Was ist der Mensch?: Vier ethische Betrachtungen. Vadian Lectures Band 1 [1. Aufl.] 9783839430323

The definition of mankind has been the subject of animated discussion for millenia. Religious as well as secular account

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Was ist der Mensch?: Vier ethische Betrachtungen. Vadian Lectures Band 1 [1. Aufl.]
 9783839430323

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
»Humankapital« und der Wert des Menschen
Riskante Freiheit – Der Hang zum Bösen und seine Folgen
Zwischen Selbstverwirklichung und Selbsttranszendenz – Menschliche Selbstentwürfe und die ethische Frage nach dem Guten
Mit sich selbst befreundet sein – Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst
Autorinnen und Autoren

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Mathias Lindenau, Marcel Meier Kressig (Hg.) Was ist der Mensch?

Sozialtheorie

Mathias Lindenau, Marcel Meier Kressig (Hg.)

Was ist der Mensch? Vier ethische Betrachtungen. Vadian Lectures Band 1

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt

Einleitung

Mathias Lindenau & Marcel Meier Kressig | 7

»Humankapital« und der Wert des Menschen

Dieter Thomä | 15

Riskante Freiheit – Der Hang zum Bösen und seine Folgen

Annemarie Pieper | 51

Zwischen Selbstverwirklichung und Selbsttranszendenz – Menschliche Selbstentwürfe und die ethische Frage nach dem Guten

Dagmar Fenner | 71

Mit sich selbst befreundet sein – Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst

Wilhelm Schmid | 93

Autorinnen und Autoren | 107

Einleitung M ATHIAS L INDENAU , M ARCEL M EIER K RESSIG

Was ist der Mensch? Diese Frage begleitet die Menschheit seit Jahrtausenden und wird bis heute lebhaft diskutiert. Ein Grund dafür ist, dass wir über keine einheitliche Idee verfügen, was das Wesen des Menschen auszeichnet: »Der Mensch ist ein so breites, buntes, mannigfaltiges Ding, daß die Definitionen alle ein wenig zu kurz geraten. Er hat zu viele Enden!« (Scheler 1915: 324) Angesichts dieser Feststellung ist fraglich, ob überhaupt mehr als metaphorische Umschreibungen über die conditio humana möglich sind. Bekannt ist, dass wir über evolutionäre Anlagen verfügen, die Fähigkeit zur Reflexion besitzen und kulturell eingebettet sind. Gerade aufgrund dieses Spannungsfelds – »ein anderes als Natur und doch ein Moment von dieser« (Adorno 1975: 285) zu sein – scheint der Mensch sich selbst rätselhaft zu bleiben. Wohl ist der Mensch fähig, über sich selbst nachzudenken. Allerdings führt diese Reflexivität nicht zur Selbstvergewisserung, sondern zieht wiederum eine Fülle von möglichen Selbstdeutungen nach sich: Zeichnen den Menschen seine Rationalität oder seine Gefühle, seine Kreativität oder sein Beharren, sein Gemeinschaftssinn oder sein Egoismus aus? Und ist sein Dasein als außergewöhnliches Geschöpf oder als Mängelwesen zu verstehen? Aus dieser Unübersichtlichkeit erwachsen nicht nur Schwierigkeiten seiner Selbstdeutung, sondern

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auch gegenüber seinem Weltbild: Der Mensch kann sich als eingebunden in eine Welt begreifen, die er mithilfe seines Wissens zu strukturieren versucht, um sich in ihr orientieren zu können. Dazu zählt auch, sich diese durch Entdeckungen mehr und mehr anzueignen. Oder er kann dieser »Kolumbus-Welt« eine »Leonardo-Welt« gegenüberstellen, in der sich der Mensch über Erfindungen seine eigene Welt erschafft (vgl. Mittelstraß 1992: 48). Gerade das Herstellen-Können einer eigenen Welt hat zur Konsequenz, dass sich der Mensch aufgrund seiner Fähigkeiten und Möglichkeiten, sein Leben bewusst zu gestalten, eine besondere Stellung und einen besonderen Wert zuschreibt. In verschiedenen Religionen wie der jüdisch-christlichen wird diese Sonderstellung auf die Ebenbildlichkeit Gottes zurückgeführt. Zeugnis davon gibt das erste Kapitel des Buches Genesis, in dem Gott den Menschen als abschließende Krönung seiner Schöpfung formt und ihm göttlichen Odem einhaucht: »Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch, und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen.« (Genesis 1: 27f.)

Die Herrschaft über die Schöpfung begreift der Mensch als das Auserwähltsein gegenüber allen anderen Geschöpfen, die damit verbundene Gottesebenbildlichkeit verleiht ihm seine Würde. Der Mensch ist nach dieser Konzeption der von Gott in die Welt gestellte Partner, die Welt wird für ihn zum Laboratorium um zu beweisen, dass er der Gottesebenbildlichkeit würdig ist. Durch den Sündenfall, der in der Vertreibung aus dem Paradies endet, hat der Mensch zwar äußerlich diese Ebenbildlichkeit verloren. Er behält jedoch seine Würde und seine Vernunft – nach Maimonides (Moses ben Maimon) die eigentliche Essenz des menschlichen Wesens »wegen der göttlichen Vernunft, die ihm anhaftet« (1923: 30).

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Diese Beziehung zu Gott kann sich allerdings im Zuge der Säkularisierung nicht behaupten und wird durch die Beziehung zu anderen Menschen ersetzt. Ausschließlich der Mensch gerät nun in den Mittelpunkt der Betrachtungen und erklärt sich, unter Rückgriff auf den griechischen Philosophen Protagoras, zum Maß aller Dinge. Inwieweit mit der Setzung des Menschen als Maßstab auch eine »Anmaßung [..] [als] unsere naturgegebene Erbkrankheit« (Montaigne 1998: 223) verbunden ist, ist umstritten. Sicher aber ist, dass er nun notwendig auch zum Schöpfer seiner Welt werden muss, die seinen Bedürfnissen genügt. Als frei handelndes Wesen bietet sein schöpferischer Geist dem Menschen die Chance, sich selbst zu verwirklichen. Diese Freiheit wird zu seinem konstitutiven Element, wie Pico della Mirandola betont: »Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst. Du kannst zum Niedrigeren, zum Tierischen entarten; du kannst aber auch zu Höherem, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn deine Seele es beschließt.« (Pico della Mirandola 1990: 7)

Der Mensch als homo potentialis beansprucht auf diese Weise eine herausgehobene Position gegenüber seiner Umwelt, die fortan sein Selbstverständnis prägt. Radikalisiert wird dieser Grundgedanke in einer negativen Anthropologie, welche das Wesen des Menschen als grundsätzlich nicht zugänglich erachtet. Dies setzte nämlich eine außermenschliche Perspektive voraus, weil »Menschen bei ihrem besten Willen nicht ausdenken können, was sie sind, weil aus ihnen wird, was sie denken« (Sonnemann 1981: 324). Dies verweist zudem auf den Aspekt der Zeitlichkeit, welcher das Mensch-Sein grundlegend prägt. Mit seiner Fähigkeit zur Überschreitung der Gegenwart nach ›hinten‹ und nach ›vorne‹ eröffnen sich ihm ein erweiterter Erfahrungsraum wie auch Möglichkeitsraum.

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Allerdings widerfahren dem Menschen nach Sigmund Freud im Laufe der Geschichte durch Kopernikus, Darwin und schließlich die Psychoanalyse drei narzisstische Kränkungen, die ihn erschüttern: »Zwei große Kränkungen ihrer naiven Eigenliebe hat die Menschheit im Laufe der Zeiten von der Wissenschaft erdulden müssen. Die erste, als sie erfuhr, daß unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, sondern ein winziges Teilchen eines in seiner Größe kaum vorstellbaren Weltsystems. […] Die zweite dann, als die biologische Forschung das angebliche Schöpfungsvorrecht des Menschen zunichte machte, ihn auf die Abstammung aus dem Tierreich und die Unvertilgbarkeit seiner animalischen Natur verwies. […] Die dritte und empfindlichste Kränkung aber soll die menschliche Größensucht durch die heutige psychologische Forschung erfahren, welche dem Ich nachweisen will, daß es nicht einmal Herr ist im eigenen Haus, sondern auf klägliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewußt in seinem Seelenleben vorgeht.« (Freud 1950: 301f.)

Zudem weiß der Mensch trotz seiner herausgehobenen Position, dass er ein Mängelwesen ist. In biologischer Hinsicht ist das nur zu offensichtlich: Nicht nur ist der Mensch noch lange nach der Geburt auf fremde Hilfe angewiesen, ebenso sind Instinkte und körperliche Funktionen im Vergleich zu Tieren unterentwickelt. Unzweifelhaft besitzt der Mensch daher im Vergleich zum Instinktverhalten der Tiere »Lücken und Mängel« (Herder 1903: 567), die einer Kompensation bedürfen. Er ist daher ein besonderes Tier: ein animal rationale, ein animal symbolicum (Cassirer), ein animal laborans (Arendt) – oder wie immer die ergänzenden Eigenschaften bezeichnet werden. Andererseits entbindet ihn gerade seine Instinktlosigkeit nicht von einer Umweltverbundenheit, jedoch von einer Umweltgebundenheit. Das zwingt ihn zwar dazu, »produktive Akte der Bewältigung der Mängelbelastung« (Gehlen 1993: 36) vorzunehmen, sich also entweder der Natur anzupassen oder, wo möglich, die Natur seinen Bedürfnissen anzupassen. Gleichwohl eröffnet sich ihm dadurch auch ein Frei-Raum, seine Freiheit zu nutzen: Seine kreative Mängelbeseitigung eröffnet dem Men-

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schen ungeahnte Möglichkeiten; ihm, dem »grosse[n] Experimentator mit sich, der Unbefriedigte, Ungesättigte, der um die letzte Herrschaft mit Thier, Natur und Göttern ringt« (Nietzsche 1999: 367). Er schafft sich eine Kultur, die nicht nur das Überleben garantieren, sondern auch das Zusammenleben sichern kann. Gerade der letzte Punkt ist bedeutsam, da die Menschen auch als soziale Wesen Mängelwesen sind. Sie können nicht vollkommen autark existieren, sind permanent aufeinander verwiesen und angewiesen. Die Regulierung dieser Sozialität allein über äußeren Zwang oder individuelle Nutzenverfolgung erweist sich auf die Dauer gesehen als unzureichend bzw. instabil. Deshalb erfährt auch die Moral als kulturelle Institution eine besondere Bedeutung, um im Sinne einer überpersönlichen Ordnung das Alltagsleben der Menschen beständig zu regeln. Denn die »schöpferische Zerstörung« (Schumpeter 1980: 138) lässt zugleich auch ungeahnte Probleme entstehen. So endet die Bedeutung der Freiheit für den Menschen auch nicht in der Wahl zwischen ›gut‹ und ›böse‹, sondern in der generellen Möglichkeit (etwas) zu wollen oder eben nicht zu wollen. Deutlich wird so die ganz praktische Relevanz der Frage, was den Menschen auszeichnet: Sicherlich darf streng logisch nicht von einem empirischen Sein auf ein normatives Sollen geschlossen werden. Aber zu trennen sind diese beiden Bereiche nicht, da die Sonderstellung des Menschen ethische Fragen aufwirft, bezüglich seines Selbstentwurfes, aber auch im Umgang miteinander, »was er, als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll« (Kant 1998: 399). Denn der Mensch trägt als Schöpfer seiner Welt eben nicht nur für die Gestaltung des eigenen Lebens Verantwortung, sondern auch für die Beziehungen zu seiner Umwelt. Wie auch immer der Mensch sich begründet, sein Wesen zu beschreiben und zu analysieren versucht, die Diskrepanz zwischen idealisiertem Selbstbild und der tatsächlichen Realität ausfällt – mit und durch ihn werden ethische Fragen aufgeworfen, denen sich der Mensch, egal auf welches Begründungssystem er sich abstützt, nicht entziehen kann. Das betrifft die Konzeptionen eines gelingenden Lebens des Menschen ebenso wie die Verantwortung für die Folgen sei-

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ner Handlungen und die Fragen der Pflichterfüllung, die nicht seinem jeweiligen Belieben anheimgestellt sind. Der Beschäftigung mit einigen ethischen Aspekten des Menschseins waren die ersten Vadian Lectures des Zentrums für Ethik und Nachhaltigkeit (ZEN-FHS) gewidmet, die hier aus vier Perspektiven beleuchtet werden. In Anlehnung an die humanistische Tradition des St.Galler Gelehrten Joachim von Watt (Vadian) sind die Beiträge allgemeinverständlich verfasst und sollen dazu anregen, sich eigenständig mit den Themen auseinanderzusetzen. Einleitend fragt Dieter Thomä in seinem Beitrag nach dem Wert des Menschen. Ausgehend von der ökonomischen Humankapitaltheorie und der Moraltheorie zeigt er auf, dass die konventionelle Trennung zwischen ökonomischen und moralischen Aspekten, oder äußeren Werten (Preis) und inneren Werten (Würde) überwunden werden muss. Entscheidender ist die Reflexion der Quellen der Werte zur Beurteilung und Ausrichtung unseres Handelns. Thomä weist darauf hin, dass sich diese eben nicht auf ökonomische Präferenzen oder moralische Gesetze reduzieren lassen, sondern sich aus geteilten sozialen Bezügen und Erfahrungen ergeben. Denn sie bilden das Fundament dafür, dass der Wert des Menschen einen hohen Schutz genießt. Mit der Frage nach dem Wert des Menschen sind stets auch die Kategorien des Guten und Bösen verbunden: das Gute ist erstrebenswert, das Böse soll um jeden Preis vermieden werden. Deshalb gilt als optimale Lebensform diejenige, in der das bestehende Böse – sei es in Gestalt von Gewalt, Krieg oder Grausamkeit – vollständig eliminiert werden kann. Anhand der ersten Menschen im Paradies, Nietzsches Überlegungen zur metaphysisch-christlichen Tradition und der verschiedenen utopischen Versuche erörtert Annemarie Pieper, dass bei einer solchen Sichtweise Vorsicht geboten ist. Denn das Problem des Bösen hat seine Wurzeln in unserer Freiheit, die uns ermöglicht, das Gute zu tun, die wir aber eben auch jederzeit missbrauchen können. Will man also das Böse konsequent eliminieren, muss man die persönliche Freiheit aufgeben und die Unfreiheit akzeptieren. Folglich ist der individuelle Gebrauch der Freiheit riskant, er bleibt aber ohne Alternative.

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Nachfolgend untersucht Dagmar Fenner die ethische Frage nach dem Guten hinsichtlich menschlicher Selbstentwürfe. Der Mensch ist fähig zum Denken und damit auch zur Reflexion, was ihm als einem Kulturwesen einen ungeahnten Spielraum an Lebens- und Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Folglich stellt sich dem Menschen nicht nur die Frage, wie er leben will und was ihm im Leben wichtig ist, sondern auch, wie er handeln soll. Eine Selbstverwirklichung kann sich nicht ausschließlich auf die eigene Person konzentrieren. Sie hat sich ebenso mit der sozialen Dimension sowie den Beziehungen und Bezügen zu anderen auseinanderzusetzen. Entsprechend besteht die ethische Herausforderung darin, eine verantwortbare Selbstverwirklichung zu entwickeln, die in die Realität überführt wird und auf die Um- und Mitwelt Rücksicht nimmt. Abschließend reflektiert Wilhelm Schmid über den Umgang mit sich selbst. Auch wenn aus einer philosophischen Sicht letztlich offen bleiben muss, was das Selbst konkret auszeichnet, so zwingt uns die in der Moderne gewonnene Freiheit doch zu einer eigenständigen Lebensführung, die uns keine andere Person abnehmen oder für uns übernehmen kann. Deshalb benötigen wir ein aufgeklärtes Selbstverhältnis, das durchaus einen maßvollen Narzissmus der Selbstfreundschaft und Selbstliebe enthalten kann. Denn der Kern der Sorge für Andere ist die Sorge für sich selbst. Die Realisierung dieses Bandes wäre ohne die großzügige Unterstützung durch die FHS St.Gallen nicht möglich gewesen, wofür an dieser Stelle unser Dank ausgesprochen werden soll. Ebenso möchten wir uns bei Claudia Züger für ihre gewohnt zuverlässige und gewissenhafte Mitarbeit bedanken. St.Gallen/Balgach, im Januar 2015

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L ITERATUR Adorno, Theodor (1975): Negative Dialektik, Frankfurt a.M. Freud, Sigmund (1950): »Die Fixierung an das Trauma. Das Unbewusste«, in: ders.: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, London, S. 288-302. Gehlen, Arnold (1993): Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, (Arnold Gehlen Gesamtausgabe), hrsg. v. Klaus-Siegbert Rehberg, Bd. 3.1, Frankfurt a.M. Herder, Johann Gottfried (1903): »Über den Ursprung der Sprache«, in: Herders Werke (Meyers Klassiker-Ausgaben), hrsg. v. Heinrich Kurz, Vierter Band, Leipzig/Wien, S. 549-644. Kant, Immanuel (1998): »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, in: ders.: Werke in sechs Bänden, Bd.4: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt, S. 399-690. Maimon, Moses ben (1923): Führer der Unschlüssigen, Erstes Buch, Leipzig. Mittelstraß, Jürgen (1992): Leonardo-Welt. Über Wissenschaft, Forschung und Verantwortung, Frankfurt a.M. Montaigne, Michel de (1998): Essais, Gesamtübersetzung von Hans Stilett, (Die Andere Bibliothek, hrsg. v. Hans Magnus Enzensberger) Frankfurt a.M. Nietzsche, Friedrich (1999): »Zur Genealogie der Moral«, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), Bd. 5, hrsg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München, S. 245-412. Pico della Mirandola, Giovanni (1990): De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen, hrsg. v. August Bock, Hamburg Scheler, Max (1915): »Zur Idee des Menschen«, in: ders.: Abhandlungen und Aufsätze, Erster Band, Leipzig, S. 317-267. Schumpeter, Joseph A. (1980): Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, München. Sonnemann, Ulrich (1981): Negative Anthropologie. Vorstudien zur Sabotage des Schicksals, Frankfurt a.M.

»Humankapital« und der Wert des Menschen1 D IETER T HOMÄ

Der Philosoph Hans Jonas hat behauptet, das Wort ›Wert‹ stamme »aus der Sphäre des Schätzens und des Tausches«; deshalb war ihm auch die Rede vom »Wert des Menschen« suspekt (1979: 160; vgl. schon Arendt 1954/1994: 52; Schopenhauer 1841/1986: 695). Doch die ursprüngliche Bedeutung dieses Wortes ›Wert‹ führt keineswegs zwangsläufig in das Reich des Kommerzes, vielmehr ist von früh an das »Schätzen« als Wertschätzung, als Gutheißen mit im Spiel. Auch wenn von einem Schatz die Rede ist, kann man die Schmuckkassette auf dem Meeresgrund meinen oder ›Schatzi!‹ rufen. Provisorisch lässt sich diese Doppelung durch die Rede von ›äußeren‹ und ›inneren‹ Werten signalisieren. Wenn man über den »Wert des Menschen« spricht, dann ist man geneigt, sich auf eine Seite dieser Bedeutungsgeschichte zu schlagen:

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Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen leicht revidierten Nachdruck des Textes »›Humankapital‹ und die Theorie der Person in der Moderne. Über die Krise innerer und äußerer Werte«; erschienen in: Konrad Paul Liessmann (Hg.) (2006): Der Wert des Menschen. An den Grenzen des Humanen. Philosophicum Lech, Bd. 9, Wien, S. 217-263.

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auf die Seite des inneren Werts, der gegen den »Tausch« immun ist. So kann man sich in Sicherheit wiegen und Abstand halten zu den Idolen des Marktes und zur Ver-Wertung des Menschen. Doch diese Strategie ist fragwürdig, und zwar nicht deshalb, weil dieser Abstand in Abrede zu stellen wäre, sondern weil eine solche vorsorgliche Trennung immer etwas von einem Denkverbot hat. Ich will nicht der Vermischung kommerzieller und nicht-kommerzieller Werte das Wort reden, aber ich will wissen, wo, wie und warum sie zustande kommt. Hierzu gehe ich zunächst der Idee des Humankapitals in der ökonomischen Tradition nach, um dann auf einen unorthodoxen Parteigänger dieser Idee, nämlich auf Johann Gottlieb Herder hinzuweisen. Diese Ausweitung der Perspektive über die Ökonomie hinaus führt mich zu einer systematischen Diskussion der Theorie der Lebensführung, die sich auf die ökonomischen Konzepte des Kapitals und des Eigentums stützt; dabei beziehe ich mich vor allem auf John Locke und Ralph Waldo Emerson; im Anschluss weise ich auf einige Probleme hin, die bei einer solchen Übertragung der Kapitallogik auf die Lebensführung auftreten. Abschließend folgt ein grundsätzlicher Vergleich zwischen den Vorstellungen des »Werts«, die der individuellen (ökonomischen) Nutzenmaximierung und der allgemeinen (moralischen) Normenbefolgung zugrunde liegen. Dabei werden nicht nur Gegensätze, sondern auch Gemeinsamkeiten zu verhandeln sein.

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ORTHODOXE I DEE DES H UMANKAPITALS IN DER ÖKONOMISCHEN T RADITION Um ein wenig mit dem Feuer zu spielen, nehme ich probeweise eine radikale Außenperspektive ein, von der aus der Wert, den eine andere Person hat, beurteilt wird. Demnach soll ausgeschlossen sein, dass ich mich in eine Person hineinversetze, mich mit ihrem Schicksal identifiziere oder von vornherein auf ihren sogenannten ›inneren‹ Wert achte. Dann bleibt nur zu fragen, ob diese Person etwas zu bieten hat, was mir etwas wert ist – sei es, weil ich es direkt brauchen kann oder weil es

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mir bei einem Ziel, das ich verfolge, weiterhilft. »The Value or WORTH« oder, wie es in der deutschen Übersetzung heißt, »die Geltung oder der Wert eines Menschen« zeigt sich nach Thomas Hobbes wie bei allen »anderen Dingen« in seinem »Preis«. 1651 schreibt er: Der Wert »richtet sich danach, wie viel man für die Benützung seiner Macht bezahlen würde und ist deshalb nicht absolut, sondern von dem Bedarf und der Einschätzung eines anderen abhängig.« Deshalb ist nach Hobbes in Friedenszeiten der Wert eines Heerführers gering, umgekehrt ist in Kriegszeiten der Wert eines unbestechlichen Richters niedrig. »Und wie bei anderen Dingen, so bestimmt auch bei den Menschen nicht der Verkäufer den Preis, sondern der Käufer. [...] Sein wahrer Wert [ist] nicht höher, als er von anderen geschätzt wird.« (1651/1996: 63/67) Dies ist ein Paradebeispiel für die eingangs erwähnte relative, äußere Bewertung eines Menschen. Die Leistung eines anderen, der man einen »Wert« zumisst, geht auf dessen Aktivität zurück; in ihr äußert sich das, was Hobbes als die »Macht« einer Person im weitesten Sinne bezeichnet. Sein Vorschlag lautet also, das ganze soziale Leben anhand des Duetts von »Wert« und »Macht« zu beschreiben. Wenn eine Leistung privat bezogen wird, ist man bereit, dafür eine Gegenleistung zu erbringen oder eine Bezahlung zu leisten. Aber auch im Bereich der »Öffentlichkeit« oder des »Staates« lässt sich der »Wert« eines Menschen feststellen; er ist nach Hobbes an der ihm zuerkannten »Würde« abzulesen, die in obrigkeitlichen Ämtern, Titeln und Aufgaben zum Ausdruck komme (1651/1996: 63f./68). Der Würde-Begriff steht hier also ganz diesseits des universellen Respekts vor dem »Menschen« als solchen. Da Hobbes dem Menschen ein ›Preis‹-Schild umhängt, gelangt man damit in den Kontext des ›Humankapitals‹ – eines Begriffs, der in Deutschland auf der Liste der »Unworte des Jahres« steht. In der offiziellen Begründung zur Wahl dieses »Unworts« hieß es 2004:

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»Der Gebrauch dieses Wortes aus der Wirtschaftsfachsprache breitet sich zunehmend auch in nichtfachlichen Bereichen aus und fördert damit die primär ökonomische Bewertung aller denkbaren Lebensbezüge, wovon auch die aktuelle Politik immer mehr beeinflusst wird. Humankapital degradiert nicht nur Arbeitskräfte in Betrieben, sondern Menschen überhaupt zu nur noch ökonomisch interessanten Größen.«

Als im Anschluss an die Kür dieses Wortes und deren Begründung Proteste laut wurden, sah sich der damalige Vorsitzende der Jury, Horst Dieter Schlosser, zu einer weiteren Erklärung veranlasst, an deren Schluss es hieß: »Uns stellt sich angesichts des Unisono-Aufschreis der Experten inzwischen die Frage, ob wir mit der Wortkritik nicht einen Nerv sogar der ›Humankapital‹-Theorie und ihrer gesellschaftlichen Relevanz getroffen haben. Denn mit welcher Sicherheit soll denn noch der durch Bildung und Ausbildung zu fördernde menschliche Anteil an der Leistungskraft von Unternehmen wie der ganzen Gesellschaft berechnet werden, wenn im wirtschaftspolitischen und -praktischen Handeln das sog. ›Humankapital‹ von inzwischen mehr als fünf Millionen und mit jeder weiteren Massenentlassung auf den Müll geworfen wird? [...] Auch sollten sich die Experten einmal einer Debatte über etwas weiter gefasste anthropologische Fragestellungen nach dem Wert von Menschen öffnen, der nicht nur mit Euro und Cent berechnet werden kann.« (Vgl. www.unwortdesjahres.org)

Wenn man schon bei Hobbes der Sache nach auf eine Theorie des ›Humankapitals‹ stößt, ist man gezwungen, sich mit einer stattlichen Tradition auseinanderzusetzen, aus der dieser Begriff erwachsen ist (vgl. Kiker 1966). Wenig überraschend ist, dass nach Hobbes auch die – bekanntlich oft einseitig verstandene – Galionsfigur der modernen Ökonomie dieser Tradition zuzuordnen ist: Adam Smith. Er schreibt im Wohlstand der Nationen, dass zu den Formen des sog. »festen Kapitals« die »erworbenen und nützlichen Fähigkeiten aller Mitglieder der Gesellschaft« zu zählen seien; die Ausbildung sei »sozusagen« (»as

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it were«) eine Investition von Kapital in eine Person, die sich in der verbesserten Leistung des Betreffenden auszahle und damit dem Wirtschaftsprozess förderlich sei (1776/2000: 306). Im 19. und 20. Jahrhundert gibt es dann einen ganzen Chor von Stimmen, die verschiedene Kapitalformen unterscheiden: »Realkapital« und »persönliche[s] oder Kunstkapital« (von Schlözer 1805; vgl. Hilger/Hölscher 1982: 421), »Waaren-Capital« und das »Capital von National-Weisheit«, das »vielleicht noch mächtiger« sei (Adam Müller 1809/1922: 30), »materielle[s] Nationalkapital« und »geistige[s] Nationalkapital« (Friedrich List 1844; vgl. Hilger/Hölscher 1982: 425), Kapital an Sachen und Kapital an Personen (Léon Walras 1875/1900: 182; vgl. Kiker 1966: 487). Drei Aspekte sind bei diesen Humankapital-Theorien besonders zu beachten. Die Einbeziehung des ›human factor‹ steht zum Ersten im Dienst der vollständigen Beschreibung ökonomischer Abläufe (Fisher 1897/1997: 327f.: »Wörtlich genommen schließt der Begriff des Reichtums den Menschen ein. Der Mensch ist genauso ›Material‹ wie ein Pferd oder ein Ochse«). Diese Betrachtungsweise kann einerseits zur Instrumentalisierung des Menschen führen, andererseits die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass nicht nur Güter, sondern auch Menschen einen Wert darstellen, den es zu erhalten gilt; so werden z.B. schon kurz nach 1918 die Vernichtungsschlachten des Ersten Weltkriegs als eine Verschwendung von Humankapital kritisiert (vgl. Kiker 1966: 492f.). Im Sinne einer Humanisierung der Ökonomie wendet man sich auch scheinbar entlegenen Aspekten des Lebens zu. Ein bemerkenswertes Zeugnis hierfür ist die folgende Passage aus den Principles of Economics von Alfred Marshall (1890/1898: 647): »Das wertvollste Kapital ist dasjenige, was in Menschen investiert wird, und von diesem Kapital ist der kostbarste Teil das Ergebnis der Pflege und des Einflusses der Mutter, sofern sie ihre zarten und selbstlosen Instinkte bewahrt hat und nicht von der Anstrengung und Anspannung einer Arbeit, die ihr als Frau nicht ansteht, hart geworden ist.«

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Hier dient der Kapitalbegriff frappierenderweise zur Verteidigung der Mutterliebe gegen die Auswirkungen der Fabrikarbeit (oder vielleicht auch nur zur Kritik der Berufstätigkeit der Frau). Ein zweiter Aspekt der Humankapital-Theorien ergibt sich aus der Differenzierung verschiedener Bereiche der Werterhaltung und Wertsteigerung des ›Menschenmaterials‹. Dabei kommt neben der Hygiene vor allem der Bildung besondere Bedeutung zu. Der englische Ökonom Nassau Senior schätzt Mitte des 19. Jahrhunderts, dass die Minimalkosten einer Erziehung rund 40 Pfund betragen, die Investition in einen Sohn ›aus gutem Hause‹ dagegen 2040 Pfund (1836/1938: 205). In dem Maße, wie sich eine solche Investition lohnt und rentiert, verwandelt sich Bildung von einem »Luxus« zu einer Notwendigkeit im industriellen »Kampf ums Dasein« (Goldscheid 1911: 531). In seinem Buch mit dem Titel Werth des Menschen vergleicht der Königliche Geheime Ober-Regierungsrat Ernst Engel die Erhaltung und Entwicklung des Menschen mit der Wartung und Perfektionierung einer Maschine: »Einer [...] kostspieligen Maschine ist der Mensch vergleichbar, der mit großem Aufwand von Mühe und Zeit zu einem Geschäft erzogen wurde, das besondere Fähigkeiten und Geschicklichkeit erfordert. Es wird erwartet, dass die Arbeit, welche er zu verrichten gelernt, ihm außer dem gewöhnlichen Arbeitslohne auch die Kosten seiner Erziehung nebst Zinsen ersetze« (1883: 21; vgl. Vögele/Woelk 2002: 125).

In der These Ernst Engels kommt eine Doppelung zum Ausdruck, die für viele frühe Humankapital-Theorien charakteristisch ist. Der dritte Aspekt der Theorie des Humankapitals hat nämlich zu tun mit der Frage, wer einen eventuell anfallenden Gewinn abschöpft. Zwar ist der natürliche Ort dieser Diskussion eigentlich das einzelne Unternehmen, in dem verschiedene Beteiligte unter mehr oder minder machtbesetzten Umständen kooperieren und Gewinne aus dem eingesetzten Sach- und Humankapital mehr oder minder gerecht verteilt werden. Doch die Frage nach dem Kapital-Gewinn lässt sich zum einen stärker auf das

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Individuum zuspitzen, zum anderen stärker auf die Gemeinschaft als Ganze ausdehnen. Den Nutzen für das Individuum selbst betont Mitte des 19. Jahrhunderts der deutsche Ökonom Johann von Thünen. Er plädiert für eine durchgreifende Anwendung des Kapital-Begriffs auf den Menschen, weil damit dessen »Freiheit« zur Entfaltung verholfen werde: Bildungsanstrengungen im Sinne der Humankapital-Steigerung zögen die Eigenständigkeit und Emanzipation der Arbeiter nach sich (18261850/ 1990: 475ff.). Bei von Thünen wird die Anwendung des »Kapital«-Begriffs auf den Menschen gerade nicht von Rücksichtslosigkeit getragen, sondern von sozialpolitischer Sentimentalität (Kiker 1966: 487; vgl. Schultz 1959: 110). Entscheidend wird demnach die Beurteilung von ›Werten‹ aus der Perspektive des Betroffenen. Wenn man ›mit seinen Pfunden wuchern‹ kann, dann fällt die Bewertung positiver aus, als wenn man auf Gedeih und Verderb gezwungen ist, ›seine Haut zu Markte zu tragen‹. In einer sozialplanerischen Perspektive wird dagegen stärker der Beitrag hervorgehoben, den die individuelle Entwicklung für das Gemeinwohl leisten kann. So schreibt Rudolf Goldscheid in seinem Buch Höherentwicklung und Menschenökonomie aus dem Jahre 1911: »Die Menschenökonomie ist [...] die Lehre vom organischen Kapital, von jenem Teil des nationalen Besitzes also, den die Bevölkerung selbst darstellt. [...]. Je leidenschaftsloser man Menschenökonomie more organico, wie Agrikultur etwa betreibt, um so mehr wirkt man im Geiste höchster seelischer Kultur [...]. Nur der Mensch als bestgepflegtes Tier, als optimal erzeugtes organisches System gibt den geeigneten Boden für volle Ausgestaltung aller in ihm liegenden Anlagen ab. [...] Man beachtet nicht, daß Bildungspolitik den wichtigsten Zweig der gesamten Wirtschaftspolitik ausmacht [...] Einzig und allein der Mensch, der auf Selbstschutz, auf Ökonomie der äußeren Stoffe und auf Ökonomie am eigenen Organismus hin systematisch erzogen wird, funktioniert [...] optimal im Interesse der sozialen Ertragssteigerung« (1911: 488, 492, 526).

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Wenn man nun von diesen frühen Zeugnissen der Theorie des Humankapitals zum aktuellen Stand der Diskussion wechselt, so fällt auf, dass es in jüngster Zeit zu einer theoretischen Spaltung gekommen ist. Auf der einen Seite wird heute das Humankapital an den Nutzen gebunden, der auf individueller, betriebs- und volkswirtschaftlicher Ebene erzielt werden kann (vgl. Blaug 1976). Aufgrund der Annahme, dass der Markt immer auch einen Nutzen auf der individuellen Ebene ermöglicht, werden die Bedenken zerstreut, wonach auf diese Weise der Mensch nur nach seinem äußeren Wert bemessen wird. Umgekehrt werden auch Bereiche außerhalb der Wirtschaft, etwa das private Leben, in die Nutzenperspektive einbezogen. Die Pioniere der Forschungen in diesem Bereich (Schultz 1959; Becker 1962) wurden mit Nobelpreisen für Ökonomie ausgezeichnet. Auf der anderen Seite wird das Humankapital im Zusammenhang mit einer von der Dynamik des Kapitals beherrschten Gesellschaft behandelt (Bourdieu 1979: 193ff.). Inwieweit die Individuen von dem von ihnen ggf. repräsentierten ›Kapital‹ profitieren, bleibt dabei offen; vielmehr wird kritisch gefragt, inwieweit dieses an ökonomischen Werten orientierte System auf andere Sphären der Gesellschaft in schädlicher Weise übergreift. Was ein Ökonom wie Gary Becker unter dem Titel der Nutzenmaximierung als Verhaltensmuster auf individueller Ebene unterstellt und affirmiert, wird von einem Soziologen wie Pierre Bourdieu also als Prinzip gesellschaftlicher Organisation analysiert und kritisiert. Demgegenüber operierten die frühen Theoretiker des Humankapitals mit einem weniger eindeutigen – man könnte auch sagen: weniger bornierten – Begriff des Nutzens. Deshalb haben sie von vornherein die komplexen Voraussetzungen der Lebensfähigkeit berücksichtigt (man denke etwa an Alfred Marshalls Bemerkungen zur Mutterliebe) und die Entwicklung des individuellen Lebens mit dem Gemeinwohl zusammenzuführen gesucht (man denke etwa an Johann von Thünens Junktim zwischen dem ökonomischen Erfolg und Arbeiterbildung). Die Stimmen, die bisher angeführt worden sind, kamen freilich fast ausschließlich aus der ökonomischen Ecke. Man ist deshalb geneigt,

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das Thema gewissermaßen in dieser Ecke sitzen zu lassen und die Versuche, die Kapitallogik auf das persönliche Leben auszudehnen, als Usurpation abzuwehren. Doch damit würde man es sich zu leicht tun. Die Idee des Humankapitals lässt sich nicht einfach als etwas dem menschlichen Leben Fremdes verwerfen.

E IN UNORTHODOXER P ARTEIGÄNGER DES H UMANKAPITALS : J OHANN G OTTLIEB H ERDER Wenn man nach Spuren des Humankapitals außerhalb der Ökonomie sucht, stolpert man über eine Passage aus den Briefen zu Beförderung der Humanität Johann Gottlieb Herders. Seine Antwort auf die Frage, wie eine individuelle Person der Gemeinschaft zur Blüte verhelfen könne, lautet: »Gehet ein Mensch von hinnen, so nimmt er nichts als das Bewußtsein mit sich, seiner Pflicht, Mensch zu sein, mehr oder minder ein Gnüge getan zu haben. [...] Der Gebrauch seiner Fähigkeiten, alle Zinsen des Kapitals seiner Kräfte, die das ihm geliehene Stammgut oft hoch übersteigen, fallen seinem Geschlecht anheim. An seine Stelle treten junge, rüstige Menschen, die mit diesen Gütern forthandeln; sie treten ab, und es kommen andre an ihre Stelle. [...] Ihr Hauptgut, der Gebrauch ihrer Kräfte, die Ausbildung ihrer Fähigkeiten ist ein gemeines, bleibendes Gut; und muß natürlicher Weise im fortgehenden Gebrauch fortwachsen.« (1793-1797/1991: 125)

Herder, der Repräsentant einer empfindsamen Aufklärung, ist der ökonomischen Entzauberung des sozialen Lebens durchaus unverdächtig, und doch wendet er die Logik und Semantik des Kapitalbegriffs – die Investition, das Wachstum, die Erwartung eines ›return on investment‹ – wortwörtlich auf das menschliche Leben schlechthin an. Die Angleichung geht bis ins Detail, so etwa, wenn Herder von den »Zinsen des Kapitals« spricht (s. o.) oder fordert, dass der Mensch mit seinem »Stammgut [...] wuchere«. Auch bezeichnet Herder die »Humanität«

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als »Schatz« und »Ausbeute aller menschlichen Bemühungen« (17931797/1991: 124, 148). Etwas zurückhaltender spricht Wilhelm von Humboldt davon, dass eine »Nation«, ein »Zeitalter« und letztlich das »Menschengeschlecht« seinen »inneren Wert [...] steigern« solle (1793/1984: 29). Auch bei Immanuel Kant finden sich Empfehlungen zum Umgang mit dem, was er in einer verblüffenden Wendung die »Barschaft« des eigenen »Lebensgefühls« nennt (1798/1983: 462). Einen frühen Beleg durchaus kurioser Provenienz liefert Friedrich der Große, der in sozialpolitischer Absicht der Sache nach auf das Humankapital setzt: »Ich ärgere mich«, so sagt der König, »wenn ich sehe, welche Mühe man sich in diesem rauhen Klima gibt, um Ananas, Bananen und andere exotische Pflanzen zum Gedeihen zu bringen, während man so wenig Sorgfalt auf das menschliche Geschlecht verwendet. Man mag sagen, was man will: Der Mensch ist wertvoller als alle Ananasse der Welt. Er ist die Pflanze, die man züchten muss, die alle unsere Mühe und Sorgfalt verdient; denn sie bildet die Zier und den Ruhm des Vaterlandes.« (Friedrich der Große 1913: 266f.; vgl. Bauman 1991: 43).

Sind die Metaphern, die kommerzielle und biologische Assoziationen ineinander blenden, über die Ökonomie hinaus tragfähig? Ist das Kapital so eng mit dem Leben verbunden, wie Max Scheler dies annahm, der »das Kapital [...] auf etwas im Geiste und im Herzen und im Leibe des Menschen oder in einer bestimmten Art Mensch Liegendem« zurückführte (1919: 619)? Im Grunde gibt es zwei Möglichkeiten, solche Aussagen wie die von Herder zu lesen. Man kann entweder das Leben ökonomisieren oder den Kapitalbegriff ent-ökonomisieren. Es ist klar, was Herder im Schilde führt: Letzteres. Wie weit kommt man bei diesem Unternehmen? Eine solche Entökonomisierung oder Totalisierung der Rede vom Kapital lässt sich am leichtesten verständlich machen, wenn man ein deutsches Wort benutzt, das dem »Kapital« ziemlich nahe steht: »Vermögen«: »Mit Kapital bezeichnen wir also Ermöglichungsbedin-

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gungen von Handeln. Dieser Aspekt wird auch mit dem Begriff des Vermögens zum Ausdruck gebracht« (Moldaschl 2005: 53). Mit dem »Vermögen« gelangt man zu Potenzialen, zu Fähigkeiten, zum ›Können‹ eines Menschen im weitesten Sinne. (Diese Überlegung bildet übrigens auch die Brücke, über die die Humankapital-Theorien mit dem capabilities approach Amartya Sens in Verbindung gebracht werden können.) Während Thomas Hobbes das »Vermögen« als »Power« auf die Seite des Individuums geschlagen hat, das auf diese Weise seinen »Wert« oder »Preis« zu beeinflussen sucht, zeichnet Herder ein anderes Bild des Verhältnisses zwischen dem individuellen Kapital und dem Volksvermögen: nämlich ein harmonistisches, organisches Bild. Jeder leistet seinen Beitrag, der eingeht in das ewige Wachstum einer Kultur und der auch dann noch bleibt, wenn man selbst verwest ist – so wie eben auch das Sparbuch noch unter der Matratze des Bettes liegt, das zum Totenlager geworden ist. (Deshalb hat Herder auch den Vorwurf auf sich gezogen, er wolle das Individuum in einem Kollektiv, nämlich eben dem »Volk« untergehen lassen – ein Vorwurf, der in dieser Pauschalität nicht zutrifft.) Es ist durchaus denkbar, dass eine Gesellschaft die Beiträge und Bemühungen, die auf das ›Vermögen‹ der Individuen zurückgehen, nach Kräften willkommen heißt, aber dies versteht sich nicht von selbst. Auch ist es nicht selbstverständlich, dass ein Individuum sein ›Wachstum‹ in einem für die gesamte Gesellschaft förderlichen Sinne betreibt. Aus diesem Sachverhalt lassen sich Einwände gegen den Ausdruck ›Sozialkapital‹ entwickeln (vgl. Moldaschl 2005: 55): So ist etwa das Beziehungsgeflecht (vulgo: der Filz!), den sich eine Einzelperson aufbaut, für diese selbst ein eminentes ›soziales Kapital‹, aber man kann darin nicht gerade eine gesamtgesellschaftliche Errungenschaft sehen. Sowohl von der Seite des Individuums, das sich in seinem Beitrag für die Gesellschaft möglicherweise verkannt (oder ›unterbewertet‹) fühlt, wie auch von der Seite der Allgemeinheit, die sich der Delinquenz mancher ihrer Mitglieder erwehren muss, sind der Anwendung der Kategorie des Vermögens oder des ›Kapitals‹ auf das

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soziale Leben enge Grenzen gezogen. Wie wird der »Wettkampf menschlicher Kräfte«, von dem Herder spricht (1793-1797/1991: 127), organisiert und entschieden? Hier können sowohl liberale Ansprüche auf der Seite der Individuen auf der Strecke bleiben wie auch normative Ansprüche auf der Seite der Gesellschaft. Zwar mag man in einem vagen Sinne behaupten, dass jeder Beitrag irgendwie mitwirkt bei der Weiterentwicklung der Menschheit, und sei es nur dadurch, dass er Gegenkräfte freisetzt, die erst befruchtend wirken. Doch die Vorstellung des Wachstums, in der ökonomische und biologische Kategorien überblendet werden, ist ein geschichtsphilosophisches Vabanquespiel. Und hier – im Wort ›va banque‹ trifft man wiederum auf ein ökonomisches Signal, das freilich auf die Risiken, auf die ungedeckten Schecks in diesem Geschichts-Spiel hindeutet. Zwischen den auf verschiedene Weise ›vermögenden‹ oder ›könnenden‹ Individuen bleibt ein Konfliktpotenzial. Innerhalb der Ökonomie steht ein Bewertungs-Kriterium für solche ›Vermögen‹ zur Verfügung, das freilich einen engen Anwendungsbereich hat: das Geld. In Geld sollen sich auch soziale Kooperation oder Bildungsstand ummünzen lassen. Doch dieser Betrachtung entgeht ein ganzes Spektrum von Phänomenen, die für das, was man für wertvoll hält, gleichfalls ausschlaggebend sind. Ich kann mir nicht verkneifen, hierzu eine Aussage zu zitieren, die angesichts der jüngeren Polemik um den Neoliberalismus wie eine Nachricht aus weiter Ferne klingt: »Gerade wir Neoliberalen [...] haben von jeher die Wichtigkeit der Vitalpolitik betont, einer Politik, die nicht nur wirtschaftliche Werte, in Ziffern meßbare, in Geldsummen ausdrückbare Werte berücksichtigt, sondern die sich bewußt ist, dass viel wichtiger ist, wie der Mensch sich in seiner Situation fühlt.« (Rüstow 1963: 82f.)

Mit dem Geld allein, im herkömmlichen Rahmen der ökonomischen Kapitaltheorie, ist nicht hinreichend zu klären, wie das »Kapital« oder »Hauptgut« der Individuen, von dem Herder spricht, als Beitrag in die Gesamtmenge eines Volks-Vermögens hineinwirkt und einbezogen

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wird. Eine Anwendung des Kapitalbegriffs jenseits des Marktes ist damit aber nicht einfach erledigt. Zwar ist es unmöglich, individuelle Errungenschaften und einen gesamtgesellschaftlichen ›Gewinn‹ (der wie zu spezifizieren wäre?) über einen Kamm zu scheren. Die Idee des Humankapitals ist jedoch viel enger mit dem modernen Selbstverständnis des Menschen verwoben, als man dies zunächst wahrhaben will.

D IE INDIVIDUELLE L EBENSFÜHRUNG AM L EITFADEN VON E IGENTUM UND K APITAL : R ALPH W ALDO E MERSON UND J OHN L OCKE Lässt sich gemäß der Idee des Humankapitals das ›Wachstum‹ des Individuums als ein Prozess auffassen, wonach das Leben einen Gewinn aus seinen Anlagen zieht? Der Philosoph Ralph Waldo Emerson, der das Erbe der europäischen Romantik sowie auch Herders in Amerika antritt und zugleich kräftig abwandelt, liebäugelt mit dieser Idee. Auf Emerson möchte ich nicht nur deshalb eingehen, weil seine Bemerkungen zum Humankapital ebenso wenig geläufig sind wie diejenigen Herders. Vielmehr lässt sich dank Emerson sowie auch dank John Locke, der ihm in entscheidenden Punkten vorausgeht, die systematische Prüfung der Idee des Humankapitals weiter vorantreiben. (Nebenbei gerät man mit Emerson auch in das geheime Zentrum des amerikanischen Selbstverständnisses hinein, das phasenweise sowohl innen- wie außenpolitisch durch einen zugleich effizienten und zynischen Umgang mit Humankapital hervortritt .) Auf »Macht« hätten es die Menschen »abgesehen« – so meint Ralph Waldo Emerson (in entfernter Nachfolge eher zu Herder als zu Hobbes sowie auch als Vorläufer Nietzsches; vgl. Thomä 2005b). Nicht um »Süßigkeiten« (candy) gehe es den Menschen, sondern um die »Macht, ihren Entwurf auszuführen, ihren Gedanken Hand und Fuß, Form und Gegenwart zu verschaffen« (Emerson 1860/1983: 993). So bindet Emerson den Reichtum an die Tätigkeit, aus Anlagen oder

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Fähigkeiten zu profitieren, und meint, ein Mensch werde »unweigerlich reich durch den Gebrauch seiner Fähigkeiten«: »Alles steigt empor, und das königliche Gesetz der Ökonomie ist es, dass auch sie emporsteigt. Dies ist die Maxime: Das Geld ist eine andere Art des Blutes [...], der Besitz eines Mannes ist als eine umfassendere Form seines Körpers aufzufassen und erlaubt eine Organisation, die analog zum Kreislauf seines Körpers funktioniert. [...] Die Ökonomie des Kaufmanns ist nur ein plumpes Abbild der Ökonomie der Seele.« (1860/1983: 991, 996, 1010)

Emerson dreht die Rangordnung zwischen Ökonomie und Lebensführung (man darf auch sagen: zwischen Ökonomie und Ethik) um. Damit weicht er dem Vorwurf der Ökonomisierung aus: Die Wirtschaft ist nur ein Abglanz, ein Ausdruck der Bewegung der Seele, äußerer Reichtum ist nur ein Anhang inneren Reichtums – manchmal dessen Ausdruck, manchmal aber auch nur ein fadenscheiniger Ersatz (vgl. Sklansky 2002). Bei dieser sogenannten »Ökonomie der Seele« geht es darum, »Einkommen zu investieren, d.h. das Besondere in Allgemeines, Tage in ganze Zeitalter – literarische, emotionale, praktische – des Lebens aufzuheben und bei dieser Investition weiter emporzusteigen [...]. Die wahre Wirtschaftlichkeit besteht darin, Ausgaben auf immer höherer Ebene zu tätigen [...]: Der Mensch [...] erkennt sich selbst durch die tatsächliche Erfahrung eines höheren Gutes.« (Emerson 1860/1983: 1010)

Strenger noch als Herder zieht Emerson eine Parallele zwischen der Zunahme materieller Güter und individueller Entfaltung – eine Parallele, bei der doch der Verdacht aufkommt, dass sie schief liegt. Was sind – wenn man das Pathos aus Emersons Sätzen herauslässt wie die Luft aus einem Ballon – die Thesen, die erkennbar werden? Zwei Punkte sind hervorzuheben:

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1. Das Fundament dieser »Ökonomie der Seele« ist die eigene Person

mit ihrer Verfügung über Fähigkeiten sowie ihren materiellen Besitztümern. 2. Deren Entfaltung führt dann zum Wachstum, der als Gewinn (oder ›return on investment‹) der Person selbst zugutekommen soll: insbesondere in Form von bereichernden (!) Erfahrungen. Zu 1. Wenn Emerson materielle Ressourcen und immaterielle Fähigkeiten unter der Überschrift des Besitzes (»estate«) anführt, so stellt er sich damit in die Nachfolge der Theorie John Lockes. Locke gehört nicht zu den Verfechtern des »Humankapitals«, aber er ist ihr wohl wichtigster Wegbereiter – und zwar deshalb, weil er nicht nur äußere Güter, sondern die »Person« selbst einer ökonomischen Kategorie zuordnet. Diese ist nicht das »Kapital«, sondern das »Eigentum« eines Menschen, das sich nach Locke auf »sein Leben, seine Freiheit und seinen Besitz« erstreckt: »Jeder Mensch hat ein Eigentum an seiner eigenen Person. [...] Die Arbeit seines Körpers und das Werk seiner Hände [...] sind im eigentlichen Sinne sein eigen.« (1690/1988: 287f. [§ 27]; vgl. 323 [§ 87], 350 [§ 123], 383 [§ 173]; vgl. McPherson 1962/1967: 226ff.) Damit ist eine wichtige Voraussetzung benannt, auf der die Rede vom »Vermögen« oder »Kapital« aufruht. Um die Basis der Selbsterhaltung zu gewährleisten, sucht Locke nach einer Rechtfertigung von Eigentumsansprüchen, die Individuen erheben. Er findet sie darin, dass er die Arbeit, die beispielsweise in ein Stück Land investiert wird, als »Eigentum« einer Person anspricht, sodass auch das äußere Gut, also das durch Arbeit verwandelte Land im Zuge dieser Aneignung gewissermaßen verinnerlicht werden kann (1690/1988: 286ff. [§§ 26f.]). So lässt sich ein äußerer Wert (etwa der Ertrag des Ackerbodens) einer Person als Eigentum zurechnen. Unter dem Gesichtspunkt der Wertschöpfung ist nach Locke das unkultivierte Land, die Wildnis eigentlich »fast wertlos«: »Es ist tatsächlich die Arbeit, die bei allem den Wertunterschied erst ausmacht« (1690/1988: 296, 298 [§§ 40, 43]). Wenn jemand etwas anbaut, dann investiert er sich selbst (in Gestalt

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seiner Arbeit) und kann deshalb zu Recht auch die Ernte ›sein eigen‹ nennen. Es handelt sich – ›wert‹-theoretisch betrachtet – sozusagen um eine ›Selbst-Ernte‹. (So heißt es auch: ›Man genießt die Früchte der eigenen Arbeit.‹) Auf äußere Werte hat man Anspruch, wenn man sie sich rechtmäßig angeeignet hat. Diese Rechtmäßigkeit gründet in der Eigentumsbeziehung, die man zuallererst zu seinem eigenen Körper, seiner eigenen Arbeitskraft unterhält. In dem Maße, wie Locke mit der Ausübung von Eigentumsrechten den Freiheitsanspruch des Individuums koppelt, enthält dieses Selbst-Eigentum auch eine politische Spitze gegen Absolutismus und Tyrannei. Entsprechend kann man auch die Ausbeutung von Arbeitern im Zuge der Industrialisierung und die in der Dritten Welt verbreiteten Arbeitsbedingungen als faktischen Entzug des Eigentums an der eigenen Person kritisieren. Locke wird von Adam Smith gelesen, Smith wird von Turgot und Condorcet gelesen, und so kommt es, dass die Idee des Selbstbesitzes auch in den vorrevolutionären und revolutionären Programmen für die Freiheit der Ausbildung und gegen die Kinderarbeit offensiv ins Feld geführt wird (vgl. Rothschild 2001: 99ff.). Die Kritik richtet sich hier dagegen, dass dem Kind das Recht an seiner eigenen Person verweigert bleibt. Was die Abwehr der Fremdbestimmung betrifft, so erscheint Lockes Vorbehalt des Selbst-Eigentums plausibel. Gleichwohl führt die Anwendung des Eigentumsbegriffs auf das eigene Leben zu einigen Merkwürdigkeiten. Das Eigentum am eigenen Leben, von dem Locke so leichthin spricht, ist doch ziemlich irregulär, ohne dass ihn dies offenbar zu kümmern scheint. Man hat es nicht erworben, sondern allenfalls ›geschenkt‹ erhalten. Wenn Locke wie selbstverständlich davon ausgeht, dass man über sein Leben verfügt, so zieht er einen merkwürdig glatten Schnitt, der das Leben von Bedingungen scheidet, die sich nicht einfach abschütteln lassen. So sehr man einen durch Arbeit geschaffenen Wert sein eigen nennen mag, so wenig ist doch das eigene Leben Produkt der eigenen Arbeit; es bleibt hier immer ein Rest des »Nichtgetanhabens« (wie Hegel unwillig bemerkt; vgl. Thomä 2003: 234). Bevor man an irgendwelche Zwecke denken kann, schiebt sich

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dieses sogenannte Eigentum des eigenen Lebens doch schon mit Anforderungen nach vorne: Man spürt Bedürfnisse, das Leben will erhalten sein oder – da man selbst ja derjenige ist, der dieses Leben lebt –: man will sich selbst erhalten. Solchen Eigensinn ist man von dem, was man besitzt, normalerweise nicht gewohnt. Das, was man sein Eigentum nennt, meldet sich störrisch von selbst. Die Verfügungsmacht ist von Ohnmacht durchsetzt. Es besteht die Notwendigkeit der Beschaffung äußerer, d. h. gütergebundener, materieller Werte durch eigene Arbeit, um nur die Selbsterhaltung zu sichern. Die Früchte seiner Arbeit zu genießen ist eine Sache, einen knurrenden Magen und eine ausgedörrte Kehle zu haben eine andere. Solche Gefühle der Selbstenteignung sind allen Menschen vertraut. Darüber hinaus gibt es eine ›Enteignung‹ ganz anderer Art, in der man gleichfalls die Erfahrung des »Nichtgetanhabens« macht – nun aber nicht mit Bezug auf die körperliche Bedürftigkeit des Menschen, sondern mit Bezug auf Erfahrungen der Hingabe oder der Selbstpreisgabe: Auch hier wird der Eigentumsvorbehalt des Individuums außer Kraft gesetzt. Man will gar nicht darauf erpicht sein, sich selbst als sein Eigentum zu sichern, sondern man will ›von sich lassen‹, sich vergessen, aus sich heraustreten. Einerseits lässt das (biologische) Leben eine Verfügungsgewalt, wie sie das Selbst-Eigentum vorsieht, objektiv gar nicht zu; andererseits lässt die Lebensführung eine solche durchschlagende Verfügungsgewalt auch subjektiv gar nicht als erwünscht erscheinen. Soweit der Einwand, der gegen die Idee vom Selbst-Eigentum vorzubringen ist. Bei Locke kommt es, wie zu sehen war, zu einer Isolierung der individuellen Lebensführung, die sich auf die Idee eines »punktuellen Selbst« stützt, das von jedwedem Kontext gelöst ist und dem die vollständige Verfügung über sich selbst (als sein Eigentum) zugesprochen wird (vgl. zur Kritik Taylor 1989: 289ff.). Damit ist ein individualistischer Vorbehalt gemacht, der sich gegen die harmonistischen, organischen Gemeinschaftsmodelle richtet, von denen bereits mit Bezug auf Herder die Rede war. Deshalb auch ist mit dem Eigentum am eigenen Leben ein unbändiger Freiheitsanspruch des Individuums verbunden.

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Wenn man Locke versuchshalber zugibt, dass man Eigentümer seines Lebens (oder jedenfalls bestimmter Aspekte desselben) sei, dann ist zu fragen, was mit diesem Eigentum sinnvollerweise anzustellen sei. Damit gelange ich zu der Frage, wie es zu ›mehren‹ wäre. Diese Frage zielt auf die zweite der oben angeführten Thesen, die sich aus Emersons Plädoyer für inneren Reichtum ergaben. Sie besagte – zur Erinnerung –, dass die Entfaltung des Eigentums zu einem Wachstum führen soll und der Person einen Gewinn zukommen lässt. Zu 2. Üblicherweise nennt man etwas sein eigen, besitzt man etwas, um – direkt oder indirekt – ›davon irgendetwas zu haben‹. Soll man sich bei der Frage, was man vom Leben hat, an Karl Kraus halten und sagen: »Das Leben ist eine Anstrengung, die einer besseren Sache würdig wäre« (vgl. zu diesem Zitat Thomä 2003: 306)? Das schiere Überleben ist jedenfalls nicht abendfüllend. »Das Vegetieren ist der Güter höchstes nicht«, sagt der Philosoph Heinrich Rickert (1911: 59) und verschärft damit die berühmte Schlusszeile von Schillers Braut von Messina. Eine Ausrichtung des Lebens an der bloßen Selbsterhaltung schneidet schlecht ab bei denjenigen, die – wie Sokrates, Kant, Nietzsche, Max Weber, Max Scheler, Georges Bataille, Hannah Arendt und viele andere – mit dem Leben mehr im Schilde führen. Etwas Besseres als den Tod findet man überall, sagen die Bremer Stadtmusikanten; nun soll auch etwas Besseres zu finden sein als das ›bloße Leben‹ (vgl. Thomä 2004a). Kann dies am Leitfaden des SelbstEigentums gelingen? Jedenfalls ist damit gewährleistet, dass sich ein Mensch über seinen Arbeits-Einsatz weiterer Güter versichern kann; dieser zusätzlichen Aneignung, also auch einer damit möglicherweise verbundenen weiteren Entfaltung des Lebens sind im Prinzip keine Grenzen gesetzt. Man profitiert von der Verfügung über zusätzliche Ressourcen. Locke selbst ist interessanterweise ziemlich zurückhaltend, was die Mehrung äußerer Werte, die über das für die Selbsterhaltung erforderliche Maß hinausgeht, betrifft. »Der Wunsch, mehr zu haben als ein Mensch braucht, hat den intrinsischen Wert der Dinge verändert«, sagt er mit erkennbarem Bedauern im Blick auf einen Prozess, den er mit

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der »Erfindung des Geldes« in Verbindung bringt (1690/1988: 293f. [§§ 36f.]; vgl. McPherson 1962/1967: 229). Zunächst setzt die Bedürftigkeit, die Not, der der Mensch ausgesetzt ist, bei ihm eine Anstrengung frei, die dann über die Beschaffung von Gütern hinaus zur Entwicklung persönlicher Kompetenzen führt (vgl. auch von Thünen 1826-1850/1990: 476: »Die Arbeiter werden durch ihr eigenes Interesse, durch das Streben nach größerem physischen Wohlsein, zur Erlangung der Freiheit geführt [...]; und so erscheint die Notwendigkeit nicht mehr als die Geißel, sondern als die Erzieherin des Menschengeschlechts.«). Kommt es zu einer Expansion materieller Orientierung und individueller Freiheit, so kann nach Locke das Gleichgewicht gefährdet werden, wonach jeder durch eigene Arbeit die Selbsterhaltung sichern kann. Locke ist geleitet von der Sorge, dass eine Ausdehnung von Besitzansprüchen das Gleichgewicht zwischen den Individuen außer Kraft setzt und im Einzelfall die freie Selbsterhaltung durch eigene Arbeit einschränkt. Doch wie ist dieser Gefahr ein Riegel vorzuschieben? Hierzu müssten entweder Mechanismen eingeführt werden, die in dem Fall greifen, da die Entfaltung der Freiheit eines Individuums durch ein anderes beeinträchtigt ist; dies wäre eine nachträgliche Strategie. Oder es müsste sich festlegen und eingrenzen lassen, welche äußeren Werte der Mensch braucht; dies wäre eine präventive Strategie. (Die zweite Strategie ist in der Geschichte der Moderne letztlich chancenlos geblieben.) Locke steht im Grunde ein wenig ratlos vor einer Entwicklung, an der er unter der Überschrift des »Eigentums« zwei Zipfel zu packen bekommt: die materielle Sicherung der Selbsterhaltung mit der damit einhergehenden Orientierung an materiellen Werten einerseits und die Forderung nach Freiheit einschließlich ihrer politischen Implikationen andererseits. Interessant ist, dass Locke einen möglichen Konflikt zwischen jenen zwei Perspektiven antizipiert – dass nämlich der Erwerb äußerer Werte auf Kosten der Freiheit anderer Menschen als eines inneren Werts gehen kann. Zu ergänzen ist, dass dieser Erwerb auch auf Kosten der eigenen Freiheit gehen kann – etwa wenn die Fixierung auf

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äußere Werte andere Aspekte des Lebens in den Hintergrund drängt. Hier hat der traditionelle Topos der Kritik an Reichtum und Geldgier seinen Platz, und hier kommt auch die Diskussion zum Verhältnis zwischen Glück und Konsum zum Zuge (vgl. Thomä 2003; Thomä 2004b). Obwohl Locke die Freiheit qua Arbeit an die Selbsterhaltung bindet, schafft er die Voraussetzungen für eine Überlegung, die sein eigenes Schema sprengt: dass nämlich eine Person die Selbsterhaltung weit übertrumpft und sein Eigentum in Gestalt der angeeigneten Güter immer weiter mehrt. Damit kommt es zu einem Wechsel der ökonomischen Kategorien von dem (zu sichernden) Eigentum zu dem (zu mehrenden) Kapital. Es geht nicht nur um den Besitz, sondern um die Verwertung und Vermehrung dieses Besitzes, sowie um die Bereicherung oder Steigerung des Lebens. Dass der Umgang mit dem Eigentum diese Frage der Mehrung oder Verzinsung nach sich zieht, wird in der Zeit nach Locke schnell deutlich. Am knappsten kommt sie in Turgots Feststellung »Jeder Eigentümer ist Kapitalist« – »tout propriétaire est capitaliste« – zum Ausdruck (1769-1779/1990: 160 [§ 93]; vgl. Hilger/Hölscher 1982: 436). (Zwar ist bei Turgot der Ausdruck »propriétaire« nicht so weit gefasst, dass er jeden Eigentümer des eigenen Lebens meint; er ist vielmehr auf denjenigen gemünzt, der Grund besitzt. Doch der Sache nach gibt es keinen Grund, sich an diese enge Bedeutung zu halten. Wenn dem Menschen das »Eigentum« an seiner eigenen Person und Arbeitskraft zuerkannt wird, muss formal auch der »Arbeiter« als »Kapitalist« bezeichnet werden; diese Konsequenz zieht Friedrich Benedikt Weber 1813, wenn er die »Arbeiter, alle und jede Erwerbenden« als »Capitalisten« bezeichnet; vgl. Hilger/Hölscher 1982: 437.) Die äußeren Werte (oder Güter) dienten gemäß Lockes zurückhaltender Lesart des Eigentums zur Entlastung von den Sorgen der Selbsterhaltung; damit konnten alle Tätigkeiten, die darüber hinaus gingen, höheren Zielen dienen und gemäß ihrem inneren Wert ausgeübt werden. Doch im Zuge der Ausweitung äußerer Werte kommt es zu einer immer stärkeren Vermischung dieser zwei Wert-Dimensionen. Von

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Adam Smith wird diese Entwicklung auf faszinierende Weise deutlich gemacht. Er sagt einerseits, die höchsten Bedürfnisse seien »ease of the body and peace of the mind«, also körperliches Wohl und innerer Frieden. Andererseits bemerkt er die enorme Dynamik der »pleasures of wealth and greatness«, die er als Ergebnis einer »Täuschung« bezeichnet, die aber in der Lage sind, »the industry of mankind« anzuregen und in fortlaufender Bewegung zu halten (vgl. Smith 1759/2000: 214, 216; Crowley 1999: 772f.). Zwar hat es jenseits der Selbsterhaltung immer schon materielle Ziele, etwa in Form des Luxus und des Prunkes gegeben, doch funktionierte die Sehnsucht danach und dessen Zurschaustellung nicht nach dem Prinzip der Kapitalbildung. (An den frühen Kontroversen um den Luxus, etwa am Unterschied zwischen Bacons Kritik und Humes Verteidigung des Luxus, ist das Eindringen der Idee des Wachstums und der Vermehrung in diesen Bereich präzise nachvollziehbar; vgl. Bacon 1625/1982; Hume 1754/1985.) Im Zuge des Siegeszugs des Kapitalismus wird nun die Kapitalbildung auf die Entwicklung der Persönlichkeit insgesamt bezogen. Eine Person entfaltet sich nicht nur dort, wo die Not der Selbsterhaltung ein Ende hat und die Freiheit des Gedankens, die Bewährung der Tugend oder die Seelenruhe ihre Domäne haben. Es kommt zu einer Umdeutung personaler Identität: Eine Person soll sich in ihren Wahlentscheidungen und in ihrem Umgang mit äußeren Werten erst konstituieren. Der Konsument gilt nicht nur als eine von Passivität angekränkelte Abart des handelnden Subjekts, sondern als Pol von Aktivitäten (vgl. zur Kontroverse um den Status des Konsumenten Arendt 1958 gegen Livingston 1998). Einerseits gilt der Konsument als von äußeren Reizen beherrscht, andererseits als entscheidungsfähige Instanz (vgl. Foucault 2004: 315 [mit Bezug auf die Konsumtheorie Gary Beckers]; Campbell 1987: 88ff.; Brewer 1997: 51ff.; Slater 1997: 33; als Gegenposition vgl. Anderson 2003). Eine affirmative Lesart der Beziehung zwischen Person und Gütern drängt sich im 19. und 20. Jahrhundert immer mehr in den Vordergrund, und damit wird es auch immer schwieriger, eine klare Linie zu ziehen, die die Identität der Person von solchen Gütern freihält.

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E INIGE P ROBLEME BEI DER ANWENDUNG DES K APITALBEGRIFFS AUF DIE L EBENSFÜHRUNG Ich möchte nun auf einige Probleme hinweisen, die mit dieser Idee der Lebensführung als Selbst-Kapitalisierung verbunden sind. Sie haben zum einen mit der Minderung und Mehrung des Vermögens zu tun und betreffen zum anderen dessen innere Struktur, also das, was man in der Finanzsprache vielleicht die verschiedenen Anlageformen nennen würde. Zunächst stößt man auf das Problem des Vermögensverlustes. – Damit das Vermögen oder Kapital einer Person nicht tot ist, muss es in Umlauf gebracht oder investiert werden. Das Vermögen als solches stellt einen Zustand bloßer Möglichkeit dar; deshalb nennt übrigens auch Arthur Schopenhauer das Geld die »Glückseligkeit in abstracto« (1851/1986: 691). Das Vermögen enthält ein Potenzial, das einstweilen bloß die Möglichkeit einer Erfüllung bietet; mit dem Eintreten dieser Erfüllung muss freilich etwas ausgegeben werden, es geht also etwas verloren, das vom Leben irgendwie abgezogen oder subtrahiert werden muss. Doch nicht jedes Ausleben eines menschlichen »Vermögens« geht mit dessen Minderung einher. Es ist nicht zwingend, dass die »Barschaft« des eigenen »Lebensgefühls«, von der Kant (s. o.) spricht, sich verringert, während man ein Gefühl aus-›kostet‹. Neben dem vermeintlichen Verlust gibt es das Problem des möglichen Gewinns, den man aus dem eigenen Kapital zieht. – Im Zuge der Erinnerungsforschung (und eigentlich schon seit Henri Bergsons Materie und Gedächtnis einerseits, der Psychoanalyse andererseits) ist die Vorstellung hinfällig, die Identitätsbildung erfolge im Zuge einer Speicherung oder Anreicherung – so als befinde sich in der Person ein immer weiter zu füllender Behälter oder Kübel. Entsprechend wirkt es seltsam, die Entfaltung der Persönlichkeit dem Gesetz permanenten Wachstums zu unterstellen. Die Rede vom ›Wachstum‹ einer Persönlichkeit ist mit Vorsicht zu genießen. Die Art dieses Wachstums, etwa im Sinne einer Differenzierung der Urteilskraft, einer zunehmenden Reife an Erfahrung etc. ist nicht kumulativ, sondern erfordert eine

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Kunst des Umgangs mit der Vergangenheit. Zu dieser Kunst gehört einerseits die Bereitschaft, Vergangenes abzuschütteln, andererseits die Bereitschaft, Vergangenes nicht einfach ›abzustoßen‹. Erinnerungen – ob schmerzlich oder nicht – lassen sich nicht einfach in der Weise kapitalisieren, dass man sie etwa abstößt und dafür dann etwas anderes erwirbt. Dass die Menschen freilich damit liebäugeln, das, was sie getan haben, ›abzustoßen‹ oder einzutauschen, also als ein verschiebbares Kapital zu behandeln, zeigt sich auf populäre Weise in den Ablasshändeln, die einen Tiefpunkt in der Geschichte des Christentums bilden; man denke an den berühmten »Tetzelkasten«, in den man die Dukaten hineinlegte, um sich von einer Sünde zu entlasten. Neun Dukaten waren bei Meineid fällig, und dann konnte es heißen: »Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt!« In einer eindrucksvollen Wendung hat Jean Améry die Deutschen aufgefordert, den Nationalsozialismus nicht zu »vertuschen«, sondern als »negatives Eigentum in Anspruch [zu] nehmen« (1966: 124). Diese Art des Eigentums ist der Idee des Wachstums eines ›Vermögens‹ nicht zugänglich. Auf ein letztes Problem möchte ich kurz hinweisen – nämlich darauf, dass die Idee vom Selbst-Vermögen auch, was dessen Anlageformen betrifft, ins Trudeln gerät. – Die Anreicherung von innerem Vermögen ergibt nicht notwendig ein geschlossenes Bild, sondern kann zu einer Ausfransung der Persönlichkeit führen, zu einem Charakter, der beim Blick in den Spiegel erschrocken sagt: ›Es ist alles so schön bunt hier!‹ Die Pluralisierung von ›Vermögen‹ erfordert eine eigene Fähigkeit, mit verschiedenen Optionen umzugehen. Anders als dies das Versprechen eines wachsenden Vermögens impliziert, kann diese Pluralisierung von manchen als bereichernd, von anderen aber als belastend empfunden werden. Es gibt einen einfachen Grund für diese Reibereien, die bei der Übertragung des Vermögens-Modells auf die Lebensführung entstehen: Es gibt keine ›Währung‹, die für eine Übertragung eines bestimmten ›Wertes‹ in einen anderen, also für eine Vereinheitlichung oder wenigstens Vergleichbarkeit der ›Werte‹ sorgen könnte. Sie steht im Falle des ›inneren‹ Vermögens nicht zur Verfügung. Dies

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eben zieht eine Vielfalt von ›Werten‹ und auch Konflikte zwischen ihnen nach sich. Will man die Deutung der Lebensführung anhand des Konzepts des Humankapitals abschließend beurteilen, so kommt man zu einem ambivalenten Resümee. Zwar erscheint sie, was die Einbeziehung der Phänomene der Entwicklung und der Bereicherung betrifft, durchaus plausibel, doch das konkrete Funktionieren des Lebensvollzugs entzieht sich einer Bewertung in einem Maße, das die Anwendung ökonomischer Kriterien nur noch in metaphorischer Weise zulässt. Dann ist es allerdings unzulässig, einer Ökonomisierung des Lebens am Leitfaden des Humankapitals das Wort zu reden. Damit wären meine Überlegungen an ein Ende gelangt, wenn man nicht im geheimen Zentrum der Logik des Humankapitals, die ich zu analysieren versuche, eine Figur anträfe, die eigene Beachtung verdient: die Figur nämlich, die über das Kapital verfügt, es verwaltet, mehrt oder auch in dessen Genuss kommt. Ich wende mich deshalb dem Verständnis der Person zu, auf das sich jene Logik stützen muss.

D ER » INNERE W ERT « DES ÖKONOMISCHEN AKTEURS UND DES MORALISCHEN S UBJEKTS In der Ökonomie wird das Kapital, das ein Mensch verkörpert, nach dessen Nutzen für den Betrieb bewertet. Schon aus ökonomischen Gründen ist jedoch eine Verinnerlichung des Bewertungsprozesses erforderlich, sodass der Einzelne selbst sein Leben gleichfalls am Leitfaden des Kapitals bewerten kann. Nur dann lässt sich das Funktionieren der Individuen im Markt optimieren. Michel Foucault resümiert diese Auffassung folgendermaßen: »Der Homo oeconomicus ist ein Unternehmer, und zwar ein Unternehmer seiner selbst [...], der für sich selbst sein eigenes Kapital ist, sein eigener Produzent, seine eigene Einkommensquelle.« (2004: 314) Diese innerökonomische Tendenz zur Individualisierung wird von einer politisch-moralischen Forderung verstärkt, wonach es einer Person in Ausnützung liberaler Spielräume zu-

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steht, über die Entfaltung ihrer eigenen Fähigkeiten und also auch über deren Bewertung zu entscheiden. Nur bei der Individualisierung des Humankapitals kann das »menschliche Wesen« sein »eigenes Eigentum bleiben« (Marshall 1890/1898: 659). Diese Version des verinnerlichten oder individualisierten Humankapitals basiert auf einen Verständnis der Person, der die Freiheit zusteht, über den Umgang mit Werten und über die eigenen Lebensziele Entscheidungen zu treffen. All dem, wovon man sich angezogen fühlen mag, was zu mehren, zu verschwenden oder auszuleben ist, soll eine Instanz übergeordnet sein, die das höchste Urteil darüber fällt, was wirklich etwas ›wert‹ ist. Unabhängig davon, ob es sich nun um materielle Güter handelt oder um ideelle Ziele, Präferenzen, Wünsche: die Sache selbst, für die eine Person sich jeweils entscheidet, bringt nicht ihre eigene Wichtigkeit, ihren eigenen Wert mit; vielmehr ist der Wert der Sache, mit der eine Person umgeht, ein Abglanz dieser Person selbst. Der Wert der Sache verdankt sich demnach der Wertung der Person. Im Sinne der Freiheit, die dem Individuum zugesprochen wird, wird es unmöglich, ihm etwas zuzumuten mit dem Argument, etwas sei einfach wertvoll. Dies würde als Bevormundung gewertet. Es gibt gar keine eigenständigen, sondern nur abgeleitete Werte, die dem Wert entspringen, den man prinzipiell der freien Entscheidungsfindung des Individuums zuschreibt. Dieser radikale Vorbehalt, die Verlagerung des Wertes auf die Person, die Werte zuschreibt, führt zu einer strikten Hierarchie: Was als eigenständiger Wert allein bleibt, ist die Freiheit. Die Plausibilität der Theorie des Humankapitals hängt von der Plausibilität dieser Voraussetzung der Bewertungskompetenz des Individuums ab. Für die Deutung dieser Kompetenz stehen nicht nur ökonomische Interpretationen zur Verfügung, wonach die Wahlfreiheit in den Wünschen und Vorlieben des jeweiligen Individuums zum Ausdruck kommt. Diese Freiheit steht in einem interessanten Spannungsverhältnis zu einer Freiheit, die strengeren Kriterien genügen soll: nämlich der Freiheit, wie sie in der kantischen Tradition vertreten wird. Auch hier kommt es zu einer Monopolisierung des »Werts« in der Freiheit der

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Person – freilich wird diese Freiheit anders verstanden. Eine Erörterung der Idee des Humankapitals ist erst vollständig, wenn das Verhältnis zwischen den geschilderten Freiheitsbegriffen mitbedacht wird. »Der absolute Werth des vernünftigen Wesens heißt Würde, und das Subjekt der Würde heißt Person«, sagt der Kantianer Jakob Fries (1803/1914: 32; vgl. Dann 1975: 1022), und Kant selbst stellt gegen den »Preis« als äußeren Wert den »innern Wert« des Menschen, nämlich die »Würde«, die in der »Autonomie« des Menschen verankert wird (1785/1983: 68, 74 [BA 77, 87]; 1797/1983: 600 [A 139f.]). Kant bezieht also die Hierarchisierung, die ich am Verhältnis zwischen den äußeren Werten und der wertenden Person festgemacht habe, auf eine Trennung zwischen dem »Wert«, der als »Preis« irgendwelchen Dingen zukommt, und dem »Wert« der Person als »Würde«. Kant sagt: »Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde. Was sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreis; das, was, auch ohne ein Bedürfnis vorauszusetzen, einem gewissen Geschmacke, d.i. einem Wohlgefallen am bloßen zwecklosen Spiel unserer Gemütskräfte, gemäß ist, einen Affektionspreis; das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d.i. einen Preis, sondern einen innern Wert, d.i. Würde.« (1785/1983: 68 [BA 77])

Die Instanz, die mit äußeren Werten umgeht, erhält einen Sonderstatus, einen unbedingten Vorrang. Ihre Freiheit ist letztlich die Voraussetzung des ganzen Spiels, das getrieben wird. Unabhängig von der Kapitalausstattung, dem »Marktpreis« oder »Affektionspreis«, kommt dem Menschen diese Freiheit zu. Kant errichtet gewissermaßen einen Firewall zwischen äußerem und innerem Wert – wobei dieser innere Wert sich letztlich auf die »Würde« konzentriert. Dabei verbindet Kant mit dieser »Würde« mehr als nur die Freiheit desjenigen, der Entscheidungen über sein »Kapital«

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fällt. Von einer ökonomischen oder quasi-ökonomischen Deutung der Lebensführung qua Anlageberatung ist Kant weit entfernt. Er will sicherstellen, dass diese Freiheit tatsächlich unangefochten bleibt, und kann sie deshalb nur unter bestimmten Bedingungen anerkennen. Nach Kant verdient die Freiheit des Menschen diesen Namen nur, wenn sie immun ist gegen die Anfechtungen der Sinnlichkeit, also eben gegen »äußere Werte« und ihre Reize. Daher bindet er die Freiheit – jenseits individueller Präferenzen – an die Selbstgesetzgebung. Das Bollwerk des »inneren Werts« des Menschen betritt das Individuum erst im Zuge der Einsicht in seine Vernünftigkeit (vgl. Korsgaard 1983: 182). Dabei soll es auf das allgemeine Gesetz stoßen, dem es sein Leben zu unterstellen hat und das es bei seiner Lebensführung leitet. So teilt Kant mit der Ökonomie die Zuspitzung auf die Freiheit und errichtet zugleich ein Bollwerk gegen die Ökonomisierung des Lebens. Insoweit könnte man geneigt sein, die Rede vom Humankapital mithilfe Kants in ihre Grenzen zu weisen. Dazu taugt sie in der Tat, sofern es darum geht, das Schillern zwischen individuellen und allgemeinem Nutzen, das den ökonomischen Theorien des Marktes eigen ist, kritisch zu analysieren. Doch mit dieser Gegenüberstellung will ich mich nicht zufrieden geben, sondern abschließend der Frage nachgehen, wie es um eine Voraussetzung steht, die beide Ansätze gemeinsam haben: nämlich den Ansatz beim wertsetzenden Individuum. Mir scheint, anders gesagt, dass Kants Freiheitsbegriff auf eine vertrackte Art doch ein Partner der Idee des Humankapitals bleibt. Zweifellos ist Kant mit seiner Theorie des »inneren Werts« weit entfernt von dem Investor, der mit dem Kapital seines Lebens umspringt (und vielleicht eine Investitionsruine wird). Und doch gibt es eine präzise definierbare Schnittmenge zwischen Kants Theorie der Person und den ökonomischen Theorien. Zwar wird die Freiheit des Individuums unterschiedlich gedeutet, doch hier wie dort ist sie als »Wert« außer Konkurrenz allen anderen Werten vorgeschaltet und übergeordnet. Entsprechend stößt man auf alles andere als belanglose Überschneidungen zwischen den Lagern. Immanuel Kant behauptet, es komme »nicht auf das an, was die Natur aus dem Menschen, sondern

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was dieser aus sich selbst macht«; damit stelle der Mensch sein »Vermögen« unter Beweis, »einen Zustand von selbst anzufangen« (1798/1983: 634, 636f.; 1781/1983: 488 [A 533/B 561]). Dazu passt Herder mit der Forderung, dass der Mensch »aus sich selbst macht, was aus ihm werden kann und soll« (1793-1797/1991: 164). Dazu gesellt sich aber auch der Ökonom Johann Heinrich von Thünen, der fordert, dass jeder zu einem »Beherrscher des Kapitals«, das in seiner eigenen Person besteht, werden soll: »Der Mensch soll also aus und durch sich selbst werden; er soll sein eigenes Werk sein.« (18261850/1990: 477, 479) Und wenn Johann Gottlieb Fichte von der »Sichselbstconstruction« des Menschen spricht, die »in sich, von sich, durch sich« erfolge (vgl. Vossenkuhl 1995: 204), so ist dies auch nur eine philosophische Version des self-made man. Kant tut so, als hätte das Ich, das in Freiheit seinen »Anfang« setzt, keine Vergangenheit oder allenfalls eine Vergangenheit, die es abzuschütteln gilt. Weil er die Lebensführung auf die Autonomie zurückführt, kommt die Person, die er auftreten lässt, gewissermaßen ›aus dem Nichts‹ (vgl. zur Kritik an dieser Vorstellung Thomä 2005a). Kant muss allen Haltungen unterhalb des Vernunftgesetzes, das der freie Mensch an sich selbst entdeckt, mit Misstrauen begegnen; er zeichnet das Bild einer Person, die ebenso wie der homo oeconomicus, der liberale Herrscher über seine Interessen, über die Welt erhaben sein will. Diese Karikatur sollte man nicht zur Leitfigur küren. Die Person bekommt dank ihrer Vernunft, mit der sie die Moral als allgemeines Gesetz einsieht, einen unvergleichlichen »inneren Wert« zugesprochen. Doch auf diese Weise lässt die Moderne ihr ethisches Repertoire, also auch ihre Rede von ›Werten‹ verkommen. Was bei Kant z.B. unter den Tisch fallen muss, ist die Erfahrung, dass ich mit einer anderen Person mitgehe, dass mir wichtig ist, wie es ihr ergeht, und ich von ihrem Schicksal überwältigt bin. In dieser Erfahrung – man denke etwa an das Mitleid oder an die Liebe – wird die IchInstanz aufgebrochen, die doch nach der ökonomischen Theorie ebenso wie nach Kant das Monopol des »inneren Werts« darstellen soll. Gerade eine solche Erfahrung bringt mich aber in Situationen, in denen ich

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auf »Werte« stoße; der Soziologe Hans Joas hat sie Schauplätze der »Selbsttranszendenz« genannt (1997: 123ff. u. pass.). Mit der Fixierung auf die »Würde« als dem einzigen »inneren Wert« des Menschen, der »äußeren Werten« entgegengehalten werden kann, ist also eine gewisse Borniertheit verbunden. Weil die »Würde« an die Freiheit der Selbstgesetzgebung gebunden ist, muss eine Person die Erfahrungen der »Selbsttranszendenz« als Gefahr für die eigene Selbstbestimmung empfinden. Doch die Wert-Erfahrung ist nicht eingeschlossen ins Individuum, das Einsicht ins allgemeine, moralische Gesetz gewinnt. Was »wertvoll« ist, leitet sich nicht aus »der eigenen Reaktion« ab, sondern wird von mir als »ein höheres Gut« erkannt (vgl. Joas 1997: 204; Taylor 1989: 143). Eben diese »Selbsttranszendenz« spielt auch eine Schlüsselrolle bei der Identitätsbildung. Sie wird von Kant vernachlässigt und reduziert sich bei ihm auf die innere Prozedur einer Einsicht in die eigene Vernünftigkeit. Max Scheler hat die Frage aufgeworfen, »ob die formalistische Vernunft- und Gesetzesethik nicht auch ihrerseits – wenn auch auf eine andere Art wie die Formen der Güter- und Zweckethik – die Person entwürdige, und zwar dadurch, dass sie dieselbe unter die Herrschaft eines unpersönlichen Nomos stellt, dem gehorchend sich erst ihr Personwerden vollziehen soll« (1916: 381).

Was ist mit der Kritik an der abstrakten Freiheitsprämisse, durch die die Theorie des Humankapitals und die Moralphilosophie Kants geeint sind, gewonnen? Ich schlage vor, im Anschluss daran eine Gegenüberstellung zu überwinden, die sich in der Beschreibung sozialer Konflikte in modernen Gesellschaften eingeschliffen hat. Üblicherweise wird mit der Gegenüberstellung zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen operiert (vgl. mit Bezug auf Hegel Thomä 2006, Kap. 2): Der Wert des Individuums wird vor äußeren Bewertungen des Marktes in Schutz genommen; die individuelle Freiheit wird durch moralische Gesetze eingeschränkt etc. Noch die Versuche, diese Gegensätze zu überwinden, bleiben derselben Logik verhaftet: So soll der Markt ge-

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rade die Sphäre sein, in der sich das Individuum zum Wohle seiner selbst und des Ganzen entfalten kann; oder es heißt, im Befolgen des moralischen Gesetzes könne die individuelle Selbstbestimmung zu ihrer höchsten Form finden. Bei all diesen Beschreibungen wird immer schon die Sphäre übersprungen, die überhaupt erst die Geburtsstätte des Verständnisses von »Werten« ist, das beim Austragen der Gegensätze zwischen Individuellem und Allgemeinem jeweils als gegeben unterstellt wird. Was die Frage ›wertvoller‹ Erfahrungen des Lebens betrifft, so genügt es nicht, zwischen ökonomischen und moralischen Aspekten, zwischen äußeren und inneren Werten, »Preis« und »Würde« zu unterscheiden. Vielmehr bedarf es einer grundsätzlichen Reflexion auf die Quellen der ›Werte‹, auf die wir uns bei der Beurteilung und Ausrichtung unseres Handelns beziehen. Diese Werte lassen sich weder auf Wertzuschreibungen des Individuums (im Sinne ökonomischer Präferenzen) noch auf die dem Individuum zugängliche Vernunft (im Sinne des moralischen Gesetzes) reduzieren. Vielmehr ergeben sich diese Werte in sozialen Bezügen, deren Eigenrecht und Eigenständigkeit in modernen Gesellschaften verteidigt werden muss. Dies ist insbesondere deshalb erforderlich, weil die anstehende Transformation westlicher Gesellschaften auf funktionierende soziale Zusammenhänge angewiesen ist. Sie bilden eine eigene Sphäre neben den Sphären, in denen ökonomisch-individualistische oder moralisch-universalistische Spielregeln gelten. Das moderne Leben basiert darauf, dass es in jenen verschiedenen Sphären existiert und die verschiedenen Herausforderungen, die sich dort jeweils stellen, zu bestehen vermag. Dass der Wert des Menschen Schutz genießt, ist nur eine Folge davon, dass die Menschen ›wertvolle‹, ›werthaltige‹ Erfahrungen miteinander teilen können.

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Riskante Freiheit – Der Hang zum Bösen und seine Folgen A NNEMARIE P IEPER

Unsere Lebenswelt stellt sich aus sozialer Perspektive betrachtet als eine zwischenmenschliche Gemeinschaft dar, deren Netzstrukturen auf vielfältige Weise mit unterschiedlichen Wertvorstellungen verknüpft sind. Da konkurrieren monetäre Werte mit moralischen Werten und ethischen Grundwerten, materielle Werte mit immateriellen. Wo es um Werte geht, sind stets auch die Kategorien des Guten und Bösen mit im Spiel: Was als wertvoll erachtet wird, ist gut, was als wertlos oder unwert deklariert wird, ist böse oder mindestens schlecht. Die Achse des Guten und Bösen verläuft in der Regel entlang einer Demarkationslinie, die religiös, ideologisch oder kulturell besetzt ist. Wer sich an den Normen dieser Linie orientiert, gilt als guter Mensch, wer sie überschreitet oder ignoriert, gilt als schlechter bzw. böser Mensch. Aus ethischer Perspektive stellt sich in diesem Zusammenhang die grundsätzliche Frage nach der Verantwortung für eine Handlung, die mir nützt, anderen Menschen jedoch schadet. Wer absichtlich, also wissentlich und willentlich, seinen Mitmenschen Schaden zufügt, gilt als böse. Aber woher nehmen wir den Maßstab für unsere Evaluierung von Dingen und Menschen? Gibt es an oder in uns etwas von Natur aus Verdorbenes, das uns unausweichlich zum Bösen verleitet? Und verfü-

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gen wir über eine angeborene moralische Kompetenz, die uns – etwa in Gestalt eines Gewissens – das unfehlbar Gute vor Augen hält? Oder benötigen wir zu unserer Orientierung einen Gott, der uns mittels Geboten und Verboten mitteilt, was wir als das Gute zu tun und als das Böse zu lassen haben? Idealistische Körperideologien verorteten das Böse in der Natur des Körpers. Sie sahen das Verbrechen des Körpers darin, dass er nichts anderes im Sinn hatte, als die Seele qua Sitz der Vernunft und Inbegriff des Guten in ihrer geistigen Tätigkeit zu behindern, wenn nicht gar materiell zu infizieren und damit das seiner Natur nach Gute durch das Böse zu infiltrieren. All die Reinigungsrituale und Hygienemaßnahmen, zu denen die Metaphysik und das Christentum anhielten, zielten darauf ab, sich von den Beschmutzungen des Körpers zu säubern und dem Guten die Möglichkeit zu geben, sich an einem reinen, gleichsam ent-bösten Ort zu etablieren. Im Teufel als absolutem Gegenstück zum Geistwesen, das in beständiger Katharsis dem Guten den Boden bereitet, wurde das verkörperte Böse schlechthin gesehen. Obwohl auch der Teufel Geist sei, verwende er doch seine Geistesgaben ausschließlich darauf, Gelüste und Begierden zu schüren. So mache er sich zum Erfüllungsgehilfen des Körpers. Die Schlüsselkategorie im Zusammenhang mit der Frage nach der Herkunft des Bösen ist Freiheit. Der neuzeitliche Mensch abendländischer Prägung schreibt sich kraft seiner Vernunft Freiheit zu: Freiheit von den Kausalketten der Evolution und Freiheit zu selbstbestimmtem Handeln. Das aufgeklärte Subjekt begreift sich als seiner selbst mächtiges, d.h. als autonomes Wesen. Doch diese Macht über sich selbst droht ständig zu eskalieren, weil es einem sich frei fühlenden Wesen schwer fällt, Grenzen zu respektieren. Seit jeher testen die Menschen, wie weit sie gehen können, bis zu welchem Grad sie ihre körperlichen und geistigen Kräfte zu steigern vermögen. Die Ausdehnung des eigenen Machtbereichs durch immer riskantere Unternehmungen – etwa im sportlichen, politischen oder ökonomischen Umfeld – hat zur Folge, dass am Ende kein Maß mehr anerkannt wird. Wenn sportliche Höchstleistungen nur noch mithilfe von Dopingmitteln erbracht werden kön-

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nen; wenn grenzenloses wirtschaftliches Wachstum die Arbeitslosigkeit vergrößert und die Kluft zwischen Arm und Reich verbreitert, wird Freiheit missverstanden im Sinne von Beliebigkeit oder reiner Willkürfreiheit von Machtgierigen. Die Erkenntnis der Aufklärung, dass Freiheit verantwortet werden muss und daher nicht grenzenlos sein kann, wird ignoriert. Als moralisierte und zivilisierte Menschen kennen wir die Gefahren, die eine absolute Freiheit und die damit verbundenen Allmachtsgelüste mit sich bringen. Die meisten halten sich an die Regeln der Freiheit – an moralische Normen und Rechtsgesetze –, die individuelle Freiheiten einschränken. Solche Einschränkungen sind dadurch legitimiert, dass sie einvernehmlich beschlossen werden, um der größtmöglichen Freiheit aller willen. Trotzdem genießen wir es, hin und wieder Möglichkeiten schrankenloser, in Verbrechen mündender Freiheit vor Augen geführt zu bekommen. Nicht weil das Böse als solches fasziniert, sondern weil die Abenteuer einer regellosen, uneingeschränkten Freiheit ein Überlegenheitsgefühl erzeugen, das die tagtäglich erlebten kleineren oder größeren Ohnmachten kompensiert. Ein packender Kriminalroman nimmt uns folgenlos gefangen. Wie Odysseus sich einst an den Mast seines Schiffes fesseln ließ, um dem betörenden Gesang der Sirenen gefahrlos lauschen zu können, so lassen wir uns durch einen Krimi fesseln, darum wissend, dass die geschilderten Machtanmaßungen und Grenzüberschreitungen fiktiv sind, gleichwohl aber Möglichkeiten einer Freiheit aufzeigen, die man sich manchmal wünscht, um unlösbar scheinende Konflikte mit einem Schlag aus der Welt zu schaffen. Möglichkeiten einer Freiheit, von denen man aber zugleich weiß, dass ihre Folgen in der Regel nicht mehr kontrollierbar sind. Der für eine absolute Freiheit zu entrichtende Preis ist hoch, wenn sie nicht nur in der Phantasie ausgelebt wird, und bedeutet bei nüchterner Betrachtung einen nicht zu verantwortenden Freiheitsverlust für die Betroffenen. Die Befriedigung, die man am Ende der Geschichte empfindet, wenn der Täter überführt und der Gerechtigkeit Genüge getan ist, könnte ein Indiz für die Einsicht sein, dass die Risiken und Neben-

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wirkungen der Entscheidungen, die uns der Alltag abverlangt, dem Leben bereits genug Würze geben, sodass ein Verbrechen sich nicht wirklich lohnt, um das eigene Machtpotenzial auszureizen. Gut und Böse sind Kategorien der Freiheit. Die Frage, ob sich das Risiko der Freiheit verringern lässt, wenn man sich eine Welt vorstellt, in der es keine Sachverhalte gibt, auf welche die Prädikate »gut« und »böse« anwendbar sind, ist zwar spekulativ, aber interessant. Gibt es Beispiele für eine Lebensform entweder diesseits von Gut und Böse oder jenseits von Gut und Böse? Und was passiert in einer solchen Welt ohne Gut und Böse mit der Freiheit? Der Ausdruck »Diesseits von Gut und Böse« verweist auf eine wertneutrale Zone, in welcher es noch keine Wertunterschiede gibt und entsprechend keine Sachverhalte, die positiv oder negativ zu Buche schlagen. So bewegten sich Adam und Eva im Garten Eden diesseits von Gut und Böse. Sie befanden sich an einem Ort, an welchem sich die Wertfrage überhaupt nicht stellte, weil alles qua göttlicher Schöpfung gleich wertvoll war, sodass es für Unwertes keine Entsprechung in der paradiesischen Lebenswelt gab. Nur der verbotene Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen deutete auf eine abstrakte Gegenwelt hin, in welcher Werturteile nötig würden, weil darin nicht mehr alle Sachverhalte unterschiedslos gleich viel wert waren. Im Unterschied dazu verweist der Ausdruck »Jenseits von Gut und Böse« auf eine Welt, in der Bewertungen irrelevant geworden sind, weil eine optimale Lebensform erreicht wurde, die nicht mehr steigerungsfähig ist. So geht es in Utopien um den Entwurf einer vollkommenen Gesellschaft, in welcher die Kategorien des Guten und Bösen gegenstandslos geworden sind, weil es nichts mehr gibt, worauf sich das Prädikat »böse« anwenden lässt. Wie im Paradies ist alles gleich viel wert – mit dem Unterschied, dass für Adam und Eva alles noch, für die Utopisten alles wieder perfekt ist. Ich möchte im Folgenden drei Lebensformen daraufhin untersuchen, was aus der Eliminierung von Gut und Böse für die Freiheit folgt. Welchen Gebrauch machen die Menschen diesseits von Gut und Böse von ihrer Freiheit? Diese Frage erörtere ich wie bereits angedeu-

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tet am Beispiel der ersten Menschen. Zur Beantwortung der Frage, welchen Gebrauch die Menschen von ihrer Freiheit jenseits von Gut und Böse machen, ziehe ich zum einen Friedrich Nietzsche heran, der bekanntlich eine Schrift gleichen Titels verfasst hat. Zum anderen gehe ich auf utopische Konstrukte ein, in denen es anders als bei Nietzsche nicht um das Gute und Böse der individuellen, sondern der kollektiven Freiheit geht.

D IE DES

MENSCHLICHE F REIHEIT ALS G UTEN UND B ÖSEN

U RSPRUNG

Betrachten wir also zunächst die Lebensform diesseits von Gut und Böse. Dabei wird sich zeigen, dass das Problem des Bösen seine Wurzel in uns selbst, in unserer Freiheit hat, die wir jederzeit missbrauchen können. Dies veranschaulicht die Geschichte vom Sündenfall, die in unserer westlichen Kultur das Menschenbild bis in die heutige Zeit prägt. Im dritten Kapitel des Buches Genesis des Alten Testaments wird berichtet, wie der Mensch das Böse in die Welt brachte, indem er sich gegen Gott erhob und damit den Boden bereitete für alle späteren Untaten, deren nächste nach der Eliminierung Gottes der Brudermord war. Die Geschichte vom Sündenfall macht als Ursprung des Bösen weder ungünstige Umstände noch schlechte Gene verantwortlich, sondern allein die menschliche Freiheit, welche die Freiheit zum Guten und zum Bösen ist. Gut und Böse sind die zwei Seiten jener Fähigkeit des Menschen, die ihn in den Stand setzt, sich als Gott oder als Teufel zu bestimmen. Das Böse ist so verstanden Resultat einer freien Entscheidung, die das Gute weder zufällig noch aufgrund eines metaphysischen Unfalls, sondern mit Absicht, d.h. wissentlich und willentlich verfehlt hat. Das Böse stößt uns also nicht gegen unseren Willen zu; wir sind dessen Urheber. Der Mythos vom Sündenfall lässt sich als paradigmatischer Bericht über den maßlosen, keine Grenzen respektierenden Freiheitsdrang des Menschen lesen. Er schildert kein historisches Er-

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eignis, sondern liefert eine Strukturbeschreibung der Willensfreiheit. Menschliche Individuen müssen – jedes für sich – darüber entscheiden, welchen Gebrauch sie von ihrer Freiheit machen wollen. Mit »Erbsünde« ist nicht gemeint, dass wir als Nachkommen unserer Ureltern deren Schuld und damit deren Böses geerbt hätten, so wie man die Schulden seiner Eltern erbt – und das Erbe ausschlagen kann. Was wir von Adam und Eva geerbt haben, ist die Ausgangssituation aller humanen Lebewesen, welche in eine Welt hinein geboren werden, die sie nicht selbst gemacht haben, und mit Geboten und Verboten – also Einschränkungen ihrer Freiheit – konfrontiert werden, deren Urheber nicht sie selbst, sondern ein Gott bzw. die voran gegangenen Generationen sind. Aufgerufen zur Freiheit, müssen sie, wie Adam und Eva, ihren Willen selbst bestimmen. Und wie bei Adam und Eva siegt auch bei ihnen der Egoismus des Eigenwillens über den sozialen Willen, sich zu zügeln und an Gesetze zu binden, die den Erhalt der Freiheit des Wir sichern sollen. Die Verabsolutierung des Ich blendet das Wir und die berechtigten Freiheitsansprüche der Mitglieder der Handlungsgemeinschaft aus. Adam und Eva wollten wie Gott sein, aber eben Götter von eigenen Gnaden. Durch ihre Missachtung des Gebots, den Baum der Erkenntnis unangetastet zu lassen, lösten sie die Beziehung zu Gott und schlossen ihn aus der paradiesischen Handlungsgemeinschaft aus. Sie wurden in der Tat unabhängig von Gott, übersahen jedoch, dass der Verzicht auf die Bedingung ihrer Freiheit wesentlich Unfreiheit zur Folge hatte. Mit dem Gegenteil der Freiheit wird auch das Gegenteil des Guten gesetzt, d. h. erst durch die Trennung und Ablösung des Bedingten vom Unbedingten entsteht ein radikaler Gegensatz, stehen sich Freiheit und Unfreiheit, Gut und Böse als einander ausschließende Gegensätze gegenüber. Adam und Eva langten nach etwas aus, das den Menschen unendlich übersteigt. Dabei entging ihnen, dass sie diesseits von Gut und Böse bereits im Paradies als der besten aller möglichen Welten lebten. Die Bedingungen für ein sinnerfülltes Leben lagen in ihnen selbst, in ihrer Freiheit, von der sie keinen egoistischen, sondern einen sozial

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verbindlichen Gebrauch machen sollten, einen Gebrauch, der Gott in ihre Gemeinschaft einschloss. Erst der Verlust des Paradieses lässt sie den Irrweg erkennen, der im destruktiven Gebrauch der Freiheit liegt und alle durch das Paradies repräsentierten Werte verhöhnt. Aber diese Einsicht allein reicht zur künftigen Fehlervermeidung nicht aus. Der Mensch muss seine Endlichkeit anerkennen und die Grenzen akzeptieren, die ein seiner selbst bewusstes, sich als frei bestimmendes Wesen bei seinen Zielsetzungen selbstverantwortlich zieht.

J ENSEITS

VON

G UT

UND

B ÖSE

Die Erörterung des Ausdrucks »Diesseits von Gut und Böse« macht, wie auch die Rede von einem goldenen Zeitalter am Anfang der Menschheit, nur in einem mythologischen Kontext Sinn. In einem Kontext, der gleichsam die Vorgeschichte des Menschen erzählt, in welcher die Kategorien des Guten und Bösen noch keine Rolle spielen, während die Gesamtkonstellation bereits die Zäsur erkennen lässt, an welcher das Wertbewusstsein erwacht und mit ihm die Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Im Unterschied dazu assoziiert man mit der Wendung »Jenseits von Gut und Böse« automatisch eine Welt, in der auf Wertverletzungen verzichtet wird. Die Prädikate »gut« und »böse« sind überflüssig geworden, weil das Böse eliminiert wurde und das Gute in das Bestehende eingegangen ist. Dies ist jedoch keineswegs die These Friedrich Nietzsches, dessen zwischen 1882 und 1885 entstandenes Werk den Titel Jenseits von Gut und Böse trägt, Untertitel Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Diese Zukunft stellte sich Nietzsche nämlich nicht so vor, dass in ihr die Kategorien des Guten und Bösen überflüssig sind. Nur die Herkunftsbeschreibung wäre eine andere, nachdem die Bedeutung, die Gut und Böse in der metaphysisch-christlichen Tradition aufgrund ihrer Verknüpfung mit einem göttlichen Willen hatten, obsolet geworden wäre. »Jenseits von Gut und Böse« heißt dann: ein Gut und Böse jenseits der

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christlichen Ideologie des Guten und Bösen, die Nietzsche einer massiven Kritik unterzieht. Nietzsche hat mit der christlichen Gottesvorstellung radikal aufgeräumt. Er war mit deren Tradition bestens vertraut, stammte er doch aus einem evangelischen Pfarrhaus und wurde im Internat in Schulpforta zur Frömmigkeit erzogen. Doch der erwachsene Nietzsche hat wie kaum ein anderer gegen das Christentum polemisiert. Er wurde zeit seines Lebens nicht müde, Gott als eine Illusion zu entlarven, erfunden, um die Traurigen zu trösten und die Ohnmächtigen zu stärken. Was bisher als wahr, gut und schön gegolten hat, besaß allein deshalb Geltungskraft, weil aller Sinn in Gott verankert wurde. Eliminiert man diesen Gott – »Gott ist tot«, behauptet Nietzsches Alter Ego Zarathustra –, dann verlieren auch sämtliche auf diesen Gott zurückgeführten Werte ihre Verbindlichkeit. Die Übergangsphase, in welcher die tradierten Normen und Werte, die allesamt auf Gott gegründet waren, außer Kraft gesetzt sind, ohne dass an deren Stelle bereits neue, sinnverbürgende und handlungsorientierende Werte gesetzt worden wären, bezeichnet Nietzsche als Nihilismus. Man befindet sich buchstäblich im Nichts: Es gibt nichts mehr, das als gut bewertet werden könnte. In dieser verzweifelten Situation ist aus Nietzsches Sicht nur eine Rettung möglich: Der Mensch muss sich auf sich selbst besinnen und alle seine Kräfte anspannen, um dem Nichts etwas entgegenzusetzen, etwas, wofür zu leben sich lohnt. Sein Alter Ego Zarathustra lässt er sagen: »Einst warf auch Zarathustra seinen Wahn jenseits des Menschen, gleich allen Hinterweltlern. [...] Ach, ihr Brüder, dieser Gott, den ich schuf, war Menschen-Werk und -Wahnsinn, gleich allen Göttern!« (Nietzsche 1999a: 35) Gott, so Zarathustras Deutung, ist eine Selbstprojektion des Menschen. Wie schon Ludwig Feuerbach in seinem Werk Das Wesen des Christentums (1841) zu zeigen versucht hat, ist Gott lediglich der Name für ein idealisiertes Menschenbild, in welchem das, was der Mensch an sich selber als Gattungswesen hoch schätzt, in gesteigerter Form zu einem Idealbild verdichtet und personifiziert vorgestellt wird. Alles, was die Gattung Mensch sich an Exzellenz zuschreibt, projiziert

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sie in ein außermenschliches Wesen, in welchem sie ihr eigenes Wesen als Inbegriff des Guten anbetet. Mit der Zeit gerät der Projektionscharakter immer mehr in Vergessenheit. Gott ist dann nicht mehr die Fiktion eines vollkommenen Menschen, sondern das Ideal wird zum Faktum uminterpretiert. Die Menschen glauben nun, dass es ein göttliches Wesen wirklich gibt. Damit errichten sie jene Über- oder Hinterwelt, die dem Irdischen ein unendlich vollkommeneres Jenseits vorspiegelt, ohne zu merken, dass es sich um ein idealisiertes Diesseits handelt. Der Glaube an ein höchstes persönliches Wesen hatte nach Nietzsche Auswirkungen auf die gesamte menschliche Praxis. In seiner Schrift Zur Genealogie der Moral vertritt er aus juristischer Perspektive die These, dass Normen aus dem Obligationenrecht in unzulässiger Weise auf die Moral übertragen wurden. Das Vertragsverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner sei, verbunden mit der Idee der Äquivalenz, der ursprüngliche Sachverhalt gewesen, der sich auf eine persönliche Verpflichtung und Haftung des Schuldners für eine Schädigung des Gläubigers bezog. Entsprechend sei die bei Nichteinhaltung des Vertrags verhängte Strafe nicht als Instrument zur Besserung eines moralisch Bösen aufgefasst worden, sondern schlicht als Verhinderungsmaßnahme für weitere Schädigungen. Die Theologen und Priester hätten jedoch den Schuldner zu einem moralisch Schuldigen umgedeutet und ihm ein schlechtes Gewissen eingeredet – weil sie Macht ausüben wollten über ihre Mitmenschen und sich dazu auf ein allmächtiges Wesen beriefen. Auf einen Gott, vor dem wir alle gleichermaßen schuldig sind. Nietzsche findet die »Moralisierung der Begriffe Schuld und Pflicht, mit ihrer Zurückschiebung in’s schlechte Gewissen« (Nietzsche 1999d: 330; Herv. i.O.) geradezu pervers. Unter Anspielung auf den Sündenfall konstatiert er, dass »der Wille des Menschen, sich schuldig und verwerflich zu finden bis zur Unsühnbarkeit, sein Wille, sich bestraft zu denken, ohne dass die Strafe je der Schuld äquivalent werden könne« (Nietzsche 1999d: 332; Herv. i.O.), ein »Folterwerkzeug« sei, das die für böse erklärten Menschen ihres Selbstbestim-

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mungsrechts beraubt und sie zu gehorsamen Herdentieren abrichten sollte. Es gilt also nach Nietzsche zu durchschauen, dass es eben jener Wahn ist, Gott existiere wirklich, der zerstört werden muss, damit der Mensch aufhört, seine eigenen Hirngespinste für real zu halten und sich seiner Freiheitsrechte bewusst wird. Zarathustra hatte seinem Gott sein eigenes Antlitz verliehen. Die ihn quälenden Widersprüche in der unvollkommenen Welt führte er auf einen Gott zurück, der an sich selber leidet. Es war aber seine – Zarathustras – persönliche Sicht auf die Dinge, die er dem Schöpfer unterschob. Sobald ein klar denkender Mensch begriffen hat, dass er selbst der Konstrukteur seines Gottesbildes ist, kann er die Gründe dafür erforschen, warum er ein göttliches Ideal benötigte, und dann seine Kräfte darauf konzentrieren, ohne ein solches Konstrukt ein sinnvolles Leben zu führen. Doch woher sollen diese Kräfte kommen? Hierauf findet sich eine Antwort in der Fröhliche[n] Wissenschaft: »Es giebt einen See, der es sich eines Tages versagte, abzufliessen, und einen Damm dort aufwarf, wo er bisher abfloss: seitdem steigt dieser See immer höher. Vielleicht wird gerade jene Entsagung uns auch die Kraft verleihen, mit der die Entsagung selber ertragen werden kann; vielleicht wird der Mensch von da an immer höher steigen, wo er nicht mehr in einen Gott ausfliesst.« (Nietzsche 1999b: 528; Herv. i.O.)

Die religiöse Beziehung, der Glaube an einen Gott, schwächte den Menschen, beraubte ihn seiner Freiheit und entmachtete ihn geradezu, insofern alle Macht dem Gott zugeschrieben wurde. Zwar ist es nicht damit getan, dass der Mensch nun sich selber Allmacht zuschreibt, darum wissend, dass er dazu nie fähig sein wird. Er kann aber – wie es das Bild vom steigenden See suggeriert – die zuvor vergeudeten Kräfte sehr wohl in sich sammeln, um stark zu werden. Mit steigendem Wasserspiegel wächst seine Kraft. All das Wasser, das vorher keinen See zustande brachte, weil es sofort abfloss, wird nun gestaut. Und so soll der Mensch die Vorstellung von sich, als er noch gar nicht eigentlich

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Mensch war, sondern sich in einem Gott verloren hatte, überwinden, um wahrhaft Mensch zu werden – ein Mensch, der es geschafft hat, all seine Sinnfülle in sich zu stauen, anstatt sie zu vergeuden. Da der Name »Mensch« für jenes Selbstverständnis reserviert war, das auf einem religiösen Glauben beruhte, braucht es einen anderen Namen für den neuen Menschen, der der Anerkennung eines Gottes nicht mehr bedarf, da ihm die Anerkennung seiner selbst genügt. Nietzsche hat für den neuen Menschen den Namen »Übermensch« geprägt. So wie der Wassertümpel allererst zum See wird, wenn er über sich hinaus wächst, so wird der Mensch zum Übermenschen, indem er das alte, durch die Beziehung zu einem als Fiktion durchschauten Gott geprägte Menschenbild mitsamt den damit verbundenen Wertvorstellungen überwindet. Wie das steigende Wasser zum See wird, so wird der sich selbst mit Sinn erfüllende Mensch er selbst. Indem er sich als an einen Gott Glaubenden übersteigt, wird er ÜberMensch und damit zuallererst Mensch im eigentlichen Sinn. Diese Anstrengung, er selbst zu werden, ist enorm. Andererseits ist der Mensch zu dieser Anstrengung fähig, denn er will ja nicht Gott, sondern er selbst werden. Insofern er in Gott alles das anerkannt hatte, was er an sich selbst als Mensch für wertvoll hält, muss er dies nun wieder auf sich zurück projizieren. »Bleibt mir der Erde treu«, fordert deshalb Zarathustra seine Schüler auf. Er will, dass sie der Erde ihren Sinn zurückgeben, den sie fälschlicherweise in ein Jenseits projiziert und sich damit ihrer Funktion als Sinnstifter beraubt haben. Von nun an, so Zarathustra, soll der Übermensch der Sinn der Erde sein – der Mensch, der sich von Gott losgekettet hat und damit über sich hinaus gelangt ist und so seinen alten Status als fremdbestimmtes Wesen überwunden hat. Um den Nihilismus zu überwinden, muss die mit der Eliminierung Gottes entstandene Sinnleere neu gefüllt werden. Dazu braucht man nach Nietzsche keine neuen Werte zu erfinden. Es genügt eine Umwertung der alten Werte, als deren Urheber nicht mehr Gott, sondern der neue, sich auf seine ursprünglichen Fähigkeiten besinnende Mensch begriffen wird. In der Umwertung der Werte, in der Loslösung von den

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traditionellen Vorstellungen von Gut und Böse gewinnt sich der Mensch aus seinen Verirrungen als ursprünglicher und eigentlicher Wertschöpfer zurück. Dazu ist keine Allmacht erforderlich, wie er sie dem Gott zugeschrieben hat. Vielmehr ist es der von Nietzsche sogenannte »Wille zur Macht«, der ihn über sich hinaus treibt. Übermensch ist die Bezeichnung für denjenigen, der seiner selbst mächtig werden will und als autonome Person alle Sinnkreationen, die er ohne jegliche Fremdbestimmung generiert, als seine eigenen anerkennt. Die mit der Umwertung des Menschen zum Übermenschen einhergehende Umwertung aller Werte lässt eben diese Werte aufgrund ihrer veränderten Herkunft in einem neuen Licht erscheinen. Sie sind nun Ausdruck höchster menschlicher Freiheit und nicht mehr Sollensforderungen, die im Namen eines Gottes erhoben werden. In den umgewerteten Werten erkennt der Mensch das Ethos seines eigenen schöpferischen Wesens an. Er allein entscheidet von nun an über sein Gutes und Böses. »[...] es ist mit dem Menschen wie mit dem Baume«, führt Zarathustra aus. »Je mehr er hinauf in die Höhe und Helle will, um so stärker streben seine Wurzeln erdwärts, abwärts, in’s Dunkle, Tiefe, – in’s Böse.« (Nietzsche 1999a: 51) Ohne starke Wurzeln, die den Baum im Erdreich verankern, würde er nicht wachsen, geschweige denn einem Sturm standhalten können. Das Böse wird nach Analogie mit dem Baum zur materiellen Basis des Guten, ohne die es sich nicht als Gutes entfalten und behaupten kann. Gut und Böse, jenseits von Gut und Böse sind völlig wertfreie Wörter, nicht anders als wenn man Anode und Kathode als Plus- und Minuspol bezeichnet. Bezeichnungen, die ebenfalls keine Wertung ausdrücken: Beide sind gleichermaßen nötig, damit der Strom fließt. Nietzsche wollte für das Individuum einen Freiheitsspielraum zurückgewinnen, dessen Grenzen nicht mehr durch das Diktat fremder, über Gut und Böse entscheidender Autoritäten gezogen werden sollten. Was jedoch bei Nietzsche offen bleibt, ist die Frage, wie diese von sämtlichen traditionellen Verbindlichkeiten befreiten Individuen, von denen ja nicht jedes für sich als Robinson auf seiner Privatinsel leben

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kann, wie diese Individuen eine Gemeinschaft von Übermenschen bilden können. Überlegungen zur sozialen Kompetenz fehlen bei ihm weitgehend, weil es ihm um je mein Gutes und Böses ging, das er von den Zwängen unseres tradierten Guten und Bösen losketten wollte.

U TOPISCHE V ERSUCHE EINER E LIMINIERUNG DES B ÖSEN Ein Jenseits von Gut und Böse ist auch in den klassischen Utopien das erklärte Ziel, allerdings in einem sozialpolitischen Sinn. Das bestehende Böse in Gestalt von Gewalt, Krieg und Grausamkeiten gegen die Mitmenschen soll in einer idealen zukünftigen Gesellschaft vollständig eliminiert werden – um des Guten in Gestalt eines ewigen Friedens willen. Dieses Ziel vollständiger Konfliktfreiheit scheint nur erreichbar durch eine Abkoppelung vom Rest der Menschheit, deren Verdorbenheit sich auch längerfristig nicht ausrotten lässt. Daher spielen die Utopien von Thomas Morus, Tommaso Campanella und Francis Bacon auf entlegenen Inseln, wo die Bewohner, abgeschottet gegen schädliche Einflüsse von außen, ihr Friedensprojekt eins zu eins umsetzen können. Die in den klassischen Entwürfen der Renaissance entwickelten Konstrukte einer optimalen Handlungsgemeinschaft sind als Endzeitlösungen konzipiert. Es werden Modelle einer Weltgesellschaft vorgestellt, an denen es nichts mehr auszusetzen gibt, weil die Verhältnisse so ideal sind, dass jede Veränderung ein Rückschritt wäre. So beschreibt Thomas Morus den Staat Utopia als ein »wohlgeordnetes Staatswesen«, das einzigartig in der Welt und von ewiger Dauer sei (Morus 1993: 46). In Tommaso Campanellas Sonnenstaat ist ebenfalls ein Zustand erreicht, der unüberbietbar scheint, da die darin lebenden Menschen über viele Generationen so sozialisiert wurden, dass sie sich gleichsam automatisch gut verhalten und von den für alle verbindlichen Normen, die ein kollektives gutes Leben ermöglichen, nicht mehr abweichen. In Francis Bacons Utopie Nova Atlantis schließlich wird stolz berichtet, dass die Bürger der Insel Bensalem als »fast unbekann-

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tes Volk im Schoße Gottes« (Bacon 1993: 215) leben. Die Einrichtungen »dieses glücklichsten aller Länder« (ebd.: 184) sind aufgrund Jahrhunderte langer Einübung in tugendhaftes Verhalten so ausgezeichnet, dass nichts mehr verbesserungsbedürftig ist. Die von Platon bis Bacon entworfenen Utopien einer unüberbietbar guten Lebensform werden auch Eutopien genannt, weil sie auf das Gute (griech. eu) im Menschen setzen und davon ausgehen, dass konsequente Erziehung zur Tugend den Hang zum Bösen überwindet und die Menschen zu tauglichen Mitgliedern der Gesellschaft macht. Gerecht kann es darin nur zugehen, wenn das Gleichheitsprinzip in sämtlichen Lebensbereichen strikt angewendet wird. Thomas Morus verfügt in seiner Utopia, dass alle die gleiche Ausbildung erhalten, gleich lang arbeiten, abwechselnd in der Stadt und auf dem Land leben, dass sie die gleichen Kleider tragen, gleiche Wohnungen haben, ihre Mahlzeiten gemeinsam in öffentlichen Speisehäusern einnehmen, kein Privateigentum besitzen, aber zu gleichen Teilen an den gemeinsam erwirtschafteten Gütern partizipieren. Prunk und materielle Werte verachten sie (aus Gold werden z.B. Nachttöpfe hergestellt), aber das Streben nach Glück, sofern es sozial verträglich ist und dem Allgemeinwohl nützt, gilt als erwünscht. Eutopien sind Ortsutopien, die vertikale, übergeschichtlichstatische Modelle einer idealen Gesellschaft vorstellen. Deren Stabilität beruht auf der Überzeugung, dass das für alle Gute im Kommunismus besteht, der Verhältnisse schafft, die moralische, ökonomische und soziale Gleichheit garantieren. Wenn niemand mehr in irgendeiner Hinsicht bevorzugt oder benachteiligt wird, ist Gerechtigkeit verwirklicht und damit dem Bösen der Boden entzogen. Gleichheit schafft Eintracht, sodass Konflikte gar nicht erst entstehen können. Ein ewiger Friede ist das Resultat. Im Unterschied zu den Ortsutopien entwickeln die Zeitutopien horizontale Modelle, die zukunftsbezogen sind und Endzeitszenarien darstellen. Die wohl folgenreichste Utopie ist die marxistische Antizipation eines Reichs der Freiheit. Karl Marx und Friedrich Engels bevorzugten, wie die klassischen Utopisten, die kommunistische Lebens-

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form. Sie vertraten jedoch die These, dass diese nicht bloßes Ideal bzw. normatives Korrektiv für eine korrupte Praxis ist, sondern über mehrere Zwischenstufen dereinst tatsächlich erreicht wird. Der Kapitalismus der bürgerlichen Gesellschaft, der seinerseits aus bereits ungerechten, nämlich feudalen Verhältnissen hervorgegangen ist, werde sich quasi naturgesetzlich in den Sozialismus verwandeln, sobald die Klasse der Besitzlosen (das »Proletariat«) sich in einer Revolution gegen die immer reicher werdenden Eigentümer der Produktionsmittel erhebt und diese enteignet. Die Einebnung der Klassenunterschiede und die Aufhebung des Privateigentums münden in den Kommunismus, der staatliche Regelungen überflüssig macht. »An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht ›abgeschafft‹, er stirbt ab.« (Engels 1973: 223f.; Herv. A.P.) Der voll realisierte Kommunismus ist das Reich der Freiheit, in welchem sich jedes Individuum entsprechend seinen Fähigkeiten und Neigungen verwirklichen kann und niemand mehr gezwungen ist, für seinen Lebensunterhalt zu arbeiten, da die materielle Basis durch Rationalisierung der Produktion weltweit für alle gesichert ist. Auch im Reich der Freiheit fehlen somit die Grundlagen für das Böse. Im 20. Jahrhundert entstand ein neuer Typus von Zeitutopien. Gegen die klassischen Ortsutopien wurde eingewendet, dass die geschilderten Verhältnisse aus einem doppelten Grund unrealistisch sind. Zum einen gibt es keine geschichtslosen Orte, an denen unberührt vom Rest der Welt eine ungestörte Entwicklung, wie sie auf den utopischen Inseln erfolgte, vonstattengehen kann. Zum anderen wurde das Problem des Bösen zu wenig bedacht, das darin liegt, dass man den Menschen ihre Individualität gewaltsam abtrainiert. Menschen können zwar durch strenge Erziehungsmaßnahmen dazu abgerichtet werden, das Gute zu tun, aber der Preis dafür ist die persönliche Freiheit. Das Pendel könnte am Ende umso verheerender in die andere Richtung ausschlagen. Die Zeitutopien des 20. Jahrhunderts sind daher keine Eutopien mehr, sondern Dystopien bzw. Anti-Utopien.

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Die Anti-Utopien des 20. Jahrhunderts eines Samjatin, eines Huxley oder Orwell setzen in der Tradition des Empirismus und des Utilitarismus nicht mehr vorrangig auf antrainierte Tugend als Garant des Guten, um die Menschen zu ständigem Wohlverhalten zu bewegen, sondern auf das Glück. Dieses Glück wird durch staatliche Manipulationen hergestellt, die darauf abzielen, die Wurzel alles Bösen – die menschliche Freiheit nämlich – zu eliminieren. Der Slogan vom größten Glück der größten Zahl dient als Köder für sozial angepasste Menschen, die den Verlust persönlicher Freiheit nicht mehr als solchen empfinden. Es ist eine Gesellschaft von geistig und moralisch Behinderten, die mit ihrer Verantwortung auch die in Freiheitskriegen und im Zuge der Aufklärung errungenen humanistischen Sinn- und Wertvorstellungen preisgegeben haben.

D AS B ÖSE

ALS

M ENETEKEL DER F REIHEIT

Die mythologischen Schilderungen eines Diesseits und die utopischen Konstrukte eines Jenseits von Gut und Böse sind Versuche, das Böse aus der Realität auszulagern. Adam und Eva befanden sich vor dem Sündenfall in schlechterdings guten Lebensumständen. Sie hätten es als freie Menschen in der Hand gehabt, diesen Status aufrecht zu erhalten. Indem sie das Tabu des Baumes der Erkenntnis verletzten, holten sie das Böse in den Garten Eden und verloren ihr Aufenthaltsrecht im Bereich des Guten. Von nun an müssen sie in jedem freien Akt das Böse aus ihrem Handlungsbereich ausmerzen, um das Paradies wieder in ihre unter erschwerten Bedingungen gestaltete Lebenswelt herein zu holen. Was ihnen immer nur augenblicksweise gelingt, nicht auf Dauer und für immer. In den Utopien wird das Böse aus der Binnengemeinschaft der Utopier ausgelagert in die Staaten außerhalb, deren Mitglieder als Feinde betrachtet werden, da sie korrupt und machtgierig ihre Freiheit nach altem Muster zum Bösen missbrauchen. Doch auch die utopische Binnengemeinschaft ist im Kern böse, weil sie zur Aufrechterhaltung

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des kollektiv Guten die individuelle Freiheit und das damit verbundene Selbstbestimmungsrecht vernichtet. Die Gedankenexperimente eines Diesseits und eines Jenseits von Gut und Böse machen deutlich: Die Freiheit ist das Einfallstor zum Bösen – und zugleich die unaufhebbare Bedingung des Guten. Will man das Böse ein für alle Mal vernichten, muss man die Freiheit und damit auch das durch sie mögliche Gute aufheben. Aber das ist ein Selbstwiderspruch, denn wer auch immer für die Eliminierung der Freiheit zuständig ist – sei es ein Diktator oder eine selbsternannte Elite –, beansprucht für sich die Freiheit, alle anderen der Freiheit zu berauben und Maßnahmen zur Zementierung der allgemeinen Unfreiheit zu ergreifen und durchzusetzen. Die Freiheit lässt sich nur um den Preis des Guten ausschalten, eben darin manifestiert sich jedoch wiederum das Böse, das durch die Vernichtung der Freiheit gerade eliminiert werden sollte. Es gibt kein Mittel, das Böse ein für alle Mal auszurotten, wenn wir die Würde des Menschen an seinen Freiheitsrechten festmachen. Aber wir können diejenigen zur Verantwortung ziehen, die rigoros ihre Freiheit in Anspruch nehmen, um die Freiheitsrechte ihrer Mitmenschen zu verletzen und mit Füßen zu treten. Aus philosophischer Sicht verbietet es sich, das Böse zu ontologisieren, indem man es auf die natürliche Ausstattung des Menschen – seine Triebstruktur – oder auf ein personifiziertes Wesen (den Teufel) zurückführt. Das Böse hängt mit dem individuellen Selbstverhältnis zusammen und bezeichnet eine offene Stelle, die um der Autonomie der Freiheit willen offen gehalten werden muss. Wird diese – die Möglichkeit des Bösen – signalisierende Lücke geschlossen, so ist damit auch die Freiheit aufgehoben. Der Mensch hat es selbst in der Hand, von seiner Freiheit so Gebrauch zu machen, dass er die Bedingung der Freiheit aufrechterhält. Und dazu gehört, dass er die Lücke des Bösen offen lässt, indem er sich so zu sich selbst verhält, dass er das Gute realisiert und damit das Böse jeweils unrealisiert lässt. Das Gute ist das gelungene Selbstverhältnis, wie Nietzsche es im Typus des Übermenschen als wertschöpferischem, Sinn erzeugenden Individuum charakterisiert hat. Es reicht jedoch nicht aus, sich zurück

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in die Vergangenheit blickend von den Zwangsmechanismen tradierter Ideologien mitsamt den darin transportierten Wert- und Sinnvorstellungen zu distanzieren. Vielmehr muss auch der Blick nach vorn für eine kollektive Perspektive geöffnet werden. Denn was für den Einzelnen als Individuum unbedingt schützenswert ist, verdient auch im Allgemeinen diesen Schutz: die Freiheit. Der individuelle Gebrauch der Freiheit ist und bleibt riskant. Aber es gibt dazu keine Alternative – außer Unfreiheit.

L ITERATUR Bacon, Francis (1993): »Neu-Atlantis«, in: Heinisch, Der utopische Staat, S. 171-215. Campanella, Tommaso (1993): »Sonnenstaat«, in: Heinisch, Der utopische Staat, S. 111-169. Engels, Friedrich (1973): »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«, in: Karl Marx/Friedrich Engels-Werke (MEW), Bd. 19, 4. Aufl., Berlin, S. 189-201. Feuerbach, Ludwig (1994): Das Wesen des Christentums, Stuttgart. Heinisch, Klaus J. (Hg.) (1993): Der utopische Staat, Reinbek. Morus, Thomas (1993): »Utopia«, in: Heinisch, Der utopische Staat, S. 7-110. Nietzsche, Friedrich (1999a): »Also sprach Zarathustra«, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), Bd. 4, München, S. 9-408. Nietzsche, Friedrich (1999b): »Die fröhliche Wissenschaft«, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), Bd. 3, München, S. 343-651. Nietzsche, Friedrich (1999c): »Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel zu einer Philosophie der Zukunft«, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), Bd. 5, München, S. 9-243.

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Nietzsche, Friedrich (1999d): »Zur Genealogie der Moral«, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), Bd. 5, München, S. 245-412. Zur Weiterführung: Pieper, Annemarie (2008): Gut und Böse, München.

Zwischen Selbstverwirklichung und Selbsttranszendenz – Menschliche Selbstentwürfe und die ethische Frage nach dem Guten D AGMAR F ENNER

D ER M ENSCH –

EIN BESONDERES

T IER

Was ist der Mensch? Man kann den Menschen im Zeichen der physiologischen Anthropologie von außen beschreiben und als Objekt betrachten. Es lässt sich dann etwa feststellen, dass der Mensch ausgeprägte Artikulationsorgane, freigelegte Hände, eine spezifisch ausgebildete Großhirnrinde und ein außerordentlich großes Hirnvolumen besitzt. Mit diesen biologischen Merkmalen beschreibt man den Menschen als Naturwesen. Die Naturwissenschaft kann den Menschen aber nie vollständig beschreiben und erfassen. Denn der Mensch ist ein sehr besonderes Tier und viel mehr als bloßes Naturwesen. Aufgrund der Ausstattung mit bewusstem Denken und Reflexionsvermögen hat sich das Tier Mensch zu einem Kulturwesen mit einem ungeahnten Spielraum an Handlungs- und Lebensmöglichkeiten entwickelt. Aufgrund seiner hochentwickelten Sprachfähigkeit und der hirnphysiologischen Besonderheiten lebt der Mensch nicht wie das Tier bloß in einer unmit-

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telbaren Verzahnung mit der Umwelt. Er erfasst die Welt nicht ausschließlich in Bezug auf die eigenen vitalen Interessen in Kategorien wie »Fressbares« oder »Nicht-Fressbares«, »Geschlechtspartner« oder »Geschlechtsgenosse«. Vielmehr nimmt er die Umwelt sachlicher und »weltoffen« (vgl. Scheler 1991: 42) wahr und kann sein Leben voraussehend und zwecksetzend frei gestalten. »Der Mensch lebt nicht, sondern er führt sein Leben«, so hat es der Anthropologe Arnold Gehlen (1986: 165) auf den Punkt gebracht. In den Geisteswissenschaften interessiert der Mensch nicht als ein Objekt wie in den Naturwissenschaften. Vielmehr tritt er als Subjekt in den Blickpunkt: als ein Kulturwesen, das die empirischen Gegebenheiten deuten und sich auf dieser Grundlage ein ›Bild des Menschen‹ machen muss. Aus Sicht einer pragmatischen Anthropologie oder Ethik interessiert, wozu die beschriebenen Charaktermerkmale den Menschen befähigen und was er damit machen soll. Es ist so gesehen gerade das Typische für den Menschen, dass er sich erst selbst definieren und entwerfen muss. Der Mensch ist das »noch nicht festgestellte Thier«, heißt es bei Friedrich Nietzsche (1980: 81). »Der Mensch ist zuerst ein Entwurf«, lesen wir bei Jean-Paul Sartre: »Der Mensch ist nichts anderes, als wozu er sich macht« (Sartre 1989: 11). Und sein wohl bekanntestes Diktum: »Der Mensch ist verurteilt, frei zu sein« (ebd.: 16). Angesichts der riesigen Spannbreite menschlicher Möglichkeiten wird der Mensch sich selbst zum Rätsel und Problem: Was soll er aus sich machen? Wie kann er das Gute realisieren und das Böse meiden? Welches Handeln ist ethisch richtig?

Z WEI P ERSPEKTIVEN IN DER E THIK Allein aufgrund unserer Reflexionsfähigkeit stellen wir uns ständig die Frage, wie wir handeln sollen. Denn meistens steht uns eine Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung, zwischen denen wir auswählen müssen. Man denke etwa an folgende Entscheidungssituation: Sie haben sich vielleicht lange überlegt, ob Sie an diesem Abend zu

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diesem Vortrag über Selbstverwirklichung kommen sollen oder ob Sie einen Artikel zu Ende schreiben oder mit Ihrer Familie zu Abend essen sollen. Es geht dann um die Grundfrage der praktischen Philosophie: Wie soll ich handeln? Viele praktische Grundfragen in alltäglichen Entscheidungssituationen lassen sich dabei vertiefen, bis die individuelle Lebenssituation als Ganze in den Blick rückt. So könnten Sie sich in unserem Beispiel etwa gefragt haben, wie wichtig in Ihrem Leben eigentlich die philosophisch-schöngeistige Weiterbildung ist. Oder Sie überlegten sich grundsätzlich, ob Sie bei Ihrem zeitintensiven Job und dem ausgefüllten Freizeitprogramm nicht Ihre Familie allzu stark vernachlässigen. Sobald wir solche weiterführenden praktischen Überlegungen über die Gestaltung unserer Freizeit oder die Gewichtung von Beruf und Familie anstellen, stoßen wir zu einer zweiten, umfassenderen praktischen Grundfrage vor: Wie soll ich leben? Was ist mir im Leben wichtig? Wer will ich eigentlich sein? Lassen Sie mich ganz kurz für alle Nichtphilosophen erläutern: Während sich die theoretische Philosophie mit dem befasst, was ist, interessiert sich die praktische Philosophie oder Ethik dafür, was getan werden soll. Während die theoretische Philosophie in Bezug auf das Seiende nach Wahrheit strebt, entwirft die Ethik das Ideal des Guten für das menschliche Handeln. Ethik ist die Disziplin der praktischen Philosophie, die anhand allgemeiner Prinzipien oder Beurteilungskriterien zu begründen versucht, welches Handeln gut oder richtig ist. Die ethische Frage, wie Menschen handeln und wie sie sich selbst und ihr Leben entwerfen sollen, kann dabei grundsätzlich auf zwei unterschiedliche Weisen verstanden werden. Sie stellt sich zum einen mit Blick auf die persönliche Lebensführung und die Eigeninteressen des jeweiligen Individuums. Es geht dann darum, wie der Einzelne die persönlichen Wünsche und Ziele am besten erreicht. In Frage steht das für das Individuum Gute, sein gutes Leben, letztlich sein persönliches Glück. Die philosophischen Reflexionen von dieser Warte aus bezeichnet man oft als Individualethik oder Strebensethik. Ein anderes Bild zeigt sich aus der Perspektive der Sozialethik, Sollensethik oder Moralphilosophie: Hier steht nicht das für ein Individu-

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um Gute im Zentrum, sondern das für eine bestimmte Gemeinschaft Gute. Gut bzw. richtig ist ein Handeln dann, wenn der Handelnde nicht nur die eigenen, sondern auch die Interessen aller vom Handeln Betroffenen angemessen berücksichtigt. Anstelle des Selbstverhältnisses des Einzelnen zu sich selbst gerät hier das Zusammenleben der Menschen in den Blick; anstelle des Eigen-Wollens das moralische Sollen. Das Ideal der Sollensethik oder Moralphilosophie ist nicht das Glück, sondern die Gerechtigkeit. Sie haben es natürlich längst bemerkt: Auf diese Weise sind im Grunde die beiden Pole umschrieben, die im Titel meines Vortrags stehen: Selbstverwirklichung und Selbsttranszendenz. Selbsttranszendenz meint die genuin menschliche Fähigkeit, die Ich-Perspektive zu überwinden oder eben zu transzendieren, von lateinisch transcendere: hinüberschreiten oder übersteigen. In einem spirituellen, religiösen Sinn meint Selbsttranszendenz das Überschreiten der Grenzen des eigenen Geistes oder Egos und das Eintreten in höhere Formen der Realität. Doch davon soll heute nicht die Rede sein, da für diese Dimension eher Theologen oder Religionswissenschaftler zuständig wären. Ich werde mich daher auf die ethische Dimension beschränken: Innerhalb der Ethik geht es in der Sozialethik oder Moralphilosophie um diese Selbsttranszendenz. Denn der objektive oder unparteiische Standpunkt der Moral verlangt, den eigenen Interessenstandpunkt zu transzendieren und stellvertretend die Standpunkte aller anderen Menschen, aber auch der Tiere oder der Natur einzunehmen. Man soll dann nicht das tun, was nur im eigenen Interesse ist, sondern alle Bedürfnisse und Interessen gleichermaßen berücksichtigen. Um Selbstverwirklichung geht es hingegen in der Individualethik oder der Ethik des guten Lebens. Denn es herrscht heute in der Philosophie und in der breiten Öffentlichkeit ein weitgehender Konsens darüber, dass der Weg zum Glück als Letztziel eines guten Lebens nur auf dem Weg über die Selbstverwirklichung zu erreichen sei. Die Menschen können sich bei ihren Selbstentwürfen also grundsätzlich entweder an dem für sie persönlich Guten oder an dem für ihre Um- und Mitwelt Guten oder dem Allgemeinwohl orientieren. In

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einem ersten Teil meines Vortrags werde ich Ihnen zwei verschiedene Konzepte von Selbstverwirklichung vorstellen und kritisch erläutern. Danach soll in einem zweiten Teil gefragt werden, wie sich die beiden Pole der Selbstverwirklichung und Selbsttranszendenz zueinander verhalten. Ist aus ethischer Sicht dem moralischen Standpunkt eindeutig der Vorrang zu geben? Ist das individualethische Streben nach individueller Selbstverwirklichung nicht egoistisch und unmoralisch?

Z WEI M ODELLE

DER

S ELBSTVERWIRKLICHUNG

Die menschliche Freiheit, sich selbst entwerfen zu können, wurde geschichtlich gesehen erst eigentlich in der Renaissance entdeckt. Anders als in Antike und Mittelalter versuchte man den Menschen in der Renaissance nicht länger von der Gesamtordnung des Kosmos oder der göttlichen Schöpfung her zu deuten, sondern aus sich selbst heraus zu verstehen. Einen massiven Aufschwung erlebten Programme zur Selbstfindung, Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung dann erst in den späten 1960er Jahren. Diese Konjunktur verdankt sich zum einen verschiedenen Individualisierungsschüben im Laufe der Neuzeit und auch dem Entstehen einer liberalen, kapitalistischen Marktwirtschaft. Zum anderen hat ein erheblicher Religions- und Traditionsverlust dazu geführt, dass in unserer Gesellschaft nicht mehr eine einzige vorgegebene Lebensform als die richtige gilt. Für Christen beispielsweise war es Pflicht, ein gottesfürchtiges, bibeltreues Leben zu führen, sich in der Kirchgemeinde zu engagieren und sich karitativ zu betätigen. Noch für die Generation meiner Großeltern war es selbstverständlich, dass Frauen keine Ausbildung bekommen, sondern heiraten und Kinder großziehen. Die Männer hingegen erlernten den Beruf ihres Vaters und übernahmen gegebenenfalls den väterlichen Hof oder Betrieb. Man hatte nicht die Qual der Wahl, die wir heute angesichts einer unendlichen Vielfalt an Lebensmöglichkeiten haben. Nicht zuletzt spricht man in der Psychologie von einer neuen, überaus permissiven, also ›zulassenden‹, ent-

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gegenkommenden Erziehung. Bei diesem Erziehungsstil der ›neuen Verwöhnung‹ richten sich die Erziehungspersonen primär nach den Wünschen und Bedürfnissen der Kinder (vgl. Kleiter 1999: 467). Je weniger die Menschen vorgegebenen Pflichten und Aufgaben nachkommen müssen, desto mehr scheinen sie nur noch sich selbst verwirklichen zu müssen. Je lauter aber der allgemeinmenschliche Ruf nach Selbstverwirklichung erschallt und je breiter sich das entsprechende Angebot an Lebenshilfeliteratur und Kursen gestaltet, desto undifferenzierter werden die Vorstellungen darüber, was denn hier als ›Selbst‹ eigentlich gefunden oder realisiert werden soll. Es gilt also zu klären: Was heißt eigentlich Selbstverwirklichung oder Selbstaktualisierung? Grundsätzlich kann man zwei Modelle der Selbstverwirklichung unterscheiden (vgl. Gewirth 1998: 13f.): Beim ersten Modell begreift man Selbstverwirklichung als Entfaltung von bestimmten menschlichen Kräften oder Fähigkeiten. Wir nennen es den Fähigkeiten-Ansatz. Die Vertreter dieses Modells gehen meist von objektiven Kriterien oder Werten aus: von dem, was für einen Menschen objektiv gesehen gut ist im Sinne des allgemeinen Menschseins. Ziel ist dann eine überindividuelle Wesensrealisierung. Im zweiten Modell meint Selbstverwirklichung hingegen die Erfüllung der tiefsten Wünsche oder Bestrebungen eines Handlungssubjekts. Es lässt sich daher von einem wunschtheoretischen Ansatz sprechen. Hier scheint Selbsterfüllung stärker eine subjektive Angelegenheit zu sein. Motto ist hier nicht ›Werde, der Du bist‹, sondern eher: ›Erfinde Dich selbst!‹ (Vgl. Horn 2014: 81) Beginnen wir mit dem ersten Modell, dem Fähigkeiten-Ansatz der Selbstverwirklichung. Es geht auf Platon und Aristoteles zurück und wurde im 20. Jahrhundert von den humanistischen Psychologen reaktiviert. Wichtige Vertreter sind Erich Fromm, Kurt Goldstein und Abraham Maslow. Mit Unterstützung der humanistischen Selbst-Theoretiker wurde in den 1970er Jahren eine regelrechte ›Me-Decade‹, ein ›Zeitalter des Ich‹ ausgerufen. Eine ganze Generation von Selbstverwirklichern strömte in Selbsterfahrungsseminare und Therapieräume.

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Selbstverwirklichung ist aus dieser Sicht der Prozess der optimalen Entfaltung der menschlichen Potenzialitäten, d.h. seiner faktischen Bedürfnisse, Fähigkeiten und Begabungen. Das zu verwirklichende ›Selbst‹ wäre die Gesamtheit von angeborenen, natürlichen Kräften und Fähigkeiten, die auf Entwicklung hin angelegt sind. In den meisten Fällen scheint es um eine wertneutrale Aktualisierung all dieser Fähigkeiten zu gehen. Manchmal spricht man auch von den ›besten Potenzen‹, ohne dass klar wäre, welche das sein sollen (vgl. Gerhardt 1989: 38). Gern bemüht wird dabei die Samenkorn-Analogie: Die Entwicklung eines Kindes erfolge wie das Wachstum eines Samenkorns. Diese Samenkorn-Analogie ist aus meiner Sicht jedoch äußerst irreführend. Denn die optimale Entwicklung des Kindes ist natürlich etwas ganz anderes als das Wachstum des Samenkorns. Sie ist anders als jene auf sorgfältige Erziehung und kulturelle Sozialisation angewiesen. Im Gegensatz zum biologischen Programm von Pflanzen oder den tierischen Instinkten sind die natürlichen Kräfte oder Tendenzen im Menschen äußerst vage und unbestimmt. Darüber hinaus können sich die individuellen Bedürfnisse und Talente im Widerstreit miteinander befinden. Gewisse lassen sich vielleicht nur zeitlich nacheinander oder in einem Menschenleben gar nicht erfüllen. Auch können die wertmäßig zunächst indifferenten Anlagen der Menschen ebenso zu schlechten wie zu guten Zwecken eingesetzt werden. Studien zu eineiigen Zwillingen ergaben, dass sich aus dem gleichen genetischen Material völlig unterschiedliche Persönlichkeiten und Lebensmöglichkeiten entwickeln können. So wurde beispielsweise von Zwillingsbrüdern mit der angeborenen Charaktereigenschaft ›Raffinement‹ der eine ein raffinierter Krimineller, der andere ein ebenso raffinierter Kriminologe (vgl. Frankl 1994: 90f.). Die angeborenen Charakteranlagen sind sozusagen ›wertneutral‹, weder Tugenden noch Laster. Das simple biologische Schema, demzufolge aus einem Apfelkern ein Apfelbaum oder aus einem menschlichen Embryo ein erwachsener Mensch wird, zeichnet also ein schiefes Bild vom menschlichen Entwicklungsprozess. Zum einen ist eine klare Bewertung zwischen verschiedenen Fähigkeiten und Anlagen unausweichlich. Zum anderen

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müssen die positiv bewerteten natürlichen Tendenzen sorgfältig gefördert und kultiviert werden. Wenn der Mensch nur das zu werden brauchte, was er immer schon potenziell ist, könnte man die für den Menschen typische geistige Dimension wegkürzen. Sobald wir den Selbstverwirklichungsprozess bewertend und regulierend kontrollieren, handelt es sich aber nicht mehr um ein potenziell schon vorhandenes Selbst, das auf ganz ›natürliche‹ Weise entfaltet wird (vgl. Gewirth 1998: 12). Werfen wir einen kurzen Blick auf Aristoteles, der als Urvater des Fähigkeiten-Modells betrachtet werden kann: Obwohl auch Aristoteles von angeborenen menschlichen Potenzen oder Fähigkeiten ausgeht, setzt er sich ausführlich mit den Vor- und Nachteilen des Auslebens bestimmter Anlagen auseinander (vgl. ebd.: 13). In der Antike forderte man die Ausbildung von Tugenden oder festen Charakterhaltungen, um menschliche Anlagen gezielt zu fördern. Diese festen inneren Haltungen sollen es dem Menschen ermöglichen, in jeder Situation das ethisch Richtige zu tun. Zwischen Potenzialität und Aktualität schiebt sich also der Erwerb von Tugenden. Seit den Anfängen der philosophischen Überlegungen zum Selbstverwirklichungsmodell hat man sich primär dafür interessiert, welches denn die ›wahren‹ oder ›eigentlichen‹ Fähigkeiten des Menschen sind (vgl. Höffe 2004: 41f.). In der Antike führte man diese Frage zurück auf die Frage nach der ›eigentümlichen Leistung‹, griechisch ›Ergon‹ des Menschen. Nicht nur alle Gegenstandsklassen und alle Berufsgattungen wie etwa Messer und Tische oder Bildhauerei und Tischlerei hätten ihre artspezifische Funktionsfähigkeit oder Hervorbringung. Auch dem Menschen als solchem müsse eine typische und damit höherrangige Tätigkeit zukommen. Aristoteles erblickte wie sein Lehrer Platon das spezifische menschliche ›Ergon‹ in der Tätigkeit der Vernunft, im reinen Denken (vgl. Aristoteles 1991: 1097b, 21-1098a, 20). Die wahre menschliche Selbstverwirklichung besteht daher nach Aristoteles in der Beschäftigung mit kontemplativen theoretischen Wissenschaften wie Philosophie, Mathematik oder theoretischer Physik.

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Nun blieb auch Aristoteles nicht verborgen, dass zum einen nicht alle Menschen die Fähigkeit und Disziplin haben, sich ganz auf die Förderung ihrer intellektuellen Kompetenzen zu konzentrieren. Zum zweiten sind auch diese theoretisch begabten Köpfe keine reinen Intelligenzwesen. Vielmehr haben auch sie noch andere Bedürfnisse und Interessen und pflegen zu diesem Zweck den Umgang mit anderen Menschen. Sie sollen daher auch für das Zusammenleben wichtige menschliche Fähigkeiten in der kooperativen Praxis einüben. Sie benötigen sozialethisch relevante charakterliche Tugenden wie Großzügigkeit, Wohlwollen und Gerechtigkeit. Die intellektuellen Tugenden sollen also durch die ethischen Tugenden, die theoretische Lebensform durch die moralisch-politische Lebensform ergänzt werden. Die aristotelische Anleitung zur bestmöglichen Verwirklichung der spezifisch menschlichen Fähigkeiten hatte eine große, lang anhaltende Wirkung. Allerdings steht außer Zweifel, dass es bedeutend mehr Möglichkeiten menschlicher Selbstverwirklichung gibt als die von Aristoteles vorgeschlagene theoretische und ethisch-politische (vgl. Höffe 2004: 42): Für religiöse Kulturen ist es die demutsvolle Hinwendung zu Gott, für kriegerische das tapfere Heldentum. In der Neuzeit wuchs die Skepsis gegenüber einem Konzept, das von vornherein festlegt, welche Fähigkeiten ein jeder Mensch objektiv betrachtet zur Entfaltung bringen soll. Als bleibende Erkenntnis aus der Auseinandersetzung mit Aristoteles könnte man festhalten: Die menschliche Vernunft ist das entscheidende Vermögen bei der Auswahl, Ordnung und Ausbildung aller menschlichen Fähigkeiten und Lebensmöglichkeiten. Zudem muss sich ein Modell menschlicher Selbstverwirklichung mit der sozialen Dimension einer ethisch-politischen Lebensform auseinandersetzen. Heute verbindet man mit Selbstverwirklichung jedoch kaum mehr die Verwirklichung wesensmäßiger, natürlicher Fähigkeiten oder artspezifische Leistungen im Sinne des antiken Ergon. Der Trend in der Gegenwart geht eindeutig hin zum zweiten Modell der Selbstverwirklichung, dem wunschtheoretischen Ansatz: Selbstverwirklichung wird verstanden als Erfüllung tiefer Wünsche, Lebensziele oder identitätsstiftender Ideale.

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Ich komme damit also zum zweiten Modell menschlicher Selbstverwirklichung: Das zu verwirklichende ›Selbst‹ ist hier nichts natürlich Vorgegebenes, sondern ein idealer Entwurf seiner selbst. In der Philosophie nennt man dieses ›Selbst‹ ein ›normatives Selbst‹ oder ›normatives Selbstbild‹. »Normativ ist dasjenige Selbst, von dem wir uns wählend verstehen, der Entwurf, auf den hin wir uns verwirklichen wollen, das eigentliche, wahre, selbsthafte Selbst, das Selbst im Selbst; faktisch das, als welches wir uns jeweils vorfinden.« (Krämer 1978: 111f.) Es heißt ›normatives‹, also ›wertendes‹ Selbst, weil man in einem reflexiven Vorgang der Interpretation und Auswahl bestimmte Fähigkeiten oder Neigungen als wertvoll bestimmt. Der normative Selbstentwurf ist prospektiv, weil er sich auf die Zukunft bezieht und festlegt, in welche Richtung die Entwicklung gehen soll. Es handelt sich bei dem in die Zukunft projizierten ›Selbst‹ allerdings nicht um eine ›creatio ex nihilo‹, eine Schöpfung aus dem Nichts. Man bezieht sich sehr wohl auf ein ›faktisches Selbst‹ oder ›empirisches Selbst‹, das die genetischen Anlagen, die angeborene psychische Charakterdisposition, aber auch den eigenen Körper, die religiös-kulturelle Einbettung, familiäre Herkunft und die sozialen Rollen umfasst. Es ist individualethisch gesehen nicht ratsam, ganz unabhängig von empirischen Gegebenheiten etwas Unmögliches oder Phantastisches werden zu wollen, z.B. Nero oder Cäsar. Denn dann ist die Gefahr groß, dass das ›normative Selbst‹ ein bloßes Phantasieprodukt bleibt und nicht in die Realität umgesetzt werden kann. Das ›empirische Selbst‹ ist sozusagen das passive Moment im ›menschlichen Selbst‹, das in der Sozialphilosophie ›me‹ genannt wird. Das aktive Moment, auch das ›I‹ (Mead) oder ›reine Selbst‹ (James) genannt, steht für die menschliche Möglichkeit, bewusst und reflexiv Stellung zu nehmen zu allen charakterlichen, biographischen und situativen Gegebenheiten. Aufgrund dieser beiden Momente des aktiven geistigen ›I‹ und des passiven empirischen ›me‹ ist der Mensch nach Sartre dazu verurteilt, immer das zu sein, was er nicht ist, und nie das zu sein, was er ist (vgl. Sartre 1991: 267). Also nochmals: Er ist nicht, was er ist – und ist, was er nicht ist. Das klingt paradox: Der Mensch

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ist eben immer mehr als das, was von ihm bereits in Erscheinung getreten ist – also beispielsweise seine Vergangenheit, sein Körper oder sein gewordener Charakter. Der Mensch kann dieses pure Dasein dank seiner Reflexionsfähigkeit überschreiten, sich davon distanzieren oder ihm eine bestimmte Bedeutung innerhalb seines Selbstentwurfs geben. In diesem Sinn ist er, was er nicht ist. Aus einem ausgearbeiteten oder ausformulierten normativen Selbstentwurf ergibt sich der Lebensplan oder die Lebensform eines Menschen. Dabei liegt der Zeitpunkt dieser ursprünglichen Selbstwahl und des persönlichen Lebenskonzepts am Ende der pubertären Krise. Während der Lebensplan mannigfaltige Ziele in eine zeitliche und hierarchische Ordnung bringt, stehen im Zentrum von Selbstentwürfen eher Ideale. Ideale sind nicht wie die Lebensziele oder Projekte auf die Gestaltung der äußeren Welt ausgerichtet, sondern betreffen mehr die Seinsweise des Subjekts. Ideale wie ›Schönheit‹ oder ›Weisheit‹ sind weniger konkret, weniger realitätsorientiert als berufliche Ziele wie eine Karriere als Top-Model oder Philosophieprofessorin. Da der Selbstentwurf genauso wie der Lebensplan in die Tiefen des Unbewussten hinabgeübt wird, muss er dabei auch gar nicht immer bewusst sein, um wirksam zu sein. Das aktive ›reine Selbst‹ kann aber jederzeit reflexive Distanz nehmen zu diesem Entwurf. Ihm kommt die permanente Aufgabe der Selbstkontrolle und Selbststeuerung zu. Im Krisenfall muss es eine Korrektur oder eine Neuinterpretation der Lebensund Selbstentwürfe vornehmen. Entweder wenn sie sich mit Blick auf die eigenen biologischen, psychischen oder charakterlichen Fähigkeiten als inadäquat entpuppen oder wenn sich die Umweltgegebenheiten unerwartet verändern. Es empfiehlt sich daher, sich die Selbstreflexion zur Gewohnheit zu machen.

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D IE W UNSCH -

ODER

Z IELTHEORIE

Sie fragen sich jetzt vielleicht: Wie sollen wir denn unsere Ideale und Lebensziele auswählen, um ein gutes und glückliches Leben zu führen? In der Philosophie ist es die Wunsch- oder Zieltheorie des guten Lebens, die sich mit solchen Fragen beschäftigt. Gemäß diesen Theorien bemisst sich ein gutes Leben daran, dass in ihm die meisten, die wesentlichen oder möglichst viele Wünsche oder Ziele des Subjekts realisiert werden können. Die Grundmaxime dieser Position lautet entsprechend: ›Lebe das Leben, bei dem möglichst viele Deiner Wünsche oder Ziele in Erfüllung gehen!‹ Es ist empirisch kaum zu leugnen, dass jeder Mensch Wünsche hat, zu denen er wertend Stellung beziehen kann. Erfahrungsgemäß möchte jeder Mensch, dass möglichst viele seiner Wünsche oder Ziele in Erfüllung gehen. Verschiedene empirische psychologische Studien haben gezeigt, dass das Ausmaß an Glück und Lebenszufriedenheit von der Verwirklichung persönlicher Lebensziele abhängig ist (vgl. Bowi 1990: 8). Je näher die Menschen ihren Wünschen oder Zielvorstellungen kommen, desto zufriedener und glücklicher scheinen sie zu sein. Der Ausgangspunkt der Wunsch- oder Zieltheorie ist somit äußerst plausibel. Natürlich kann es bei einer Wunsch- oder Zieltheorie des guten Lebens nicht darum gehen, konkrete Rezepte oder Handlungsanweisungen zu liefern. Sie kann nicht sagen, welche inhaltlichen, beruflichen oder familiären Ziele Menschen generell wählen sollen. Die Anweisungen sind denn teilweise auch sehr vage. Der Wunschtheoretiker Martin Seel etwa rät: Man solle diejenigen Wünsche bzw. Ziele wählen, »deren Verwirklichung die reichere Erfüllung verspricht« (1995: 92). Besteht das Problem nicht gerade darin, dass wir in den meisten Fällen nicht sicher sind, welche Ziele bei ihrer Realisierung tatsächlich Erfüllung bringen? Es fehlt uns einfach schlicht die Erfahrung darüber, wie es ist, im Besitz der gewünschten Zustände oder Objekte zu sein. Der Wunsch etwa, Mutter zu werden, basiert auf der durchaus unsicheren Annahme, dass sich ein Mutterglück einstellen wird. Auch wissen wir als Schüler oder Studierende nicht ›von innen‹, wie es ist, einen

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bestimmten Beruf auszuüben. In entscheidenden Punkten könnte sich unser Wünschen nachträglich als blind erweisen. Man müsste dann im Nachhinein enttäuscht feststellen: Wenn ich gewusst hätte, dass das so ist, wie ich es jetzt erfahre, hätte ich dieses Ziel nicht gewählt! (vgl. Stemmer 1998: 66) Allerdings darf das kognitive Defizit, also das Nichtwissen und das damit verbundene Risiko, auch nicht überbewertet werden. Denn der Mensch wird immer schon hineingeboren in eine Gemeinschaft mit mannigfaltigen Erfahrungen und Vorstellungen bezüglich dessen, was einem Menschen Erfüllung bietet. So können wir gezielte Recherchen darüber anstellen, wie andere Menschen unter ähnlichen Lebensbedingungen ihre Mutter- oder Vaterschaft erlebt haben oder ob sie mit dem von uns anvisierten Beruf wirklich glücklich wurden. Natürlich bleibt ein Restrisiko schon aufgrund der unterschiedlichen psychischen Dispositionen und der nie ganz übereinstimmenden komplexen Lebenssituationen. Wer tiefe Wünsche oder Ziele realisieren will, ist die Strecke nicht zuvor schon einmal zur Sicherheit abgefahren. Er ist damit nicht ›streckenkundig‹, wie die Eisenbahner sagen. In empirischen Studien hat man zu klären versucht, ob wir uns eher leicht erreichbare Ziele oder Ziele von hohem Schwierigkeitsgrad setzen sollen. Augenscheinlich ist es für uns nicht gut, immer die Ziele zu wählen, deren Erfolgswahrscheinlichkeit am größten ist. Denn dies wäre zweifellos bei trivialen Zielen wie Staubsaugen oder Zähneputzen der Fall: Niemand würde daran zweifeln, dass jedermann diese Ziele erreichen kann. Das Problem ist nur, dass der Wert solch trivialer Ziele sehr gering ist. Als wertvoll stufen wir normalerweise nur Ziele ein, die große Anstrengungen und hohe Qualifikationen des Handelnden erfordern. Bei solchen Zielen wäre der Schwierigkeitsgrad der Aufgabe oder des Ziels also sehr hoch. Zwischen Erfolgswahrscheinlichkeit und Wert der Ziele besteht nun offenkundig eine lineare Beziehung: Je größer die Chance der Zielerreichung ist, desto weniger Bedeutung hat der in Aussicht stehende Erfolg. Der Psychologe John Atkinson rät angesichts dieses Dilemmas zu einem gemäßigten Anspruchsniveau und mittelschweren Zielen (vgl. Rheinberg 1997: 69f.).

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Mittelschwere oder ›realistische‹ Ziele sind attraktiv genug, um Freude zu bereiten, sind gleichzeitig aber mit vollem Einsatz der handelnden Person gerade noch zu erreichen. Wenn sich jemand durch allzu hoch gesteckte Ziele überfordert, kann es geschehen, dass die großen Anstrengungen die Freude an den immer langsameren Fortschritten bei den nicht bewältigbaren Aufgaben überdecken. In unserer gegenwärtigen arbeitswütigen Gesellschaft besteht die Tendenz, ›Raubbau an den eigenen Ressourcen‹ zu treiben: Da das Reservoir an physischen, psychischen und intellektuellen Kräften begrenzt ist, sollte aber eine ›Selbstüberbeanspruchung‹ oder ›Selbstüberlastung‹ vermieden werden (vgl. Höffe 2004: 49). Wie hoch der Anreiz von schwer zu erreichenden Zielen auch immer sein mag – man muss beim Streben nach einem guten Leben die Grenzen der eigenen Ressourcen in Rechnung stellen. Jemand mit zwei linken Händen sollte sich nicht zum Ziel setzen, Goldschmiedemeister zu werden, jemand mit zwei linken Beinen nicht, Champion im Rennsport zu sein (vgl. ebd.: 44). Für ein gutes und glückliches Leben scheint es mir grundsätzlich nicht allein auf das objektiv erreichte Niveau anzukommen. Entscheidend sind vielmehr die Möglichkeiten der Weiterentwicklung der eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen je nach individuellem Bildungsstand und angeborenen Talenten. Es hängt also davon ab, ob sich der Einzelne bei einer bestimmten Tätigkeit kontinuierlich persönlich weiterentwickeln kann oder nicht.

V ERANTWORTBARE S ELBSTVERWIRKLICHUNG Ich komme damit zum zweiten Teil und wir wenden uns dem zweiten Pol, dem der Selbsttranszendenz, zu: Viele zeitgenössische Philosophen, Psychologen und Zeitdiagnostiker warnen vor einer falschen Orientierung am ›Selbst‹. Die Rede von Selbstverwirklichung wecke bei oberflächlichem Verständnis »die fatale Illusion einer Weltunabhängigkeit« und verführe zu einer allzu intensiven »Beschäftigung mit sich selbst« (Gerhardt 1989: 63). Je mehr es den Menschen bei ihren

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Selbstentwürfen rein um Selbstverwirklichung geht, desto mehr gerät die Selbsttranszendenz in den Hintergrund. Ein Mensch könne aber nur zu sich selbst finden, wenn er sich selbst transzendiert und sich den Aufgaben oder Personen in der Außenwelt hingibt. Er sei beim Projekt der Selbstverwirklichung grundsätzlich auf Selbsttranszendenz angewiesen. Doch in welchem Sinn lässt sich sagen, dass menschliche Selbstverwirklichung notwendig über den Weg der Welt führt? ( Vgl. Frankl 1994: 103) Wie bereits erwähnt, kann die menschliche Identitätsfindung und Selbstverwirklichung natürlich nur im Medium der raum-zeitlichen Wirklichkeit erfolgen, nicht etwa rein in der eigenen Phantasie. Eine echte Selbstwerdung im Unterschied zu einer Selbsttäuschung oder Lebenslüge verlangt, dass das ›normative Selbstbild‹ in die Realität umgesetzt wird. Nur indem man seine Ziele und Ideale in der Außenwelt realisiert, kann das ›normative‹ sukzessive in ein ›empirisches Selbst‹ umgewandelt werden. Die Praxis der Selbstverwirklichung ist gar nicht möglich ohne die Hinwendung zur Um- und Mitwelt und das Sichten aller uns offenstehenden Handlungs- und Lebensmöglichkeiten. Insbesondere die Mitwelt ist darüber hinaus noch in einem hermeneutischen Sinn für menschliche Selbstentwürfe grundlegend: Der Mensch kann nämlich nur in der Begegnung mit der Außenwelt zu einem Objekt werden, zu dem er sich selbst verhalten kann. In der Sozialpsychologie betont man die wichtige Rolle der gesellschaftlichen Erwartungshaltungen und Reaktionen gegenüber dem Heranwachsenden für die Herausbildung eines ›Selbst‹ oder einer »Ich-Identität« (vgl. Mead 1993: 177-244): Nur dank der Fremdbeurteilungen durch andere Personen kann der Adoleszente die kognitive Fähigkeit entwickeln, reflexiv zu sich selbst Stellung zu beziehen. In Auseinandersetzung mit den Bildern, welche sich die anderen von ihm machen, kann er sich selbst gleichsam von außen betrachten und versuchen, einen individuellen Selbstentwurf zu entwickeln. Die Mitmenschen können aber erfahrungsgemäß auch ein Problem für unseren Selbstentwurf werden: Sie können uns nämlich auf ein

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›empirisches Selbst‹ oder auf eine bestimmte Entwurfsmöglichkeit festlegen. Unter dem Blick der anderen erstarrt man gleichsam zu einem Objekt, wird von ihrem Blick fixiert und auf etwas festgenagelt. Sie kennen vielleicht Sartres Theaterstück Huis clos, Geschlossene Gesellschaft, wo die gegenseitige soziale Abhängigkeit zur Qual wird. Es heißt dort: »L´enfer, c´est les autres« – »Die Hölle, das sind die anderen«. Fatal ist es also, wenn sich Menschen nicht mehr als Subjekte begegnen, sondern sich wechselseitig verdinglichen und dadurch eine freie Selbstentfaltung vereiteln. Halten wir fest: Die Hinwendung zur Um- und Mitwelt ist also in einem pragmatischen und hermeneutischen Sinn ganz unumgänglich. Uns interessiert heute Abend aber vor allem die ethische Dimension menschlicher Selbstentwürfe und die Frage nach der ethischen Notwendigkeit der Selbsttranszendenz. Selbsttranszendenz wird oft in einem moralischen Sinn verstanden, d.h. bezogen auf die Rücksichtnahme gegenüber den Interessen anderer Menschen. Die These lautet dann, der Mensch soll sich bei seinen Selbstentwürfen an den Anforderungen oder Problemen in seiner Um- und Mitwelt orientieren, statt nur an seine eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu denken. Warum sollen wir uns aber um das Allgemeinwohl kümmern statt nur um das für uns selbst Gute? Verlieren wir nicht uns selbst, wenn wir uns an den Bedürfnissen und Interessen anderer Menschen oder an Weltproblemen orientieren? Oder gewinnen wir ganz im Gegenteil nur so uns selbst und sind nur dann wahrhaft Mensch? Manche von Ihnen denken vielleicht: Diese Fragen sind doch ganz einfach zu beantworten, wenn man sich die kategorischen Forderungen der Sozialethik oder Moralphilosophie vergegenwärtigt. Sie erinnern sich an meine einführenden Erläuterungen zu den beiden Perspektiven in der Ethik: Auf die ethische Grundfrage, wie wir handeln sollen, antwortet die Moralphilosophie klar und deutlich: Wir sollen den egoistischen Interessenstandpunkt aufgeben und den unparteiischen objektiven Standpunkt der Moral einnehmen. Von diesem Standpunkt aus erscheint das Wohlergehen von Um- und Mitwelt als genauso wichtig wie das eigene. Doch viele von Ihnen werden sich mit dieser

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Antwort nicht zufrieden geben und weiterfragen: Ja, warum sollen wir Menschen überhaupt moralisch sein? Wollen wir nicht primär glücklich sein, was nur über eine gelingende Selbstverwirklichung möglich scheint? Ist die Rücksichtnahme auf fremde Interessen und die Beschränkung unseres Handelns durch moralische Verbote nicht hinderlich beim Streben nach Selbstverwirklichung? Der Philosoph Michael Theunissen hat eine Studie mit dem Titel Selbstverwirklichung und Allgemeinheit verfasst. Ihm zufolge orientiert sich eine wahre, vernünftige Selbstverwirklichung an den allgemeinen Problemen dieser Welt: an der weltweiten Ausbeutung der Natur, dem Hunger in der Welt und der Bedrohung des Weltfriedens. Ich zitiere: »Die Selbstverwirklichung, die von uns gefordert ist, konkretisiert sich heute also in der Bekümmerung um die weltweite Ausbeutung der Natur, in der Betroffenheit vom Hunger in der Welt, in der Sorge um den Weltfrieden.« (Theunissen 1981: 46) Ähnlich lautet die These Friedrich Kambartels in seinem Referat zum Thema Universalität als Lebensform. Wer sich selbst verwirklichen und ein gutes Leben führen wolle, müsse sich an überindividuellen Zielen orientieren. Auch ihn möchte ich kurz zitieren: »Um in einem wesentlichen, praktischen Sinne zu uns selbst zu gelangen, müssen wir unsere (individuelle) Subjektivität überwinden. [...] Das vernünftige Leben ist das gemeinsame gute Leben.« (Kambartel 1978: 20) Kambartel beschränkt den Horizont der gemeinsamen Ziele zunächst auf diejenigen Menschen, die in einem gemeinsamen Handlungszusammenhang stehen. Aufgrund der Ausweitung dieses Handlungszusammenhangs im Zeichen der Globalisierung sei aber das gute Leben inzwischen ein Menschheitsprojekt geworden (ebd.: 19). Bei Otfried Höffe finden wir die gleiche Argumentationsstrategie, aber etwas konkreter ausgeführt (vgl. Höffe 2004: 52f.): Der Mensch ist ein soziales Wesen und ist bei seinem Streben nach Glück und Selbstverwirklichung vielfältig auf ein intaktes soziales Umfeld angewiesen. Die meisten Ziele können wir nur dank des Wohlwollens und der Unterstützung von Freunden, Partnern oder Kollegen verwirklichen. Deren eigenes Wohlergehen ist uns nicht gleichgültig, sondern

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trägt zum eigenen Wohlergehen bei. Denn wenn es ihnen schlecht geht, geht es auch uns schlecht. Tragfähige soziale Beziehungen erfordern gegenseitige Hilfsbereitschaft, Wohlwollen und Solidarität. Man hilft den anderen dann uneigennützig, also ohne weitere Nützlichkeitserwägungen. Man tut das Gute um des Guten willen. Soweit ist der Gedankengang sicherlich unproblematisch und leicht nachvollziehbar. Ähnlich wie Kambartel bedient sich Höffe darüber hinaus eines sogenannten Ausdehnungs-Arguments, um moralisches Handeln vom Nahbereich auf den Fernbereich zu erweitern. Natürlich sind wir nicht nur auf unsere Freunde und unsere Familie im Nahbereich angewiesen, sondern auf geordnete und friedliche soziale Verhältnisse in der Gesellschaft, in der wir leben. Neuere sozialwissenschaftliche Studien haben klar nachgewiesen, dass in einer Gesellschaft ohne gemeinsame moralische Werte und Normen der Zusammenhalt fehlt. Eine Gesellschaft von egoistischen Selbstverwirklichern würde über kurz oder , lang in einen anarchistischen Zustand wie bei Thomas Hobbes Krieg aller gegen alle münden. Um uns selbst zu verwirklichen und unser Glück zu machen, brauchen wir humanitäre Arbeitsverhältnisse, eine florierende Wirtschaft mit einem vielfältigen Angebot an Arbeitsplätzen, Dienstleistungsbetriebe, Verkehrsnetze, Bildungsinstitutionen und vieles weitere mehr. Auch Höffe betont, dass die Handlungszusammenhänge in der heutigen Gesellschaft schnell die ganze Menschheit umfassen können. Aufgrund der weitreichenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Verflechtungen bedürfe es der Solidarität auch mit den Bewohnern entfernterer Regionen und mit den zukünftigen Generationen. Er macht aufmerksam auf unsere wirtschaftliche Abhängigkeit von ausländischen Märkten hinsichtlich der Rohstoff- und Energiequellen. Die weltweite Verflochtenheit im politischen Bereich illustriert Höffe anhand von politischen Unruhen in weit entfernten Ländern, die über internationale Netzwerke auf andere Regionen übergreifen können. Schließlich führt er die sich verschärfende Umweltproblematik ins Feld, welche eine Verantwortlichkeit gegenüber zukünftigen Generationen erforderlich mache: Zunehmende Verschmutzung

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der Gewässer und der Luft, die Ausrottung von Tier- und Pflanzenarten und die Klimaerwärmung drohen zukünftiges Leben auf der Erde unmöglich zu machen. Ist damit aber wirklich gezeigt, dass unser persönliches Glück von der Solidarität mit unseren Fernsten und vom Wohl zukünftiger Generationen abhängt? Aus kritischer Distanz kann die Ableitung der moralischen Forderung nach Selbsttranszendenz aus einer allmählichen Ausweitung der Handlungszusammenhänge nicht wirklich überzeugen. Es fehlt ihnen letztlich die normative Kraft, wie Höffe selbst gesteht. Denn die gravierenden ›Weltprobleme‹ wie Hungersnöte oder Umweltkrisen sind gerade von der Art, dass sie den Einzelnen und sein persönliches Glücksstreben kaum beeinträchtigen. So handelt es sich bei den meisten Umweltschäden um ›Kumulationsprobleme‹, die sich als Folge nicht-koordinierten Handelns vieler Akteure ergeben. Die individuellen Beiträge der Einzelnen, wie etwa die eigenen Autoabgase, fügen den Verursachern selbst keinen spürbaren Schaden zu. Die reichen Industrienationen im gemäßigten Norden sind von den langfristigen globalen Folgen der Klimaerwärmung nicht direkt betroffen. So bleiben die meisten Menschen unbeschwert und erkennen keine moralische Pflicht. Es scheint sich hier vielmehr eine parasitäre Haltung anzubieten: Der Einzelne kann daraus Vorteile ziehen, dass sich die meisten anderen an die allgemeinen Umweltgebote halten. Desgleichen beeinträchtigt ein Krieg in Nigeria oder im Nahen Osten mein individuelles gutes Leben schwerlich. Es lässt sich argumentativ nicht zeigen, dass eine Selbstverwirklichung ohne individuelles Engagement für Weltprobleme notwendigerweise zum Scheitern verurteilt ist. Andererseits gibt es sehr wohl individualethische Gründe dafür, die persönlichen Selbstentwürfe an dem für alle Guten oder moralisch Richtigen zu orientieren. Dies sind allen voran die drohenden moralischen Sanktionen wie Tadel, Verachtung oder Ausgrenzung durch die Gemeinschaft. Wer offenkundig und permanent auf Kosten anderer Menschen nach Glück strebt und sich rücksichtslos entfaltet, wird von der moralischen oder rechtlichen Gemeinschaft über kurz oder lang in die Schranken gewiesen. Auch wo das unmoralische Handeln unent-

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deckt bleibt, lebt man in ständiger Furcht, dass es irgendwann doch noch auskommt. Darüber hinaus können wir nur durch soziale Beziehungen wechselseitiger Anerkennung und des Respekts eine positive Selbstbeziehung aufrecht halten. Nach Axel Honneth lassen sich drei Ebenen der Anerkennungsverhältnisse unterscheiden: Das für unsere individuelle Selbstverwirklichung sehr wichtige Selbstvertrauen durch Anerkennung in der Familie, Selbstachtung durch die Rechtsgemeinschaft und Selbstschätzung durch die Solidargemeinschaft (vgl. Honneth 1998: 45f.). Es ist aber nicht so wie von antiken Philosophen gern behauptet, dass ein gerechtes Leben in Hingabe an dringliche Aufgaben in der Welt automatisch glücklich macht. Wohl gibt es viele Menschen, die sich das Engagement für Hilfsbedürftige oder für die Umwelt zum zentralen Lebensziel machen und darin Erfüllung und Glück finden. Auch kann das Selbstverwirklichungsstreben indirekt der Gesellschaft nützen, so z.B. bei vielen Künstlern und Denkern, die die Welt mit ihren Werken beglücken. Das für mich Gute muss also keineswegs immer im Widerspruch stehen zum sozialethisch Guten. Es kann aber durchaus auch sein, dass die Forderungen der Um- und Mitwelt eine Einschränkung der Selbstverwirklichung und der Verfolgung individueller Ziele erfordern. Ethisch gesehen ist grundsätzlich nur eine Selbstverwirklichung angemessen, die auf die Um- und Mitwelt Rücksicht nimmt. Es ist typisch für den Menschen, dass er sich in die Lage der anderen versetzen und gleichsam die Außenperspektive auf sich selbst einnehmen kann. Deswegen ist der Mensch das einzige Lebewesen, das Verantwortung für sein Handeln gegenüber den Betroffenen übernehmen kann. Gerade weil die Menschen frei sind, ihr Leben zu führen und sich selbst zu entwerfen, erwarten wir voneinander eine Rechtfertigung und Begründung unseres Tuns. Zum Menschsein gehört also wesentlich, den moralischen Standpunkt einzunehmen und Verantwortung gegenüber den vom eigenen Handeln Betroffenen zu übernehmen. Dem Menschen ist nur eine verantwortbare Selbstverwirklichung angemessen, bei der die

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Verwirklichung der eigenen Interessen mit Blick auf fremde Interessen begrenzt wird. Der Anlage nach ist die Fähigkeit zur Selbsttranszendenz und zur Fremdzentrierung zwar genauso in der menschlichen Natur verankert wie der Egozentrismus. Anders als das egozentrische Streben nach Bedürfnis- und Wunschbefriedigung ist die menschliche Fähigkeit zur Selbsttranszendenz und zum Altruismus aber nicht von Geburt an aktuell. Sie fehlt bekanntlich beim Neugeborenen. Sie entwickelt sich erst im Heranwachsenden und ist auf sorgfältige moralische Erziehung und Sozialisation angewiesen. Je mehr Heranwachsende zur Wahrnehmung der Weltprobleme erzogen oder für sie sensibilisiert werden, desto größer ist die Chance eines selbstlosen Engagements für Weltprobleme. Wem die Selbsttranszendierung zum festen Charakter geworden ist, der tut das moralisch Richtige ganz unabhängig vom Eigennutz. Eine verantwortungsvolle und wahrhaft menschliche Selbstverwirklichung ist also ohne Selbsttranszendenz nicht möglich. Und erst durch eine moralische Erziehung und Bildung wird der Mensch als zur Reflexion begabtes Naturwesen zum Menschen.

L ITERATUR Aristoteles (1991): Nikomachische Ethik, München. Bowi, Ulrike (1990): Der Einfluss von Motiven auf Zielsetzung und Zielrealisierung, Dissertation, Heidelberg. Frankl, Viktor (1994): Logotherapie und Existenzanalyse, Berlin/München. Gehlen, Arnold (1986): Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden. Gerhardt, Gerd (1989): Kritik des Moralverständnisses, Bonn. Gewirth, Alan (1998): Self-fulfillment, Princeton. Höffe, Otfried (2004): Das Glück, Kurseinheit 1 des Studienbriefs »Persönliches Glück und politische Gerechtigkeit«, Hagen.

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Honneth, Axel (1998): Kampf um Anerkennung. Zur Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a.M. Horn, Christoph (2014): »Philosophische Glückstheorien. Systematische und historische Überlegungen«, in: Monika Müller/Stephan Schaede et.al. (Hg.), Was ist ein gutes Leben? Mehr als eine flüchtige Frage nach dem schnellen Glück, Loccum, S. 73-92. Kambartel, Friedrich (1978): »Universalität als Lebensform«, in: Willi Ölmüller (Hg.), Normenbegründung und Normendurchsetzung, Bd. 2, Paderborn, S. 11-21. Kleiter, Ekkehard (1999): Egozentrismus, Selbstverwirklichung und Moral, Bd. 1, Weinheim. Krämer, Hans (1978): »Selbstverwirklichung«, in: Günther Bien (Hg.), Die Frage nach dem Glück, Stuttgart-Bad Cannstatt, S. 21-44. Mead, Herbert (1993): Identität und Gesellschaft, Frankfurt a.M. Nietzsche, Friedrich (1999): »Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel zu einer Philosophie der Zukunft«, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), Bd. 5, München, S. 9-244. Rheinberg, Falko (1997): Motivation, Stuttgart/Berlin/Köln. Sartre, Jean-Paul (1989): Ist der Existentialismus ein Humanismus? Drei Essays, Frankfurt a.M. Sartre, Jean-Paul (1991): Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg. Scheler, Max (1991): Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bonn. Seel, Martin (1995): Versuch über die Form des Glücks, Frankfurt a.M. Stemmer, Peter (1998): »Was es heisst, ein gutes Leben zu leben«, in: Holmer Steinfath (Hg.), Was ist ein gutes Leben?, Frankfurt a.M., S. 47-72. Theunissen, Michael (1981): Selbstverwirklichung und Allgemeinheit. Zur Kritik des gegenwärtigen Bewusstseins, Berlin/New York.

Mit sich selbst befreundet sein – Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst W ILHELM S CHMID

Die Beziehung des Einzelnen zu sich selbst ist grundlegend für vieles im Leben, denn jede und jeder muss mit sich irgendwie umgehen, niemand kann diesem Umgang ausweichen. Aber was ist das für eine Art von Beziehung? Wie ist sie vorstellbar? Da sind ja nicht zwei oder mehrere zu sehen, zwischen denen Beziehungen möglich sind. Da ist nur einer, der aber birgt mehrere oder viele Seiten in sich, die zumindest in der Wahrnehmung nicht immer miteinander verbunden sind, etwa körperliche Bedürfnisse, bewegte Gefühle und nüchterne Überlegungen. Manche finden eine Selbstbeziehung sogar von Grund auf beunruhigend: Kann sie nicht den Beziehungen zu Anderen vorgezogen werden? Ist das nicht Egoismus? Aber es erscheint schwierig, anders als beim Ich anzusetzen, das nun einmal da ist. Vor allem in der Epoche, die man »die Moderne« nennt, sind Menschen in anderem Maße als je zuvor auf sich selbst verwiesen. Sie sehen sich vor die Aufgabe gestellt, selbst nach Orientierung zu suchen und ihr Leben selbst zu führen, ohne sich dafür gerüstet zu fühlen. Sich damit zu befassen, soll nicht heißen, andere, etwa soziale und ökologische Probleme zu ignorieren, auch nicht, nur eine Nabelschau der modernen Welt zu betreiben. Aber überall dort, wo

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eine Modernisierung Platz greift, werden wohl ähnliche Probleme zu erwarten sein, das zeichnet sich in Ländern an der Schwelle zur Moderne deutlich ab. Antworten darauf zu finden, ist nicht anderen Kulturen zuzumuten, sondern der Kultur der Moderne selbst, erst recht in der Zeit der Globalisierung, die nichts anderes ist als eine globale Modernisierung.

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ALS

B EFREIUNG

Die Moderne wirft die Frage nach der Beziehung des Ich zu sich neu auf. Was aber ist die Moderne, woher kommt sie, wohin geht sie? Sie wurde von den Aufklärern, darunter vielen Philosophen, im 17. und 18. Jahrhundert konzipiert, um elende Verhältnisse zu überwinden: Die Dritte Welt, das war einmal Europa. Abhilfe sollte eine Anstrengung schaffen, die auf Freiheit zielte. Freiheit wurde dabei und wird bis ins 21. Jahrhundert hinein im Wesentlichen als Befreiung von Zwang und Unterdrückung verstanden. Nichts daran ist zurückzunehmen, die Tragik der Freiheit als Befreiung besteht jedoch darin, ein Individuum freizusetzen, das Mühe damit hat, frei zu sein, denn das heißt nicht nur, sich von allem und jedem zu befreien, sondern auch neue, freie und zugleich tragfähige Beziehungen zu gründen und zu pflegen. Die Freiheit als Befreiung macht eine eigene Lebensführung zur Notwendigkeit. Das aber ist nicht leicht, und so steht das Ich etwas verloren in der Landschaft der Moderne, versteht sich selbst nicht gut und weiß mit sich und seinem Leben nicht umzugehen. Denn das ist seine Situation: •



Frei zu sein von religiöser Bindung, auf keine Religion mehr festgelegt, auch nicht auf die damit verbundenen Verhaltensregeln und Sinnmuster, nicht mehr vertröstet auf ein Jenseits. Aber welches Ich kann das eigene Verhalten nun selbst festlegen und auch selbst Antworten auf kleine und große Lebens- und Sinnfragen finden? Frei zu sein von politischer Bevormundung, im Besitz eigener Würde und Rechte gegen Fremdbestimmung. Aber welches Ich

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kann nun mit der Selbstbestimmung auch selbst politische Verantwortung übernehmen, wenigstens als interessierter Bürger und Wähler einer politischen Machtausübung auf Zeit? Es ist offenkundig eine mühsame Aufgabe für viele, die lieber den politischen Betrieb für sinnlos halten, ohne ihn wirklich zu kennen. Frei zu sein von Naturzwängen mithilfe von Wissenschaft und Technik: Jede und jeder verfügt etwa mit Autos und Flugzeugen über eine Bewegungsfreiheit, die seinen natürlichen Radius weit überschreitet. Aber zu den Kosten dieser Freiheit zählt, dass die eingesetzten Techniken und freiwerdenden Schadstoffe die eigenen Lebensgrundlagen ruinieren können. Welches Ich kann wenigstens aus Eigeninteresse (sofern da noch eines ist, das so weit reicht) eine Beziehung zur Natur neu begründen? Frei zu sein von staatlicher Lenkung, was die wirtschaftliche Eigeninitiative angeht. Diese Freiheit brachte das freie Unternehmertum hervor, das der philosophischen Idee nach (Adam Smith, 1776) zur Hebung des Wohlstands aller führen sollte. Aber die praktische Erfahrung hat gezeigt, dass eine zu weitgehende ökonomische Freiheit soziale und ökologische Folgen zeitigt, deren Bewältigung größte Mühe macht und viele Menschen am Sinn des gesamten Systems zweifeln lässt. Es läge an klugen Ichs, Produzenten, Konsumenten, aber auch Bürgern und Politikern, hier vorsichtig gegenzusteuern. Frei zu sein schließlich von sozialer Bindung. Vor allem dieser Befreiungsprozess war es, der das moderne Ich erst hervorgetrieben hat, losgelöst aus seinem Eingebundensein in familiäre, dörfliche, ständische Gemeinschaften, befreit (»emanzipiert«) von erzwungenen Rollenverteilungen. Das war und ist wünschenswert, aber eine Konsequenz ist die Auflösung vieler sozialer Beziehungen. Letztlich ist da keine einzige Beziehung mehr, die das ganze Leben hindurch vollkommen verlässlich wäre. Sollte sich damit nicht gut leben lassen, beginnt die eigene Arbeit des Ich an einer Wiederherstellung von Beziehungen. Das ist zugleich die Arbeit an einer veränderten, anderen Moderne, beginnend jedoch bei der Beziehung

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zu sich selbst, um sich auf neue Weise zur Beziehung zu Anderen zu befähigen.

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Und was ist dabei mit dem Ich und seinem »Selbst« gemeint? Was das Selbst »eigentlich« ist: Diese Frage muss offen bleiben. Die vielen Theorien über das Selbst in der Geschichte der Philosophie und Psychologie belegen vor allem Eines: Dass es ein Etwas ist, das sich nicht sehr gut fassen lässt. In der Konsequenz bleibt nur ein pragmatisches Vorgehen: Selbst ist alles, was unweigerlich nicht Sache eines Anderen ist. Das Selbst bringt Gegebenheiten mit sich, hat Vorstellungen von sich, entwickelt eine Auffassung vom Leben und eine Sicht auf die Welt, die kein Anderer vollständig teilt. Es macht Erfahrungen, die Anderen mitgeteilt und mit ihnen geteilt werden können. Die Gebundenheit von Erfahrungen an das Selbst aber bleibt bestehen. Niemand sonst lebt dieses Leben als nur dieses Selbst, dem es in seinem Leben um sich selbst geht, auch wenn es ganz von sich absehen will, auch dann, wenn es vom Umgang mit sich nichts wissen will, selbst dann, wenn es das Selbst als Illusion erkennt, die es auslöschen will. Das Selbst ist eine Illusion, die entstanden ist, um leben zu können. Wir sollten sie pflegen, solange wir sie zum Leben brauchen. Es hilft nichts zu sagen, in Wahrheit gebe es gar kein Selbst – Menschen müssen trotzdem zurechtkommen mit dem Selbst, das es nicht gibt. Lebenskunst kann durchaus heißen, jeglichem Selbst zu entsagen, aber auch die Selbstentsagung erfordert ein Selbst, das kraftvoll genug ist, sich von sich lösen zu können. Das Grundproblem vieler Menschen in moderner Zeit ist aber vor allem, sich um ihr Selbst zu ängstigen, denn die Energie, aus der heraus sie leben, wird von allen Seiten beansprucht und abgezogen: Von Anderen in der Familie, von allen möglichen Anforderungen in der Arbeit, von Werbetafeln auf der Straße, von tausend Möglichkeiten im Internet, von einem stets anschwellenden Informations- und Kommu-

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nikationsfluss beim Gebrauch aller möglichen Medien. Und es sind die überhöhten Ansprüche des Einzelnen an sich und das Leben, die das Selbst auslaugen und in die Erschöpfung treiben. Ausgerechnet die Selbstüberhöhung, das Streben nach gottgleicher Perfektionierung, führt zum Selbstverlust. Die Kräfte schwinden beim Versuch, sich selbst neu zu erschaffen und ewig jung zu bleiben, unantastbar für alles Negative, für Schwäche, Misserfolg, Verletzung, Krankheit, Altern und Tod: Ein aussichtsloses Unterfangen. Es käme darauf an, mit sich selbst befreundet sein zu können. Die Voraussetzung dafür ist Selbstaufmerksamkeit. So wie ein Mensch sich von Anderen missachtet fühlt, deren Aufmerksamkeit er entbehrt, fühlt er sich von sich selbst missachtet bei einem Mangel an Aufmerksamkeit auf sich. Die Aufmerksamkeit sollte allen Aspekten dessen gelten, was als Selbst wahrgenommen wird und offenkundig aus vielen Teilen zusammengesetzt ist: Aus dem Körper mit all seinen Bedürfnissen und Begierden, der Seele mit all ihren bewussten und unbewussten Gefühlen, dem Geist mit all seinen Ideen und Gedanken. Hinzu kommt die Einbettung des Selbst in viele Beziehungen zu Anderen, zur Natur und zur Welt. Selbstaufmerksamkeit heißt, achtsam wahrzunehmen, welche Kräfte im eigenen Selbst wirksam sind: welche Ängste, welcher Mut, welche Stärken, welche Schwächen, welche Wünsche und welche Möglichkeiten. Fragen stellen sich stets aufs Neue: Was ist los mit mir? Welche Stimmen melden sich in mir zu Wort? Was sagen sie? Was geschieht um mich herum? Was bedeutet das für mich? Wie kann ich darauf antworten? Niemand kann einem Menschen die Antworten auf diese Fragen abnehmen. Mithilfe von Selbstbesinnung wird es möglich, Sinn im eigenen Selbst zu finden, also Beziehungen zu begründen zwischen den verschiedenen Seiten des Ich, den Eigenheiten und Fremdheiten in ihm, dem Können und Nichtkönnen, den Gewissheiten und Ungewissheiten, Hoffnungen und Befürchtungen, Vorlieben und Abneigungen, Gewohnheiten und Visionen. Alle Selbstaufmerksamkeit und Selbstbesinnung, alle Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst zielt auf ein Kennen-

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lernen dessen, was als gegebenes Selbst vorgefunden und als mögliches Selbst vorgestellt wird. So entsteht Selbstkenntnis auf der Basis von reichhaltiger Erfahrung und kritischer Betrachtung seiner selbst, um sich über sich klarer zu werden und mit relativer Gewissheit sagen zu können: »Ich kenne mich.« Klugerweise achtet das Selbst dabei auf die Grenzen der möglichen Kenntnisse und respektiert sie, statt immer weiter »in sich zu dringen«, mit dem Risiko der Selbstverletzung und Selbstzerstörung. Die Selbstkenntnis ist die moderate und pragmatische Form der Selbsterkenntnis. Sie ist ihr lebbares Maß, getreu dem Satz, der das »Erkenne dich selbst« im delphischen Tempel ursprünglich mit »Nichts im Übermaß« ergänzte. Aber alle Selbstkenntnis ist nur die Voraussetzung für den nächsten Schritt. Auf der Basis von Selbstaufmerksamkeit, Selbstbesinnung und Selbstkenntnis wird erst das möglich, was moderne Menschen leisten müssen, wenn sie nicht mehr von außen definiert werden wollen: Die Selbstdefinition. Sie ist die Antwort auf die moderne Grundsituation der Freiheit, in der mir kein Anderer mehr sagen kann, wer ich bin und schon gar nicht »das Gesetze«, von dem in der Bach-Kantate 132, Bass-Arie, noch die Rede sein konnte: »Frage das Gesetze, / Das wird dir sagen, wer du bist«. Mit dem »Gesetze« waren metaphysische Vorgaben gemeint, niedergelegt in heiligen Schriften und religiösen Deutungen, die dem Einzelnen klarmachten, dass er ein Kind Gottes sei und seinen Weisungen zu folgen habe. Die moderne Situation ist eine andere: Frage dich selbst, wer du bist und wenn du Glück hast, hilft dir ein guter Freund dabei mit dem Blick von außen auf dich. Oder ein Coach.

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Eine ganze Reihe von Punkten hat ein moderner Mensch auf der Basis von Selbstkenntnis für sich zu definieren. Es handelt sich um eine Selbstklärung, nicht um eine Selbsterschaffung. Letztere ist einem Menschen unmöglich. Wer die Eckpunkte seines Selbst festlegt, wird als Gestalt mit Ecken und Kanten erkennbar, nicht unabänderlich für immer, aber so nachhaltig wie möglich, denn sonst könnte von einem gefestigten Selbst nicht die Rede sein. Ein flüssiges, fluides Selbst würde weder zu sich noch zu Anderen verlässliche Beziehungen unterhalten können. Es sind, schon aus Gründen der Überschaubarkeit, etwa sieben Eckpunkte, die das Selbst für sich bestimmt, immer wieder neu überdacht in einer Selbstbesinnung: 1. Was sind meine wichtigsten Beziehungen der Liebe und der

Freundschaft, über die ich mich definieren will? Von vornherein spielen Beziehungen zu Anderen eine entscheidende Rolle für die Selbstbeziehung. Niemand außer mir selbst kann aber bestimmen, welche die wichtigsten sind, um die ich mich in besonderem Maße kümmern will, um sie zu bewahren. 2. Was sind die wichtigsten Erfahrungen in meinem Leben, die fester Bestandteil meiner selbst bleiben sollen? Moderne Menschen machen Tag für Tag zahllose Erfahrungen, in denen sie sich verlieren können, wenn sie nicht die wichtigsten herausfiltern, in denen sie sich wiederfinden können, sobald sie sich an sie erinnern. 3. Was ist mein Traum, dem ich im Leben folgen will, mein Glaube, mein bestimmter Weg und vielleicht mein Lebensziel, meine Idee, meine Sehnsucht? Damit gewinnt das Leben ein Wohin, Wofür, Wozu, fern von jeder Gleichgültigkeit. Aber wer sonst könnte das ausfindig machen und festlegen, wenn nicht ich selbst, wenngleich vielleicht im Gespräch mit Anderen? 4. Was sind die bestimmten Werte, die ich hochhalten will, an deren Realisierung ich aber auch selbst arbeite? Viele klagen über einen Werteverfall in der Gesellschaft, aber den gibt es nur, weil zu viele

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Individuen sich zu wenig um die Realisierung von Werten in ihrem eigenen Leben kümmern. Und welcher Wert soll im Zweifelsfall Vorrang haben, wenn etwa zwischen Freiheit und Bindung, Risiko und Sicherheit, Konsequenz und Nachgiebigkeit zu wählen ist? 5. Welche Gewohnheiten will ich sorgsam pflegen, in denen sich das Leben wohnlich einrichten lässt? Gewohnheiten ermöglichen Gelassenheit, da vieles in ihnen wie von selbst geschieht. Und welche gewohnheitsgleichen Charakterzüge will ich stärken: Geiz oder Großzügigkeit? Ungeduld oder Duldsamkeit? Zögerlichkeit oder Entschlossenheit? 6. Was sind meine Ängste, die einfach da sind, meine Verletzungen, die ich erfahren habe, meine Traumata, gegen die ich nicht ankomme, die ich aber in mein Selbst integrieren kann? Diese Seite des Lebens ausschließen zu wollen, liegt nahe, kostet jedoch unsinnig viel Kraft und ist ohnehin vergeblich. Daher der Versuch, sie als Bestandteil des Selbst zu sehen, um alle Kraft dafür übrig zu haben, gut damit zurechtzukommen. Hilfreich ist dabei die Frage: 7. Was ist das Schöne, an dem ich mein Leben orientieren kann? Was sind die schönen Momente, Anblicke, Arbeiten, Lüste, Gespräche, Gedanken, zu denen ich vorbehaltlos Ja sagen kann? Sie können sehr viel Sinn vermitteln und zu einer endlos ergiebigen Quelle von Kraft werden, mit der mühelos auch größte Schwierigkeiten zu bewältigen sind. So kann ein Mensch sich festigen, wenn er sich zu verlieren droht. Eine sinnvolle Übung auf dem Weg zum definierten Selbst könnte sein, sich selbst oder wohlwollenden Anderen die Eckpunkte mündlich, schriftlich, bildlich zu vergegenwärtigen und sie sich selbst dabei vielleicht erstmals bewusstzumachen, sie zu definieren und gegebenenfalls zu modifizieren. Ein leicht handhabbares Medium hierfür ist die Geschichte, die das Selbst sich und Anderen von sich erzählt: »Das bin ich, das ist meine Geschichte.« Dass Menschen oft und gerne ihre Geschichte erzählen, hat seinen Grund in der Notwendigkeit einer immer neuen Selbstvergewisserung und ist zugleich eine Verfestigung des

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Selbst, bei der auch zusammengefügt wird, was nicht zusammengehört. Die Erzählung der eigenen Geschichte ist keineswegs nur Erinnerung, sondern auch Erfindung, um das Selbst und sein Leben auf »versponnene« Weise zusammenzusetzen. Dass ein Anderer zuhört, regt zur Erzählung an, ermuntert und ermutigt dazu. Der zeitliche Abstand erzeugt die Vorstellung einer räumlichen Ferne, die das Geschehene wie einen Gegenstand am Horizont der Existenz erscheinen lässt und das Selbst zu einem Gemälde macht, das in Ruhe betrachtet werden kann: Welche Konturen treten deutlich hervor, welche verblassen, welche Farben fehlen?

U NVERZICHTBARE S ELBSTFREUNDSCHAFT Ein wichtiges Medium der Selbstgestaltung ist aber vor allem der Umgang mit Dingen und die Arbeit mit ihnen, auch mit elektronischen Dingen. Für jede Arbeit gilt der Grundsatz: Durch die Arbeit an etwas werde ich bearbeitet (fabricando fabricamur im Lateinischen). Die Art und Weise der Arbeit, jeder Art von Arbeit, die Haltung, mit der gearbeitet wird: All das wirkt auf einen Menschen zurück. Und dies so sehr, dass auch seine Charaktereigenschaften davon geprägt und verändert werden. Das geschieht in jedem Fall. Die Frage ist nur, ob dies auch so verstanden wird: Arbeit als Askese, um sich zu üben und durch Übung und Gewöhnung sich selbst zu gestalten. Selbstvertrauen, Selbstfreundschaft und Selbstliebe können darauf gegründet werden. Die Arbeit an der Integrität des Selbst hat letztlich zum Ziel, ein schönes, bejahenswertes Selbst zu gestalten, das mit sich befreundet sein kann. Selbstfreundschaft hängt davon ab, dass den gegensätzlichen Seiten im eigenen Selbst Raum gegeben werden kann. Das erfordert, die widerstreitenden Teile in ein gedeihliches Verhältnis zueinander zu setzen, sie im Idealfall zur spannungsvollen Harmonie zusammenzuspannen, bei der einmal die eine, einmal die andere Seite zum Zug kommt, keine aber allein dominiert: Nicht nur Körper und Geist und Denken und Fühlen, sondern auch sich widerstreitende Gedanken

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und Gefühle wie Furcht und Neugierde, Hoffnung und Enttäuschung, Liebe und Hass, Zärtlichkeit und Zorn, Souveränität und Ängstlichkeit, der Freiheitsdrang und das Bedürfnis nach Bindung. Eine gute Übung der Selbstbefreundung besteht darin, sich mit den eigenen Launen zu befreunden, die nicht zu übergehen sind: In ihnen kommen momentane Gedanken, Gefühle, Wünsche und Ängste zum Ausdruck, die, jeweils ein Ich für sich, das gesamte Selbst für sich allein in Anspruch nehmen wollen. Es ist sinnlos, nach den Gründen dafür zu suchen, denn es geht nur um eine Stunde, einen Tag. Das innere Machtspiel mit einem Machtwort zu beenden, ist wirkungslos, eine konstante innere Verfassung über alle Tage hinweg wird es nicht geben. Wirksamer dürfte es sein, den Launen den Raum zu geben, den sie brauchen und mit ihrem täglichen Wechsel zu leben: Auch auf diese Weise atmet ein Mensch. Immer geht es in der Selbstfreundschaft, wie in der Freundschaft mit Anderen, um ein wechselseitiges Wohlwollen statt Übelwollen zwischen den Beteiligten. Selbstfreundschaft gibt es nicht bei denen, die »mit sich uneins sind«, vor sich selbst fliehen und bei Anderen nur Vergessen suchen: »Nichts Liebenswertes« haben sie an sich, meinte schon Aristoteles, der in seiner Nikomachischen Ethik im 4. Jahrhundert v. Chr. als erster von der Bedeutung der Selbstfreundschaft sprach. Ganz anders verhält sich dies bei denen, die ihr Selbstverhältnis klären: Sie können freundliche Gefühle für sich selbst empfinden. Eine Selbstberührung seelischer Art ist damit verbunden; nicht etwa, um die Selbstfremdheit gänzlich zu verlieren, sondern um ein lebbares Verhältnis auch noch zum Fremden in sich zu gewinnen. Sich zu befreunden, wenn schon nicht mit dem Anderen und Fremden in sich, so doch mit dem Gedanken, dass es dieses Andere eben gibt und dass es trotz allem Teil des Selbst ist. Die Selbstfreundschaft zielt darauf, eine ruinöse Feindschaft in sich zu vermeiden, denn eine fragwürdige Beziehung zu sich hat ungute Auswirkungen auf die Beziehung zu Anderen: Wer mit sich selbst »nicht im Reinen ist«, also die inneren Verhältnisse seiner selbst nicht geklärt hat, der ist viel zu sehr mit sich beschäftigt, als dass er sich Anderen zuwenden könnte.

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Die Selbstfreundschaft ist sogar noch steigerungsfähig und kann zur Selbstliebe werden. Sie kann als die intimere, wenngleich aus diesem Grund wohl auch weniger freie, Selbstbeziehung verstanden werden. Der zugrunde liegende griechische Begriff philautia steht außer für Selbstfreundschaft auch für Selbstliebe. Gibt es nicht sogar im Christentum, der Religion der Liebe, diesen Satz, den alle kennen, aber nicht alle beherzigen: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« (agapeseis ton plesion sou hos seauton im Griechischen, gemäß den Evangelien nach Matthäus und Lukas, zurückgehend auf 3. Mose 19, 18)? »Wie dich selbst« (hos seauton), ausdrücklich also nicht »anstelle deiner selbst«: Die Selbstliebe gilt offenkundig als Grundlage für die Nächstenliebe, auch wenn das theologisch nicht immer so erklärt worden ist. Wann in der Geschichte ist das »Wie dich selbst« abhanden gekommen? Eine historische Zäsur lässt sich spätestens um 370 n. Chr. konstatieren, als Basilius der Große seine Schrift Asketikon mit »längeren Regeln« für das Mönchtum formulierte: Kaum hat er das vollständige Liebesgebot, Gott zu lieben sowie den Nächsten wie sich selbst, korrekt zitiert, fällt die vorausgesetzte Selbstliebe in der darauf folgenden Interpretation weg, bevor sogar ausdrücklich vor ihr gewarnt wird. Dieses Grundmuster bleibt in der christlichen Geschichte über viele Jahrhunderte hinweg erhalten. Aber ist das Selbst nicht ein Geschöpf Gottes, das schon aus diesem Grund sich selbst lieben sollte? Und warum wurde trotz aller Verkündung der Nächstenliebe ohne Selbstliebe in all dieser Zeit der Egoismus nicht besiegt? Wohl weil es vergeblich ist, sich dem Nächsten zuzuwenden, wenn die Selbstliebe nicht die Kräfte dafür zur Verfügung stellt. Die müssen erst gewonnen werden, um verausgabt und verschenkt werden zu können. Es mangelt an der Ethik im Umgang mit Anderen in dem Maße, in dem es an der Ethik im Umgang mit sich selbst fehlt. Wer aber mit sich zurechtkommt und sich selbst mag, der kann auch Andere mögen und sie lieben. Eine gute Selbstbeziehung ist die Grundlage für Beziehungen zu Anderen, zur Gesellschaft und zur Welt. Wer sich darum bemüht, begibt sich auf den Weg zur Fülle des Menschseins.

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Bleibt nur die Frage, wie sich der maßvolle Narzissmus einer Selbstfreundschaft oder Selbstliebe vom übermäßigen Narzissmus einer Selbstsucht oder Egozentrik unterscheiden lässt: Ist der Übergang nicht fließend? In Anlehnung an Aristoteles lässt sich jedoch ein klares Unterscheidungsmerkmal benennen: Die Zwecksetzung. Ist die Selbstliebe nur Selbstzweck, handelt es sich um eine egoistische Selbstliebe, das Ich steht allein im Zentrum. Das kann problematisch sein, nicht nur aus moralischen Gründen, sondern auch aus Gründen des Selbstverhältnisses. Denn so wird eine Selbstbeziehung im Modus der Selbstbezogenheit daraus, die das Selbst von Anderen entfernt und zu seinem Einschluss in sich führt, der ihm selbst am meisten schadet: Den Zuspruch und die Hilfe Anderer muss es entbehren. Ermöglicht die Selbstliebe aber Beziehungen zu Anderen in Form von Kollegialität, Freundschaft und Liebe, so handelt es sich um eine altruistische Selbstliebe. Sie vermittelt dem Selbst die Ressourcen, die es ihm erlauben, auf Andere zuzugehen und für sie da zu sein, eine Selbstbeziehung im Modus der Zuwendung zu Anderen. Wer sich auf diese Weise liebt, ist zu freien Beziehungen zu Anderen in der Lage und bedarf ihrer nicht bloß als Mittel zur Selbstfindung und Bedürfnisbefriedigung. Die Beziehungen zu Anderen gewinnen im selben Maße an Reichtum, in dem sie vom unmittelbaren Eigeninteresse des Selbst frei sind. Mittelbar kommt dies dann doch wieder dem Selbst zugute, denn innerlich reich wird es im Leben letztlich nicht durch sich allein, sondern durch Andere. Die Zuwendung zu Anderen darf daher als Akt der Selbsterfüllung erscheinen und muss nicht als Selbstverzicht verbrämt werden. Der Kern der Sorge für Andere ist die Sorge für sich selbst, die Selbstfreundschaft und Selbstliebe. Wir sollten uns davon lösen, dies für unverantwortlichen Egoismus zu halten.

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L ITERATUR Zur Weiterführung: Schmid, Wilhelm (2014): Vom Glück der Freundschaft, Berlin. Schmid, Wilhelm (2014): Gelassenheit. Was wir gewinnen, wenn wir älter werden, Berlin. Schmid, Wilhelm (2013): Dem Leben Sinn geben. Von der Lebenskunst im Umgang mit Anderen und der Welt, Berlin. Schmid, Wilhelm (2012): Unglücklich sein. Eine Ermutigung, Berlin. Schmid, Wilhelm (2011): Liebe. Warum sie so schwierig ist und wie sie dennoch gelingt, Berlin. Schmid, Wilhelm (2007): Glück. Alles, was Sie darüber wissen müssen, Berlin.

Autorinnen und Autoren

Fenner, Dagmar, (geb. 1971), studierte in Basel Philosophie und Germanistik und erwarb sich gleichzeitig das Lehrdiplom auf dem Kontrabass. Sie promovierte 1998 bei Prof. Annemarie Pieper und habilitierte sich 2004 an der Universität Basel, wo sie 2010 zur Titularprofessorin für Philosophie ernannt wurde und regelmäßig Seminare durchführt. Seit einer Professurvertretung für Prof. Otfried Höffe im Jahre 2006 unterrichtet sie zudem als Lehrbeauftragte Ethik an der Universität Tübingen. Daneben ist sie in der Erwachsenenbildung tätig und bietet Vorträge und Fortbildungsseminare an. Sie ist Autorin zahlreicher philosophischer Bücher und Aufsätze. Forschungsschwerpunkte: Ethik, Angewandte Ethik, Anthropologie, Ästhetik. Pieper, Annemarie, (geb. 1941), studierte von 1960-1967 Philosophie, Anglistik und Germanistik an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken; 1967 promovierte sie in Philosophie.1972 habilitierte sie sich an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo sie von 1972-1981 Universitätsdozentin/Professorin für Philosophie war und als Editorin in der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften mitwirkte. Von 1981-2001 war sie ordentliche Professorin für Philosophie an der Universität Basel. Seit 2001 dehnte sie ihre Vortragstätigkeit aus. Themenschwerpunkte: Bildung, Alter, Politik, Sinn- und Wertfragen. Ihre Lehr- und Forschungsgebiete sind Philosophische Ethik, Existenzphilosophie und französischer Existentialismus sowie idealistische Denkansätze.

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Schmid, Wilhelm, (geb. 1953), ist freier Philosoph und außerplanmäßiger Professor für Philosophie an der Universität in Erfurt. Er studierte Philosophie und Geschichte in Berlin (FU), Paris (Sorbonne) und Tübingen. 1991 promovierte er mit einer Arbeit über »Lebenskunst bei Michel Foucault«. 1997 Habilitation mit der Grundlegung zu einer Philosophie der Lebenskunst in Erfurt. Er lehrte an den Universitäten Leipzig (1990-91), an der TU Berlin (1991-92), an der PH Erfurt (1993-99) und an der Universität Jena (1999-2000), war an den Universität Riga/Lettland (1991-2000) und Tiflis/Georgien (1997-2006) als Gastdozent tätig. Von 1998-2007 arbeitete er regelmäßige als »philosophischer Seelsorger« im Spital Affoltern am Albis (bei Zürich). 2012 erhielt er den Philosophiepreis für besondere Verdienste bei der Vermittlung von Philosophie. 2013 wurde ihm der Preis der EgnérStiftung, Zürich, für sein bisheriges Werk zur Lebenskunst verliehen. Thomä, Dieter, (geb. 1959), war nach seinem Volontariat an der Henri-Nannen-Journalistenschule Redakteur beim Sender Freies Berlin, studierte in Berlin und Freiburg i.Br. und lehrte nach der Promotion 1989 in Paderborn, Rostock, New York, Berlin und Essen. Preis für Essayistik beim Internationalen Joseph-Roth-Publizistikwettbewerb Klagenfurt 1996, Habilitation 1997. Seit Herbst 2000 ist er Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen, seit 2003 ist er Mitherausgeber der »Reihe zur Einführung« des Junius Verlages. Er war Fellow am Getty Research Institute in Los Angeles (2002/3), am Max Weber Kolleg in Erfurt (2007/8) und am Wissenschaftskolleg zu Berlin (2009/10) sowie Gastprofessor an der University of California at Davis (2012) und an der Brown University/Providence (2013). Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen u.a. »Erzähle dich selbst« (1998), »Vom Glück in der Moderne« (2003), »Totalität und Mitleid« (2006) und »Väter. Eine moderne Heldengeschichte« (2008).

Sozialtheorie Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) Commons Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat (2. Auflage) 2014, 528 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2835-7

Urs Lindner, Dimitri Mader (Hg.) Critical Realism meets kritische Sozialtheorie Erklärung und Kritik in den Sozialwissenschaften Juni 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 25,99 €, ISBN 978-3-8376-2725-1

Joachim Renn Performative Kultur und multiple Differenzierung Soziologische Übersetzungen I 2014, 304 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2469-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Sozialtheorie Franka Schäfer, Anna Daniel, Frank Hillebrandt (Hg.) Methoden einer Soziologie der Praxis Mai 2015, ca. 360 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2716-9

Hilmar Schäfer (Hg.) Praxistheorie Ein soziologisches Forschungsprogramm August 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2404-5

Rudolf Stichweh Inklusion und Exklusion Studien zur Gesellschaftstheorie (2., erweiterte Auflage) Juli 2015, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2294-2

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Sozialtheorie Brigitte Bargetz Ambivalenzen des Alltags Neuorientierungen für eine Theorie des Politischen

Hanna Katharina Göbel, Sophia Prinz (Hg.) Die Sinnlichkeit des Sozialen Wahrnehmung und materielle Kultur

Juni 2015, ca. 340 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2539-4

August 2015, ca. 440 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2556-1

Ullrich Bauer, Uwe H. Bittlingmayer, Carsten Keller, Franz Schultheis (Hg.) Bourdieu und die Frankfurter Schule Kritische Gesellschaftstheorie im Zeitalter des Neoliberalismus

Zoltán Hidas Im Bann der Identität Zur Soziologie unseres Selbstverständnisses

2014, 368 Seiten, kart., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-1717-7

Pradeep Chakkarath, Doris Weidemann (Hg.) Kulturpsychologische Gegenwartsdiagnosen Bestandsaufnahmen zu Wissenschaft und Gesellschaft September 2015, ca. 226 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1500-5

Diego Compagna Postnukleare Handlungstheorie Ein soziologisches Akteurmodell für Cyborgs Januar 2015, 410 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2845-6

Thomas S. Eberle (Hg.) Fotografie und Gesellschaft Phänomenologische und wissenssoziologische Perspektiven August 2015, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2861-6

2014, 234 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2727-5

Karin Kaudelka, Gregor Isenbort (Hg.) Altern ist Zukunft! Leben und Arbeiten in einer alternden Gesellschaft 2014, 170 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2752-7

Stephan Lorenz Mehr oder weniger? Zur Soziologie ökologischer Wachstumskritik und nachhaltiger Entwicklung 2014, 144 Seiten, kart., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-2776-3

Sophia Prinz Die Praxis des Sehens Über das Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und visueller Ordnung 2014, 394 Seiten, kart., 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2326-0

Florian Süssenguth (Hg.) Die Gesellschaft der Daten Über die digitale Transformation der sozialen Ordnung Juni 2015, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2764-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Sozialtheorie Peter Wehling (Hg.) Vom Nutzen des Nichtwissens Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven Juli 2015, ca. 250 Seiten, kart., ca. 28,99 €, ISBN 978-3-8376-2629-2

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