbereitung..................................................................................................................18 1 Die sophistische Idee.............................................................................................18 2 Der Homo-mensura-Satz (Hms).........................................................................29 2.1 Der Satz..........................................................................................................29 2.2 Hegels Interpretation...................................................................................42 II Der analytische Rahmen............................................................................................47 1 Das anthropologische Fundament......................................................................47 1.1 Frage- und Problemstellung........................................................................47 1.2 Eingrenzung und Überblick...................................................................... 49 1.3 Herder.......................................................................................................... 55 1.4 Kant.............................................................................................................. 58 1.5 Scheler, Plessner, Gehlen: 20. Jahrhundert.............................................. 60 1.6 Andere Ansätze: Tugendhat, Lévi-Strauss............................................... 66 1.7 Zusatz: Theorien sozialer Evolution......................................................... 68 1.8 Fazit.................................................................................................................73 2 Zuhause draußen sein (Sprache).........................................................................77 2.1 Zugang............................................................................................................77 2.2 Zeichen, Referenz und System.................................................................. 90 2.3 Semantik – Bedeutung und Sinn............................................................115 2.4 Pragmatik – Rede und Diskurs...............................................................127 2.5 Fazit...............................................................................................................135 3 Draußen zuhause sein (Sein).............................................................................139 3.1 Sein – de dicto oder de re........................................................................139 3.2 Tun – Arbeit und Interaktion..................................................................151 3.3 Nichts – Trieb und Wille...........................................................................161 4 Fazit........................................................................................................................170

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III Universale Vernunft?...............................................................................................174 1 Einstieg...................................................................................................................174 2 Logos (Vernunft) und Nomos (Gesetz)..........................................................180 3 Denken und Erfahrung.....................................................................................192 4 Gesellschaft.........................................................................................................209 5 Lebenswelt und Lebensformen........................................................................216 6 Ich-Identität und Ich............................................................................................225 6.1 Ich-Identität.................................................................................................225 6.2 Ich..................................................................................................................236 IV Schluss........................................................................................................................249 Register............................................................................................................................264 Abbildungsverzeichnis..................................................................................................270 Terminologie Mensch...................................................................................................271 Literaturverzeichnis.......................................................................................................272

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Vorwort πάντων χρημάτων μέτρον εστιν ανθρωπος (Protagoras)

Dieser ikonische Satz1 hatte schon viele zeitgenössische Denker, allen voran Platon und Aristoteles provoziert, weil er die andere Anmaßung, Wahrheit und Weisheit seien den Göttern vorbehalten, grundsätzlich infrage stellt. Eine noch radikalere Ansicht freilich wäre zu sagen, ohne den Menschen gäbe es viele Dinge, darunter auch die Götter und die Wahrheit, nicht. Heidegger ist so weit gegangen, als er nach dem Sein fragte.2

Abb. 1 Da Vinci: Der vitruvianische Mensch 1



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Im ‚vitruvianischen Menschen‘ des Leonardo da Vinci (Abb. 1) steht er im Mittelpunkt eines Kreises und eines Quadrats. So kulminiert seine Frage „Was ist Metaphysik?“ (Heidegger 1965), die sich entlang der Grundfrage entwickelt, warum etwas und nicht nichts sei, in der Antwort, sie sei „das Grundgeschehen im Dasein. Sie ist das Dasein selbst.“ (S. 41) In seiner Philosophie ist ‚Dasein‘ der terminus technicus für Mensch.

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Vorwort

Im Grunde geht es also um das Wissen des Menschen von sich und von der sichtbaren und unsichtbaren Welt um ihn herum. Worauf stützt sich dieses Wissen – oder können wir gar nichts wissen, wie der Ironiker Sokrates zu wissen vorgibt? Wir verstehen heutzutage die Wissenschaft als eine große gesellschaftliche, arbeitsteilige, vielfach mit Politik, Ökonomie und Bildung sowie auch international verflochtene Institution und Produktivkraft, die uns mit Wissen allerlei Art versorgt. Die einst brennende Frage, woher unser Wissen stammt und wie wir sicher sein können, ob dieses auch wahr sei, berührt uns heute nur noch wenig. Wir nehmen im Gegenteil mit fast jedem Gegenstand und bei vielen Verrichtungen des Alltags an den Erkenntnissen und technischen Ergebnissen der Wissenschaft teil, meist ohne es zu wissen. Uns wird allmählich bewusst, dass wir uns als Spezies in eine gottähnliche Situation manövriert haben, die uns möglicherweise als Gattung überfordert. Wir sprechen heute vom homo deus3, vom Transhumanismus und der dystopischen Möglichkeit, dass wir uns unter die Herrschaft von selbst geschaffenen Maschinen begeben, ohne es zu merken bzw. wahrhaben zu wollen.4 Damit wird aber die Aktualität von Protagoras’ Homo-Mensura-Satz (hms) virulent. Denn der Mensch ist in dieser gegenwärtigen Zukunft auf eine tragische Weise das Maß der Dinge geworden. Warum? Weil er maßlos wurde und darüber die Kontrolle zu verlieren droht. Er hat sich Gott oder den Göttern gleichgestellt, eine Fähigkeit, vor der das delphische ‚Erkenne dich selbst‘ warnen wollte – vielleicht, weil schon damals kluge Priester und ‚Seher‘ wussten, dass er es kann. Dann aber reißt ihn das kleine unsichtbare Virus SARS-CoV-2, prosaisch benannt wie ein Stern der unendlichen Galaxis, völlig aus der Bahn und er wird sich der Abhängigkeit von der Natur und der Fragilität sozial eingespielter Alltagshandlungen und komplex interagierender Funktionssysteme im weltweiten Maßstab schmerzlich bewusst.

So der Titel des zweiten Bestsellers des Historikers Yuval N. Harari mit dem Untertitel Eine Geschichte von Morgen (Harari 2018). 4 Die Film- und Unterhaltungsindustrie hat sich dieses Themas in vielen Science-Fiction-Geschichten angenommen. Die Pointe ist, dass wir gar nicht mehr so weit von einer Realität entfernt sind, die wir bislang nur im Medium des ‚absoluten Geistes‘, der Kunst nämlich, mit angenehmem Gruseln und aus sicherer Angstlust heraus genießen. Viele verführt die Angst und das Bedürfnis nach sehr einfachen Lösungen für undurchschaute Zusammenhänge allerdings auch zu bedenklich extremen Positionen. 3



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Vorwort

Mein Interesse an diesem Satz war ursprünglich rein biografisch. Er sollte versuchsweise, eben essayistisch, dabei helfen, einen roten Faden für meine eigenen gedanklichen Ausflüge in die Philosophie seit meiner Jugend zu finden, um die bereits begonnenen Texte und Exzerpte aus den Tiefen meines Computers mit weiteren Überlegungen zu aktuellen Lektüren zu verbinden. Das labyrinthische System der Philosophie mit seinen vielen Verzweigungen und Verästelungen kann niemand mehr en detail präsent haben.5 Mein chronisch schlechtes Gedächtnis hat mich dann auf die Idee gebracht, die Früchte auch wiederholter Lektüren und Denkereien im fortgeschrittenen Alter zu Papier zu bringen. Durch die Option einer Veröffentlichung ist die Darstellung nun thematisch deutlich konzentriert und stofflich reduziert worden. Die Grundintuition aber, dass der Mensch selbst das Maß der Dinge ist, wenn er erkennend und handelnd in die Welt der Dinge geht, wenn er im Denken nach Orientierung sucht, und dass sich das Wissen um die Dinge und das Wissen um das Wissen dieses Wissens aus der Interaktion zwischen Menschen und mit der sie umgebenden Welt ergibt, diese Grundintuition und Einsicht ist geblieben. Gerade in der Selbstbeschäftigung mit seiner Vernunft, dem Denken, ist der Mensch ganz bei sich. Dem Wissen liegen immer noch die Dinge bzw. Gegenstände zugrunde, über die man etwas erfahren will. Das Messen richtet sich ja nach den vor- und zuhandenen Dingen, „der seienden, wie (dass) sie sind, der nichtseienden, wie (dass) sie nicht sind.“ Die andere Bedeutung des Maßes, das Mäßigen, das Maß halten, richtet sich dagegen nach uns, dem Menschen. Den Maßstab aber schaffen wir in beiden Fällen selbst. Ihn als Ergebnis einer sozial organisierten Beratungs- und Diskurspraxis vernünftig gewordener Menschen verständlich zu machen, wäre mein Wunsch für dieses Buch. 5

Selbst ein so produktiver und universal denkender Philosoph wie Jürgen Habermas bekennt in seinem letzten voluminösen Werk (Habermas 2019: Bd. 2, S. 777), dass seine Darstellung der Genealogie von Glauben und Wissen „insofern einseitig [sei], als sie den bedeutenden empiristischen Zweig (allein aus dem Grund der erschöpften Arbeitskraft des Autors) vernachlässigt“. In meinem Bücherregal stehen auf 75 cm 32 Bücher von diesem Autor, die ich mal intensiver, mal im flotten Durchgang gelesen habe. Es sind lange nicht alle Publikationen seines Œuvres; die Sekundärliteratur ist in dieser Buchmenge auch nicht enthalten. Wie viele dieser Werke davon könnte ich gleichsam aus dem Stand memorieren? Nicht eines! Geblieben sind Spuren, Pfade, Knotenpunkte oder Netze aus Kategorien und Einsichten, denen ich freilich jederzeit mit einem Griff ins Regal folgen könnte.

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Vorwort

Zitierweise, Notationen etc. In der Regel zitiere ich Autorenname und Erscheinungsjahr, gefolgt von der Seiten- oder Kapitelzahl, zum Beispiel (Demmerling und Kambartel 1992: S. 10). Der Hinweis erfolgt im Text oder in einer Fußnote. Gelegentlich gebe ich hinter der Klammer den vollständigen Titel an, wenn dieser zum Beispiel für den Kontext informativ ist. Bei einigen Autoren erscheinen im Text nach der ersten Nennung die Siglen der geläufigen Werkausgaben, das sind für • Hegel: TW = Theorie Werkausgabe in 20 Bänden, neu editiert von Eva Moldenhauer und Karl Michael Michel auf der Grundlage der Werke von 1832–1845, erschienen bei Suhrkamp, 1969ff. • Kant: AA = Akademie Textausgabe von „Kants gesammelten Schriften“, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, erschienen bei Walter de Gruyter, Berlin 1968 (ab 1900) • Marx: MEW = Marx/Engels Werke (Studienausgabe in 44 Bänden), erschienen im Dietz Verlag Berlin, 1970ff. • Nietzsche: SA = (Karl) Schlechta Ausgabe in 3 Bänden (I–III), auch Hanser Edition (1954ff.), neu aufgelegt im Ullstein Verlag, Frankfurt am Main u. a. 1972, in 5 Bänden (Werke 1–5) Für bekannte und häufig zitierte Werke bestimmter Philosophen haben sich Kürzel eingebürgert, die im fortlaufenden Text zwar gelegentlich benutzt werden, so zum Beispiel KrV für Kants Kritik der reinen Vernunft, PhdG für Hegels Phänomenologie des Geistes; sie werden jedoch mit den o.g. Siglen zitiert, die auch im Literaturverzeichnis aufgeführt sind. Hinweise oder Zitate aus der freien Enzyklopädie Wikipedia sind als „Wikipedia: stichwort“ formatiert. Zur Frage der Zitierfähigkeit dieser open source-Quelle vgl.  https://www.wissenswerkstatt.net/2008/ist-die-wikipedia-zitierfaehig-derumgang-mit-wissenschaftlichen-quellen-werkstattnotiz-126/ Hervorhebungen in Zitaten stammen aus dem Originaltext, wenn sie nicht als meine eigenen gekennzeichnet sind. In einigen Fällen zitiere ich aus der Digitalen Bibliothek (DB), deren Vertrieb unterdessen nicht mehr in der mir vorliegenden DVD-Form erfolgt, sondern als Download unter www.versand-as.de zu beziehen ist. 10

Vorwort

Es gibt mittlerweile recht leicht zugängliche Webseiten, die den Zugriff auf Volltexte und Werkausgaben gestatten. Die Akademieausgabe von Kants Werken zum Beispiel findet sich auf https://korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/Kant/ verzeichnisse-gesamt.html. Werke vieler Philosophen sind unter http://www.zeno. org/Philosophie erreichbar, ein gutes Nachschlagwerk von Grundbegriffen und ebenso Zugang zu Werken bietet http://www.zeno.org/Philosophie. Nach wie vor gewährt Wikipedia in vielen Fällen einen teils vorzüglichen und meist seriösen Erstkontakt zu Autoren, Texten und Fachbegriffen. Man darf nur nicht dabei stehen bleiben!

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Einleitung Das Staunen, Verwundern, Zweifeln, Irritiertsein, Fragen oder was dergleichen Stellungen eines individuellen Menschen gegenüber seiner Lebenswelt oder eigenen Existenz sind, gilt von Anfang an als Zugang zur Philosophie. Die tiefgreifendste Erkenntnis für dieses Hineingehen in eine neue Welt, nämlich die Denkwelt, ist wahrscheinlich die Entdeckung des Bewusstseins von der eigenen Sterblichkeit. Wir werden nie erfahren, welchen Schock dieser ‚Einfall‘ bei dem ersten Menschen ausgelöst hat, der von ihm ergriffen wurde. Aber er muss in ihm ein absolutes Trennungstrauma hervorgerufen haben, das ihn aus seiner bisherigen Lebensgewissheit und Gemeinschaft ins Nichts stürzte und die Frage aufwarf, ob und wie das Leben ohne ihn weitergehen wird. Wenn er diesen Gedanken bei klarem Bewusstsein fassen kann, ist nichts mehr wie vorher.

Abb. 2 Allegorie der Philosophie 12

Einleitung

Die gelebte und erlebte Welt menschlicher Individuen ist der gewöhnliche Alltag. Sie wird als eine gemeinsam geteilte Welt bewohnt und gestaltet. Hier findet auch alles statt, was die Philosophen mit Erstaunen erfüllt; selbst der Blick in den Himmel und in den seelischen Abgrund ist in ihr verwurzelt. Unsere Lebenswelt ist je nach historischer Zeit und geografischem Raum zwar vielgestaltig, aber in ihren fundamentalen Strukturen und Anforderungen der Daseinsbewältigung vergleichbar. Das zieht sich durch die Geschichte hindurch und ändert sich lediglich in den Formen, wie die Grundbedürfnisse und die davon abhängigen und darauf aufbauenden sozialen und individuellen Wertorientierungen gesellschaftlich definiert, institutionalisiert und befriedigt werden. Karl Marx sprach in diesem Zusammenhang von Produktionsverhältnissen. Darin spielen Vorstellungen von der Zweckursache, Lebenserhaltung und Nützlichkeit entscheidende Rollen. Das Maß für die gesellschaftlich organisierte Form der Daseinsbewältigung ist immer und notwendigerweise der Mensch. Ob dies schlicht seine Bedürfnisse sind, seine Triebe und Obsessionen, seine Träume und Utopien, Pläne und Theorien: Er muss aus sich herausgehen, ins Offene, um sie lebendig und wirklich werden zu lassen. Man kann von einer immanenten Transzendenz sprechen. In einem kleinen, ontogentischen Kreislauf geht er durch seine Geburt aus der Natur hervor und mit seinem Tod wieder in sie zurück: Staub zu Staub, Erde zu Erde; dazwischen gestaltet und verändert er die vorgefundene Materie nach seinen Bedürfnissen und Zwecken und errichtet völlig eigenständige und neuartige Seinsweisen und Welten. Schon die Natur ist vor seinem Erscheinen auf diesem Planeten nicht mehr dieselbe wie nach seinem Verschwinden, ontogenetisch wie phylogenetisch. Er ist kein ahistorisches Wesen, das zeitlos nach dem immergleichen Programm dahinlebt, sondern er ist zutiefst in Raum und Zeit verstrickt. Im großen Kreislauf der Phylogenese gräbt er seine Furchen und Spuren ins Sein und in die Zeit und untergräbt dabei möglicherweise seine eigene Existenzform: Homo deus. Der göttergleich gewordene Prometheus droht, ob seiner Machtfülle und Vermessenheit an seiner Gier und Überheblichkeit zu zerbrechen. Die Abhängigkeit von der unbelebten und belebten Natur, in der wir Menschen immer noch leben, führt uns jede Pandemie aufs Schmerzlichste vor Augen. Und dennoch kann nur die menschliche Vernunft, die universal angelegt ist6, auch diese Bedrohung kontrollieren und beherrschen, wenn denn alle es wollen. 6



Einen ersten Hinweis dafür finden wir in Platons Dialog Protagoras. Es ist der Mythos von der Erschaffung der Lebewesen mit ihren jeweiligen Fähigkeiten und Kräften, der

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Einleitung

Aus der Intention des Satzes von Protagoras lässt sich ein universeller, kritischer und aufklärerischer Gedanke ableiten: Er will statt äußerer Autoritäten wie Götter, Dichter und Orakel den Menschen selbst zum Maß(stab) des Denkens machen. Damit kommen sowohl die Sinnlichkeit, die Wahrnehmung wie auch das begründende Denken eines jeden Einzelnen zu ihrem Recht. Gemeint ist das Überprüfen von Meinungen und Dogmen anhand der eigenen Sinne und des eigenen Verstandes, den jeder gleichermaßen für Angelegenheiten des praktischen Lebens hat. Das Berufen auf den Vogelflug, die Sternenkonstellation, auf besonders begabte ‚Seher‘ oder das Orakel hat demgegenüber keine rationale Überzeugungskraft und verliert sein autoritatives Gewicht. Was zählt, ist modern ausgedrückt der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ (Habermas).7 Diese Diskurspraxis aber setzt den aufgeklärten, vernünftig gewordenen Menschen voraus. Was das heißt, versucht dieser Essay aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Es sind die Aspekte einer humanen Vernunft und der begründenden Rede, der Öffentlichkeit und der Bildung, die auch heute noch überzeugen können. Die Anschlussfähigkeit dieser Position auch an Einsichten der modernen Sprachwissenschaft und ein Konzept kommunikativer Vernunft im Sinne einer universalpragmatischen Handlungs- und Diskurstheorie führt nach meinem Verständnis des Hms zu einem kritischen Anthropozentrismus, der sich im geschichtlichen Prozess der Selbstermächtigung (Autonomie) der eigenen Grenzen und seiner Verantwortung (Freiheit) bewusst geworden ist. Wenn der Mensch im Mittelpunkt des Daseins, Lebens und Denkens steht oder stehen soll, ist immer der Bezug auf die menschliche Lebenswelt mitgemeint, was noch zu erläutern ist (III, 5). Es ist meine Überzeugung, dass sich der Mensch im Verlaufe der Geschichte über seine Stellung und seine Möglichkeiten im Universum und speziell auf diesem Planeten längst klar geworden ist. Dieses Wissen liegt in allen Bibliotheken und auf den Bildungsser-

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auch anthropologisch aufschlussreich ist. Protagoras erzählt ihn, um dem Sokrates und den Anwesenden die Lehrbarkeit der Tugend (Tauglichkeit) zu verdeutlichen. Zeus hat demnach durch Hermes den zerstrittenen Menschen die Tugenden der Gerechtigkeit und Besonnenheit gesandt, damit sie in den Städten „Ordnung und Bande“ stiften können. Dieser Gleichverteilung der „bürgerlichen Tugend“ steht die Ungleichheit der technischen oder künstlerischen Tauglichkeiten gegenüber. Diese alte Formulierung wiederholt er in (Habermas 2019: Bd. 2, S. 758), um in Anlehnung an Peirce auf die Bedingungen einer „ernsthaften“ Argumentationspraxis hinzuweisen.

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Einleitung

vern dieser Welt abrufbar und ist prinzipiell jedem frei zugänglich. Das, was als objektiver und absoluter Geist aufgefasst worden ist, ist gerade das Bewusstwerden des menschlichen Lebens in einer selbstgeschaffenen, die Natur ‚beherrschenden‘ (leider oft ökonomisch ausbeutenden statt ökologisch nutzenden) und von den Göttern befreiten Wirklichkeit. Worüber wir in dieser anthropozentrischen Perspektive dringend neu nachdenken müssen, sind zwei für das menschliches Zusammenleben grundlegende, überlebenswichtige und daher basale Funktions- und Handlungsbereiche. Das eine Basissystem realisiert sich im universalen Wert der Demokratie.8 Es wirkt nicht nur als Staatsform (parlamentarischer Rechts- und Sozialstaat, gewaltenteilender Verfassungsstaat), sondern ist auch als normative Basis in unserer sozialen Lebenswelt mit ihren funktionalen Systemen der Ökonomie, Bürokratie und medialen Öffentlichkeit verankert.9 Damit wir als Personen unser individuelles und soziales Leben in Freiheit und gegenseitiger Anerkennung verschiedener Lebensformen und ‑weisen autonom gestalten können, brauchen wir eben diese auf universalen Rechten beruhende Staatsform, die das ermöglicht. Wir sehen oder lesen tagtäglich, welche Einschränkungen und Verletzungen von Menschenrechten in autokratischen Gesellschaften diese Freiheitsidee und den Fortschritt der Geschichte behindern. Dass auch Demokratien Mängel und Reformbedarf haben, ist ihnen durch den dynamischen Charakter gesellschaftlichen Wandels geradezu immanent; aber wir können die immer wieder neu entstehenden Probleme innerhalb des demokratischen Systems etwa durch freie Wahlen oder Abstimmungen lösen, was in Diktaturen, Oligarchien und Plutokratien eben nicht möglich ist. Die selbstregulative Kraft einer sich selbst bewusst gewordenen und in diesem Sinne absoluten Dass selbst offenkundig autoritäre Staaten sich genötigt sehen, schein-demokratische Wahlen abzuhalten, erklärt die Sogwirkung dieser alten, aber jung gebliebenen Idee. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte. 9 Dies ist zunächst nur einzelstaatlich angemerkt. Man muss das selbstverständlich heute supranational zum Beispiel für die EU und sicherlich auch für die UN und andere multilaterale Organisationen (WTO, NATO, IWF) diskutieren. Internet und Digitalisierung potenzieren die Problematik, die sich aber prinzipiell nicht ändert. Gesteigert hat sich die Zumutung, nationale Souveränitätsrechte an eine gemeinsam vereinbarte Entscheidungsebene mit demokratischer Struktur und Prozesslogik abzugeben. Der zweite Aspekt, ob westliche Demokratien den östlichen, eher autoritativen zum Beispiel islamistischen oder kommunistischen Regimen überlegen sind, kann hier nicht diskutiert werden. Ich setze hier aber sehr auf die ‚List der Vernunft‘. 8

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Einleitung

sozialen Sphäre ist wohl das, was die Offenheit der Geschichte und der Gesellschaft möglich macht. Das Gespräch über die jeweils besten Lösungen wird institutionalisiert und von Zwängen sowie Gewalt befreit, weil alle davon profitieren. Im zweiten Basissystem menschlicher Existenz, der Ökonomie, ist durch die kapitalistische Produktionsweise und eine neoliberale Wirtschaftspolitik im globalen Maßstab eine Entwicklung eingetreten, die sehr ambivalent zu beurteilen ist. Neben unbestreitbaren Fortschritten in der Bekämpfung von existentiellen Mangelzuständen wie Armut, Krankheit und Krieg haben sich neue Konfliktfelder aufgetan, die national längst nicht mehr beherrschbar sind (Umwelt, Energie, Finanzen, Migration, etc.). Die ökonomischen und technischen Produktivkräfte sind entfesselt: In der Folge vermüllen wir nicht nur unsere Erde und die Meere, sondern auch den Weltraum; wir vernichten binnen kurzer Zeit, wofür die Natur Jahrtausende und die Gesellschaft Jahrhunderte oder Jahrzehnte gebraucht hat; wir opfern ökologisch wertvolle Biosysteme kurzfristigen Profitinteressen und lassen uns den Verstand von Demagogen und Verführern vernebeln. Andererseits entwickeln wir aufgrund unserer unterdessen gesellschaftlich organisierten Wissensproduktion in allen möglichen staatlichen und privaten Institutionen und Forschungsinstituten immer neue Möglichkeiten, unser Leben zu verbessern, zu verlängern und angenehmer zu gestalten. Die Kluft zur Vernunft allerdings, die dem Verstand die Richtung weisen soll, wird tiefer. Funktionierende Strukturen und Systeme, ja Lebenswelten werden zerschlagen und ein Wiederaufbau oder Neubau wird viele Jahre dauern. Auch ökonomisch muss über nichtmonetäre Fragen und über nutzenmaximierende Strategien hinaus mit Blick auf den globalen Zusammenhang unserer Grundlagen und Zwecke neu nachgedacht werden – und zwar nicht allein in den Vorstandsetagen der Konzerne oder Führungsetagen nationaler Administrationen. Wenn man den Blickwinkel vergrößert und auf all das schaut, was uns umgibt – Gesellschaft, Natur, Weltall –, sehen wir uns selbst immer nur als Teil eines Ganzen, in reduziertester Form als Staubkorn im Universum. Wir sind irgendwann aus einer Biomasse entstanden, werden geboren und irgendwann mit (oder vor) unserem Planeten Erde zugrunde gehen. Wie also können wir uns anmaßen, das Maß aller Dinge zu sein? Dieser Frage gehe ich in drei großen Schritten nach, die kapitelweise sortiert sind. Kapitel I stellt den Satz des Protagoras zunächst in seinem historischen Kontext dar, um ihn mit der Interpretation Hegels auf den Übergang zu einer Vertiefung vorzubereiten. Dies geschieht in Kapitel II, das sich an den Grundbegriffen des Sat16

Einleitung

zes orientiert. Zum ‚Maß‘ habe ich als Ertrag aus I.2.2 die Sprache herangezogen, weil sich unter anderem die Referenz als objektiver und die Prädikation als subjektiver Zugang anbieten, was dem ontologischen und epistemologischen Aspekt bei Hegel entspricht. Mit den Erkenntnissen aus diesem Teil versuche ich im dritten Kapitel etwas freier der Frage nach einer universalen Vernunft nachzugehen und lasse meine Gedanken in der These von einem kritischen Anthropozentrismus münden.

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I Vorbereitung 1 Die sophistische Idee Ich bezwecke weder eine systematische Darstellung noch eine Verteidigung der Sophisten. Es geht mir vielmehr um einige ihrer Grundideen und deren Funktion innerhalb der philosophischen Denkentwicklung vom antiken Griechenland bis zur heutigen Wissensgemeinschaft. Dabei ist sicherlich die Neubewertung des Menschen im historischen Erkenntnisprozess hervorzuheben sowie seine historische Rolle in der Polis als soziales Wesen, die durch Bildung aktiv angesteuert werden konnte und musste. Das ist ein klassisches Motiv der europäischen Aufklärung. Die Entstehungszeit dieser Denkschule ist grob im 5. und 4.  Jahrhundert v.  Chr. mit Athen als Mittelpunkt der Tätigkeiten der Sophisten zu verorten.

Abb. 3 Protagoras

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1 Die sophistische Idee

Ihre Hauptfigur Protagoras (490–411) ist zeitlich eine Generation vor Sokrates (469–399) einzuordnen, der wiederum gut zwei Generationen älter als Platon (428–348) war, durch dessen Dialoge sich überhaupt etwas über Protagoras erhalten hat. Dieser stand mit dem gleichaltrigen Perikles, einem namhaften Staatslenker in der Blütezeit der attischen Demokratie, in Kontakt.

Abb. 4 Aristoteles Die Sophisten (gr. σοφισταί, sophistaí) bezeichnen sich selbst als die Weisen. Sie verstehen sich als Lehrer und Unterweiser, als Pädagogen. Damit haben sie primär den Staatsbürger im Blick, der sich im öffentlichen Leben bewegt und erfolgreich sein möchte.10 Die ablehnende Haltung Platons und Aristoteles’ (384–322), der beiden zentralen Figuren aus der sokratischen Denkschule, gegenüber sophistischen Gedanken erklärt sich aus den skeptischen und kritischen Angriffen der Sophisten auf dogmatische, lehrhafte Wahrheits- und Wissensansprüche. An ihnen erst haben sich die Theorien des Wissens (επιστήμη, episteme) der beiden entzündet und entwickelt, das heißt die abendländische Metaphysik entstand überhaupt erst als 10

Vgl. (Kranz 1971: S. 79–83).

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I Vorbereitung

Gegenbewegung und Reaktion auf sophistische Provokationen.11 Seitdem reden wir über Themen, die Stoff für anhaltende Diskussionen liefern: Denken und Wahrnehmung, Eins und Vieles, Substanz und Akzidenz, Sein und Werden, Universalismus und Relativismus, Allgemeines und Einzelnes, Natur und Kultur. Geblieben ist das sophistische Erbe im demokratische Bildungsgedanken: der Lehrbarkeit von Wissen und Tugenden und der Ausrichtung des Denkens, auch des philosophischen, auf den Menschen und seine Lebenswelt. Seine Verachtung und Herabwürdigung ist nach Meinung vieler Historiker polemischer Natur und sachlich nicht gerechtfertigt.

Abb. 5 Platon Egon Friedell (1878–1938), ein österreichischer Kulturphilosoph, schreibt in seiner Kulturgeschichte Griechenlands zur Einstimmung in den Teil zur Sophistik: „Sie bezeichnet die Krisis der hellenischen Seele. Die ganze bisherige Entwicklung der griechischen Philosophie war ein unbewußter Weg zu diesem gefahrvollen Gipfel.“ (Friedell 1999: S.  261). Andere historische Einordnungen markieren das Aufkommen der Sophisten, die keineswegs eine einheitliche 11

Dazu (Kühn 2017).

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1 Die sophistische Idee

Schule bildeten, mit Begriffen wie Kritik, Bildung, Skepsis – und vor allem: Aufklärung.12 Der englische Philosoph Bertrand Russell (1872–1970) ordnet die sophistische Lehrkunst in eine Zeit ein, in der vor allem in Athen ein politischer Umbruch stattfand, der aus der Rivalität mit Sparta stammte. Die demokratische Idee gewann zunächst unter Perikles (490–429 v. Chr.) an Boden und verlangte nach gut ausgebildeten und beredsamen Bürgern. Bildung wurde zu einer Ressource, um in der Gesellschaft, das heißt in der Öffentlichkeit der Polis, mitreden und ‑bestimmen zu können. Viele Ämter wurden auf Zeit und durch Los vergeben. Politische Macht errang man nicht mehr durch physische Gewalt, sondern sprachlich durch öffentliche Rede, die von der eigenen Leistungsfähigkeit und Tüchtigkeit überzeugen musste. Die bezahlten, öffentlich lehrenden Gelehrten versprachen Erfolg durch Unterweisung in vielen Disziplinen, allen voran der Rhetorik. Es zählte nicht mehr allein die Abstammung, sondern ebenso die erlernbare Tüchtigkeit in praktischen Fertigkeiten (Tugenden). Mit dem Beginn des Peloponnesischen Krieges (432–404) und Perikles’ Tod 429 begann eine „dunkle Periode in der Geschichte Athens“ (Russell 2002: S. 102), die mit der Niederlage gegen Sparta endete und Athen in der Folge in die politische Bedeutungslosigkeit zwang. Platon zählte zur Oberschicht und war mit Männern befreundet bzw. verwandt, die den Dreißig Tyrannen angehörten. Diese Gruppe wurde nach Athens Niederlage gegen Sparta im Jahr 404 von der Siegermacht als oligarchische Regierung eingesetzt, währte aber nur kurz; einer unter ihnen war Kritias, ein Schüler Sokrates’. Letzterem wird 5 Jahre später von der Demokratie, die mit Duldung Spartas wiedereingesetzt wurde, der (Schau‑)Prozess wegen Asebie (Gottlosigkeit, Frevel gegen die Götter) gemacht und die Todesstrafe gegen ihn verhängt. Sokrates wird oft mit den Sophisten auf eine Stufe gestellt, wenn es darum geht, die Hinwendung philosophischen Denkens von der Außenwelt zur Innenwelt, von ontologischen zu epistemologischen Fragen und damit vom allgemeinen Sein zum Menschen zu

12

So betitelt Karl Vorländer in seiner Geschichte der Philosophie das Kapitel über sie mit „… Zeitalter der Aufklärung?“ Rudolf Rehn bemerkt in seiner Einleitung zum Reader Bildungsphilosophie: „Dass seit der Antike Bildung das Geschäft der Philosophie ist, haben wir den Sophisten und Sokrates zu verdanken; denn sie trugen die Philosophie auf die Marktplätze der griechischen polis und öffneten sie für alltagsweltliche, politische und ethische Themenbereiche.“ (Rehn und Schües 2008: S. 9).

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I Vorbereitung

­ enennen.13 Gemeinsam ist ihnen die Abkehr von unbefragter mythischer Tradition und b Dogmatismus und die Hinwendung zur menschlichen Urteilskraft, die keine Zuflucht mehr im Orakel suchen muss. Sie unterscheiden sich jedoch hinsichtlich der pädagogischen Intention: Während Sokrates den Menschen umkrempeln, erziehen und seine Seele umformen will (Mäeutik), wollen die Sophisten ihn nur ertüchtigen und umfassend bilden (enkyklios paideia). Dazu fügen sie dem tradierten Kanon der Elementarkenntnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen, Musikkenntnisse und Gymnastik noch vier weitere Disziplinen hinzu: Grammatik, Rhetorik, Dialektik und Bürgerkunde.14

Abb. 6 Sokrates Mein Essay-Titel, eine Übersetzungs-Variante des Hms des Sophisten Protagoras, kann als Gründungssatz dienen, um an die bis heute andauernde Auseinander-

Hoffmann sieht die Differenz in der sophistischen Bildung gegenüber der sokratischen Erziehung; Allgemeinbildung und Herausbildung staatsbürgerlicher Persönlichkeit stehen gegen gradlinige Erziehung auf ein wissendes Können. Vgl. (Hoffmann 1951: S. 102). 14 Vgl. hierzu (Hoffmann 1951: S. 103). 13

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1 Die sophistische Idee

setzung zwischen Relativisten und Universalisten anzuknüpfen.15 Hinter Letzteren steht die von Platon und Aristoteles vertretene ‚philosophische‘ Position, dass es nur eine Wahrheit geben könne, während die von Platon und Aristoteles verachteten Sophisten aufgrund ihrer Kenntnis verschiedener Kulturen und Religionen der Völker von verschiedenen, relativen Wahrheiten ausgehen. Die grundsätzliche Frage ist geblieben, wo die Quelle der Wahrheit zu suchen ist und wo und wie das Wissen um sie verankert werden kann. Der Hauptwirkungskreis der Sophisten war Athen während der Blütezeit der attischen Demokratie (5. Jahrhundert v. Chr.), sie selbst waren ‚Ausländer‘, also Zugereiste.16 Sie verfügten über hervorragende Bildung und rhetorisches Geschick. Sie stellten den Menschen in den Mittelpunkt ihrer Lehre und hoben die Bedeutung der Sprache hervor, um vor Gericht oder im Rat eigene Ziele durchzusetzen und öffentliche Handlungen zu bewirken. Durch ihre öffentliche Lehrtätigkeit verhalfen sie vielen Nicht-Philosophen zu eloquenter Bildung und rückten neben den Menschen die Sprache in den Vordergrund philosophischer Betrachtung. Vor allem bei der Jugend Athens fanden sie großen Anklang. Für ihre Lehrtätigkeit verlangten sie ein Entgelt, was ihnen vor allem von Platon vorgehalten wurde. Dass sie sich bezahlen ließen, ist vorderhand jedoch kein Argument gegen die Güte sophistischer Denkweise und Redekunst. Genauso kann man die Lehrbarkeit des Wissens und Könnens als Argument gegen ein gleichsam priesterliches, nur Eingeweihten zugängliches Wissen in Stellung bringen. Russell belegt das mit dem Hang von Philosophenschulen zum Orphismus, einer Art religiöser Ordensgemeinschaft mit strengen Regeln und der Lehre eines esoterischen, nichtöffentlichen Wissens. Diese Esoterik, die auf Pythagoras (570–510  v.  Chr.) und seine Schule zurückgeht und einen vierstufigen Lehr- und Lernpfad des Wissenserwerbs kennt, lehnten die Habermas’ Aufsatz „Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen“ (in: Habermas 1997: S. 153–186) nimmt auf diese Auseinandersetzung mit dem konträren Begriffspaar ‚Eins und Vieles‘ Bezug und stellt daraus seine Konzeption der kommunikativen Vernunft im Sinne prinzipieller Übersetzbarkeit und Verstehbarkeit der ‚Stimmen‘ heraus. 16 Ein guter und kritischer Überblick über die allmähliche Entwicklung Athens zur Demokratie (508–322 v. Chr.) findet sich unter https://www.bpb.de/175892/grundzuege-derathenischen-demokratie (letzter Zugriff am 29.07.2020). Vor allem der Ausschluss von Frauen, Sklaven und „Metöken“, meist Fremdarbeitern ohne Bürgerstatus, wird kritisch beleuchtet. Diesen Status teilt auch Aristoteles, der makedonischer Herkunft ist und damit kein Bürgerrecht besitzt. 15

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Sophisten ab.17 Sie lehrten die Kunst der Argumentation und der Bildung durch Wissen öffentlich und jedem, der bereit war, dafür zu zahlen. Wenn man will, kann man von einem Wettstreit der Esoterik eines Ordens bzw. Auserwählter gegen die Exoterik des Marktes sprechen. Es mag auch eine Rolle gespielt haben, dass in der Umbruchphase Athens die Frage nach einer gerechten politischen Ordnung höchst aktuell war. Platon war ebenso von der Reformbedürftigkeit der polis überzeugt, allerdings kein ‚Demokrat‘, sondern eher ‚Aristokrat‘. Sein Hauptwerk Politeia (Der Staat) versucht am Maßstab eines idealen, aber nie erreichbaren Staates (u tópos; ‚kein Ort‘, Utopie) gleichwohl eine Verbesserung der korrupt gewordenen polis zu erreichen.18 Bildung und Unterricht sind ihm ebenso wichtig wie den Sophisten, die aber eine uneingeschränkt demokratisch verfasste polis favorisierten. In der Gründungszeit der platonischen Akademie am Stadtrand Athens zwischen 387– 361  v.  Chr. entstand ein Konkurrenzunternehmen des Isokrates, eines Schülers des Gorgias. Man muss also von einer Wettbewerbssituation zwischen den ‚Philosophen‘ und den ‚Sophisten‘ um die Gunst der Jugend in der Bildung und Erziehung sprechen.19 In einem allgemeineren Sinne kann man an die bei Platon und Aristoteles vorherrschende Auffassung anknüpfen, Wissen  – im Sinne absoluter Erkenntnis und Wahrheit – sei den Göttern vorbehalten. Wir können also nach Weisheit und Wahrheit nur streben, dürfen uns aber nie sicher wähnen, sondern bloß Freunde der Weisheit sein (daher philo-sophia als ‚Liebe zur Weisheit‘). Diese Auffassung entspricht dem apollinischen Spruch ‚Erkenne dich selbst‘ in der Bedeutung ‚Bedenke, wie wenig du weißt‘. In diese damals vorherrschende Überzeugung brechen die Sophisten machtvoll ein. „Die Sophisten revoltieren gegen die Behauptung, dass die wahre Welt ganz anders sei als die Welt, in der wir leben. Selbst wenn es eine solche wahre Welt gäbe, hätte es keinen Sinn sich damit zu beschäftigen, da sie eben nicht unsere Welt ist. Das ist auch der ursprüngliche Sinn des berühmten (Homo (Hoffmann 1951: S. 34–42) Die Deutungen dieses ersten Hauptwerks der politischen Philosophie gehen weit auseinander; für jede Position lassen sich Argumente in dem Text finden. Wer wie Sokrates, die Hauptfigur, ironisch unterwegs ist, kann so schnell nicht gestellt werden. Einen gut ersten Überblick gewährt Wikipedia: Politeia. Der Klassiker unter den Kritikern ist wohl (Popper 1992): Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band I: Der Zauber Platons, der wiederum auf ein sehr geteiltes Echo stieß. 19 Dazu und zu weiteren Aspekten (Held 1990: S. 108–120). 17 18

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mensura‑) Satzes des Protagoras. […] Dieser Satz ist ursprünglich nicht, wie später meistens interpretiert worden ist, der Ausdruck einer subjektivistischen oder sensualistischen oder relativistischen Theorie, sondern richtet sich primär gegen alle jene philosophischen und wissenschaftlichen Welterklärungen, nach denen die Welt ganz anders ist als ‚die Menschen‘ glauben, dass sie sei, und als sie ihnen erscheint. Dabei argumentierte dann freilich Protagoras mit dem einzelnen Menschen, indem er sagte: wie es keinen Sinn hat, einem einzelnen Menschen, der friert, zu sagen: ‚aber es ist doch ganz warm‘, da er davon nicht wärmer wird und es für ihn eben kalt ist, so hat es erst recht keinen Sinn, den Menschen im allgemeinen zu sagen, die Welt sei ganz anders als sie ihnen vorkommt. Denn sie leben nun einmal in der Welt, wie sie ihnen vorkommt, und nicht in einer anderen Welt.“20 „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, der nichtseienden, daß sie nicht sind.“ (Diogenes Laertius 2010: S. 429) Mit diesem Satz rückt Protagoras das Menschengeschlecht an die Stelle der Götter oder der übersinnlichen Mächte. Er stellt aber auch den Menschen in die Seins- und Erkenntnisfrage hinein. Man kann von einer anthropologischen Wende sprechen. Statt Orakelsprüchen oder geläufiger Sinnsprüche soll das eigene, individuelle Urteil für Fragen und Probleme zählen. Die Haltung ist religionskritisch, die Götter werden eher als Fantasieprodukte der Menschen gesehen oder als etwas, über das sich nichts sagen lässt. So Protagoras: „Über die Götter kann ich nichts wissen, weder daß sie sind, noch daß sie nicht sind. Vieles macht dieses Wissen unmöglich, so ihre Unsichtbarkeit und die Kürze des menschlichen Lebens.“21 Die Sophisten kritisieren die dogmatische Auffassung, wonach die wirkliche Welt gar nicht sinnlich erfahrbar sei, dass unsere Sinne im Gegenteil nur Schein und Illusionen lieferten (Eleaten), während die wahre Welt unsinnlich sowie ideell sei und aus reinen Formen, Ideen bestehe (Platons Höhlengleichnis). Das eben ist nicht die Erfahrungswelt der Menschen, sondern vielleicht die Denkwelt der Mathematiker und Philosophen.

https://www.gottwein.de/Grie/vorsokr/VSProt04.php (Letzter Zugriff am 18.10.2020); das Zitat stammt aus K. v. Fritz: „Die Rückwendung zur Menschenwelt. Die Sophisten und Sokrates“, in: Grundprobleme der Geschichte der antiken Wissenschaft, Berlin/New York 1971, S. 221–250; hier S. 222. 21 (Diogenes Laertius 2010: S. 429); auch (Russell, B. 2002: Kap. 9); (Friedell, E. 1999: S. 261–269). 20

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Protagoras, einer ihrer bekanntesten Vertreter, wird zuweilen als einziger philosophischer Kopf der Sophisten bezeichnet. Er hat vermutlich als erster das Prinzip der Isosthenie propagiert, wonach es zu jedem Sachverhalt zwei entgegengesetzte, gleichwertige Aussagen gebe. Damit ist der Grundstein für Skepsis und Kritik gelegt, insofern beide Seiten zunächst gehört und erwogen werden müssen, bevor man sich für eine entscheidet. Daher ist es zunächst notwendig, eine Bewertung oder ein Urteil zurückzuhalten (epoché). Das Muster ist wahrscheinlich die Gerichtsverhandlung, in der Konfliktparteien ihre gegensätzlichen Interessen vor dem Richter darlegen und dieser ein gerechtes Urteil finden muss, was eine neutrale Position voraussetzt. Die Reden des Anklägers und des Verteidigers dagegen dienen der Stärkung und Rechtfertigung ihres jeweiligen parteilichen Interesses. Nun ist die Rede im Unterschied zum Gespräch asymmetrisch. Der Redner befindet sich in einer relativ stärkeren Position als die Zuhörer, die relativ passiv und durch Aufmerksamkeit gebunden dem aktiven Redner quasi ausgeliefert sind, der durch seine Monopolstellung viele Steuerungsmittel zur Verfügung hat, um Emotionen, Themen und Aspekte anzusprechen oder auszusparen, die Aufmerksamkeit zu lenken und somit ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen. Die alte Frage war immer, ob dies durch Überzeugung oder durch Überredung geschieht (vgl. Eristik, Rabulistik). Eine philosophische Konsequenz aus der Isosthenie ist die Aporetik, die davon ausgeht, dass es zu vielen Problemlagen keine eindeutige und klare Lösung gibt und man lediglich alle Gründe und Gegengründe erörtern könne. Dieses Verfahren charakterisiert im Übrigen die ‚sokratischen‘ Dialoge Platons, die meist in einer Aporie enden, aber darauf zielen, weiter diskutiert zu werden. Ein sophistischer Grundzug, der sich gegen die bestehenden Lehren richtete, liegt in der Kritik an den älteren, vor allem eleatischen und naturphilosophischen Ansichten, die streng zwischen Wahrnehmung und Denken unterschieden, was zu zwei getrennten Welten führte, nämlich derjenigen der Erscheinungen und der des Wesens. Die Sophisten vertraten die Auffassung, dass nur das wirklich ist, was wir Menschen handelnd erzeugt haben. Und dies erkennen wir nur aufgrund unserer biologischen oder anthropologischen Organisation.22 Wenn wir keinen Zugang zu dieser ‚wahren‘ Welt hätten, dann wäre sie für den Menschen auch nicht wirklich und ginge uns nichts an. Es gibt die Wirklichkeit in zwei ontologischen Bereichen: Vgl. dazu (Paetzold 1998: S. 427f.).

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Natur und Kultur, physis und nomos. Die Gesetze der Natur sind unabänderlich, die Gesetze der Gesellschaft können dagegen problematisiert, kritisiert und geändert werden. Der Mensch muss also in seiner Lebenswelt betrachtet werden, die je nach Kultur und Gesellschaft unterschiedlich ist.

Abb. 7 Hegel Hegel (1770–1831) hat die Sophisten in seiner Geschichte der Philosophie rehabilitiert. Dass sie durch Sokrates und Platon „in den schlimmen Ruf gekommen“ sind, „haben wir auf die Seite zu stellen und zu vergessen. Dagegen wollen wir nun näher von seiner positiven, eigentlich wissenschaftlichen Seite betrachten, was die Stellung der Sophisten in Griechenland war.“ (Hegel TW 18: S. 408f.) Sie gaben sich selbst ihren Namen, der ‚Lehrer der Weisheit‘ (sophistai) oder ‚die weise machen können‘ (sophixein) bedeutet. Er bezeichnet sie als „die Lehrer Griechenlands, durch welche Bildung überhaupt in Griechenland zur Existenz kam. Sie sind an die Stelle der Dichter und Rhapsoden getreten“ (a. a. O., S. 409f.) Hier liegt schon der Übergang vom Mythos zum Logos, vom narrativen Geschichtenerzählen zur diskursiven Unterredung. Im Platon-Dialog Protagoras gibt es dazu eine interessante Passage. Auf die Aufforderung Sokrates’, Protagoras möge ihm doch erklären, wieso er der Auffassung sei, die Tugend sei lehrbar – das Hauptthema des Streit27

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gesprächs –, lässt dieser den versammelten Zuhörern die Wahl, ob er ihnen dazu ein anmutiges ‚Märchen‘ erzählen oder eine Abhandlung vortragen solle. Er entscheidet sich zunächst für den Mythos, wie die Titanenbrüder Prometheus und Epimetheus auf Geheiß der Götter die Fähigkeiten (Kunstfertigkeiten) und Tugenden (Gerechtigkeit, Besonnenheit, Frommsein) den Menschen zuteilen. Als es aber um die Frage der Einheit und Gleichverteilung der Tugend (praktische Vernunft) geht, verlässt Protagoras die Erzählebene und geht auf die Erörterungsebene der „Gründe“. Die rhetorische Kompetenz zeigt sich also darin, je nach Zuhörerschaft von einer Darstellungsform zur anderen wechseln zu können.23 „Das Bedürfnis, sich durch Denken über die Verhältnisse zu bestimmen, nicht mehr bloß durch Orakel oder durch Sitte, Leidenschaft, Empfindungen des Augenblicks,  – dies Bedürfnis der Reflexion hat in Griechenland aufwachen müssen.“ (a. a. O., S. 410) Es sei eine Art Aufklärung gewesen, weil das Denken nach Prinzipien suchte, anhand derer alles beurteilt wurde, was uns gälte, und nur das, was den Prinzipien gemäß ist, galt. Dabei handelt es sich nicht nur um ein allgemeines Wissen, etwa der Richter über die Gesetze, sondern ebenso um die Beredsamkeit, die ein Volk zu regieren und etwas durchzusetzen erlaubt. Nachdem Hegel allgemein die Stellung der Sophisten beleuchtet hat, greift er zwei der berühmtesten heraus: Protagoras und Gorgias. Neben interessanten biografischen Informationen scheint mir die Variation von Allgemeinem und Individuellem ein Hauptthema und Strukturmerkmal der Darstellung zu sein. Wenn alles durch Reflexionen und Räsonnement ins Wanken geraten ist, so fragt Hegel zur sophistischen Argumentationskunst, auf welches Feste kann sich die Vernunft dann noch stützen?

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Dieser Dialog ist auch deshalb interessant, weil mittendrin ein Streit über die Art der Gesprächsführung entbrennt. Sokrates beklagt sich über die Weitläufigkeit von Protagoras Beweisführung, die Platon an einer Stelle komödiantisch ironisiert. Protagoras gefällt der imperial-suggestive Fragestil des Sokrates nicht, der meist nur ein ‚ja‘ oder ‚nein‘ als Antwort zulässt.

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2 Der Homo-mensura-Satz (Hms)

2 Der Homo-mensura-Satz (Hms) 2.1 Der Satz 2.1.1 Das Ganze „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, daß (wie) sie sind, der nichtseienden, daß (wie) sie nicht sind.“24 „πάντων χρημάτων μέτρον ἐστὶν ἄνθρωπος, τῶν μὲν ὄντων ὡς ἔστιν, τῶν δὲ οὐκ ὄντων ὡς οὐκ ἔστιν.“25 Sprachlich betrachtet handelt es sich bei diesem Fragment um einen dreigliedrigen Satz. Er enthält anfangs den zentralen Gedanken, der sich im Kulturgedächtnis als Kern des ‚Homo-mensura-Satzes‘ (Hms) festgesetzt hat. Er wird von zwei gleichgebauten, hypotaktischen Erläuterungssätzen zum Genitivattribut („aller Dinge“: πάντων χρημάτων) des entscheidenden Terminus „Maß“ (μέτρον) ergänzt. Die Erläuterung bezieht sich auf das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein der „Dinge“. Man findet bereits im griechischen Original verschiedene Fassungen des Satzes, die sich im Erläuterungsteil unterscheiden. Insofern ist dem Sprachkritiker Mauthner Recht zu geben, dass hier bereits alle Interpretationen einen ersten Stolperstein vorfinden.26 Der zweite ist dann die Übersetzung ins Deutsche, die ebenfalls in unterschiedlichen Formen daherkommt. Bevor ich auf die zentralen Begriffe der These eingehe, möchte ich den Erläuterungsteil betrachten, der mir immer noch sehr merkwürdig erscheint. Auch wenn man an Parmenides denken könnte, der erstmals das, was ist, und das, was nicht ist, als Problem menschlichen Denkens und Redens formuliert hat, ergibt dieser Bezug des Maßes auf seiende, (Diogenes Laertius 2010: S. 429). In Klammern die Alternativübersetzung der Konjunktion ‚ὡς‘ (hos). 25 https://www.gottwein.de/Grie/vorsokr/VSProt04.php (letzter Zugriff am 18.10.2020), hier sind auch verschiedene Quellen genannt. 26 „Über die Bedeutung fast jedes Wortes aus diesem Satz des Protagoras könnte man streiten, weil keine Schrift dieses Philosophen auf uns gekommen ist, nur herausgerissene Stellen, die vielleicht nicht einmal genau zitiert wurden.“ (Mauthner 1980: Band 2, S. 82ff. Stichwort ‚messen‘). 24

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also vorhandene, und nicht-seiende, also nicht vorhandene Dinge keinen rechten Sinn. Wie kann ich etwas messen oder für etwas Maß sein, das nicht da ist? Wie also kann man die Erläuterung verstehen, wenn man davon ausgeht, dass Protagoras sogar nach Meinung seines Kontrahenten Platon ein besonnener, weiser und geachteter Mann war? Im Nebensatz ist die Übersetzung der Konjunktion mit ‚dass‘ oder ‚wie‘ strittig. Einige Autoren weisen zum Beispiel auf die Varianten des ὡς (hos) hin, das einmal als Konjunktion ‚dass‘, aber auch als Adverb ‚wie‘ gelesen werden kann. Wie einige Autoren bemerken, macht es erstens keinen Sinn, mit dem Maß auf etwas hinzuweisen, das durch das Maßnehmen, das Messen erst zur Existenz oder ins Sein käme. Daher wäre im ersten Teil das ‚wie‘ vorzuziehen, weil damit die Bestimmung des Soseins eines vorhandenen Dinges (wie es ist) gemeint ist. Vollends unverständlich wäre es zweitens, etwas nicht Existierendes, Nicht-Seiendes messen bzw. bestimmen zu wollen; hier kann nur die Feststellung des Nichtseins gemeint sein (dass etwas nicht ist). Eine mir naheliegend erscheinende Erklärung steckt im Reden über die Dinge, so wie sie als chremata von Protagoras vorgestellt werden. Im Seinsbegriff als dem Inbegriff des überhaupt Sagbaren ist das Ding zunächst als da-seiend enthalten, über das etwas ausgesagt werden kann, also aristotelisch betrachtet das Zugrundeliegende (hypokeimenon) für die Prädikation. Es wäre hier im ersten, affirmativen Teil also unverständlich, wenn das ‚dass‘ gemeint wäre, da es als zu Messendes ja vorhanden sein muss. Gemessen wird immer eine Eigenschaft, nicht die Existenz eines Dings. Über etwas, das im raum-zeitlichen oder existentiellen Sinne nicht da ist – und zwar nicht, weil es gerade verreist, schlafend, noch keimend oder weggegeben worden ist –, kann man (aktuell) nichts aussagen, nichts prädizieren.27 Interpretiert man den Ausdruck chrematon als Gebrauchsding, das hergestellt wurde, um einen Zweck zu erfüllen, einen Nutzen zu stiften, ein Bedürfnis zu stillen, dann bekommt das Ganze eine plausible Wendung. Denn der Handwerker etwa hatte, bevor er den Stuhl zimmerte, einen Plan, ein Modell oder, platonisch gesprochen, eine Idee. Dies war sozusagen das Sein des Stuhls vor seiner Fabrikation, ein

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Das war wohl auch der Sinn des Satzes, mit dem Parmenides auf die Unmöglichkeit des Nichtseins hinweisen wollte. Denn Sein ist für ihn der Titel für den einen Denkraum, der zeit- und raumlos ist. Damit werden aber, nebenbei bemerkt, der prädikative und der existentielle Sinn des Seins vermischt.

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Gedanke, den Marx (1818–1883) übrigens auch in dem Beispiel von der Ameise oder der Biene verwendet, die sehr komplizierte Bauten vollbringen, aber instinktiv; während der Baumeister, der Architekt, diesen Bau vorher in seinem Kopf entworfen und genau geplant hat. Baupläne aber sind Paradestücke des Messens, da sie maßstabsgetreu sein müssen, wenn sie funktionieren sollen. In der poiesis, dem Handwerkermodell, liegt also ein Schlüssel für das Erscheinen eines Dings in der Wirklichkeit, welches zuvor schon als Plan oder Idee im Kopf oder Geist eines Menschen vorhanden war.28 In diesem Sinne ist der Mensch eben auch das Maß für das Nichtseiende oder Noch-nicht-Seiende, aber die Welt  – jetzt groß, metaphysisch und mit viel Glockengeläut gesprochen – geht schon mit der Idee (im Kopf des Baumeisters) schwanger und wird das Neue gebären; es ist bereits da wie der Embryo im Mutterleib.29 So gesehen ist der Mensch das Maß der Gebrauchsdinge, da er sie ja nach seinen Bedürfnissen und Zwecken behandelt, sortiert, klassifiziert, ordnet und neben diesen epistemischen Operationen auch praktisch als Gebrauchswerte erzeugt. Soviel zum Verständnis der jedenfalls für mich zunächst etwas kryptischen Formulierung. Würde man den Dingbegriff auch noch auf die praktischen Dinge des Alltags im Sinne der Beschäftigungen, Verrichtungen, Besorgungen etc. ausdehnen, wäre man beim Begriff der Angelegenheiten, wie Schmitz die chremata übersetzt (Schmitz 2007: S. 135). Der Hauptvorwurf gegen den Satz lautet, er plädiere für einen „relativistischen Subjektivismus“ (Röd 1994: S.  78). Damit ist die Auffassung verbunden, dass unsere Wahrnehmung, die zugleich als Erkenntnis gedacht wird,30 nicht nur vom Nach diesem Handwerker-Modell ließe sich ein Großteil der idealistischen Philosophie, allen voran die Metaphysik, rekonstruieren. Noch Hegels Logik, die mit der Idee endet, sieht in ihr den großen Plan, der sich aber durch die reale Geschichte von Diskursen und durch eine Strukturlogik in der Entwicklung logischer Kategorien evolviert hat. Mithilfe dieser Logik kann der Mensch seine Welt nun vernünftig, weil selbstbewusst, einrichten. 29 Es gibt die Auffassung, dass Platons Ideenlehre an diesem Handwerker-Modell ausgerichtet ist. Seine Vorliebe für mathematische und geometrische Argumentationen hätte dann ihre Grundlage eventuell in Zeichnungen und Berechnungen von Geräten und Bauten, die nicht nur Proportionen, sondern auch Belastungen berücksichtigen mussten. Diese planerischen Vorarbeiten haben auch heute immer etwas Idealisiertes, sehen immer chic aus und gehorchen einer verführerischen Ästhetik in den Modellen der Ingenieure und Architekten. Nicht zufällig wird Schönheit als Proportionalität und Harmonie der Teile eines Ganzen betrachtet. 30 Um die Wahrheit dieser Variante, die dann von Sokrates verworfen wird, geht es in Platons Theaitetos. 28

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Ding, sondern auch von unseren Sinnen und Empfindungen abhänge. Diesen Empfindungen, etwa von Kühle und Wärme, könne man aber keine objektive Wahrheit zusprechen, denn der Wind, der dem einen kühl erscheine, wärme den anderen. Dasselbe gelte auch für eine Person, für die ein Apfel bitter schmeckt, wenn sie krank ist, süß aber im gesunden Zustand. Urteile jedoch, also auch über subjektive Vorstellungen wie Empfindungen etwa, müssen im Rahmen der tradierten Meinungen und Überzeugungen (doxa) akzeptierbar sein. Wahrheit gelte daher, wenn man überhaupt von ihr sprechen will, nur relativ. Das Maß aber für den Wert einer Aussage sei eben der Mensch.31 Soweit die relativistische Position. Legt man Wahrnehmungsurteilen wie „Die Rose ist rot.“, „Der Wind aus der Sahara ist heiß.“ nun etwas Messbares zugrunde, das mit Messgeräten auf Farbund Temperaturskalen oder Wellenlängen bestimmbar ist, erkennt man sogleich die objektive Qualität einer vermeintlich subjektiven Wahrnehmung, wenn sie sich sprachlich, also öffentlich und überprüfbar, mitteilt. Grundlage ist freilich keine Empfindung oder ein Gefühl, sondern eine Übereinkunft, eine Setzung, etwa ab welcher Temperatur von Hitze, Wärme, Kühle und Kälte usf. gesprochen werden kann. Dass jemandem bei 30 °C friert, ist dann eine andere Geschichte und für das, was gemeinhin mit Wahrheit verbunden wird, unerheblich. Wenn bei einem Saharawind jemand äußert: „Mir ist kalt.“, dann sagt er nichts über den Saharawind, sondern über sein Temperaturempfinden aus. Wenn das Thermometer bei dieser Äußerung 40 °C anzeigt, würde jeder stutzig. Wir haben es definitiv mit zwei ganz unterschiedlichen Sachverhalten zu tun. Mit den Adjektiven ‚rot‘ oder ,heiß‘ werden Merkmale, Eigenschaften von Objekten beschrieben und nicht von menschlichen Empfindungen. Die Merkmale (Qualitäten) sind tatsächlich messbar und damit objektiv überprüfbar. Die Relation, die dem Relativismus zugrunde liegt, ist begrifflich auf Relata angewiesen, zwischen denen Beziehungen bestehen. Dies kann zwischen Subjekt und Objekt, aber auch zwischen Objekten und zwischen Subjekten sein. Dennoch benötigt man einen festen Bezugspunkt oder Referenzbereich, um überhaupt Relationen 31

Röd gibt in der angegebenen Textstelle eine recht übersichtliche und nachvollziehbare Deutung der Erkenntnisproblematik, die bereits auf die Unterscheidung von sinnlichen und intelligiblen Gegenständen des Wissens sowie den subjektiven Anteil im Erkennen hinweist, der ja letztlich bei Kant zur Transzendentalphilosophie als Kritik der reinen Vernunft führte.

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2 Der Homo-mensura-Satz (Hms)

identifizieren zu können.32 Genau hier liegt der Grund für den doppelten Widerspruch des Relativismus, der ja immerhin einen universalen Wahrheitsanspruch geltend macht, nämlich die Behauptung von der Relativität der Wahrheit, die dann aber paradoxerweise allgemeingültig sein und absolut gelten soll. Das Beispiel bei Platon ist das Größenverhältnis von Zahlen; man kann das aber auf alle Gegenstände übertragen. Von drei Größen 4, 7, 12 kann man von der 7 immer sagen, sie sei kleiner und zugleich größer als eine andere: 4 < 7 < 12. Prinzipieller gesagt hängt es davon ab, ob ich alle Relata kenne oder nur jeweils einen Teil, also 4 < 7 oder 7 < 12. Das Wahre ist das Ganze, so könnte man Hegel hier etwas burschikos zitieren. Die Frage, ob 7 nun größer oder kleiner, sogar schon ob sie überhaupt groß oder klein sei, ist für sich betrachtet schon ziemlich unsinnig. Relationen sind, wie schon der Name sagt, relativ oder besser gesagt relational. Ihre kategoriale Grundlage ist das Viele, also mindestens zwei. Aber sinnvoll oder verstehbar macht diese Kategorie nur ihr Zusammenhang mit dem Eins, dem Einen, einer nicht-relationalen Größe, weil Viele immer viele Eins ist. Die wirklich entscheidende Frage im Hms ist, ob diese Größe im Menschen als Individuum oder als Gattungswesen gedacht und angesetzt wird. Damit kommen wir zu den zentralen Begriffen des Satzes.

2.1.2 Die Teile Die Leitbegriffe sind (a) chremata33 als Dinge, die nützlich sind (Gebrauchswerte), (b) metron als Maß oder Maßstab, das bzw. der sich aus dem Messen herleitet und (c) anthropos als Mensch in der Doppelbedeutung von Gattungswesen und Individuum. Die Nomen bilden die semantisch tragenden Komponenten, gleichsam das Skelett des Hms. Das ‚Maß‘ ist wahrscheinlich die erklärungsbedürftigste, obzwar die anderen auch Interpretationsbedarf anmelden. Selbst die Relativitätstheorie kennt Konstanten, also absolute Größen wie etwa die Lichtgeschwindigkeit. Der Witz liegt in der Verortung eines Beobachtersystems, auf das hin Größen wie Raum und Zeit, Licht und Geschwindigkeit etc. überhaupt erst sinnvoll gemessen werden können. Ein Begriff wie Gleichzeitigkeit im astronomischen Sinne verliert zwar nicht seine Bedeutung (was damit gemeint ist), aber seinen Sinn, denn es gibt sie in diesem Zusammenhang nicht. 33 Chrematon ist die Genitivform. 32

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(a) Adorno (1903–1969) weist in einer Vorlesung über ‚Philosophische Terminologie‘ auf die Bedeutungsverschiebung des Wortes chrema (pl. chremata) vom Ding oder der Sache (lat. res) zum Geld hin.34 Nach diesem Bedeutungswandel sei an seine Stelle der Ausdruck pragma getreten. Bei Egon Friedell findet sich in seiner Kulturgeschichte Griechenlands eine Stelle, in der die sprichwörtliche spartanische Lebensweise konfrontiert wird mit der Geldgier der Spartaner, der philochrematia (φιλο-χρεματια).35 Aristoteles hat unter Chrematistik die Kunst verstanden, aus Warenhandel, also nützlichen Dingen, Geldreichtum zu machen. Karl Marx wiederum nimmt auf ihn Bezug und hält fest: „Die einfache Warenzirkulation  – der Verkauf für den Kauf – dient zum Mittel für einen außerhalb der Zirkulation liegenden Endzweck, die Aneignung von Gebrauchswerten, die Befriedigung von Bedürfnissen. Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist dagegen Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos.“36 Eine Fußnote bezieht sich dann auf Aristoteles’ Unterscheidung von Chrematistik und Ökonomie. Es ist gleichzeitig eine Abhandlung über Endlichkeit der Ökonomie qua Bedürfnisbefriedigung und Reichtum als Summe von Gebrauchsgütern im Sinne von nützlichen Werten, die man zum guten Leben braucht und die daher notwendig sind. Dagegen wird die Unbegrenztheit des Gelderwerbs gesetzt, die die Kapitalbildung als Selbstzweck enthält und unendlich ist, ohne Grenzen und Schranken. Setzt man den Dingbegriff weiter in die Existenzialontologie Heideggers (1889– 1976) ein, findet man die Unterscheidung von vorgefunden, natürlichen Dingen (Vorhandenes) und hergestellten Artefakten (Zuhandenes). Tatsächlich ist sie schon sehr früh in der Antike in Gebrauch, sogar in der Abstraktion von Ware und Geld, wie Marx das klar erkannte. Das Zuhandene fällt schon der Genese und nicht allein der Geltung nach unter den Nutzen- und Zweckbegriff. Wir werden später beim Zeichenbegriff wieder auf den Begriff des Wertes stoßen, der hier bereits beim Ding eine Rolle spielt, insofern Dinge eben einen Wert haben, den der Mensch ihnen verleiht, sei’s als Gebrauchs‑, sei’s als Tauschwert. Der Ursprung liegt erstens

(Adorno 1973: S. 16 f.). (Friedell 1999: S. 111 f.). 36 (MEW 23: S. 167). Wie sehr das stimmt, kann man heutzutage an den Finanzkrisen ablesen, die durch maßlose Spekulationen an den Finanzmärkten evoziert wurden. Hierzu bündig (Vogl 2011): Das Gespenst des Kapitals. 34 35

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in der investierten Arbeit, die den Stoffwechsel mit der Natur über das Herstellen von technischem Gerät ermöglicht; zweitens im Tausch von qualitativ heterogenen, aber gleichwertigen Dingen auf öffentlichen Märkten, vor allem in der Stadt. Diese Dinge entwickeln sich äquivalent zum Geld als dem Steuerungsmedium einer funktional differenzierten Ökonomie im Weltmaßstab und bis in unsere heutige Zeit fort. Für die Interpretation des Satzes könnte dieser Bedeutungswandel eine Rolle spielen, wenn man berücksichtigt, dass sich die Sophisten eher für den nomos als für die physis interessierten, das heißt weniger für die natürlichen als die hergestellten Dinge, sowohl technische wie soziale. Dann wäre freilich mit einem pragmatisch gewandelten Zweckbegriff der Satz sogar tautologisch wahr, denn der hergestellte Gegenstand, das Zuhandene, war vor seiner Existenz bereits ge- und vermessen im Kopf des Produzenten.37 Die chremata (χρεματα) waren im Sinne Protagoras aber sicherlich nicht nur die materiellen Gegenstände, die vorgefunden, hergestellt und getauscht werden konnten, auch gegen Geld. Seine Beispiele vom Wärme- und Kälteempfinden sowie die Größenvergleiche zeigen das. Gemeint ist wahrscheinlich schlicht alles, was es gibt, mit Betonung auf dem Quantor ‚alle‘. Einige Autoren übersetzen mit ‚Sachverhalte‘ oder ‚Angelegenheiten‘, um die Anwesenheit des Menschen bei den Dingen hervorzuheben. Andere verweisen auf ‚Qualitäten‘. Es scheint plausibel, dass die Provokation darin lag, die Beschränktheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, die sich im Maß zeigt, mit der Kritik an der Auffassung zu verbinden, es gäbe neben der menschlich zugänglichen Wirklichkeit noch eine weitere, den Göttern oder auserwählten Sehern alleine vorbehaltene Wirklichkeit. Hier sehe ich Parmenides Seinsbegriff, den Platon mit seiner Ideenlehre beerbt. Selbst die Götter, die vordem als Maß galten, gelten ab jetzt als ‚Hergestelltes‘ im Sinne von durch Menschen Erfundenem, Fantasieprodukte eben. Diese asebische, die Götter negierende Auffassung hallt bis heute im fehlschlagenden ontologischen Beweis einer transzendenten, außerweltlichen Gottheit oder Wirklichkeit nach. (b) Warum messen wir? Wir wollen entweder merkmalsgleiche Dinge wertmäßig unterscheiden (skalieren) oder ungleiche Dinge wertmäßig identifizieren (vereinheitlichen). Es geht immer um das Feststellen von Unterschieden hinsichtlich einer einheitlichen Größe oder um das Feststellen von Gleichheiten verschiedener Merkmalsgrößen. Im Tausch werden verschiedene Dinge hinsichtlich eines 37

Zum ‚Handwerkermodell‘ der poiesis ausführlicher in II.3.2.

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gemeinsamen Maßstabs als gleichwertig behandelt. Brot und Schuhe, Steuern und Infrastruktur, Apps und Informationen. Rein sachlich-substantiell haben sie nichts gemeinsam. Allein der Nutzen oder Gebrauchswert, den der Konsum der Ware für mich stiftet, bringt sie zusammen und führt zu der Frage, in welchem Verhältnis ich diese ungleichen Güter tauschen möchte und kann. Das Maß ist entweder die Menge von jedem Gut oder der Preis als die Größe, die ich bereit bin, für ein Gut oder eine Dienstleistung zu bezahlen.38 Die Menge richtet sich aber nach einem Kriterium, das das Austauschverhältnis bestimmt (Arbeitszeit, Nutzen). Grundlage dafür ist das Messen, also Maß nehmen: Menge von zählbaren Dingen und Zeit bei Dienstleistungen als Handlungen. Der Nutzen (Gebrauchswert) hängt aber von individuellen, subjektiven Bedürfnissen ab und kann nicht objektiv gemessen werden, sondern bedarf einer anderen Wertskala.39 Die Subjekte müssen sich selbst auf einer Skala verorten, die dann gleichsam einen objektiven Status erhält. Grundsätzlich gilt: Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandeln. Wir messen bestimmte Eigenschaften der Dinge wie Größe, Gewicht, Länge, Fläche und Volumen. Sie werden diskret, also trennbar auf einer Skala dargestellt. Die Maßeinheit wurde ursprünglich von den Proportionen menschlicher Körperteile oder raumzeitlich überschaubarer oder erreichbarer Bewegungen abgeleitet. Die Elle, der Fuß, der Morgen, der Tag oder Montag, der Mond oder Monat, die Generation, dies alles waren für den Menschen sinnlich gegenwärtige, erfahrbare und zugängliche Bezugsbereiche. Sie waren aber nicht immer gleich, nicht standardisiert. Abweichungen waren die Regel. Die Umstellung auf das metrische System, Die Erklärung für die Grundlage der Preisbildung bzw. die Wertbestimmung ist eine andere Frage, die in der Ökonomie unterschiedlich beantwortet wurde. Karl Marx hat sie wie auch Adam Smith in der Arbeit bzw. der Arbeitskraft gesehen. Demnach wäre das grundlegende, verborgene Maß die verausgabte Arbeitszeit! Man müsste das noch genauer mit der notwendigen Arbeitszeit, die zur Reproduktion der Arbeitskraft aufgewendet werden muss, erläutern, und dann kommt man unweigerlich zu den Bedürfnissen des Menschen. 39 In den Sozialwissenschaften ist die Einteilung von verschiedenen Skalenniveaus je nach erhobenem Merkmal üblich und standardisiert. Merkmale wie Körpergröße, Alter, Preise und Einkommen können metrisch erfasst und mithilfe bestimmter mathematischer Operationen statistisch behandelt werden (Median, Durchschnittswert etc.). Sie sind stetig bzw. kontinuierlich. Andere können hierarchisiert, aber nicht berechnet werden, etwa Schulnoten, Präferenzen und die nicht rangmäßig erfassbaren Merkmale wie Familienstand, Geschlecht, Studiengang etc. Sie sind diskret. Dazu (Mayntz et al. 1971). 38

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das seit der Französischen Revolution 1789 angewendet wird, verlangte einen Abstraktionsschritt, in dem der Bezugsbereich als konventionell anerkannt wurde, weil die physische Basis nur noch mittelbar, das heißt durch Messung, zu kontrollieren ist.40 Die Vorteile einer internationalen Vereinheitlichung von Maßeinheiten etwa für Zölle und Handel liegen auf der Hand. Die subjektiven Größen wie Nutzen, Erfolg, Wohlbefinden, Glück etc. können nicht unabhängig von Äußerungen der Subjekte gemessen werden. Wir stellen sie kontinuierlich, also übergangslos, als mehr oder weniger dar. Das Mehr oder Weniger kann nicht metrisch, sondern nur ordinal dokumentiert werden. Die Verortung auf einer gleichwohl objektiven Skala ist nicht mehr dinglich, physisch messbar, sondern beruht auf einer subjektiven Einschätzung. Schulnoten wären ein Beispiel für diese Art der Messung, Präferenzen für Handlungsoptionen eine andere. Wir kennen diese Gedankenspiele: Was würden wir mitnehmen, wenn wir für ein Jahr alleine auf einer Insel (Raumschiff) bei ausreichender Versorgung verbringen müssten und nur fünf oder zehn Gegenstände mitnehmen könnten? Das Maß im strengen, logischen Sinne ist die Einheit von Qualität (was) und Quantität (wieviel). Alle Dinge und Ereignisse existieren nur innerhalb einer quantitativen, mess- oder skalierbaren Bandbreite; überschreiten sie eine bestimmte Grenze, einen Grenzwert, wird zum Beispiel aus flüssigem Wasser entweder Eis oder Dampf, aus Gesundheit Krankheit, etc. Lebewesen haben ein bestimmtes Lebensalter, eine bestimmte Wuchsgrenze. Dass Pflanzen immer so und so hoch wachsen, Systeme zur Entropie neigen – all dies verweist auf eine Struktur von Elementen und Beständen, die bei Überschreiten dieses Maßes emergente, neuartige Ereignisse und Seinsarten provozieren. Dialektik als Prozesslogik müsste dann bedeuten, dass sich die relevanten Informationen bereits in den Vorstufen befinden und sich Wasser notwendigerweise aus Sauerstoff und Wasserstoff und keinen anderen Elementen bildet, vielleicht und allenfalls noch unter bestimmten Bedingungen. Dass die Planeten sich ohne feste Verbindungen frei um ein Gravitationszentrum bewegen, weist auch auf ein Maß hin, das dieses System im Gleichgewicht hält, bevor es irgendwann in einem 40

„Das Meter wurde seit 1960 über eine Lichtwellenlänge definiert und die Sekunde seit 1967 über die Frequenz eines Atomübergangs. In den 1980er-Jahren konnte die Lichtgeschwindigkeit genauer gemessen werden, als das Meter nach damaliger Definition. Daher wurde 1983 die Lichtgeschwindigkeit auf einen festen Wert festgelegt und das Meter über die Lichtgeschwindigkeit und die Sekunde neu definiert.“ (Wikipedia: Metrisches Einheitensystem).

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Schwarzen Loch kollabiert. Solche Maße existieren unabhängig davon, ob wir sie registrieren, aber wir Menschen entdecken sie und können sie berechnen und denken. In diesen Bereichen der Naturerscheinungen wäre es unsinnig, den Menschen als Maß oder Maßstab anzunehmen. Denn diese Maßverhältnisse sind unabhängig von uns Menschen, wir haben sie lediglich entdeckt. Das Maß hat aber auch im normativen Bereich solche Grenzen, die jeder im Alltag beobachten und erleben kann: Die meisten Verhaltensweisen im sozialen Raum sind irgendwie reglementiert, mal strenger, mal laxer; man erwartet Höflichkeit, Rücksichtnahme, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft; einiges ist gesetzlich als Verbot oder Gebot geregelt und wird bei Verletzungen strafrechtlich verfolgt. Im Grunde sind alle sozialen Normen und Institutionen Maßvorrichtungen, um das Zusammenleben der Menschen in einer übersichtlichen oder auch komplexen und unübersichtlichen Gesellschaft zu gewährleisten. Allerdings: Wer zu viel des Guten tut, erreicht oft das Gegenteil. Wenn viele ihren Eigennutz verfolgen, befördern sie durch den unausweichlichen, nicht-gewollten Ausgleich ihrer Einzelinteressen das Allgemeinwohl.41 Das, was als Tugend, Benimm, Anstand, Etikette und Moral bezeichnet wird, kann als Normierung oder Mäßigung von Verhaltensweisen und Handlungen im sozialen Bereich betrachtet werden. Die Mesotes-Lehre der Tugend nach Aristoteles definiert eine aus der Lebenserfahrung gewonnene ‚Mitte‘ als Maß zwischen zwei Extremen, die beide, als Norm genommen, eine Gemeinschaft zerstören würden. Die meisten Maße verwenden wir im sog. Mesobereich, der sich als Horizont des menschliches Wahrnehmungs- und Handlungsfeldes definieren lässt, innerhalb dessen wir – physikalisch, biologisch, psychologisch und soziologisch gesehen – handeln und erleben, den Dingen und uns begegnen und praktisch verändernd intervenieren. Wir können die Dinge selbst gemäß unseren Bedürfnissen und Erfordernissen der Objektwelt konstruieren. Hier entsteht dann auch schnell der Streit um die Frage, ob die Herkunft dieser Maße physikalisch, biologisch, psychologisch oder soziologisch ist. Unser Richtungssinn beispielweise wird durch die Gravitation und die Position im physischen Raum bestimmt. ‚Unten‘ bedeutet zentrifugal Richtung Erdmittelpunkt und vom Körper aus Richtung Füße, ‚oben‘ zentripetal Richtung Himmel und Richtung Kopf. Rechts, links, vorne, hinten werden immer 41

Ein Klassiker für diese Theorie ist neben Adam Smith sicherlich Bernard Mandeville (1980): Die Bienenfabel oder Private Laster, öffentliche Vorteile.

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2 Der Homo-mensura-Satz (Hms)

vom Körper aus bestimmt. Man kann sich das modellhaft als dreidimensionales Koordinatensystem denken; mit uns als Subjekten im Nullpunkt. Ekel, ein anderes Beispiel, ist sicher ein Maß für Genießbarkeit und wird dann als ‚Ekelfaktor‘ definiert. Er ist aber schwer zu bestimmen hinsichtlich der subjektiven Prägung, die überwiegend vom kulturellen Kontext abhängt. Maden, Würmer, Schlangen, Ratten, Insekten etc. sind in der Regel nicht Bestandteil der westlichen Küche. Selbst in der Regionalküche Deutschlands sind Innereien mal Spezialität, mal verpönt. Können sich Tiere ekeln oder ignorieren sie solche Ekeldinge einfach instinktiv? Weiter unterscheiden wir die Temperatur einmal anhand einer normierten Messskala, aber auch nach dem Wärme- oder Kälteempfinden. Wir wissen also, dass zwischen objektiven und subjektiven Werten differenziert werden kann und zuweilen auch muss. Dann gibt es natürlich Qualitäten wie Gefühle, Affekte, Werte und Prinzipien, die nicht messbar sind. Meine Vermutung ist, dass dieser Bereich körpersprachlich erlernt oder sprachlich-diskursiv vermittelt werden kann, denn wir unterscheiden wohl Grade der Zuneigung und Zustimmung, ohne sie metrisch erfassen zu können. Messen und Maße haben also Bestimmungen und Übereinstimmungen zu ihrer Grundlage, sie gelten nicht nur für einen Menschen, sondern für viele, im universalen Sinne wie den Menschenrechten etwa oder der Vernunft sogar für alle. Ohne solche intersubjektive Objektivität käme kein menschliches Leben, geschweige denn Überleben, zustande. Hegel hat das Maß als Einheit von Quantität und Qualität ans Ende seiner Seinslogik gesetzt, weil hier eine Art Endpunkt erreicht ist, der dem natürlichen Sein oder dem Ansichsein eine Schranke setzt, die nur noch ideell, das heißt in der Reflexion, im Wesen, überwunden werden kann. Das Maß im Sein ist nicht vom Menschen gesetzt, er stellt es nur fest, wenn etwa Wasser bei verschiedenen Temperaturen seinen Aggregatzustand ändert oder Gruppen ab einer bestimmten Größe ihren Zusammenhalt und damit ihren Seinsstatus als Gruppe verlieren. Der von uns Menschen wahrnehmbare und im Alltag kontrollierbare Erlebens- und Handlungsraum ist, wie erwähnt, mesoskopisch, das heißt sein Radius oder Horizont wird durch unsere Sinne bestimmt. Auf welche Entfernung oder Nähe können wir einen Gegenstand mit den Augen, den Ohren, dem Mund, der Nase und unserer Haut wahrnehmen und erkennen? Es ist kein Zufall, dass die Metaphysik ins Übersinnliche geht, also in den Bereich, der den Sinnen nicht zugänglich ist, nämlich das ganz Große – der Kosmos, der Sternenhimmel – und das ganz Kleine, die Atome und die Leere. Und damit erhält auf einmal das Messen eine ganz 39

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neue Bedeutung, weil wir erstens die Messinstrumente für das ganz Kleine und das ganz Große erst bauen müssen und zweitens selbst Maßgeber für unsere soziale Welt sind. Wir bleiben aber auch mit der hochentwickelten Technologie der Astround Quantenphysik, deren Instrumente ins All und in die Körper befördert werden können, letztlich im Mesobereich der Labors und Büros, interpretieren Messdaten und Zahlenreihen und entwerfen Theorien, die uns all das, was wir nicht unmittelbar sehen können, mithilfe unseres Verstandes und unserer Vernunft erklären. Wir treiben auch in der Naturwissenschaft Metaphysik auf höchstem Niveau; und ich denke, es geht bei wissenschaftlichen Karrieren, Prestige, Forschungsgeldern und Nobelpreisen, auch um Machtpolitik. Damit sind wir beim Menschen. Was ist der Mensch? (c) Da diese Frage in Kap. II.1. ausführlich behandelt wird, sollen hier einige sehr knappe Hinweise genügen. Er ist vor allem dasjenige Lebewesen, das als erstes und bisher einziges aus der Natur herausgewachsen ist und sich aus eigener Kraft mittels seiner naturgegebenen Anlagen eine spezifische Lebenswelt geschaffen hat. Diese Lebenswelt heißt Gesellschaft und Kultur und ist nur als gemeinsames Produkt kooperierender und konkurrierender Gemeinschaften zustande gekommen. Diesen Prozess nennen wir Geschichte. Die Doppelnatur des Menschen macht ihn zum Produkt wie zum Produzenten, zum Geschöpf wie zum Schöpfer, zum Empfänger und zum Sender. Im Subjektbegriff steckt ja auch das Doppelte, einmal als Unterworfenes, sub-jectum, dann aber auch als Unterwerfendes. Es macht sich die Dinge zu eigen, eignet sie sich an. Die Perspektive, aus der der Hms in diesem Essay behandelt wird, ist also die anthropologisch-soziologische und nicht die subjektivistisch-individualistische. Fazit: Die protagoräische These ist schwer abweisbar. Sie trifft für den einzelnen Menschen im Bereich der Wahrnehmung und des Erlebens ohnehin zu, was auch die Kritiker nicht leugnen. Betrachtet man den Menschen allgemein, das heißt als Gattungswesen, findet man in unserer Trieb- und Bedürfnisstruktur, der Vernunft und der Sprache alles, was als Dispositionen zur Bestimmung des Menschen und seiner Fähigkeit der Welterschließung anthropologisch nötig und rekonstruierbar ist. Damit ist nicht nur unser kognitiver Zugang zur Welt angesprochen, sondern auch unser praktischer. Schließlich richten wir uns in unserer Welt und Umwelt so ein, dass wir nicht nur überleben, sondern auch möglichst gut leben können, und das zusammen in Sozialverbänden unterschiedlicher Grö-

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ßen.42 Das geht aber doch nur nach menschlichen Maßstäben, denn andere haben wir nicht. Insofern ist jedes Denken eines ‚Ansich‘, einer ‚Realität‘ oder ‚Wirklichkeit‘ oder gar des ‚Absoluten‘ überhaupt nur auf diesem Boden unserer anthropologischen Konstitution erstens ontologisch wie metaphysisch möglich und verstehbar und zweitens epistemologisch denkbar sowie sprachlich darstellbar. Das heißt aber, dass wir als Menschen maßgebend und ‑setzend sind. Dies gilt sowohl für die Proportionen und Perspektiven, die wir aufgrund unserer Größe, Physiologie und Morphologie mitbringen43, was zu einer skopischen Beschränkung unserer natürlichen Wahrnehmungskapazität führt, die wir aber technisch mehr als wettmachen können. Und es gilt ebenso für unsere Intelligenz, die sich qua Verstand und Vernunft eine Welt schafft, die wir als unsere Wirklichkeit begreifen, die wir verstehen, kritisieren und verändern können. Der entscheidende Punkt ist daher, dass wir von Natur aus zwar beschränkt sind, was unsere Wahrnehmung und Motorik betrifft, wir aber durch unseren Geist in der Lage sind, diese Defizite auszugleichen. Was festzuhalten ist  – ganz gleich wie der Hms interpretiert wird  – hat schon Kant (1724–1804) mit der Formulierung „aus dem Standpunkte eines Menschen“ (KrV A, S. 26)44 angedeutet. Was wir wissen und warum und wie wir philosophieren, hängt immer nur von unseren anthropologischen Bedingungen und sozial-evolutionären Lernprozessen ab, wozu dann selbstverständlich noch die biografischen Besonderheiten hinzuzurechnen sind. Aber selbst ein Genie kann nicht wirken, wenn seine Umwelt ihm nicht den Resonanzraum bietet, den es zu seiner Entfaltung und Wirkung braucht. Wir sind aufeinander angewiesen, in welcher Funktion und Rolle auch immer.

Ich benutze den Terminus ‚Umwelt‘ meist synonym für Mitwelt, Wirkwelt und dergleichen Nuancen. Die nötigen Differenzierungen (innere, äußere, natürliche, soziale) erfolgen bei Bedarf an Ort und Stelle. 43 vgl. den vitruvianischen Menschen von da Vinci, vgl. Abb. 1. 44 (Kant AA: IV, S. 33). 42

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2.2 Hegels Interpretation Vorbemerkung: 1. Da die Quellenlage sehr dürftig ist und von den Vorsokratikern ohnehin nur Fragmente überliefert sind, stützt sich Hegel (TW 18, S. 428–434) auf andere Autoren, vornehmlich Platons Theaitetos. Weiterhin greift er auf bekannte Publikationen des Skeptikers Sextus Empiricus aus dem 2. Jahrhundert und des Chronisten Diogenes Laertius aus dem 3.  Jahrhundert zurück. Er nimmt argumentativ Bezug auf Heraklit (520–460), Sokrates und Platon als Zeitgenossen, aber auch – über Kant  – auf die Selbsterkenntnis des modernen Bewusstseins, dem er sich selbst zurechnet. 2. Die siebenseitige Abhandlung lässt sich gliedern in 1. relevante biografische Anmerkungen (a.  a.  O., S.  428f.), 2. eine erste Erläuterung des Satzes und seiner Schwächen im Vergleich mit Sokrates und Platon (S.  429f.), 3. Erörterung der epistemischen Innovation durch die Hervorhebung der Rolle des menschlichen Subjekts mit Vergleich zu Kant (S. 430f.), 4. Bewertung der Relativität im Vergleich mit Platon (S. 431f.), 5. Kritik daran mit Heraklit (S. 432ff.) und ein Fazit (S. 434). 3. Wie es typisch für seine Konzeption der Geschichte der Philosophie ist, die ja die Entwicklung der Vernunftidee à la longue rekonstruiert, stellt Hegel das Denken des jeweiligen Philosophen, hier Protagoras, in dessen zeitlich-historischen und begrifflich-diskursiven Kontext. Er lobt ihn ob seiner „großen Reflexion“ des Bewusstseins, „die im Protagoras selbst zu Bewußtsein gekommen ist.“ (S. 434) Diese Erkenntnis habe die „Form der Erscheinung“ zum Resultat, was von den Skeptikern später wieder aufgenommen worden sei. Hierzu muss man wissen, dass Hegel den Skeptizismus sehr ernst genommen und in sein System konstruktiv integriert hat, sodass er vom „sich vollbringenden Skeptizismus“ (TW 3, S. 72) in seiner Phänomenologie des Geistes spricht. Seine Logik startet ebenso mit einer isosthenischen, inkonsistenten und unruhigen Gleichwertigkeit von Sein und Nichts, woran Skeptiker ihre helle Freude haben dürften. Gleichwohl bewertet Hegel das historisch Innovative

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immer aus der Sicht des späteren, entwickelten Denkens, nämlich seines Systems des absoluten Idealismus. 4. Ich werde den Text nicht chronologisch, sondern systematisch analysieren. Ich nehme sein Ergebnis vorweg (a) und versuche dann, die Argumentation im Kern zu rekonstruieren (b). (a) Hegel ordnet den Hms als erkenntnistheoretischen Hauptsatz des Protagoras ein. Diesem sei es darum gegangen, das Denken bzw. Wahrnehmen (Erkennen) in seiner Bedeutung für das Wissen zu bestimmen, „und diese allgemeine Bestimmung ist das Maß, der Maßstab des Werts für alles.“ (S. 430) Wahrnehmen oder Erkennen, was hier synonym verwendet wird, bezieht sich auf die Erscheinungen der Dinge. Er konstatiert paradoxerweise, dass das Erscheinen, was ja der Vorgang ist, nicht das sinnliche Sein sei, denn das ist der Gegenstand. „‚Die Erscheinung ist die Wahrheit‘ [ein weiterer Hauptsatz des Protagoras, d.Verf.], scheint sich ganz zu widersprechen; es scheint, daß das Entgegengesetzte hier behauptet werde, a) daß nichts an sich ist, wie es erscheint, und b) daß es wahr ist, wie es erscheint.“ (S. 434) Anders gesagt, es gibt eine Differenz zwischen Erscheinung und Ding (‚an sich‘) und die Wahrheit soll einmal auf der einen, ein andermal auf der anderen Seite liegen. Dagegen fasst Hegel die Erscheinung als „das sich aufhebende sinnliche Sein“, nämlich als in das Bewusstsein gehobene Sein auf. Das Ding „an sich“ ist außerhalb, seine Erscheinung aber im Bewusstsein. Oder anders, das Ding ist objektiv, die Erscheinung subjektiv. Das Denken darüber wiederum ist diese „Bewegung“, die Reflexion dieses Getrenntseins im Vorgang des Erscheinens (Wahrnehmens, Erkennens), die damit über dem Bewusstsein und dem Sein stehe. Diese reflexive Metaebene und hierin die aufhebende Leistung der Reflexion zu verstehen, ist nicht unerheblich. An dieser Stelle gibt Hegel ein Beispiel seiner epistemologisch wie ontologisch verschränkten Denkweise: „Die Welt ist nicht Erscheinung darin, daß sie für das Bewußtsein ist, also ihr Sein nur ein relatives für das Bewußtsein, sondern ebenso an sich.“ (S. 434)45 Das heißt übersetzt: Die Welt als Sein ist auch ohne ein Bewusst-

Die Kategorie des ‚Ansich‘ ist phänomenologisch gesehen auch ein Moment des Bewusstseins – und nicht sein Entgegengesetztes. Das Denken braucht nach Hegel diese Kategorie, um das denkunabhängige Sein (etwa die Natur) überhaupt fassen zu können. Wir werden diesen Sachverhalt in II. 2.2 im Referenzbegriff wieder aufnehmen.

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sein. Nacheinander kommen dann Kant und Protagoras zu Wort, wobei das „ebenso“ die vorherige Negation positiv wendet. Was er abschließend dem Protagoras zugutehält, ist, dass er das Moment des Bewusstseins als eben dieses negative Sein-für-Anderes aufgezeigt habe, aber nur in der einseitigen, subjektiven Weise, denn zum Erscheinen braucht es eben auch das Moment des Ansichseins, und das ist die objektive Welt, die Welt der Objekte. Die Erscheinung selbst kann nicht erscheinen. Die Welt, so kann man also zusammenfassen, ist nicht nur Erscheinung für ein innerweltliches Bewusstsein, sondern ebenso an sich oder besser: ein Ansich. Dennoch ist es notwendig, den Anteil des Bewusstseins festzuhalten, aber als ein Moment in der Bewegung des Denkens, das immer auch das Ansich des Gegenstandes in sich aufnimmt und voraussetzen muss. – Soweit das Resultat, das schon über den Hms im Sinne seines Urhebers hinausweist. (b) Indem Protagoras den Menschen als das Maß einsetze, bleibe die „Zweideutigkeit“, so Hegel, dass entweder das zufällige und partikulare Individuum oder das allgemeine Gattungswesen gemeint sein könne. Die ganze Argumentation läuft nun darauf hinaus zu zeigen, dass Protagoras zwar den Fokus auf den individuellen Menschen als dem Subjekt des Denkens (Erkennens, Wahrnehmens) gelegt, aber nicht den Schritt hin zur Allgemeinheit vollzogen habe. Denken und Erkennen geschieht nach Hegel zwar im individuellen, subjektiven Bewusstsein, aber immer im Medium des Allgemeinen, weil die Kategorien nicht nur objektive Gültigkeit für alle Subjekte schlechthin haben, das wäre Kants Position, sondern auch, und da folgt er den antiken Philosophen Platon (bedingt) und Aristoteles (unbedingt), für die Dinge ‚an sich‘. Ebenso muss in der Beziehung des subjektiven Denkens, des menschlichen Bewusstseins, zu dem Gegenstand beachtet werden, wie der aufgenommene „Inhalt“ weiter bestimmte wird: Gilt er nur für das partikulare, individuelle Bewusstsein oder gilt er allgemein, für sich bestimmt? Er expliziert das an der platonischen Idee vom Guten, die mit dem Gottesbegriff als eines Vollkommenen korreliert: Sie ist erstens ein Denkprodukt, vom Denken gesetzt, wie man traditionell sagt, und zwar als etwas Ewiges, Festes, Seiendes gegenüber dem flüchtigen Sinnlichen; deshalb kann sie als Allgemeines anerkannt werden, was also jedermann gleichermaßen erkennt. Zweitens ist sie als Denkprodukt, als Gesetztes, zwar allgemein anerkannt, aber sie ist auch objektiv allgemein, ohne gesetzt oder gedacht worden zu sein. Hegel hebt hier in Anlehnung an Platon auf den Umstand ab, dass zwar die Beziehung des Subjekts auf das Objekt für dessen Erkenntnis 44

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konstitutiv ist, dass aber ebenso bereits das Objektive allgemein verfasst ist, etwa als Exemplar einer Gattung. Die Relativität des Erkennens –„die zu den ersten Anfängen des reflektierenden Denkens gehört“ – belegt Protagoras mit Beispielen, die auch Sokrates und Platon verwenden, etwa das subjektive Wärme- und Geschmacksempfinden. Nicht zufällig entstammen sie der sinnlichen Welt und erinnern uns an die sekundären Qualitäten (Locke) wie Töne und Farben, die erst im subjektiven Kontakt mit dem Objekt entstehen. Hegel führt hier einen weiteren Satz des Protagoras an: „Die Wahrheit (das Maß) ist die Erscheinung für das Bewußtsein.“ (S. 431) Damit wird Wahrheit zur relativen Wahrheit. Dem Gesunden, so sein Beispiel, erschienen die Dinge anders als dem Kranken und Wahnsinnigen, ohne dass man sagen könne, sie seien für sie nicht wahr; wie die Dinge an sich seien, könne man eben nicht sagen. Hier nun interveniert Hegel aufs Entschiedenste, denn man könne in diesen Fällen überhaupt nicht von Wahrheit sprechen. Der Bezug auf das sinnliche Bewusstsein sei gerade kein „Festes“, sondern veränderlich, etwas „Vorübergehendes“. Er bezieht sich dabei auf Heraklit, der das „reine Fließen“ des Gegenständlichen hervorhebe: „es ist nicht Festes und Bestimmtes an sich, sondern kann alles sein und ist etwas Verschiedenes für verschiedenes Alter und sonstige Zustände des Wachens und Schlafens usf.“ (S. 432) Gerade bei Farb- und Temperaturempfindungen sei die Relation zwischen dem Ding und dem Wahrnehmungsorgan so zwingend, dass die Wahrnehmung erst im Moment des Wahrnehmens entstehe und nicht den Dingen an sich zugesprochen werden könnten. Dies gesteht Hegel zu, bemerkt aber, dass sich der Geist (Vorstellung, Bewusstsein, Denken) bei diesen Reflexionen in sich entzweie, das heißt diesen Gegensatz als einen internen reproduziere. Er entwerfe einen Raum innerhalb des Bewusstseins und einen Raum in der Welt, ein Innen und ein Außen, beide seien aber sowohl interne, unterschiedene, subjektive Momente des Geistes als auch externe, getrennte, objektive Sphären. Anders gesagt: Im Bewusstsein gibt es ein internes Subjekt, ein internes Objekt sowie deren Relation. Gleichzeitig steht dem erkennenden Subjekt die Welt der Objekte aber als eine getrennte, eigenständige Seinssphäre gegenüber. Zu dieser Seinssphäre gehört aber auch das erkennende Subjekt selbst! Wichtig sei deshalb, in der Erfahrung, also der Erscheinungswelt, „dieses Eine, Durchgehende, Allgemeine […] zu fassen“ (S. 433). – Soweit Hegel. Es bleibt die Erkenntnis, dass der Mensch selbst zur Sphäre des Ansich und des Objektiven gehört und in der subjektiven Sphäre diesen Tatbestand mitreflektieren muss. Seiner dialektischen Logos-Konzeption folgend 45

I Vorbereitung

anerkennt er aber die Bedeutung, die im Hms dem erkennenden und praktischen menschlichen Subjekt buchstäblich beigemessen wird. Aus dieser Erkenntnisstufe lässt sich dann, wie ich meine, die Subjektivität anthropologisch, linguistisch und ontologisch vom Individuellen hin zum Allgemeinen rekonstruieren, ohne die Bedeutung des Individuellen abzuwerten. Es gibt viele Interpretationen dieses Satzes.46 Der entscheidende Fortschritt, den Hegels Auslegung eröffnet, liegt darin, die universal ausgelegte Vernunft als allgemeines Maß im Menschen zu verankern, wofür nach meinem Verständnis Vernunft und Sprache nicht zu trennen sind. Daher habe ich mich für drei analytische Ebenen entschieden, in denen ich den Satz weiter verfolgen möchte: eine anthropologische (Mensch, Kap. II,1), eine sprachlich-universalpragmatische (Maß, Kap. II,2) und eine ontologisch-metaphysische Ebene (Ding, Kap II,3). Das Ziel ist, aus einem erweiterten Verständnis der Kernbegriffe die Frage nach der Relativität menschlicher Erkenntnis und nach seinen Handlungsoptionen in einem universalen Rahmen neu zu stellen. Diesem Versuch ist das III. Kapitel gewidmet.

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Vgl. auch ausführlich Taureck, B. H. F. (o.J.): Die Sophisten. Eine Einführung. Wiesbaden, S. 98. Daneben (Graeser 2004: S. 102–106), (Kühn 2017: S. 76–78), (Plato 2013: ab S. 114 passim), (Schmitz 2007: Kap. 10.2).

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II Der analytische Rahmen 1 Das anthropologische Fundament „Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er steht aufrecht. Die Waage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt in ihm; er kann forschen, er soll wählen.“ (Johann Gottfried Herder)47

1.1 Frage- und Problemstellung Was ist der Mensch? Diese Grundfrage der Anthropologie wurde von Kant als philosophische Kernfrage schlechthin herausgestellt.48 Überblickt man die Theorielandschaft, die sich aus ihr heraus gebildet hat, scheint mir die Antwort in dem zweifachen und ambivalenten Prozess der allmählichen Emanzipation von der ersten Natur (Physis) einerseits und der Emanzipation von verdinglichenden bzw. entfremdenden Weltbildern der zweiten Natur (Kultur) andererseits zu liegen. Es geht also keineswegs nur um den Übergang von der Natur zur Kultur, sondern ebenso um Transparenz im Sinne der Emanzipation von Herrschaft. Stichworte dazu wä Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 4 Teile und Plan zum Schlußband, 1784–1791. Erster Teil. Viertes Buch, 4: „Der Mensch ist zu feinern Trieben“, siehe: https://www.textlog.de/5578-2.html (letzter Zugriff am 18.10.2020). 48 Kant, Logik, AA IX, S. 25. Die semantische Nähe zu anderen Ausdrücken wie Subjekt, Ich, Person wird theoretisch nicht thematisiert. Dazu grundlegend Sturma 1997: Philosophie der Person. Die Selbstverhältnisse von Subjektivität und Moralität. „Die Anerkennungsverhältnisse der Würde und Achtung sind hinsichtlich des Adressaten nicht an die Bedingung eines aktiv geführten personalen Lebens gebunden.“ (a. a. O.: S. 38) Im Gegenteil bedürfen Menschen in verschiedenen Situationen eingeschränkter Existenz besondere Aufmerksamkeit. Viele Aussagen zum Wesen des Menschen prallen beispielsweise an Kindern, Kranken, Behinderten, Demenzkranken etc. ab. Dennoch gehören sie selbstverständlich zur Menschenfamilie.

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II Der analytische Rahmen

ren ‚Aufklärung‘ (Kant), ‚Prozess der Zivilisation‘ (Elias) und ‚Entzauberung der Welt‘ (Weber). Die Gegenbewegungen der ‚Dialektik der Aufklärung‘ (Adorno/ Horkheimer) und der ‚Kolonialisierung der Lebenswelt‘ (Habermas) überschreiten den anthropologischen Rahmen in den soziologischen Erfahrungsraum hinein.

Abb. 8 Kant Die philosophische Wesensfrage „Was ist …?“ zielt aufs Allgemeine. Das impliziert die Frage nach anderen Seinsgattungen, von denen wir den Menschen abgrenzen wollen. Wovon wollen wir ihn unterscheiden? Nahe liegt eine Art Kategorie wie ‚Lebewesen‘, in der wir die Wesensbestimmungen suchen. In der Tat verbinden wohl die meisten den Tier-Mensch-Übergang mit dem Terminus ‚Mensch‘. Kant fand interessanterweise keine vergleichbare Spezies (vgl. Kap. 1.4). Der Soziologe Wolf Lepenies (*1941) formuliert eine rein interne, an Hegels Begriffsstruktur erinnernde Abgrenzung: „Das anthropologische Zentralproblem kann in den drei Fragen zusammengefaßt werden, worin jeder Mensch allen anderen Menschen, worin er einigen Menschen und worin er keinem anderen Menschen ähnlich ist (…)“ (Lepenies 1971: S. 10). Die erste Frage ist biologischer Art, die zweite ethnologischer und die dritte lässt er offen; sie macht das Subjekt aus, das auf der Grenze von Psychologie und Soziologie seine Ich-Identität ausbildet und damit sowohl wie jeder andere und zugleich wie kein anderer ist. Dazu später.

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1 Das anthropologische Fundament

1.2 Eingrenzung und Überblick Wir vergleichen uns zweckmäßigerweise mit animalischen Lebewesen, die uns morphologisch am nächsten und genetisch am ähnlichsten sind. Pflanzen fehlt das sichtbare Merkmal der Selbst- und Fortbewegung; sie richten sich vertikal nach dem Licht.49 Die unbelebte Natur scheidet auf dieser Ebene aus, obzwar der Mensch aus sehr viel anorganischer Materie besteht, ohne die er auch nicht existieren könnte (Atmung, Stoffwechsel). Es gibt viele Stufenordnungen, die eine Hierarchie und/ oder Evolution des Seins von der anorganischen zur organischen und von da aus von der pflanzlichen zur tierischen Materie annehmen. Der Mensch erscheint vor allem in religiösen bzw. theologischen Diskursen als letzte, gottähnliche Stufe einer Schöpfungsgeschichte. Mit der ‚Ebenbildlichkeit‘, ikonisch in Michelangelos (1475–1564) Deckengemälde in der Sixtinischen Kapelle Die Erschaffung Adams gefeiert, wird nach jüdisch-christlicher Tradition der Auftrag zur und die Legitimation der Herrschaft über die Natur verbunden (dominum terrae). Ludwig Feuerbach (1804–1872) drehte dieses Bild in seiner Schrift Das Wesen des Christentums (1843) zu einer Projektionstheorie. Er kehrt Ursache und Wirkung, Grund und Folge um: Nicht der Mensch ist ein Geschöpf Gottes und sein Ebenbild, sondern Gott ist ein Geschöpf, eine Projektion der Menschen.50 Dies hatten auch schon einige antike Philosophen so gesehen, und es ist gewiss kein Zufall, dass ausgerechnet die Sophisten philosophisch als erste den anthropologischen Diskurs eröffnet haben, prominent natürlich im Hms. Der Naturforscher Charles Darwin (1809–1882) begann 15  Jahre nach der philosophischen Attacke Feuerbachs auf den Schöp-

Interessant hier natürlich der Gegensatz, der zugleich ein Grenzfall ist. Die Verwurzelung (Myzel) in der Erde führt bei einigen Lebewesen, den Pilzen, zu einem quasi eigenen, unterirdischen Organismus. Pilze siedeln auf der Grenze zwischen Pflanze und Tier, sie brauchen kein Licht und produzieren keinen Sauerstoff. Sie ernähren sich von organischem Material, einige Arten gehen symbiotische Beziehungen mit Pflanzen ein. Sie pflanzen sich asexuell über Sporen fort. Sie können von Menschen vielfältig genutzt werden (Nahrungs‑, Heil‑, Gift- und Rauschmittel etc.). „Der größte bekannte Pilz der Welt ist ein Dunkler Hallimasch. Er befindet sich in einem Naturschutzgebiet in Oregon und wird mit einer Ausdehnung des Myzels über fast tausend Hektar Wald als das größte bekannte Lebewesen betrachtet. Sein Gewicht wird auf 600 Tonnen geschätzt, sein Alter auf fast 2000 Jahre.“ (Wikipedia: Pilze). 50 Vgl. (Feuerbach 1843): „Das Wesen des Christentums“, in: Feuerbach 1967, S. 51–225. Auf diese Weise verkehrte sich die Theologie in Anthropologie. 49

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II Der analytische Rahmen

fungsmythos den biologischen Diskurs, indem er eine Reihe von Aufsätzen zur Abstammung des Menschen veröffentlichte, die seine Evolutionstheorie begründeten. „Ein Jahr nach dem Erscheinen von Darwins On the Origin of Species by Means of Natural Selection (1859) schreibt Marx an Engels, dass dieses Buch die ‚naturhistorische Grundlage für unsere Ansicht enthält‘.“ (Habermas 2019: S. 596, Fn. 3) Damit brach die Vorstellung von der kosmologischen Einzigartigkeit des Menschen, lange bekämpft und von Sigmund Freud als eine der drei Kränkungen der menschlichen Selbstliebe bezeichnet, in sich zusammen.51 Obwohl es immer wieder in der Geschichte der Philosophie Überlegungen zum Menschen und seiner Stellung in der Natur, der Gesellschaft und zum Göttlichen gegeben hat, spricht man erst im 20. Jahrhundert von der philosophischen Anthropologie als einer selbständigen Disziplin, die sich vor allem gegen die Metaphysik richtet und explizit auf die Erfahrungswissenschaften Bezug nimmt.52 Folgt man der Darstellung von Schulz (1974), der der Anthropologie von Platon bis zu Arnold Gehlen in ihren Fragestellungen und Menschenbildern nachgeht, verschiebt sich der Forschungsschwerpunkt vom Geistprinzip (Platon, Aristoteles, Descartes, Spinoza, Kant, Hegel) zum Leibprinzip der Metaphysik (Feuerbach, Schelling, Kierkegaard, Schopenhauer, Nietzsche) und verlässt die Philosophie, indem sie nichtspekulativ oder metaphysisch neben Psychologie und Ethnologie insbesondere auf die Biologie als wissenschaftliche Leitdisziplin zurückgreift. Die Aufhebung der philosophischen Anthropologie begründet Schulz mit dem späten Gehlen, der in der Soziologie die entscheidenden Forschungsbeiträge für seine Institutionentheorie innerhalb der Anthropologie findet.53 Hannah Arendt (1906–1975), die kluge Zeitdiagnostikerin, sieht den Begründer der Anthropologie in Augustinus, der die Frage nach dem Wesen des Menschen, die quaestio mihi factus sum, für unlösbar hielt. Er inszeniert die Frage nach sich selbst – also die Frage „Wer bin ich?“ – in der Gegenwart seines Gottes, der allein die Frage nach dem „Was bin ich für ein Wesen?“ beantworten könne, da er ihn, Vgl. (Freud 1969): „Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse“ (1917), S. 133–138. Hierzu grundlegend (Paetzold 1998): „Der Mensch“, in: Martens/Schnädelbach 1998, S. 427–467; (Habermas 1958): „Philosophische Anthropologie“ (ein Lexikonartikel), in: (Habermas 1973): II.4.; (Marquard 1971): „Anthropologie“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie; (Schulz (1974): Philosophie in der veränderten Welt. Teil 3: Vergeistigung und Verleiblichung. 53 Hierzu auch (Dubiel 1973: Kap. III). 51 52

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den Menschen, ja geschaffen habe. Obwohl ich ihr Buch als Beitrag zu einer philosophischen Anthropologie werte, würde sie das wahrscheinlich abstreiten, weil sie gerade in der Wesensfrage ein fast theologisches Philosophieverständnis hat (vgl. Arendt 1987: S. 17f.).

Abb. 9 Arendt Spätestens seit Kant und Feuerbach wird die Anthropologie von der Theologie abgekoppelt.54 Hegel behandelt sie in seiner Philosophie des Geistes im ersten Abschnitt zum subjektiven Geist unter der Kategorie der Seele vor dem Bewusstsein (Phänomenologie) und dem Geist (Psychologie), gleitet mit seiner Evolutionstheorie des Wissens insgesamt aber meines Erachtens in pantheistisches Fahrwasser. Es geht nicht mehr um die Bestimmung des Menschen im Verhältnis zu Gott im Sinne einer theistischen Konstruktion, sondern um sein Verhältnis zur Natur und vor allem zu sich selbst. „Der an und für sich seiende Geist ist nicht das bloße Resultat 54

(Arendt 1987: Kap.1 und darin Fn. 2), vgl. auch (Heidegger 1972: § 10, vor allem S. 48f).

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II Der analytische Rahmen

der Natur, sondern in Wahrheit sein eigenes Resultat; er bringt sich selber aus den Voraussetzungen, die er sich macht, aus der logischen Idee und der äußeren Natur hervor und ist die Wahrheit sowohl jener als dieser, das heißt die wahre Gestalt des nur in sich und des nur außer sich seienden Geistes.“ (Hegel 1970: TW 10, § 381) Man benötigt einige Fantasie, um sich dieses Münchhausenbild der Selbsterzeugung vorzustellen. Die Logik hat bei Hegel ja durchaus diese verdeckte theologische Motivation. Tatsächlich jedoch hat der ‚freie Geist‘, wie er im absoluten als Kunst, Religion und Philosophie sichtbar wird, nichts Natürliches mehr an sich, bedarf der Natur aber teilweise wie in der Kunst zu seiner Realisierung und materiellen Verkörperung und macht sich erst im Begriff der Idee völlig frei von ihr, weil er eine eigene, symbolisch strukturierte Welt erzeugt (Recht, Religion, Staat). Er hat seine Her- und Abkunft abgestreift, hat sich gleichsam gehäutet und sich seines Inneren in Werken, Riten und wissenschaftlichen Systemen entäußert, es verkörpert, realisiert, verwirklicht. Und es ist immer an subjektive Träger gebunden, Individuen wie Institutionen. Daher die Formel, das Wahre ebenso als Substanz wie als Subjekt aufzufassen. Gott wird im rationalistischen Idealismus als regulative Idee (Kant), in der materialistischen Denkschule als Erfindung bzw. Projektion des Menschen erkannt (Feuerbach) und im Diskurs der conditio humana aus der Rolle des Produzenten in die des Produkts gedrängt. Damit aber ist philosophisch die Grenze zur Naturphilosophie erreicht und in den modernen Naturwissenschaften die Biologie eine maßgebliche Disziplin geworden, begleitet und gestützt von der Psychologie, der Linguistik, der Soziologie und der Kulturanthropologie als sozialwissenschaftliche Disziplinen. Vor allem begreifen schon Schelling, Schopenhauer, Plessner und Gehlen die Frage nach dem Wesen des Menschen als naturwissenschaftliche bzw. naturphilosophische; sie nehmen die Ergebnisse der empirischen Wissenschaften ernst und arbeiten sie in ihre Konzeptionen ein. Als apriorische Wissenschaft, wie die kantische Philosophie noch ausgerichtet ist, taugt die Anthropologie nicht.55 55

In einem 1985 in Chicago auf Englisch gehaltenen Vortrag wirft Derrida Heidegger eine mangelhafte Berücksichtigung empirischen, zoologischen Wissens für die Bestimmung einer anthropologischen, bei Heidegger aber sprachlich-ontologischen ‚Sache‘ vor, nämlich der Bestimmung der menschlichen Hand. Als Greiforgan diene sie dem Affen nur zum Ergreifen von Gegenständen, während der Mensch die Hand auch zum Geben, zur Gabe nütze. Die äußerst etymologisch und terminologisch angelegte Ana-

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Grundlage jeder philosophischen Anthropologie ist die Verbindung von Natürlichkeit, Geistigkeit, Sozialität und Tätigkeit. Menschen müssen kooperativ handeln, um zu überleben. Sie müssen arbeiten, das heißt den „Stoffwechsel mit der Natur“ (Marx) organisieren, was sie ebenfalls nur innerhalb einer Gruppe tun können. Dieses Gruppenleben muss – wie auch die Arbeit – organisiert werden, was nur über gemeinsam geteilte Werte, Normen und Institutionen möglich ist. Es gibt keine Zeugnisse vom Menschen, die ihn als Einzelwesen ausweisen, immer sind es gemeinsame Stätten von Siedlungen, Gräbern, Werkzeugen, Produkten, künstlerischen Werken, Kulten etc. Die natürlichen Grundlagen menschlicher Existenzweisen sind nur die Basis, von der aus, aber auch aus der heraus, die Menschwerdung verstehbar ist. Der Mensch wird aus der Vereinigung von Mann und Frau geboren und in einem Sozialverband aus Männern und Frauen mit arbeitsteiligen Strukturen und Prozessen erzogen. Er stirbt normalerweise im Kreis seiner Nächsten und wird anschließend rituell bestattet. Nahrung, Unterkunft, Schutz vor äußeren Einflüssen wie Kälte, Nässe, Hitze, Feinden, also Sicherheit als Kontingenzbewältigung und Existenzsicherung, bilden die basalen Bedürfnisse, aus denen sich Institutionen bzw. Funktionssysteme wie Ökonomie, Politik und Familie/Stamm etc. herausgebildet haben. Nur durch die Entwicklung von Sprache können Großgruppen, die mehr als 100 Mitglieder zählen, koordiniert und organisiert werden. Dazu benötigt man neben der Sprache aber ein gemeinsames Band, ein Wir-Gefühl, das die Gruppe von allem, was nicht zu ihr gehört, unterscheidet: Inklusion und Exklusion. Dieses Band stiften Mythen, Religionen,

lyse Derridas weist auf die Bedeutung der Hand in Heideggers Werk hin (Vorhandenheit, Zuhandenheit, Handeln als Gebärde der Hand, das Handwerk in Opposition zur Technik, dem Gestell etc.) und erweitert sie zu einer Betrachtung der philosophischen Metapher, die ja auch bei Hegel mit dem Begriff, dem Begreifen, das mentale Ergreifen der Wirklichkeit aus der sinnlichen Erfahrung herleitet und bei dem noch im Begriff der Wirklichkeit das Wirken und das Werk als Geschaffenes anklingt. Derrida aber kritisiert an Heideggers Position mit dem Einwand „Greiforgane besitzt zum Beispiel der Affe, aber er hat keine Hand.“ (Derrida 1985: S. 185) einen Dogmatismus, der ein tradiertes Wissen voraussetze, das die neueren wissenschaftlichen Erkenntnis nicht aufnehme und daher an entscheidender Stelle des Diskurses die Differenz von Animalität und Humanität bzw. Menschlichkeit als ungeprüfte Hypothese stehen lasse. Ohne Erfahrung und ohne Erfahrungswissen kommt man zu keinem relevanten Verständnis dessen, was der Mensch ist. Das aber setzt voraus, einmal gesichertes Erfahrungswissen immer wieder zu überprüfen.

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Weltanschauungen im kognitiven und Gesellschaften, Staaten und Nationen im praktischen Bereich.56 Überblickt man die verschiedenen Funktionssysteme und sozialen Bereiche, in denen Menschen aller Zeiten und Kulturen leben und leben müssen, scheint es eher unwahrscheinlich zu sein, dass sie nicht in irgendeiner Weise funktional oder sogar kausal aufeinander bezogen sind. Mit der Sesshaftigkeit zum Beispiel entstehen völlig andere Imperative für die soziale Organisation des Zusammenlebens. Besitz ist im Nomadentum marginal und aufs Notwendigste beschränkt, da man von Ort zu Ort ziehen und wie die Schnecke sein ganzes ‚Haus‘ mitnehmen muss. Erst mit der Besiedelung entstehen die Notwendigkeit und das Interesse, Land und Nutzungsrechte klar voneinander abzugrenzen, um die Befriedigung der Grundbedürfnisse eines familialen oder tribalen Haushalts sicherzustellen. Die Regeln für die biologische Reproduktion innerhalb von Verwandtschafts- und Abstammungsverhältnissen verändern sich, weil die soziale Erreichbarkeit von Sexualpartnern sich erweitert. Mit der Verstädterung an Flussläufen und – mündungen entstehen neue soziale Gruppierungen, die aufgrund der schieren Masse an Menschen normativ geregelte Verkehrsformen erzwingen, die vom Handel mit einem zentralisierten Geldwesen über kodifizierte Rechte und Pflichten im Alltagsleben, einer Gerichtsbarkeit und öffentlichen Regelung gemeinsam genutzter Infrastrukturen bis hin zu einem stehenden Söldnerheer zur Verteidigung und Expansion des Herrschaftsbereichs reichten.57 Eine solche Organisation erfordert Macht, um auch gegen den Willen von Minderheiten oder Konkurrenten Entscheidungen durchzusetzen. Die Führungselite, an deren Spitze oft ein gottähnlicher Pharao, Kaiser oder Caesar steht, differenziert sich allmählich in eine weltliche und eine spirituelle aus; es entsteht neben dem Königtum eine Priesterschaft, was zu teilweise

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Hierzu ausführlich (Harari 2015: vor allem Kap. 7). Harari zählt auf zwei knappen Seiten für die Zeit 8500 v. Chr. bis zum Römischen Reich einige Kennzahlen auf, die die Größenordnung der Siedlungen und die Einwohnerzahlen verdeutlichen. „Im Jahr 1776 v. u. Z. war Babylon die größte Stadt der Welt. Das Babylonische Reich war eines der größten Imperien seiner Zeit und hatte mehr als eine Million Einwohner.“ (a.  a.  O., S.  134f.) Wir reden über die Region des sog. Halbmonds, dem Zweistromland mit Euphrat und Tigris. Der bekannteste Herrscher war Hammurabi, der einen Rechtskodex mit richterlichen Urteilen verfasste, um damit auch künftigen Generationen das Vorbild eines gerechten Herrschers zu vermitteln.

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heiklen Machtkämpfen um die Vorherrschaft führt. Jedenfalls, so der Historiker Harari (*1976), braucht ein derart großes Staatsgebiet einen Mythos, um so viele Menschen zusammenzuhalten und an einheitliche Regeln zu orientieren. Es kommt in allen Städten zu kulturellen und ethnischen Vermischungen. Es entstehen neue Stadt- und Bürgerrechte, Kasten, Klassen, Schichten, Berufe; Religionen werden herrschaftslegitimierend, Kunst und Kultur erhalten eigene Stätten der Aufführung und Präsentation, demonstrieren Macht und Reichtum der Bürger bzw. ihrer Herrscher; Spiele und Sport werden politisiert und sollen das Volk den Herrschenden gewogen stimmen, panem et circences wird ein ökonomischer und politischer Faktor von erheblichem Ausmaß. Wir kennen das auch heute noch in anderen, unterdessen globalisierten Formen der Kultur- und Freizeitindustrie. Die Olympischen Spiele etwa (seit 1896) hatten ihre Vorläufer im antiken Griechenland, der ursprünglich wohl religiöse und rituelle Hintergrund ist heute dem kommerziellen Interesse gewichen. Ökonomie und Technologie sind treibende Systemkräfte geworden. Der inzwischen theorietauglich gewordene Begriff der Beschleunigung (Hartmut Rosa)58 ist allerdings nur verstehbar, wenn man sich die sogenannte Natur des Menschen etwas genauer anschaut.

1.3 Herder „Schon als Tier hat der Mensch Sprache.“59 Mit diesem Paukenschlag beginnt Johann Gottfried Herder (1744–1803), dichtender Theologe, Aufklärer und Goethe-Freund, seine Preisschrift ‚Abhandlung über den Ursprung der Sprache‘ von 1770. In den Berliner Akademiestreit hinein, ob die Sprache göttlichen oder menschlichen Ursprungs sei, meldet er sich polemisch zu Wort und führt den Leser von den ersten Lauten des Schmerzes über die Besonnenheit (= Reflexion), die den Menschen beim Anblick eines Schafes (!) befällt und dazu führt, das es ihm von nun an als „das Blökende“ im Gedächtnis symbolisch begegnen und merk-würdig werden wird, zu der Einsicht, dass der Ursprung nur menschlich sein könne. (Rosa 2012) und (Rosa 2013). (Herder 2001: S. 5).

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Abb. 10 Herder Bemerkenswert an Herders Erkenntnissen zur Sprache sind ihre anthropologische Grundlegung sowie die enge Koppelung von Vernunft und Sprache. Diese sei weder göttlichen noch tierischen Ursprungs. Wie später auch Gehlen sieht Herder im Menschen ein Mängelwesen, das infolge seiner spärlichen Instinktausstattung zur Weltoffenheit und Kompensation gezwungen ist. Vernunft und Sprache sind gleichsam Werkzeuge, sich die Welt anzueignen und verfügbar zu machen, während die Tiere in ihrer ‚Sphäre‘ oder in ihrem ‚Kreis‘ (wir sagen heute Umwelt) durch ihre spezialisierten und angepassten Instinkte zentriert bleiben. Diese „Positionalität“, wie Plessner das gut 150 Jahre später nennt, ist beim Tier geschlossen, es ist darin gefangen, während der Mensch in der Lage ist, seine Umwelt zur Welt zu transzendieren, herauszutreten aus seinem Kreis (ex-zentrisch). Herder ist Plessner aber weit voraus, wenn er die expressive Funktion der Sprache nicht als Ursprung oder Wesen ansieht, sondern eben als die Bezeichnung, die repräsentative Funktion im Symbol.60 Vgl. (Herder 2001: S. 16–35) und (Plessner 1975: S. 339f.). Bühler hält ebenso die Darstellungsfunktion für die entscheidende. Dazu Kap. II.2.2.

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Interessant ist die Argumentation Herders hinsichtlich der Genese der sprachlichen Leistung, sich durch Merkmale die Welt anzueignen. Er bezeichnet diese Fähigkeit als ‚Besonnenheit‘ oder ‚Reflexion‘. Damit formuliert er den zentralen Gedanken, dass die Sprache eine kontinuierlich dahinfließende Wirklichkeit, die sich als „Ozean von Empfindungen“ (Herder 2001: S. 32) durch die Sinne im Menschen bemerkbar macht, durch diskontinuierliche Zeichen anhalten und stillstellen kann. Er kann sich durch distanzierende Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand ausrichten und freiwillig bei ihm verweilen. Dabei stellt er in diesem sammelnden „Moment des Wachens“ Merkmale fest, die er absondern und dem Gegenstand zuschreiben kann; gleichzeitig unterscheidet er mit diesem wiedererkannten Merkmal den Gegenstand von anderen. Die Sinne, dies ist ein zweiter Argumentationsstrang, arbeiten zusammen, ergänzen sich und sind, was die Reichweite betrifft, gestuft. Das Ohr liegt zwischen Fern- und Nahsinn und wir werden später noch feststellen, inwiefern die Fähigkeit, sich selbst beim Sprechen zuzuhören, für die Genese des Selbstbewusstseins als einer Doppelstruktur von Bedeutung ist. Unser Erstkontakt mit Sprache erfolgt sogar pränatal über das Ohr. Wir hören die Stimme der Mutter im Mutterleib, bevor wir Sprache sprechen und verstehen können. Nicht zufällig ist es unter den Künsten auch die Musik, die uns am emotionalsten anrührt und mit nicht-sprachlicher ‚Bedeutung‘ überwältigt. Wir registrieren Klänge als intentionale Laute, die uns traurig oder fröhlich, meditativ oder ekstatisch stimmen. In ihrer melodischen, harmonischen und rhythmischen Struktur greift die Musik tief in das hinein, was Herder im zweiten Satz so formuliert: „Alle heftigen, und die heftigsten unter heftigen, die schmerzhaften Empfindungen seines Körpers, alle starken Leidenschaften seiner Seele äußern sich unmittelbar in Geschrei, in Tönen, in wilden, unartikulierten Lauten.“ (a. a. O.) Dies vermag die menschliche Stimme auch noch in künstlerisch gestalteter Form zusammen mit Instrumenten verschiedenster Stimmung. Auch ist es kein Zufall, dass Stimme, Stimmung und Übereinstimmen als Harmonie und Disharmonie in der Musik als ästhetisches Kriterium so eminent wichtig sind und überraschend im Wahrheitsbegriff epistemisch als Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand wieder auftauchen. Auch Dissonanzen wecken im Kontext einer Folge von Tönen und Harmonien aus ihrer Spannung heraus ein Bedürfnis nach Auflösung, Erlösung. Sie werden durchaus als lustvoll empfunden. Herder stellt die Entstehung der Sprache aufgrund ihrer Kompensationsfunktion in den Dienst der Entwicklung des Menschen. Das Gesetz der Perfektibilität besagt, dass die Sprache ihm helfe, sich aus der Mängelsituation fehlender Instink57

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te und unspezialisierter Sinne durch Erfahrung und Lernen progressiv zu perfektionieren; er konstituiere sich eine ‚Merkwelt‘, in der die Sprache ein Archiv oder Gedächtnis von Lernfortschritten und Erfahrungen biete. Das Gesetz der Gesellschaftlichkeit nimmt Rücksicht auf die Notwendigkeit der Fürsorge, Aufzucht und Unterrichtung, die nur durch Sprache möglich sei. Schließlich sei die Sprache ein Mittel der Individualisierung, die von Herder im Volksbegriff und in den Nationalsprachen als Gegengewicht zur Universalisierung erkannt wird. Diese versteht der Aufklärer als Höher- und Weiterentwicklung, wodurch die individuellen und nationalen Innovationen (Wissenschaft, Literatur, Kunst) sogleich in den Besitz der Gattung Mensch übergingen und anderen Völkern offen stünden. Diese fortschreitende Entwicklung zur Humanität, die im Grunde eine Emanzipation von der Natur impliziert, ist geprägt durch Geschichte und Kultur und bedingt durch die biologische Organdefizienz. Sie erfolgt immer durch die Gesellschaftlichkeit des Menschen und die Tatsache, dass er als „der erste Freigelassene der Schöpfung“ nicht festgelegt durch Instinkte sich selbst hervorbringen muss. Sprache ist dafür Instrument wie Medium. Eine conditio sine qua non, eine zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung.

1.4 Kant An der Schwelle zur Neuzeit, der Renaissance, entsteht 1486 mit dem italienischen Philosophen Pico della Mirandolla (1463–1494) durch seine Rede über die Würde des Menschen ein neues Menschenbild. Er wird durch seine Freiheit, das Tierische oder das Göttliche zu wählen, zum Gestalter seines Lebens. Ärzte und Mediziner entdecken und untersuchen seine biologischen und geistigen Anlagen und Fähigkeiten. Ihre wissenschaftliche Stoßrichtung ist antimetaphysisch und antitheologisch. Sie versuchen, Denken (Geist) und Organismus (Körper) als Ganzheit zu verstehen, also entgegen dem trennenden Substanzdualismus Descartes’. Die Lebenswelt des Menschen rückt ebenfalls – wie weiland bei den Sophisten – in den Fokus. Kant kannte diesen Diskussionsstand. Er hielt Vorlesungen zur Anthropologie und wusste um ihren Stellenwert innerhalb der Philosophie, aber sie lag jenseits seines kritischen Geschäfts, das der Vernunft ihre Grenzen aufzeigen wollte. Ihre Bedeutung ergibt sich zum einen aus der die theoretische „Was kann ich wis58

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sen?“, die praktische „Was soll ich tun?“ und die religiöse „Was darf ich hoffen?“ zusammenfassenden Frage: „Was ist der Mensch?“.61 Zum anderen aus der Unterscheidung der Anthropologie in einen physiologischen und einen pragmatischen Zweig: „Eine Lehre von der Kenntniß des Menschen, systematisch abgefaßt (Anthropologie), kann es entweder in physiologischer oder pragmatischer Hinsicht sein.  – Die physiologische Menschenkenntniß geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll.“62 Nur die letzte, die pragmatische Richtung wollte er als philosophisch gangbar anerkennen, und dies in „weltbürgerlicher Bedeutung“. Gemeint ist damit, dass die drei genannten Fragen der Metaphysik, der Moral und der Religion in dieser einen nach dem Menschen zu vereinen sind. Damit ist der Weg zu einer Abkehr von der transzendentalkritischen Methode in der Anthropologie geebnet, die also weder Metaphysik noch mathematische Naturwissenschaft sein kann, in denen es ja um synthetische Sätze a priori ging. In „pragmatischer Hinsicht“ kann dann nur die praktische Philosophie betreffen, womit die Grenze zwischen Natur- und Geistphilosophie berührt ist. Interessanterweise findet Kant keine vergleichbare Spezies, um den Gattungsbegriff Mensch davon abgrenzen zu können, „weil wir von vernünftigen, nicht-irdischen Wesen keine Kenntnis haben“.63 Seine Schlussfolgerung: dass der Mensch den „Charakter hat, den er sich selbst schafft“ (a. a. O.). Genauer erläutert er dies als Perfektibilität, nämlich die Fähigkeit, aus seiner Vernunftbegabung Vernünftigkeit zu erzeugen nach „selbst genommenen Zwecken“. Aus dem animal rationabile wird ein animal rationale. Arterhaltung, Erziehung und eine der Gesellschaft angemessene Verfassung sind die Bereiche der Vervollkommnung. Kurz: „Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaften zu kultivieren, zu zivilisieren und zu moralisieren. […] Der Mensch muß also zum Guten erzogen werden“ (a. a. O., S. 324f.). Er spricht von Naturanlagen, die erst entwickelt werden müssen und nicht wie Instinkte gleich fix und fertig zur Verfügung stehen. Dies kommt dem heutigen Kompetenzbegriff sowohl in der kognitiven wie der sprachlichen Entwicklung ziemlich nahe. Logik, AA IX, S. 25, Einleitung. Anthropologie in pragmatischer Absicht, AA VII, S. 119. 63 A. a. O., S. 321. 61 62

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1.5 Scheler, Plessner, Gehlen: 20. Jahrhundert Wir überspringen anthropologisch interessante Autoren wie Hegel, Schelling, Marx, Feuerbach, Schopenhauer, Freud, Heidegger, Cassirer und noch einige andere; aber mit dem Begriff ‚Philosophische Anthropologie‘ sind die folgenden drei Klassiker verbunden, die ebendiese Disziplin, die sich auch naturwissenschaftlich mit dem Menschen beschäftigte, endgültig in den Logosbereich der Philosophie hineinholen wollten; teils in Anlehnung an Kants Transzendentalphilosophie (Scheler, Plessner), teils mit neuem Impuls durch den amerikanischen Pragmatismus und die Integration empirischer Wissenschaften (Gehlen). Dadurch entsteht innerhalb dieser neuen Disziplin sogleich eine Opposition von Geist (homo sapiens) und Handlung (homo faber). Innerhalb von 12 Jahren erscheinen in einer politisch wie kulturell aufgeheizten Stimmung in Deutschland drei Schriften von drei Autoren, die in der Philosophie einen neuen Akzent setzen, indem sie sich aus wissenschaftlicher, vor allem naturwissenschaftlicher Sicht, aber immer noch philosophisch mit dem Menschen beschäftigen. Merkwürdigerweise bilden diese drei Werke keine innere Einheit, dafür ist ihr theoretischer Zuschnitt zu disparat. Dennoch betonen sie die Sonderstellung des Menschen als Körper- und Geistwesen sowie die Rolle der Umwelt, in der er lebt. Aber auch hier schon zeigen sich Differenzen.

Abb. 11 Scheler 60

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Scheler (1874–1928) und Plessner (1892–1985) sehen den Menschen als einzigartiges Geschöpf sogar eines Gottes in der Evolutionsreihe der Natur. Sie halten gleichsam am anthropo-theologischen Diskurs fest, der den homo sapiens als Spitze der Evolution mit dem nous, dem logos, dem Geist als Überwinder der Natur mit seiner Sinnlichkeit und Triebhaftigkeit feiert. Die Anthropologie selbst erscheint in dieser Theorietradition als Spitze der Geschichte des menschlichen Selbstbewusstseins. Sie soll nach Scheler als prima philosophia die Transzendentalphilosophie gleichsam naturgeschichtlich begründen können. Damit wären wir aber in metaphysischem Fahrwasser, da es ums Ganze geht.

Abb. 12 Plessner Die Stellung des Menschen im Kosmos, so der Titel von Schelers 1928 erschienenem, bahnbrechendem Werk, stellt den Menschen als Spitze und zugleich als Gegensatz zum Tier dar. Der Geist wird nicht, wie in den ‚positivistischen‘, naturwissenschaftlich ausgerichteten Theorien (Darwin), instrumentell gesehen und als praktische Intelligenz in den Dienst der organischen Daseinsbewältigung gestellt, sondern er ist als „Personsein“ die Fähigkeit zum „Ideendenken“, zu emotiven und volitiven Akten wie Güte und Liebe. Der Geist entsteht zwar aus dem vegetativen Sein  – insoweit konzediert Scheler die naturale Basis –, koppelt sich aber vom Organischen ab. Es ist letztlich das Prinzip Geist, das den Menschen wesensmäßig und nicht nur graduell vom Tier unterscheidet. In seiner Stufentheorie zum „Aufbau der biophysischen Welt“ unterscheidet er vier bloß graduell verschiedene Kennzeichen des Lebendigen, nämlich Gefühlsdrang, Instinkt, assoziatives Gedächtnis und praktische Intelligenz, die Tiere wie Menschen gemeinsam sind, die sie aber in unterschiedlichen Graden besitzen. Das entscheidende und wesentliche Merk61

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mal ist die Weltoffenheit, die im Personsein das Geistige des Menschen verkörpert, womit der Mensch sich über das biologische Triebleben erhebt: Er kann sich die Triebe versagen und nein sagen. Geist erscheint bei Scheler als Gegensatz zum Leben – merkwürdig genug. „Ein ‚geistiges Wesen‘ ist also nicht mehr trieb- und umweltgebunden, sondern ‚umweltfrei‘ und, wie wir es nennen wollen, weltoffen. Ein solches Wesen hat ‚Welt‘.“ (Scheler 2016, S. 32) Versachlichung ist eine Fähigkeit des Geistes, ebenso wie Distanz zu den Dingen zu gewinnen. Er spricht dabei auch von ‚Fernstellung‘ und nähert sich in diesen Passagen sehr dem, was Plessner mit seinem Zentralbegriff der exzentrischen Positionalität beschreibt. Schaut man in die Vorrede der schmalen, knapp 80-seitigen Schrift, wird die Hoffnung des Autors deutlich, die er in die neue Philosophische Anthropologie gesteckt hat. Denn die „kurze, sehr gedrängte Zusammenfassung meiner Anschauung“ in einem 1927 gehaltenen Vortrag war als Programmschrift für eine ausführliche und grundlegende Konzeption gedacht.64 Der überraschende Tod Schelers 1928 vereitelte dieses Vorhaben. Plessner, der Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) im selben Jahr wie Schelers Werk und ein Jahr später als Heideggers Sein und Zeit veröffentlichte, beruft sich auf die Prähistorie und deren Ergebnisse, die den Gebrauch des Feuers, der Werkzeuge und der Sprache als Wesensmerkmale umfassen. Sein Schlüsselbegriff ist die Positionalität. Damit ist ein bestimmtes Verständnis von der Grenze zwischen einem Ding (Seienden) und seiner Umwelt gemeint. Gehört die Grenze dem Ding selbst an oder ist sie etwas ihm Äußeres? Lebewesen haben „ineinander nicht rückführbare Richtungsgegensätze nach Innen (substantieller Kern) und nach Außen (Mantel der eigenschaftstragenden Seiten).“ (Plessner 1975: S. 128) Lebendige Dinge sind raumbehauptend, unbelebte lediglich raumerfüllend. Also: Bewegung, Entwicklung, Wachstum; Geburt, Reifung und Tod. Das Tier verbleibt in seinem Lebenskreis, seiner Umwelt als Hier und Jetzt, es lebt „aus seiner Mitte heraus, in seine Mitte hinein, aber es lebt nicht als Mitte.“ (a. a. O., S. 288) Es fehlt, wie schon Herder bemerkte, die Besonnenheit, die Reflexivität, die Fähigkeit, etwas aus der Distanz zu einem Gegenstand der Aufmerksamkeit und Betrachtung zu machen. Das Heraustreten aus seiner Mitte, die man ja faktisch als Lebewesen ist,

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(Scheler 2016: S. 4 und 7). Der Titel des Vortrags lautete herausfordernder „Die Sonderstellung des Menschen“.

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kann nur der Mensch.65 Diese Exzentrität ist freilich nicht ontisch gemeint, sondern ontologisch. Man verbleibt ja körperlich, als Organismus, inmitten seiner Lebenswelt, kann aber gedanklich über sie hinausgehen, Zeit und Raum transzendieren, Pläne schmieden, Melancholie und Sehnsucht in wunderschönen Geschichten und Gedichten ausdrücken, die auch noch Generationen später verstanden und bewundert werden. Auch wenn Tiere über Bewusstsein und Denkvermögen verfügen, so fehlt ihnen der Rückbezug auf sich selbst, was in philosophischer Tradition und exponiert im Deutschen Idealismus ‚Ich‘ oder ‚Selbstbewusstsein‘ genannt wird. Das Ich wird sich selbst inne, wie man so sagt. In dieser Verinnerlichung ist aber die Distanzierung und Veräußerlichung enthalten, da eine Grenze sowohl gezogen oder gesetzt ist als auch gleichzeitig nach beiden Seiten überschritten werden kann. Vor allem im Vorwort zur zweiten Auflage von 1964 wird deutlich, in welchem wissenschaftlichen und diskursiven Umfeld das Buch erschien. Auf die Abgrenzungen zu den biologischen Naturwissenschaften, der Phänomenologie Schelers in Anlehnung an Husserl, dem Existentialismus Heideggers oder Sartres und auch Gehlens Ansatz kann ich hier nicht eingehen. Die Mittelstellung von Plessner kann aber im Geistbegriff verortet werden. Arnold Gehlen (1904–1976) verzichtet völlig auf ihn, weil er einen anderen Begriff, nämlich den der Handlung, favorisiert.

Abb. 13 Gehlen Zur ausführlichen Argumentation vgl. (Plessner 1975: S. 290ff.).

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Aus der Biologie bzw. Morphologie übernimmt Gehlen in seinem 1940 erschienenen Werk Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt zunächst zwei Merkmale des Menschen, die ihn von den übrigen Lebewesen grundsätzlich unterscheiden und die er in den Begriffen Mängelwesen und Kulturwesen (Prometheus) zum Ausdruck bringt. Hieraus gewinnt er dann die Konzepte der Handlung und der Institution als weitere Bestimmungen. Mängelwesen ist der Mensch, insofern er „ohne natürliche Waffen, ohne Angriffs- oder Schutz- oder Fluchtorgane, mit Sinnen von nicht besonders bedeutender Leistungsfähigkeit“ (Gehlen 1961: S. 46) zur Welt kommt. Synonym verwendet er den Begriff Unspezialisiertheit, um den Kontrast zu den Spezialisten im Tierreich zu kennzeichnen.66 Dieser organische Mangel, der ihn von Geburt an hilflos der natürlichen Umwelt aussetzt, befähigt ihn aber zugleich, überall überleben zu können. „Und zwar lebt er als ‚Kulturwesen‘, d. h. von den Resultaten seiner voraussehenden, geplanten und gemeinsamen Tätigkeit, die ihm erlaubt, aus sehr beliebigen Konstellationen von Naturbedingungen durch deren voraussehende und tätige Veränderung sich Techniken und Mittel seiner Existenz zurechtzumachen.“ (a. a. O., S. 47) Dies ist der Kern des Handlungsbegriffs. Die Nähe zum Arbeits- und Produktionsbegriff von Marx ist verblüffend, zumal eben auch der gesellschaftliche Charakter hervorgehoben wird („gemeinsame Tätigkeit“). Der Mensch schafft sich eine „zweite Natur“, eben die Kultur. Es ist die ins „Lebensdienliche veränderte Natur“. Gehlen geht sogar so weit, dass er den biologisch gut definierten und exakten Umweltbegriff (Uexküll) durch den der Kultursphäre ersetzt, die „zweite Natur“ (vgl. Gehlen 2004, S. 79f.). Weitere zentrale Begriffe sind Weltoffenheit, Reizüberflutung und Entlastung. Für das Tier sind nur die äußeren Reize relevant, die es qua Instinkt überhaupt wahrnimmt; alles andere ist nicht-existent bzw. irrelevant. Der Mensch dagegen hat diesen entlastenden Filter nicht, sondern muss aus der Vielzahl der unspezifischen Reize auswählen, was für ihn bedeutsam ist. Die Außenwelt überflutet ihn geradezu mit Reizen. Entlastung und Ordnung in dieses Reizchaos bringt die Sprache, die quasi einmal gefundene Relevanzobjekte oder ‑zustände symbolisch fixieren, archivieren und erinnern kann. Institutionen als normative, wiederkehrende und tradierbare Einrichtungen habitualisieren das individuelle Handeln auf sozialer Ebene. Ehe, Familie, Recht, Wissenschaft, Religion etc. sind mit einer Sollgeltung verbunden, die eine Verhaltenssicherheit durch reziproke Erwartbarkeit auch von Fremdverhalten ermöglicht. 66

Weitere Termini sind Retardation und Proterogenese, vgl. a. a. O.: S. 47.

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Handlungs- und Orientierungsfunktionen werden auf Dauer gestellt. Durch diese Entlastung von jeweils neu auszubalancierenden Interaktionen in Alltags-Situationen öffnet sich ein Bereich der Kreativität aus dem Antriebsüberschuss, in dem geistige Energien – nun von Handlungsdruck entlastet – frei wirken können. Der Mensch ist also von Natur aus ein Kulturwesen. Die fehlende Instinktsicherheit und mangelhafte Organausstattung zwingen ihn zur Weltoffenheit und andererseits zur entlastenden Ausbildung kompensatorischer Vorrichtungen. Dazu zählen sowohl die Handlung als auch die Sprache. Erstere wird eng instrumentalistisch gefasst, insofern sie die vorausschauende, „auf Veränderung der Natur zum Zwecke des Menschen gerichtete Tätigkeit“ (Gehlen 1961: S. 17) meint. Damit ist sie wie gesagt dem instrumentellen Arbeitsbegriff von Marx recht ähnlich und umfasst auch den anthropologischen Aspekt der Gattungskonstitution. Die Sprache fügt sich in den Funktionskreis der ‚Entlastungsorgane‘ ein und erlaubt situationsunabhängiges Entwerfen von Möglichkeiten gleichgerichteter Tätigkeiten in einer gemeinsamen Welt und Zukunft. Die Begründungskette Gehlens zum Nachweis dieser Funktion ist weitreichend und verläuft im Wesentlichen über den Begriff der sensomotorischen Bewegungsphantasie, da er die Lautbildung als Bewegung auffasst. Weitere Schaltstellen sind Intentionalität und Echoeffekt der Lautsprache (man hört sich selbst sprechen), der zum Aufbau einer subjektiven Innen- und einer objektiven Außenwelt führt, zu der der Sprechende und Handelnde selbst gehört. Hier lehnt sich Gehlen eng an den amerikanischen Pragmatismus Deweys und MEADs an. Gelegentlich wird von Kommentatoren hervorgehoben, dass die Sprachkapitel in seinem Werk das geheime Zentrum seien.67 All dies gebe ich hier nur sehr verkürzt wieder. Mir scheint bei Gehlen ein weiterer entscheidender Punkt zu sein, dass er in seinen späteren Schriften die Funktion der Institutionen als stabilisierende Mechanismen nicht nur der Gesellschaft, sondern auch der Individuen herausstellte. Das vom ihm wie ich finde treffend erkannte Problem besteht in einer Art Superstruktur, die von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft als einer Einheit gebildet wird, die vom Menschen nicht mehr durchschaut und gelenkt werden kann. Die durch die Institutionen bewirkte Affektkontrolle, der Schutz vor Reizüberflutung, schafft zugleich einen Antriebsüberschuss (wohin mit der eingesparten Energie?), der sich in der Moderne nach seinem Be67

(Rehberg 2000: S. 161) Nicolai Hartmann, der nachkantische Erneuerer der Ontologie, bezeichnete sie als „Zentralstück des ganzen Werkes“ (a. a. O.).

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II Der analytische Rahmen

fund in einer übersteigerten Subjektivität und Dauerreflexion erschöpfe. Hier freilich ist Gehlen ganz Kulturpessimist und konservativ. Er sieht die Chancen und Freiheitsgrade nicht beziehungsweise fürchtet sie – und warnt sogar davor.

1.6 Andere Ansätze: Tugendhat, Lévi-Strauss Einen anderen Zugang wählt Ernst Tugendhat. In seinem 2007 erschienen Sammelband Anthropologie statt Metaphysik erläutert er in den beiden ersten grundlegenden Texten die Begriffe der immanenten Transzendenz und des Guten als Kernideen einer philosophischen Anthropologie.68 Er radikalisiert darin den Status der Anthropologie als Frage nach dem Verstehen des Logos noch einmal, indem er ihr die philosophische Dignität einer prima philosophia zubilligt, weil sie, nach seinem Verständnis, die Grundfrage der Philosophie stellt: „Wie ist es gut zu leben?“ (Tugendhat 2010: S. 40). Platon benötige die Metaphysik als Wissenstheorie, um den Nachweis führen zu können, dass diese Frage unabhängig von den Traditionen und dem geschichtlich Kontingenten zu beantworten sei; daher die Ideenlehre als Reich des Übersinnlichen, nicht Empirischen und damit Zufälligen. Aristoteles habe klar die prädikative Struktur von Aussagen als Mittel und Garant für das Wissen herausgestellt: Da wir immer nach Gründen suchen müssen, wenn wir vernünftig miteinander umgehen und uns auf die Realität beziehen wollen, ist die propositionale Sprache unabdingbar. Eine Verständigung über das Gute funktioniert nur in prädikativen Sätzen, in Urteilen darüber, was gut sei. Immer ist es dem Menschen möglich, solche Sätze zu bejahen oder zu verneinen, oder sie zunächst zu befragen oder zu bezweifeln. Tiere, die ebenfalls in sozialen Beziehungen leben, verständigen sich auch, aber in Medien, die keine propositionalen, prädikativen Strukturen zulassen, sondern immer nur situativ wirken. Bei den Ameisen sind dies bio-chemische Codes, bei den Bienen Körperbewegungen relativ zum Sonnenstand, bei den Affen ebenfalls Gesten mit Signal‑, aber nicht Symbolcharakter. Sprache ist nun eng mit der Idee des Guten verknüpft, weil wir Menschen unsere Sozialität nur über Normen als intersubjektiv vereinbarte, reziprok erwartbare Handlungsregeln sichern können und ihre Befolgung sowohl selbst versprechen wie von anderen erwarten. Diese sind, anders als die festgelegten Instinkte, auch kritisierbar (Tugendhat 2010: Kap. I.1 u. I.2).

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1 Das anthropologische Fundament

und veränderbar. Mit dem Begriff der immanenten Transzendenz will Tugendhat den religiösen Diskurs dispensieren und das Hinausgehen des Willens (Schopenhauer, Nietzsche) auf einen Sinn hin beschreiben, der nicht in Gott oder einem anderen Supranaturalen, sondern in ihm selbst zu finden sei; denn er selbst, der Mensch, schaffe sich seine Werte. Dies ist der Ausweg aus dem Nihilismus, der entsteht, wenn Gott für tot erklärt wird und der Mensch es ist, der ihn getötet hat. Dieses Herausgehen wird unterschiedlich bezeichnet: als Objektivierung, als Intentionalität, als Erschlossenheit eines Unverborgenen oder als Sprache. In Erich Fromm (1900–1980) und Iris Murdoch (1919–1999) findet er zwei neuere Denker, die diese Aspekte des Transzendierens und des Guten thematisieren. Fromm tue dies in den Bereichen des Verstehens und der Liebe, Murdoch mithilfe der Konzepte der Aufmerksamkeit und der Realität als Wahrheit einer Sache. Es läuft letztlich auf diesen Gedanken hinaus: Wir können als soziale Wesen nur glücklich und gut leben, wenn wir mit uns und den anderen in symmetrischen Beziehungen der Anerkennung leben, also in gegenseitigem Verstehen und Liebe, und zu den Sachen hin in einem gesteigerten Verhältnis des komparativ gedachten Guten, also eines skalierbaren Besseren. Etwas gut machen schließt nicht aus, dass man es besser machen kann. Im Grunde bedürfen diese Ansätze keine weiteren Erläuterungen, um sie an den Hms anzuschließen und in ihn zu integrieren. Ein ganz anderer, kaum philosophisch zu nennender Ansatz kam aus dem Strukturalismus und ist mit dem Namen Claude Lévi-Strauss (1908–2009) verbunden. ‚Strukturale Anthropologie‘ war das Schlagwort. In vielen Büchern und Aufsätzen hat er seine These dazu ausgeführt, wie der menschliche Geist in den Strukturen der Verwandtschaft, der Mythen, des Totemismus und des wilden Denkens seine unbewusste Arbeit verrichtet. Methodisch an Saussures Sprachwissenschaft und an die Prager Phonologen-Schule Roman Jakobsons angelehnt, untersucht er soziale Phänomene als Zeichensysteme und analysiert deren Bedeutung in sozialen Regeln von Rechten und Pflichten, Erlaubtem und Nicht-Erlaubtem usw., die ein grandioses Ordnungs- und Tauschsystem etablieren. Bei allen Untersuchungen zeigt sich, wie der menschliche Geist aus der natürlichen Ordnung der Fortpflanzung, die eine Partnerwahl verlangt, und der Bezeichnung von Pflanzen und Tieren Relationen der Zuordnung zu sozialen Gruppen mit verwandten Regeln macht, die letztlich dem Zweck dienen, eine soziale Ordnung herzustellen. Diese Ordnungsstrukturen sind den menschlichen Subjekten nicht bewusst, sie handeln in ihnen wie wir in der Sprache sprechen, deren Regeln wir meist auch nicht explizit kennen. In seiner 67

II Der analytische Rahmen

Betrachtung des sogenannten ‚wilden Denkens‘, das er in Klassifikationssystemen der sogenannten Wilden‘ untersuchte, sah er hier ebenso eine Logik des abstrakten Verstandes am Werke wie in den modernen Wissenschaften und wertete es dadurch auf. Es ist in meinem thematischen Zusammenhang nicht erforderlich, genauer auf sein Werk einzugehen. Bedeutsam ist die Frage, ob und wie sich seine Erkenntnisse über die Struktur der Mythen und Verwandtschaftssysteme einschließlich ihrer Bezeichnungen in den Hms integrieren lassen. Auf den ersten Blick scheint er eine relativistische Position zu vertreten, wenn er dem magischen Denken die gleiche Dignität zugesteht wie dem wissenschaftlichen. Schaut man aber genauer hin, analysiert er sehr genau die Klassifikations- und Ordnungssysteme mithilfe der unterschiedlichen Leistungen von Benennungen, Zeichen und Begriff. Auch wenn die untersuchten Objekte eine von ihren Erzeugern, also den Menschen in ihren jeweiligen Kulturen, unabhängige Existenz angenommen haben, bettet er das Sinnverstehen immer in den Kontext der jeweiligen sozialen Organisation ein. Ich sehe also zwei Ebenen, die ich bei Saussure erläutern werde: langue und parole, System und Anwendung, Kompetenz und Performanz (Kap. II.2.2). Und da es Lévi-Strauss immer darum ging zu verstehen, wie der menschliche Geist funktioniert – nämlich auf den Akteuren unbewusste Art, aber nach Regeln, die der Wissenschaftler anhand der strukturalen Methode rekonstruieren kann –, geht es hier um universale Strukturen, die sich in allen Denk‑, Klassifikations- und Ordnungssystemen auffinden lassen. Relativ sind die Varianten, absolut oder universal die Struktur, zwischen natürlichen und kulturellen Reihen eine Ähnlichkeit, eine Homologie oder Übereinstimmung zu finden, was, metaphorisch gesprochen, einer Wahrheit nahekäme, die unser menschliches Streben ausspricht, im Sein eine Ordnung und einen Sinn zu vermuten, der uns einschließt, umhüllt und geborgen hält. Diese ‚Wahrheit‘ ist als mütterliches Bild wirksam.

1.7 Zusatz: Theorien sozialer Evolution Im Grunde drängen uns die anthropologischen Erkenntnisse über das ‚Wesen‘ des Menschen zu Vergleichen synchroner wie diachroner Art, also entweder in der Zeitachse gleichzeitiger Kulturen und Gesellschaften, etwa des 21.  Jahrhunderts, oder einer Kultur und Gesellschaft von ihrer Dokumentierbarkeit bis heute. Das 68

1 Das anthropologische Fundament

ist nicht dasselbe wie Geschichte und auch nicht mit der Evolution im biologischen Verständnis der darwinschen Abstammungslehre vergleichbar. Geschichte ist im Wesentlichen noch immer narrativ; wissenschaftlich ist an ihren Erzählungen im Unterschied zum Mythos die faktische Grundlage, rekonstruierbar aus tradierten Dokumenten aller Art (Schriften, Verträgen, Fotos, Filmen, Plakaten, Bauwerken, Ausgrabungen etc.). Sie orientiert sich meist an politischen Großereignissen mit herausragenden Persönlichkeiten, die ‚Geschichte‘ geschrieben haben, und sie kann anhand von solchen historisch verbürgten Personen und Ereignissen auch erzählt werden. Das funktioniert beim Konzept der Evolution nicht. Hier wird gerade das Individuelle zugunsten der allgemeinen Gattung oder Art getilgt, sowohl im biologischen wie im soziologischen Sinne. Freilich könnte man sagen, dass in beiden Fällen das Besondere hervorgehoben wird: in der Geschichte im Individuellen (einmalige Personen und Ereignisse), in der Evolution im Allgemeinen (Entstehung von Arten). In beiden Bereichen spielen Konkurrenz und Kooperation eine herausragende Rolle, und Fortschritte wurden mithilfe beider Verhaltens- und Handlungsstrategien erzielt. Zivilisation kam aber erst dadurch zustande, dass Konkurrenz unter Regeln gestellt werden konnte, die kooperativ vereinbart wurden. Die Erfolgsgeschichte des Kapitalismus, die Adam Smith als erster analysierte, hatte den von ständischen und feudalen Fesseln befreiten Markt zur Voraussetzung; dieser entwickelt aber auch einen systemischen Eigensinn, der von Tauschhandlungen äquivalenter Werte zwischen gleichberechtigten Akteuren zu Machtmonopolen und sozialer Ungleichheit führt.69 Weiterhin zählt hierzu das Völkerrecht, wozu bereits in der Antike die Entwicklung und Ausrichtung der Olympischen Spiele als ‚Friedensphase‘ beitrug. Für Kriege und bewaffnete Konflikte waren das etwa die Haager-Abkommen (1899), das Genfer Protokoll zum Verbot von chemischen und biologischen Waffen (1928) und die Genfer Konvention (1949), die unter anderem den Umgang mit Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung umfasst. Ein weiteres Beispiel ist die Einhegung eines marktradikalen Konkurrenzkapitalismus durch staatliche Regelwerke, wie sie im Konzept der ‚sozialen Marktwirtschaft‘ nach dem II. Weltkrieg in Deutschland umgesetzt wurde. Solche Vereinbarungen können innerhalb eines naturwissenschaftlichen Begriffsrahmens nicht analysiert werden. 69

Karl Marx hat diese Verselbständigung menschlicher Produkte als Entfremdung im ‚Warenfetischismus‘ und der Klassengesellschaft gebrandmarkt.

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II Der analytische Rahmen

Zum Beispiel müsste von Kausalität auf Intentionalität, vom Funktions- auf den Sinn- und Zweckbegriff umgestellt werden, wenn man Handlungs- und Funktionssysteme von Gesellschaften untersucht.70 Innerhalb der Soziologie sind Studien zum sozialen Wandel seit 1928 fester Bestandteil der Forschungstradition. Dieser Begriff bezieht sich auf die Veränderung sozialer Strukturen und weniger auf Technologie, Ökonomie oder Kultur.71 Ein interdisziplinäres Kooperationsangebot von historischer Universalgeschichte und soziologischen Theorien sozialer Evolution begann wohl in Deutschland in den 1970erJahren, angestoßen von Luhmann und Habermas.72 Letzterer konnte sich, nur wenige Jahre vor seinem opus magnum einer Theorie kommunikativen Handelns, eine solche Theorie sozialer Evolution, die es noch nicht gab, als eine Erklärungsstrategie vorstellen, die zwischen der Lösungskapazität für Steuerungsprobleme der Gesellschaft und verfügbaren Lernmechanismen in den Kompetenzen ihrer Mitglieder unterscheidet, um zu verstehen, warum einige Gesellschaften Lösungen finden, andere hingegen nicht. Hierfür hatte er bereits für die Ontogenese Vorarbeiten geleistet, die sich unter anderem auf Ergebnisse der Psychologie (Piaget, Kohlberg) und Linguistik (Chomsky, Searle) stützen konnten. Die durchaus spekulative These bestand in einer Homologisierung von ontogenetischer und phylogenetischer Entwicklungslogik: Das Individuum durchläuft von seiner Geburt an verschiedene Stadien und Stufen, die teils unabhängig voneinander beginnen, sich dann aber verschränken und gemeinsam weiterentwickeln. Alle Individuen haben eine gewisse biologische, genetische Basis, die gleichsam die notwendigen Bedingungen für die

Es ist ja kein Zufall, dass der Soziologe und Systemtheoretiker Niklas Luhmann soziale Systeme als sinnhafte bzw. Sinn verwendende System konzipiert; diese Grundunterscheidung hat er im Gegensatz zu anderen Zentralbegriffen (Komplexitätsreduktion, Selbstreferenz) beibehalten. Luhmann stellt aber seinen ganzen Begriffsapparat auf die Funktionalität von System‑/Umwelt-Beziehungen um, was auf einen holistischen Ansatz hinausläuft, der freilich mit dem Konzept der Autopoiesis des Biologen Maturana mit einem Male nichts mehr erklärt, außer dass Systeme operieren, solange sie operieren. 71 Zwei Sammelbände sind hier zu erwähnen, die sehr unterschiedlich konzipiert sind und jeweils je knapp dreißig Autoren zu unterschiedlichen Aspekten und Themen versammeln: (Zapf 1979) und (Dreitzel 1967). Als Klassiker ist (Elias 1981) zu nennen. Eine Verbindung von Historischem Materialismus und funktionalistischen Entwicklungstheorien (Spencer, Parsons, Luhmann) versucht Klaus Eder (Eder 1973 und 1976). 72 Vgl. dazu die Beiträge von Habermas in (Habermas 1976): „Zum Theorievergleich in der Soziologie: am Beispiel der Evolutionstheorie“ und „Geschichte und Evolution“. 70

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Reifeprozesse bereithalten, um dann die interaktiven Lernprozesse mit der Umwelt, sei sie nun sozial oder natural, aus dem Zustand der Natur in die Kultur zu heben. Die erworbenen Kompetenzen siedelt Habermas in der Sprache (Chomsky, Searle), der Interaktion (MEAD, Parsons) und im Denken (Piaget, Kohlberg) an, weshalb er späterhin gerne von sprach‑, handlungs- und erkenntnisfähigen Subjekten spricht. Erst im Adoleszenzalter erwirbt das Individuum seine volle Reife im Kompetenzerwerb, dessen inhaltlich-materiale Kapazität natürlich lebenslang angereichert wird. Immer aber ist er interaktiv, intersubjektiv und anhand von Lernprozessen organisiert. Ähnlich ‚lernen‘ Gesellschaften und Kulturen73, wenn sie gezwungen sind, auf veränderte Umweltbedingungen, die von außen oder innen kommen können (was ja auch bei Individuen der Fall ist: innere und äußere Natur!), zu reagieren. Da Gesellschaften nicht abstrakt, sondern aus Interaktionen ihrer Mitglieder bestehen, müssen hier Rückkoppelungen von individueller und gesellschaftlicher Erfahrung im Handeln und Erleben stattfinden. Institutionen können gemäß ihrer Struktur offen oder geschlossen sein, Veränderung verhindern oder ermöglichen. So ist es heute weitgehend unstrittig, dass der im ökonomischen System institutionalisierte Kapitalismus kraft seiner Dynamik und Struktur, die auf Wachstum und sich selbst verwertendem Wert beruht, für alle möglichen Entwicklungen offen ist und sie sich gleichsam einverleibt. ‚Ökonomisierung‘ ist ein Stichwort, ‚Kolonialisierung‘ ein anderes. So gelingt es ihm, sich mit allen möglichen politischen und kulturellen Strukturen in den jeweiligen Funktionssystemen zu koppeln. Dem Menschen als Gesellschaftsmitglied bleibt dann nichts anderes übrig, als sich mit seiner Identität, die er erwerben muss – egal wie angepasst sie gerät –, an den Imperativen seiner Umwelt zu orientieren. Je generalisierter die Werte und Normen, je demokratischer die Politik und die Gesellschaft und je sozialer der Kapitalismus gebändigt ist, desto größer ist der Freiheitsraum des Einzelnen, aber auch die individuelle Energieleistung, die er für eine als sinnvoll erachtete Lebensform braucht.

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Die hypostasierende Rede, dass eine Gesellschaft oder Kultur etwas lerne, ist tatsächlich bildhaft gemeint, eine Personifikation sozusagen. Tatsächlich verkürzt sie den Sachverhalt, dass innerhalb einer Gesellschaft oder Kultur Individuen in bestimmten Funktionen Rollen übernehmen, die sie als Spezialisten, Experten, Vermittler etc. und übergeordnet Produzenten und Konsumenten bestimmter Dienstleistungen auszeichnen. In diesem Sinne lernen Gesellschaften tatsächlich, methodisch und systematisch etwa innerhalb von Forschungs- und Bildungseinrichtungen. Entsprechende Publikationen sorgen daneben für den Informationstransfer in die Öffentlichkeit der Gesellschaft.

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II Der analytische Rahmen

Der bereits dargestellte Grenzbereich im Übergang von Natur zu Kultur ist ein markanter Punkt, der trotz vieler empirisch validierter Forschungen und Theorien noch viele Fragen offenlässt. Der Soziologe Günter Dux (*1933) stützt sich für seine Historisch-genetische Theorie der Kultur gleichfalls auf den Psychologen Jean Piaget (1896–1980), der mit seinem ontogenetischen Stufenmodell der kognitiven Entwicklung eine universale Entwicklungslogik des kindlichen Denkens aufweisen wollte. Die Faszination liegt für Dux in der Annahme, dass sich das Denken selbst über konstruktive Operationen und die komplementären Mechanismen der Assimilation (interne Integration von Strukturen über Schemata und Erweiterung der Anwendbarkeit) und Akkomodation (externe Anpassung von Schemata an Objekte und Strukturen → Lernen) erzeugt, und zwar in Interaktion mit der Außenwelt. Die biologischen Grundlagen und alle Annahmen über eine ererbte Struktur oder Disposition stehen vor dem Problem, wie sie eine soziale Umwelt, die über Sinn gesteuert und konstituiert wird (Sprache, Normen, Institutionen, Gesellschaft  – insgesamt also Kultur), mit der Anpassungsleistung des Organismus bis hin zu einer Person erklären wollen. Die volle Denkkompetenz erreicht das Individuum ja auch erst, wenn es gelernt hat, sich zu dezentrieren und eine reflexive Distanz zu sich und seinen Denkoperationen zu gewinnen (formale Operationen), was in etwa mit dem Eintritt in die Pubertät zusammenfällt. Philosophisch ist dieses Ich-Bewusstsein der Dreh- und Angelpunkt bei Kant und im Deutschen Idealismus, und auch Piaget misst der Zeit, wie Kant seinen ‚Schematen‘ als Vermittler der Kategorien bei der Anwendung auf reale Objekte, eine konstitutive Funktion bei. Denkprozesse sind reversibel, reale Ereignisprozesse nicht.74

Meines Erachtens geht es in dieser erkenntnistheoretischen Betrachtung um Temporalität, nicht um RaumZeit im empirischen Sinne. Wenn der Regentropfen fällt oder das Auto vorbeifährt, kann weder ich noch sonst jemand diese Vorgänge revidieren, sie rückgängig machen. In meiner Vorstellungswelt geht das aber mühelos, genau wie ein Film zurückgespult und in Zeitlupe oder im Zeitraffer gezeigt werden kann – wobei diese virtuellen Ereignisse freilich real raumzeitlich verortet sind. In der Literaturtheorie unterscheidet man daher zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit, um die fiktive Zeitstruktur mit ihren Sprüngen, Raffungen und Dehnungen von der realen Lese- und Sehzeit abgrenzen zu können. Unsere mentalen Repräsentationen haben sich von der Wahrnehmungswelt abgelöst, sind Zeichen geworden und als solche ideell. Das ist eine andere Welt, die aber von uns zu jeder Zeit aufgesucht und wieder verlassen werden kann – und muss. Dafür sorgt unsere Triebstruktur mit den basalen Bedürfnissen oder Instinkten der Ernährung und Sexualität.

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Der entscheidende Punkt in diesen Theoriestrategien, die die Entwicklung des Menschen seit dokumentierbarer Faktenlage rekonstruieren, ist die Idee der Selbsterzeugung oder Autopoeisis humaner Strukturen, die eine ‚passive‘ materielle, genomische Basis zwar voraussetzt, aber sie dann aus einer Art Eigenlogik heraus zu verstehen versucht. Das ist im Grunde auch das, was Hegel in einer gewundenen Sprache als Selbsterzeugung des Geistes zu verstehen und Schelling im Vordenklichen zu benennen versuchen. Natürlich ist der Geist, sind unsere sozialen Welten aus der Natur heraus entstanden; aber sie können nicht physikalisch oder biologisch erklärt werden. Die Psychologie wäre noch die Wissenschaft, die am nächsten an der physisch operierenden Physiologie der Triebe und Bedürfnisse dran wäre. MEAD hat wohl als Erster sozialpsychologisch die Entstehung der Sprache aus vokalen Gesten als einen Prozess der Intersubjektivität, der sozialen Handlung zu erklären versucht. Und ohne die Sprache sind Kooperationssysteme größerer und komplexer aufgebauter Sozialverbände nicht denkbar, die von instinktentlasteten und individuell hochgefährdeten Mängelwesen organisiert werden müssen. Wie dies im Einzelnen zu rekonstruieren ist, versuchen diese Theorien verständlich zu machen. Festzuhalten ist nach dieser kursorischen Durchsicht der Theorieansätze, dass mit Fortschritt und Zivilisation durchaus treffende Begriffe einen Trend beschreiben, der sich, gemessen an der biologisch datierbaren Ankunft des homo sapiens bis zur neolithischen Revolution und von da ab der Achsenzeit und beschleunigt ab der Moderne bis heute ein exponentielles Wachstum an fast allen Werten bzw. Indikatoren einer zivilisierten Gesellschaft belegen lässt. Selbstverständlich ist der Fortschrittsbegriff wertend, das ist aber fast jeder bedeutsame, uns Menschen betreffende Begriff auch: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Liebe, Achtung, Würde, Freundschaft, Frieden etc. Werte stiften Sinn. Und Werte sind zentraler Bestandteil jeder Kultur.

1.8 Fazit Gemeinsam ist den drei maßgeblichen Gründervätern der philosophischen Anthropologie die Überzeugung, dass der Mensch nicht nur graduell vom Tier verschieden ist, sondern durch entweder den Geist (Scheler), seine exzentrische Positionalität (Plessner) oder durch Handlung, Sprache und Institutionen (Gehlen) 73

II Der analytische Rahmen

einen gänzlich neuartigen Organismus auf diesem Planeten verkörpert. Im evolutionären Tier-Mensch-Übergang sehen die beiden Erstgenannten eher wie die Alten den homo sapiens, während Gehlen den homo faber betont.75 Die Sonderstellung des Menschen wird aber nicht mehr theologisch, sondern empirisch gesättigt begründet und philosophisch oder soziologisch gedeutet. Was die weiteren, neueren Konzeptionen darüber hinaus beisteuern, sind Nuancen, Aspekte und methodologische Optionen, um einerseits die prinzipielle Abkünftigkeit des Menschen aus der Natur, andererseits die wesensmäßige und emergente Selbstproduktion sowohl des Einzelnen wie der Gattung verständlich zu machen. Der Gedanke der Selbsterzeugung, die causa sui, wird anthropologisch aus der reinen Denkwelt der Metaphysik heruntergeholt auf die Ebene wissenschaftlich validierbarer Erklärungen. Freilich muss dann die Kategorie der Kausalität durch die der Intentionalität abgelöst werden. Sprache ist das Sein oder das evolutionär entstandene Gattungsmerkmal, das sich dann aber von der Natur abgekoppelt und in selbstreflexiven Kommunikationsprozessen eine eigene, übernatürliche, soziale Welt erzeugt hat, in der erstmals von Sinn gesprochen werden kann. Wir müssen hier sehr genau die Begriffe differenzieren lernen, die etwa Sinn von Funktion oder Zweck unterscheiden. Jede Anthropologie muss die Annahme eines transzendenten Drehbuchautors für unser menschliches Leben, sei es durch die geschichtliche Zeit oder in der Totalität einer synchronen Ordnung oder Systemwelt, ablehnen.76 Was ist nun der Bezug zum Hms? Kurz und bündig: Es ist gerade dieser Übergang oder genauer: das Übergegangensein von Natur zur Kultur. Das Zusammenleben und Denken der Menschen wird zwar durch natürliche Dispositionen bestimmt,

Ich muss noch einmal betonen, dass meine Auswahl an Autoren ausgesprochen subjektiv ist. Man könnte ja auch Heidegger, Cassirer, Sartre u.  a. hinzunehmen. Es würde aber nichts an dem grundsätzlichen Befund ändern, der im Grunde auch im Deutschen Idealismus nicht unbekannt war und von Schelling explizit gegen Hegel vertreten wurde: Das Sein ist dem Bewusstsein vorgängig, die Natur schlägt im Menschen die Augen auf. Damit beginnt aber eine neue Geschichte im Seinsgeschehen, wenn man das so sagen möchte. Soweit ich die anderen Autoren überblicke, hat keiner von ihnen ein schlüssiges Konzept des Menschen in alle seinen Facetten, was ich mit den Begriffen Natürlichkeit, Geistigkeit, Sozialität und Tätigkeit eher rhapsodisch umschrieben habe. Es bleibt bei Kants Einsicht, dass wir Bewohner zweier Welten sind, ich würde noch hinzusetzen: auch in uns selbst. Einheit sind wir nur im selbstbewussten Tun, nicht im Denken. 76 Es spielt dafür keine Rolle, ob dieser Drehbuchautor ein Gott oder Götter, die Natur oder ein abstraktes Prinzip wie zum Beispiel ein metaphysischer Wille ist. 75

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aber durch kulturelle Normen und Institutionen realisiert. Ihre Lernfähigkeit stellt immer wieder neue Antworten auf Problemlagen bereit, die sich aus materiellen und sozialen Veränderungen ergeben. Die Fähigkeit, gemeinsam auf Bedrohungen und Herausforderungen entweder durch die Natur (Nahrung, Lebensraum, Schutz) oder die Gemeinschaft (intern und extern; Aggression, Feindschaft, Missgunst, Konkurrenz, Krieg) zu reagieren, sich ein stabiles Rechtssystem zu verleihen, das allgemeine Anerkennung findet, sich eine Gruppenidentität über Mythen, Religion und Kulte zu schaffen, weist immer auf ihn, den Menschen, als Schöpfer dieser Werke zurück. Pointiert kann man sagen, der Mensch hat keine Umwelt, sondern Welt; er ist ‚umweltfrei‘ und ‚weltoffen‘; er schafft sich eine ‚Kultursphäre‘ in Form einer ‚zweiten Natur‘, mit der er seinen Lebenskreis seinen Zwecken und Bedürfnissen unterwirft und gemäß macht. Über die Physis wird eine Welt der Thesis errichtet, die den Nomos zweiteilt: kausale Naturgesetze und intersubjektive Normen. Insofern sind für mein Verständnis alle biologistischen oder naturalistischen Versuche, den Menschen etwa nur vom Genom oder seinem evolutiven Verhaltensrepertoire graduell von Tieren zu unterscheiden, unterkomplex; sie verstehen sich sogar in einem präzisen Sinne selbst nicht: Schon die Frage nach sich selbst kann naturwissenschaftlich weder verortet noch beantwortet werden. Fragen, Begriffe oder gar physikalische Theorien kommen im physikalischen Untersuchungsbereich als Gegenstand schlicht gesagt nicht vor. Die Erfassung und Vermessung der physischen Welt erfordert in der humanen Sphäre andere Instrumente, die aber auch menschengemacht sind. Messen heißt generell begrenzen: Mengen, Längen, Flächen, Dauer, Macht, Einfluss, Handlungsspielräume. Das Messen geht dann in das Mäßigen über, das aber auch Grenzen zieht und dabei die Grenze vom physischen (Trieb) zum psychischen (Wert, Norm) selbst überschreitet. Es ist ein Kontrollgedanke, der über Grenzübertritte und Sicherheitszonen wacht. Nicht umsonst spricht man ja auch von Naturbeherrschung und Herrschaftsbereichen, es ist das Verfügbarmachen und Verändern der Welt und nicht das einfache darin leben. Dies setzt aber Wissen und Verständnis des Beherrschten voraus. Durch die Mathematisierung der Natur wird sie wissenschaftlich messbar und auch vermessbar: in Physik, Geografie, Geologie, Astronomie, Chemie. Die Faszination der Alten, dass die Bewegung der Himmelskörper und die der Töne mathematischen Gesetzen fol-

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II Der analytische Rahmen

gen, hat die Schönheit als proportional bestimmbare Harmonie ins Leben gerufen.77 Die Ergebnisse des Messens schlagen sich in technischen Gerätschaften nieder, die unsere Arbeit und das tägliche Leben deutlich vereinfachen und verbessern. Im instrumentellen Handeln sind Nutzen und Erfolg das ‚Maß‘. Es hat dann einerseits im naturalen Bedürfnishaushalt und den daraus erwachsenen Institutionen der Ökonomie und Gesellschaft seinen biologischen Ursprung, dann aber anderseits infolge des Antriebsüberschusses in den freien, das heißt von unmittelbaren Zwecken der Daseinsbewältigung befreiten, spielerischen und kreativen Tätigkeiten der Künste und der Wissenschaft eine humane, kulturelle Quelle. Gerade die Befreiung von Nutzen und äußeren Zwecken wird ein herausragendes Merkmal menschlicher Tätigkeit, die in gewissem Sinne aus einem interesselosen Interesse entsteht. Welche eminente Rolle die Sprache als Maß in diesem Übergang vom ‚Reich der Notwendigkeit‘ ins ‚Reich der Freiheit‘78 spielt, soll uns im nächsten Abschnitt beschäftigen.

So ist der ‚Goldene Schnitt‘, der ein Größenverhältnis von Ganzem und zwei Teilen (Major=a und Minor=b) angibt, eine irrationale Zahl, vergleichbar der Diagonalen in einem Quadrat. Es wird mit dem griechischen Buchstaben phi (Φ) abgekürzt und lautet Φ = 1:1,618 oder Φ = a:b=(a+b):a. Beispiele: Parthenon in Athen (450 v. Chr.), menschlicher Körper (vgl. vitruvianischer Mensch). Viele Marken-Logos sind danach gestaltet. 78 Diese Begriffe stammen von Marx. „Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion.“ (MEW 25, S. 828). Man wird nicht fehlgehen, wenn man hierzu den Mußebereich zählt, das, was die vita contemplativa ausmacht oder die vita acitva im Sinne einer selbstbestimmten Gesellschaftsgestaltung. Das Reich der Notwendigkeit wird durch die Entwicklung der Produktivkräfte immer mehr von Mühsal entlastet, rationell geregelt, aber es bleibt ein „Reich der Notwendigkeit“. In dieser Textstelle wird der Selbstzweck als „das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann“ herausgestellt, und, was moderner und aktueller nicht gefordert werden könnte: „Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung.“ (a. a. O.). 77

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2 Zuhause draußen sein (Sprache)

2 Zuhause draußen sein (Sprache) „Die Sprache sitzt rittlings zwischen Natur und Kultur.“ (Roman Jakobson)79

2.1 Zugang Die Bedeutung der Sprache als anthropologisches Monopol des Menschen ist im vorigen Kapitel thematisiert worden. Aus den Erläuterungen zu Herders und Gehlens Konzeptionen konnten wir erkennen, welche Funktion der Sprache für den Menschen im Übergang von der Natur zur Kultur beizumessen ist. Es geht nun um ihre genauere Darstellung und die Frage, inwieweit die Sprache die Transzendenz von innen und außen und die Einheit von Subjektivität und Objektivität, Denken und Sein, Geist und Natur, Begriff und Sache bewerkstelligt. „Worin besteht die Beziehung von Wörtern zur Welt?“ – so lautet der erste Satz in dem Standardwerk Sprechakte (Speech Acts) des amerikanischen Sprachphilosophen John R. Searle aus dem Jahr 1969. Anders gefragt: Wie kommt die Welt in unseren Kopf? Weil man dies aber nicht wörtlich auffassen darf – realiter bleibt sie außerhalb unseres Kopfes –, müssen wir genauer hinschauen, was unter dieser Frage zu verstehen ist. Bei Aristoteles finden wir in seiner Schrift ‚Hermeneutika‘ (Peri hermeneias) einen ersten Hinweis darauf, dass sowohl die Bedeutungen der Symbole (συμβολον, symbolon) wie auch die Gegenstände (pragmata), auf die die symbolischen Zeichen referieren, „bei allen Menschen dieselben“ sind.80 Sonst wäre eine Verständigung ja auch nicht möglich. Interessant ist, dass er die Stimme bzw. Laute (phone) und

(Jakobson 1970: S. 33.) „Die gesprochenen Worte sind die Zeichen von Vorstellungen in der Seele und die geschriebenen Worte sind die Zeichen von gesprochenen Worten. So wie nun die Schriftzeichen nicht bei allen Menschen die nämlichen sind, so sind auch die Worte nicht bei allen Menschen die nämlichen; aber die Vorstellungen in der Rede, deren unmittelbare Zeichen die Worte sind, sind bei allen Menschen dieselben und eben so sind die Gegenstände überall dieselben, von welchen diese Vorstellungen die Abbilder sind.“ (Aristoteles: Organon. In: Philosophie von Platon bis Nietzsche, DB Band 2, S. 2845, übersetzt von Julius Heinrich von Kirchmann).

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II Der analytische Rahmen

die Schrift (gramma) jeweils auf die gleiche Bedeutung, das heißt „Vorstellungen in der Seele“ bezieht, obwohl Lautbilder und Schriftzeichen „nicht bei allen Menschen dieselben sind“. Nichts anderes sagt die moderne Lingustik. Wie noch deutlich werden wird, wenn ich in Kapitel 2.2 auf Saussure eingehe, ist die Untersuchung der Sprache als System streng von der Rede als Sprechen einer Sprache, die vielen empirisch messbaren Faktoren und Randbedingungen unterliegt, zu trennen. Allerdings dient die Sprache nicht nur der Erkenntnis und Mitteilung, sondern sie stiftet auch die Identität einer Gruppe; wer die gleiche Sprache spricht, gehört zur Gruppe und grenzt sich gegen andere Gruppen ab. Hier ist man zu Hause, geborgen, wird verstanden und macht sich verständlich. Dieser pragmatische, soziologische und psychologische Aspekt geht über den rein linguistischen hinaus und wurde bereits im vorigen Kapitel angesprochen. Das Verhältnis von Sprachwissenschaft oder Linguistik und Sprachphilosophie war nie einfach und wird auch hier nur berührt.81 In den folgenden Ausführungen gehe ich nach einigen freien, hinführend gedachten Assoziationen zur Sprache zu linguistischen und sprachphilosophischen Grundeinsichten des 20.  Jahrhunderts über. Ich beschränke mich dabei auf den Begründer der modernen Sprachwissenschaft, Ferdinand de Saussure, und sein postum veröffentlichtes Hauptwerk Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft (zuerst 1915), um das Zeichen und dessen Systemcharakter zu beleuchten. Den Psychologen und Sprachforscher Karl Bühler nehme ich sehr selektiv wegen seines Modells der Sprachfunktionen (1934) auf, das auch an weitergehende Analysen anschlussfähig ist. John L. Austin und John R. Searle folgen als Begründer der Sprechakttheorie (1969), mit der die Bedeutung sprachlicher Äußerungen aus ihrem Handlungscharakter heraus aufgezeigt wird. Noam Chomsky hatte etwa zur gleichen Zeit am MIT in den USA eine Syntaxtheorie entworfen, die lange Zeit 81

Für einen grundlegenden Überblick siehe (Arnold 1974), hier besonders den ersten Aufsatz zu Fragestellungen der Linguistik, sowie die beiden Bände des studienbegleitenden Funk-Kollegs (Baumgärtner 1973) und (Baumgärtner 1976). Detaillierter gibt der Reader von (Gerhardt 1974) über den damaligen Stand der Forschung Auskunft; mit zwei Beiträgen von Kuno Lorenz zur Entwicklung der analytischen Philosophie. Neueste Forschungsergebnisse enthält (Wunderlich 2015). Aktuell und kritisch beschäftigt sich Elisabeth Leiss aus linguistischer Sicht mit den verschiedenen Konzepten der Sprachphilosophie (Leiss 2012). Es ist aus zwei Vorlesungsreihen hervorgegangen und sehr methodisch und didaktisch aufgebaut, allein deshalb schon sehr lesens- und empfehlenswert.

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unter dem Namen generative Transformationsgrammatik die Runde in der Fachwelt und sogar einigen Schulbüchern machte und mit seiner These vom angeborenen Spracherwerbsmechanismus die Überlegungen zum Spracherwerb bereicherte. Mit George H. Mead stößt wieder ein Psychologe in die Phalanx der Sprachforscher, der allerdings die Ontogenese der Sprache aus den gestisch und symbolisch vermittelten Interaktionen herleiten will; symbolischer Interaktionismus wurde das Schlagwort für die Erforschung von Sozialisation und Rollenlernen in der Soziologie. Am Schluss stehen einige Bemerkungen zum universalpragmatischen Ansatz von Jürgen Habermas, der all diese Entwicklungen in eine komplexe soziologische Handlungstheorie integriert hat. Zur Entstehung der Sprache, ein anderer Aspekt von großem Interesse, lässt sich empirisch belastbar nicht viel sagen, da mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermutet werden kann, dass zuerst Laut und Stimme und danach erst die Schrift als Übertragungsmedium fungierte. Hier gibt es also nur Hypothesen und plausible Vermutungen. Der Historiker Yuval Harari stellt in seinem Bestseller Eine kurze Geschichte der Menschheit (im hebräischen Original 2011 erschienen; 2015 erschien die 22. Auflage der deutschen Ausgabe) verschiedene Theorien vor, die erklären sollen, wie sich innerhalb von 40 000 Jahren, beginnend vor 70 000 Jahren, die kognitive Revolution ereignete, in der die Sprache „die Eroberung der Welt“ ermöglichte.82 Die Ursache für diese Entwicklung kennt man nicht. Außer Hypothesen wie etwa, dass durch zufällige Genmutationen im Gehirn neue ‚Verkabelungen‘ ermöglicht wurden, die das Lernen beschleunigten, gibt es wenige Theorien. Harari fragt daher auch weniger nach den Ursachen als nach den Wirkungen der Revolution, die faktisch ja stattgefunden hat, und die bei den Neandertalern, soviel man heute wissen kann, ausgeblieben war. Relevant ist dabei der Austausch von Informationen, und zwar wohl primär über sich selbst, also die Artgenossen, was er als „Klatsch-Theorie“ bezeichnet. Denn für größere Gruppen ist es ausgesprochen wichtig, über jeden aus der Gruppe Bescheid zu wissen: Wem kann man vertrauen und wem geht man besser aus dem Weg? Daneben gibt es die „Löwe-am-FlussTheorie“, die mit Blick auf die Kooperation beim Jagen die Sachinformationen über die Beute in den Vordergrund stellt. Entscheidender findet Harari aber, und das kommt meinem Verständnis der eigentlichen Leistung der Sprache entgegen, „dass wir uns über Dinge austauschen können, die es gar nicht gibt.“ (a. a. O., S. 37) Hier 82

(Harari 2015: Kap. 2, besonders S. 34–36).

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nämlich liegt der Ursprung von Mythen und Religionen mit ihren Göttern. Der Löwe ist dann nicht nur Feind oder Beute, sondern auch Schutzgeist eines Stammes wegen seiner Stärke oder Logo einer französischen Automarke. Die Natur hat in ihrer Evolutionsgeschichte viel herumexperimentiert, bevor sie aus seinen vielen Vorläufern den homo sapiens hervorbrachte, und wir können davon ausgehen, dass unser Organismus und seine Umwelt perfekt aufeinander abgestimmt sind, was den rein biologischen Aspekt der ‚Menschwerdung‘ betrifft. Maßgeblich dafür war die organische Entwicklung des Gehirns, gleichzeitig Sitz des mächtigsten Werkzeugs unserer Gattung: der Sprache.83 Die Sinne verbinden unsere Außenwelt über die körpereigenen Sinnesorgane mit unserem Gehirn; die Sprache verbindet unsere Außenwelt ebenfalls über die Sinnesorgane Mund und Ohr mit unserem Gehirn. Beide Bereiche, Sinnlichkeit und Sprache, sind ebenso physiologisch wie psychisch und werden durch unser Superorgan, das Gehirn, verknüpft und koordiniert. Was die Bereiche sowohl verbindet wie auch objektiviert, hat seine Wurzel im sprachlichen Zeichen, einer durch und durch sozialen Tatsache, und dessen Produktionsstätte, der Sprachkompetenz, die ebenfalls erst durch interaktive, das heißt soziale Lernprozesse aktiviert werden kann. Im Falle der Sprache kommen neue Momente ins Spiel. Die Sinneswahrnehmung ist reaktiv, sie braucht ein Objekt, das ursächlich auf die Sinnesorgane einwirkt. Hier herrscht Kausalität. Freilich kann sie auch aktiv angesteuert werden, indem wir unsere Aufmerksamkeit auf ausgewählte Realitätsbereiche fokussieren, was methodisch angeleitet zur wissenschaftlichen Beobachtung führt. Die Sprache dagegen ist aktiv, sie entsteht im Subjekt – oder genauer: zwischen Subjekten – und nimmt die Resultate der Sinneswahrnehmungen zunächst auf, um sie zu verarbeiten und in veränderter Form weiterzureichen, etwa ans Gedächtnis. Hier herrschen aktive Rezeptivität, Repräsentation plus Intentionalität. Die distinktiven Merkmale sind Bedeutung, Intention und Expression. Damit werden subjektive Wahrnehmungen intersubjektiv kommunizierbar und durch sprachliche Ausdrücke objektiv. Zu83

Aus strikt biologischer Sicht, aber mit Sinn für den Eigenwert der Kultursphäre, geht der Zoologe Wolfgang Wieser in seinem Buch (Wieser 1998): Die Erfindung der Individualität oder Die zwei Gesichter der Evolution der Frage nach, wie man heute Darwins Erkenntnis der Evolution natürlicher Arten mit den Mitteln der Genforschung und Systemtheorie zu denken hat. Für die conditio humana hält er neben der Entwicklung des Gehirns als Zentralorgan der Informationsverarbeitung die Sprache für den entscheidenden Impuls für die zweite, kulturelle Evolution des Menschen.

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gespitzt: Expressionen sind rein subjektiv, Intentionen wirken intersubjektiv und Bedeutungen sind objektiviert; ein sprachliches Symbol, das nicht für alle (oder zumindest die meisten) Sprachteilnehmer eine (weitgehend!) identische Bedeutung hat, ist keins. Diese Momente der symbolischen Kommunikation (Bedeutung, Intention, Expression) funktionieren nicht isoliert. Sie verschmelzen sozusagen im Zeichengebrauch und bilden, wie später Bühler erkannte, die Sprachfunktionen. So entsteht ein Gefühl wie ‚Trauer‘ oder ‚traurig sein‘ in einem Subjekt aufgrund eines bestimmten Ereignisses, zum Beispiel durch den Tod oder Verlust einer nahestehenden Person. Es ist kausal bewirkt und hat eine Ursache, die von außen kommt.84 Dieses Gefühl kann auf unterschiedliche Weise ausgedrückt und anderen mitgeteilt werden. Wird von dem trauernden Subjekt intentional gezeigt, dass es traurig ist, kann es dies nicht-sprachlich durch Körpersignale mitteilen, wozu auch Ausrufe, Schreie, Gebärden usw. gehören, oder es kann die Trauer eben sprachlich artikulieren in Sätzen, Texten, Gedichten, Elegien, Tragödien etc. Verstehbar für andere sind diese Verlautbarungen aber nur deshalb, weil es gemeinsame Symbole gibt, die die Intentionen des Subjekts verstehbar machen. Trauer wird damit durch sprachliche Symbole situationsunabhängig kommunizierbar, weil wir die Bedeutung der Zeichen für Trauer gelernt haben und verstehen können. Wir können so Dritten erzählen, dass wir oder jemand anders sehr traurig sind/ist und – vor allem – warum. Was von Gefühlen gesagt werden kann, gilt auch für Gedanken oder Ideen. Wenn ich denke, dass Person A ein Lügner oder aber ein vertrauenswürdiger Mensch ist, kann ich das jemandem mitteilen, der diese Person noch nie gesehen hat, aber plant, mit ihr Geschäfte oder Projekte zu machen oder Verträge abzuschließen. Das funktioniert nur sprachlich und setzt so etwas wie Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit in dem Sinne voraus, dass wir gegenseitig darauf vertrauen, dass das, was wir sagen, stimmt. Im Falle persönlicher Bekanntschaft und face-to-face-Kommunikationen ist das meist unproblematisch; im Falle abstrakter Kommunikations- und Funktionssysteme in einer Gesellschaft mit vielen Millionen Menschen braucht es aber glaubwürdige Alternativen, nämlich Institutionen, die diese Funktion übernehmen können, zum Beispiel Medien, Schulen und Universitäten. Wahrnehmung

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Dass man auch grundlos traurig sein kann, ist eine andere und traurige Sache.

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im Sinne eigenen Erlebens oder persönlicher Erfahrung alleine bringt das niemals zustande.85 Für die interne symbolische Struktur der Sprache drängt sich die Analogie zur ‚Computersprache‘ auf. Wir interagieren mit einer Maschine (PC, Handy, TV, Auto, Lautsprecher etc.) über sogenannte Schnittstellen, die uns mit bestimmten Programmen verbinden. Wir könnten uns per Kamera sogar selbst dabei zuschauen, wie wir mittels einer Tastatur, Maus oder Gesten Operationen auslösen, die alles Mögliche veranlassen: Texte, Kalkulationen, Bildbearbeitungen, Zahlungen etc. Es ist heute für Normalverwender (user) unnötig, die technischen Umwandlungsprozeduren und Komponenten zu verstehen, die solche Informationen registrieren, verarbeiten und in gewünschte Reaktionen ausgeben. Selbst Endgeräte wie Lautsprecher, TV oder Spielzeug für Kinder hören unaufgefordert unsere alltäglichen Kommunikationen ab und starten über Algorithmen, die wir nicht kennen, kommerzielle oder geheimdienstliche Aktionen. Die durch unsere Aktionen ausgelöste Computersprache im Gerät basiert auf dem Dualsystem, bestehend aus den Elementen ‚0‘ und ‚1‘, die zur Codierung einer elektronischen Maschinensprache dienen, die wiederum von einer symbolischen Programmiersprache wie etwa BASIC oder C aus den Anfangsjahren in für uns lesbare Programme übersetzt werden müssen. Es würde nicht überraschen, wenn in den neuronalen Systemen lebender Organismen ein ähnlicher Binär-Code die Informationen transportieren würde. Letztlich ist dies die Nahtstelle zwischen neurophysiologischen und psychologischen Prozessen im Gehirn, die man sich nur als komplexe und emergente Wechselwirkung disparater Elemente und Systeme vorstellen kann.86 Eine ebenso entscheidende Rolle spielt der Umstand, dass man an der sprachlichen Form und den semantischen Elementen eines Satzes, eines Urteils oder einer Proposition  – wie immer man deklarative Sprechakte mit Behauptungs-

Zu diesem grundlegenden Problem, wie in komplexen Großgesellschaften von interpersonalen auf hochabstrakte, unpersönliche Systemkommunikationen umgestellt werden muss, bietet das frühe Werk von (Luhmann 1989): Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität einen guten Zugang. 86 Mit den sog. Basis- oder Protokollsätzen hat der kritische Rationalismus bzw. der logische Empirismus versucht, diesen Übergang von Logik bzw. Theorie zu Empirie sprachlich zu fassen. Basissätze lassen sich nicht logisch ableiten; ihre ‚Wahrheit‘ basiert auf Wahrnehmung, die grundsätzlich irrtumsanfällig ist und überdies theorieabhängig, was aber ein anderes Problem ist. 85

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charakter auch bezeichnen mag – nicht immer erkennen kann, auf welcher ontologischen Ebene operiert wird. Dies spielt bei den sogenannten Paradoxien und Antinomien des Denkens eine große Rolle.87 Sie spielen mit unbemerkten Übergängen zwischen Ebenen, Inhalt und Form, die sich in Selbstbezügen äußern. Es macht einen Unterschied, ob ich objektsprachlich ein Ding, eine Person oder ein Ereignis näher beschreiben will, das heißt bestimmte Merkmale und Beziehungen, also etwa Farbe, Größe, Material, Gestalt, Relationen etc., mithilfe geeigneter sprachlicher Ausdrücke erläutere; oder ob ich metasprachlich etwas über die Operation der Prädikation sagen will, also die Bedeutung, Syntax oder Geltungsansprüche wie Wahrheit oder Richtigkeit eines Satzes bzw. Wahrhaftigkeit einer Äußerung. Die Sprache macht hier aber keinen signifikanten Unterschied hinsichtlich der Objekte und ihres ontologischen Status, denn die Form des Satzes unterscheidet das nicht.88 In beiden Fällen arbeitet sie mit Allgemeinbegriffen, die eine Unterscheidung von konkret und abstrakt nicht erlauben. Sie gestattet daher das Parlieren über alles Mögliche, unabhängig von der Frage, ob der Redegegenstand existiert oder nicht, ob die Aussagen über ihn wahr sind oder falsch; sie kann auch den Modus der Rede verdecken und bloß Mögliches Mit dem kommunikationstheoretischen Klassiker (Watzlawick et al. 1996): Menschliche Kommunikation, der 1967 unter dem Titel „Pragmatics of Human Communication. A Study of Interactional Patterns, Pathologics, and Paradoxes“ erschien, erweiterten Paradoxien ihre Bühne und wurden in Kommunikationen und Interaktionen aufgespürt und analysiert. Wir haben nun logische, semantische und pragmatische Paradoxien (vgl. a. a. O., S. 171–212). Mit Gödels Unentscheidbarkeitstheorem hatte man den Schlüssel für den grundsätzlich zirkulären Operationsmodus einer formal geschlossenen Struktur in der Hand; die Lösung sah Russell in der Typentheorie. 88 Der einfachste Fall des Lügnerparadox lautet: „Dieser Satz ist falsch.“ Mal abgesehen davon, dass ich nie wusste, wovon der Satz eigentlich handelt, – ich halte ihn auch heute noch für völlig unsinnig –, sagt er doch propositional etwas über einen sprachlichen Sachverhalt, nämlich einen Satz, genauer: sich selbst („Dieser Satz“) aus. Hier liegt Selbstbezüglichkeit vor. Daher ist das Prädikat ‚falsch‘ bereits auf einer zweiten Metaebene, da hier die Falschheit oder Wahrheit nicht von einem de re Bezug, sondern einem de dicto handelt. Mit anderen Worten, der Satz hat keinen Wahrheitswert, er ist nicht wahrheitsfähig, weil er nichts (Substantielles) sagt. Tatsächlich kaschiert er einen Sprechakt in einem Satz, denn woher soll ich wissen, dass derjenige, der den Satz äußert, ein Lügner ist? Es geht in diesem Beispiel also gar nicht um den ‚Wahrheitswert‘ des Satzes, sondern um eine formale, pragmatische Voraussetzung. Wenn ich einen notorischen Lügner vor mir habe, glaube ich ihm natürlich kein Wort. Würde ich einen notorischen ‚Wahrsager‘ vor mir haben, würde ich ihn fragen: „Was meinst du damit?“ Denn ich wüsste nicht, was er mir sagen will. 87

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als Wirkliches oder bloß Vorgestelltes als Reales und in der Ironie das Gegenteil des Gesagten meinen. Ich kann meinem Gegenüber schmeicheln, ihn einwickeln und über mich eine vollkommen erfundene Geschichte wie im Spionage-Thriller erzählen. Alleine die Sprachkompetenz, gekoppelt mit Lebenserfahrung und Wissen, erlaubt es, diese Potentiale der Sprache und des Sprechens im jeweiligen Kontext zu erfassen und auf sie zu reagieren. Wer meint, alleine mit logischen Mitteln Wahrheit oder Bedeutung aus Sätzen und Propositionen herauslesen zu können, irrt gewaltig. Einschub: Ein Beispiel mag verdeutlichen, dass es weniger die Sprache in ihrem Systemcharakter als die Sprachkompetenz89 der Sprecher/Hörer ist, die wesentlich komplexer operiert und funktioniert, als die meisten Beispiele aus sprachphilosophischen Texten nahelegen.90 Hier der banale Beispiel-Satz: „Mein Auto hat eine Beule am rechten Kotflügel.“ Ich denke, jeder in der deutschen Sprache sozialisierte Sprecher/Hörer (S/H) hat sofort ein mentales Bild, eine Vorstellung, in seinem Kopf, das wie eine Fotografie ein irgendwie aussehendes Fahrzeug, gleich welcher Farbe, Marke, Baujahr, Motor- und Innenausstattung etc., mit einem verformten vorderen Materialteil zeigt. Dieses ‚Foto‘ ist mit Sicherheit äußerst vage und unbestimmt, was das Auto und die Beule betrifft; jeder würde beides zeichnerisch anders wiedergeben. Möglicherweise läuft als Antwort auf die implizite Frage, wie die Beule dahin gekommen ist, schon ein Film im Kopf des S/H mit möglichen

Mit diesem Fachterminus aus der Linguistik nach Chomsky verbinde ich nicht nur syntaktische Regelkompetenz, sondern ebenso semantische und vor allem pragmatische Sprechakt-Kompetenz. Vgl. hierzu auch relativ aktuell (Dieter Wunderlich 2015). Statt des Kompetenzbegriffs verwendet er den der Sprachlernfähigkeit, die er biologisch verankert, obgleich sie bei Ausbleiben von Sprachreizen spätestens in der Pubertät verkümmert (vgl. a. a. O., S. 140). 90 Nach meinem Kenntnisstand ist aus der analytischen Sprachphilosophie wenig Ertragreiches zu meinem Thema zu gewinnen. Die Spezialisierung auf Themen wie Bedeutung und Wahrheit (Frege, Davidson), logische Probleme bis hin zur formalisierten Idealsprache (logischer Empirismus), Namen und Kennzeichnung (Russell), ja selbst ontologische Fragen wie Existenz und Referenz (Kripke) tragen hier nicht viel bei. Selbst der späte Wittgenstein bleibt nach meiner Einschätzung in seinem alltagssprachlichen Ansatz regelgeleiteter Sprachspiele doch weit hinter lebensweltlichen Analysen etwa der sinnverstehenden Soziologie zurück. 89

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Szenarien ab. Wie auch immer – ich wiederhole: Die Bedeutung des Satzes ist vollkommen klar. Analysiert man diesen einfachen Satz aber, so stößt man auf interessante Voraussetzungen oder Präsuppositionen, die nicht genannt werden, aber im Verstehensprozess unterschwellig mitlaufen. Hinter dem eigentlichen Objekt (und grammatischen Subjekt), dem Auto, steht die Geschichte des technischen Fortschritts in Europa, die der S/H in groben Zügen kennt und im Verstehens­ akt mitaktualisiert. Das Possessivpronomen ‚mein‘ drückt für gewöhnlich eine Zugehörigkeit aus, die ein Haben mit Besitzanspruch und Eigentum charakterisiert, das wiederum auf eine Person als Besitzer oder Eigner von etwas verweist, hier also das ‚ich‘, den Sprecher. Damit treten wir in den rechtlichen Rahmen moderner Gesellschaften ein. Im Falle des Autos als Eigentum ist damit ein komplexes Institutionengefüge im Spiel, das nicht nur den Besitztitel ‚mein Auto‘ sichert, sondern die Berechtigung zum Führen eines Autos über eine staatlich anerkannte Prüfung, eine Haftpflichtversicherung, einen Nachweis über den technischen Zustand des Autos und letztlich einen Kaufvertrag als legalen Nachweis einschließt. Dies alles muss zudem dokumentierbar sein: Führerschein, KfZ-Brief und EU-Zulassungsschein, eventuelle Kaufvertrag, TÜV-Plakette. Die weitere Tatsache, dass ein Mindestalter zum Fahren eines Autos erforderlich ist, weist auf die besondere Verantwortung hin, die die motorisierte Fortbewegung im öffentlichen Straßenverkehr von allen ihren Teilnehmern fordert. Alleine hieran könnte man eine ganze Theorie der Person, ihrer Sozialisation und Anerkennungsgeschichte als zurechnungsfähiges Wesen anschließen. All dieses Wissen, so möchte ich schon mal als Zwischenergebnis festhalten, steckt in der linguistischen und kommunikativen Kompetenz eines S/H, der nicht nur die Possessivpronomen kennt und anwenden kann, sondern diesen Satz aus einem beliebigen Handlungskontext bzw. meinem didaktischen Kontext pragmatisch erschließen kann.91 Schauen wir weiter. Das Lokaladverb ‚rechts‘ ist wie alle anderen auch (hier, vorne, hinten, oben, unten, über etc.) relativ zu einem Bezugspunkt definiert. Dieser wird für die Verständigung meist 91

Man kann das Beispiel natürlich noch viel weitertreiben. Ich behaupte auch keineswegs, dass der S/H sich dies alles vergegenwärtigt, vielmehr läuft das wie gesagt unterschwellig, präsupponiert und unbewusst mit. Aber je nach Situation kann er dieses implizite Wissen abrufen. Ein Sketche-Schreiber könnte daraus eine herrliche Marty Feldmann- oder Karl Valentin-Geschichte machen.

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vorher und in der Regel aus der Innensicht eines Objekts festgelegt. In diesem Fall also nicht vom vorne stehenden Betrachter aus, sondern von dem Fahrer im Auto.92 Ohne ein gemeinsames Koordinatensystem mit definiertem O-Punkt (Betrachter oder Objekt) sind solche Adverbien also gar nicht verstehbar. Das Prädikat ‚eine Beule haben‘ meint etwas, was mein Auto hat, genauer einen bestimmten Materialzustand, und zwar nur an einer bestimmten Stelle, nämlich am rechten Kotflügel. Dieses Prädikat referiert aber auf kein von meinem Auto oder einem sonstigen Gegenstand unabhängig, selbständig Seiendes. Es ist, traditionell aristotelisch gesprochen, ein akzidenzielles Merkmal. Ich mache mit diesem Satz eine Aussage über ein Ding, das sogar völlig unabhängig davon existiert, dass es mir gehört. Es wurde irgendwann produziert und gehört nun mir, leider nun mit einer Beule. Die Beule ist nun etwas, was das Auto nicht produktionsbedingt hatte, sondern ein Zustand, der zum Beispiel durch einen Unfall oder einen Fahrfehler verursacht wurde. Gut. Bis hierher ist nichts kompliziert oder in irgendeiner Hinsicht problematisch. Man bekommt aber vielleicht schon eine Ahnung, wie komplex dieser einzelne Satz ist, der in eine nichterzählte Geschichte eingebettet ist, und dass man etwa Kindern, die noch nie ein Auto oder eine Beule gesehen haben, eine Menge erklären müsste; beim Wort Kotflügel hätte man schon eine Metapher zu bändigen, deren Ursprung aus der Kutschenzeit wohl nicht jeder herleiten könnte. Zudem ist noch völlig unklar, wie dieser Satz gemeint ist: als überraschte Äußerung nach einem leichten Zusammenstoß mit einem übersehenen Mäuerchen, als Aufforderung zur Reparatur in einer Werkstatt, als Grund für einen Regressanspruch, als Antwort auf eine Frage etc. Wer hätte nun ein Interesse daran, diese Aussage zu bezweifeln? Zum Beispiel meine Versicherung, bei der ich den Schaden melde und reguliert haben möchte. Die braucht Belege, Beweise, wie es zu der Beule gekommen ist, ob Fremd- oder Eigenverschulden vorliegt, oder vielleicht ein Betrugsfall etc. Oder die hinzukommende Polizei, die nach dem Besitzer des Autos fragt, weil sie einen fingierten Unfall oder ein gestohlenes Auto vermutet. Kommt nun ein Philosoph hinzu, der gerade an einer Dissertation über Davidsons wahrheits­

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Im OP-Saal soll es bei Amputationen tatsächlich schon zu irreversiblen Irrtümern gekommen sein.

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semantische Sprachtheorie93 im Zusammenhang der analytischen Philosophie schreibt, wird der dies in die Form bringen wollen „Der Satz ‚Mein Auto hat eine Beule am rechten Kotflügel‘ ist wahr.“ Kürzer: S ist wahr, wenn mit S abkürzend der Satz gemeint ist.94 Wir haben es nun philosophisch mit zwei verschiedenen Sachverhalten zu tun, die aber beide in Satzform vorliegen: S und eine Aussage über S, nämlich S‘. Der erste Satz (S) sagt etwas über mein Auto, der zweite (S‘) sagt etwas über meinen Satz über mein Auto. Wir haben hier die Unterscheidung von Objekt- und Metasprache, scholastisch: de re und de dicto. Ist aber die Aussage des Philosophen wahr? Übernehmen wir das Symbol S‘, dann fragen wir, ob „S‘ ist wahr“ wahr ist. Man kann das Spiel problemlos weiterspielen, wenn sich Zweifel anmelden und Beispiele finden lassen, die zu Sätzen der Ebene S‘‘, S‘‘‘ … bis es langweilig und uninteressant wird. Der Punkt, auf den es mir ankommt, ist nun folgender: Auf der Ebene der Objektsätze stellt sich gar nicht die Wahrheitsfrage, solange niemand Zweifel anmeldet. Wir fragen nicht ständig „Stimmt das, was du sagst?“ oder zweifeln „Das glaube ich nicht.“ Daher erscheinen Sätze in Alltagskommunikationen auch nicht als Behauptungen, sondern eher als Feststellungen und Aussagen im schlichten Sinne des Sagens. ‚Wahr‘ sein heißt dann nichts anderes als objektiv sein, das heißt das Objekt oder der Sachverhalt ist so, wie ich es oder ihn beschreibe. Metasätze dagegen sind Sätze über Sätze und Tatsachen, und nicht über Dinge, Personen oder Ereignisse. Der Witz an diesem Beispielsatz liegt wohl darin, dass er auf der Beschreibungsebene vollkommen unproblematisch ist, es dagegen auf der Erklärungsebene, wie es zu der Beule gekommen ist, je nach Sachverhalt sehr unterschiedliche Darstellungen geben kann. Es hängt davon ab, in welchem Kontext und mit welcher Intention ich den Satz äußere. Eine Bedeutungstheorie, also eine Semantik, kann unmöglich aus Zeichen allein irgendetwas anderes herauslesen als die Elemente des Signifikanten (Laute, Buchstaben); die Ebene der Signifikation ist auch nach Saussure eine soziale, weil die Sprecher diesen Zeichen eine Bedeutung geben, und das ist eine Praxis.

Berichtshalber: Donald Davidson, Wahrheit und Interpretation, Frankfurt am Main, 1986. 94 Üblicherweise wird in der Logik und analytischen Philosophie eine Proposition mit p (proposition) abgekürzt, sodass sich die Schreibweise ergibt, „Es ist wahr, dass p.“. 93

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Noch bis ins 19.  Jahrhundert hinein haben die meisten Philosophen ihr ureigenstes Arbeitsmittel nicht mitbedacht, es wurde kaum zum Thema philosophischen Nachdenkens gemacht. Selbst bei so großen Denkern wie Kant und Hegel findet man relativ wenig zur Sprache. Zwar hatten die Griechen im Logosbegriff die Rede mit der Vernunft gekoppelt und in der Unterscheidung von doxa (Meinung, Schein) und episteme (Wissen, Erkenntnis) das öffentliche, beglaubigte Begründen von Aussagen (Propositionen) und die Allgemeinheit zu Kriterien der Unterscheidung gemacht. Was überhaupt Gegenstand der Rede sein konnte, fiel unter die Begriffe des Seins und des Logos. Ziemlich unklar scheint ihnen aber die Metastruktur der Sprache gewesen zu sein sowie deren pragmatische Kraft der Erzeugung von Intersubjektivität im Sinne von Normierungen und Institutionalisierungen durch Sprechakte.95 Stattdessen stritten sie darum, ob die Wörter und Namen (onoma) physischer (physis) oder konventioneller (thesis) Natur seien und nahmen an, dass die grammatische Struktur einer Aussage (Subjekt und Prädikat) mit der ontologischen Struktur von Substanz und Akzidenzien übereinstimme. Für komplexere Satzbildungen hatten sie keinen Sinn. Aristoteles hat sich in den Organon genannten Schriften durchaus propädeutisch mit der Sprache sowie mit der Rhetorik befasst. Hauptziel war aber wohl die Verteidigung eines argumentierenden, begründenden Wissensanspruchs gegen die sophistischen Scheinargumente, die auf kurzfristigen Erfolg und Blendwerk aus waren, wie er meinte. Er hat sich nicht mit der Sprache in ihrer immanenten Struktur befasst. Zwar gibt er in der ‚Hermenutik‘ (peri hermeneias) einen Überblick über Haupt- und Zeitwörter, Bejahung und Verneinung, Aussage und Rede und stellt die These auf, dass Wahrheit nur im verbindenden Urteil und nicht an den Wörtern selbst ablesbar sei; ab dem vierten Kapitel geht er aber zur Ontologie und Logik über, insofern die Begriffsbildung nach den Kategorien und die logischen Folgerungen aus den Urteilen behandelt werden (Bejahung, Verneinung, Widerspruch, Modalitäten etc.). Hier sind viele Überschneidungen mit der Kategorienschrift (kategoriai) zu finden. Die Sophisten wussten auch um die Konventionalität der Worte und die Macht der Rede und schulten ihre Schüler in der Kunstfertigkeit, für jede These wie auch 95

Wittgenstein hat mit dem ‚Sprachspiel‘ den Handlungscharakter vorweggenommen, den Austin mit dem ‚Sprechakt‘ explizierte.

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Antithese überzeugende Argumente zu vertreten. Hegel hat dieses dialektische Prinzip des Widerstreits und der Isosthenie in seine Logik implementiert, indem er die Negation zur Grundoperation der Reflexion machte und durch die Anwendung auf sich selbst, also die Negation der Negation (absolute Negation), die gedankliche Entwicklung auf ein komplexeres Verstehensniveau hob. Da die Sprache erlaubt, in ihr über sie zu sprechen, ist sie zugleich Paradigma zirkulärer, selbstreflexiver, rekursiver Prozesse und Operationen. Heideggers bildlich-metaphorische Auffassung von der Sprache als „Haus des Seins“, in dem die Menschen wohnen und das von Dichtern und Denkern behütet werde, hat den wahren Kern, dass das Leben und Sich-Einrichten in der Welt nur mit der Sprache möglich ist. Man kann Häuser jedoch verlassen, und dann erwartet uns draußen auch das Fremde und Unerwartete. Was Sprache ist, wird daher immer noch als unklar und schwierig zu definieren behauptet, denn wie begegnen wir sprachlich dem Fremden? Vor allem aber scheint mir, dass die Philosophen und die Linguisten recht unterschiedliche Vorstellungen von der Sprache haben.96 Ich versuche eine Annäherung zunächst über den zentralen sprachlichen Zeichenbegriff und bleibe dabei, wie Chomsky sagen würde, auf der Oberfläche. Er hat die Operationen der ‚Strukturalisten‘, wie segmentieren und klassifizieren, als unterkomplex eingeordnet. Für meine Zwecke reichen sie völlig.97 Während dieser Untersuchung verlasse ich für eine Weile den Hms und kehre erst nach dem Ausflug in sein geheimes Zentrum wieder zu ihm zurück.

Vgl. dazu die Einleitung sowie die entsprechenden Texte in (Stekeler-Weithofer und Bubner 2004). 97 In seinem Buch Sprache und Geist (1968, dt. 1970), das drei Vorlesungen vereint, geht Chomsky dem Zusammenhang von kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten sowie Mechanismen nach und verortet die Linguistik in der Psychologie. Die Fragestellung Saussures, dies wird deutlich, ist von der Chomskys sehr verschieden. Klar wird das an der Terminologie: langue, das System, ist nicht dasselbe wie langage, die am ehesten den Kompetenzbegriff Chomskys trifft. Sodann beschreibt Saussure lediglich das System und seine Funktionsweise, während Chomsky klären will, wie ein Sprecher grammatisch wohlgeformte Sätze bilden und verstehen kann, obwohl er diese Regeln nur aus meist mangelhaften Sätzen (Performanz) erlernt. Der Spracherwerb interessiert Saussure recht wenig, ihm geht es darum, ein methodologisch klar abgegrenztes Gebiet vorzuführen, das Sprachliches von Nicht-Sprachlichem unterscheidet. 96

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2.2 Zeichen, Referenz und System 2.2.1 Zeichen Der Zeichenbegriff hat eine lange Tradition mit wechselhaften Diskursen und Bedeutungsverschiebungen.98 Wer sich in Nachschlagwerken über ihn kundig macht, trifft auf eine auch für die heutige Zeit erstaunliche Vielfalt an Nomenklaturen, die fast babylonisch genannt zu werden verdient. Ich möchte mich an die für Linguisten klassische Konzeption von Saussure (1857–1913) halten99 und dabei auf einige wichtige Punkte aufmerksam machen. Zur Vertiefung greife ich dann auf Bühlers Organonmodell der Sprache zurück, um am Zeichenbegriff die Sinnfunktionen zu klären und daraus dann die Frage der Bedeutung abzuleiten. Die weiteren semiotischen, zeichenähnlichen Begriffe wie Anzeichen, Ikone, Signale etc. spielen für meinen Gedankengang keine Rolle. Die Ausweitung des Zeichen- bzw. Textbegriffs im sogenannten Post-Strukturalismus, vor allem durch Derrida, verwischt meines Erachtens Differenzen, statt sie fruchtbar zu machen. Viel entscheidender ist die Unterscheidung von langue und parole, dem abstrakten System der Sprache und der konkreten Rede von Sprechern/Hörern.

Abb. 14 Saussure 98 99

Vgl. (Mersch 1993: S. 91f.). (Saussure 1967): Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft.

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(1) Saussures Zeichenbegriff ist völlig referenzfrei. Er wird reinsprachlich, ohne außersprachlichen Objektbezug definiert. „Das sprachliche Zeichen vereinigt in sich nicht einen Namen und eine Sache, sondern eine Vorstellung und ein Lautbild.“ (Saussure 1967: S. 77). Man muss sich beide Seinsbereiche, den physischen wie den psychischen, vorsprachlich als chaotische Reizströme vorstellen oder als eine „Nebelwolke, in der nichts notwendigerweise begrenzt ist […], ehe die Sprache in Erscheinung tritt.“ (a. a. O., S. 133). Diese Unbegrenztheit und Indifferenz gilt für beide Seiten, die Laute und die Vorstellungen oder Gedanken. Saussure konzipiert nun die Sprache als „Verbindungsglied“ zwischen diesen Welten. Das Denken, „das seiner Natur nach chaotisch ist, wird gezwungen, durch Gliederung sich zu präzisieren; es findet also weder eine Verstofflichung der Gedanken noch eine Vergeistigung der Laute statt, sondern es handelt sich um die einigermaßen mysteriöse Tatsache, daß der ‚Laut-Gedanke‘ Einteilungen mit sich bringt, und die Sprache ihre Einheit herausarbeitet, indem sie sich zwischen zwei gestaltlosen Massen bildet.“ (a. a. O., S. 134)

Abb. 15 Zeichen als Verbindung von Vorstellung und Lautbild Die Grafik (Abb. 15) verdeutlicht verschiedene Aspekte des Zeichens. Wir sehen drei waagerecht geteilte Ovale, die die Einheit zweier Bereiche veranschaulichen. Das linke ist die allgemeine Definition, die beiden rechten sind Beispiele für das Wort ‚Baum‘. Das mittlere Oval repräsentiert den lautlich-akustischen, das rechte die optische Repräsentation (unterer Teil: Signifikant) der Bedeutung (oberer Teil: Signifikat). Die Pfeile zeigen den umkehrbaren Übergang vom Wahrnehmbaren zum Geistigen, die Transitivität im Verstehensakt des Sprechens/Hörens und die Fixierung der jeweiligen artikulierten Zeichenmomente. Die Vorstellung im Bewusstsein ist optisch ein Bild; akustisch ein Ton, Laut etc.100 Saussure be100

Hier liegt im Grunde der Hund begraben. Denn wie komme ich von der Repräsentations- auf die Referenzebene? Also vom Bild zum Bildgrund, vom Ton zur Tonquelle, vom

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stätigt J­akobsons Gedanken von der Mittelstellung der Sprache, wenn er den Gegenstandsbereich der Sprachwissenschaft als ein „Grenzgebiet, wo Elemente von zweierlei Natur sich verbinden“ bezeichnet und ausdrücklich hervorhebt: „diese Verbindung schafft eine Form, keine Substanz“ (a. a. O., S. 134). Mithilfe des Wertbegriffs, den er aus der Ökonomie entlehnt, verdeutlicht er den Form- oder Funktionscharakter des Zeichens. „Um sich zu vergegenwärtigen, daß die Sprache nichts anderes als ein System von bloßen Werten ist, genügt es, die beiden Bestandteile zu berücksichtigen, welche beim Ablauf der Vorgänge im Spiele sind, nämlich die Vorstellungen und die Laute.“ (a. a. O., S. 132f.) Werte, so Saussures Analyse, haben zwei Eigenschaften: 1. Sie können durch Unähnliches ausgewechselt werden wie im Tausch von Ware x gegen Ware y, also etwa Brot gegen Kleidung, wobei dieser Tausch aber an so etwas wie Äquivalenz, Gleichwertigkeit, Übereinstimmung (!) gebunden ist: x = y.101 2. Sie werden durch Ähnliches, genauer: ein gemeinsames Drittes (Geld) verglichen und damit rückbezogen vergleichbar. Wenn ein Kilo Brot genauso viel kostet wie ein Paar Strümpfe, haben sie den gleichen Wert, der sich nun in einem Preis – sagen wir 5 Euro – ausdrückt. Der Wert wird materiell durch eine Münze oder einen Geldschein repräsentiert. Das sind die Signifikanten.102 Tauschwerte. Übertragen auf die Sprache sind Zeichen Werte,

Geschmack auf x? Man muss sich diesen Übergang als eine freie Handlung zwischen Menschen vorstellen, die über Gesten und Symbole kommunizieren und in Bezug auf irgendetwas übereinstimmen und sich verständigen. Da ist nichts Kausales außer dem freien Entschluss, es so zu handhaben und zu tun. Wir schaffen etwas Neues, vorher nicht Dagewesenes, indem wir uns darauf einigen. So einfach und schlicht ist es im Grunde. Genauso erschaffen wir das Geld, die Gesetze usw. 101 Nebenbei bemerkt: man merkt hier, dass Äquivalenz mit Identität nichts zu tun hat. Diese ist logisch nur innerhalb einer Kategorie möglich, was dann nur x = x heißen kann; tautologisch. 102 Da ich jederzeit das eine gegen das andere eintauschen kann, also eine bestimmte Geldeinheit gegen eine bestimmte Ware, kann ich mithilfe des Werts ihr Austauschverhältnis messen: x = 5 Euro; 5 Euro = y; also einmal x = y und dann aber 5 Euro = 5 Euro. Das Vermittelnde ist reine, absolute Identität, die eine relative ermöglicht, aber nur in Hinblick (Kategorie) auf den Tauschwert. Der Gebrauchswert ist eben nicht identisch! Das Geheimnis des ökonomischen Tauschs, der Kommunikation über Zeichen, ist der vermittelnde Wert als vollkommen abstraktes, geistiges oder konventionell vereinbartes ‚Schmiermittel‘, das wie der Katalysator in der Chemie verschwindet.

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die – statt Waren zu tauschen – Bedeutungen zwischen Menschen bewegen. Saussure drückt das so aus: „Ebenso kann ein Wort ausgewechselt werden gegen etwas Unähnliches: eine Vorstellung; außerdem kann es verglichen werden mit […] einem anderen Wort.“ (a. a. O., S. 137) Die Bedeutung liegt auf Seiten der Vorstellungsebene, die aber mit der Wort- oder Lautebene verbunden ist. Wert und Bedeutung sind verschiedene Begriffe bei Saussure. Sein Beispiel ‚mouton‘ und ‚sheep‘ für ‚Schaf ‘ zeigt aber, dass der Wertbegriff gegenüber dem der Bedeutung höher zu bewerten ist: Zum fertig zubereiteten Stück Fleisch sagt der Engländer nicht ‚sheep‘, sondern ‚mutton‘: Mouton = sheep+mutton. Im Tausch, also bei einer Übersetzung vom Französischen ins Englische, müsste man zwei Elemente gegen eines hergeben. Die Begrenzung von Worten mit ähnlicher Bedeutung kann nur durch Gegenüberstellung ermittelt werden; denken, meinen, glauben, wissen haben ihren Wert nur dadurch, dass man sie kontrastieren kann. Wäre ein Wort nicht vorhanden, müssten die anderen seine Bedeutung übernehmen, so Saussure. Andererseits bestimmt ein Wort seine Umgebung je nach Sprachgemeinschaft. Die Formulierung ‚sich in die Sonne setzen‘ kann nicht in jeder Sprache, die das Wort ‚Sonne‘ hat, geäußert werden. Werte sind vielleicht mit Begriffen vergleichbar. Saussure deutet dies an, wenn er sie durch Unterscheidungen erklärt, „die nicht positiv durch Inhalt, sondern negativ durch Beziehungen zu den anderen Gliedern des Systems definiert sind. Ihr bestimmtestes Kennzeichen ist, daß sie etwas sind, was die andern nicht sind.“ (S. 139f.)103 (2) Das sprachliche Zeichen (Lautzeichen) ist zweitens nicht auf natürliche Weise mit seinem externen, außersprachlichen Gegenstand verbunden oder durch ihn ‚motiviert‘, sondern konventionell zugeordnet; es ist  – in Saussures Terminologie – arbiträr (willkürlich, beliebig). Dies gilt auch und gerade für die interne Relation. Das Bezeichnende (Signifikant) ist in allen Sprachen anders, teils ähnlich in 103

Ein anderer Zugang zum Wertbegriff wäre natürlich die Ökonomie, woraus er wohl auch entstammt. Hier sind Gebrauchs- und Tauschwert geläufige Termini. Eine allgemeinere Explikation wäre vielleicht die, die auch Roland Barthes in seiner strukturalen Analyse des Mythos als semiologisches System gibt, nämlich den Wert als ein Seiendes, das als etwas gilt oder als etwas Geltendes betrachtet wird. Vgl. (Barthes 1970: S. 88) So ergibt sich auch eine nette Nähe von Geld und Geltung, denn Geld gilt – oder eben nicht, je nach Währungsland.

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Sprachfamilien wie der indo-germanischen, teils völlig anders, und zwar sowohl vokal/lautlich wie skriptal/schriftlich. Dagegen ist das Bezeichnete (Signifikat) fast identisch; es gibt graduelle Verschiebungen, vereinzelt auch disparate Bedeutungsfelder, die bei Übersetzungen beachtet werden müssen. Entscheidend ist: Sie sind bekannt!104 Damit ist der Ausdruck Signifikat synonym mit dem Begriff, der ja auch raum- und zeitunabhängig eine identische Bedeutung und Referenz einschließt. Die schlichte Tatsache verschiedener Sprachen ist im Übrigen das schlagendste Argument gegen die These von der ‚natürlichen‘ Beziehung des Zeichens zum Bezeichneten, der Physis-These in Platons Kratylos. Für die Ebene des Sprachsystems ist es aber wichtig, die physischen Realisationen des Zeichens, insbesondere der Phoneme als Klanglaute, außer Acht zu lassen; das Sprechen bleibt der parole vorbehalten. (3) Damit sind wir drittens bei dem wichtigen Unterschied von langue und parole. Man kann die Sprache als System (langue) unabhängig von ihrem Gebrauch durch uns Sprecher/Hörer untersuchen, und zwar diachron (historisch) und synchron (struktural, systemisch). Sprachen verändern sich ständig. Durch die Kommunikation der Menschen (Ökonomie, Kultur, Politik, Migration, grenznaher Verkehr, Heirat) entstehen die vielfältigsten gegenseitigen Beeinflussungen hinsichtlich des Lexikons (Lehn- und Fremdwörter) und der Phonetik (Lautverschiebungen). Als eine Art Momentaufnahme kann man aber auch den Bestand einer Sprache zumindest in ihrer Grundstruktur und in Hinblick auf ihren Wortschatz analysieren. Der Sprachwissenschaftler betrachtet dann die Sprache wie der Naturwissenschaftler die Natur: als etwas Gegebenes, Objektives, Äußerliches. Der Grammatiker unter-

Man beachte etwa die Herkunft und die verschiedenen Übersetzungen der Bibel. Namen für Gott: Hebräisch (‫ ;יהוה‬auch YHWH), griechisch (theos), lateinisch (deus), arabisch (‫أ ْس َما ُء هللا ْال ُح ْسنَى‬, DMG asmāʾ Allāh al-ḥusnā ‚die schönsten Namen Gottes‘) und deutsch (Gott); dazu die Übersetzungen in fast alle Sprachen der Welt. Das Wort ‚Gott‘ hat als Signifikanten verschiedene Formen, Buchstabenfolgen bzw. Phoneme, meint aber – wahrscheinlich – das Gleiche. Sicher bin ich mir da aber beileibe nicht. Einige Juden sollen ‚ihren‘ Gott ja schon den ‚Namenlosen‘ genannt haben. Sehr seltsam. Etwas Unsichtbares, nicht Nennbares als Seinsgrund und Sinnstifter anzurufen und anzubeten, ist befremdlich und verstörend. Nach dem Holocaust ist ja auch eine theologische Diskussion unter den Juden über den Gott entbrannt, der dieses Böse, den Massenmord an den Juden, zugelassen hat. Das Theodizeeproblem wurde in teils recht abstrusen Positionen vertreten. Vgl. Watson, P. (2016): Das Zeitalter des Nichts. München. Kap. III, 20: „Auschwitz, Apokalypse, Abwesenheit“, S. 475–492.

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sucht die Satz-Strukturen der Sprache ähnlich wie der Logiker das sprachabhängige Denken. Eine andere Sache ist dann die Anwendung der Sprache durch Sprecher (parole). Hier gelten empirisch feststellbare Bedingungen und hier wird auch erst die pragmatische Dimension der Sprache klar. Denn die sprachlichen Zeichenfunktionen, die in den Geltungsansprüchen der kommunikativen Vernunft wiederkehren, werden ja erst in den symbolisch vermittelten Kommunikationen wirksam. Dass Saussure die Referenz nicht mit aufgenommen hat, könnte seinen Grund darin haben, dass Referenz etwas ist, was durch den Sprecher überhaupt erst erzeugt wird und damit Gegenstand der parole, der Performanz, ist. Genau diesen Bereich wollte er aber nicht untersuchen. Das Hinweisen und Vormachen als außersprachliche Stützen zur Klärung von Wortbedeutungen, hier Nomen und Verben bzw. Nominal- und Verbalphrasen, kann nur in situativen Kontexten sinnvoll funktionieren. Unsere alltägliche Kommunikation ist voll von Ellipsen, ungrammatischen Sätzen, vernuschelten Wörtern und sonstigen idiosynkratischen wie dialektalen Versatzstücken, die meist recht unkompliziert verstanden oder eben durch allerlei Gesten, Demonstrationen und Korrekturen aufgelöst werden können. Es ist im Gegenteil eine spannende Frage, wie es Normalsprecher mit ihrer Kompetenz (langage) schaffen, noch nie gehörte Sätze mit irregulären Elementen dennoch zu verstehen, das heißt die Intention aus den lädierten Äußerungen zu rekonstruieren. Aber, wie gesagt, das war nicht Saussures Erkenntnisinteresse. Der Zeichenbegriff umfasst nicht nur Nomen, Adjektive und Verben, sondern ebenso die Flexions- (‑e, ‑st, ‑t; ‑en, ‑t, ‑en usw.) und Ableitungsendungen (‑lich, ‑ig, ‑heit, ‑ng usw.) die ihre Bedeutung nur aus dem Zusammenbestehen mit der Grundform (Morphemen, Wortstamm) erhalten.105 All die anderen Wortarten gehören auch dazu. In der Logik hat man auch erst spät die Bedeutung und Funktion von Quantoren (alle, einige, kein) und Junktoren (und, oder) erkannt; in der Philosophie sind Präpositionen, Adverben und Pronomen wie an, für und sich, hier und jetzt, ich, du, wir etc. sogar von metaphysischem Rang (Ansichsein, Fürsichsein, Ich etc.). Begriffe sind auf der Signifikatebene, also der Ebene der Vorstellungen, anzusiedeln, die mit Lauten und Lautbildern verbunden werden. Begriffe werden nun in der Logik häufig mit einer Extension und einer Intension verbunden, also einem sogenannten Umfang und einem Inhalt. Was aber sollte der Umfang sein von Be Auf die terminologischen Unterscheidungen zwischen Wort, lexikalischem und funktionalem bzw. grammatischem Morphem kann hier verzichtet werden.

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griffen wie Liebe, lieben, Freiheit, hier, jetzt, größer etc.? Geht man in die Ontologie, stellt sich die Frage bei Wörtern/Zeichen wie Sein, Nichts, Werden oder Quantoren wie alle und ein. Was soll da der Umfang sein? Welche und wie viele Gegenstände fallen unter den Begriff? Man gerät in die dialektische Begriffsmühle, wenn man versuchen wollte, bei dem Quantor eins nur an ein einziges numerisches Eins zu denken; es wird nicht funktionieren, mit dem Denkenden und dem Gedachten sind es nämlich schon zwei; und tatsächlich denkt man immer viele Eins. Im umgekehrten Falle des alle (oder vieles) wird es noch verwickelter, weil hier das Unendliche ins Spiel kommt, das mit dem Endlichen keineswegs einen gemeinsamen logischen Raum umspannt, wie Hegel erkannte: Sie sind keine wirklichen Gegensätze. Denn einander entgegengesetzt kann per definitionem nur Begrenztes sein, und da das Unendliche so gut wie unbegrenzt, also synonym, aufzufassen ist, kann das Unendliche keinen Gegensatz haben. Wir können hier den Umfang gar nicht bestimmen, außer mit dem vagen ‚alle‘ oder ‚mindestens eins‘. Für die Beziehung zwischen sprachlicher und außersprachlicher Welt sind Wert und Geltung (Gültigkeit) zentrale Begriffe.106 Laute an sich haben keine situationsund kontextunabhängige Bedeutung. Die Vokale (Selbstlaute) a, o, u, e, i; ä, ö, ü und die Diphthonge (Zwielaute) ai, ei, eu, äu, oi zum Beispiel bedeuten nichts. Und nur bestimmte Kombinationen von Lauten (Phoneme) gelten in bestimmten Sprachen als sinntragende Einheiten. Es ist wichtig, schon an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass sprachlich sinnvolle Einheiten in komplexe phonetische, semantische und syntaktisch-grammatische Strukturen eingebettet sind. Wer eine Sprache lernt, lernt ein komplexes System nicht-naturaler Art, das gleichwohl naturale Ordnungsstrukturen wiedergeben kann (Farbspektrum, Obstsorten, Tierund Pflanzenwelt etc.). Er lernt auch das Wesen der Repräsentation kennen. Denn Sprache und Nicht-Sprachliches sind getrennte ontologische und ontische Bereiche, kommen aber in derselben Welt vor.107 Mithilfe von Artefakten kann man den einen Bereich auf den anderen durch normative, gesetzte Zuordnung von Elemen Hier nur angedeutet: Von geldwerten Dingen wie Muscheln und Tieren über Münzen und Papierscheine bis hin zu Buchgeld und Kreditkarten oder Smartphones ist der Abstraktionsgrad für die meisten Bürger und Konsumenten nicht wirklich verständlich bzw. verstehbar. Der Wertbegriff taucht bei Saussure explizit in Analogie zum Tausch- und Geldwert auf. Auch Bühler zieht diese Parallele mehrmals. 107 Da ist zum einen die nominalistische Auffassung; zum anderen schließt die Arbitrarität aber nicht aus, dass es Arten und Gattungen, soziale Gruppen und Gesellschaften im 106

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ten und Beziehungen abbilden. Ohne zuordnende Sprachsubjekte kann die Repräsentation aber nicht funktionieren, und sie setzt zugleich eine Gemeinschaft von Sprecher/Hörern voraus. Diese Differenz kann man gar nicht ernst genug nehmen. Denn Einheit kann pluralistisch aus ontologisch differenten Seinsbereichen bestehen – so, wie man sich die Einheit der Natur als aus unbelebter und belebter Materie bestehend vorstellen kann, die auch noch die kultivierte, menschengemachte Natur einschließt. Bedeutungen und Repräsentationen funktionieren über Zuordnungen von Elementen unterschiedlicher Seinsbereiche. Das Wort ‚Buch‘ und das Buch, das Sie gerade lesen, haben nichts miteinander gemeinsam. Gar nichts. Was man also vorläufig sagen kann ist, dass Denken und Erkennen als Bewusstseinsmodi ontologisch dem Sein angehören und dieses Sein auch den nichtkognitiven Bereich, etwa die unbelebte Natur, mitumfasst. Der Seinsbegriff ist also extensiver, umfassender als das Denken.

Abb. 16 Sprachfunktionen nach Bühler (1934) ontischen Sinne gibt. Jedes Einzelexemplar ist Gattungsexemplar, nur dass sie logisch gesehen verschiedenen Kategorien (Einzelnes, Allgemeines) angehören.

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Eine funktionale Erweiterung des Zeichenbegriffs hin zu einer Art Kommunikationsmodell, das als ‚Organonmodell der Sprache‘ bekannt wurde (vgl. Abb. 16) und in fast jedem Deutschunterrichtsbuch der gymnasialen Oberstufe zu finden ist, stammt von dem Psychologen und Sprachtheoretiker Karl Bühler aus dem Jahr 1934.108 Wir haben es hier mit vier Komponenten zu tun. Das Zeichen als Mittelpunkt, mit dem ein Sender (Sprecher) einem Empfänger (Hörer) etwas Nichtsprachliches aus der Welt der Gegenstände und Sachverhalte mitteilt. Das Zeichen Z steht für die Sprache in der Mitte. Der Kreis symbolisiert den Laut als Schallphänomen. Das Dreieck symbolisiert die drei Momente, die die physische Lautfolge, die der Sender an den Empfänger richtet, uno actu beim Empfänger auslöst. Es ist das Medium, mittels dessen ein Sender etwas zu jemandem sagt und sich dabei auf die Außenwelt beziehen kann (Darstellung), aber nicht muss; dann nämlich, wenn er über sich selbst (Ausdruck) spricht oder etwas vom Empfänger will (Appell). Das Zeichen enthält alle drei Funktionen, die je nach Kommunikationssituation unterschiedliches Gewicht haben: „Es ist Symbol kraft seiner Zuordnung zu Gegenständen und Sachverhalten, Symptom (Anzeichen, Indicium) kraft seiner Abhängigkeit vom Sender, dessen Innerlichkeit es ausdrückt, und Signal kraft seines Appells an den Hörer, dessen äußeres oder inneres Verhalten es steuert wie andere Verkehrszeichen.“ (Bühler 1982, S. 28) Klar sehen muss man die Verschiebung der Untersuchungsperspektive: Bühler geht es um die Leistung des Zeichens innerhalb eines kommunikativen Aktes, Saussure interessiert sich für seine Struktur bzw. Form innerhalb eines Systems.

2.2.2 Referenz und Existenz Die ursprünglich zweistellige Relation von Wort und Ding wird schon von Aristoteles zu Beginn der Hermeneutika dreigeteilt und in der Stoa und Scholastik zu einer dreistelligen: Wortform (Lautbild; phone)  – Wortbedeutung (Begriff; symbolon) – Relatum (Ding; pragma). Aus dem Benennen = Namen geben wird ein Bezeichnen im Sinne von Beziehen auf. Das Wort besteht nun aus zwei Seine Sprachtheorie wurde 1982 ungekürzt wieder aufgelegt; hieraus stammt auch die Abbildung (Bühler 1982: S. 28).

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Teilen, die im Zeichenbegriff von Saussure wieder auftauchen: Signifikant als Laut- oder Wortform und Signifikat als Vorstellungsinhalt (Begriff); beide Komponenten zusammen bilden das Zeichen. Das Relatum bleibt außen vor, da es nicht-sprachlicher Art ist und nur in metasprachlicher Rede Gegenstand der Sprache wird. Der britische Sprachwissenschaftler John Lyons (1932–2020) erwähnt den terminologischen Kuddelmuddel, der seit jeher bestand; eine einheitlich Fachterminologie existiert nicht, was immer ärgerlich ist. Wenn etwa Frege von Bedeutung spricht, meint er Referenz, also den nichtsprachlichen Gegenstand. Folgende Tabelle, die ich aus (Vater 2005: S. 13) übernommen habe, zeigt die Terminologie: Objektbezug

Begriffsbezug

Mill (1862)

Denotation

Connotation

Frege (1892)

Bedeutung

Sinn

Russell (1905)

Denotation

Meaning

Carnap (1947)

Extension

Intension

Black (1949)

Reference

Sense

Abb. 17 Terminologie der Begriffskomponenten In der Logik hat sich Carnaps Terminologie durchgesetzt, in der Linguistik Blacks, so Vater. Es ist aber trotz der unterschiedlichen Begrifflichkeiten klar, dass Inner- und Außersprachliches unterschieden wird. Materiell oder physisch sind das Zeichen selbst und das Bezeichnende, psychisch ist das Bezeichnete oder der Begriff als mentale Repräsentation der Referenz, die nicht-sprachliche Objekte (oder metasprachlich Sprach-Zeichen) umfasst. Repräsentation hat hier mit Abbild oder Mimesis nichts gemein, im Gegenteil könnten auf symbolischer Ebene das Symbol selbst und das, was es vertritt, verschiedener nicht sein. Wenn Saussure und die meisten Linguisten von Bedeutung sprechen, meinen sie den Begriff, den psychischen Vorstellungsinhalt. Dieser kann in den Sprachen der Welt durch sehr unterschiedliche Wörter, im Sinne von Signifikanten, ausgedrückt werden. Es geht also um Werte, die austauschbar, das heißt von einer in die andere Sprache übersetzbar sind. Verwendet man statt dem Ausdruck Wert den der Valenz, so kann man von Äquivalenz in Austauschbeziehungen sprechen. Tauschbeziehungen scheinen ohnehin basale Operationsmodi zu sein, die in der Ökonomie, der 99

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Sprache, den Verwandtschaftsbeziehungen und auch der Mathematik sowie Logik eine Rolle spielen und vom Prinzip der Äquivalenz beherrscht werden. Referenz sollte meines Erachtens ein Begriff bleiben, der im Wesentlichen dem außersprachlichen Bereich vorbehalten ist, damit wir überhaupt noch unterschiedliche, signifikante Bezugsfelder haben. Es ist aber aufgrund unserer reflexiven und exzentrischen Struktur so, dass wir das Außersprachliche selbst in die Sprache hereinholen und uns begrifflich einverleiben können. Ob dieser „Referenzbereich“ also physisch, psychisch oder sozial-normativ ist, spielt dann im Grunde keine Rolle. Vater betont, ich denke zu Recht, dass nicht Ausdrücke auf etwas referieren, sondern Sprecher mithilfe der Ausdrücke.109 Wir bewegen uns referierend innerhalb der parole bzw. der Performanz und nicht der langue oder der Kompetenz. Die Zeigehandlung, das Hinweisen auf einen Gegenstand ist kein Element der langue, sondern der parole. Damit treten wir aber praktisch aus der Sprache hinaus in die Welt der Gegenstände, Ereignisse und Personen (Sprecher/Hörer). Das ist die Welt, in der wir leben und kommunizieren, also auch sprechen. Als Grundbereich der Referenz nennt Lyons die dingliche Welt, in der wir auf Gegenstände zeigen können. In der Tat ist die Dingreferenz der klassische und paradigmatische Fall der Referenz. Dazu benutzen wir meist Nomen, deiktisch genügen auch Pronomen wie der, die und das oder dieser, diese und dieses. Situationen, Orte, Zeiten, Eigenschaften, Modi und Texte wären andere Bereiche. Wir referieren als Sprecher auf Dinge immer in Situationen und Kommunikationskontexten, indem wir bestimmte Wörter oder Wortarten, grammatische Konstruktionen, Sätze und Texte benutzen.110 In diesem Zusammenhang sind die Begriffe Realität und Existenz angesiedelt. Ich kann nur auf etwas hinweisen und zeigen, das raumerfüllend da ist, also existiert, anwesend und real im raumzeitlichen Kontext des Zeigens ist. Dieses Vorverständ Dazu (Vater 2005: Überblick S. 69–73) und gleichfalls (Maas und Wunderlich 1974: Teil B, Kap. 2 ‚Referenz-Semantik‘, S. 92–115): „In jeder Sprache gibt es spezifische Mittel […], die dem Sprecher erlauben, sich auf die wahrnehmbare Umwelt oder auf erinnerte, vorweggenommene oder vorgestellte Welten zu beziehen. Wir nennen diese Mittel Referenzmittel. Jedoch sind es nicht die sprachlichen Ausdrücke selbst, oder die Sätze, in denen sie stehen, die die Referenz machen, sondern es ist der Sprecher, der die Referenz macht.“ (a. a. O., S. 93). 110 Eine nochmal andere Ebene der Referenz erschließt die sogenannte Textlinguistik, die sich mit Fragen der Kohärenz und Kohäsion von allerlei Texten (Sorten, Arten; Gattungen) und dem Merkmal ‚Textualität‘ beschäftigt. 109

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nis nehmen wir in jeder Kommunikation in Anspruch, in der wir über abwesende Dinge oder Personen so reden, als ob sie existierten und nur im Moment nicht anwesend sind. Wenn ich also über meine verstorbene Großmutter rede, existiert sie zwar nicht mehr, aber sie hat gelebt und einige meiner Verwandten oder andere Dorfbewohner können sich noch gut an sie erinnern. Andererseits ist mein Bruder, von dem ich gerade eine Episode erzähle, zwar nicht anwesend, aber noch wohlauf, obwohl ich gerade nicht weiß, wo er sich befindet, ihn aber per Telefon erreichen könnte. Nicht alle Wörter im Lexikon, dem semantischen Vorrat einer Sprache, haben diesen physischen Bezug, der eine Kontaktaufnahme ermöglicht. Einige haben auch einen metasprachlichen Bezug wie die Wörter ‚Nomen‘ oder ‚Wahrheit‘. Bei solchen Begriffen mit symbolischen Bezügen sind körperliche Kontakte natürlich ausgeschlossen. Aber ohne den leiblichen Primärbezug ist keine Referenz denkbar. Eine biologische Parallele ist möglicherweise der ontogenetisch primäre Tastsinn, der über Berührungen und Greifreflexe den Körperkontakt vermittelt und dem Neugeborenen signalisiert, dass da draußen in der Welt etwas ist. Dass wir in Einzelfällen nicht genau wissen, worauf nun ein Wort oder Satz referieren, ist aus linguistischer Sicht kein Defizit, sondern ein kommunikativer Mehrwert: „Die ‚unbestimmte‘ Natur der Referenz […] ist nicht ein Mangel, wie manche Philosophen behaupteten, sie erhöht im Gegenteil die Leistungsfähigkeit der Sprache als Kommunikationsmittel.“ (Lyons 1971: S.  436) Klassisch metaphysische und theologische Begriffe wie Gott, Seele, Freiheit sind von dieser Art. Die Fragen „Gibt es Gott, Freiheit, Seele?“ oder „Was ist Gott, Freiheit, Seele?“ sind uns in ihrer Bedeutung klar, gleichviel was wir unter den Begriffen verstehen und ob wir an die Existenz oder ihre Bestimmbarkeit glauben. In vielen wissenschaftlichen Disziplinen sind Grundbegriffe nicht klar und eindeutig definierbar; denken wir etwa an Kraft und Materie in der Physik, Leben in der Biologie, Gesellschaft in der Soziologie, Seele in der Psychologie etc. Und dennoch reden wir mit großer Selbstverständlichkeit über das, worauf sie referieren. Es versteht sich fast von selbst, dass innerhalb der Linguistik die Wahrheitsthematik keine große Rolle spielt, da rein formal, also grammatisch oder auch syntagmo-semantisch, eine Lüge oder ein Irrtum nicht von der Wahrheit unterschieden werden kann. Bedeutung und Referenz eines Satzes wie „Gestern war ich in Köln.“ können völlig klar sein, und trotzdem kann der Satz gelogen oder ein Irrtum sein, weil ich gestern mit vorgestern verwechselt habe oder eine polizeiliche Falschaussage beabsichtige. An dieser Stelle wird noch einmal deutlich, dass der Wahrheits101

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begriff ‚in Wahrheit‘ nicht auf Sätze, sondern auf Äußerungen in einer Kommunikationssituation bezogen ist und das Verhalten eines Sprechers meint; also die antike griechische Auffassung der aletheia als unverhüllter, nicht-täuschender Rede. Zu ‚wahren‘ Sätzen gerinnen sie erst nach eingehender Prüfung ihrer Äußerung in Sprechakten. Ein entscheidender, oft vernachlässigter oder geleugneter Punkt ist der Unterschied zwischen Signifikat und Referenz. Das sprachlich Bedeutete und das meist außersprachlich Bezogene liegen in der Regel auf ontisch und ontologisch unterschiedlichen Ebenen: Bedeutetes ist psychisch repräsentiert und wird von einer Sprachgemeinschaft symbolisch geteilt; Bezogenes kann sich in verschiedenen Seinsbereichen befinden. Und hier muss man sehr aufpassen, dass man etwa Zahlen nicht mit Zahlzeichen verwechselt oder Begriff und Sache. Wenn man sich mit den Referenzbereichen näher befasst, bewegt man sich als Philosoph im ontologischen Bereich. Entscheidend für meinen Gedankengang ist die Grundunterscheidung und Grenzziehung zwischen sprachlicher und außersprachlicher Realität, die in etwa der von Denken und Sein entspricht. Genau wie das Denken kann sich die Sprache selbstreferentiell auf sich beziehen und operiert insofern zirkulär, aber mit einem menschlichen Operator als Verursacher oder Subjekt.111 Die kognitive Hauptleistung der Sprache liegt in der Vergegenwärtigung von Nichtsprachlichem und Nicht-Gegenwärtigem in der aktuellen Kommunikationssituation. Sie stiftet außerdem Gesellschaft und Zugehörigkeit durch die Identifikation der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft, die eben die gleiche Sprache sprechen und damit zeigen, dass sie sich verstehen und verständlich machen können. Dies ist die sowohl soziale wie expressive Leistung von Sprache. Man kann darüber hinaus auch in einer Sprache über die Sprache kommunizieren. Das Medium bleibt gleich, man muss die Sprache nicht verlassen und ontisch über-steigen, transzendieren. Vielleicht hatte Hegel diese Selbstreflexivität im Blick, als er vom Ich als lebendigem Begriff sprach: Beide können sich auf sich und anderes beziehen und Die Sprache selbst kann sich nicht auf sich beziehen. Sie ist kein Aktor oder Subjekt im Sinne einer selbsttätigen Entität. Viele Texte sog. Strukturalisten enthalten Formulierungen, die voller Metaphern sind. Als ob Texte oder Diskurse (Abhandlungen; Erörterungen; Diskussionen) ein Eigenleben hätten, das unabhängig von einem Autor/Leser, Sprecher/Hörer wirklich wäre. Texte schreiben sich nicht selbst. Sie lesen sich auch nicht gegenseitig. Hier liegen Formen von entfremdeter und verdinglichter Rede vor, die dringend ‚dekonstruiert‘ werden müssen.

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das Ich weiß dies. Vielleicht kann man den Geist ähnlich denken: er ist wesentlich auf Nicht-Geistiges bezogen, kann aber auch sich selbst thematisieren (absoluter Bezug) und sich in seinen Produkten (Gesellschaft, Kultur) wiederfinden. Identität hätte dann die Bedeutung, im Fremden (Natur, Gesellschaft; Strukturen der Objektivität) sich selbst anzuschauen und als materialisiertes Menschenwerk wiederzufinden. Dabei bleibt die Selbständigkeit der Objekte erhalten, wird aber als Erzeugnis, Schöpfung, Kreation, Produkt erfahren, erkannt und durchschaut. Dies gilt für politische und ökonomische Systeme ebenso wie für kulturelle, inklusive der Religion. Es sind menschliche Kreationen, deren Sinn oder Intentionalität wir verstehen können. Zu den Fehlformen der Entfremdung und Verdinglichung, wie Karl Marx sie etwa mit seinem Begriff des Warenfetischismus112 analysiert hat, und zu einigen Erläuterungen ontologischer Welt- und Stufenmodelle kommen wir in Kap. II.3. Schwieriger auseinanderzuhalten sind meines Erachtens die Begriffe Existenz und Referenz. Beide sind keine Allgemein- oder Gattungsbegriffe in dem Sinne von Kategorien, unter die alles fällt, was als reales Ding, Ereignis oder Person gedacht wird; auch nicht im modalen Sinne von wirklich, möglich oder im psychischen Sinne von eingebildet, unter Drogen halluziniert etc. Wenn ich bloß feststelle, dass etwas existiert (da liegt etwas, dort bewegt sich etwas usw.), habe ich über dieses Etwas noch gar nichts ausgesagt. Ich könnte es nicht (wieder‑)erkennen und von Anderem unterscheiden, da ich keine Bestimmungen oder Merkmale zur Identifizierung habe. Es sind Reflexionsbegriffe, die formal unsere menschliche, sprachliche Bezugnahme auf alles erfassen, was uns epistemisch und pragmatisch zugänglich ist, dem wir in einer situativen Gegenwart begegnen können. Referenz ist nach meinem Verständnis der reichere Begriff; er schließt Existenz als hinreichende, aber nicht notwendige Bedingung ein. Wenn also etwas existiert, kann ich darauf referieren; aber nicht alles, worauf ich referiere, existiert. Mein Wunsch nach einem Lottogewinn existiert, aber nicht der Lottogewinn. Ich wünsche mir ja nicht den Wunsch, sondern den Lottogewinn. Wenn wir überhaupt unterscheiden wollen, brauchen wir klare Begriffe. Dass sich Begriffe auf das Nicht-Begriffliche beziehen, sollte genauso klar sein wie dass sich die Sprache wesentlich auf Nicht-Sprachliches bezieht. Innerweltliche 112

Vgl. den Abschnitt 4 im ersten Kapitel seines Hauptwerks Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Buch I: Der Produktionsprozess des Kapitals. (Marx 1971: S. 85–98).

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Transzendenz, wenn man einen großen Begriff verwenden will. Dass der Bereich der Bezugnahme ontologisch gestuft und sogar hierarchisiert ist, wenn man die kategoriale Struktur etwa der hegelschen Logik anerkennt, was man ja nicht muss, ist nachvollziehbar. Aber die gesamte Logik, gleich ob formal oder transzendental, existiert nicht im physischen Sinne eines aus sich selbst heraus Daseienden. Sie existiert als menschliches Produkt, gleich wie es sich aus der Natur und aus kulturellen Bedingungen heraus entwickelt hat.113 Niemand kennt den Autor (Urheber) der Sprache, der Religion, der Kunst, eines Witzes, eines Sprichworts, von Märchen, Sagen, Legenden etc.114 Wir wissen aber, dass all dies im Falle zum Beispiel einer atomaren Katastrophe auf unserem Planeten vernichtet würde und verschwände, inklusive der Speichermedien und Archive, und dass sich danach wohl wieder die Natur, aber nicht die Kultur ohne den Menschen, den Planeten zurückerobern würde. Und dass wir dann als Spezies wieder in der Natur erscheinen würden, wage ich sehr zu bezweifeln. Ein Besucher aus dem All würde vermutlich nichts finden, was auf uns hindeuten würde. Wenn Begriffe überhaupt etwas unterscheiden sollen, dann sollte ‚existieren‘ nicht bedeuten, „in einem Sinnfeld zu erscheinen“, denn dann existiert ja alles, was ich fantasiere, eben in dem Sinnfeld meiner Fantasie.115 Dies führt konsequent zu Ende gedacht in einen semantisch korrupten Relativismus  – oder nivellierenden Pluralismus. Damit etwas existieren kann, muss es selbständig (für sich) und wirklich (auf etwas wirkend), das bedeutet schlicht: objektiv sein. Dazu gehört auch die sogenannte Persistenz oder Konstanz von Dingen, das heißt, dass sie sich nicht in Bekannt ist ja Kants Rückgriff auf die Logik des Aristoteles, die er nur noch meinte, systematisieren zu müssen, woran dann Hegel kritisierte, jener habe die Kategorien bloß aufgesammelt und nicht begründet. Daher schrieb er seine Wissenschaft der Logik, den großen Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft. 114 Es gibt selbstverständlich Sonderfälle, etwa das Kunstmärchen im Gegensatz zum Volksmärchen. Hans Christian Andersen und Wilhelm Hauff sind wohl zwei der bekanntesten Autoren. Die Brüder Grimm dagegen sammelten mündliche Erzählungen und stellten sie in überarbeiteter Form zusammen. Interessant ist hier das Nebeneinander verschiedener Epochen am Beginn der Moderne: Fast alle Romantiker schrieben Märchen, und die Restaurationsphase (1815–1845) mit dem Biedermaier war hier gleichfalls sehr produktiv. Selbst der Vormärz kennt mit Büchners „Woyzeck“ (1837) das (politisierte) Anti-Märchen zur Sterntalergeschichte. 115 So verstehe ich jedenfalls die Sinnfeld-Ontologie von Markus Gabriel, die seit seinem Bestseller Warum es die Welt nicht gibt (2013) in der Welt ist. „Existenz: Die Eigenschaft von Sinnfeldern, dass etwas in ihnen erscheint.“ (Gabriel 2013: S. 264). 113

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ihre Atome und Moleküle auflösen, wenn ich mal kurz wegschaue oder nach einem Nickerchen wieder aufwache und der Film im Fernseher immer noch läuft. Schaut man in einschlägigen philosophischen Wörterbüchern nach, findet man die Nähe des Existenzbegriffs zu dem der Wirklichkeit, etymologisch sogar zu dem räumlichen „Herausstehen, Aufstellen“ als Vorhandenem (εξιστημι), vor der Hand sein, als ergreifbar, begreifbar. Man kann hier sehr frei mit Worten spielen. Die scholastische Tradition hat dann das Dasein vom Sosein unterschieden, um das unbestimmte Anwesende vom bestimmten Sosein des Anwesenden zu trennen. Damit wird auch der Unterschied zwischen dem bloß Denkbaren und dem realen Dasein eines Gedachten markiert. Würde man jetzt mengentheoretisch den Umfang des überhaupt Denkbaren mit dem real da-seienden Denkbaren vergleichen wollen, also rein extensional eine Anzahl von Elementen ins Auge fassen, würde man intuitiv von einer unendlichen Menge und einer endlichen Menge reden. Räumlichkeit und Endlichkeit sind also zwei wichtige distinktive Merkmale der Existenz. Geht man nun weiter zu Hegel und den Existenzialisten, müsste man sehr viel Voraussetzungsvolles besprechen, was aber für meinen weiteren Gedankengang nicht nötig ist. Alle fiktionalen Gegenstände sind nur im Moment der Rezeption wirklich, haben aber keine selbständige, von unserer Wahrnehmung unabhängige Wirklichkeit. Man könnte das mit dem Ausdruck ‚Eigenleben‘ veranschaulichen. Der poetische Reiz vieler Fantasieprodukte entwickelt sich ja, wenn ich leblosen Gegenständen oder Romanfiguren plötzlich ein Eigenleben einhauche, sodass die Heinzelmännchen, die guten Hausgeister über Nacht die Arbeit der schlafenden Bürger verrichteten, die sich am nächsten Morgen verwundert die Augen reiben. Wenn ich das Buch zuklappe oder aus dem Kino gehe, dann behalte ich vielleicht noch eine Vorstellung in Erinnerung, aber das Einhorn und Macbeth bestehen nur noch aus Signifikanten in Form von Buchstaben oder Pixeln. Genau das ist ihr Sein. Die große metaphysische Frage nach Gott reduziert sich bei genauerer Betrachtung auf den Glauben an Gott; seine Existenz liegt einzig in einem Versprechen, in einer Erwartung an einen Erlöser und Heilsbringer. Der Glaube selbst ist das Faktum, eine Tatsache. Die Referenz ist ein Komplex von Schriften, prophetischen Figuren, Interpretationen, Sagen und Legenden – eine große Erzählung, die sich in einer altehrwürdigen Institution, der Kirche, ganz gut eingerichtet hat. Der Glaube ist wirklich (energeia) und selbständig (ergon), er wirkt ja auf und für die Gläubigen. Aber ihr Zentrum, Gott, ist nichts, was außer als Glaubensinhalt existiert. Man darf von einer Idee sprechen. Einem Nicht-Gläubigen kann dieser Gott mit Vernunft105

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gründen nicht zugänglich gemacht werden. Dies unterscheidet die religiöse Fiktionalität von der logischen und mathematischen. Denn hier ist der Zugang sogar oft evident. Wer halluziniert, halluziniert; das ist eine Tatsache. Aber was er halluziniert, existiert nicht real, objektiv überprüfbar, sondern alleine in seinem Kopf oder Bewusstsein. Referenz als Bezugnahme auf Gegenstände und Sachverhalte kann auch nicht-dinghaft sein und ist nicht notwendig an die Existenz von physischen Gegenständen gebunden.116 Wer will die Existenz von Gefühlen, Empfindungen, Rollenerwartungen und Institutionen leugnen, obwohl sie nicht dinglich und räumlich auffindbar sind? Sie sind aber erfahrbar und wahrnehmbar – spätestens dann, wenn wir sie verletzen. Sanktionen können schmerzlich sein, und so bemerken wir die Existenz dieser ,Dinge‘ also spätestens im Negativen. Das Unbewusste existiert ebenso wie eine Gesellschaft, auch wenn beide ebenfalls keinen Dingcharakter haben bzw. unkörperliche Dinge sind. Aber sie wirken auf uns ein. Daher bleibt es weiterhin eine primäre Aufgabe der Ontologie, den Dingcharakter der Substanzmetaphysik bei psychischen und sozialen Entitäten zu entlarven. Menschen bewirken Handlungen und Unterlassungen von Handlung, ihre Resultate erzeugen neben Artefakten auch Scham, Gewissenskonflikte, Träume, Neurosen, Erwartungen an andere, Normen und Gesetze etc. Seinsbereiche lassen sich nur dadurch sinnvoll unterscheiden, dass man sagen kann, wo/wie/wann etwas existiert und wo/wie/wann nicht.117 Hier brauchen wir terminologisch die Unterscheidung von objektiv und subjektiv, real und ideal. Es sind epistemologische und nicht ontologischen Kategorien. Sie verweisen auf eine Referenz- oder Systemebene, über die etwas ausgesagt werden soll. ‚Objektiv‘ meint subjektunabhängig, was aber Subjekte in Beobachterstellung und als Berichterstatter voraussetzt. Diese Begriffe sind komplementär und bilden zusammen ein definierbares epistemisches Feld, so wie Lehrer und Schüler ein interaktives Rollenfeld in einem institutionellen Rahmen bilden. Man kann dann auch von einer notwendigen Einheit sprechen, weil die Ich habe lange darüber nachgedacht, glaube aber, dass hier Berkleys esse est percipi zutrifft, wenn man es strikt empirisch auslegt. Wahrgenommenwerden ist auch für Kant das Kriterium für Dasein, für Existenz. Wahrgenommenwerden ist aber bloß eine hinreichende und keine notwendige Bedingung der Existenz oder hier des Seins. Unsere Eltern haben ja wohl vor uns existiert, also bevor wir sie wahrgenommen haben. Der Bischof hatte schlicht vergessen, nach dem esse des percipi zu fragen! 117 Das ‚wo‘ ist wohl das Sinnfeld bei Gabriel, das rein formal gemeint ist. 116

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Begriffe alleine keinen Sinn machen. ‚Subjektiv‘ meint rein subjektbezogen. Damit gehören Subjekte aber ebenso zum Gegenstandsbereich des Objektiven, nämlich genau dann, wenn ein anderes Subjekt (Beobachter, Forscher, Lehrer, Arzt etc.) sie zu seinem Gegenstand macht, sei’s in seiner Wahrnehmung, sei’s in einer Handlung. Man kann sich auf beide Referenzebenen in zwei Weisen beziehen, einmal in der Ich-Perspektive und einmal in der Er/Sie/Es- oder Beobachter-Perspektive. Weil es sich um epistemologische Termini handelt, gehört zwangsläufig immer und notwendig ein erkennendes, sprachfähiges Subjekt dazu. Wo nichts real physisch existiert, ist aber nicht Nichts, sondern es gibt einen psychischen oder ideellen Bereich, in dem wir mit Konstrukten operieren, die den Charakter von Signifikanten haben und – wie Zahlen, Bedeutungen, Ideen oder fiktive Gestalten – darstellbare Zeichen sind. Der Mensch ragt als Schöpfer dieser Zeichen sozusagen aus der physischen Ordnung heraus und enthält in sich, in seinem Gehirn oder Bewusstsein, eine andere, psychische Ordnung, die der physischen durch Handlungen eine neue Struktur des Normativen und Ideellen verleiht. Der Ort des Auftretens der Zeichen ist definitiv unser Bewusstsein. Es kann natural bzw. uno actu biologisch als Gehirnfunktion beschrieben werden, was an der kulturalen Emergenz aber nichts ändert. Das Zeichen ermöglicht und bildet ein besonderes System der Kommunikation, nämlich die Darstellung in Formeln, Gleichungen, mythische Räumen, Romanen, Gedichten, Filmen, Spielen usw. Dieser Abschnitt hat notgedrungen ein ontologisches und epistemologisches Feld betreten und versucht, darauf aufmerksam zu machen, dass wir nicht nur in zirkuläre Verweisungen geraten, sondern auch eine Art von Überschreitung eines Feldes denken müssen, die in der Referenz als dem Außersprachlichen begriffen werden kann. Dabei kommt der Sprecher als dasjenige Seiende in den Blick, das referiert. Das Zeichen selbst ruht in sich als Laut oder Schrift und öffnet sich nur demjenigen Hörer oder Leser, der zum Kreis der Sprecher gehört. Sinn grenzt ab, sowohl Bedeutung von Nicht-Bedeutung wie auch Hörer/Leser von Kommunikationssituationen. Sinn ist aber prinzipiell von einer Sprache in die andere übersetzbar. Dafür sorgt das Moment des Signifikats im Zeichen, das lediglich in verschiedenen Signifikanten auftritt; die semantischen Nuancen sorgen für eine Freiheit in der Kommunikation, die jederzeit über Metakommunikationen eingeholt und befragt werden kann.

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II Der analytische Rahmen

2.2.3 System und Struktur Systeme sind organisierte Zusammenhänge, Ordnungsgefüge, die sich klar gegen eine Umgebung oder Umwelt abgrenzen lassen. Oft wird dieser geordnete Zusammenhang von Elementen als die Struktur eines Systems erfasst; diese kann sich ändern, ohne dass das ganze System sich ändert. Das Verhältnis von System und Elementen lässt sich logisch als Beziehung von Ganzem und Teil, Einem und Vielen denken. Paradigma ist der Organismus, der eine teleologische Struktur besitzt, in der jedes Element eine wohldefinierte Position in klar definierten Beziehungen zu anderen Elementen einnimmt. Man kann horizontale und vertikale Ebenen unterscheiden, die oft hierarchisch gestuft sind. Saussures Ziel war, die Sprachwissenschaft gegen andere Disziplinen wie Geschichte, Ethnografie, Anthropologie, Physiologie und Psychologie sowie sogar gegenüber der Phonetik und Philologie abzugrenzen.118 Dazu musste er ebenfalls das sprachliche Zeichen gegenüber anderen symbolhaften Zeichen wie Signalen, Gebärden, Symptomen usw. hervorheben, die zusammen die Semeologie bilden sollten. Chomsky nimmt in seinem zweiten Buch über die generative Transformationsgrammatik auf Saussures Begriff der langue und parole Bezug, betont in seinem Kompetenzkonzept aber den Erzeugungsprozess, also die Fähigkeit der Generierung von unendlich vielen möglichen Sätzen aus einer begrenzten Anzahl von Elementen und Regeln.119 Dabei erinnert er an Humboldt und führt auch den idealen Sprecher/Hörer ein, auf den Saussure mit seinem System der langue verzichten kann. Diesem Vorhaben dienen die Einleitung und der Anhang in den Grundfragen. Der eigentliche systematische Teil beginnt auf S. 76 mit dem Zeichenbegriff. 119 Auf eine ausführliche Darstellung der sehr komplexen Grammatiktheorie Chomskys möchte ich verzichten. Die Grundoperationen tauchen aber schon im Namen dieser Theorie auf: transformieren und generieren. „Unter einer generativen Grammtik verstehe ich ein Regelsystem, das auf explizite und wohldefinierte Weise Sätzen Struktur-Beschreibungen zuordnet.“ (Chomsky 1971: S. 19) Sie beansprucht das zu erklären (explizieren), was der Sprecher/Hörer implizit (unbewusst) kann und tut, nämlich Sätze beliebiger Menge aus einem begrenzten Repertoire von Elementen, Komponenten und Regeln zu erzeugen. Angenommen wird eine Tiefenstruktur, aus der der Sprecher/Hörer unter anderem mehrdeutig gestaltete Sätze in der realisierten Oberflächenstruktur grammatisch richtig erkennen und transformieren kann. Hier geht es um ein sehr verwickeltes Problem, wie etwa syntaktisch gleichgebaute Sätze eine ganz andere semantische Struktur für ihr Verständnis verlangen. 118

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Mein Ziel ist hier, auf die Idee der Vernunft und die Kreativität, die in der Sprache universell angelegt sind, in ihrer Arbeitsweise, in ihrem operativen Modus hinzuweisen. Unbegrenzt viele Sätze verstehen zu können (Chomsky); alles, was man meinen, auch sagen zu können (Searles Prinzip der Ausdrückbarkeit); „daß der Begriff alles  … und als die schlechthin unendliche Kraft anzuerkennen (ist), welcher kein Objekt  … Widerstand leisten  … könnte.“ (Hegel TW 6: S.  551)  – und für Hegel ist der Begriff das System der Begriffe, der logischen Denkbestimmungen oder Kategorien –, dass wir in, mit und durch die Sprache mit endlichen Mitteln unendlich Vieles und sie selbst erfassen, bestimmen, vermessen, ordnen, klassifizieren, verknüpfen und uns mitteilen können, dabei sogar unsere soziale Welt uno actu aufbauen – dies funktioniert nur, weil sie ein System ist. Es gibt an verschiedenen Stellen in den Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft unterschiedliche Definitionen des sprachlichen Systems, die je nach Kontext verschiedene Aspekte behandeln. Die grundlegendste scheint mir zu sein: „[D]ie Sprache ist ein System, das nur seine eigene Ordnung zulässt.“ (a. a. O., S. 27). Damit sind etwa das Sprechen mit seinen individuellen Abweichungen und Besonderheiten ausgegrenzt wie auch andere Zeichensysteme, zum Beispiel das Taubstummenund Morsealphabet, militärische und verkehrstechnische Signalsysteme. Diese fasst Saussure unter den übergeordneten Begriff der Semeologie (von gr. semeion, Zeichen), der Teil der Sozialpsychologie sei. Die griffigste und kompletteste Definition aber ist meines Erachtens diese: „Ein sprachliches System ist eine Reihe von Verschiedenheiten des Lautlichen, die verbunden sind mit einer Reihe von Verschiedenheiten der Vorstellungen; […] dieses In-Beziehung-Setzen […] erzeugt ein System von Werten.“ (Saussure 1967: S. 144) Sehr vorsichtig kann man ‚Werte‘ mit ‚Begriff ‘ assoziieren und den Zeichenbegriff mit dem ‚Wort‘. Seine Vergleiche mit dem Schachspiel legen dies nahe. Wenn er etwa erläutert, dass man eine verlorene Figur wie den Springer durch einen beliebigen passenden Gegenstand ersetzen kann, etwa eine Halmafigur, dann zeigt dies, dass das Bezeichnende immer nur im Kontext der anderen Zeichen operieren kann. Die Halmafigur in einem Schachspiel hat eine andere Bedeutung (Begriff) als in einem Halmaspiel, obwohl es dasselbe Bezeichnende, eben diese Figur ist; sie ist aber im Schachspiel ein anderes Zeichen. Sie hat hier einen anderen Wert. Schon im Zeichen selbst ist die Einheit von zwei unterschiedlichen Seinsbereichen, nämlich dem Lautlichen und dem Gedanklichen, angelegt; das Zeichen als Einheit ist wahrnehmbar und verstehbar für den, der seinen Gebrauch erlernt 109

II Der analytische Rahmen

hat. Das Systematische kommt mit der Artikulation ins Spiel, die aus zwei verschiedenen Bereichen päckchenweise Laut- und Vorstellungsverbindungen herausschneidet, die ab da eine Einheit bilden, eben das Zeichen. Mit dem Hören, später dem Sehen/Lesen von akustischen und optischen Signalen verbindet sich in einer Sprachgemeinschaft dann automatisch eine bestimmte Vorstellung, die aus den wohlgeordneten Reihen von Zeichen komplexe Satzbedeutungen hervorruft. Das Hervorrufen ist dabei ganz wörtlich gemeint: das Rufen eines Namens ist die Aufforderung für den Gerufenen, in die Gegenwart des Rufers zu treten. Wie unterscheidet nun die Sprache die einzelnen Zeichen? Anhand von distinktiven Merkmalen, die über Minimalpaarbildung (auch Opposition genannt) ermittelt werden können. Papa und Mama unterscheiden sich in den Phonemen /p/ und /m/. Bei Rad und Rat macht das /d/ oder /t/ den Unterschied. Die Pointe liegt nun darin, dass das an sich bedeutungslose Phonem eine bedeutungsunterscheidende Funktion besitzt.120 Von den grundsätzlich unendlich vielen Lauten, die wir hervorbringen können, selektiert die Sprache nur einige wenige. Vokale, Konsonanten und Diphthonge müssen auf der phonologischen Ebene, auf der die Bedeutung der phonetischen Klänge rekonstruiert wird, daraufhin analysiert werden, welche Phoneme bedeutungstragend sind. Das Ergebnis beschreibt dann gleichsam das Repertoire an klanglich realisierten, bedeutungsdistinkten Lauten und ist im Phoneminventar einer Sprache abgelegt. Das Kleinkind reagiert auf menschliche Stimmen direkter als auf andere Geräusche, es erzeugt auch spielerisch und lustvoll die Palette von allen möglichen Lauten, weil es die eigene Stimme ja hört, also etwas produziert, auf das seine Umwelt reagiert. In dieser bekannten Phase des Spracherwerbs „ist das Kind in der Blüte seiner Lallperiode imstande, alle denkbaren Laute zu erzeugen.“ (Jakobson 1972: S.  20) Diese Fähigkeit geht beim Übergang vom Lallen zum Sprechen verloren, aber der Punkt ist, dass das Kind letztlich aus einem sehr großen Repertoire nur die Varianten auswählt, die es aktiv zur Verständigung in seiner Sprache benötigt. Neben der ‚Erwachsenensprache‘ können durchaus abweichende Geheim- oder Privatsprachen mit Geschwistern oder peers bestehen. „Ein Kranker mit erhaltenem Wortsinnverständnis und lädiertem Phonemverständnis, der zum Beispiel die Unterscheidung der Liquidae verloren hat, kennt zwar die Bedeutung von Rippe und Lippe, aber die beiden Worte sind für ihn homonym …“ (Jakobson 1972: S. 42). Für Asiaten sind /r/ und /l/ nicht distinktiv, das /r/ kommt in ihrem Phoeminventar nicht vor.

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Kind





Frau

stöckelt



den

Weg

Ein

Mann

geht

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die

Straße

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torkelt

um

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Grundsätzlich unterscheidet die Sprachwissenschaft drei Systemebenen: die phonologische auf der Lautebene, die semantische auf der Wortebene und die syntaktische auf der Satzebene. Vertieft man sich in die einzelnen Disziplinen, ist man mit den verschiedensten Fachbegriffen für ein und dasselbe sprachliche Phänomen konfrontiert.121 Für den Zweck meiner Darstellung reichen freilich diese: Phonem als bedeutungsunterscheidender Laut, Morphem (Lexem) als bedeutungstragender Wortstamm122 und dann Satz auf der grammatischen oder Syntaxebene. Sprechakte gehören zwar zur Performanz, werden aber in einer Theorie der kommunikativen Kompetenz aufgehoben.

Abb. 18 Syntagma und Paradigma Unter einem System versteht Saussure auch eine Ordnung, in der sich die Zeichen als Glieder „alle gegenseitig bedingen und in dem Geltung und Wert des einen nur aus dem gleichzeitigen Vorhandensein des andern sich ergeben.“ (Saussure 1967: S. 136f.) Dieses Ensemble ist syntagmatisch in der Horizontale und paradigmatisch in der Vertikale gegliedert: Zeichen erhalten ihre Bedeutung und ihren Wert in einem syntaktisch (grammatisch) organisierten Satz, in dem Satzteile austauschbar sind, wodurch der Satz meist aber eine neue Bedeutung erhält. Ein recht verständliches und gut sortiertes Nachschlagwerk ist (Martinet 1973): Linguistik. Ein Handbuch. (Welte 1974): moderne linguistik: terminologie/bibliographie bedient vor allem die Erkenntnisse der generativen Transformationsgrammatik (vgl. Fn. 119). 122 Damit sind die funktionalen oder grammatischen Morpheme wie etwa Prä- und Suffixe, Flexionsendungen ausgeblendet. Wie gerade gesagt, die Fachterminologie ist weder einheitlich noch konsistent. 121

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Ich versuche dies an einem einfachen Beispielsatz mithilfe traditioneller grammatischer Begriffe zu verdeutlichen: „Ein Mann geht über die Straße.“ Wir haben drei Satzteile: Subjekt, Prädikat und Adverbiale. Das Subjekt ‚Ein Mann‘, das Prädikat ‚geht‘ und das lokale Adverbiale ‚über die Straße‘.123 Um den Systemcharakter zu verdeutlichen, bleibe ich für die Ersetzungen, also den Austausch innerhalb eines Paradigmas (Spalte), auf der Wortebene. Jeder hat eine Vorstellung oder ein Bild im Kopf, nämlich wie ein Mann über eine Straße geht. Das könnte sogar filmisch umsetzbar sein. Gehen wir spaltenweise von links nach rechts. Mit dem unbestimmten Artikel ist ausgedrückt, dass kein besonderer Mann gemeint ist, sondern irgendeiner. Schiebe ich nun die nächste Stelle hoch, wird der Satz ungrammatisch, weil ‚Eine‘ weiblich ist. Ändere ich ein Element, muss ich unter Umständen auch andere ändern, weil das Merkmal ‚Genus‘ eine Anpassung von Artikel und Nomen verlangt (Konsistenzregel). ‚Der‘ wiederum setzt voraus, dass dieser Mann bestimmt worden ist, also vorher dem Leser zum Beispiel als Herr Müller aus der Goethestraße bekannt gemacht wurde. In der zweiten Spalte kann ich die Nomen Frau und Kind einsetzen und muss wiederum auf Genus und gegebenenfalls Kasus achten. Und so fort. Das System der langue legt vorab sowohl im syntaktischen wie im semantischen Bereich bestimmte Relationen fest, die als grammatisch gelten und daher zulässig sind. So ist der syntaktisch einwandfreie Satz „Ein Baum geht über die Straße.“ aus semantischen Gründen unzulässig, weil Pflanzen das Merkmal der Ortsbewegung fehlt. Der Sprecher/Hörer muss also über ein implizites ontologisches Wissen verfügen, um sogenannte syntagmo-semantische Regelverstöße zu erkennen bzw. zu vermeiden. In einer erweiterten Semantik kann dann mithilfe von (Kon‑)Textualisierungen ein solcher Satz durchaus verständlich sein. Märchen, Legenden, Sagen und natürlich Filmgenres wie Fantasy, Science-Fiction, Horror etc. lassen solche Sätze zu, weil der Leser/Zuschauer um die Fiktionalität weiß. Die sozialisatorische Einverleibung der Zeichen über interaktive Lernprozesse geschieht über viele Kanäle: auditiv, optisch, haptisch, oral. Entscheidend ist die assoziative Verankerung im Gedächtnis, das heißt durch mentale Verknüpfungen von Lautzeichen mit Vorstellungen und Bildern. So lernen Kinder Wörter unter Man kann den Satz syntaktisch auch anders analysieren: NP + VP, aber das ist für meine Zwecke unerheblich und eher technisch. Wer sich eine semantische Komponentenanalyse etwas genauer anschauen möchte, kann das tun bei (Bünting 1978: S. 220–227).

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anderem durch aufmerksames Hören, Zeigen, intentionale Reiz-Reaktions-Ketten und bildhaftes Zuordnen. Ihre syntaktische Verknüpfung wird auch erlernt, wahrscheinlich aber über ein internes Spracherwerbsprogramm präformatiert, wie Chomsky vermutet. Somit kann jeder kompetente Sprecher den aus den (fast) gleichen Wörtern bestehenden Satz „Eine Straße geht über den Mann.“ als semantischen Unsinn entlarven, wobei strenggenommen sogar eine syntaktische Irregularität ins Spiel kommt: Unbelebten Dingen wie zum Beispiel Steinen, Straßen, Häusern können keine Verben der aktiven Bewegung oder Handlung zugesprochen werden, die syntaktisch als Subjekt-Prädikat-Verbindung gelten könnte. Hier müssen dann Passivkonstruktionen her, die aber nur bei transitiven Verben funktionieren. Wie man sieht, ist das, was man Kindern quasi nebenbei zumutet, ein sehr kompliziertes Lernprogramm. Man wäre nun beim Erwerb von Regeln der Syntax und Semantik angelangt, aber auch der Phonetik, denn nicht alle denkbaren Lautfolgen werden in einer Sprache realisiert. Um den Aspekt der Grammatik nicht zu sehr auszudehnen, möchte ich hier lediglich noch einen Punkt erwähnen, der eine Parallele zur Logik hat. Chomsky nennt seine Grammatiktheorie generativ. Zugrunde liegt ihr die humboldtsche Idee, dass aus einer endlichen Menge von Elementen eine unendliche Menge von Sätzen erzeugt werden kann. Dies gilt in vielerlei Hinsicht. Unser Lautrepertoire ist endlich, ebenso die Schriftzeichen, dann gewiss auch die Wortarten und Regeln der erlaubten und akzeptierten Wortverknüpfungen. Wenn Kinder also eine Sprache erlernen, müssen sie nicht alle denkbaren Kombinationen lernen, sondern es reicht ein gewisses Repertoire. Wenn man nun sehr vereinfacht die grammatischen Grundbegriffe der Wort- und Satzebene, also Wortarten (8–10 mit drei Hauptarten: Verben, Nomen, Adjektive) und Satzglieder (4: Subjekt, Prädikat, Objekt, Adverbiale), mit einem Grundwortschatz124 von zwischen 1000 und 2000 Wörtern kombiniert, ist man in der Lage, prinzipiell jede Äußerung im lebensweltlichen Kontext hervorzubringen, um anderen etwas Gemeintes mitzuteilen; dies gilt reziprok für das Hören und Verstehen von Äußerungen. Aristoteles benötigte 10 Kategorien, Kant kam auf 12 und Hegel schickt sie durch die drei Sphären des Seins, des Wesens und des Begriffs und verwandelt die Kategorien solange, bis sie im System der Begriffe in der absoluten Idee zur Ruhe gekommen sind. „Der Begriff ist alles.“ (TW 6: S. 551) Es ist Hier beziehe ich mich schlicht auf Wikipedia, weil die Zahlen stark variieren. Der Artikel bezieht sich wiederum auf verschiedene Forschungsergebnisse.

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aber, wie Kreis festhält, „eine endliche Zahl von Kategorien“, die „die ‚Kraft‘ haben soll, uneingeschränkt alles, was es gibt, begrifflich zu erfassen.“ (Kreis 2015: S. 314) Es ist für mich eine erstaunliche Tatsache, dass sich in so unterschiedlichen Disziplinen bestimmte Ideen, Motive und Grundgedanken treffen. Man kann natürlich über den Systembegriff diskutieren: „Das Wahre ist das Ganze.“ (Hegel TW 3: S. 24) Aber was Saussure, Chomsky und Hegel hier auf dem Gebiet der Sprache, und dazu rechne ich die Logik als spezielle Schnittmenge, an Gemeinsamkeiten aufweisen, kann zumindest das Problem des Endlichen und Unendlichen jenseits komplizierter metaphysischer Begriffskonstruktionen einsichtig machen. Unerschöpflich ist die Sprache, wie die alltägliche Kommunikation rund um den Globus, die Presse- und Medienbeiträge sowie alle literarischen Publikationen demonstrieren. Sie übersteigt die Aufnahmekapazität jedes Einzelnen von uns. Das Unendliche als Unbegrenztes ist also sprachlich betrachtet in jedem von uns, in jedem Einzelnen. Und wie Wunderlich festhält, hat der Spracherwerb nichts mit Intelligenz zu tun: „Wie verschieden die Sprachen auch sind, jedes Kind kann jede Sprache ohne irgendeine Instruktion lernen.“125 Einfach gesagt: Mit dem Wort ‚Tisch‘, das auf der Signifikantenebene aus fünf an sich bedeutungslosen Buchstaben besteht, können wir eine prinzipiell unerschöpfliche, unendliche Menge an singulären Dingen oder Gegenständen bezeichnen, die ‚tischartige‘ Eigenschaften haben. Gleiches gilt für Sandkörner am Strand von Eressos auf Lesbos, Bakterien im Darm des Autors, Atome im Universum, …. Wir können das weitertreiben, bis uns schwindlig wird, und bedienen uns bloßer Zeichen von begrenzter Materialität (Laute, Schrift), die ohne menschliche Vereinbarungen wertlos wären. Was aber muss in der kognitiven Entwicklung des Menschen passiert sein, dass er sich nicht nur über physische Dinge, sondern auch über seine Gefühle und Stimmungen, über Gedanken und fiktionale Welten unterhalten und verständigen kann? In fiktionaler Literatur oder Filmen können Bäume sprechen, das geht ohne weiteres. Schon Kinder wissen, dass das Fiktion ist, obzwar sie sich voll und ganz in (Wunderlich 2015: S. 249). Im letzten, dem achten Kapitel „Sprachuniversalien – was allen Sprachen gemeinsam ist“ untersucht er auch die Bedingungen des Spracherwerbs. Für meinen Gedankengang muss die differenzierte Argumentation hier nicht wiedergegeben werden. Es erscheint mir logisch, dass ohne ein irgendwie genetisch fixiertes Programm des Spracherwerbs das Erlernen eines so komplexen Kommunikationsmediums für Lebewesen nicht plausibel gemacht werden kann.

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solche Geschichten und Filme hineinziehen lassen. Sie wissen, dass in Comics die platt gedrückten Figuren in der nächsten Szene wieder lebendig sind und verstehen die Logik und Komik dieser fiktionalen Welt. Das Lachen löst den Widerspruch zwischen Realität und Fiktion auf. Es fungiert hier als Erkenntnisakt. Kinder erlernen an solchen Beispielen die Funktionsweise des menschlichen Geistes, der viel mehr kann, als der Alltag zu bieten hat. Aber in den Grenzübertritten werden die dabei überschrittenen Felder, Gebiete, Territorien, Sphären in ihrer Eigenlogik und Dignität be- und geachtet.

2.3 Semantik – Bedeutung und Sinn Der klassische Zeichenbegriff von Saussure, der die Linguistik als eigenständige Wissenschaft und zusammen mit dem Systembegriff den französischen Strukturalismus begründet hat, ist, wie erläutert, referenzfrei definiert und reinsprachlich auf der systemischen Sprachebene, unabhängig von der Rede, also dem Sprechen in Situationskontexten, konzipiert. Weiterhin muss die Frage nach der Bedeutung von der Frage nach der Wahrheit entkoppelt werden. Das ist philosophisch gesehen ein Affront, aber notwendig. Es hängt vom Erkenntnisinteresse oder Forschungsziel ab, welchen theoriestrategischen Stellenwert Begriffe haben. Wenn Begriffe terminologisch uneinheitlich verwendet werden, ist eine Verständigung schwierig, was aber vielleicht auch beabsichtigt ist. Viele Logiker und analytische Philosophen berufen sich beispielsweise auf Freges Ansicht, „den Wahrheitswert eines Satzes als seine Bedeutung anzuerkennen.“ (Frege 1962: S. 48) Den Wahrheitswert eines Satzes definiert er als den „Umstand, daß er wahr oder daß er falsch ist.“ (a. a. O.) Mit Bedeutung meint er jedoch die Referenz, den außersprachlichen Gegenstand. Wie passt seine Konzeption, die eine logisch-mathematisch präzise Idealsprache vor Augen hatte, zu dem lebensweltlich für mich viel interessanteren Problem, wieso sich Menschen mit unterschiedlichen Sprachen und kulturellen Hintergründen gleichwohl verständigen können? Meiner Meinung nach gar nicht. Wir verstehen Äußerungen unabhängig davon, ob oder unter welchen Bedingungen sie wahr sind. Wäre dies nicht der Fall, wären uns Romane und Erzählungen, Dramen und Gedichte unzugänglich, könnte man uns nicht belügen, täuschen, könnten wir uns nicht irren; steil formuliert: wären Sprache und Logik, Spiele und Mathe115

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matik gar nicht möglich. Bedeutung ist auch nichts, was an Worten oder Begriffen sozusagen klebt; sie ist aber auch nichts, was es unabhängig von (sprachlichen) Zeichen gibt. Wir Menschen legen fest, was die Zeichen bedeuten, was sie repräsentieren, für was sie stehen: Und das ist immer das Andere, nie das Zeichen selbst. Wir verfügen dann über ein Repertoire von Regeln und Zeichen, das es uns erlaubt, über alles, was es gibt und was es nicht gibt, zu kommunizieren. Dabei liegt es nicht in der Macht eines einzelnen Individuums, Bedeutungen und Regeln zu ändern.126 Geht man in die seelische Tiefe, dorthin, wo wir im Gehirn bzw. Bewusstsein die Produktionsstätte unserer Vorstellungen und Begriffe vermuten, wird man eine synästhetische Bilderwelt finden, die sich mit einer lautlich-lautlosen Zeichenwelt synchronisiert, gesteuert von einem unbewusst wirkenden Generator von Klassifikationssystemen. Dieser lässt strukturierte Zeichenketten entstehen, deren Sinn oder Bedeutung wir verstehen, weil wir sie schon kennen. Selbst an den abstraktesten Begriffen kleben Bilderreste, die wir assoziativ mit uns herumtragen. Wir haben sie aus der vorsprachlich strukturierten Welt ja in unser Bewusstsein aufgenommen und dort restrukturiert, transformiert und archiviert. Der Neurowissenschaftler Antonio Damasio (*1944) geht davon aus, dass unser Gehirn fortlaufend seine Umwelt kartografiert, also verbildlicht, was man mit bildgebenden Verfahren im Gehirn auch messen kann. Ich würde vermuten, dass aus dieser archaischen Werkstatt auch unsere Traumbilder stammen, die wir nicht kontrollieren und steuern können und die nach einer Grammatik zusammengesetzt werden, die die Psychoanalyse hermeneutisch zu entschlüsseln versucht. Wir dürfen nämlich nicht vergessen, welche Rolle unsere Emotionen bei alldem spielen. Dies kann ja bis zu traumatisch erlebten Situationen reichen. Jeder hat zu bestimmten Begriffen eigene Konnotationen, die positiv oder negativ skalieren. Und dennoch, das darf man auch nie vergessen, ist Bedeutung öffentlich. Es gibt keine Privatsprache, keine individuelle Semantik und Syntax, woher sollte sie kommen? Und es haben ja diejenigen Recht, die Geltung und Genese trennen, die also sagen, dass die Wahr Dazu fällt mir die Kurzgeschichte von Peter Bichsel Ein Tisch ist ein Tisch ein, die sich sozusagen selbst interpretiert. Sie passt zu Wittgensteins sog. Privatsprachenargument, dass eine private Sprache eben keine ist, sie ist strenggenommen gar nicht möglich, denn auch der alte Mann hat ja schon die allgemeine Sprache, bevor er sie umdefiniert und sich damit aus der (Sprach‑)Gemeinschaft löst. Die Geschichte ist abrufbar unter https://www.deutschunddeutlich.de/contentLD/GD/GT67cTischistTisch.pdf  (letzter Zugriff am 18.10.2020).

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heit einer Behauptung vollkommen unabhängig davon ist, wie wir phylogenetisch dazu gekommen sind, Behauptungen aufstellen zu können. Aber die Bedeutung der Zeichenkette, des Satzes, der die Behauptung artikuliert, ist intersubjektiv. Und die Wahrheit dieses Satzes hängt nicht davon ab, ob zwei oder drei Mitglieder einer Sprachgemeinschaft dies glauben, sondern ob es objektiv, also subjektunabhängig, überprüfbar ist in dem Sinne, dass irgendwer dies kann.127 In der Linguistik ist der aus Platons Dialog Kratylos stammende Streit zwischen ‚Realisten‘ und ‚Nominalisten‘ bekannt, den Saussure dann zugunsten der Nominalisten mit dem Merkmal der Arbitrarität entschied – ich werde auf diese Unterscheidung weiter unten genauer eingehen. Heinz Vater (2005) zitiert in seiner Schrift Referenzlinguistik aus dem Dialog: „Hermogenes sagt im Kratylos-Dialog zu Sokrates: ‚Kratylos hier, o Sokrates, behauptet, jegliches Ding habe seine von Natur aus ihm zukommende richtige Benennung, und […] es gebe eine natürliche Richtigkeit der Wörter, für Hellenen und Barbaren insgesamt die nämliche. […] Ich, meines Teils, Sokrates, […] kann mich nicht überzeugen, daß es eine andere Richtigkeit des Wortes gibt, als die sich auf Vertrag und Übereinkunft gründet. […] Denn kein Name irgendeines Dinges gehört ihm von Natur, sondern durch Anordnung […] derer, welche die Wörter zur Gewohnheit machen und gebrauchen.‘“ (Vater 2005: S. 41, Fn. 44) Man könnte Wittgensteins sogenannte ‚Gebrauchstheorie‘ der Sprache hier gleich anschließen. John Lyons beginnt in seiner Einführung in die moderne Linguistik von 1971 das Kapitel zur Semantik mit dem Hinweis, dass besonders die Philosophen von jeher an der Bedeutungsfrage interessiert waren, die eng mit den Themen der Wahrheit, der Universalbegriffe, der Erkenntnis und der Wirklichkeitsanalyse verknüpft war (Lyons 1971: S. 409f.). Karl Bühler vermerkt, dass die Darstellungsfunktion gegenüber den anderen immer schon die wichtigere war, schon weil Tiere nicht über diese Dimension der Sprache verfügen (also eigentlich auch keine haben, wie ich stark vermute). Gemeint ist selbstverständlich die Aussage-Wahrheit, nur davon möchte ich hier sprechen. Alle anderen Wahrheitsbegriffe sind metaphorisch oder betonen in der Relation von Sprache und Sache entweder den Aussagenden oder das Ausgesagte. Daraus entsteht dann die Schlagseite von Wahrheit als Wahrhaftigkeit, Glaubwürdigkeit im Sinne einer ethischen Tugendlehre oder Wahrheit als Unverborgenes, Unverhülltes im Sinne einer ontologischen Seinslehre qua Phänomenologie. Wahrheit ist kein ontisch Seiendes. Wahrheit entsteht erst durch die Rede, im Gespräch, wenn sich Menschen über etwas verständigen und dabei die Verantwortung für die Übereinstimmung von ihrer Rede und der Sache, über die sie reden, übernehmen (können!).

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Semantik lässt sich einfach definieren. Sie ist das „Studium der Bedeutung von Wörtern und grammatischen Konstruktionen“ (Vater 2005: S. 41). Schwieriger ist nun festzulegen, was Bedeutung ist. Vater führt verschiedene Unterteilungen dieses Begriffs an; Lyons differenziert deskriptive, expressive und soziale Bedeutung, was analog zu den drei Zeichenfunktionen nach Bühler verstanden werden kann. Die philosophisch und semantisch relevante war jedoch immer die deskriptive Bedeutung, während die beiden anderen Gegenstand der Pragmatik und Sozialpsychologie waren. Lyons unterscheidet dann weiter innerhalb der deskriptiven Bedeutung folgende Begriffe: Sinn, Referenz, und Denotation. Sinn ist metasprachlich und ungefähr das, was Saussure mit Wert meint: die Stellung der Zeichen oder Wörter in einem syntagmatischen Satzgefüge. „Unter dem Sinn eines Wortes verstehen wir seinen Platz in einem System von Beziehungen, die das Wort mit anderen Wörtern des Vokabulars eingeht.“ (Lyons 1971: S. 437) Referenz ist der Bezug von Wörtern auf Dinge – und Sachverhalte, wie ich meine (a. a. O., S. 413f.). Im Grunde ist es der Sprecher, der referiert, denn das Sprachsystem kommt ja, einmal etabliert, ohne Referenz aus (Lexikon). Denotation ist schwieriger zu definieren, da hier statt singulärer Termini generelle beziehungsweise generische Termini verwendet werden. Ich möchte dazu etwas ausführlicher zwei einfache Beispiele von Lyons besprechen. Um die Bedeutung der Bedeutung herauszufinden, fragt er harmlos: „Was bedeutet Kuh?“ (a. a. O., S. 410) Gemeint ist keine bestimmte Kuh, die dann vielleicht Erna heißt und auf einer Allgäuer Wiese nahe Leutkirch steht. Gemeint ist die Tierklasse ‚Kuh‘. Nun sind die Einzelexemplare dieser Art sicher in vielem voneinander unterschieden, aber alle haben bestimmte Elemente gemeinsam, aufgrund derer wir einzelne Exemplare der Art Kuh zuordnen können. Wir finden diese gemeinsamen Merkmale durch Vergleich. Dieser endet zwar in begrifflichen Unterscheidungen, die aber aus Objektmerkmalen hergenommen sind. Obwohl wir Erna noch nie gesehen haben, können wir deshalb beim Erstkontakt aufgrund einer Beschreibung bzw. Definition des Wortes Kuh feststellen, dass Erna eine Kuh und kein Esel ist. Wir tun dies nach den wesentlichen Merkmalen, die die Kuhart zum Beispiel von anderen Arten der Gattung Wirbeltiere unterscheidet. Hier nun taucht erstmals die Frage auf, ob diese wesentlichen Merkmale, die die Art oder Gattung von Einzelexemplaren charakterisieren, auf Seiten des Objekts, hier der Kühe, oder auf Seiten des Subjekts, also des Sprechers liegen. Es geht hier um den sogenannten Universalienstreit, der die Frage betrifft, ob das Allgemeine, das ich im Vergleich von einzelnen Dingen und Sachverhalten feststellen kann, also 118

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meist Eigenschaften wie Farbe, Form, Anzahl, etc., real und als selbständiges Ding losgelöst vom menschlichen Bewusstsein existiert (Platonismus, Begriffsrealismus) oder bloß eine Bezeichnung, ein Wort ist (Nominalismus). Wer annimmt, dass es so etwas wie Röte, Grünes oder Rundheit, Viereckigkeit oder die Zahlen drei, zehn etc. unabhängig von Dingen gibt, an denen es wahrgenommen wird, wäre BegriffsRealist – was dem normalen Sprachgebrauch und common sense zuwiderläuft. Die platonische Ideenlehre ist aber dieser Art, dass sie ideale Vorstellungen als wirklicher (weil perfekt!) ansieht als ihre Konkretionen, die ja tatsächlich immer imperfekt, lädiert, ungenau, mangelhaft sind. Die Idee sei sogar a priori vorhanden und das Einzelne habe an ihr bloß teil (methexis). Der Nominalist sagt ganz klar, die Bezeichnungen rühren vom Menschen her, nicht von der Sache. Die Nominalisten glauben, dass die Merkmale aufseiten des Objekts liegen, das heißt, dass die Arten und Gattungen ontologisch ‚real‘, aber immer in Einzelexemplaren realisiert sind und keine eigenständige Existenz beanspruchen können. An dieser Stelle verheddert sich der Begriff des Realismus, weil der Nominalist dem Allgemeinbegriff ja keine reale Existenz, sondern nur eine ideale als Abstraktionsprodukt zugesteht, der Platoniker aber der Idee oder dem Allgemeinen eine sogar apriorische Existenz vor den Einzeldingen, den Individuen, zubilligt. Aristoteles vertrat schon eine vermittelnde Position, indem er zwar die abgetrennte Existenz der Universalien ablehnte (chorismos), das Allgemeine aber in die Einzeldinge verlegte. Die Universalien sind dann eine zweite Substanz, die Akzidenzien, die die erste Substanz, die ousia, kategorial bestimmen, individuieren sozusagen. Es gibt also verschiedene Spielarten, die aber für das Problem der Bedeutung keine Rolle spielen. Ich kann den Satz „Kühe sind Wirbeltiere.“ unabhängig von einer dahinterstehenden Theorie verstehen, ob es Wirbeltiere als selbständige Tierart gibt oder nicht. Nun würde die Sache aber noch komplizierter, so Lyons, wenn man das Frage-Beispiel auf Tisch bezieht. Kühe könne man biologisch noch durch Art- und Gattungsmerkmale klassifizieren. Aber Tische sind keine natürlich entstandenen Dinge, sondern sind von Menschen gemacht, erfüllen einen bestimmten Zweck und unterscheiden sich in sehr vielen Hinsichten: Form, Größe, Material, Zweck. Immerhin sind sie noch physisch fassbar. Um es noch komplizierter zu machen, müsste man weiter fragen, wie es mit Wörtern wie Wahrheit, Schönheit, Güte steht. Wir gleiten also in der Bestimmung der Bedeutung von physischen Gegenständen (natürlichen und gemachten) zu abstrakten, psychischen und normativen ‚Gegenständen‘. Nach einer Durchsicht von sehr unterschiedlichen Aspekten der Bedeu119

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tung (Benennen von Gegenständen, Referenz, Synonymie und Homonymie, Mehrdeutigkeit, Antonymie, Konzeptualismus und Mentalismus, ostentative Definition, Kontext, Bedeutung und Sprachgebrauch) kommt Lyons zu dem Ergebnis, „daß es unnötig und auch nicht wünschenswert ist anzunehmen, Wörter hätten eine bis ins Letzte festgelegte Bedeutung.“ (a. a. O., S. 421) Vielmehr seien sich die Sprecher im Sprachgebrauch über die Bedeutung der verwendeten Wörter, was dann auf Sätze und Äußerungen ausgedehnt wird, weitgehend im Klaren, um Missverständnisse auszuschließen. Er nennt das die ‚Unbestimmtheit der Bedeutung‘. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf zwei Philosophen eingehen, die sich in ihrer jeweiligen Theoriekonzeption mit den Begriffen der Bedeutung und der Referenz auseinandergesetzt haben. Daran wird deutlich, wie verwoben Diskurse und Theoriestrategien sind, aber auch, wie alt die Fragen sind, die uns heute noch immer beschäftigen.

Abb. 19 Habermas Jürgen Habermas (*1929) geht in seinem Aufsatz „Zur Kritik der Bedeutungstheorie“ (Habermas 1988) drei unterschiedlichen Typen der Bedeutungstheorie 120

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nach, deren Systematisierung beziehungsweise bewusste „Stilisierung“ (a.  a.  O., S.  113) er im bühlerschen Modell der Sprachfunktionen findet. „Es besteht eine dreifache Beziehung zwischen der Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks und a) dem mit ihm Gemeinten, b) dem darin Gesagten und c) der Art seiner Verwendung in der Sprechhandlung. Normalerweise erschöpft sich die sprachliche Bedeutung in keinem dieser drei Bezüge.“ (a. a. O., S. 106) Dem Gemeinten ordnet Habermas den Intentionalismus zu (Grice, Bennett, Schiffer), dem Gesagten die formale Semantik (Frege, früher Wittgenstein, Dummett) und der Verwendung die Gebrauchstheorie der Bedeutung (später Wittgenstein, Bloomfield, Morris, Skinner). Das Ziel von Habermas ist eine „Theorie der Sprechhandlung, die den richtigen Kern aller drei Bedeutungstheorien berücksichtigt.“ (a. a. O., S. 125) Der Ansatzpunkt seiner Kritik liegt darin, die Grenzen der Semantik aufzuzeigen, die sich aus Vereinseitigungen der einzelnen Funktionen ergeben: der Darstellung (Propositionen: Wahrheitsgeltung), des Ausdrucks (Expressivität: Wahrhaftigkeitsgeltung) und des Appells (Normativität: Richtigkeitsgeltung). Wenn wir eine Sprechhandlung verstehen, dann wissen wir, welche Art von Gründen der Sprecher für seine Geltungsansprüche auf Nachfrage anführen muss. Habermas steuert auf eine Handlungstheorie zu, in der das kommunikative Handeln als verständigungsorientiertes zentral ist. Die in lebensweltlichen Interaktionen von sprach- und handlungsfähigen Subjekten immer implizierten Geltungsansprüche (s. o.) laufen in der Regel unproblematisch mit, können bei Bedarf aber in ‚Diskursen‘ thematisiert und über Argumente eingelöst werden. Der Punkt ist nun, dass in kommunikativen Interaktionen nicht allein ‚Bedeutungen‘ mitgeteilt werden, also Informationen im weitesten Sinne, sondern gleichzeitig wird die soziale Situation mit ihrer Struktur überhaupt erst durch sie erzeugt. Die Sprecher/Hörer agieren in Rollen, sie befolgen Normen und entsprechen Erwartungen, stellen sich dar und erzeugen beim Anderen Eindrücke, Erwartungen, Bestätigungen etc. All dies leisten kompetente Sprecher und Handelnde mithilfe des Mediums Sprache uno actu.128 Der zweite Philosoph, den ich hier anführen möchte, ist Richard Rorty (1931– 2007). In seinem erkenntnistheoretischen Hauptwerk Der Spiegel der Natur (1979/

Die Schule der sog. symbolischen Interaktionisten hat dazu Beispiele in Hülle und Fülle beschrieben. Wir bemerken in der Regel dies uns Selbstverständliche, wenn wir mit Fremden in Kontakt treten. Dann zeigt sich, dass die „Definition der sozialen Situation“ (Thomas) in anderen Kulturkreisen ganz anders sein kann.

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dt. 1987) unternimmt er den Großversuch einer Dekonstruktion der kantischen Transzendentalphilosophie, die ja im Kern eine Kritik der damaligen Metaphysik und Ontologie (Leibniz, Spinoza) unter dem Eindruck des skeptischen Empirismus von Hume darstellt.129 In Kapitel VI befasst sich der Autor mit der „Erkenntnistheorie und Philosophie der Sprache“. Die Begriffe der Bedeutung und der Referenz sind selbstverständlich zentral und werden entlang der philosophischen Ansätze in ihrer theoriestrategischen Bedeutung untersucht. Anhand seiner Helden Davidson und Dummett (später kommt Putnam dazu) führt Rorty zunächst vor, wie unterschiedlich der Bedeutungsbegriff gewertet wird. Davidson möchte vor allem die Fragen, wie die Sprache einerseits und die Erkenntnis andererseits funktionieren, voneinander trennen. Eine Theorie der Bedeutung (Sprache) und eine Theorie der Wahrheit (Erkenntnis) sind demnach zwei Paar Schuhe. Wenn man die Unterscheidung zwischen Bedeutungsfragen und Tatsachenfragen (Quine) übernimmt, würde die Bedeutungstheorie nach Davidson zu einer empirischen Theorie, die sich auf den Bereich und den Gebrauch der Sprache beschränkt. Ganz anders Dummett, der die Analyse von Bedeutungen als „erste, wenn nicht gar die einzige Aufgabe der Philosophie“ (a. a. O., S. 288) erachtet. Sprachphilosophie wird zum Fundament der Philosophie, erkenntnistheoretische Frage werden korrekterweise als Fragen der Bedeutungstheorie formuliert. Der Begriff der Referenz hat nun für Rorty die strategische Bedeutung, den erkenntnistheoretischen Teil einer „unreinen“ Philosophie der Sprache anzugreifen, als deren Hauptvertreter er Putnam vor dessen Kehrtwende, die 1977 mit dem Werk Realism and Reason stattfand, ausmacht. Einschub: Was mir an den Ausführungen Rortys aufstößt, ist der literarische Aufwand, den er betreibt, um der schlichten Frage nachzugehen, ob sich ein Wort auf eine Sache bezieht, die außerhalb des Wortes liegt und die im Wesentlichen dessen Bedeutung konstituiert, und dass diese Bezugnahme mit dem terminus technicus ‚Referenz‘ bezeichnet wird. Das Ganze nennen die Linguisten ‚Referenz-Semantik‘ und es ist wohl die Basis, die sich alle Sprachenlerner In der Einleitung gibt Rorty dem Leser einen klaren Leitfaden für die Lektüre, der auch sein zentrales Anliegen verdeutlicht: Verabschiedung 1. der Vorstellung, Erkennen sei akkurates Darstellen und 2. der Idee des Bewusstseins als eines erforschbaren inneren Raums im Menschen zur Klärung der Bedingungen von Erkenntnissen (Rorty 1987: S. 16).

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zunächst aneignen müssen, um ein Paradigma für Bezugnahmen bzw. Intentionalität zu verinnerlichen. Kinder können eben erst spät so etwas wie abstrakte Regeln und Entitäten, Rollen und Hypothesen, Kausalität und Strafmündigkeit verstehen. Sie stecken sich zuerst Dinge in den Mund (orale Phase), um sie kennenzulernen. Nehmen wir die Beispiele von Lyons Kuh und Tisch. Wollte man eine Theorie der Referenz aufstellen, könnte damit meiner Meinung nach innerhalb der Philosophie nur eine ontologische Theorie gemeint sein, die eben verschiedene Seinsarten und ‑stufen unterscheidet, was wir aber im Prinzip alles schon von Aristoteles kennen. Kuh gehört dann zu den natürlichen Lebewesen, Tisch zu etwas vom Menschen Erfundenem und Hergestelltem. Das, was meines Erachtens zählt, ist eben die Tatsache, dass die Wörter, die wir brauchen, in der Regel schon da sind, in unserem Gedächtnis oder in Lexika aller Art, und dass wir mithilfe sprachlicher Äußerungen mit diesen Wörtern, sofern sie grammatisch und pragmatisch korrekt verwendet werden, uns unter anderem auch auf Außersprachliches beziehen können und dabei eben auch die objektive Welt berühren. Es gibt Kühe und Tische. Und wir beziehen uns mit den Wörtern Kuh und Tisch genau auf Exemplare dieser biologischen Art oder Einrichtungsgegenstände. Habermas würde nun sagen: Oha, jetzt hast du aber einen Wahrheitsanspruch geltend gemacht, wenn du behauptest, es gebe Kühe und Tische. Wie willst du das rechtfertigen? Dann bleibt mir doch nichts anderes übrig, als mit Rorty und seinen Helden auf eine Weide zu gehen und auf Kühe zu zeigen. Oder in mein Arbeitszimmer, Wohnzimmer, Küche etc. und auf Tische zu zeigen. Und dabei jedes Mal die Wörter Kuh und Tisch zu murmeln, wie man das mit sprachlernenden Kindern macht. Ja, die Wahrnehmung ist unser einziges körperliches, physiologisches Verbindungsglied zwischen uns und der Welt. Soweit ich sehe, streitet das Rorty auch nicht ab, wenn er „die Nahtstelle zwischen Sprache und der Welt, an der die Demonstrativa ihre Arbeit leisten“ als die Stelle bezeichnet, „an der die Referenz am unproblematischsten ist“ (Rorty 1987: S. 332) Ohne unsere Organe der Wahrnehmung könnten wir wahrscheinlich keine zwei Wochen überleben. Es wird dann deutlich, dass sich Rorty von rein sprachphilosophischen Analysen nicht mehr viel verspricht und die erkenntnistheoretisch infizierte, „unreine“ Philosophie der Sprache für unbrauchbar hält. Schaut man sich das Ende des Kapitels an, 123

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reibt man sich verwundert die Augen und fragt sich, wie es möglich ist, dass sich Menschen verschiedener Kulturen und Gesellschaften überhaupt verständlich machen können, ohne diesen ganzen Apparat von Theorien oder Texten zur Kenntnis genommen zu haben. Es ist natürlich überlegenswert, ob eine strikte Trennung von Sinn und Bedeutung zweckmäßig und zielführend ist. Terminologisch machen sie als technisch eingeführte Fachbegriffe innerhalb der Theorie sicherlich einen Unterschied, aber außerhalb dieser Theorien stiften sie eher Verwirrung und befeuern unnütze Wortklaubereien. Meist werden sie ohnehin synonym verwendet. An den semantischen Rändern ergeben sich Nebenbedeutungen, die aufgebauscht werden (Sinn des Lebens, Du bedeutest mir alles) und den gemeinsamen Kern, dass nämlich Personen in der gegenseitigen Reflexivität von Erwartungen (Erwartungserwartungen) übereinstimmen, das heißt identische Bezugsobjekte meinen und erfolgreich kommunizieren können. Mead definiert Sinn als objektiven Bestandteil gesellschaftlicher Erfahrungs- und Handlungsprozesse mit drei Komponenten: 1. die Geste eines Individuums, 2. eine Reaktion auf diese Geste durch ein zweites Individuum und 3. die Vollendung der durch die Geste eingeleiteten Handlung. Dieser pragmatische Ansatz ist verwandt mit dem Begriff der Intentionalität, ergänzt um den erfolgreichen Abschluss einer Handlung.130 Hier wird also vorausgesetzt, dass die Individuen die Gesten verstehen, das heißt ihre Bedeutung schon kennen. Sinn ist daher der weitere Begriff. Bedeutung ist enger an Zeichen gekoppelt, aber nicht damit verklebt. Wenn ich zu jemandem sage, dass er mir viel bedeutet, möchte ich eine Wertschätzung und Nähe zum Ausdruck bringen, aber kein Verständnis irgendeiner seiner Äußerungen. Ebenso ist mit dem Sinn des Lebens etwas anderes gemeint als das Sinnverstehen von Texten, sozialen Institutionen und Normen. Beide Begriffe beziehen sich aber auf den Zugriff, den wir Individuen auf eine gemeinsam geteilte Lebenswelt haben, die wir begreifen, verstehen, akzeptieren, kritisieren und verändern können. Ohne einheitlich verwendete Symbole, die dann eine iden-

Vgl. (Mead 1973: S. 121). Zwischen Habermas und Luhmann gab es in den 1970erJahren die Diskussion über Sinn als Grundbegriff der Soziologie (vgl. (Habermas und Luhmann 1971), die die unterschiedlichen Theoriestrategien innerhalb einer funktionalistisch und handlungstheoretisch ansetzenden Sozialwissenschaft verdeutlichte.

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tische Bedeutung für die Benutzer dieser Symbole haben, kann diese intersubjektiv hergestellte Praxis aber nicht gelingen. Der Ausdruck Sinn sollte daher meiner Meinung nach dafür reserviert werden, dass wir überhaupt etwas als etwas, das von einem anderen Lebewesen geäußert wird, verstehen können. Das kann bewusst und intentional sein, womit alles Sprachliche, Gestische, Signitive einbegriffen ist; das kann aber auch, wie bei den Tieren oder auch Pflanzen, funktional sein. Intentionalität schließt Reflexivität und Symmetrie, also Nachfragen, Begründungen, Erklärungen usw., ein. Funktionalität ist mehr oder weniger reines Beobachten und asymmetrisch. Wir können heute verstehen, wie ein Ameisenstaat funktioniert, der über Düfte zum Beispiel einer Einheit zugehörige Mitglieder identifiziert und in einer sehr komplexen, aber instinktgesteuerten Arbeitsteilung die Art erhält. Der Grundbegriff wäre dann Information. Mit Informationen kann ich aber auch Maschinen füttern und Operationen auslösen, die ein erwartetes, erwünschtes Ergebnis produzieren. Information setzt keine von einem Subjekt beabsichtigte Mitteilung voraus. Sie hat ihren Wert primär auf der Rezipientenseite und setzt wiederum Unterscheidungen und Selektionen voraus. Sinn ist daher konstitutiv auf Verstehensakte des Erlebens und Handelns bezogen. Nichtsprachlich wären Gefühle, Körperhaltungen, Stimmungen, Blicke, Riten, Traditionen, Institutionen etc. Bedeutung ist dagegen spezifischer auf linguistische Zeichen (Signale, Symbole, Begriffe) bezogen. Hier operieren (äußere) Referenz und (innere) Semantik als Bezugnahmen auf eine reale äußere Dingwelt und eine reale innere Vorstellungs- und Begriffswelt, die intern als ‚ideal‘ kategorisiert wird. Die Nebenbedeutung von ‚Bedeutung‘ ist Wichtigkeit und Wert im Sinne von Relevanz. Die Frage nach der Bedeutung, die etwas oder jemand für einen hat, zielt auf dessen Wichtigkeit und Wert. Damit ist immer eine Rangfolge angesprochen, die als Priorität oder Präferenz ausgedrückt werden kann. Wenn ich jemandem zu verstehen geben, dass er mir viel bedeutet, bin ich weit entfernt von irgendeinem Sinnbegriff. Die meisten sprachanalytischen Untersuchungen beschäftigen sich mit dem Thema, wie die Sprache sich wahrheitsfähig auf die objektive Welt bezieht bzw. beziehen kann. Ob dies nun Namen sind, fiktive Figuren, innere Ereignisse wie Schmerzen und Träume und dergleichen, immer geht es darum, was die Sprache hier eigentlich transportiert. Meiner Überzeugung nach ist immer dann, wenn es nicht um Transportfragen geht  – also um eine Interaktion zwischen einem 125

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Sprecher und einem Hörer, die ihre Rollen kommunikativ wechseln können –, die Sprache als zugrundeliegendes System gemeint; und in dieser rein logischen Sphäre kann die Sprache alles Mögliche sagen und bedeuten, sogar das Nachdenken darüber, was sich angeblich nicht ausdrücken lässt. Alles, was sich darüber ontologisch sagen lässt, ist, dass es sprachlich ist, also als Zeichen existiert. Mehr nicht. Und hieraus entstehen dann die vermeintlichen Probleme, die therapiert oder ausgemerzt werden müssen.131 Kants Kritik der reinen Vernunft, Hegels Logik, Wittgensteins Tractatus: Sie alle liefern keine Wirklichkeitserkenntnis im engeren Sinne. Sie reflektieren bloß die Bedingungen der Möglichkeit unserer Rede über die Wirklichkeit und arbeiten transzendentallogisch. Viele Interpreten von Hegels Logik betonen, dass er eine reine Sinnsprache benutze, in der es im Wesentlichen um die Entwicklung oder Rekonstruktion eines Kategoriensystems geht, mithilfe dessen wir Zugriff auf unsere Welt, sei’s die natürliche, sei’s die soziale, haben. In der Tat könnte man hier von einer Bedeutungstheorie sprechen, die aber so tut, als hätte sie ihre Begriffe aus dem reinen Geist erzeugt. Und das ist falsch. Grundlage jeder Logik ist die Sprache und insbesondere die Grammatik als deren Struktur; die Semantik muss mit ihr gleichursprünglich gedacht werden, ihre Genese spielt selbstverständlich bei Geltungsfragen keine Rolle; sie wird gleichsam vorausgesetzt oder präsupponiert. Es ist schon merkwürdig, dass alle Logiker und Sprachanalytiker wie selbstverständlich voraussetzen, dass wir schon alle sprechen und denken können. Was wollen sie dann genau noch herausfinden? Wie wir sprechen und denken? Wer isst und verdaut, benötigt keine Theorie über die physiologischen Prozesse, die sich während dieser Vorgänge in unserem Körper abspielen. Wer spricht oder denkt, braucht keine Theorie der Sprache (Grammatik) oder des Denkens (Logik), um sich zu verständigen und mental zu orientieren. Der theoretische Versuch einer Präzisionssprache muss als gescheitert gelten, schon weil maschinisierte Systeme keine individuellen Spielräume dulden würden. Ironie, Metaphern, bildhaftes Sprechen überhaupt, die Kraft der emotionalen Sprache der Lyrik und Poesie, das Ornamentale und Aussparende, das zwischen den Zeilen zu Lesende und Anspielende,

Auf die Parallele zum Denken habe ich schon hingewiesen. Das Denken benötigt keinen fremden Stoff von außerhalb, es kann sich mit sich selbst begnügen. Aber was kommt dabei heraus? Näheres in Kap. III.3.

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all dies würde verschwinden. Dabei wäre das eigentlich Interessante ja herauszufinden, warum wir genau das gut verstehen, obwohl es hier keine Eindeutigkeit gibt.

2.4 Pragmatik – Rede und Diskurs Sobald Sprache von der theoretischen Ebene in die praktische Anwendung geholt wird, wenn es also um Sprechen geht, tut man etwas mit den Wörtern. How to do things with words, so der Titel von John L. Austins (1911–1960) bahnbrechendem Werk, das 1962 postum erschien und in dem er anstelle der Wahrheit von Sätzen die Bedeutung von Äußerungen in ihrem Handlungscharakter des Behauptens, Aufforderns, Bittens, Versprechens etc. darlegte. Das ist zwar immer noch Theorie, aber praktisch anwendbare. Speech acts, Sprechakte, das war nun das Zauberwort innerhalb der Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie.132 Dabei spielen der Kontext, die Situation, Sprecherabsichten und auch ein normativ-institutioneller Rahmen entscheidende Rollen für das Verständnis von Äußerungen. Äußerungen sind im Unterschied zu Sätzen, Urteilen oder Propositionen situiert. Sie werden von Sprechern in Situationen getätigt, indem sie Sätze gebrauchen. Grundsätzlich spielt es keine Rolle, ob die Äußerung mündlich oder schriftlich erfolgt. Ironie etwa kann in beiden Fällen erkannt werden, wenn der Kontext bekannt ist. Aber ein Satz an sich kann nicht ironisch sein, ebenso wenig wie er an sich wahr sein kann.133 Er wird es erst durch den Sprecher, der ihn äußert, indem er ihn verstellend oder sachstimmig gebraucht. Das wussten die alten Griechen schon genauso gut, Aristoteles’ Rhetorik bezeugt dies. Die Rhetorik, um mit dieser alten Praxis des Sprechens zu beginnen, hat als Kunst der Beredsamkeit das öffentlichen Leben der griechisch-römischen Antike in Politik, Recht (und Lobpreisungen ‚bedeutender Männer‘) bestimmt.134 Die Inszenierung der Rede vor Publikum mit dem Ziel, politische oder juristische Ent Es gibt Evidenzen, dass Austin von Ideen Wittgensteins beeinflusst war. Wenn nun ein ganz Schlauer daherkommt und sagt: „Aber der Satz ‚Paris liegt am Rhein.‘ ist doch unabhängig von einem Sprecher falsch, sein Wahrheitswert also objektiv feststellbar.“, dann sage ich, der Satz spricht sich nicht von selbst, sondern du hast ihn gerade als Beispiel angeführt. Man kann das auch anhand aller platonischen Beispiele wie Zahlen, Figuren etc. durchgehen. 134 Vgl. (Fuhrmann 2007): Die antike Rhetorik. Eine Einführung. 132 133

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scheidungsträger von einem interessegeleiteten Standpunkt zu überzeugen (Persuasion), dem meist ein anderer entgegengestellt war, verlangte vom Redner großes Geschick und Fertigkeiten, die erlernbar waren. Es geht um zwei formale Kompetenzen: erstens trefflich und packend zu formulieren und zweitens überzeugend zu argumentieren. Dies war ohne Sachkenntnisse natürlich nur schwer erreichbar, weshalb Rhetorikschulen immer auch Unterweisungen in sachliche Wissensgebiete einschlossen. Zur Zeit der attischen Demokratie ist die Auseinandersetzung zweier ‚Schulen‘, den ‚Sophisten‘ und den ‚Philosophen‘, vor allem um Platon und Aristoteles, gut überliefert. Platons Dialoge Gorgias und Phädrus handeln davon. „Die Rhetorik war nämlich das Lieblingskind der Sophisten, der großen Aufklärungsbewegung des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr.“ (Fuhrmann 2007: S. 9) Dieser Bewertung als Aufklärer hätte Platon sicher nicht zugestimmt, da er die Sophisten im Gorgias scharf anging; sein Schüler Aristoteles schloss sich ihm darin an. Beide hielten das, was die Sophisten lehrten, für Überredungskunst, während sie selbst mit Argumenten überzeugen wollten. Platon zielte auf Wahrheit, um zu gesichertem Wissen (episteme) zu gelangen, Aristoteles ging von der Wahrscheinlichkeit aus, wie sie in gut begründeten Meinungen (endoxa) von den meisten Experten vertreten wurde, und suchte eine besser begründete, die nahezu Wahrheit sei. Genau hier setzt die wichtige Erkenntnis Austins an, dass die Bedeutung von Sätzen nicht wahrheits‑, sondern gebrauchsabhängig ist. Er unterscheidet konstative von performativen Sprechakten. Zu den ersteren gehören Behauptungen oder Feststellungen, die wahrheitsfähig sind („Es regnet.“, „Du lügst mich an.“), was aber noch lange keine Bedingung für ihre Verständlichkeit qua Bedeutung ist; zu den zweiten gehören zum Beispiel versprechen, geloben, taufen, begrüßen, die im Akt der Äußerung das tun, was sie sagen (to perform: ausführen; „Ich gelobe hiermit, dir immer treu und ergeben zu dienen.“ „Ich taufe dich auf den Namen ‚Odysseus‘.“). John Searle (*1932) hat dann knapp 15  Jahre später in seinem Werk Speech Acts (1969), das in der deutschen Übersetzung den Untertitel Ein sprachphilosophischer Essay trägt, diesen theoretischen Ansatz als ein linguistisches und sprachphilosophisches Paradigma etabliert, an das Habermas (und Apel) mit seiner Universalpragmatik und Diskurstheorie anknüpfen konnte.

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Neben der Verständlichkeit ist die Akzeptabilität ein weiteres Kriterium für das Gelingen von Sprechakten. Nachdem ich die Intention eines Sprechers, also was er mir wie und warum mitteilen möchte, verstanden habe, habe ich als Hörer immer noch die Möglichkeit und Freiheit, sein Ansinnen zurückzuweisen. Ich kann seine Bitte ausschlagen, seinen Befehl verweigern, seine Behauptung bestreiten usw. An diesen Beispielen sieht man leicht, dass zur Beherrschung einer Sprache außer einer reinen Sprachkompetenz, die jedenfalls nach Chomsky in der Fähigkeit besteht, grammatisch korrekte Sätze zu generieren und zu verstehen, noch sehr viel mehr gehört. Wenn ich jemandem das Recht oder die Legitimation abspreche, einen bestimmten Sprechakt auszuführen, geht es um weit mehr als Sprache. So kann ein Urteil ‚im Namen des Volkes‘ durchaus völkerrechtswidrig sein135 und die Verkündigungen des Wahlsiegers bei offenkundiger Wahlfälschung und ‑behinderung zu Aufruhr und vielleicht dem Sturz des Regimes führen. Ohne in die Details und die Geschichte der Sprechakttheorie einzusteigen, soll zumindest deren Grundgedanke knapp erläutert werden. Indem wir sprechen, reden, uns unterhalten, vollziehen wir Sprechhandlungen wie fragen, bitten, versprechen, befehlen, drohen, behaupten, bezweifeln, urteilen, taufen, loben etc. Jede sprachliche Äußerung lässt sich in zwei Komponenten zerlegen, einen illokutionären oder performativen Akt und einen propositionalen Akt. Letzterer bezieht sich auf den Sachverhalt, den wir mitteilen wollen, der erstgenannte auf die Art und Weise, als was wir den Sachverhalt verstanden wissen wollen. Nehmen wir das einfache Beispiel, dass es in Köln regnet. Dies wäre schon die Proposition: „Es regnet in Köln.“ Als Frage kann ich sagen: „Regnet es in Köln?“ oder explizit und höflich: „Darf ich Sie fragen, ob es in Köln regnet?“ Als Bitte funktioniert die Aussage nur bedingt, etwa wenn sie an den Regengott adressiert ist, verbunden mit einem Opfer, wo aus bitten beten wird: „Ich bete, dass es regnen möge.“ Als Wunsch aber klar: „Ich wünsche (mir/dir/uns), dass es in Köln regnet (regnen möge).“ Der in der Philosophie häufigste, weil geadelte Sprechakt, ist der konstative oder assertorische der Behauptung „Ich behaupte, dass es in Köln regnet.“

Vgl. die Problematik der ‚Nürnberger Prozesse‘ (1945–1949) und die Rolle des Volksgerichtshofes als Instrument der NS-Terrorherrschaft von 1934–1945.

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Was nun der kompetente Sprecher lernen muss, ist, dass bestimmte illokutionäre Akte a) nur unter bestimmten Bedingungen angebracht, das heißt überhaupt (logisch) möglich, situativ oder institutionell statthaft und b) meist völlig entbehrlich sind. Bezogen auf mein Beispiel: a) Eine Drohung wäre hier sicher einfach lächerlich, ein Befehl ebenso usw. b) Meist sagen wir nicht, „Ich behaupte, dass es in Köln regnet.“, sondern schlicht: „Es regnet in Köln.“ Nun kann alleine bei konstativen Sprechakten überhaupt sinnvoll von Wahrheit gesprochen werden, da Fragen, Befehle, Wünsche und dergleichen nicht wahrheitsfähig sind.136 Allein deshalb hat mir nie eingeleuchtet, was die Bedeutung von Wörtern und Sätzen mit der Wahrheit zu tun haben soll. Schon um bei wahrheitsfähigen Sätzen entscheiden zu können, ob sie wahr oder falsch sind, muss ich sie doch vorher verstanden haben. So lernen Kinder die Sprachbedeutungen auch nicht über deren Wahrheitsgehalt, die ein metasprachliches Phänomen ist. Vielmehr werden sie korrigiert, wenn sie ein falsches Wort benutzen, was aber eher den regulären Gebrauch im Sinne von richtig, also einer Regel folgend, meint. Bedeutungen werden deiktisch oder empraktisch (im Handlungsvollzug) beim Sprechen vermittelt und eingeübt. Es geht dabei um den richtigen Gebrauch von Wörtern und Sätzen, um ihre Anwendung und die Zuordnungsregeln von Merkmalen und Begriffen, und nicht um die Wahrheit von Äußerungen. Wir haben Märchen erzählt bekommen über Riesen und Zwerge, Tischlein-deckdich, das tapfere Schneiderlein, das Christkind und den Osterhasen und allerhand Heldensagen. Wir haben das alles verstanden, wir kannten die Bedeutung auf der Erzählebene; erst viel später, als Erwachsene, haben wir den pädagogischen und didaktischen Sinn dieser Geschichten durchschaut. Aber schon davor wussten wir längst, dass Zwerge und Riesen, Einhörner und Herkules bloße Erfindungen sind. Trotzdem lassen wir uns von den Geschichten über sie auch heute noch verzaubern. Anders gelagert ist dann schon die Frage, warum und wie die Griechen etwa ihren Glauben an die Götter verloren haben, wo diese nun weilen und ob der siegreiche Christengott nicht genauso illusorisch ist wie die polytheistischen Götter. Die Frage, ob bestimmte fiktive Figuren ‚existieren‘, wie einige Sprachphilosophen mit einer

Frege hat wohl Entscheidungsfragen mit Propositionen gleichgestellt, da sie ein Ja oder Nein ermöglichen und damit in eine Behauptung umgeformt werden können: „Ist es wahr/stimmt es, dass es in Köln regnet?“ In einer Frage wie „Wie spät ist es?“ kann ich aber keine Proposition erkennen.

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eigenen fiktionalen Ontologie137 begrifflich sehr verzwickt darlegen wollen, sollten sie mal mit Kindern diskutieren. Die kennen diesen Unterschied ab einem gewissen Alter sehr gut! Die philosophische Pointe der Sprechakte im Zusammenhang einer Handlungstheorie ergibt sich aber erst aus der Verbindung der Sprachfunktionen nach Bühler mit den Geltungsansprüchen, die sich aus den Weltbezügen eines sich abgrenzenden Ichs oder Subjekts im Sinne Habermas’ ergeben. Geltung ist ja etwas, dass gilt und eine Übereinkunft zwischen Subjekten voraussetzt. Geld gilt, Werte gelten, und die Ansprüche, die wir sprechend indirekt (implizit) oder direkt (explizit) erheben, gelten ebenso. Habermas vermutet, dass diese Geltung sogar universal ist. Er meint damit, dass sie gleichsam an ein situations- und kontextunabhängiges Auditorium gerichtet ist, was bei der Wahrheit unmittelbar einleuchtet. Dieses Gelten (von Sachverhalten) nennen wir dann Tatsache. Es kann nicht sein, dass eine Tatsache wie „Paris liegt an der Seine.“ für die eine Gruppe gilt, für die andere aber nicht. Nun ist die sprachlich fundierte Konstruktion einer Handlungs- und Kommunikationstheorie anspruchsvoller als eine reine Sprachtheorie. Sprechen ist eines, kommunizieren allerdings noch etwas mehr, insofern auch nicht-sprachliche und semiotische Elemente eine Rolle spielen. Wer Kommunikation untersuchen will, ist auf ein Set von Requisiten, Räumen und Orten, Zeiten, Bekleidung und Accessoires angewiesen. Hier spielen Status- und Machtsymbole unter Umständen eine große Rolle, Einladungen, Sitzordnungen am Tisch etc., Handkuss, Verbeugung, Knicks oder Händeschütteln bei der Begrüßung. All dies und noch viel mehr ist bedeutungsgeladen und sinnhaft und es bedarf je nach Anlass und Zweck einer guten Kenntnis der Situation und deren sozio-kulturellem Kontext, wie man sich im Sinne der Normen und Etikette richtig zu verhalten hat und vor allem: wer was wem wie sagen darf. Eine völlig andere Intention und Reichweite hat die Universalpragmatik im Sinne Apels und Habermas’. Beide versuchen mit unterschiedlichem Schwerpunkt, die sprachlich situierten Bedingungen möglicher Verständigung vor allem schon aus unseren lebensweltlichen Kommunikationen zu rekonstruieren. Damit er-

Saul Kripke beschäftigt sich mit so etwas. In seinem Werk Referenz und Existenz (1973) geht es hauptsächlich um eine „Ontologie fiktiver und mythischer Gestalten“ (S. 8). Ich muss zugeben, dass mich die Lektüre dieser Vorlesungsreihe ziemlich ratlos – oder um im Mengen-Jargon der Logiker zu bleiben: „leer“ – zurückgelassen hat.

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hält dieses Projekt einen expliziten oder quasi-transzendentalen Charakter, wird mit dem ‚immer schon‘ reden und verstehen eine apriorische Verstehenssituation heraufbeschworen. Die Sprache tritt für beide Autoren in die Fußstapfen des Bewusstseins und öffnet die Subjektivität hin zur Intersubjektivität. Wahrheitsfragen werden kommunikativ erhoben und diskursiv entschieden. Habermas hat seine Diskurstheorie später in eine umfassendere Theorie des kommunikativen Handelns integriert, die im Grenzbereich soziologischer und philosophischer Theorien angesiedelt ist. In dem Sammelband von Karl-Otto Apel (1922–2017) Sprachpragmatik und Philosophie (zuerst 1976)138 kommen Linguisten und Philosophen, Opponenten und Proponenten zur Frage pragmatischer Universalien zu Wort. Jürgen Habermas legt darin mit seinem Aufsatz „Was heißt Universalpragmatik?“139 eine ausführliche Auseinandersetzung vor allem mit der Sprechakttheorie und seine Aneignung vor. Als universalpragmatische Funktionen nennt er drei: 1. Darstellung eines Sachverhalts mithilfe eines Satzes, 2. Äußerung einer Sprecherintention und 3. Herstellung einer interpersonalen Beziehung zwischen Sprecher und Hörer. Als Kern der Theorie macht er die Ermittlung des performativen Status von sprachlichen Äußerungen aus. Entscheidend ist dabei die Frage, wann und warum wir bereit sind, die Sprechakte mit ihren impliziten Geltungsansprüchen anzunehmen. Dies hängt nun an der Verpflichtung des Sprechers, bei Bedarf über seine implizit erhobenen Geltungsansprüche Rechenschaft abzulegen, womit gleichzeitig der Übergang von kommunikativem Handeln zum Diskurs angelegt ist. Man erkennt hier unschwer das antike Motiv des logon didonai. Die Unterbrechung einer Handlung, vor allem einer Praxis, erfordert immer Distanzierung, Reflexion, Handlungsentlastung durch Metakommunikation, Auszeit, Entschleunigung, Beratung, was spezifische Regeln verlangt. Darum geht es. Und darum, dass diese Regeln selbst begründet, das heißt rational motiviert sind. In einem größeren handlungstheoretischen Zusammenhang lassen sich Sprechakte vier typisierten Handlungsformen zuordnen, die den Geltungsbereichen und Systemwelten oder Umwelten des Ichs entsprechen (vgl. Abb. 20)140. Die Sprache erhält einen Sonderstatus, weil sie das Medium zwischen dem Ich und seinen Umwelten ist. Zudem grenzen wir uns mithilfe der Sprache von diesen Umwelten ab. Die (Apel 1982). (Habermas 1982). 140 Es handelt sich um eine eigene Erweiterung der Abbildung aus (Habermas 1982: S. 246). 138 139

132

2 Zuhause draußen sein (Sprache)

Natur wird in äußere und innere geteilt, wobei wir im Inneren Bewusstsein (Ich) und Unbewusstes (Es und Über-Ich) weiter differenzieren könnten. Dagegen wird die anatomische und physiologische Organstruktur der äußeren Natur zugerechnet. Umwelt

Innere Natur

Äußere Natur Gesellschaft

Sprache

Grundbegriff

Expressivität

Kausalität

Intentionalität

Bedeutung

Sprechakttyp

expressiv

konstativ

regulativ

‚situativ‘

Handlungstyp kognitiv

instrumentell kommunikativ sprechen

Geltungsanspruch

Wahrheit

Wahrhaftigkeit

Richtigkeit

Verständlichkeit

Abb. 20 System der Ich-Abgrenzungen (nach Habermas) Die schematische Darstellung ist wie jede dieser Art nur als grobe Orientierung zu verstehen. Die Grundidee der Kommunikationstheorie Habermas’ besteht in der grundlegenden Differenzierung von Lebenswelt und Diskurs. Was im Alltag in der Regel reibungslos abläuft, weil wir alle über entsprechend sozialisierte und individuierte Kompetenzen verfügen, die wir für die verschiedensten Lebensbereiche und Funktionssysteme benötigen, wird mit einem Einstellungswechsel bei Bedarf problematisiert, thematisiert und konsensuell gelöst. Was hier so einfach klingt, etwa nach dem Motto ‚man kann und muss über alles reden‘ oder ‚es gibt für alles eine Lösung‘, ist tatsächlich ausgesprochen voraussetzungsvoll. Hält man sich die Macht und Wirklichkeit eingespielter Praktiken und Denkweisen in allen Systemen und Lebenskreisen der Gesellschaft vor Augen, selbst in Paarbeziehungen, Familien, Freundschaften und auch erotischen Eskapaden, die über einen relativ (sanktions‑) freien normativen Rahmen verfügen, ist das Infragestellen von gewohnten, routinemäßig zugerichteten Motiven und Begründungen mitunter sehr schmerzlich. Auf Organisations- und Institutionsebene geht es schnell an Privilegien, Pfründe, Machtpositionen und Prestige.141 Was man sich aber stets vor Augen halten muss, wenn man auf die Geschichte als Entwicklungsdrama der Menschheit schaut, ist die Tatsache, dass sich über alle Konflikte und Kriege hinweg die Einigung auf Bünd141

Warum sollen zum Beispiel Steuerzahler aus dienstleistenden Berufen die Dienstwagen des Managements von Dax-Unternehmen mitfinanzieren?

133

II Der analytische Rahmen

nisse und Staaten, Nationen und Institutionen in sprachlich geregelten Verträgen, Urkunden, Gesetzen und Charten niedergeschlagen hat und fester Besitz einer Wertegemeinschaft wurde. Im oben gezeigten Schema befänden wir uns dann bei den regulativen Sprechakten innerhalb der sozialen, intentionalen Welt, die Richtigkeit im Sinne von Recht und Gerechtigkeit, also Normativität oder Sollgeltung beanspruchen. Vom Prozess der Zivilisation, der ja als eine Domestizierung unserer animalischen Triebstruktur mit all den Deformationen und Sublimierungen in den Heldensagen und Mythen der Religionen erzählt wird, war schon die Rede. Und alle Klassiker der Staatstheorien betrachten, wie unterschiedlich ausgeformt dann auch immer, den Staat als Garanten der Freiheit und Befriedung eines Bürgerkriegs, womit der bloßen Naturgewalt entsagt und das Recht des Stärkeren zugunsten der Schwächeren, also der Mehrheit, aufgehoben wird.142 Physische Gewalt kann in modernen politischen Systemen allein mit der Monopolmacht des Staates legitimiert werden. Sie unterliegt einer rechtlich einklagbaren Kontrolle. Selbstverständlich löst man auch heute noch Konflikte kriegerisch oder gewaltsam. Das Aufbauen von Drohkulissen, begleitet mit symbolischen Machtdemonstrationen, gehört zum Handwerkszeug jedes machtbewussten oder skrupellosen Machtpolitikers. Gleichzeitig ist die Beobachtung solcher Prozesse durch die Medien genauer und globaler geworden. Verhandlungen und diplomatische Lösungen werden im Grunde als nachhaltiger und dauerhafter favorisiert. Damit soll noch einmal hervorgehoben werden, dass zur Vernunft, zum vernünftigen Reden, auch Normen und Institutionen gehören, die unser Zusammenleben eben gewaltfrei regeln. Das bedeutet nicht konfliktfrei. Im Gegenteil sind Konflikte und Interessengegensätze geradezu alltäglich und unvermeidbar. Aber die Humanität besteht in der Einhegung und Regulierung des Gewalt- und Aggressionspotentials, das wir voneinander kennen, weshalb wir uns ja gerade vor uns selbst schützen müssen. Zum Schluss, zugegeben etwas stiefmütterlich behandelt, soll auf das Schweigen und die Stille zumindest hingewiesen werden. Das ‚beredte Schweigen‘, die Schweigeminuten, die Schweigepflicht, das Verschwiegensein, das Schweigerecht vor Gericht  – all diese Beispiele verweisen auf die Bedeutung des Nicht-Sprechens und Nietzsche hat das in der Genealogie der Moral ausgehend vom Begriff des Ressentiments nacherzählt. Dazu Nietzsche SA III: S. 207–346 und Sverre Raffnsøe (2007): Nietzsches „Genealogie der Moral“. Paderborn.

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2 Zuhause draußen sein (Sprache)

negieren damit das Nichts als Nichts. Selbst die Abwesenheit von Sprache ist vielsagend. Indem ich schweige, drücke ich zum Beispiel meine Trauer und mein Mitgefühl aus; oder mein Versprechen beziehungsweise meine Verpflichtung, intimste Informationen über Krankheiten, Verfehlungen oder einfach Befindlichkeiten nicht preiszugeben; oder meine Person nicht als offiziellen Kommunikationspartner ins Spiel zu bringen. Wie auch immer: Schweigen kann bewusst oder unbewusst sein, es ist eine Verweigerung von Kommunikation, die aus Schutz, Hilflosigkeit oder Angst, aber auch aus ethisch klar begründbarer Verantwortung heraus erfolgt. Selbst in der Musik, der tönenden Kunst, ist die Pause bedeutungstragend.143 Im Schweigen, in der Stille, erlischt die Kommunikation nicht. Sie kann sogar ein Höchstmaß an Mitgefühl, Einverständnis und Respekt ausdrücken. Das Schweigen ist ein Akt der Freiheit des Menschen, der darin besteht, durch Abwesenheit seines hervorstechendsten Wesensmerkmals, der Stimme oder Sprache, seine Anwesenheit unter seinesgleichen mitzuteilen.144 Das wäre ‚weniger als nichts‘ im Diskursdenken. Jemandem die Hand halten, die begreift, jemandem in die Augen zu schauen wie in einen Spiegel – das sind doch die Bilder, die uns begleiten, wenn wir im Leiden, im Sterben einem geliebten oder unbekannten Menschen schweigend sagen, dass er nicht alleine ist. Dass wir alle nicht alleine sind, sondern ein Miteinander haben, so ein guter Wille vorhanden ist.

2.5 Fazit „Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück.“ (Wittgenstein)145

Im Wort, der Rede, dem Gespräch als Unterredung und dem Universum der Texte verkörpert sich alles, was sich den Philosophen über die Jahrhunderte an Grund Dazu auch Kap. II. 3.3. Nebenbei gesagt, scheint mir dies das theologische Motiv des abwesenden Gottes zu sein, der trotzdem da ist. 145 Wittgenstein 1971b: § 116, S. 80. 143 144

135

II Der analytische Rahmen

einsichten und Begriffen aufgedrängt hat: Logos, Wahrheit, Sein, Vernunft, Freiheit, Subjekt, Gesellschaft usw. Für unsere alltägliche Verständigung untereinander als soziale Gattungswesen sowie über soziale wie kulturelle Grenzen hinweg und zur Konfliktbewältigung auf politischer Ebene im nationalen wie internationalen Raum haben wir nichts Gescheiteres als unsere vielstimmige Sprache. Sie macht uns unabhängig von der raumzeitlichen Anwesenheit der besprochenen Gegenstände. Wir können im Erzählen die Vergangenheit vergegenwärtigen, wir können Erlebnisse erinnern und sie lebendig in den Erzählraum vor uns stellen; wir können über schriftliche Dokumente mit Personen und über Themen längst vergangener Epochen im Gespräch bleiben – freilich einseitig und allenfalls mit Zeitgenossen im hermeneutischen Diskurs. Wir haben die Rede und das Gespräch, um uns gegenseitig von den besten Lösungen für Konflikte und Probleme der Gegenwart zu überzeugen. Für die Zukunft können wir Pläne schmieden, Utopien entwerfen, mit einem Wort: Möglichkeiten real erscheinen lassen. Die sprachliche Vergegenwärtigung ist sogar unabhängig davon, ob das Besprochene existiert oder nicht. Hieraus entsteht die Poesie, die Kunst, die Kultur. Denn die sprachliche Bezugnahme, die Referenz, umschließt sowohl reelle wie ideelle Seinsbereiche. Gemeinsam ist ihnen zunächst das distinktive Merkmal: außersprachlich. Auf der Metaebene aber auch: selbstbezüglich sprachlich, etwa in der Grammatik, Logik und Rhetorik. Eine Sprache oder ein Symbolsystem, das nur in sich kreiste, wäre leer und letztlich funktions- und damit sinnlos. Alle unsere Institutionen sind symbolisch verfasst und sprachlich in Verträgen und Gesetzen festgehalten. Das Vertrauen, das aus der persönlichen Bekanntschaft entsteht, und die daraus entwickelte Treue und Loyalität Personen gegenüber, die Gesten des Handschlags und des Ehrenworts, ist dem abstrakteren Bedarf an Legitimation und Rationalität von Funktionssytemen gewichen. Ungebrochen ist die Macht der Bilder und der Wörter, die schlagartig Mythen zerstören und Hass und Gewalt säen, aber auch zu ikonischen Sätzen werden können. Hinsichtlich des Mensura-Satzes kann mit der Sprache, die eine Wesensbestimmung des Menschen ist, das Maß schlechthin für die Dinge angenommen werden. Die Dinge werden in Sätzen sprachlich durch Prädikation bestimmt und erst damit kognitiv und kommunikativ verfüg- und mitteilbar gemacht. Sprache erweitert damit die subjektive zu einer intersubjektiven Wert- und Sinnsphäre, die Dinge fungieren als materielle Grundlage der Referenz. Die Komplexität jeder Sprache kann systematisch in ihren Funktionen der Darstellung einer gemeinsam geteilten ob136

2 Zuhause draußen sein (Sprache)

jektiven Welt, dem Ausdruck einer subjektiv eigenen inneren Welt sowie der über Sprache hergestellten sozialen Welt rekonstruiert werden. In und durch die Sprache entsteht mithin auf symbolischer Ebene die Erzeugung von Objektivität, Subjektivität und Intersubjektivität. Als Medium ist sie den Subjekten vorgängig, wenngleich sie von ihnen erzeugt wird; diesem Erzeugungsprozess liegt aber eine sehr lange Entwicklung zugrunde, wie sie jedem geistigen bzw. sozialen Produkt eigen ist. Eine Urheberschaft ist da nicht mehr auszumachen. Was die Bedeutung sprachlicher Zeichen betrifft, liegt diesem kein mystischer Ursprung zugrunde, sondern schlichte Übereinkunft und Bewährung im Zeichengebrauch. In gewissem Sinne verdoppelt das Zeichen die Welt der Dinge: in eine physisch-naturale und in eine psychisch-mentale. Der Unterschied: Zeichen können als Begriffe, die immer allgemein (für jeden gleich) sind und nur deshalb gelten, unendlich viele Dinge unter sich versammeln. Darin liegt ihre immense kognitive Leistung. Wer ‚Sand‘ sagt, referiert auf eine unzählbar große Menge von Sandkörnern, und es wäre unsinnig, jedes Körnchen zu individuieren. Wer ‚Mensch‘ sagt, macht sprachlich gesehen nichts anderes. Aber wir Menschen haben zu einem individuellen Sandkorn eine andere Beziehung als zu einem individuellen Menschen, den wir etwa zufälligerweise lieben, der mein Sohn, meine Oma oder mein Freund ist. Wir vermögen uns sogar in besonders feierlichen Momenten zu allen Menschen als Gleichen zu verhalten. Dann verspüren wir Gänsehaut und ein „ozeanisches Gefühl“ (Freud).146 Auch der letzte Skeptiker, der sich im Typus des Solipsisten inszeniert, muss reden.147 Wenn er auch andere überzeugen wollte, was an Paradoxie nicht zu überbieten wäre, hätte er bereits vieles vorausgesetzt und in Anspruch genommen, was er eigentlich abstreiten müsste. Jeder Philosoph, vor allem wenn er sich an dem Fundament seines philosophischen Gebäudes zu schaffen macht, muss die Sprache voraussetzen. Sonst wäre sein Beginn stammelnd und gestikulierend. Selbst Hegel setzt in seiner Logik, die den Anfang als Anfang thematisiert, seine Muttersprache

Im ersten Kapitel seines Werks Das Unbehagen in der Kultur (1930) geht Freud auf diesen Ausdruck ein, den sein Brieffreund Romain Rolland geprägt hat. Er selbst verspüre kein solches Gefühl, interpretiert es aber als „ein Gefühl der unauflösbaren Verbundenheit, der Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen der Außenwelt.“ (Freud 1930: S. 198). 147 Hier ist natürlich Max Stirner (1806–1856) zu nennen, der in seinem Werk Der Einzige und Sein Eigentum (1844) eine sehr ungewöhnliche, aber aufgeklärte Position vertritt, die von vielen Autoren, unter anderem Marx und Nietzsche, nicht nur zur Kenntnis genommen wurde. 146

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II Der analytische Rahmen

voraus, lädt darin den Leser zum Mitdenken ein. Und dabei ist die Sprache epistemisch wie ontologisch von anderem Kaliber als das Glas Wasser und die Scheibe Brot, die wir täglich zu uns genommen haben müssen, um als Organismus überhaupt funktionieren zu können. Kein Philosoph käme indes auf die Idee, das Atmen als eine Bedingung der Möglichkeit sowohl der Gegenstände als auch des Erkennens der Gegenstände im Subjekt zu erklären. Atmen oder Essen gelten nicht als transzendentale Leistungen. Wieso eigentlich nicht? Das Zeichen ist das Element, das uns Menschen mit allem Äußeren und Inneren verbinden kann, und zwar über die Sinnkategorie, die Intentionalität und Verstehen umschließt, sowie den Symbolbegriff, der die Repräsentation und Identifikation zweier ontologisch verschiedener Welten ermöglicht. Sinn und Symbol sind gesellschaftliche Erzeugnisse, die über den Wertbegriff mit dem ökonomischen Produktions- und Tauschsystem vergleichbar sind, insofern das Geld im Grunde nichts anderes als ein Zeichen geworden ist, das sich in alles Andere verwandeln, transformieren, eingetauscht werden kann. Darin gleicht es dem Begriff bei Hegel. Geld hat im globalisierten Finanzkapitalismus eine ähnliche Magie und Mystik entwickelt wie die in der Werbung und Propaganda eingesetzten Zeichen. Als System erfasst das Zeichen alle Bereiche der Lebenswelt, der symbolischen wie der realen. Blieben aber am Ende nur noch das Zeichen und das Geld, getrennt von ihrem Ursprung und Produzenten, in reiner Form, wie sich die idealistischen Philosophen das gerne wünschen, dann wäre kein menschliches Leben mehr möglich. Solange wir also die ontologische Differenz im Zeichenbegriff im Auge behalten und uns als Produzenten und Konsumenten der Zeichen begreifen, können wir Verdinglichungen und Entfremdungen durchschauen. Die Metaphorik der Sprache, die etwa Hans Blumenberg und Roland Barthes unter die Lupe nehmen, verleitet dazu, bestimmten Figuren der Rhetorik ein Eigenleben zuzugestehen, die sie zwar dinghaft-ontisch nicht haben mögen, gleichwohl aber „ein rhetorischer Vorgang von hoher Suggestivität“ sind.148 Darf man zum Beispiel unser Genom, das substantiell (biochemisch) betrachtet aus DNS und RNS besteht, als einen Text auffassen, den man decodieren kann, weil die ‚Grammatik‘ der DNS eine ‚Botschaft‘ der RNS bereithält? Vgl. (Blumenberg 1981: S. 380). Zu Roland Barthes strukturaler Analyse von Mythen als parasitären Meta-Zeichen siehe (Barthes 1970, besonders S. 85–135).

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3 Draußen zuhause sein (Sein)

Wie mit dem Referenzbegriff schon angesprochen wurde, ist die primär nichtsprachliche Welt der Bezugnahme im Paradefall dinglicher Art, von materieller Substanz; man könnte sogar mit Aristoteles das Einzelding als Paradigma alles Zugrundeliegenden, der Substanz schlechthin verstehen. Dann ist unsere epistemische Aufgabe nur noch die Prädikation, das heißt die Bestimmung dieser Dinge hinsichtlich der Kategorien und ihrer Struktur am konkreten Objekt. Tatsächlich ist die Dingwelt, die wohl auch mit den chremata gemeint ist, weit mehr als ein Ensemble bloß physischer Entitäten. Eine Beschreibung dieser Seinsarten oder ‑weisen soll uns im nächsten Abschnitt beschäftigen.

3 Draußen zuhause sein (Sein) „Man kann nicht nach dem Sein fragen, ohne nach dem Wesen des Menschen zu fragen.“ (Martin Heidegger)

3.1 Sein – de dicto oder de re Das Nomen Sein ist in der Philosophie der Titel für alles, was es überhaupt gibt (Quine) beziehungsweise für das, was dem Seienden zugrunde liegt (Aristoteles). Es ist zugleich auch alles, was Gegenstand der Rede im Sinne eines ‚so ist es‘ sein kann. Das aber bedeutet nichts anderes als wahr sprechen, Wahres sagen. Darin eingeschlossen ist auch dasjenige Sein, von dem wir noch nichts wissen, was noch entdeckt wird und was zukünftige Generationen nach uns noch erschaffen werden. Von vornherein müssen wir die ontologische und die epistemologische Behandlung dieses Themas unterscheiden, aber auch immer zusammendenken. Ohne Frage gehört der Mensch selbst zum Sein, zumal er ja danach fragt. Die Sprache ebenso, da er mit ihr fragt. Der Mensch ist, die Sprache ist, das Sein ist. In Bezug auf den Hms muss dann auch der Mensch zunächst den Dingen zugerechnet werden, um dann aber, wie in Kap. II.1 gezeigt wurde, seine Sonderstellung zu behaupten. In diesem Kapitel orientiere ich mich an keiner bestimmten Theorie, die sich explizit als Ontologie, als Lehre vom Seienden versteht (ὄν on ‚seiend‘ und λόγος 139

II Der analytische Rahmen

l­ ogos ‚Lehre‘).149 Mich interessiert die Frage nach dem Sein auch nur in Hinblick auf den Menschen und seine Lebenswelt, also ontologisch als seinsverstehend und anthropologisch, weil wir Menschen es sind, die fragen. Wie verstehen wir uns als Menschen in der (unserer) Welt? Wo sehen wir unseren Ort in dieser Welt, die allein als physikalisches Universum gedacht noch so viel Unbekanntes, Unerforschtes, vielleicht auch nie Erforschbares bereithält? Dabei gehe ich von der These aus, dass ontologische Fragen primär keine Sachfragen sind, deren Beantwortung wie in den Wissenschaften dann welthaltiges Sachwissen produzieren könnte. Im Gegenteil wird kein Ontologe fachlich mit Physikern, Chemikern, Biologen, Psychologen, Soziologen, Anthropologen, Ökonomen usw. konkurrieren können. Es geht der Ontologie vielmehr um die Art, wie wir über Dinge, Personen, Sachverhalte, Ereignisse etc. reden. Welche theoretischen Annahmen, Menschen- und Weltbilder, Grundbegriffe und eventuell Erkenntnisinteressen legen wir zugrunde? Ein sehr aufschlussreicher Ansatz besteht in der Erkenntnis, dass wir Menschen als Beobachter und Zuschauer, als Theoretiker des Seins, mit zu diesem Gegenstandsbereich gehören. Wer immer etwas über das Sein aussagt, sagt es aus der Perspektive eines Seienden, der seinsverstehend ist. Daraus ergeben sich im Falle sozialwissenschaftlicher Theorien folgenreiche Konsequenzen, beispielsweise bei der Prognose von Ereignissen: Prognosen beeinflussen das Verhalten der Akteure, wenn sie von ihnen Kenntnis haben, sodass man im Nachhinein nie sagen kann, wie das Ereignis ohne Kenntnis der Prognose verlaufen wäre. Wie beeinflusst ein Beobachter durch seine Beobachtung von Systemverhalten dieses Verhalten? Selbst in der Physik (Quantenmechanik) ist dieses Phänomen unter der Bezeichnung der „Heisenbergschen Unschärferelation“ bekannt. Wissenschaftliche Interventionen erzeugen Unbestimmtheit, ein Paradox zu der erklärten Absicht wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns. Gilt das auch für die Philosophie, die sich aufs Denken, hier des Seins, verlegt hat? In einem großangelegten historischen Wurf kann man einen Bogen von Aristoteles über Hegel bis Heidegger und die heutige Wiederentdecker aus der Einen guten Überblick über Grundströmungen (naturalistisch (Quine), phänomenologisch (Chisholm) und deskriptiv (Strawson)), Grundprobleme (Universalien, Existenz, Modalitäten, Identität und Individuation) sowie Grundfragen einer an Kategorien wie Ding, Eigenschaften, Ereignisse, Sachverhalte orientierten Ontologie aus analytischer Sicht bietet (Runggaldier und Kanzian 1998): Grundprobleme der Analytischen Ontologie. Streitbar aus meiner Sicht ist die Monografie von (Gabriel 2013): Warum es die Welt nicht gibt.

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3 Draußen zuhause sein (Sein)

analytischen Philosophie spannen, nachdem Carnap in seiner polemischen Kritik an Heideggers Was ist Metaphysik? auf die Notwendigkeit logischer Analyse von Begriffen und Sätze hingewiesen hat.150 Schon bei Aristoteles ist die Lehre vom Seienden als Seienden als eine Kategorienlehre angelegt, also im Modus de dicto. Substanz und Akzidenzien sind die beiden wesentlichen Grund-Gattungen, mithilfe derer wir in Sätzen (Urteilen, apophansis) zu wahren Erkenntnissen über die Wirklichkeit gelangen. Dahinter steht natürlich wiederum eine Annahme über das Verhältnis von Denken und Sein, was aber erst Hegel nach Kants Kritik beziehungsweise Zurechtweisung der reinen, spekulativen Vernunft wieder ins metaphysische Denken hineingeholt hat. Merkwürdigerweise ist das Verhältnis von Ontologie und Metaphysik immer etwas hakelig gewesen, was Gabriel in seiner Sinnfeldontologie thematisiert.151 Meist aber werden die beiden Begriffe synonym verwendet. Hegels Logik ist eine kritische Ontologie bzw. Metaphysik und Kategorienlehre im aristotelischen Sinne.152 Was Kant in seiner transzendentalen Logik vorhatte, nämlich die objektive Gültigkeit von Denkbestimmungen aufzuzeigen, also ob und wie Kategorien als reine Begriffe gegenständliche Erkenntnisse überhaupt ermöglichen können, rekonstruiert Hegel in einer evolutiven Logik der Kategorien, die Koch (2014) als „Nichtstandard-Metaphysik“ bezeichnet hat. Und da das Wahre nicht nur als Substanz, sondern zugleich als Subjekt zu begreifen sei, kann die Ergreifung der Wirklichkeit nur über den Menschen erfolgen, der sich aus der Welt der Gedanken handelnd in die Welt der Dinge, Sachverhalte und Ereignisse begibt. In diesem Sinne verstehe ich, nebenbei bemerkt, auch die Rede Hegels vom „Ich als lebendigen Begriff “. Wer nur das Denken bei Hegel sieht, hat die andere Hälfte, das Handeln, die Verwirklichung des Begriffs und der Idee und damit den ganzen Hegel, nicht verstanden.153 Ein körperloser Geist, diese cartesische Substanz der res cogitans, kann nicht handeln, da es dazu per definitionem und metaphorisch gesprochen einer er- und begreifenden Hand, einer res extensa, bedarf. Ein Geist solus

Vgl. diese Phase der Metaphysikkritik aus dem logischen Empirismus (Runggaldier und Kanzian 1998: S. 15–25). 151 (Gabriel 2013: S. 10–16). 152 (Emundts und Horstmann 2002: S. 56–83, bes. S. 67), (Koch 2014: bes. Einleitung). 153 Hierzu zählt insbesondere die Rechtsphilosophie, das Pendant zu Kants praktischer Vernunft. 150

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II Der analytische Rahmen

ipse kann Materie nicht erschaffen, da er selbst materielos ist. Nun wird aber theologisch betrachtet der ganze Schöpfungsprozess der Materie durch das pure Wort, den Logos, vollzogen, wodurch das Sein allererst in die Welt, die vorher ja auch nicht da war, komme.154 Manche Philosophen vertreten daher die Meinung, dass es sich bei der Ontologie um eine Onto-Theologie handele, da ja Platons Idee des Guten und Aristoteles’ „unbewegter Beweger“ zumindest mit einem göttlichen Prinzip in eins gesetzt werden. Bei Hegel, der fraglos ein Idealist reinsten Wassers ist, bin ich mir in der theologischen Beurteilung nicht sicher, da sein Geist-Konzept, das gegenüber der Natur als primär gedacht wird, ja letztlich auf den Menschen als gesellschaftliches Wesen zielt und im Freiheitsbegriff die Versöhnung mit der Natur und der zu sich selbst gekommenen Menschenvernunft feiert. Als Begriff ist das Sein freilich verhext, weil es ursprünglich aus einer Kopula, dem verbindenden ‚ist‘ stammt und eine bloße grammatische Funktion hatte, nämlich ein Subjekt und ein Objekt oder einen Prädikatsausdruck in einem Urteil (Satz) zu verbinden: „Der Rasen ist grün.“ Man spricht dann vom prädikativen Sein, womit die Nähe des Seinsbegriffs zur Rede angesprochen ist, die sich in Sätzen aller Art, zumeist Aussagen, Feststellungen, dann Fragen und Behauptungen, ausdrückt. Mit dem Sprechen ist notwendig der Sinnbegriff verknüpft, insofern jede menschliche Rede verständlich sein muss; sonst wäre sie (sinnloses) Gestammel. Sinn heißt im Grunde Verstehbarkeit. Was wir nicht verstehen, ist für uns sinnlos oder unsinnig. Der logisch-semantische Schritt zum Sinn als Selektionsleistung im Sinne einer Auswahl von funktional systemrelevanten Informationen, Handlungen und Erlebnissen aus irrelevantem ‚Rauschen‘ ist dann nicht mehr weit.155

Man lese beispielhaft bei Gadamer nach, wie sich die christliche Theologie diesen gigantischen Schöpfungsprozess denkt. Er wird im dritten Teil seines opus magnum Wahrheit und Methode (1960/2010) unter dem Titel „Ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache“ im 2. Abschnitt als „Denkgeschichte des Abendlandes“ behandelt (Gadamer 2010: S. 409–431). Es ist übrigens auch hier wieder bemerkenswert, dass ein Philosoph, dem es so um die Sprache zu tun ist, im letzten und abschließenden Teil „Sprache als Horizont einer hermeneutischen Ontologie“ als einzige namhafte Vertreter der „modernen Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft“ Herder und Humboldt aufführt – und das 1960 (a. a. O., S. 442). 155 Dazu aus systemtheoretischer Sicht (Luhmann 1971). 154

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3 Draußen zuhause sein (Sein)

Die Kopula ‚sein‘ selbst ist zwar völlig bedeutungslos, aber nicht sinn- oder funktionslos.156 Die Bezeichnung ‚Hilfsverb‘ in der deutschen Grammatik drückt diesen Sachverhalt sehr treffend aus. Man spürt die Gefahr, dass mit der Nominalisierung zum ‚Sein‘ eine Hypostasierung verbunden ist, die das Denken leicht in die Irre führt. Und mit diesem Tatbestand fängt auch Hegels Logik an. Das Sein sagt nur sich selbst aus, als Bezeichnendes ohne Bezeichnetes. Es sagt nichts über etwas anderes als diese vier Buchstaben aus: S e i n. „Sein, reines Sein, – ohne alle weitere Bestimmung.“157 Hegels Logik beginnt nicht mit einem Begriff, sondern mit einer Worthülle, einem gehauchten Signifikanten, einer „Leere“. Sie markiert einen (logischen) Anfang. Daraus wird über die logische Grundoperation der Negation und den Oppositionsbegriff des ‚Nichts‘ die Bedeutung der ‚Existenz‘, des Daseins entwickelt, die zu einem tragenden Theoriekonzept der Ontologie wurde158. Nun ist die Funktion und Bedeutung des Seins als Begriff bzw. Kategorie im philosophischen Diskurs immer theorieabhängig und wird daher unterschiedlich verwendet.159 Aristoteles unterscheidet im V. Buch seiner Metaphysik160 unter dem Stichwort ‚Seiendes‘ schon mehrere Bedeutungen bzw. Aussageweisen, die sich in der untenstehenden Liste wiederfinden lassen (prädikativ, veritativ, existentiell). Das Verb ‚sein‘ hat gleichfalls mehrere Bedeutungen, deren Vermischung von Ko-

Dies wurde auch schon von Aristoteles thematisiert: „Auch das Sein oder Nichtsein ist kein bedeutungshaltiges Zeichen der Sache [von der es gesagt wird], auch dann nicht, wenn man das ‚seiend‘ an sich selbst nackt sagen würde, denn es selbst ist gar nichts, sondern bezeichnet eine gewisse Verbindung [zu etwas] hinzu, welche ohne das Verbundene nicht zu denken ist“. Aristoteles: Peri hermeneias 3. 16 b, 20−25; vgl. auch Wikipedia: Sein. 157 (Hegel TW 5: S. 82), vgl. auch (Heidegger 1972: S. 2–4, §1). 158 Zur Einteilung der Metaphysik aus der platonisch-aristotelischen Tradition und Ontologie, als terminus technicus erst im 16. Jahrhundert aufgekommen, vgl. näher (Schnädelbach 1985) in (Martens und Schnädelbach 1998). Im Wesentlichen deckt sich die metaphysica generalis des Aristoteles im Sinne der Ersten Philosophie mit dem Ausdruck Ontologie, die sich in die Spezialdisziplinen der Theologie (Gott), Kosmologie (Welt) und Psychologie (Seele) aufteilt. Kant verwendet die Termini synonym, Gabriel hat mit dem Seinsbegriff wenig zu tun. Heidegger wiederum verbindet mit Dasein und Existenz sehr theoriebeladene Begriffe, die sich kaum noch in die traditionelle technische Terminologie einordnen lassen; ich vermute eine gewollte Strategie der Immunisierung gegen Kritik! 159 Vgl. (Heidegger 1972: S. 2–4, §1). 160 (Aristoteles 2016: V. Buch 1017a–1017b; S. 125–127).

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II Der analytische Rahmen

pula und Identität vor allem bei Parmenides und Hegel Konsequenzen hatte.161 Hinzu kommen noch die Existenz und die Wahrheit. Wir hätten dann vier zentrale Bedeutungen des Hilfs-Verbs ‚sein‘:162 1. Identität: dasselbe sein (a = b; Die Wahrheit des Seins ist das Wesen. (Hegel)), 2. Existenz: da sein (A ist; Hans lebt = ist lebend), 3. Prädikation/Kopula: verbunden sein (A ist b; Der Baum blüht=ist blühend) und 4. Wahrheit: wahr sein im Sinne von „so ist es“ (Was wäre jetzt das Beispiel? Vgl. 1.–3. mit dem redundanten Zusatz „Es ist wahr, dass …“). Man sieht hier auch, wie eng die Begriffe Existenz, Identität, Prädikation und Wahrheit zusammenhängen und, wie jedenfalls der Sprachkritiker Mauthner meint, beim Seinsbegriff so viel Verwirrung stiften konnten. Er möchte das Wort auf seine ursprüngliche Funktion als Kopula beschränkt wissen. Dann bliebe als Bedeutung die Beschränkung auf eine prädikative Feststellung, dass (ob) etwas sound-so (was) ist. Aristoteles’ Kategorien beginnen mit der Substanz (lat. substantia), der ousia, die die Nominalisierung des on ist. In ihr drückt sich das Selbständige ebenso wie das Beharrende aus, über das wir etwas denken und aussagen.163 Das Partizip ‚seiend‘ zu ‚sein‘ bezieht sich auf Einzeldinge, sofern sie existieren und so-und-so beschaffen sind. Existenz und Prädikation sind die vorrangigen Bedeutungen des Seinssinns; das veritative und identifizierende Sein sind eher unthematisch. Seiend zu sein heißt zu existieren, in Gestalt eines individuellen, einzelnen Dings oder Lebewesens. Es ist der Wahrnehmung zugänglich und kann mithilfe von Prädikaten bestimmt werden. Demzufolge ist die Kategorie der Substanz zentral und grammatisch mit dem Sub Vgl. dazu (Strasser 1989) und (Bächli und Graeser 2000: S. 186ff.). Dazu auch (Tugendhat und Wolf 2010: 201–216). Stegmüller nennt noch weitere, die aber eher im logischen Jargon zum Tragen kommen, vgl. (Stegmüller 1969: 188– 191). 163 Der Heidegger-Schüler und spätere Kritiker seines Lehrers Rainer Marten entwickelt in seinem Buch Denkkunst. Kritik der Ontologie aus dem Jahr 1989 (Marten 2018) anhand der drei eben genannten Philosophen Platon, Aristoteles und Heidegger den Denkweg der Ontologie, der den kompletten Seinsbegriff ins Denken verlegt. Sein ist immer gedachtes Sein, ganz im Sinne des Paramenides und Platons. Bei Heidegger kritisiert er die recht willkürliche Exponierung des ‚ist‘ (vgl. a. a. O., Kap. 2.1 „Die Seinsfrage“). Jedenfalls ist das Wesen, die ousia, ganz und ausschließlich im Denken. 161 162

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jekt einer Aussage verbunden. Logik und Onto-logik sind im Grunde ein und dasselbe. Fasst man die Metaphysik als eine Theorie des Wissens auf (vgl. Kühn 2017: S. 16, 22, 212ff.), sind die Bereiche des Denkens und des Seins gleich strukturiert und wir können die Wirklichkeit nur deshalb erkennen. Mauthner, der abgeklärte Sprachkritiker, bemerkt in seinem Wörterbuch (1910 erschienen): „Etwas wichtiger als die Frage, ob der Seinsbegriff in der Kopula eine logische oder eine grammatische Funktion habe, wäre die Untersuchung, wie der allgemeinste und darum stärkste Erkenntnisbegriff, eben der Begriff der Existenz, zu der anerkanntermaßen leeren Funktion einer nichtssagenden Kopula hinuntersinken konnte.“, aber: „Wir haben die Welt nicht zweimal; die Idee der Existenz ist durchaus nicht verschieden von der Idee eines Objekts.“ (Mauthner 1980: Bd. 2, S. 399–409) Hegel, auf dessen kategoriale Entfaltung des Seinsbegriffs ich wiederholt hinweisen werde, lässt sein logisches Gedankenexperiment der begriffsakrobatischen Entwicklung des Seins bis hin zur absoluten Idee eben mit diesem einen Wort beginnen, das völlig unbestimmt und inhaltsleer ist und daher gleichviel bedeutet wie sein Gegensatz, das Nichts. Im Grunde haben wir es mit Zeichen ohne Bezeichnetes zu tun, reinen Signifikanten. Denn inhaltlich ist ja noch gar nichts bestimmt. Es wird noch nichts unterschieden, dies wiederholt Hegel mehrmals. In der Enzyklopädie, § 86 führt er im Zusatz 1 zum Sein aus: „Das Bestimmungslose […] ist das Unmittelbare […] vor aller Bestimmtheit, das Bestimmungslose als Allererstes. Das nennen wir das Sein. Dieses ist nicht zu empfinden, nicht anzuschauen und nicht vorzustellen, sondern es ist der reine Gedanke, und als solcher macht es den Anfang.“ (TW 8: S. 184) Man muss jedoch a) den theoretischen Kontext bedenken, in dem er dies äußert, und b) die Reflexionsstruktur, innerhalb derer Hegel die Logik schreibt. Und diese ist ja schon voraussetzungsvoll.164 Nie fängt man mit Null an. Hegel will die Entwicklung der Begriffe (Sein-Wesen-Begriff) mit der Entwicklung seiner Theorie der Begriffe (Logik) synchronisieren; und dies soll mit der Idee des Absoluten oder der absoluten Idee als dialektischer Erkenntnis zusammenfallen. Und die ist – äußerst verknappt – die folgende: Erst im Werden erhalten diese Leer Dass er mit seiner Logik zeigen will, wie sich das reine Denken über die Stufen des Seins, des Wesens und des Begriffs die Voraussetzungen des unbestimmten Unmittelbaren selbst einholt, und damit eine Selbstbewegung des Begriffs in der logischen Sphäre verständlich machen will, kann in dieser Arbeit nicht dargestellt, sondern nur gelegentlich angedeutet werden. Ich verweise auf systematische Arbeiten von Koch, Schick, Vieweg, Hoffmann, Pippin, Iber, Quante, etc.

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begriffe eine operative, unterscheidende Funktion, nämlich als die beiden Momente des Entstehens und Vergehens die Übergänge zu kennzeichnen: von einem Zustand (Sein) in den anderen (Nichts) und vice versa. Es handelt sich im Grunde um abstrakte, formale Positionsfelder, Variablen oder Argumentstellen. Hegel versucht aber gleichzeitig schon logisch zu zeigen, dass wir über einen Seinsbereich reden, der unabhängig von unserem Reden besteht, was er als Ansich-Sein tituliert und womit er das zu überwindende Unmittelbare meint. Gleichwohl bedürfen wir der Kategorien, das heißt Denkbestimmungen, um diesen Sachverhalt überhaupt zur Sprache zu bringen. Mit der Wesenslogik kommt dann das Bewusstsein, die Reflexion über den Schein als Wesen des Seins explizit ins Spiel. Das Sein transformiert sich in das Wesen. Hier entsteht die Schwierigkeit, immer einmal vom ersten Sein, der Unmittelbarkeit aus zu denken und gleichzeitig zu beachten, dass durch die Reflexion eine Beziehung entsteht, in der diese Unmittelbarkeit des ersten Seins aufgehoben wird, und dies ist eben der Schein, der Widerschein des Seins in einem anderen reflektierenden Sein (was nach meinem Verständnis nur der Mensch mit seinem Bewusstsein sein kann, das wird aber sprachlich oder terminologisch verdeckt). Dieses reflektierende, sich noch auf ein anderes Sein beziehende Sein registriert zum Beispiel, dass die ihm äußerlichen Dinge, Gegenstände und Sachverhalte nicht immer das sind, was sie zu sein scheinen. Vor allem muss das Bewusstsein erkennen, was es bei der Betrachtung der Welt von sich selbst in deren Erkenntnis investiert und in jeweils aktuellen Erkenntnisakten herausholt. Wenn wir Heutigen in den Himmel schauen, sehen wir zwar dasselbe Sternenbild wie unsere Altvorderen, aber wir wissen mehr über das, was wir wahrnehmen, weil wir unterdessen komplexere und angemessenere Theorien sowie ein differenzierteres systematisches Wissen über die kosmischen Vorgänge und Strukturen besitzen, dazu Teleskope und Satelliten, die als Werkzeuge bereits inkorporiertes technisches Wissen repräsentieren. Relativitätstheorie und Quantentheorie, die sich auf das ganz Große und das ganz Kleine beziehen, konvergieren und bringen damit unsere Vorstellungkraft an Grenzen, die mal auf einen Mesobereich eingestellt waren, sich aber inzwischen weit verschoben haben. Wir sehen, so kann man sagen, zwar denselben Himmel mit seinem Sternenbild, aber wir verstehen und durchschauen ihn jeweils mit einem anderen Wissen. Wir können ja auch ins Weltall fliegen und dort Maschinen platzieren, die uns wichtige Daten liefern. Die dritte Sphäre des Begriffs zeigt das freigewordene Denken, das wirklich jeden Gegenstand mithilfe der selbsterzeugten Kategorien erkennen kann, und das 146

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ist durchaus wörtlich zu nehmen. Diese Erkenntnis ist außerdem kein monologischer Akt, sondern ein sozialer Bildungsprozess, da das Denken als allgemeingültiges Operieren mit Begriffen, Urteilen und Schlussverfahren so viel bedeutet wie: Wir Menschen können uns die Welt der Dinge und des Geistes verständlich und verstehbar machen, weil wir in derselben, gemeinsamen Welt leben, uns mit derselben, gemeinsamen Sprache darauf beziehen und uns mithilfe gemeinsamer Konventionen mitteilen können. Haben wir uns mithilfe der Seins- und Wesenskategorien den empirisch zugänglichen Wirklichkeitsbereich erschlossen, so können wir uns mithilfe reinbegrifflicher Schlussverfahren auch die nichtsinnliche Wirklichkeit verständlich machen, also etwa mechanische, chemische und teleologische Strukturgesetze bis hin zur Idee als einer sozial wirksamen ‚Kausalität aus Freiheit‘. Dann erkennen wir, wozu wir fähig sind oder sein können. Heidegger legt in seinem Hauptwerk Sein und Zeit von 1927 die Zeit als Sinnhorizont des Seins aus und sucht einen verstehbaren Zugang nicht über (onto)logische, dingbezogene Kategorien, sondern über die sogenannten Existentialien des Daseins (In-der-Welt-sein, Sorge, Befindlichkeit, Angst, Verstehen, Rede …). Diese umgehen die Subjekt-Objekt-Spaltung, von der jede Theorie des Erkennens und Wissens ausgehen muss; stattdessen rückt Heidegger mit dem Da-Sein den vortheoretischen Existenzbegriff in den Mittelpunkt seiner Analyse des Seins. Damit ist gemeint, dass der Mensch aus seiner Geworfenheit, für die er nichts kann, zu einem je eigenen Selbst- und Seinsverhältnis finden muss. Es ist – im Sinne eines Aufgegeben-Seins  – seine Aufgabe. Im Grunde wird aus dem intransitiven Verb existieren bei Heidegger ein transitives: Ich existiere mich, anders gesagt: Ich muss mein Leben führen, egal wie.165 Und niemand kann mich dabei vertreten (Jemeinigkeit). Erst wenn der Mensch das Nichts als das Andere des Seins in der Stimmung der Angst erlebt und verspürt hat, wird ihm die Seinsleere, die „Nichtung“, bewusst („erschlossen“). Für meine Fragestellung ist Heidegger in seiner Radikalität sicher interessant, insofern er den Menschen wieder sehr weit nach vorne holt, aber begrifflich ‚verborgen‘ im Dasein in den Mittelpunkt des philosophischen Denkens Heideggers Fundamentalontologie bzw. Existentialanalyse gibt hierzu kein materiales Ziel, sie ist im Grunde formalistisch. Sie gibt keine Lösungen oder gar Ratschläge vor, sondern ist ganz auf das Fragen und Infragestellen ausgerichtet. Dazu (Safranski 1997a: Kap. 9). Eine sehr aufgeräumte und kritische Darstellung leistet (Stegmüller 1969: S.  135–194) mit einer Würdigung, die im Vergleich mit Kant die jeweiligen Ansätze (existenzial-ontologisch vs. transzendental) spiegelt.

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stellt. Nach 1945 rücken dann mit der ‚Kehre‘ das Sein und die Sprache in den Vordergrund.166 Programmatisch sind solche Äußerungen wie etwa in seinem Brief an Jean Beaufret „Über den ‚Humanismus‘“ (1947): „[…] daß im Denken das Sein zur Sprache kommt. Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch. Die Denkenden und Dichtenden sind die Wächter dieser Behausung.“167 Die Metapher verhüllt freilich mehr als sie preisgibt. Im Übrigen stößt man bei genauerer Lektüre allenthalben auf den „Jargon der Eigentlichkeit“168, der (mich) in vielen Passagen an den Wortkomiker Karl Valentin erinnert. Dass Heidegger, in der Stoßrichtung Adorno und Horkheimer durchaus vergleichbar, dem technischen, instrumentellen Denken, wenn es sich als absoluter Hegemon jeder wissenschaftlichen Wahrheitssuche aufspielt, den Kampf ansagt, wird unter den Stichwörtern Reduktionismus und Naturalismus wiederkehren.169 Wenn mit der Fülle des Seins, die später epistemologisch und metaphysisch im kosmologischen Weltbegriff thematisiert wird, gemeint ist, was überhaupt ist und sein kann, dann wird mit dem Menschen aus der Natur eine neue Qualität, sogar Substanz, eingeführt, die ihre Grundlage, ihre Bedingung, immanent transzendieren und zu einem Absoluten und Unbedingten transformieren kann. Dies wäre, gut hegelsch gesagt, das Sich-Selbstdenken des Seins; denn das ist schlicht nicht steigerbar und lässt nichts außen vor. Dies ist ein ausgezeichnetes Thema der Metaphysik. In diesem säkularen, immanenten Absoluten, so wie ich es verstehe, fließen Subjektivität und Objektivität zusammen, erkennt Es ist bekannt, dass Heidegger mit Sein und Zeit nur ein (größeres) Hauptwerk geschrieben hat und dieses unvollendet blieb. Alles nach der NS-Zeit, in die er mit seiner Frau Elfriede verstrickt war, und der Entnazifizierung, die ihm lediglich Mitläufertum attestierte, diente der Wiederaufnahme der sogenannten Seinsfrage, die den Menschen, das Dasein, zum Hirten oder Hüter des Seins machte, der gelassen und entspannt auf Anrufe wartet und freudig den Hörer abnimmt, um die Stimme des Seins zu vernehmen. Dazu auch kritisch die Biografie von (Safranski 1997a: vor allem die Schlusskapitel 21–25): Ein Meister aus Deutschland. 167 (Heidegger 1954: S. 53). 168 Immer noch klassisch (Adorno 1971: ab S. 79; auch S. 80, Fn 1), der freilich dem Jargon selbst nicht fernstand. 169 So versteht Markus Gabriels Sinnfeldontologie sich explizit als Kritik am Naturalismus als physikalischem Reduktionismus und weiterhin am (radikalen) Konstruktivismus als Spielart der Postmoderne. Sein Nachwort: „Abgesang und Auftakt“ in (Boghossian 2013: S. 135–156) zeigt programmatisch die Richtung und den Opponentenkreis seines Neuen Realismus. 166

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sich der Mensch insofern als Maß aller Dinge, als er sich in der kosmischen Evolution als dasjenige Sein mit der Fähigkeit zur Selbstreflexion und Selbstkonstitution (oder Selbstproduktion) wiederfindet, das der lange angebeteten Götter nicht mehr bedarf oder bedürftig ist. In seiner leiblichen und endlichen Existenz spiegelt und verkörpert er gleichsam die bisherige Entwicklungslogik des natürlichen Seins in ihrer vorläufigen Vollendung. Sein subjektives Bewusstsein kann in der höchsten Stufe, dem absoluten Geist, vor allem in der Wissenschaft die gesamte Evolution und seine eigene Position darin überblicken und durchschauen, zumindest der Architektur nach. Das hat natürlich theologische Konnotationen, sofern er ein Ebenbild Gottes wäre, was aber selbst aus atheistischer Sicht blasphemisch genannt zu werden verdiente. Wahr ist jedoch, dass er sich einen Gott und die Gottähnlichkeit vorstellen und in einer Gemeinschaft von Gläubigen verwirklichen kann, um dies dann später als Projektion eigener Allmacht zu durchschauen. Damit eröffnet er sich kognitiv und emotiv einen Horizont, der ihm den „Blick von nirgendwo“ (Nagel und Abb. 21) auf die Welt und sich selbst erlaubt.170 Denkmöglich ist das allemal. So wie ich mir die Welt vor meiner Geburt vorstellen kann, indem ich wie in einem Film durch die Geschichte in die graue Vorzeit schwenke, die Kamera immer als ‚göttliches Auge‘ gedacht, so kann ich mir die Welt nach meinem Tod vorstellen, wenn meine Kinder und Enkel mit implantierten Chips und Lufttaxis Zugang zu Diensten, Waren und Orten haben, oder vielleicht doch eine Weltregierung die Geschicke unseres geschundenen Planeten behutsamer lenkt, als wir es heute kennen. All das und auch die atomare Katastrophe kann ich mir vorstellen – und auch dass wir, die Menschengattung, das zu verantworten haben werden. Im Zentrum des Seins wird immer der Mensch stehen (müssen), weil er dessen Begriff ist, um mit Hegel zu sprechen. Es gäbe ohne den Menschen schlicht kein Wesen, das sich über so etwas wie das Sein den Kopf zerbrechen, also auch keine Seinsfrage stellen (Heidegger) und keine Logik (Aristoteles, Kant, Hegel), keine Metaphysik und keine Mathematik oder Physik entwickeln und würde. Insofern kann Heidegger mit seinem fundamental-ontologischen Begriff des Daseins (Mensch) ein Seiendes herausheben, dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht und das ontisch dadurch ausgezeichnet ist, dass es ontologisch, also seinsverstehend ist (Heidegger 1972: S. 12). Berichtshalber: Nagel, T. (2012): Der Blick von nirgendwo. Berlin.

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Abb. 21 Raumfähre ISS Wir müssen davon ausgehen, dass sich der Seinsbegriff differenziert und entwickelt hat, ebenso wie die Theorien über ihn. Dass etwa die theoretische Betrachtung des Seins bei Heidegger, der aus der husserlschen Schule der Phänomenologie stammt, eine eigentümlich statische und flächige Gestalt vermittelt, hängt wohl mit dem Phänomenbegriff zusammen, der an der sinnlichen Unmittelbarkeit des wahrgenommen Seins hängt, das sich dem Betrachter (von sich selbst aus) zeigt oder offenbart.171 Dagegen steht kontrastierend sein Begriff des Verstehenshorizonts, in den jede Beschreibung eines Gegenstands oder eines Sachverhalts eingebettet ist und der einen erheblichen Wissenskomplex an Erfahrungen jeglicher Art voraussetzt. Jede Beschreibung einer schlichten Alltagssituation, die der Komplexität ihrer Entstehung, Struktur und Folgen gerecht werden wollte und Anspruch auf ‚Vollständigkeit‘ erhöbe, müsste demnach einen erheblichen Analyseapparat verwenden. Unsere Alltagsgegenstände, das Zuhandene, sind allermeist Produkte einer hochtechnisierten Markt- und Kapitalökonomie, deren Verwendungszweck und Gebrauch uns zwar bewusst ist, deren Funktionsweise wir aber gar nicht mehr kennen. Infolge der Beschleunigung unserer modernen Lebensweise verstehen wir sogar innerhalb eines Generationenzyklus viele Komponenten des Alltags, insbesondere technische Geräte und Handhabungen, nicht mehr; viele ältere Menschen der Vorkriegsgene (Heidegger 1972: § 7).

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ration können mit Computern, Smartphones und dem Internet nicht umgehen, sie verzweifeln oft genug schon an einer Fernbedienung. Wir Heutigen können zum Beispiel nichts mehr reparieren, weil wir weder die Komponenten noch deren Zusammenwirken verstehen. Wenn der Mechaniker zum Mechatroniker wird, kann in einem digitalisierten Auto auch der gewiefteste ‚Schrauber‘ nichts mehr ausrichten. Die sozialen Zusammenhänge der Produktion, Distribution und Konsumtion sind uns meist unbekannt; daher die Vielzahl der Siegel, die uns auf Tierhaltung und ‑wohl, ethische Standards bei der Produktion, Nachhaltigkeit usw. hinweisen. Über die Geschichte der Herkunft vieler Waren wissen wir nichts, über die Produktionsund Lieferketten noch viel weniger und über die ‚wahren‘ Profiteure in der Regel gar nichts. Es würde auch die Kapazität eines individuellen Subjekts, etwa in der Rolle des Konsumenten oder Bürgers, überfordern, wollte man ihm dieses Wissen, das es ja gibt, als stets verfügbares ethisch abverlangen, um rationale Entscheidungen zu treffen. Im Übrigen wäre hier das Konzept der Rationalität sehr diskussionswürdig: ökonomisch am Ertrag/Aufwand-Verhältnis orientiert, ökologisch an der Nachhaltigkeit der Ressourcen, ethisch an Werten und psychologisch am Nutzen oder Erfolg, um nur einige relevante Bereiche zu nennen. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass wir auf sehr unterschiedliche Weise über sehr unterschiedliche Seinsbereiche reden und uns gegenseitig verständlich machen können, wobei wir selbst dasjenige Sein sind, das das überhaupt nötig hat, weil wir unsere Welt ja selbst erzeugen müssen und dies ohne sachhaltiges Wissen und dessen Reflexion nicht können.

3.2 Tun – Arbeit und Interaktion Die Philosophie hat wie alle geistigen Tätigkeiten mit der ideellen Produktion von Theorien, Anschauungs- und Denksystemen oder auch losen Reflexionen zu tun. Weltanschauungen, Weltbilder, Ideologien, Wissenschaften, Mythologien, Philosophien, Religionen wären Beispiele für solche Produkte. Sie objektivieren sich in Büchern, Schriften, Bildern, Skulpturen und Architekturen wie Kirchen, Schlössern, Parlamentsgebäuden, Universitäten und Schulen etc. Neben dem gegenständlichen Aspekt gibt es immer auch einen interaktiven, der sich etwa künstlerisch und religiös in Praktiken, Riten und Werken manifestiert. Schon die griechische Philosophie unterschied einen instrumentellen und einen intersub151

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jektiven Handlungsbegriff: poiesis und praxis. Dieser Unterschied kehrt in der habermasschen Unterscheidung von Arbeit und Interaktion wieder.172 Hannah Arendt (1906–1975) hat die Begriffe des Tätigseins in ihrem Buch Vita Activa (1958) aus ihrem antiken Verständnis heraus bis in die Gegenwart entwickelt (dazu weiter unten).173 Das Produktionsmodell der poiesis hat einen großen Vorteil. Es verknüpft Inneres und Äußeres, Materie und Form, Motiv und Zweck, Idee und Handlung. Es setzt ein Subjekt voraus, das tätig ist, das produziert, und zwar aufgrund eines Plans, einer Idee, eines Zwecks. Der Zweck, als entelechia und energia verstanden, wird mithilfe einer Materie, eines Stoffs zu einem ergon, einem Werk, geformt. Wichtig ist, den Zweck sowohl als innere Idee, als Plan für ein zu Realisierendes aufzufassen, die sich dann äußerlich im Werk als Realisiertem manifestiert. Diese Doppelnatur ist für das teleologische Verständnis von natürlichen wie sozialen Prozessen konstitutiv. Der Formungsprozess wird paradigmatisch in der Figur des Töpfers typisiert, der aus Ton einen Krug formt, aber auch eine Schale oder einen Becher. Umgekehrt kann ein Becher ebenso aus Holz, Leder oder Porzellan gemacht sein. Dazu muss der Produzent über Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügen, dynamis, die wir heute als Kompetenzen beschreiben. Schon im Material liegt eine unendliche Fülle von Formungen, die dem Zweck des Menschen verfügbar ist. Daher konnte Michelangelo behaupten, seine Figuren seien im Marmor bereits enthalten, er müsse sie nur noch freilegen. Denkt man die Materie, den Stoff, als Substanz, als das dem Werk Zugrundeliegende (hypokeimenon), dann ist die Form das Veränderliche und Viele, die Materie das Bleibende, Eine. So geht Metaphysik in Tätigkeit und Produkt auf und ein, kann man auf die Idee kommen, sich in Statuen, Denkmälern und Bauwerken, dem ergon, unsterblich zu machen.174 Im herstellenden Tun zerfällt die Trennung von Ideellem und Materiellem, Subjekt und Objekt, weil im Produzieren im Unterschied zum Wachsen die Differenz von Natur und Kultur einerseits deutlich, andererseits durch den geistigen Faktor Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser ‚Philosophie des Geistes ‘, in: (Habermas 1973: S. 9–47). 173 Dazu auch (Keulartz 1995: S. 172–193), der die Bedeutung von Arendt im Verhältnis zu Habermas und anderen Denkern wie Heidegger beleuchtet. 174 Noch heute beobachtet man diese Eitelkeit mächtiger Menschen, mit monumentalen Bauwerken in die Geschichte eingehen zu wollen. Und jede Kathedrale soll ein Beweis für die Ewigkeit und Macht Gottes sein. 172

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erweitert wird. Die Zweckursache, um aristotelisch zu sprechen, parallelisiert den natürlichen Bauplan der Gene mit dem bewusst entworfenen Plan des Geistes. Wir Menschen sind in diesem Ensemble teleologischer Rede diejenigen, die beides sind oder können. Wir wachsen wie die Pflanzen und werden wie die Götter. Wir verwandeln Materie in Form, so wie es die Natur ständig tut. Praxis und Interaktion konstituieren den Menschen als zoon politikon, als gesellschaftliches Wesen. Man kann sich für einen Moment eine palavernde Affenhorde vorstellen, in der laufend Bewegung und Streit, intime Zuwendung und entspanntes Beieinandersein zu beobachten sind. Dieses Bild hat sich auch über die Jahrhunderte und Jahrtausende nicht verändert. Dagegen würde man beim Mensch nach einiger Zeit sehen können, dass sich seine Umgebung, sein Aussehen, sogar seine Sprache verändert haben, weil aus diesem praktischen Palaver, der Beratung, Entscheidungen getroffen worden sind, die sich nun in Werken manifestieren. Ein Beobachter vom Mars würde nie erklären können, warum bei den Affen nichts Neues entsteht, während der Mensch andauernd seine Umweltbedingungen verändert. Handlungen (Interaktionen) und Herstellungen (Arbeit) schaffen Neues. Sie bereichern, wenn man so sagen will, das Sein um neue und neuartige Einrichtungen und Gegenstände, die es vorher noch nicht gab. Sie sind auch nicht von selbst entstanden, sondern Ergebnis planvoller und sozialer Problemlösung. Nur metaphorisch, das heißt personifizierend, kann man von der Natur sagen, sie schaffe ebenfalls immer Neues, so wie es der Begriff von der natura naturans ausdrücken will. In Spinozas Metaphysik, die pantheistisch Gott und die Natur als eine Substanz begreift, wird sogar ein durch sich selbst Bestehen der Natur=Gott (deus sive natura) erdacht. Damit lässt sich Aristoteles’ Definition der Natur vereinbaren, der sie als das, was von selbst wächst, konzipiert hat. Die wirkende, bildende Natur mit ihrem Formenreichtum und ihrer Verschwendung bringt immer wieder sich selbst und darin veränderte Gestalten hervor (Metamorphosen). Materie erscheint hier als das gleichbleibend Identische, das sich in den vielfältigsten und veränderlichen Formen realisiert. Hegel bezieht sich in seiner Wesenslogik auf Aristoteles, wenn er dessen Unterscheidung von Materie (passiv) und Form (aktiv) in die Kategorien der Identität und des Unterschieds überführt. Die Materie erhält sich identisch, während sie ihre Form beständig ändert. In seiner Naturphilosophie setzt er sich kritisch mit den Formen auseinander, die den „Stufengang der Natur“ erfassen wollen: Evolution und Emanation sowie Metamorphose; er selbst konzipiert die Natur als ein „System von Stufen“, in dem der Begriff der Metamorphose wohl 153

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nur auf Organismen zutreffe.175 Schopenhauer bringt das mit dem Begriff des Willens zum Ausdruck, der meist blind in allem wirke. Das Verbindende ist wohl der Immanenzgedanke, wonach wir als Natur- und Geistwesen in einer einheitlichen, diesseitigen Welt leben, die keine transzendenten Gesetze und Wesen für ihre Existenz und Fortdauer benötigt. Und dann reift der Gedanke heran, dass letztlich der Mensch Schöpfer nicht nur seines eigenen (sozialen) Lebens ist, sondern auch des gesamten ‚ideologischen Überbaus’, einschließlich der Erzählungen vom Schöpfergott. Er ist seine Erfindung, seine Projektion. Hannah Arendt hat in ihrem Buch Vita Activa (1958) drei Formen menschlicher Tätigkeit unterschieden: Arbeit, Herstellen und Handeln. Arbeit ist rein biologisch als Aneignung der Natur zur Lebenserhaltung konzipiert; Herstellen im Sinne der poiesis als Produzieren von Artefakten und damit kulturell wirksam im Sinne von hand- und kunstwerklichen Objekten; Handeln bedarf keiner stofflichen Grundlage, sondern ist rein kommunikativ im Sinne eines inter homines esse, also der Interaktion von Bürgern im öffentlichen Raum, der polis. Vita activa ist das Titelwort für diese drei Formen menschlicher Tätigkeiten. Aber das Denken fällt aus dieser Triade heraus. Die vita contemplativa bildet einen Gegenpol, der eine rein betrachtende, zuschauende Lebensweise meint (bios theoreticos). Sie setzt Muße voraus, die sich als privates Heraushalten aus den öffentlichen und häuslichen Geschäften definiert. Haus und Stadt, oikos und polis, bilden zwar schon zwei getrennte Seinsbereiche, doch die Muße (schole; otium) meint die Enthaltung von jeder Tätigkeit, das sorgen- und mühelose Leben, also auch das von der Haushaltsführung befreite. Die lebensweltlich fundamentale Tätigkeit des Menschen ist in der Tat die Arbeit. Sie ist der Stoffwechsel zwischen Natur und Mensch im Sinne seiner individuellen wie generischen Selbsterhaltung. Sie ist die vermittelnde Position und Funktion zwischen Produkt und Produzent, Natur und Kultur. Habermas hebt sie neben der Sprache und Interaktion als ein Medium des Geistes bei Hegel hervor.176 Wir unterscheiden heute nicht mehr zwischen Arbeit und Herstellen im griechischen Verständnis. Sogar die Praxis als Handeln im interaktiven Sinne ist in der

Dazu Hegel TW 9: § 249, S. 31ff. (Habermas 1999b): „Wege der Detranszendentalisierung. Von Kant zu Hegel und zurück.“ Vgl. auch den früheren Aufsatz „Arbeit und Interaktion“ aus dem Jahr 1967 in: (Habermas 1973).

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Politik zum Beruf geworden (Max Weber) und gehört damit zur Arbeitswelt im weitesten Sinne. Marx hat als erster nicht nur ökonomisch, sondern anthropologisch und philosophisch folgenreich, wenn auch unsystematisch, den individuellen und gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsaspekt der Arbeit analysiert. Unsere Gesellschaft ist derart komplex und funktional differenziert, dass generell Nicht-Arbeiter (Kinder, Rentner, Kranke) von denen erhalten werden, die arbeiten (Erwerbstätige). Was früher im Familien- oder Stammesverband als Daseinsfür- und ‑vorsorge organisiert wurde, übernehmen heute sukzessive spezialisierte Funktionssysteme. Zum Teil geschieht dies durch Generationen-Vertrag (gesetzliche Rentenversicherung), zum Teil durch Steuern (Beamte, ALG II, SH); und bei den Steuern zahlen auch die mit, die nicht arbeiten (MWSt, indirekte Steuern). Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR) eines Staates, erfasst von Statistischen Ämtern und vielfach für Forschungs- und Publikationszwecke aufbereitet, gibt einen Eindruck von den hier verarbeiteten und strukturierten Datenmengen.177 Hier wäre nun der Ort, über Geld zu reden, über diese Mystifikation der Tauschbeziehungen zwischen Menschen, die sich über die Wertabstraktion (Naturalgeld, Münz- und Papiergeld, Buchgeld, Geld- und Kreditkarte, Smartphone) zu einem gigantischen Finanzmarkt unübersichtlicher Finanzprodukte und Derivaten systemisch relevanter Unabkömmlichkeit trotz gigantischen Vernichtungspotentials entwickelt hat. Nichts ist zugleich mystischer und realer als Geld. Eine kleine Geschichte mag den magischen Prozess der Geldschöpfung veranschaulichen: Kommt ein Mann in ein Hotel und fragt nach einem Zimmer. Der Hotelier bietet ihm an, sich erst die freien Zimmer anzuschauen. Als Pfand für die Schlüssel hinterlegt der Gast einen 100 Euro-Schein und beginnt seine Besichtigung. Derweil rennt der Hotelier mit den 100 Euro zum Bäcker und sagt: „Hier sind die 100 Euro, die ich dir noch für die letzte Lieferung schulde.“ Läuft der Bäcker zum Schneider und sagt: „Hier sind die 100 Euro, die ich dir noch für die Hose schulde.“ Geht der zu einer Dirne und gibt ihr die 100 Euro, die er ihr für die letzte Nacht schuldet. Eilt die Dirne zum Hotelier und bezahlt mit den 100 Euro den angeschriebenen Betrag für die Überlassung eines Zimmers letzte Nacht. Endlich kommt unser Gast nach Stunden

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In Deutschland wird das vom Statistischen Bundesamt sowie den Landesämtern erhoben (destatis.de). Die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb.de) gibt periodisch einen Datenreport heraus, der die wichtigsten Zahlen in lesbarer und anschaulicher Form nach Themen gliedert. Man kann sich auch über Europa informieren unter (ec.europa.eu).

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der Besichtigung zurück und sagt: „Mit gefällt so recht kein Zimmer. Ich wende mich an eine andere Unterkunft.“ Nimmt das Geld und geht. Man staunt: Mit nicht gezahltem Geld, also nicht marktwirksamer Kaufkraft, wird gleichwohl eine Kette von wechselseitigen Schuldverhältnissen getilgt. So funktioniert der Finanzkapitalismus, wobei die Zinsen als Erwerbsquelle der Banken in dem Beispiel noch nicht einmal vorkommen.178 Genauer müsste ich aber statt Geld sagen: Kapital, sich selbst verwertender Wert, womit wir beim hegelschen Begriff oder Geist wären: Sich selbst begreifender Begriff. Hier ist der Mensch zwar an der Spitze angekommen, kann seine Erzeugnisse aber kaum noch verstehen und noch weniger kontrollieren, weil sie ihm im wahrsten Sinne des Wortes über den Kopf gewachsen sind. Was die Philosophen als Titanenkampf zwischen Geist und Natur inszenieren, spielt sich auf der Nachbarbühne der Sozialwissenschaftler als Kampf zwischen Ökonomie und Politik ab.179 Als neuer Titan ist die Digitalisierung dazugekommen. Durch wenige US-amerikanische Monopolisten werden Daten zu einer global konvertiblen Ware. Die Frage des Datenschutzes, für den der Staat zuständig wäre, weil er die Konzerne in ihrem Verwertungsprozess sowohl ökonomisch wie rechtlich stört, ist bereits weit über eine ethische Debatte hinaus. Wem gehören meine Daten? Dem, dem ich sie zur Verfügung stelle, und zwar meist unentgeltlich, weil ich dafür einen ‚Gegenwert‘ in Form von Apps und Dienstleistungen erhalte (Google: Informationssuche; Facebook und Twitter: Kommunikationsplattformen). Der chinesische Staat vertreibt eine Software, mit der die Bürger sich in allen möglichen Lebensbereichen und Funktionen bewerten: social scoring, social credits – in europäischen Augen eine Form der Denunziation im öffentlichen Raum (Vordrängeln, bei Rot über die Ampel gehen, Müll auf die Straße werfen, Un-

Wer es nicht glaubt: Rene Klaus Grosjean (1998), Was ist Wirtschaft?, Düsseldorf, S.  165–169; Seidel/Temmen (1983): Grundlagen der Volkswirtschaftslehre, Bad Homburg, Kap. 5.4 „Buchgeld der Geschäftsbanken“. Wer es gerne groß hat, sei auf das lesenswerte, aber voraussetzungsvolle Buch von Joseph Vogl (2010): Das Gespenst des Kapitals hingewiesen. Ein Geisteswissenschaftler liest darin den Ökonomen angesichts der Finanzkrise die Leviten, das V. Kapitel „Ökonomische und soziale Reproduktion“ spannt den Bogen von Aristoteles’ Chrematistik (vgl. Kap 2.1) bis zu Marx’ Analysen des Kapitals als sich selbst vermehrender Wert. Ziel: Kritik des neoliberalen Credos von der Markteffizienz (Oikodizee), das während der Finanzkrise ad absurdum geführt wurde. 179 Neben (Vogl 2010) auch Koch, J. (2001): Weder – Noch. Das Freiheitsversprechen der Ökonomie, Frankfurt am Main. 178

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freundlichkeit … werden bewertet).180 Arbeit schafft unter kapitalistischen Produktionsbedingungen eine ungeheure Menge an Gütern und Dienstleistungen, die unter dem Aspekt des Tauschwerts identisch sind – sie sind alle käuflich –, unter dem des Gebrauchswerts verschieden, aber schon auf vorzeitigen Verschleiß und Verbrauch hin angelegt, im Nutzen oft fraglich, und deren Vernichtung unterdessen bereits einkalkuliert (Obsoleszenz) ist, bevor die Ware überhaupt zu Ende konsumiert wurde. Prinzipiell mutiert der Kapitalismus von einer Mangelwirtschaft zur Überflusswirtschaft, weil die Konsumenten immer mehr vom Gleichen kaufen sollen und wahrscheinlich müssen, da die Dynamik des ökonomischen Systems auf Wachstum, nicht auf Nachhaltigkeit basiert. In der marxschen Theorie tauchen die Begriffe von Arbeit und Interaktion bei den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen wieder auf. Aus ihrem Spannungsverhältnis will Marx „den welthistorischen Bildungsprozeß der Menschengattung aus Gesetzen der Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens […] rekonstruieren.“181 Unter Arbeit muss man sich die gesellschaftliche Organisation des handwerklichen, industriellen und wissenschaftlich-technischen Produktionsprozess vorstellen, zu der letztlich auch die Bildung und Ausbildung der Arbeitskräfte gehört; mit Interaktion ist dann der institutionelle Rahmen gemeint, der vor allem das Recht, also vertraglich geregelte Sozialbeziehungen bis hin zum Eigentumsrecht etwa am Besitz der Produktionsmittel, umfasst. Das große Thema der Rationalität und Rationalisierung, die Berechen‑, Plan- und Kontrollierbarkeit sozialer Handlungsstrukturen und ‑prozesse (Betrieb, Bürokratie, Markt), hat seinen Ursprung in der Zweckrationalität, dem Zweck-Mittel-Denken und den verschiedenen Strategien, erfolgskontrolliertes Handeln zu optimieren und in seiner Effizienz zu steigern (homo oeconomicus).182 Inwieweit aber dieses Projekt der Rationalisierung, Ob es sich hier um bloße Propaganda oder tatsächlich um den Alptraum des Orwellschen Staates als big brother handelt, ist in der Fachwelt noch umstritten. Vgl. https:// www.heise.de/newsticker/meldung/re-publica-US-Forscher-haelt-Chinas-SocialCredit-System-fuer-Propaganda-4415221.html (letzter Zugriff am 12.09.2019). Ohne Frage ist der Zweck der Disziplinierung der eigenen Bevölkerung wohl erreicht worden. 181 (Habermas 1973: S. 45). 182 Der ‚ökonomische Mensch‘ denkt in den Kategorien der Nützlichkeit und Steigerung, indem er fortlaufend Nutzen (Ertrag) maximiert und Kosten (Aufwand) minimiert. So zu handeln ist rational. Der individuelle Eigennutz (Egoismus) ist die Grundlage dieses ökonomischen Modells, das die weitere Modellannahme eines vollkommenen Marktes voraussetzt. Diese Annahmen und Modellkonstruktionen der klassischen Ökonomie 180

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das vor allem von Max Weber in die Sozialwissenschaften geholt wurde, den Bereich der Interaktionen, das kommunikative Handeln (Habermas) verstehbar und durchsichtig machen kann, ist die Frage.183 Da ich im letzten Kapitel, in dem der Bildungsbegriff thematisiert werden soll, auf das Produktionsmodell der poiesis zurückgreifen möchte, sollen hier schon einige analytische Vorteile herausgestellt werden: a) Objektivierung: Produkte lösen sich vom Produzenten und führen eine eigenständige Existenz. Im Produkt verschwindet sowohl der Prozess der Herstellung wie auch der Produzent. Es sei denn, dieser besitzt, wie der Künstler, eine ‚Handschrift‘. So stehen sich Unikate und Massenprodukte gegenüber. Man kann die Produktsphäre unabhängig vom Produzenten und Rezipienten bzw. Konsumenten analysieren (Systeme, Märkte, Sprache, Logik, Mathematik, Recht, Moral, Theorien etc.). Mit Marx gesprochen befinden wir uns in der Zirkulationssphäre, in der Preis und Wert auseinanderfallen. b) Verwirklichung: Produkte erfüllen ihren Zweck nur und ausschließlich im Gebrauch. Sie werden erst in der für sie vorgesehenen Tätigkeit wirklich, obwohl sie als Ding bereits vorher existieren.184 Ein Buch, das nicht gelesen wird, ist ‚eigentlich‘ kein Buch, sondern ein Haufen Papier. Eine Sprache, die nicht gesprochen wird, ist ‚tot‘. Das schließt Zweckentfremdungen nichts aus (Bücher als Statussymbol für Bildung oder zur Dekoration im Bücherregal). c) Dialektik von Produktion und Konsumtion: Soziale Produkte wie zum Beispiel Normen, Rollen, Gesetze, Institutionen oder gar Systeme (Interaktionen, Organisationen, Gesellschaft) existieren subjektiv im Gedächtnis der handelnden Subjekte (psychische Systeme) und objektiv in meist rechtlichen Dokumenten oder moralischen Regeln, die wiederum im insind unterdessen vielfach kritisiert und revidiert worden. Nicht zuletzt die Finanzkrise von 2008 hat den Glauben an die Effizienz von freien Märkten und rationaler Akteure erschüttert. 183 Zu diesem Komplex umfassend (Habermas 1981). 184 Die Existenzform ist sogar doppelt: einmal als ideeller Plan und Modell, dann als fertiges, neues Produkt. Neu meint ungebraucht der Bedeutung nach. Erst mit dem Stapellauf beginnt das wahre Leben des Produkts. Hier wiederholen sich die beiden Seinsmodi der Möglichkeit und der Wirklichkeit, energeia und dynamis, der Potenz und der Aktualität.

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dividuellen, gleichwohl traditionellen Bewusstsein internalisiert worden sein müssen. Realität werden soziale Produkte aber erst in der interaktiven Handlung, so wie Produkte erst im Gebrauch ihren Zweck verwirklichen. Das bedeutet, die Gesellschaft existiert nur in der Bewegung, in Aktionen und Reaktionen, Produktion und Konsumtion, Tun und Lassen. Das Genießen setzt voraus, dass vorher der Gegenstand des Genusses erzeugt oder bereitgestellt worden ist.185 Der Genuss, der Konsum, ist eine Phase innerhalb einer Schöpfungskette, die vielleicht als deren Endzweck betrachtet werden kann, vielleicht aber liegt der Endzweck bereits in irgendeiner Stufe der Erzeugung oder gar im zweckfreien Sinn der Tätigkeit – dass etwa Arbeit Spaß machen kann oder sinnerfüllend sein soll. d) Soziale Perspektivik: Im Ganzen betrachtet ist das Leben ein nie endender ‚Schöpfungstag‘, der Stillstand nur als Moment der Ruhe und Sammlung der Kräfte (dynamis) kennt, die als lebendige zum Tätigsein bestimmt sind.186 Für die Teilnehmer bemisst sich der Erfolg oder die Güte sozialer Produkte in gelungenen Interaktionen, für Beobachter in störungsfreien, friedlich verlaufenden Körperbewegungen. Will er die Handlungen verstehen, ihren Sinn erfassen, muss er vorher das Kommunikationsmedium analysiert und verstanden haben. Damit wird der Beobachter zwangsläufig Teil des Systems, das heißt, er kann sich in einer Teilnehmerrolle darin bewegen, zugleich aber in der Beobachterrolle einen Außenstandpunkt einnehmen. Rollen- und Perspektivenwechsel ist grundsätzlicher Bestandteil der Rollenkompetenz (Empathie). In der Differenzschrift von 1801, der ersten Publikation Hegels, mit der er ins akademische Geschäft der Philosophie eintritt, wimmelt es in Bezug auf geistige Tätigkeiten wie Reflexion und Spekulation von Formulierungen der Produktion,

Selbst der Genuss einer Landschaft, einer Abendstimmung, der Stille, das dolce far niente usw. sind nicht ‚kostenlos‘ zu haben, sondern eher voraussetzungsvoll. 186 Am Beispiel des Lockdowns während der Corona-Pandemie konnte jeder beobachten, wie selbst bei nur eingeschränkter Bewegungsfreiheit und Absage aller öffentlichen Veranstaltungen das gesellschaftliche Leben erstarrte. Zum Glück funktionierte die Grundversorgung mit Gütern und Dienstleistungen noch, durfte man noch unter Auflagen nach draußen. 185

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Konstruktion und Tätigkeit.187 „Die Form […] gibt den Übergang vom Bedürfnisse der Philosophie zum Instrument des Philosophirens, der Reflexion als Vernunft. Das Absolute soll fürs Bewußseyn konstruirt werden, ist die Aufgabe der Philosophie; da aber das Produciren so wie die Produkte der Reflexion nur Beschränkungen sind, so ist diß ein Widerspruch.“ (Hegel 1982: S. 35f.) Das Absolute ist ein im Bewusstsein konstruiertes und reflektiertes Produkt aus Spekulation und absoluter Anschauung, in dem es „als bewußtes und bewußtloses zugleich seyn muß.“ (a. a. O., S. 36). In der Vorrede zu Die deutsche Ideologie (1845/1846) schreiben Marx und Engels: „Hegel hatte den positiven Idealismus vollendet. […] Er begnügte sich nicht, die Gedankendinge einzuregistrieren, er sucht auch den Produktionsakt darzustellen.“ (MEW 3: S. 14, Fußnote).188 Mit diesen Verweisen auf die ideelle Produktion soll der nicht-metaphorische Gebrauch dieses Begriffs betont werden. Der Hauptaspekt der poiesis liegt ja doch in der Formung eines Materials, die gleichzeitig eine Transformation ist, nämlich von einem bloß Vorhandenen zu einem Zuhandenen. Ob die Materie stofflich oder geistig, dinglich oder begrifflich ist, ändert am Wesen der herstellenden Tätigkeit nichts. Wenn Hegel von der „Arbeit des Begriffs“ spricht, meint er die Anstrengung, die mit der Theorie als reiner, passiver Anschauung nichts gemein hat; der Geist muss tätig sein, eben arbeiten. Die Systemtheorie hat ebenfalls auf einer hohen Abstraktionsstufe versucht, den Zusammenhang und auch die Entwicklung unserer modernen Gesellschaften zu rekonstruieren. Dabei verzichtet sie in der luhmannschen Ausprägung – und es gibt in Deutschland wohl keine andere  – auf traditionelle Begriffe der Philosophie und auch einiger Wissenschaften, um die funktional aufeinander abgestimmten Kommunikationsstrukturen sozialer Systeme neu verstehbar zu machen. Dabei geht sie beginnend bei den einfachen Interaktionssystemen über Organisationen bis hin zur Gesellschaft als dem umfassenden Sozialsystem. Der Mensch erscheint hier nur noch als psychisches System, das in den sozialen Systemen als Rollen- und Funktionsträger handelt und erlebt. Er wird zur Umwelt

vgl. (Hegel 1982: S. 27, 29, 31, 32, 35 …) In der Einleitung werden sie drastisch in Bezug auf die „deutschen Ideologen“ ( unter anderem Feuerbach, Strauss, Stirner), sprechen von „philosophischen Industriellen“ und beschreiben sie und ihre Arbeit polemisch in ökonomischen Metaphern, die in dem Ausdruck „philosophische Marktschreierei“ kulminieren.

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sozialer Systeme degradiert; die Bezeichnung ‚Person‘ wechselt ihre Bedeutung von ‚personales System‘ bis zu einer Art Rollenspieler, der für eine strukturelle Kopplung zwischen psychischem und sozialem System sorgt. Hier ist dann kein Platz mehr für irgendeine Subjekterzählung. Und es ist die Frage, ob und inwieweit sich selbst ein der Bildungssprache mächtiger Leser in Luhmanns späteren Werken wiedererkennen kann. Da aber auch die Systemtheorie beobachtet wird, um diesen zentralen Operationsmodus in Luhmanns Worten zu bemühen, können andere Beobachtungs- und Deutungssystems wie Literatur, Film, Medien, Philosophie und Wissenschaft diese Erkenntnisse infrage stellen, kritisieren und eventuell korrigieren, wogegen er sicher nichts einzuwenden gehabt hätte. Da Kommunikation die Ressource ist, die unser Leben und Überleben garantiert, sind wir notwendigerweise zur Kooperation verdammt, wenn wir uns nicht gegenseitig vernichten wollen. So wird aus Praxis Kommunikation, die sich zusehends digitalisiert.

3.3 Nichts – Trieb und Wille Wenn man das Nichts dramaturgisch als den Gegenspieler des Seins auffasst, sind beide Momente eines gemeinsamen Spiels. Das Denken, genauer: die hegelsche Idee, umgreift sie als das Allgemeinere, sie sind Teile eines Ganzen. Dieses Ganze umfasst wiederum den Grenzübertritt, der bei der Idee vom Inneren nach Außen vollzogen und dort erst wirklich wird. Nehmen wir zur Veranschaulichung das Spielfeld einer Sportart wie Fußball. Dieses ist mit Linien markiert, die definieren, was zum Feld gehört, welche Zonen darin sind und was wo erlaubt oder verboten ist. Diese Linien sind sowohl für die Spieler wie für die Zuschauer sichtbar. In einem Mannschaftsspiel stehen sich die Spieler in zwei Hälften gegenüber, wechseln meist zur Halbzeit die Seiten und spielen dennoch über das ganze Feld. Das Ergebnis des Spiels ist in der Regel auf drei Weisen möglich: Gewinnen, Verlieren, Unentschieden. Im Falle irregulärer Ereignisse wird das Spiel abgebrochen. Warum führe ich das Nichts auf diese Weise ein? Man kann an verschiedenen Stellen des Beispiels feststellen, wie das Nichts ‚ins Spiel kommt‘. Erstens muss man nicht spielen, man kann etwas anderes tun. Wenn man aber spielt, gelten zweitens Regeln, die allgemein akzeptiert sind und alles ausschließen, was nicht zum Spiel 161

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gehört, weshalb ja politische Botschaften von Sportlern während des Spiels oder sogenannte Flitzer problematisch sind. Innerhalb des Regelwerks gelten wiederum Regeln, die etwas zulassen oder gar gebieten und solche, die – drittens – etwas verbieten. Bei Regelverletzung, meist unfairem Spiel, gelten viertens Sanktionen, die klaglos akzeptiert werden müssen. Die ‚rote Karte‘ führt zum Ausscheiden (‚Vernichtung‘) des Spielers. Der Witz an diesem Bild ist, dass in der Realität des Spiels a) die Beobachter oder Zuschauer als Nicht-Spieler gleichwohl dazu gehören, b) alle Regeln und Entscheidungen aufgrund dieser Regeln auch außerhalb des Spiels diskutiert werden, zuweilen sogar live in den Medien. Der Schiedsrichter, die neutrale Figur, unterbricht das Spiel, er bemüht den Videobeweis, dies ist sozusagen die Zeit des Diskurses. Die Reporter, die Zuschauer, danach in den Kneipen, zuhause am Frühstückstisch, am Arbeitsplatz unter Kollegen tags darauf usw., bilden den öffentlichen Resonanzraum. Das Draußen ist genauso wichtig wie das Drinnen, weil das Drinnen nur deshalb überhaupt inszeniert wird; ein Spiel ohne jeglichen Zuschauer wäre keins; ein sogenanntes Geisterspiel, zu dem Mannschaften verdonnert werden, wenn etwas sehr Spielfremdes die Idee des Spiels verletzt hat.189 Mit dem Spielfeld freilich, um zurück auf den Ort der Austragung zu kommen, ist schon etwas definiert, das aufs Ganze geht, weil es ein innen, drinnen, Wesen und Sein festlegt, das im selben Moment, wo das Spielfeld verlassen wird, in eine andere Realität, ein anderes Sein führt, obwohl, und das wäre ein Argument für den Universalismus, die Welt des Drinnen und Draußen, des Seins und des Nichts für alle, die Spieler wie die Zuschauer, identisch ist. Denn nach dem Spiel geht man raus in die Kneipe und trinkt zusammen, diskutiert das Spiel und freut sich auf das nächste. Stadion und Kneipe, Straße und Zuhause sind verschiedene Spielfelder, für die verschiedene Regeln gelten; soweit ist dem Relativismus zuzustimmen. Aber man kann innerhalb eines Spielfelds nicht verschiedene Regeln gelten lassen. Gibt es ein universelles Spielfeld? Das ist die metaphysische Frage.190 Universalismus wäre für

Wie aktuell das Corona-Virus. Sie wird im Weltbegriff erörtert. Ich finde es ziemlich unerheblich, ob man aus logischen oder ontologischen Gründen die Existenz von einem allumfassenden Seinsganzen bejaht oder verneint, denn faktisch leben wir ja auf diesem Planeten, der wiederum Teil eines galaktischen Universums ist. Was wir Menschen uns nun darüber einbilden, ist aus diesem Blickwinkel betrachtet ziemlich belanglos. Was uns aber betrifft, kann nur in einer raumzeitlich und symbolisch gemeinsamen Lebenswelt thematisiert werden. Was anderes als die Sprache haben wir dafür?

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mich nun nicht nur die Tatsache, dass man dieses Spiel überall auf dem Planeten nach denselben Regeln spielt, was sicher auch zur Völkerverständigung beitrüge – ein durchaus olympischer und sympathischer Gedanke. Sondern auch, dass sich etwa der Gedanke der Fairness auf andere Felder mit Konkurrenz und Kooperation übertragen lässt: Sportsgeist und Teamgeist übernehmen Vorbildfunktion etwa für Kinder und Jugendliche. (1) Logisch ist das Nichts abhängig vom Sein, denn wenn Nichts ist, ist ‚etwas‘, eben das Nichts. Die Logik bezieht sich sprachübergreifend auf unser Denken und Reden über etwas. Schon die Unterscheidung von Denkform und Denkinhalt ist irrtumsanfällig, weil unterstellt wird, der Inhalt des Denkens sei ein Nicht-Denken. Das stimmt aber in der Logik nicht. Denn der Gegenstand des Denkens ist es selbst, also das Denken. Das Nichtdenkbare wäre schon von hier aus gesehen ein Gedankending, also nichts Reales im Sinne des außerhalb des Denkens Seienden. Das Nichtdenkbare muss im Denken sein, im System sozusagen, und nicht in dessen Umwelt. Über dessen Existenz als Referenzobjekt ist damit überhaupt nichts ausgesagt. Was noch nicht entdeckt worden ist, kann als noch nicht Entdecktes gedacht und theoretisch prognostiziert werden. Zum Beispiel Kontinente, Sterne, Moleküle, Heilmittel: Sie alle haben existiert, bevor sie erstmals von irgendjemand wahrgenommen und registriert wurden, niemand hatte sie aber positiv in seinem Denken. Wer Satz (1) leugnet, müsste sich selbst verleugnen, aus dem Sein durchstreichen, denn er ist ja; dieser Satz gilt nicht für ein einzelnes Subjekt, sondern für die Seinsproblematik schlechthin.191 Es gibt kein absolutes Nichts. Denn dann gäbe es ja auch niemanden oder nichts, was diesen Gedanken denken könnte. Man muss sich wirklich klar sein über diesen schlichten wie tiefen Gedanken, dass unser Dasein, unsere Existenz als Mensch, ein Beweis dafür ist, dass es das absolute Nichts – substantiell, als Seiendes, was ja bereits paradox wäre  – nicht gibt.192 Selbst als schiere Denkmöglichkeit ist es nicht konsistent zu denken, da ja damit etwas wäre, nämlich das

Das Absolute kann so gesehen nur ein Subjekt sein. Diesen Nachweis zu führen ist Hegels Sinnen und Trachten. 192 Selbst der hartnäckigste Solipsist kann nicht an ein absolutes Nichts glauben, denn dann müsste er sich selbst darin erkennen wie ein Spiegelbild. Fraglich schon, wie er alles, was er in aus sich selbst hinein oder aus sich selbst heraus stülpt, als nicht real oder wirklich vermuten kann, und ich habe keine Idee, wo und wann er sich überhaupt zu sein vermutet. Wissen kann er ja nichts. Ich stelle ihn mir als vollkommen Wahnsinnigen oder zutiefst Unglücklichen vor. 191

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Nichts in absoluter Form und ein Sein oder Seiendes, das es denkt. Damit wäre im Grunde die Nichtexistenz des Nichts bewiesen. Das Sein ist dann aber nicht nur als Begriff ontologisch dem Begriff des Nichts vorgängig, sondern auch ontisch. Und das kann man konsistent noch nicht einmal denken. Hegels Logik fängt nicht zufällig mit dem Sein und nicht mit dem Nichts an, was ja ‚eigentlich‘ dasselbe ist; Nichts kann nur parasitär da sein. Beiden gemeinsam ist ihre „Unbestimmtheit“. Es gibt keine Unterscheidungen, noch nicht mal Elemente, es ist „Leere“. Zum Sein sagt Hegel: „Es ist nichts in ihm anzuschauen, wenn von Anschauen hier gesprochen werden kann; oder es ist nur dies reine, leere Anschauen selbst.“ (TW 5: S. 82) Dann folgt eine Wendung, die ebenso klar wie paradox scheint: „Das Sein, das unbestimmte Unmittelbare ist in der Tat Nichts und nicht mehr noch weniger als Nichts.“ (a. a. O., S. 83; zweite Hervorhebung von mir). An diesen Stellen macht Hegel deutlich, dass in diesem Anfang weder ein Beobachter da ist noch etwas, was zu beobachten wäre. Unmittelbares heißt ja: nicht vermittelt, also blank und rein, an sich und ohne Zutat gedacht. Unbestimmt. Das Nichts wird dann ebenso leer und unbestimmt, inhaltslos und undifferenziert vorgestellt, als „Ununterschiedenheit in ihm selbst.“ (a. a. O.). Dann wechselt er die Perspektive und betrachtet es aus der Ferne beziehungsweise vom Ende her mithilfe eines Konditionalsatzes: Wenn man hier überhaupt vom Anschauen oder Denken reden wollte (was aber wegen des Anfangs nicht geht), werden ‚etwas‘ und ‚nichts‘ anschauen oder denken zwar unterschieden, und insofern, sagt Hegel, ist (existiert) das Nichts (im Denken oder Anschauen); da aber beide Wörter ein und dasselbe bedeuten, nämlich eigentlich nichts, kann Hegel die lösende Kategorie des Werdens mit dem Satz einleiten: „Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe.“ (a. a. O.: S. 83). Das ist natürlich selbstreflexiv und selbstbezüglich, insofern eine Identität behauptet wird, was in der Seinslogik nicht statthaft ist, da Identität eine wesenslogische Kategorie ist, aber so sieht die Sache aus, nachdem man den logischen Raum dialektisch aufgeräumt und kategorial erschlossen hat: Im absoluten Wissen ist das Nichts in der Fülle des Seins enthalten – und das Sein in der Fülle des Nichts. Jeder Künstler kennt den Anfangszustand, das weiße Blatt Papier, den unbehauenen Stein, den Moment auf der Bühne vor dem ersten Ton oder Klang. Mag auch in diesem Augenblick, diesem Moment noch alles möglich sein, sobald es anfängt, folgt es einem geheimen oder allen bekannten Plan, einem telos. Selbst die Improvisation, bei der der Künstler vom Schema abweicht und sich selbst überlässt, erhält sich in der Negation das Kunstwerk als Ganzes. Man kann es auch so formu164

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lieren: Das Nichts ist in seiner Existenz parasitär. Daher ist die alte metaphysische Frage, warum etwas und nicht nichts sei, rein logisch unsinnig. Der Grund ist eben die Abhängigkeit des Nichts vom Sein. Immer ist irgendwas, und wenn es nichts ist – so paradox könnte man es auch sagen. (2) Ontologisch zeigt sich das Nichts als Mangel, als Trieb, Bedürfnis, Begehren, Wunsch. Verortet ist es sowohl im Organischen wie im Unbewussten193, dem leibnahen Es Freuds oder dem metaphysischen Willen Schopenhauers, und zwar jeweils als blind wirkende, innere Kraft, die nach außen drängt. Alle Konzepte setzen ein System/eine Umwelt-Differenz voraus, ein Innen und ein Außen, zwischen denen ein Austausch für den Systemerhalt unabdingbar ist, eine Interaktion, eine Interpenetration oder was auch immer fachterminologisch einsetzbar ist. Diese Prozesse laufen im menschlichen Organismus nicht immer bewusst, sondern oft nebenbei, routinemäßig und unbemerkt ab. Unsere vitalen Körperfunktionen sind uns phänomenal vollständig verschlossen, wir haben nicht die geringst Ahnung, was sekündlich in unserm Körper passiert. Die unbewussten Triebe sind nicht nur psychisch, sondern eminent körperlichphysiologisch, zeitlich auf die Zukunft ausgerichtet, aber gegenwärtig spürbar als Spannungszustand, Hunger, Durst, blindes Drängen. Der aktuelle Seinszustand eines Organismus ist somit prinzipiell unvollständig, weil irgendwo immer ein Mangel herrscht. Einem Akku vergleichbar entlädt er sich permanent, selbst im Ruhezustand (stand-by). Jeder menschliche Organismus ist zu seiner Selbsterhaltung biologisch auf einen Stoffwechsel mit seiner Umwelt, psychologisch auf Informationen und soziologisch auf Interaktionen mit anderen Organismen angewiesen. Der beständige Austausch von Stoffen und Informationen, die zyklischen und progressiven Prozesse, die laufenden Metamorphosen, bewirken Leben – oder größer formuliert: das Sein des Werdens oder das werdende Sein. Hier ist Heraklit eindeutig Parmenides gedanklich voraus und vorzuziehen. Der Tod ist nicht das Nichts. Der Tod eines Organismus ist sein organisches Ende, aber der Körper zerfällt in 193

Auf eine genauere Unterscheidung der Begriffe Unbewusstes, Unter- und Vorbewusstes muss ich für meine Zwecke nicht eingehen. Es leuchtet natürlich ein, dass ein traumatisch erlebtes Ereignis, das unbewusst verdrängt wurde, eine andere Qualität hat als eine durch Übung automatisierte, unterbewusste Routine. Ebenfalls sind alle unsere Kompetenzen unbewusst, laufen unsere vitalen Körperfunktionen sogar kausal und funktional zwingend unserem Bewusstsein unzugänglich ab. Man müsste über Zensur und Reflexion reden, um die Zugänglichkeit bzw. Blockade verständlich zu machen.

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seine anorganischen Bestandteile und dient anderen Organismen zu deren Erhalt. Gut möglich, dass unsere Atome und Moleküle in anderer Zusammensetzung in ein anderes Lebewesen verwandelt werden.194 Wer weiß das schon. Und Teile unseres Geistes leben in unseren Kindern, Enkeln, Freunden und nahen Hinterbliebenen zumindest eine Zeitlang weiter. Das ist vielleicht der Gedanke oder tiefere Sinn des ewigen Lebens oder der Seelenwanderung, jedenfalls einer kosmischen Idee vom Allzusammenhang. Bei uns Menschen leben wir noch ein, zwei Generationen im Gedächtnis unserer Mitwelt weiter, einige herausragende Personen erhalten Andenken, wir benennen Straßen, Plätze, Orte, Gebäude oder Entdeckungen und Erfindungen nach ihnen, stellen Skulpturen an öffentlichen Plätzen auf; oder sie wirken durch ihre Werke nach, in der Kunst, in den Geschichtsbüchern oder in den Köpfen und Herzen der Nachgeborenen. Sie bleiben auf diese Weise kulturell und psychisch lebendig, obwohl sie nicht mehr sind. Schlussendlich: ‚Nichts‘ ist relativ. Es braucht ein Bezugssystem, von dem aus oder in dem sich das Nichts verwirklichen kann. Schließlich ist auch jeder Nihilismus immerhin noch ein theoretischer Standpunkt, der eingenommen wird und im Sein verortet ist: philosophisch, literarisch; existentialistisch → suizidal. Das Nichts kommt am Sein nicht vorbei. Das scheint mir der wahre Grund, warum etwas und nicht (N)nichts ist. Homo mensura est. Im Triebbegriff liegt schon die Verbindung von Physischem und Psychischem. Der organische Mangelzustand, der sich im Innern des Organismus als Hunger, Durst, Appetit oder sexuelle Erregung äußert, wird und wirkt psychisch. Er löst Handlungen zur Erreichung des Triebziels aus, zum Abbau der Organspannungen infolge des Mangels, also etwa der Nahrungsaufnahme. Dafür bedarf der Organismus aber geeigneter Objekte von außen. Aus sich heraus kann er dem Trieb nichts geben oder er muss ausweichen und Ersatz bieten. Zur Selbsterhaltung, der die primären, vitalen Triebe oder Bedürfnisse dienen, benötigt der Organismus zwingend eine äußere Umwelt, die ihn mit Ressourcen versorgt. Für die sekundären (Anerkennung, Autonomie) noch mehr. Der grundlegende Gedanke liegt für mich in der absoluten Notwendigkeit, dem organisch zwingenden Angewiesensein auf die Außenwelt und den Anderen. Dies liegt jenseits epistemischer Verfügbarkeit und ist ein primär ontologisches Gesetz. Man kann ja versuchen, sich Nase und Mund zuzuhalten und den Zeitpunkt zu erwischen, wo nichts mehr ist. (Bryson 2004: S. 175).

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(3) Der Wille. Die Griechen denken ihn als Übergang von der Beratung zur Handlung im Sinne eines Entschlusses. Darin wird die Realisation der Beratungsergebnisse bekundet (Mittelstrass 2004: Bd. 4, S. 705). Das christliche Denken stellt den Willen als selbständiges Vermögen der Vernunft gegenüber, was die Frage nach dem Primat aufwirft (Voluntarismus vs. Intellektualismus). Erst die Frage nach der Willensfreiheit arbeitet die Eigenständigkeit eines Handlungsvermögens heraus, das den Willen stark aktivisch akzentuiert (Selbstverursachung) im Unterschied zu einem Wunsch, der rein passivisch im Vorstellungsbereich verbleibt. Was man will, müsse man aktiv intentional, durch Handlungen und Entscheidungen, verwirklichen. Was man wünscht, könne man passiv intentional als Möglichkeit erhalten. Nunja, rein phänomenologisch halte ich diese Modi für nur schwer trennbar. Denn was man sich wünscht, will man ja auch haben. Man unterstellt beim Willen allerdings mehr Handlungsbereitschaft und Energie, das angestrebte Ziel zu erreichen. „Wille zur Macht“ ist Nietzsches Leitmotiv und Lebensprinzip alles Seienden. Das Streben nach Wahrheit, Erkenntnis, Tugend, Gerechtigkeit, Werten allgemein (Freiheit, Gleichheit, Liebe) maskiert nur diesen einen Willen totaler Kontrolle. Heidegger hat dies gewürdigt (vgl. Mittelstrass 2004., S. 707). Der Nihilismus verlangt notwendig nach einem Menschentypus, der dieser Umwertung widerstehen und einen neuen Sinn schöpfen kann: Die Ermächtigung des Menschen über sich selbst. Was heißt dann aber noch: Nihil? Mit dem Ausdruck Emergenz oder Fulguration195 wird ein empirisches Phänomen bezeichnet, das in der Entstehung von etwas Neuem, Unvorhergesehenem aus mindestens zwei bekannten Elementen besteht. Der geläufige Ausdruck, das Ganze sei mehr als die Summe seiner Teile, wäre das klassische Beispiel. Er ist am Modell des Organismus gewonnen. Ein weiteres klassisches Beispiel ist das Wasser (H2O), das aus Wasser (H) und Sauerstoff (O) im Verhältnis 2:1 besteht – und meist noch weiteren löslichen Stoffen. Die Elemente kommen auch getrennt vor und zeigen dann ein anderes Verhalten als in der Konstellation als Wassermolekül. Die Chemie kennt viele solcher Moleküle, die sie für allerlei praktische Zwecke synthetisch herstellt. Die Pharmazie ist ein naturwissenschaftlich arbeitender Forschungszweig, der tief

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Dieser auf den Zoologen und Verhaltensforscher Konrad Lorenz (1903–1989) zurückgehende Begriff will hervorheben, dass tatsächlich etwas völlig Neues, vorher noch nicht Dagewesenes blitzartig (lat: fulgur: der Blitz) entsteht, während mit Emergenz (Auftauchen) suggeriert würde, dass das Neue schon da und nur verborgen war.

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auch in die Psyche des Menschen eingreift. Psychopharmaka, künstlich hergestellte Drogen, wirken bewusstseinsverändernd. Freud hat einige Jahre mit Kokain experimentiert, das auch zur Bekämpfung der Morphiumsucht eingesetzt werden sollte. Es geht um die kausalen Wirkungen oder gar Wechselwirkungen zwischen Physis und Psyche. Man kann an Alkohol und pflanzliche Drogen auf Hanfbasis denken. Die LSD-Droge, die Hippie-Kultur, der Beatle-Song ‚Lucie In The Sky With Diamonds’ etc. zeigen schon vor Crystal Meth, Ecstasy und Crack, um nur die bekanntesten zu nennen, dass zwischen körperlichen und psychisch-mentalen Prozessen Verbindungen bestehen. Man kann das Bewusstsein als emergente Eigenschaft des Gehirns auffassen, das zuvor bekannte Elemente (Zellgewebe) zu einer neuen neuronalen Struktur zusammensetzt. Dann wäre die Tatsache, dass es Luft, Licht, Wasser, Erde, Lebewesen, den Menschen, Gesellschaften und Geschichte gibt, nichts wirklich Verwunderliches. Denn von jeder Entwicklungsstufe des Seins aus entstehen neuartige Seinsformen, die in sich die alten enthalten, aber neue Qualitäten entwickeln. Dies kann auch als ein großer, spekulativer Gedanke gelten, in dem der Mensch als die vorläufige Spitze einer Evolution des Seins begriffen wird, der in der Lage ist, neue Emergenzen hervorzubringen. Auf unklare, vage Weise haben wir oft das Gefühl, dass wir ‚aus dem Nichts‘ zu irgendwas gedrängt und getrieben werden. Selbst wenn wir in ein Gespräch verwickelt werden, haben wir doch den Eindruck, dass sich da etwas entfaltet, das wir nicht vorhersehen konnten. Gadamer hat das so formuliert: „Wir sagen zwar, daß wir ein Gespräch ‚führen‘, aber je eigentlicher ein Gespräch ist, desto weniger liegt die Führung desselben in dem Willen des einen oder anderen Gesprächspartners […] Was bei einem Gespräch ‚herauskommt‘, weiß keiner vorher.“ (Gadamer 2010: S. 387) Ebenso tauchen Formulierungen auf wie „Es denkt“, die nahelegen, dass wir von einer Kraft oder Energie gesteuert werden, die sich aus unserem Inneren heraus nach Außen drängt und unseren Wünschen und Gedanken Ausdruck verleiht. Sprache ist oder funktioniert weitgehend unbewusst. Wir wissen fast nie, was wir in der nächsten Sekunde sagen werden. Bei wichtigen Anlässen lernen wir unseren Text auswendig oder lesen ab. Wir wollen uns und das Publikum nicht mit Blockaden oder Irrelevantem überraschen. Wer hat sich schon im Griff? Wer kennt sich soweit, dass er situationsunabhängig weiß, wie er auf Unvorhergesehenes reagiert? Wer Berichte von Kreativen aller Branchen verfolgt, die über ihre Einfälle und Arbeitsweise erzählen, findet oft den Gedanken, dass da etwas in ihnen gärt, das sie nur noch herauslassen und in die Form gießen müssen, die ihr Metier verlangt. 168

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Ebenso unerklärlich und scheinbar wie aus dem Nichts kommend stammt die Erfahrung etwa von Musikern, die Stücke, die sie aus dem Effeff beherrschen, bei hundert Aufführungen hundertmal anders spielen und – empfinden!196 Die in diesem Kapitel angeführten Beispiele für das Nichts sind natürlich nur relativ gesehen Nichts. Wie ich schon anführte, kann es das absolute Nichts nicht geben, weil es logisch mit dem Sein (des Nichts) und ontologisch mit dem Faktum unserer Existenz verbunden ist. Wenn die Rede von ‚absoluter Negation‘ oder ‚Negativität‘ ist, meint das immer eine selbstbezügliche Struktur, die nie anders denn als Reflexionsstruktur gedacht werden kann. Was sich auf sich selbst beziehen kann, hier das Negative, muss Bewusstsein haben. Was sich der Wahrnehmung und dem Erleben als Nichts darbietet, ist immer ein Davor oder Dazwischen oder Danach: Ruhe, Stille, Verlöschen als meditatives telos, eine Sehnsucht oder Begierde nach etwas, die Pause in der Musik etc. Es ist sozusagen eine Leerstelle innerhalb eines semantischen oder ästhetischen Feldes, das dann aber etwas bedeutet. Wer beim Sprechen eine Pause macht, handelt entweder rhetorisch oder er weiß nicht mehr weiter. Oft muss man die Funktion der Pause aus nicht-sprachlichen Zeichen wie Mimik, Gestik usw. erschließen. Wie auch immer, die Stille hat eine Bedeutung oder kann eine haben. Sie ist ein meditativer Ort, ein Zurückgezogensein aus dem Lärm und der Hektik des Alltags, ein Fluchtpunkt der Ruhe und Sammlung. Im strukturalen, viel mehr aber im dialektischen Sinne kann sie jedoch nur in der Spannung zum Laut und der Bewegung eine lebenserhaltende Funktion erfüllen. Als permanenter Zustand wäre sie der vorgezogene Tod. Das Nirwana als Ziel der Versenkung und der Suche nach Erleuchtung, die Befreiung vom Körper, ist der Tod und nicht das Leben. Denn das ist Chaos und Vernunft im Kampf miteinander und im philosophischen Sinne ein gutes und geglücktes, wenn im Bewusstsein einer wachsenden, Ich weiß nicht, ob die Geschichte stimmt, dass ein asiatischer Zen-Meister sein Leben damit verbrachte, auf einem Streichinstrument immerfort nur einen Ton zu spielen und nach dem ‚wahren‘ Klang dieses Tons zu suchen. Auf die Frage seiner Frau, warum er immerfort nur diesen einen Ton spiele, während alle anderen doch wunderschöne Melodien spielten, erwiderte er, dass diese noch auf der Suche nach dem einen, wahren Ton seien. Mein Gedanke dabei war: Was ist dann mit seinem Leben, wenn er diesen Ton gefunden hat? Hört er auf zu spielen? Spielt er ihn dann mechanisch unentwegt? Kann er ihn überhaupt noch einmal reproduzieren? Oder war es dieser eine, magische und unwiederbringliche Moment, der an Fausts Wette mit Mephistopheles erinnert und die besagt: Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zugrunde gehn!

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milden und weisen Bändigung der Leidenschaften und Begierden eine je subjektive Balance gefunden worden ist, die auch die zwang- und neidlose Anerkennung der anderen miteinschließt.

4 Fazit In Bezug auf den Mensura-Satz lassen sich die Einsichten aus der Anthropologie, der Sprachphilosophie und Linguistik sowie der Ontologie recht kohärent und konsistent zusammenfassen. Wir sind als biologische Wesen die einzige uns bekannte Spezies, die sich von der Natur in dem Sinne emanzipiert hat, dass sie sich ihre eigene Um- und Lebenswelt durch eine Kultivierung der Natur gestalten kann und muss. Die Grundlage dafür ist das Eigengewächs aus Sprache und Geist, das organisch gesehen seinen Sitz im Gehirn hat. Als soziale wie vernunft- und sprachbegabte Wesen sind wir mit diesem kognitiven Potential von unserer Geburt an existentiell auf sozialisatorische Lernprozesse angewiesen. Diese sind interaktiv und lebensweltlich in eine Gesellschaft eingebettet, die bereits ein großes Reservoir und Repertoire an Wissen, Praktiken und tradierten Lebensformen bereithält. Gesellschaften lernen ebenso wie Individuen, da jene aus diesen besteht. In dem Maße, wie wir uns in einer gemeinsamen Tradition sozialisieren, können wir uns distanz- und kritikfähig daraus individuieren. Dies gelingt umso mehr, wenn wir die Chancen der Angebote des Bildungssystems nutzen können und damit zur Weiterentwicklung unserer Persönlichkeit (Ich-Identität) wie der Gesellschaft in all ihren Subsystemen (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst …) beitragen. Dazu näher in Kap. III.6. So, wie die Ontogenese einer Art Entwicklungslogik zu folgen scheint, kann die soziale Evolution von Gesellschaften ebenfalls theoretisch als eine Art Stufenfolge zunehmend komplexerer, funktional differenzierterer Systeme aufgefasst werden. Entwicklung hat insofern mit Lernen zu tun, als immer neue Problemlösungen verlangt werden, die von außen (Umwelt) oder innen (systemisch) initiiert werden. Erfahrung als Bestand bewährten akkumulierten und akkomodisierten Wissens muss dann offen sein für neue Erfahrungen. Daher ist Wissenschaft auch als System strukturell offen für Skepsis und Kritik, wohingegen sich Religionen eher dogmatisch verschließen. Auf individueller Ebene entspricht dieser Komplexion eine ich-identische Persönlichkeit, was noch zu erläutern ist. In metaphysischer oder ontologischer Re170

4 Fazit

deweise ist der Mensch ein Seiendes, das in mindestens zwei Seinssphären existiert und in der Lage ist, auf der naturhaften Grundlage einen sozio-kulturellen Raum, eine ‚zweite Natur‘, zu errichten. Diese ist genauso real wie die erste, aber nicht mehr rein substanziell zu verstehen, was für die Natur im Grunde aber auch schon nie stimmte und an Phänomenen wie Naturgesetzen, Energie und Licht aufzeigbar ist. Die Dinge der kulturellen Welt sind vollkommen anderer Art: symbolhaft in Zeichen und Sprache gefasst, objektiviert in symbolisch strukturierten Institutionen und Organisationen (Familienformen, Vereinen, Unternehmen, Verbänden, Recht, Staat etc.) sowie in Religionen, Künsten und dem für moderne Gesellschaften treibenden Motor der Ökonomie für die Wissenschaft mit der praktischer Verwertungsindustrie der Technik und Technologien. Die Philosophie, von der sich die Wissenschaften emanzipiert haben, sucht noch ihre neue Rolle im Drama des ‚absoluten Geistes‘. Sie kann den Wissenschaften nichts mehr vorgeben oder gar vorschreiben, was diese nicht von selbst bereitstellen könnten, um erfolgreich zu sein, das heißt praktisch verwertbares, technisches oder beratendes Wissen zu produzieren. Eine prima philosophia, die metaphysisch allererst die methodisch-begrifflichen Grundlagen bereitstellen müsste für die Fachwissenschaften, hat ausgedient. Zu unterschiedlich sind die Gegenstände, Grundkonzepte und Forschungsmethoden der akademisch und technologisch organisierten Wissenschaften. Forschung und Lehre sind freilich aufeinander bezogen und sollten es auch bleiben. Eine völlig andere Funktion hat Philosophie, wenn sie als eine Art Theorie der kommunikativen Vernunft verstanden wird, die sich ihrer lebensweltlichen Herkunft reflexiv und empirisch versichern und diskursiv auf die rekonstruierbaren Kompetenzen verständigungsorientierter Handlungen zurückgreifen kann. Sinn als eine Grundkategorie menschlichen Daseins behält dann die Bedeutung der Orientierung aufgrund der Sinneswahrnehmung als Basis jeder Existenz und Existenzaussage; unsere Sinnesorgane leiten oder führen uns in der Regel zuverlässig durch unsere Umwelt, sie verbinden uns mit einer Außenwelt, ohne die wir nicht existieren könnten. Sinn gewinnt weiterhin die Bedeutung einer selbstproduzierten Orientierung durch Werte und Normen, auf die wir uns in langen Lernprozessen gesellschaftlich verständigt haben. Dieser Verständigungsprozess hat das sprachliche Symbolsystem als Grundlage. Der Übergang vom Denken zum Handeln wird durch performative Sprechakte, die Sprachhandlungen sind, vermittelt. Jede menschliche Kommunikation oder Interaktion geschieht in einem sozial eingespielten Rahmen, ohne den kein Individuum und keine Gemeinschaft existieren könnten. Das Ineinandergreifen 171

II Der analytische Rahmen

dieser Dualität kann mithilfe der Kategorien Identität und Institution verständlich gemacht werden (III.6). Auf diesem Weg, der wie eine Odyssee erzählt werden könnte, sind viele ehemals sicher geglaubten Orientierungen ausgeschieden oder begrenzt worden, weil diese unter neuen gesellschaftlichen beziehungsweise geschichtlichen Bedingungen nicht mehr tauglich sind. Jede bestehende Gesellschaft besitzt eine Struktur vernetzter Funktionssysteme, die historisch gesehen intelligente Antworten auf externe und interne Problemlagen darstellen. Veränderungen sind strukturell unausweichlich, weil der Eigensinn dieser Funktionssysteme für andere Teile wiederum Probleme erzeugt, die bearbeitet werden müssen. Rechnet man noch die Eigenkomplexität von Systemen hinzu, operieren die handelnden Subjekte immer an zwei Fronten: der inneren und der äußeren Umwelt.197 Ob diese Transformationen zum Besseren oder Schlechteren führen, diese Bewertung hängt wesentlich davon ab, inwieweit man zu den Verlierern oder Gewinnern gehört. Da der Jugend die Zukunft gehört, schon biologisch, aber auch soziologisch betrachtet, wäre ein Generationenvertrag eine vernünftige Sache, weil die Generationen ja immer zeitgleich und in einer Welt zusammenleben. Anthropologisch gesehen ist der Mensch offen und gezwungen, sich selbst zu finden und sein Leben zu gestalten. Dieser existentielle Problemdruck, gleichsam in die Freiheit geworfen zu sein, wiederholt sich später im soziologischen Trend zur Individualisierung und Globalisierung. Die Befreiung aus Traditionen und von Autoritäten hat freilich nicht nur positive Auswirkungen, sie erzeugt auch individuelle Lasten. Einen historisch analogen Fall hat Marx in der Freisetzung der Arbeitskraft

Am Beispiel des ökologischen Umbaus der Ökonomie ließe sich das gut veranschaulichen. Die Umstellung von fossiler auf regenerative Energie hat unter anderem den Verbrennungsmotor in Automobilen in eine kritische Diskussion geführt. Betroffen ist eine von der Politik lange gehätschelte Industrie, die wichtige technologische Entwicklungen versäumt hat. Dass IT-Firmen wie Google oder Microsoft mit VW, Audi oder Mercedes einmal in der Autoproduktion konkurrieren, war vor wenigen Jahren ein absurder Gedanke. Interne industrielle Strukturen müssen reformiert, externe Verhaltens- und Einstellungsmuster müssen revidiert und auf eine zunächst abstrakt anmutende globale Gefährdungslage der Umwelt ausgerichtet werden. In der Frage nach der Subventionierung sowie der Lobbyarbeit der Verbände und Gewerkschaften taucht die Grenzziehung der vernetzten Systeme wieder auf. Es geht um Macht und Einfluss auf politische Prozesse, die ökonomische, technologische und soziale Auswirkungen haben. Es geht dann auch um Agenda-Setting und Definitionsmacht.

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4 Fazit

aus der Fron- in die Lohnarbeit analysiert. Wie nun kann der Verlust entlastender Traditionen und Weltbilder kompensiert werden? (Kap. III.6) Ontologisch spielt mit Sicherheit die Frage, was menschengemacht und daher von ihm zu verantworten ist, eine große Rolle. Dabei ist der Freiheitsgedanke zentral, weniger theoretisch als praktisch. Die Frage ist daher, wohin uns das alles geführt hat und was wir mit unserem Wissen anfangen wollen. Allem voran: Was tun wir ‚am Abend‘, wenn es nichts mehr zu tun gibt? Wenn das Tagwerk verrichtet ist? Alle Alltagsprobleme gelöst sind? Sich eine Welt vorzustellen, in der alles Notwendige geregelt und jedem ein auskömmliches Leben garantiert ist, scheint mir die eigentliche Herausforderung (nicht nur) der Philosophie zu sein. Ohne Frage ist die globale Ungleichverteilung und Ungerechtigkeit ein Fakt und steht oben hoch auf der politischen Agenda. Aber wir wissen doch, was wir tun müssten. Woran es scheitert, sind die ökonomischen und politischen Machtstrukturen (UN, WTO). Expertenwissen gibt es zuhauf. Für das gute Leben in einer gerechten Gesellschaft können der Physiker, Biologe und Chemiker technisch Verwertbares und der Psychologe, Soziologe und Ökonom allgemein gesellschaftlich Relevantes beisteuern. Möglicherweise hätten hier die Philosophie und die Künste, in revidierter Form vielleicht auch die Religionen, den Menschen noch etwas zu sagen. Damit sind wir bei der Politik, der Kultur und den gelebten Formen privater und öffentlicher Begegnungen.

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III Universale Vernunft? „Ich hab es satt; wozu sollen wir Menschen miteinander kämpfen? Wir sollten uns nebeneinander setzen und Ruhe haben. Es wurde ein Fehler gemacht, wie wir geschaffen wurden; es fehlt uns etwas, ich habe keinen Namen dafür – aber wir werden es einander nicht aus den Eingeweiden herauswühlen, was sollen wir uns drum die Leiber aufbrechen?“ Georg Büchner (1835), Dantons Tod, II. Akt, 1. Szene

1 Einstieg Ob der Mensch das Maß aller Dinge ist, hängt mit der weiteren Frage zusammen, ob eines seiner wichtigsten Orientierungsmittel und Wesensmerkmale, die versprachlichte Vernunft, ein einheitliches und für alle Menschen gültiges Maß ist oder sein kann. Eine erste Annäherung erlaubt die alte Einsicht in die Vernunftfähigkeit jedes einzelnen Menschen, die als Besonnenheit (σωφροσύνη; sophrosyne) ohne spezielles Fachwissen nebenher  – und darin der Sprache vergleichbar  – im sozialen Umgang miterworben wird. Ihre Herkunft wird in Platons Protagoras von eben diesem Sophisten als die von Zeus selbst eingesetzte Tugend beschrieben, die allen Menschen eigen sei, damit sie sich in den praktischen Fragen ihres Zusammenlebens überhaupt gemeinsam beraten können. Hinzu kommt das mächtige Prinzip der Verallgemeinerbarkeit im kantischen Sinne. Es ist ein universales Prüfverfahren für herausgehobene Werte und Normen, denen jeder (oder doch die meisten) bedenkenlos zustimmen kann. Die bekanntesten  – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – wurden 1789 in einer Revolution proklamiert, die dann in ihr Gegenteil umschlug: Terror der Tugend statt Freiheit. Dennoch hat ihre Idee die Restaurationsphase überstanden und lebt in der UN-Charta der Menschenrechte von 1948 fort. Und doch darf man Zweifel an der Vernunftfähigkeit der Menschen haben und ebenso an dem Prinzip der Generalisierbarkeit.

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1 Einstieg

Nicht alles Vernünftige muss Geltung im universalen Rahmen des Allgemeingültigen beanspruchen. Vernünftigsein bewegt sich triadisch in den logischen Sphären des Einzelnen, Besonderen und Allgemeinen und soziologisch betrachtet in den differenzierten Bereichen des Privaten und des Öffentlichen, mit vielen Übergängen. Vernunft zeigt sich in vielfachen Schattierungen und wird nicht in jeder Situation in strenger Allgemeinheit erwartet, das heißt totalisierend, rechtfertigend und universell begründet. Wann immer ich eine Begründung für meine Einstellungen und Handlungen liefern muss, kann ich den Verpflichtungscharakter auf einen definierten Bereich begrenzen. Für soziales Handeln sind systemrelevante Normen und Werte maßgeblich, die partikular oder universell sein können. Motive im individuellen Handeln müssen nicht einmal sozial normiert sein, solange die Handlungsfolgen moralisch oder rechtlich neutral sind. Welche Sportart und Hobbys ich betreibe, Filme sehe, Veranstaltungen besuche, wen ich wo und wozu treffe oder wohin ich in Urlaub fahre, das geht weder den Staat noch meinen Nachbarn oder irgendwen anders etwas an. Wenn ich aber in einem illiberalen, undemokratischen Staat lebe, ist selbst dieses Private bedroht. Gleichwohl unterliegt die Unterscheidung spezifischer Geltungsbereiche bereits dem oben genannten Universalisierungsprinzip. Damit tritt der Charakter der Vernunft als formales Begründungsverfahren beziehungsweise Grundlage jedweder Kommunikation in den Vordergrund. Schon wer Werte und Normen auch nur für bestimmte Gruppen, Organisationen, Institutionen und Kulturen fordert, muss ja intern, also regional, generalisieren können. Was für eine Verwaltungsbehörde, einen Sportverein oder eine Familie gilt, muss nicht für alle gelten, sondern ist nur für die Mitglieder verbindlich. Die Alternative zum Universalismus ist also eine Art Pluralismus, Partikularismus oder Regionalismus der Vernunft. Normen und Werte werden auf besondere Situationen, Regionen, soziale Systeme oder Gemeinschaften beschränkt und dadurch relativiert. Im Übrigen ist das eine Alltagserfahrung, wenn wir uns in verschiedenen Funktionskreisen und Lebensbereichen bewegen: Familie, Freundeskreis, Beruf, Verein, Supermarkt, Öffentlichkeit usw. In besonderen, vom Zweckdienlichen zunächst befreiten Bereichen gelten allerdings sui generis universale Prinzipien: in Kunst, Wissenschaft und Philosophie.198 Hier handelt es sich um autonom gewor Zu denken ist hier vornehmlich an den freien Austausch von Informationen, die Freiheit von Forschung und Lehre und die künstlerische Freiheit. Das Maß ihrer Einschrän-

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III Universale Vernunft?

dene Wertsphären mit eigensinnigen, lebensweltlich und funktional entkoppelten ‚Logiken‘, die von Hause aus nicht dem ökonomischen Effizienz- und Verwertungsdenken unterliegen, obzwar sie mittlerweile ins Räderwerk des Kosten-Nutzen-Kalküls und dessen Kapitalisierung geraten sind. Zudem muss man heute den Vermarktungsprozess und die Ökonomisierung vieler Lebensbereiche ins Kalkül ziehen, wenn man den zweckfreien Genuss, das Überflüssige, als das für alle Menschen Gültige proklamieren möchte. Ein Moment der universalen Vernunft ist gerade das Anerkennen auch der Partikularitäten und der Verzicht auf ein von oben herab verordnetes Dogma der Glückseligkeit und Wahrheit. Aber das Verfahren oder die Methode, wie man sich über die partikularen, eigenen und gegensätzlichen Interessen hinweg auf gemeinsame Positionen verständigen kann, die muss ja vorneweg von allen Beteiligten anerkannt werden. Universalisierung bedeutet dann gerade nicht Gleichmacherei, bedeutet nicht, alles Individuelle ‚über einen Kamm zu scheren‘. Zudem: Wer das Wort ‚Mensch‘ verwendet oder erklären will, weiß – und muss nicht darüber belehrt werden –, dass es den Menschen nicht gibt. Es gibt nicht nur männlich, weibliche und neutrale, auch junge und alte, kluge und dumme, gute und böse etc.199 Diese interne Differenzierung gilt aber für alle Allgemeinbegriffe. Allgemeines, Besonderes und Einzelnes sind aufeinander bezogen und voneinander abhängig. Das gilt für Begriffe genauso wie für uns Menschen in unserer Lebenswelt. In der Soziologie haben sich für solche quasi begrifflich organisierten Prozesse die Kategorien Integration und Differenzierung eingebürgert. Wer integriert, muss kung durch Zensur etwa ist ein Indiz für den Demokratisierungsgrad der Gesellschaft. Vgl. unter Wikipedia: Demokratieindex. Schillers Pathos vom freien Spiel, in dem der Mensch ganz zu sich komme, bestimmt die ästhetische Erziehung innerhalb der neuhumanistischen Bildung. Der Selbstzweck, also etwas um seiner selbst willen und nicht aus Nützlichkeitserwägungen heraus zu tun, ist auch Kernbegriff der Autonomie. 199 Die Schwierigkeit einer einvernehmlichen Klärung mancher Gattungsmerkmale beim Menschen liegt in dessen Zwitterstellung. Geschlecht und Alter sind fraglos biologische Merkmale, aber ebenso soziologische. Jede Gesellschaft definiert oder bewertet diese primär physischen Merkmale in sozialen Kategorien, die sich teilweise aus differenten, möglicherweise genetisch verankerten Ausprägungen im Verhalten und Aussehen herleiten lassen. Als Primärrollen gelten nach den biologischen Kriterien von Alter und Geschlecht die Generations- und Geschlechterrollen! In der Gesellschaft wird die Natur, Reifung und Fortpflanzung sozial überformt; aus sex wird gender, die körperliche Entwicklung wird in Statusbegriffe sozialer Beteiligungsrechte und -pflichten übersetzt (zum Beispiel Jugendschutzgesetz).

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1 Einstieg

irgendwann differenzieren; wer differenziert, muss irgendwann integrieren. Identität ist immer eine Einheit von Integration und Differenz. Dass in einem Vielvölkerstaat mit unterschiedlichen Sprachen, Religionen, Herkünften, Traditionen, Sitten und Gebräuchen neben dem milieuspezifischen oder subkulturellen ein gemeinsames Sozialleben möglich ist, kann nur über ein universales, die Teilgruppen übergreifendes und integrierendes System von Normen und Institutionen sichergestellt werden. Das sind meist die Verfassung und ein common sense über zivile Umgangsformen.200 Jene garantiert partikulare und individuelle Freiheitsrechte untereinander und gegenüber dem Staat. Sie schützt zugleich das Individuum vor Übergriffen der Gemeinschaft, wie es die Gemeinschaft vor der Usurpation von Einem oder Wenigen schützt. Über die mediatisierende und sozial integrative Funktion der Gesellschaft mit ihren pluralen Formen der Vergemeinschaftung wird noch zu reden sein. Wie bei fast allen großen Ideen bleiben meines Erachtens ganz wenige Begriffe oder Sätze übrig, die universale Geltung und Exzellenz beanspruchen können: Das Wahre, Gute und Schöne; Gott, Seele und Welt; Freiheit201 Gleichheit, Brüderlichkeit; der kategorische Imperativ als Verfahrensprinzip; das christliche Gebot der Nächstenliebe. Manche dieser ‚Universalien‘ haben ihre ursprüngliche Bedeutung verloren und eine semantische Transformation erfahren. ‚Brüderlichkeit‘ wird heute als Solidarität interpretiert, ‚Gott‘ hat nicht mehr für alle dieselbe Bedeutung, ‚Seele‘ wird auch synonym mit ‚Person‘ verwendet. Gerade die ehemals theologischen Begriffe haben eine säkular-weltliche Deutung erfahren. In der Sprache sind wenige Strukturen und Phänomene universal, vor allem aber ihre Erlernbarkeit unabhängig von der besonderen Sprache und Intelligenz des Kindes sowie die prinzipielle

Am Übergang von der höfisch-aristokratischen zur republikanisch-bürgerlichen Kultur der Geselligkeit, dem esprit de conduit, versuchte Adolph Freiherr Knigge in seinem Werk Über den Umgang mit Menschen seine Erfahrungen mitzuteilen, was „wichtig für jeden [ist], der in der Welt mit Menschen leben will“, nämlich: „die Kunst zu studieren, sich nach Sitten, Ton und Stimmung anderer zu fügen.“ (Knigge 2004: S. 23) Ein instruktives und kritisches Nachwort des Herausgebers Karl-Heinz Göttert führt in die Thematik ein. 201 Der soziale oder politische Freiheitsbegriff ist nicht der metaphysische, dem die Kausalität als deterministischer Opponent gegenübersteht. Menschliche Freiheit kann nach meinem Verständnis theoretisch überhaupt nicht geklärt werden, das artet in Wortklauberei aus. Erst auf der Handlungsebene zeigt sich, wovon und wozu ich frei bin: Herr oder Knecht. Zufall und Notwendigkeit sind reine Reflexionsbegriffe, die uns unsere Art, über die Welt und Vorgänge in ihr zu reden, verständlich machen wollen. 200

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III Universale Vernunft?

Übersetzbarkeit in andere Sprachen.202 Die Vernunft ist ähnlich organisiert, da sie mit der Sprache verwoben ist. Daher ist die Frontstellung von universal zu partikular beziehungsweise regional auftretenden Sachverhalten letztlich eine Frage der Reichweite und meines Erachtens auch der Zweckmäßigkeit und des Maßes.203 Ebenso ist nach der Alternative zur Vernunft zu fragen, die dann rein logisch Unvernunft wäre. Schon das Wort erzeugt Unbehagen und Ablehnung, denn wer wollte unvernünftig sein, zumindest bei klarem Verstand. Gemeint ist damit vielleicht der Grenzübertritt in den Bereich des Dionysischen, des freudschen Es, des schopenhauerschen Willens, dessen, was sich der Kontrolle der Vernunft beharrlich entzieht und möglicherweise ein autonomes Reich der Triebe, Leidenschaften und Träume behauptet (vgl. Kap II. 3.4). Dieses Reich wird jedoch bereits von der Vernunft verwaltet und gesellschaftlich sublimiert, was sich in den Formen der Kunst204, des Sports und der Freizeitindustrie institutionalisiert hat.205 Nicht zufällig werden von einigen Philosophen, nachdem sie die Vernunft aufs Schafott ihres Verstandes geführt haben, Kunst (mit Vorliebe Dicht- und Tonkunst) und Formen des Schweigens wie Meditation und mystische Versenkung empfohlen. Vielleicht muss man die Vernunft mütterlich denken, genauso wie die Wahrheit: „Vielleicht ist die Wahr-

Dazu ausführlicher (Wunderlich 2015: S. 247–276). Wie bereits angeführt können große Staatenverbünde wie etwa die EU weder ganz zentral noch ganz dezentral organisiert werden. Der Föderalismus als lebendiges Beispiel, das überdies großen Reformbedarf hat, weil sich die Gesellschaft unentwegt verändert, muss die Machtbereiche politischer Entscheidungsebenen immer den Bedürfnissen und Interessen seiner Bürger anpassen. Volkssouveränität ist Grundlage, parlamentarische Demokratie und Gewaltenteilung sind die Mechanismen der Entscheidungsfindung. Subsidiarität und Supranationalität sind im europäischen Integrationsprozess zwei Seiten einer Medaille. 204 Dazu aus literaturwissenschaftlicher Sicht Wolfgang Lange (1992), Der kalkulierte Wahnsinn. Innenansichten ästhetischer Moderne, Frankfurt am Main. 205 Selbst der SM-Sex und die UFC martialischer Kampfsportarten unterliegen Regeln, die dem Schutz von Leib und Leben der Akteure dienen. Alles andere ist kriminell und wird sanktioniert. Kunst wiederum wird von vielen, selbst von Kant, schon im Begriff des Erhabenen als der Ort bestimmt, wo sich das Andere (der Vernunft) betätigen und verwirklichen kann. Es ist auch der Ort des Tabubruchs. Immer in der Hoffnung auf Katharsis, der Reinigung von zerstörerischen Leidenschaften, oder mit dem gesellschaftlichen Versprechen, in diesem quasi-sakralen Bereich der Kunst das Unerwünschte, Verborgene, Abgründige temporär ausleben zu können. Das aber heißt: die Vernunft gewährt ihrem Antipoden einen legitimen Platz zum Atmen. Umgekehrt wäre das nicht denkbar! 202 203

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1 Einstieg

heit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehen zu lassen?“ (Nietzsche)206 Beide, Wahrheit und Vernunft, wissen um ihr Anderes und lassen es in ihren und deren Grenzen gelten.

Abb. 22 La verité

206

Nietzsche 1972, Die fröhliche Wissenschaft, SA II, Vorrede S. 289.

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III Universale Vernunft?

2 Logos (Vernunft) und Nomos (Gesetz) Ohne in eine verzweigte Diskussion einzusteigen, kann Vernunft in Anlehnung an Kant minimal etwa so bestimmt werden: Im weiteren Sinne umfasst sie Wahrnehmung als Wurzel der Sinnlichkeit, Verstand als Quelle der Kategorien und Unterscheidungen. Im engeren Sinne kann Vernunft als das nichtsinnliche Reich der verbindenden Gründe, Zwecke und Ideen, das prinzipiell unendlich und grenzenlos ist, betrachtet werden. Nicht nur der Künstler will fliegen, sich von den Zwängen des Alltäglichen, Konventionellen, Begrenzten befreien, auch die Vernunft will Unendlichkeit und Transzendenz; das Absolute, in welchen Kostümen auch immer, wäre so ein Sehnsuchtsort ihrer Ausflüge. Während Wahrnehmung eines äußeren Impulses bedarf, um mithilfe der Sinnesorgane in Gang zu kommen, während der Verstand Gegenstände der Erfahrung braucht, um mithilfe der Kategorien Erkenntnisse zu gewinnen, kann die Vernunft aus sich heraus und kraft ihrer Spontaneität und Einbildungskraft das Ganze der empirischen Vielfalt in einen geordneten ideellen Zusammenhang bringen, aber eben auch weit mehr. Dreht sie völlig frei, gelangt sie ins Reich der Geisterseher, des Okkulten, aber auch der spekulativen Fiktionalität von Utopien und künstlerischer Produktivität. Wenn sie allerdings gleichsam von sich selbst zur Ordnung gerufen wird, um die Wirklichkeit oder das, was wir gemeinhin Realität nennen, zu erfassen, dann benötigt sie auch ihren genetischen Stamm, nämlich Sinnlichkeit und Wahrnehmung. Sie benötigen einander, was Kant ja auch schon formuliert hat, indem er Begriffe blind und Anschauungen leer nannte, wenn sie nicht voneinander Kenntnis nehmen, um dann erst etwas Gescheites, Nützliches und Praktikables zustande zu bringen. In Hegels Versuch, über Kant hinaus zu denken und die Trennung wieder einzuholen, indem er die Vernunft nicht nur im Denken, sondern auch in der Wirklichkeit, der Welt der objektiven Realität, verankert, steckt natürlich eine ontologische Vorentscheidung, die sich bereits mit dem Begriff der Spekulation gegenüber der Reflexion andeutet und dem Wirklichkeitsbegriff eine teleologische Struktur verleiht, die an Aristoteles’ Entelechie erinnert und bei Kant in der Urteilskraft als Vermittlung von theoretischen und praktischer Vernunft verortet ist. Hegel denkt die Wirklichkeit als vernünftig, weil sie neben der

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2 Logos (Vernunft) und Nomos (Gesetz)

begrifflich organisierten Natur207 auch menschliche Werke, Produkte und Tätigkeiten enthält; es sind sozusagen Inkarnationen geistiger Entwürfe, Pläne, Modelle und Ideen, die wir beim Anblick von Feldern, Städten, Bauwerken, beim Lesen von Büchern und dem Besuch von Theatern, Museen und Konzerten vor uns haben. Lebende mehrzellige Organismen sind telelogisch bzw. telenomisch strukturiert, da sind sich die Biologen heute einig, ohne gegen den Mechanizismus des physikalisch-kausalen Weltbildes den Vitalismus einer mystischen Lebenskraft in Stellung bringen zu müssen.208 Wir befinden uns aber schon beim Sprechen unter- und miteinander im Modus der Vernunft, da die Sprache zwar eine natürliche Grundlage organischer Art hat, die über die Sprechwerkzeuge des Mundraums bis zum Steuerungs- und Informationszentrum des Gehirns reicht, aber in ihrer Struktur und Funktion ein System geistiger Art aufweist, das naturwissenschaftlich nicht beschrieben werden kann. Sprache und Vernunft haben sich zwar aus, aber gegen die Natur gebildet, ebenso wie wir unsere soziale Welt gegen die Natur, gegen den Naturzustand, aber mit der Natur als unabdingbarer Basis errichtet haben. Vernunft übersteigt die Natur bei weitem, sie setzt sich gegen sie durch, ohne jedoch ihre leibliche Herkunft und Verkörperung verleugnen zu können. Sie kann immer nur von individuellen Subjekten menschlicher Art artikuliert werden. Dialektik heißt ja doch, das Überwundene aufgehoben, die Negation negiert und integriert zu haben in eine höhere Ordnung

Vgl. hierzu beispielsweise (TW 8: S. 311ff.). Der hegelsche Begriff enthält die Momente des Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen. Jedes Ding, ob mineralogisch oder organisch, ist ein Einzelnes, das ein Allgemeines (Art, Gattung) verkörpert und das gegenüber vergleichbaren Exemplaren seiner Gattung besondere Merkmale besitzt. Das gilt für jedes Sandkorn und jeden Wurm wie auch für uns Menschen. Damit sind schon sehr viele Voraussetzungen berührt, etwa die Bestimmtheit und Negation, ohne die uns die Wirklichkeit nicht zugänglich ist. Ohne Unterscheidungen könnten wir nichts erkennen und nichts bestimmen. 208 Dazu (Wieser 1998: S. 331f. und 557f). In der Diskussion geht es um Selbstorganisation von Organismen, die auch nach dem kybernetischen Modell der Homöostase modelliert werden kann. Dem Autor geht es allgemeiner um den Zusammenhang von Genotyp und Phänotyp, also dem genetischen Bauplan im Genom und der Individualisierung über das Gehirn als Schaltzentrale der Informationsverarbeitung, das sich den Befehlen des Genoms widersetzen kann. Siehe auch https://www.spektrum.de/lexikon/biologie /teleologie-teleonomie/65691 (letzter Zugriff am 29.07.2020). 207

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III Universale Vernunft?

und Organisationsform. Auch in den emergenten Molekülen sind die Atome ja noch vorhanden.209 Hegel sieht als Idealist diese prinzipielle dialektische Vermittlung im Ideellen, die er zwar logisch und ontologisch aus dem Sein und dem Wesen als objektiver Sphäre entwickelt, die aber auch in einer Vergötterung der Idee und dem damit eingebauten deduktiven Weg endet, der dann von oben beziehungsweise vom Resultat her operiert. Man kann sich diese Entwicklung aber auch nach dem Prinzip der Emergenz denken, wonach aus bekannten Elementen eine völlig neue, aus den Elementen nicht ableitbare Eigenschaft oder Struktur entsteht. Hier wirkt eine induktive Strategie der Begriffsbildung, in der die idealistisch geforderte Strenge der Notwendigkeit suspendiert ist und ein Element der Offenheit und Freiheit bereits im Entwicklungsgedanken implementiert wird. Der Grund liegt in den unterschiedlichen Niveaus, auf denen sowohl im Denken wie in der Lebenswelt der Gesellschaft Handlungen wirken. Sie definieren die Reichweite dieser Operationen. Individuen oder Gruppen und Organisationen können planvoll in ihre Umwelt hinein operieren, für die Gesellschaft, eine Ökonomie oder die Politik funktioniert das aber nicht. Die Steuerungsmechanismen von Geld und Macht werden über Märkte und Ämter koordiniert, die keinem geheimen Plan eines ideellen Gesamtsubjekts folgen.210 Ein ideelles Gesamtsubjekt ist zwar denk- oder konstruierbar (das Proletariat, die Partei, Gott, Nation), es brauchte aber leibliche, individuelle Subjekte, um einen ‚Gesamtplan‘, ein kollektives Drehbuch sozusagen, auf der Bühne der Weltgeschichte zu verwirklichen. Gleichwohl denkt Hegel die Vernunft auch als wirklich, weil sie nur in der Entäußerung, der Realisierung, der Verwirklichung existiert, registriert, verstanden und erkannt werden kann. Und es wäre in der Tat unverständlich oder absurd, wenn sich Gesellschaften ‚unvernünftige‘ Normen und Institutionen gäben. Ich sehe dafür vor allem ein sehr praktisches, intuitives und einleuchtendes Argument, nämlich die grundsätzliche Verstehbarkeit menschlicher Äußerungen und Werke. Selbst wenn frühe Kulturen Menschen- und Tieropfer zu kultischen Zwecken dar Im Wasser, das unter Normalbedingungen flüssig, unter 0°C fest und über 100°C gasförmig ist, verbinden sich zwei Gase, Wasserstoff und Sauerstoff, die sich zudem mit anderen löslichen, lebenswichtigen Mineralien mischen. Die beiden Elemente kommen atomar gar nicht vor, allenfalls als Produkte von chemischen Reaktionen, sind also in ihrer Existenz molekular. 210 Dazu auch (Dux 2005: S. 90–92). 209

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bieten, liegt diesem grausamen Brauch die für die Gemeinschaft anfangs plausible Begründung vor, die Götter gnädig und wohlgesonnen zu stimmen. Erst mit der Zeit wird der mythische Glaube, der hinter diesem Ritus steht, als irrational und unwirksam entlarvt. Wenn sogenannte Naturvölker zum Regentanz zusammenkommen, um den ausbleibenden Regen zu beklagen und beim zuständigen Gott um Regen zu bitten, dann liegt in der Gemeinsamkeit sowohl des Betroffenseins wie des demonstrierten Rituals eine Art von Angstreduktion vor den Folgen einer Dürre. Dass es dann ein Fortschritt ist, wenn statt der erfolgsriskanten Rituale ein vorsorgliches Bewässerungssystem entwickelt wird, sollte einleuchtend sein. Man kann dann immer noch ein Erntedankfest feiern. Man muss die Vernunft als entwicklungs- und lernfähig ansetzen, um die Lösungsfortschritte in der Bewältigung kognitiver und praktischer Probleme für die Gesellschaften ermessen zu können. Wie Kinder mit zunehmender Reife und durch exzentrische Erfahrung ihre logischen und moralischen Kapazitäten zu abstrakteren, universaleren und dezentrierteren Welt- und Selbstbildern entwickeln, so tun dies auch Gesellschaften mit ihren Kulturen, in denen durchaus verschiedene Weltbilder nebeneinander bestehen können. Die in allen Kulturen beobachtbare Bändigung der Natur spiegelt sich auch auf unterschiedlichen Niveaus der Technik. Die theoretische Analyse hat sich immer mehr auf duale oder dialektische Beziehungsfelder ausgedehnt und dort relevante Korrelationen und Wechselwirkungen aufgedeckt: Basis-Überbau bei Marx, Organismus/Art-Umwelt bei Darwin, System-Umwelt bei Luhmann. Die Grundidee solcher dualer Totalitäten ist immer die Frage, wie sich Grundeinheiten, die für ihre Existenz und ihr Überleben Ressourcen aus ihrer Umgebung benötigen, an veränderte Bedingungen dieser Umgebung anpassen können oder müssen beziehungsweise die Umgebung selbst aktiv an ihre Strukturen angleichen. In diesen Operationen des Lebendigen wird im rationalen Diskurs Vernunft, Intelligenz, Selbsterhaltung, Entelechie, Zweckhandeln etc. eingesetzt. Der Diskurs ersetzt die Erzählungen der Dichter und Priester von einem geheimen göttlichen Plan, in dem wir lediglich als Figuren in einem Spiel des Schicksals und überirdischer Mächte auftreten. Erst mit dem Christentum wird das Einfallstor des Logos für eine universale Geschichte der Menschheit geöffnet, die die Religion selbst als innere, eigene Traumvorstellung von einem in Freiheit, Freundschaft und Frieden möglichen Zusammenlebens erkennt. Es ist auch das Christentum, das in diesem universalen Geschehen gleichzeitig die Individualisierung im Sinne des absoluten Eigenwerts jedes einzelnen Menschen betont. Vor die183

III Universale Vernunft?

sem Gott der Christen sind alle Menschen gleich(wertig), jeder kann ihn zu jeder Zeit persönlich im Gebet ansprechen. Diese Idee ist in ihrem ethischen und psychologischen Anspruch faszinierend. Alle Kulturen erzählen sich Geschichten über die Herkunft und Entstehung der Welt mit ihren Bewohnern, alle regeln in irgendeiner Weise ihre Sozialbeziehungen mit Normen und verpflichten sich auf bestimmte Werte in ihren Handlungen, die sogenannte Tabus einschließen (etwa Inzest oder Mord). Legt man Sinn als eine Verstehen ermöglichende, und das heißt vernünftige Kategorie zugrunde, ließe sich eine erste Erkenntnis schnell gewinnen: Die menschliche Vernunft ist an Sinn und Verstehen orientiert, zwischen Kulturen vermittelbar und zwischen verschiedenen Sprachen übersetzbar. Insofern ist sie universell und universal. Andererseits hat sich während der Entwicklung des menschlichen Denkens herausgestellt, dass es durchaus verschiedene Rationalitäten gibt, die sich auf verschiedene Bereiche vor allem des Handelns beziehen. Wir sprechen beispielsweise mit Max Weber von Zweck- und Wertrationalität, mit Immanuel Kant von theoretischer und praktischer Vernunft, mit Max Horkheimer von instrumenteller Vernunft, mit Jean-Paul Sartre von dialektischer Vernunft, mit André Gorz von ökonomischer Vernunft, mit Peter Sloterdijk von zynischer Vernunft und mit Jürgen Habermas von kommunikativer Vernunft. Diese Liste ist nicht vollständig. Die Frage ist nun naheliegend, ob es sich bei diesen Vernunftarten um wesentlich verschiedene Vernunfte  – und hier stockt schon die Schreibhand, denn was ist der Plural von Vernunft?! – handelt oder bloß um verschiedene Anwendungsbereiche ein und derselben Vernunft. Allen gemeinsam scheint mir die Fähigkeit (Kompetenz) eines sprach‑, erkenntnis- und handlungsfähigen Subjekts zu sein, Äußerungen und Handlungen jedweder Art bei Bedarf begründen und rechtfertigen zu können. Es stellt damit aber nicht nur seine Aussagen und Taten einer öffentlichen Kritik anheim, sondern auch seine Person. Denn es erklärt sich mit diesem Verfahren der Überprüfung bereit, freiwillig an einem Diskurs teilzunehmen, was die Anerkennung der Regeln einschließt. Damit hat das gesellschaftliche Subjekt schon etwas Grundlegendes akzeptiert, nämlich sich nur auf gemäß menschlichen Maßstäben Überprüfbares einzulassen und obskure Verfahren, die sich etwa auf privilegierte Zugänge zu göttlichen oder magischen Erkenntnisquellen stützt, abzuweisen. All dies geschieht in freier Entscheidung, konsensuell und öffentlich. Der nächste Schritt wäre dann der von der Subjekt- auf die intersubjektiv erzeugte Systemebene, was aber die Gefahr einer Hypostasierung nach sich zieht, als ob Systeme 184

2 Logos (Vernunft) und Nomos (Gesetz)

denken und handeln könnten. Gleichwohl haben Systeme – genau wie die Sprache, Geld, Institutionen und Gesellschaft  – nicht nur eine ideelle, sondern auch eine eminent reelle Wirkmacht, der wir uns, da wir sie als für alle verbindlich akzeptieren, dann nicht entziehen können. Wir können mit einer unbedachten, unangemessenen Wortwahl genauso scheitern wie mit einer riskanten Geldanlage oder einer Fehlentscheidung beim Haus- oder Autokauf und müssen bei Normverstößen mit Sanktionen rechnen. Neben der Pluralität von Vernunftarten ist es eine offenkundige Tatsache, dass rationale Handlungen in einem Bereich mit rationalen Handlungen in einem anderen Bereich zu Konflikten führen können. Wer ökonomisch nach dem Mini-Max-Prinzip handelt, also Kosten minimiert und Nutzen maximiert, wird ethisch und ökologisch Probleme in Kauf nehmen müssen oder gar seine Lebensgrundlage verlieren. Warenüberfluss und Verschwendung auf der einen Seite wird erkauft durch Mangelerscheinungen bei Gesundheit, Lebenserwartung oder Lebensqualität bestimmter Gruppen von Menschen auf der anderen Seite. Es sterben wohl mehr Menschen an den Folgen von Überernährung (unter anderem Adipositas) als an Unterernährung. Wer nach dem ‚Geiz ist geil‘-Prinzip konsumiert und produziert, kann unter Marktbedingungen keine fairen Bedingungen in der artgerechten Tierhaltung, der nachhaltigen Rohstoffgewinnung (Fischerei, Forst- und Landwirtschaft, Bergbau) und der sozialethischen Arbeitsbedingungen aufrechterhalten. Die Profitgier und das Prinzip der Gewinn- oder Renditemaximierung großer Konzerne mit rechtlichem Sanktionspotential bei ausbleibenden Renditen für die Kapitalanleger, vertreten durch riesige Fondsmanagement- oder Investment-Gesellschaften (zum Beispiel BlackRock), verhindern strukturell die Anwendung anderer Rationalitäten als der des Marktes: Auf lange Sicht bleiben so oligo- oder monopolistische Machtstrukturen erhalten. Alle Versuche, durch soziale und ethische Standards, die global agierende Unternehmen auf freiwilliger Basis einhalten sollten, die Bedingungen zu verbessern, sind meistenteils gescheitert. Wie dann in nationalen und globalen Systemkontexten, etwa der Ökonomie oder Politik, erkannte Konflikte gelöst werden können, kann ja nicht in einem schlauen Buch nachgeschlagen werden, in dem schon alles drinsteht, was je passiert (ist). Diese Form des ‚absoluten Wissens‘ hat selbst Hegel nie vorgeschwebt. Vielmehr ist hier das Vernünftigste, sich zusammenzusetzen und zu beraten. Dies setzt aber schon so viel Vernunft voraus, dass man Konflikte nämlich im Gespräch und nicht durch Machtdemonstrationen lösen möchte und seine Gefühle, Wünsche, Triebe und Bedürfnisse so weit unter 185

III Universale Vernunft?

Kontrolle hat, dass man sie zugunsten einer gemeinsamen Lösung einzuschränken bereit ist.211 Vernunft ist wie Sprache kein rein subjektives Vermögen. Sie vereinigt das Allgemeine, Besondere und Einzelne in sich und bildet damit die Struktur des (hegelschen) Begriffs, die ideell alles umfassen und durchdringen kann, was es gibt. Sie eignet jedem Menschen, egal wo und wann er geboren wurde oder wird, und äußert sich zum Beispiel im Begründenkönnen einer Ja/Nein-Entscheidung, darin, Verantwortung für Handlungen zu übernehmen oder fiktionale Erzählungen zu durchschauen. In diesem Sinne ist sie objektiv in der Welt, weil der Mensch diese Doppelnatur hat und ist. Ob sie darüber hinaus in nichtsprachlichen Organismen zuhause ist, die gewiss eine teleologische Struktur mit einer generischen Entwicklungslogik aufweisen, darüber wäre an anderer Stelle zu diskutieren. Sprachlich gebundene Vernunft wird gleichzeitig mit den kognitiven und lingualen Fähigkeiten ausgebildet, denn Kleinkinder haben noch keine Vernunft; sie entsteht erst aus sozialen Lernprozessen. Und dadurch erhält sie eine kulturell spezifische Prägung, was sich etwa in Norm- und Rechtssystemen verschiedener Gesellschaften niederschlägt und vergleichend erforscht werden kann. Das Universale an dieser zweifellos kulturell partikularen Prägungen von Kompetenzen ist die Tatsache, dass wir Menschen gleichsam transversal von einem Kulturkreis in den anderen wechseln können, von einer Sprache und Kultur in die andere, und dabei nicht nur die Bedeutung von Wörtern, sondern auch den Sinn von Praktiken des Umgangs miteinander und des Verhaltens in situativen und institutionellen Kontexten verstehen können. Und genau diese Fähigkeit, die ich nicht als Transzendieren im theologischen Sinne bezeichnen würde – obzwar sie durchaus der damit gemeinten Bewegung des Übersteigens von einem Bereich in den anderen, meist aber umgreifenden und metaphysischen, entspricht –, ist für mich ein Kennzeichen der Universalität der Vernunft wie auch der Sprache und im Grunde des Menschseins überhaupt. Wir können, wenn wir gutwillig sind und uns bemühen, jeden anderen Menschen verstehen.

In der Bewältigung der Corona-Pandemie, die derzeit, im Frühjahr 2020, noch am Anfang steht, wird diese Dynamik im gesamten Krisenmanagement liberaler Demokratien kommuniziert. Sowohl die Wissenschaft als auch die Politik und die Öffentlichkeit räumen ein, dass wir Betroffenen kein Lehrbuchwissen haben, wie wir mit dieser historisch einmaligen Verbreitung des in seiner Herkunft noch umstrittenen Virus umgehen sollen.

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Schnädelbach gibt in seinem Buch Was Philosophen wissen212 unter dem Titel „Gesetze“ einen sehr bündigen Überblick über die Entwicklung des Welt- bzw. Seinsbegriffs.213 Das ist deshalb interessant, weil sich diese Doppelstruktur des Seins als Natur und Gesellschaft schon von Anfang an im Denken der Philosophen nachweisen lässt. Hier ist es in der Form von Sitten- und Naturgesetz (Kant), der deskriptiven und präskriptiven Interpretation des Gesetzesbegriffs, nacherzählt. Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass schon die Griechen sich von mythischen Erzählungen, in denen Naturereignisse als Wirken von Göttern oder übersinnlichen Mächten interpretiert werden, abwenden. Stattdessen versuchen sie, nicht-personale Prinzipien (Schuld und Sühne, Dialektik), Gesetze und Elemente (Wasser, Feuer, Luft, Licht) als Strukturgeber des Ganzen ausfindig zu machen. Das kosmologische Denken der Griechen, das die Entstehung und die Ordnung der Welt erklären will, begreift die Welt von Anfang an, so Schnädelbach, als ein „gesetzmäßiges Ganzes“ (Schnädelbach 2013: S. 130). Das Wort ‚Kosmos‘ bezeichnet nicht nur das „Weltganze“, sondern auch das „wohlgeordnete Ganze“. Nach Heraklit stellt sich diese Harmonie immer nach einem Kampf (polemos) von widerstreitenden und auseinanderstrebenden Elementen ein, was als Prozess, als fortlaufendes Werden gedacht wird. „Lógos ist ein griechisches Rätselwort.“ (a. a. O., S. 131). Bedeutungen: Sagen, Nennen, Reden; Rede, Lehre; Begriff, Gedanke, Argument und menschliche Verfügungsgewalt (Kompetenz) darüber.214 Heraklitt sieht im Logos „den großen, allumfassenden Strukturzusammenhang hinter dem, was in der Erfahrungswelt auf der Hand liegt.“ (a. a. O.)215 Spätere Autoren verwenden auch Verstand, göttliche Vernunft und Vernunft allgemein sowie Denken als Übersetzungen für Logos. Entscheidend ist, dass diese nicht-sinnliche Weltvernunft dem vernünftigen Denken angemessen, also (Schnädelbach 2013). Vgl. auch (Schnädelbach 1998). 214 Vgl. auch Heidegger 1972, §7, B. Er argumentiert auf der Ebene der Rede, die aber in seinem Sinne als „Sehenlassen“ und „Vernehmen“ eng an die Sinnlichkeit angebunden und insofern dem Wahrheitsbegriff, der aletheia, in seinem Sinne der Enthüllung, der Aufdeckung, des Unverborgenen angemessen wird. „Und weil die Funktion des λογος im schlichten Sehenlassen von etwas liegt, im Vernehmenlassen des Seienden, kann λογος Vernunft bedeuten.“ (S. 34). 215 Vgl. auch (Gabriel 2013: S. 55f.), insbesondere Platons Auffassung, die ebenso im Logos eine umfassende Struktur sieht, die mitschwingt, wenn man Einzelnes ausspricht. Hier ist im dritten Merkmal der Zentralbegriff ‚Unterschied‘ (diaphora)! 212 213

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kommensurabel ist. Mit der Übersetzung des griechischen zoon logon echon (das Vernunft habende Tier; Aristoteles) ins lateinische animal rationale (das vernünftige Tier; Cicero) wird klar, dass Heraklit mit logos eine vernünftige, nicht empirische Lehre über die eine objektive Vernunft als Wesen und geordneten Zusammenhang aller Phänomene intendiert. Dies wird als ‚Logozentrismus‘ bezeichnet, für den Hegel mit seiner Geistesphilosophie allerdings auch eine säkularisierte Lesart eröffnet. Die Stoa, die den Übergang von der griechischen in die römische Welt markiert, verstärkt den bei Heraklit nur beiläufig mitgemeinten Sinn des Logos als Gesetz, nomos. Wirkten bei Platon noch ein Demiurg als Weltschöpfer und in Aristoteles’ telelogischem Modell eine Vierzahl von Ursachen von allem216, so betonen die Stoiker die durchgängige Bestimmung, die notwendige Verknüpfung aller Ereignisse und Dinge nach dem Kausalprinzip217. Somit können sie als Vorläufer des naturwissenschaftlichen, mechanistischen Weltbildes gelten. Logos als Nomos verbindet Materielles/Physisches mit Geistigem/Gesetztem zu einem System, das Schnädelbach einen „materialistischen Pantheismus“ nennt. Logos ist mithin die an eine Sprache gebundene Vernunft, die auch das Außersprachliche als einen geordneten, strukturierten Seinsbereich begreifen will. In Bezug auf das Nichtsprachliche sind zwei Aspekte zu unterscheiden. Einmal ist die Beziehung zwischen Vernunft und Sein, dem Einen und dem Vielen, klärungsbedürftig. Das ist die Auseinandersetzung zwischen Parmenides und Heraklit. Damit beschäftigt sich die Ontologie. Zum anderen ist der epistemische Anspruch, das Weltganze zu erkennen, auf die Art der Erkenntnis zu befragen: Wer nur allgemeine Strukturen erfassen will, will nicht alles bis ins Detail wissen. Wer die Grammatik einer Sprache kennt, kennt nicht alle Wörter, Sätze und Texte einer Sprache. Wer die physikalischen Gesetze kennt, kennt nicht alle Ereignisse in der physikalisch beschreibbaren Welt.

1. des Materialen: woraus gemacht?, 2. des Formalen: wie gestaltet?, 3. des Kausalen: wodurch entstanden? und 4. des Finalen: weswegen, wozu da? → Schopenhauers vierfache Wurzel des zureichenden Grundes. 217 Freilich kannten die Stoiker noch nicht die mathematische Formulierung von Naturgesetzen, sondern verblieben noch „im Umkreis der mythischen Vorstellung vom alles beherrschenden Schicksal (tyche), dem auch die Götter unterliegen.“ (a. a. O., S. 133). Nur dass das Schicksal als kausaler Determinismus erscheint. Für die Ethik der Stoa bedeutet das, gemäß der Natur (physis) zu leben. 216

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Der Begriff der Totalität oder des Absoluten gewinnt unter diesen Aspekten eine neue Bedeutungsnuance. Totalität heißt nicht Ganzes oder Alles im Sinne einer aufzählbaren Summe von allem Einzelnen, sondern meint eher ein Strukturganzes, ein Netz aus Grundbegriffen, Prinzipien und Gesetzen. Bei Hegel ist die Kategorie der Wirklichkeit auch nicht alles, was Realität ist, sondern nur das mit Notwendigkeit und Allgemeinheit erscheinende, wesentliche Sein; das nur Zufällige, Kontingente sei der Modalität des Wirklichen nicht würdig. Vor allem ist hier bereits der subjektive Faktor ins Spiel gebracht. Sein logisches Kategoriensystem wäre ein solches Strukturganzes, das beansprucht, alles begrifflich erfassen zu können, was es gibt; und zwar nicht bloß Seiendes, sondern auch Werdendes. Und für diese Kategorien braucht man die des Nichtseienden und die Operation des Negierens, der Negation. Das heißt wir verstehen die Realität, genauer die Wirklichkeit, als wirkliches Sein mithilfe dieser Kategorien vollständig. Totalität als Vollständigkeit aller Dinge, Ereignisse und Sachverhalte ist schon aus zeitlichen Gründen unmöglich, da sich sekündlich die Welt und jedes Individuum ändern. Wer soll/will das wissen, und vor allem: wozu? Man könnte sich allenfalls dystopisch einen von einem Geheimdienst kontrollierten, totalitären Staat vorstellen, der wirklich alles von seinen Bürgern weiß und archiviert und auf Knopfdruck gefilterte, algorithmierte Informationen abrufen kann. Zwar wüsste er dann immer noch nicht alles, weil ihn etwa der Ameisenstaat im Amazonasbecken nicht interessiert, weshalb er darüber auch keine Informationen sammelt. Aber was philosophisch von Interesse ist, ist doch die prinzipielle Möglichkeit, alles wissen zu können. Und das ist prinzipiell eben nicht möglich und ergibt auch wirklich keinen Sinn. Selbst ‚Gott‘ könnte mit alldem nichts anfangen. Erst wenn man sich fokussiert, sich auf etwas Bestimmtes konzentriert, will man alles über diesen Gegenstand erfahren. Und dann ist es a) eine Frage des aktuellen Wissens- oder Erkenntnisstandes der Wissenschaft, der Nachrichtendienste, der Quellen allgemein, sowie b) der Verfügbarkeit. Insofern kann ich die Rede von einer vollständigen Erkenntnis (der Welt) nicht nachvollziehen. Schon der Begriff der Vollständigkeit bereitet Schwierigkeiten, wenn ich nicht weiß, worauf er sich bezieht oder wenn ich weiß, dass die Zeit nicht ausreicht, um eine abzählbar unendliche Menge wie alle Sandkörner oder Wassertropfen hier auf der Erde vollständig zu erfassen. Die Menge oder Reihe der natürlichen Zahlen bekomme ich nie vollständig aufgezählt; ich kann sie aber in einer endlichen, kleinen Summenformel einfangen. Wie oft rollt Sisy189

III Universale Vernunft?

phos den Stein den Berg hoch; weißt du, wieviel Sternlein stehen etc. Dieser ‚schlechten Unendlichkeit‘, wie Hegel die rekursiven, plus 1 vergrößerbaren Reihen nannte (n + 1), steht im Ich und im Begriff das Unendliche gegenüber: sich erstens als Eins gegen alles Andere behaupten zu können und zweitens in sich unerschöpflich zu sein; eine vollständige Beschreibung oder Erkenntnis eines Ich ist nicht möglich, der Begriff allgemein erfasst durch seine interne Struktur (A-B-E) logisch und ontologisch Denken und Sein und kennt ebenfalls keine Grenze. So wie ich das sehe, ist das generative Prinzip der Sprache, das bereits Humboldt erkannte und das von Chomsky aufgegriffen und theoretisch weiterentwickelt wurde, die Brutstätte des Unendlichen in der freien Betätigung des Geistes. Diese ist darin absolut und umfasst nicht nur den Begriff, sondern auch die Künste und Religionen. Im internen Bezug des Logos auf die Sprache operieren die Begriffe der Wahrheit und der Bedeutung, wobei die Wahrheit zwar einen Bezug zur Welt der Dinge, den pragmata herstellt, aber doch eher aufseiten des Logos im Sinne des Wahrsprechens liegt. Die Bedeutung ist über die Referenz ebenfalls im Außersprachlichen verankert, sie kann aber, einmal vereinbart und gültig, referenzfrei und vor allem wahrheitsneutral vorausgesetzt werden. Wir verständigen uns doch im Alltag ohne einen großen wissenschaftlichen oder juridischen Apparat, mit dem wir ständig die ‚Wahrheit‘ des Gesagten überprüfen; wir setzen voraus, dass je nach Gesprächscharakter und Teilnehmerschaft die impliziten Regeln der Kommunikation eingehalten werden. Mit jemandem, der dauernd lügt, sich nicht an Absprachen hält und also unzuverlässig ist, möchte man auf Dauer nichts zu tun haben. Sein Wort ist nichts wert.218 Der im Logos angelegte Dualismus von natürlicher und gesellschaftlicher Ordnung, Natur- und Sittengesetz, theoretischer und praktischer Vernunft (Kant), setzt sich in moderner Zeit fort in Begriffspaaren wie Natur und Geist (Hegel), Objekt und Subjekt, Notwendigkeit und Freiheit, Arbeit und Interaktion, instrumentelle und kommunikative Vernunft (Habermas), Beobachter- und Teilnehmerperspektive (Methodologie) und ist in den akademischen Disziplinen in den Lagern der Natur- und Geisteswissenschaften mit den Sozialwissenschaften in einer Mittelstellung institutionalisiert. Tragisch wird eine solche Konstellation, wenn die betreffende Person einem nahe steht, als Tochter, Vater, Freund usw. Wie arrangiert man sich da?

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Die philosophischen Attacken, die seit Nietzsche auf die Vernunft mit den Waffen von Wille und Macht, der Todesanzeige ‚Gottes‘ und damit der Wahrheit geführt wurden, sind meines Erachtens ins Leere gelaufen. Auch wenn man Vernunft mit Kontrolle, Unterdrückung und Herrschaft konnotiert, sehe ich nicht, wie man die vielen Menschen auf unserer Erde, unter denen so manche tickende Zeitbomben sind, ohne soziale und demokratische Institutionen und Gesetze, staatliches Gewaltmonopol und Rechtsstaat etc. unter einen Hut bringen will. Damit meine ich nicht Gleichschaltung und totale Kontrolle à la George Orwell, sondern liberale Demokratie, Sozial- und Rechtsstaat, zivile Öffentlichkeit sowie sozial-ökologische Marktwirtschaft. Man muss sich ja doch immer vergegenwärtigen, welche und wie viele Operationen, Aktionen und Transaktionen tagtäglich in einer Gesellschaft wie der unseren von über 80 Millionen Bürgern nötig sind, um den Alltag lebenswert und funktionstüchtig zu organisieren. Die dafür erforderlichen Systeme, um es einmal so technisch zu sagen, sind weder von der Natur noch von einem Gott programmiert und entwickelt worden, sondern Ergebnis eines langen evolutionären Lernprozesses. Wie anders als durch Formen der Rationalität sollte das möglich sein? Ich sehe da nichts. Was nun die Systemtheorie gezeigt hat, ist, dass komplexe Gesellschaften ohne ein Zentrum funktionieren. Die basalen Subsysteme Ökonomie (Güter; Geld; Staat), Politik (Problemlösungen; Macht; Staat) und Kultur (Kontingenz; Sinn; Wahrheit) werden von einem umgreifenden, aber nicht dominierenden System namens Gesellschaft (Integration; Kommunikation) zusammengehalten. Es gibt vielfache Interdependenzen und Rückkoppelungen zwischen diesen Funktionssystemen, die ja füreinander Umwelten sind, aber sie gehorchen alle einer Eigenlogik, die nicht straflos gestört werden kann. Philosophisch gesehen bedeutet das die Abkehr von der Vorherrschaft der einen Vernunft, der einen Wahrheit, aber keineswegs die Verabschiedung von Vernunft und Wahrheit überhaupt! 219

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Die Betonung liegt auf ‚Vorherrschaft‘! Denn im metaphysischen Sinne müssen wir von der einen Welt ausgehen, die für uns Vernunftwesen identisch ist, und eine Wahrheit unterstellen, die nicht beliebig oder subjektiv verfügbar, sondern objektiv gültig ist.

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III Universale Vernunft?

3 Denken und Erfahrung „Nicht aus dem Hause gehen/doch alles wissen/nicht aus dem Fenster sehen/ und doch das Tao des Himmels sehen …“220 (Laotse)

Denken vollzieht sich in Satz- und Textformen; das Bildhafte, was rudimentär sicher immer noch als Erbe der ersten Realitätskontakte mitläuft, dominiert die Vorstellung. Die Emanzipation zum Begriff hin folgt entwicklungslogisch später. Man kann Denken als inneres Sprechen221, als inneren Monolog auffassen, das erst im Gespräch, der Unterredung, auf Gehalt und Verständlichkeit sowie im praktischen Handeln am Erfolg getestet wird. Wer öffentlich denkt, das heißt redet, riskiert etwas, zum Beispiel Einspruch, Gegenrede, Protest, Empörung oder Lächerlichkeit. Vorausgesetzt ist mit dem Denken und der Rede bereits so etwas wie Perspektivenübernahme und ‑verschränkung. Erwartungen und Erwartungserwartungen gehen in jede Kommunikation ein. Damit verbunden ist Reziprozität wie auch Reflexivität. Jemanden verstehen heißt nicht nur den Sachgehalt seiner Darstellung, sondern auch dessen implizite oder explizite Intentionen, Motive, Interessen und Hintergrundannahmen erfassen zu können. Selbst wer im Denken zuhause bleibt, denkt auch in Dialogrollen, weil er sich die Einwände aus der Sicht des Opponenten selbst vorlegen können muss.222 Denken umgreift Erkennen. Es begreift außer wirklichen Dingen aber auch mögliche und fantasierte Gegenstände, Ereignisse und Sachverhalte. Es operiert mithin in den Modi der Wirklichkeit und der Möglichkeit. Die Einbildungskraft läge zwischen der Anschauung und dem Begriff, weil sie die Gegenwart eines Objekts,

Vgl. (Lauxmann 1994: S. 114), (Loy 1988): Nondualität. Über die Natur der Wirklichkeit. Frankfurt am Main. 221 Vgl. (Stekeler-Weithofer 1992: S. 142): „[…] für Hegel wie schon für Platon und Kant [ist] Denken im wesentlichen stilles Reden“. 222 Der klassische Erörterungsaufsatz im Deutschunterricht ist die Steigerungsform einer Argumentation, die bloß eine These verteidigen muss. Die Fähigkeit, Argumente und Gegenargumente entgegengesetzter Positionen darzustellen und abzuwägen ist dagegen eine antizipierte, monologisch inszenierte Diskussion, die sich für die Philosophie in Hegels Dialektik und in den literarisch gestalteten Dialogen Platons aufzeigen lässt. 220

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3 Denken und Erfahrung

wie in der Wahrnehmung, nicht benötigt, aber das Bildhafte, im Gegensatz zum Begriff, sehr wohl. Begriffe als Transport- und Bindemittel des Denkens schleppen zwar Bildreste, sogar noch affektuelle Tönungen, immer mit sich.223 In reiner Form kommen sie jedoch völlig ohne Vorstellungen aus. Hegel wird nicht müde, die Vorstellung vom Begreifen fernzuhalten. Thematisiert wird das unter anderem in den Begriffen der Unmittelbarkeit und der Vermittlung. Der allgemeinere Begriff ist der des Zeichens. Mit ihm ist sowohl die Bedeutung als Bedeutetes (Begriff) wie die Referenz als außersprachlicher Bezug verknüpft. Zu erinnern ist daran (vgl. Kap. II.2.2.2), dass nicht das Zeichen referiert, sondern der Sprecher/Hörer. Das Bedeutende ist die sinnliche, wahrnehmbare Realisation einer mentalen Welt von Bedeutungen, die Artikulation von Lauten und Schriftzeichen in einer syntaktischen Struktur, sei es die grammatische einer Sprache oder die inferentielle der Logik. Ohne eine solche gemeinsame Form ist alles Gerede unverständlich.224 Die Semantik hält einen unerschöpflichen, nie vollständigen Vorrat an Bedeutungen bereit, der mithilfe neuer Signifikanten jederzeit erweitert und differenziert werden kann. Durch an sich bedeutungslose Suffixe wie ‑heit oder ‑keit können wir einem Wortstamm neue Bedeutungsräume erschließen. Wir verstehen selbst die absurdesten Gedankengänge, wie sie etwa seit einiger Zeit in Verschwörungstheorien wieder en vogue sind. Das funktioniert nur deshalb, weil Sprechen und Denken immer gesellschaftliche, über das allgemeine Medium der Sprache vermittelte Kommunikation ist.225 Die Linguisten sprechen von ‚Konnotationen‘, Mit-Bedeutungen, die in einem Ausdruck mitschwingen, ihn affektuell, stilistisch und kulturell einfärben. Sicher müsste man hier auch nach rein individuellen, gruppenspezifischen und gesellschaftlichen semantischen Feldern differenzieren. Das heute bekannte ‚Framing‘ hat diesen semantischen Beifang in der politischen und propagandistischen Rede als maßgeblich erkannt, um Botschaften subtil und persuasiv zu platzieren. 224 Man kann das als Schriftsteller experimentell versuchen. Dadaismus als ästhetisierte Lallphase. Etwa in Peter Handkes Bühnenstück Kaspar (1968), ein „Spielmodell“ der „Sprechfolterung“. 225 Ein Blick in die Welt der Fachsprachen, gleich ob Jäger, Techniker, Wissenschaftler, Ingenieure und Instrumentenbauer, eröffnet eine für den Laien völlig unverständliche und hochspezialisierte Terminologie. Dies liegt nicht nur an präziseren Begriffen für alltäglich eher vage benutzte Ausdrücke, sondern auch an einer differenzierteren Wahrnehmung und den methodischen Erklärungsstrategien, die dann auch rein nominal definierte, technisch verwendete Begriffe erforderlich machen. Zudem: Die Welt der Informatiker und Mikrobiologen bleibt unserem Alltagsbewusstsein meist verdeckt, ob223

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Im Erkennen ist die Wahrnehmung enthalten, insofern wir unsere Sinne benötigen, um Kontakt zur Außenwelt als eine gemeinsam geteilte Wirklichkeit herstellen zu können. Mithilfe der Zeichen können wir sie für uns als ein und dieselbe kenntlich machen und vor allem wiedererkennen und identifizieren, was Objektkonstanz voraussetzt. Wahrnehmung ist gleichsam das Paradigma des Erkennens. Im Unterschied zu den Sinnen kann sich das Denken mit sich selbst beschäftigen, was den Sinnen verwehrt ist: Sehen des Sehens, Hören des Hörens etc. geht nicht. Die Reflexivität ist ein konstitutives mentales, nichtsinnliches Merkmal,226 das die Referenz von der materialen auf die formale bzw. ideale Ebene hebt. Das heißt, das Denken kann sich vollkommen von der dinglichen Wirklichkeit lösen und in eigenen Symbol- und Bildwelten bewegen, die im Extremfall keiner vernünftigen Kontrolle mehr zugänglich sind (Wahnsinn). Daher ist dasjenige Denken am anstrengendsten und schwierigsten, das sich an die Wirklichkeit halten muss. Es muss geerdet sein, sich dem common sense aussetzen, Argumente bereithalten, sich der Kritik stellen. Es muss überdies erlernt, diszipliniert und kontrollierbar sein, nämlich durch logische Kategorien innerhalb eines sprachlichen Systems. Luftschlösser bauen, Träumen, Poesie und Kunst brauchen keine Argumente, sondern einen subjektiven Resonanzraum, der einen Nerv trifft. Vielleicht kann ein Vergleich mit einem Klavierspieler diesen Gedanken verdeutlichen: Wenn der Pianist frei improvisiert, folgt er keiner äußeren Partitur, sondern überlässt sich seinen Einfällen und Gefühlen. Hier gibt es auch kein falsch spielen. Wenn er aber ein Klavierkonzert spielt, das jeder kennt, ist die Kontrolle und Kritik sofort da. Es kommt überdies nicht nur auf die richtigen Töne an, sondern auch auf eine überzeugende Interpretation, die nicht automatenhaft wirkt. Wenn nun das Denken die Wirklichkeit erfassen will, die Partitur sozusagen, dann, so sagt uns das aufgeklärte Denken, ist aber auch das Denken selbst Teil dieser Wirklichkeit; ebenso wie der Denkende, das Denken und das Gedachte. Denn es verändert die Welt, wenn es tätig geworden ist, und steckt in Produkten und in jedem sozialen System. Das spekulative Denken Hegels greift über das Verstandesdenken, die Reflexion, hinaus, weil es die kantische Beschränkung (Endlichkeit) der Vernunft auf

wohl Algorithmen immer mehr unser Alltagsleben bestimmen und Mikroorganismen in unserem Körper in unvorstellbar großen Mengen ihre Arbeit verrichten – meist zu unserem Nutzen, manchmal aber auch zu unserem Schaden. 226 Weshalb ja nur wenige Tierarten sich selbst im Spiegel erkennen können.

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subjektiv-transzendentale und objektiv-empirische Gegenstände nicht hinnehmen will. Vernunft findet sich nicht nur im subjektiven Denken, sondern auch im wirklichen Sein – dies zu erkennen sei Ziel seines Denkens und aller Philosophie, so Hegel. Denken, begreifendes Erkennen, ist für ihn die Tätigkeit des Philosophierens schlechthin. Das Denken bei Hegel ist die letzte Stufe der Intelligenz, die im begreifenden Erkennen als einem sehr voraussetzungsvollen Prozess der Geistesentwicklung zu sich selber findet: „die sich wissende Wahrheit, die sich selbst erkennende Vernunft“ (TW 10, § 467 Zusatz). Es ist schwer, dieses Denkkonzept wie bei Kant bündig zu reformulieren. Interessanterweise befasst sich der Abschnitt davor mit der Vorstellung, in der Hegel die wenigen zusammenhängenden Passagen seines Gesamtwerks zur Sprache darlegt. Anschauung, Vorstellung und Denken bilden die Trias, die den theoretischen Geist bestimmt und sich im Grunde im kantischen Fahrwasser der Kritik der reinen Vernunft bewegt. Das Denken ist auch nur frei, wenn es sich selber zum Gegenstand hat und seine Denkformen nicht nur reflektieren, sondern sie auch selbst bestimmen kann – und muss. Allerdings, und das ist durchaus eine Parallele zum Sprachkonzept Saussures, liegt in der Arbitrarität des Zeichens („Es ist in Namen, das wir denken“, a. a. O., § 462) zwar die Freiheit der Verbindung oder Zuordnung von Vorstellung zu ‚Namen‘, aber es liegt keineswegs im Belieben eines Einzelnen, diese Konvention willkürlich außer Kraft zu setzen. Dies gilt gleichermaßen für die logischen Denkbestimmungen, die ich zwar ignorieren oder gegen die ich verstoßen kann, aber nur um den Preis der Unverständlichkeit oder des kommunikativen Abbruchs. Den Weg des Denkens entwickelt Hegel in seiner Logik. Er greift darin auf die gesamte Geschichte des Denkens zurück, die beginnend bei den Vorsokratikern über Platon und Aristoteles, Descartes, den großen Metaphysikern Leibniz und Spinoza, dem Skeptiker Hume und dem großen Dekonstruktivisten Kant eine Bewegung vom Sein zum Bewusstsein vorgezeichnet hatte, die nun denkerisch bewältigt werden musste. Zwischen Glauben und Wissen, Skepsis und Gewissheit, Einheit und Vielheit (Zerrissenheit innerhalb der Gesellschaft), Fortschritt und Tradition muss das moderne Denken seine Zeit mit den bekannten gesellschaftlichen und historischen Umbrüchen und Entwicklungen in Ökonomie (Industrialisierung), Politik (Demokratisierung), Kultur (Säkularisierung) und Gesellschaft (Individualisierung) neu denken. Alte Ordnungen verlieren ihre Bindekraft, Gewissheiten stürzen  – wo sind die neuen Orientierungen, ohne die unsere Reise durchs Leben als bloß zufällige Aneinanderreihung von an sich sinnlosen Ereignis195

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sen erscheinen muss? Ein Schlüssel zum Verständnis liegt gewiss in der Einsicht, in der Erkenntnis, nicht nur eine Substanz, also eine denkunabhängige und selbständige Wirklichkeit anzusetzen, sondern zugleich das Subjekt, das notwendigerweise in dieses Erkennen involviert ist und sich in diesem evolutiven Lern- und Bildungsprozess verändert und vor allem: wiedererkennt. Denn man darf nie vergessen, dass auch wenn die Seins- und Wesenslogik als objektive und die Begriffslogik als subjektive sich in der absoluten Idee zusammenschließt, das Denken es in der ganzen Zeit der logischen Reflexion mit sich selbst zu tun hat. Der ontologische (objektive) Teil der Logik beschäftigt sich nicht wie die Wissenschaften mit den empirischen Gegenständen, sondern mit den Kategorien, mit denen wir über diese Gegenstände reden und sie begreifen wollen. Am Ende der Logik, die sich selbst, das heißt den Logiker als Subjekt, ins reale Leben entlässt, um sich dort zu bewähren, steht die absolute Idee. Sie wird expliziert als die Reflexion eines genialen Denkers über sein Werk, in der noch einmal der Weg (= Methode) rekapituliert wird, den sein Denken genommen hat. Und es ist die Erkenntnis, dass die volle Wirklichkeit, die in der Realphilosophie analysiert werden soll, vor ihrer Realisierung oder Verwirklichung, schon als Idee in einem Bewusstsein existierte – als Begriff, in dem sich aber wie in einem Fluchtpunkt ein ganzes Theoriegebäude in einem einzigen Wort zusammenfassen lässt: Gott, Seele, Freiheit; das Gute, Wahre, Schöne etc. Bodenständiger gesagt: Bevor der Künstler oder Handwerker ans Werk geht, hat er einen Plan im Kopf oder er verlässt sich auf seine Kompetenzen. In diesem Plan laufen alle Erfahrungen, die er bereits gemacht hat, alle Fehler und Irrtümer, Versuche und Erfolge zusammen. Er kann auf Bewährtes zurückgreifen, er wird Neues ausprobieren. All dies wird in der Idee als dem großen Plan zusammengefasst; es ist die Vereinigung von Objektivität und Subjektivität: einerseits den in Werken objektivierten Zwecken, die Zeugnisse von Naturbeherrschung durch Technik und Wissenschaft geben, und andererseits den Intuitionen, den spontanen, kreativen und gleichwohl technisch angeleiteten subjektiven Fähigkeiten und Fertigkeiten. Es gibt in diesem Modell des kreisförmigen Lebens‑, Arbeits- und Liebeszyklus keine Trennung oder Spaltung. Nichts, was nachträglich geheilt werden müsste. Das Denken muss sich nur auf diese Wahrheit, dieses vortheoretische, lebensweltliche Wissen einlassen. Im Vergleich mit dem Erkennen finde ich das Denken viel komplexer, weil es eben nicht nur auf von ihm unterschiedene, selbständige Objekte rekurriert, son196

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dern das Gedachte, die Gedanken, den Begriff überhaupt erst erzeugt und damit dieses Entgegensetzen ursprünglich eben nicht enthält. Erkennen ist kein Selbsterzeugen, es sei denn, es bezieht sich auf sich selbst. Es erzeugt nur Wissen über das Objekt als gewusstes, begriffenes Objekt, was dann Eigentum des individuellen und allgemeinen Bewusstseins wird (Gedächtnis, Erinnerung). Denken hat große Ähnlichkeit mit Produzieren – ein Begriff, den vor allem der frühe Hegel selbst sehr oft in diesem Zusammenhang benutzt (vgl. Kap. 3.3.2). Produzieren als Handlungstypus kann ökonomisch auf Güter und Dienstleistungen, technisch auf Produktionsmittel, künstlerisch auf materielle und immaterielle Werke und philosophisch oder wissenschaftlich auf Theorien und Konzepte bezogen sein. Jedes Produzieren endet in einem Produkt, das sich vom Produzenten löst und in einen Zirkulationsprozess eingeht, der sich vom Produzenten entfernt und in einem anonymen Konsumdelta mündet. Es geht in die Sphäre des Allgemeinen über, kann getauscht werden, weil es in der abstrakteren Wertsphäre durch ein Medium mit anderen Produkten vergleichbar und konvertibel wird. Das Medium oder Vermittelnde ist ökonomisch Geld, technisch Wissen, sozial Sprache. Wenn man will, ist das übergeordnete Medium Kommunikation, weil alles Zwischenmenschliche nur über das Einhaken und Verbinden mit anderen in eine gemeinsam geltende, anerkannte und geteilte Symbolwelt existiert. Diese ist selbsterzeugt. Hieraus erwachsen die Prozesse der Verdinglichung, Entfremdung und Fetischisierung, aber ebenso die Prozesse der Aufklärung und Problemlösungen. Um die jaspersche Achsenzeit, etwa 600  v.  Chr., entwickelte sich auch in China ein Denken, das im sozialen Verbund eines Zen-Meisters zu seinen Schülern Weisheitslehren in Form von Paradoxien vermittelte. Aus dem praktischen Leben herausgeholt, waren das spirituelle Denksportübungen, sogenannte koans, um das empirisch Unsinnige oder Unvereinbare in einem kosmischen All-Einen meditativ verstehbar zu machen. Die Aufforderung, mit einer Hand zu klatschen und dem dadurch erzeugten Geräusch zu folgen, war ein solcher koan. Ähnlichkeit hat das mit der mystischen Einsicht Wittgensteins, dass die Wahrheit im Zeigen oder Schweigen liege, nicht im Reden. Wo das Denken oder Sprechen an Grenzen stoße, müsse man aufhören zu denken; Heidegger aber fängt da erst an.227 Wir finden

227

Eilenberger, W. (2018): Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie: 1919– 1929. Stuttgart. Loy, D. (1988): Nondualität. Über die Natur der Wirklichkeit. Frankfurt am Main.

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Parallelen in der ästhetischen Erfahrung der Kunst, wo das Nichtdenkbare im Sinnlichen und Anschaulichen aufscheint oder das Denkbare, aber nicht Darstellbare oder sinnlich Aufzeigbare (Idee), im Erhabenen als dem schlechthin Großen ein Gefühl der Überwältigung auslöst.228 Unter dem Stichwort „Nondualität“ geht der amerikanische Philosoph und praktizierende Zen-Buddhist David Loy (*1947) dem Gegensatz von östlichem und westlichem Denken nach, wobei auch im westlichen nicht-duale Erfahrungen etwa aus der Mystik (Jakob Böhme, Meister Eckhart) bekannt sind.229 Ein herausstechendes Merkmal ist, dass die westliche Reflexion eine Fähigkeit des Bewusstseins ist, die jeder hat und die ohne große Anstrengung aktiviert und verifiziert werden kann, während die Erleuchtungserfahrung einer nicht-dualen Erfahrung nur über einen langen Übungsweg etwa der Meditation erreicht werden kann. Erleuchtet ist halt nicht jeder; reflektiert aber schon, wenn auch graduell verschieden. Es geht um die Spaltung von Subjekt und Objekt, wenn man es auf die Erkenntnis beziehen will, und Denken hat mit Erkennenwollen im Sinne von Wissenserwerb zu tun. Die Trennungserfahrung ist intuitiv und praktisch allgegenwärtig.230 Dass wir in einer von uns unabhängigen und nach Eigengesetzlichkeiten existierenden Außen- oder Umwelt leben, muss uns nicht mühsam erzählt werden; wir erleben es Beispiele für den ersten Fall wären sog. unmögliche Figuren, wie Escher sie gezeichnet hat, die ähnlich wie Paradoxien etwas zeigen, was an sich unmöglich ist, also denkunmöglich, aber darstellbar; der zweite Fall, bei dem interessanterweise nach Kant sowohl Gefühle der Lust wie der Unlust beteiligt sein können, die durch das Schreckliche und das Schöne verursacht werden, zeigt sich etwa in der Wucht eines aufgepeitschten Meeres, einem sternenklaren Nachthimmel, einer gotischen Kathedrale. Das kann man um vieles ergänzen. 229 Dazu (Loy 1988). Der Hegel-Biograf Horst Althaus vermerkt: „Hegels Lektüre Böhmes zur Zeit seiner Arbeit an der Wissenschaft der Logik ist genauestens verbürgt durch die Zusendung des Amsterdamer Jakob-Böhme-Ausgabe durch van Ghert. Diese Patenschaft Böhmes  – neben dem Rationalismus der Aristotelisch-Wolffisch-Kantischen Schullogik  – durchtränkt gleichsam die Sprache Hegels bis in den Stil der Seins- und Wesenslogik.“ (Althaus 1992: S. 264). 230 Rüdiger Safranski (*1945) thematisiert – in sein Buch Wieviel Wahrheit braucht der Mensch? Über das Denkbare und das Lebbare einleitend – diese Erfahrung der Trennung durch das Bewusstsein, das in vielen Ursprungsmythen, etwa dem Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies, erzählt wird. Eine neue Unschuld und Vereinigung suchen die philosophisch-literarischen Diskurse, die er dann behandelt. Das ist mit dem Zen-Gedanken verwandt, sich in der Konzentration zu verlieren, d.h. ich-vergessen und eins mit dem Ziel zu werden. 228

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tagtäglich. Dagegen ist die Erfahrung eines ‚ozeanischen Gefühls‘, des Einsseins mit allem, eher auf Ausnahmesituationen bezogen, die Rauschzuständen und Ekstasen nahe sind. Wenn man Denken nun als einen Erfahrungsmodus neben Handeln, Fühlen und Wahrnehmen ansetzt, ist tatsächlich die Frage, was bei diesem mentalen Vorgang passiert; vor allem, welchen Grad von Bewusstheit er voraussetzt. Von Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799), dem großen Aphoristiker und großen Geist in „buckligem Körper“, stammt der Satz, dass man eher sagen sollte, ‚es denkt‘ statt ‚ich denke‘, so wie man auch sagt ‚es blitzt‘. Schließlich muss hier noch die Idee Hegels angeführt werden, die mit dem spekulativen Denken die Verstandesreflexion aus ihrer starren und leerlaufenden Fixierung auf die Gegensätze herausholen will, indem es die Gegensätze in eine höhere Einheit, die beide umschließt, auflöst. Diese Form der Einheit zielt schließlich, am Ende des großen Gedankenspiels der evolutiven Logik, auf die Identität von Subjekt und Objekt, wenn sich das Denken im Denken selbst erkannt hat, was aber anders denn als eine Metapher nur schwer verstehbar ist. Wenn man, wie der Sprachkritiker Fritz Mauthner (1849–1923) es tut, denken und sprechen in eins setzt, dann kann man den unbewussten Anteil beim Sprechen, das implizite Grammatikwissen im Sinne Noam Chomskys, nicht hoch genug ansetzen. Man denkt ja laufend, man quatscht ständig mit sich selbst, keine Sekunde, wo dieser innere Monolog versiegt, wo der Geist mal zur Ruhe kommt, wenn, ja wenn wir uns nicht auf etwas außer uns richten und konzentrieren, darin versenken. Hier ist die Bedeutung der Kunst, der Arbeit und des Spiels – wie eigentlich jede Art der Kommunikation – am wirkungsvollsten: All diese Aktivitäten lenken uns von uns selbst ab. Sie führen uns aus diesem Innenraum, der als Fliegenglas oder Gefängnis der Seele charakterisiert wurde, der dieses solus ipse zum einsamen und verzweifelten Ich degradiert, zu dem es durch, wie ich meine, falsches Denken geworden ist. Wenn Sprache und Denken zusammengehören, dann ist auch das Denken im eminenten Sinne sozial oder sozialisiert, weil wir in gesellschaftlichen, das heißt allgemeinen Kategorien, die objektive Gültigkeit verlangen und fordern, uns einer gemeinsamen, identischen Welt der Dinge und Personen versichern können und darüber verständigen müssen. Anders kann der Mensch nicht überleben – und auch nicht wirklich denken. Denken ist alles andere als rein subjektiv oder privat, es bewegt sich wie die Sprache in der Sphäre des Allgemeinen, die mit dem Individuellen eine notwendige und unauflösbare Verbindung eingeht. Dabei ist es nicht einmal immer eine bewusste Tätigkeit. Vielmehr arbeiten der Begriff, 199

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das Urteil und der Schluss als die Denkformen schlechthin oft im Hintergrund und äußern sich in Bruchteilen von Sekunden gleichsam intuitiv als Bauchentscheidung  – was sie aber nicht sind. Lichtenbergs ‚es denkt‘ wäre dann ein solches Denken. Es kann als Routine und automatisierter Algorithmus blitzschnell sein. Es kann aber auch als bewusste Reflexion und distanziertes Abwägen aller möglichen Standpunkte und Perspektiven sowie der Pro- und Contra-Argumente zeitaufwendig inszeniert werden. Das Denken bei Kant ist eine aktive Funktion des Verstandes. Es verknüpft, logisch gesprochen, Begriffe in Urteilen und Schlüssen zu einer Einheit; psychologisch gesprochen vereinigt es Vorstellungen in einem Bewusstsein. Sich etwas durch Begriffe vorstellen und nicht durch Anschauungen, heißt denken. Dabei gilt aber seine Einsicht, dass Begriffe ohne Anschauung leer und Anschauungen ohne Begriffe blind sind. Dennoch kann das Denken Begriffe rein auf diese selbst beziehen; in diesem selbstbezüglichen Modus hantieren oder operieren die Transzendentallogik Kants, die Logik Hegels231 und auch der frühe Wittgenstein in seinem Tractatus. Das Denken hat es mit sich selbst zu tun, mit Gedanken, Begriffen, Urteilen und Schlüssen. Es kann dem Gedanken verfallen, es mit apriorischen Formen zu tun zu haben, die vor jeder Erfahrung gleichsam präformierend unsere Erkenntnis der Wirklichkeit beeinflussen oder gar prägen. Dass diese transzendentalen oder apriorischen Formen, die Kategorien und Anschauungsformen von Raum und Zeit, ebenfalls der Erfahrungswelt entstammen und biologisch als Adaptionsleistungen intelligenter Organismen an ihre Umwelt aufgefasst und verstanden werden können, diese naturwissenschaftliche Erkenntnis muss eine Philosophie beziehungsweise Erkenntnistheorie beleidigen, die vorgibt, die Voraussetzungen wissenschaftlichen Denkens überhaupt erst aufdecken oder gar schaffen zu können.232 Hegel scheint die religiöse Vorstellung zu gefallen, dass unsere Denkbestimmungen vor der Schöpfung durch den christlichen (!) Gott in dessen Geist vorhanden waren, er sie dann in die Welt entlassen hat und wir sie als Ebenbilder Gottes und Krone der Schöpfung durch gewaltige Denkanstrengungen, wie eben seine Logik, erinnern oder reproduzieren. „Die Logik ist sonach als das System der reinen Vernunft, als das Reich des reinen Gedankens zu fassen. Dieses Reich ist die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist. Man kann sich deswegen ausdrücken, daß dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist.“ (TW 5: S. 44). 232 Hegel denkt das Apriorische als die „in sich reflektierte, daher in sich vermittelte Unmittelbarkeit des Denkens“ (TW 8: S. 57). Das aber ist die Allgemeinheit, in der sich das 231

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Nun wendet sich das Blatt und der Evolutionsbiologe sowie der Kognitionswissenschaftler weisen die transzendentalen Argumente ab. Immer noch aber wird von vielen Philosophen die Psychologie als eine Wissensdisziplin abgewertet, obzwar sie sich professionell mit dem Denken beschäftigt. Aber: Logik vor Psychologik. Der Grund: Geltung und Genese sind voneinander zu trennen. Das stimmt, aber die Transzendentalphilosophie behauptet, dass wir Geltungsfragen unabhängig von ihrer Entstehung behandeln könnten. Mit welchem Recht? Wie will diese Philosophie das begründen außer durch empirisch belastbare Adaptionsleistungen des menschlichen Organismus an seine Umwelt? Nie begriffen habe ich die Behauptung, Kausalität sei apriorisch, das heißt die Beobachtung, dass jedes Seiende aus etwas anderem Seienden entstanden ist oder Ereignisse eine oder mehrere Ursachen haben, sei etwas, was der Verstand an die Objekte der Realität herantrage. Es geht mir nicht um die Frage, ob hier Notwendigkeit oder Kontingenz, Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit im Spiel ist, sondern schlicht um das Faktum der Wirkursache im Sinne des Prinzips, dass nichts ohne Grund, genauer: Realgrund oder Ursache, geschieht. Damit ist keineswegs ein Determinismus verbunden, eine Voraussagbarkeit oder Vorherbestimmung (Schicksal), sondern der Zufall kann genau wie ein Gesetz eine Wirkkette in Gang setzen, ebenso wie Wirkungen wiederum Ursachen für andere Wirkungen sind (zum Beispiel Kettenreaktionen). Der Mensch handelt, indem er Kausalität aus Freiheit, aus Zwecken erzeugt. Kräfte und Gesetze, wie die Gravitation, die Trägheit etc., entstehen ja auch allererst im Zusammentreffen der Dinge und Konstellationen in der Raumzeit; erst dann entfalten sie sich. Sie existieren nicht platonisch als Idee vor ihrem Auftreten. Das tun sie allenfalls im Bewusstsein von Menschen, wenn er sie kennt. Nein, die eigentliche Frage ist: Wie kommt das Subjekt zur Kategorie der Kausalität? Ist sie ihm angeboren, fällt sie vom Himmel, reift sie nach einer gewissen Zeit in seinem Gehirn beziehungsweise Bewusstsein heran, so wie der Apfel am Baum? Oder bildet sie sich durch praktische Erfahrung anhand denkunabhängiger Prozesse und Ereignisse? Ich denke, nur letzteres kann verständlich gemacht werden. Freilich ist die Rekonstruktion dieser Denkoperation komplexer, als man vielleicht annimmt. Sie wird erlernt, das heißt sozialisatorisch aus gegenständlichen Denken grundsätzlich bewegt. Würde man die Vermittlung nicht idealistisch, sondern materialistisch lesen, könnte man tatsächlich eine biologische, neurologische Struktur als Apriori im Sinne einer Bedingung der Möglichkeit vermuten.

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und sozialen Handlungsvollzügen gewonnen. Dabei spielen die Wiederholbarkeit und die Vergleichbarkeit eine Rolle, ebenso wie die Erfahrung der Selbstverursachung, also eines autonomen Handelns, das etwas in Gang setzt, weil man es will (Kausalität aus Freiheit).233 Der Streit um die Quelle der Kausalität zwischen Empiristen und Rationalisten, der paradigmatisch mit den Figuren Hume und Kant verbunden wird, setzt zumindest bei Kant zu spät an, weil dieser die wissenschaftliche Erfahrung der Physiker voraussetzt. Humes Erklärung, wir würden Ereignisse aus Gewohnheit kausal verknüpfen, leuchtet mir überhaupt nicht ein. Wie sollte ein psychologisches, erworbenes Verhaltensschema der Grund dafür sein, dass Gegenstände auf der Erde schwerer sind als auf dem Mond? Dass wir Menschen sterblich sind und dass wir nicht durch Festkörper hindurchgehen können? Dass Kinder sich im Probieren und Hantieren mit Dingen, im taktilen und oralen, auditiven und optischen Kontakt mit ihrer Umwelt erst eine operative und kategoriale Basis schaffen (Piaget), das taucht in diesem metaphysischen Gedankenspiel nicht auf. Inwieweit bereits genetisch präformierte, neuronale Strukturen diesen Entwicklungsprozess überhaupt erst ermöglichen, also einen quasi-transzendentalen Status beanspruchen können, ist noch lange nicht geklärt. Chomsky nimmt ja eine angeborene grammatische Struktur an, ohne die Kinder nicht prinzipiell jede Sprache von enormer Komplexität in dieser Geschwindigkeit erlernen könnten; dies ist aber, wie er immer wieder betont, eine Hypothese.234 Erfahrung, so muss man heute annehmen, ist nicht schon bei der Geburt vorhanden; sie wird allmählich über Lernprozesse aufgebaut und kommunizierbar gemacht. Sie ist immer in ein soziales Umfeld eingebettet, ohne das Kinder nicht aufwachsen könnten.235

Vgl. dazu auch das Beispiel des spielenden Kindes von Freud in Kap. III.6.2, nach Fn. 283. 234 Die Neuropsychologin Angela Friederici wies 2018 in einem Interview mit der ZEIT auf die Existenz zweier getrennter Gehirn-Areale für Syntax und Wörter hin, wodurch Chomskys linguistische These zumindest empirische Evidenz beanspruchen kann. https://www.zeit.de/2018/18/universalgrammatik-sprache-kinder-gehirn-neuropsych ologie (letzter Zugriff am 14.10.20). 235 Die Robinson-Geschichten, die oft als Modelle für rationale Handlungsweisen erzählt werden, zeigen deshalb nicht, was sie vorgeben zu zeigen. Würde man ein Neugeborenes auf einer Insel aussetzen, stürbe es binnen Tagen. Dieses Gedankenexperiment, so es eines ist, krankt schon an der Voraussetzung, dass ein bereits sozialisiertes und individuiertes Subjekt, ausgestattet mit einem festen Glauben, sich seine Lebensumstände rational 233

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Erfahrung entsteht wesentlich aus Interaktion, in die ja strukturell Kausalität qua Intentionalität eingelassen ist. Erkennen ist eine kognitive Fähigkeit, die wir auch den Tieren zugestehen müssen. Sie identifizieren Gegenstände und Artgenossen bei der Nahrungs- und Partnersuche sowie der Revierabgrenzung. Sie erschrecken sich vor Geräuschen und zeigen Angstreaktionen oder freudige Erregung. Inwieweit dies reine Reflexe oder Resultate von Lernprozessen sind, sei zunächst dahingestellt. Denken dagegen geht weit über diese basale Funktion der Wirklichkeitserfassung hinaus. Im Unterschied zum Erkennen kann das Denken der unmittelbaren Kontaktaufnahme mit der Realität oder Wirklichkeit entbehren. Bildlich gesprochen können wir uns in ein Studierzimmerchen zurückziehen, in den Sessel setzen und uns vor dem Kaminfeuer mit einem Glas Wein und einem Pfeifchen buchstäblich alles (aus)denken. So kam der cartesische Zweifel ja auch fast biedermeierlich in die Welt.236 Sokratisch ist der Dialog auf den öffentlichen Plätzen Athens lebendig, der polis, vielleicht noch in den Häusern und Gärten wohlhabender Athener Bürger, wie Platons einschlägige Dialoge bezeugen. Hier ist das Erkennen aber schon in die fertige Form des gemeinen Wissens, der doxa, überführt, das allerdings auf seine Stichhaltigkeit als episteme noch überprüft werden muss. Die Modalität der Möglichkeit ist im Grunde der Seinsmodus, in dem sich das Denken wohlfühlt und ausbreiten kann. Hier entstehen die Welten der Fantasie, der Mythen, der Märchen, der Poesie. In eingeschränkter Form haben die Erkenntnistheoretiker den Begriff der Einbildungskraft dafür reserviert, was aber missverständlich ist. Wenn die Sprache, in der wir notwendigerweise denken müssen, aus operational von der Realität abgekoppelten, referenzlosen Zeichen besteht, die gleichwohl eine referenzielle Bedeutung durch die Sprecher/Hörer haben, dann einrichtet. Damit wird alles das, was man erklären will, nämlich das Rationale, bereits fertig in der Person des Robinson mitgeliefert. 236 Muße und Abgeschiedenheit, Landschaft (wahlweise Gebirge oder Meer) oder Studierzimmer sind lokale, fast idyllische Versatzstücke, die dem philosophischen Denken das Außerordentliche, Nichtalltägliche verleihen sollen. Sehr lebhaft und öffentlich muss es dagegen nach Berichten von Historikern im alten Griechenland zur klassischen Zeit des Sokrates’, der Sophisten, Platons und Aristoteles’ in der athenischen polis zugegangen sein. Dieses intellektuelle Leben spielte sich aber überwiegend unter männlichen Mitgliedern in einer begüterten Oberschicht ab, die keinem ‚bürgerlichen‘ Beruf nachgingen, sondern evtl. auf prestige‑, macht- und gewinnträchtige Ämter aus waren. Dazu (Steenblock 2008).

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können wir sie beliebig verwenden, um neue Bedeutungswelten zu kreieren. Ob dies Religionen, Mythen, Sagen, Legenden oder was es an fiktionalen Formen sonst noch gibt sind, spielt keine Rolle. Wir können aber immer feststellen, und das ist der entscheidende Punkt, ob diese mentalen Strukturen auf unsere Realwelt passen oder nicht. Über den Erfolg solcher Tests entscheiden neben unseren alltäglichen Wahrnehmungen lebensweltliche und wissenschaftliche Erfahrungen, die eine klare und objektiv gültige Feststellung zulassen. Die Sprache dient dann lediglich als objektives Medium der Übermittlung solcher Bezeugungen, weil sie den Subjekten Zugang nicht nur zur Wirklichkeit, sondern auch zu den bizarrsten Fantasieprodukten gewährt. Sie ist ‚Bewohnerin‘ beider Welten, das Zeichen ragt in beide Sphären, die des Realen und des Idealen, und die Verbindung wird ausschließlich durch uns Menschen hergestellt. Dies ist meines Erachtens allerdings der springende Punkt. Denn Sprache allein oder ‚an sich‘ ist ohne uns weder existent noch wirksam. Wir sind deren Verwender und Erzeuger zugleich: Substanz und Subjekt, wie Hegel das formulieren würde. Wer diesen Produktionszusammenhang leugnet oder übersieht, müsste die Sprache wie weiland Herder in seiner Preisschrift dargelegt hat, als göttlichen oder natürlichen Ursprungs verständlich machen können. Was Denken und Erkennen gemeinsam haben, ist natürlich die Sprache. Genauer die Satzform. Denken erschöpft sich aber nicht wie das Erkennen in propositionalen Urteilen, sondern erfordert in ebenbürtiger Weise zum Beispiel die nicht wahrheitsfähige Form der Frage. Fragen sind mitunter erkenntnisöffnend, sogar einer Antwort gleichwertig, ohne einen Tatbestand als Tatsache festzustellen. Bereits die schlichten Warum-Fragen eröffnen einen Denkraum, der die Suche nach Erkenntnissen allererst auf den Weg bringt. Hinter einer Frage können sich sehr verschiedene Haltungen versammeln: Neugier, Wissbegierde, Denkfreude, Informationsbedarf, Skepsis, Ironie, Aggression, Verzweiflung, Auskunftsbedürfnis, Rhetorik, Didaktik etc. Dem Denken verwandt ist wahrscheinlich die Neugier, aber auch die Gewohnheit als bewährte Routine einer ehemals erfragten Problemlösung. Denken kann als handlungshemmendes Probehandeln aufgefasst werden. Wir unterbrechen oder entwerfen Handlungen, um aus der Distanz gleichsam spielerisch Denkmöglichkeiten antizipierend in den Blick zu nehmen. Ohne folgenschwere Konsequenzen befürchten zu müssen, können wir in Gedanken und mithilfe von Modellen und Computern alternative Szenarien für bestimmte Problem- und Entscheidungsfelder durchspielen. Neben diesen eher technischen, heute algorithmisch kalkulierbaren Simulationen ist die Beratung meines Erachtens der 204

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klassische Fall, bei dem sich Menschen über Zukunftsthemen, die aus der Gegenwart herrühren, gedanklich im Gespräch austauschen. Meist sind Experten oder weise, zumindest erfahrene Menschen zugegen, die Autorität auf dem Gebiet genießen, über das Rat gehalten wird. An einigen Rathäusern mahnt der Spruch: Halte Rat vor der Tat. Damit ist, wenn es um die öffentlichen Dinge, die res publica, geht, im Grunde alles gesagt. Denken setzt also voraus, einen Schritt zurückzutreten, temporär aus einem Handlungs- und Ereigniszusammenhang auszuscheiden und sich die Sachlage von außen näher anzusehen. Dagegen erkennen wir uno actu, also in Handlungsvollzügen. Unser Gehirn scannt unentwegt unsere Umwelt, filtert und sortiert die Informationen und vergleicht sie mit abgespeicherten Mustern. Platon lässt grüßen, könnte man sagen. Die Nähe ist freilich nicht räumlich zu verstehen, sondern im Annähern geschieht so etwas wie gedankliche Durchdringung. Dabei kommt das Bewusstsein, der Verstand ins Spiel: Man bedenkt zum Beispiel Folgen und Nebenfolgen, man erwägt Mittel und ihre Kosten, berechnet den Gewinn im Verhältnis zum Ertrag, prüft den Nutzen und die Nachhaltigkeit, ermittelt Gewinner und Verlierer, stimmt Interessen ab und fragt nach Unterstützern und Mitstreitern. Ratio ist Rechnen, Kalkulieren; Rationalität hat auch die Bedeutung der Effizienz, des sich Lohnens eingesetzter Mittel für ein geplantes Ziel: Zweckmittelrationalität, instrumentelle Vernunft. Hier sind homo faber und homo oeconomicus zuhause. Alles das kann der Mensch im Unterschied zu allen anderen Lebewesen, manchmal blitzschnell und unbewusst, weil er Vernunft, Sprache, Intuition und Geist hat. Und dennoch kann er nicht alles überblicken. Die unbeabsichtigten Folgen und Nebenfolgen, nicht einrechenbare Naturereignisse, unwahrscheinliche Verkettungen von Umständen, Täuschungen, Ablenkungsmanöver stellen – ob sie nun aus Unwissen, Fahrlässigkeit oder Risikofreude unbedacht bleiben – grundsätzlich ein Kontingenz- und Komplexitätsfaktum dar. Die Anthropologie hat Evidenzen dafür gesammelt, dass aus dem Hiatus zwischen Reiz und Reaktion, der sich in der Unterbrechung einer instinktgesteuerten Handlungskette zeigt, dieser Freiraum entstanden ist, den wir Bewusstsein, Vernunft und Geist nennen. Würde der Mensch nur seinen subjektiven Trieben und Affekten folgen, also im Naturzustand verbleiben, könnte keine Gesellschaft entstehen und sich erhalten. So aber verfügt er über Potentiale, Vermögen, Kompetenzen, Fähigkeiten – was auch immer man hier an Termini einsetzen mag –, die es ermöglichen, aus dem Reich der Notwendigkeit ins

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Reich der Freiheit zu gelangen. Zwangsläufig allerdings, wie Marx es noch annahm oder erhoffte, ist diese Entwicklung nicht.237 Eine wirklich interessante, aber nur metaphysisch relevante und keineswegs lebensweltlich belangvolle Frage ergibt sich für das Denken aus einem Problem, das Wittgenstein vielleicht am deutlichsten und auch am konsequentesten gestellt hat: das Undenkbare denken, das Unsagbare sagen. Eben die Frage nach der Paradoxie. Wenn die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt bedeuten238, dann bin ich in einem Gefängnis gefangen, das ich mir selber gebaut habe. Ich habe mich, bildlich gesprochen, von innen zugemauert. Das ist kein Fliegenglas mehr, aus dem es noch einen Ausweg gäbe. In seinem Erstlingswerk, dem Tractatus logicophilosophicus von 1921, glaubte Wittgenstein, alle philosophischen Probleme gelöst und die Philosophie selbst als unsinnig entlarvt zu haben. Mehr Arroganz war nie (außer vielleicht bei Nietzsche). Er glaubte, den Schlüssel für den Zugang zur Welt im logischen Aufbau der Sprache gefunden zu haben, die in dieser Struktur ein Bild der Welt sei. Sprachlich-logische und dinglich-ontologische Struktur seien identisch. Tatsächlich ist seine allgemeine Satzform nur eine mögliche sprachliche Struktur und auch er findet keinen Zugang zur realen Welt, weil er nur den Erzähler seiner Geschichte als menschliches Wesen in seiner kalten logischen Welt der Symbole zulässt. Er ist alleine mit seinen Fantasien über ein Draußen und dem Medium, in dem er sich – ja, mit wem eigentlich? – unterhalten will. Er rät sogar dazu, die Leiter wegzuwerfen, auf der der Leser ihm bis hierhin gefolgt ist. Und dann? Wohin das reine Denken führen kann, zeigt der Deutsche Idealismus, der aus Kants Abweisung einer apriorischen und zugleich synthetischen Erkenntnis übersinnlicher Gegenstände entsprang. Indem er das Fundament der Erkenntnisgewinnung, die Verbindung von Subjekt und Prädikat in einem Urteil (Synthesis), in das „Ich denke“ verlegt, gleichzeitig aber behauptet, das Ding an sich sei nicht erkennbar, weil wir immer nur und immer schon mit unserer transzendentalen Apparatur der Kategorien, Schemata und Anschauungsformen auf die Welt der Dinge losgingen, hinterlässt er eine doppelte Lücke. Diese besteht erstens aus der ontologischen Trennung von zwei Welten, der Sinnlichkeit und dem Verstand, die nicht zu einer Einheit verbunden werden können. Unsere Anschauung geht auf Sinnlichkeit, unsere Begriffe gehen auf den Verstand zurück und das diskursive Denken Vgl. (Hegel TW 10: § 467 Zusatz) und (Habermas 1988). (Wittgenstein 1971a: 5.6).

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stößt bei dem Versuch, das Unendliche zu denken, auf unlösbare Widersprüche und Antinomien. Zweitens ist unser (verstandesmäßiges) Erkennen auf die sinnlich zugängliche Welt beschränkt. Die Transzendentalerkenntnis führt aber zu den apriorischen Formen, die wir zur Welterkenntnis brauchen. Und hier verwickelt sich Kant in theoretische Widersprüche. Welcher Art sind Transzendentalerkenntnisse? Empirisch-synthetisch können sie nicht sein, da sie ja die Bedingungen empirischer Erkenntnis freilegen wollen, analytisch gewonnen bestünden sie aus rein tautologischen Urteilen, weil sie nur das enthalten würden, was vorher in sie reingesteckt wurde. Vernunft aber, so schon frühe Kritiker wie unter anderem Herder, Hamann und Jacobi, wird erst erworben und kann nicht vor aller Erfahrung postuliert werden. Zudem ist die Verstandes-Kategorie der Kausalität nur auf Erscheinungen anwendbar, weshalb die Anschauung, in der wir von ‚Dingen an sich‘ affiziert, das heißt kausal angeregt werden, eigentlich gar nicht denkbar sein kann. Fichte, Hegel und Schelling versuchen diese Lücke und die Begrenzung der Vernunft durch sich selbst, denn nichts anderes ist die Kritik der reinen Vernunft, zu beseitigen. Reine Vernunft, die zu kritisieren sei, kann nur eine Abstraktion sein, die mit der lebensweltlichen wenig gemein hat. In seiner Differenzschrift von 1801, der ersten philosophischen Publikation Hegels, mit der er strategisch geschickt seine akademische Laufbahn in Jena begann, greift er in die öffentliche Diskussion um Fichte und Schelling ein. Er besteht eben auf einer Differenz in den beiden Systemkonzepten, lässt dabei aber seinen eigenen Ansatz aus der Frankfurter Zeit noch verdeckt. Erst mit der 6 Jahre später erscheinenden Phänomenologie wird auch seine Absetzbewegung von Schelling klar. Fichte, auf den ich hier kurz eingehen möchte, versucht es mit einer Reflexionsphilosophie, die mit einer absoluten, also sich selbst denkenden Reflexion beginnt, nämlich dem Ich und der Behauptung, dass die Setzung dieses Ichs, also das Aussagen, Behaupten, Sagen, Hinschreiben, Aussprechen („Am Anfang war das Wort“ etc.) dieses Worts eine Tathandlung sei – und zwar eben die desselben Ichs.239 In Vgl. hierzu ausführlich (Iber 1999): Subjektivität, Vernunft und ihre Kritik. Prager Vorlesungen über den Deutschen Idealismus. Der Autor weist in einer Fußnote darauf hin, dass das ‚Setzen‘ bei Fichte unspezifisch für bewusste oder mentale Akte verwendet wird: anschauen, wahrnehmen, denken, wollen, fühlen; Fichte selbst hat in einem Brief an Reinhold, den er zitiert, den Charakter eines Sammelbegriffs betont und das ursprüngliche Setzen und Gegen-Setzen als Nicht-Denken, Nicht-Anschauen bezeichnet, „son-

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der Reflexion auf den Vollzug dieser Tathandlung, die selber reflexionslos ist, entsteht die Identität des Ich=Ich oder das ‚Ich bin‘. Wie so oft in der idealistischen Philosophie ist mit diesem Ich kein empirisches, lebendiges Individuum gemeint, sondern ein reines Gedankenkonstrukt, das benötigt wird, um weitere Gedankenkonstrukte zu konstruieren. Es hat die Funktion eines Prinzips: reine Subjektivität, „Sinnbrennpunkt der Welt“, „und alles, was mit Anspruch auf Sinn gesagt werden können soll, muß auf diese erste und absolute ‚Lichtung‘ zurückbeziehbar sein.“ (Hoffmann 2004: S. 131) Interessant wird dieser Versuch Fichtes, wenn man ihn als Letztbegründung der Philosophie verstehen will, also als Fundament, auf dem alles andere aufbaut. Dem Einwand, dies sei eine zirkuläre Begründung des Ichs, da es seine Existenz bereits voraussetzen muss, wenn es sich auf sich zurückwendet, entgeht er durch die Behauptung, dass diese Setzung als Voraussetzung unmittelbar und reflexionslos sei; ‚unvordenklich‘, wie Schelling dieses Phänomen bezeichnet. Fichte unterscheidet ein bewusstes von einem unbewussten Denken und Handeln, ein deutliches von einem undeutlichen Selbstbewusstsein, ein unmittelbares von einem reflektierten Selbstverhältnis. Diesem ursprünglichen, reinen Ich setzt sich das Ich das Nicht-Ich als alles andere gegenüber und begrenzt den gemeinsam besetzten Raum, indem es ihn teilt. Auf die Setzung folgt die Gegen-Setzung. So entsteht eine „strukturelle Asymmetrie des Subjektiven und des Objektiven […] [ein] Ungleichgewicht der prinzipiierenden Subjektivität und der prinzipiierten Objektivität“ (a. a. O., S. 126). Hegel vermerkt in seiner Differenzschrift, dass Fichte von einem subjektiven Subjekt-Objekt ausgehe, dem Schelling ein objektives Subjekt-Objekt entgegensetze. Damit aber, so eine geläufige Kritik an Fichte, degradiere er alle anderen Ichs zu Objekten, eben Nicht-Ich, und kann am Ende aus dieser monologischen, solipsistischen Position theoretisch nicht mehr heraus. Dieser Solipsismus geschieht, wenn das Denken sich in reinen Begriffen bewegt und sich deshalb im Reich der Freiheit und der Wahrheit wähnt, der Poesie eines Hölderlin vergleichbar. Frei ist der Geist hier, ohne Zweifel. Er hat sich von den Ketten der leiblich-körperlichen Sinnenwelt gelöst und schwebt im leichten Flug über den Wolken. Wahrheit allerdings, die bodenständig und im Allgemeinen zuhause ist, kann dieses Denken nicht beanspruchen. dern es ist die gesammte Thätigkeit des menschlichen Geistes, die keinen Namen hat, die im Bewußtseyn nie vorkommt, die unbegreiflich ist.“ (a. a. O., S. 48, Fn. 2).

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Im Kontext philosophischer und wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung musste die Philosophie die unbestreitbaren Erfolge in Forschung und Technik nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern auch auf einen Begründungsanspruch verzichten. Die an Objektivität interessierten Wissenschaften, allen voran die Physik, die Biologie und die Chemie, bedurften keiner philosophischen Vorerklärung ihrer Denkwerkzeuge mehr. Überdies waren die Erfolge institutionell vielfältig abgesichert und nicht nur an Universitäten und Schulen heimisch, sondern auch in der Ökonomie sowie in der staatlich geförderten Grundlagenforschung verwurzelt und nicht mehr wegzudenken. Man denke nur an das sogenannte Manhattan-Projekt der USA zur Entwicklung der Atombombe und das auf 10 Jahre angelegte Human Brain Project der EU zur Erforschung des Gehirns.240 Was kann die Philosophie dem entgegensetzen, wenn sie sich mehr oder weniger als reine Denkveranstaltung begreift? Dazu einige Anmerkungen am Schluss (IV).

4 Gesellschaft Wir verlassen den Bereich, der sich überwiegend mit den ideellen Produktionen der Philosophie beschäftigte, die eine moderne, wissenschaftlich reflektierte Deutung des Hms ermöglichen. In gewisser Weise bleibt aber das begriffliche Strukturprinzip erhalten, da das Allgemeine sich immer im Individuellen realisiert, das wiederum nie solitär oder atomistisch existiert, sondern als menschliches Individuum in vergesellschafteter Form. Unter anderen haben Aristoteles, Kant, Hegel, Marx, die Soziologie und Anthropologie ohnehin den Menschen immer von Natur aus als zoon politikon, als animal sociale, als Herdentier begriffen. Das genus, die Gattung, ist biologisch betrachtet im Genom angelegt. Sexuelle Fortpflanzung bringt immer nur Exemplare dieser Gattung hervor. Sollten wir dereinst durch Kreuzungen oder sogenannte Genscheren (CRISPR: Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats) Mutationen unserer Art erzeugen können, wären wir gottgleich. Die atomistische Lesart des Menschen, wie sie etwa Hobbes vertritt und die auch dem In diesem Zusammenhang wäre eine Erörterung der sog. Think Tanks, der Denkfabriken, sicher lohnenswert. Es gibt sie in vielen Formen und für viele Zwecke, sodass mitunter der Unterschied zur Lobbyarbeit nicht mehr festzustellen ist. Ein wichtiger Aspekt war seit Gründung immer die Politikberatung, was dann auf Einflussnahme und Agenda Setting hinausläuft.

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Liberalismus inhärent ist, steht vor dem theoretischen und praktischen Problem, warum sich monadisch gedachte Individuen sozial überhaupt zusammenschließen wollen sollten. Wie aber eine Gesellschaft aus Monaden oder Atomen funktionieren soll, kann dieser theoretische Ansatz nicht überzeugend klären. Wie dennoch über Prozesse der medialen Gehirnwäsche der homo oeconomicus als Leitbild einer BigData-Industrie (silicon valley) automatenhaft, einem ‚entseelten Ich‘ gleich, entstehen soll, erzählen und beschreiben viele zeitgenössische Autoren nur als Dystopie (Abb. 23).241

Abb. 23 Aktivität eines Bots Einer der bekanntesten Anthropologen, die den Übergang vom Natur- in den Kulturzustand thematisiert haben, ist Claude Lévi-Strauss (1908–2009). Seine 241

Ich nenne beispielhaft Schirrmacher, F. (2013): Ego. Das Spiel des Lebens. Frankfurt am Main/Zürich/Wien., Harari, Y. N. (2018): Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. Eggers, D. (2013): Der Circle. Köln. Welzer, H. (2016): Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit. Frankfurt am Main/Zürich/Wien. – Die Abbildung 23 zeigt die Visualisierung von Aktivitäten eines Wikipedia-Bots, d.h. eines maschinellen Verarbeitungsprogramms von Daten ohne menschliches Zutun. Sie findet sich unter dem Stichwort Big Data bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Big_Data.

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Interpretation des universal geltenden Inzest-Tabus hat die biologische Regelung der menschlichen Fortpflanzung in die soziale Bedeutung der Abstammung transformiert, die sich in Verwandtschaftssystemen ausdrückt. Diese entstehen durch Heiratsregeln, die bestimmte Verbindungen von Mann und Frau verbieten oder gebieten. Daran ist nun der Gedanke der Verpflichtung entscheidend, der innerhalb der Ethnologie schon länger in Form der Institution der Gabe, des Geschenks bekannt war: gebe ich dir, gibst du mir, do ut des, quid pro quo. Auf diese Weise entsteht ein verzweigtes Tauschsystem, das sich selbst ‚fortpflanzt‘. Denn wenn ein Stamm, ein Clan eine (gebärfähige) Frau weggibt, hat er damit das Recht auf eine Gegengabe, sodass man strukturell von Reziprozität, von Gegenseitigkeit sprechen kann. Gesellschaft entsteht also durch Frauentausch, der die ‚Blutsverwandtschaft‘ der familialen Eltern-Kind-Generation auflöst und den sozialen Raum hin zu anderen Familien öffnet.242 Die Universalisierung, die sich logisch und metaphysisch vor allem im Mittelalter im Universalienstreit vor dem Hintergrund weltlicher und kirchlicher Machtansprüche abspielte243 und in der Französischen Revolution 1789 in den Menschenrechten gipfelte, muss als eine dialektische Bewegung gelesen werden: Das ‚moderne Selbst‘, verstanden als Idealtypus im Sinne Max Webers, erhält mit dem Bürgerstatus eines demokratischen Gemeinwesens Grund- oder Abwehrrechte gegenüber dem Staat und der säkularisierten Kirche einerseits (citoyen, engagierter Staatsbürger) und andererseits zugleich mit dem Personenstatus eines dadurch abgesicherten Privatmenschen innerhalb der Gesellschaft (bourgeois, autonomer Besitzbürger) einen weiteren Individualisierungsschub. Die Trennung von Staat und Gesellschaft war immer prekär, da es dabei um Machtfragen und Eingrenzung staatlicher Gewalt ging. Hegel rekonstruiert die

Wenngleich das Inzesttabu in allen Gesellschaften bekannt ist, ist die Definition, wer aus der Gruppe der Blutsverwandten tabu ist, unterschiedlich. An Erklärungen für das Verbot der ‚Blutschande‘ hat es nicht gefehlt (vgl. Wikipedia: Inzest). Der Punkt ist hier das Gebot der Exogamie, d.h. die Vorschrift, sich einen Sexualpartner außerhalb der eigenen Gruppe zur Fortpflanzung der Nachkommenschaft zu suchen. Adam und Eva befanden sich also noch im tiefsten Naturzustand, einen Wimpernschlag hinterm Paradies. 243 Diesen Prozess stellt (Mensching 1992): Das Allgemeine und das Besondere. Der Ursprung des modernen Denkens im Mittelalter sehr überzeugend dar. „Die Philosophie hat nämlich die historischen Veränderungen immer schon direkt oder zumeist indirekt reflektiert.“ (a. a. O., S. 13). 242

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Gesellschaft (Ökonomie, Recht und Öffentlichkeit)244 als Mitte und Vermittlung zwischen Familie und Staat. Individualisierung entsteht dann gerade durch Verlust dieser vermittelnden Instanzen, der sozialen Bindekraft gesellschaftlicher Traditionen und Institutionen, die in den Formen der Religion einmal als allgemeingültig galten. Sie zwingt durch den Wegfall auch sozial stabilisierender, religiöser Weltbilder die Menschen zu stärkeren Eigenleistungen im Aufbau ihrer Persönlichkeit und der Gestaltung eigener Lebensformen. Der sich so öffnende Spielraum einer von traditionellen Zwängen und institutionalisierter Gewalt befreiten Wahlentscheidung bewirkt paradoxerweise neben der Entlastung eine neue Belastung, nämlich auch für Fehlentscheidungen nur noch sich selbst als Adressaten verantwortlich machen zu können. Dies kann nur mit entsprechenden Identitätsleistungen der Subjekte kompensiert werden, wofür wiederum die Gesellschaft verschiedene Modelle bereithält (dazu III. 6). Universalisierung und Individualisierung sind zwei Seiten einer Medaille. Was in dieser begrifflichen Polarisierung fehlt, ist die mittlere Ebene des Partikularen. Und gerade darin liegt das Potential von stark differenzierten und pluralisierten Systemen, etwa in der Politiksphäre über eine dynamische, am Prozess orientierte Macht- und Kommunikationsstruktur zu verfügen, die gemäß dem Prinzip der Subsidiarität245 die Dialektik von Zentralität und Dezentralität beweglich halten kann. Regionale, bürgernahe Administrationen im politischen Bereich, wie wir sie von den föderalen Staaten kennen, stellen auf Länder‑, Kreis- und kommunaler Ebene öffentliche Güter bereit. Organisationen, Vereine und Korporationen bedienen berufliche, politische, kulturelle Partikularinteressen nach dem Prinzip der Pluralität. Im privaten Raum der Familie, Verwandten, Freunde, Nachbarn und Bekannten lässt sich das ganze Spektrum von „Tyrannei der Intimität“ (Richard Hegel verwendet „System der Bedürfnisse“ für Ökonomie, „Sittlichkeit“ für Gesellschaft und „Polizei und Korporationen“ für Öffentlichkeit. Mit Polizei ist die öffentliche Ordnungsmacht gemeint, die unter anderem für Straßenbeleuchtung, Brückenbau, Besteuerung und Aufsicht über die Einhaltung der Gesetze sorgt (Hegel 2009: §§ 142–360). 245 Subsidiarität bedeutet in einem hierarchisch geordneten System staatlichen oder politischen Handelns, dass die höhere Ebene Kompetenzen an die niedere Ebene abgibt, wenn diese die Aufgaben besser oder effizienter ausführen kann. Dies gilt vor allem in föderalen Systemen, aber auch in der EU, die ja ein Mischsystem ist. Damit kann bewusst supranationalen Strukturen, die eine Kompetenzverlagerung nach oben bedeuten, eine Dezentralisierung und Regionalisierung entgegengesetzt werden, um die Bürgernähe politischer Entscheidungen sicherzustellen. 244

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Sennett) über das entspannte ‚Fallenlassen‘ bis hin zu infantilen Verhaltensmustern ausmachen. Dieser plurale Bereich des Partikularen, der neben den sozialen Aspekten der Geselligkeit, der Sichtbarkeit und der Anerkennung auch eine eminent psychische Entlastungsfunktion ermöglicht, ist sehr differenziert und besonders interessant, weil er ‚mittig‘ gelegen ist und weil er dem Menschen als sozialem Wesen in einer solcherart verfassten Demokratie jede Möglichkeit der Selbstverwirklichung bietet, die er ausleben und kommunizieren kann, sofern sie die Freiheitsrechte anderer nicht verletzt. Gerade im privaten und halböffentlichen Raum ist die Spannbreite sehr weit, da wir aus der Soziologie zum Beispiel um die Subkulturen und Parallelgesellschaften wissen, in denen neben den Mehrheitskulturen, dem mainstream, Lebensformen abseits normaler Bürgerlichkeit praktiziert und toleriert werden können. Dezidierte Gegenkulturen wie etwa ‚Reichsbürger‘, ‚Autonome‘ oder ‚Identitäre‘ bewegen sich am Rand der Legalität. Wettbüros, Swinger-Clubs und Prostitution mit Schmuddelimage siedeln im benachbarten Gewerbegebiet oder gleich in einem Hinterhof in der nächsten Straße. Wir wissen, dass sich in bestimmten Kommunikationsräumen illegale Kontakte und Geschäfte abspielen, die gleichsam der Preis für diese Freiheit der Kommunikation, aber nichtsdestotrotz nicht hinnehmbar sind (Kinderpornografie, Drogen, Waffen, Schutzgelderpressung). Aus dem Toleranzbegriff ergibt sich meines Erachtens eine spannende Frage, die wieder auf das Phänomen der Grenze verweist: Wieviel Transparenz ist wo nötig, um die zentralen Werte unseres Zusammenlebens nicht zu gefährden? Muss der Staat alles von seinen Bürgern wissen, wieviel darf der Geheimdienst wissen, was muss der Bürger von seinen gewählten Repräsentanten wissen, wieviel sollen die Bürger voneinander wissen können …? Toleranz heißt im großherzigsten Fall: Dulden von Einstellungen und Verhaltensweisen, die ich selbst missbillige. Das ist mehr als nur das Andere zuzulassen. Trotz dieser Zumutung heiße ich ein Prinzip gut, dass es anderen erlaubt, Lebensformen zu leben, die ich und andere nicht gutheißen. Dies gilt reziprok. Transparenz ist die Voraussetzung für dieses Prinzip. Was ich aber nicht sehe, kommt auch nicht zum Vorschein und muss nicht toleriert werden, weil es sozusagen gar nicht existiert. Oder man weiß um solche Lebensformen, verschließt aber die Augen und kümmert sich nicht weiter darum. In Ruhe lassen. Es ist gerade für die Existenz einer Gesellschaft, mit einer funktionierenden Öffentlichkeit und zivilisierten Umgangsformen, unentbehrlich, solche Regeln und Normen aufzustellen, die eine zu große Sichtbarkeit des Persönlichen verhindern. 213

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Die Art, wie ich bisher über Gesellschaft spreche, ist recht unkonventionell und müsste soziologisch noch zugerichtet werden. In einer der bekanntesten Definitionen dieser Wissenschaft von der Gesellschaft, der von Max Weber, kommt ihr Gegenstand allerdings nicht vor: „Soziologie […] soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und in seinen Wirkungen ursächlich erklären will.“246 In Luhmanns opus magnum dagegen taucht der Begriff gleich doppelt im Titel auf: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Sein Sinn für Zirkelbewegungen und Paradoxien schlägt sich hier nieder, eine tragfähige Definition von Gesellschaft habe ich aber nicht gefunden, denn „Gesellschaft ist ein sinnkonstituierendes System.“ (Luhmann 1997: S. 50) trifft für alle sozialen Systeme per definitionem zu.247 Was uns als Menschen in Gesellschaft und Gemeinschaft zusammenhält, so meine starke Vermutung, ist nicht die Vielzahl von Gesetzen, Verordnungen und Regelungen, die sowieso keiner vollständig kennt, sondern die eingelebten, sozialisierten und kritisch reflektierten oder hingenommenen Werte und Normen unserer Lebenswelt, wozu strukturell und in unterschiedlichen Graden auch die Normverletzungen gehören.248 Diese ‚Lebenswelt‘ ist keineswegs für alle gleich, sondern wiederum parzelliert, aber durch die sozialen Medien von allen bekannten, Werten und Praktiken durchtränkt, unabhängig davon, ob sie geteilt oder kritisiert werden,

(Weber 1972: S. 1). Vielleicht ist es aber auch ein typischer Sachverhalt für viele Wissenschaften, dass sie keine rechte Auskunft über ihren Gegenstand geben können. Fragt man Philosophen, Mathematiker, Physiker, Biologen, Linguisten etc. danach, erntet man meist Achselzucken oder wird von einem Berg aus Definitionen und Lehrbüchern zugeschüttet. Erstaunlich ist dann die Tatsache, dass der Betrieb trotzt dieses Mangels an Präzision oder Verbindlichkeit funktioniert. 248 Innerhalb der Soziologie werden solche ‚pathologischen‘ Fälle meist unter dem Anomie(Durkheim, Merton) und Entfremdungsbegriff (Marx) untersucht. Ein Klassiker ist sicher (Dreitzel 1980): Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft. Vorstudien zu einer Pathologie des Rollenverhaltens. Unter dem Oppositionspaar Konformität und Abweichung behandelt (Neidhardt 1970) Jugend und Gesellschaft in der Bundesrepublik. Es ist vielleicht ein Bonmot, wenn man sagt, dass man das Anomale, das vom Normierten Abweichende als normal empfindet. Man verstößt ständig gegen Regeln, ohne ihre Geltung grundsätzlich infrage zu stellen (Notlügen, bei Rot über die Ampel, falsch parken, schummeln, Termine verstreichen lassen, Versprechen nicht einhalten etc.). 246 247

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Wie schwierig es ist, nach der Stände‑, Klassen- und Schichtengesellschaft heute eine mit der sozialen Realität stimmige aktuelle Struktur abzubilden, zeigen die Milieu-Forschungen. Das renommierte Sinus-Institut betreibt seit den 1980er-Jahren kommerziell und wissenschaftlich Studien, die sich mit ihren Modellen den raschen Veränderungen der Gesellschaft laufend anpasst. Dabei werden objektive Daten, die die soziale Lage beschreiben (Bildung, Beruf, Einkommen, Wohnlage etc.) mit subjektiven Daten (Einstellungen, Konsumstile, Freizeit- und Fernsehverhalten etc.) korreliert. Gerhard Schulz hat 1995 mit seiner empirisch groß angelegten Studie Die Erlebnisgesellschaft fünf eigene kultursoziologische Milieubeschreibungen vorgelegt und dem Leser theoretisch nähergebracht.249 Relevant für mein Thema ist die Frage: Verstehen sich die Mitglieder dieser ‚Blasen‘ und Segmente noch als einer ihnen über- oder nebengeordneten sozialen Wirklichkeit zugehörig? Damit verbunden ist dann die weitere Frage, ob und inwieweit sie die Anderen überhaupt wahrnehmen und wenn ja, wie? Also drittens: Verachten und bekämpfen sie sie, tolerieren sie sie oder anerkennen sie sie als Gleiche mit denselben Rechten und der einen menschlichen Würde? Können sie also die Anderen nicht nur als ‚Ihr‘ distanzieren, sondern auch als ‚Wir‘ integrieren? Um hier noch einmal als Reminiszenz den Bogen zu dem philosophischen Teil zu spannen: Wir bewegen uns mit diesen Fragen analog zu den metaphysischen Fragen nach dem Einen und dem Vielen sowie dem ontologischen Universalienstreit um die Realität des Allgemeinen und Einzelnen, wobei, wenn man es sich so vor sich hinstellt, die Paradoxie sofort ins Auge fällt: das Eine wäre das Allgemeine, das Viele das Einzelne. Ohne einen Sinn für dialektisches Denken zu haben, kommt man diesem Widerspruch, so vermute ich, nicht bei. Denn das Eine wird traditionell geistig gedacht, das Viele sinnlich. Das Allgemeine wiederum wird geistig gedacht, das Eine sinnlich. Diese Aporie kann gedanklich nur durch begriffliches Durcharbeiten der Kategorien, also in einer rekonstruktiven, reflexiven Selbstbetrachtung aufgelöst werden. Abseits aktueller Entwicklungen soll nun eine Übersicht der ‚Mitte‘ des gesellschaftlichen und sozialen Lebens der Menschen folgen, um die in der anthropologischen und sprachlichen Konstitution liegenden Fähigkeiten und Potentiale zu verdeutlichen. 249

Er vergleicht seine Studie mit der von Sinus und einer anderen hinsichtlich der Kategorisierung tabellarisch in (Schulze 1995: S. 393).

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5 Lebenswelt und Lebensformen Würde ab hier ein filmischer Essay die weitere Darstellung übernehmen, müsste ein gewöhnlicher Tagesablauf irgendwo auf der Welt gezeigt werden. Was gehört alles dazu? Geburten, Taufen, Hochzeiten, Einschulungen, Abschlussfeiern, Jubiläen, Einweihungen, Scheidungen, Gerichtsurteile etc. wären ja schon besondere Ereignisse, die sich abheben von so banalen Ereignissen wie Aufstehen, Frühstücken, zur Arbeit/Schule gehen, Einkaufen, Kochen, Essen, Sex, Hobbies, Schlafen usw. Ein weiterer Schritt wäre die Konfrontation mit dem Vielfältigen im Alltäglichen: den Milieus und Lebenslagen, Kasten und Klassen, Schichten und Stämmen. Der (okzidentale) Blickwinkel schweift zur Kassiererin, dem Müllwerker, der Ärztin, dem Rechtsanwalt, der Lehrerin, dem Arbeitslosen etc.; der Blick auf die Wohnorte und Stadtteile, die Häuser und Wohnungen, die Autos und Urlaube, die Freizeitgestaltung und Mediennutzung, die Konfession und Vereinszugehörigkeit, die Parteipräferenz, der Konsum, das Selbstbild etc. Man könnte dann Idealtypen aus den so genannten Milieus porträtieren und sie nebeneinanderstellen, vielleicht sogar miteinander ins Gespräch kommen lassen. Worüber würden oder könnten sie wohl reden, woran hätten sie Interesse, was würden sie voneinander erfahren wollen? Was wären Gemeinsamkeiten? Eine erste Hürde ist schon die Sprache, die nicht nur als nationale zunächst Übersetzungsbedarf anmeldet, nicht nur nationalsprachliche Dialekte, sondern auch Soziolekte und Idiolekte. Daneben wären für den Drehort geografische und klimatische Faktoren zu berücksichtigen, wodurch ein sehr buntes Bild entstünde. Spätestens hier käme die Frage auf, ob man diesen Tagesablauf in Westeuropa mit dem in Afrika oder Asien vergleichen könnte. Damit dürfte klar sein, dass wir immer mit starken Generalisierungen und Idealtypisierungen arbeiten, wenn wir vom Menschen und seiner Lebenswelt reden. Das In-der-Welt-sein, Mittendrin-sein und Leben unter kontingenten Bedingungen ist ebenso unabweisbar wie im Grunde banal. Dieser Tatsache kann sich jeder absolut bewusst sein. Jeder kann sich irgendwann in seiner Biografie fragen, was er geworden wäre, wenn er in einer anderen Epoche, auf einem anderen Kontinent oder in einer anderen Kultur und Gesellschaft geboren worden wäre. Ein Zweifel über die eigene Existenz oder die anderer Menschen oder gleich des Weltganzen ist zwar möglich, aber nur als pathologischer Fall oder didaktischer Eröffnungszug in einem Redekontext zu verstehen. Die Konstellation des Normalfalls, das Alltäg216

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liche, diese Banalität gehört zu meinem und, wie ich vermute, zu jedem anderen Leben. Der Lebenswelt-Begriff, um den es nun geht, kam vor allem durch Edmund Husserl (1859–1938) in den philosophischen Blick, der damit zum einen die vorwissenschaftliche Welterfahrung von der theoretisch reduzierten Erfahrung abheben wollte. Zum anderen galt ihm die vortheoretische Vernunft der Erfahrung als Paradigma der theoretischen.250 Die Wissenschaft fängt sozusagen mit dem Alltag und dessen Problemen an. Im Grunde war dieser Gedanke auch der antiken Philosophie nicht fremd, da schon in der sokratischen Frage nach dem wahren Wissen, die mit dem Nichtwissen beginnt, viele Wissensformen unterschieden wurden, die alle ihre Berechtigung hatten, darunter die praktisch orientierte techne der Handwerker und Künstler sowie die theoretisch orientierte episteme der Philosophen, die ihr Paradigma in der Mathematik oder der Natur hatten. Das Wissen der Bürger war dann bloße Meinung, doxa, die mal so, mal so ausfallen konnte, aber auch die herrschenden Konventionen ausdrückte (endoxa). Letztlich war die kritische Untersuchung der Philosophen aber darauf gerichtet, wieder auf die Alltagsrede zurückzukommen. Nur wer Gründe angeben konnte, die überprüfbar waren, konnte für sich Wissen beanspruchen. Bei vielen Theoretikern taucht dieses Konzept der Alltagsorientierung unter verschiedenen Etiketten auf. Luhmann und Habermas haben es für die Soziologie fruchtbar gemacht und letzterer hat es kritisch gegen den Systembegriff gewendet. Im Grunde, so scheint mir, ist die ‚Lebenswelt‘ aber auch nur wieder ein theoretisches Konstrukt, um der Theorie eine Bodenhaftung zu verleihen, die sie sich selbst nicht geben kann. Verheißungsvoll beginnt zum Beispiel eine Erklärung so: „Die Lebenswelt steht uns nicht theoretisch vor Augen, wir finden uns vielmehr vortheoretisch in ihr vor. Sie umfängt und trägt uns, indem wir als endliche Wesen mit dem, was uns in der Welt begegnet, umgehen.“251 Da ist kein großer Unterschied zur soziologischen Auffassung der Alltagswelt, wie sie von Berger/Luckmann vertreten wird: „Unter den vielen Wirklichkeiten gibt es eine, die sich als Wirklichkeit par excellence darstellt. Das ist die Wirklichkeit der Alltagswelt. […] [D]ie Alltagswelt installiert sich im Bewußtsein in der massivsten, aufdringlichsten, intensivsten Ausführlicher, auch mit den Verweisen auf Simmel, Scheler, Heidegger, MerleauPonty, Rothacker etc. in: (Mittelstrass 2004: Bd. 2, S. 557–559). 251 (Habermas 2012: S. 20). 250

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Weise. In ihrer imperativen Gegenwärtigkeit ist sie unmöglich zu ignorieren, ja, auch nur abzuschwächen. Ich erlebe die Alltagswelt im Zustand voller Wachheit.“252 Dem Individuum scheint sie als objektive Welt schlechthin, widerständig, opak, unübersichtlich, oft auch unverständlich, aber immer als eine mit anderen Individuen geteilte Welt. Sie wird in Vis-à-vis-Kontakten zur „lebendigen Gegenwart“ (Berger und Luckmann 1980: S. 31). Habermas führt seine Explikation weiter, indem er die Alltagswelt in einen „Existenzmodus“ von Subjekten verwandelt, der „als der jeweils nichtüberschreitbare, nur intuitiv mitlaufende Erfahrungshorizont und als nichthintergehbarer, nur ungegenständlich präsenter Erlebnishintergrund einer personalen, geschichtlich situierten, leiblich verkörperten und kommunikativ vergesellschafteten Alltagsexistenz“ (a. a. O.) beschreibbar ist. Damit situiert er den Alltag auf der Bühne der Theorie und schiebt die theoretischen Fragen zunächst hinter die Kulissen.253 Immerhin kommt er theoretisch in den Blick und erhält einen strategisch exponierten Status. Die entscheidende Frage ist dann, wie das Verhältnis der Theorie zum Alltag, zur Lebenswelt oder zur Praxis konzipiert ist. Ist sie Kellner oder Koch? Von der Lebenswelt abzuheben ist der Begriff der Lebensform. In die Philosophie kam er angeblich durch Ludwig Wittgenstein. Ich will meine Bewertung nicht mit einer Fußnote abtun, denn ich halte diese verbreitete Meinung für offensichtlich falsch. Das Wort fällt in den maßgeblichen Philosophischen Untersuchungen (1952) auf 370 Seiten nur vier Mal und dies in einem Kontext, der, wie das gesamte Werk, keinen gedanklich stringenten Zusammenhang aufweist.254 Selbst wenn man den terminus technicus ‚Sprachspiel‘, der ausgiebig in diesem sprachanalytischen Kaleidoskop verwendet wird, als äquivalent oder gar synonym betrachten möchte – § 23 stellt beide nebeneinander, aber so: „Das Wort Sprachspiel (Berger und Luckmann 1980: S. 24). Systematisch entfaltet ist das Konzept der Lebenswelt in Abgrenzung zur Systemwelt in (Habermas 1982), Abschnitt VI. Hier fallen dann auch Sätze wie: „Die Lebenswelt ist gleichsam der transzendentale Ort, an dem sich Sprecher und Hörer begegnen; wo sie reziprok den Anspruch erheben können, daß ihre Äußerungen mit der Welt (der objektiven, der sozialen oder der subjektiven Welt) zusammenpassen; und wo sie diese Geltungsansprüche kritisieren und bestätigen, ihren Dissens austragen und Einverständnis erzielen können.“ (S. 192) Einige Seiten später führt er ein „Alltagskonzept der Lebenswelt“ ein, das derart terminologisch generalisiert ist, dass kein Alltagsmensch es versteht. Zusätzlich führt er noch den Begriff des „Laienkonzepts der Lebenswelt“ ein (S. 207). 254 (Wittgenstein 1971: §§ 19, 23, 241 und S. 363). 252 253

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[…] Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.“ – stimmt der Begriff nicht. Man kann Sprechakte, denn darum und um nichts anderes handelt es sich bei den Sprachspielen (vgl. a. a. O., §§ 7 u. 23), eben nicht mit Lebensformen verwechseln. Sprechakte sind maximal Sprachhandlungen. Ich kann in ihnen etwas über meine Formen zu leben mitteilen, aber sie sind keine Lebensformen. In ihrer 2014 veröffentlichten Studie Kritik von Lebensformen, einer überarbeiteten Habilitationsschrift von 2009, erwähnt die Philosophin Rahel Jaeggi (*1967) Wittgenstein im Vorwort sowie im ersten Hauptteil jeweils nur in einer Fußnote, die darauf hinweist, dass er diesen Begriff von Eduard Spranger (1882–1963) übernommen habe, der ihn 1921 mit seinem Werk Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit in Umlauf gebracht habe.255 Seinem an „Idealtypen der Individualität“ orientierten Zugang zum Selbst und der Welt setzt Jaeggi einen anderen Ansatz entgegen, der meines Erachtens dem Alltagsbegriff von Berger/Luckmann nahesteht. „Lebensformen stellen sich dar als Bündel von sozialen Praktiken […] und Ordnungen sozialen Verhaltens. Sie umfassen Einstellungen und habitualisierte Verhaltensweisen mit normativem Charakter, die die kollektive Lebensführung betreffen, obwohl sie weder streng kodifiziert noch institutionell verbindlich verfasst sind.“256 Ihr Ziel ist es, nachzuweisen, dass trotz einer Pluralität von Lebensformen es nicht nur möglich, sondern auch geboten ist, Kritik an verfehlten Lebensformen zu üben. Hegels Konzept des Begriffs, der ja normativ auf eine Perfektibilität zielt, dient ihr unter anderem als Grundlage für ihren kritischen Ansatz. Es muss in der Tat einen Unterschied machen, ob wir Essgewohnheiten, Tischsitten, Begrüßungsrituale, Erziehungsziele, den Umgang mit Devianz und Diversität, Beschneidungen insbesondere von Mädchen oder die Verabsolutierung eines imaginierten Wesens bewerten. Welche Vorspeise ich bevorzuge ist nicht von derselben Qualität und Konsequenz für eine Gemeinschaft wie die Androhung der Todesstrafe für Homosexuelle oder Oppositionelle, die jederzeit umdefiniert werden können zu Terroristen oder Volksverrätern. Blasphemie ist auch ein Tatbestand, der ausge255 256

(Jaeggi 2014: S. 14, Fn. 4 u. S. 68, Fn. 3). (Jaeggi 2014: S. 77). Auffallend ist, dass der bereits angeführte Datenreport des Statistischen Bundesamtes unter Lebensformen ausschließlich die verschiedenen Konstellationen von Haushalten bzw. Familien versteht. Die Patchwork-Familie wäre dann eine alternative Lebensform zur traditionellen Kernfamilie, die aus einem heterosexuellen Ehepaar mit zwei Kindern besteht.

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sprochen problematisch ist, da hier zwei Kultur-Welten aufeinanderstoßen. Was für die einen der höchste Wert in ihrem Leben ist, existiert für die anderen gar nicht. Wie immer man nun den vielleicht eher sozialphilosophischen Lebenswelt- und Lebensformbegriff konzipiert: Man muss für eine soziologische Analyse den sozialen Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Ebenen im Blick haben, der durchaus der begrifflichen Struktur Hegels entspricht: Mikro‑, Meso- und Makroebene. Wer zum Beispiel die Frage beantworten will, warum mit der Urbanisierung der Gesellschaft die Scheidungsraten steigen oder der Selbstmord unter Katholiken seltener auftritt als bei Protestanten, der muss schon über Theorien und empirische Daten aus verschiedenen Bereichen verfügen, um hier zu belastbaren Antworten zu kommen, die dann aber meist auch nur empirisch abgesicherte Hypothesen sind. Was nun philosophisch mit diesen beiden Begriffen und Konzepten gewonnen ist, würde ich unter den Begriff der Situierung der Vernunft oder des Geistes innerhalb der Intersubjektivität einordnen. Damit ist ein ganzer Komplex von sozialen Institutionen und Organisationen sowie Wertesystemen angesprochen, der in traditioneller Terminologie Sittlichkeit genannt wurde und in die Sphäre der praktischen Vernunft fällt.257 Der umfassendere Begriff ist aber der der Gesellschaft, die die Mitglieder, die vergesellschafteten und individuierten Subjekte, als letzten noch kommunikativ erreichbaren Sozialraum umfasst; dieser grenzt die erlebte und erfahrene Gesellschaft als Innenraum gegen andere Gesellschaften als Außenraum und Umwelt ab.258 Zugleich muss das Subjekt auch als innere Umwelt der Gesellschaft begriffen werden, was innerhalb der Soziologie als zuständiger Fachdisziplin zum Standardwissen zählt. Die dazugehörige analytische Kategorie ist die Rolle. Wir nehmen immer nur als Rollensubjekte an systemischen Handlungen teil; diese verlangen nie unsere ganze Person, denn dann wären es totale Institutionen, wie Erving Goffman sie untersucht hat.259 Wir Rollenspieler haben immer Freiraum und müssen nur funktional notwendiges Wissen und Können einbringen. Wir können uns sogar hinter der institutionellen Rolle verbergen, in der wir gerade inter Hegel legt im dritten Teil seiner Rechtsphilosophie mit den Abschnitten zu Familie, bürgerlicher Gesellschaft (Ökonomie, Recht und öffentliche Ordnung) und Staat eine systematische Gliederung vor, in der sich die ‚Idee der Freiheit‘ qua praktischer Vernunft realisiert hat. 258 Das ist, wenn ich ihn richtig gelesen und verstanden habe, auch der Kern des Gesellschaftsbegriffs von Luhmann. 259 (Goffman 1977): „Über die Merkmale totaler Institutionen“, S.13–124. 257

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agieren, indem wir etwa auf die Vorschriften und den Kompetenzbereich als Amtsoder Funktionsträger verweisen. Mit der Rollendistanz können wir sogar, wie ich später noch zeigen werde, zwischen uns als Person und der situativen oder institutionellen Rolle einen Abstand anzeigen, wozu Ironie oder Humor recht wirksame Strategien sind. In den modernen Gesellschaften sind Funktionssysteme herausgebildet worden, in denen die meisten Rollen völlig unabhängig von bestimmten partikularen Werten und Normen oder individuellen Befindlichkeiten eingenommen werden müssen. Dies kann zu Konflikten führen, wenn die Unabhängigkeit strukturell erzwungen wird. Das Tragen von religiösen Symbolen während der Berufsausübung, speziell bei Amtshandlungen, wäre noch ein harmloses Beispiel. Stellt man etwa in Gerichtsverfahren eine Befangenheit der Richter fest, greift man dazu auf eine außerhalb der Rolle liegende persönliche Motiv- oder Interessenlage zu, die das von der Rolle erforderte Urteilsvermögen einschränkt oder beeinflusst. Der Beamtenstatus wäre ein historisches Beispiel für die Neutralitätspflicht des Amtsträgers bei seiner Berufsausübung, die Bestandteil seines Treueverhältnisses gegenüber seinem Dienstherrn (!) ist; dies wird mit einem Eid auf die jeweilige Landesverfassung besiegelt.260 Je nach Theorie besteht die Architektur oder der Bauplan einer Gesellschaft aus verschiedenen Elementen und Systemebenen, denen eine Schichtung oder Stratifikation von Milieus, Soziallagen und Klassen in der Lebenswelt und Organisationen sowie Subsystemen in der Systemwelt entspricht. Man darf nun nicht den Fehler machen, diese ‚sozialen Tatsachen‘ wie Dinge oder Substanzen zu betrachten. Es bedarf einiger Abstraktionsleistung, um zu verstehen, dass alle sozialen Systeme, gleich ob einfache Interaktionen wie Begrüßungen, Einkaufen, Schlange stehen, Polizeikontrollen oder Organisationshandeln, immer nur uno actu, also im Moment der sozialen Handlungen, existieren. Was wir als das Zwingende in bürokratischen und organisatorischen Maßnahmen und Handlungen betrachten, haben

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„Dem Beamten ist es im Rahmen seiner Neutralitätspflicht verwehrt, Bürger oder Mitarbeiter, deren Anschauung seiner politischen Meinung entsprechen, anderen gegenüber zu bevorzugen. Dienstliche Aufgaben und private Interessen, politischer oder wirtschaftlicher Art, sind demnach strikt voneinander zu trennen. Die Neutralitätspflicht ist eine spezielle Ausprägung der allgemeinen Treuepflicht des Beamten und hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums im Sinne von Art. 33 Abs. 5 GG.“ (Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, Mäßigungsgebot für Bedienstete im öffentlichen Dienst, Az WD 6 –3000 –045/19, 28.3.2019).

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alle Beteiligten im Kopf in Form von akzeptierten Werten und Normen, die diesen Handlungen zugrunde liegen. Genau dies meint der Ausdruck Rollen- oder Handlungskompetenz. Schmerzlich wird es, wenn wir uns verweigern, denn die Sanktionen können sehr teuer werden. Wir wissen, wie wir uns zu verhalten haben, wenn ein Brief mit einem Dienstsiegel das Bußgeld einfordert, die Steuerbehörde sich meldet, wir zum Arzt gehen oder in die Diskothek, wenn Elternsprechtag in der Schule ist oder eine uns nahestehende Person gestorben ist. Um diese ‚unsichtbar‘ und immer automatisch, routiniert wirkenden Reiz-Reaktions-Ketten alltäglicher Interaktionsmuster für die Akteure zu erleichtern, hat der Mensch Dinge erfunden, die eine symbolische Funktion zum Beispiel für den Status eines Rollenspielers oder Positionsinhabers besitzen. Diese äußeren Kennzeichen gehen von Streifen und Sternen auf einer Uniform bis zu Bekleidung, dem Tragen von Schmuck und Kopfbedeckungen, die Rang und Macht demonstrieren; Häuser, Wohnsiedlungen oder ‑viertel, Autos, Reisen, Berufsabschlüsse, akademische und Adelstitel etc. sind solche Dinge, die auf etwas Unsichtbares aufmerksam machen wollen: die Zugehörigkeit zu einem Stand, einer Klasse, einer Dynastie, einem Clan, einem Milieu, einer Berufsgruppe etc.261 Was den öffentlichen, sichtbaren Raum betrifft, spielt unter dem Dingaspekt die Architektur und Raumgestaltung eine erhebliche Rolle. Der urbane Raum ist im Übrigen in vielerlei Hinsicht gegenüber dem Land ausgezeichnet. Die Gründe liegen nicht nur historisch in der Sesshaftwerdung und der nachfolgenden kapitalistischen Industrialisierung, sondern der Konzentration vieler Ressourcen auf ein geografisch und kulturell überschaubares Gebiet, das leichter zu kontrollieren und zu regieren ist als ein weites Land. Dass Handel und Finanzen, Theater und Konzertsäle, Universitäten und Schulen, Regierungs- und Verwaltungssitze, die gesamte Kunst, Wissenschaft und Religion auch architektonisch sichtbar gemacht werden, bedarf einer gemeinsam geteilten, nichtsprachlichen Symbolik. Oft ist ihr Zweck die Überwältigung des Betrachters, die Demonstration von Macht einer Institution oder eines Auf die ursprüngliche Funktion der Machtdemonstration in Distinktionshierarchien durch Statussymbole (Rangabzeichen) kann ich hier nur hinweisen. Man kann sie heute noch in Königshäusern an den Kronen, Zeptern, Wappen und Fahnen, Schleppen, vielspännigen Kutschen oder den Roben und Perücken der Richter sehen; sie dienten wie der Thron oder Altar immer der optischen Erhöhung und des Auffallens. Großbritannien bzw. England ist hier noch ein sehr schönes Beispiel altehrwürdiger Traditionen und Rituale.

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5 Lebenswelt und Lebensformen

Herrschers. So verleihen auch Briefkopf und Dienstsiegel Dokumenten die nötige, sanktionsbewehrte Autorität. Das Subjekt verliert sich nie vollständig in seinen Erlebnissen und Handlungen, es wird immer nur funktional in Rollen für bestimmte Handlungen gefordert. Damit geht eine enorme Entlastung einher, da die Handlungen und Entscheidungen von persönlichen Motiven entbunden werden. Es hat eben gelernt, dass es verschiedene Normen bzw. Rollenerwartungen gibt, die reziprok gelten und die sozial kontrolliert und sanktioniert werden. Der soziologische Rollenbegriff setzt immer mindestens zwei handelnde Subjekte, zwei Akteure, voraus, die wechselweise nicht nur das Verhalten des Anderen erwarten (können, dürfen, müssen), sondern auch dessen Erwartungen an das eigene Rollenverhalten kennen. Die Person tritt dabei in den Hintergrund, wobei ihr faktischer Spielraum maßgeblich von den institutionellen und formellen Bedingungen abhängt.262 Daran schon merkt man, dass das philosophische Außenweltproblem oder das Fremdpsychische auf der sozialen Ebene recht merkwürdig anmuten, weil der Andere bereits vor seiner Aktion in meinem Kopf mit einer mehr oder weniger festen Antizipation bestimmter Handlungsweisen existiert. Darin besteht ja das stabilisierende Moment auch in anonymen, komplexen Lebenssituationen, zum Beispiel einer Großstadt, wo ich immer relativ sicher und enttäuschungsfest ein immergleiches Verhalten erwarten kann, wenn ich in eine Bahn, ein Taxi einsteige, ein Kaufhaus oder ein Restaurant betrete, mich auf der Straße oder im Hotel bewege. Die Freundlichkeit und Zuvorkommenheit sind dann eine persönliche Zutat, Höflichkeit eine Art sozialer Kitt, um dem Fremden die Ankunft und den Aufenthalt zu erleichtern. Wenn man es recht bedenkt, haben das normierte Rollenhandeln mit den Instinkten diesen voraussehbaren, berechenbaren Faktor gemein. Aus den vielen möglichen Handlungsweisen in bestimmten Situationen werden nur ein, zwei, auf jeden Fall ganz wenige ausgewählt und erwartet. Darauf verlässt man sich auch. Im Unterschied zum Instinkt, den das Tier nicht willkürlich außer Kraft setzen kann, bin ich aber in der Lage, ‚aus der Rolle zu fallen‘. Dass ich dann wieder in eine andere Rolle falle, der des Spielverderbers, des 262

Funktionsträgern, Amtspersonen und Berufsrollen wird man gewiss anders begegnen als Familienmitgliedern und Freunden. Viele Konflikte entstehen ja gerade aus formell relativ starren Rollenvorgaben und persönlichen Bedürfnislagen und Wertorientierungen der Rollenspieler. Aber auch relativ vage bzw. freie Vorgaben können unsichere Persönlichkeiten überfordern; sie benötigen gerade klare und vor allem von persönlicher Verantwortung entlastende Regeln (→ Konformismus).

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III Universale Vernunft?

Querulanten, des Kriminellen, des Idioten etc., ist ein wirklich paradoxes Phänomen. Wir etikettieren stets das soziale Verhalten der anderen mithilfe von sozialen Kategorien. Wer sozial handelt, geht Verpflichtungen ein, genießt aber auch bestimmte Rechte, und die gelten unabhängig davon, wer gerade diese Rolle ‚spielt’. Jede Handlung und jedes Erlebnis wird vom Subjekt unmittelbar in einer Situation erfahren und bei anderen Subjekten beobachtet, das heißt Interaktionen sind örtlich und zeitlich eingebettet, sozial definiert durch allgemeinere Rahmenbedingungen wie Recht, Traditionen, Sprache, Gesetze, Bräuche. Wer im Ausland als Geschäftsreisender unterwegs ist, weiß, wieviele Fettnäpfchen unweigerlich bereitstehen, angefangen bei Begrüßungsritualen, Blick- und Körperkontakten, sozialen Abstandsregeln, Sitz- und Kleiderordnungen, Tischsitten, Trinkgeld … Lebenswelt ist weiter gefasst als Lebensform. Der Alltag ist etwas, das jeder, gleich welcher Lebensform er sich zurechnen würde, bewältigen muss. In ihr begegnen sich Mitglieder verschiedener Lebensformen, wofür Rollen dann klare und lebbare Verhaltensmuster bereithalten. Sie werden gelegentlich auch als Bindeglied zwischen Gesellschaft und Individuum aufgefasst. Dies aber legt wieder die Annahme nahe, die Gesellschaft sei ein fest Vorgegebenes, dabei entsteht sie immer erst, wenn Menschen zusammenkommen. Lebensformen halten Wahlentscheidungen offen. Sicher gibt es hier wie da Differenzierungen: Lebensformen bündeln Praktiken ohne zwingend systematischen Anspruch, die Lebenswelt bildet den allgemeinen Rahmen dafür. Der Alltag qua Lebenswelt verhält sich, so könnte man sagen, zur Lebensform wie Welt zu Umwelt. Die Lebensform umfasst Formen der Lebensweise, also innerhalb der Familie, Partnerschaften, Wohnorte und ‑einrichtungen, und Formen der Lebensführung hinsichtlich Religion, Konsum, Freizeit, Szene; Formen der Wertorientierung wie konventionell oder post-konventionell.263 Diese Abgrenzungen und Beschreibungen sind recht allgemein, ein soziologisches Seminar sollte gerade vermieden werden. Festzuhalten ist gleichwohl die sich aus der zunehmenden Differenzierung, Pluralisierung und Komplexität von Lebenswelt und ‑formen sowie den dominanten Subsystemen Politik und Wirtschaft ergebenden Probleme für die Menschen, die unter diesen Bedingungen leben müssen. Einen gut lesbaren Überblick über Lebensbereiche in Deutschland seit den 1980er-Jahren gibt (Schulze 1995).

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6 Ich-Identität und Ich

Ihnen wird einerseits durch Prozesse der Modernisierung und Individualisierung ein historisch einmalig großer Freiraum für eine individuelle Lebensführung ohne staatliche und kirchliche Repressionen garantiert, andererseits liegt gerade in dieser Freiheit die Gefahr der Orientierungslosigkeit und Verführbarkeit durch Populismus und Demagogie im politischen Raum und ein Abrutschen ins Prekariat im ökonomischen Sektor. Denn nach wie vor sind Ökonomie und Politik nicht versöhnt, werden immense soziale Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten in Kauf genommen.

6 Ich-Identität und Ich Es liegt in jedem Menschen und ist ihm von Natur gegeben, sich als Mittelpunkt der Welt zu betrachten, weil doch alle Radien von seinem Bewußtsein ausgehen und dahin wieder zurückkehren. (Goethe)264

6.1 Ich-Identität Wir kennen alle diese Szene aus Krimis, wo zur Identifizierung einer Leiche in der Pathologie die Decke zurückgeschlagen wird und ein Angehöriger mit Blick auf den Toten stumm nickt. Wir erkennen einander am Gesicht. Das ist mit Ich-Identität aber nicht gemeint. Die Identifizierung von Dingen an äußeren Merkmalen ist gleichwohl der paradigmatische Fall von Identität. Die Kategorie der Identität berührt eine ontologische Grundfrage, die Leibniz mit dem Prinzip der Ununterscheidbarkeit (principium identitatis indiscernibilium) zweier Gegenstände entschied.265 Dem liegt die metaphysische oder apriorische Behauptung zugrunde, dass es keine zwei numerisch verschiedene Seiende (Entitäten) gebe, die sich in allen ihnen zukommenden Eigenschaften glichen. Demnach würden sich sogar eineiige Zwillinge oder Klone mindestens in einer Eigenschaft

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Vgl. (Goethe 2007: S. 22). Grundsätzlich zur Begriffsproblematik von Identität, Subjektivität, Individualität und Selbstbewusstsein vgl. (Frank 1991: bes. S. 84ff). Ein literarisch und philosophisch anspruchsvolles Beispiel ist Lessings Ringparabel in seinem Drama Nathan der Weise.

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III Universale Vernunft?

unterscheiden. Diesem Sachverhalt entspricht in der symbolischen Logik die Darstellung ¬ (A=B). Ausgeschlossen werden soll auch der Fall, dass zwei verschiedene Bezeichnungen sich auf einen Gegenstand beziehen, was sehr häufig bei Namen passiert (Synonyme). Die logische Identität ist A=A und sagt nicht mehr als eine Tautologie; sie enthält allerdings die methodische Forderung, dass Symbole während einer logisch-mathematischen Operation (Ersetzung in Gleichungen, Schlussverfahren) wertkonstant verwendet werden. Kategorial betrachtet ist Identität eine Relation zwischen zwei Relata, wobei die Forderung der Logiker nach Sichselbstgleichheit in ihren technischen Verfahren doch eher eine merkwürdige Formulierung ist. Die Formel A=A trifft auch nicht das ‚Selbst‘ als reflexiven Bezugspunkt, da jede Reflexion einen ontologischen Ebenenwechsel innerhalb des Denkens impliziert, was im Französischen mit ‚je‘ und ‚moi‘, im Englischen bei Mead mit ‚I‘ und‚ me‘ ausgedrückt werden kann, womit dann zwei verschiedene Relata im Spiel sind. Das Spiegelbild ist flächig und seitenverkehrt zum körperlich-räumlichen Original, hier liegt durchaus keine Identität vor; ich bin nicht das Spiegelbild. Wenn ich mich darin erkenne, dann in einem Anderen, nämlich dem Spiegel. Wenn ich morgens als Mutter die Kinder für den Tag versorge, vormittags als Büroangestellte arbeite und nachmittags im Team meiner Volleyballkameradinnen spiele, bin ich trotz dieser verschiedenen Rollen dieselbe Person. Hier liegt ein völlig anderes Identitätskonzept zugrunde als in der klassischen logisch-ontologischen Lesart. Auf das Ich als Selbstbewusstsein, und damit bereits mit einer reflexiven Struktur ausgestattet, kommen wir später. Wenn wir uns an eine Person erinnern, kommen uns, mehr als vergleichende Äußerlichkeiten, bestimmte Charakterzüge, Verhaltensweisen und Sonderbarkeiten (Gang, Gesten, Lachen, Floskeln …) in den Sinn. Wir erkennen die Person und erinnern uns anhand ihrer Handlungen, Gewohnheiten und Marotten, die sie aus der Menge herausheben und als Individuum biografisch unverwechselbar machen. Biografie ist dann ein gemeinsam geteilter Lebensabschnitt. Wir vergegenwärtigen ihn uns in Erzählungen, Anekdoten, Berichten, Dokumenten, Fotos und dergleichen. Wir haben damit ein Ich als Du, Er oder Sie beschrieben, das anders ist als ich. Ichsein heißt immer Anderssein (als die Anderen). Das Dialektische an der Ich-Identität wie am Ich ist die Einheit von Allgemeinem und Einzelnem, das als Besonderes existiert. Jeder einzelne Mensch ist unverwechselbar dieser eine und dies durch besondere Merkmale, die nur ihm zugeschrieben werden können, und gleichzeitig ist er Exemplar seiner Gattung, die ihn mit den 226

6 Ich-Identität und Ich

anderen Ichs zusammenschließt. Insofern gewinnt hier Hegels Formulierung, das Ich sei der lebendige Begriff, über die Struktur des Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen einen klaren Sinn. Mit dem Ich ist immer auch zugleich das Selbst als reflexiver Bezugspunkt im Spiel, das nur im und als Rückbezug existiert. Wer ‚ich‘ sagen kann, zeigt mit dem Finger auf sich selbst. Das Ich ist allgemein, insofern jede Person aus ihrer Perspektive ‚ich‘ zu sich sagen kann; jeder ist ein Ich so wie alle anderen: Identität der Gattung als Viele (Alle). Hierbei dreht sich der zeigende Finger in einem imaginären Kreis um alle Anwesenden. In gewissem Sinne kann jeder sich als O-Punkt eines dreidimensionalen Koordinatensystems vorstellen, das sich innerhalb einer unsichtbaren Zeitachse in diesem von dem System aufgespannten Raum bewegt und alles Erlebte auf sich als Nullpunkt beziehen muss. Dieser Sachverhalt kommt in dem Goethe-Zitat zum Ausdruck. Die Grundkategorien sind ich, hier und jetzt.266 Gleichzeitig ist aber jedes Ich einzigartig, unverwechselbar und alle anderen Ich sind ein Du oder Ihr, aus der Gattungsperspektive aber ein Wir: Identität des Individuums als Eins. Das Ich ist numerisch eines – so wie alle anderen Ich auch. Die vielen Ich erkennen sich als gleiche und einzelne, und zwar durch ihre Besonderheiten, die sie unverwechselbar machen. Was die Ich-Identität ausmacht, drückt sich in einer nach außen sicht- und erlebbaren Handlungs- und Sprachkompetenz aus, nach innen in dem zeitlich dauerhaften Selbstgefühl einer einheitlichen Person, die sich ihre psychosoziale und, unmittelbar erlebend, ihre leibliche Existenz jederzeit kognitiv und reflexiv bewusst machen kann (Propriozeption und Prädikation). Die subjektiv-komplementären Pronomen zum ich sind mein und mich, insofern es meine Gedanken, meine Handlungen etc. sind, die mich und mein Leben ausmachen; das intersubjektiv-komplementäre Pronomen zum ich ist wir und unser.. In das sozialwissenschaftliche Konzept der Ich-Identität gehen viele Theoriestränge aus Psychologie, Psychoanalyse, Sozialpsychologie und Soziologie ein, die meines Wissens philosophisch noch nicht aufgearbeitet worden sind.267 Identität, die ja Die Phänomenologie von Schmitz baut auf diesem Gerüst, erweitert um ‚sein‘ und ‚dieses‘ auf; er nennt es „primitive Gegenwart“, vgl. (Schmitz 2015: vor allem S.  30–33). Koch entwirft einen „hermeneutischen Realismus“, der dieses Koordinatensystem so fasst: „Der Ursprung dieses Gesamtsystems ist also jeweils hier, wo ich jetzt bin.“ (Koch 2016: S. 18). 267 (Habermas 1976: Kap. 3 u. 4), (Döbert et al. 1977: Zur Einführung S. 9–30), (Dubiel 1973). Schnädelbach erwähnt in den relevanten Kapiteln zum Ich, Subjekt-Objekt und 266

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durchaus prominent vertreten ist – in der Logik als erster Grundsatz oder Denkgesetz und im Deutschen Idealismus als Programmtitel für ein ganzes System (Schelling) –, hat hier aber, wie bereits angedeutet, eine vollkommen andere Bedeutung. Bei Kant hängt die Identität des Bewusstseins mit der Apperzeption zusammen, die dafür sorgt, dass ich als Subjekt Vorstellungen (Perzeptionen) meine Vorstellungen nennen kann. Diese transzendental oder apriorisch gedachte Identität der Apperzeption soll die Einheit des Denkenden in der Zeit und über die mannigfaltigen Vorstellungen sichern, hat aber mit einem biografischen, leibhaftigen Ich nichts zu tun. Es handelt sich um ein erkenntnistheoretisches Konstrukt. Locke und Leibniz haben sich mit der personalen Identität von Personen beschäftigt, vor allem vor dem Hintergrund der Individuation, dem Entstehen des unverwechselbaren Einzelnen.268 Habermas hat in den 1970er-Jahren die Frage gestellt, ob sich in komplexen Gesellschaften noch vernünftige Identitäten ausbilden können, womit der soziologische Zungenschlag des Vernunftthemas als eines normativen schon anklang. Er interpretiert in der gleichnamigen Rede, die er anlässlich der Verleihung des Hegel-Preises 1974 in Stuttgart gehalten hat, Hegels Versöhnungsphilosophie aus der Entzweiung des modernen Subjekts mithilfe des Identitätsbegriffs. Der meines Erachtens auch für die Philosophie entscheidende Gedanke dieses Konzepts liegt in der Vermittlung von Bewusstsein und Sein, Individuum und Gesellschaft, Selbst und Anderer. Wie Dubiel treffend herausstellt, diente das Konzept unter anderem dazu, die soziologische Rollentheorie, die von Dahrendorf mit seinem Homo sociologicus aus den USA in die bundesrepublikanische Soziologie eingeführt wurde, von selbsterzeugten Aporien zu befreien. „In dem engen Rahmen ihrer Grundannahmen konnte sie zum Beispiel nicht erklären, wie die Person die Vielzahl ihrer Rollen zu einem zwar differenzierten, aber noch konsistenten Ich integriert.“ (Dubiel 1973: S.  13) Die habermassche Antwort liegt verkürzt gesagt in einem Kompetenzkonzept, das im Kern die Interaktion als kommunikatives Handeln enthält, in das sich die kognitiven und moralischen Kompetenzen sowie die domestizierte Triebstruktur in Form legitimierbarer Motivationen transformieren. In dem Maße, wie sich das Individuum die gesellschaftlichen Werte und Normen, die in Institutionen verwirklicht sind,

Selbstbewusstsein diesen Ausdruck nicht (Schnädelbach 2013: S. 87–127). Ich verweise hier nur auf den Aufsatz von Burkhard Tuschling: „Gottfried Wilhelm Leibniz: Nouveaux Essais sur l’Entendement Humain“, in: (Brandt und Sturm 2002: S. 98–131).

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aneignet und sie internalisiert, also durch Erziehung, Bildung und Erfahrung sozialisiert wird, gelangt es sukzessive zu einer ich-identischen Persönlichkeit, die diese Institutionen autonom anerkennen, aber auch kritisieren kann. Die Prinzipien dafür findet es entweder in den Institutionen selbst vor, oder es kann sie kraft Vernunft erzeugen. Der über MEAD und den symbolischen Interaktionismus auch in Europa heimisch gewordene Pragmatismus hat vor allem die wechselseitige Erzeugung von Sozialität und Individualität theoretisch durchschaubar gemacht und ist an Hegels und Marx’ Konzeptionen der Gesellschaft anschließbar. Ich möchte nun nicht das gesamte Konzept der Ich-Identität vorstellen; das erforderte ein neues Buch. Vielmehr sollen aus diesem Entwicklungsmodell die letzte Stufe eines universalen Ichs und einer universalistischen Gesellschaft aufeinander bezogen und darin der Freiheitsspielraum, aber auch die Verantwortung des Menschen für sich und sein Leben dargestellt werden. Dazu ein paar Vorbemerkungen zur Terminologie und zu einigen Grundideen. „Der Identitätsbegriff ist das soziologische Äquivalent des Ich-Begriffs. ‚Identität‘ nennen wir die symbolische Struktur, die es einem Persönlichkeitssystem erlaubt, im Wechsel der biografischen Zustände und über die verschiedenen Positionen im sozialen Raum hinweg Kontinuität und Konsistenz zu sichern.“ (Döbert et al. 1977: S. 9) Sie wird sich selbst und anderen gegenüber behauptet und das Sich-Unterscheiden-von-Anderen muss von diesen anerkannt werden. Die über biografische Veränderungen hinweg hergestellte personale Identität enthält die Einheitlichkeit und Kontinuität des Selbstgefühls einer Person, die man auch in den Augen der anderen hat; in sozialen Interaktionen zeigt sich die soziale Identität als Konsistenz, die Einheit der Wiedererkennbarkeit über die verschiedenen Rollen hinweg. Selbst die auf die Persönlichkeit zentrierte Psychologie und Psychoanalyse begreift Identität als Wechselbeziehung von Ich und Umwelt: „Der Begriff ‚Identität‘ drückt also insofern eine wechselseitige Beziehung aus, als er sowohl ein dauerndes inneres Sich-Selbst-Gleichsein wie ein dauerndes Teilhaben an bestimmten gruppenspezifischen Charakterzügen umfaßt.“ (Erikson 1976: S. 124)269 Basierend auf den Forschungsergebnissen der kognitiven und

Erikson (1902–1994) verweist auf Freud, der seines Wissens nur einmal von Identität gesprochen habe, und zwar im biografischen Zusammenhang mit seiner eher losen Bindung an das Judentum.

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moralischen Studien von Piaget und Kohlberg sowie den Interaktionsstudien270 kann man grundsätzlich von einer Stufenfolge in der Entwicklung der Identität sprechen, in der wiederum verschiedene Kompetenzen zusammenfließen, die letztlich zu einem sprach- und handlungsfähigen Subjekt führen. Interessant sind die Identitätsstufen deshalb, weil sie auch die Stadien sozialer und psycho-sexueller Reifung einbeziehen, die wiederum mit den kognitiven und sprachlichen Entwicklungsschüben korrelieren. Den sukzessiven Aufbau der Identität kann man sich mithilfe konzentrischer Kreise veranschaulichen. Zunächst bildet die Familie den Lebensumkreis des Kindes; es lernt dort basale Fähigkeiten sozialer Normen und Rollen, die sich über neue soziale Umfelder (Kitas, Krabbel- und Betreuungsgruppen, Freunde, Schule, Vereine) immer weiter ausdehnen, sodass das Rollen- und Normenrepertoire immer allgemeiner und universeller wird. Womit sich das heranwachsende Kind identifizieren muss, ist ganz grundsätzlich zunächst es selbst als etwas, das gegenüber anderen anders ist. Dies geschieht durch Übernahme von fremden Haltungen und Perspektiven im role-taking, überwiegend im Spiel und durch die Erfahrungen, dass das Andere auch ein Selbst ist, das sich als Gegenstand widerständig zeigt oder als Person mit eigenem Willen behauptet. Jedes Kind muss denselben Prozess der Sozialisation und Individuation durchlaufen, um schließlich in seiner und eventuell anderen Gesellschaften zurecht zu kommen. Aus der Handlungsperspektive stellt sich der Erwerb der Identität – und man muss ihn sich als einen stets mitlaufenden Vorgang vorstellen, der fortwährend in allen möglichen Interaktionen über die ersten Lebensjahre hinweg implizit oder explizit, latent oder manifest, beiläufig oder intentional stattfindet – als ein Erwerb von zunehmend differenzierteren Kompetenzen dar. Idealisiert sprechen Döbert et al. (1977) von einer Entwicklung der „natürlichen leibgebundenen Identität des kleinen Kindes über die rollengebundene Identität des Schulkindes bis zur Ich-Identität des jungen Erwachsenen“ (a. a. O.: S.  10). Bezieht man diesen sehr komplexen, hier nur andeutbaren Theorieansatz auf Freud, erscheint die psycho-sexuelle Reifung des Ichs als zunehmende Übernahme von Normen und Werten aus der sozialen Außenwelt ins Über-Ich (Realitätsprinzip), das die moralische Instanz des internalisierten Gewissens darstellt. Zusammenfassend und im systematischen Überblick dazu Jürgen Habermas, „Moralentwicklung und Ich-Identität“, in: (Habermas 1976: S. 63–91, Fn. 7 mit ausführlicher Literatur zu den Theoriesträngen).

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Das Es unterliegt zunehmend der Kontrolle des Über-Ich, das dessen Bedürfnisse (Lustprinzip) interpretiert, die sich dadurch in Handlungsmotive transformieren und in den vielfältigen Rollen sozial legitimiert durchsetzen können. Es ist dann eine gesellschaftliche und kulturspezifische Frage, inwieweit sich archaisch gebliebene Triebenergien und ‑strukturen in zyklischen rituellen Ereignissen ausleben lassen (dionysische Umzüge, Saturnalien, Karneval, kultische Orgien, inszenierte Sexpraktiken, sportliche und musische Großereignisse) oder ihnen in legalem Drogenkonsum und subkulturellen Nischen eine beständige soziale Existenz zugestanden wird.271 Sport, Spiel und Kunst kämen unter diesem sozial anerkannten Aspekt der Trieb- und Affektkontrolle eine besondere Funktion zu. Der ganz entscheidende Punkt ist nun der, dass die Ich-Entwicklung gar nicht unabhängig von der gesellschaftlichen Umgebung gedacht werden kann und auch faktisch nicht unabhängig von ihr geschieht, sondern durch die Internalisierung einer symbolisch vorstrukturierten Wirklichkeit in Form von sprachlich begleiteten Interaktionen, von Normen und Werten, aber auch Wissensbeständen und Weltbildern (und, hier außer Acht gelassenen, sozio-ökonomischen und politischen Strukturen) geprägt wird. Die Lernkapazität des Individuums, grundsätzlich unendlich, findet ihr Reservoir und ihre Beschränkung zunächst in den vorhandenen Wissensstrukturen und Institutionen. Ontogenese und soziale Evolution folgen ähnlichen Logiken, wenn man sie als gestufte Lernprozesse begreift. Sie verschränken sich ineinander und können sich gegenseitig beeinflussen (Wissenschaft, Politik, Kultur). Die Entwicklung des Individuums und der Gesellschaft hängen also aufs Engste zusammen. Dass sich die Individuen einer Gesellschaft über ihre Sozialisation durch Familie, peers, Schulen und tertiäre Funktionssysteme zu einer autonomen Persönlichkeit individuieren können, liegt wesentlich an der universalistischen Struktur dieser Gesellschaften, die in ihren politischen und kulturellen Systemen universal gültige Rechte und Werte zur Wahrung von Freiheit und Menschenwürde eingebaut haben. Man kann an repressiven und autoritären Gesellschaften, die bestimmte Gruppen von Aktivitäten und Rechten ausschließen, studieren, welchen Weg die

Arthur Schnitzlers Traumnovelle (1925), von Stanley Kubrick verfilmt in Eyes Wide Shut, wäre ein literarisches Beispiel für das doppelbödige Spiel zwischen Triebkontrolle und Triebgewährung. Auf Traumaerfahrungen, Verdrängung und das Spiel der Imagination, d.h. die „Sprache des Unbewussten“, gehe ich nicht näher ein. Dazu etwa (Lang 1973).

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entwickelteren Demokratien gegangen sind: Gleichheitsrechte, Religionsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung etc. Was aufseiten des Individuums als Internalisierung und Identifizierung erscheint, hat sein Pendant in den Institutionen und Legitimationen der Gesellschaft und des Staates.272 Mit den Begriffen der Erziehung und Bildung kann man sich klarmachen, dass den nachfolgenden Generationen nur das vermittelt werden kann, was jeweils tradierte Werte, Konventionen und Wissensbestände sind. Erst in demokratischen Gesellschaften, die Pluralität und Menschenrechte auch verfassungsmäßig verankert haben, werden Kritik- und Urteilsfähigkeit, Autonomie und Mündigkeit als treibende Bildungsmotive neben den Fachkompetenzen institutionalisiert. Bildungsziel ist dann der mündige, kritik- und urteilsfähige Bürger. Was nun die Ich-Identität auszeichnet, sind mehrere Merkmale. Da sie selbstreflexive Subjektivität ist und das Subjekt weiß, dass jedes Selbst oder Ich seinen Status der Existenz und Anerkennung durch andere Selbst und Ich verdankt, und ihm diese aus dem gleichen Reflexionsstatus der Subjektivität heraus begegnen, ist oberstes Prinzip die Intersubjektivität und Reziprozität. Damit ist hier schon die schlichte Erfahrung anerkannt, dass der/die andere (auch) Recht haben könnte. Wir sind damit, zweitens, schon in den Bereich der kommunikativen Vernunft und dialogischer Verständigung eingetreten, bevor überhaupt ein Wort gewechselt wurde. Sie ist vor allem prinzipiengeleitet. Sie kann in existentiellen Konfliktfällen, das heißt unabhängig auch von der jeweiligen Rolle und Situation, Werte oder Prinzipien mobilisieren, um eine Entscheidung für oder gegen eine Handlung zu treffen, die fragwürdig geworden ist. Solche eminenten Fälle wären etwa Abtreibung, Todesstrafe, Beschneidung von Kindern, Vereinbarkeit von partikularen Wertesystemen wie der Religion mit einem demokratischen Rechtsstaat, Fragen des Kulturrelativismus oder der Kriegseintritt eines Staates. Ein bewährter Kanon von Werten steht in den Menschenrechten der UN bereit, die auch Eingang in viele Verfassungen demokratischer Staaten gefunden haben. Entscheidend für die prinzipiengeleitete Lösung von Konflikten ist weniger die

Hierzu ausführlich Berger/Luckmann (1980): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Dieses Werk wird auch im Lehrplanentwurf für das Fach Sozialwissenschaft in NRW von 1997 erwähnt (S. 5), ebenso wie die Bestandteile des Identitätsbegriffs.

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inhaltliche Festlegung auf Positionen als die Bereitschaft, diese Fragen kommunikativ zu lösen. Dahinter steckt drittens die Einsicht, dass Konventionen, Normen und Werte ihre Gültigkeit und Legitimität aus einer historischen Entwicklung beziehen, deren Resultate grundsätzlich reversibel sind. Nichts ist von Dauer und für ewig. Ich-Identität ist post-konventionell. Das ist so ziemlich das Gegenteil von beliebig, da die Entwicklungsstufe, von der aus geurteilt wird, sich ja allmählich aus partikularen Interessen und Strukturen herausgebildet hat und im Prinzip in der Moderne schon eine Weltgesellschaft anvisiert, in der alle Menschen sich als Gleiche unter Gleichen anerkennen und achten könn(t)en. Universalität ist also ein viertes Merkmal, das auch den Denk- und Lebensraum ins Planetarische ausweitet, wenn wir an Klima, Frieden, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Wohlstand denken. Niemand kann, so die Unterstellung einer verständigungsorientierten Vernunft, das Gute nur für sich und vor allem auf Kosten anderer wollen. Dieser ideale, alle umfassende Kosmos wäre mit dem Begriff der Menschheit ausgedrückt, der sowohl die Gleichheit aller im Sinne einer Wesensbestimmung umfasst, wie auch die absolute Einmaligkeit jedes einzelnen Menschen anerkennt, gleich welcher besonderen Zugehörigkeit etwa zu religiösen, ethnischen oder sozialen Gruppen. Das Konzept der Ich-Identität, das hier nur sehr verkürzt wiedergegeben ist, erlaubt einen theoretischen Zugang zur Ich- und Gesellschaftsentwicklung, die das Prinzip der Wechselwirkung, die Reziprozität der Perspektiven einsichtig macht. Mal abgesehen von genialen Individuen, bedingen sich die Lernkapazitäten und ‑niveaus gegenseitig und die grundsätzliche Offenheit sowie der historische Entwicklungspfad in Richtung Freiheit und Autonomie liegen in der anthropologischen Ausstattung des Menschen begründet. Niemand, der von dem Determinismus eines genetisch programmierten Instinktapparats und ‑verhaltens abgekoppelt ist und nur in Sozietäten überleben kann, die sich auf gemeinsame Regeln und Werte einigen müssen, wird Unfreiheit und Fremdbestimmung wollen, die seinen eigenen Interessen und Bedürfnissen entgegenstehen. Gemeint ist damit nicht eine vorübergehende und teilweise Delegierung von Verantwortung und Initiative, die jeder kennt und die für das Funktionieren großer Systeme auch unausweichlich ist. Jeder benötigt dann und wann Hilfe und Unterstützung; unsere gesamte Ökonomie basiert auf der Arbeitsteilung zwischen spezialisierten Funktionssysteme und dem Austausch und Handel von Gütern und Dienstleistungen. Auf dem Delegations233

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gedanken auf Zeit beruht ja letztlich jede repräsentative, parlamentarische Demokratie, was ihre Legitimität ausmacht und in regelmäßigen Wahlen bestätigt wird. Gemeint ist der demokratische Grund-Konsens einer zivilisierten und befriedeten Gesellschaft, die sich ein hohes Bildungs- und Ausbildungsniveau mit einer intakten Infrastruktur und einer hohen Lebensqualität leisten kann. Er bringt eine stabile Verfassung hervor, in der neben dem gewaltenteiligen Herrschaftsapparat von Legislative, Exekutive und Jurisprudenz ein Pluralismus auch konkurrierender Interessen, Weltanschauungen, Verbände und Organisationen institutionalisiert ist. Als einer wichtigen außerparlamentarischen Einrichtung der öffentlichen Information und Kritik, auch als „vierte Gewalt“ bezeichnet, gewährt die Verfassung den Medien wie Presse, Rundfunk und Fernsehen Freiheit und einen gewissen Schutz; das Internet ist noch nicht demokratisch kontrolliert. Viele Lebensformen, die in anderen Kulturen und Staaten unterdrückt oder mit dem Tode bedroht werden, werden in den meisten westlich-demokratischen Gesellschaften unter den Schutz des Staates gestellt. Je selbstverständlicher uns solche Rechte erscheinen – nämlich so zu leben wie wir wollen, solange wir nicht Rechte anderer einschränken – desto eingelebter und verankerter sind solche Werte wie Universalisierung und Autonomie. Und der Wert des individuellen Lebens wird nicht umsonst in unserem Grundgesetz in Artikel 1 mit dem Begriff der Menschenwürde hervorgehoben. Aus dem Konzept der Ich-Identität folgt konsequenterweise ein entsprechendes Bildungscurriculum, das es den Heranwachsenden ermöglicht, entsprechende Kompetenzen aufzubauen. Es kann nicht Ziel der Gesellschaft sein, ihrem Nachwuchs lediglich fachliche Qualifikationen zu vermitteln. Er muss in die Lage versetzt werden, den eigenen Kopf zu benutzen und sein Herz sprechen zu lassen, wenn es um kooperative und konkurrierende Lösungsstrategien geht oder darum, ein gutes Leben zu führen. Dies gilt für sachliche, soziale und politische Problemund Konfliktfelder gleichermaßen. Das ist im wohlverstandenen Sinne das Erbe der Aufklärung. Im Normalbetrieb unserer Alltagshandlungen sind Identitätsleistungen, wie es aussieht, nicht erforderlich. Denn das lebensweltlich Eingespielte ist ja schon das Ergebnis vorhergehender Problemlösungen.273 Im Gegenteil scheint in komple So verstehe ich im Übrigen auch den berüchtigten Hegel-Satz, dass alles Vernünftige wirklich und alles Wirkliche vernünftig sei. Man kann das Unvernünftige weder für sich noch für andere wollen. Und alle bestehenden Strukturen und Institutionen sind Ergeb-

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xen Gesellschaften ein hohes Maß an routinehaften, konventionellen oder automatisierten Handlungen erforderlich zu sein, um auch die Übergänge von einem Funktionssystem ins andere beziehungsweise die wechselnden Interaktionssituationen innerhalb eines Systems ohne größeren Reibungsverluste zu ermöglichen. Gleichwohl kann niemand sich auf das Eingespielte verlassen, wenn gleichzeitig woanders bereits Neuerungen und Veränderungen am Systemhorizont auftauchen, die zwangläufig Reaktionen erzwingen werden. Die entscheidende Frage lautet: Was braucht es vordringlich, um ein solches Bewusstsein zu schaffen und aufrecht zu erhalten, das auf einem selbstreflexiven und komplexen Lernniveau arbeitet? Es sind selbstverständlich die Bildungsinstitutionen, die neben vielem anderen Zeit und Raum für Muße gewähren müssen. Dieser Frei- und Schonraum ist notwendig, um Dinge selbst zu durchdenken. Der geistige Stoffwechselprozess, der nötig ist, um angeeignetes Wissen zu verstehen und in einen durchschaubaren Sinnzusammenhang einzuordnen, kann nur spiralförmig und sukzessive zum Erfolg führen. Es fällt dann später leichter, in diesen Bestand durchgearbeiteter und verstandener Kompetenzen und angeeigneten Wissens Neues zu integrieren. Der Witz dieses Konzepts liegt darin, ohne ein Ideal auskommen zu müssen, das eine Blaupause für eine ich-identische Person abgäbe. So sein zu wollen wie jemand anders, etwa eine berühmte Persönlichkeit, ein Star oder ein Idol, würde ja bedeuten, sich selbst aufzugeben. Dagegen wäre die vorbildhafte Lebensweise oder Charakterhaltung einer historischen oder lebenden Person ein Muster, das immer noch viel Spielraum für individuelle Variationen offenlässt. Solche Muster anzubieten, sehe ich aber nicht als die Aufgabe der Philosophie an, sondern der Literatur, des Films, der Kunst allgemein und natürlich der lebendigen Begegnung mit anderen Menschen.

nisse von Kämpfen und Lernprozessen, sodass man annehmen sollte, dass diese schon vernünftig sind, ihrer jeweiligen Zeit gemäß. Was ja nicht ausschließt, es noch besser zu machen, wenn sich die Lebenslagen verändern. Und es kann keinen definitiven Endpunkt geben, solange Menschen unter notwendig kontingenten Umständen existieren.

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6.2 Ich Im Grunde sind wird nun an dem Punkt angelangt, der als eindimensionaler Fluchtpunkt jeder Reflexion und Betrachtung dient, nämlich einem individuellen, unteilbaren Selbstbewusstsein. Ausgeblendet wird nun der stark soziologische Aspekt der Identität, womit die Einheit und soziale Konstituiertheit des Ichs in personaler und sozialer Perspektive beleuchtet werden konnte.274 Ich ist, wer zu einem anderen ‚du‘ und zu beiden ‚wir‘ sagen kann. Vernunft besitzt ein ichsagendes Wesen damit noch lange nicht, die reift erst nach langen Lern- und Erfahrungsprozessen heran und die hängen, wie im vorigen Kapitel gezeigt, an den historischen Bedingungen gesellschaftlicher Lernniveaus. Wer immer aber über den Menschen oder Subjektivität, Individualität, Kultur, Gesellschaft und Gerechtigkeit, Wahrheit und Unendlichkeit nachdenkt, tut dies als ein Ich, ein individuelles, in seiner Zeit sozialisiertes und individuiertes Menschenwesen. Das Wort Selbstbewusstsein oder ich, wahlweise nominalisiert Ich, bezeichnet in der Tat ein sehr merkwürdiges Phänomen. Der Physiker Erwin Schrödinger (1887–1961), beschreibt in seiner Autobiografie275, die zugleich ein „philosophisches Testament“ enthält, eine Szene, die an Plastizität und Tiefgang kaum zu überbieten ist. Jemand sitzt, so inszeniert er die Situation, auf einer Bank am Wege in einer Hochalpenlandschaft. Er lässt den Blick umherschweifen und erlebt in den duftendsten Tönen die Landschaft und den „letzten Strahl der scheidenden Sonne“, die in zartestem Rosenrot das dem Blick sich eröffnende Panorama gegen das durchsichtig klare, blaue Firmament des Himmels abhebt. Dieser Blick sei, so spricht er den Leser an, mit geringen Veränderungen schon seit Jahrtausenden, also „lang vor dir dagewesen“. Nun beginnt er eine Reihe von Reflexionen über den eigenen Tod, das Leben als ewiges Gebären und Sterben, die Vorstellung, dass vor 100 Jahren ein anderer an derselben Stelle dasselbe Schauspiel genießen konnte, bis zu der Frage:

Anschließbar wären hieran Betrachtungen zum Konzept von Anerkennungsverhältnisen, wie sie aus Hegels ‚Herr und Knecht‘-Kapitel der Phänomenologie des Geistes entwickelt wurden, um die Bedingungen der Bildung von Selbstbewusstsein im Sinne autonomer Personen darzustellen. In jüngster Zeit werden solche Fragen vor allem, aber nicht nur im politischen Raum unter dem Schlagwort ‚Identitätspolitik‘ diskutiert. Aktuell dazu Francis Fukuyama (2019): Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet, Hamburg. 275 (Schrödinger 2018: S. 69–72). 274

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„War es ein anderer? Warst du es nicht selbst? Was ist dein Selbst? Welche Bedingung mußte hinzutreten, damit dies Erzeugte du wurdest, gerade du, und nicht – ein anderer?“ (a. a. O.: S. 70) Ausgehend von der Differenz zwischen objektiv Gleichem und subjektiv Verschiedenem, der generativen Folge von Vater und Sohn, dem Bruder („warum bist du nicht dein Bruder, dein Bruder nicht du“) schwenkt er auf die Erkenntnisebene und sagt, dass „die Einheit, dieses Erkennen, Fühlen und Wollen, das du das deine nennst, vor nicht allzu langer Zeit in einem angebbaren Augenblick aus dem Nichts entsprungen“ sei und fragt, ob dieses individuelle Erkennen nicht wesentlich ewig und unveränderlich und „numerisch nur eines in allen Menschen“ sei. Wer in diesen Ausführungen fernöstliches Gedankengut spürt, liegt nicht falsch. Jeder fragt sich wahrscheinlich mindestens einmal in seinem Leben, was das eigentlich ist, das in jedem Menschen dieses Selbstgefühl, diese Gewissheit auslöst, dieser Mensch und kein anderer zu sein. Ich habe aus meiner Kindheit noch die Szene lebhaft in Erinnerung – oder glaube, sie erinnern zu können –, wie ich mit einem Mal, einem Blitz vergleichbar, meiner selbst gewahr wurde. Diese Szene spielte sich im Wohnzimmer meiner Eltern ab. Ich sehe mich heute noch durch eine Tür laufen und wie ich mich dabei plötzlich, „in einem angebbaren Augenblick aus dem Nichts entsprungen“, als eigenständiges Wesen, völlig abgetrennt von meiner Umgebung und von der Gruppe erwachsener Familienmitglieder, auf die ich zusteuerte, wahrnahm; ich beobachtete mich quasi zum ersten Mal selbst dabei, wie ich – und kein anderer – etwas tat und das gleichzeitig als meine Tätigkeit erlebte. Diese Selbstwahrnehmung hat mindestens zwei Komponenten, nämlich eine leiblich-physische und eine leiblich-psychische. In der Regel sind wir uns dieser Autopilotfunktion gar nicht bewusst, sie läuft quasi im Hintergrund und unauffällig mit. Sie hat dann mit dem kantischen ‚Ich denke‘ der transzendentalen Apperzeption nichts zu tun. Die reflexive Körperwahrnehmung, die auch als Propriozeption276 oder Eigenwahrnehmung bezeichnet wird, gilt als sechster, innerer Sinn und ist leiblichphysisch. Wahrscheinlich wurde bei mir in diesem oben beschriebenen Moment das sogenannte Leibapriori initialisiert, das von nun an völlig unbewusst die taktile Orientierung im dreidimensionalen Raum und mit den Körperbewegungen auch die Zeit ein Leben lang koordiniert und dafür sorgt, dass ich immer 276

Einführend Wikipedia, weiterführend der Bericht „Der Mann, der seinen Körper verlor“, in stern 19 (2020), S. 92–97.

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weiß, wo ich bin und was ich gerade tue. Nach dem Aufwachen wissen wir in der Regel aufgrund eines unmittelbaren Lagegefühls sofort, wo wir sind. Und zwar, das ist der Punkt, nicht aufgrund äußerer Wahrnehmung, sondern der inneren. Hierfür haben die Neurologen Rezeptoren in Gelenken, Muskeln, Sehnen und Bändern ausgemacht, die permanent Informationen ans Gehirn senden, die im Kleinhirn mit automatisierten Bewegungsprogrammen verknüpft werden, im Großhirn mit bewussten Reaktionen. Die so ausgelösten Bewegungsbefehle gehen wieder zurück an die Rezeptoren, die wiederum Rückmeldung geben; ein Kreislauf. Zwischen der internen und der externen Wahrnehmung bestehen natürlich Rückkoppelungen, die oft unbewusst, aber manchmal auch bewusst gesteuert werden können. Leiblich-psychisch äußert sich die Selbstwahrnehmung als Ich-Gefühl. Wir verlieren dies und die Kontrolle über uns nicht nur bei Erkrankungen der Seele, sondern auch im Alter, wenn das Gehirn in wichtigen Funktionsbereichen versagt (Demenz, Alzheimer), und in ekstatischen Zuständen wie Rausch, Orgasmus, Trance, Meditation. Es gibt also verschiedene Zustände des Menschen, die gut beschreibbar sind, in denen wir kein Bewusstsein mehr von uns haben. Wir werden dennoch von anderen als die Person identifiziert, die wir sind, selbst im Wachkoma. Dieses Ich, das sich seiner selbst bewusst ist, ist es aber nur dadurch geworden, dass es irgendetwas tut, sei es im privaten, sei es im öffentlichen Raum – immer aber im sozialen Raum der Sichtbarkeit. Denn wenn es schläft, versinkt es in sein Unbewusstes und träumt; seine Körperfunktionen reduzieren sich auf ein Minimum. Über diese Zustände hat das Ich nicht die geringste Kontrolle, die Dinge geschehen einfach. Bilder, Tagesreste, verdrängte Erlebnisse, Traumata, Allmachts-Fantasien, erotische Wünsche und dergleichen spulen wie in einer aleatorischen Montage in einem nur dem Träumer zugänglichen Film ab. Dieses innere Kino scheint für die psychische Gesundheit eine große Rolle zu spielen, obwohl wir uns wahrscheinlich an vieles nicht mehr erinnern können und uns das, was wir zurückholen, oft völlig unverständlich und wirr erscheint.277 Auf den Komplex einer sprachlich oder hermeneutisch orientierten Psychologie oder Psychoanalyse kann in diesem Rahmen nur hingewiesen werden. Jürgen Habermas hat in Erkenntnis und Interesse (1968) Freuds Psychoanalyse als Selbstreflexion auf Selbsttäuschungen und Kommunikationsstörungen hin interpretiert. Damit entstehe eine Sinnkritik, die es dem Therapeuten ermögliche, den Abwehrmechanismen des Patienten einen unzensierten Text (Erzählung) anzubieten, den dieser freilich als für sich stimmig

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Die Vollnarkose ist dagegen traumlos, und wer einmal bewusstlos war, kann sich an nichts erinnern.278 Wenn das Ich wach ist, muss es sich vor allem um sich selbst kümmern, damit es sich erhält. Diese Selbsterhaltung richtet sich primär auf die Außenwelt des Ich, weil es von dort die externen Ressourcen (anorganische Stoffe, Informationen, Interaktionen etc.) bezieht, die es intern verstoffwechseln und transformieren muss, um nicht zu zerfallen. Dies gilt stofflich-materiell wie kommunikativ-sozial. In jedem Selbstverhältnis qua Selbsterhaltung liegt ein Gefälle zwischen innen und außen, System und Umwelt, Selbst und Anderes. Autarkie und Autonomie sind immer nur als strukturelle und funktionelle Beziehungen oder Verhältnisse denkbar und möglich, sowohl intern wie extern. Das bedeutet in einem eminenten Sinne, dass das Ich in keiner Weise selbstgenügsam, abgeschottet und völlig solus ipse sein kann. Wer überhaupt so etwas wie das Absolute denken will, muss von vornherein diesen merkwürdigen Gedanken als eine Einheit von Vielem konzipieren, in dem er vor allem selber vorkommt. Mit dem Ich oder Selbstbewusstsein, was dasselbe ist, ist also erstens nur ein Teil des Menschen angesprochen, nämlich biologisch sein Gehirn und psychologisch sein Bewusstsein. Mit dem Begriff des Selbst ist eine rückbezügliche, reflexive Denkstruktur gemeint, die ohne Bezug auf ein Bewusstsein sinnlos wäre. Damit verbunden ist der sozial-psychologische oder soziologische Begriff der Identität, der hier ein Wiedererkennen im sozialen Raum und über die erlebte Zeit hinweg meint. Dies gilt sowohl für die Ich- wie die Er/Sie/Es-Perspektive. Zweitens muss ein anderer, wesentlicher Aspekt einbezogen werden, nämlich Handlungen. Handlungen sind mit dem Willen dessen verbunden, der sie auslöst, und einem Leibakzeptieren muss. Hermann Lang hat die strukturalistische Lesart der Psychoanalyse durch Jacques Lacan unter dem Titel Die Sprache und das Unbewußte (Lang 1973) in einen philosophischen Kontext gestellt und versucht, die Hermetik Lacans verstehbar zu machen. In Deutschland wäre noch Alfred Lorenzer zu nennen, der sich mit einem sprachtheoretischen Zugang zur Psychoanalyse befasst hat, etwa in Sprachstörung und Rekonstruktion: (Lorenzer 1973). 278 Es gibt hier durchaus auch andere Meinungen. Befasst man sich ein wenig mit dieser Materie, wird der komplexe Ablauf und die Vielzahl sowie Dosierung der verabreichten Narkosemittel deutlich. Vor allem die Phasen der Einleitung und dem Aufwachen bergen möglicherweise Traumstimuli. Dagegen halte ich die Phase des Eingriffs, wo selbst vegetative Funktionen künstlich erhalten werden müssen, weil das Gehirn von allen Informationen ‚abgeschnitten‘ ist, für ziemlich sicher traumlos.

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körper, der wie ein Sklave die Befehle des Herrn ausführt. Der Wille ist einerseits vernünftig, wenn das Subjekt ‚auch anders‘ gekonnt hätte, der Wille also begründet werden kann. Andererseits ist er unvernünftig, wenn es ‚nicht anders‘ kann oder konnte, also trieb- oder fremdgesteuert ist. Dies zu durchschauen macht uns dann wieder vernünftig, wenn wir denn wollen oder können. Drittens müssen wir uns seit Freud das Bewusstsein bzw. die Psyche (oder wie immer man den immateriellen Teil des Menschen, der ihn bewegt und belebt, nennen mag) nicht als einfach, sondern sogar als hochgradig organisiert vorstellen;279 die Begriffe ‚bewusst‘ und ‚unbewusst‘ fallen nicht zusammen mit Ich und Es oder Über-Ich, vielmehr enthält das Ich große unbewusste Anteile, die als Routinen oder ‚Fehlleistungen‘ aus dem aktualen Bewusstsein abgedrängt und ins Vor- oder Unbewusste verlagert wurden. Vieles, was wir tagtäglich in den unterschiedlichsten Handlungsvollzügen tun, ist routiniert, unreflektiert, ja reflexhaft, beiläufig und wird eher schon von Gedanken an die nächsten Handlungen begleitet. Wir leben in der Regel eben nicht im ‚Hier und Jetzt‘ als einer stillgestellten Zeitlupe oder Momentaufnahme, sondern immer schon rastlos uns voraus, nach vorne. Dieses ‚Automatisierte‘ ist freilich keineswegs negativ zu bewerten. Vielmehr könnte ohne dieses Selbstverständliche und Reibungslose, was wir gewöhnlich Gewohnheit nennen, unser Alltag überhaupt nicht funktionieren. Das Ich als unser Aktionszentrum muss sich, das wissen wir seit Freud, drei Instanzen stellen: dem Es und Über-Ich als interner und der Außenwelt als externer Sphäre. Das Über-Ich internalisiert als Gewissen die Ge- und Verbote der Gesellschaft und repräsentiert quasi die internalisierte Gesellschaft mit ihrem Sanktionspotential, weswegen wir so etwas wie Scham und Schuldgefühle entwickeln, selbst wenn kein anderer zugegen ist. Das große metaphysische Problem der Freiheit wird hier in diesem Kraftfeld verschiedener Seinsbereiche verhandelt, das im Willen und im Handeln der Subjekte wurzelt und von Genen, Trieben, neuronalen oder sozialen Strukturen oder gar ominösen Mächten des Schicksals und der Vorhersehung abhängt bzw. abhängen soll. Mit dem Subjektbegriff wird ausdrücklich die Hand Wie komplex und auch kompliziert unterdessen die Theorielandschaft innerhalb der Psychologie zu diesem Thema ist, dokumentiert das Sonderheft der Zeitschrift Psyche aus dem Jahr 2013 (Bohleber 2013): Das Unbewusste. Metamorphosen eines Kernkonzepts. Herausgegeben und eingeleitet von Werner Bohleber. Im Übrigen läuft dieses Konzept der Psyche dem ursprünglichen Begriff der Seele als einer ‚einfachen‘ Substanz diametral zuwider.

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lungsebene einbezogen, ja sie ist geradezu sein Wesensmerkmal geworden. Wenn man nun wie Schopenhauer den Willen als dieses Ding an sich betrachtet und als innere Natur der äußeren Welt, über die ich nur Vorstellungen haben kann, aber keine ‚inneren‘ und unmittelbaren Erkenntnisse, gegenüberstellt, und wenn beide Zugangsweisen zur Wirklichkeit oder dem Sein über die Kategorie der Kausalität laufen, dann nehme ich doch wieder eine Beobachterperspektive ein und setze das Ich als auch von sich getrennt. Die psychologische Literatur bis hin zu Freud geht von einem symbiotischen, narzisstischen Verhältnis des Neugeborenen zu seiner Umwelt aus, bei dem zunächst noch keine Außenwelt differenziert ist. Aber es scheinen schon genetische Anlagen vorhanden zu sein, da es menschliche Stimmen ziemlich klar von allen anderen Geräuschen unterscheiden kann, was man daran erkennt, dass es seine Aufmerksamkeit sofort auf diese Stimmen lenkt.280 Mit meiner Erinnerung deckt sich die Tatsache, dass zu dem Zeitpunkt, da ein Kind entdeckt hat, dass es laufen kann, ein Entwicklungsschub initiiert wird, der ausgesprochen komplex zu sein scheint: „[…] aus libidinöser Lust im Sinne Freuds Bewegungs-Erotik oder aus dem Bedürfnis nach bestmöglicher Beherrschung im Sinne von I. Hendricks Arbeitsprinzip; es entdeckt auch, daß es mit der neuen Körperhaltung einen neuen Status bekommt: ‚einer der laufen kann‘, mit all den Nebenbedeutungen, die diese Kunst innerhalb des Lebensplans seiner Kultur besitzen mag: ‚einer der vorwärtskommen wird‘ oder ‚einer der aufrecht dastehen wird‘ […]“ (Erikson 1976: S. 17) Mit diesem neuen Status verbunden ist der Beginn einer Integration in die umgebende Kultur des Kindes und damit der Lernprozess, „sich zu einem definierten Ich innerhalb einer sozialen Realität“ zu entwickeln. „Dieses Gefühl möchte ich ‚Ich-Identität‘ nennen.“ (a. a. O.) In seinem Aufsatz „Das Problem der Ich-Identität“ von 1956281, das den Begriff entlang der Autobiografie des Schriftstellers George Bernard Shaw entfaltet, geht Erikson auf die Bedeutung der Sprache ein, deren Erlernen sich an dem Punkt der sich entwickelnden Autonomie des Kindes klar mit dem Laufenlernen trifft. Die Bilder des ‚Auf-eigenen-Füßen-Stehens‘ und der ‚Mündigkeit‘ mögen das unterstreichen. Mit dem Sprechenlernen, so Erikson, erwirbt das Kind die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit seiner Umwelt mit einer völlig neuen Technik zu erlangen: mit seiner Stimme und artikulierten Lauten, die es willentlich erzeugen kann; diese Sprachlaute lösen (Wunderlich 2015: S. 249). (Erikson 1976: S. 123–224).

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die „Signale der Bedürftigkeit“ ab. Wir haben hier, nebenbei gesagt, dieselbe Denkfigur der Emanzipation des Menschen von der Natur, wie sie von zum Beispiel Gehlen und Herder in den Institutionen gegenüber den Instinkten gesehen wird und im „Zerbrechen des Instinkts“ (Piaget 1992: S. 377), nach dem eine neue, kognitive Evolution beginnt. Es ist allerdings dann immer noch die Frage, ob die Forscher und Theoretiker dieser zweiten Evolution auch methodisch und ontologisch folgen oder sie nur als Fortsetzung der Naturgeschichte interpretieren.282 „Mit der Sprachfähigkeit entwickelt sich nicht nur die Eigentümlichkeit der Stimme und der Sprechweise; sie definiert auch das Kind als ein Wesen, auf das die Umwelt mit veränderter Ausdrucksweise und Aufmerksamkeit reagiert. Andererseits erwartet diese Umwelt nunmehr von ihm, ohne besondere Erklärung und Gesten verstanden zu werden.“ (a. a. O.: S. 142f.) Es entsteht sogar ein „Pakt“, wie Erikson das nennt, denn das Gesagte wird erinnert und damit unwiderruflich, so wie Versprechen, Ge- und Verbote, und es wird durch die Sprache eine Beziehung nicht nur zur „Welt der mitteilbaren Tatsachen“, sondern auch „zum sozialen Wert einer Verpflichtung durch das Wort und zur Wahrheit des Gesagten“ gestiftet. In dem gezielten Angesprochenwerden und Ansprechenkönnen, dem Hingehen- oder Weglaufenkönnen erleben Kinder erstmals Autonomie, eine Art Selbstermächtigung und Kontrolle über ihre Wünsche und Handlungen, was sie in der sogenannten Trotzphase erproben, indem sie Grenzen testen und ausloten. Aktionen rufen Reaktionen hervor und je nach Perspektive erscheint eine Ursache als Wirkung oder umgekehrt. Was Kausalität und Intentionalität ist, erfahren Kinder, die zu Subjekten werden, in Interaktionen mit Erwachsenen und später unter ihresgleichen (peers). Neben einer psycho-sexuellen nimmt Erikson eine psycho-soziale Entwicklung an, um die Einseitigkeiten der freudschen Trieblehre zu kompensieren.

Der Naturalismus tut dies in philosophischer Attitüde. Physiker wie Schrödinger bewahren sich noch ein Distanzgefühl der Nichtzuständigkeit, wohingegen der sog. radikale Konstruktivismus in Bezug auf ontologische Fragen völlig blind und erklärungslahm ist: Er landet in einem ontischen Konstrukt namens Gehirn und weiß nicht, was das ist, weil er es ontologisch nicht gegenüber etwas anderem unterscheiden kann, anders gesagt, er kommt noch nicht einmal zum Fürsichsein des Gehirns. Wer den Menschen und die Gesellschaft als bloße Anhängsel von Neuronen, Genen, Gehirnschaltungen etc. konstruiert, weiß eigentlich gar nicht, was er tut. Er handelt wie jemand, der sich eine Tüte über seinen Kopf stülpt und nun erstaunt feststellt, dass die ganze Welt nur noch aus dem Innenraum seiner Tüte besteht: die Welt als Wille und Vorstellung.

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In diesem Zusammenhang der Entwicklung eines Ichs, das sich seiner selbst bewusst wird und sich klar von allem anderen abgrenzt, hin zu einem autonomen Zentrum, das seine Handlungen selbst steuern kann, scheint mir eine kleine Geschichte interessant zu sein. Es gibt bei Freud die Schilderung der Szene eines kindlichen Spiels mit einer Holzspule, die an einem Bindfaden hängt.283 Das Kind wirft die Spule immer wieder über den Rand seines verhängten Bettchens und zieht sie dann zurück. Dabei begleitet das Kind, das noch im vorsprachlichen Zustand ist, lautlich den Vorgang mit einem langgezogenen ‚ooooh‘ „das nach übereinstimmendem Urteil von Mutter und Beobachter ‚fort‘ bedeutete“, und das Wiederkehren der herangezogenen Spule mit dem freudigen Laut ‚da‘, was offensichtlich ‚anwesend‘ hieß. Diesem Beispiel eines einfachen kindlichen Spiels kann eine komplexe Theorie zugrunde gelegt werden. Da wir alle extrem hilflos und absolut hilfsbedürftig zur Welt kommen, ist die Anwesenheit einer Person, die uns versorgt und am Leben erhält, für unser Überleben und Wohlergehen unabdingbar. Die Mutter, hier als Rolle stellvertretend für alle Bezugspersonen in dieser Phase gemeint, ist gleichsam das erste Triebobjekt für das Kind mit seinen vitalen Bedürfnissen; hier kann man sich symbolisch die Mutterbrust und das saugende Kleinkind vorstellen. Wie reagiert es nun auf die Abwesenheit der Mutter, wenn es Hilfe, das heißt Nahrung und körperliche Nähe benötigt, selbst aber bewegungsunfähig ist? Es schreit. Pure Expressivität mit Signalcharakter ohne irgendeinen semantischen Gehalt. Mit dem Spiel, so nun die Theorie, verleibt sich das Kind eine symbolische Re-Präsentation der natürlichen Mutter ein, indem es zwei verschiedene Laute für anwesend/abwesend an einem ‚Ersatzobjekt‘ simuliert. Das Spiel ist natürlich für das Kind nicht in dieser Bedeutung präsent oder gar intendiert. Aber es lernt eine Repräsentation, die sich in Lauten ausdrückt, und wir kennen alle dieses Zeigen mit dem Finger auf beliebige Objekte, begleitet mit der Lautäußerung ‚da‘, was dem Dadaismus in künstlerischer Überformung zur Weltgeltung verholfen hat. Wenn nun das Kind, und das scheint hinter dieser Theorie zu stecken, einmal das nicht immer beeinflussbare Dasein der Mutter mit dem beeinflussbaren Dasein der Spule verbinden kann, lernt es, mit bestimmten Äußerungen bestimmte Wirkungen hervorrufen zu können. Es ist, so würde ich dieses Beispiel weiterspinnen, die Vorstufe zur Unterscheidung von kausaler und intentionaler Beziehung: Das Ziehen der Spule gehört zur Kategorie der Kausalität, der Ruf nach der Mutter zur Intentionali Sie wird bei (Lang 1973: S. 213ff.) angeführt, um die Funktion der symbolischen Ordnung im psychoanalytischen Werk von Jacques Lacan zu verdeutlichen.

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tät. Wer es groß möchte, kann dieses Spiel des Kindes als Eintritt in die symbolische Welt der Sprache begrüßen: „Von den ersten Beziehungen des Kindes zur Mutter an, vollzieht sich vor dem Erlernen der Sprache auf motorischer und auditiver Ebene ein Geschehen der Symbolisierung; seit das Kind zwei Phoneme [/o/ und /da/; d.Verf.] im Kontrast zu formulieren begonnen hat, ist das Ganze der ‚organisation signifiante‘ bereits virtuell da.“284 Der Kontrast, die Opposition, die dualistische Struktur, die sich symbolisch wie in einer Urszene ins Gedächtnis einschreibt, ist ‚anwesend‘/‚abwesend‘. Psychologisch gesehen darf man hier wohl die Entstehung des sogenannten Urvertrauens oder eben traumatischer Erfahrungen vermuten. Menschen kommen in der Entwicklungsphase bis zur Adoleszenz in der Philosophie nicht vor, jedenfalls soweit ich das sehe. Weder als Subjekt, das heißt zum Beispiel als Philosophierende, noch als Objekt, also als Gegenstand einer ernsthaften Betrachtung.285 Fast alle Philosophen setzen bei einem bereits voll entwickelten Individuum an und lassen dessen Entwicklung vollständig außen vor. Damit geraten aber nicht nur individuelle, sondern wesentlich gesellschaftliche Strukturen und Prozesse völlig aus dem Blick. Was wir Erziehung und Bildung nennen, was wir Enkulturation und Zivilisierung nennen, was wir Sozialisation und Individuierung nennen, also all das, was den Philosophen überhaupt erst in den Stand versetzt, kluge Frage zu stellen und nach gescheiten Antworten zu suchen, das ganze Bildungsprogramm einer Gesellschaft und Kultur, das versinkt in dem Bewusstsein desjenigen, der aufs Ganze und diesem auf den Grund gehen will. Das ist sehr merkwürdig. Demgegenüber verpflichtet der Hms nach meiner Lesart den Denker auf seine Herkunft, seine Entwicklung und seinen Lebensplan. Man kann diese Diagnose mit den Begriffen Genese und Geltung reformulieren, eine Unterscheidung, die auf Leibniz zurückgeht. Mit Genese ist die Entstehung, die Herkunft und Entwicklung eines Gegenstandes oder Sachverhalts gemeint, mit Geltung die Berechtigung oder Legitimation, so über diesen Gegenstand oder Sachverhalt zu sprechen, dass ich wahres Wissen und objektiv gültige Erkenntnisse beanspruchen

A. a. O.: S. 214. Hier muss natürlich die pädagogische, didaktische und literarische Literatur ausgenommen werden. Ich nenne beispielhaft (Martens 2018): Philosophieren mit Kindern. Eine Einführung in die Philosophie. Gaarder, J. (1993): Sofies Welt. Roman über die Geschichte der Philosophie. München. Hösle, V. und N. Kreft (1998): Das Café der toten Philosophen. Ein philosophischer Briefwechsel für Kinder und Erwachsene. München. Bildungsromane wie Rousseaus Emile zählen ja zur Pädagogik und nicht zur Philosophie.

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kann. Zuweilen spricht man auch von Ursachen (quid facti, a posteriori) und Gründen (quid juris, a priori), womit man Fragen der Genese und Geltung unterscheidet. Was nun die Bedingungen betrifft, die uns Erkenntnisse, ja selbst die Gegenstände der Erkenntnisse ‚ermöglichen‘, so verortet Kant sie in dem Subjekt selbst. Dieses muss er aber noch zurichten als nicht-empirisches, nicht-biografisches, transzendentales, welt- und körperloses ‚Ding an sich‘, was ja eigentlich ein Widerspruch in sich ist, da dieses Ding doch unerkennbar sein soll. Kant ist hier Konstruktivist. Dagegen steht ein theoretisches Programm, das diese Erkenntnisbedingungen nicht transzendental, sondern entweder empirisch aus der Biologie und Anthropologie des Menschen ableiten will, oder rekonstruktiv aus sprachlichen und kognitiven Strukturen, die sich in Interaktion mit der Umwelt eines heranwachsenden Menschen erst ausbilden müssen. Der Kerngedanke liegt in einem Systemkonzept, das aus menschlichen Handlungen zwar erst entsteht, dann aber ein den Menschen gegenüber relativ eigenständiges Dasein gewinnt. Solche Systeme sind vergegenständlichte und verselbständigte soziale Produkte und können doch nie von sich aus tätig werden. Um real zu werden, sind sie immer wieder auf menschliche Handlungen angewiesen. Gleichwohl sind Systeme, wie alle menschlichen Produkte, als autonome Funktionszusammenhänge analysierbar (Sprache, Logik, Mathematik, Gesellschaft, Ökonomie), sie enthalten auch eigene Gesetze oder Regeln, die die Subjekte nur um den Preis des Systemzusammenbruchs willkürlich verletzen können, aber es ist und bleibt Menschenwerk. Diese Verschränkung von Subjektivität und Objektivität hat meines Wissens Hegel als erster für die conditio humana nachzuweisen versucht und als einen evolutiven Prozess der Menschheitsgeschichte rekonstruiert. Der deutsche Philosoph Fichte (1762–1814) gilt nach Descartes (1596–1650) und Kant als derjenige, der nicht nur die Subjektivität im philosophischen Diskurs prominent machte, sondern durch genaue Analyse die Ichstruktur offenlegte und daraus eine komplette Wissenschaftslehre deduzierte.286 Jedes Ich hat offenbar eine

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Vgl. (Fichte 1998). Kant selbst wird nicht müde, diese Doppelstruktur von Ich als Selbstbewusstsein und Subjekt einerseits und Objekt des Bewusstseins andererseits zu unterscheiden. Der Knackpunkt scheint mir zu sein, welchen ontologischen und epistemischen Status ich diesem Ich zubillige, d.h. welche theoriestrategische Funktion es für das System des Wissens hat. Und wie kämpft Kant in dieser Hinsicht mit dem rationalen oder empirischen Status, weil das „Ich denke“ fraglos ein empirisches Urteil ist, und doch „zugleich für alles, was denkt, gültig sein solle, und daß wir auf einen empirisch scheinenden Satz ein apodiktisches und allgemeinen Urtheil zu gründen uns anmaßen

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Doppelstruktur, insofern mit seiner Existenz zugleich das Wissen um diese Existenz verbunden ist. Dieses Wissen ist aber nicht reflexiv durch Nachdenken entstanden, sondern gleichsam unmittelbar oder ‚unvordenklich‘, wie Schelling diesen vortheoretischen Zustand nennt. Der entscheidende Punkt, den Fichte erkannte, Kant meiner Meinung nach aber auch, ist die Tatsache, dass dieses Ich keine Substanz, kein Ding ist, sondern Tat, Aktivität ist. In dem Moment, wo sich das Ich seiner selbst in einem Tun vergewissert, sich leiblich spürt, ‚setzt‘ es sich als Ich. Das Setzen bei Fichte ist ein Akt des Bewusstseins und kann leider alles Mögliche bedeuten; dummerweise, und hierin gründet der Irrtum der Idealisten, ist es der Tat, dem Tun in Handlungen vergleichbar, aber findet eben im Bewusstsein als Vorstellen oder Denken statt. Das Planen eines Hausbaus und das Bauen des Hauses sind aber immer noch zwei Paar Schuh. Dass die Handwerker dann planvoll zu Werke gehen, unterscheidet sie von der Spinne, die nicht weiß, was sie tut. Wie auch immer: Diesen ersten Schritt bezeichnet Fichte mit einem Neologismus als „Thathandlung“.287 Er setzt diesen Begriff der „Thatsache“ entgegen, die sich gegenüber den ‚Tätern‘ verselbständigen, vergegenständlichen kann. Dies ist aber in der Tathandlung gerade nicht möglich. Mit ihr wird nämlich kein Objekt, kein Gegenstand erzeugt oder geschaffen, sondern sie soll eine „reine“ Tätigkeit sein, in der uno actu sich das Ich selbst setzt, also seiner inne wird. Man könnte sagen, dass analog zu Kants ‚Ich denke‘ bei Fichte ein ‚Ich tue‘ alle Handlungen begleiten können muss. Dieses Tun ist freilich kein praktisches, sondern ein innerpsychisches, rein geistiges. Das Ich dieses Tuns ist nicht weiter bestimmbar, damit auch nicht erkennbar, es ist dieses kantische Ding an sich, der unerkennbare Grund für alles Erscheinende, einschließlich des

können, nämlich: daß alles, was denkt, so beschaffen sei, als der Ausspruch des Selbstbewußtseins es an mir aussagt.“ (AA III: S. 265f.). 287 Vgl. Fichte 2008: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, §1, S.  32  988 (FichteWerke Bd. 1, S.  91). Erhellend ist auch folgende Bemerkung Fichtes zum Status der Sätze, die aus jener Tathandlung hervorgehen: „Die Gesetze, nach denen man jene Thathandlung sich als Grundlage des menschlichen Wissens schlechterdings denken muss, oder – welches das gleiche ist – die Regeln, nach welchen jene Reflexion angestellt wird, sind noch nicht als gültig erwiesen, sondern sie werden stillschweigend, als bekannt und ausgemacht, vorausgesetzt. Erst tiefer unten werden sie von dem Grundsatze, dessen Aufstellung bloss unter Bedingung ihrer Richtigkeit richtig ist, abgeleitet. Dies ist ein Cirkel; aber es ist ein unvermeidlicher Cirkel. […] Da er nun unvermeidlich, und frei zugestanden ist, so darf man auch bei Aufstellung des höchsten Grundsatzes auf alle Gesetze der allgemeinen Logik sich berufen.“ (a. a. O.) Hervorhebungen von mir.

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empirischen Ichs. Abgesehen von den ontologischen Schwierigkeiten dieser Konstruktion liegt der Idealismus genau in diesem Konstrukt: Eine Tathandlung, was vom Wort her schon ein Pleonamus ist, ist im fichtschen Sinne ein Denkakt und eben keine reale Handlung, die einer körperlichen Bewegung bedarf. Das Subjekt erscheint hier körper‑, ort- und zeitlos und in reinen Denkakten eingesponnen. Fichtes Tathandlung ist also rein ideell. Dies liegt natürlich an seinem konzeptuellen Ansatz, eine Theorie des Wissens begründen zu wollen. Um das zu veranschaulichen: Man kann sich erstens einen Menschen auf einem Platz vorstellen, vollkommen unbeweglich dastehend, in sich versunken mit geschlossen Augen, und er ‚setzt‘ sich in diesem Zustand der Versenkung selbst. Ein Gründungsakt, den man jeden Morgen als meditative Übung vollziehen könnte, indem man nur auf sich selbst achtet und alles Äußere ausschaltet. Daneben schaut zweitens ein Beobachter diesem Ritual zu und sieht natürlich nur diesen unbewegten Menschen. Durch Beobachtung ist da aber nichts zu erkennen. Nur durch nachahmende ‚Introspektion‘ kann man drittens in sich selbst denselben Prozess entdecken. Wobei der Begriff Introspektion, also Innensicht, strenggenommen falsch ist, weil man ja nichts sieht; Fichte sagt ja ausdrücklich, dass da kein Objekt ist. Diese ideelle Operation, die in seinen späteren Schriften mehr vom aktiven Tun zum passiven Zusehen mutiert und als Identität von Sein und Zusehen konzipiert wird, soll nun die ganze Bürde einer Begründungstheorie des Wissens, eines Systems der Wissenschaftslehre tragen. Dennoch ist das Fundament dieser meditative, intuitive Akt geblieben, in dem sich ein Mensch, der doch empirisch existiert, eines vorreflexiven Ich erinnert, das irgendwie und irgendwo in ihm als Kraftzentrum schlummert, als stiller Brüter sozusagen, und das verantwortlich dafür sein soll, dass es das alles gibt, was er denkt und erkennt. Produktionsidealismus hat man das auch genannt. Ein ungeheurer Gedanke, der sich aus einer nachvollziehbaren Intuition in einen unglaublichen Irrweg verlaufen hat, wenn damit von Fichte tatsächlich gemeint ist, dass das Ich die ganze Welt aus sich heraus spinnt. Man muss aufpassen, dass man sich in diesen Abstraktionen, die in den philosophischen Grundbegriffen qua Verallgemeinerung ja immer stecken und durchaus gewollt sind, doch immer durchsichtig bleibt und nicht verliert. Schon der theoretische Ausgangspunkt eines monologischen Subjekts, das sich seines Wissens versichern will, ist völlig verfehlt, weil artifiziell. Hegel hat das durchschaut und das Subjekt in der Geschichte und Gesellschaft situiert. Wer sich einsam in sein Studierstübchen zurückzieht, um solchen Fragen nachzusinnen, nimmt das ganze Paket seines gesellschaftlichen Bildungsprozesses mit in dieses Stübchen  – und das ist er selbst mit Leib und Seele. Sein Kopf ist voll 247

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von Bildern, die mit denen in anderen Köpfen, mit Gedanken, Erzählungen und Erfahrungen verwoben sind; was hat er nicht alles von seinen Eltern, Großeltern, Lehrern und Freunden gehört und durch sie gesehen? Ein hervorragender Ort für solche Reflexionen ist die Literatur, das Buch, der Text, der Film, die Bühne, die narrative und dramtische Struktur einzelner Schicksale, die sich im Medium des Allgemeinen und Typischen bewegen. Wer freilich dem wirklich Individuellen begegnen will, muss hinaus ins Leben gehen, auf die Straße, die Plätze und in die Häuser, muss mit den Menschen reden, gemeinsam handeln  – oder im Privaten sein Leben im Sinne der humanitas organisieren. 288

Der deutsche Philosoph Michael Hampe (*1961) will in seinem anregenden Buch Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik (Hampe 2016) in dem Spannungsfeld von Philosophie, Wissenschaft und Literatur das Individuum oder das Individuelle retten. JeanPaul Sartre hat in der Literatur zwischen 1968 und 1971 den unvollendet gebliebenen Versuch unternommen, sich dem Schriftsteller Gustave Flaubert zu nähern: L’Idiot de la famille. Auf dreieinhalbtausend Seiten breitet er dessen Leben aus und schafft es doch nur bis zu dessen 22. Lebensjahr. In beiden Fällen geht es meines Erachtens weniger um ‚das Individuum‘ als um die Frage, was Philosophen und Schriftsteller ‚eigentlich‘ tun, wenn sie schreiben. Wie und worüber schreiben sie? Was wollen sie? Wer ist ihr Adressat?

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IV Schluss Reden wir zunächst ein wenig über Zeit und Endlichkeit. Von der Entstehung der Erde aus einer gasförmigen Nebelwolke im gleichaltrigen Sonnensystem vor ca. 4,6 Milliarden Jahren bis zu einem bewohnbaren Habitat verging auch nach kosmischen Maßstäben viel Zeit. Den ‚Urknall‘, die Geburtsstunde von Raum, Zeit und Materie, datiert die Kosmologie auf etwa 13,8 Milliarden Jahre.289 Das Zeitalter der Dinosaurier, die auch viele Kinder faszinieren und denen der Film Jurassic Park (1993) von Stephen Spielberg ein spektakuläres Denkmal gesetzt hat, währte 160  Millionen Jahre, bis sie etwa vor 66  Milliarden Jahren wahrscheinlich durch einen Asteroideneinschlag vollständig ausgelöscht wurden; nur die Vögel (und natürlich die üblichen Mikroben) überlebten. Die ersten fossilen Primatenfunde werden auf ca. 55 Millionen Jahre geschätzt, Spuren von Homo sapiens sind seit etwa 300 000 Jahren belegt, erste Kulturstätten und damit die Entstehung der Menschheitsgeschichte seit 70 000 Jahren.290 Mit der Sesshaftigkeit vor 12 000 Jahren setzte eine landwirtschaftliche Revolution ein, die es erlaubte, sehr große Siedlungen zu ernähren. Um die Achsenzeit, etwa 600 v. Chr., begann das wissenschaftliche Zeitalter im Okzident, als Thales von Milet eine Sonnenfinsternis voraussagte; vor etwa 600  Jahren folgte die moderne wissenschaftliche Epoche (Kopernikus, Galilei, Newton, Kepler, Darwin), womit sich Wissenschaft und Philosophie, aber auch Theologie allmählich voneinander entfernten und trennten. Es folgten politische und industrielle Revolutionen und heute können wir die digitale in Echtzeit erleben. Die ersten PCs stammen aus den 1970ern, das erste Smartphone entstand Ende Je nach Quelle schwanken die genannten und folgenden Zahlen; sie sind ohnehin nie mehr als Näherungswerte. Vgl. Wikipedia mit einschlägigen Stichwörtern und (Harari 2013). 290 Wie schwierig es ist, hier verlässliche Daten zu erhalten, mag ein Zitat verdeutlichen: „In Wirklichkeit lebten 2 Millionen Jahre lang, bis vor rund 10 000 Jahren, gleichzeitig mehrere Menschenarten auf unserem Planeten. […] Noch vor hunderttausend Jahren gab es mindestens sechs verschiedene Menschenarten. Diese Vielfalt ist viel weniger erstaunlich als die Tatsache, dass wir heute alleine sind.“ (Harari 2015: S. 16) Die Gattung Homo umfasst viele Arten – Bezeichnungen wie ergaster, rudolfensis, habilis, erectus, sapiens deuten dies an. 289

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IV Schluss

der 1990er-Jahre und das iPhone der Firma Apple erblickte 2007 das Licht der Welt. Seitdem entwickelt sich die digitale Technologie rasant weiter und die Koppelung von Gehirn und Maschine, der Cyborg, lässt nicht mehr lange auf sich warten.

Abb. 24 Geological time spiral Die Entwicklung der Menschheit, der conditio humana, folgt keinem linearen Pfad, sie verläuft vielmehr exponentiell: Sowohl das Bevölkerungswachstum wie der Ressourcenverbrauch sind enorm, die Urbanisierung nimmt rasant zu und die Beschleunigung der Informationsmenge wie auch der Internet-Handel sind nur noch algorithmisch beherrschbar. Seit ein paar Jahren melden Wetterstationen Temperaturrekorde am Nordpol, zurzeit wird Sibirien von einer Hitzewelle und Waldbränden heimgesucht.291 Die Folgen sind noch kaum absehbar. Die ZDF-Website vom 25.07.2020 meldet: „Eine ungewöhnliche Hitzewelle hat in Sibirien für einen Temperaturrekord gesorgt. In der Stadt Werchojansk in Jakutien, die als einer der kältesten bewohnten Orte der Welt gilt, seien am 20. Juni 38 Grad gemessen worden, ein Rekord für die Messstation, berichtete die Weltwetterorganisation (WMO) in Genf.“

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IV Schluss

Selbst wenn man die Zeit seit der neolithischen Revolution, das heißt den Übergang von nomadischen Jägern und Sammlern zu siedelnden Ackerbauern und Viehzüchtern, als Beginn der Sonderstellung des Menschen auf diesem Planeten akzeptiert, erscheint angesichts der gewaltigen Dimensionen des Universums und seiner gewaltigen Kräfte der Satz des Protagoras als eine Ungeheuerlichkeit, eine lächerliche Anmaßung. Nimmt man aber das im Hms vorausgesetzte, im Begriff der chremata markierte Bezugssystem zur Kenntnis, nämlich die menschliche Lebenswelt und nicht den metaphysischen oder kosmologischen Weltbegriff, relativiert sich der angesprochene Geltungsbereich. Aus dem ‚Staubkorn‘ Mensch wird wieder ein ‚Überflieger‘, wenn man ontologisch begriffen hat, dass der Mensch das einzige uns bekannte Lebewesen ist, das diese ganze Entwicklung und seine eigene Stellung in diesem kosmischen Geschehen wissen, erforschen und beeinflussen kann. Dann stimmen die Proportionen wieder. Aus historischer Perspektive muss man dem Menschen auf diesem Planeten eine dominante Stellung einräumen. In kosmisch kürzester Zeit hat er ihn so umgestaltet und sich zum Mitspieler in so komplexen Systemen wie Klima und Umwelt gemacht, dass wir vom Anthropozän sprechen können: dem Erdzeitalter des Menschen. 292 Und so, wie wir inzwischen auf die Welt schauen – ob mit den Augen der Wissenschaft, der Kunst, der Philosophie, aus der Perspektive obskurer Theorien über Weltverschwörungen oder der vielen Weltbilder, die aus Religion, Esoterik und silicon valley entstehen –, in all diesen Blickfeldern erscheint der Mensch als Mittelpunkt, meist in einem komplizierten Beziehungsgeflecht aus Tätern und Opfern. Aus Homers Seefahrergeschichte des Odysseus wurde Hegels Phänomenologie des Geistes und wahrscheinlich wird das nächste Menschheitsepos, eine Raumfahrergeschichte Prometheus 2.0, von einem Cyborg im Jahr 2200 irgendwo im Weltall verfasst. Zu diesem Befund passt die Bezeichnung Anthropozentrismus. Evidenzen lassen sich aus der Anthropologie, der Sprachwissenschaft und auch aus einer heute eher verstaubt wirkenden Disziplin wie der Ontologie gewinnen. Zusammen mit den ehrwürdigen Ideen der Vernunft (Logos) und der Freiheit, in die sich ebenfalls die https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/38-grad-in-werchojansk-hitzewelle-undbraende-in-sibirien-100.html (letzter Zugriff am 17.10.2020). 292 Vgl. Wikipedia: Anthropozän.

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IV Schluss

antiken Ideen des Guten (eudämonia), des Gerechten und des Schönen einfassen lassen, ist also auch heute der Hms kaum abweisbar. „Wissen ist Macht“ (scientia potestas est) war Francis Bacons empiristisch-aufklärerischer Slogan Anfang des 17. Jahrhundert – und er stimmt. Dass wir andererseits auch wissen, dass wir nicht alles wissen, also nur über eine docta ignorantia (Cusanus, 1440) verfügen, ist ebenso aus sokratischer Zeit bekannt wie die Tatsache, dass wir immer weiter in die ‚Geheimnisse‘ der Natur eindringen und in ihr wie in einem Buch lesen können. Vieles Wissen ist auch fallibel, wir können irren. Was der Mensch weiß und kann, hat er im Verlauf seiner Entwicklung bis heute im Guten wie im Schlechten bewiesen. Sein Aktionspotential ist ebenso konstruktiv wie destruktiv. Es zeigt sich, dass die alten Diskussionen – die schon in Platons Dialogen um das Wissen, das Herstellen und die Tugend kreisten, womit das technische vom ethischen Wissen unterschieden und danach gefragt wurde, wozu man das Wissen einsetzt –, dass deren Grundfrage immer noch aktuell ist. Wenn Platon durch sein alter ego Sokrates gegen die Sophisten das Gute als höchste Idee und Tugend, nämlich das Gutsein des Menschen, behaupten lässt, hat er selbstverständlich Recht, wenn er damit meint, man könne für sich, die Seinen und überhaupt für alle Menschen doch nichts Schlechtes wollen. Das wäre in der Tat absurd. Aber was ist das Gute, das Gutsein? Diese Frage, eine Wesensfrage, bleibt philosophisch bis heute unbeantwortet.293 Es ist das Wissen um diese Unbestimmtheit, das Nichtwissen des Gutseins in einem allgemeinen Sinne, das trotz immerwährenden gemeinsamen Diskutierens über diese und andere Fragen des Lebens keinen Abschluss findet und, wie ich meine, auch nicht finden kann. Es gibt zwar immer eine doxa, eine sozial bzw. kulturell anerkannte Ansicht über das, was gut und richtig ist. Ohne einen solchen normativen Überbau könnte keine Gemeinschaft bestehen. Aber es wäre vermessen, würde irgendwer hier irgendeine ‚materiale‘ Wahrheit über das Gute verkünden.294 Da sich Vgl. hierzu ausführlich (Wolf 1996). Allgemein kann man ja sagen, dass Werte, Tugenden oder Normen in einer agrarischen, auf Subsistenz basierenden Gesellschaft andere sein müssen als in einer industriellen, auf Wachstum angewiesenen; im Übergang zur postindustriellen Gesellschaft mit einem dynamischen Strukturwandel gilt das in fast allen Bereichen. Dennoch kann man gewisse Werte, die im weitesten Sinne auf Selbsterhaltung zielen, und zwar bei uns Menschen wie unserer Umwelt, als universal ansetzen. Es entstehen dann zwar Paradoxien, die aber nicht notwendigerweise in Dilemmastrukturen enden. So zum Beispiel das Bewahrende

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IV Schluss

unsere Lebensbedingungen und wir selbst uns permanent ändern, müssen wir jeweils neu über diese Fragen nachdenken und verständigen. Nimmt man die Frage nach dem guten Leben als einen integralen Bestandteil des Hms auf  – denn wer anders als der Mensch sollte sie stellen und beantworten können –, so steht man vor einem praktischen und nur mittelbar theoretischen Problem. Dann spielen das aktuelle soziale und zeitgeschichtlich-politische Umfeld, der kulturelle Hintergrund und die jeweilige Lebenswelt eine zentrale Rolle. Wir sind alle Kinder unserer Zeit, wie Hegel einmal bemerkte, und die Philosophie ist diese jeweilige Zeit in Gedanken gefasst. Was gleichwohl als zeitüberdauernde Erfahrung und Aufgabe bleibt, ist frei und doch bestimmt, autonom und zugleich verbunden einen für alle Menschen und seine Mitwelt gemeinsamen Lebensraum zu schaffen. Darin sollte sich das Individuum frei entfalten können, weil es um seine Abhängigkeit von den anderen und der Natur weiß.295

Abb. 25 L’Atmosphère – koloriert

im Nachhaltigkeitsprinzip einer dynamischen Wachstumsökonomie, die von fossiler auf regnerative Solarenergie-Nutzung umstellen muss. 295 Das klingt leicht idealistisch und sozial-romantisch, ist es aber nicht. Ich verweise noch einmal auf die Corona-Krise. In hochkomplexen Gesellschaften sind wir abhängig vom Ineinandergreifen hochspezialisierter Funktionssysteme aus Ökonomie, Politik und Gesellschaft sowie einer Lebenswelt, die auf sozial-integrative Mechanismen angewiesen ist, die ihr vonseiten der Kultur bereitgestellt werden (Werte, Normen, Praktiken, Traditionen, Weltbilder, Wissenschaft, Kunst, Philosophie).

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IV Schluss

Was bleibt von Protagoras? Da ist vor allem der Mensch mit seiner anthropologischen Sonderstellung im Kosmos, der geordneten Welt, die er nach seinem Maß erkennen und verändern kann. Die moderne Kosmologie dagegen legt ein eher geordnetes Chaos oder eine chaotische Ordnung nahe, wenn man die Relativitätstheorie und Quantenmechanik als physikalische Grundierung der objektiven Realität akzeptiert. Damit wird die angeblich so strenge, mathematische Naturwissenschaft selbst Metaphysik, weil wir sinnlich und mit unserem Alltagsverstand die theoretischen Modelle der Wissenschaftler nicht mehr verstehen und nachvollziehen können. Naturwissenschaftlich können wir unsere kulturellen Leistungen ohnehin weder erklären noch verstehen, weil die Sinnkategorie auf kausale Naturgesetze nicht anwendbar ist. Wenn im analytischen Teil die Sprache als Maß herausgestellt wurde, so ist darin die Vernunft eingeschlossen, das heißt der Übergang vom animalischen zum menschlichen Organismus. Wahrnehmung und Denken verschmelzen im Handeln zu einer Einheit kausaler und intentionaler Art. Das sprachliche Zeichen verbindet kraft seiner inhärenten Doppelnatur, dem sinnlichen Signifikanten und dem noetischen Signifikat, die Sprecher/Hörer in ihrer gleichfalls doppelten Zugehörigkeit zur Welt der Natur (Dinge; Körper, Leib) und des Geistes (Symbole; Selbstbewusstsein) im kommunikativen Handeln zu identischen, aber auch autonomen Subjekten (Ich-Identität). Der Referenzbegriff, mit dem primär der nicht-sprachliche Bezug im Zeichen herausgehoben wird, sichert den „Weg aus dem Fliegenglas“, den wir immer zeigend und handelnd offenhalten können. Zu den Dingen, den chremata, sind auch die faits sociales, die Institutionen der sozialen Welt gekommen, die wir über die Sprache in unsere symbolische Welt aufgenommen haben. Hier finden die allermeisten Mystifikationen statt, die undurchschaut als Verdinglichungen das kollektive Bewusstsein der Menschen geprägt haben. Dies betrifft alle religiösen Vorstellungen von transzendenten Mächten, die kosmologische und soziologische Ordnungen stiften und beherrschen; sie führen weiter in die von uns Menschen gemachten Ordnungssysteme der Ökonomie und Politik, denen ideologische Diskurssysteme Legitimation über Erzählungen (Narrative) und Argumentationen lieferten. Die Gesellschaft ist ebenso unser Produkt wie wir Produkte der Gesellschaft sind. Diese Wechselwirkung gilt auch für unsere Weltbilder und ‑anschauungen, Ideologien und Wissenssysteme. Wir erschaffen sie, aber sie prägen uns auch. Aufklärung hieß einmal, den Produktionsprozess der Mythen, die uns mit ihren Bildern gefangen hielten, zu durchschauen, sie durchsichtig zu machen als unsere eigenen 254

IV Schluss

Fantasiegebilde. Sie wirken auch heute noch in den antiken Sagen nach, werden in Film und Kunst weitererzählt und verarbeitet, haben sich in wissenschaftlichen Terminologien und der Psychologie verankert und sind so lebendig geblieben, obwohl die Götter längst verschwunden sind. Nachdem Nietzsche auch den Tod Gottes erklärt hatte, verbreitete sich der neue Mythos vom Nihilismus.296 Er vergaß in seiner postmodernen Spielart den Menschen, der im Subjektbegriff gleich mit abgeschafft werden sollte, obwohl doch Zarathustra den neuen, den Übermenschen beschworen hatte. Welch ein Irrtum.297 Zu was der ‚neue, gottlose‘ Mensch fähig war und ist, zeigen destruktive und konstruktive Werke im 20. Jahrhundert gleichermaßen. Es kann gut sein, dass wir Anfang des 21.  Jahrhundert an einer Zeitenwende stehen. Viele neue bahnbrechende Entwicklungen der Menschen sind in Krisenzeiten entstanden, und von Krisen ist seit dem Millenium oft die Rede. Die großen gesellschaftlichen Experimente des Kommunismus, aber auch des Kapitalismus sind gescheitert. Innerhalb von 20  Jahren  –1989 Fall der Mauer, 2008 Finanzkrise, 2010 ‚arabischer Frühling‘  – zeigt sich der Weltöffentlichkeit, wie relativ geräuschlos, jedenfalls ohne direkte Kriegshandlungen, große Systeme kollabieren. China geht mit seinem kommunistischen Staatskapitalismus einen immer autoritärer und hegemonialer werdenden Weg. Mit Besorgnis verfolgt der westliche Teil der Weltöffentlichkeit, wie ein US-amerikanischer Präsident systematisch demokratische und multilaterale Strukturen in Zeiten zerstört, wo es gerade auf internationale Zusammenarbeit und nicht auf konfrontatives, eskalierendes Gegeneinander ankommt. Mit der aktuellen Corona-Krise drängt sich neben dem Menschen als Verursacher von Krisen die Natur wieder in den Vordergrund. Gleichwohl wird von wissenschaftlicher Seite ein Zusammenhang zwischen ent „Denken wir den Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: »die ewige Wiederkehr«. Das ist die extreme Form des Nihilismus: das Nichts (das »Sinnlose«) ewig!“ (Nietzsche 1972: SA IV, S. 445). 297 Als locus classicus gilt Michel Foucaults letzter Satz in seiner Archäologie der Humanwissenschaften Die Ordnung der Dinge, mit dem er darauf wettet, „daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“ (Foucault 1971: S.  462) Ein paar Sätze davor merkt er an: „Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende.“ Man muss schon sehr in der Metaphernwelt des Diskursuniversums verfangen sein, um solche Sätze zu produzieren. 296

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IV Schluss

hemmter Wirtschaftsweise im globalisierten Maßstab und erhöhtem Risiko von Pandemien festgestellt. Also ist auch hier wieder ein anthropogener Faktor am Werk. Unbestreitbar ist sein Einfluss im Bereich der Technik und Technologie. Was uns an bio- und anthropotechnischen Erkenntnissen an den Schnittstellen von Mensch und Genom oder Maschine noch bevorsteht, was uns die Optimierung des besitzindividualistischen homo oeconomicus über Algorithmen noch bescheren wird, können wir allenfalls mutmaßen. Wie können wir uns neu orientieren? Welche Weichen müssen wir heute stellen, damit wir morgen in die richtige Richtung fahren? Was müssen wir tun, was sollten wir lassen? Vor allem: Taugen Demokratie und Marktwirtschaft noch als Lösungen für politische und ökonomische Probleme? Die folgenden Reflexionen sind keine Antworten auf diese Fragen, denn dazu wäre ein neues Buch zu schreiben mit vielen Autoren. Sie verstehen sich mehr als Denkanstöße, umspielen noch einmal den Ausgangspunkt des Hms und versuchen, basierend auf den analytischen Erträgen, eine Art Schlussvariation über die Themen Vernunft und Freiheit. Mit der Entwicklung der Stadtstaaten (polis) zur Demokratie wuchs der Bedarf an ausgebildeten Volksvertretern, die sowohl tüchtig (gerecht, tapfer, maßvoll, klug) im Sinne der geläufigen Tugenden als auch beredt und überzeugungsstark waren. Was für die Aristokraten vollkommen selbstverständlich war, eröffneten die Sophisten auch den nicht-aristokratischen Bürgern der Polis, also der Mehrheit. Eine wichtige Grundeinsicht lag dem Erziehungs- und Bildungsgedanken von Anfang an zugrunde: dass die Tugend der Besonnenheit, der Einsicht, in der sich Denkund Urteilsfähigkeit bündeln, prinzipiell jedem Menschen natürlich gegeben ist. Diese wiederum basiert auf dem Logos, genauer dem ‚logon didonai‘, der Fähigkeit zum Rechenschaft ablegen, womit gemeint ist, dass sich Menschen gegenseitig ihre Denk- und Handlungsweisen erklären, rechtfertigen und begründen können. Die Sprachfähigkeit ist also das zweite Merkmal, das den Menschen nicht nur vom Tier unterscheidet, sondern das jedem Menschen ohne besondere Ausbildung zukommt. Allerdings, und hier setzen die ersten Bildungseinrichtungen der Antike in Athen an, bedarf es der systematischen Unterrichtung und Förderung dieser Fähigkeit. Dieser Gedanke der ererbten Fähigkeiten, die allen Menschen eignen, die aber durch Unterrichtung und Bildung entwickelt werden müssen, prägt noch die Bildungsdiskussion der Aufklärung und findet in Wilhelm Humboldt ihren

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IV Schluss

­ rominentesten und wirkmächtigsten Vertreter.298 Weiterhin kann man die Prop fessionalisierung der Bildung den Sophisten zuschreiben: Platons Vorwurf der Käuflichkeit ist fadenscheinig, denn als Dienstleistung ist sie so gut wie jede andere techne – und hat nicht Aristoteles den Alexander am makedonischen Königshof gegen Entgelt unterrichtet, bevor er nach dessen Thronbesteigung 340 v. Chr. wieder zurück nach Athen geht, um mit Theoprast, seinem späteren Nachfolger, eine eigene Schule im Lykeion zu gründen, dem späteren Peripatos? So unterschiedlich sonst auch die Begabungen und Talente verteilt sind, um in den einzelnen Künsten und Berufen erfolgreich sein zu können, so ist doch die Urteilskraft, aus der sich die Klugheit herleitet, im Wesentlichen ohne spezielle Ausbildung erreichbar. Sie wird wie die Sprache, deren Erwerb auch keine besondere Intelligenz erfordert, nebenher und gleichsam von selbst durch Erfahrung, Beispiele und Vorbilder angeregt und geschult. All dies geschieht in alltäglichen Vollzügen lebensweltlicher Praktiken, was man soziologisch als ‚primäre Sozialisation‘ bezeichnet. Das schließt nicht aus, dass man sowohl die Sprache wie auch das Urteilsvermögen besonders fördern und perfektionieren kann. Im Gegenteil dienen die im frühen 4. Jahrhundert in Athen gegründeten Schulen des Platon (akademia) und des Isokrates (436–338) genau diesem Zweck.299 Der Begriff der Allgemeinbildung, enkyklios paideia, die kreisförmige, abgerundete Bildung, stammt aus der Sophistik. Indem für Demokratien in den überschaubaren Stadtstaaten eine Bildung für alle, eben die Allgemeinbildung gefordert werden konnte, wurde sie zu einem öffentlichen Gut, auch wenn sie nicht über eine Abgabe wie die Steuer, sondern privat entgolten wurde. Es spricht für die Güte des Unterrichts bei Isokrates, dass

Eine gute Übersicht, verbunden mit einem Plädoyer für eine Wiederentdeckung der humboldtschen Gedanken zur Bildung und seiner staatlichen Organisation, gibt Rosa Tennenbaum, „Bildung zum schönen Charakter“, auf http://www.goethe.de/wis/bib/prj /hmb/the/158/de10444028.htm, (letzter Zugriff am 17.10.2020). 299 Dabei ist die Schule des Georgias-Schülers wohl ein paar Jahre früher gegründet. Der aus einer wohlhabenden Athener Familie stammende Sophist hatte alles Vermögen im Peloponnesischen Krieg (434–404) verloren und war zu einer Erwerbstätigkeit gezwungen. Der Unterricht war auf maximal 4 Jahre beschränkt und kostenpflichtig. Zwischen beiden Schulen herrschte ein Rivalitätsverhältnis, wobei fälschlich unterstellt wurde, die Sophisten stünden für Ausbildung im Sinne einer fachwissenschaftlichen Bildung, wohingegen die Sokratiker (Platon) den allgemeinbildenden, die ganze Persönlichkeit des Menschen umgreifenden Gedanken betonen würden. 298

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er viele namhafte und erfolgreiche Absolventen hervorbrachte und später sogar als „Vater der humanistischen Bildung“ tituliert wurde300. Bildung, paideia, ist der Prozess, in dem die Humanisierung des Menschen in der Gesellschaft, in der er aufwächst, lebt und stirbt, erfolgt. Die Humanität umfasste alles, was Menschen ohne Unterschied von Herkunft, Geschlecht, Religion und Abstammung auszeichnete. Von Anfang an ging es nicht um die Bildung eines besonderen Menschen, eines Griechen oder Römers, sondern um den Menschen allgemein. Unbestritten ist, dass durch die Sophisten die Professionalisierung der Erziehung und Bildung in unterrichtlicher Schulform in Athen eingeführt wurde. Was vorher im Haus, dem oikos, oder in privaten Zirkeln und Symposien meist aristokratischer Freunde erfolgte, spielte sich nun in der Öffentlichkeit und gegen Bezahlung ab.301 Genau diese Demokratisierung von Bildung, die die Privilegierung des aristokratischen Zugangs zu Wissen und Kultur (Zivilisation) abschaffen will, trieb auch Humboldt und sein Reformwerk in Preußen ab 1808 an, gegen viele Widerstände und dysfunktionale Verwaltungsstrukturen. In Deutschland entbrannte Mitte der 1960er-Jahre, angeregt durch die Schrift Die deutsche Bildungskatastrophe (1964) von Georg Picht, eine Diskussion um Bildungsreserven, Bildungssystem, Curriculumrevision, Lerntheorien, Fragen ererbter oder erworbener Fähigkeiten etc., die neben diesen bildungstheoretischen, unterrichtspraktischen und organisatorischen Fragen die Demokratisierung der Gesellschaft im Auge hatten. Ralf Dahrendorf (1929–2009), der große politische Liberale und Soziologe, prägte mit einem Buchtitel 1965 den Slogan „Bildung ist Bürgerrecht“. Man müsste ab hier eine Geschichte der 1968er schreiben, die Jahre, in denen Studenten und Professoren öffentlich diskutierten, Protest und Kritik an überkommenen Strukturen auf die Straße gingen, die Große in eine sozial-liberale Koalition wechselte und Bildung ab 1969 ein Schwerpunkt der Politik wurde. „Mehr Demokratie wagen“ versprach Willy Brandt in seiner ersten Regierungs Werner Jaeger: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen. Band 3. Berlin 1955, S. 105f., zitiert auf Wikipedia: Isokrates. In einer Voransicht zu dem Artikel „Redekunst und Bildung bei Isokrates“ (1952) von Wolf Steidle fand ich zufällig die Bemerkung, diese Qualifizierung sei von Jaeger eher „widerwillig“ erfolgt. Der Grund: Isokrates wird sehr zwiespältig rezipiert, die Urteile schwanken erheblich, was wohl auch mit der grundsätzlichen Einschätzung der Rhetorik als Kunst bzw. techne zusammenhängen dürfte. 301 Hierzu (Held 1990: Kap. VIII und XIII), (Hoffmann 1951: Kap. V). 300

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erklärung. Dass der Reformschwung in den 1970er nachließ, sich die Hoffnungen, vor allem auf verbesserte Bedingungen für die Unterschicht, nicht erfüllten – heute noch ein immer wieder festgestelltes Manko –, ist wieder eine andere Geschichte.

Abb. 26 Bildungsgänge im deutschen Bildungssystem Alle modernen Gesellschaften haben gemäß ihrer Tradition ein öffentliches Bildungssystem geschaffen, das neben den staatlich organisierten Regelschulen und Universitäten Sondereinrichtungen zulässt. Dazu gehören Privatschulen, die kirchlich oder stiftungsrechtlich verfasst sind und zum Beispiel der Rekrutierung von Eliten dienen. Ziemlich einmalig ist das duale Bildungssystem in Deutschland, das nach einem allgemeinbildenden Abschluss – früher: Mittlere Reife, jetzt Sek I oder Fachoberschulreife (FOS)  – und dem Beginn einer beruflichen Ausbildung eine beruflich-fachliche Ausbildung sowohl im Betrieb wie in berufsbildenden Schulen vorschreibt (vgl. Abb. 26). Die Idee der Allgemeinbildung hat den Zweck, alle Bürger eines demokratischen Gemeinwesens in den Stand zu versetzen, sowohl am gesellschaftlichen Leben teilnehmen wie auch im Arbeitsleben jeden Beruf ergreifen zu können. Der idealistische Kern ist aber der individuelle Mensch, der als Subjekt seines eigenen Lebens gesehen wird, der einen klassischen Fächerkanon an Bildungsinhalten im wahrsten Sinne des Wortes durcharbeitet und verinnerlicht, sodass am Ende eines solchen Curriculums eine gereifte Persönlichkeit (Reifezeugnis!) mit einer umfassenden Bildung steht, die methodisch jeden Beruf und jedes weiterführende Studium aufzunehmen erlaubt. Gebildet ist, wer gelernt hat, sich selbst weiterbilden zu können.302 Man kann sich den Bildungsgang nicht anders denn als eine Stufenfolge von 302

Vgl. hierzu die Streitschrift (Liessmann 2014): Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung.

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Basiswissen und ‑können hin zu differenzierten, je nach Begabung und Fähigkeit passenden Spezialisierungen vorstellen. Ein differenziertes Angebot, wenn es allen prinzipiell offensteht, das heißt als öffentliches Gut zugänglich ist, garantiert eine optimale Versorgung der Gesellschaft mit gut gebildeten Bürgern und ausgebildeten Arbeitskräften.303 Ein entscheidender Aspekt bei der Organisation von Bildung, die öffentlich oder privat geregelt sein kann, ist neben der Effizienz und Qualität die soziale Integration. Das heißt, die politischen Effekte gebildeter, mündig sozialisierter Adoleszenten spielen eine genauso wichtige Rolle wie der Anspruch, ich-identische Persönlichkeiten zu formen, die ihre ‚Weiterbildung‘ dann selbst in die Hand nehmen können. Ein guter Lehrer macht sich überflüssig.304 Bildung und Demokratie sind komplementäre Begriffe. Als soziale Institutionen sind sie gleichen Ursprungs. Das eine kann ohne das andere nicht existieren und funktionieren. Die Selbstgesetzgebung, ein anderes Wort für Autonomie, verwirklicht sich nur unter Bürgern, die sich gegenseitig Rechenschaft über ihre Entscheidung, sich einem allgemeinen Willen zu unterwerfen, ablegen können. Die Unterwerfung unter frei gewählte und begründbare Einschränkungen, die mit jeder Norm, jedem Gesetz notwendigerweise verbunden ist, verlangt einen klaren Kopf. Warum beuge ich mich freiwillig unter Gesetze, die mein Handeln und meinen Gestaltungsraum einschränken? Neben dem Wissen um Ursachen und Gründe solcher legislativen Prozesse, ihre administrative Durchsetzung und das rechtsstaatlich verbürgte Widerspruchsrecht zählt die Urteilsfähigkeit. Mit diesen Kompetenzen kann jeder prinzipiell an den dafür notwendigen Diskussionen und Beratungen teilnehmen, kann jeder den Ausführungen der Experten folgen und sich ein Urteil bilden. Dies funktioniert freilich nur mit und in einer Öffentlichkeit, in der garantierte Freiheitsrechte gelten, die bewusst auch als Abwehrrechte An dieser Stelle erfolgt in der Regel eine erbitterte Debatte um Gleichheit und Gerechtigkeit im Bildungssystem. Stichworte: Individuelle Förderung, Inklusion, Digitalisierung, Elternwille, Mitbestimmung, Zentralisierung von Abschlüssen, Kompetenzorientierung, PISA etc. Da nach meiner Erfahrung hier vieles durcheinanderläuft, vor allem eine gesellschaftliche Neubewertung dessen fehlt, was in komplexen Gesellschaften noch als Bildung und Bildungsauftrag der Schule gelten kann, möchte ich dieses Thema hier ruhen lassen. 304 In diesem Topos steckt die Idee der Emanzipation (lat.: e – aus, manus – Hand, capere – nehmen → aus der Hand geben), d.h. heißt ‚Freilassung‘ in die Mündigkeit. Früher der Sklave, dann der Sohn aus väterlicher Vormundschaft und Gewalt, dann die gesellschaftliche Selbstbefreiung aus vormundschaftlichen Gewaltverhältnissen. 303

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gegen einen übergriffigen Staat konzipiert wurden.305 Wir sehen heute in der politischen Diskussion um die moralische und rechtliche Verantwortung der Betreiber sozialer Medien, wie eminent wichtig ein freier, unabhängiger und professioneller Journalismus ist, und was eine seriöse Berichterstattung in Krisenzeiten wert ist. Ein Grundproblem bleibt: Komplexe Gesellschaften verlangen für das Verständnis der Prozesse in ihren Funktionssystemen (Wirtschaft, Recht, Verwaltung, Erziehung und Bildung, Wissenschaft etc.) ein komplexes Wissen. Wer aber kann die komplizierten Wege allein der politischer Beratung mit all den verrechtlichten Ebenen der Institutionen und Rekrutierungsmechanismen auch nur halbwegs verstehen, wenn er sich nicht täglich aus den Medien und über möglichst konträre Quellen informiert? Für viele ist das gewiss eine Überforderung und entspricht auch nicht ihrer Motivlage. Dennoch engagieren sich erstaunlich viele Bürger auf kommunaler, bürgerschaftlicher oder ehrenamtlicher Ebene.306 Und dies erfordert sicherlich auch sachliche Kompetenzen. Die Beteiligung an öffentlicher Kommunikation (Bürgerinitiativen, Vereine, Parteien, Leserbriefe, kommunale Ehrenämter etc.) und spezieller an einem öffentlichen Gespräch über das gute Leben (Medien) steht jedem offen, hängt aber von einigen entscheidenden Faktoren ab. Was Kant in seinem Aufsatz über die Aufklärung (1784) als Mündigkeit bezeichnete, ist nach wie vor der zentrale Punkt, auch wenn er diesen Begriff kritisch in seinem negativen Sinn verwendet: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude!“307 Er meint damit das Selberdenken, was Hegel als tautologisch ironisierte. Neben dem Interesse spielen Lebenserfahrung (common sense, gesunder Menschenverstand) und Bildung entscheidende Rollen. Damit kommen die Ideen der Sophisten und vieler Der Hegelbiograf Vieweg lädt dazu ein, einige Texte des Philosophen vor dem Hintergrund der damals üblichen Pressezensur und des Denunziantentums zu lesen. Das ist eine hermeneutische Herausforderung. 306 Die offizielle Website des Innenministeriums dazu https://ehrenamt.bund.de/ spricht auf ihrer Startseite von 31  Millionen Menschen, die sich in ihrer Freizeit „für das Gemeinwohl“ engagieren. 307 Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, AA VIII, S. 35. 305

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Philosophen und Denker zum Zuge, die Vernunft und Sprache als ein für jedes Individuum vorhandenes, aber zu förderndes Gut im Sinne des Guten, des Gutseins, also eines Vermögens des logon didonai, des Rechenschaft Gebens, entworfen und verteidigt haben. Diese Förderung des Logos, der Vernunft und der Sprache, nennt unsere Kulturgeschichte ‚Bildung‘.308 Autokratien betrachten Bildung und Öffentlichkeit strukturell als Risikofaktoren. Die NS-Diktatur förderte nicht den Geist, sondern formte den Körper zu einer willenlosen Maschine, die „hart wie Kruppstahl“ sein sollte. 309 Die geistige Elite, zu einem Gutteil jüdischer Herkunft, ging ins Exil, wurde ermordet oder wählte den Suizid. Faschistische Staaten bauen auf militaristische Werte, die den Körper voll in Dienst nehmen und den dressierten Geist auf das kritiklose Entgegennehmen von Befehlen, Anordnungen und Propagandalügen drillen. „Führer befiehl, wir folgen Dir.“ Dem entspricht ein klares Hierarchie‑, aber auch ein Freund-Feind-Denken und es hat eine völlige Selbstaufgabe des individuellen Subjekts zur Folge. Vom Geist der Aufklärung, die den selbstdenkenden, mündigen Menschen will, bleibt da Auf eine differenzierte historische Darstellung des Begriffs und seiner Konzeptionen möchte ich hier verzichten. Dabei fallen vor allem die theologische Interpretation aus der Ebenbildlichkeit Gottes (imago dei) im Mittelalter und die Rolle der Buchdruckerkunst zur Verbreitung von humanistischen Bildungsbüchern (Erasmus von Rotterdam) während der Renaissance weg. Ebenso die Besinnung im 17. Jahrhundert darauf, Pädagogik vom Kind her zu denken (Comenius), dessen Eigenwert allerdings erst J.-J. Rousseau und Maria Montessori hervorhoben. Ohne Frage spielt für Deutschland Wilhelm von Humboldt die entscheidende Rolle, mit dem Bezeichnungen wie ‚humanistische Bildung‘ und ‚humanistisches Gymnasium‘ eng verbunden sind. Generell verweise ich auf (Rehn/Schües 2008) und darin vor allem auf den Beitrag von Herbert Schnädelbach „Bemerkungen über Philosophie und Bildung“, S.  52–62. Zur aktuellen Bildungsdiskussion stellt die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) auf ihrer Internetseite ein „Dossier: Bildung“ zusammen, https://www.bpb.de/gesellschaft/bildung /zukunft-bildung/, (letzter Zugriff am 28.07.2020). 309 So Adolf Hitler in einer Rede anlässlich des Reichsparteitags in Nürnberg 1935 zu 50000 Hitlerjungen. Das neue Männlichkeitsideal lautet im rhetorisch einprägsamen Dreischritt „flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl“. 1933 war die Hitlerjugend (HJ) einziger staatlich anerkannter Jugendverband mit über 8 Millionen Mitgliedern geworden. Die berüchtigte Rede im Sudetenland 1938 vor jubelnden Jugendlichen endete nach einer unverblümt zynischen Aufzählung der Organisationen von der HJ bis zur Wehrmacht mit dem Satz: „…  und wenn sie zurückkehren, dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort wieder in die SA, SS und so weiter, und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben! (Beifall).“ , Wikipedia: Hitlerjugend. 308

262

IV Schluss

nichts übrig. Eine Gesellschaft, ein Staat, der seinem Nachwuchs oder bestimmten Gruppen den Zugang zu Bildung verwehrt oder erschwert, führt prinzipiell nichts Gutes im Schilde. Oft habe ich mich während der Niederschrift dieses Essays, dem ja das Suchende und Entwerfende als Textsorte eigen ist, gefragt, was der Titel ‚eigentlich‘ besagt oder welche Gedanken und Vorstellungen er bei anderen Menschen, dem Leser etwa, auslöst. Vermutlich wird er besonders für religiös eingestellte Personen immer noch eine Provokation darstellen; andere werden denken, der Mensch soll sich mal nicht so wichtig nehmen, es gibt Größeres. Das ist alles nachvollziehbar. Aber trifft es auch den Sinn des Satzes? Immer wieder war ich erstaunt, wenn ich bei genauerer oder beiläufiger Lektüre auf Sätze stieß, in denen als eine Art Quintessenz ein ganzes Denkgebäude oder Theorieprogramm letztlich auf den Menschen fokussiert wurde, der dann wie im Brennglas als dasjenige sichtbar werden sollte, wofür sich der Autor so ins Zeug legt. Zum Abschluss zwei Zitate aus einem Gespräch, das unter dem Titel „Trotzdem“ erschienen ist. Alexander Kluge, geb. 1932, und Ferdinand von Schirach, geb. 1964, unterhalten sich in einem großen Bogen über die Verhältnismäßigkeit von Einschränkungen während der Corona-Krise, über historische Katastrophen und Pandemien, Wissenschaft und Literatur und darüber, wie bei allem Schlimmen, was es gab und gibt auf der Welt, es doch Hoffnung gäbe, eben dieses Trotzdem, denn „wir [leben] in Wirklichkeit ja trotz aller Gefährdungen heute besser als alle Generationen vor uns.“ Und dies verdankten wir der Wissenschaft und nicht einem „gnädigen Gott“. Die angekündigte Textstelle bezieht sich auf die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno, deren Eröffnungssätze Schirach zitiert, um zu verdeutlichen, dass durch den Gebrauch der Vernunft nicht nur Gutes in die Welt kommt: „Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt.“ Soweit das Zitat, und Schirach fährt nun unmittelbar fort: „Entschieden ist dadurch nichts. Es geht, wie immer, um das richtige Maß, um die Mitte. Ob Gott gnädig ist oder nicht, ob es ihn gibt oder nicht – es spielt keine Rolle. Es ist der Mensch, der Sinn fordert. Nur um ihn geht es, nicht um theologische und philosophische Begriffe.“310 310

(Schirach und Kluge 2020: 55f.).

263

Register Achsenzeit 73, 197, 249

BERKLEY 106

ADORNO 34, 48, 148, 262

Besonnenheit 14, 28, 55, 57, 62, 174, 256

Akkomodation 72

Bildung 8, 14, 18, 21f., 24, 27, 155, 157f., 176, 215, 229, 232, 244, 256–263

aletheia 101, 187

Bildungskatastrophe 258

Allgemeinbildung 22, 257, 259

BLUMENBERG 138

Alltagswelt 217f.

BOGHOSSIAN 148

animal rationabile 59

BÜHLER 56, 78, 81, 96ff., 117f., 131

animal rationale 59

CARNAP 99, 141

Anthropozän 250

CHOMSKY 70, 71, 78, 84, 89, 108, 113f., 129, 190, 199, 202

Anthropozentrismus 14, 17, 250 Aporetik 26

chorismos 119

arbiträr 93

chremata 4, 30ff., 139, 251, 254

Arbitrarität 96, 117, 195

CICERO 188

ARENDT 51, 152, 154 ARISTOTELES 7, 19, 23f., 34, 38, 44, 50, 66, 77, 88, 98, 113, 119, 123, 127f., 139f., 142ff., 149, 153, 155, 180, 188, 195, 203, 209, 279 Artikulation 110, 193

conditio humana 52, 80, 245, 250 DAHRENDORF 228, 258 DAMASIO 116 DARWIN 49, 61, 183, 249 Datenreport 155, 219

Asebie 21

DAVIDSON 84, 87, 122

Assimilation 72 Aufklärung 18, 21, 28, 48, 197, 234, 254, 256, 261ff. AUGUSTINUS 50

Denotation 99, 118 DERRIDA 52, 90 DESCARTES 50, 58, 195, 245 deus sive natura 153

AUSTIN 78, 88, 127

DIOGENES LAERTIUS 25, 29, 42

Autopoeisis 73 BARTHES 93, 138

Diskurstheorie 14, 128, 132

Bedeutung 67, 78, 80ff., 87, 90f., 93ff., 99, 101, 107, 109ff., 115–137, 190, 193

doxa 32, 88, 203, 217, 252 Dreißig Tyrannen 21

BERGER/LUCKMANN 217, 219, 232

DUMMETT 121f.

264

Register

DUX 72, 182

GEHLEN 50, 52, 56, 60, 65ff., 73f., 242

dynamis 152, 158f.

Geist 15, 45, 51f., 58, 67f., 73, 77, 103, 126, 141f., 149, 156, 160, 170, 190, 195, 199f., 208, 262

EDER 70 EILENBERGER 197 Emanzipation 47, 58, 192, 242, 260

generative Transformationsgrammatik 79, 108, 111

Emergenz 107, 167, 182

Geworfenheit 147

energia 152

GOETHE 55, 225, 227, 257

enkyklios paideia 22, 257

GOFFMAN 220

entelechia 152

GORGIAS 24, 28, 128

Entelechie 180, 183

GORZ 184

Entlastung 64f., 212, 223

GÖTTERT 177

episteme 19, 88, 128, 203, 217

gramma 78

epoché 26

Grenze 37, 48, 52, 62f., 75, 190, 213

ergon 105, 152

HABERMAS 9, 14, 23, 48, 50, 70f., 79, 120f., 124, 128, 131ff., 152, 154, 157f., 184, 190, 217f., 227ff., 238

ERIKSON 229, 241f. Esoterik 23f., 251

HAMPE 248

esse est percipi 106

HARARI 9, 54f., 79, 210, 249

Existentialien 147 Existenz 30, 35, 64, 68, 84, 98, 100f., 103– 106, 119, 131, 140, 143ff., 162f., 165, 169, 171, 182f., 208, 216, 227, 232, 246 Exzentrität 63

HEGEL 17, 27f., 33, 39, 42–60, 73f., 88f., 96, 102, 104f., 109, 113f., 137f., 140–146, 149, 153f., 160, 164, 180–197, 200, 204, 207– 211, 220, 228, 234, 245, 247, 253, 261

FEUERBACH 49–52, 60, 160

HEIDEGGER 7, 51f., 60, 74, 88, 139f., 143– 152, 167, 187, 197, 217

FICHTE 207f., 245ff.

HERAKLIT 42, 45, 165, 187f.

FREGE 84, 99, 115, 121, 130

HERDER 47, 55–58, 62, 142, 204, 207, 242

FREUD 50, 60, 137, 168, 202, 229f., 240ff.

HITLER 262

FRIEDELL 20, 25, 34

homo faber 60, 74, 205

FROMM 67

homo oeconomicus 157, 205, 210, 256

Fulguration 167

homo sapiens 60f., 73f., 80, 249

Fundamentalontologie 147

homo sociologicus 228

GABRIEL 104, 106, 140f., 187

HORKHEIMER 48, 148, 184, 263

GADAMER 142, 168

Humanität 53, 58, 134, 258

Gebrauchstheorie der Bedeutung 121

HUMBOLDT 108, 142, 190, 256, 258, 262

265

Register

HUME 122, 195, 202

langage 89, 95

HUSSERL 63, 217

langue 68, 89f., 94, 100, 108, 112

hypokeimenon 30, 152

LAOTSE 192

Ich-Bewusstsein 72

Lebensform 15, 71, 170, 212f., 218f., 224, 234

Identität 71, 78, 92, 103, 140, 144, 153, 164, 172, 177, 199, 208, 225ff. immanente Transzendenz 13, 66f. Individualisierung 58, 172, 181, 183, 195, 212, 225 Institutionen 38, 53, 63ff., 71ff., 81, 106, 124f., 134, 158, 171, 175, 182, 191, 212, 220, 228f., 231ff., 242, 254, 260f. Intentionalismus 121

Lebenswelt 12f., 16, 20, 27, 40, 48, 58, 63, 124, 133, 138, 140, 162, 170, 176, 182, 214, 216–224, 251, 253 LEIBNIZ 122, 195, 225, 228, 244 LEONARDO DA VINCI 7 LEPENIES 48 LEVI-STRAUSS 67f., 210 Lexem 111

ISOKRATES 24, 275f.

LICHTENBERG 199

JAEGGI 219

LOCKE 45, 228

JAKOBSON 67, 77, 92, 110

logon didonai 132, 256, 262

Jemeinigkeit 147 KANT 32, 41f., 44, 47, 50ff., 58ff., 72, 88, 104, 106, 113, 126, 141, 143, 149, 178, 180, 184, 187, 190–200, 202, 206f., 209, 228, 245f., 261

logos 27, 45, 61, 66, 88, 136, 140, 142, 183, 187f., 190, 256, 262

Kategorien 9, 31, 44, 72, 88, 97, 103, 106, 109, 113f., 126, 139ff., 144, 146f., 153, 180, 189, 194, 196, 199f., 206, 215, 227

LORENZ, KONRAD 167

KOCH 141, 145, 156, 227

Logozentrismus 188 LORENZ, KUNO 78 LORENZER 239

KOHLBERG 70f., 230

LUHMANN 70, 82, 124, 142, 183, 214, 217, 220

Kompetenz 28, 59, 68, 70ff., 80, 84f., 89, 95, 100, 108, 111, 129, 133, 152, 159, 171, 184, 187, 196, 205, 222, 227ff., 234f., 260f.

Mäeutik 22

Konnotationen 116, 149, 193 Kosmos 39, 187, 233, 254

LYONS 99ff., 117ff., 123 Mängelwesen 56, 64, 73 MARTINET 111

KREIS 114

MARX 4, 10, 13, 31, 34, 36, 50, 53, 60, 64f., 69, 76, 103, 137, 155–160, 172, 183, 206, 209, 214, 229

KRIPKE 84, 131

MATURANA 70

Kulturwesen 64f.

MAUTHNER 29, 144f., 199

LACAN 239, 243

MEAD 65, 71, 73, 79, 124, 226, 229

Lallperiode 110

Mesotes-Lehre 38

Kratylos 94, 117

266

Register

Metamorphose 153, 165, 240

Persuasion 128

methexis 119

phone 77

MICHELANGELO 49, 152

Phonem 94, 96, 110f., 244

Minimalpaarbildung 110

Phoneminventar 110

Morphem 95, 111

physis 27, 35, 47, 75, 88, 94, 168, 188

Mündigkeit 232, 241, 260f.

PIAGET 70, 72, 202, 242, 230

MURDOCH 67

PICO DELLA MIRANDOLLA 58

NAGEL 149

PLATON 7, 19, 21, 23f., 27f., 30, 33, 35, 42, 44f., 50, 66, 77, 94, 117, 128, 144, 188, 192, 195, 205, 252

natura naturans 153 neolithische Revolution 73, 251 Nichts 42, 94, 96, 135, 143, 145ff., 161–169, 237, 255 NIETZSCHE 50, 67, 134, 137, 167, 179, 191, 206, 255

PLESSNER 52, 56, 60–63, 73 poiesis 31, 35, 70, 152, 154, 158, 160 polemos 187 polis 18, 21, 24, 154, 203, 256

Nihilismus 67, 166f., 255

Positionalität 56, 62, 73

Nirwana 169

Prädikation 17, 30, 83, 136, 139, 227

Nominalismus 117, 119

pragma 34, 98

Nondualität 192, 198

pragmata 77, 190

nous 61 oikos 154, 258 Opposition 110 Organonmodell der Sprache 90, 98 ORWELL 157, 191 ousia 119, 144 paideia 258 paradigmatisch 111 PARMENIDES 29f., 35, 144, 165, 188 parole 68, 90, 94f., 100, 108 PARSONS 70, 71 Peloponnesischer Krieg 21 Perfektibilität 57, 59, 219 Performanz 68, 89, 95, 100f. Personsein 61f.

prima philosophia 61, 66, 171 principium identitatis indiscernibilium 225 Prinzip der Ausdrückbarkeit 109 Prinzip der Isosthenie 26 Produktionsidealismus 247 Propriozeption 227, 237 PROTAGORAS 7f., 13f., 16, 19, 25–30, 35, 42–45, 174, 251 PUTNAM 122 PYTHAGORAS 23 quid facti 245 quid juris 245 QUINE 122, 139f. Realisten 117 Realität 41, 66f., 100, 102, 115, 159, 162, 180, 189, 201, 203, 215, 241, 254

267

Register

Referenz 17, 84, 94, 98–107, 115, 118, 120, 122f., 125, 131, 136, 190, 193f. REHN 21, 262 Reizüberflutung 64f.

Signifikat 91, 94, 99, 102, 254 Sinn 30, 33, 67ff., 72ff., 99, 103, 107, 115ff., 124f., 130, 138, 142, 159, 167, 171, 184, 186, 191, 208, 237, 255, 261, 263 Sinnfeld 104, 106

Relativismus 20, 32f., 104, 162, 232

Sinnfeldontologie 104, 141, 148

res cogitans 141

SMITH 36, 38, 69

res publica 205

social credits 156

Rhetorik 21f., 88, 127f., 136, 138, 258

social scoring 156

Rolle 52, 171, 220ff., 232, 243

SOKRATES 8, 14, 19, 21ff., 27f., 31, 42, 117, 203, 252

RORTY 121ff. ROSA 55 RUSSELL 21, 23, 25, 83f., 99

Sophisten 18–28, 35, 46, 49, 58, 88, 128, 174, 203, 251, 256ff., 261

SARTRE 74, 184, 248

sozialer Wandel 70

SAUSSURE 4, 68, 78, 87, 89–96, 98f., 108–118, 195

SPINOZA 50, 122, 153, 195

SCHELER 60ff., 73, 217

Sprache passim

SCHMITZ 31, 46, 227

Sprechakte 77, 82, 88, 111, 127, 131f., 171, 219

SCHNÄDELBACH 50, 143, 187f., 227, 262

STEGMÜLLER 144, 147

Scholastik 98

Stoa 98, 188

SCHOPENHAUER 50, 52, 60, 67, 154, 165, 188, 241

Strukturalismus 67, 90, 115

SCHRÖDINGER 236, 242

Subsidiarität 178, 212 Symbol 56, 66, 77, 81, 87, 92, 98f., 124f., 136, 138, 171, 194, 197, 207, 222, 226, 254

SEARLE 70f., 77f., 109, 128 Sein 7, 13, 20f., 30, 42ff., 61f., 68, 74, 77, 96f., 102, 105, 136, 139–149, 151, 153, 162–169, 182, 188ff., 195, 228, 241, 247

symbolischer Interaktionismus 79 symbolon 77, 98

Selbst 49, 147, 211, 219, 226ff., 232, 237, 239

Symptom 98

Selbstbewusstsein 63, 208, 225ff., 236, 239, 245, 254

syntagmatisch 111 Syntaxtheorie 78

Semantik 87, 100, 112f., 115ff., 121, 125f., 193 SEXTUS EMPIRICUS 42

System 9, 36f., 42, 68, 70f., 78, 89f., 92ff., 107–113, 118, 126, 133, 138, 153, 160f., 165, 170, 177, 181, 183, 188, 191, 194, 200, 212, 214, 227f., 239, 245

Signal 66, 98

Systemtheorie 80, 160f., 191

Signifikant 87, 91ff., 99, 105, 107, 114, 143, 145, 193, 254

Temporalität 72

Semeologie 108f.

268

Register

thesis 88

VORLÄNDER 21

Toleranz 213

Wahrheit 7, 23f., 32f., 43, 45, 52, 67f., 82ff., 87f., 101f., 115, 117, 119, 122, 127f., 130ff., 144, 178f., 190f., 195, 200f., 208

totale Institutionen 220 Trieb 13, 40, 47, 61f., 72f., 75, 134, 165f., 178, 185, 205, 228, 231, 240, 242f. TUGENDHAT 66f., 144 UEXKÜLL 64 Universalienstreit 118, 211, 215 Universalisierung 58, 176, 211f., 234 Universalpragmatik 128, 131f. Unspezialisiertheit 64 VATER 99f., 117f. Vernunft passim

Warenfetischismus 69, 103 WATSON 94 WATZLAWICK 83 WEBER 48, 155, 158, 184, 214 Weltoffenheit 56, 62, 64f. Wert 34, 71, 75, 92f., 96, 99, 109, 111, 118, 125, 136, 156, 158, 220, 242 WIESER 80, 181 Wille 74, 135, 167, 191, 240

Verstand 180, 187, 194, 199ff., 206f., 261

WITTGENSTEIN 84, 88, 116f., 121, 126f., 135, 197, 200, 206, 218f.

Vita activa 154

WUNDERLICH 78, 84, 100, 114, 178, 241

vita contemplativa 76, 154

zoon logon echon 188

vitruvianischer Mensch 7, 76

zoon politikon 153, 209

Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung 155

269

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: akg-images Abb. 2: akg-images / Wartmann Abb. 3: akg-images Abb. 4: akg-images / Pictures From History Abb. 5: akg-images Abb. 6: akg-images / Erich Lessing Abb. 7: akg-images Abb. 8: akg-images Abb. 9: akg-images / picture-alliance / dpa Abb. 10: akg-images Abb. 11: akg-images Abb. 12: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons Abb. 13: akg-images Abb. 14: akg-images / Fototeca Gilardi Abb. 15: Saussure 1967, S. 78 Abb. 16: Quiethoo, CC BY-SA 3.0 , via ­Wikimedia Commons Abb. 17: Vater 2005, S. 13 Abb. 18: vom Verfasser erstellt Abb. 19: akg-images / picture-alliance /dpa Abb. 20: eigene Erweiterung der Abbildung aus Habermas 1982, S. 246 Abb. 21: akg-images / NASA Abb. 22: akg-images /Erich Lessing Abb. 23: Fernanda B. Viégas, CC BY 2.0 , via Wikimedia Commons Abb. 24: United States Geological Survey, Public domain, via Wikimedia Commons Abb. 25: akg-images Abb. 26: Andreas 06, Copyrighted free use, via Wikimedia Commons

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Terminologie Mensch

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