Vom Versuch, sich in die Luft zu stellen: Die Anthropologie Karl Löwiths im Spannungsfeld von Weber, Buber, Schmitt und Valéry 9783839442371

This volume re-interprets the work of Heidegger's prominent student Karl Löwith. At the same time, Jan Schenkenberg

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German Pages 348 Year 2018

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Vom Versuch, sich in die Luft zu stellen: Die Anthropologie Karl Löwiths im Spannungsfeld von Weber, Buber, Schmitt und Valéry
 9783839442371

Table of contents :
Inhalt
Einleitende Bemerkungen
Wissenschaft als Beruf
Nach Wissenschaft als Beruf: Wissenschaftliche Leidenschaft zwischen Aristoteles und moderner Naturwissenschaft
Auseinandersetzungen
Der Philosoph als Statthalter
Skeptische Anthropologie als Angelpunkt
Die Rolle des Mitmenschen
Die individuelle Substanz des Einzelnen
Das Verhältnis des Menschen zur Mitwelt
Kritikpunkte und Gegenüberstellungen
Der Gegenstandpunkt: Löwiths Forderung nach Humanität
Anthropologie heute am Beispiel Ernst Tugendhats
»Eine menschliche Philosophie, welche unter der Idee der Freiheit steht«
Literaturverzeichnis
Danksagung

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Jan Schenkenberger Vom Versuch, sich in die Luft zu stellen

Edition Moderne Postmoderne

»Die Afra ist ein Prachtkerl« Martin Heidegger

Jan Schenkenberger, geb. 1980, studierte in Erfurt und London. Er war Fellow an der Hebrew University Jerusalem. Seine Arbeitsschwerpunkte sind deutschjüdische Geschichte und Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts. 2016 promovierte er bei Wilhelm Schmidt-Biggemann an der Freien Universität Berlin. Er lebt und arbeitet in Lübeck.

Jan Schenkenberger

Vom Versuch, sich in die Luft zu stellen Die Anthropologie Karl Löwiths im Spannungsfeld von Weber, Buber, Schmitt und Valéry

Dissertation am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der FU Berlin. Die Arbeit wurde vom Franz Rosenzweig Minerva Research Center der Hebrew University Jerusalem großzügig materiell und ideell gefördert.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4237-7 PDF-ISBN 978-3-8394-4237-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitende Bemerkungen | 9 Wissenschaft als Beruf | 21

Warum Wissenschaft? | 21 Ziele wissenschaftlichen Arbeitens | 24 Die Rollen des Lehrers und des Schülers | 27 Wissenschaft als Beruf und die Diskussion mit dem George-Kreis | 29 Wissenschaft und Mensch | 36 Nach Wissenschaft als Beruf: Wissenschaftliche Leidenschaft zwischen Aristoteles und moderner Naturwissenschaft | 45

Zum Verhältnis von Theorie und Praxis | 45 Theorie als Wissenschaftskritik – Möglichkeit und Aufgabe der Philosophie | 52 Auseinandersetzungen | 63

Georg Wilhelm Friedrich Hegel | 63 Leo Strauss | 68 Martin Heidegger | 74 Der Philosoph als Statthalter | 85 Skeptische Anthropologie als Angelpunkt | 105

Ausgang vom Individualismus: Freiheit und Sinn des Menschen | 105 Zum Begriff der Freiheit | 110 Lebensphilosophie, Politik, Alltag. Sinnstiftung durch Widerspruch | 112 Anthropologie als ethischer Kern der Philosophie | 118 Der Mensch als natürliches und gesellschaftliches Wesen | 120 Zum Begriff der Mitwelt | 126 Die Abhängigkeit des Menschen von seiner Mitwelt | 128 Zum Begriff der Arbeit | 133 Zum Begriff der Rolle | 135 Die Rolle des Mitmenschen | 141

Vereinzelung und Tod | 146

Die individuelle Substanz des Einzelnen | 151

Das Existenzideal | 151 Das »reine Ich« | 156 Das Verhältnis des Menschen zur Mitwelt | 161

Die Sprache als Mittler und das Verhältnis von Ich und Du | 165 Mehrdeutigkeit als Prinzip mitmenschlicher Beziehungen | 170 Kritikpunkte und Gegenüberstellungen | 183

Martin Buber | 185 Löwiths Menschenbild in der Unterscheidung zu Buber | 204 Leo Strauss | 213 Von der religiösen Utopie zum »neuen Denken« | 218 Martin Heidegger | 225 Von der Theologie zur Politik – eine Wahlverwandtschaft | 233 Pathos der Entscheidung: der Ausnahmezustand | 238 Antisemitismus als Platzhalter | 244 Ausnahmezustand, innere Sicherheit und Terror | 246 Der Gegenstandpunkt: Löwiths Forderung nach Humanität | 257 Anthropologie heute am Beispiel Ernst Tugendhats | 265

Exkurs: Löwiths Kritik an der Existenzphilosophie | 269 Löwith und Tugendhat – eine Abgrenzung | 272 »Eine menschliche Philosophie, welche unter der Idee der Freiheit steht« | 293

Kosten des Lebens: Geburt und Tod | 305 Kosten des Lebens: Mensch und Gesellschaft | 308 Sitting on the fence | 316 Gleichheit und Verschiedenheit des Menschen | 318 Achtung als leitendes Prinzip | 321 Literaturverzeichnis | 333 Danksagung | 345

Zunächst hängt die Diskussion an dem Grundfehler, daß Sie […] mich […] an Maßstäben wie Nietzsche, Kierkegaard, Scheler und irgendwelchen schöpferischen und tiefen Philosophen messen. Das ist unverwehrt – aber dann ist zu sagen, daß ich kein Philosoph bin. Ich bilde mir nicht ein, auch nur etwas Vergleichbares zu machen; es steht gar nicht in meiner Absicht. Ich mache lediglich, was ich muß und was ich für nötig halte, und mache es, wie ich es kann; ich frisiere meine philosophische Arbeit nicht auf Kulturaufgaben für ein »allgemeines Heute.« (Martin Heidegger)

Spruch (1933) Du sollst dein Herz nicht an Verlorenes hängen, Nicht lieben sollst du, was dich gehen ließ, Vergiß die Bilder, die dich nachts bedrängen, Vergiß die Hand, die dich ins Leere stieß. Und leihʼ dein Ohr nicht jenen falschen Klängen, Die eine Welt von gestern zu dir trägt – Du sollst dein Herz nicht an Verlorenes hängen, Bewahre dich, bis deine Stunde schlägt. (Hans Sahl)

Einleitende Bemerkungen

Diese Arbeit möchte nicht mit einer einfachen und klaren Forschungsfrage auftreten. Stattdessen spiele ich sehr bewußt bereits im Titel mit verschiedenen Deutungsmöglichkeiten. Er läßt sich durchaus als Anspielung auf die – von Löwith in Anlehnung an Overbeck formulierte – Aufgabe der posthegelianischen Philosophie verstehen und damit auch als Löwiths eigenes Programm. Es ist die Beschreibung dessen, was Philosophie für Löwith sein sollte. Aber so einfach ist es gerade nicht. Denn auch Löwith stand nicht in der Luft. Er war Schüler Heideggers, ein Nachfolger Webers und Kind seiner Zeit. Als solcher kommentierte er das Zeitgeschehen und seine zeitgenössischen Autoren sehr häufig in und mit seinem eigenen Werk. Mit der panoramischen Anlage habe ich in meiner Arbeit versucht, dieser Tatsache auf ihre eigene Art und Weise Rechnung zu tragen. Auch Angesichts von Löwiths eigener Anthropologie entpuppt sich das Vorhaben, in der Lust zu stehen, schnell als Gegensatz zur Situation des Menschen in der Welt und dem Miteinander der Menschen untereinander, das die Grenzen der eigenen Existenz und der eigenen Zeit durchbricht. Ich versuche, in diesem Sinne über Löwith hinaus in mehrere Richtungen zu denken, ohne ihm dabei untreu zu werden. Daher läßt sich der Titel auch als Erinnerung an einen Anspruch lesen, der nicht einlösbar war – eine Kritik an Löwith, als Hinweis darauf, wie sehr er an der selbstformulierten Aufgabe der posthegelianischen Philosophie gescheitert ist. Er läßt sich auch lesen als Kommentar zu meiner eigenen Arbeit, die von Löwith ausgeht, aber dann doch eigene Positionen bezieht, die so dezidiert politisch sind, daß sie auf den ersten Blick weit von Löwith als dem titelgebenden Thema der Arbeit entfernt sind. Philosophische Arbeiten neigen dazu, immer mehr und anderes enthalten, als ihr Autor sagt oder ihre Leser verstehen. Auch die Arbeit und ihre Leser sind es, die auf eine gewisse Weise in der Luft stehen. »Du könntest glauben, sie sprächen, als verstünden sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte,

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so enthalten sie stets doch nur ein und dasselbe. Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie sich nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll und zu wem nicht. Und wird sie beleidigt oder unverdienterweise beschimpft, so bedarf sie immer ihres Vaters Hilfe; denn selbst ist sie weder imstande sich zu schützen noch sich zu helfen«1 schreibt Platon über die philosophische Rede. Dieser Vater ist aber keineswegs allwissend, und oft genug wird ein Leser seine eigenen Gedanken und Interpretationsansätze haben. Löwith hat einmal davon gesprochen, wie schwierig es ist, ein Gegenüber genau so und besser zu verstehen als dieses Gegenüber sich selbst versteht und hielt es für den Vorzug des Gesprächs, daß »uns der andere berichtigen [kann], wenn wir ihn nur nach unserm eigenen Sinn und Maß verstehen und folglich eigensinnig mißverstehen. Wir werden uns dann wenigstens – und dies Wenige ist schon viel – über den entscheidenden Punkt unseres gegenseitigen Nicht- und Mißverstehens verständigen können.«2 In diesem Sinne möchte ich mögliche Interpretationen meiner Arbeit gar nicht zurückweisen oder ihnen grundsätzlich widersprechen. Ich möchte ihnen jedoch ein paar Bemerkungen an die Seite stellen: Die Arbeit geht nicht nur von Löwith aus, sondern auch von der Frage, was Geisteswissenschaft, die als Philosophie für Löwith bereits fragwürdig und gefährdet war, heute überhaupt zu leisten imstande ist; wo sich in ihr ein positiver, wo ein negativer Kern finden

1

Im griechischen Original heißt es: »δόξαις μὲν ἂν ὥς τι φρονοῦντας αὐτοὺς λέγειν, ἐὰν δέ τι ἔρῃ τῶν λεγομένων βουλόμενος μαθεῖν, ἕν τι σημαίνει μόνον ταὐτὸν ἀεί. ὅταν δὲ ἅπαξ γραφῇ, κυλινδεῖται μὲν πανταχοῦ πᾶς λόγος ὁμοίως παρὰ τοῖς ἐπαΐουσιν, ὡς δ᾽ αὕτως παρ᾽ οἷς οὐδὲν προσήκει, καὶ οὐκ ἐπίσταται λέγειν οἷς δεῖ γε καὶ μή. πλημμελούμενος δὲ καὶ οὐκ ἐν δίκῃ λοιδορηθεὶς τοῦ πατρὸς ἀεὶ δεῖται βοηθοῦ: αὐτὸς γὰρ οὔτ᾽ ἀμύνασθαι οὔτε βοηθῆσαι δυνατὸς αὑτῷ.« (Platon: Phaidros. In id.: Werke in acht Bänden, griechisch und deutsch, Bd. 5 (ed. Gunther Eigler); Darmstadt 2011, 275d-e (S. 178-181)).

2

Karl Löwith: Heidegger – Denker in dürftiger Zeit (1953). In id.: Schriften 8; S. 124234, S. 202. Die Stelle setzt sich fort: »Wenn der Gesprächspartner fehlt und das ›Zwiegespräch‹ zwischen Denkenden faktisch ein Monolog ist, weil der andere nur noch im Text dasteht, steigert sich die Möglichkeit, in der Aneignung des auszulegenden Textes nur das Eigene zurückzubekommen und das Eigentümliche des anderen zu verfehlen. Der auch dem Vorverständnis vorgegebene Text ist aber nicht dazu da, um unsere selbstverständlichen, oder auch durchsichtigen, Vormeinungen zu bekräftigen. Wir müssen vielmehr voraussetzen, daß er uns etwas zu sagen hat und zu wissen gibt, was wir nicht schon von uns aus wissen.« (ibid.)

Einleitende Bemerkungen | 11

und entwickeln läßt. Nicht zuletzt spielt auch die Frage nach der (Nach-)Wirkung, Indienststellung und Umdeutung einzelner Denkfiguren gerade in unterschiedlichen Kontexten eine wichtige Rolle für mich. Beide Probleme haben Löwith intensiv und lebenslang beschäftigt, wie seine Auseinandersetzung mit Max Weber zeigt, aber auch seine Frage nach der Heilserwartung in der Weltgeschichte bzw. seine Beschäftigung mit der Sprachphilosophie und -kritik (die in sich schon wieder eine Reaktion war auf das doktrinäre und dogmatische Pathos des Marxismus und des SDS). Die vorliegende Arbeit beginnt mit einer zentralen These: daß es – neben dem unmittelbaren Lehrer Martin Heidegger – mindestens noch einen weiteren zeitgenössischen Denker gab, der Karl Löwith tief beeindruckte und seine Philosophie in einigen Aspekten entscheidend prägte: den liberalen Soziologen Max Weber. Die Hochachtung, die Löwith ihm entgegenbrachte, hielt ungebrochen sein ganzes Leben an; eine Woche nach Webers Tod schrieb der junge Löwith an Erich von Kahler, der gerade eine Erwiderung zu Max Webers berühmtem Vortrag Wissenschaft als Beruf hatte erscheinen lassen.3 »Max Webers Tod hat mich sehr betrübt, er war eine wundervolle grosse Gestalt, einer der ›Letzten‹.«4 Und knapp ein halbes Jahrhundert später heißt es rückblickend in Curriculum Vitae: »Ich hatte 1919 das Glück, M. Webers Münchener Vortrag über Wissenschaft als Beruf zu hören, und seitdem weiß ich, was ein bedeutender Mann ist. Die herben Schlußworte seines Vortrags sind mir noch wie vor vierzig Jahren gegenwärtig.«5 Meine Untersuchungen wollen auch zeigen, daß nicht nur die Schlußworte dieses Vortrags dauerhafte Spuren in Löwiths Werk hinterlassen haben. Begonnen wird dabei mit einer kurzen Diskussion jener Stellen aus Webers Vortrag, die einen besonderen Eindruck in Löwiths Wissenschaftsverständnis ausgeübt haben, das im Anschluß erläutert wird. Doch ist das nicht der eigentliche Grund, warum sie am Beginn der Arbeit stehen: sie umreißen programmatisch nicht nur Löwiths Methode – sein Ansatz der skeptischen Dekonstruktion ist ein Echo von Webers Anspruch, Wissenschaft solle vor allem Probleme aufzeigen und ein Lehrer habe als »erste Aufgabe, seine Schüler u n b eq u eme Tatsachen anerkennen zu lehren, solche, […] die für seine Parteimeinung unbequem sind; und es

3

Erich von Kahler: Der Beruf der Wissenschaft, Berlin 1920.

4

Karl Löwith an Erich von Kahler, 17.VI.1920; Marbach/Neckar, Deutsches Literaturarchiv, A: Kahler. Hervorhebung von Löwith. Grundsätzlich wurden Hervorhebungen und Kursivierungen in Zitaten nicht von mir gesetzt, sondern, sofern nicht anders vermerkt, immer aus der Quelle übernommen.

5

Karl Löwith: Curriculum Vitae (1959). In id.: Schriften 1; S. 450-462, S. 454.

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gibt für jede Parteimeinung […] äußerst unbequeme Tatsachen.«6 Die kommenden Abschnitte wollen auch zeigen, daß Löwiths wichtigste Frage – die nach Mensch und Welt, wie sich der Mensch in und mit dieser Welt verhalten solle – und die Antwort, die Löwith auf sie gab, tief von Weber beeinflußt ist. Max Weber ist für Löwith ein Orientierungspunkt, von bleibender Wichtigkeit. Die Frage nach Mensch und Welt als generalisiertes Problem begleitete Löwith lebenslang; sie wurde von ihm aus einer tiefempfundenen Not heraus gestellt. Diese Not betrifft Löwith persönlich; sie betrifft aber auch seine ganze Generation – im Existentialismus hat sie ihren philosophischen Ausdruck gefunden. Löwith formuliert sie mit Dostojewski so: »Welches Recht hat die Natur gehabt, mich ohne meine Einwilligung in die Welt zu setzen, und zwar mit einem Bewußtsein um das eigene Dasein und folglich uneins mit sich selbst an der Last des Lebens leidend?«7 Es ist nicht so, daß sich dieses Problem Löwiths heute, fast fünfzig Jahre nach seinem Tod, erledigt hätte; seine Konsequenzen und weitergehenden »Fragen als solche [bleiben] bestehen. Sie betreffen vor allem das Christentum und die aus ihm erwachsene europäische Humanität.«8 Je länger man sich mit Löwiths Schriften befaßt, umso deutlicher wird ihr eigentliches Problem – das doch gerade eine Originalität von Löwiths Denken ist: Löwith »hielt es im Grunde mit Schopenhauer, d. h. er hielt nichts von dem akademischen Stil der Philosophie und fühlte sich mehr zu den Moralisten […] gehörig. Heidegger hat mir später erzählt, wie Löwith, mit dem der junge Heidegger früher nahen Umgang hatte, damals die Korrekturen von ›Sein und Zeit‹ mitlas und mit dem Fortgang des Ganzen immer finsterer wurde, weil am Ende auch Heidegger, in dem er einen radikalen Kritiker der Philosophie im Stile Schopenhauers, Kierkegaards und Nietzsches gesehen hatte, selber eine ›Philosophie‹ – und noch dazu mit transzendentalen Vorzeichen, vortrug.«9 Löwith hat keine eigentliche Philosophie – und schon gar kein eigenes philosophisches System entwickelt. Daher geht die Kritik an Löwiths Philosophie, so zutreffend und überzeugend sie im Einzelnen oft vorgetragen ist, letztlich doch ins Leere – es bleibt das unbefriedigende Gefühl, daß trotz aller scharfsinnigen Argumente Löwiths Denken im Kern nicht getroffen und verstanden wird.

6

Max Weber: Wissenschaft als Beruf (1919). In id.: Gesammelte Aufsätze zur Wissen-

7

Karl Löwith: Die Freiheit zum Tode (1965). In id.: Schriften 1; S. 418-425, S. 420.

8

Id.: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht; Stuttgart 1986, S.

9

Hans-Georg Gadamer: Philosophische Lehrjahre. Eine Rückschau; Frankfurt/Main

schaftslehre; Tübingen 1922, S. 524-555, S. 531.

138. 1995, S. 44.

Einleitende Bemerkungen | 13

Ein Grund dafür liegt auch darin, was nach Löwiths Verständnis Philosophie und Wissenschaft leisten können. Geht es da immer um strenge Empirie, um unumstößliche Fakten, um das Ausschließen von Widersprüchen, darum, »mit einigermassen raffinierten gedanklichen Mitteln seine eigne Position derart nach allen Ecken zu sichern, zu schützen, zu begründen, sich in einer Igelartig bewaffneten Burg einzubauen gegen Menschen u[nd] Philos[ophen,] die so taktlos sind u[nd] so peinlich direkt dass sie in unsachlichster Weise mit abrupten Fragen – plumpen Fingern – sogar mit Argumentationen ad hominem auf dem Leib rücken – am kunstvollen Spinnennetz herumrütteln«, wie es in einem frühen Brief an Heidegger heißt?10 Für ihn ist das durchaus »möglich u[nd] heute wahrscheinlich – scheint mir aber unvereinbar mit der freie[n] Haltung eines sichselbst-verstehenden Philos[ophen]«.11 Die freie Haltung, die Löwith einfordert, ist nicht zuletzt eine, die sich auch von der »igelartig bewaffneten Burg« des eigenen Systems verabschiedet hat – aus dem Wissen heraus, daß darin vor allem eine Einschränkung steckt, die den Blick für widersprechende Tatsachen und damit den Blick aufs Ganze, der für Löwith die klassische Aufgabe der Philosophie ist, verhindert. So ist Löwiths Denken nicht systematisch geschlossen, es erhebt gar nicht den Anspruch darauf – und weist damit eine beträchtliche Anzahl eigener Aporien und Widersprüche auf, die teilweise auch sehr grundsätzlicher Natur sind.12 Diese Widersprüche werden auch im vorliegenden Buch gele-

10 Karl Löwith an Martin Heidegger, 17.VIII.1921; Marbach/Neckar, Deutsches Literaturarchiv, A: Heidegger. Die Publikation des äußerst empfehlenswerten Briefwechsels von Martin Heidegger und Karl Löwith erschien zu spät, um in Gänze in diese Arbeit eingearbeitet zu werden. Einen Großteil der Briefe konnte ich allerdings in Marbach selbst einsehen. Meine Lesarten weichen von der offiziellen Ausgabe teilweise geringfügig ab; daher habe ich mich entschieden, meine Lesart beizubehalten, die Briefausgabe jedoch als Referenz in der Bibliographie aufzuführen. Diese Entscheidung gilt auch für die Korrespondenz mit Karl Jaspers, die sich im wesentlichen in der 2016 bei Wallstein erschienenen dreibändigen Briefausgabe findet, die ich im Anhang aufgeführt habe. 11 Ibid. 12 Es seien hier nur einige Punkte genannt: da ist zum einen Löwiths Historismuskritik und sein eigener, inhärenter Historismus, der sich in Büchern wie Weltgeschichte und Heilsgeschehen oder Von Hegel zu Nietzsche äußert. Es gehört aber auch sein Menschenbild dazu: auf der einen Seite, der Mensch sei sich als solcher immer gleich – und auf der anderen Seite die These, er werde von seiner Mitwelt, von Phänomenen wie der Arbeit, aber auch Vorstellungen wie dem Historismus entscheidend in seinem Denken und Handeln geprägt. In diese Richtung geht auch Löwiths Figur des »christ-

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gentlich thematisiert; ich traue meinen Lesern aber auch zu, sie hin und wieder selbst ausfindig zu machen, hin und wieder dringt auch meine eigene kritische Stimme durch. Man könnte Löwith mit seinen systematischen Mängeln und teilweise inkonsistenten Positionen als Philosoph abtun, was in der Tat in der Vergangenheit oft genug geschehen ist – und vordergründig man hätte recht damit. Man ließe damit aber eine Erkenntnis außer Acht, die für Löwith grundlegend ist: Der Mensch ist keine einfache logische Struktur, und das menschliche Leben mit seinen vielen auseinanderlaufenden Inhalten und Einflüssen ist es auch nicht. Im Gegenteil: sie sind zwangsläufig von Widersprüchen geprägt, und diese Widersprüche, Irrwege und Brüche sind für den Menschen geradezu konstitutiv. Schon deshalb lassen sich die Fragen nach dem Menschen nur bedingt systematisch zusammenfügen. So bleibt der Versuch der Antwort von logischen Aporien und Unverträglichkeiten geprägt – aber diese Unverträglichkeiten liegen in der Natur der Sache. Wer Löwith liest, muß sich bewußt sein: »Es gibt aber darüber hinaus eine weit grundsätzlichere Begrenzung der Möglichkeiten moderner Wissenschaft. Sie liegt überall dort vor, wo Objektivierung und methodische Vergegenständlichung eine grundsätzlich unangemessene Zugangsweise darstellen. Von dieser Art ist vieles, was uns im Leben begegnet, und einiges, was gerade darin seine einzigartige Bedeutung besitzt. Da ist zunächst der andere Mensch, der ebensosehr ein Ich ist wie ich selber.«13 Quelle und Lösung dieser Probleme ist nicht zuletzt das menschliche Leben selber, das nicht geradlinig verläuft, sondern immer wieder neu ansetzt und aus einem krummen Holz geschnitzt ist; das diese Widersprüche erzeugt, ungelöst läßt, aushält und auf ihnen aufbaut. Der Versuch, den Menschen zum Gegenstand einer philosophischen Betrachtung zu machen, wird ihm nur gerecht, wenn er diese Widersprüche und Wieder-Holungen aufnimmt, integriert und bestehen läßt – ohne sie gewaltsam aufzulösen oder in unzulässiger Weise zu reduzieren und zu vereinfachen.

lichen Gentlemans« (für eine Diskussion dieses Begriffes vgl. Matthias Bormuth: Mimesis und Der christliche Gentleman. Erich Auerbach schreibt an Karl Löwith; Warmbronn 2006). Es will dem Leser gelegentlich so erscheinen, als habe Löwith solche Zweideutigkeiten bisweilen auf die Spitze getrieben – aber dann kann man sich nicht ganz des Gedankens erwehren, daß dahinter eine Absicht stecken könnte: eine Illustration der Tatsache, daß der Mensch als solcher ein zweideutiges und widersprüchliches Wesen ist! 13 Hans-Georg Gadamer: Lob der Theorie. In id.: Lob der Theorie. Reden und Aufsätze; Frankfurt/Main 1983, S. 25-50, S. 41.

Einleitende Bemerkungen | 15

Zusätzlich könnte man daher auch die Frage stellen, ob Löwiths Verständnis von Wissenschaft nicht ein völlig anderes war als unseres. Für ihn waren die inhaltlichen und formalen Schwächen einer Theorie nicht unbedingt entscheidend für ihre Beurteilung, noch nicht einmal der sachliche Gehalt an sich. Viel wichtiger war für ihn der Impetus, mit dem Fragen gestellt wurden und die Konsequenz, wie auf diesem Wege weitergedacht wurde. Im oben zitierten Brief heißt es weiter: »Im allg[emeinen] wird unter freien Menschen der gelehrtenhafte Umweg einer gründlichen u[nd] methodischen Explikation der Achillesferse unnötig sein, jeder weiss meist recht gut um sie Bescheid, ohne diesen Sicherungsapparat der intellektuellen Vorsicht u[nd] menschlichen Verstecktheit. Ich halte dafür dass höchste begriffliche Sauberkeit u[nd] method[ische] Gründlichkeit noch nicht den Ernst u[nd] die sog[enannte] Strenge der Auseinandersetzung mit irgend einem Phänomen verbürgt.«14 Mit der Forderung nach Ernst und Strenge korreliert bei Löwith das Bewußtsein, daß alle wissenschaftlichen Erkenntnisse immer nur vorläufig und ihre Wahrheit respektive ihr Wahrheitsanspruch eng an die eigene historische Situation geknüpft sind. Wissenschaftliches Fragen ist also nicht dann wesentlich, wenn es zu hundert Prozent faktisch korrekt ist, sondern wenn es sich mit wichtigen Erfahrungen und Zeitfragen auseinandersetzt – weil jede Zeit einen anderen Blick auf die Dinge hat, der von neuartigen »wissenschaftlichen« Erkenntnissen nur bedingt beeinflußt wird. Diese Auffassung hat Löwith selbst in einem Goethe-Zitat ausgedrückt: »Daß die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse, darüber ist in unsern Tagen wohl kein Zweifel übrig geblieben. Eine solche Notwendigkeit entsteht aber nicht etwa daher, weil viel Geschehenes nachentdeckt worden, sondern weil neue Ansichten gegeben werden, weil der Genosse einer fortschreitenden Zeit auf Standpunkte geführt wird, von welchem sich das Vergangene auf eine neue Weise überschauen und beurteilen läßt. Ebenso ist es in den Wissenschaften.«15 Auch Löwiths Gedanken sind von ihrem zeitlichen Hintergrund beeinflußt, und auch sie lassen sich, vor allem in seinen bekanntesten philosophischen Schriften – Von Hegel zu Nietzsche und Weltgeschichte und Heilsgeschehen – nur aus ihrem historischen Kontext heraus verstehen. Denn es geht ihnen nur zum Teil um einen Bruch in der geistigen Geschichte des 19. Jahrhunderts beziehungsweise um die objektive Schilderung der Wandlung einer ursprünglich

14 Karl Löwith an Martin Heidegger, 17.VIII.1921; Marbach/Neckar, Deutsches Literaturarchiv, A: Heidegger. 15 Zitiert nach Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts. In id.: Schriften 4; S. 1-490, S. 289.

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theologischen Hoffnung in einen weltlichen Anspruch. Wie viele philosophische Schriften enthalten sie mehrere Ebenen und Botschaften. Ihr eigentlicher Gehalt liegt in dem Bogen, den Löwith in ihnen von Augustinus respektive Hegel zu Hitler (ohne ihn zu nennen) und damit zu seinen Zeitgenossen schlägt; in der Warnung vor unbegründeten Erlösungshoffnungen, Heilsversprechen und vor allem davor, die Heilserfüllung mittels einer großen Revolution in die eigenen Hände zu nehmen. Ähnliches läßt sich auch über andere Texte Löwiths sagen – wer Löwiths Autobiographie Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933 liest, wird feststellen, wie wenig er darin, etwa im Sinne eines Tagebuches, über Löwiths Leben erfährt. Wie viel dagegen aber über die Menschen, mit denen Löwith verkehrte! Wer sich diese Portraits genauer ansieht, wird auch das Typische darin bemerken. Es geht hier nicht darum, einzelne zu denunzieren – Löwith zeichnet anhand dieser einzelnen ein Gesellschaftsbild. Und wenn man den geistesgeschichtlichen Kontext, in den Löwith dieses Gesellschaftsbild setzt, auch nur teilweise akzeptiert, muß man gar nicht die beigegebene, scheinbar naive Völkerpsychologie Dostojewskis teilen um zu erkennen: der Leser selbst ist ein Teil dieses Gesellschaftsbildes. Eine These dieser Arbeit ist, kurzgefaßt, daß Löwiths Ausgangspunkt und seine Maßstäbe für die wissenschaftliche Arbeit ganz andere waren als die, die wir für gewöhnlich mit Wissenschaft verknüpfen. Sein Wahrheitsstreben konnte auf die Beseitigung seiner Selbstwidersprüche und eine systematische Geschlossenheit schon deshalb verzichten, weil Löwiths Fragen nach der Wahrheit seine Fehler im voraus einkalkuliert und im Ergebnis daher überhaupt nicht mit dem Anspruch auf Perfektion rechnen kann. Er zielt mit seinen Beobachtungen auf ganz andere Gehalte ab, die – auch der bereits zitierte Text Gadamers deutet in diese Richtung – überhaupt nicht in die Richtung einer Philosophie, sondern eines moralisch-kritischen, aber nichtsweniger wissenschaftlichen Ethos gehen. Löwith geht es um eine Wahrheit in und hinter der theoretischen Betrachtung, die von den Fragen nach der »wissenschaftlichen Korrektheit« bis zu einem gewissen Grade unberührt bleibt. Löwith selbst spricht von den »drei überlieferten Grundfragen der nachchristlichen Philosophie«16 und diagnostiziert: »Die Philosophie wird im selben Maße anthropologisch, wie sich der Mensch von dem göttlichen Kosmos der Griechen und dem überweltlichen Gott der Bibel emanzipiert und schließlich die Erschaffung der Menschenwelt selbst übernimmt.«17 In dieser Emanzipation

16 Karl Löwith: Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes bis zu Nietzsche (1967). In id.: Schriften 9; S. 1-194, S. 4. 17 Ibid.

Einleitende Bemerkungen | 17

steckt mehr als nur ein bloßes Loswerden Gottes. Ihre Folge ist eine Menschenwelt, die keine höhere Ordnung mehr kennt – aber weil sie keine höhere Ordnung kennt, sind auch jede andere Ordnung und alle Bestandteile der Welt fragwürdig geworden. Das schließt auch den Menschen selbst und sein Selbstverständnis mit ein. Die Frage nach der Legitimation des Menschen, die Löwith in jungen Jahren mit Blick auf sein ganz persönliches Selbstverständnis und seine eigene Rolle stellte, wiederholt sich also für ihn auf viel generellerer Ebene – und nicht nur für ihn: sie ist eine der Kernfragen der modernen Geistesgeschichte, und der Nationalsozialismus, der dem Menschen jede Legitimation – es sei denn als Volksgenosse und Teil der Bewegung – abspricht, ist eine der Antworten, die in Löwiths eigene Lebenszeit fallen. Löwiths Beschäftigung mit dieser Frage kennt grob gesagt zwei Phasen – zunächst die, in der er sich auf das Verhältnis des Menschen mit seiner Mitwelt konzentriert und schließlich die, in der er den Menschen nicht mehr überwiegend als soziales, sondern im gleichen Maße auch als Naturwesen begreift, das ein Teil des Kosmos ist und von diesem bestimmt wird. Beide Fragen hängen eng zusammen; doch für den Bezug auf das Leben und Handeln des Menschen innerhalb einer Gesellschaft von Mit-Menschen schien mir die erste Phase wesentlicher zu sein. Sie ist auch bei Löwith die elaboriertere und diejenige, die ihn von Anfang bis Ende begleitet hat. Die nach dem Menschen als natürlichem Wesen, das durch sein Unterbewußtsein, seine unwillkürlichen Bedürfnisse und Triebe und nicht zuletzt durch sein Geschlecht etc. geprägt wird, war Löwith zwar gleichermaßen wichtig. Allerdings hat er sie eigentlich nur gestellt, nicht aber überzeugend beantwortet. Eine solche Antwort hätte ihn vermutlich auch überfordert; es ist im Grunde die Frage, was den Menschen psychologisch und biologisch zum Menschen macht. Ihre Erforschung steckte zu Löwiths Zeit noch in den Kinderschuhen und war auch nicht sein Fachgebiet, selbst heute können wir ier noch keine befriedigende Antwort geben. Die Frage nach der Legitimation des Menschen könnte man nun so beantworten, daß er sich in einer vom Menschen beherrschten und gemachten Welt befindet und sich die Frage nach einem übergeordneten Sinn überhaupt nicht mehr stellt. Löwith selbst geht diesen Weg nicht mit. Die Sinnfrage verspürt er selbst zu drängend und auch seine philosophische Frage ist keine rein anthropozentrische nach dem Menschen und seinen Schöpfungen, sondern die nach dem Menschen in der als Kosmos verstandenen Welt. Er begreift den Kosmos als die Ordnung, in die auch der Mensch eingebettet ist und der er sich nicht ohne Folgen widersetzen kann – in Zeiten des Klimawandels eine fraglos aktuelle Einsicht. Es gibt aber noch eine weitere Dimension bei Löwiths Anthropologie, und sie liegt im Menschen selbst: es ist die Erkenntnis, daß der Mensch unter und mit

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anderen Menschen lebt, die Menschen sind wie er selbst. Sie sind einander gleich, und die Größe und Tragik ihres Schicksals liegt für Löwith nicht zuletzt in dem Leid, das sie erfahren. Das ist eine der zentralen Botschaften von Löwiths Philosophie, die diese Arbeit herauszuarbeiten versucht. Bei all dem folgt sie einem Ansatz, der auf Löwiths Wissenschaftsverständnis abgestimmt ist und mit ihm in Dialog zu treten versucht. Es ist nicht mein Ziel, Löwith systematisch kritisch zu dekonstruieren oder gar alternative Antworten zu entwickeln. Auch wenn diese Arbeit ursprünglich eine philosophische Dissertation darstellt, ist es nicht mein Ziel, mich durch die Wiederholung und Ausbreitung allgemein geteilter Löwith-Kritiken in einen rein akademischen Diskurs einzureihen, der seit den 70er Jahren mit wechselnder Intensität geführt wird und an dem sich schon zu viele Autoren mit nur marginal unterschiedenen Positionen beteiligten. Denn oft ist der Erkenntnisgewinn dieser Publikationen endenwollend und nur für ein kleines Fachpublikum von mäßigem Interesse. Die Kritik an Löwiths Philosophie ist recht verbreitet und weist oft sehr ähnliche Muster auf; hingegen hat eine wirklich lohnenswerte Auseinandersetzung mit Löwith erst langsam wieder eingesetzt. In diesem Rahmen versuche ich meinen eignen Weg zu gehen, dabei Löwith nachzudenken, Einflüsse aufzuzeigen und seine Gedanken ab- und einzugrenzen. Ich gehe aus von der Anerkennung, daß Löwiths Fragen und ihre Motivation berechtigt sind, daß seine ganz persönliche Not im Grunde von jedem nachvollzogen wird, der ernsthaft nach seinem Platz in der Welt fragt – und sich dabei auch selbst hinterfragt. Ich akzeptiere Löwiths wissenschaftliches Ethos und versuche, es in seinem Gehalt zu verstehen. Diese Herangehensweise ist bisher nicht sehr häufig gewählt worden; ob es mir gelungen ist, auf diesem Weg, der auch ein »Holzweg«18 sein muß, etwas substanzielles zutage zu fördern, das über Löwith hinausreicht und auch heute fruchtbar werden kann, mag der geneigte Leser beurteilen. Auch Arbeitsweise und Ziel meiner Arbeit orientieren sich in einem gewissen, übertragenen Sinne an Löwith: Seine Arbeit beruhte nicht nur auf seiner

18 In diesem Sinne möchte ich daran erinnern, was Carl Friedrich von Weizsäcker über Martin Heidegger zu erzählen weiß: »In Todtnauberg wurde das Gespräch fast stets auf längeren Spaziergängen fortgeführt, und und manche Formulierungen, nun auch von lockererer Art, sind mir mit der naturumgebung eingeprägt geblieben. So führte er mich einen Waldweg, der abnahm und mitten im Wald an einer Stelle aufhörte, wo aus dichtem Moos Wasser austrat. Ich sagte: ›Der Weg hört auf.‹ Er sah mich pfiffig an und sagte: ›Das ist der Holzweg. Er führt zu den Quellen‹.« (Carl Friedrich von Weizsäcker: Begegnungen in vier Jahrzehnten. In Günther Neske (ed.): Erinnerung an Martin Heidegger; Pfullingen 1977, S. 239-248, S. 242)

Einleitende Bemerkungen | 19

Ablehnung philosophischer Systeme, sondern zudem auf einer Prämisse seiner Anthropologie: der Orientierung am »Gespräch«, der Orientierung am Anderen. Dies zeigt sich deutlich in seinen Schriften. Selbst ein Gegner wie Jaspers, der ihn »nicht uninteressant als Typus wesenloser Kritik einer abhängigen Schülernatur« fand, gestand Löwith zu, er sei »fähig, gut zu zitieren, Gedanken in ihrer Intellektualität aufzunehmen«.19 Und in der Tat wirken seine Schriften bisweilen wie inhaltliche Zusammenfassungen verschiedener Autoren. Das ist aber nur die Oberfläche. Denn wenn man diese Arbeitsweise als Versuch eines Gesprächs mit den interpretierten Autoren und dem Leser begreift und akzeptiert, dann gilt hier die Grundregel, die Löwith für das Miteinandersein und -sprechen, kurz, für das Verhältnis von Ich und Du festgelegt hat: Nur über dieses Verhältnis kann ein Ich sich mitteilen und sich selbst, seinen eigenen Standpunkt, finden oder verändern.20 Nun läßt Löwith häufig einen eigenen Standpunkt durchscheinen, den man häufig als Skeptizismus beziehungsweise Stoizismus klassifiziert hat; seine Texte sind aber noch unter einer weiteren Prämisse zu lesen, nämlich dem bereits zitierten Wort Webers, ein Lehrer müsse – unparteiisch – seine Schüler die Anerkennung von unbequemen Tatsachen lehren. In diesem Sinne ist es nicht Löwiths primäres Ziel, andere zu widerlegen, um an dieser Widerlegung ein eigenes System oder seine Parteimeinung aufzurichten; er will Probleme deutlich machen, Probleme, die er für die Weltsicht der Moderne für wesentlich hält. Die vorliegende Arbeit folgt diesem Anspruch und dieser Methode auf ihre eigene Weise. Sie versucht, Löwith in Dialog zu setzen mit einer Reihe von Denkern – solchen, die Löwith rezipierte; solche, gegen die er sich positionierte; solche, mit denen er sich brieflich über seine Philosophie austauschte; und schließlich modernen Denkern, die wesentliche Elemente aus diesem Spektrum aufgegriffen oder zu ihren eigenen Gedanken gemacht haben. Mit dieser Vorgehensweise verfolge ich mehrere Ziele: ich will Löwith in einen gedanklichen Kosmos einbetten und so Klarheit gewinnen über Löwiths eigene Position; ich will zeigen, daß die Lektüre Löwiths auch heute – nicht nur aus historischem Interesse heraus – gewinnbringend sein kann. Ich will auch Anregungen und Denkanstöße geben, die dem Leser eine eigene Positionierung ermöglichen.

19 Karl Jaspers: Notizen zu Martin Heidegger (ed. Hans Saner); München 1989, S. 207. Jaspers kritisiert weiter, Löwith sei »ohne Entschiedenheit – keine Spur eines wirklichen Kämpfens – […] objektiv ratlos bei subjektiver gedankenloser Ruhe, die für den Partner bei aller guten Gesinnung für Löwith so langweilig ist.« (Ibid.) 20 Vgl. die Kapitel Skeptische Anthropologie als Angelpunkt und Das Verhältnis des Menschen zur Mitwelt, insbesondere das Unterkapitel Mehrdeutigkeit als Prinzip mitmenschlicher Beziehungen, S. 168ff.

20 | Vom Versuch, sich in die Luft zu stellen

Es liegt in der Natur der Sache, daß einzelne Fragen dabei wiederholt aufgenommen, aber jeweils unter verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. In meinen Augen hat das zwei Vorzüge: es gibt hier keine einfachen Thesen und Antworten, und auch Löwith stellte sich seine Fragen über Jahrzehnte immer wieder neu. Außerdem ermöglicht diese Technik eine eigene Schwerpunktsetzung durch Wiederholung und schafft ganz praktisch die Möglichkeit, die Arbeit nicht an einem Stück lesen zu müssen. Je nach Interessenlage läßt sich auch eine kapitelweise Lektüre denken. Dennoch bauen die einzelnen Abschnitte aufeinander auf, der Text folgt einer klaren Struktur, die nicht zuletzt dem Bestreben dient, auf diesem Wege doch zu einem Bild vom Menschen zu gelangen, das als Orientierung und Handlungsmaßstab dienen kann. Ich frage zuerst konkret nach Löwith selbst: nach der Rolle, die Wissenschaft für Löwith spielte, nach seinem Selbstverständnis; um dann in einem zweiten Schritt detaillierter auf seine wissenschaftlichen Fragen einzugehen – und auf die Art, wie sie heute gestellt und beantwortet werden. Das ergibt dann auch eine Positionsbestimmung, eine Antwort auf die Grundfrage nach der Humanität des Menschen heute: was sie ausmacht, was von ihr bleibt und was vonnöten ist, um sie zu erhalten.

Wissenschaft als Beruf

Warum Wissenschaft? Wissenschaft ist für Weber eine Frage des »inneren Berufes«. Damit meint er ein Gerufenwerden, einen inneren Trieb, einen »seltsamen, von jedem Draußenstehenden belächelten Rausch, diese Leidenschaft«,1 in der sich der ganze Wert, den wissenschaftliche Arbeit für den Menschen gewinnen kann, fassen läßt. Es geht hier aber also zunächst um einen emotionalen Wert, eben um Leidenschaft für die Sache. Wissenschaftliches Streben ist bei Weber ein fast schon übermenschliches Bemühen, bei dem es nur um die Sache geht und hinter dem der Forscher selbst zurückzutreten hat. Gewiß ein idealistisches Bild, das auch auf Weber selbst nicht recht passen mag, aber eines, das bewußt so formuliert ist und sich direkt gegen den Zeitgeist der Zwischenkriegszeit wendet. Weber bemißt in seinem Vortrag wissenschaftliche Leistung aber nicht nur an der Leidenschaft, die man für die wissenschaftliche Arbeit verspürt. Mindestens genauso wichtig ist für ihn die fachliche Spezialisierung: »Eine wirklich endgültige und tüchtige Leistung ist heute stets: eine spezialistische Leistung«2 – eine Forderung, die im engeren Sinne auf Weber selbst gleichfalls nicht zutrifft. Spezialisierung und dauernde, leidenschaftliche Arbeit sind die Vorbedingungen für Einfälle und Eingebungen, garantieren für sich genommen aber noch keineswegs den Erfolg: »Der Einfall ersetzt nicht die Arbeit. Und die Arbeit ihrerseits kann den Einfall nicht ersetzen oder erzwingen, so wenig wie die Leidenschaft es tut.«3 Zwar ist Weber überzeugt: ein »Einfall eines Dilettanten kann wissenschaftlich genau die gleiche oder größere Tragweite haben wie der des Fachmanns.

1

Max Weber: Wissenschaft als Beruf (1919). In id.: Gesammelte Aufsätze zur Wissen-

2

Ibid., S. 530f.

3

Ibid., S. 532.

schaftslehre; Tübingen 1922; S. 524-555, S. 531.

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Viele unserer allerbesten Problemstellungen und Erkenntnisse verdanken wir gerade Dilettanten.«4 Aber das bedeutet noch lange nicht, daß wissenschaftliches Arbeiten grundsätzlich jedem möglich ist. Auch für Weber ist »wissenschaftliche Schulung […] eine g ei s t es a r i s t o k r a t i s ch e Angelegenheit«5. Dennoch hat sie wesentlich emanzipativen Charakter, denn das große Ziel bleibt doch die aufklärerische Funktion von Wissenschaft: »daß ein ungeschulter, aber aufnahmefähiger Kopf sie versteht, und daß er – was für uns das allein Entscheidende ist – zum selbständigen Denken darüber gelangt«.6 Für Löwith ist diese Erkenntnis bedeutsam, denn er macht sich in der Folge, auch in der Auseinandersetzung mit Martin Heidegger, gerade für die »Dilettanten« stark, die damals in der akademischen Philosophie kaum rezipiert wurden. Dazu zählen nicht nur heute fast vergessene Linkshegelianer wie Bruno Bauer, sondern auch Karl Marx, dessen »Einbeziehung […] in die Geschichte der Philosophie […] damals akademisch noch anstößig« war, wie Löwith rückblickend schreibt.7 Schon in seiner Jugend fühlte sich Löwith mit der Beschränkung auf die akademische Philosophie und dem streng akademischen Wissenschaftsverständnis nicht wohl. Die Fragen, die ihn unmittelbar bedrängten, waren nicht zuletzt persönlich motiviert – sie drehten sich um den Platz, den der einzelne in der Gesellschaft einnehmen kann, die Rolle, die gesellschaftliche Faktoren – wie das Konzept der Arbeit – dabei spielen;8 nicht zuletzt geht es

4

Ibid.

5

Ibid., S. 529.

6

Ibid.

7

Karl Löwith: Curriculum Vitae (1959). In id.: Schriften 1; S. 450-462, S. 453. Nicht zuletzt durch Marxens Angriff auf die akademische Philosophie bedingt, begann eine ernstzunehmende Marxrezeption an deutschen Universitäten erst spät, nach dem Erscheinen der Frühschriften 1927. Doch gerade aus Löwiths Perspektive ist diese Einbeziehung noch aus einem anderen Grund außergewöhnlich: Unter den Schülern Heideggers wurde gemeinhin ein recht enges Curriculum gelesen. Mit Ausnahme Kierkegaards gehörten die Linkshegelianer, und damit auch Marx, nicht dazu.

8

So schreibt Löwith einige Jahre später als junger Dozent über sein Vorlesungsprogramm: »Ich lese ein ganz neues Kolleg, betitelt: ›Einleitung‹, handelt von nichts anderem als vom In-der-Welt sein und will zeigen wie wenig die Verweltlichung geglückt ist und wie zweideutig dieses saekularisierte Verhältnis der modernen Menschen zur ›Welt‹ ist. Konkret will ich’s zeigen 1) Kritik an Heidegger und Jaspers und 2. positiv in der Fortführung meiner Habilitationsschrift und besonders an der innermenschlichen Bedeutung der Arbeit und des – Geldes.« Karl Löwith an Leo Strauss,

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Löwith um die Beständigkeit und Überwindung kultureller Werte. Fragen, die er unter Fach- und Berufsphilosophen nicht ausreichend und eindringlich genug berücksichtigt fand und die nach seinem Empfinden allzuoft auf dem Altar fachlicher Beschränktheit oder persönlicher Eitelkeiten geopfert wurden. Daher spricht Löwith vom »korrumpierenden Einfluss […] dieser Atmosphäre«9 an den Universitäten und schreibt über die akademischen Außenseiter – auch aus einer tiefen persönlichen Verunsicherung heraus: »Immerhin kann die Ungeduld, Flüchtigkeit, das unausgereift Fragmentarische dieser Menschen u[nd] ihrer Arbeit mehr u[nd] andres sein als ein Zeichen von bequemer romantischer Faulheit, Charakterlosigkeit, Schwäche, Oberflächlichkeit, Mangel an Tiefe u[nd] Ernst u[nd] reineren Typs. Geistigkeit ist nicht identisch mit Wissenschaftlichkeit u[nd] ein Mann wie Gustav Landauer hatte in den Fingerspitzen mehr u[nd] intensivere Geistigkeit als sämtliche Professoren der Münchner Universität zusammen. […] Ebenso missverstehend […] dürfte es sein die schon von allen Spatzen gepfiffene ›Schlampigkeit‹ Schelers abzuurteilen. Es kommt darauf an wogegen ein Mensch in sich zu kämpfen hat – um das gehaltliche Resultat zu ›verstehen‹. Allein in seinen Abhandl[ungen] u[nd] Aufsätzen steckt für heutige philos[ophische] Verhältnisse ein sehr achtenswerter Gedankenreichtum u[nd] Scharfsinn u[nd] seine Person halte ich nicht für unernst. […] Ich verteidige diese Typen u[nd] noch ganz andre […] weil ich den Willen habe mich selbst zu verteidigen – auch vor mir selbst, nicht aus Eitelkeit sondern weil ich’s nötig hab.«10 Löwith selbst haderte lange mit seiner Rolle in der Wissenschaft, identifiziert sich jedoch 1923 in einem Brief an seinen Lehrer Martin Heidegger schließlich doch, trotz mancher Zweifel, zu einem Weberschen Wissenschaftsideal: »Nur das Eine lässt sich sagen: während mir früher der Gedanke an ›Wissenschaft als Beruf‹ höchst problematisch für mich war weil ich mir selbst darin problematisch vorkam glaube ich heute doch in dieser Problematik meine Existenz auswirken zu können. ›Leidenschaft‹ ist so ein prätentiöses Wort […] Ich kann

21.XI.1932; in Leo Strauss: Gesammelte Schriften Bd. 3 (ed. Wiebke und Heinrich Meier); Stuttgart 2001, S. 607-697, S. 611. 9

Karl Löwith an Martin Heidegger, 29.XI.1920; Marbach/Neckar, Deutsches Literaturarchiv, A: Heidegger.

10 Karl Löwith an Martin Heidegger, 17.[?]VIII.1921; Marbach/Neckar, Deutsches Literaturarchiv, A: Heidegger.

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meine Fähigkeit zur wissenschaftlichen Arbeit nicht selber einschätzen, fühle nur stark den Abstand zu dem was Sie leisten.«11 Ziele wissenschaftlichen Arbeitens Wenn, wie Weber sagt, die wissenschaftliche Arbeit ganz ihrem Objekt zu dienen hat, ergeben sich daraus Konsequenzen. Man muß bedenken, daß hinter diesem Idealbild eine ganze Menge zurückzubleiben hat, nicht zuletzt die Person des Forschers mit ihren eigenen Interessen, Wünschen, aber auch ihren Eitelkeiten. Aber es ist nicht nur der Forscher, der dahinter verschwindet – auch der Sinn und Zweck, den man dem Forschungsobjekt beilegt, muß zumindest hinterfragt werden. Was bleibt, ist das Streben nach Wissenserweiterung und die Sinnfrage; Weber nimmt folgerichtig in seiner Auseinandersetzung die mittlerweile klassische Unterscheidung zwischen technischem und geistigem Fortschritt wieder auf. Da sind zunächst einmal die Naturwissenschaften, die der technischen Bewältigung des Lebens dienen. Ihre Entwicklung ist zwar höchst erfolgreich – aber, wie Weber schreibt, ob wir »das Leben […] technisch beherrschen sollen und wollen, ob das letztlich eigentlich Sinn hat: – das lassen sie ganz dahingestellt oder setzen es für ihre Zwecke voraus.«12 Im Ergebnis wird Naturwissenschaft hier von Weber als ein sehr zwiespältiger Prozeß beschrieben, weil er völlig ohne die Beantwortung dieser Sinnfrage, und damit ohne jede übergeordnete Legitimation auskommt. Der Fortschritt der Naturwissenschaften ist aus sich selbst heraus motiviert und vollkommen wertfrei; etwas wie ein Prinzip Verantwortung kennt er grundsätzlich nicht. Damit ist er aber zugleich auch ohne Planung und ohne eigentliches Ziel: er dient nicht mehr dazu, uns das Leben einfacher oder angenehmer zu machen, benötigt keine Rechtfertigung mehr; er dient nicht dem Menschen, sondern zwingt ihn in letzter Konsequenz dazu, sich mit diesem Fortschritt zu arrangieren. Damit deutet sich an, daß die Frage, ob dieser Fortschritt positiv zu bewerten ist, nicht eindeutig beantwortet werden kann. Denn natürlich erweitert er die menschlichen Möglichkeiten im technischen Bereich enorm, verlangt aber zugleich eine kulturelle Anpassung, die kaum unterschätzt werden kann. Die Welt verändert sich, die Dinge werden anhand ihrer technischen Machbarkeit bewertet. Vieles, was vorangegangenen Generationen noch unerklärlich, gar göttlich schien, ist heute, wie Weber schreibt, »entzaubert«. Er stellt die Frage, ob für

11 Karl Löwith an Martin Heidegger, 6.VIII.1923; Marbach/Neckar, Deutsches Literaturarchiv, A: Heidegger. 12 Max Weber: Wissenschaft als Beruf (1919); S. 541f.

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den einzelnen Menschen »dieser in der okzidentalen Kultur durch Jahrtausende fortgesetzte Entzauberungsprozeß und überhaupt: dieser ›Fortschritt‹ […] irgendeinen über dies rein Praktische und Technische hinausgehenden Sinn«13 hat – und beantwortet sie mit Leo Tolstoi negativ. Denn der einzelne Mensch sei nur ein winziges Glied in einer immerwährenden Kette des Fortschritts – der Fortschritt als ganzes gehe über jeden einzelnen Menschen hinaus. Der Mensch bekomme davon deshalb immer nur den kleinsten, unvollständigsten Teil mit, der zudem immer nur ein vorläufiger Eindruck bleibe. Am Ende reiße der Tod den Menschen immer aus diesem Prozeß heraus, der Tod sei – unter diesem Aspekt – sinnlos und nehme damit auch dem Entzauberungs- und Fortschrittsprozeß als ganzem seinen Sinn. Denn welche Hoffnungen auch immer wir mit diesem Prozeß verknüpfen: wir werden ihre Erfüllung nicht erleben. Ob unsere Hoffnungen aber von unseren Nachfahren noch geteilt werden? Doch auch kulturell oder ethisch gesehen ist der Fortschritt des Menschen für Weber fragwürdig. Es ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich, Moral und Ethik mit allgemeingültigen Maßstäben zu messen – es gibt keine wissenschaftlichen Standards dafür. Das heißt, es kann keinen ethischen Fortschritt im wissenschaftlichen Sinne geben, der objektiv meßbar wäre. Daraus folgt, daß nicht nur die Naturwissenschaften, sondern wissenschaftliches Arbeiten an sich, wenn es sich treu bleibt und sich an der Sache orientiert, wertfrei sein muß. Das Ideal der Aufklärung, den Menschen aus seiner Unmündigkeit zu befreien und eine Gesellschaft zu erreichen, die auf den universalen Regeln eines vernünftigen Sozialvertrages beruht, erweist sich als Utopie, weil sich die grundlegenden universalen Regeln eben nicht finden lassen. Ob eine Gesellschaft, die diese Wertfreiheit konsequent umsetzt und im Interesse der Vernunft (oder unter einer anderen Flagge) versucht, solche Regeln zu schaffen und umzusetzen, überhaupt wünschenswert wäre, ist eine andere Frage, die hier nicht diskutiert werden kann. Es sollte aber klar sein, daß sie in jedem Fall einen radikalen Bruch mit überkommenen Modellen darstellt, weil sie gesellschaftliche Formen, Rituale und Traditionen verleugnet. Auch mit unserem Freiheitsverständnis dürfte eine solche Gesellschaft nicht viel zu tun haben, da sie letztlich nach keinem vielfältigen und offenen, sondern nach einem vereinheitlichten Modell des Zusammenlebens strebt.14

13 Ibid., S. 536. 14 Vgl. für diese Diskussion u.a. Werner Becker: Die Überlegenheit der Demokratie. Politische Philosophie nach dem Scheitern des Marxismus. In Kurt Bayertz (ed.): Politik und Ethik; Stuttgart 1996, S. 40-62. Hier heißt es u.a.: »Die realen Alternativen

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Wenn es keine objektiv feststellbaren Grundlagen für Moral und Ethik gibt, sind sie nicht universal begründbar, sondern bleiben oft situativ. Sie sind abhängig von der aktuellen Lebenssituation, aber auch den Meinungen und Überzeugungen, die der Einzelne hegt oder die sich aus seinem sozialen Umfeld heraus entwickeln. Max Weber sieht darin eine allgemeingültige Regel, die er so formuliert: »Welcher Mensch wird sich vermessen, die Ethik der Bergpredigt, etwa den Satz ›Widerstehe nicht dem Übel‹ oder das Bild von der einen oder der anderen Backe, ›wissenschaftlich widerlegen‹ zu wollen? Und doch ist klar: es ist, innerweltlich angesehen, eine Ethik der Würdelosigkeit, die hier gepredigt wird: man hat zu wählen zwischen der religiösen Würde, die diese Ethik bringt und der Manneswürde, die etwas ganz anderes predigt: ›Widerstehe dem Übel, – sonst bist Du für seine Übergewalt mitverantwortlich‹. Je nach der letzten Stellungnahme ist für den einzelnen das eine der Teufel und das andere der Gott, und der einzelne hat sich zu entscheiden, welches f ü r i h n der Gott und welches der Teufel ist. Und so geht es durch alle Ordnungen des Lebens hindurch.«15 Vor dem Hintergrund, daß Ethik von der persönlichen Disposition und der jeweils aktuellen historischen Situation abhängig bleibt, ist es schwierig, einen universal gültigen ethischen Rahmen, der nicht dezisionistisch ist, festzustellen – von einer wirklichen ethischen oder moralischen Weiterentwicklung des Menschen ganz zu schweigen. Die Ermangelung eines ethisch-moralischen Fortschritts bzw. eines tieferen Sinns im Fortschritt der Wissenschaften bedeutet jedoch keineswegs, daß Wissenschaft nutzlos wäre. Im Gegenteil: zunächst einmal ist ein technischer Fortschritt zwar an sich nichts Positives, aber eben auch nichts Negatives. Es kommt darauf an, welcher Verwendung man die neuen Mittel zuführt. Wissenschaft ermöglicht dabei nicht nur die Entwicklung, sondern auch die Beherrschung von Technik: sie lehrt »Methoden des Denkens, das Handwerkszeug und die Schulung dazu«16 und hilft damit konkret bei der Lebensführung. Am wichtigsten aber sind diese »Methoden des Denkens« für das, was Weber als »Klarheit« bezeichnet. Damit meint er die einfache Frage: »›Heiligt‹ der Zweck diese Mittel oder nicht?«17 – also ganz konkret um eine ethische Dimension. Da Wissenschaft aber, wie wir feststellten, grundsätzlich wertfrei ist, kann sie diese Frage nicht direkt beantworten.

zur Demokratie, die wir haben, sind nicht die immer ausdenkbaren besseren Formen der Demokratie, sondern die Diktaturen.« (S. 61) 15 Max Weber: Wissenschaft als Beruf (1919); S. 546. 16 Ibid., S. 549. 17 Ibid.

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Die Rollen des Lehrers und des Schülers Die Beantwortung der Frage nach dem Einen, was not tut, nach dem, was zu tun sei, kann die Wissenschaft also nicht liefern – und damit auch nicht der wissenschaftlich arbeitende Lehrer. Dies kann »nur ein Prophet oder ein Heiland«,18 oder, wie Weber weit abschätziger formuliert, ein »Demagoge«,19 der die Rolle des Lehrers längst zugunsten persönlicher Ziele aufgegeben hat. Wir erinnern uns: der Wissenschaftler muß sich als Person völlig zurücknehmen, weil nur eine solchermaßen von persönlichen Werten, Zielen und Interessen befreite Wissenschaft ein wirkliches »Verstehen der Tatsachen«20 ermöglichen kann. Natürlich ist eine solche Haltung kaum zu verwirklichen; daraus folgt, daß eigentlich bei jedem Forscher das Verständnis der Dinge unzureichend bleibt. Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem zwischen mehreren Wahrheiten zu wählen ist, an dem auch ein Wissenschaftler Partei wird. Nichtsdestotrotz ist, wie bereits erwähnt, die wichtigste Aufgabe des Wissenschaftlers als Lehrer die, seinen Parteistandpunkt so weit wie möglich aufzugeben21. Ziel des Lehrers muß es sein, seinen Schülern vor allem ein selbständiges, weitgehend freies Denken über die Dinge nahezubringen, um ihnen in einem zweiten Schritt mündige, verantwortungsvolle Entscheidungen ermöglichen zu können. Der Lehrer muß also vor allem Skeptiker sein, und das – wie jeder ernstzunehmende Skeptiker – in besonderem Maße sich selbst gegenüber. Weber, das muß man sich deutlich vor Augen halten, spricht unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, einer Zeit, die nicht nur des Krieges wegen von vielen Menschen als umfassende politische und wirtschaftliche, aber auch als kulturelle und geistige Krise erlebt wurde. Ihre wesentlichen Ursachen für diese Krise liegen bereits vor diesem Krieg, ihr Anlaß ist die Erfahrung, daß die moderne Wissenschaft ihre Erwartungen und Versprechungen nicht erfüllen konnte und stattdessen althergebrachte Überzeugungen nicht nur theologischer Natur unterminierte. Löwith spricht in diesem Zusammenhang von einem »Zustand einer allgemeinen Auflösung aller inneren und äußeren Bestände, an deren Bestehen nur unsere Väter noch glaubten«.22

18 Ibid., S. 551. 19 Ibid., S. 544. 20 Ibid. 21 Vgl. ibid., S. 545. Das entsprechende Zitat findet sich auch oben, S. 8. 22 Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht; Stuttgart 1986, S. 16.

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Umso eindringlicher mußte Webers Kritik an der Jugend klingen, die nach Halt und Orientierung suchte und, statt sich selbst in der Verantwortung zu sehen, nach Führung und Gefolgschaft sehnte. Weber warnte davor, im Wissenschaftler einen solchen Führer zu sehen. Die Aufgabe des Tages war es für ihn stattdessen, die Verlorenheit des Menschen in dieser Welt anzuerkennen und damit zu leben; das bedeutet vor allem zu akzeptieren, daß »der Prophet, nach dem sich so viele unserer jüngsten Generation sehnen […] eben n i ch t da«23 sei. Daher müsse man lernen, das Leben selbstbewußt und selbstverantwortlich in die eigenen Hände zu nehmen. Das Bild der Jugend, das Weber hier entwirft, ist gewissermaßen das Gegenbild des Schülers wie er sein sollte. Statt sich auf die eigene geistige Arbeit zu konzentrieren, sucht sie »einen Fü h r er und nicht: einen L eh r er «,24 der Befreiung verspricht vom »Intellektualismus der Wissenschaft, um zur eigenen Natur und damit zur Natur überhaupt zurückzukommen«.25 Dabei vergißt Webers »Jugend«, daß gerade die geistige Tätigkeit zur Natur des Menschen gehört. Stattdessen hat sie »sich in den Dienst einiger Götzen gestellt, deren Kult wir heute an allen Straßenecken und in allen Zeitschriften sich breit machen finden. Jene Götzen sind: die ›Persönlichkeit‹ und das ›Erleben‹.«26 Der Begriff des »Götzen« macht deutlich, was für ein ausgeprägter Antagonismus hier vorliegt. Während Weber festhält, »auf wissenschaftlichem Gebiet hat nur der [Persönlichkeit], der r ei n d er S a ch e dient«27, wird auf der anderen Seite angesichts einer entzauberten Welt ein »Mythus des 20. Jahrhunderts« geschaffen. Wo Weber von einem, der modernen Gesellschaft entgegengesetzten »hinterweltliche[n] Reich mystischen Lebens« spricht, in das sich die Werte zurückgezogen hätten, betrachtet die Jugend gerade »die Gedankengebilde der Wissenschaft« als »ein hinterweltliches Reich von künstlichen Abstraktionen, die mit ihren dürren Händen Blut und Saft des wirklichen Lebens einzufangen trachten, ohne es doch je zu erhaschen.«28

23 Max Weber: Wissenschaft als Beruf (1919); S. 551. 24 Ibid., S. 547. 25 Ibid., S. 539. 26 Ibid., S. 533. 27 Ibid. 28 Ibid., S. 537.

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Wissenschaft als Beruf und die Diskussion mit dem George-Kreis Es ist mehrfach darauf hingewiesen worden, Wissenschaft als Beruf lese sich aufgrund dieser Passagen »streckenweise wie eine Abrechnung mit den Georgianern«.29 In der Tat rief der Vortrag heftige Reaktionen von dieser Seite hervor; und Löwith, der mit zahlreichen Mitgliedern des George-Kreises befreundet war,30 andererseits aber auch im Rahmen der Münchner Freistudentenschaft zu den Organisatoren des Weber-Vortrags gehörte,31 beteiligte sich an dieser Diskussion. Erich von Kahler veröffentlichte auf Anregung Friedrich Gundolfs 1920 einen Aufsatz mit dem Titel Der Beruf der Wissenschaft, der als Gegenschrift zu Webers Vortrag gelesen werden kann. Trotzdem ist diese Analyse nur zum Teil richtig, denn das Streben nach Einfachheit, Echtheit im Leben und Erleben als Ausdruck von Wahrheit mit der damit verbundenen Verehrung der »Persönlichkeit« ist ein zentrales Anliegen der Lebensreformbewegung als ganzes – man könnte es als den intellektuellen Mainstream der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts bezeichnen. So ist es nicht verwunderlich, daß Webers Wissenschaftsbegriff von vielen seiner Zeitgenossen heftig kritisiert wurde. Insbesondere Erich von Kahler betrachtete ihn als Relativismus und versuchte, der Wissenschaft stattdessen die Aufgabe zuzuweisen, nach dem Vorbild Platons den Gegensatz zwischen Sein und Sollen aufzuheben. Für Kahler soll Wissenschaft zu Handlungen hinführen und eine Veränderung der Lebenssituation ermöglichen. Ihm geht es im Prinzip darum, zu einer bestimmten Lebensführung anzuleiten – das neutrale Wissenschaftsideal Webers wird abgelehnt. Diesem Wissenschaftsideal wird im George-Kreis – nicht nur von Kahler – die Gesamtheit des Lebens entgegenge-

29 Volker Kruse: Die Heidelberger Soziologie und der Stefan George-Kreis. In Bernhard Böschenstein / Jürgen Egyptien / Bertram Schefold / Wolfgang Graf Vitzthum: Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft; Berlin 2005, S. 259-276, S. 64. Vgl. auch Matthias Schlossberger: Wissenschaft als Schicksal. Der Streit um Max Webers Polytheismus. In Zeitschrift für Ideengeschichte IV/1 (2010); S. 112-115. 30 Neben der Freundschaft zu Erich von Kahler, die sich auch aus einer verwandtschaftlichen Bindung entwickelte, pflegte Löwith etwa mit Percy Gothein, Rudolf Fahrner und Edgar Salin bis weit in die 30er Jahre hinein freundschaftliche Beziehungen. 31 Vgl. Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland; S. 16.

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setzt, die ein organisches und sinnvolles Ganzes darstellt.32 In Kahlers Haltung spiegelt sich die Position der von Weber so scharf kritisierten Jugend, die sich nach Führung und Erleben, in letzter Konsequenz allerdings nach Einheit und Harmonie sehnte. Völkische Kreise argumentierten ähnlich, aber die Sehnsucht nach Orientierung und Restauration eines idealen Lebens, das Sein und Sollen versöhnt, finden wir zum Beispiel auch bei Karl Jaspers: »Wenn zum Beispiel vom Wissen die Rede ist: nicht einzelnes Fachwissen, sondern das Wissen als eine Ganzheit, als Kosmos. Aber Weltanschauung ist nicht bloß ein Wissen, sondern sie offenbart sich in Wertungen, Lebensgestaltung, Schicksal, in der erlebten Rangordnung der Werte.«33 Der hier auftauchende Begriff der Weltanschau-

32 So heißt es bei Friedrich Gundolf: »Dantes und Shakespeares Welt war noch gefüllt und bewegt von den unmittelbaren Kräften des Urlebens selber. […] Das heroische Leben war noch überall sinnlich bewegte Gegenwart der öffentlichen Zustände, Sein und Geist waren noch nicht auseinandergetreten in Wirklichkeit und Bildung, es gab noch keine vom tätigen täglichen Dasein unabhängige Theorie um der Theorie, Bildung um der Bildung, Wissenschaft um der Wissenschaft willen: kurz, keine selbständig etablierte Bildungswelt gegenüber der wirklichen. […] Die Menschen der Goetheschen Welt waren, um das Wort Stefan Georges zu gebrauchen, nicht mehr Söhne der Gaea, sondern ihre Enkel, d. h. nicht mehr genährt aus den erdhaften Stoffen selbst, sondern aus bereits abgeleiteten.« (Friedrich Gundolf: Goethe; Berlin 1918, S. 25) 33 Karl Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen (1919); Berlin 1960, S. 1. Allerdings kann man Jaspers nicht so einfach dieser Bewegung zuschlagen. Sein Standpunkt bleibt häufig merkwürdig unbestimmt. Einerseits versucht er, das eigenverantwortliche Leben gegen die romantische Auslegung der Idee der Weltanschauung zu verteidigen: »Wissenschaft […] soll sich der Menge anpassen, welche nur ihr praktisches Ziel will, ein Examen und die damit verknüpfte Berechtigung; Forschung soll nur soweit gefördert werden, als sie praktisch auswertbare Resultate verspricht. Dann reduziert Wissenschaft sich auf die verstandesmäßige Objektivität des Lernbaren. Statt der Hochschule, wie sie in ihrer geistigen Unruhe des ›sapere aude‹ lebt, entsteht bloße Schule. Dem Einzelnen wird die Gefahr seines selbst zu suchenden Weges abgenommen durch einen zwangsläufigen Studienplan. Ohne Wagnis in der Freiheit wird auch kein Ursprung gelegt zu der Möglichkeit eigenen Denkens. Am Ende bleibt eine virtuose Technik in Spezialitäten und vielleicht auch ein großes Wissen; der Gelehrte, nicht der Forscher wird der maßgebende Typus. Daß man beginnt, beides für dasselbe zu halten, ist Symptom dieses Niedergangs.« Andererseits sieht sich Jaspers als Teil »einer B e w e g u n g , die a l s V e r ä n d e r u n g d e s Wi s s e n s e i n e V e r ä n d e r u n g d e s D a s e i n s e r z w i n g t und als V e r ä n d e r u n g d e s D a s e i n s w i e d e r e i n e V e r ä n d e r u n g d e s w i s s e n d e n B e w u ß t s e i n s . […] Weil die

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ung wurde zu einem Schlagwort des Nationalsozialismus. Viktor Klemperer kritisiert diese Begrifflichkeit ganz im Sinne Löwiths, weil er in ihr das Gegenstück »des Fremdwortes Philosophie« erkennt: »Philosophieren ist eine Tätigkeit des Verstandes, des logischen Denkens, und ihm steht der Nazismus feindlich als seinem tödlichsten Feind gegenüber. Der benötigte Gegensatz zum klaren Denken ist aber nicht das richtige Sehen […]; auch das stünde ja den ständigen Täuschungs- und Betäubungsversuchen der nazistischen Rhetorik im Wege. Sondern sie findet in dem Wort Weltanschauung das Schauen, die Schau des Mystikers, das Sehen des inneren Auges also, die Intuition und Offenbarung der religiösen Extase. Die Vision des Erlösers, von dem das Lebensgesetz unserer Welt ausgeht: das ist der innerste Sinn oder die tiefste Sehnsucht des Wortes Weltanschauung, so wie es im Sprachgebrauch der Neuromantiker auftauchte«34. Im Kern ist es nicht der Wertrelativismus, sondern die von Weber festgestellte Eigenschaft der Kritik und die Tendenz zur Entzauberung der Welt, die – besonders in den Kreisen der konservativen Revolution – Anstoß erregt. Die Moderne wurde zwar ähnlich wie bei Weber als tiefe Krise empfunden, aber das

Welt nicht endgültig ist, wie sie ist, geht die Hoffnung des Menschen, statt in der Transzendenz ihre Ruhe zu finden, auf die Welt, die er verändern kann im G l a u b e n a n d i e M ö g l i c h k e i t e i n e r i r d i s c h e n V o l l e n d u n g . « (Id.: Die geistige Situation der Zeit; Berlin 1931, S. 122 und 6) Diese Textstellen scheinen bei kritischer Betrachtung ihrerseits weniger eine klare inhaltliche Definition des Weltanschauungsbegriffs oder eine klare eigene Positionsbestimmung zu sein. Stattdessen läßt sich in ihnen vor allem ein eigenes Beispiel für jene von Jaspers kritisierte »virtuose Technik in Spezialitäten« sehen, deren konkreter Inhalt und Zweck fragwürdig und schwer faßbar bleibt. Auch Löwith hat auf diese Widersprüchlichkeiten in Jaspersʼ Haltung hingewiesen: »Die weltlichen Konsequenzen von Jaspers’ Philosophie bleiben daher nicht zufällig bloße Postulate. So wird z[um] Be[ispiel] für die Ermöglichung eines wahren Staates an einen führenden ›Adel‹ appelliert. Aber dieser Adel im Sinne von Jaspers ist gegenständlich so ungreifbar wie Existenz und Selbstsein überhaupt. Denn dieser Adel sei weder sozial noch rassenmäßig da […], sondern er sei ein anonymer, rein existenzieller Adel ›im Menschen‹, d. h. er reduziert sich auf die Art und Weise des Selbstseins. […] Jedoch ist Jaspers auf diese Wirklichkeit nicht festzulegen, und es wäre falsch, wenn man daraus unmittelbare Schlüsse ziehen wollte auf seine politische Haltung« (Karl Löwith: Die geistige Situation der Zeit (1933). In id.: Schriften 8; S. 19-31, S. 29). Umso wichtiger ist allerdings der Hinweis, daß Jaspers anders als vielen seiner Kollegen nicht der Vorwurf gemacht werden kann, das inhaltliche Vakuum seiner Begriffe durch den Nationalsozialismus aufgefüllt zu haben. 34 Viktor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen; Berlin 1947, S. 152.

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Ergebnis dieser Erkenntnis war ein anderes: Wo Weber den Verlust von Religion und positiven Werten diagnostizierte, die daraus resultierende Spannung nur stoisch auszuhalten wußte und sich lediglich auf »Forderung des Tages« konzentrieren wollte, geht es den Anhängern Georges, aber auch vielen anderen ihrer Zeitgenossen um die Überwindung der Krise durch die verschiedensten Mittel.35 Wo Weber die Situation des modernen Menschen prinzipiell bejaht und darin auch die Möglichkeit zur Freiheit erkennt, geht es auf der anderen Seite darum, die in der Krise zerstörten Bindungen und Werte neu zu schaffen beziehungsweise zu ersetzen, um darauf eine homogene Gemeinschaft der Gleichgesinnten aufbauen zu können. Michael Löwy spricht hier von einem »romantische[n] Antikapitalismus […] als nostalgischer und verzweifelter Versuch […], die Welt aufs neue zu verzaubern.«36 »Ziel war«, so schreibt Carola Groppe, »bei

35 Sie reichen von Vegetarismus und rein geistiger oder esoterischer Besinnung bis zu einer konservativen oder nationalsozialistischen Revolution. Es ist dabei zu beachten, daß, ebenso wie die Mittel zur Bekämpfung dieser Krise höchst umstritten waren, auch die Ursachen und die eigentliche Ausprägung dieser Krise keineswegs einheitlich gesehen wurden. Nur daß die »heutige faktische Umsturzsituation« (Martin Heidegger 1920 in einem Brief an Karl Löwith, zitiert nach Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland; S. 28) eine ausgemachte Krise war, das galt als unabweisbar. 36 Michael Löwy: Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken. Eine Wahlverwandtschaft; Berlin 2002, S. 45. Löwy übernimmt diesen Begriff von Lukács und schlägt mit ihm einen Bogen über alle Lager hinweg: »Als romantische Antikapitalisten können sowohl ideologische Verfechter der Reaktion (Möller van den Bruck, Julius Langbehn, Ludwig Klages) als auch revolutionäre Utopisten wie Bloch und Landauer gelten.« (Ibid., S. 46). Interessant ist in diesem Zusammenhang auch das Zion-Kapitel in Viktor Klemperers LTI, in dem Klemperer ganz ähnlich argumentiert und das er mit folgenden Sätzen beendet: »Verwandtschaft des Stils zwischen Rosenberg und Buber, Verwandtschaft in mancher Wertung […]: scheint sie nicht noch befremdlicher als die Verwandtschaft zwischen Hitler und Herzl? Die Erklärung des Phänomens aber ist in beiden Fällen die gleiche: Romantik, nicht nur verkitschte, sondern auch echte, beherrscht die Zeit, und aus ihrem Quell schöpfen beide, die Unschuldigen und die Giftmischer, die Opfer und die Henker.« (Viktor Klemperer: LTI; S. 212-226, S. 226). Wie sehr diese Charakterisierung von Bubers Denken zutrifft, soll fürs erste nur ein Zitat aus der Buber-Biographie von Bubers Schüler Hans Kohn illustrieren, das den messianischen Aspekt in Bubers Lehre herausstreicht: »jeder Mensch hat die Möglichkeit einer Entscheidung des Geistes, zur Umkehr. Entscheidet er sich, so verändert er auch die Welt, schafft er neue Beziehungen zu Menschen und Dingen um sich, erfüllt er den Sinn der Welt. Das ist das Eine, das not tut. […] Die

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aller Heterogenität der Gruppierungen und Visionen […] die Gesellschaft durch eine Reform des Alltags bzw. der Lebensform zu verändern, zu heilen, letztlich: sie zu ›erlösen‹. Erst vor dem Hintergrund dieses quasi-religiösen Sendungsbewußtseins erklärt sich die Vehemenz des jeweils vertretenen Geltungsanspruchs.«37 In dieser Auseinandersetzung nimmt Löwith in einem Brief an Erich von Kahler zu dessen Kritik Stellung und positioniert sich klar auf der Seite Webers, dabei zunächst vor allem aus persönlichen Gründen. Schon hier zeigt sich, daß Löwith grundsätzlich der Theorie vor der Praxis den Vorzug gibt: »Denn es ist zuviel um uns und in uns zerbrochen, aufgelöst, als dass uns heute […] die tiefe, reiche Lebensweisheit des Wilh[elm] Meister letztlich viel sagen könnte. Er sagt das nur dann viel wenn man noch den Glauben hat, den Optimismus u[nd] den Willen auf objektive Formung, Gestaltung dessen was man allzu allgemein ›Leben‹ nennt u[nd] dies zum Zentralproblem macht. Hegel würde mir u[nd] meinesgleichen vorwerfen, dass wir ›schlechte Intensivität‹ pflegen u[nd] die ›gute‹ I[ntensivität] immer auch extensive Intensität sein müsste. Obj[ektiv] hat er recht – für mich kann es keine Geltung haben – heute wenigstens nicht. Denn die rein subjektiven Fragen u[nd] Entscheidungen sind zu drängend geworden als dass man sie aufschieben könnte oder verwässern durch ›Handlung‹. Weil es so zwiespältig in uns – mir – aussieht, gerade deshalb sagt mir M[ax] W[ebers] Dualismus zu, den ich auch in einem höheren, metaph[ysischem] Sinn als wahr

Wissenschaft vermehrt die Erkenntnis, sie lehrt Sätze und Dogmen, sie fordert ein Glauben; das Gesetz vermehrt die Pflichten, es fordert Handeln. […] Die Lehre aber geht auf das Eine und Ganze; sie lehrt keine Glaubenssätze und sie fordert nicht, sie hat nur einen Gegenstand, das Eine, das not tut, nur eine Form, die Unmittelbarkeit der Verwirklichung im wahrhaften Leben.« (Hans Kohn: Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit – ein Versuch über Religion und Politik; Hellerau 1930, S. 117f.) 37 Carola Groppe: Stefan George, der George-Kreis und die Reformpädagogik zwischen Jahrhundertwende und Weimarer Republik. In Böschenstein / Egyptien / Schefold / Vitzthum: Wissenschaftler im George-Kreis; S. 311-327, S. 313. Es ist vermutlich auch die Erfahrung dieser teils absurden Bestrebungen gewesen, die in Löwith die Erkenntnis hat reifen lassen, die romantische Idee eines geschichtlichen Sinns, der im heutigen oder – je nach Perspektive – künftigen Menschen seine Erfüllung finde, sei ursprünglich religiöser Natur und der abendländischen jüdisch-christlichen Tradition entsprungen.

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erlebe. Mit einem nur immer vergeistigten Lebens-Pantheismus weiss ich nichts anzufangen.«38 Dabei ist besonders bemerkenswert, daß Löwiths Vorzug der Theorie Webers Standpunkt wissenschaftlicher Spezialisierung zwar ähnelt, genau betrachtet aber nichts mit ihm zu schaffen hat: Weber geht es um die Rechtfertigung der Theorie durch die Erreichung eines Ziels, es geht ihm darum, in der Wissenschaft »etwas geleistet« zu haben, »was d a u er n wird.«39 Für Löwith hingegen ist die Krise sehr viel persönlicherer Natur, es geht ihm um das Verständnis seiner eigenen Situation – und daher ist auch sein Lösungsansatz ein anderer. Zwar ist auch für Weber der geistige Ursprung dieser Krise nicht zu unterschätzen – auch er diagnostiziert eine tiefe Unsicherheit, die auf das Fehlen von sinnstiftenden Überzeugungen zurückzuführen ist und die eine aktive Auseinandersetzung verlangt: »Das Schicksal einer Kulturepoche, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, ist es, wissen zu müssen, daß wir den S i n n des Weltgeschehens nicht aus dem noch so vervollkommneten Ergebnis einer Durchforschung ablesen können, sondern ihn selbst zu schaffen imstande sein müssen, daß ›Weltanschauungen‹ niemals Produkt fortschreitenden Erfahrungswissens sein können, und daß also die höchsten Ideale, die uns am mächtigsten bewegen, für alle Zeit nur im Kampf mit anderen Idealen sich auswirken, die anderen ebenso heilig sind, wie uns die unseren«.40 Während Weber allerdings zu der Erkenntnis gelangt, daß zur Konzentration auf die »Aufgabe des Tages« auch die praktische Arbeit im Sinne von »Politik als Beruf« gehöre, wendet sich Löwith von der politisch-sozialen Krise, die für ihn bloß symptomatisch ist, ab. Für ihn liegt das Schwergewicht auf den von Weber diagnostizierten kulturellen Ursachen – der Verlust eines sinnstiftenden Rahmens, von Glaubensüberzeugungen, aber auch die Rolle des Menschen in einer zunehmend technisierten Welt. Damit bleibt er Weber auf seine eigene Weise treu. Weber hatte nämlich auch geschrieben, was für ihn die größte Gefahr der aktuellen Krise war: »Nichts ist gefährlicher, als die, naturalistischen Vorurteilen entstammende, Ver m i s ch u n g von Theorie und Geschichte, sei es

38 Karl Löwith an Erich von Kahler, 15.IX.1920; Marbach/Neckar, Deutsches Literaturarchiv, A: Kahler. Dieser Vorwurf der »schlechten Intensivität« taucht in anderer Form häufiger auf, insbesondere dann, wenn es um die Frage nach den positiven Gehalten in Löwiths Denken geht. Etwas detaillierter dazu weiter unten. 39 Max Weber: Wissenschaft als Beruf (1919); S. 530. 40 Id.: Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904). In id.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre; S. 146-214, S. 154.

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in der Form, daß man glaubt, in jenen theoretischen Begriffsbildern den ›eigentlichen‹ Gehalt, das ›Wesen‹ der geschichtlichen Wirklichkeit fixiert zu haben, oder daß man sie als ein Prokrustesbett benutzt, in welches die die Geschichte hineingezwängt werden soll, oder daß man gar die ›Ideen‹ als eine hinter der Flucht der Erscheinungen stehende ›eigentliche‹ Wirklichkeit, als reale ›Kräfte‹ hypostasiert, die sich in der Geschichte auswirken.«41 Nicht zuletzt diese von Weber angesprochene Vermischung ist auch der Grund, warum Löwith die allgemeine Krise im Kern als eine durch und durch geistige Krise empfindet, warum er ihre persönliche Dimension so betont. Er sieht sie als Sinnsuche, als eine Art von kollektiver Identitätskrise, die er durch die Dekonstruktion überkommener, aber auch neuer Ideen aufzulösen hofft. Auch für Löwith sind, angestoßen durch intensive Nietzschelektüre schon während der Schulzeit, gesellschaftliche und kulturelle Werte seit langem fragwürdig geworden, der einst feste Rahmen der Gesellschaft hat sich auch nach seinem Empfinden aufgelöst. Die romantischen Ideen der Lebensreformbewegungen lehnt Löwith aber ab, weil er die Möglichkeit der Erlösung ganz grundsätzlich bezweifelt. Anders ist es mit der Orientierung an einer beispielgebenden Persönlichkeit. Diese Perspektive bejaht er schon deshalb, weil er selbst nach Vorbildern sucht um eine ethische Orientierung zu gewinnen; nicht aber, um »vom Wissenschaftler den Sinn des Lebens zu erfahren oder auch nur das Erfassen u[nd] Schauen des Lebendigen gelehrt zu werden« oder weil er »Lebens-Normen garantiert haben möchte, nur mit solchen wiss[enschaftlichen] Begriffen sich plagt die gelebt u[nd] gefühlt werden können, […] Synthesen a priori sucht u[nd] sich einbildet daran recht zu glauben, kurz in desorientiertem Synkretismus lebt«42; damit meint Löwith einen vollkommen unkritischen Gebrauch von Theorie und Wissenschaft und Lebensführung, der jeden weiteren Erkenntnisfortschritt blockieren muß. All dies sind Punkte, die Löwith an seinen Altersgenossen kritisiert. Diese Kritik teilte er mit der Jugendkritik Max Webers. Kahlers Idee eines ganzheitlichen, idealen Leben und eine Hinwendung zu einer platonischen Tradition lehnt Löwith scharf ab: »Dieses Alleben ist nur innerlich, erlebnismässig nicht konkret, ich kenne es nicht u[nd] suche daher auch gar nicht in ihm Sinn, sondern suche u[nd] finde Sinn in der ›existentialen Persönlichkeit‹ – in der ethisch relig[iösen] Persönl[ichkeit] u[nd] nur in ihr ist Sinn eo ipso vorhanden. […] Die wiss[enschaftlich]-sachl[iche] Forschung der Einzelwiss[enschaften] braucht nach m[einer] A[nsicht] nicht in dem Sinn wie

41 Ibid., S. 195. 42 Karl Löwith an Erich von Kahler, 15.IX.1920; Marbach/Neckar, Deutsches Literaturarchiv, A: Kahler.

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Sie es fordern wirken, das autonome Gebiet wo man wirken soll, muss u[nd] kann ist ausschliesslich das persönl[ich] Ethische – von Mensch zu Mensch. Alles andre ist für mich Oberflächenwirkung mit Kulturzielen u[nd] Kultur ist ein – von meinem Standp[unkt] aus – höchst sekundäres u[nd] abgeleibtes Wort. Sofern der Philosoph nun auch Ethiker im lebendigen Sinn sein soll u[nd] in den grossen Fällen immer war […] hat der Phil[osoph] […] die innere Verpflichtung zum Wirken u[nd] wirkt Kraft seiner Weltanschauung also – u[nd] das ist für mich entscheidend – er soll es u[nd] kann es auch am besten, nur indirekt.«43 Wissenschaft und Mensch Löwith selbst spricht es nicht direkt aus, aber auch er bezieht sich auf ein antikes Einheitsideal, das obendrein ein klassisches Ziel der Philosophie – verstanden als Lebenskunst – darstellt. Gemeint ist die Einheit von Philosophie und Leben, für die er selbst später beispielhaft werden sollte; es brachte ihm aber auch oft den

43 Ibid. Das Zitat zeigt auch, daß auch Löwith selbst gegenüber den Gefährdungen der Lebensphilosophie, den Begrifflichkeiten und Vorstellungen seiner Zeit nicht immer immun geblieben ist, sondern ihnen selbst nahestand. Löwith selbst schreibt in diesem Zusammenhang, er sei »als Deutscher in das deutsche Geschehen verflochten, und ich selbst habe mitdestruiert, ehe die Wege sich trennten.« (Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland; S. 137). Noch gegen Ende seines Lebens gesteht er ein, daß er sich nicht nur als junger Mann aktiv an der Zerstörung der überkommenen Werte durch die Lebensphilosophie beteiligt habe, sondern sich auch später nie ganz von den Einflüssen und Vorstellungen der eigenen Zeit, aber auch der von ihm kritisierten denkerischen Tradition habe lösen können. Die Überwindung des von ihm kritisierten geschichtlichen Denkens im positiven Sinne durch die Schaffung einer ganz eigenen, klar definierbaren Position ist Löwith nicht gelungen: »Mir wurde die Einsicht vermittelt, daß eine Epoche zu Ende, daß ein Bruch geschehen ist und daß man nun versuchen muß, anderswoher eine neue Möglichkeit des Philosophierens zu finden. Daß diese neuen Möglichkeiten bei mir selbst innerhalb des geschichtlichen Denkens, das ich im Prinzip negiere, befangen geblieben sind, obwohl ich mich durch geschichtliches Denken aus ihm herausreflektieren will, gebe ich ohne weiteres zu.« (Karl Löwith: Aktualität und Inaktualität Hegels (1971). In id: Schriften 5, S. 277-323, S. 311). Als Konsequenz läßt sich aber auch die Frage stellen, wie weit es überhaupt möglich ist, sich aus den Überzeugungen und Vorurteilen der eigenen Zeit herauszuarbeiten um sie dialektisch zu überwinden, ohne sie radikal im Sinne einer katastrophischen Aufhebung zu negieren – insbesondere in einer Zeit, die dem Fortschritt verfallen ist, in der also die Umwertung der Werte bereits positiv besetzt und ein Teil des Zeitvorurteils ist.

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Vorwurf ein, die Zeichen der Zeit nicht verstanden zu haben und sich wie Goethe, Hegel und Burckhardt lediglich mit einer weltabgewandten Haltung des dritten vorchristlichen Jahrhunderts zu begnügen.44 Dabei hält Löwith gegen Webers unmittelbaren Wortlaut45 an dem Ideal der Persönlichkeit fest und macht es zu einem ethischen Maßstab; allerdings nicht für eine wie auch immer vorgestellte Gemeinschaft, sondern, ganz »von Mensch zu Mensch«46, für das einzelne Individuum. Dahinter steckt nicht nur die Annahme, daß die erlebte Krise durch eine Hinwendung zu religiösen Utopien oder zu sozialrevolutionären Lebensentwürfen prinzipiell nicht lösbar sei. Vielmehr vertritt Löwith ein Menschenbild, das dem Menschen als solchen einen ganz besonderen Eigenwert zuweist. Wo Kahler im Sinne eines ganzheitlichen Weltbildes »von den ›ganzen organ[ischen] Formen, den vegetativen, animalen u[nd] (!) humanen‹«47 spricht, sieht Löwith »eine tiefe Kluft, eine prinzipielle Kluft […]. Denn der Mensch ist andres u[nd] mehr als ein Glied u[nd] eine Welle des Allebens, er hat absolute Bedeutung – Ewigkeits-Sinn im Sinn des Christentums der auf andern Ebenen im persönl[ichen] Leben ausgetragen wird als es die sind welche dem historisch lebendigen Leben zugänglich sind.«48

44 Vgl. Richard Wolin: Heidegger’s Children. Hannah Arendt, Karl Löwith, Hans Jonas, and Herbert Marcuse; Princeton 2001, S. 99: »When one views the world of human affairs with cosmological detachment, one courts the risks of anachronism, of succumbing to an interpretive antiquarianism and judgemental irrelevance. Tellingly, in one of the few instances where Löwith deigned to comment on contemporary affairs […] his thoughts turned predictably to the Stoic ideal of suicide, which he endorsed enthusiastically as an exemplary moral choice. He gave not a thought to the problem of industrialized mass murder, the risks of nuclear annihilation, or the immorality of capital punishment. Instead, Löwith remained satisfied with a Third Century B. C. E. credo, whose modern exponents were Goethe, Hegel, and Burckhardt.« 45 Dessen ist sich Löwith auch bewußt, er selbst spricht davon, Weber habe »in solchen Vorträgen stets didaktische Absichten« gehabt. Er werde häufig »zu sehr beim Wort genommen, u[nd] gerade bei den Worten die er durch seine Persönlichkeit widerlegt oder doch ergänzt hat«. Löwith resümiert abschließend: »Gerade pädagogisch aber scheint es mir oft nur vorteilhaft zu sein anders zu reden als man wirklich denkt u[nd] lebt« (Karl Löwith an Erich von Kahler, 15.IX.1920; Marbach/Neckar, Deutsches Literaturarchiv, A: Kahler). 46 Ibid. 47 Ibid. 48 Ibid.

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Löwith präsentiert hier den Menschen als philosophisches Konzept, das weitgehend unabhängig von Zeit und Raum ist; damit nimmt er bereits hier das Bild des prinzipiell unveränderlichen Menschen, der immer war, was er ist und sein wird, vorweg. In späteren Jahren bekannte sich Löwith auch explizit dazu. Man könnte kritisch anmerken, daß dieses Menschenbild ursprünglich ein platonisches ist. Denn beruht es nicht auf einem absoluten Idealbild, das die Klammer bildet zwischen Kultur und Welt? Wie auch immer man diesen Widerspruch auflöst: Löwith geht davon aus, daß der Mensch unabhängig von Faktoren kultureller Prägung, historischer Faktizität und anderen Rahmenbedingungen seine ganz eigenen Formen und Potentiale besitzt, die fest und zeitunabhängig mit dem Menschen als Idee verknüpft sind. Dabei versteht Löwith den Menschen als Wesen, dessen hervorstechendstes Merkmal die Möglichkeit zur Freiheit ist. Denn der Mensch ist nicht durch seine Zeit, durch kulturelle oder gesellschaftliche Herkunft auf bestimmte Verhaltensweisen festgelegt – er kann seine ihm eigenen Potentiale entwickeln und bleibt so Herr seiner selbst. Löwith fühlt sich dabei von Webers Beispiel bestätigt: »er verstattet den Forderungen der Zeit denen er doch selbst sein Leben zum grossen Teil widmete nicht normierend zu sein für das ursprüngliche Innenleben der persönl[ich] sich allein oder sich u[nd] Gott allein, verantworteten Menschen.«49 Damit ist die Idee des Menschen der stärkste Kontrast zur diagnostizierten Krise; nichtsdestotrotz hat die Krise dazu geführt, daß die menschliche Existenz als solche fragwürdig geworden ist. Löwith teilt diese Annahme mit Weber und zeigt sich besonders von dem Versuch überzeugt, die moderne Gesellschaft durch die Phänomene der Rationalisierung und der Entzauberung zu erklären. Auch Löwith stellt sich die Frage: »Wie lassen sich innerhalb dieser allmächtigen ›Verapparatisierung‹ überhaupt noch ›irgendwelche Reste einer in irgendeinem Sinn ‚individualistischen‘ Bewegungsfreiheit‹ retten?«50 Was Löwith an Webers Antwort besonders attraktiv fand, war nicht nur der umfassende Ansatz, den Weber in Löwiths Augen vor Marx auszeichnete, sondern vor allem die positiven Elemente, die dem spezialisierten Menschen innerhalb des alle einzwängenden »Gehäuses der Hörigkeit« eine gewisse individuelle Wahlfreiheit, auch die Möglichkeit einer individuellen Verantwortungsethik, ermöglichen. »Der Zwiespalt u[nd] die Spannung zwischen solcher ›Privat-Existenz‹ u[nd] der nüchtern-sachl[ich]-wiss[enschaftlichen] Arbeit ist nur fruchtbar u[nd] in mei-

49 Ibid. 50 Karl Löwith: Max Weber und seine Nachfolger (1939/49). In id.: Schriften 5; S. 408418, S. 411.

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ner Situation ehrlicher als andre Möglichkeiten u[nd] M[ax] Webers Leben u[nd] Arbeit widerlegt von selbst all die scheinbaren Negativitäten dessen was er sagte.«51 Für Löwith ist es also eine zutreffende Analyse, den Menschen als zerrissen zwischen individueller und beruflich-gesellschaftlicher Existenz zu charakterisieren. Mehr noch: er findet sie fruchtbar, weil diese Realisierung dieser Spannung Möglichkeiten zur eigenen Entscheidung schafft. Hier tut sich die Chance auf, die individuelle Freiheit des Menschen zumindest teilweise zu retten und persönliche Klarheit zu erlangen. Auch deshalb ist Löwith davon überzeugt, Max Webers Auffassung sei »von einem entschiedenen Ethos getragen, das nicht mit sich handeln ließ«52. Webers »Dualismus, der weniger resigniert ist […], der stark u[nd] reinlich ist« sieht Löwith als logische Konsequenz der Tatsache, »dass – nachdem Wiss[enschaft] etwas relativ so ärmliches ist – es Tiefen u[nd] Fragen u[nd] Entscheidungen gibt die jenseits ihrer liegen u[nd] die der Einzelne mit sich ausmachen muss«53. Auch hier fällt auf, daß Löwith, zumindest dort, wo er Weber für den Hausgebrauch, also als Vorbild für sich selbst interpretiert, ihn unter der Leitfrage in den Blick nimmt, was Weber ihm persönlich unter einer individualistischen Perspektive zu sagen hat. Es geht Löwith also zunächst nur um die Situation des vereinzelten Menschen in der Moderne. Daher beurteilt er den denkerischen Wert Max Webers ausgehend von dessen Analyse des bewußt wertfreien Wissenschaftsverständnisses in der durchrationalisierten modernen Welt auf der einen Seite und den Antworten, die Weber auf der anderen Seite dem vereinzelten Individuums gibt, das sich in dieser modernen Welt für sich behaupten will und nach Möglichkeiten sucht, sich dabei an ethischen Maßstäben zu orientieren. Webers Analyse impliziert aber für Löwith auch, daß seine Antworten nicht systematisch generalisierbar sein können und zu einer umfassenden Ethik führen können. Sein Verhältnis zu Weber und seine Sicht auf dessen »entschiedenes Ethos« ist zwar eng mit der Persönlichkeit Max Webers – dazu gehört sicher auch Webers Charisma – verknüpft; Löwith ist aber – bei aller Autorität, die er Weber zugesteht – völlig klar, daß auch Weber skeptisch betrachtet werden muß und es bei einem derartigen Verhältnis zwar darum gehen kann, sich an einem Denker zu orientieren, nicht aber, ihm bedingungslos zu folgen. Denn während

51 Karl Löwith an Erich von Kahler, 15.IX.1920; Marbach/Neckar, Deutsches Literaturarchiv, A: Kahler. 52 Karl Löwith: Max Weber und seine Nachfolger (1939/49); S. 418. 53 Karl Löwith an Erich von Kahler, 15.IX.1920; Marbach/Neckar, Deutsches Literaturarchiv, A: Kahler.

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für Weber durch die Entzauberung althergebrachter Werte ein liberales und demokratisches System logische Konsequenz sein mußte, stand für Löwith in der Rückschau fest: »Von seiner [Webers] These, daß uns nur ein ›Prophet‹ zu sagen vermöchte, was wir objektiv tun sollen, daß dieser aber nicht da sei, so daß in dieser autoritätslosen Zeit einer verfallenden Öffentlichkeit jeder für sich entscheiden müsse, was er zu tun gedenke […] ist es nur ein Schritt bis zur völligen Einordnung in einen totalen Gesinnungsbetrieb unter den Willen eines redegewaltigen Führers, welcher der Masse sagt, was sie glauben und tun soll.«54 Es ist evident, daß für Löwith dieser letzte Schritt unbedingt zu vermeiden ist. Zugleich gibt es für ihn kein Zurück hinter die Analyse Webers. Löwiths Konsequenz ist ein umfassendes Mißtrauen gegenüber jeder Politik und jeder Prophetie bei einer freiwilligen Selbstbeschränkung auf »die Aufgabe des Tages«, wie sie auch von Weber vorgeschlagen wurde. Abgestoßen von den revolutionären und revisionistischen politischen Umtrieben während seines Studiums in München, definierte Löwith diese Aufgabe aber offenkundig anders als Weber, der sie auch als eine gesellschaftliche und politische sah. Auch Löwiths Haltung ist aber schon als politische Entscheidung zu werten. Denn Martin Kagel ist zuzustimmen, daß man Löwiths Position nicht als Desinteresse oder gar Apathie deuten sollte: »Anders als jene Zeitgenossen, die sich aus kleinbürgerlichem Ressentiment von den politischen Doktrinen abkehrten, übte Löwith Ideologiekritik, wenn er das Politische zur sekundären Erscheinung degradierte. […] Philosophisch handelte es sich um eine Bewegung hin zum Ideal der ›freien Persönlichkeit‹, wie es Löwith gut ein Jahrzehnt später anhand seiner Studien

54 Karl Löwith: Max Weber und seine Nachfolger (1939/49); S. 413. Damit unterscheidet sich Löwiths Haltung deutlich von dem Führerkult, wie er zu seiner Zeit verbreitet war. Ein Beispiel dafür ist der auch von Löwith in seiner Jugend rezipierte Hans Blüher. Bei ihm finden sich Sätze, die an ehrlicher Deutlichkeit nicht zu übertreffen sind und die ihre Konsequenzen bereits in sich tragen: »Dennoch ist es in der Tat so, daß die großen und schöpferischen Menschen notwendig böse sein müssen; und wissenschaftliche Ethik, welchen Inhalt sie auch immer haben möge, sinkt auf jeden Fall zu einer Kleinbürgerperspektive herab, auf die es gar nicht ankommt. Der ethische Mensch in diesem Sinne ist der gleichgültige Mensch; es kommt aber nur auf den großen Menschen an, auf den Wertträger. Was immer, wenn die Menschheit ausgestorben sein wird, von ihren großen Werken übrig bleibt, dasjenige, wovon sie sagen könnte: ›Exegi monumentum aere perennius‹ – ist immer das Werk nicht des ethischen Menschen, sondern des großen Menschen, der immer zugleich der böse Mensch ist.« (Hans Blüher: Die Nachfolge Platons. Eine akademische Sache; Prien 1920, S. 37)

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über Jacob Burckhardt entwickelte.«55 Für Löwith steht hierbei mehr auf dem Spiel als die Vermeidung von öffentlichen Bindungen und Abhängigkeiten. Es geht nicht zuletzt um die positive Möglichkeit der Selbstfindung und der Gewinnung einer Haltung, die selbstbewußt und unabhängig ist von gesellschaftlichen Konjunkturen. Löwiths Diagnose und die daraus resultierende Betonung der skeptischen Individualität, sein »Versuch, sich in die Luft zu stellen« läßt sich auch an seinen eigenen Lebenserfahrungen als getaufter deutscher Jude ableiten, die ihn die Spannungen der Zeit noch schärfer erleben ließ als manchen anderen. Einerseits kam er aus der Münchner Oberschicht, hatte Kontakte zu den kulturellen und gesellschaftlichen Eliten seiner Zeit – andererseits hatten seine Eltern ihrer jüdischen Herkunft den Rücken gekehrt und verloren ihr Vermögen in der Inflation. Zu den Kontakten der Familie gehörten auch ausgewiesene Antisemiten wie Klages und eine Reihe von Nationalsozialisten der ersten Stunde.56 Die daraus resultierenden persönlichen Spannungen und Verletzungen schildert Löwith nicht häufig, es hat sie aber fraglos gegeben.57 Das Gefühl der Ausgrenzung und

55 Martin Kagel: Heillose Historie – Sinn der Geschichte und geschichtlicher Sinn in Autobiographie und Geschichtstheorie Karl Löwiths. In Gerald Hartung / Kay Schiller (ed.): Weltoffener Humanismus. Philosophie, Philologie und Geschichte in der deutsch-jüdischen Emigration; Bielefeld 2006, S. 35-52, S. 41. 56 Löwith war im ersten Weltkrieg unter anderem mit dem späteren bayrischen NSReichsstatthalter von Epp gemeinsam an der Front gewesen; Ernst Udet, einen der berühmtesten Piloten seiner Zeit und späterer General der Luftwaffe, kannte Löwith aus der Schule. Noch 1931, als Löwiths Vater seinen 70. Geburtstag feierte, traf sich bei ihm die Münchner Prominenz: »Der bayerische Kultusminister und der Bürgermeister von München waren nebst vielen hervorragenden Persönlichkeiten der Stadt zu diesem Fest erschienen […] Ein und einhalbes Jahr nach der Feier seines 70. Geburtstags ist er im Oktober 1932 gestorben. Noch ein Jahr später, und er wäre nicht mehr auf dem ›Ehrenfriedhof der Münchner Künstler‹ begraben worden. Als meine Mutter aus dem Nachlaß noch einige seiner Bilder verkaufte, war unter den Interessenten auch ein Nazi-Gauleiter. Er ließ sich von dem vermittelnden Kunsthändler pro forma schriftlich bescheinigen, daß mein Vater nicht jüdischer Konfession war« (Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland; S. 66f.). 57 Eine solche Episode findet sich ebenfalls in seiner Autobiographie: »Ich hatte meinen besten Freund aus der Zeit vor dem Kriege seit 1914 nicht mehr gesehen. […] Als ich 1920 in den Universitätsferien wieder nach Marburg kam, wollte ich ihn besuchen. […] Nach einer auffallend langen Wartezeit erschien seine Frau, um mir zu sagen, es täte L[udwig Ludowici] sehr leid, aber er könne mich nicht sprechen; ob ich denn

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Heimatlosigkeit bestimmte also sein ganzes Leben nicht nur in einem intellektuell empfundenen oder gar eingebildeten Sinne, sondern sehr konkret faßbar, nicht nur auf der persönlichen Ebene. In den zwanziger und dreißger Jahren sah er sich persönlich zunehmend mit antisemitischen Forderungen und schließlich Ausschreitungen konfrontiert.58 Gegen seinen Willen ins Exil gezwungen, teilte er insofern das Schicksal vieler Emigranten, als er über Jahre hinaus von einem Land zum anderen weitergereicht wurde, lange Zeit ohne dem Arm des Nationalsozialismus wirklich zu entkommen. Und als er endlich in Amerika in Sicherheit angekommen war, war er zunächst akademischer Außenseiter – er, der getaufte Jude, fand nur am Hartford Theological Seminary eine Stelle und verglich sich mit einem »auf dem trocknen Sand der protestantischen Theologie

nicht wüßte, daß er ›bei Hitler‹ sei. Ich schwieg und stieg die Treppe hinab und habe ihn seitdem nie wieder gesehen.« (Ibid.; S. 131). Und noch 1952 schreibt Löwith an Jaspers anläßlich einer Berufungsfrage über den »Germanist R[udolf] Fahrner, mit dem ich bis 1933 in Marburg befreundet war u[nd] der dann als Woltersschüler das Neue Reich Georges mit Hitlers 3. Reich verwechselte + Alewyns Nachfolger wurde […]. Die Geschichte seines Abgangs von Heidelberg kenne ich nur vom Hörensagen. Doch glaube ich mich nicht zu irren, dass seine Berufung auf Alewyns Stelle eine ausgesprochen politische Berufung war + und dem entspricht, dass er 1933 in einem letzten Gespräch, das er mit mir hatte, die Rassentheorie ohne Vorbehalte vertrat und gestand, dass er meine ›Mischehe‹ nie gebilligt habe.« (Karl Löwith an Karl Jaspers, 18.X.1952; Marbach/Neckar, Deutsches Literaturarchiv, A: Jaspers. Zur Zitierweise siehe oben, S. 13, Fußnote 10.) 58 So schreibt Löwith bereits am 7.XII.1922 an Heidegger über die Zustände an der Münchner Universität: »Daneben macht sich direkt beängstigend – verstärkt durch bayrisches Bier – der bornierteste Nationalismus u[nd] Antisemitismus breit, Wahlplakate für den Asta sind angeschlagen – haarsträubend. Z. B. wird da gefordert, dass die Univ[ersitäten] nur 1% jüdische Professoren haben dürfen weil das dem Bevölkerungsprozentsatz entspräche. Dabei sind alle diese Herren Studenten heilfroh dass sie hier Willstätter[?] ect. haben. Fast täglich ist irgend eine Abendvorles[ung], Vortrag kurz: Geschwätz irgend einer akad[emischen] Vereinigung – u[nd] bei fast allen Veranstaltungen erscheinen, vom Senat geladen, sämtliche ausrangierten Königl[ichen] Hoheiten u[nd] Excellenzen, vor allem Ludendorff, der übrigens in der Nähe [?] verheerend aussieht, restlos Poseur, brutal, geschwollen eitel u[nd] direkt geistlos.« (Karl Löwith an Martin Heidegger; Marbach/Neckar, Deutsches Literaturarchiv, A: Heidegger)

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nach Wasser und Luft schnappenden Fisch«.59 Später, an der New Yorker New School erfuhr er die Kommerzialisierung des angelsächsischen Akademiebetriebes: er erlebte, wie das philosophische Seminar aus finanziellen Gründen geschlossen wurde. Seine Rückkehr nach Deutschland empfand er daher auch als zweite Emigration – ohne sich auf die Aufbaueuphorie der jungen Bundesrepublik einzulassen, kam er dabei allerdings zu einem deprimierenden Urteil über seine deutschen Zeitgenossen: »Sozial und innenpolitisch ist der Eindruck sehr viel weniger erfreulich – alte Ressentiments, Abschieben aller eigenen Unzulänglichkeiten auf neue Sündenböcke, moralische Verantwortungslosigkeit und völliges Fehlen allgemeiner Gesittung + des sensus communis. Dem deutschen Spiesser in kurzen Lederhosen + den zahllosen Kraft durch Freude Bustouristen sieht man allenthalben nach wie vor an, wie gut der Nazismus zu ihnen gepasst hat.«60 Auch angesichts dieser Lebensempfindung und -erfahrungen ist das Beharren auf einem eigenen Standpunkt in Opposition zu den großen Strömungen der Zeit eine fast zwangsläufige Konsequenz. Das gilt insbesondere in Fragen religiöser Gruppierungen. Ich hatte bereits gesagt, daß Löwith sich mit den religiösesoterischen Bewegungen seiner Zeit nicht identifizieren konnte. So ganz richtig ist das auf den zweiten Blick aber nicht, denn wenn man im Auge behält, daß für Löwith nicht nur Max Weber, sondern auch Albert Schweitzer oder etwa Karl Barth, also profiliert christliche Denker, als Vorbild galten, so zeigt sich, daß es Löwith nicht in einem dogmatischen Sinne um die Frage nach der Existenz Gottes bzw. die Widerlegung der christlichen Religion ging – als Philosoph konnte er dazu ohnehin keine wissenschaftlichen Aussagen machen (auch wenn er keine Zweifel daran ließ, wie er diese Frage persönlich beantworten würde). Entscheidend ist für ihn die Frage nach einer grundsätzlichen Positionierung zur herrschenden Gesellschaftsform und Kultur. Gerade die Esoterik der Lebensreform mit ihrem revolutionären Impetus des »Einen, was Not tut«, mit dem Anspruch, die Wahrheit bereits zu kennen und mit der Forderung, alles müsse nun anders werden, ist für Löwith regelrecht abstoßend, weil er darin eine Spiegelung des Zeitgeistes erkennt. Religion übt dort einen Reiz auf Löwith aus, wo sie sich, an einer entschiedenen Ethik orientiert, als Gegenkraft versteht, wo sie

59 Karl Löwith an Leo Strauss, 31.VIII.1948; in Leo Strauss: Gesammelte Schriften; S. 672. 60 Karl Löwith an Eric Voegelin, 6.VI.1952. In Karl Löwith / Eric Voegelin: Briefwechsel. Mit einer Einleitung von Peter J. Opitz. In Sinn und Form, Heft 6/2007, S. 764794, S. 793.

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Selbstbesinnung und Kontemplation oder ruhige Tätigkeit im Sinne eines positiven Wertekanons verlangt – wie etwa bei Albert Schweitzer.

Nach Wissenschaft als Beruf: Wissenschaftliche Leidenschaft zwischen Aristoteles und moderner Naturwissenschaft

Zum Verhältnis von Theorie und Praxis Aus diesem Bekenntnis zu Weber entwickelt sich bei Löwith im Laufe seines Lebens eine wissenschaftliche Haltung, die sich explizit auf das Theorieverständnis von Aristoteles beruft. Die Frage nach seiner Stellung zu Philosophie und Wissenschaft, aber auch zum Erleben und Begreifen der Wirklichkeit stellt sich, wie gezeigt, für Löwith schon früh. Er selbst bezeichnet sie als »[m]ein spezif[isches] Thema das mir am Herzen liegt«1. Auch die Frage nach der eigenen Position und Motivation hat er sich schon früh gestellt und in einem Brief an Heidegger aus dieser Zeit auch beantwortet: »Hab ich das Zeug zum Philosophen d. h. zu was für einen Ph[ilosophen] langt es? […] Ich weiss auch nicht recht wie ich mich zu der geforderten sog[enannten] sachlichen Leidenschaftlichkeit des Denkens stellen soll – mit ›dem Hammer‹ phil[osophiere] ich auch nicht – womit denn? Vielleicht noch am besten gesagt mit innerer Unzufriedenheit u[nd] Klarheitsbedürfnis u[nd] Neugierde – denken-müssen gehört zu meinem Leben u[nd] doch treibt es mich nicht mit übermächtiger Gewalt einer, der Bestimmung entgegen.«2 Die Frage, die sich daraus entwickelte und für Löwith im späteren Leben zur bestimmenden, um nicht zu sagen: zur einzig philosophische Frage geworden und geblieben ist, ist die nach dem Verhältnis des Men-

1

Karl Löwith an Martin Heidegger, 26.II.1921; Marbach/Neckar, Deutsches Literatur-

2

Karl Löwith an Martin Heidegger, 18.II.1921; Marbach/Neckar, Deutsches Literatur-

archiv, A: Heidegger. archiv, A: Heidegger.

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schen »zum Ganzen in seiner wahren Proportion […]. Das Ganze des Seienden nennen wir aber gemeinhin Weltall oder Welt.«3 Diese Frage nach dem Ganzen und dem Verhältnis des Menschen dazu ist aber eine geistige Kontemplation, die sich nicht mit unmittelbaren Zielen in Verbindung bringen läßt. Sie hat bei Aristoteles, auf dessen Theoriebegriff Löwith sich bezieht, keinen praktischen Zweck: »Wenn also einer die Theorie besitzt ohne die Erfahrung, und das Allgemeine kennt, aber das darunter fallende Einzelne nicht kennt, so wird er in der Praxis oftmals fehlgreifen. Denn Gegenstand der Praxis ist das Einzelne. Gleichwohl ist die allgemeine Ansicht, daß der Theorie die Erkenntnis und das praktische Verständnis in höherem Maße innewohne als der Erfahrung, und man hält den Theoretiker für einsichtsvoller als den Praktiker, sofern Einsicht jedem in um so höherem Maße eignet, als der Grad seiner Erkenntnis ein höherer ist, und zwar weil der eine die ursächlichen Zusammenhänge versteht, der andere nicht. Denn der Praktiker weiß wohl um das Daß, aber nicht das Warum; der Theoretiker aber weiß das Warum und den Kausalzusammenhang.«4 Daher ist der Theoretiker der geborene Lehrer – eine Rolle, die Löwith in der Nachfolge Webers auch dem Universitätsprofessor und Wissenschaftler zuweist.5 In der Theorie spiegelt sich also für Aristoteles kein direkter Zweck, und ihre eigentliche Voraussetzung ist nichts anderes als das Staunen über das, was ist. Bei der Betrachtung des Kosmos geht es um die Ordnung der Dinge, um die Frage, was für uns erstrebenswert ist, was wir für wirksam und wertvoll halten. Am wertvollsten ist für Aristoteles jedoch das, was wir lieben, wozu wir nicht gegen unseren Willen gezwungen sind, sondern das einfach so ist, wie es ist: »das Wachsein, die Wahrnehmung, das Denken […] und um ihretwillen auch Hoffnung und Erinnerung.«6 Löwiths Aristoteles-Interpretation geht von diesem Staunen aus und gibt ihm eine konstitutive anthropologische Funktion: er hebt immer wieder insbesondere darauf ab, daß die »Bemühung um ein solches Wissen, rein um des Wissens willen […] die ausgezeichnete Weise [ist], in welcher der Mensch am meisten bei sich und zugleich bei der Sache ist. Es liegt in der Natur der Menschen, daß er,

3

Karl Löwith: Zur Frage einer philosophischen Anthropologie (1975). In id.: Schriften

4

Aristoteles: Metaphysik, I, 1. 981a. Ich zitiere nach der Übersetzung von Adolf

1; S. 329-341, S. 330. Lasson, Jena 1924. 5

Denn, so heißt es bei Aristoteles, »ist dies das Kennzeichen des Wissenden, daß er andere zu unterweisen vermag, und aus diesem Grund nennen wir die Theorie in höherem Grade wissenschaftlich als die bloße Erfahrung« Ibid., 982 a4.

6

Ibid., XII, 7. 1072 b18.

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über alle beschränkte, praktische Absicht und Umsicht hinaus – um des Sehens willen sehen und um des Wissens willen wissen kann und also sein ganzes Leben der Ausbildung der Theorie widmet, statt in Geschäften aufzugehen.«7 Das ist Löwiths persönliche Übersetzung von Webers so »prätentiösem« Leidenschaftsbegriff. Er folgt Weber – und Aristoteles – auch ein Stück weit in dem geistesaristokratischen Anspruch, den er einerseits praktisch legitimiert, andererseits fast schon zu einem Merkmal des Übermenschen verklärt: »Diese Art der theoretischen Hinsicht und Einsicht beginnt man aber erst zu suchen, wenn die Menge der praktischen Bedürfnisse bereits befriedigt ist. Und weil die meisten Menschen zeitlebens genötigt sind, für die Befriedigung zahlloser praktischer Bedürfnisse zu sorgen, ist die Beschäftigung mit der Philosophie nicht für die Menge, sondern nur für Wenige und beinahe mehr als menschlich.«8 Für Löwith

7

Karl Löwith: Einleitung. In id. (ed.): Die Hegelsche Linke. Texte aus den Werken von Heinrich Heine, Arnold Ruge, Moses Hess, Max Stirner, Bruno Bauer, Ludwig Feuerbach, Karl Marx und Sören Kierkegaard; Stuttgart 1988, S. 7-38, S. 36.

8

Ibid. Allerdings würde man es sich zu einfach machen, in Löwiths Formulierung eine elitäre Beschränkung auf Gruppen mit materiellem oder generell gesellschaftlichem Wohlstand hineinzulesen. Löwith spricht hier auch aus eigener Lebenserfahrung; dazu gehören Inflationszeit, Wirtschaftskrise und Exil – Zeiten also, in denen dem Philosophen Löwith die Befriedigung selbst rudimentärer »praktischer Bedürfnisse« keineswegs garantiert war. Dem steht die Erfahrung gegenüber, daß viele bereits arrivierte Kollegen jeden Anspruch an Geistesaristokratie und Philosophie bereitwillig aufgaben, um die eigene Position und die damit verbundenen Bedürfnisse nicht zu gefährden. Heute, wo wir alle mehr oder weniger Teil einer Wohlstandsgesellschaft sind, stellt sich die Frage nach Erfüllung der wirklich notwendigen Bedürfnisse streng genommen überhaupt nicht mehr – in unserem subjektiven Empfinden als Konsumenten jedoch jederzeit, im Kontakt mit Menschen und Medien ebenso wie in unserem Einkaufsverhalten und unserem Fortschrittsglauben. Wie diese Frage individuell beantwortet wird, scheint heute mehr denn je eine ganz persönliche Willensentscheidung zu sein; daß auch Löwith das so empfand, belegt sein hoher Respekt vor den asketischen Aspekten etwa des Christentums, deren Vertretern er wohl kaum einen Mangel an dieser übermenschlichen Qualität der Wahrheitssuche abgesprochen hätte. Und so zitiert er, durchaus zustimmend, Jacob Burckhardt mit Sätzen, die sich in einer etwas unbescheidenen Auslegung auch auf Löwiths eigene Biographie beziehen lassen: »Burckhardt bemerkt, daß sich die griechischen Philosophen vom vierten Jahrhundert an von der Polis zurückzogen, um in der Philosophie ein Refugium zu finden, ›wie es zur christlichen Zeit die Religion war‹. Denn es liegt überhaupt ein Zug in der Natur des Menschen, daß er ›verloren in der großen, bewegten äußeren Welt, sich und sein

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ist die theoretische Betrachtung die Eigenschaft, die den Menschen im eigentlichen Sinne zum Menschen werden läßt, und als solche hat sie auch eine eigene, ganz entschieden sittliche Dimension. Denken, Theorie, Wissenschaft ist für ihn die Tätigkeit, die zum Glück führt und die daher hilft, die Leiden der Welt und die Wirklichkeit des irdischen Lebens durch den Geist zu überwinden. Es ist diese reflektierende Umgangsweise mit der Welt, die für Löwith typisch menschlich ist und ihn Aristoteles zustimmen läßt, wenn dieser schreibt: »die Wirksamkeit des denkenden Geistes ist Leben.«9 Deshalb setzt Löwith auch die Unterscheidung »zwischen theoretischem Wissen und praktischem Handeln« und die Auffassung, daß »die theoretische Besinnung […] Vorrang vor der Praxis

eigenes Selbst in der Einsamkeit wiederzufinden sucht‹, und diese wird um so viel abgeschlossener sein müssen, je tiefer er sich zuvor draußen innerlich entzweit und zerrissen gefühlt hat. So entstand zur Zeit des Konstantin das Einsiedlerwesen und aus ihm das Mönchstum. ›Wer aber dem modernen geschäftigen Treiben und der allersubjektivsten Lebensauffassung anheimgefallen ist und von diesem Gesichtspunkt aus jene Einsiedler gerne in eine Zwangsarbeiteranstalt stecken möchte, der halte sich nur selber nicht für sonderlich gesund; dieser Ruhm käme ihm so wenig zu als manchen Leuten des vierten Jahrhunderts, welche zu schwach oder zu oberflächlich waren, um die geistigen Mächte auch nur zu ahnen, die jene Riesennaturen in die Wüsten trieben.‹« (Karl Löwith: Jacob Burckhardt. Der Mensch inmitten der Geschichte (1936). In id.: Schriften 7; S. 39-361, S. 162f.). Dieses Merkmal einer Abkehr von der Welt hat dabei in Löwiths Deutung zwei Ursachen; zum einen natürlich (wie bei Burckhardt) der Versuch, sich moralisch nicht durch eine Gesellschaft, die als verdorben erlebt wird, korrumpieren zu lassen. Näher am Kern der Sache liegt aber auch hier ein Ernstnehmen des individualistisch verstandenen wissenschaftlichen Ethos, das seine eigene Moral besitzt – so wie wir es auch bei Paul Valéry finden: »Ich nenne als Beispiel die Muße; sie ist das Freisein der Zeit und das Vermögen, über diese Zeit zu verfügen, ohne Rechnung legen zu müssen. Wir aber leben und mühen uns im Gegenteil unter dem Druck der Stunden, immer dabei, dem sinnlosen Hasten der Welt die Zartheit und die Tiefe unserer Arbeiten abzuringen. Des Daseins Notdurft und die Zwänge des zu schwer von außen her und nach außen hin verfaßten Lebens erlauben uns nicht mehr die Unablässigkeit des Forschens, nicht mehr die immer wieder neu in Angriff genommenen Bemühungen um Erkenntnis und Ausdruck und bringen die Ausformung jener langsamen und voller Launen steckenden, von innen her gespeisten Ordnungsvorgänge in Verwirrung, deren Ausstrahlung die ganz großen Werke sind.« (Paul Valéry: Vorspruch. In id.: Über Kunst. Essays; Frankfurt/Main 1962, S. 146157, S. 150. 9

Aristoteles, Metaphysik; XII, 7. 1072 b24.

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des Tuns hat« analog mit der besonderen Fähigkeit des Menschen, erst nach planender Überlegung zu handeln; denn: »er handelt nicht blindlings und triebhaft. Er kann nur menschlich handeln, wenn er weiß, was er will und zum Gewollten einen theoretischen Abstand hat.«10 Trotzdem wäre die Annahme falsch, daß Löwith die theoretische Betrachtung dazu dient, über die Theorie zu einer gewissen, wie auch immer zu entwickelnden und unfertigen Art des Wissens und damit zu einer belastbaren Handlungsgrundlage zu gelangen. Schon bei Aristoteles ist mit der Theorie keine zweckgebundene Indienststellung für die Praxis gemeint und bezweckt – und auch für Löwith wäre eine Haltung, die »ein Verhältnis der bloßen Anwendung von Theorie auf Praxis und Zuwendung der Praxis zur Theorie« schafft, abzulehnen, weil es der Theorie eine zweckgebundene Stellung für die Praxis zuweist und damit dem »Standpunkt der positiven Wissenschaften«11 kennzeichnet. Aristoteles wie Löwith geht es stattdessen um eine Einheit von Denken und Streben, die sich insbesondere bei Löwith beinahe auf ein Streben nach der reinen denkerischen Betrachtung der Welt reduzieren ließe. Dieses Streben ist nicht zielgerichtet, sondern läßt sich am ehesten mit dem Spiel vergleichen – nicht umsonst war Löwith Zarathustras Rede von den drei Verwandlungen das philosophische Maß, an dem er nicht zuletzt Nietzsche selber maß! Hier, in der letzten, schwersten Verwandlung des Geistes zum Kind, das »Unschuld ist […] und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen«12 liegt auch für Löwith der höchste Ausdruck des menschlichen Geistes, auch deshalb, weil der Mensch selbst lebt, indem er spielt, Rollen übernimmt, ausfüllt, wieder ablegt. 13

10 Karl Löwith: Marxismus und Geschichte (1958). In id.: Schriften 2; S. 330-345, S. 341. 11 Beide Zitate aus id.: Theorie und Praxis als philosophisches Problem (1931). In id.: Schriften 5; S. 46-61, S. 46. 12 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen; Leipzig 1901, S. 35. 13 Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen, was für ein enges Verhältnis zwei weitere Autoren, die auf Löwith großen Einfluß ausübten, zum Spiel hatten – und so lassen sich die folgenden Sätze ohne weiteres als Vorgriff auf Löwiths eigene Anthropologie lesen: »Man ist auf diese gleichbleibende Neigung Goethes, zu mystifizieren, Versteck zu spielen, besonders seit Georg Simmels Hinweisen aufmerksam geworden. […] Spielen, das heißt, sich ganz den Dingen hingeben, sich von sich selber befreien und von dem Lebensstrom des Seinsbereiches durchströmen und durchformen lassen. […] Wenn wir das Wort Persönlichkeit in solchen Goetheschen Zusammenhängen über-

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Die Suche nach verläßlichen Maßstäben und Handlungsanleitungen steht dabei nicht am Anfang, sie ereignet sich quasi als ein Nebenprodukt der theoretischen Weltbetrachtung. Theoretische Schau ist für Löwith der Anfang von allem – erst aus ihr kann sich eine wirkliche Person entwickeln, die überhaupt in die Lage kommen kann, frei und ungebunden Möglichkeiten abzuschätzen und dann eigene, unabhängige Entscheidungen zu treffen. Als solches ist es von seinem ursprünglichen Anspruch her absolut radikal, weil es sich nicht in den Dienst von Zwecken stellen läßt, sondern im Gegenteil die gesamte Praxis auf den Prüfstand stellt. Für ihn ist »die ganze reine Philosophie« nur dann nicht »eine Art Witz«, wenn sie in der Negation »der Praxis als solche […] die einzig mögliche Konsequenz jeder aus sich selber begründenden Philosophie, jeder philosophischen Theorie auf dem Standpunkt der philosophischen Theorie«14 erkennt. Das ist nun aber eine Haltung, die Löwith selbst als fragwürdig empfindet, allerdings nicht weil er diese These für falsch hält, sondern weil sie grundsätzlich nicht mit der »Auflösung des Glaubens an die eigenständige Macht des Geistes und mithin auch der selbständigen Theorie«15 und damit auch mit dem Selbstverständnis der

haupt verwenden wollen, dann nur im Sinn der (freilich umstrittenen) Etymologie: personare als sich durchtönen lassen, als Maske-tragen, als Rolle-spielen, nicht aber als Beharrung im Individuellen. Gerade davon befreien wir uns im echten Spielen: ›Unser ganzes Kunststück besteht darin, daß wir unsere Existenz aufgeben, um zu existieren.‹ Die Hingabe und Bereitschaft zur Verwandlung im Spielen muß gänzlich sein und unvorsichtig: jede Vorsicht auf Nutzen und Ergebnisse würde ablenken und beirren. Es waltet in solchen Überzeugungen ein tiefes, religiöses Vertrauen: alle Produktivität, die vom Lebensstrom durchflutet ist, erfüllt den Sinn des Lebens, des Daseins: ›Der Sinn des Lebens ist das Leben selber.‹« (Wolfgang Kayser: Kunst und Spiel. Fünf Goethe-Studien; Göttingen 1967, S. 38-40) 14 Karl Löwith: Theorie und Praxis als philosophisches Problem (1931), S. 58. In diesem Anspruch an das theoretische Denken trifft sich Löwith mit Albert Camus, der im Denken den Versuch sah »eine Welt erschaffen [zu] wollen (oder die eigene ab[zu]grenzen, was auf dasselbe hinauskommt). Es heißt: von dem grundsätzlichen Mißverständnis ausgehen, das den Menschen von seiner Erfahrung trennt, und seinem Heimweh entsprechend ein Gebiet des Einverständnisses finden, ein von Vernunftgründen eingeengtes oder von Analogien erhelltes Universum, das eine Lösung des unerträglichen Zwiespalts erlaubt. Der Philosoph ist, auch wenn er KANT heißt, ein Schöpfer. Er hat seine Gestalten, seine Symbole und seine heimliche Handlung.« (Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Mit einem kommentierenden Essay von Liselotte Richter; Hamburg 1975, S. 83f.) 15 Karl Löwith: Theorie und Praxis als philosophisches Problem (1931), S. 60.

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Moderne in Einklang zu bringen ist. Gleichzeitig hat auch Löwith begriffen, daß eine solche Radikalität, insbesondere, wenn sie nicht absurd ist, sondern von der Praxis motiviert und in den Dienst der Praxis gestellt wird, durch die Aufhebung aller Verhältnisse oft mehr Schaden anrichtet als sie Gutes zu bringen vermag. Für Löwith ist die Aufgabe der Vorstellung einer radikal eigenständigen Theorie auch die Ursache einer geisteswissenschaftlichen und geistigen Krise des Menschen. Denn wenn die zweckfreie theoretische Reflexion ihren Vorrang als höchste menschliche Tätigkeit verliert und in den Dienst von Zwecken gestellt wird, bedeutet das für Löwith zunächst einen Verlust an Freiheit, der sich auf alle menschlichen Tätigkeitsbereiche auswirkt. Die großen Fragen werden nicht mehr gestellt, Denken wird in ein Schema eingespannt und der Mensch ist nicht mehr Selbstzweck, sondern bloßer Zweck im Sinne einer wie auch immer gearteten Praxis. Mit Blick auf die Philosophie bedeutet das: Durch die Auflösung eines klaren Begriffes von der Aufgabe und den Möglichkeiten der Theorie ist eine »Überfülle an einzelnen ›Gesichtspunkten‹ für die Interpretation des Geistes«16 entstanden, die Löwith durchweg für unbefriedigend hält – sie können lediglich »primitive […] unbestimmte und dogmatische Antworten«17 geben – gleichviel, ob es sich dabei um Marx oder die verschiedenen Spielarten der Lebensphilosophie von Klages über Freud bis hin zu Dilthey handelt. Um dieses Problem zu lösen, sieht Löwith die Notwendigkeit zu einer grundsätzlichen Klärung der Begriffe und Vorstellungen von Philosophie und Wissenschaft bzw. von Erleben und theoretischem Denken; und das bedeutet 1931 für ihn als Forschungsaufgabe zunächst die Rückkehr zur menschlichen Lebenswirklichkeit: »Eine solche, sich von selbst aufdrängende und allgemein-menschliche Wirklichkeit ist heute zweifellos die der sozialen und wirtschaftlichen Lebensfragen.«18 Doch auch später hält Löwith an dieser Verknüpfung von Theorie und menschlicher Lebenswirklichkeit fest. Für ihn muß sich die Wirklichkeit theoretischen Denkens an der erfahrbaren Wirklichkeit der menschlichen Existenz orientieren – auch wenn er diese später zunehmend kosmologisch sieht. Teil dieser Kritik der Moderne ist Löwiths Widerstand gegen die Aufhebung des Unterschiedes von facere und intellegere, also von schaffen und verstehen. Löwith hält es für fatal, alles was man tun kann (weil man die Funktionsweise verstanden zu haben glaubt) auch wirklich zu tun. Diesen Drang sieht Löwith vor allem in der modernen Naturwissenschaft seit Bacon verkörpert: »Wissen ist als Verursachen und Machenkönnen geradezu Macht, nämlich über die Kräfte

16 Ibid. 17 Ibid. 18 Ibid., S. 61.

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der Natur mittels der Naturwissenschaft. Das Programm von Bacons wissenschaftlicher Utopie Nova Atlantis ist: ›to manage to handle everything‹, z.B. durch Umwandlung der Elemente, durch Erzeugung künstlicher Stoffe, nicht zuletzt des Lebenselixiers. Was sich Bacon ausgedacht hat, ist inzwischen Realität geworden«.19 Das Resultat ist für Löwith, daß »die Wissenschaft […] das gute Gewissen zum sens commun und zum bon sens zerstört. […] Für den bon sens gibt es nur menschliche Maßstäbe; aber die Macht der wissenschaftlichen Analyse und Berechnung entfernt sich immer mehr von allem bloß Menschlichen.«20 Diese Entfernung bedeutet für ihn nichts anderes als Verlust aller menschlichen Maßstäbe, die bisher eine Gesellschaft zusammenhalten konnten und die Voraussetzung für menschliches Handeln (auch im moralischen und politischen Sinn) bildeten. Löwiths Ruf nach einer Restitution der Theorie gegen die Praxis ist daher auch ein Ruf nach der Restitution menschlicher Maßstäbe für eine menschliche Gesellschaft, ein aus der theoretischen Betrachtung entstandener Aufruf zur Selbstbeschränkung und zum Machtverzicht der Menschen. Aus dieser Perspektive wäre Löwiths Berufung auf Hegels Satz von der weltverändernden Potenz der Theorie uneingeschränkt zu rechtfertigen.21 Diese Weltveränderung ist aber nichts, was sich planvoll vorgeben und zielgerichtet, praktisch, anstreben ließe. Eher ließe sie sich als buchstäblich notwendige, aber nicht klar bestimmbare Konsequenz aus einer veränderten Herangehensweise beschreiben. Vor allem aber ist sie für Löwith als eine theoriebestimmte Weltveränderung vollkommen unmöglich, solange sich die Theorie ihrerseits von der Praxis, von Parteimeinungen und persönlichen Wertungen bestimmen läßt. Theorie als Wissenschaftskritik – Möglichkeit und Aufgabe der Philosophie Daher wendet sich Löwith gegen das »moderne Denken […] in all seinen wissenschaftlichen und philosophischen, ›bürgerlichen‹ und ›marxistischen‹ Formen«, weil es lediglich »praktisch interessiert« sei: »[E]s lebt und existiert nicht im Sehen um der Existenz willen, sondern umwillen einer individuell oder kollektiv gefaßten bedürftigen Existenz, deren Sicht genau so weit reicht, als sie sich im Umkreis einer praktischen Umsicht und einer sorgenden Voraussicht

19 Id.: Vicos Grundsatz: verum et factum convertuntur. Seine theologische Prämisse und deren Konsequenzen (1968). In id.: Schriften 9; S. 195-227, S. 210. 20 Id.: Paul Valéry. Grundzüge seines philosophischen Denkens (1971). In id.: Schriften 9; S. 229-400, S. 295. 21 Vgl. id.: Theorie und Praxis als philosophisches Problem (1931), S. 61.

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hält«. Die Folgen sind, so Löwith, fatal und führen zwangsläufig in Unfreiheit und Totalitarismus: »Wo immer aber ein ›Interesse‹ den Anblick […] der Welt erschließt und verstellt, wird die Idee zur Ideologie, auch wenn man den Ideologiebegriff des Marxismus bekämpft, und für die ›Freiheit der Wissenschaft‹ ist – als ließe sich ein freies Wissen ohne die aristotelische Hochschätzung der sich selber genügenden Theoria begründen.«22 Diese Sätze dienen Löwith hauptsächlich zur Kritik an seiner eigenen Zunft. Er erkennt sehr gut, daß die Welt, in der die Theorie Vorrang vor der Praxis hat, nicht die Welt ist, in der wir heute leben, viel weniger noch als es in der Antike der Fall war. Die praktisch orientierten Naturwissenschaften sind es, die Geschichte und weitere Entwicklung des Menschengeschlechtes bestimmen. Das liegt an ihren unmittelbaren Erfolgen und Auswirkungen auf das menschliche Leben, aber nicht zuletzt auch daran, daß der Anspruch der Theorie, »sich schon bei jeder Einzelheit auf das Ganze des Seienden«23 zu besinnen, kaum leistbar scheint – was Löwith allerdings vor allem in der geistfeindlichen Haltung der modernen Philosophie begründet sieht. Er wirft ihr gemeinsam mit Julien Benda vor, durch die Aufgabe der vorrangigen Stellung der Theorie »Verrat am Geist«24 begangen zu haben. Deshalb fehlt ihr »das gute Gewissen zur rationalen europäischen Überlieferung, welches zuletzt noch Hegel besaß, indem er den Geist als Freiheit bestimmte und diese als ›Beisichselbstsein im Anderssein‹. Das gegenwärtige europäische Denken ist nicht mehr im Ganzen der Welt zu Hause, es müht sich vergeblich ab, die Entsprechung von Sein und Dasein oder von Welt und Mensch mit den überlieferten Mitteln erreichen zu können. Es wartet auf eine neue Offenbarung des Seins und auf das ›Geschick einer Schickung‹.«25 Löwiths Vorwurf an die Philosophie seiner Zeit, namentlich an Jaspers und Heidegger ist, daß sie den Versuch, das Ganze zu denken oder sich ihm denkerisch zu nähern, nicht einmal mehr wagt, sondern dort, wo sie sich überhaupt mit ihm beschäftigt, Realitäten ignoriert, auf Offenbarungen baut und damit kritische Methode ebenso ausgrenzt wie Erkenntnisse der Naturwissenschaft: »Die Philosophie versteht sich jetzt nicht mehr als Wissenschaft, sie hat auch kein positives

22 Id.: Einleitung. In id. (ed.): Die Hegelsche Linke, S. 34. 23 Id.: Geschichte und historisches Bewußtsein (1966). In id.: Schriften 2; S. 411-432, S. 427. 24 Vgl. id.: Marxismus und Geschichte (1958), S. 343. Löwith bezieht sich dabei auf Julien Benda: Der Verrat der Intellektuellen; München 1978. 25 Karl Löwith: Bemerkungen zum Unterschied von Orient und Okzident (1960). In id.: Schriften 2; S. 571-601, S. 599.

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Verhältnis mehr zur Naturwissenschaft, wohl aber appelliert sie gern an die Dichtung«26. Löwith hingegen hält ausdrücklich fest, es handele sich bei philosophischen Annahmen ebenso wie bei der Physik keineswegs um »verschiedene, aber an sich gleichwahre und gleichberechtigte ›Auffassungen‹, Interpretationen oder Entwürfe, sondern [um] widerlegbares und beweisbares Wissen, und zwar wissenschaftliches.«27 So kommt es, daß über alles, was jenseits des Vorhandenen liegt, für Löwith keine verläßlichen Aussagen – und schon gar keine positiven Aussagen – zu treffen sind: »›Das ungesehene Mass der Dinge‹ ist zwar ungesehen, aber keine res speranda. Darum schloss ich ja auch m[ein] Buch mit dem ›Epilog‹ der die Hoffnung an sich in Frage stellt.«28 Es dürfte klar geworden sein, daß diese Ablehnung jeglicher Offenbarung und die Infragestellung der »res speranda« sich nicht nur auf die im engeren Sinne religiöse oder gar nur die christliche Offenbarung erstreckt. Dieser Irrweg der Philosophie verstärkt für Löwith noch die methodische Schwäche der Naturwissenschaft und des praktischen Denkens. Seine Formulierung, es sei das »›Interesse‹, das den Anblick […] der Welt erschließt und verstellt«, zeigt deutlich, daß von diesem interessegeleiteten Denken zwar durchaus Erkenntnisse, aber eben auch Verirrungen zu erwarten sind, wobei die einen wie die anderen hochgradig individuell bleiben und damit jeden Anspruch auf universale Gültigkeit verlieren. Nicht zuletzt deshalb bezieht sich schon der junge Löwith 1927 auf Textstellen bei Goethe und Nietzsche, aus denen er die nicht nur »methodische Schwierigkeit« ableitet, »sein (was etwas ist) und bedeuten (was etwas bedeutet), Tatsache und Sinn (Wert) zusammenzubringen bzw. auseinanderzuhalten. Und von der Auslegung als solcher her gesprochen: die, auf dem Boden eines bestimmten Ansatzes von Sein, nämlich eines abgesehen von uns Menschen an-sich-seienden Seins erwachsende methodische Schwierigkeit: ein sinnbares Ansichseiendes ohne bloße Hineinlegung eines Sinnes auszulegen.«29 Aber gerade damit beschreibt er die methodische Zweideutigkeit auch seines eigenen Ansatzes.

26 Id: Wahrheit und Geschichtlichkeit (1969/70). In id.: Schriften 2; S. 460-472, S. 470f. 27 Ibid., S. 470. 28 Karl Löwith an Eric Voegelin, 11.II.1950. In Karl Löwith / Eric Voegelin: Briefwechsel. Mit einer Einleitung von Peter J. Opitz. In Sinn und Form, Heft 6/2007, S. 764794, S. 789 29 Karl Löwith: Nietzsche im Licht der Philosophie von Ludwig Klages (1927). In id.: Schriften 6; S. 7-52, S. 36. Die Texte, von denen Löwith hier ausgeht, sind Goethes »Das Höchste wäre zu erkennen, daß alles Faktische schon Theorie ist« und Nietzsche: »Gegen den Positivismus würde ich sagen: Nein, gerade ›Tatsachen‹ […]

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Diese Art der Fragestellung und die damit verbundene Abstrahierung wird für Löwith zu einer Frage des wissenschaftlichen Ethos, und es ist durchaus als polemische Spitze gegen seinen Lehrer Martin Heidegger zu lesen, wenn er nach 1933 ausgerechnet über den von Heidegger in Freiburg ins Abseits gedrängten und ignorierten Edmund Husserl schreibt: »Diesem Festhalten an der Freiheit theoretischen Forschens entspricht die dazugehörige Überzeugung, die Husserls Unterricht ständig bezeugte, daß sich die Philosophie lehren und lernen lasse und daß sie aufhöre, wissenschaftlich zu sein, wenn sie privaten ›Meinungen‹, ›Weltanschauungen‹ und ›Standpunkten‹ Raum gibt. […] Eine solche Idee der wissenschaftlichen Philosophie steht und fällt aber mit dem Ethos der Theoria. Wenn aber, wie das schon längst der Fall ist, die im weitesten Sinn ›praktischen‹ Motive übermächtig werden, nicht zuletzt in der Wissenschaft, und die Philosophie als theoretische Wissenschaft der Prinzipien zum Absterben bringen, dann wird dieses Versagen des theoretischen Ethos selbst zu einer eminent praktischen Frage der heutigen Menschheit, die einerseits durch ihre und von ihrer Wissenschaft lebt und andererseits in ihren höchsten Bewußtseinsformen nicht mehr an sie glaubt oder an ihr vorbeigehen zu können vermeint.«30 Löwiths Berufung auf Aristoteles dient also dazu, eine freiere Stellung zur Welt zu finden, die dem Menschen gemäßer ist, sich ihre Unabhängigkeit von den Interessen des Tages bewahrt und sich nicht instrumentalisieren läßt. Sie hat, anders als Jürgen Habermas es mit seiner Formulierung von Löwiths »stoischen Rückzug vom historischen Bewußtsein« nahelegt, sehr wohl weitreichende, auch politische Konsequenzen.31 Löwiths Denken soll gerade nicht dazu dienen, einen praktischen Führungsanspruch der Philosophen zu rechtfertigen. Im Gegenteil zielt sein Ansatz einer skeptischen Philosophie allerdings gerade darauf ab, Autoritäten zu hinterfragen und nicht darauf, ihnen unkritisch zu folgen. Auch das ist eine sehr politische Position. Wenn ein Philosoph Maßstäbe setzen oder auch nur Texte besser verstehen kann als es noch ihr Autor konnte – ein Anspruch, an dem Löwith ausdrücklich festhält –, so liegt das lediglich an seiner Möglichkeit, Kontexte und Bedingtheiten rückblickend besser einzuschätzen. Der Philosoph ist damit ein

gibt es […] nicht, nur Interpretationen […]; wir können kein Faktum an sich […] feststellen, vielleicht ist es ein Unsinn, so etwas zu wollen […]; man sagt […], es ist alles ›subjektiv‹, aber schon das ist […] Auslegung«. Zitiert nach ibid., S. 35f. 30 Id.: Eine Erinnerung an E. Husserl (1959). In id.: Schriften 8; S. 235-241, S. 239. 31 Vgl. den Titel eines Aufsatzes von Jürgen Habermas über Karl Löwith, erschienen in Philosophisch-politische Profile; Frankfurt/Main 1987, S. 195-216. Auf diese politischen Konsequenzen aus Löwiths Denken wird noch genauer einzugehen sein.

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Zeuge, der aus der Gegenwart auf die Geschichte schaut und aus der Geschichte für die Gegenwart Bedeutsames gewinnt, womit sich auch die ungewöhnliche Perspektive – von Heidegger zu Augustinus und den Urchristen fortschreitend –, in der Löwiths klassisches Buch Weltgeschichte und Heilsgeschehen geschrieben ist, erklärt. Löwith bezieht sich dabei auf Nietzsches Aphorismus 34 aus der Fröhlichen Wissenschaft.32 Anders als etwa bei dem Georgeaner Gundolf, für den der große, schöpferische Mensch es ist, der sich durch seine Wirksamkeit immer wieder neu offenbart und fortzeugt,33 ist Löwiths Anknüpfung an diese Stelle eine durch und durch skeptische, die einen ständigen Dialog mit dem Vergangenen ebenso voraussetzt wie die konsequente Relativierung des eigenen Erkenntnishorizonts. Er unterscheidet sehr stark zwischen dem Ereignis und seiner Rezeption. Auch für ihn ist die Art, wie wir Geschichte sehen, durch die »Folgen und Wirkungen« eines Ereignisses bedingt. Auch für ihn sind diese höchst wandelbar – doch diese Wandelbarkeit ist für Löwith kein Ausweis der Größe, sondern eher der Natur der Geschichte selbst, da sie »geschichtsmäßig bleibt und sich in einer unberechenbaren Weise auswirkt«.34 Wo es nur solche »Interpretationen« und auslegende »Hineinlegungen« gibt, kann die Theorie, wie die Geschichtsschreibung, trotz aller »Wissenschaftlichkeit« keinen universalen Wahrheitsanspruch für sich reklamieren. So mag man sich wissenschaftlich mit dem »Ganzen« befassen und sogar von »Wissen« und Wahrheiten reden, aber diese Wahrheiten sind nicht unumstößlich, sondern müssen – und hierin weiß sich Löwith mit Goethe einig – »von Zeit zu Zeit umgeschrieben«35 werden: »Es ist das Vorrecht der Theologie und Philosophie, Fra-

32 »H i s t o r i a

a b s c o n d i t a . – Jeder grosse Mensch hat eine rückwir-

kende Kraft: alle Geschichte wird um seinetwillen wieder auf die Wage gestellt, und tausend Geheimnisse der Vergangenheit kriechen aus ihren Schlupfwinkeln — hinein in s e i n e Sonne. Es ist gar nicht abzusehen, was Alles einmal noch Geschichte sein wird. Die Vergangenheit ist vielleicht immer noch wesentlich unentdeckt! Es bedarf noch so vieler rückwirkender Kräfte.« (Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft (»la gaya scienza«); Leipzig 1900, S. 73) 33 Vgl. Ulrich Raulff: Des Lesens Anfang ist das Ende der Legende. George und Nietzsche: Fragmente zu einem Doppelportrait. In Text + Kritik X/05, S. 76-85, S. 83f. 34 Karl Löwith: Geschichte und historisches Bewußtsein (1966), S. 420. 35 Die gesamte Textstelle, die Löwith wiederholt zustimmend zitiert, lautet: »Daß die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse, darüber ist in unsern Tagen wohl kein Zweifel übrig geblieben. Eine solche Notwendigkeit entsteht aber nicht etwa daher, weil viel Geschehenes nachentdeckt worden, sondern weil neue An-

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gen zu stellen, die sich empirisch nicht beantworten lassen. Von dieser Art sind diejenigen Fragen, die erste und letzte Dinge betreffen; sie behalten gerade deshalb ihre Bedeutung, weil keine Antwort sie zum Schweigen bringt.«36 Löwith treibt diese methodische Zweideutigkeit auf die Spitze, indem er seinen Theoriebegriff von erlebter und praktischer, »faktischer« Wirklichkeit völlig abstrahiert und zusammenfassend schreibt: »Insofern sind Mythen oft philosophischer als eine wie immer geartete Geschichtsphilosophie, weil sie Anfang und Ende des Menschengeschlechts ersinnen und nicht, wie die Bibel, voraussetzen, daß die ganze Schöpfung auf den Menschen und seine Geschichte abzielt.«37 Philosophie entpuppt sich bei Löwith als eine Frage der Geisteshaltung, der Infragestellung und der Erkenntnis von Grenzen und Unzulänglichkeit des eigenen Wissens. Sie ist nur in dieser mittelbaren Form eine Weise des Wissens. Wenn diese philosophische Haltung aber fehlt, wird auch die Wissenschaft zwangsläufig zum Opfer der Demagogie, ein wirkliches »Verstehen der Tatsachen« (Weber, vgl. oben S. 27, Fußnote 20) ist nicht mehr möglich. Bei Löwith ist Philosophie nicht der Versuch, ein kohärentes System zu schaffen oder überhaupt definitive Antworten zu finden, sondern vielmehr ein fortgesetztes Fragen. Auch wenn er am Begriff der Wahrheit als Ziel allen Denkens festhält, auch wenn er, vor allem in seinen späteren Schriften, selbst apodiktisch Wahrheiten formuliert, im Grundsatz stimmt er mit Leo Strauss überein, »dass ›wir Männer der Wissenschaft‹ das ›Vorhandene‹ transzendieren und keinen locum manentem haben, sondern fragen.«38

sichten gegeben werden, weil der Genosse einer fortschreitenden Zeit auf Standpunkte geführt wird, von welchen sich das Vergangene auf eine neue Weise überschauen und beurteilen läßt. Ebenso ist es in den Wissenschaften. Nicht allein die Entdeckung von bisher unbekannten Naturverhältnissen und Gegenständen, sondern auch die abwechselnden vorschreitenden Gesinnungen und Meinungen verändern sehr vieles und sind wert, von Zeit zu Zeit beachtet zu werden.« (Johann Wolfgang von Goethe: Farbenlehre. Historischer Teil I. Mit Einleitungen und Kommentaren von Rudolf Steiner; Stuttgart 2007, S. 185f.). Löwith bezieht sich auf diese Stelle unter anderem in der Monographie Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, wo er sie auch vollständig wiedergibt (in id.: Schriften 4; S. 1-490, S. 289). 36 Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie (1949/1953). In id.: Schriften 2; S. 7-239, S. 13f. 37 Id: Geschichte und historisches Bewußtsein (1966), S. 427. 38 Karl Löwith an Leo Strauss, 28.V.1933; in Leo Strauss: Gesammelte Schriften Bd. 3 (ed. Wiebke und Heinrich Meier); Stuttgart 2001, S. 607-697, S. 627.

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Dabei zeigt sich – bei allem Zurückschrecken vor der Gefahr des drohenden Heimatverlusts und des bevorstehenden Exils, das aus Löwiths Korrespondenz in dieser Zeit verständlicherweise auch spricht – das klare Bekenntnis zu einer Lebensform, zu deren zentralem Merkmal eine geistige Emigration gehört, die sich ganz unmittelbar auch in Löwiths persönlicher Lebenssituation widerspiegelt.39 Denn Exil meint hier nicht zwangsläufig den Abbruch eines Dialogs mit anderen Menschen, Ländern oder Kulturen (und ihren Texten). Philosophie, und Löwiths Philosophie in ganz besonderem Maße, ist immer auch ein abgeleitetes

39 Diesem Eindruck läßt sich besonders dann schwer ausweichen, wenn man zu Texten greift in denen sich Löwith mit Autoren beschäftigt, die, wie er selbst, Juden waren. Auch wenn Löwith sich nur selten über seine eigene Identität als Deutscher und Jude äußerte, fällt auf, daß in der Auseinandersetzung mit diesen Autoren häufig ein sehr persönlicher Ton vorherrscht (vgl. Karl Löwith: Philosophie der Vernunft und Religion der Offenbarung in H. Cohens Religionsphilosophie (1968). In id.: Schriften 3; S. 349-383, S. 381). Deutlicher noch wird Löwiths eigener Zwiespalt, wenn er in seiner Autobiographie zitierend mit und über Franz Rosenzweig schreibt – in Worten, die mindestens genauso Rosenzweig als Löwiths eigene Situation betreffen – Rosenzweig habe gewußt, »daß nämlich das ›und‹ zwischen Deutscher- und Judesein eine Frage des Taktes ist. ›Allgemeine Vorschriften lassen sich darüber kaum geben. Wo im Leben des Einzelnen der Schwerpunkt liegen soll, ob überhaupt ein Schwerpunkt und nicht zwei, und wie sich die Massen zwischen diesen Schwerpunkten verteilen mögen – das alles sind Dinge, die jeder Einzelne für sich und mit sich selbst entscheiden muß.‹« (id: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht. Stuttgart 1986, S. 132). Im Exil und dem Verlust der eigenen Identität erkennt Löwith allerdings nicht nur eine wissenschaftlich-persönliche, sondern eine spezifisch jüdische Lebenssituation, vielleicht die einzige, mit der er sich selbst wirklich identifizieren konnte: »die Geschichte des jüdischen Volkes beginnt schon mit einem Exil«, und diese Erfahrung des Verlusts gehöre »seit jeher […] wesentlich zur jüdischen Existenz« (Ibid.). Die Ausgrenzungs-, Exil-, Differenzerfahrung zusammenbringen und mit ihr umzugehen zu lernen, ohne sie gewaltsam aufheben zu wollen war auch Rosenzweigs Anliegen, denn, so fährt dieser im von Löwith zitierten Brief an Rudolf Hallo fort: »Vielleicht ist es diese Ganzheit, die man, soweit sie gelernt werden kann, durchs Lehrhaus lernen kann. Denn daß die Generation, die ihr Herz in eiserne Ringe faßte, damit man es nur ja nicht auf der linken Seite schlagen hörte – ohne zu bedenken, daß man es dadurch noch lange nicht auf der andern schlagen hörte – davon herzhafter geworden sei, das habe ich nicht gemerkt.« (Franz Rosenzweig an Rudolf Hallo, Ende I.1923; in Franz Rosenzweig: Briefe (ed. Edith Rosenzweig); Berlin 1935, S. 475)

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Denken, das nur in der Auseinandersetzung mit diesen anderen geschehen kann. Die von Löwith evozierten Bilder der Heimatlosigkeit, der individuellen Schwerpunktsetzung, der Emigration und des Exils sind vielmehr durch die Vertreibung aus dem Paradies fester Gewißheiten und Bekenntnisse bedingt, die einigen anderen – aber nicht dem theoretisch denkenden Philosophen – eine Heimat bieten können. Noch Mitte der fünfziger Jahre definiert Löwith sein philosophisches Credo und seine Methode in dieser Weise als »suchen und durch fragendes Untersuchen den Umkreis einer möglichen Antwort umkreisen, aber nicht, einer geoffenbarten Wahrheit gewiß zu sein.«40 Aber nicht nur das fortgesetzte Untersuchen, auch das Zurückschrecken vor den Geschehnissen in Gegenwart und Zukunft ist ein wesentlicher Aspekt von Löwiths Denken, in dem sich zugleich verrät, wie bedingt und wenig unabhängig die »freie« theoretische Haltung in der Realität ist. Sie ist und bleibt eine Haltung im Abseits. Löwith sollte diese Haltung bis an sein Lebensende einnehmen, und sicherlich trug sie dazu bei, daß er sich selbst zunehmend als unzeitgemäßen Denker empfand. Schon früh hat er festgestellt, daß »die Möglichkeit der Theorie mit einer Möglichkeit des Menschseins als eines in der Theorie […] lebenden Menschen« stehe und falle – daß sich »diese stolze Auffassung von der reinen Theorie […] im Prinzip bis zu Hegel – aber auch nicht weiter – durchgehalten«41 hat, war auch Löwith klar. Daß zu den Gründen für ihr Ableben gehört, daß der Mensch nicht mehr völlig unbeeinflußt von den Machenschaften der Praxis nur in und für die Theorie leben kann, hat Löwith am eigenen Leib erfahren. Diese Lebenserfahrung faßt er in den Schlußworten seines Buches Von Hegel zu Nietzsche zusammen: »Doch es gibt kein Zurück in der Zeit, weder zu Goethe noch sonstwem. Die Zeit als solche ist dem Fortschritt verfallen und nur in den Augenblicken, in denen die Ewigkeit als die Wahrheit des Seins erscheint, erweist sich das zeitliche Schema des Fortschritts wie des Verfalls als historischer Schein.«42 »Kein Zurück« bedeutet hier in der Konsequenz, daß eine Rückkehr in das klassische theoretische Denken und zu einer antiken kosmologischen Weltsicht, wie sie Löwith am Herzen lag, nur schwerlich möglich ist. Dies gilt auch für ähnliche Bestrebungen der »Umkehr« bei anderen Denkern. Denn selbst wenn es gelänge, in der Philosophie und in der Wissenschaft der Theorie wieder zu alter

40 Karl Löwith: Wissen, Glaube und Skepsis. Zur Kritik von Religion und Theologie (1956). In id.: Schriften 3; S. 197-273, S. 224. 41 Beide Zitate aus id.: Theorie und Praxis als philosophisches Problem (1931), S. 47f. 42 Id.: Von Hegel zu Nietzsche, S. 558.

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Geltung zu verhelfen und so einen neuen Blickwinkel auf das Ganze der menschlichen Existenz zu gewinnen, so wäre diese Existenz durch die Erfolge der modernen Naturwissenschaft doch längst grundlegend verändert. Das ist nur scheinbar ein Widerspruch zu Löwiths Annahme eines unveränderlichen Menschen. Denn de facto hat die Realisierung von Bacons universalem Machtanspruch die ehemals menschlichen Begrenzungen und damit die bisherige Definition des Menschen längst aufgehoben. Der Mensch steht für Löwith an der Schwelle dazu, sich selbst neu – und anders – zu schaffen. Wenn er, wie er es in seiner Autobiographie andeutet, keinen Epochenbruch durch den Nationalsozialismus verursacht sieht,43 so liegt das auch daran, daß der nach Löwith für den Sozialdarwinismus des Nationalsozialismus charakteristische Anspruch, im Sinne eines »neuen Menschen« diese Schwelle zu überschreiten, schon durch Marxens historischen Materialismus aufgestellt wird – und dieser Anspruch auch nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus wie des Sozialismus bis heute fortbesteht.44

43 Hier schreibt Löwith zwar noch in der Einleitung: »Die aus dem Weltkrieg hervorgegangenen Diktaturen erheben, wie einst die Französische Revolution, den Anspruch, die gesamte Geschichte neu zu datieren. Und in der Tat, es läßt sich nicht leugnen, daß alles anders ist, als es war. Die Tatsache dieser Veränderung wird in Deutschland niemand bestreiten: Hitlers Gefolgschaft und ihre zum Schweigen verurteilten Gegner stimmen in diesem Punkt überein. Es ist, wie mir vor kurzem jemand aus Deutschland schrieb, mit Vielem ›einfach vorbei‹.« Daß Löwith der scheinbar so eindeutigen Situation zum Trotz dieser Deutung in Wirklichkeit nicht zu folgen vermag und stattdessen den Nationalsozialismus als Teil einer kontinuierlichen gesellschaftlichen Tradition versteht, zeigt sich schon einige Seiten später, wo er unmißverständlich erklärt: »Das Dritte Reich ist das Bismarcksche Reich in zweiter Potenz und der ›Hitlerismus‹ ein gesteigerter ›Wilhelmismus‹, zwischen denen die Weimarer Republik nur ein Zwischenakt war.« (id.: Mein Leben in Deutschland, S. XII und S. 1) 44 Hierfür beachte etwa die vor allem in den USA erfolgreiche Bewegung des Transhumanismus. Vgl. Ray Kurzweil: Das Geheimnis des menschlichen Denkens: Einblicke in das Reverse Engineering des Gehirns; Berlin 2014. Für Kurzweil ist das offen ausgesprochene Ziel nicht mehr nur, sich die Erde untertan zu machen, sondern vielmehr, den Menschen durch technische Erweiterungen intelligenter und von seinem biologischen Körper unabhängig zu machen. Selbst die Materie der Welt soll in Rechnermaterie umgewandelt werden, womit nicht nur der Gottesbegriff, sondern auch noch der Kosmos in einem Menschen aufgeht, dessen menschliche Qualitäten und Beschränkungen dann allerdings aufgehoben sind. Dazu zählt auch der Gedanke jeglicher Privatheit, da Kurzweil im Sinne dieser Unabhängigkeit den Gedanken der Cloud konse-

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Wenn man dieser Interpretation folgt, kann es wenig überraschen, daß Löwiths von ihm selbst als unzeitgemäß empfundenes rückhaltloses Bekenntnis zum aristotelischen bios theoretikos mitverantwortlich dafür ist, daß er – bei allem Respekt, der ihm immer wieder bekundet wurde – in der heutigen Diskussion doch weitgehend isoliert steht. Seine Positionierung ist dennoch bemerkenswert als eine, die aus persönlicher Erfahrung als Notwendigkeit begriffen

quent zu Ende denkt und sie sich als Speicher vorstellt, dem wir nicht mehr nur Bilder, Dokumente oder Musik anvertrauen. Sie soll uns vielmehr als umfassendes Backup dienen: unserer Erinnerungen und aller Daten, die unser Gehirn und unsere Persönlichkeit ausmachen. Damit kommt die Fortschrittsgesellschaft an ihr logisches Ende. Mit der Realisierung dieser Vision wird der Mensch wohl in einem sehr viel buchstäblicheren Sinne zu einem »Prothesengott«, als noch Sigmund Freud sich das vorzustellen imstande war – und zugleich wird bei dieser Vorstellung unwillkürlich die Erinnerung geweckt an Marxens Polemik gegen alle Elemente der bürgerlichen Gesellschaft, insbesondere gegen ihre überkommenen humanistischen Ideale, deren grundlegende Überprüfung mit der Abschaffung des Gegensatzes zwischen Partikularität und Universalität wichtigstes Ziel im Sinne der von Marx projektierten Gesellschaftsideals darstellt. So schreibt Marx kritisch über den Kommunismus seiner Zeit: »Die Philosophie hat sich verweltlicht, und der schlagendste Beweis dafür ist, daß das philosophische Bewußtsein selbst in die Qual des Kampfes nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich hineingezogen ist. […] So ist namentlich der Kommunismus eine dogmatische Abstraktion, wobei ich aber […] den wirklich existierenden Kommunismus, wie ihn Cabet, Dezamy, Weitling etc. lehren, im Sinn habe. Dieser Kommunismus ist selbst nur eine aparte, von seinem Gegensatz, dem Privatwesen, infizierte Erscheinung des humanistischen Prinzips. […] Und das ganze sozialistische Prinzip ist wieder nur die eine Seite, welche die Realität des wahren menschlichen Wesens betrifft. Wir haben uns ebensowohl um die andre Seite, um die theoretische Existenz des Menschen zu kümmern, also Religion, Wissenschaft etc. zum Gegenstande unserer Kritik zu machen.« (Karl Marx an Arnold Ruge, IX.1843. In Karl Marx: Briefe aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern. In id.: Werke Bd 1; Berlin 1976, S. 337346, S. 344). Löwith schreibt dazu unter anderem: »Wenn Marx in den philosophischen Frühschriften von einer ›Aufhebung‹ der Philosophie im Hegelschen Doppelsinn spricht und von einer Aufhebung der von Hegel aufgezeigten Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft, so spricht er zwar in Hegels Sprache; was er wirklich meint und will, ist aber nicht ihre bewahrend-vernichtende Erhebung zu einer sie umfassenden höheren Einheit, sondern – sehr undialektisch – ihre totale Beseitigung.« (Karl Löwith: Vermittlung und Unmittelbarkeit bei Hegel, Marx und Feuerbach (1966). In id: Schriften 5; S. 186-220, S. 189)

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wurde und die ein ganz bewußter Akt des Widerstandes sein soll, der zugleich ein Versuch ist, dem Menschen, so wie er ist – und nicht: so wie er sein oder werden soll –, gerechter zu werden als es seinen Zeitgenossen gelingt. Trotz des immer wieder postulierten »Bruches« in Löwiths Denken, der auf die Erfahrung des Nationalsozialismus und des Dritten Reiches zurückgeführt wird, findet sich in Motivation und Konsequenzen der Philosophie Löwiths eine Kontinuität, die sein frühes mit seinem späteren Denken verbindet.

Auseinandersetzungen

Löwith entwickelt seine Philosophie in der ständigen Auseinandersetzung mit anderen Denkern – nicht umsonst wirken seine Bücher auf den ersten Blick wie bloße Philosophiegeschichtsschreibung. Spuren dieses Dialogs finden sich nicht nur in seinem veröffentlichten Werk, sondern auch in einigen seiner Briefwechsel. Daher möchte ich im Sinne dieser These versuchen, bei einigen ausgewählten Denkern gleichsam »nachzubohren«. Meine Darstellung dieser Auseinandersetzungen ist grundsätzlich davon bestimmt, wo sich Anknüpfungspunkte in Löwiths veröffentlichten Schriften oder in den Teilen des Briefwechsels finden lassen. Wenn ich hier mit der Gegenüberstellung von Löwith und Hegel beginne, so wird dieser Schritt mit Löwiths eigener Abgrenzung seines Denkens von Hegels Wissenschaftsbegriff begründet, wie er in dem Brief an Erich von Kahler vom 15.IX.19201 formuliert ist. Georg Wilhelm Friedrich Hegel Hegels Position unterscheidet sich von der Löwiths grundlegend darin, daß für ihn die Skepsis eine unverzichtbar notwendige philosophische Haltung ist – aber als solche nur ein notwendiger erster Schritt. Auch für Hegel ist der Skeptizismus gewissermaßen Hegels Position unterscheidet sich von der Löwiths grundlegend darin, daß für ihn die der Beginn jeder Philosophie, durch den Dogmatismen und Fundamentalismen aufgelöst werden können. Skeptizismus ist für ihn ist zwar durch und durch negativ, aber eben auch ein Zeichen von Freiheit.2 Zugleich ist er sowohl mehr als auch weniger als diese Freiheit:

1

Vgl. Unterkapitel Wissenschaft als Beruf und die Diskussion mit dem George-Kreis,

2

Vgl. Klaus Vieweg: Skepsis und Freiheit. Hegel über den Skeptizismus zwischen Phi-

S. 28-35. losophie und Literatur; München 2007, S. 20.

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Hegelscher Skeptizismus ist vor allem ein Anfang, auf den sich eine wirklich freie, idealistische Philosophie aufbauen läßt. Denn für Hegel wäre es Selbsttäuschung, am Skeptizismus festzuhalten und die stoische Ataraxia für ein wünschenswertes Ende der Entwicklung zu halten. Im Gegenteil, radikaler Skeptizismus, der die Auffassung vertritt, daß »die Erkenntnis der Wahrheit für eine leere, den Kreis des Erkennens, der nur das Scheinende sei, überfliegende Eitelkeit ausgibt« ist für Hegel ein wurzelloser Individualismus, da er »das Scheinende in Ansehung des Handelns zum Prinzip machen und das Sittliche somit in die eigentümliche Weltansicht des Individuums und seine besondere Überzeugung setzen«3 muß. Wahrheit kennt dieser Skeptizismus nicht – und damit fehlt auch das Maß für Weisheit und die Voraussetzungen für Philosophie. Der später von Nietzsche postulierte Tod Gottes und die damit verbundene Umwertung der Werte erscheinen als logische Konsequenz. Der Mensch und die Welt sind zwar frei, aber auch endgültig dem Zufall unterworfen, da es keine Instanzen mehr über der eigenen Individualität gibt. Philosophie beginnt für Hegel erst nach der Aufhebung des Skeptizismus, nach der Anerkennung des Denkens als positiven Anfang, in dem das Sein verborgen ist: »Der Anfang enthält also das Sein als ein solches, das sich von dem Nichtsein entfernt oder es aufhebt, als ein ihm Entgegengesetztes.«4 Auch wenn es für Hegel »die mühsame Arbeit am Begriff, […] die notwendige Aufhebung der Vorstellung im begreifenden Denken« ist und für ihn deshalb in der Philosophie »die Verwendung von Analogien, Metaphern, Aphorismen, der ›ästhetischen Vorstellungsart‹ schlechthin, das Zeichen für ein Defizit ist, das Signum für einen ›Mangel an scharfen Beweisen‹«,5 erinnert sein Anspruch, das Sein im Ist des Denkens zu entdecken doch an einen Aphorismus Nietzsches: »Wir kennen nur eine Realität – die des Gedankens. Wie wenn das das Wesen der Dinge wäre?«6 Man könnte die Parallele zwischen Hegel und Nietzsche sogar noch weiter ziehen, wenn man bedenkt, daß Hegel nicht nur eine absolute Kritik verlangt, sondern aus ihr und in ihrer Überwindung eine positive Philosophie entwickeln will. Er verlangt die gleiche Freiheit des Willens, die Nietzsche von den »freien Geistern« fordert: »Wo ein Mensch zu der Grundüberzeugung

3

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Natur-

4

Id.: Wissenschaft der Logik I, Erster Teil: Die objektive Logik. In id.: Werke 5; Frank-

5

Klaus Vieweg: Skepsis und Freiheit., S. 333

recht und Staatswissenschaft im Grundrisse, §140; Berlin 1981, S. 176. furt/Main 1986, S. 73. 6

Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1869-1874. In id.: Kritische Studienausgabe (KSA) Bd. 7 (ed. Giorgio Colli / Mazzino Montinari); München 1999, S. 471.

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kommt, daß ihm befohlen werden m u s s , wird er ›gläubig‹; umgekehrt wäre eine Lust und Kraft der Selbstbestimmung, eine Fr ei h e i t des Willens denkbar, bei der ein Geist jedem Glauben, jedem Wunsch nach Gewissheit den Abschied giebt, geübt, wie er ist, auf leichten Seilen und Möglichkeiten sich halten zu können und selbst an Abgründen noch zu tanzen. Ein solcher Geist wäre der f r ei e G ei s t par excellence«7. Dieser freie Geist, ist die zentrale Eigenschaft, die Nietzsche den Philosophen der Zukunft, den »Versuchern« zuschreibt: »Eine neue Gattung von Philosophen kommt herauf: ich wage es, sie auf einen nicht ungefährlichen Namen zu taufen. So wie ich sie errathe, so wie sie sich errathen lassen – denn es gehört zu ihrer Art, irgend worin Räthsel bleiben zu w o l l en –, möchten diese Philosophen der Zukunft ein Recht, vielleicht auch ein Unrecht darauf haben, als Ver s u ch er bezeichnet zu werden. Dieser Name selbst ist zuletzt nur ein Versuch, und, wenn man will, eine Versuchung.«8 Versucher zu sein meint hier beides: sowohl selbst eine neue Philosophie zu versuchen, »selbst an Abgründen noch zu tanzen« als auch andere dazu zu bewegen, dies kraft eigenen Geistes zu tun. Das scheint weit hergeholt; daß Hegel für Löwith aber auch in diesem Sinne ein ganz und gar moderner Philosoph war, zeigt die Art und Weise, in der Löwith Hegels Logik charakterisiert: »Hegels Logik ist keine Logik im hergebrachten Schulsinn, sondern eine dialektische Logik des alles bewegenden Widerspruchs. Als eine von der Sache geforderte logische Durchformung alles dessen, was ist, ist diese Logik Onto-logie. Und weil Anfang und Ende alles Seienden Gott oder ›das Absolute‹ ist, ist Hegels Onto-Logik auch Theo-logie: Onto-Theo-Logik.«9 Und über Hegel selbst schreibt er demgemäß: »Hegel war

7

Id.: Die fröhliche Wissenschaft (»la gaya scienza«); Aphorismus 347. Leipzig 1900, S. 282.

8

Id.: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft; Aphorismus 42. Leipzig 1903, S. 62. Auch hier taucht übrigens das Motiv der (inneren) Emigration auf. In Aphorismus 44 heißt es über die »freien Geister« als Vorläufer der erwarteten Versucher, sie seien »wenn es noth thut, selbst Vogelscheuchen – und heute thut es noth: nämlich insofern wir die geborenen geschworenen eifersüchtigen Freunde der E i n s a m k e i t sind, unserer eignen tiefsten mitternächtlichsten, mittäglichsten Einsamkeit: – eine solche Art Menschen sind wir, wir freien Geister!« (ibid., S. 66). Das Motiv selbst ist ein altes in der Philosophie, es gewann aber sowohl für den Geniekult der Lebensphilosophie als auch für Emigranten wie Löwith neue Bedeutung.

9

Karl Löwith: Nachwort. In Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Einleitung in die Phänomenologie des Geistes. Mit einem Nachwort von Karl Löwith; Frankfurt/Main 1964, S. 69-77, S. 70.

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also von Anfang an Theologe – um willen der Philosophie.«10 Diese Bezeichnung wird uns unter den gleichen Vorzeichen später erneut begegnen – bei Martin Heidegger. Hegels Anspruch, aus dem Denken und einer postulierten Einheit von Denken und Sein eine idealistische Philosophie der Freiheit zu entwickeln, ist aber ohne »den Optimismus u[nd] den Willen auf objektive Formung, Gestaltung dessen was man allzu allgemein ›Leben‹ nennt«11 kaum möglich – und hier drängt sich die Verbindung zum bereits oben zitierten Brief Löwiths an Erich von Kahler vom 15. September 1920 geradezu auf. Denn Löwith formuliert hier klar, was ihn von Hegel trennt: »Hegel würde mir u[nd] meinesgleichen vorwerfen, dass wir ›schlechte Intensivität‹ pflegen u[nd] die ›gute‹ I[ntensivität] immer auch extensive Intensität sein müsste. Obj[ektiv] hat er recht – für mich kann es keine Geltung haben – heute wenigstens nicht.«12 Die Trennlinie zwischen Löwith und Hegel liegt also genau an dem Punkt, an dem es um die Frage der »extensiven Intensität« geht, also darum, ob die Arbeit am Begriff etwas anderes sein kann bzw. sein sollte als kritische, »negative«. Löwith sagt dabei eindeutig, daß ihn seine geschichtliche Situation heute daran hindere. Das tut sie aus mehreren Gründen, einen davon benennt er in den Brief an Kahler auch selbst, allerdings bezogen auf Goethe: »Denn es ist zuviel um uns und in uns zerbrochen, aufgelöst, als dass uns heute […] die tiefe, reiche Lebensweisheit des Wilh[elm] Meister letztlich viel sagen könnte.«13 Zu Löwiths Situation gehört, daß auch die radikale Skepsis nur noch nachvollziehen kann, was sich bereits historisch ereignet hat: die Auflösung des christlich-jüdisch geprägten Zivilisation und Kultur. Das sind große Worte, doch für Löwiths Empfinden sind sie zutreffend, und es wäre ein Kurzschluß, anzunehmen, daß er sich dabei lediglich auf die Verheerungen des Weltkriegs und seiner gesellschaftlichen Folgen bezieht. Denn die uns historisch nächsten Kronzeugen einer anderen Welt sind und bleiben für Löwith Goethe und in gewisser Weise auch Hegel selbst.14

10 Ibid., S. 69. 11 Karl Löwith an Erich von Kahler, 15.IX.1920; Marbach/Neckar, Deutsches Literaturarchiv, A: Kahler. 12 Ibid. 13 Ibid. 14 In diesem Sinne weiter geht Georges Bataille, der in der radikalen, bis zur letzten Konsequenz geführten Skepsis sogar ein Erweckungserlebnis sieht, das den Menschen erst zum Menschen macht: Für ihn »gehört es zum Wesen der Vernunft, infrage gestellt werden zu können, aber zum Wesen des Infragestellens, Ergebnis der Vernunft

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Nach ihnen, und im Falle Hegels auch mit ihnen, geschah etwas, das umwälzender ist als der Terror des Krieges und die Unsicherheit der Weltwirtschaftskrise. Denn der Durchbruch der modernen Naturwissenschaften, die industrielle Revolution, aber auch der historische Materialismus haben alle zusammen dazu geführt, daß der Mensch den – wie auch immer verfaßten – kosmologischen Rahmen der Welt und seiner eigenen Existenz nicht mehr akzeptierte. Das ist die eigentliche Ursache für das von Löwith konstatierte »Zerbrechen« – und zugleich auch der Anlaß, die Leerstelle, die das alte Weltbild hinterließ, nachdem die Welt des Menschen als Ergebnis eines »machbaren« und steuerbaren Prozesses erkannt wurde, mit eigenen »romantischen Ideen« zu füllen. Mehr noch, diese Ideen sind geradezu eine Notwendigkeit geworden: denn wenn die Welt eine machbare ist, die von uns gesteuert wird, dann ist sie ein Entwicklungsprozeß, der an kein Ende kommt und immer neue Entwürfe geradezu zwingend voraussetzt. Die Welt wird so – zumindest dem Anspruch nach – ständig neu geschaffen. Und dies gilt nicht nur von der Welt, sondern auch von uns selbst, unseren Zielen und Ideen. Und hier sind wir am zweiten Punkt, an dem Löwiths Skepsis ansetzt: Denn gerade die Versuche menschlicher Weltgestaltung müssen aus der Perspektive jedes einzelnen Menschen heraus skeptisch überprüft, auf Wünschbarkeiten – deren nicht geringste für Löwith die zugrundeliegende Idee des menschlichen Fortschritts an sich ist – hin untersucht und wissenschaftlich destruiert werden, wenn dabei überhaupt etwas herauskommen soll. In der für ihn gegenwärtigen Situation verspürt Löwith vor allem die Notwendigkeit zu einer stets fortgeführten und erneuerten Infragestellung unserer Überzeugungen und ihrer Voraussetzungen – und zugleich sieht er diese Haltung als Ausdruck einer positiven Stellung zur Welt und der eigenen Situation, ein κτήμα ες αεί im besten Sinne.15 Diese Aufgabe hat Löwith als Lebensaufgabe angenommen, sie

zu sein. […] Das Vernünftige ist in der Tat das, was das Absurde nicht zerstören kann, weil die Vernunft von sich aus in ihrem Innersten das leistet, was das Irrationale von außen her macht: sich vorbehaltlos infrage stellen. Aber gerade darin siegt der Mensch über die Verneinung: er trägt nicht irgendeinen endgültigen Sieg davon, nach dem ihm Ruhe und Schlaf geschenkt würden; er siegt durch den Zweifel, der das Erwachen ist.« (Georges Bataille: Henker und Opfer; Berlin 2008, S. 18) 15 Löwith bringt in diesem Zusammenhang wiederholt die skeptische Philosophie Jacob Burckhardts gegen Hegel in Stellung, gerade in ihrer individualistischen, »idiotischen« Dimension: »Ein andermal drückt es Burckhardt so aus: der Satz ›historia vitae magistra‹ solle in Wahrheit nicht besagen, daß man aus der Geschichte etwas lernen könne, ›für ein andermal klüger‹, wohl aber ›für immer weise‹ zu werden, wodurch er einen höheren und zugleich bescheideneren Sinn erhalte. […] Während aber

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bestimmt fast all seine Veröffentlichungen, seien sie wissenschaftsgeschichtlicher Art oder philosophische Kritiken, etwa an Carl Schmitt oder Martin Heidegger. Leo Strauss Leo Strauss gehört zu den wenigen Denkern, die in einem lebenslangen Briefwechsel mit Löwith standen, in dessen Verlauf auch intensiv über philosophische Fragen gestritten wurde. Dabei stimmten sie in wesentlichen Ausgangspunkten ihres Denkens weitgehend überein, nicht zuletzt im grundsätzlichen Stellenwert, den beide der Theorie einräumen – Leo Strauss schreibt, gegen Heidegger gerichtet, 1950 an Eric Voegelin sogar: »the root of all modern darkness from the seventeenth century on is the obscuring of the difference between theory and praxis, an obscuring that first leads to a reduction of praxis to theory […] and then, in retaliation, to the rejection of theory in the name of praxis that is no longer intelligible as praxis.«16 Löwith und Strauss kritisieren das moderne Denken dafür, die theoretische Betrachtung der existierenden Welt zugunsten eines radikal anthropozentischen Weltbildes aufgegeben zu haben, das abhängig bleibt vom neuzeitlichen Dualismus zwischen res cogitans und res extensa und sich nicht mit einer ganzheitlichen Sichtweise versöhnen lasse. Ihr Verhältnis läßt sich mit Leo Strauss als eine sehr bemerkenswerte Art der philosophischen Freundschaft beschreiben: »Es ist erstaunlich, dass wir […] darüber hinaus so wenig uns verstehen – es ist erstaunlich in Anbetracht der Wichtigkeit dessen, worin wir uns verstehen. Wo scheiden sich unsere Wege? Ich

für Hegel der Staat […] der logische Ort der wahren Sittlichkeit ist, von der er die Moralität des privaten Individuums – des ›Idiotes‹, wie er sarkastisch sagt – unterscheidet, behauptet Burckhardt (und zwar mit Bezug auf Hegels These): ›Das Sittliche hat ein wesentlich anderes Forum als der Staat; es ist schon enorm viel, wenn dieser das konventionelle Recht aufrecht hält. Er wird am ehesten gesund bleiben, wenn er sich seiner Natur […] als Notinstitut bewußt bleibt‹ – beurteilt den Staat also ganz wie Humboldt. Auch Nationen gelten ihm nicht als etwas a priori Berechtigtes, denn als das primäre ›Ganze‹, als ursprünglicher ›Selbstzweck‹ gilt ihm ausschließlich die einzelne Persönlichkeit, das duldende und strebende Individuum.« (Karl Löwith: Burckhardts Stellung zu Hegels Geschichtsphilosophie (1928). In id.: Schriften 7; S. 1-38, S. 6) 16 Leo Strauss an Eric Voegelin, 14.III.1950, in Peter Emberley / Barry Cooper (ed.): Faith and Political Philosophy. The Correspondence between Leo Strauss and Eric Voegelin, 1934-1964. University of Missouri 2004, S. 66.

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meine es wirklich, dass Sie im entscheidenden Punkt nicht einfach, simpel genug sind, während ich es zu sein glaube. Sie nehmen den einfachen Sinn der Philosophie nicht wörtlich genug: die Philosophie ist der Versuch, Meinungen über das Ganze durch echtes Wissen vom Ganzen zu ersetzen. Für Sie ist Philosophie nichts anderes als Selbstverständnis oder Selbstauslegung des Menschen und d. h. des historisch-bestimmten Menschen, wenn nicht des Individuums.«17 Strauss beschreibt hier auf sehr treffende Weise das Verhältnis zwischen den beiden Freunden. Wie treffend diese Charakteristik ist, zeigt sich schon an der Tatsache, daß seine Analyse die Gründe für das mangelnde gegenseitige Verständnis nicht nur kritisch zu analysieren versucht, sondern bereits selbst ein Zeichen für dieses mangelnde Verständnis zwischen Löwith und Strauss ist. Denn Strauss schreibt weiter: »Sie legen die Geschichte der Philosophie dahin aus, dass sie die von Ihnen behauptete Unvermeidbarkeit der historischen Bedingtheit oder der Herrschaft der Vorurteile bestätigt. Sie identifizieren der Sache nach Philosophie mit ›Weltanschauung‹, Sie machen daher die Philosophie von der jeweiligen ›Kultur‹ radikal abhängig.«18 Das Problem, das Strauss mit Löwiths Herangehensweise hat, ist nicht zuletzt Löwiths zweideutiger Haltung zum Menschen und zum Wahrheitsbegriff geschuldet. Denn er identifiziert zwei Schwierigkeiten bei Löwiths Philosophie. Da wäre Löwiths Vorhaben, die Erkenntnisse der Vergangenheit für die Gegenwart zu retten, ohne dabei konkrete positive, sehr wohl aber konkrete kritische Aussagen über Gegenwart und Zukunft zu machen – Strauss hält Löwiths Denken in seinen positiven Elementen für rückwärtsgewandt. Und bei dem Blick auf die Vergangenheit wirft Strauss Löwith eine falsche Schwerpunktsetzung und Orientierung vor – nämlich die mangelnde Berücksichtigung des griechischen Ideals. Denn nur so könne Löwith sich befreien aus der »Befangenheit in der christlichen Tradition und in der Polemik gegen diese Tradition«.19 Löwith aber folge dem Historismus insofern, daß er die Unabhängigkeit und damit die Bedeutung des griechischen Standpunkts für die heutigen Fragen nicht anerkenne, damit die Frage nach den zeitlosen Idealen relativiere und in zeitliche Abhängigkeit bringe – ohne aber die Frage nach der Wahrheit, nach den Idealen aufzugeben. Stattdessen suche er weiterhin nach einer Wahrheit jenseits aller zeitbedingten Auslegung. Allerdings wirkt dieser Vorwurf schon deshalb nicht son-

17 Leo Strauss an Karl Löwith, 20.VIII.1946, in Leo Strauss: Gesammelte Schriften Bd. 3 (ed. Wiebke und Heinrich Meier); Stuttgart 2001, S. 607-697, S. 666. 18 Ibid. 19 Leo Strauss an Karl Löwith, 30.XII.1932, in ibid., S. 614.

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derlich überzeugend, weil er sich genauso auch auf die Straussʼsche Orientierung an der griechischen Philosophie anwenden ließe. Strauss wirft Löwith außerdem ein anti-jüdisches bzw. anti-christliches Ressentiment vor, während umgekehrt Löwith Strauss sein »Nochzuhausesein im orthodoxen Judentum«20 vorhält. Hinter dieser wechselseitigen Kritik steckt ein Mißverständnis, das sich letztlich darauf zurückführen läßt, daß Strauss Löwith an entscheidender Stelle zu wörtlich nimmt. Ohne Frage ist Löwiths beinahe lebenslange Polemik gegen die christlich-jüdische Tradition der Offenbarungsreligion auffallend – und ohne Zweifel war Strauss vieles, aber »nicht orthodoxer Jude!«21 Daß dieser Vorwurf Löwiths sich aber gerade nicht auf eine praktizierte religiöse Überzeugung richtet, deutet sich schon an, wenn man den Kontext näher betrachtet. Löwith spricht hier nämlich nicht von religiöser Praxis, sondern von der Traditionslinie gewisser Vorstellungen, als deren Repräsentanten er auch Otto Weininger, Hermann Cohen, Albert Einstein, Sigmund Freud, Karl Marx und Ferdinand Lassalle nennt – sie alle sind Persönlichkeiten, die sich wohl eher nicht unter das Schlagwort des orthodoxen Juden fassen lassen. Diese »orthodoxen« Traditionen sind für Löwith ursprünglich religiöse Elemente, die in säkularisierter Form in moderne Überzeugungen eingegangen sind. Dazu zählt vor allem die Übertragung ehemals göttlicher Attribute auf den Menschen, die Suche nach moralischen Wahrheiten und die ungebrochene Hoffnung auf eine wie auch immer geartete Erlösung. Für Löwith – insbesondere in späterer Zeit – ist dieses »Sein, das nicht kraft ›Auslegung‹ ist«,22 das er erreichen und untersuchen möchte nur in der Natur zu finden. Schon deshalb ist die Realität der griechischen Philosophie und Kultur als Ideal abzulehnen, denn »der Weltstaat ist gewiss Unsinn und contra naturam, aber die polis ist auch contra naturam, wie alle von Menschen geschaffenen geschichtlichen Institutionen.«23 Löwith gibt, wiewohl er immer an der Position festhält, daß der Mensch der gleiche geblieben und als Prinzip auch unveränderlich ist, ohne weiteres zu, es sei »nicht nur das historische Bewusstsein was sich verändert hat sondern unser geschichtliches Sein.«24 Hier zeigt sich, daß Löwith – bei aller Polemik – den Historismus nicht komplett zurückweist. Denn wiewohl es für Löwith ewige Wahrheiten gibt, kann ihre Bedeutung und Relevanz, oder der Weg zu ihnen für den Menschen in der jeweiligen geschichtlichen Situ-

20 Karl Löwith an Leo Strauss, 15.IV.1935, in ibid., S. 646. 21 Leo Strauss an Karl Löwith, 23.VI.1935, in ibid., S. 650. 22 Leo Strauss an Karl Löwith, 30.XII.1932, in ibid., S. 614. 23 Karl Löwith an Leo Strauss, 18.VIII.1946, in ibid., S. 664. 24 Ibid, S. 665.

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ation unterschiedlich ausfallen. Das bedeutet auch, daß diese historische Situation sich möglicherweise erklären, aber eben nicht dekonstruieren und auf einen neuen Anfang zurückführen läßt, um einen »Zusammenhang von Ethos und Logos« herzustellen oder ein »Pathos der ›Gerechtigkeit‹« zu vertreten, um die postulierten Wahrheiten dann »rationell – mittels der modernen Aufklärung – realisieren [zu] wollen.«25 Das aber sind die Zielsetzungen, die Löwith im politischen wie philosophischen Denken seiner Zeit – auch bei Strauss – erkennt, kritisiert und die er auf die Tradition der Offenbarungs- und Erlösungsreligion zurückführt. Diese durch den Historismus beeinflußte Erkenntnis gibt Löwith allerdings die Möglichkeit, »dass wir gerade auf Grund des Historismus erst wieder sehr unbefangen sein können und auf Grund unseres technisch gewordenen Daseins sehr natürlich.«26 Es geht Löwith also nicht um eine Destruktion der menschlichen Lebenswelt bzw. ihrer sozialen Ausprägung und Tradition, sondern darum, aus der geschichtlichen Erfahrung heraus eine Unabhängigkeit von der Vergangenheit mit ihren Überzeugungen und Traditionen zu begründen und zu erhalten. Zugleich ist für ihn aber das Verhältnis von Natur und Mensch von einer unüberbrückbaren kulturellen Differenz bestimmt, die eine Zweideutigkeit in Löwiths Philosophie geradezu erzwingt und die aus dem Menschen als einer Art neben-natürlichem Wesen heraus entsteht: für den Menschen gelten andere Maßstäbe als für die Welt in der er lebt – seine Welt ist zunächst eine Welt in einem kultivierten Sinne, die zugleich offen ist für neue Möglichkeiten, wie man in ihr leben kann; sie ist nur bedingt eine Welt im hergebrachten natürlichen Sinne. »Der Mensch, zurückübersetzt in die aussermenschliche Natur, die allein eine integer-natürliche ist, ist nicht ein natürlicher Mensch und deshalb mache ich die Bestimmung der menschlichen Natur a priori abhängig von der – stets geschichtlichen Menschlichkeit.«27 Löwith hält es für die Aufgabe der Philosophie, dieses schwierige Verhältnis zu klären und die Grundlagen zu einer Positionsbestimmung zu schaffen: »Ich will also nicht utopisch auf die Natur des Menschen zurück, sondern ich möchte aus dem, was für uns tatsächlich allgemein-menschlich geworden ist […] und uns als ›natürlich‹ gilt die ›eigentlichen‹ Möglichkeiten heraus entwickeln. […] Es kann sich nicht um eine Beseitigung der historischen Auslegungsmöglichkeiten handeln, sondern nur um das gute Gewissen zur gegenwärtigen Interpretations-Möglichkeit und dem Ziel nach um die Übereinstimmung von ›Sein und Be-

25 Zitate aus dem Brief Löwiths an Leo Strauss vom 15.IV.1935, in ibid., S. 645. 26 Karl Löwith an Leo Strauss, 8.I.1933, in ibid., S. 615. 27 Ibid.

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deuten‹, um die Angemessenheit der Auslegung.«28 Auch hier wird deutlich, daß es sich bei Löwiths philosophischer Position viel eher um eine Methode als um einen systematisch fixierten Standpunkt handelt, jenseits von richtig oder falsch: »Aber was wird dann aus der von Ihnen dogmatisch erstrebten ›Richtigkeit‹? Sie richtet sich zu Grunde!, durch den frei gewordenen Geist, durch den Menschen, der mit sich selber gleich geworden ist.«29 Im Gegenteil: Löwith zeigt sich bemerkenswert ablehnend, sobald es um eine Festlegung auf eine engere Definition des Menschen geht: »Was freilich der natürliche Mensch ist, das weiss ich nicht, es interessiert mich aber auch gar nicht […]. Vielleicht hat der Mensch gar keine besondere ›Bestimmung‹ mehr, wenn er Gott mitsamt der Moral wirklich los geworden ist – er hat aber auch gar keine nötig, wenn er nur überhaupt so etwas wie ein ›Mensch‹ ist – nämlich ohne Anführungszeichen! Vorerst wird aber immer noch vom Menschen in 100 ›‹ geredet – so sehe ich auch Heideggers Positivität gerade in dem woran sich die meisten stossen, in seinem Rückgang auf so ›einfache‹ Tatbestände wie da-sein – sich-sorgen und sterben – nur hat er leider noch sehr penetrante theologische Traditionen im Blut«30. Diese theologischen Traditionen, überhaupt der Versuch, in irgendeinem Sinne Gesetzgeber zu sein, sind für Löwith nicht nur wegen ihrer »orthodoxen« Gehalte problematisch, sondern auch, weil er hinter dieser Orthodoxie zumindest potentiell eine Haltung vermutet, die darauf herausläuft, nicht gemäß der Natur zu leben – was an sich schon ein sehr zweifelhaftes Unterfangen wäre für einen Menschen, der in einer modernen Gesellschaft lebt –, sondern die Natur und den Menschen umzuformen im Sinne einer Moral, die in seinen Augen immer grundsätzlich contra naturam, um nicht zu sagen: potentiell beliebig ist. Um diese Beliebigkeit zu überdecken werden – wenn man sich nicht wie etwa Kierkegaard oder Carl Schmitt explizit zum Dezisionismus bekennen möchte – besondere Legitimationen notwendig. Das kann positiv beispielsweise ein strenges wissenschaftliches Ethos sein. Löwith diagnostiziert für seine Zeit allerdings einen Hang zu negativen Lösungen und spricht in diesem Zusammenhang von einer »Pseudotheologie vom ›Ursprung‹, der zurückzugewinnen sei«;31 für Löwith ein unwissenschaftlicher, »saekularisierter Sündenfall, verendlicht zum ›Schicksals‹-Glauben. Und daher kommt die ganze Zweideutigkeit seiner Berufung auf den Anfang und Ursprung, zur Rechtfertigung des Endes und des gegenwärtigen ›Augenblicks‹. Überhaupt denkt ja heute Alles und jedermann

28 Ibid., S. 616. 29 Ibid., S. 618 30 Ibid. 31 Karl Löwith an Leo Strauss, 2.VIII.1933, in ibid., S. 635.

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›weltgeschichtlich‹ – fern von den ›nächsten‹ Dingen und Menschen.«32 Dieser Vorwurf geht in seinen Augen auch gegen Strauss – nicht ganz zu Unrecht, hatte der doch sich Löwith gegenüber nicht nur für die unbedingte Notwendigkeit einer Rückkehr zur ursprünglichen griechischen Weltsicht ausgesprochen, sondern noch 1933 in einem entlarvenden Brief die Prinzipien des Faschismus als notwendigen und einzig »anständigen« Protest im Sinne männlich-römischer Ideale betrachtet gegen die »meskinen« Ideen der Menschenrechte33. Löwith hält dagegen 1935 die »radikale Kritik an den ›modernen‹ Voraussetzungen […] grundsätzlich für falsch und unphilosophisch«34 und erklärt, daß er sich »von all diesem Masslosen und Überspannten abwende, um wahrscheinlich eines Tages – auf gut spätantike Weise (– stoisch-epikureisch-skeptisch-kynisch –) bei wirklich praktizierbaren Lebens-Weisheiten zu landen – bei den ›nächsten Dingen‹ und nicht bei den entferntesten, wozu ebenso das historische Ausschweifen in die Zukunft wie in die Vergangenheit gehört.«35 Löwith bezeichnet das – und (nur!)

32 Ibid. 33 Vgl. Leo Strauss an Karl Löwith, 17.V.1933, in ibid., S. 625: »Und, was die Sache betrifft; daraus, dass das rechts-gewordene Deutschland uns nicht toleriert, folgt schlechterdings nichts gegen die rechten Prinzipien. Im Gegenteil: nur von den rechten Prinzipien aus, von den fascistischen, autoritären, imperialen Prinzipien aus lässt sich mit Anstand, ohne den lächerlichen und jämmerlichen Appell an die droits imprescriptibles de l’homme, gegen das meskine Unwesen protestieren. Ich lese Caesars Commentarien mit tieferem Verständnis, und ich denke an Virgils: Tu regere imperio … parcere subjectis et debellare superbos. Es gibt keinen Grund zu Kreuze zu kriechen, auch nicht zum Kreuz des Liberalismus, solange noch irgendwo in der Welt ein Funke des römischen Gedankens glimmt. Und auch dann: lieber als jegliches Kreuz das Ghetto.« Allein diese Aussagen lassen angesichts der Kontinuitäten im Straussʼschen Denken doch einige Zweifel aufkommen an Leora Batnitzkys These, seine »insistence on separating philosophy, religion, and politics leads to an appreciation – philosophical, religious, and political – of multiple human voices and goods« (Leora Batnitzky: Leo Strauss and Emmanuel Levinas. Philosophy and the Politics of Revelation; Cambridge 2006, S. 163f.). Auch ein Bekenntnis zu griechischer Philosophie und den sogenannten liberal arts bzw. der liberal education scheint nicht grundsätzlich gegen totalitäre Neigungen zu immunisieren; im Gegenteil wurde gerade der platonische bzw. antike Geist nur allzuoft – nicht nur von Strauss – zur Rechtfertigung und Begründung auch des Nationalsozialismus herangezogen. 34 Karl Löwith an Leo Strauss, 15.IV.1935, in Leo Strauss: Gesammelte Schriften, S. 646. 35 Ibid.

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insoweit schließt er sich an Nietzsche an – als »Sinn für die Gegenwart – […] das nunc stans von ›Mittag und Ewigkeit‹«.36 Noch deutlicher wird er in einem Brief, den er nur wenige Wochen später an Leo Strauss sendet und in dem er die Ziele seines Arbeitens und die ihm zugrundeliegende Weltsicht deutlich umreißt: »Da ich aber überhaupt nichts Utopisches, Radikales und Extremes will und mich andrerseits auch mit keiner ›Mittelmäßigkeit‹ begnügen will, so bleibt mir als positiv-kritischer Masstab nur übrig, die grundsätzliche Destruktion all jener Extremstitäten, im Rückgang auf das – ursprünglich ebenfalls antike – Ideal von Mitte und Mass. Von da ergibt sich dann auch eine vernünftige und ›natürliche‹ Vereinbarung von Moral und Metaphysik – von Wille und Fatum – überhaupt von Mensch und Welt. […] Dem entspricht in kosmologischer Hinsicht N[ietzsche]s durchaus wahrer Satz: ›Die Welt ist vollkommen‹ […] – weil sie immer schon war was sie immer noch sein wird«.37 Martin Heidegger Als Gegenpol zu Löwith bietet sich ausgerechnet der Lehrer Martin Heidegger an, an dem auch Leo Strauss kritisiert, daß er im Anspruch, die ganze Metaphysik und die moderne Philosophie zu überwinden, den Unterschied zwischen Theorie und Praxis verwische, indem er den Philosophen und vor allem sich selbst zum Maßstab und Gesetzgeber machen wolle, zumal er sich dabei nicht auf eine gute politische Ordnung berufen könne.38 Löwith sieht die Voraussetzungen von Heideggers Philosophie zwar rundum positiv, denn Heidegger »ist vor allem eine ursprüngliche, ausdauernde und gesammelte Kraft des intensiven Wissens und der denkerischen Durchdringung, die keinen unserer abgebrauchten Begriffe schablonenhaft übernimmt, sondern alles überlieferte philosophische Denken hinsichtlich seiner Herkunft und Tragseite kritisch in Frage stellt.«39 Dabei »fragt [Heidegger] unentwegt nach der Wahrheit des Seins im Ganzen. Zur Vorbereitung dieser Seinsfrage analysiert er mit großer Energie das menschliche Dasein«40 – und mit dieser Haltung ist er für Löwiths eigenes Fragen zu dem großen Vorbild schlechthin geworden. Denn

36 Ibid. 37 Karl Löwith an Leo Strauss, 13.VII.1935, in ibid., S. 653f. 38 Vgl. Leora Batnitzky: Leo Strauss and Emmanuel Levinas, S. 151. 39 Ibid., S. 228. 40 Id.: Wozu heute noch Philosophie? SPIEGEL-Gespräch mit dem Philosophen Karl Löwith. In DER SPIEGEL 43/1969 (vom 20.X.), S. 204-211, S. 206.

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er ist wohl der einzige deutsche Philosoph jener Zeit, dem Löwith diesen wissenschaftlichen Ernst und diese Eindringlichkeit zugute hält. Dennoch geht Löwith in seiner Kritik an Heidegger auch in der Form deutlich weiter als Strauss, bis hin auf die persönliche Ebene von Heideggers zweifelhafter Wirkung auf andere, die Löwith symptomatisch findet. Im Rückblick auf die Marburger Jahre schreibt Löwith über Heideggers Persönlichkeit und Charisma: »niemand kannte sich mit ihm aus, und seine Person ist wie seine Vorlesung durch Jahre hindurch ein Gegenstand heftiger Kontroversen gewesen. Er war wie Fichte nur zur Hälfte ein Mann der Wissenschaft, zur anderen und vielleicht größeren ein opponierender Charakter und Prediger, der durch Vorden-Kopf-Stoßen anzuziehen verstand und den der Unmut über die Zeit und sich selbst vorantrieb. […] Reduziert und aufgeräumt ist auch Heideggers geistige Welt, welche mit allem aufräumt, was ihr nicht mehr an der Zeit und am Platz schien.«41 Schon damals (1940) beklagte Löwith die fatalen pädagogischen Folgen dieser Haltung vereinfachender und zugleich bewußt mehrdeutiger Destruktion. Nicht nur sei Heideggers Prinzip »die ›Faktizität‹, d.h. das, was vom Leben übrig bleibt, wenn man mit allen Lebensinhalten aufräumt«,42 auch seine persönliche Wirkung sei gefährlich: »Er war ein kleiner dunkler Mann, der zu zaubern verstand, indem er vor den Hörern verschwinden ließ, was er eben noch vorgezeigt hatte. Die Technik seines Vortrages bestand im Aufbau eines Gedankengebäudes, das er dann selbst wieder abtrug, um den gespannten Zuhörer vor ein Rätsel zu stellen und im Leeren zu lassen. Diese Kunst der Verzauberung hatte mitunter höchst bedenkliche Folgen: sie zog mehr oder minder psychopathische Existenzen an, und eine Studentin nahm sich nach drei Jahren Rätselraten das Leben.«43 Löwith empfindet den Habitus dieses Heideggerschen Philosophierens als fatale Mogelpackung eines Zauberkünstlers; etwas nüchterner betrachtet deckt sich sein Urteil mit dem von Jean Grondin, der den Leitsatz der Phänomenologie »zurück zu den Dingen selbst« gehen zu wollen, als »famous, though relatively empty, motto« bezeichnet: »Whether the pledge of the motto could also be made good was less important than its hortatory force.«44 Doch Löwith beläßt es nicht bei dieser eher persönlich gefärbten Kritik. Er wendet sich direkt gegen Heideggers wissenschaftliche Methode und gegen seine Hinwendung zu Hölderlin und der Dichtung, wenn er der zeitgenössischen

41 Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht; Stuttgart 1986, S. 27. 42 Ibid., S. 31. 43 Ibid., S. 43. 44 Jean Grondin: Hans-Georg Gadamer. A Biography; New Haven 2003, S. 59.

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Philosophie vorwirft, sich von der Wissenschaft abgekehrt zu haben und ihre Zuflucht bei unwissenschaftlichen Methoden und transzendenten Hoffnungen genommen zu haben: »Die Philosophie versteht sich jetzt nicht mehr als Wissenschaft, sie hat auch kein positives Verhältnis mehr zur Naturwissenschaft, wohl aber appelliert sie gern an die Dichtung, die seit Platons Dichterkritik bis zu Leibniz und Kant aus der Philosophie ausgeschlossen war. Solange die Reinheit und Exaktheit der Mathematik noch ein Vorbild der Philosophie war, konnte diese Konfusion von Philosophie, Geschichte und Dichtung nicht aufkommen. […] Jaspers und Heidegger haben beide auf verschiedene Weise den Verzicht auf die Wissenschaftlichkeit der Philosophie sanktioniert. Jaspers, indem er die Wissenschaft zwar innerhalb ihres Bereichs anerkennt, aber die Philosophie davon ausnimmt, weil er sie existentiell als ›Philosophieren‹ bestimmt und das absolute Ganze, um das es in allem philosophischen Denken geht, auf ein wissenschaftlich unbeweisbares Deuten von ›Chiffren‹ der Transzendenz beschränkt. Heidegger, indem er den Anspruch der Wissenschaften und der Vernunft geschichtlich in Frage stellt und erklärt, daß das wesentliche Denken des Seins, jenseits des Beweis- und Widerlegbaren, an den Wissenschaften ›vorbeigehn‹ müsse, denn alle Wissenschaft erforsche nur Seiendes, denke aber nicht an das Sein, und die Wahrheit des Seins sei keine wissenschaftliche Richtigkeit. Wie soll aber etwas wahr sein können, ohne auch richtig, stimmig und in Übereinstimmung mit der Sache zu sein?«45 Dieser Vorwurf ist allerdings nicht nur dann zutreffend, wenn es um »das wesentliche Denken des Seins« bei Heidegger geht, betrifft also nicht nur einen – wenn auch wichtigen – Einzelaspekt, sondern geht gegen den Kern des Heideggerschen Philosophierens, gegen sein ganzes philosophisches Selbstverständnis. Beispielsweise will auch Heideggers formale Anzeige des Daseins andere Begriffe, die traditionell ein Entsprechendes bedeuteten, destruieren, »durch das Dasein im Sinne eines rein formalen und also zunächst inhaltslosen Begriffs« aufheben. »Was Dasein heißt, kann ich nur in meiner eigenen Existenz erfahren und deshalb kann dieses Dasein auch nie Gegenstand einer objektiven Betrachtung werden.«46 Diese radikale Bezogenheit auf die je eigene Existenz schafft mit der objektiven Betrachtung zugleich auch alle objektiven Wahrheiten ab – und gibt damit jeden theoretischen Anspruch der Philosophie auf ewige Werte und Wahrheit auf. Wahrheit wird damit von einem ewigen zu einem temporalen Wert, der sich

45 Karl Löwith: Wahrheit und Geschichtlichkeit (1969/70). In id.: Schriften 2; S. 460472, S. 470f. 46 Alfred Denker: Unterwegs in Sein und Zeit. Einführung in Leben und Denken von Martin Heidegger; Stuttgart 2011, S. 60f.

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aus dem je eigenen Erleben ableiten läßt – und damit wird aus der Suche nach dem »Einen, das not tut« zwar immer noch die Suche nach einer Wahrheit, diese Wahrheit aber ist weder klar bestimmt noch beweisbar noch von zeitlicher Dauer, sie ist kein Streben mehr, das kontinuierliches Nachdenken über das Ganze des Seienden ist, sondern sie wird abhängig von Interessen und Stimmungen. Erkenntnis dessen, was ist, wird so eingeschränkt auf den persönlichen Erfahrungshorizont und bleibt durch geschichtliche wie kulturelle Probleme beeinflußbar. Während das Streben nach Erkenntnis in der antiken Stoa zu einem stabilen, geistig-seelischem Ruhezustand führen sollte, wird hier die Möglichkeit dieses Ruhezustandes nicht nur bestritten, sondern die Möglichkeit einer unmittelbaren Erkenntnis selbst in Frage gestellt. Daher ist es für Löwith eine zwingende Konsequenz, daß Heideggers Ziel, das »je eigene Sein-können«, zwar als grundlegende Fragestellung und als Ausgangspunkt positiv ist, aber in der Konsequenz des Heideggerschen Denkens keine tradierten Werte von der Destruktion ausgenommen werden, dieses Denken aus sich selbst heraus keine eigenen Werte zu schaffen vermag und – wie Löwith aus der geistigen und politischen Zeitsituation schließt – obendrein zwangsläufig eine unkontrollierbare Entwicklung nimmt. Florian Grosser kritisiert in diesem Zusammenhang generell das »Pathos des Extremen« bei Heidegger, das sich »verstehend und argumentativ kaum einholen«47 ließe. Eine gangbare Alternative bleibt für Löwith zunächst nur die Orientierung an theologischen Denkern wie Karl Barth, weil ihr Ausgangspunkt die ewige Wahrheit einer Offenbarung bleibt: »Um zu einem analogen Schritt fähig zu sein, hätte die Philosophie nicht von ›Sein und Zeit‹ handeln müssen, sondern vom Sein der Ewigkeit«48 – ein außerordentlich pikanter Vorwurf, weil Löwith zugleich darauf hinweist, daß auch für Heidegger »geistiges Leben nur in der

47 Florian Grosser: Revolution denken. Heidegger und das Politische. 1919-1969; München 2011, S. 264. 48 Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland, S. 36. Löwith findet dieses Denken, das seinen Blick über den unmittelbaren Zeithorizont hinaus richtet, nicht nur in der christlichen Theologie, sondern auch bei Jacob Burckhardt, denn dieser »verzichtet, mit einer noch kaum beachteten Kühnheit, auf die Grundbegriffe und -vorurteile der modernen historischen Wissenschaft: auf ›Weltprozeß‹, ›Fortschritt‹ und sogar auf ›Entwicklung‹, weil es ihm letzten Endes überhaupt nicht um Zeitigungen, sondern um ›Ewigungen‹ zu tun war. Mit dem Verzicht auf Entwicklung und Fortschritt verzichtet er aber auch auf den in diesen Begriffen inbegriffenen Anspruch auf ›Sinn‹.« (id.: Jacob Burckhardt. Der Mensch inmitten der Geschichte (1936). In id.: Schriften 7; S. 39-361, S. 78f.).

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Theologie vorhanden« gewesen sei, eben »bei Barth und Gogarten«.49 Löwith impliziert damit, daß Heidegger sein eigenes Wissenschaftsideal aufgegeben habe. Löwiths weitergehender Vorwurf, auch bei Heideggers Philosophie handele es sich um eine verkappte Glaubenslehre und eine (wenn auch gottlose) Theologie, läßt sich kaum bestreiten – zu deutlich ist Heideggers Orientierung an zentralen Vorhaben der schon von Max Weber kritisierten Lebensphilosophie, die keine Wissenschaft, sondern Weltanschauung sein wollte. Auch Alfred Denker gibt dies unumwunden zu: »Die Auseinandersetzung zwischen der Philosophie als strenger Wissenschaft und der Philosophie als Weltanschauung wird für Heideggers Denkweg bestimmend sein. Er wird versuchen, eine Synthese zwischen beiden möglich zu machen.«50 Und so folgt Heidegger Diltheys grundsätzlicher Orientierung auf das Leben als der »Grundtatsache, die den Ausgangspunkt der Philosophie bilden muß. Es ist das von innen Bekannte, es ist dasjenige, hinter welches nicht zurückgegangen werden kann. Leben kann nicht vor den Richterstuhl der Vernunft gebracht werden.«51 Aus Löwiths Sicht, in der die Orientierung an der Vernunft die alleinige Richtschnur bildet, kommt diese Schwerpunktsetzung Heideggers einer grundsätzlichen Absage an jede Theorie und Wissenschaftlichkeit in der Philosophie gleich – auch das bedeutet: die Philosophie wird als Wissenschaft nicht ernstgenommen, sondern aufgegeben. Heideggers Versuch einer Synthese von lebensphilosophischer Weltanschauung und Wissenschaftlichkeit hat dabei eine durchaus missionarische Komponente: Wie bereits erwähnt, sieht Heidegger die Philosophie in einer Vorreiterrolle mit einem entsprechenden Führungsanspruch; eine Sichtweise, an der er – wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen – sein Leben lang festhalten sollte. Schon unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg beschäftigt sich Heidegger intensiv mit einer großangelegten Reform des Bildungswesens. Denn die »Erneuerung der Universität bedeutet Wiedergeburt des echten wissenschaftlichen Bewußtseins und Lebenszusammenhanges«;52 nur auf diese Weise also kann die Wissenschaft überhaupt die Grundierung zurückgewinnen, die es ermöglicht, die Probleme der Zeit anzugehen. Es steckt aber noch mehr dahinter, denn wo es bei Löwith um die Gewinnung einer Einheit von Denken und Streben geht, geht es

49 Id.: Mein Leben in Deutschland, S. 29. 50 Alfred Denker: Unterwegs in Sein und Zeit, S. 37f. 51 Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. In id.: Gesammelte Schriften Bd. 7 (ed. B. Groethuysen); Stuttgart 1979, S. 261. 52 Martin Heidegger: Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem. In id.: GA 56/57 (ed. B. Heimbüchel); Frankfurt/Main 1999, S. 3-117, S. 4f.

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bei Heidegger – ganz im Sinne der Lebensphilosophie – darum, eine andere Form der Einheit zu stiften, einer Einheit von Leben und Tun. Auch Heideggers Rettung der Universität geschieht nicht primär zum Zweck einer Rettung oder Erlösung der Welt; zunächst geht es um die Rettung der Wissenschaft, darum, »daß die verschüttete Idee selbst wieder ans Licht gebracht und Wissenschaft wieder wird eine Lebensform, nicht ein Handwerk und Geschäft«.53 In dieser Einheit liegt für Heidegger erst die Möglichkeit zur Erkenntnis, und wo Löwith die Notwendigkeit objektivierender Distanz als theoretische Lebensform voraussetzt, interpretiert Heidegger den Theoriebegriff zwar vordergründig ähnlich, wendet ihn jedoch lebensphilosophisch und kommt so zu einem völlig anderen Ergebnis: »Theorein ist bei Aristoteles eine Grundform des menschlichen Daseins, ein bios und zwar das höchste. Für die Antike ist der theoretische Mensch der eigentlich Handelnde, es gibt hier keinen Gegensatz zwischen theorein und praxis, theoria ist die höchste praxis.«54 So hält Heidegger zwar am Vorrang der Philosophie fest und weist ihr die Aufgabe zu, sie müsse sich »um die Erziehung des deutschen Volkes kümmern« und auf diese Weise »wieder zum eigentlichen Zentrum der Universität und des geistigen Lebens«55 werden. Dabei handelt es sich jedoch nicht mehr um eine Philosophie, die dem überlieferten klassischen Verständnis entspricht. Heidegger ist davon überzeugt, daß dieses Verständnis grundfalsch ist: »Aber was ist die θεωρία für den Griechen? Man sagt: die reine Betrachtung, die nur der Sache in ihrer Fülle und Forderung verbunden bleibt. Dieses betrachtende Verhalten soll unter Berufung auf die Griechen um seiner selbst willen geschehen. Aber diese Berufung hat unrecht. Denn einmal geschieht die ›Theorie‹ nicht um ihrer selbst willen, sondern einzig in der Leidenschaft, dem Seienden als solchem nahe und unter seiner Bedrängnis zu bleiben. Zum andern aber kämpften die Griechen gerade darum, dieses betrachtende Fragen als eine, ja als die höchste Weise der ἐνέργεια, das ›am Werke-Seins‹, des Menschen zu begreifen und zu vollziehen.«56

53 Id.: Grundprobleme der Phänomenologie. In id.: GA 58 (ed. H.-H. Gander); Frankfurt/Main 1992, S. 20. 54 Id.: Einführung in das akademische Studium. In id.: GA 28 (ed. C. Strube); Frankfurt/Main 2011, S. 345-361, S. 350. 55 Alfred Denker: Unterwegs in Sein und Zeit, S. 58f. 56 Martin Heidegger: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Rede, gehalten bei der feierlichen Übernahme des Rektorats der Universität Freiburg i. Br. am 27. 5. 1933. In id.: Das Rektorat 1933/34. Tatsachen und Gedanken; Frankfurt/Main 1983, S. 11f.

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Heideggers Idee des geistigen Lebens beruht auf der Einsicht, daß es keine unmittelbaren Erkenntnisse gebe – jede Beschreibung, jede Einsicht baut auf den Auslegungen anderer auf; »voraussetzungsloses Erfassen eines Vorgegebenen«57 ist nach Heidegger grundsätzlich unmöglich. Im Versuch, dies dennoch zu tun, gibt man sich Selbsttäuschungen hin und zerstört sogar die Möglichkeit eines Erfassens der Dinge. Heideggers Idee beruht aber auch darauf, daß das Denken selbst Tätigkeit ist, die abhängig ist von den Dingen, mit denen sie sich beschäftigt. Heidegger sieht, wie angeblich schon die Griechen, »die Theorie selbst als die höchste Verwirklichung echter Praxis«.58 Die Möglichkeit zu dieser Verwirklichung ist jedoch nach Heidegger nicht mehr einfach so gegeben, sondern sie ist überformt von jahrhundertelanger Überlieferung und von Konventionen traditioneller und gesellschaftlicher Art im weitesten Sinne – dazu zählt nicht zuletzt die Sprache. Dies alles ist zu reduzieren, damit gilt es radikal aufzuräumen, um überhaupt theoretisch denken zu können. Daraus entwickelt sich Heideggers Kritik an der wissenschaftlichen Weltsicht seiner Zeit, aber auch an der Tradition der Metaphysik und der Definition des Menschen als animal rationale und an dem Vorrang der theoretischen ratio allgemein. Der Abbau alles dessen, was den unverstellten theoretischen Blick und damit die Ermöglichung originär theoretischen Lebens behindert, ist für Heidegger eine unbedingte Notwendigkeit: »Es ist die Entscheidung des Daseins zu sich selbst als umwillen dessen das Dasein ist, was es ist. In dieser Entscheidung fällt das Dasein die Entscheidung zur eigenen Freiheit.«59 Entsprechend ist ein Fundament von Heideggers Denken der Satz des »ersten Philosophen« Prometheus »Wissen aber ist weit unkräftiger denn Notwendigkeit.«60 Darauf basiert Heideggers eigene Definition der Wissenschaft als »fragendes Standhalten inmitten des sich ständig verbergenden Seienden im Ganzen. Dieses handelnde Ausharren weiß dabei um seine Unkraft vor dem Schicksal.«61 Dieses wissenschaftliche Selbstverständnis Heideggers ist häufig mißverstanden worden, weil seine Synthese von Weltanschauung und Wissenschaft und die Umwertung des Theoriebegriffes in ihrer Tragweite und den praktischen Konsequenzen nicht immer vollständig erfaßt wurden. Ein besonders vielsagende Interpretation dieser Art findet sich bei Hajime Tanabe: »Wenn jedoch Heidegger, der aristotelischen Tradition folgend, das letzte Ziel der Philosophie

57 Id.: Sein und Zeit; Tübingen 2006, S. 150. 58 Id.: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, S. 12. 59 Id.: Einführung in das akademische Studium, S. 345-361, S. 361. 60 Id.: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, S. 11. 61 Ibid., S. 12.

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in der Theorie sieht, dann kann eine solche Philosophie letzten Endes kein großes Interesse daran haben, die Politik zu leiten und das Staatswesen zu verbessern. Wenn man die politische Entwicklung eines Staates philosophisch nur auf der Ebene der unumgänglichen Schicksalhaftigkeit des Seins betrachtet, kann man an dieser Entwicklung weder innerlich partizipieren, noch diese leiten. Die wissende Überlegenheit des Geistes beschränkt sich hier auf die bloß idealistische Überlegenheit einer Theorie, die sich ganz passiv ihrer eigenen Unkraft bewußt ist, ohne an der Gestaltung des Seienden mitzuwirken, dieses von innen her zu bewegen oder praktisch eine Leitungsfunktion anzustreben. […] Durch bloße Versenkung in das Schicksal, wie Heidegger es sich vorstellt, kann die Philosophie dem Staat keinen Dienst erweisen. Die Philosophie muß vielmehr die am Grund der realen politischen Entwicklung verborgene, ewige Vernunft erfassen, diese in eine praktisch die Wirklichkeit gestaltende Kraft umsetzen und sich, ohne ihre Selbständigkeit zu verlieren, ihrer konkreten Einheit mit dem Staat bewußt werden und so den inneren Geist des Staates bilden.«62 Diese Interpretation Heideggers aus der Endphase der europäischen Nachkriegszeit ist nicht nur wegen ihres deutlich wahrnehmbaren Echos des von Heidegger ausgehenden Anspruchs »den Führer zu führen« erschreckend. Tanabe geht zudem offenkundig davon aus, daß dieser Anspruch von Heidegger bereits in den 30er Jahren zugunsten einer Selbstbeschränkung auf die rein theoretische Schau im Rahmen der »Kehre« und der Desillusionierung durch den real existierenden Nationalsozialismus aufgegeben worden sei, und darin eine philosophische Selbstaufgabe ganz anderer Art liegt. Denn für Tanabe bleibt die Aufgabe der Philosophie an politische Entwicklung, praktische Machtausübung und den Staat als solchen gekoppelt. Sie hat eine führende und legitimierende Funktion. Florian Grosser hat in seiner Monographie dagegen überzeugend nachgewiesen63, daß auch Heidegger diesen Anspruch, Vorläufer und Verkünder einer neuen Zeit zu sein, vorbereitend die Revolution zu denken und als solcher mittelbar politisch zu wirken, nie völlig aufgegeben hat. Die Todtnauberger Hütte war auch dann, als das Tausendjährige Reich nach zwölf Jahren vorzeitig dahinschied, ein intellektuelles Zentrum Deutschlands mit menschen- beziehungs-

62 Hajime Tanabe: Philosophie der Krise oder Krise der Philosophie? In Hartmut Buchner (ed.): Japan und Heidegger. Gedenkschrift der Stadt Meßkirch zum hundertsten Geburtstag Martin Heideggers; Sigmaringen 1989, S. 139-145, S. 142-145. 63 Siehe S. 77, Fußnote 47.

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weise gesellschaftsbildenden Ambitionen; Zeitzeugen wie Löwith bezeichnen den Einfluß Heideggers gar als »allbeherrschend«.64 Die von Heidegger beanspruchte und ausgeübte Führungsrolle verlangt von der Philosophie allerdings grundsätzlich – und auch während der 30er Jahre – eine gewisse, zumindest theoretische »Selbstbehauptung«; in der Praxis erwies sich die Beschaffenheit dieser Selbstbehauptung jedoch sehr rasch als eine von vielen Spielarten des verbreiteten Privatnationalsozialismus gewöhnlicher Bürger und Intellektueller. Die Forderung nach Selbstständigkeit erwies sich als Illusion, und wo das nicht der Fall war, war Isolation und Wirkungslosigkeit im Rahmen totalitärer Gleichschaltung die Folge. Das gilt auch für den Meßkircher Meister der Philosophie. Grundsätzlich ist schwer vorstellbar, wie eine Philosophie, die es als ihre Aufgabe betrachtet im Sinne Tanabes, »dem Staat« einen »Dienst erweisen« zu müssen, dieser Aufgabe im Sinne einer wirklichen Selbstbehauptung unter den erschwerten Bedingungen einer Diktatur genügen will. Stattdessen ist zu befürchten, daß sie selbst in einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft häufig genug nicht kritisch, selbstständig und unabhängig, sondern okkasionell, opportunistisch und abhängig denken dürfte. Aus dieser Erfahrung heraus dürfte es auch im Sinne der Philosophie sein, was Georges Bataille über die Literatur schrieb: »Wer immer die nützliche Tätigkeit – im Sinne eines allgemeinen Wachstums der Kräfte – lenkt, vertritt Interessen, die denen der Literatur entgegengesetzt sind. In der herkömmlichen Familie verschwendet der Dichter das Erbe und wird verfemt; wenn die Gesellschaft strikt dem Prinzip der Nützlichkeit

64 So in einem Brief an Eric Voegelin vom 6.VI.1952. Hier heißt es: »Heidegger hab ich nicht ohne Absicht mit ›Handschuhen‹ angefasst, um nicht von vorn herein seine zahlreichen Anhänger und Bewunderer abzustossen. Sein Einfluss ist allbeherrschend, unter den begabten jungen Menschen sowohl wie bei den älteren. Es ist sicherlich der pseudoreligiöse Unterton der fasziniert + seine Feindschaft gegen die ›Wissenschaft‹. Er ist + bleibt ein kleiner grosser Mann von einer unheimlichen Dämonie und Hartnäckigkeit.« (zitiert nach: Karl Löwith / Eric Voegelin: Briefwechsel. Mit einer Einleitung von Peter J. Opitz. In Sinn und Form 6/2007, S. 764-794, S. 793f.). Wenige Monate zuvor hatte Löwith über seine eigenen Prioritäten an Jaspers geschrieben: »Im Übrigen habe ich vor, mich von allen akad[emischen] Machenschaften so fern wie möglich zu halten. Wichtiger ist für mich, eine klare Stellung zu Heidegger in seinem übermächtigen Einfluss auf die Jugend zu gewinnen, ein Einfluss, der, soweit ich die Lage übersehen kann, anstachelnd, aber auch verheerend ist.« (Karl Löwith an Karl Jaspers, 4.IV.1952; Marbach/Neckar, Deutsches Literaturarchiv, A: Jaspers)

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gehorcht, dann vergeudet der Schriftsteller in ihren Augen die Ressourcen, es sei denn, er würde dem Prinzip der Gesellschaft dienen, die ihn ernährt.«65

65 Georges Bataille: Henker und Opfer, S. 60.

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Wie in vielen Bereichen der freien Künste gibt es auch in der Philosophie eine Auseinandersetzung, ob Philosophie sozial und politisch engagiert sein müsse oder nicht. Auch die hier diskutierte Debatte über den Wissenschaftsbegriff in Löwiths Philosophie ist ein Ausdruck dafür. Konkret bedeutet das, daß Löwith sein Festhalten am Prinzip reiner theoretischer Schau bis heute immer wieder als Verweigerung einer Stellungnahme ausgelegt und ihm dies auch vorgeworfen wurde. Jürgen Habermas spricht von einem »stoischen Rückzug vom historischen Bewußtsein«; Hannah Arendts Mann Heinrich Blücher schreibt bündig, »Positiv hat Löwith natürlich wie immer nichts zu sagen«;1 Herbert Marcuse schließlich meint in der Entgegnung auf eine Rezension Löwith spöttisch: »It seems that Mr. Löwith […] deems it incompatible with the dignity of philosophy to take sides in the great historical struggles of our time«.2 Marcuses Empörung versteht sich aus der idealistisch-marxistischen Haltung, daß das Denken nicht nur oppositionellen Charakter habe und im Denken der Möglichkeiten von Menschen und Dingen »seine Wahrheit der der gegebenen Wirklichkeit entgegen« als Alternative setzt, sondern selbst von Grund auf revolutionär-praktisch sein soll: »die wesentliche Potentialität ist von einer völlig anderen Ordnung. Ihre Verwirklichung macht die Vernichtung der bestehenden Ordnung notwendig, denn Denken im Einklang mit der Wahrheit ist die Verpflichtung, im Einklang mit der Wahrheit zu existieren.«3 Daraus folgt, daß die

1

Für Habermas siehe Unterkapitel: Nach Wissenschaft als Beruf, S. 55, Fußnote 31; für Hermann Blücher siehe seinen Brief vom 7.VI.1952 an Hannah Arendt. In Hannah Arendt / Hermann Blücher: Briefe 1936-1968 (ed. Lotte Kohler); Zürich 1999, S. 285.

2

Karl Löwith: Zwei Rezensionen von Herbert Marcuses Vernunft und Revolution

3

Beide Zitate aus Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideolo-

(1941/42). In id.: Schriften 5; S. 62-69, S. 65. gie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft; München 2008, S. 147f.

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Theorie ohne anschließende Praxis, die den Anspruch erhebt, gesellschaftlich umwälzend wirksam zu sein, inkonsequent und wertlos bleibt. Der eigentliche Gedanke dahinter ist aber der, daß das Streben nach einem guten, nach einem tugendhaften Leben immer nur in gesellschaftlicher Perspektive funktioniert, da der Mensch grundsätzlich als homo politicus verstanden wird und durch diese gesellschaftliche Perspektive entscheidend bestimmt wird. Theoretisches Denken ist damit nicht so sehr die Suche nach der Wahrheit (die zumindest im real existierenden Sozialismus immer schon eine bereits erkannte ist), sondern dient dazu, »die kritische Spannung zwischen ›ist‹ und ›sollte sein‹ zunächst als einen ontologischen Sachverhalt«4 zu verstehen, der dann zu ändern ist. Marcuse überträgt diese Einschätzung in der üblichen Konsequenz politischer Denker umstandslos von der Wahrheit, dem guten Leben und der Gesellschaft auf den Menschen selbst. Denn »der philosophische Begriff ›Mensch‹ zielt auf die vollentwickelten menschlichen Anlagen ab, die seine eigentümlichen Anlagen sind, und die als Möglichkeiten der Bedingungen erscheinen, unter denen die Menschen tatsächlich leben. Der Begriff artikuliert die Qualitäten, die als ›typisch menschlich‹ bezeichnet werden. […] Sie sind geschichtlich und übergeschichtlich; sie bringen den Stoff, aus dem die erfahrene Welt besteht, auf den Begriff und tun dies im Hinblick auf seine Möglichkeiten, im Lichte ihrer gegenwärtigen Beschränkung, Unterdrückung und Verneinung. Weder die Erfahrung noch das Urteil ist privat.«5 In der Konsequenz ergibt das, daß es dem Menschen, um Tugend in letzter Potenz erkennen und um wirklich tugendhaft leben zu können, um die Entwicklung der in der Menschheit vorhandenen Anlagen gehen muß. Diese Qualitäten sind aber zumindest teilweise geschichtlich bestimmt, was einerseits ihren Charakter als Prinzipien grundsätzlich in Frage stellt, aber ebenfalls bedeutet, daß sie heute noch gar nicht umfassend erfahrbar sind, sondern erst in der weiteren Zukunft zutage treten werden. Ziel ist also zwangsläufig ein neuer Mensch, der sich durch die Negation des Bestehenden – inklusive des bisher bestehenden Menschen selbst – aus der gegenwärtigen Lage offenbart, entpuppt und selbst befreit. Diese »befreite Menschheit ist nur noch als die radikale (nicht mehr bloß ›bestimmte‹) Negation des Bestehenden denkbar, weil unter der Macht des Bestehenden selbst das Gute ohnmächtig wird und mitschuldig.«6 Marcuse bewegt sich damit in der Traditionslinie der Forderung, die Marx bereits in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern aufgestellt hat und

4

Ibid., S. 149.

5

Ibid., S. 226f.

6

Id.: Nachwort. In Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze. Mit einem Nachwort von Herbert Marcuse; Frankfurt/Main 1965, S. 99-107, S. 100.

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deren erste Bedingung auch bei Marx zuerst die Negation des Bestehenden ist: »Ist die Konstruktion der Zukunft und das Fertigwerden für alle Zeiten nicht unsere Sache, so ist desto gewisser, was wir gegenwärtig zu vollbringen haben, ich meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, rücksichtslos sowohl in dem Sinne, daß die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet und ebensowenig vor dem Konflikte mit den vorhandenen Mächten.«7 Es dürfte wenig überraschen, daß Löwith diese Argumentation spätestens dort zurückweist, wo Marcuse von der unbedingten Notwendigkeit weltverändernden revolutionären Handelns spricht: »I disagree with Marcuseʼs own presupposition – determined by his opposition to the acceptance of given facts – that the task of philosophy is primarily the criticism of the given state of affairs, with the Marxian tendency, to change the world for the sake of ›happiness‹.«8 Dem stellt er – recht apodiktisch – entgegen, daß sich wirklich hervorragende Philosophen ein im höheren Sinne unabhängiges Denken bewahren würden, das sich von sogenannten Fakten nicht beherrschen lasse: »Great philosophers are always revolutionary as well as reactionary, neither merely accepting nor merely rejecting a given state of affairs. For they were never concerned primarily and exclusively with those ›facts‹ by which Marx was so completely obsessed that he could not help negating them.«9 Hier taucht wieder ein Gedanke aus Löwiths Jugend auf, ein Gedanke, der über die alte Vorstellung von Philosophie als Metaphysik noch hinausgeht: »In mir wenigstens kommt dann als Reaktion immer leicht der verborgene Wunsch auf dass uns das sog. intellektuelle Gewissen doch erlauben möchte in aphoristisch-konzentrierter Romantikerart zu philosophieren u[nd] die geistige Energie mehr den persönlichen Problemen zu Gute kommen zu lassen als der wissenschaftl[ichen] Litteratur. Man muss soviel opfern um heutzutage wiss[enschaftlich] satisfaktionsfähig zu sein, gelten zu können u[nd] angehört zu werden. Weiss wohl dass das andre was ich im Auge habe letztlich ganz u[nd] gar auf originärer, originaler, persönlich stark gefärbter Produktivität ruht u[nd] nur daraus sich das Recht nehmen kann über die Köpfe der phil[osophischen] Wissenschaftler hinweg zu philosophieren. Man rückt damit eng an die Grenze der künstlerischen Existenz.«10 Diese »künstlerische Exis-

7

Karl Marx an Arnold Ruge, IX.1843. In Karl Marx: Briefe aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern. In id.: Werke Bd 1; Berlin 1976, S. 337-346, S. 344.

8

Karl Löwith: Zwei Rezensionen, S. 63f.

9

Ibid., S. 69.

10 Karl Löwith an Martin Heidegger, 29.XI.1920; Marbach/Neckar, Deutsches Literaturarchiv, A: Heidegger.

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tenz« war für Löwith auch im intellektuellen Sinne immer ein starker, persönlicher Bezugspunkt. Dazu zählt Nietzsche und als inhaltlicher Gegenpol Burckhardt, der in Löwiths Deutung ebenfalls seine Zuflucht aus der Zeit bei der Kunst nimmt;11 in der Autobiographie von 1940 nennt er unter anderem van Gogh, aber auch Rilke, und den Schlußstein seines Werkes widmet er der Entdeckung seines Alters: Paul Valéry. Hier geht die Identifikation so weit, daß Leo Strauss die eigene Stimme Löwiths schon nicht mehr zu erkennen vermochte.12 Und so läßt sich dieses letzte Buch Löwiths auch als Versuch lesen, die klassischen Gesetze von Kommentar und Interpretation durch die Zurücknahme der eigenen Stimme noch weiter zu unterlaufen. Denn diese Zurücknahme gilt nicht nur für Löwiths Privatleben, über dessen Spätzeit Löwiths Frau Ada an Gershom Scholem schrieb: »Wenn ich die letzten Jahre mir vor Augen halte, […] fällt auf, dass er immer stiller wurde, weniger Menschen und Mitteilungen brauchte. Er lebte wirklich seinem Ende entgegen, dass die Valéry-Studien sein Letztes sein würden, das sagte er schon seit langem. Wenn er diese Idee ›sich nicht selbst zu überleben‹, (vielleicht) aus jugendlichen Zeiten mit sich genommen hatte: er hielt an ihr fest.«13 Sicherlich steht hinter Löwiths Rückzug auch eine Haltung stoischer Selbstgenügsamkeit und das Gefühl, ein unzeitgemäßer Denker einer im klassischen Sinne toten Disziplin zu sein14, aber diese Interpretation bleibt

11 Über ihn schreibt Löwith: »Den eigentlichen Weg zum Empfinden des Glücks eröffnete ihm daher nicht schon die Geschichte der Welt, sondern die Geschichte der Kunst, die uns ein ›zweites Dasein‹ deutet, in dem das Wesen mit der Erscheinung im Einklang ist.« (Karl Löwith: Jacob Burckhardt. Der Mensch inmitten der Geschichte (1936). In id.: Schriften 7; S. 39-361, S. 86) 12 Das geht aus Straussʼ letztem Brief an Löwith vom 30.IX.1971 hervor, in dem Strauss sich für das Buch über Valéry bedankt: »Da ich von mir aus kaum einen Zugang zu Valéry habe, interessierte mich vor allem, wie er sich in Ihr Denken einfügt. Er scheint wohl derjenige Denker der vorhergehenden Generation zu sein, dem Sie sich am verwandtesten fühlen. Es hätte mir geholfen, wenn mir klar geworden wäre, wo Sie sich von ihm trennen.« (in Leo Strauss: Gesammelte Schriften Bd. 3 (ed. Wiebke und Heinrich Meier); Stuttgart 2001, S. 607-697, S. 697) 13 Ada Löwith an Gershom Scholem, Brief vom 14.VII.1973. In Gershom Scholem: Briefe Bd. 3. 1971-1982 (ed. Itta Shedletzky); München 1999, Anm. 1 zu Brief 78, S. 334. 14 1969 antwortet Löwith auf die Frage des SPIEGEL, ob er glaube, »daß die Philosophie mit ihren klassischen Problemen überhaupt wiederherstellbar ist?« klar und eindeutig mit: »Nein. Die klassischen Probleme Gott-Mensch(Seele)-Welt: Von der Seele mag sowieso niemand mehr sprechen, weil man nicht weiß, ob man überhaupt eine

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oberflächlich. In der Gesamtschau läßt sich dieses Verhalten nämlich auch als wissenschaftlich-künstlerischer Standpunkt erklären, den wir ähnlich auch bei Valéry oder in Goethes Klage über den Kunstbetrieb finden: »Auch denkt niemand daran, sich von einem Werk der Poesie auf seinem eigenen Wege fördern zu lassen, sondern jeder will sogleich wieder dasselbige machen. Es ist ferner kein Ernst da, der ins Ganze geht, kein Sinn, dem Ganzen etwas zuliebe zu tun, sondern man trachtet nur, wie man sein eigenes Selbst bemerklich mache und es vor der Welt zu möglichster Evidenz bringe. – Dieses falsche Bestreben zeigt sich überall, und man tut es den neuesten Virtuosen nach, die nicht sowohl solche Stücke zu ihrem Vortrage wählen, woran die Zuhörer reinen musikalischen Genuß haben, als vielmehr solche, worin der Spielende seine erlangte Fertigkeit könne bewundern lassen. Überall ist es das Individuum, das sich herrlich zeigen will, und nirgends trifft man auf ein redliches Streben, das dem Ganzen und der Sache zuliebe sein eigenes Selbst zurücksetzte«.15 Löwith verweigert sich der Versuchung, seine Darstellung zum Selbstzweck und zur Selbstdarstellung zu instrumentalisieren. Seine philosophische Methode der »zweckfreien Theorie« besitzt, wenn man die wissenschaftlich-skeptische Haltung ihres Urhebers ernstnimmt, nicht zuletzt den ebenso unscheinbaren wie überzeugenden Vorzug, keinen Glauben zu verlangen und insofern vorläufig zu sein. Sie bleibt eine zurückhaltende und stets fragende Annäherung, die gleichwohl ein kontinuierlicher Prozeß mit dem Ziel ist, »seine Gedanken zu Ende zu denken«.16 Es läßt sich die These vertreten, daß Löwith zwar unbedingt am Ideal zweckfreier Theorie festhält und versucht, die Geisteswelt der Gegenwart durch eine Geistesgeschichte zu erklären, die nicht nur an historisch gewordenen Fakten orientiert ist. Sein eigentliches Thema, auf das er dieses Ideal anwendet ist die Frage nach dem Menschen, der Versuch, den Menschen als ein Wesen zu definieren, das sich ewig gleichbleibt und dem dennoch unendliche Verhaltensmöglichkeiten offenstehen, die man dann als gut oder schlecht, sinnvoll oder sinnlos

hat. Von Gott trauen sich nicht einmal mehr die Theologen zu reden. Und von der Welt der Natur könnte man zwar durchaus sinnvoll sprechen, aber, wie gesagt, nur dann in einer nicht dilettantischen oder halb mythischen oder halb dichterischen Weise, wenn man in der Naturwissenschaft die nötigen Kenntnisse hat.« (siehe Karl Löwith: Wozu heute noch Philosophie? SPIEGEL-Gespräch mit dem Philosophen Karl Löwith. In: DER SPIEGEL 43/1969 (vom 20.X.), S. 204-211, S. 211) 15 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens; Berlin 1922. Gespräch vom 20.IV.1825, S. 112. 16 Paul Valéry: Tanz, Zeichnung und Degas; Frankfurt/Main 1951, S. 18.

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bewerten mag. Da Löwith diese Frage aus einem tiefen persönlichen Interesse heraus fragt, ist sein Ansatz nicht ganz so zweckfrei wie er vielleicht scheinen mag, sondern folgt einer inneren Notwendigkeit. Dazu paßt, daß Löwith trotz des scheinbar streng wissenschaftlichen Gewandes über Wissenschaft und Historie als solche hinausweisen will; sein Entwurf von Mensch und Welt verfügt über eine eigene, geradezu künstlerische Dimension. Nimmt man Rücksicht auf die Aussage, daß Valéry Löwiths letzte große Bezugsperson und gewissermaßen sein »letztes Wort« sei, dann bietet sich ein Vergleich nicht nur im Inhalt, sondern auch in Form und Absicht an. Denn so wie sich bei Löwith ein Bezug auf Mythos, Kunst und Kunstgeschichte ausmachen läßt, so findet sich auch bei Valéry ein korrespondierender, nichtsdestotrotz aber fundamental moderner Widerhall der gleichen Haltung des Staunens im Angesichts des Kosmos, die reich ist an Bezügen zu und Umdeutungen von Bildern, die wir schon bei Heraklit und den Vorsokratikern, also an den Anfängen der europäischen Philosophie finden können: »So wie die Alten ihren Pythien bebend ihre Vorhaben und ihre Zweifel unterbreiteten und wie sie es dem Rasen einer Seherin das Amt anvertrauten, Antworten zu bilden, die ihnen das kalte Denken der Vernunft und der Wissenschaft zu formen nicht verstatteten, genauso gibt der Töpfer oder der Glaser dem Feuer das Problem einer Vase auf; und das Feuer gibt den Wahrspruch. […] Darf ich das Bekenntnis wagen, daß ein schöner Gegenstand, der aus der Feuerprobe hervorgegangen ist, mir immer wieder eine Sternengeschichte vergegenwärtigt? Ich bewege in meinem Sinn, daß eine bewohnbare Erde oder ein bewohnbarer Mars schließlich nichts anderes sind denn erkaltete Körper, worauf die sehr vielfältigen, sehr eng gesteckten, sehr zusammengesetzten Bedingungen der Möglichkeit des Lebens sich in einer Art und Weise vereinigt finden, für deren Zustandekommen sehr wenig Wahrscheinlichkeit bestand. […] Vielleicht sind die Planeten nichts anderes als Gegenstände, die einem unbestimmbaren Plane dienstbar sind, den die Lebenden, ohne es zu wissen, fördern oder kränken. Die Künste, die das Feuer wirkt, wären damit die verehrungswürdigsten von allen, ahmen sie doch so genau das überirdische Wirken eines Weltenschöpfers nach.«17 Wie von Valéry läßt sich auch von Löwith sagen, seine Wissenschaftsidee und ihr »zur äußersten Konsequenz gesteigerte[s] lʼart pour l’art-Prinzip transzendiert […] sich selber, treu dem Satz der Wahlverwandtschaften, daß alles in

17 Id.: Von der überragenden Würde der Künste, die das Feuer wirkt. In id.: Über Kunst. Essays; Frankfurt/Main 1962, S. 9-14, S.12-14.

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seiner Art Vollkommene über seine Art hinausweise.«18 Dabei geht es Löwith nicht nur um die Kunst oder die Philosophie, sondern zu allererst um den, der ihr Schöpfer ist: um den Menschen, der für Löwith gleichfalls permanent über sich hinausweist und die Natur transzendiert, dabei aber doch stets ihr Teil bleibt. Sein Bezugspunkt ist dabei nicht unbedingt der Mensch als Individuum, der sich selbst auslegt; auch nicht nur der Mensch als historisches oder soziales Wesen. Löwith fragt nach dem Menschen als solchem, dem es um die Möglichkeiten seiner Menschlichkeit und im philosophischen Sinne um ein gutes Leben zu tun ist. Löwith interessiert sich nicht so sehr dafür, Funktionsweisen des Menschen oder seine gesellschaftlichen Bedingtheiten zu untersuchen. Er fragt nach den überzeitlichen Merkmalen des Menschen, nach seiner eigenen Ganzheit, die sich in der Einheit von Streben und Denken findet, aber auch nach seiner Opferbereitschaft und Humanität.19 Dabei ähnelt seine Haltung der, die Valéry auch dem

18 Theodor W. Adorno: Der Artist als Statthalter. In id.: Noten zur Literatur; Frankfurt/Main 1958, S. 173-193, S. 178. 19 Löwith verweist in diesem Punkt gerne auf Burckhardt und seine an den Griechen orientierte Art des wissenschaftlichen Fragens: »Den Griechen sei es daher auch in ihrer Geschichtsschreibung nie auf das Historisch-Exakte angekommen, worein die moderne Geschichtsschreibung ihren Stolz setzt. […] ›Pathologisch‹ nennt er seine anthropologische Betrachtungsweise deshalb, weil der einzig für uns mögliche Ausgangspunkt der vom ›duldenden und strebenden Menschen‹ sei. Aus der weitläufigen Weltgeschichte will Burckhardt gerade auf das Nächstliegende zurückführen. Denn in dem, worauf es ankomme, sei der geschichtliche Mensch schon vor 2000 Jahren auf der Höhe der Zeit gewesen. Der menschliche Geist sei schon früh ›komplett‹ gewesen und ›wenn schon in alten Zeiten einer für den anderen das Leben hingab, so ist man darüber nicht mehr hinausgekommen‹. Burckhardts Anspruchslosigkeit bezüglich des Exakten und des Spekulativen bedeutet also nur einen Verzicht auf jegliche Übersteigerung der faktisch möglichen Wahrnehmungen und Beobachtungen – auf diesem seinem eigentümlichen Boden beurteilt er aber historisches Geschehen und historische Persönlichkeiten anspruchsvoller und strenger, als man es sonst von Philosophen und Historikern gewöhnt ist. Sein Skeptizismus gegen die Vernunft in der Geschichte entspringt einem ausgesprochenen Moralismus in der Beurteilung menschlichen Geschehens.« (Karl Löwith: Burckhardts Stellung zu Hegels Geschichtsphilosophie (1928). In id.: Schriften 7; S. 1-38, S. 3f.) Hier taucht nicht nur Löwiths Überzeugung wieder auf, daß der Mensch als solcher sich nicht verändert. Es geht hier auch um eine veränderte Fragestellung, wenn wir über den Menschen und seine Welt reden. Löwith geht es darum, herauszufinden, was den Menschen als Menschen prägt; erneut würde er sich Paul Valéry anschließen, wenn dieser schreibt: »Die Literatur- und die Kunstge-

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von ihm bewunderten Degas zuschreibt und in der Valéry eine moralische Qualität erkennt: mit »seinem ausgesprochenen Eigenwillen, seiner ewigen Unzufriedenheit mit jedem Zug, der nicht mühsam erkämpft werden mußte, seiner fürchterlichen Bereitschaft zur Kritik, seiner allzu innigen Vertrautheit mit den großen Meistern – er durfte sich niemals der natürlichen Wollust überlassen. Ich liebe diese Strenge. Es gibt Wesen, die nur dann das Gefühl haben, zu handeln, wenn sie dies im Kampfe gegen sich selber tun. Vielleicht liegt hierin das Geheimnis des wahrhaft sittlichen Menschen.«20 In dieser konsequenten Auslegung des aristotelischen Wissenschaftsprinzips läßt sich dann festhalten: »Die Würde des Menschen liegt ganz und gar in jenen Augenblicken begründet, in denen er für die Gegenstände der Reflexion ohne praktischen Nutzen und sogar ohne Reiz und ohne Zukunft ebensoviel Aufmerksamkeit und Hingabe aufbringt, wie er seiner Existenz zukommen läßt.«21 Marx würde sich dieser Auffassung möglicherweise sogar anschließen, nur ist sie für ihn – ganz im Unterschied zu Löwith – in der heute existierenden kapitalistischen Welt eine Unmöglichkeit. Denn für ihn ist der heutige Mensch wesentlich fremdbestimmt, gerade auch von Nutzen- und Zweckbestimmungen. Marx definiert den Menschen – so wie er heute in der bürgerlichen Gesellschaft ist – als Teil einer kapitalisierten Warenwelt. So wie Waren eine gesellschaftliche und politische Bedeutung besitzen, so bestimmen sie ganz wesentlich auch ihren Besitzer – oder denjenigen, der sie eben nicht besitzt. Dadurch wird der Mensch von dem, was er eigentlich ist, also von sich selbst entfremdet. Erst wenn die Warenwelt und die von ihr bestimmten konkreten Lebensverhältnisse

schichte sind ebenso belanglos wie die allgemeine Historie. Diese Nichtigkeit beruht auf einem seltsamen Mangel an Wißbegierde seitens der Autoren. Die Fähigkeit, Fragen zu stellen, selbst ganz einfache, scheint ihnen völlig abzugehen. So kümmert man sich, nur um ein Beispiel zu nennen, wenig genug um Wesen und Wichtigkeit der Beziehungen, die, in einer bestimmten Epoche, die junge Generation mit der alten verbinden: Bewunderung, Neid, Verständnislosigkeit, Auseinandersetzungen; übernommene Vorschriften und Methoden, die verschmäht werden; wechselseitige Beurteilungen; gegenseitige Ablehnung, Verachtung, reuige Rückkehr…« (Paul Valéry: Tanz, S. 20). Löwiths eigene Philosophiegeschichtsschreibung, die sich auf das Fortleben und die Entstehung bestimmter Vorstellungen im philosophischen Denken europäischer Tradition konzentriert, ist auch ein Versuch, solche Beziehungen aufzuzeigen – wenn auch nur auf der Ebene der Ideengeschichte und nicht derjenigen der Psychologie. 20 Paul Valéry: Tanz, S. 88. 21 Id.: Aus den Cahiers. In Thomas Stölzel (ed.): Ich grase meine Gehirnwiese ab. Paul Valéry und seine verborgenen Cahiers; Frankfurt/Main 2011, S. 57-337, S. 76.

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des vom Kapital wesentlich bestimmten Menschen aufgehoben werden, ist der Raum geschaffen, in dem ein freier, ein menschlicher Mensch zutage treten kann.22 Bei Marx ist der Mensch (noch) nichts wirklich eigenes, er wird es erst im neuen Menschen des Sozialismus: der Proletarier definiert sich wesentlich über seine »proles«, seine Nachkommen – eben weil er erst über den Klassenkampf in der Zukunft die Möglichkeit gewinnen wird, die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft und seine eigene Selbstentfremdung zu überwinden. Löwith lehnt Marx nicht nur wegen Marxens antibürgerlicher Affekte ab, sondern vor allem, weil Löwith Marxens Menschenbild für ein sehr beschränktes hält, das den Menschen in zeitlicher wie ökonomischer Hinsicht zu einer Ziffer im Produktionsprozeß reduziert. Man kann sagen, daß beider Vorstellungen vom Menschen schlicht inkompatibel sind: Für Löwith ist jeder Mensch zumindest in seinen geistigen (und in letzter Konsequenz teilweise auch in seinen praktischen) Möglichkeiten den Bedingungen, die ihm von Zeit und Gesellschaft diktiert werden, enthoben. Dementsprechend bevorzugt Löwith das Konzept des Spezialisten, wie es bei Max Weber zu finden ist, dessen »Soziologie das Gegenstück zum Kapital von Marx ist.«23 »Der wesentliche Unterschied besteht […] darin, daß Weber das, was Marx als ›Selbstentfremdung‹ durch Verdinglichung interpretiert und bekämpft, als das unaufhebbare Schicksal der Rationalisierung anerkennt.«24 Denn für Löwith ist es unwiderlegbar, daß sich die Welt grundlegend gewandelt hat und daß die durch die Wissenschaft verursachten Rationalisierungsprozesse unumkehrbar sind. Das gilt auch für die Säkularisationsprozesse, die das Fundament traditioneller Werte zerstört haben und durch die auch die Wissenschaft wertfrei, aber keineswegs frei von Werturteilen(!) geworden ist. Wenn dadurch eine Entfremdung des Menschen von seinen Lebensbedingungen, aber auch von seiner früheren Welterklärung und Lebenswelt hervorgerufen wird, so gilt es, damit umzugehen. Und für Löwith ergeben sich aus der neuen Lebenssituation auch neue Möglichkeiten – in der Philosophie im speziellen ist es der Versuch eines neuen Anfangs nach Hegel und der Versuch einer Rückbesinnung auf die natürlichen Bedingungen und Merkmale der menschlichen Existenz. Im allgemeinen sieht Löwith neue, positive Möglichkeiten in der Spezialisierung des Fachmenschen, die den jeweiligen Menschen in

22 Vgl. Karl Löwith: Max Weber und Karl Marx (1932). In id: Schriften 5; S. 324-407, S. 379ff. 23 Id.: Max Webers Stellung zur Wissenschaft (1964). In id: Schriften 5; S. 419-447, S. 422. 24 Ibid.

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die Lage versetzt, seine Fähigkeiten so weit zu steigern, daß hier eine neue Art der Individualität und Ganzheit entsteht, die sich über bloße Verwertbarkeit in arbeitsteiligen Prozessen erhebt und die Möglichkeit zu einer Vielzahl verschiedener Standpunkte und den Versuch zu deren dialektischer Aufhebung in einer neuen Universalität schafft. Die eine Wahrheit im Sinne eines Heilsversprechens gibt es allerdings nicht mehr, sie läßt sich auch nicht zurückgewinnen. Die neue, erst zu erlangende Wahrheit ist für Weber wie für Löwith eine, die von uns zunächst die Befreiung von Illusionen und allen denkbaren Vorurteilen verlangt; und zu den Illusionen gehören Offenbarungen, Heilsversprechen und Vorausbestimmtheiten jeder Art. Zugleich ist sie aber unmöglich zu erreichen, da wir uns eben nicht freimachen können von diesen unseren Vorausbestimmtheiten – weil es uns eben, anders als der Marxismus es für sich behauptet, nicht möglich ist, zu vollkommen wissenschaftlich objektiven Maßstäben und Urteilen zu kommen. Diese neue Wahrheit ist aber ein Ziel, dem wir uns durch die Dekonstruktion dieser vorgefaßten Maßstäbe durch Rationalisierung annähern können. In der Konsequenz ist es für Weber wie für Löwith absolut notwendig, immer wieder bereit zu sein zur Abstandnahme und Kritik auch gegenüber unseren eigenen Urteilen. Darin liegt das eigentliche wissenschaftliche Ethos. Auch hier zeigt sich eine Bruchlinie zum Marxismus, an dem schon Weber kritisierte, »daß er die Subjektivität seiner fundamentalen Voraussetzungen unter dem Anschein ihrer ›objektiven‹, allgemeinen Gültigkeit vorträgt, daß er beides vermischt und wissenschaftlich ›befangen‹ ist, nämlich in seinen eigenen Werturteilen und Vorurteilen. […] Der Marxismus ist also nach Weber nicht etwa zu wenig wissenschaftsgläubig, sondern viel zu sehr, und was ihm fehlt, ist die ›wissenschaftliche Unbefangenheit‹ hinsichtlich der Fragwürdigkeit wissenschaftlicher Objektivität.«25 Die Weltsicht des Marxismus ist eine prozessuale, die auf ein sehr irdisches neues Jerusalem gerichtet ist und Hand in Hand geht mit einer ähnlichen Auffassung, wie sie in der modernen Naturwissenschaft verbreitet ist: Erlösung durch Wissenschaft, Erlösung durch Technik.26 Wo sich der Marxist Benjamin aus der

25 Id.: Max Weber und Karl Marx, S. 336. 26 Löwith diagnostiziert dieses prozessuale Denken vor allem in der Physik und schlägt zugleich die Brücke zu grundsätzlichen Fragen nach Wahrheit und Werten: »Auch die Physik denkt immer mehr geschichtlich. […] Die Materie ist Energie und die Realität ›Prozeß‹ geworden. Das Insgesamt der natürlichen Welt hat sich in eine physische Welt-Geschichte verwandelt, die sich nicht mehr nach ewigen Gesetzen im Kreise bewegt, sondern nach statistischen Gesetzen fortschreitet und Sprünge macht. […] Ein auswegloses Problem: der Historismus, ein maßlos gewordenes historisches Denken,

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technischen Reproduzierbarkeit universale Maßstäbe zur Verwirklichung einer utopischen sozialistischen Zukunft erhoffte, greift Löwith zurück auf individuelle und damit traditionelle Werte, die sich der einfach-künstlichen Universalisierung entziehen und gerade auf diese Weise zu einem universalen Vorbild werden können. Auch Valéry sieht in der »Steigerung des Spezialistentums zur Universalität […] das Potential einer möglichen Gegenwirkung gegen jenen Zerfall der menschlichen Kräfte«27. Doch für Löwith ist diese Universalität eben kein universal gültiges und umfassendes Endziel. Wenn Löwith eine solche »Universalität« anstrebt, dann eher in Form eines Dialoges zwischen Partikularitäten, die nicht revolutionär abgeschafft, sondern – im klassisch hegelischen Sinne – ineinander aufgehoben werden sollen, nur um in einer Universalität aufzugehen, ohne sich dabei als gegensätzliche Positionen zu verlieren. Im Klartext bedeutet das, daß im Marxismus die Gegensätze überwunden und abgeschafft werden sollen, während Löwith in den Gegensätzen menschlichen Lebens einen Ausdruck der menschlichen Freiheit sieht, die allerdings durch Vorurteile und den Drang nach Vereinheitlichung gefährdet ist. Die Gegensätze und die Möglichkeiten, die sie bieten, bleiben über ihre Aufhebung hinaus als menschliche Möglichkeit bestehen. Sie können weiter nebeneinander gelebt werden, finden jedoch in einer gemeinsamen Gesellschaft ihren eigenen

für das es nichts von Natur aus Immer-so-Seiendes und Bleibendes, Ewiges und ewig Wiederkehrendes gibt, sondern ausschließlich Zeit und Bewegung, Geschichte und Prozeß. Auch der ›Geist‹ der Hegelschen Philosophie des Geistes ist relativ auf die Zeit geworden, zum ›Zeitgeist‹.« (Karl Löwith: Die Dynamik der Geschichte und der Historismus (1952); In id.: Schriften 2; S. 296-329, S. 307f.). Er dürfte sich mit Paul Valéry auch darin einig sein, daß diese Auffassung eine grundsätzliche Gefahr darstellt nicht nur für die Dauerhaftigkeit menschlicher Meinungen, Überzeugungen und Werte, sondern auch für ihre Ausdrucksformen, unsere Haltung zu uns selbst und unseren Werken, denn in der Konsequenz wird alle menschliche Tätigkeit durch sie überholt und auf den Augenblick reduziert. Wenn man diesen Gedanken weiterverfolgt, gelangt man zu der Schlußfolgerung, daß dies auch für den Menschen selbst gilt: »Die Sorge um den Fortbestand, die in der früheren Kultur eine so wichtige Rolle spielte, ist heute nahezu ausgeschaltet. Ich glaube, heute rechnet niemand mehr damit, daß sein Werk nach zweihundert Jahren noch geschätzt wird. […] Das, was ich die ›Große Kunst‹ nenne, ist, mit einem Wort, die Kunst, die gebieterisch alle Fähigkeiten eines Menschen für sich beansprucht und deren Werke so sind, daß alle Fähigkeiten eines andern sich von ihnen angesprochen fühlen und aufgehoben werden müssen, um sie zu begreifen…« (Paul Valéry: Tanz, S. 137f.) 27 Theodor W. Adorno: Der Artist als Statthalter, S. 181.

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Platz. Der Wissenschaftler, der Spezialist hat in Löwiths Weberinterpretation eher die Aufgabe, neue Möglichkeiten zu schaffen, indem er überkommene Vorurteile durch skeptische Kritik entzaubert und damit neue Freiräume eröffnet, die bei Weber vor allem eine neue Dimension ethischer Selbstverantwortung bezeichnen: »Der Zauber, welcher das Verhältnis des Menschen zur Welt in früheren Epochen umgab, war – rational gesagt – der Glaube an den ›objektiven‹ Sinn irgendwelcher Art. Mit der Entzauberung dieses Zaubers ergibt sich die Notwendigkeit: neuerdings nach dem ›Sinn‹ unserer Objektivitäten zu fragen, und so fragt Weber insbesondere nach dem der Wissenschaft. Indem alle Objektivitäten mit der durch den Menschen vollzogenen Rationalisierung ihren objektiven Sinn eingebüßt haben, stehen sie seiner Subjektivität nun gleichsam neu – zur Bestimmung ihres Sinns – zur Verfügung. Für das Verhältnis des Menschen selbst zur Welt bedeutet diese die Frage […] wissenschaftliche ›Unbefangenheit‹. Die positive ›Chance‹ dieser Enttäuschung des Menschen und jener Entzauberung der Welt durch Rationalisierung ist die ›nüchterne‹ Bejahung des Alltags und seiner ›Forderung‹. Die Bejahung dieses Alltags ist zugleich die Verneinung jeglicher Transzendenz, auch der des ›Fortschritts‹. […] Im Vergleich zu jedem transzendenten Glauben ist dieser Glaube an das Schicksal der Zeit und an die Leidenschaft zeitlichen Handelns positive Glaubenslosigkeit. Das Positive dieses mangelnden Glaubens an etwas, was das Schicksal der Zeit und die Forderung des Tages überschritte – an objektiv vorhandene Werte, Sinne, Gültigkeiten – ist aber die Subjektivität der rationalen Verantwortung als einer reinen Eigenverantwortung des Individuums vor sich selbst. […] In dieser Welt gegen sie eigene Zwecke durchzusetzen, die nicht von dieser Welt und doch für sie berechnet sind, das ist der positive Sinn jener ›Bewegungsfreiheit‹, auf die es Weber ankam.«28 Wenn man hier von einer angestrebten Universalität sprechen möchte, dann kann es sich dabei nur um eine der Breite handeln, um eine Universalität individuellen menschlichen Lebens in seiner Vielfalt – im, aber zugleich gegen das »stählerne Gehäuse« –: um die Vielfalt des Lebens, das in seiner Gesamtheit den Menschen in all seinen Möglichkeiten ausmacht: »Der Ort, die Zeit, die Materie lassen Freiheiten zu, von denen man noch jüngst nichts ahnte.«29 Kunst ist bei Valéry ebenso wie die Wissenschaft bei Löwith ein Bereich, in dem sich ein solches Spezialistentum verwirklichen und in denen eine Antwort auf die Probleme der Welt annäherungsweise erreicht werden kann; sie beide

28 Karl Löwith: Max Weber und Karl Marx, S. 364f. 29 Paul Valéry: Bemerkungen über den Fortschritt. In id.: Über Kunst. Essays; Frankfurt/Main 1962, S. 118-127, S. 120.

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sind damit sowohl Ausdrucksmittel dieser Universalität als auch Wege zu ihr. Wie das gemeint ist, illustriert ein Vergleich, den Valéry zwischen künstlerischer und schreibender Arbeit zieht und der zu Löwiths Vorstellung, wie Wissenschaft zu betreiben sei, paßt: »Man kann die Platte (oder den Stein) recht wohl mit dem Blatte vergleichen, das einer in Arbeit genommen hat: eines wie das andere machen uns beben; eines wie das andere liegen vor uns in der Entfernung, die zu sauberem Sehen zwingt; wir umfassen das Ganze und das Einzelne mit demselben Blick; der Geist, das Auge und die Hand konzentrieren ihre Erwartung auf diesen kleinen Fleck, darauf wir um unser Schicksal würfeln… Ist so nicht das ganze Ausmaß schöpferischen Einsseins umschrieben, das der Graphiker und der Schriftsteller gleichermaßen kennen – jeder an seinen Tisch gebannt, wo er all sein Wissen und alles, was seinen Wert ausmacht, heraufbeschwört?«30 Dabei stellt sich Löwith ebenso wie Valéry gegen den Anspruch der engagierten Kunst und der engagierten Wissenschaft, die in seinen Augen beide Partei eines revolutionären Kampfes geworden sind, statt ihrer eigenen Logik und Wahrheit zu folgen. Anders als das gängige Kunstverständnis es nahelegt und es auch Löwith oft unterstellt wird, bedeutet diese Haltung jedoch keineswegs einen »pretext for simply avoiding taking a stand«.31 Löwith selbst weist in diesem Zusammenhang die auf Burckhardt bezogene Schlußfolgerung, nach der »man den wissenschaftlichen Mangel seines persönlichen Werkes durch dessen Erhebung zum literarischen ›Kunstwerk‹ beschönigt und damit der verpflichtenden Stellungnahme entzieht«32 zurück. Im Gegenteil: Löwith ist weit entfernt davon, Kunstwerken eine solche Harmlosigkeit zuzuschreiben, die es erlauben würde, sie zu ignorieren – seine Autobiographie Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933 zeigt vielmehr, welche »menschenbildende Macht«33 er der Kunst, hier namentlich Vincent van Gogh, Rainer Maria Rilke und Stefan George, aber auch im Falle Karl Wolfskehls, als Identifikations- und Orientierungspunkt im gesellschaftlichen Diskurs zuwies. Und so bescheinigt Löwith Burckhardt explizit, er »wollte weder zum Betrieb der Wissenschaft beitragen noch bloß persönliche Räsonnements von sich geben, sondern ein Lehrer sein; ein halbes Jahrhundert hindurch war er im höchsten Sinn ein Dozent der Geschichte. Als sol-

30 Id.: Kleine Rede an die Graphischen Künstler. In id.: Über Kunst. Essays; Frankfurt/Main 1962, S. 65-71, S. 65f. 31 Richard Wolin: Heidegger’s Children. Hannah Arendt, Karl Löwith, Hans Jonas, and Herbert Marcuse; Princeton 2001, S. 98. 32 Karl Löwith: Jacob Burckhardt, S. 42, Fußnote 1. 33 Id.: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht; Stuttgart 1986, S. 18. Vgl. auch S. 27f.

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cher wollte er lehren, wie man sich wieder am ›Primären und Mächtigen‹ orientieren könne. Das wahrhaft Mächtige bedeutete ihm jedoch nicht das Gewaltsam-Vernichtende, sondern das ›Beglückend-Schaffende‹. Dazu rechnete er vor allem die Schöpfungen der Kunst, in denen das gesellschaftliche Dasein der Menschen und Dinge in seinem vollen und ganzen Wesen erscheint. Das gemeinsame Motiv von Burckhardts historischen und kunsthistorischen Werken ist aber die geistige ›Überwindung des Irdischen‹ und dem entspricht, daß das einfache und beständige Ziel seiner Betrachtung der Welt die Gewinnung einer ›freimütigen Taxation des Lebens‹ war.«34 In diesem Sinne versteht sich auch Löwith selbst als durchaus engagiert; sein Standpunkt liegt dabei, wenig überraschend, allerdings jenseits politischer Tagesfragen: »Der Kampf der politischen Parteien konnte mich nicht interessieren, denn es wurde von links wie von rechts um Dinge gestritten, die mich selber nichts angingen, und die mich in meiner Entwicklung nur irritierten.«35 Wie für Burckhardt die Geschichtsschreibung und für Valéry die Kunst ist für Löwith die Wissenschaft, auch und gerade wenn sie mit einem Blick auf die Geschichte arbeitet, ein »Medium, in dem er sich indirekt mit dem Geschehen der Gegenwart auseinandersetzt, um so der eigenen Zeit aus dem Abstand der historischen Sicht mit einem geschichtlichen Maßstab verbunden zu bleiben.«36 Um es mit Valérys Worten zu sagen, ist die Erinnerung an Gewesenes eine Grundlage für jede Gegenwart und mehr als ein bloßer Standpunkt – ein Maßstab, eine Anregung, ein Denkanstoß, kurz: Nahrung. »Was mich am Gedächtnis am meisten frappiert, ist nicht so sehr, daß es das Vergangene zurückruft – sondern daß es das Gegenwärtige ernährt.«37 Wissenschaft ist dabei also immer auch als Zeitkritik zu lesen, was sich besonders deutlich in Löwiths fortgesetzter Auseinandersetzung mit Heidegger und dem Historismus zeigt. Löwith wie Valéry behaupten jedoch ihr eigenes Maß und ihre eigene Wahrheit, die über die angeblich so eindeutigen, bloßen Fakten ebenso hinausweisen wie über Planbarkeit, Zweckbindungen und endgültige Festlegungen, sondern stattdessen Mythos, Zufall und einem Begriff von Ganzheitlichkeit, der heute zwar bisweilen überholt scheint, aber trotzdem seit je ein ganz zentrales Anliegen der Philosophie war, ihren Platz einräumen. Dabei bleiben beide aber in einem Rahmen, der strengen Anforderungen und Regeln unterworfen ist. Denn beide verlangen sie eine strikte Unterwerfung unter die Sache; bei Valéry spielen

34 Id.: Jacob Burckhardt, S. 42. 35 Id.: Mein Leben in Deutschland, S. 18. 36 Id.: Jacob Burckhardt, S. 177. 37 Paul Valéry: Aus den Cahiers, S. 74.

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Rationalität, Form und Technik eine große Rolle und auch bei Löwith ist die Theorie zwar zweckfrei, aber nichtsdestoweniger dem wissenschaftlichen und vernünftigen Argument unterworfen – nur so wird ein Großteil der Polemiken verständlich, die er beispielsweise gegen Heideggers Orientierung an Intuition, an Dichtung und Offenbarungen richtet. Die ständige thematische Wiederholung, die wir auch bei Löwith finden, darf dabei nicht als Ausdruck der Ergebnislosigkeit eines manischen Abarbeitens mißverstanden werden – sie ist Methode, die eine skeptische Überpüfung eigener Erkenntnisse erst ermöglicht: »Das Material des Denkens darf nicht mit seinen Operationen verwechselt werden. Eine Vorstellung ist an sich nichts. Aber das Setzen, Wiederholen, Abwandeln, Unterteilen dieser Vorstellung, die Bedingungen ihrer regelmäßigen Wiederholung und vor allem das Beleuchten, Konditionieren oder Bearbeiten durch die Aufmerksamkeit, ihre Analyse und ihre Verknüpfungen.«38 Beider Denken bleibt dabei bewußt bruchstückhaft: Löwith betrachtet ein System wie das Hegels als einen Endpunkt der Philosophie, der bei aller Perfektion zwangsläufig fragwürdig ist und nach dem es neu anzufangen gilt – und auch Valéry schreibt: »Vielleicht ist es ein schlechtes Zeichen für die ›Wahrheit‹ eines Denkens, wenn es in einem System zum Abschluß kommt – das heißt, in einer Einheit. Alles läßt uns ja diese Einheitlichkeit anstreben. Dabei sollte uns doch alles davor zurückhalten und warnen, wie unendlich wenig wahrscheinlich es ist, daß wir sie entdecken und ausdrücken können, ohne dem Wahren Zwang anzutun, ohne zu konstruieren, dazuzugeben, wegzunehmen – zu handeln. […] Der entscheidende Einwand gegen die Philosophen, Kant eingeschlossen, ist der, daß ihre Systeme Symbolsysteme sind und daß ihre Systeme nicht korrekt definiert sind. Eben dies erklärt die scheinbare Logik oder Harmonie dieser Systeme und ihre Existenz – ihre Abstraktheit und die Einwände, die man daraus herleitet, den Anschein einer neuen Welt, den sie vermitteln, und die Entfernung von den realen Problemen. Mit einem Wort die Scheinordnung.«39 Dieser eigenwillige Anspruch an Wissenschaftlichkeit bedeutet aber zugleich auch, daß hier ernsthaft der Versuch unternommen wird, belastbares und überprüfbares Wissen zu erwerben und daraus gültige Maßstäbe zu entwickeln. Nicht umsonst greift Löwith auf den alten, vorhegelischen Philosophiebegriff zurück und nicht auf die Verehrung eines erleuchteten Genies. Seine Maßstäbe zielen weniger darauf, was der Mensch sein soll oder sein muß; stattdessen wollen sie ausgehend von der Wahrnehmung, wie der Mensch ist, einen Weg dahin weisen, wie er sein kann und wie er, in Kunst und Wissenschaft, aber auch als Mensch

38 Ibid., S. 191. 39 Ibid., S. 169.

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als solcher wird und sich bzw. seine alltägliche Existenz selbst übersteigen kann.40 Die Perspektive ist dabei aber auch eine durch und durch individualistische, denn, so fragt Valéry: »Was bedeutet mir eine Kunst, deren Ausübung mich nicht verwandelt?«41 Daher ist die zentrale Frage in Löwiths Philosophie die Frage nach dem Menschen, die er im emanzipativen Sinne gegen Gesellschaft, Politik und Religion stellt. In seinen späteren Jahren begreift er sie zunehmend als eine, die auch den Rahmen der den Natur betrifft, die im Sinne einer natura naturans den Menschen umfaßt: »Indem Feuerbach gegen Hegel, und somit indirekt gegen Marx, die Natur in ihrer Unmittelbarkeit wieder zur Geltung brachte, hat er zu wiederholen versucht, was die Metaphysik ursprünglich war und bis zu Lukrez auch blieb, nämlich Wissenschaft von der physis, der natura genetrix. […] ›Die Philosophie muß sich wieder mit der Naturwissenschaft, die Naturwissenschaft mit der Philosophie verbinden. Diese auf gegenseitiges Bedürfnis, auf innere Notwendigkeit gegründete Verbindung wird dauerhafter […] und fruchtbarer sein, als die bisherige Mesalliance zwischen der Philosophie und der Theologie.‹ […] Auch die unentwegte Betonung der ›Sinnlichkeit‹ ist nicht an ihr selbst von Gewicht, wohl aber als Zugang zur Welt der Natur durch unsere leibhaftigen, weltgeöffneten Sinne. Die menschlichen Sinne haben keine bloß ›anthropologische‹, sondern ›ontologische‹ Bedeutung. Die eine Natur aller Dinge ist als die alles erzeugende Kraft nach griechischer Einsicht das von sich selbst her Bewegte und sich selber Hervorbringende, das keines anderweitigen Herstellers zu seiner Vermittlung bedarf, wie alle Produkte des Menschen.«42 Man mag diese Haltung für unrealistisch oder sogar für gefährlich halten. Der von Wolin aufgegriffene Vorwurf, Löwith pflege einen weltfremden und unzeitgemäßen Späthellenismus, wurde ihm bereits von Gadamer entgegenge-

40 Es ist die Frage, inwieweit sich die Ergebnisse einer solchen Philosophie generalisieren lassen. Beide, Löwith wie Valéry, wären sich einig, daß dies nicht dauerhaft und allgemein im Rahmen eines Systems möglich ist; Valéry schreibt sogar: »Die Philosophie taugt nur für den, der sie ausformt, und auch bei ihm ist sie ständig in Entstehung« (Ibid., S. 271). Die philosophische Frage- und Denk-Haltung hingegen ist eine generelle Voraussetzung jeder individuellen Philosophie und allen Wissens, sie läßt sich sehr wohl universalisieren. 41 Ibid., S. 299. 42 Karl Löwith: Vermittlung und Unmittelbarkeit bei Hegel, Marx und Feuerbach (1966). In id: Schriften 5; S. 186-220, S. 197.

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halten.43 Löwith, dessen philosophische Kosmologie wie erwähnt in Wirklichkeit die Verbindung von Philosophie und Naturwissenschaft einfordert, kontert Gadamers Kritik im Rahmen seiner eigenen Interpretation des Credos »zurück zu den Sachen selbst«; allerdings durch eine Parteiergreifung, die sich nicht nur gegen den Freund Gadamer, sondern in noch viel stärkerem Maße gegen den gemeinsamen Lehrer Heidegger wendet, mit einem Husserl-Zitat: »›Dem wahrhaft Vorurteilslosen ist es gleichgültig, ob eine Feststellung von Kant oder Thomas von Aquino, ob sie von Darwin oder von Aristoteles […] herstamme.‹ Denn: ›Nicht von den Philosophien, sondern von den Sachen und Problemen muß der Antrieb zur Forschung ausgehen.‹«44 Löwiths kritische Haltung gegenüber der Philosophie und ihrer mangelnden Bindung an die Naturwissenschaft spiegelt sich aber auch in einer entsprechenden Kritik Valérys wider, die zugleich deutlich macht, daß in der philosophischen Betrachtung der Natur eben keine überholte hellenistische Altlast steckt, sondern die Korrektur einer über Generationen tradierten Weltfremdheit der Geisteswissenschaft und damit eine veritable Aufgabe der Moderne: »So sehr die Romantiker auch Zeitgenossen Ampères und Faradays sein mochten – von den Naturwissenschaften nichts zu wissen machte ihnen nichts aus; gelegentlich zollten sie ihnen ihre Verachtung oder sie behielten davon nur, was darin an Abenteuerlichem erhalten ist. Ihr Geist suchte sich eine Fluchtburg in einem Mittelalter, das sie sich zurechtmachten; an der Esse des Alchimisten brachten sie sich vor dem Chemiker in Sicherheit. Wohl fühlten sie sich nur in der Welt der Sage oder der Geschichte, das heißt bei den Gegen-

43 »Kein anderer griechischer Text scheint Löwiths Absichten so gut zu illustrieren wie die pseudoaristotelische (hellenistisch-stoische) Schrift ›Von der Welt‹. […] Offenbar ist der moderne Autor so gut wie sein hellenistischer Vorfahr am Naturlauf nur so weit interessiert, als er das Andere zu der verzweifelten Unordnung der menschlichen Dinge ist. Wer so die Natürlichkeit dieses natürlichen Weltbildes verteidigt, geht also keineswegs von der Ewigen Wiederkehr des Gleichen aus – so wenig wie Nietzsche –, sondern von der schlechthinnigen Endlichkeit des menschlichen Daseins. Seine Ablehnung der Geschichte ist eine Spiegelung des Fatalismus, d.h. der Verzweiflung an einem Sinn dieses Daseins.« (Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode, Ergänzungen, Register. In id., Gesammelte Werke Bd. 2; Tübingen 1993, S. 414) 44 Karl Löwith: Vermittlung und Unmittelbarkeit, S. 217. Die Zitate – und ihr Kontext – sind nachzulesen in Edmund Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft; Hamburg 2009, S. 72. Löwith sieht sich hier offenbar gegen Heidegger und Gadamer, aber mit Husserl in der eigentlich phänomenologischen Tradition. Ob Husserl das genauso gesehen hätte, ist jedoch sehr zweifelhaft.

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füßlern der Physik. Sie retteten sich vor den Bedingtheiten eines durch die Mechanismen der Gesellschaft geprägten Daseins durch die Flucht in die Leidenschaft und die Wallungen des Gemütes, deren Pflege und Ausbeutung sie zu einer Institution ausbauten (und sogar zu einer Komödie). Auf die Vergötzung des Fortschritts antwortete man mit der Vergötzung der Verdammung des Fortschritts: das war alles«.45 Wir haben es hier mit einer Verirrung auf beiden Seiten des wissenschaftlichen Spektrums zu tun, denn so wie in der Naturwissenschaft die Orientierung an Zwecken und Zielen zu einer Verengung des Blickfelds und damit auch zu einer Verfälschung der Ergebnisse führt, ist eine theoretische Betrachtung der Welt, die naturwissenschaftliche Erkenntnisse ignoriert oder gar ablehnt, weltfremd und ihrerseits falsch. Denn, wie Löwith anerkennt: man wird »schwerlich bestreiten können, daß die wissenschaftliche ›Neutralisierung‹ der Welt der Natur zu einer durch Beobachtung, Experiment und Voraussage kontrollierbaren ›Faktenwelt‹ keine beliebige Ansicht unter anderen gleich möglichen ist, sondern den Vorzug hat, sich zu bewähren, weil sie der Wahrheit der Sache entspricht und kein bloßes Bild und keine Einbildung ist.«46 Die an Löwith geäußerte Kritik, sich mit seinem Begriff der »Natürlichkeit« als weltfremder, altmodischer Denker zu erweisen, ist daher haltlos. Dennoch ist zumindest Gadamers Anmerkung zu Löwith nicht falsch, denn tatsächlich geht Löwith keineswegs von der Natürlichkeit des Kosmos, sondern vom menschlichen Dasein und dessen Endlichkeit aus. Und es ist auch richtig, daß Löwith die Beschränktheit dieses Daseins in Opposition setzt zu den transzendierenden Weltentwürfen, die seinen Horizont in eine Richtung überschreiten, die nicht in ein »natürliches« Weltbild einzuordnen ist, die nicht den – wie auch immer zu formulierenden – Gesetzen der Natur entspricht. Doch hat diese Entgegensetzung nichts mit »Verzweiflung an einem Sinn dieses Daseins« oder der Verweigerung einer Stellungnahme zu tun. Es ist im Gegenteil eine sehr eindeutige, sinnvolle Stellungnahme, weil sie – anders als bei Heidegger – ein unabweisbares und ethisches Humanum bezeichnet: den menschlichen Anspruch, sich nicht instrumentalisieren zu lassen, sondern immer wieder fundiert wissenschaftliche Fragen zu stellen, auch an sich und seine eigenen Möglichkeiten. »Mein Unglaube ist naturgegeben. Nie konnte ich glauben – oder vielmehr konnte ich nie im geringsten gelten lassen, was mir Leute erzählten und beibrachten, die doch ebenso beschaffen waren wie ich und nicht mehr über das

45 Paul Valéry: Bemerkungen, S. 118f. 46 Karl Löwith: Vermittlung und Unmittelbarkeit, S. 214.

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wussten, was sie erzählten – Glauben, das heißt hinzutun, ergänzen – – heißt im Grunde – an sich glauben.«47 An sich glauben – das meint bei Valéry wie bei Löwith: sich seiner selbst und seiner Freiheit bewußt zu werden, sie zu verteidigen und sich nicht einer Doktrin der Verwertbarkeit zu unterwerfen, sich nicht von ihr instrumentalisieren, entmündigen und entwürdigen zu lassen. Es heißt, Mensch zu werden.

47 Paul Valéry: Aus den Cahiers, S. 105.

Skeptische Anthropologie als Angelpunkt

Ausgang vom Individualismus: Freiheit und Sinn des Menschen Angesichts von Löwiths Auffassung, daß Wissenschaft – also auch die Philosophie – eine zweckfreie und damit weltoffene Betrachtung unserer Lebenswelt sein soll, die den Menschen in eine fragende und untersuchende Beziehung zur Welt setzt, zu der er auch selbst gehört und der Definition des Menschen als soziales Lebewesen, das durch seine Beziehungen zu anderen entscheidend geprägt wird, ist nur folgerichtig, daß Löwith sich Thema und Methode Jacob Burckhardts in gewisser Weise zu eigen macht: »U n s er Ausgangspunkt ist der vom einzig bleibenden und für uns möglichen Zentrum, vom duldenden, strebenden und handelnden Menschen, wie er ist und immer war und sein wird; daher unsere Betrachtung gewissermaßen pathologisch sein wird. […] Die Geschichtsphilosophen betrachten das Ver g a n g en e als Gegensatz und Vorstufe zu uns als Entwickelten; – wir betrachten das s i ch W i ed er h o l en d e, K o n s t a n t e, T yp i s ch e als ein in uns Anklingendes und Verständliches.«1 Deshalb ist die wissenschaftliche Untersuchung des Menschen als Lebewesen, das im Verhältnis zu seiner Welt steht, Dreh- und Angelpunkt von Löwiths Philosophie. Seine skeptische Geisteshaltung ist dabei sowohl die Motivation, die Frage nach dem Menschen in Kosmos und moderner Gesellschaft neu zu stellen, als auch das Ergebnis dieser Fragestellung, die sich als Gegenpol zu den gängigen Weltdeutungen der Moderne versteht. Darin liegt auch Löwiths Stellungnahme, als Gegenbewegung zu einer Zeit, deren Kennzeichen für Max Weber der »Irrtum« war, »den ein Teil unserer Jugend begeht, […] daß sie in dem Professor etwas anderes suchen als ihnen dort gegenübersteht, – einen

1

Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen; Stuttgart 1938, S. 5f.

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Fü h r er und nicht: einen L eh r er .«2 Denn Löwith lehnt die Autorität solcher Führer ebenso ab wie die Autorität überkommener Ordnungen, wenn sich diese nicht anders rechtfertigen läßt als eben dadurch, »eine wunschgeleitete Glaubensgemeinschaft«3 zu begründen. Löwiths Ziel einer umfassenden Skepsis entspricht damit dem der Linkshegelianer Bruno Bauer, Max Stirner und des protestantischen Theologen Overbeck – sie alle sollten zu lebenslangen Bezugspersonen für Löwith werden. Dazu gehört aber auch, wie bereits Overbeck formulierte, das Wissen um die Konsequenzen dieser Haltung: »Aus dem Individualismus, zu dem sich der gegenwärtige Mensch bekennt, folgt unentrinnbar Vereinsamung. Wer sich in der Welt wirklich und streng auf sich selbst stellt, muß auch den Mut finden, sich auf nichts zu stellen. Vollends kann das menschliche Individuum nicht daran denken, einen Ersatz für Gott jemals an sich selber vorzufinden. Wenn der Mensch auf Gott verzichtet, steht er unerbittlich auf sich selber, und wenn er dazu getrieben wird, sich auf sich selbst zu stellen, entsagt er Gott. […] Wer sich auf sich selbst stellt, muß es auch mit sich selbst aushalten – wehe ihm, vermag er es nicht! Von Gott darf er nicht mehr reden, will er sich nicht in Falschheit und Selbstbetrug verstricken. […] Nur ohne Gott vermag der Individualist frei zu leben – kann er Gott nicht Valet sagen, so ist sein Individualismus entweder nicht echt, oder nicht zu seiner vollen Freiheit gediehen.«4 Allerdings zeigt schon dieser Bezug, daß Löwith mit seiner Haltung kein völliger Außenseiter war, im Gegenteil: die »Entdeckung« des Individuums und der Anspruch, einer individuellen Weltsicht entscheidende Bedeutung zuzumessen, ist die Entdeckung der Neuzeit – man denke nur an Luthers Anspruch, eine individuell entwickelte Bibel- und Glaubensinterpretation gegen die kollektive kirchliche und weltliche Obrigkeit zu stellen. Und so erkennt beispielsweise Norbert Elias in dieser Individualisierung der Weltanschauungen dementsprechend ein hervorstechendes Kennzeichen der Moderne: »Im Denken der Men-

2

Max Weber: Wissenschaft als Beruf (1919). In id.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre; Tübingen 1922; S. 524-555, S. 547.

3

Matthias Bormuth: Ereignis und Geschichte. Karl Löwith kritisiert Martin Heidegger. In Id. / Ulrich von Bülow (ed.): Marburger Hermeneutik zwischen Tradition und Krise; Göttingen 2008, S. 65-91, S. 81.

4

Franz Overbeck: Christentum und Kultur. Gedanken und Anmerkungen zur modernen Theologie von Franz Overbeck (ed. Carl Albrecht Bernoulli); Basel 1919, S. 286. Karl Löwith zitiert diese Stelle in seinem Aufsatz Die philosophische Kritik der christlichen Religion im 19. Jahrhundert (1938). In id: Schriften 3; S. 96-162, S. 159. Auch die Hervorhebung stammt von Löwith.

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schen über sich selbst wurde das geozentrische Weltbild weitgehend in einem egozentrischen aufgehoben. Im Mittelpunkt des menschlichen Universums, so erschien es von nun an, steht jeder einzelne Mensch für sich als ein von allen andern letzten Endes völlig unabhängiges Individuum. Nichts ist charakteristischer für die Selbstverständlichkeit, mit der man auch heute noch beim Denken über Menschen von dem einzelnen Menschen ausgeht, als die Tatsache, daß man nicht von den ›homines sociologiae‹ oder ›oeconomiae‹ spricht, wenn man sich mit dem Menschenbild der Gesellschaftswissenschaften befaßt, sondern immer wieder von dem Bild des einzelnen Menschen, das in diesen Wissenschaften verankert ist, von dem ›homo sociologicus‹ oder ›oeconomicus‹.«5 Auch Löwiths Individualismus bewegt sich trotz des universalen Anspruchs seiner Frage nach dem Menschen in diesem Rahmen. Mehr noch: Löwith sieht in dieser individualistischen, modernen Orientierung etwas grundsätzlich Positives, weil er sie als eine neue Freiheit zu Möglichkeiten menschlicher Selbstverwirklichung begreift: »positiv weiss ich um eine sehr natürliche Daseinsweise und ›Unbefangenheit‹, obwohl diese Unbefangenheit so ›relativ‹ ist wie alles Menschliche – wenn man es historisch an einer geschichtlichen Absolutheit bemisst – sei dies das Christentum oder auch die Antike – deren beider Grundlagen, in Mythos, Religion, Sozietät, (nach Nietzsche) bereits völlig hinfällig geworden sind. Um so unbefangener können wir heute sein! […] Ich nehme auch jeden klaren Nihilismus Ernst und sogar jede Art von radikaler ›Gleichgültigkeit‹, der alles Seiende gleich viel gilt.«6 Löwith sieht in dem Vorhaben, sich skeptisch-unbefangen in die Luft zu stellen, die eigentliche Aufgabe der Philosophie, weil die Zeit der großen philosophischen Systeme mit Hegel an ein Ende gekommen sei. Doch Löwith lernte aus den Zeitläuften, namentlich dem Aufstieg des Nationalsozialismus und seiner philosophischen Begründung, daß hier mehr auf dem Spiel stand als nur überkommene Traditionen und Glaubensüberzeugungen. Denn wenn »sich die christliche Botschaft vom Reich Gottes von der Kosmotheologie der Griechen und der moderne, emanzipierte Mensch von der biblischen Anthropotheologie befreit hat, in welcher Mensch und Gott eine Partnerschaft bilden, erhebt sich

5

Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Erster Band: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes; Frankfurt/Main 1978, S. LIII.

6

Karl Löwith an Leo Strauss, 8.I.1933; in Leo Strauss: Gesammelte Schriften Bd. 3 (ed. Wiebke und Heinrich Meier); Stuttgart 2001, S. 607-697, S. 618.

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Nietzsches Frage: ›Wozu überhaupt Mensch?‹«7 Das bedeutet zum einen die erneute Frage nach dem übergeordneten Lebenssinn des Menschen – es bedeutet aber auch die ganz konkrete Frage nach dem Sinn – und nicht nur nach dem Zweck – menschlicher Existenz überhaupt. Die Trennungslinie zwischen Löwith und anderen zeitgenössischen Denkern, namentlich Heidegger, ist der paradoxe Punkt, daß sich für Löwith diese Frage in ihrer vollen Radikalität zwar stellte, er sich dann aber schlicht weigerte, sie in dieser Form zu stellen: »Was die Menschenrechte anbelangt so mögen sie zwar lächerlich geworden sein – sie sind es aber nicht«,8 wie es apodiktisch angesichts der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland in einem Brief an Leo Strauss aus dem Juni 1933 heißt. Es gibt eine Grenze der Skepsis und des philosophischen Fragens: Sie verläuft dort, wo es nicht mehr um das »Wie« von Mensch und Welt geht, sondern um die Substanz, um das »Warum«. Deshalb kann Löwith an Heidegger kritisieren, daß dieser, den Menschen nicht nur in Frage stelle, sondern ihn im Sinne des Zeitgeistes reduziere und damit abschaffe: »gerade weil der Mensch nicht weiß, woher er kommt und wohin er geht, ist ihm das existenzielle factum brutum, sein pures Daß-er-da-ist und ›Zu-sein-hat‹ unverhüllt. Warum er jedoch zu sein hat, diese Frage kann von Heideggers Standpunkt aus nicht beantwortet werden, besteht doch der Radikalismus seiner Analyse des Daseins gerade darin, daß er es auf die bloße Faktizität reduziert und fixiert. […] Und in der Tat ist dieses je eigene Dasein nicht mehr etwas, was den Menschen zum Menschen macht, sondern etwas, was ihn dehumanisiert und von seiner Menschlichkeit frei macht. Was der Mensch, die Menschheit und die

7

Karl Löwith: Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes bis zu Nietzsche (1967). In id.: Schriften 9; S. 1-194, S. 3. Die Frage nach dem Sinn des Menschen stellt sich allerdings nicht erst durch Nietzsche, sie hat die Auflösung des christlichen Weltbildes von Beginn an begleitet. Wir finden sie zum Beispiel auch schon bei Julien Offray de la Mettrie, der die Dehumanisierung des Menschen auf seine eigene Weise betrieb, indem er ihn als »komplizierte Maschine« beschrieb und die Sinnfrage ganz grundsätzlich anging: »Wer weiß im übrigen, ob der Sinn des menschlichen Daseins nicht in diesem Dasein selbst liegt? Vielleicht ist der Mensch per Zufall an irgendeinem Punkt der Erdoberfläche erschienen, ohne daß man sagen könnte, wie und warum. Sagen läß sich nur, daß er leben und sterben muß – gleich den Pilzen, die von einem Tag auf den anderen erscheinen, oder den Blumen, die aus den Rissen alter Gemäuer wuchern.« (Julien Offray de la Mettrie: Der Mensch als Maschine. Mit einem Essay von Bernd A. Laska; Nürnberg 1985, S. 21 / S. 60)

8

Karl Löwith an Leo Strauss, 10.VI.1933; in Leo Strauss: Gesammelte Schriften, S. 628.

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Menschlichkeit ist, das verliert jedes Interesse, wenn von vornherein feststeht, daß jeder Mensch letzten Endes nichts anderes und besseres tun kann, als sich zu sich selbst zu entschließen und sich selbst zu behaupten.«9 Löwith stellt die Frage nach dem Menschen anders und bleibt damit in dem von Kant gesteckten Rahmen,10 den er in seiner Weltorientierung als die eigentlich philosophischen Fragen versteht: »Kant fragt bezüglich der von Natur aus bestehenden Welt nicht, was und wie sie selber ist, sondern was und wie wir etwas von ihr wissen können. Dieses Wissen von der Welt hat einen zweifachen Grund: den sinnlichen Verstand und die jede Erfahrung von Gegenständen übersteigende Vernunft. Der Titel von Kants erster kritischer Fassung des Weltproblems heißt: De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis. Gemäß der zweifachen Form der Erkenntnis ist die Welt ihrem Gehalte nach ebenfalls zweifach, eine phänomenale Welt bedingter Erscheinungen und ein unbedingtes Ideal an sich, das als solches unsere Erfahrung übersteigt.«11 Besonders beim späten Löwith wird auf diese Weise die Frage nach der Welt zum eigentlichen Rahmen, zur Frage hinter der Frage nach dem Menschen, die er in seiner Jugend formuliert hatte: »so wenig wie der Mensch bloß von Natur aus ›lebt‹, so wenig lebt er auch durch bloßes ›Existieren‹. […] Die Frage muß vielmehr abermals zurückgebracht werden auf ihren eigenen Ausgang, d. h. auf den Menschen als solchen, welcher sowohl existieren kann, wie er lebt. Denn beides sind doch Bestimmungen des Menschen. Aber was heißt als ›Mensch‹ existieren, wenn dieses Menschsein weder darin aufgeht, eine ›Existenz‹ zu sein, noch da-

9

Karl Löwith: Die Einheit und die Verschiedenheit der Menschen (1938). In id.: Schriften 1; S. 243-258, S. 253.

10 Kant schrieb über das Forschungsfeld der Philosophie: »Was aber Philosophie nach dem Weltbegriffe (in sensu cosmico) betrifft: so kann man sie auch e i n e Wissenschaft von der höchsten Maxime des Gebrauchs unserer V e r n u n f t nennen, so fern man unter Maxime das innere Prinzip der Wahl unter verschiedenen Zwecken versteht. […]

Das Feld der Philosophie in dieser

weltbügerlichen Bedeutung läßt sich auf folgende Fragen bringen: 1) Was kann ich wissen? – 2) Was soll ich tun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch? Die erste Frage beantwortet die M e t a p h y s i k , die zweite die M o r a l , die dritte die R e l i g i o n , und die vierte die A n t h r o p o l o g i e . Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen.« (Immanuel Kant: Logik. In id. (ed. W. Weischedel): Schriften zur Metaphysik und Logik 2 (Werkausgabe Bd. 6); Frankfurt/Main 1984, S. 417-582, S. 447f. (A 24f.)) 11 Karl Löwith: Gott, Mensch und Welt, S. 54.

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rin, am ›Leben‹ zu sein? Um diese Frage beantworten zu können, müßte man zu allererst wissen, was überhaupt spezifisch ›menschlich‹ ist, um daran auch einen Maßstab zu haben für die menschliche Bedeutung möglicher Existenzialität und Lebendigkeit.«12 Auf dieser Basis geht es Löwith dann darum, im Rahmen einer »philosophischen Anthropologie so etwas wie ›ontologische‹ Ansprüche, […] ein ursprüngliches oder grundlegendes Verständnis für den ›Sinn‹ des menschlichen Daseins überhaupt zu gewinnen.«13 Löwith selbst hat dieses Projekt der Sinngebung programmatisch als »menschliche Philosophie, welche unter der Idee der Freiheit steht«14 bezeichnet, deren Ziel eine »Deutung der Stellung des modernen Menschen in der Welt«15 ist. Diese Deutung ist eben keine Infragestellung des Menschen an sich, sondern der umgekehrte Versuch der Sinngebung: wie kann der Mensch in einer modernen, wissenschaftlich-technisch veränderten Welt einen eigenen, einen freien Standpunkt gewinnen – und: müssen wir dafür nicht unser Verhältnis zur Welt verändern? Zum Begriff der Freiheit Ein erster Schritt zum Verständnis von Löwiths Philosophie liegt in seinem Freiheitsbegriff. Es wäre verkürzend, diese »freie« Anthropologie nur im buchstäblichen Sinne als eine Anthropologie zu interpretieren, die frei von theologischen Grundannahmen und unhaltbaren, überkommenen Vorurteilen ist. Vielmehr muß man sich Löwiths philosophische Herkunft verdeutlichen. Sein Freiheitsbegriff entspricht auch dem, der die Grundlage zu Heideggers »Phänomenologie der Freiheit«16 bildet. Freiheit ist hier wesentlich ein Konzept der »Erhaltung einer Möglichkeit«, ein Konzept, das sich von Kierkegaard ableitet: »Freiheit ist ›Möglichkeit für die Möglichkeit‹, und das soll heißen: Freiheit ist das Vermö-

12 Id.: Kierkegaard und Nietzsche (1933). In id.: Schriften 6; S. 75-99, S. 95f. 13 Id.: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (1928). In id.: Schriften 1; S. 9197, S. 11. 14 So Löwith 1930 in einem unveröffentlichten Brief an Martin Heidegger. Zitiert nach Enrico Donaggio: Karl Löwiths frühe Kritik der philosophischen Weltgeschichte; Unveröffentlichtes Vortragstyposkript [Internationaler Hegel-Kongreß »Die Weltgeschichte - das Weltgericht?«] 1999. 15 Enrico Donaggio: Karl Löwith: Europa aus der exzentrischen Perspektive des Exils; Unveröffentlichtes Vortragstyposkript [XII. Internationales Kolloquium PHÄNOMEN EUROPA] 2003. 16 Vgl. Günter Figal: Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit; Weinheim 2000.

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gen, die Möglichkeit als solche zu erfahren, und erfahren wird Freiheit in diesem Sinne als ›Wiederholung‹. Ausgehend davon, daß der Begriff der Möglichkeit in Relation zu dem der Wirklichkeit bestimmt ist, faßt Kierkegaard dabei die Erfahrung der Möglichkeit als die der Gewordenheit eines Wirklichen: Was ist, kann nur als Mögliches erfahren werden, indem man, wie Kierkegaard sagt, ›glaubt‹, daß es geworden ist. Nicht die Annahme, daß etwas anderes oder anders werden kann, gewährleistet die Rede von einem ›Möglichen‹, denn hier ist es das andere und nicht das wirklich Vorliegende, was möglich ist, sondern die Annahme, daß es möglich war und dann wirklich geworden ist.«17 Löwith befreit diesen Gedanken von dem religiösen Pathos des Glaubens, wie wir es bei Kierkegaard und später bei Heidegger finden. Er sieht sich vielmehr nicht zuletzt durch Kierkegaard und seine »theologische Interpretation der Verzweiflung und des darin zum Ausdruck kommenden ›Einzelnen‹« vor die Aufgabe gestellt, »die existenziell theologische Voraussetzung anthropologisch aufzuklären.«18 Was im Kern bleibt, ist die auf Schelling zurückgehende Idee der Freiheit als Möglichkeit weiterzuentwickeln und in diesem Sinne zu handeln – und zwar zum guten wie zum bösen. Insofern ist die Feststellung, daß im Sinne der Freiheit »das Kriterium der Moral […] eine viel zu starke Freiheitseinschränkung bedeutet«19 sicher korrekt – und doch auch wieder nicht, denn diese Freiheit bezeichnet eben auch den Ort, an dem menschliche Verantwortung beginnt.20 Verantwortung aber kann nur mit und gegenüber einem Anderen geübt werden, und daher ist Freiheit, richtig verstanden, auch bereits ein Ort des Dialogs mit der Umwelt und nicht Ausdruck einer vollkommenen personalen oder moralischen Autonomie. Auf Löwiths Denken übertragen bedeutet der Begriff der Freiheit dementsprechend zunächst die Einsicht, daß der moderne Mensch in einer Welt lebt, die er selbst gemacht hat und deren Möglichkeiten er selbst bestimmt oder zu bestimmen glaubt. Auch hier bezeichnet die Freiheit vor allem die Freiheit zu etwas, also gewissermaßen den Rahmen unserer Möglichkeiten. Das gilt aber nicht nur für die äußere Welt, sondern auch für den Menschen selbst: »Die Freiheit bietet somit ebenfalls eine doppelte Ansicht, eine positive und eine negative. Denn autonom oder frei handeln bedeutet in Rücksicht auf die menschliche Na-

17 Ibid., S. 38f. 18 Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 194. 19 Herlinde Pauer-Studer: Freiheit und Gleichheit: Zwei Grundwerte und ihre Bedeutungen. In id. / Herta Nagl-Docekal: Freiheit, Gleichheit und Autonomie; Wien 2003, S. 234-273, S. 238. 20 Vgl. auch Alfred Denker: Unterwegs in Sein und Zeit. Einführung in Leben und Denken von Martin Heidegger; Stuttgart 2011, S. 205.

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tur: unabhängig von ihr handeln; als solche Unabhängigkeit von der natürlichen Geneigtheit ist sie eine negative Freiheit von sich selbst, aber im Hinblick auf sich selbst, als Selbstgesetzgebung verstanden, ist sie eine positive Freiheit zu sich selbst«.21 Der konkrete Inhalt dieser Freiheit bleibt bei Löwith ebenso abstrakt und unbestimmt wie bei Kant, auf den Löwith sich in dieser Sache beruft. Eine genauere Bestimmung ginge auch gegen Löwiths eigentliche Intention und die Natur der Freiheitsidee, weil »es wider den Seinssinn des unmittelbaren Freiseinkönnens als einer ›Idee‹ geht, das, wozu sich einer jeweils nur selbst – unter der Idee der Freiheit – bestimmen kann, gegenständlich vorweg bestimmen zu wollen, wo es doch gerade in der Freiheit des Menschen steht, das Wozu, den mittelbaren bestimmten Zweck, in Freiheit selbst zu bezwecken, welcher bestimmte Zweck-Inhalt daher notwendig unbestimmt, offen oder frei bleiben muß.«22 Durch die Prozesse der Säkularisierung und der Aufklärung, aber auch durch die Errungenschaften der modernen Naturwissenschaft hat sich diese Welt und die Situation des Menschen ihn ihr grundlegend gewandelt. Löwith möchte den Menschen in dieser veränderten Situation, ohne den festen Rahmen einer Religion oder einer staatlichen Ordnung, die das irdische Ebenbild einer civitas dei darstellt, frei machen für neue Möglichkeiten menschlicher Existenz und damit der Selbstverwirklichung, ohne dabei den Begriff vom Menschen aufzugeben. Damit bejaht Löwith die moderne Situation ganz grundsätzlich – anders als die Romantiker, die konservativen Revolutionäre und viele Existentialisten seiner Zeit. Lebensphilosophie, Politik, Alltag. Sinnstiftung durch Widerspruch Dabei war auch Löwith von der bereits angesprochenen Idee der Lebensphilosophie seiner Zeit stark beeinflußt. Denn der Grundgedanke der Lebensphilosophie, nämlich daß sich menschliches Leben und Denken immer in einem zeitlichen, kulturellen und persönlichen Kontext entfalten, und daß dieser Kontext einem steten Wandel unterliegt, bildet auch die Grundlage von Löwiths frühen anthropologischen Schriften – jedenfalls dort, wo sie einen gesellschaftlichen Bezug haben. Löwith selbst umschreibt es so: »Ich will also nicht utopisch auf die Natur des Menschen zurück, sondern ich möchte aus dem, was für uns tatsächlich allgemein-menschlich geworden ist – wie z.B. Geld und Arbeit! – und

21 Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 162. 22 Ibid., S. 168.

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uns als ›natürlich‹ gilt die ›eigentlichen‹ Möglichkeiten heraus entwickeln. Dabei ist die Auslegung (›Bedeutung‹ von Sein) nicht zu umgehen und auch nicht das Polemisch-Kritisch-Reaktive der Auslegung. […] Sie fragen: was ist der Mensch und 2.) was ist aus ihm geworden – ich formuliere zwar eingangs so, lande aber faktisch dabei, dass ich mir sage: ›so sind wir jetzt‹ und 2.) ›was kann noch alles aus dem Menschen werden!‹ […] Ich beginne stets beim Gegenwärtigen, mit dem Ziel der nächsten Zukunft, wenngleich die wissenschaftliche Explikation der gegenwärtigen Anthropologie von der Historie, zumal der nächstvergangenen (19. Jhdt.) nicht absehen kann. […] Ich kenne auch eine Art von Ursprünglichkeit, aber die liegt nicht zurück, sondern vor mir und sie deckt sich der Idee nach weitgehend mit Nietzsches ›Unschuld‹ des puren Daseins – jenseits von Sinn und Unsinn. […] Was freilich der natürliche Mensch ist, das weiss ich nicht, es interessiert mich aber auch gar nicht«.23 Hier zeigt sich, daß Löwith den Gedanken vom unveränderlichen Menschen unter dem Einfluß der Lebensphilosophie und der Erkenntnis, wie sehr die »Menschenwelt« den Menschen als gesellschaftliches Wesen prägt und formt, anscheinend zumindest zeitweise aufgab. In Wirklichkeit modifizierte er ihn lediglich beträchtlich. Löwith begründet die Notwendigkeit dieser Modifizierung mit der Aussichtslosigkeit, den »natürlichen Menschen« positiv und klar zu definieren, aber auch mit der These, daß es den Menschen als Menschen nur in einer Menschenwelt gibt: »Der Mensch, zurückübersetzt in die aussermenschliche Natur, die allein eine integer-natürliche ist, ist nicht ein natürlicher Mensch und deshalb mache ich die Bestimmung der menschlichen Natur a priori abhängig von der – stets geschichtlichen – Menschlichkeit. Um die Rechtmässigkeit dieser ›Relativierung‹ (wenn Sie so wollen) der Natur einzusehen genügt ein einziges Beispiel: was ist am Menschen von Natur aus natürlicher als sein Geschlecht – aber wie wandelbar ist die ganze Stellung von Mann und Frau, Familie u.s.w. Es ist ganz illusorisch, wollte man da eine schlechthin ›ursprüngliche‹ und ›natürliche‹ Stellung ausfindig machen und die Griechen zum Vorbild nehmen. Das Geschlecht ist für den Menschen so natürlich und unnatürlich wie die sog. Perversitäten – weil es ein unmittelbares Sein des Menschen und eine unmittelbare Anschauung vom Menschen gar nicht gibt.«24

23 Karl Löwith an Leo Strauss, 8.I.1933; in Leo Strauss: Gesammelte Schriften, S. 616618. 24 Ibid., S. 615f. Die Tatsache, daß der Mensch mittlerweile in der Lage ist, selbst sein Geschlecht nach Gutdünken zu bestimmen, scheint Löwiths These auf den ersten Blick zu bestätigen. Auf den zweiten Blick widerlegt sie sie jedoch: denn hier handelt es sich ja in den vielen Fällen gerade nicht um eine freie Wahl, sondern um eine, die

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Löwiths anthropologisches Programm dieser Zeit läßt sich daher mit ganz ähnlichen Worten skizzieren, wie Erich Auerbach sie über Goethe gefunden hat: »Für ihn ist das Erkenne dich selbst nicht nur eine praktische und moralische Forderung, sondern auch eine erkenntnistheoretische. Eben darum hat er auch wenig Interesse für naturwissenschaftliche Kenntnisse, und kein Vertrauen zu ihnen; das moralisch Menschliche allein fesselt ihn; so wie Sokrates könnte er sagen, daß die Bäume ihn nichts lehren, sondern nur die Menschen in der Stadt.«25 Auch später, wenn Löwith die Einbeziehung der modernen Naturwissenschaften in die Philosophie forderte, änderte sich sein wissenschaftliches Credo, das Ziel einer humanen Philosophie, nicht. Löwiths Haltung läßt sich trotz seines lebensphilosophischen Ausgangspunktes klar von der eines Soziologen oder Politikwissenschaftlers unterscheiden, weil er aus der Beobachtung auch des individuellen Menschen gültige Aussagen in einem universalen, aufs Ganze bezogenen Sinn gewinnen will und sich dabei bewußt gegen das Denken in politischen Gruppen, Parteien und Zusammenschlüssen stellt. Das bedeutet aber keineswegs, daß Löwith politische Probleme für unwesentlich gehalten hätte. Im Gegenteil, Heidegger sprach später davon, Löwith sei zu Marburger Zeiten »der roteste Marxist«26 gewesen. Es ist auch nicht von der Hand zu weisen, daß Löwiths philosophische Konzeption vom Marxismus mindestens ebenso sehr beeinflußt ist wie von der Lebensphilosophie: Löwith selbst schreibt, er habe durch die Lektüre von Marxens Frühschriften gelernt, den »Horizont von Welt zu erweitern und die objektive Macht der geschichtlich gewordenen Gesellschaftsstruktur in den Umkreis der eigenen Existenz einzubeziehen und also mit Marx einzusehen, daß das scheinbar unabhängige, weil vereinzelte ›Individuum‹ ein Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, ein ›bourgeois‹, im Unterschied zu sich selbst als Staatsbürger ist.«27 Folgerichtig ist das, was er der Existenzphilosophie und ihrem Bild des existentiell vereinzelten Menschen entgegenzusetzen versucht, eine Definition des Menschen, die wie der Marxismus von einer kritischen Gesellschaftsanalyse ausgeht und den Menschen als Teil sozialer und historischer Prozesse begreift.

auf einen Konflikt zwischen natürlicher und gesellschaftlicher Prägung im weitesten Sinne zurückzuführen ist. Löwith sollte diese Haltung später auch revidieren. 25 Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur; Bern 1946, S. 286f. 26 Brief an Elisabeth Blochmann vom 19.I.1954. In Martin Heidegger / Elisabeth Blochmann: Briefwechsel 1918-1969. In: Marbacher Schriften 33; Marbach/Neckar 1990, S. 103. 27 Karl Löwith: Curriculum Vitae (1959). In id.: Schriften 1; S. 450-462, S. 452f.

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Löwith hat verstanden, daß Menschen keine isolierten Existenzen sind, die sich unmittelbar begegnen können – sondern Mitmenschen in einer Mit- und Umwelt. Ganz im Gegensatz zu dem Rückzug vom Politischen, den man meist mit Löwith verbindet, zeigt sich hier ein eminent gesellschaftspolitisches Interesse. Von Marx trennen ihn, wie Löwith selbst sagt, die politischen Konsequenzen, die Marx aus seiner Gesellschaftsanalyse zieht: »die marxistische These vom Menschen als einem sozialen Gattungswesen, dessen Aufgabe es ist, die allgemeine Tendenz der Weltgeschichte zu realisieren.«28 Im Klartext bedeutet das, daß es in Löwiths Sicht nicht die Aufgabe des Menschen sein kann, die von Marx benannten Verhältnisse umzustürzen, um dann eine neue Gesellschaft zu schaffen, in der »der Mensch aus der Verfangenheit in die ihm selbst äußerlichen Bedingungen seiner Existenz befreit ist, die alle wahren Wesensäußerungen des Menschen verfälschen (das Geld!)« und »alle seine Wesensäußerungen unmittelbar das sein [werden], was sie wirklich sind« um »das Ohr frei für die Musik, das Auge für die Schönheit der Form«29 zu machen. Für Löwith wäre die Verwirklichung dieser Vision zwangsläufig die Schaffung einer totalitären Utopie. Dennoch sieht Löwith die Notwendigkeit zu einer gewissen Art gesellschaftlicher Tätigkeit und Wirkung – er definiert Politik allerdings auf eine eigenwillige Weise. Schon zehn Jahre vor dem zitierten Brief an Leo Strauss finden wir in einem Brief an Heidegger die folgenden, im Rückblick beinahe prophetisch anmutenden Sätze: »Die Nicht-Ursprünglichkeit jeder Ordnungs-Organisation beweist nichts gegen ihre Notwendigkeit u[nd] selbst im privaten Leben des Einzelnen spielt heute faktisch das Mechanisch-gewaltsam ›Anonyme‹ (Kierkeg[aards] Tageb[uch] über die Presse! z. B.) eine grosse Rolle. Ganz konkret gesprochen: es würde für mich eine entscheidende Situation (nicht nur ›Lage‹) werden, wenn diese Lage – eine Revolution, ein Krieg u[nd] s[o] f[ort] – zu einer Stellungnahme einfach zwingt, weil sie mehr ist als blosse Lage. Und ich weiss nicht ob ich, wie bisher, passiv der schändlichen Politisierung ect. der heutigen Jugend zusehen könnte wenn ich beruflich damit in Berührung komme. […] In Bischofstein bei Marseilles Schule sehen u[nd] hören u[nd] lesen die Jüngeren nichts zu Dollarstand, Politik, Ruhrbesetzung ect ect. Sie können in schönster Weise die Gemeinheiten der grosstädt[ischen] Einflüsse vermeiden. Was aber, wenn sie mit 17/18 wieder in das ganz andre Getöse eintreten, sich dort ihren Weg bahnen müssen, ahnungslos vorurteilsvoll wie nur irgend ein

28 Ibid., S. 454. 29 So Siegfried Landshut in seiner Einleitung zu Karl Marx: Die Frühschriften; Stuttgart 1971, S. IX-LX, S. XLIII.

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Bürger der älteren Generation die väterliche Zeitung lesen werden, ihren engen socialen Kreis. In Bischofstein kümmert sich kein Lehrer um die sehr bezeichnenden Bilder welche sich die Buben ins Zimmer hängen: x deutsche Kaiser, Hindenburgs, Papas in grosser Uniform, Schlachtschiffe ect. Es stört nicht, kommt nicht zur Wirkung – aber auch nicht zum Austrag, nicht mal zu irgend einer Auseinandersetzung mit anders Gesinnten. So bleiben sie nur scheinbar unpolitisiert u[nd] werden, wenn es drauf ankommt, mit derselben Gedächtnislosigkeit in einen weiteren Krieg ziehen, mit den gleichen Phrasen, derselben absoluten Unwissenheit auch nur über die schmutzige Technik einer jeden Presse, eines öffentl[ichen] Meinung=machens.«30 Politisiert zu werden bedeutet für Löwith also nicht, sich mit politischen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Sondern, ganz im Sinne seiner freien Anthropologie, sich von diesen Fragestellungen nicht emanzipieren zu können, sich mit »Gedächtnislosigkeit« von der Politik bzw. von politischen Interessen instrumentalisieren zu lassen und damit dem »mechanisch-gewaltsam Anonymen« kritiklos gegenüberzustehen. Der Mensch ist für Löwith mehr als nur der Bürger – und so schreibt er über Rousseau, der diese Unterscheidung formulierte, er »finde die Entwicklung seiner Widersprüche zwischen homme – bourgeois und citoyen ehrlicher und lehrreicher als alle späteren dogmatischen Theorien vom Staat zusammen.«31 Die von Löwith geforderte Stellungnahme des Menschen zur Politik kann nur gelingen durch Pluralität, durch die Erweiterung des »engen socialen Kreises« und die »Auseinandersetzung mit anders Gesinnten«. Erst aus und durch Kritik kann eine eigene, positive Haltung entstehen. Denn für Löwith war diese kulturkritische Aufgabe nicht durch eine aktualitätsbezogene politische Wissenschaft im engeren Sinne zu erfüllen, sondern einer umfassenden Geschichtsschreibung im Weberschen Sinne zu überlassen: »historische Nachforschung hat also nicht den Sinn zu erkennen, wie es gewesen ist (Ranke) oder wie es mit geschichtlicher Notwendigkeit kommen mußte (Marx), sondern: sich verständlich zu machen, wie wir heute so sind, wie wir geworden sind, und zu dieser unserer Gegenwartsgeschichte (die selbst nur ein ›Ausschnitt aus dem Gang von Menschenschicksalen‹ ist) gehört u.a. auch und vorzüglich der ›Kapitalismus‹. Diese Erkenntnis der uns umgebenden und uns selbst bestimmenden Wirklichkeit in ihrer ›Bedeutung‹, diese gesellschaftlich-

30 Karl Löwith an Martin Heidegger, 10.V.1923; Marbach/Neckar, Deutsches Literaturarchiv, A: Heidegger. 31 Karl Löwith an Leo Strauss, 10.VI.1933; in Leo Strauss: Gesammelte Schriften, S. 628.

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geschichtliche Selbsterkenntnis wird von Weber ausdrücklich abgegrenzt gegen ein Aufsuchen letzter ›Faktoren‹ und allgemeiner ›Gesetze‹.«32 In diesem Sinne geht Löwith von einem Denkmodell aus, das er selbst als »idealtypische ›Konstruktion‹« bezeichnet. Es »hat zum Fundament einen spezifisch ›illusionslosen‹ Menschen, der von einer objektiv sinnlos und nüchtern und insofern betont ›realistisch‹ gewordenen Welt auf sich selbst zurückgeworfen und nun genötigt ist, den gegenständlichen Sinn und Sinnzusammenhang, überhaupt das Verhältnis zur Wirklichkeit als das ›seine‹ allererst herzustellen und den Sinn ›zu schaffen‹, praktisch und theoretisch. Volk, Staat und Individuum, sie können dann nicht mehr wie einheitliche Substanzen mit tieferen Hintergründen angesehen und ausgelegt werden – aber nicht, weil das schlechterdings unwissenschaftlich wäre, sondern weil eine solche Auffassung in transzendenten Vorurteilen und Idealen befangen wäre und die Welt, in die wir ›hineingestellt‹ sind, solche Vorurteile nicht mehr rechtfertigt.«33 Diese Textstelle zeigt einmal mehr, daß Löwith mit der Philosophie ganz grundlegende, weil am Ende persönlich-existentielle Fragen beantworten will: er sucht nach einer Selbstauslegung im ethischen Sinne, er fragt nach der eigenen Stellung zur Welt, es geht ihm darum, nach den erschütternden Erfahrungen von Krieg und Wirtschaftskrise einen tragfähigen Sinn in der eigenen Existenz zu finden. Wenn er dabei auch von politischen Fragen und Problemen ausgehen mag, so endet Löwith nicht bei der Frage nach dem Sinn des Menschen an sich, sondern unmittelbar beim Individuum: »Der Gewissenhafte des Geistes ist gewissenhaft u[nd] das intellektuelle Gewissen ist in 1. Linie Gewissen; darum ist besonders jedes Philosophieren das im weiteren Sinn Existenzphänomene zum Thema hat – sich damit aus innerer Notwendigkeit beschäftigt – von vornherein auch persönlich; gerade als echtes phil[osophieren]: sinn-angemessen seiner spezif[ischen] Sache – dem Selbst.«34 Denn »Sinn« konnte Löwith im politischen Weltverlauf keinen entdecken. Und deshalb stellt er der von ihm kritisierten »schändlichen Politisierung« eine ganz andere Haltung gegenüber, die dann im Ergebnis auch im herkömmlichen Sinne ethisch ist: »Wie viel eindeutiger wirkte da [Albert] Schweitzer, der von vornherein die Sinnlosigkeit des Weltverlaufs zugab u[nd] daraus für das tätig wirksame Leben des Einzelnen in seinem Bereich, die Konsequenzen ableitete.

32 Karl Löwith: Max Weber und Karl Marx (1932). In id: Schriften 5, S. 324-407, S. 333f. 33 Ibid., S. 344. 34 Karl Löwith an Martin Heidegger, 17.VIII.1921; Marbach/Neckar, Deutsches Literaturarchiv, A: Heidegger.

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Mit einem Zitat aus Luthers Schrift gegen Wucherzins u[nd] Betonung von L[uther]s öffentlicher Wirksamkeit ist nicht viel ausgerichtet. Aber, wenn einer ehrlich seine Wirksamkeit als W[irksamkeit] für die Menschen u[nd] die Mensch-heit empfindet u[nd] sich nicht abschrecken lässt von den furchtbaren Anstrengungen ›allgemein‹ zu wirken, hab ich immer grosse Achtung.«35 Anthropologie als ethischer Kern der Philosophie Es ist diese ethische Frage nach dem Selbst, die Löwith auch in der Einleitung seiner Habilitation zur methodischen Feststellung führt, daß »nur das anthropologische ›Fundament‹ der Philosophie als das wahrhaft glaubwürdige, als das fundierende oder grundlegende, verständliche und fragwürdige zu gelten hat. […] Daraus ergibt sich auch unmittelbar, inwiefern die ›anthropologische Grundlegung‹ eine solche von ›ethischen‹ Problemen ist, denn die Struktur der menschlichen Lebensverhältnisse bildet sich dadurch aus, daß sich die Menschen zueinander verhalten, und dieses Verhalten impliziert eine menschliche Grund-Haltung, d.i. ein ›Ethos‹, welches das ursprüngliche Thema der Ethik ist und das seinerseits nur dadurch zur Geltung kommt, daß sich der Mensch verhält, nämlich als Mitmensch zu seinen Mitmenschen. […] So handelt auch das folgende zwar weder von ethischen ›Werten‹ noch von einer ›Genealogie der Moral‹ und von ›Gut und Böse‹, sondern von der formalen Struktur des Miteinanderseins, aber dieser von jeder Ethik vorausgesetzter Boden ist als ein anthropologischer eo ipso ein ethisch relevanter Boden.«36 Richtig verstanden bedeutet Löwiths Orientierung auf das alltägliche Leben die Abkehr von politikwissenschaftlichen, im Grunde selbst von sozialphilosophischen Ansätzen. Löwith identifiziert sich stark mit Vertretern der Weimarer Klassik, bezieht sich immer wieder auf Goethe und verweist darauf, daß »dieser Zusammenbruch des letzten Systems der klassischen Philosophie [Löwith spricht von der Hegelschen Philosophie – Anm. d. Verf.] […] endgültig die schon von Herder geplant gewesene ›Einziehung der Philosophie auf Anthropologie‹« »motiviert«.37 In diesem Sinne geht Löwith von einer existenzphilosophischen Fragestellung aus und behandelt auf seinem philosophischen Weg ethische Bestimmungen: »Die scheinbare Tautologie, welche darin liegt, daß wir das Wesen des homo ›humanitas‹ nennen, ist nur dadurch sinnvoll, daß der Mensch, dessen

35 Karl Löwith an Martin Heidegger, 10.V.1923; Marbach/Neckar, Deutsches Literaturarchiv, A: Heidegger. 36 Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 12f. 37 Id.: Kierkegaard und Nietzsche, S. 76.

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Wesen bestimmt werden soll, und die Menschlichkeit, die ihn näher bestimmen soll, nicht dieselbe Bedeutung haben. Wenn Herder sagt, der Mensch sei zur Humanität bestimmt, so meint die Humanität eine menschengeschichtliche Aufgabe, jedoch bezogen auf den Menschen als natürliches Lebewesen. Die Humanität ist die ›Kunst unseres Geschlechts‹, etwas, wozu sich das Naturwesen Mensch heraufbilden muß, um nicht zur Brutalität herabzusinken. […] Was Herder zeigen will, ist die Einheit des gesamten Naturgeschehens, von der Organisation der Materie bis zur Humanität des Menschen.«38 Und weil Löwith in dieser klassischen Tradition philosophisch motiviert fragt und diese Fragestellung auch konsequent durchhält, kann es eigentlich nicht verwundern, wenn er am Ende wieder die bereits zitierte Feststellung seiner Jugend betonte, nämlich daß der gesellschaftlich lebende, geformte und formende Mensch eben doch zuerst ein natürlicher Mensch – und als solcher ein sich prinzipiell immer gleiches Wesen ist. Diese Erkenntnis ist der Grund, aus dem Löwith zur alten philosophischen Frage nach dem Kosmos zurückkehrt, zu »dem weiteren Zusammenhang mit der umfassenden Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Welt, innerhalb dessen Mitwelt und Umwelt nur relative Welten sind. […] Die von Natur aus bestehende eine und ganze Welt ist nicht eine Welt der Menschen, und der vergängliche Mensch ist nicht das Ziel der gesamten, immerwährenden Schöpfung.«39 Dies bedeutet allerdings auch, daß der natürli-

38 Id.: Natur und Humanität des Menschen (1957). In id.: Schriften 1; S. 259-294, S. 272. Löwith bleibt dieser Herderschen Tradition verhaftet, auch wenn er sie mit Fragezeichen versieht, die sich aus der Perspektive der Moderne ergeben: »Indem wir versuchen, die Humanität aus der Natur des Menschen zu begründen und nicht aus einer wandelbaren Idee oder einem Ideal, wird es freilich nicht ausbleiben können, daß auch für uns die sogenannte Natur des Menschen nicht mehr so fraglos ist wie noch vor hundertsechzig Jahren für Herder.« (ibid., S. 275) 39 Id.: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (1928), Vorwort zur Neuauflage [1962]. In id..: Schriften 1; S. 9-197, S. 14. Man vergleiche diese Stelle mit C. M. Wieland, der Löwiths Verständnis des Verhältnisses zwischen dem Naturwesen Mensch und dem Kulturwesen des Bürgers genau widerspiegelt: »Die Natur, meine und aller Dinge Mutter, weiß nichts von Cyrene und Athen. Sie machte mich zum M e n s c h e n , nicht zum B ü r g e r : aber um ein Mensch zu seyn, mußt’ ich von j e m a n d gezeugt und i r g e n d w o geboren werden. […] Aber man wird nicht Mensch, um B ü r g e r zu seyn, sondern man wird Bürger, damit man M e n s c h seyn könne, d. i. damit man alles das sichrer und besser seyn und werden könne, was der Mensch, seinen Naturanlagen nach, seyn und werden soll. Der Mensch ist also nicht, wie man gemeiniglich zu glauben scheint, dem Bürger, sondern der Bürger dem Menschen

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che Mensch nicht den lebensphilosophisch-zeitgebundenen ersetzt. Stattdessen ist er seine Grundlage: der Mensch kann geschichtlich nur werden, was von Natur aus bereits in ihm angelegt ist. Der Mensch als natürliches und gesellschaftliches Wesen Zuerst soll betrachtet werden, wie der Mensch sich Löwith zufolge in seiner Mitund Umwelt entwickelt und verhält. Fraglos gibt es einen »erklärungsbedürftigen Gegensatz«40 zwischen Löwiths lebensphilosophisch angelegtem anthropologischen Hauptwerk Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen und vielen seiner späteren Veröffentlichungen, aber auch zu anderen Texten des jungen Löwith. Dennoch wird bei genauerer Analyse wird dabei klar, daß schon in den frühen Texten die Betrachtung der natürlichen Welt eine Rolle spielt und viele von Löwiths späteren Gedanken bereits angelegt sind. Sie wurden von Löwith offenbar deshalb aber nicht ausgearbeitet, weil sie im Sinne von Löwiths Schwerpunkt auf der Menschenwelt nicht relevant schienen. Löwiths scheinbar so widersprüchliche Entwürfe lassen sich durchaus harmonisch zusammenfügen, wenn man erkennt, daß der Mensch eben nicht entweder das eine – Mitmensch – oder das andere – natürlicher Mensch – ist, sondern beides zugleich und diese Elemente zueinander in einer dialektischen, aber keineswegs widerspruchsfreien Beziehung stehen. Daß die Konzepte von Mit- und Umwelt in und neben Löwiths Kosmologie als solche auch späterhin bestehen bleiben und somit der Mensch bei Löwith eine entsprechende Doppelstruktur aufweist, sagt Löwith selbst, wenn er schreibt, daß Mit- und Umwelt nur relative Welten innerhalb des großen Verhältnisses von Mensch und Welt seien. Denn das Bestehen dieses Verhältnisses bedeutet nicht, daß Mit- und Umwelt ihre Funktion verlieren, sondern nur, daß sich ihr Einfluß auf den Menschen innerhalb eines größeren Rahmens bewegt. Auch wenn Löwith in seiner Habilitation der Welt im Sinne einer Menschenwelt eine Bedeutung gibt, die klar auf den Menschen hin ausgerichtet ist, sieht er doch bereits hier, daß der Mensch von der Natur abhängig ist – und zwar so sehr, daß dies seine Persönlichkeit wesentlich mitbestimmt: Löwith findet im

u n t e r g e o r d n e t . Hingegen steht die Pflicht des Bürgers gegen den Staat, und des Staats gegen den Bürger in genauem Gleichgewicht.« (Christoph Martin Wieland: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. In id.: Sämmtliche Werke XI (Bd. 33); Hamburg 1984, S. 204f.) 40 Burkhard Liebsch: Verzeitlichte Welt. Variationen über die Philosophie Karl Löwiths; Würzburg 1995, S. 52f.

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Menschen »eine zweifache Selbständigkeit vereinigt, die automatische des Natürlichen und die autonome des Persönlichen, […] der ontologische Grund dafür, daß die außermenschliche Natur über ihn eine Macht haben kann.«41 Diese zweifache Bestimmung ist also ein spezifisches Wesensmerkmal des Menschen. Der Mensch ist ein Wesen, das mehrere und bisweilen widersprüchliche Bestimmungen in sich trägt: die Bestimmung durch die Natur und die durch die eigene Persönlichkeit. Er ist für Löwith ein Wesen, das bei allem, was es tut, die Natur transzendiert, hin zu einer wie auch immer verstandenen individuellen Humanität. Dieser Vorbestimmtheit durch Natur und Umwelt kann sich der Mensch nie ganz entledigen: »Das prinzipiell Fragwürdige ist dabei nicht der ontische Vorrang des einen oder des anderen (Natur oder Geist), sondern ihre problematische Einheit im Menschen, wie sie bereits im Begriff des menschlichen Lebens liegt.«42 Wesentlich ist dieses Problem für Löwith in seiner Habilitationsschrift allerdings noch nicht. Und auch später wird er zwar auf die Einbettung des Menschen in den Kosmos hinweisen, aber selten konkrete Folgerungen ziehen. Für Löwith ist der Mensch im Anschluß an Aristoteles ein ζῷον πολιτικόν, ein natürliches Lebewesen also, das sich im Unterschied zu allen anderen gesellschaftlich organisiert. Während die Definition des natürlichen Lebewesens für Löwith nur unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft möglich ist (und sich daher für den durchschnittlichen Philosophen verbietet), sieht er in der Bestimmung der gesellschaftlichen Mitwelt und ihrer Einflüsse auf den Menschen eine Aufgabe der Philosophie. Diese Aufgabe geht er in Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen an. Hier teilt er die Welt in die zwei Bereiche der Umwelt und der Mitwelt, wobei er die Umwelt weitgehend unter den Tisch fallen läßt, da sie zwar vorhanden ist, mit dem Menschen als Mensch aber in keiner Beziehung steht. Dennoch gilt auch schon in dieser Schrift, daß »weder die natürlichen Grundlagen des menschlichen Lebens, noch seine ›geistigen Grundlagen‹ in eindeutig-fundierender Weise ›grundlegend‹«43 für den Menschen sind. Löwiths These ist in der Habilitationsschrift, daß die Umwelt den Menschen zwar biologisch vorbestimmt, daß aber diese Vorbestimmung allein den Menschen nicht zum Menschen macht, denn auch Tiere sind natürlich bestimmte Geschöpfe. Der Mensch wird zum Menschen erst durch Bewußtsein und Beziehungen zu anderen; all das findet er in einer bloßen Umwelt nicht, sondern nur in der Orientierung zu ande-

41 Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 62. 42 Ibid., S. 32. 43 Ibid., S. 33.

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ren, die gleichfalls ein Bewußtsein haben und mit denen er in Beziehung treten kann. Es ist für Löwith ein Faktum, daß »der Mensch seine nachdrücklichsten Lebenserfahrungen nicht im einseitigen Verhalten zur außermenschlichen Natur, sondern im wechselseitigen Verhältnis zur Mitwelt macht, ihm dieses Verhältnis die gründlichsten und grundlegenden Erfahrungen vermittelt.«44 Für den Menschen »ist fundamental die ontologische Doppelnatur des Menschen als eines weder natürlichen noch geistigen, sondern un-natürlichen Wesens.«45 Daher ist die natürliche Umwelt für die Erkenntnis des Menschen in seiner Besonderheit hier noch fast zufällig und im Grunde bedeutungslos.46

44 Ibid., S. 59. 45 Ibid., S. 33. 46 In späterer Zeit gab Löwith diese Position auf; 1975 weist er darauf hin, in welchem Ausmaß der Mensch nicht kulturell oder historisch, sondern von der Natur bestimmt wird: »Zur allgemeinen Natur des Menschen gehört nicht nur eine dem menschlichen Organismus eigentümliche Natur, sondern auch ein individuell verschiedenes Temperament sowie bestimmte natürliche Anlagen und Idiosynkrasien. […] Zur Naturbestimmtheit des Geistes gehört ferner das, was Rosenkranz ›Anlagen‹ nennt, worunter er ›den Sinn für etwas‹ versteht. Nicht jeder hat für alles den gleichen Sinn und die gleiche Empfänglichkeit, und wir unterscheiden demnach spezifische ›Begabungen‹ und ›Talente‹. […] Zur Naturbestimmtheit des menschlichen Geistes gehören ferner alle spontanen Zu- und Abneigungen, Sympathie und Antipathie für bestimmte Dinge, Töne, Farben, Gerüche, Tiere, Menschen. […] Zur Naturbestimmtheit gehören ferner alle natürlichen Veränderungen im Leben des Menschen. Die allgemeinste Naturveränderung eines jeden Menschenlebens ist das Anderswerden infolge des Älterwerdens von der Geburt bis zum Tode und die Geschlechtsreife, welche ein kritischer Wendepunkt in diesem Ablauf ist. […] Nichts scheint so selbstverständlich zu sein wie die triviale Tatsache, daß der Mensch ein Drittel seines Lebens verschläft, und doch hängt am täglich wiederkehrenden Aufwachen alles spezifisch Menschliche. […] Der Mensch ist im Schlaf auf sich selber zurückgezogen, er lebt in einer Traumwelt, bis er wieder im Erwachen in die mit anderen gemeinsame Welt des Tages zurückkehrt. […] Im Erwachen erwacht der Mensch zum Selbstgefühl und Selbstbewußtsein. Erst durch diese Beziehung auf sich selbst hebt sich dann alles andere von uns selber ab. Es wird zum Gegenüber unserer selbst. Wenn ich erwachend zum Bewußtsein meiner selbst komme, ist auch schon die andere Erfahrung gemacht, daß es anderes gibt als mich selbst.« Löwith folgert daraus, daß das Bewußtsein des Menschen nicht alles ist und daß eine neue Art der Anthropologie notwendig ist, um den Menschen adäquat zu erfassen: »Der Umstand, daß das Bewußtsein maßgeblich ist für das Verständnis des Unbewußten, besagt nicht, daß es auch maßgeblich ist für das, was das Lebendige

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Zwar, so Löwith, »kommt der Mensch gleich wie ein Tier als unpersönlich namenloses Lebewesen zur Welt; aber die Art und Weise seines vitalen Daseins ist doch von Anfang bis zu Ende anthropologisch vorbestimmt. Ihrer eigenen ›Natur‹ nach sind die vitalen Grundlagen des menschlichen Lebens zwar unpersönlich und insofern biographisch nicht faßbar, aber als Grundlagen menschlichen Lebens denaturiert, nicht ›rein‹ natürlich. Alle Äußerungen der Vitalität, deren stärkste die generelle geschlechtliche Bestimmtheit des menschlichen Lebens ist, haben eo ipso anthropologische Bedeutung.«47 Der symbolische Schritt vom Tier zum Menschen ist derjenige, der aus dem Menschen etwas anderes macht als ein »unpersönlich namenloses Lebewesen«, also die Namensgebung, und gerade dieses Beispiel klärt auch über den Charakter der Mitwelt auf. Denn beim Prozeß der Namensgebung geht es für Löwith nicht nur um eine bloße Bezeichnung: in diesem Akt wird »ein noch völlig unselbständiges, seinen Eltern zugehöriges Lebewesen […] zum eigenen selbständigen Leben mit eigenem Namen vorbestimmt.«48 Der Akt der Namensgebung erkennt das Kind als ein eigenes Wesen an, das ein Recht auf eine eigene Persönlichkeit hat, für die der Name steht. Er ist der Ursprung der Beziehung anderer zum Kind und der Ursprung der Beziehungsfähigkeit des Kindes selbst. Als solcher ist der Akt der Namensgebung ein Akt der Transzendenz von natürlicher Existenz hin zur Schaffung einer menschlichen – und das heißt auch: einer menschengemachten Kultur.49

selber ist, nämlich etwas anderes und mehr als ein bloßer Mangel an Bewußtsein. Selbst angenommen, daß alles vorbewußte, unterbewußte und unbewußte Sein auf Bewußtwerdung angelegt wäre, so bliebe doch immer noch die andere Hälfte der ganzen Wahrheit nicht minder wahr, nämlich die, daß auch während unseres bewußten und wachen Lebens und Existierens das allermeiste ohne Bewußtsein geschieht und wir zumeist nur nicht wissen, wie tief und wie weit die Physis des leibhaftigen Menschen in seine bewußte Existenz hineinreicht. […] Man muß also den Hegelschen bzw. Rosenkranzschen Weg von der Idee bzw. vom Geist zur Natur und vom selbstbewußten zum naturbestimmten Geist und vom Wachsein zum Schlafen auch in umgekehrter Richtung gehen, um die ganze Wahrheit zu vergegenwärtigen, und sich klarzumachen, daß und inwiefern die dauernde Grundlage unseres bewußten Daseins das unbewußte Leben der Natur aller Dinge ist, deren Nicht-um-sich-wissen keineswegs gleichbedeutend mit Geistlosigkeit ist.« (id.: Zur Frage einer philosophischen Anthropologie (1975). In id.: Schriften 1; S. 329-341, S. 335-339/S. 341) 47 Id.: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 32. 48 Ibid., S. 34. 49 Die Tatsache, daß beispielsweise auch Haustiere einen Namen tragen, widerspricht nicht, sondern beweist diese These. Auch hier steht die Namensgebung am Beginn ei-

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Diese Kultur der Mitwelt entsteht also durch eine Beziehung, durch ein Verhältnis und die damit verbundene Anerkennung von Eigenständigkeit. Erst dadurch gewinnt sie eine autonome Bedeutung, die sich im Empfinden des einzelnen Menschen zumindest theoretisch ganz und gar von ihren Grundbedingungen ablösen und zu einem idealen Verhältnis werden kann, das an Martin Bubers Ich und Du erinnert: »Die Mitmenschen begegnen ursprünglich nicht als freischwebende, personenhafte Objekte einer theoretischen Betrachtung, sondern im Verhältnis des Menschen zur Welt und insofern ›innerweltlich‹, als Mitwelt, in umweltlicher Orientierung. […] Am ausdrücklichsten auf meine Welt bezogen ist die Mitwelt dann, wenn sie sich in einem bestimmten Andern, einem ›Du‹ zusammenfaßt, ein Du die ganze Welt für mich in sich befaßt. Nur dann kann man mit Feuerbach sagen: ›Die Welt oder Du‹. ›Du‹ repräsentiert mir dann nicht nur die ganze Mitwelt, sondern die ganze Welt.«50 Dabei ist natürlich zu beachten, daß Löwith hier nicht die kosmologische oder biologische Welt meint. Hier geht es um ein Lebens-Verhältnis, und Löwith definiert »Welt« in diesem Sinne im Anschluß an Max Scheler51: »Die

ner Anthropomorphisierung, die nicht selten dazu führt, daß die Tiere nicht nur ihre eigene Hütte, sondern auch ihr eigenes Spielzeug, ihre eigene Kleidung, ja sogar eine eigene Persönlichkeit, also einen »menschlichen« Charakter zugesprochen bekommen. 50 Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 29f. 51 Vgl.: »Kosmisches Einsgefühl kann es wesensmäßig nur geben, wenn in der Intention der Welt-anschauung die Welt als ›Ganzheit‹, als ein Allorganismus gegeben ist, den ›ein‹ Leben durchrinnt: also im Falle einer ›organologischen Weltansicht‹. […] Und für dieses Ausdrucksfeld gibt es dann auch notwendig eine universale Grammatik des Ausdrucks, eine kosmische Mimik und Pantomimik gleichsam, deren Gesetze geheimnisvoll in unserer Auffassung der Natur wirksam sind und die auch – wie die großangelegten Versuche von Novalis, Lavater, Goethe und Fechner zeigen – rational eruierbar sein müssen. Vom Ausdruckssinn (expressio) springt das fühlende und strebende Ich dann unmittelbar […] in das lebendige Zentrum der Dinge hinein und erlebt dessen Form, Gestalt, dessen anschauliche Attribute (Farben, Töne, Gerüche, Geschmäcke usw.) nur als die periphere Erscheinung und Grenze dieses seines so beschaffenen inneren Lebens. […] Für das Altertum sind Platons Lehre von der ›Weltseele‹ als dem vermittelnden Agens zwischen Ideenwelt und μη ον der Materie, Aristotelesʼ Form-, Entelechie- und Bewegungsbegriff Zeugnisse der organologischen Weltsicht; die Lehre, daß nur Gleiches das Gleiche zu erkennen vermöge, die alle antike Philosophie durchzieht, ist gleichfalls Zeugnis dafür, daß die in Mythos und antiker Religion tiefangelegte kosmische Einsfühlung selbst die rationalisiertesten, be-

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Einheitlichkeit, welche im Begriffe ›Welt‹ liegt, besteht nicht als ontisches Umfaßtsein des kleinen Menschen von der großen Welt, sondern bedeutet ontisch die innere ›Einheit des Lebens‹ und formal ontologisch die Einheit, welche die Welt dadurch hat, daß sie die eine Welt des je einheitlichen Menschen ist. Dies allein ist der haltbare Sinn der Idee vom Menschen als einem ›Mikrokosmos‹. Ein solcher ist der Mensch nicht, weil er die Welt im Großen im Kleinen ist, sondern weil, unbeschadet seiner Kleinheit, doch die ganze Welt, von der er sprechen kann, strukturell die seine ist.«52 Ergänzen läßt sich diese Position durch Arnold Gehlen, den Löwith trotz Gehlens Engagements im Dritten Reich fachlich sehr schätzte53: »Ist der Mensch weltoffen und handelnd, so ist er ebenso in der Welt, wie die Welt in ihm: sein Verhalten zur Welt ist ebenso ein Verhalten zu sich selbst und umgekehrt, und ebendies ist die allgemeine Bedeutung des Ausdrucks Wille. Ist dies also ausgemacht, hat der Mensch seine Bewegungen ausgelesen und eingeübt, ein dauerndes Können der Handlung in bestimmter Richtung erworben, seine Antriebe und Interessen auf Kosten verworfener übernommen und seine Handlungen zu Bedürfnissen gemacht, hat er seine Überzeugungen formiert und ein System von Erfahrungen und Deutungen festgelegt, so geschehn alle weiteren Lebensäußerungen in diesem Rahmen, und sind Auswirkungen des Feststehenden und Festgestellten.«54 Dabei gilt die einfache Tatsache, daß diese Weltoffenheit in einem ganz erheblichen Ausmaß eine Reaktion auf die Begegnung mit der Welt ist. Denn nicht das Selbst ist das Primäre, sie ist immer schon da und beeinflußt uns – wie sich auch im Akt der Namensgebung manifestiert. Daher sind bei Löwith die anderen

wußtesten Philosopheme noch durchwaltete – Systeme, die hoch über dem griechischen Polytheismus standen.« (Max Scheler: Wesen und Formen der Sympathie; Frankfurt/Main 1948, S. 89-91) 52 Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 56. 53 In diesem Sinne schrieb Löwith an Hellmuth Plessner, Gehlen sei »leider! – unter den überhaupt verfügbaren Soziologen m[einer] A[nsicht] n[ach] der einzige Kultursoziologe von Rang u[nd] nicht nur klug, sondern auch in Bezug auf alles, was die heutige Menschenwelt bestimmt, problembewusst« (Karl Löwith an Hellmuth Plessner, Brief vom 10.3. 1958; in: UB Groningen, Nl. Plessner, 138. Zitiert nach Carola Dietze: Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner 1892-1985; Göttingen 2006, S. 457). 54 Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. In id.: Gesamtausgabe (Bd. 3.1); Frankfurt/Main 1993, S. 433. Dabei ist zu beachten, daß der Mensch idealerweise auch von sich selbst abstrahieren und sich daher wie einem anderen begegnen kann.

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in ihrer Gesamtheit – und nicht nur ein ausgewähltes »Du« – für den Menschen nicht nur gleichwertig, sondern in einem gewissen Sinne sogar vorrangig: »Durch das Dasein Anderer ist das eigene schon allein dadurch von Grund aus und ohne sein Zutun ein für allemal bestimmt, daß es ohne das Dagewesensein bestimmter Anderer überhaupt nicht da und nicht so wäre wie es ist und – indem es so da ist – je eines, aber nicht zugleich des andern Geschlechts ist. Wenn wir also nach den Andern oder der Mitwelt fragen, so impliziert diese Frage diejenige nach dem einen, für den die andern ›andre‹ und eine ›Welt‹ sind, d. h. es wird nach ihrem Miteinandersein gefragt.«55 Zum Begriff der Mitwelt Dieses Verhältnis kann aber nicht zwischen zwei Dingen auftreten, weil Dinge sich nicht zueinander verhalten können, sondern bestenfalls aufeinander abgestimmt sind – wie ein Schloß und ein Schlüssel. Verhältnisse gibt es nur zwischen Personen: zwischen mir und den anderen, die zu meiner Mitwelt gehören. »Die allgemeinste und ursprünglichste Bestimmung der Mitwelt liegt im Begriff: ›die Anderen‹. Indem mir Mitwelt zunächst als die Welt der ›andern‹ begegnet, ist sie weder die Idee der ›Menschheit‹ in einer jeden ›Person‹ (Kant), noch die ›Gesellschaft‹ (Dilthey), und ebensowenig mein ›Du‹ (Feuerbach) und noch weniger ein ›Fremd-Ich‹ (Scheler), sondern sie sind die durch mich geeinte Welt der anderen, nicht mehr und nicht weniger bestimmt als dadurch, daß sie meine Mitwelt ist. Im Unterschied zu Etwas anderem sind die anderen dadurch ausgezeichnet, daß sie von derselben Seinsart, in derselben Weise da sind wie ich selbst. Unbeschadet dessen, daß sie andere sind, sind sie doch Meinesgleichen.«56 Die eben zitierte Stelle ist der Schlüssel zu Löwiths Verständnis der Mitwelt und des Verhältnisses eines Individuums zu den anderen im weitesten Sinne, im negativen wie im positiven. Wer hier nicht erwähnt wird, ist – wie es für Löwiths Anthropologie typisch ist – Gott. Gott ist nicht Teil meiner Mitwelt, schon weil er für Löwith bestenfalls als etwas ganz anderes benennbar ist. Damit ist er allerdings für uns nicht mehr diskutierbar, weil die Gottesidee etwas bezeichnet, das eben nicht von derselben Seinsart und Seinsweise ist wie der Mensch.57 Eine wirkliche Begegnung mit dem Menschen ist so unmöglich

55 Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 16. 56 Ibid., S. 64f. 57 Der Gedanke, ob Löwith mit dieser Gottesvorstellung nicht viel näher am Christentum ist und der Gottesidee gerechter wird als so mancher moderne Zeitgenosse – der Gott

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geworden, Gott ist nach Löwiths Verständnis daher nicht wirklich erfahr- und begreifbar; es besteht schlicht keine gemeinsame Kommunkationsebene, er ist nicht Teil unserer Welt. Stattdessen liefert die zitierte Textstelle eine genaue Definition der Mitwelt insofern, als sie deutlich macht, daß die Mitwelt nur in der Begegnung mit mir selbst existiert – sie ist also eine ganz persönliche, die immer von mir gedeutet wird und daher auf mich bezogen bleibt, »in mir geeint« ist. Sie begegnet zudem als die Welt der andern – also nur gesellschaftlich, in der Beziehung und Kommunikation mit anderen Menschen, im Verhältnis zu ihnen und von den Erwartungen und Taten der anderen geprägt. Zugleich aber liefert sie auch eine ethische Bestimmung des jeweils anderen Menschen, die oft überlesen wird: er ist zwar ein ganz anderes Wesen, aber mir selbst doch grundsätzlich gleich; er ist meinesgleichen. Wenn man bedenkt, wie viel Wert Löwith auf die Abgrenzungsfähigkeit des Individuums sowohl von den Verhältnissen, in denen es lebt, als auch von anderen Menschen legt, dann muß man diese Stelle auch so interpretieren, daß der andere Mitmensch gerade durch seine Verschiedenheit »von derselben Seinsart« ist wie man selbst. Gerade sie macht ihn zu meinesgleichen. Damit wird Verschiedenheit nicht nur zu einem eigenständigen und deshalb zu tolerierenden Wert 58, sondern zu einer positiven Bestimmung, die das Fundament des Menschseins bildet und damit auch die jeweils eigene Existenz als »Individuum in der Rolle des Mitmenschen« erst ermöglicht. Die Mitwelt und der Mitmensch sind für Löwith also konstitutiv für meine eigene Existenz als Mensch – und das gilt auch in einem politischen Sinne, wie Löwith in einer Wendung gegen Heidegger festhält: »Was uns von Fall zu Fall im Laufe der Zeit an tyche zufällt – also das, was Heidegger emphatisch das ›Geschick der Geschichte‹ nennt – gehört nach griechischer Einsicht nicht zur notwendigen und natürlichen Wesensverfassung des Menschen. Wohl aber gehört zu ihr, daß der Mensch für das Zusammenleben mit Seinesgleichen in einer polis angelegt ist, und zwar in einem viel höheren Grade als etwa Bienen oder

an seinem eigenen Maßstab und den eigenen Projektionen mißt und diese Idee daraufhin verwirft oder ihr nachfolgt, ist zumindest einige Überlegung wert. 58 Vgl.: »Eine emanzipierte Gesellschaft jedoch wäre kein Einheitsstaat, sondern die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen. Politik, der es darum im Ernst noch ginge, sollte deswegen die abstrakte Gleichheit der Menschen nicht einmal als Idee propagieren. Sie sollte stattdessen auf die schlechte Gleichheit heute, die Identität der Film- mit den Waffeninteressen deuten, den besseren Zustand aber denken als den, in dem man ohne Angst verschieden sein kann.« (Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben; Frankfurt/Main 1980, S. 116)

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Herdentiere. Ineins mit dieser politischen Veranlagung hat der Mensch die gemeinschaftsbildende Fähigkeit zur sprachlichen Verständigung. Er ist nur Mensch, indem er Mitmensch ist, und er kann dies nur sein, indem er sein eigenes Leben durch die Vermittlung der sprachlichen Mitteilung mit andern teilt.«59 Die Abhängigkeit des Menschen von seiner Mitwelt Wie sich dieses Zusammleben, die Begegnung mit anderen und die Zuweisung von Bedeutsamkeit abspielt, erklärt Löwith, indem er das alltägliche Umgangsverhältnis eng mit Rollen und Rollenerwartungen verknüpft: »Die Mitmenschen begegnen nicht als eine Mannigfaltigkeit für sich seiender ›Individuen‹, sondern als ›personae‹, die eine ›Rolle‹ haben, nämlich innerhalb und für ihre Mitwelt«.60 Ein Mensch ist für einen anderen zu etwas da: ein Lehrer für einen Schüler, ein Verkäufer für einen Kunden, ein Angestellter für seinen Arbeitgeber. Diese Verhältnisse können sich überschneiden, sie dienen immer einem bestimmten Zweck, sie schaffen aber auch schnell Abhängigkeiten, beispielsweise im Verhältnis von Kindern zu ihren Eltern. Hier zeigt sich wieder der marxistische Einfluß auf Löwith, denn im Grunde taucht hinter dieser Beobachtung der Gedanke der Entfremdung des Menschen durch die Verhältnisse als Problem menschlicher Freiheit auf. Denn nimmt die Bestimmung durch ein solches Rollenverhältnis dem Menschen nicht auch die Möglichkeit einer wie auch immer gearteten Stellungnahme, wie es beispielsweise Herbert Marcuse schildert? »Um zu leben, hängen die Menschen von Chefs, Politikern, Stellungen und Nachbarn ab, die sie dazu verhalten, das zu sagen und zu meinen, was sie sagen und meinen; die gesellschaftliche Notwendigkeit zwingt sie dazu, das ›Ding‹ (einschließlich ihrer eigenen Person, ihres Denkens und Empfindens) mit seinen Funktionen zu identifizieren. Wieso wissen wir das? Weil wir fernsehen, dem Radio zuhören, Zeitungen und Illustrierte lesen, mit den Menschen reden. Unter diesen Umständen ist der gesprochene Satz ein Ausdruck des Individuums, das ihn ausspricht und jener, die es dazu anhalten zu sprechen wie es scheint, und Ausdruck einer wie immer beschaffenen Spannung und Widersprüchlichkeit zwischen ihnen.«61 Auch für Löwith ist dementsprechend diese Art des Umgangs ein »sachhaft orientiertes Einander-gebrauchen«, das er bezeichnet als einen »Missbrauch,

59 Karl Löwith: Mensch und Geschichte (1958). In id.: Schriften 2; S. 346-376, S. 347f. 60 Ibid., S. 67. 61 Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft; München 2008, S. 207f.

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sofern der Mensch – mit Kant gesprochen – nicht nur ›Zweck‹, sondern ›zugleich‹ und wesentlich ›Selbstzweck‹ ist, um seiner selbst willen da ist, indem er ›an sich‹ selbst sein kann, was er ist.«62 Denn für ihn ist klar: man gebraucht nur eine Sache, ein Mensch aber hat einen Eigenwert und eine eigene Bestimmung, die einem solchen »Gebrauch« entgegensteht: »Einer hat dagegen eine Bestimmung an ihm selbst zur freien Verfügung, er ist nicht einfach dazu bestimmt, sondern er kann sich zu solcher Bestimmung so oder so verhalten.«63 Die Frage, die in dieser Problemstellung mitschwingt, ist die nach der eigenen Individualität, oder, anders formuliert, die ganz grundlegende Frage nach der eigenen Freiheit. Wie problematisch diese Frage für Löwith gerade im Hinblick auf die eigene Rolle als Wissenschaftler gewesen ist, wurde zu Beginn der Arbeit gezeigt – hier taucht sie als allgemeines Problem der Selbstbestimmung erneut auf, als Frage, wie der Mensch sich angesichts dieses Ge- und Mißbrauchs als eigenes, freies Lebewesen behaupten kann: »Die tieferen Probleme des modernen Lebens quellen aus dem Anspruch des Individuums, die Selbständigkeit und Eigenart seines Daseins gegen die Übermächte der Gesellschaft, des geschichtlich Ererbten, der äußerlichen Kultur und Technik des Lebens zu bewahren – die letzterreichte Umgestaltung des Kampfes mit der Natur, den der primitive Mensch um seine leibliche Existenz zu führen hat.«64 Löwith setzt diesem von Zwängen dominierten Verhältnis ein anderes Modell entgegen, das er »eigentliches Miteinandersein« nennt und das seine Bestimmung in sich selbst trägt, also frei von Zwängen und fremdbestimmten Zwecken ist: »Unbekümmert um dieses gebräuchliche Miteinandersein, worin der eine für den andern nur soweit in Betracht kommt, als er zu etwas zu gebrauchen ist, existieren die Verhältnisse des eigentlichen Miteinanderseins, deren Wozu in ihnen selbst liegt. […] In all diesen Verhältnissen des unmittelbaren Füreinanderseins ist also keiner der beiden als Selbsteigner, sondern als Zugehöriger bestimmt. Trotzdem entwickelt sich nur aus solchem Verhältnis und für es die wahre Selbständigkeit eines jeden an ihm selbst (›Ich selbst‹ und ›Du selbst‹) in der gegenseitigen Anerkennung ihres unverhältnismäßigen Daseins.«65 Die jeweilige Anerkennung, die in diesem idealen Verhältnis dem »Ich selbst« und dem »Du selbst« entgegengebracht wird, ist also unabhängig von den üblicherweise mit Personen verknüpften Zwecken und Rollenerwartungen.

62 Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 86f. 63 Ibid., Seite 86. 64 Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben. In id: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908 (Bd. 1); Frankfurt/Main 1995, S. 116-131, S. 116. 65 Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 87.

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Der Mensch wird als der genommen, der er »ist«. Löwith unternimmt den Versuch, die menschliche Idee der Freiheit zu einer eigenen, individuellen Existenz zu betonen, ein Versuch, der als marxistisch motiviert verstanden werden kann. Löwith formuliert dabei die Idee »einer negativen Freiheit […], Freiheit verstanden als verantwortliche Ausübung der eigenen Autonomie in den Grenzen der Zugehörigkeit und Abhängigkeit. Die Freiheit erweist sich als Möglichkeit der Abstandnahme von der Rolle (beispielsweise in der autobiographischen Reflexion). Sie verweigert sich der vorbehaltlosen Identifikation mit der Maske, die man trägt. Sie verweigert sich ebensosehr dem unrealisierbaren Ideal einer letzten und definitiven Demaskierung.«66 Die marxistische Analyse formuliert das Problem jedoch deutlich radikaler und gewissermaßen pessimistischer als Löwith. Siegfried Landshut sieht in dem, was Löwith »sachhaft orientiertes Einander-gebrauchen« nennt, einen für die Moderne typischen Vorgang, dessen Endergebnis das völlige Ende menschlicher Beziehungen im herkömmlichen Sinne bedeutet: »Zwischen dies Verhältnis des Menschen zum Menschen treten jedoch ›die Verhältnisse‹, der ganze Komplex von Organisationen die das menschliche Verhalten des Menschen zum Menschen durchbrechen, den Menschen vom Menschen trennen und entfremden. Durch die vollendete Arbeitsteilung, durch die niemand mehr über das verfügt, was er braucht, ist der Mechanismus der Produktions- und Rauschverhältnisse schließlich vollkommen an die Stelle der menschlichen Beziehungen getreten, sind alle menschlichen Verhältnisse schließlich selbst Produktions- und Tauschverhältnisse geworden.«67 Bei Marcuse heißt es im Anschluß an die oben bereits zitierte Stelle, der Mensch habe durch dieses System der Abhängigkeiten und Selbstentfremdung seine Fähigkeit zur eigenen Positionierung zwar nicht völlig verloren, aber jeder Versuch einer solchen Stellungnahme sei zur Erfolglosigkeit verdammt, weil der Mensch hinter der Stellungnahme auch in seinen ureigenen individuellen Wünschen bis zur völligen Unkenntlichkeit von seinen Abhängigkeiten entstellt wird: »Indem sie ihre eigene Sprache sprechen, sprechen die Menschen auch die Sprache ihrer Herren, Wohltäter und Werbetexter. Daher drücken sie nicht nur sich selbst aus, ihre eigene Erkenntnis, ihre Gefühle und Bestrebungen, sondern auch etwas anderes als sich selbst. Indem sie ›von sich aus‹ die politische Lage seiʼs ihrer Heimatstadt, sei’s die internationale, beschreiben, beschreiben sie (und ›sie‹ schließt uns ein, die Intellektuellen, die es wissen und kritisieren), was ›ihre‹ Medien der Massenkommunikation ihnen er-

66 Enrico Donaggio: Karl Löwiths frühe Kritik der philosophischen Weltgeschichte; Unveröffentlichtes Vortragstyposkript. 67 Siegfried Landshut: Einleitung, S. XXXIX.

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zählen – und das verschmilzt mit dem, was sie wirklich denken, sehen und fühlen.«68 Eine ähnliche Position nehmen auch Alexander und Margarete Mitscherlich ein,69 für sie ist nicht nur der Mensch als soziales Lebewesen gefährdet, sondern seine Existenz in der modernen Arbeitswelt, die als primäre Lebenswelt des modernen Menschen für die ganze Welt steht, ist als Ganzes fragwürdig und verzichtbar geworden: »Die Arbeitswelt hat einen Grad von Anonymität angenommen, in der nur noch die Illusion überlebt, es käme auf den einzelnen an. Es kommt nicht auf ihn an; der militant menschenverachtende Satz ›Keiner ist unersetzlich‹ wird zur pragmatischen Grundmaxime. Die Apparatur verlangt nach sachgerechter Bedienung. Die persönliche Qualität wird daran gemessen, wie vollkommen der, der den Apparat bedient, dessen Möglichkeiten und Schwächen gerecht wird.«70 Daß man aber keineswegs Marxist sein muß, um zu einer ähnlichen Schlußfolgerung zu kommen, beweist Georg Simmel. Auch Simmel war der Überzeugung, das Individuums sei »zu einer quantité négligeable herabgedrückt, zu einem Staubkorn gegenüber einer ungeheuren Organisation von Dingen und Mächten, die ihm alle Fortschritte, Geistigkeiten, Werte allmählich aus der Hand spielen und sie aus der Form des subjektiven in die eines rein objektiven Lebens überführen.«71 Alles in allem schließt sich Löwith der Analyse des Problems weitgehend an, man könnte sogar sagen, daß er sie über die reine Gegenwartsanalyse hinaustreibt, bis hin zu dem Punkt, an dem er die Rede Freuds vom Menschen als »Prothesengott« übernimmt und posthumanistische Forderungen als logische Konsequenz dieser Entwicklung bezeichnet: »Es ist von hier aus nur noch ein, obgleich entscheidender Schritt in derselben Richtung, wenn die neuesten Wissenschaften, Kybernetik und experimentelle Genetik, nicht nur die Welt außer

68 Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch, S. 208 69 Vgl. Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens; München 1968, S. 110f. Hier heißt es: »Der durchschnittliche Bürger wird vom Werthorizont seiner Gesellschaft, von der herrschenden Religion, vom Stil der ›Subkulturen‹, denen er angehört, viel weitergehend geformt, als es das subjektive Bewußtsein sich eingestehen mag. Alle ›großen‹ Entscheidungen des Lebens trifft er nach dem Kodex seiner Zeit, seiner engeren Sozialgenossen, und gerade als Führer sinnt und streitet er für ›ewige Werte‹ seiner Gesellschaft. Tabu und Ressentiment gehen demnach nicht nur kleine Leute an. Sie sind nicht eine Frage der Bildung und Begabung, sondern entspringen vom intellektuellen Niveau oft weitgehend unabhängigen Hemmungen der kritischen Reflexion.« 70 Ibid., S. 177. 71 Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 129f..

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uns durch wissenschaftlich-technische Arbeit anders machen, als sie bisher gewesen ist, sondern schließlich den Macher selbst verändern wollen, damit er es mit seinen neuen Gemächten aufnehmen kann und ihnen gemäß wird. Die neue und kaum noch ›mechanisch‹ zu nennende Maschinen- und Informationstechnik, deren Modell sich auch auf organische Prozesse weitgehend übertragen läßt, stellt nicht nur Maschinen her, die sich selbst regulieren und sogar reproduzieren; sie macht auch aus dem Deus creatus von einst einen ›Prothesengott‹ (Freud), mit dem Ziel der künstlichen Erzeugung eines übermenschlichen Homunculus. Die kybernetische Utopie einer Menschenmaschine, die den bisherigen Menschen übertrifft und schließlich ersetzt, entspringt der Voraussetzung, daß zwar die Menschenmaschine durch Wissenschaft technisch entwickelbar ist, nicht aber der lebendige Mensch selbst. Sie fordert daher geradezu die moderne Genetik heraus, die durch exakte Eingriffe in den Keimbereich die menschliche Gestalt und ihre Organe zu verändern strebt.«72 Auch für Löwith ist dabei das Problem der Zweckgebundenheit des Menschen entscheidend. Auch für ihn ist der Mensch mehr als nur ein wie auch immer formulierter Zweck, der an eine bestimmte Arbeitsleistung gebunden ist. Trotz der inhaltlichen Überschneidungen in der Analyse wendet sich Löwith in der Bewertung dieser Situation gegen die Lösungsvorschläge des Marxismus, weil er »die marxistische These vom Menschen als einem sozialen Gattungswesen, dessen Aufgabe es ist, die allgemeine Tendenz der Weltgeschichte zu realisieren« als »unhaltbar«73 ablehnt. Unhaltbar ist diese These für Löwith schon deshalb, weil sie abhängig ist von den »im weitesten Sinn ›transzendenten‹, den nüchternen Alltag einer entzauberten Welt überschreitenden Vorurteilen«,74 dem »Glaube an objektive ›Entwicklung‹ und ›Fortschritt‹«75 und weil »die Welt, in die wir ›hineingestellt‹ sind, solche Vorurteile nicht mehr rechtfertigt.«76 Wie grundlegend diese Ablehnung ist, läßt sich daran erkennen, daß der Marxismus in Löwiths Deutung schon deshalb keinen sinnvollen Lösungsansatz liefert, weil er keine Gegenbewegung zum beschriebenen Problem darstellt. Anders als Webers Thesen entspringt der Marxismus in Löwiths Perspektive selbst einem Denken, das trotz oder wegen seines revolutionären Anspruchs keine Antwort

72 Karl Löwith: Vicos Grundsatz: verum et factum convertuntur. Seine theologische Prämisse und deren Konsequenzen (1968). In id.: Schriften 9; S. 195-227, S. 226f. 73 Id.: Curriculum Vitae, S. 453f.. 74 Id.: Max Weber und Karl Marx, S. 345. 75 Ibid. 76 Ibid., S. 344; man beachte Löwiths Kursivierung, die nahelegt, daß die Welt, in die wir hineingestellt sind, nichtsdestotrotz ganz andere Vorurteile rechtfertigt.

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auf diese veränderte Situation des Menschen darstellt, weil es von »transzendenten Vorurteilen« abhängig ist und daher in der Vergangenheit verhaftet bleibt. Überhaupt stellt sich die Frage, ob Löwith diese Situation für so unmenschlich hält, wie es der Marxismus tut – immerhin handelt es sich hier um eine menschengemachte Entwicklung, die nichts weiter ist als die Konsequenz daraus, daß der Mensch ein Wesen in mitweltlicher Orientierung ist. Und vor allem ist für Weber – und auch für Löwith – dieses Beharren auf Transzendenz »eine Inkonsequenz gegen die Diesseitigkeit. In deren ›Licht‹ steht nun die ›Wirklichkeit‹, und der Leitfaden für die Interpretation dieser nüchtern gewordenen Welt ist der Prozeß der Rationalisierung, durch den sie sich entzaubert und ernüchtert hat. Der Maßstab aber, an dem Weber dieses geschichtliche Faktum der Rationalisierung beurteilt, ist ihr scheinbares Gegenteil, nämlich die Freiheit des auf sich gestellten und sich selbst verantwortlichen Individuums, des ›menschlichen Helden‹ im Verhältnis zur Übermacht der durch Rationalisierung erwirkten ›Ordnungen‹, ›Einrichtungen‹, ›Betriebe‹, ›Organisationen‹ und ›Institutionen‹ des modernen Lebens«.77 Diesseitigkeit und Rationalisierung sind für Löwith Vorzeichen, unter denen der moderne Mensch ganz neue Möglichkeiten zur Freiheit hat – und gerade sie sind wesentliche Voraussetzungen für die vom Marxismus in so kritischer Absicht beschriebene Situation der Moderne! Zum Begriff der Arbeit Wo sich die Wege zwischen Löwith und dem Marxismus trennen, läßt sich an den Unterschieden im jeweiligen Menschenbild und dabei vor allem an der Bedeutung erkennen, die beide dem Konzept der »Arbeit« zuweisen. Zwar sieht auch Marx die Umwelt auf die Menschenwelt bezogen, doch er geht darüber hinaus – auch die ganze Weltgeschichte verweist direkt auf den Menschen, der sich durch seine Arbeit selbst erzeugt: »Indem aber für den sozialistischen Menschen die ganze sogenannte Weltgeschichte nichts anderes ist als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit, als das Werden der Natur für den Menschen, so hat er also den anschaulichen, unwiderruflichen Beweis von seiner Geburt: Durch sich selbst, von seinem Entstehungsprozeß.«78 Das Ziel ist eine Vorstellung absoluter menschlicher Freiheit, die auf völliger Unabhängigkeit und Autonomie gründet: »Ein Wesen gibt sich erst als selbständiges, sobald

77 Ibid., S. 345f. 78 Karl Marx: Nationalökonomie und Philosophie. Über den Zusammenhang der Nationalökonomie mit Staat, Recht, Moral und bürgerlichem Leben (1844). In id.: Die Frühschriften; Stuttgart 1971, S. 225-316, S. 274f.

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es auf eigenen Füßen steht und es steht erst auf eigenen Füßen, sobald es sein Dasein sich selber verdankt. Ein Mensch, der von der Gnade eines anderen lebt, betrachtet sich als ein abhängiges Wesen.«79 Damit steht Marx im Gegensatz zu Löwiths Freiheitsverständnis, denn Löwith sieht die Freiheit des Menschen und die Möglichkeit dazu erst im Verhältnis zur Mitwelt ausgedrückt, also genau in dem Verhältnis, das Marx als Abhängigkeitsverhältnis sprengen will. Und so findet der Gegensatz zwischen Löwith und Marx seinen Ausdruck auch darin, daß sich Löwith der Vorstellung Hegels anschließt, daß Arbeit »schlechthin zum Sein des Menschen gehörig [ist], sofern es nur ein Tätigsein in der Welt ist.« Sie ist »keine einzelne wirtschaftliche Tätigkeit, im Unterschied etwa zum Müßiggang oder Spiel, sondern die grundlegende Art und Weise, wie der Mensch sein Leben hervorbringt und dabei weltbildend ist. Und weil Hegel diese Bewegung zwischen dem Selbstsein und Anderssein unter dem ganz allgemeinen Begriff des Geistes begreift, ist die Arbeit für ihn weder eine körperliche noch geistige im besonderen Sinn, sondern geistvoll im absolut-ontologischen Sinne.«80 In der Moderne aber, so Löwith, werde Arbeit durch den Einfluß des Marxismus grundlegend anders bewertet. Sie ist keine Kategorie der Lebensführung mehr, die als solche eine neutrale, für den Menschen konstitutive Bedeutung hat. Ihr Ziel ist heute nicht mehr die Lebenserhaltung bzw. Lebensführung des Menschen; auch der Aspekt der Weltbildung ist zweitrangig geworden. Stattdessen bekommt sie in der Moderne – und das gilt sowohl für den Marxismus wie für scheinbar so ganz andere Überzeugungen wie den Posthumanismus – nun unter einem ideologischen Banner die Aufgabe zugewiesen, den Menschen als geschichtliches Subjekt in der Welt und von den Bestimmungen durch die Welt zu befreien. Arbeit wird damit vordergründig zu einem emanzipativen Projekt der Selbstermächtigung, de facto aber wird sie mit Transzendenz angereichert und erhält ihren ganz eigenen Wahrheitsanspruch: »Es ist eine Folge von Marx’ Entdeckung der gesellschaftlich-geschichtlichen Voraussetzungen auch alles geistigen Lebens und Denkens, wenn M. Scheler in seinem Entwurf zu einer Soziologie des Wissens die eigentümliche Denkweise herausstellte, die seit dem Beginn der Neuzeit den Grundsatz zur Geltung brachte, daß das verum ein Produkt des facere ist, eine ›verité à faire‹, wie sie der Existentialismus nennt. Die soziologische Bedingung dieser Idee von Wahrheit ist der zur Herrschaft gekommene homo faber der bürgerlichen und industriellen Arbeitsgesellschaft, der ein

79 Ibid., S. 246. 80 Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts. In id.: Schriften 4; S. 1-490, S. 234.

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Leistungs- und Herrschaftswesen entspricht. Hobbes’ nominalistische Theorie der Erkenntnis und Bacons operative Wissenschaft, marxistische Ideologienlehre und amerikanischer Pragmatismus sind die bekanntesten Phasen des neuzeitlichen Denkens, das sich in erster Linie an der praktischen Tätigkeit, am Umgestalten des Vorhandenen zum Gegebenen orientiert. […] Unsere ganze moderne Zivilisation beruht auf diesem inneren Zusammenhang von Arbeit und Erkenntnis, von Wahrsein und Gemachtsein. Dieses Pathos und Ethos der Arbeit war der Antike fremd. Es ist ein Produkt der wesentlich arbeitenden bürgerlichen und industriellen Gesellschaft und es gipfelt in dem Satz F. Engels, daß die Arbeit ›die einzige Schöpferin aller Kultur und Bildung‹ sei. […] Die Anschauungsweise und Denkform, mit der die moderne Wissenschaft an die Gegebenheit der Natur herantritt, ihre Methode und ihr Erkenntnisziel, sind durch das Arbeitsethos der Leistung und den Willen zur Macht bestimmt«.81 Löwith setzt in den entscheidenden Punkten anders an und definiert den Menschen als Person dementsprechend nicht über das Konzept der Arbeit. Er bestimmt ihn stattdessen als ein handelndes Wesen, das sich selbst Zwecke setzt, das aber zugleich anderen und sich selbst gleichermaßen Mittel zum Zweck sein kann: »1. Person ist der Mensch, sofern und soweit er sich selbst Zwecke setzen kann. 2. Selbst ein Zweck ist er, sofern er kein bloßes Mittel zu einem Zweck, sondern ein Selbstzweck ist. 3. Faktisch ist er aber zugleich als Mittel (Sache) und als Selbstzweck (Person) bestimmt, wenngleich er seiner eigentlichen Bestimmung nach letzteres ist. 4. Mittel zum Zweck oder Sache ist er, soweit er von andern oder auch von sich selbst als einer genommen wird, worüber sich wie über ›Etwas‹ disponieren läßt. Selbstzweck oder Person ist er, sofern er über alles, was Mittel ist, frei disponieren kann.«82 Diese Definition zeigt schon, daß die Situation des Menschen als Mitmensch fast zwangsläufig zu Konflikten führt und daher keine festgefügte ist, sondern daß die Position des Einzelnen an der Grenze zwischen Selbstzweck und »Sache« beständig neu verhandelt werden muß. Zum Begriff der Rolle Diese Position, die der Einzelne einnimmt, wird dabei wesentlich von den Rollen bestimmt, die er annimmt, die ihm zugewiesen werden, die er spielt und zu spielen hat. Daß dieser Begriff der Rolle von Löwith allerdings nicht nur als äußere Zuschreibung verstanden wird, die den Menschen im marxistischen Sinne

81 Id.: Vicos Grundsatz, S. 223-225. 82 Id.: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 161.

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von sich selbst entfremdet, sondern im anthropologischen Sinne für die Konstituierung seines Menschenbildes zentral ist, zeigt sich schon im Titel seiner Habilitation Der Mensch in der Rolle des Mitmenschen. Denn die Anwendung des Rollenbegriffes auf den Begriff des Mitmenschen ist ein Indiz dafür, daß es hier um etwas anderes geht als um ein lediglich ausbeuterisches Verhältnis, in dem der Mensch zum bloßen Objekt der Interessen anderer degradiert wird. Für Löwith ist das Spielen einer Rolle eine Handlungsweise, die menschliches Leben grundsätzlich kennzeichnet – Rollenverhalten ist die logische Folge menschlicher Zwecksetzungen und als solche die Ursache zahlreicher Konflikte; Rollenverhalten beeinflußt aber auch – gerade weil es zu Konflikten führt – stark unsere Fähigkeit der Selbsterkenntnis, um nicht zu sagen: es ermöglicht diese Selbsterkenntnis erst. Löwith stellt dies anhand der Maschere nude Pirandellos dar: »Wir selbst und die anderen wissen zumeist nicht, wer wir eigentlich sind. Und wir wissen es deshalb nicht, weil wir faktisch zunächst weder für uns selbst noch für andere unverdeckt da sind. Schon im ›wirklichen‹ Leben spielen wir eine ›Rolle‹, leben maskiert durch eine ›Konstruktion‹. Wir verbauen uns ständig, indem wir selbst und die andern, mit denen wir zusammen sind, etwas ›aus uns machen‹, was wir ›an sich‹ gar nicht sind. Wir geben uns als die und die und werden von den andern als die und die genommen. Aus diesem Überbau entspringen reelle Unstimmigkeiten, ›difetti reali‹.«83 Wir sehen uns also einer Erwartungshaltung ausgesetzt, die sowohl aus uns selbst wie aus der Mitwelt entspringt und dabei entscheidend beeinflußt, welche Rollen wir in welcher Weise ausüben. Konflikte können hier nur durch das Vertrauen vermieden werden, daß eine zugeschriebene Rolle in geeigneter Weise ausgefüllt wird. Im Alltag drückt sich das durch die Erwartung aus, daß ein Arzt sein Handwerk beherrscht oder ein Flugzeugpilot die Maschine nicht zum Absturz bringt. Konflikte entstehen in dem Moment, in dem Rollenzuschreibungen und Rollenerwartungen differieren oder die Rolle im Widerspruch zur Persönlichkeit des entsprechenden Individuums steht. Pirandello bringt diese Erfüllung einer Rolle idealtypisch zu Ausdruck, wenn am Ende von Cosi è (se vi pare) [So ist es – wie es ihnen scheint] Signora Ponza sagen läßt: »Ich bin die, für die Sie mich halten.«84 Jan Philipp Reemtsma hat darauf hingewiesen, daß die einzelnen Rollen immer im Zeichen eines Zwiespalts stehen zwischen der »wechselseitige[n] Er-

83 Ibid., S. 101. Die Diskussion Pirandellos ist zu finden in §23 der Strukturanalyse des Miteinanderseins, S. 100-118. 84 Luigi Pirandello: So ist es – wie es ihnen scheint. In id.: Dramen I; München 1963, S. 21-83, S. 82f.

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wartung und Versicherung, dass wir nicht aus der Rolle fallen, aber eben auch, deutlich zu machen, dass wir die Rolle nicht sind, dass wir um ihre Äußerlichkeit wissen. Diese Kombination, dass man in seinen Rollen nicht aufgeht, sie aber gleichwohl nicht durch kommunikativen Rekurs auf etwas, was man ›hinter‹ diesen Rollen sei, stützt, macht die spezifisch moderne Form der sozialen Interaktion aus […]. Die meisten der Arbeiten über Vertrauen teilen die Ansicht, es handle sich dabei um einen, vielleicht den elementaren Tatbestand sozialen Zusammenhalts, dennoch besteht weitgehende Uneinigkeit bereits darüber, welche Phänomene unter den Begriff des Vertrauens zu subsumieren sind.«85 Löwiths Menschenbild ist genau in diesem zweideutigen Sinne natürlich nicht von Reemtsma, aber von Georg Simmel stark beeinflußt. Diese deutlichen Einflüsse Simmels zeigen sich schon am bereits oben kurz erwähnten Rollenbegriff Löwiths. Simmel definiert das »›Spielen einer Rolle‹ – nicht als Heuchelei und Betrug, sondern als das Einströmen des persönlichen Lebens in eine Äußerungsform, die es als eine irgendwie vorbestehende, vorgezeichnete vorfindet – dies gehört zu den Funktionen, die unser tatsächliches Leben konstituieren.«86 Diese Rolle hat bei Löwith wie bei Simmel die gleiche merkwürdig zwiespältige Form, denn sie ist einerseits äußere Zuschreibung, wird auf der anderen Seite aber stets von einer individuellen Person gespielt, d.h. mit Leben gefüllt: »Eine solche Rolle mag unserer Individualität adäquat sein, aber sie ist doch noch etwas anderes als diese Individualität und ihr innerlicher und totaler Verlauf. Wer Geistlicher oder Offizier, Professor oder Bureauchef ist, benimmt sich nach einer Vorzeichnung, die jenseits seines individuellen Lebens gegeben ist. Wir t u n nicht nur Dinge, zu denen die Kultur- und Schicksalsschläge uns äußerlich veranlaßt, sondern wir stellen unvermeidlich etwas dar, was wir nicht eigentlich s i n d . Das ist freilich nicht, oder nicht immer, Darstellung nach außen um eines Effektes willen, nicht Vorstellung und Unehrlichkeit, sondern das Individuum geht wirklich in die vorgezeichnete Rolle hinein, es ist jetzt seine Wirklichkeit, nicht nur der und der, sondern das und das zu sein. Im großen und kleinen, chronisch und wechselnd finden wir ideelle Formen vor, in die unsere Existenz sich zu kleiden hat. Sehr selten bestimmt ein Mensch seine Verhaltungsart ganz rein von seiner eigensten Existenz her, meistens sehen wir eine präexistierende

85 Jan Philipp Reemtsma: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne; Hamburg 2008, S. 29f. 86 Georg Simmel: Zur Philosophie des Schauspielers. In id.: Fragmente und Aufsätze aus dem Nachlaß und Veröffentlichungen der letzten Jahre; München 1923, S. 229265, S. 244.

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Form vor uns, die wir mit unserem individuellen Verhalten erfüllt haben.«87 Auch bei Löwith heißt es korrespondierend »zunächst ist einer so bestimmt, wie er einem (andern oder sich selbst) erscheint. Der Ton liegt nicht auf dem Erscheinen als einem ›bloßen‹ Schein, sondern auf der Erscheinungsweise eines Seins. […] Nur so kommt überhaupt zur Frage, was einer an ihm selbst ist.«88 Auch für Löwith ist klar, daß jeder Mensch qua Existenz durch eine Vielzahl teils widersprechender Rollen bestimmt wird; da diese Bestimmung aber nicht die Person als ganzes erfaßt, sondern stets perspektivisch ist, ist die Tatsache, daß jeder Mensch eine Vielzahl von Rollen ausübt, für Löwith nicht problematisch, weil trotz allem eine gewisse Selbstständigkeit erhalten bleibt: »Eine solche Mehrheit verhältnismäßiger Bedeutungen hat aber prinzipiell jedermann, sofern er nur überhaupt existiert. Sofern ich da bin, bin ich schon in vielfacher Weise als Angehöriger bestimmt, zunächst als Sohn meiner Eltern und damit zugleich als Enkel, Neffe, Bruder usw. […] Diese Mehrheit von ›Rollen‹ wird für mich selbst solange nicht problematisch, als ich ja nicht einfach in diesen Verhältnissen aufgehe, sondern mir in diesen meinen Angehörigkeiten meine Selbständigkeit wahren kann. […] Problematisch wird diese Wechselseitigkeit erst dann, wenn sich der eine durch des andern Dasein in einem solchen Ausmaß bestimmen läßt, daß sein eigenes Dasein seine existenzielle Bedeutung primär aus dem Verhältnis zum andern empfängt und verliert.«89 Eine Rolle bestimmt den Menschen also – aber sie tut dies nur in Teilbereichen, nie vollständig. Es bleibt immer ein gewisser Freiraum, den der Einzelne für sich reklamieren kann und in dem sich seine Persönlichkeit entfaltet. Trotzdem ist eine Rolle für Löwith häufig genug eine natürliche Eigenschaft oder zumindest eine äußere Zuschreibung, die das Individuum nicht leichtfertig ablehnen kann, sondern übernehmen muß. Der Mensch ist definiert als »Sohn« oder »Tochter«, er ist definiert als »Angestellter«, als »Partner«, als Zugehöriger in vielfältigem Sinne. Wenn eine Ablehnung von solchen Rollen überhaupt möglich ist, hat das – wie übrigens auch ihre Annahme – immer Konsequenzen, so wie die Ablehnung und Verneinung einer Beziehung zwar möglich, bei allen Beteiligten jedoch mittelbare und unmittelbare Konsequenzen hat. In diesem Sinne können auch scheinbar Unbeteiligte Verhältnisse durch Rollenerwartungen beeinflussen oder schädigen. Wenn eine Person oder Gruppe einer anderen Person (Rollen-)Erwartungen entgegenbringt, die im Widerspruch zu deren

87 Ibid., S. 244f. 88 Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 102. 89 Ibid., S. 115f.

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Selbstverständnis oder Beziehungen steht, ergibt sich daraus immer ein Konflikt, der auch zerstörerische Folgen haben kann. Löwith illustriert dies in seiner Diskussion von Pirandellos Cosi è (se vi pare) ausführlich und merkt kritisch an, es sei in der Realität für die Betroffenen und ihre Verhältnisse »nicht möglich […], ihre Geschlossenheit noch in derselben Weise aufrecht zu erhalten, nachdem sie einmal von der Mitwelt in die Lage versetzt wurden, ihre Geschlossenheit gegen die andern und damit vor sich selbst wider Willen als eine ›geschlossene‹ Welt zu behaupten. Sie müssten zum mindesten ihren von der Mitwelt gestörten Kreis wiederherstellen. […] Nur im Rückgang auf das Gewesene könnten weitere Möglichkeiten wiederum frei werden, und das Motiv zu einem solchen Rückgang in die Vergangenheit gibt die Aussichtslosigkeit der Gegenwart hinsichtlich ihrer nächsten Zukunft.«90 Das heißt, daß in einem eigenen sozialen Kreis jeweils eigene Regeln gelten, die durchaus nicht den Erwartungen der Mitwelt entsprechen müssen. Die Anderen hingegen beurteilen ihr Gegenüber nach ihren eigenen Vorstellungen und kommen so zu einem Bild, das vielleicht nicht weniger wahr ist, aber ganz andere Zuschreibungen und Erwartungen beinhaltet. Weil ihnen als Außenstehenden das Verständnis für die den Verhältnissen zwischen Personen zugrundeliegenden Motiven fehlt, werden sie zu einem störenden Einfluß für den sozialen Kreis des Einzelnen – und bilden doch dessen Rahmen: »Denn verständlich wird ein Miteinandersein anderer nicht dadurch, daß man es in der Tendenz verhältnismäßiger Entsprechung vorfindet, sondern dadurch, daß man die Motive (dieser Tendenz) gezeigt bekommt, aus denen sich drei Menschen in solcher Weise einheitlich aufeinander abgestimmt haben. Der wesentliche Grund, weshalb Pirandellos Fragestellung unbefriedigt läßt, ist aber die Verabsolutierung der verhältnis-mäßigen Bedeutung der zueinander im Verhältnis stehenden Personen.«91 Doch diese Menschen existieren eben nicht nur in und aus ihren Verhältnissen heraus – sie sind noch mehr und etwas ganz eigenes. Und so kann ein Mensch also keinesfalls – wie Signora Ponza – glaubwürdig von sich behaupten: »vor mir selbst bin ich niemand. Niemand!«92 Die Tatsache, daß Löwith das Verhältnis des Menschen zu seiner Mitwelt nicht nur mit einem Begriff aus der Welt des Theaters – dem Rollenbegriff – bezeichnet, sondern sogar anhand eines Theaterstücks diskutiert und entwickelt, ist ein weiteres Zeugnis für seine enge Verwandtschaft mit Simmels Ansatz, der dem Bild des Schauspielers eine generelle Bedeutung zumißt: »In eben dieser

90 Ibid., S. 117. 91 Ibid., S. 118. 92 Luigi Pirandello: So ist es – wie es ihnen scheint, S. 82.

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Bedeutung sind wir alle irgendwie Schauspieler, wie fragmentarisch auch immer – gerade wie wir alle in abgestuften Maßen Dichter und Maler sind.«93 In der Konsequenz bedeutet das für das Individuum, daß der »Missbrauch« der Rollenzuweisung nur dann gegeben ist, wenn die Spaltung zwischen Subjekt und Objekt aufgehoben und der Mensch nur noch als Mittel zu einem Zweck gesehen wird – wenn eine Rolle also so übermächtig geworden ist, daß sie den Anspruch erhebt, den Menschen als Menschen zu definieren. Das gilt selbst dann, wenn die Rolle so fundamental ist wie die des Mitmenschen: »Diese Form des Weltzugangs delegitimiert alle Praktiken, die das Individuum ›als Ganzes‹, sozusagen ›mit Haut und Haar‹ in Beschlag nehmen. Das Individuum als Inhaber von Individualität ist Träger des antitotalitären Affekts, ob sich dieser auf religiöse Politik oder politische Religion bezieht.«94

93 Georg Simmel: Zur Philosophie des Schauspielers, S. 245. 94 Jan Philipp Reemtsma: Vertrauen und Gewalt, S. 210.

Die Rolle des Mitmenschen

Der Mensch ist immer in ein enges Beziehungsgeflecht eingebettet; deshalb kann sich auch kein Mensch entscheiden, Mitmensch zu sein oder eben nicht Mitmensch zu sein; zumindest handelt es sich dabei um keine Entscheidung von der Art, als würde er zwischen zwei Hosen oder zwischen Berufen wählen. Er ist Mitmensch.1 Aber was bedeutet das konkret, gerade mit Rücksicht auf das vorherige Unterkapitel?

1

Anders sieht dies Eckart Goebel, der die Rede vom Menschen in der Rolle des Mitmenschen dahingehend interpretiert, das Individuum könne »die Rolle des Mitmenschen spielen, kann es aber auch seinlassen und eine ›Abschließung‹ vornehmen. Der wenig glückliche Terminus ›Rolle‹ schreibt also vorab die Unverbindlichkeit des Mitmenschseins fest. Mitmensch zu sein, das ist keine ausgezeichnete Möglichkeit, deren Nichtwahrnehmung das Individuum um etwas Entscheidendes brächte, am Ende gar darum, überhaupt ein Individuum zu sein; Mitmensch zu sein, das ist nur eine unter den vielen Rollen, die das Individuum spielen kann. […] Die Untersuchung gerät damit in der Tat zum Beitrag zu einer ›Grundlegung der ethischen Probleme‹, doch nicht im Sinne ihrer ›Lösung‹, sondern allenfalls und womöglich ungewollt zu einer illusionslosen Darstellung ihrer Unlösbarkeit. Denn wenn das Individuum zum Mitmenschsein im unverbindlichen Verhältnis nur einer ›Rolle‹ steht, verliert in der Umkehrung die von Löwith reformulierte Ansicht Kants, ›daß in, und zwar in jedem Menschen als solchem – universaliter – als ‚guter Kern‘ als ‚eigentliches Selbst‘ der zu achtende Selbstzweck, diese Idee vom menschlichen Sein‹ als Mitmenschsein stecke, ihre Überzeugungskraft. Indem bei Löwith die Achtung der Selbstzweckhaftigkeit meiner selbst und der anderen, woraus ja bei Kant die Universalisierbarkeit des Sittengesetzes fließen sollte, als wahlweise einzunehmende ›Rolle‹ wiederkehrt, büßt die Kantische Ethik ihren Verpflichtungscharakter ein. […] Mitmensch zu sein ist dem Titel von Löwiths Buch zufolge zweitens, und das wiegt schwerer, kein ›Wesensmerkmal‹ des Individuums, das zur vollen Bestimmung seines Begriffs unabdingbar wäre.

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Einer der Gründe ist, daß die Rolle des Mitmenschen für Löwith nicht völlig absolut ist; er sieht theoretisch die Möglichkeit, daß jemand ganz für sich alleine steht. »›Allein‹ steht, wer keine Angehörigen hat, wer ohne Zusammenhang mit anderen ist und sich somit selbst als Unzugehöriger bestimmt. Wer für sich allein ist, der hat sich zwar nicht positiv ›in den Händen des andern‹ (Kant), aber sofern er sich wesentlich dadurch bestimmt, daß er keinen andern hat, in dessen Händen er sich haben und mit dem er kommunizieren könnte, so hat er sich auch nicht eigentlich selbst ›in der Hand‹ und zu sich selbst ein ursprüngliches Verhältnis. Wirklich in seiner eigenen Hand hat sich einer nur dann, wenn er von sich aus alle andern von der Hand weisen und sich ganz auf sich selbst stellen kann – aber auch diese Möglichkeit, als Einzelner zu sein, geht zurück auf eine, wenn auch selbstgewählte Ver-einzelung, welche Vereinzelung als solche die ursprüngliche Vorherrschaft der Gemeinsamkeit bekundet. Im Willen zur Vereinzelung auf sich selbst bekundet sich also zugleich der Unwille zur Gemeinsamkeit mit andern. Weil das Dasein ursprünglich Mitsein ist, bedeutet die Position des Einzelnen, der so ist, wie einer einzig und allein nur selbst sein kann, somit eo ipso eine Opposition gegen alle andern, welche ›andern‹ sich ihrerseits – vom Standpunkt des sie ausschließenden Ichs aus gesehen – als öffentliche Allgemeinheit bestimmen.«2 Genau besehen, beschreibt Löwith hier zwei verschiedene Möglichkeiten der Vereinzelung. Zunächst eine selbstgewählte: selbst wer allein steht, trifft die Entscheidung zum Alleinsein als Mitmensch. Er entscheidet sich bewußt für die Absonderung von anderen, weil er sich aus sich selbst heraus gegen die anderen entscheidet. Die anderen existieren als Bezugspunkt durchaus, sie werden lediglich negativ definiert. Auch hier handelt es sich also um eine extreme Form des Mitseins. Löwith bezeichnet die andern in diesem Kontext als »öffentliche Allgemeinheit«, ein Begriff, den man als Hinweis auf und als Synonym für die res publica verstehen kann. Diese politische Dimension hat Löwith später auch selbst formuliert, als er unter Berufung auf Jacob Burckhardt »den totalen Anspruch des Staats, aber nicht weil er ›Macht‹ ist, sondern sofern er die ›Abdikation des In-

Dem Titel ist allenfalls zu entnehmen, daß das Individuum über Möglichkeiten des Verhaltens zu anderen verfügt, u. a. eben über die, sich als Mitmensch zu zeigen.« (Eckart Goebel: Der engagierte Solitär. Die Gewinnung des Begriffs Einsamkeit aus der Phänomenologie der Liebe im Frühwerk Jean-Paul Sartres; Berlin 2001, S. 42f.) 2

Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (1928). In id.: Schriften 1; S. 9-197, S. 187-189.

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dividuums‹ ist« ablehnte.3 Damit grenzt er sich von den Versuchen Carl Schmitts und Giovanni Gentiles ab, die den totalitären Anspruch des Staates aus der Hegelschen Geschichtsphilosophie ableiteten und dem Faschismus solcherart eine klassische philosophische Legitimation verleihen wollten, worauf schon Enrico Donaggio hingewiesen hat.4 Das Primat des Staates führt in diesem Denken dazu, dem Menschen keine eigene Würde mehr zuzugestehen, die er aus sich selbst heraus besitzt. Würde definiert sich aus dem Wert, den ein Individuum für die staatliche Gemeinschaft besitzt. Sie existiert nicht von Natur aus, sondern muß aus dem Wert des Individuums für die Gruppe erst abgeleitet werden, sie ist rechtfertigungspflichtig geworden: »Durch die Zurückführung des Wertes des Individuums auf seine Aufgabe und deren Erfüllung ist daher nicht die Würde des einzelnen vernichtet, sondern erst der Weg zu einer gerechtfertigten Würde gezeigt.«5 Diese Argumentation ist nicht nur von historischem Interesse: der Gedanke, daß dem Menschen kein natürlicher Eigenwert zukomme, findet sich auch heute immer wieder, wenn Menschen- und Bürgerrechte zum Thema politischer Auseinandersetzung werden. So basiert die Theorie des Bürgeropfers, wie der Kölner Rechtsprofessor Otto Depenheuer sie formulierte, auf dem Gedanken, daß »in einer […] tragischen Entscheidungssituation […] der rechtschaffene Bürger seine Würde einzig darin finden [kann], daß er sein Interesse bis hin zur Aufopferung seines Lebens den Interessen anderer oder des Gemeinwohls solidarisch unterordnet.«6 Ansonsten sei der Bürger lediglich ein bloßer, charakterloser »Niemand«, der nur seine eigenen Wünsche und Begierden kenne und dem deshalb zu Recht nur Gleichgültigkeit entgegengebracht werden könne.7 Daher ist es eine Fehleinschätzung, die Relevanz von Löwiths Positionierung lediglich in einer Abgrenzung vom Faschismus zu sehen. Löwith kritisiert grundsätzlich die Verabsolutierung der Position der Mehrheit, der Allgemeinheit, der »Gemeinschaft« als Kardinalfehler, weil sie zwangsläufig zur Unterdrückung der Minderheit führt. Denn die Abwertung des Individuums zugunsten der umfassenden Allgemeinheit ist keine faschistische Fehldeutung, sondern sie beherrscht weite Teile der politischen Theorie nach Hegel. Auch Marx setzt das

3

Id.: Burckhardts »Kultur«-Geschichte. (1937). In id.: Schriften 7; S. 363-366, S. 365.

4

In seinem Vortrag Karl Löwiths frühe Kritik der philosophischen Weltgeschichte [Internationaler Hegel-Kongreß »Die Weltgeschichte - das Weltgericht?«] 1999.

5

Carl Schmitt: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen; Berlin 2015, S.

6

Otto Depenheuer: Die Selbstbehauptung des Rechtsstaates; Paderborn 2008, S. 98f.

7

Vgl. ibid., S. 100.

106.

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menschliche Individuum und die menschliche Gattung in eine so enge Beziehung, daß die Totalität der Gemeinschaft und die Einheit zwischen Denken und Sein im Vordergrund zum eigentlichen Ziel werden: »Das individuelle und das Gattungsleben des Menschen sind nicht verschieden, so sehr auch – und dies ist notwendig – die Daseinsweise des individuellen Lebens eine mehr besondere oder mehr allgemeine Weise des Gattungsleben ist, oder je mehr das Gattungsleben ein mehr besonderes oder allgemeines individuelles Leben ist. Als Gattungsbewußtsein bestätigt der Mensch sein reelles Gesellschaftsleben und wiederholt nur sein wirkliches Dasein im Denken, wie umgekehrt das Gattungssein sich im Gattungsbewußtsein bestätigt und in seiner Allgemeinheit, als denkendes Wesen für sich ist. Der Mensch – so sehr er daher ein besonderes Individuum ist und gerade seine Besonderheit macht ihn zu einem Individuum und zum wirklichen individuellen Gemeinwesen – ebensosehr ist er die Totalität, die ideelle Totalität, das subjektive Dasein der gedachten und empfundenen Gesellschaft für sich, wie er auch in der Wirklichkeit, sowohl als Anschauung und wirklicher Geist des gesellschaftlichen Dasein wie als eine Totalität menschlicher Lebensäußerung da ist. Denken und Sein sind also zwar unterschieden aber zugleich in Einheit miteinander.«8 Löwith nimmt demgegenüber eine Position ein, die Hegels Auffassung, daß der Mensch von der Gemeinschaft her, also vor allem als Staatsbürger oder als Angehöriger einer Nation bestimmt sei, diametral entgegengesetzt ist. In den Kontext von Löwiths eigener Anthropologie gesetzt, kann der Staat zumindest gelegentlich ein Teil jener Mitwelt sein, die in die Kreise des Individuums eindringt, sie zu stören, dominieren und schließlich zu zerstören versucht. Das Individuum steht hier angesichts des Staates tatsächlich allein in dem Sinne, daß es sich einer Macht gegenübergestellt sieht, die potentiell alle Lebensbereiche durchdringt. Realistischerweise ist diese Situation für das Individuum aber nur dann erträglich, wenn es nicht völlig vereinzelt ist, sondern sich einen eigenen Kreis bilden kann und der gewissermaßen in Opposition zur Bedrängnis durch andere steht. Das Ergebnis ist ein wechselndes Geflecht von Beziehungen und Bestimmungen, die teilweise frei gewählt werden, teilweise von außen auferlegt werden. Der Mensch ist als ganz autarkes Wesen, das ohne soziale Kontakte auf sich selbst steht, nicht denkbar, erst recht nicht, wenn man in ihm nichts weiter sieht als »ein zusammengewehter Haufen von Atomen, dessen Gestalt, Individu-

8

Karl Marx: Nationalökonomie und Philosophie. Über den Zusammenhang der Nationalökonomie mit Staat, Recht, Moral und bürgerlichem Leben (1844). In id.: Die Frühschriften; Stuttgart 1971, S. 225-316, S. 238f.

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alität und Einzigkeit keine andere sind, wie die des Staubes, der vom Wirbelwind zu einer Säule gefügt wird«, wie es etwa Carl Schmitt tut.9 Löwith hat diese Problematik später in einen größeren moralischen Rahmen gestellt und eingestanden, daß der Versuch des Menschen, sich auf sich selbst zu stellen, zum Scheitern verurteilt ist, wie ambitioniert er auch sein mag: es sei möglich, daß »die Idee der Humanität, trotz Lessing, Herder und Goethe […] an sich selbst zugrunde gegangen sein [könnte], an einer inneren Schwäche, die gerade in ihrer scheinbaren Stärke liegt, nämlich an ihrem fragwürdigen Anspruch auf Eigenständigkeit. Der Verfall der Humanität könnte daher kommen, daß der Mensch versucht hat, das Maß seiner Menschlichkeit aus sich selbst zu entnehmen, wobei er sich von allem entfernt und entblößt hat, was ihn noch tragen und begründen könnte. Dann würde die Hinfälligkeit der Humanität darauf beruhen, daß der Mensch seinen Bestand verliert, wenn er versucht, sich ganz auf sich selber zu stellen.«10 Wenn Löwith die Idee der Humanität des Menschen dennoch retten will, muß das konsequenterweise bedeuten, sie in einen Bezugrahmen einzubetten, der größer ist als der Mensch – und einer dieser »natürlichen« Bezüge ist und bleibt eine individuell gestaltete und aus vielen verschiedenen Einflüssen bestehende Mitwelt. Denn, wie Löwith in Anlehnung an Paul Valéry noch 1971 formuliert: »Ein wesentlich solitärer, vor sich selbst bestehenwollender Mensch ist, nach Maßgabe der sozialen Humanität, inhuman. ›Es gibt zwei Arten von Menschen, die, welche sich als Menschen fühlen und Bedürfnis nach Menschen haben, und die, welche sich – allein und nicht als Menschen fühlen. Denn wer wirklich auf sich allein steht, ist nicht Mensch‹ […]. Ein solcher unsoziabler, auf sich selbst stehender Mensch kann den Bestand der menschlichen Gesellschaft nicht rechtfertigen, sondern nur in Frage stellen.«11 Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Mitwelt für eine überzeugende Rechtfertigung der Humanität ein

9

Reinhard Mehring: Carl Schmitt. Aufstieg und Fall; München 2009, S. 61.

10 Karl Löwith: Natur und Humanität des Menschen (1957). In id.: Schriften 1; S. 259294, S. 273. Löwith meint das im hier zitierten Kontext auch bezogen auf ein Konzept, das den Menschen im Wortsinne einbettet und begrenzt – religiös wäre dies ein Gott, Löwith zieht die Idee des Kosmos als alltäglich anschauliche vor. Es ist aber nicht einzusehen, warum dieses Konzept gewissermaßen nur als ideologischer Überbau vonnöten sein sollte und nicht schon im alltäglichen Miteinander eine Rolle spielen sollte. Nichts anderes spricht aus der alten Vorstellung, daß der Mensch ein soziales Wesen ist, das von Natur aus in Gruppenverbänden lebt. 11 Id.: Paul Valéry. Grundzüge seines philosophischen Denkens (1971). In id.: Schriften 9; S. 229-400, S. 294.

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geeigneter Raum ist. Denn auch ihre Geltung reicht letztlich nicht weiter als der Horizont des eigenen Tuns, auch sie macht es schwierig, gewisse Werte mit universalem Geltungsanspruch, die mit der Idee der Humanität verbunden sind – etwa die Menschenrechte – ausreichend zu legitimieren. Allerdings beinhaltet ihre Konzeption auch einige Gedanken, aus denen sich ethische Maßstäbe ableiten lassen und an denen sich das Individuum in der Mitwelt wie auch die Mitwelt für das Individuum messen lassen müssen. Die Rolle des Mitmenschen ist also eine, die der Mensch theoretisch ablehnen kann, die aber dennoch bestehen bleibt. Er ist mitmenschlich in eine Gesellschaft eingebettet, selbst wenn er sich gegen sie wendet. Sie gehört zu seiner conditio humana. Bei genauerem Hinsehen erweist es sich, daß die Rolle des Mitmenschen sich in dieser Eigenschaft von anderen Rollen gar nicht so sehr unterscheidet, da Rollen und die Art, wie sie ausgefüllt werden, aus einem verhältnismäßigen Zusammenspiel aus Zuweisung und Annahme entstehen. Man ist zum Beispiel Kind seiner Eltern, ob man will oder nicht. Diese Rollenzuweisung ist mit bestimmten Erwartungen verknüpft, die Zurückweisung der Rolle führt zu einer Konfliktsituation, die bisweilen zu großen Spannungen führen kann. Nimmt man die Rolle aber an, so hat man in ihrem Rahmen unter Umständen mehr Freiheiten und Möglichkeiten, als wenn man sie abgelehnt hätte – und kann darüber hinaus noch etliche weitere Rollen spielen, so daß die angenommene Rolle nicht zu einer alles dominierenden Rolle wird. So ist es auch bei der Rolle des Mitmenschen. Auch sie kann man ablehnen. Oft genug bleibt sie im Hintergrund negativ dennoch erhalten; löst man sich ganz von ihr, sind die Konsequenzen schwer. Vereinzelung und Tod Weil »Dasein ursprünglich Mitsein ist«, hat die Verleugnung des Mitseins gravierende Folgen: Entweder wird der Mensch zu einer Art Übermensch, der seine Bindungen überwunden hat und »von sich aus alle andern von der Hand weisen und sich ganz auf sich selbst stellen kann«12 – oder aber er ist »wesentlich dadurch bestimmt, daß er keinen andern hat, in dessen Händen er sich haben und mit dem er kommunizieren könnte«13 – was den Verlust des Verhältnisses zu sich und damit im Endeffekt die Aufgabe der eigenen Existenz als mitseiendes Lebewesen bedeutet. Dies ist die zweite Möglichkeit der absoluten Vereinzelung.

12 Id.: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 188. 13 Ibid.

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Wo schon die erste Möglichkeit, wenn wir sie in aller Radikalität zuende denken, eine höchst schwierige und unmenschliche ist, aber wenigstens noch einen gewissen positiven Gehalt – nämlich den des vereinzelten Individuums – für sich reklamieren kann, so ist die zweite von Grund auf negativ: der Mensch hat jede Bindung verloren, seine Situation ähnelt einem vollkommenen Unverstandensein und Verlassensein; er ist allein, kann in keine Gemeinschaft eintreten und sich auch nicht mehr mit sich selbst in ein fruchtbares Verhältnis setzen. Ist der Mensch als Mitmensch definiert, so wäre ein Mensch, der in keiner Weise mehr Mitmensch ist, auch seiner Menschlichkeit beraubt und gewissermaßen tot. Nicht umsonst ist der Tod als Ende menschlichen Lebens ein fortwährendes Thema Löwiths, der vor allem den willentlich gewählten Tod, den Selbstmord, daraufhin untersucht, was er über den Menschen aussagt. In seiner programmatischen Schrift Töten, Mord und Selbstmord: Die Freiheit zum Tode von 1962 spricht Löwith allerdings aus, daß auch der Selbstmord nur »scheinbar in radikaler Vereinzelung auf sich selbst« geschehe: »Dennoch ist der Mensch auch noch in dieser äußersten Tat der Vereinzelung nicht ganz und gar auf sich selbst gestellt und allein, alles in einem, sondern Mitmensch unter Mitmenschen. Wer sich selbst vernichtet, will nicht mehr sein, d. h. er will nicht mehr auf der Welt sein, d. h. in der Mitwelt seine Rolle weiterspielen. Die Menschen töten sich zumeist, um sich unerträglichen Verhältnissen zu entziehen, um einem fundamentalen Mißverhältnis zu ihrer Welt zu entgehen.«14 Der Selbstmord ist das große, absolute »Nein«, das ein Mensch sprechen kann. Er ist Ausdruck seiner Freiheit und eine spezifisch menschliche – und sogar positive – Eigenschaft: »Ein eindeutig natürliches Lebewesen kann sein eigenes Leben nicht verneinen, weil ihm mit der Zwiespältigkeit seiner Seinsverfassung die Freiheit zu sich selbst und damit von sich selbst fehlt.«15 Aber zugleich ist der Selbstmord die größte Niederlage des Menschen, weil er bedeutet, daß der Mensch seine natürliche Rolle als Mitmensch eben nicht mehr spielen kann oder will: »In ihm stellt sich der Mensch völlig auf sich selbst und nimmt sich einer wirklich selbst in die Hand, ohne Rücksicht auf irgendwelche andern, die er von der Hand weist. In seinem Ursprung und nicht bloß ›Anlaß‹ ist aber auch der Entschluß zum Selbstmord zumeist kein Ausdruck überlegener Souveränität über das eigene Leben, sondern die Folge mißlungener Verhältnisse des eigenen Lebens zu ändern und der Selbstmörder somit ein ver-einzeltes

14 Id.: Töten, Mord und Selbstmord: Die Freiheit zum Tode (1962). In id.: Schriften 1; S. 399-417, S. 401f. 15 Id.: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 38.

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Individuum, aber kein ursprünglich auf sich gestellter Einzelner. Die Befindlichkeit, welche – wenn sie anhält – zum Selbstmord führt, ist die Verzweiflung und aus der Verzweiflung als der ›Krankheit zum Tode‹ hat Kierkegaard konsequenterweise seinen Begriff vom ›Einzelnen‹ als eines Vereinzelten gewonnen und entwickelt.«16 Im Ganzen ist »die Selbstvernichtung, wenn sie aus Verzweiflung erfolgt, ›une solution grossière‹ […]. Eine grobe Lösung zu sein, hat jedoch die Selbstvernichtung mit der allgemeinen Menschengeschichte gemein. ›Die Geschichte der Menschheit ist voll grober Lösungen. Alle unsere Meinungen, die Mehrzahl unserer Urteile, die meisten unserer Handlungen sind bloßer Notbehelf oder Ausweg‹«17, wie Löwith Valéry paraphrasierend schreibt. Die Alternative des Selbstmordes als »Lösung« ist für Löwith nicht nur eine Möglichkeit, die den Menschen besonders vor anderen Lebewesen auszeichnet, sondern auch eine, die ihn definiert; anders als der »normale« Tod, den er erleidet, und die Geburt, die er gleichfalls nicht beeinflussen kann, bedeutet der Selbstmord für den Menschen, daß er ein Wesen ist, das sich jeder Setzung, selbst der ganz fundamentalen, die durch die bloße Tatsache seines eigenen Leben gegeben ist, zu entziehen vermag: »Ein fundamentales Problem wäre die Möglichkeit der Selbstvernichtung nur dann nicht, wenn der Mensch ohne weiteres sein Dasein akzeptieren würde. Da aber niemand danach verlangt hat, ›à figurer dans cette affaire‹ […] die wir Leben nennen […], wird solches Akzeptieren zur ersten und letzten, schlechthin entscheidenden Frage für jedes selbstbewußte Leben.«18 Nur in der Möglichkeit der Entscheidung für oder gegen den Selbstmord wird ein bewußtes, weil auf freier Entscheidung gründendes Leben überhaupt möglich – und da der Mensch nicht für sich, sondern in mitweltlichen Verhältnissen existiert, ist diese Entscheidung zugleich auch ein Akt der Kommunikation gegenüber den Mitmenschen, er ist »eine extrem personale Äußerung des Menschen,«19 die im Zweifel nicht ohne traumatische Folgen für die Überlebenden bleibt – bekommen diese im Falle eines Selbstmordes doch nur zu deutlich demonstriert, daß sie es nicht vermochten, dem Leben eines nahestehenden Menschen so etwas wie Sinn zu stiften. Dabei hat auch die Entscheidung zur Selbstvernichtung keinen höheren Sinn: »Man kann nicht sinnvoll fragen: wozu, zu welchem Zweck sich ein Mensch ver-

16 Ibid., S. 190. Für eine andere Interpretation vgl. Eckart Goebel: Der engagierte Solitär, insbesondere S. 57f. 17 Karl Löwith: Paul Valéry, S. 325. 18 Ibid. 19 Arno Heinrich Meyer: Die Frage des Menschen nach Gott und Welt inmitten seiner Geschichte im Werk Karl Löwiths; Würzburg 1977, S. 211.

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nichtet, denn er vernichtet mit sich alle nur möglichen Zwecke, und so wie der Mensch im Selbstmord über sich verfügen kann, läßt sich über eine Sache gerade nicht verfügen. Der Selbstmord ist nicht eine ›Grenzsituation‹ unter anderen, sondern eine ausgezeichnete Möglichkeit des Menschen als Menschen.«20 Das Beispiel des Selbstmordes beweist auf extreme Weise, daß der Mensch im Rahmen seiner Orientierung auf eine mannigfaltige Mitwelt durch mehrere Rollen in je unterschiedlichem Ausmaß bestimmt wird, aber auch, daß keine dieser Rollen die ganze Person beanspruchen kann. Es gibt einen gewissen Freiraum, positiv wie negativ, der dem Individuum verbleibt. Negativ ist der Selbstmord sicher die ultimative Form, sich seine Freiheit zu bewahren. Daß es auch eine positive Möglichkeit zur eigenen Freiheit gibt, deutet Löwith in seiner Pirandello-Interpretation an: »Das rechtmäßige Motiv zur Auflockerung einer derartig verselbständigten Welt des Miteinanderseins gibt die Geschichte ihrer Ausbildung. Verhältnisse entstehen überhaupt nur dadurch, daß sich zwei gegeneinander zunächst selbständige Individuen begegnen, und können sich auch nur dadurch auflösen, daß diese ursprüngliche Selbständigkeit des einen und andern als eine un-verhältnis-mäßige Bestimmung im Verhältnis zum Ausdruck kommt.«21 Der Mensch ist mehr als seine Verhältnisse und Beziehungen, er ver-

20 Karl Löwith: Töten, Mord und Selbstmord, S. 408. Deutlich formuliert diesen Aspekt auch Jean Améry, dessen elaborierte Sicht auf den Freitod sehr an Löwith erinnert und der auf Jean Baechlers Buch Tod durch eigene Hand. Eine wissenschaftliche Untersuchung über den Selbstmord hinweist. Bei Améry heißt es: »Humanität und Dignität. Der Freitod ist ein Privileg des Humanen. […] ›Der Suizid ist spezifisch und universell menschlich‹ […] Jean Baechler selbst, ein Mann der Fakten und Ziffern, der methodologischen Ordnung, dem sozusagen alles Höhere fernliegt und der sich keiner Werturteile über Leben und Tod vermißt, schreibt in den knapp zwei Seiten (von 650 des Gesamtwerks), die er der ›philosophie des suicides‹ widmet, es sei der Freitod ein essentieller Aspekt der condition humaine. ›Daß der Suizid‹, so heißt es, ›die Freiheit, die Dignität, das Recht auf Glück erhärtet, scheint mir aus den Fakten mit Evidenz herauszutreten.‹ […] Die Gesellschaft lehnt diesen zunächst aus Gründen der Arterhaltung, in unserer Zivilisation aber auch unter religiösen und ethischen Vorzeichen, in den meisten Fällen ab. […] Demgegenüber beharrt das Subjekt auf seinem Recht. Es will sich nicht komfortabel installieren […]. Es pfeift auf die Gesellschaft, ja oftmals auch auf Angehörige, die sein Freitod – mit Maßen, denn man lebt nicht mit den Toten – unglücklich macht. Es bekräftigt ein letztesmal seine Dignität – und nach ihm die Sintflut.« (Jean Améry: Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod; Stuttgart 1983, S. 52-55) 21 Id.: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 116.

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fügt über eine eigene positive Substanz jenseits der Rollenzuschreibungen, eine Substanz, die es zu erfragen und auszufüllen gilt.

Die individuelle Substanz des Einzelnen

Das Existenzideal Kompliziert wird es nun allerdings bei der Frage, was diese je eigene, positive Substanz des Menschen sein soll. Denn da wir ja immer reflektierende Außenstehende sind, können wir das eigentlich gar nicht erfassen. Auch für Löwith ist es ausgemacht, »daß der eine dem andern nie als ein anderes, selbständiges Ich, d. i. als ein unteilbares ›Individuum‹, sondern als ein ›Du selbst‹ zugänglich wird. Und im Verhältnis zu dieser zweiten Person bestimmt sich allererst das Ich konkret als eine erste Person, aber nicht als absolutes oder losgelöstes Individuum.«1 Das Problem ist, daß das Individuum beständig von den Personen, die es verkörpert, von den Rollenerwartungen, die man an es hat und die es ausfüllt, verdeckt wird; und diese Tatsache möglicherweise in viel stärkerem Ausmaß als die Art und Weise, in der man selbst seine Rollen auswählt und ausfüllt etwas über das eigentliche Individuum verrät: die »›verantwortlichen‹ Lebensverhältnisse, welche das Individuum als eine persona verhältnismäßig bestimmen und aus sich heraustreten lassen, bringen es doch nur verhältnismäßig, aber nicht unverantwortlich zum Vorschein. Dadurch machen sie nicht nur offenbar, wie einer ist, sondern zugleich verdecken sie auch – und zwar gerade als ›verantwortliche‹ Verhältnisse – wie einer an sich selber, abgesehen von jeder Verantwortung vor andern ist; sie zeigen nur, wie einer im verantwortlichen Verhältnis zu andern, aber nicht wie er an und für sich, ›an sich‹ ist.«2

1

Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (1928). In id.: Schriften 1;

2

Ibid., S. 186. Das aus dieser »Verhältnismäßigkeit« entstehende Bild des anderen ist

S. 9-197, S. 185. deswegen, worauf auch Georg Simmel hinweist, in einem hohen Maße Interpretationssache und schon deshalb nicht von einem absoluten Wahrheitsgehalt, sondern lediglich ein Ab-Bild: »Jedes engere Zusammenleben beruht durchgehends darauf, daß jeder vom anderen durch psychologische Hypothesen mehr weiß, als dieser ihm un-

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Im Grunde teilt auch Luigi Pirandello, der für Löwiths Rollenverständnis einen Referenzanker bildet, diese Auffassung, wie er in seinem Stück Il Piacere dell’Onesta [Das Vergnügen, anständig zu sein] erkennen läßt. Pirandello zeigt hier, daß der Mensch an sich mehr ist als der, für den man ihn hält, daß er eine eigene, individuelle Substanz besitzt. Denn der ehrliche Angelo Baldovino führt seine Figur mit den Worten ein: »Sehen Sie, Marchese, es ist unvermeidlich, daß wir uns jetzt konstruieren. […] In dem Augenblick, in dem ich hier eintrete und vor ihnen stehe, werde ich sofort zu dem, der ich sein muß und der ich sein kann: ich konstruiere mich, das heißt, ich zeige mich Ihnen so, wie es für die Beziehung, die ich zu Ihnen aufnehmen muß, geeignet erscheint. Und Sie machen es genauso. Aber hinter diesen Fassaden, hinter diesen heruntergelassenen Jalousien verbergen sich unsere geheimsten Gedanken, unsere innersten Gefühle, versteckt sich der wirkliche Mensch, der außerhalb jener Beziehung steht, die wir jetzt eingehen wollen.«3 Löwiths Kollegin aus dem »Marburger Kreis«, die Politikwissenschaftlerin Hannah Arendt, sieht hinter der Konstruktion durch die Rolle, »damit, dass durch sie, wie man sagen könnte, etwas hindurchtönt, manifestiert sich etwas anderes, etwas völlig Idiosynkratisches, Undefinierbares und doch unmissverständlich Identifizierbares«.4 »Masken oder Rollen«, und das gilt für Löwith ebenso wie für Hannah Arendt, »die die Welt uns zuteilt und die wir annehmen, ja uns sogar aneignen müssen, wenn wir überhaupt am Spiel der Welt teilnehmen wollen, […] hängen unserem inneren Selbst nicht permanent so an, wie für die meisten Menschen die Stimme des Gewissens etwas ist, was die menschliche Seele ständig mit sich herumträgt.«5 Das eigentliche Subjekt, das

mittelbar und mit bewußtem Willen zeigt. Denn wären wir nur auf das so Offenbarte angewiesen, so würden wir jedes Mal statt eines einheitlichen Menschen, den wir verstehen, und mit dem wir rechnen können, nur einige zufällige und zusammenhanglose Bruchstücke einer Seele vor uns haben. Wir müssen also durch Schlüsse, Deutungen und Interpolationen die gegebenen Fragmente ergänzen, bis ein soweit ganzer Mensch herauskommt, wie wir ihn innerlich und für die Lebenspraxis brauchen.« (Georg Simmel: Soziologie des Raumes. In id: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908 (Bd. 1); Frankfurt/Main 1995, S. 132-183, S. 142) 3

Luigi Pirandello: Das Vergnügen, anständig zu sein. In id.: Dramen I; München 1963, S. 133-186, S. 149.

4

Hannah Arendt: Die Sonning-Preis-Rede. Kopenhagen 1975; In text + kritik 166/167

5

Ibid. Damit wenden sich Löwith wie Arendt energisch gegen Heideggers Auffassung,

(IX/2005), S. 3-12, S. 10. daß es außerhalb der sozialen und historischen Faktizität kein eigenständiges Dasein

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Individuum liegt nicht in den Beziehungen – sondern jenseits davon, es verkleidet sich hinter der Maske der Rollen. Doch was läßt sich über dieses Individuum genaueres sagen? Für Hannah Arendt ist die Frage nach dem Individuum verhältnismäßig einfach zu beantworten, ohne daß ihre Antwort wesentlich klarer ausfällt: hinter der Maske unserer Rollen steckt »etwas völlig Idiosynkratisches, Undefinierbares und doch unmissverständlich Identifizierbares« – also etwas, von dem wir wissen, daß es da ist, über das wir aber keine klaren Aussagen treffen können, außer der, daß es idiosynkratisch ist, also bei jedem Menschen in ganz eigener Mischung auftritt. Das Individuum ist also individuell. Löwiths Position wird durch die Einführung seiner Idee, daß jeder Mensch über ein tief in ihm angelegtes Existenzideal verfüge, komplexer. Sie erschwert die Frage nach dem Individuum insofern, daß durch das Existenzideal das Verständnis des Menschen bereits determiniert ist – in Löwiths Worten, daß »das leitende Vorurteil in der Interpretation dessen, ›was der Mensch ist‹, durch ein je vorbildliches Existenzideal vorgezeichnet ist«.6 Ein solches Existenzideal ist auch eine Selbstauslegung – es ist die Voraussetzung dafür, überhaupt zu einer Position kommen zu können. Es ist dem eigentlichen Individuum vorgeschoben und entsteht zugleich aus diesem Individuum heraus, ist aber ebenfalls der Mitwelt ausgesetzt und läßt sich als solches infragestellen, während das Individuum gegeben ist und nicht hinterfragt werden kann. An anderer Stelle erklärt Löwith in diesem Sinne, daß dieses »Existenzideal […] niemals ein ›beliebiges‹ ist, sondern stets der realen Faktizität menschlicher Lebenserfahrung entspringt. Und so wird zur ersten und letzten kritischen Frage notwendigerweise die nach der Wahrheit und Evidenz des maßgebenden Existenzideals der Auslegung menschlichen Lebens.«7 Das Existenzideal bezeichnet also nicht das Individuum selbst, sondern eher das Verständnis, das ein Individuum von sich selber hat, was es darstellen oder richtiger: sein will. Es beinhaltet buchstäblich seine Vorurteile und Wünschbarkeiten, beantwortet aber nicht die Frage nach dem Individuum selbst und löst auch nicht die Frage, ob »es eine anthropologisch neutrale und

gebe. Für diese Position vgl. Leora Batnitzky: Leo Strauss and Emmanuel Levinas. Philosophy and the Politics of Revelation; Cambridge 2006, S. 34. 6

Karl Löwith: Grundzüge der Entwicklung der Phänomenologie zur Philosophie und ihr Verhältnis zur protestantischen Theologie (1930). In id.: Schriften 3; S. 33-95, S. 41.

7

Id.: Phänomenologische Ontologie und protestantische Theologie (1930). In id.: Schriften 3; S. 1-32, S. 3.

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phänomenologisch evidente Interpretation des Lebens geben«8 kann – zumindest nicht positiv. Löwith steht hier vor dem gleichen Problem wie Martin Heidegger, wenn dieser sich mit dem Problem der »Eigentlichkeit« auseinandersetzt. Denn »ob damit eine ›Seinsweise‹ des Daseins lediglich explikativ angezeigt oder ob nicht vielmehr ein Existenzideal umrissen wird, ist kaum jemals mit letzter Gewissheit zu bestimmen.«9 Das ist insofern problematisch, als es uns nach Löwith ohne ein Verständnis des Existenzideals überhaupt nicht möglich ist, eine vorurteilsfreie Position zur Frage, was der Mensch an sich ist zu gewinnen. Genausowenig wie zu jeder anderen Frage. Auf der anderen Seite verhindert das Existenzideal, diese Fragen eindeutig zu beantworten und muß daher so weit wie möglich dekonstruiert werden. Letztlich erweist sich, daß die Trias von Individuum, Existenzideal und Rolle eng miteinander verknüpft sind. Denn während das Individuum unverändert ist und als solches auf das Existenzideal wirkt, besteht eine komplexe Wechselbeziehung zwischen dem Existenzideal, der »faktischen Lebenserwartung« und den personalen Rollen bzw. den Erwartungen, die daran geknüpft sind. Das einzige, was wir vom Individuum in Erfahrung bringen können, ist die mögliche Erkenntnis von individuellen Kontinua – oder was man dafür hält.

8

Enrico Donaggio: Karl Löwith: Europa aus der exzentrischen Perspektive des Exils; Unveröffentlichtes Vortragstyposkript [XII. Internationales Kolloquium PHÄNOMEN EUROPA] 2003.

9

Vgl. Florian Grosser: Revolution denken. Heidegger und das Politische. 1919-1969; München 2011, S. 245. Löwith verweist selbst darauf, daß Heideggers philosophischer Impetus von einem ganz bestimmten Existenzideal beherrscht wird: »Das Besorgen der Welt modifiziert sich demgemäß im Verhalten zu Anderen zur ›Fürsorge‹ – in den zwei entgegengesetzten Weisen der ›einspringend-beherrschenden‹ und der ›vorspringend-befreienden‹ Fürsorge, welche den Anderen freigibt in seiner eigenen Selbständigkeit. Diese, aus dem Aspekt der Welt als einer Werkwelt motivierte Idee einer ›sachlichen‹ und somit spezifisch freien Verbundenheit – frei im persönlichen und verbunden durch die Gemeinsamkeit der bearbeiteten Sache – ist der Grund dafür, daß als ›eigentliche‹ Verbundenheit eine solche begriffen wird, welche darin besteht, daß sich der eine mit dem andern aus dem je eigens ergriffenen Dasein für dieselbe Sache einsetzt. So erweist sich als ontologisch-anthropologischer Hintergrund bereits der phänomenologischen Maxime überhaupt (›zu den Sachen selbst‹) ebenfalls ein bestimmtes Existenzideal von ›sachlich‹ begründeter Selbständigkeit des Daseins.« (Karl Löwith: Grundzüge der Entwicklung der Phänomenologie, S. 62)

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Damit ist das Existenzideal aber noch lange nicht aufgedeckt. Im von dieser Aporie vorgegebenen Rahmen findet Löwiths Denken statt. Gleichzeitig ist es eine wichtige ethische Feststellung, daß das unserer Selbsterkenntnis vorgeschobene Existenzideal gewissermaßen – ähnlich wie die Rollen, mit denen sich unser Individuum »verkleidet« – eine Scharnier- und Mittlerfunktion zwischen uns selbst und den anderen hat. Es ist einerseits historisch und sozial mitbestimmt und »niemals ein ›beliebiges‹ […], sondern stets der realen Faktizität menschlicher Lebenserfahrung« entnommen, zugleich aber ist es ebenso idiosynkratisch wie das Individuum und wird von diesem entscheidend geprägt. Wenn wir uns mit unserem Existenzideal auseinandersetzen und es hinterfragen, stoßen wir immer wieder auf uns selbst, auf unsere Potentiale, auf unsere Einschränkungen, auf natürliche Triebe und auf unsere Anlagen als menschliche Wesen. Darin liegt ein ethischer Sinn und Anspruch an den Menschen. Und es ist der Grund, warum sich der Gehalt des leitenden Existenzideals nicht automatisch aus der Faktizität der Lebenserfahrung oder des Zeitgeistes ergibt, warum das Individuum also mehr ist als eine reine Projektionsfläche und, nicht zuletzt, warum es so etwas wie Freiheit des Individuums geben kann. Das Existenzideal übt zwar eine große Wirkung darauf aus, wie wir sind und wie wir die Welt sehen; aber das dahinter stehende Individuum hat trotzdem einen Eigenwert, eine eigene Substanz und seine eigene Wahrheit. Deshalb läßt sich nicht mit Pirandello sagen: jede Herangehensweise ist wahr, das Individuum ist alles und nichts. Aber es bedeutet auch: das Existenzideal – und damit die Basis für unsere ganze Lebensanschauung läßt sich, anders als das Individuum, als der lebende Mensch mit seinen Eigenheiten, ganz radikal infragestellen. Anders als dieser muß sich das Existenzideal der Beurteilung durch andere im Rahmen des menschlichen Lebens stellen und unterliegt damit menschlichen Maßstäben. Denn es stellt sich für Löwith durchaus die Frage, ob man das Individuum mit einer wie auch immer definierten »Menschlichkeit« zusammenbringen kann, ob sich also das Individuum aus dem Menschen, der – durch das Existenzideal und die Mitwelt bedingt – aus dem Individuum geworden ist, noch ableiten läßt: »denn die elementaren Bedingungen und Voraussetzungen des Menschseins sind nicht menschlich. Diese Voraussetzungen werden durch die Forschung immer mehr entdeckt, und die Wissenschaft hat das gute Gewissen zum sens commun und zum bon sens zerstört. Diese behalten ihre Glaubwürdigkeit nur noch im Bereich des Vagen, der Umgangssprache und der naiven Bildersprache. Was die Wissenschaft feststellt, ist für sie unerträglich, denn ihre Aussagen sind für die gewohnte Form der Sprache und des Denkens extravagant und unmenschlich. Für den bon sens gibt es nur menschliche Maßstäbe; aber die Macht der wissen-

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schaftlichen Analyse und Berechnung entfernt sich immer mehr von allem bloß Menschlichen.«10 Die Frage, die hier aufscheint, ist eine mehrfache: Gibt es so etwas wie einen freien, von uns kontrollierten Willen? Was am Menschen ist von ihm selbst gemacht? Was ist im voraus determiniert, und zwar sowohl durch biologische, soziale und schließlich geschichtliche Voraussetzungen? Für Löwith ist der Gedanke, daß der Mensch einen notwendigen Höhe- oder Endpunkt der Weltgeschichte darstellt, absurd – und ebenso die Idee, daß der Mensch ein Wesen ist, das sich – und dann gar noch im Sinne des common sense! – völlig frei selber schafft. Letztlich ist der Mensch ein Geschöpf des Zufalls, »in der Reihe der Lebewesen eine zufällige Hervorbringung der Natur, die ebenso wohl auch hätte ausbleiben können; […] er ist seiner geistigen wie körperlichen Verfassung nach in seiner Lebensgeschichte durch zahllose zufallende Umstände bedingt, und schließlich fällt der zufällig Geborene dem Tod zu.«11 Das »reine Ich« Löwiths Vorstellung vom Individuum kehrt bei Valéry am ehesten in der Beschreibung des Moi pur, des reinen Ich wieder. Wie Löwith trennt Valéry, wenn auch vielleicht noch radikaler, zwischen den Voraussetzungen des Menschen und dem, was er ist und tut: »Zwischen unserem mentalen Funktionieren und uns gibt es keine Kommunikation. Das Innerste des Menschen sieht nicht menschlich aus«12 heißt es bei Valéry. Denn für Valéry ist das »reine Ich« die Grundlage der menschlichen Existenz13 und ähnlich unbestimmbar wie Löwiths Individuum, das sich – wie umgekehrt bei Valéry das Moi Pur – anhand der Dinge bestimmt,

10 Karl Löwith: Paul Valéry. Grundzüge seines philosophischen Denkens. (1971). In id.: Schriften 9; S. 229-400, S. 295. 11 Ibid., S. 320. 12 Paul Valéry: Aus den Cahiers. In Thomas Stölzel (ed.): Ich grase meine Gehirnwiese ab. Paul Valéry und seine verborgenen Cahiers; Frankfurt/Main 2011, S. 57-337, S. 63. 13 So zitiert Löwith Valérys programmatisches Bekenntnis »Ich habe mich niemals auf etwas anderes berufen als auf mein reines Ich, worunter ich das absolute Bewußtsein verstehe, welches das einzige und immer gleiche Mittel ist, sich automatisch vom Ganzen zu lösen, und in diesem Ganzen spielt unsere Person ihre Rolle, mit ihrer Geschichte, ihren Eigentümlichkeiten […] und ihren Selbstgefälligkeiten. Gern vergleiche ich dieses reine Ich mit dieser wertvollen Null in der mathematischen Schreibweise, der jeder algebraische Ausdruck gleichgesetzt werden kann« (Karl Löwith: Paul Valéry, S. 302f.).

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die sich ihm »darbieten;« dieses Individuum oder ICH ist denn auch nicht mehr als eine Grundlage, ein Träger, der aber sozusagen keinen eigenen Gehalt hat: »Das beste Bild des ICH ist sicherlich die Null, welche einerseits das Attributlose, Bildfreie, Wertfreie des ›reinen Ich‹ ausdrückt, welches durch Ausschöpfung gewonnen wird, da alles, was sich dem Bewußtsein darbietet, eben dadurch ein Antego ist; und andererseits erhöht die Null die gegebene Zahl um das Zehnfache – wie die Wahrnehmung, daß ein beliebiges Faktum uns persönlich angeht und beschrieben werden muß unter Zuhilfenahme von ich, mein, mich/mir usw., alsbald einen unvergleichlichen Wert annimmt.«14 Auch bei Valéry ist die »Person eine Rolle, die ich auswendig weiß – oder vielmehr der Charakter einer Rolle […]. Ich bin das nicht – oder wenig – Ich bin eher eine Reaktion – auf mich – und nicht auf andere. Ich setze mein Ich meiner Person entgegen.«15 Wie schon beim Rollenbegriff stellt sich hier bei genauer Betrachtung allerdings heraus, daß Löwiths Position wohl nicht von Paul Valéry, den er wahrscheinlich erst spät intensiv gelesen hat, beeinflußt ist, sondern von Georg Simmel, mit dem sich Löwith schon anläßlich seiner Promotion eingehend beschäftigt hatte. Schon Simmel attestierte dem »›reinen‹ Ich […] seine Qualitätslosigkeit«: »Das Fundamentalbewußtsein, in dem das Ich besteht, bedeutet überhaupt keine bestimmte Vorstellung, da es erst der Träger eines solchen ist, es ist als Bewußtsein nur ein ganz allgemeines Gefühl, daß ich überhaupt existiere. […] Das autonome Ich, in dem alle theoretischen und praktischen Fäden zusammenlaufen, ist wegen seiner apriorischen Gleichheit mit jedem andern Ich völlig farblos. Es hat zwar eine absolute formale Einheit jenseits seiner Einzeläußerungen, aber das, was man die charakterologische Einheit der Persönlichkeit nennen kann, findet in diesem Lebenssystem überhaupt keine Berücksichtigung: der besondere Ton- und Rhythmus des Wesens, der jede Persönlichkeit zu etwas ganz Unvertauschbarem macht, die qualitative Unverkennbarkeit grade all ihres Tuns und Lassens.«16 Aufgrund dieser Qualitätslosigkeit trifft auch auf Löwith eine Schwierigkeit zu, die er selbst bei Valéry diagnostiziert: die nähere – und erst recht eine »wissenschaftliche« Bestimmung des reinen Ich erweist sich als unmöglich, wie auch der Versuch, »die Unterscheidung zwischen dem reinen, absoluten Ich und der empirisch-individuellen Person als eine Unterscheidung von Zusammengehöri-

14 Paul Valéry: Aus den Cahiers, S. 110f. 15 Ibid., S. 128. 16 Georg Simmel: Kant und der Individualismus. In id: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908 (Bd. 1); Frankfurt/Main 1995, S. 273-282, S. 276-278.

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gen aufzuklären […]. Schon im eigenen Spiegelbild des Narziß erkennt sich die reine und universale Möglichkeit des moi pur, das seinerseits die Wirklichkeit in Möglichkeit verwandelt, in dem partikularen und zufälligen Phänomen irgendeines bestimmten Menschen wieder. Das sich als menschliche Person empfindende Ich wird zu einer ›Restriktion‹ des reinen Ich, das sich eigentlich gar nicht sehen und empfinden dürfte. […] Nur fragmentarisch kann auch der Mensch jene Reinheit erreichen, die ihn vor allem wirklich Vorhandenen, Überlieferten, Gewohnten, Vertrauten und Bekannten bis zu dessen totaler Befremdlichkeit ablöst und die Dinge erstmals so erblicken läßt, wie sie sind, wenn man von allem Zufälligen abstrahiert.«17 In diesem Sinne kann Valéry auch über das »Ich« schreiben, es sei »vielleicht eine Fiktion, ebenso nützlich und ebenso bestreitbar wie der Äther.«18 Wie wir gesehen haben, definiert Löwith auch diesen Begriff des »Zufälligen« sehr weit – das Zufällige ist nicht einfach nur das, was zufällig passiert; auch nicht das, was uns gesellschaftlich oder historisch zufällt, sozusagen unsere historische Faktizität. Es ist im buchstäblichen Sinne alles, was dem Individuum widerfährt – bis hin zu unserer biologischen Existenz. Kurz: das Zufällige ist alles, was nicht verstehender Geist ist: »Der subjektive menschliche Geist, der im Selbstbewußtsein für sich ist, erscheint auch schon in den leibgebundenen Empfindungen. Wir sind nicht einfach unser Leib, wir haben ihn, d. h., wir haben zu ihm ein eigenes und wandelbares Verhältnis. Der Geist ist zwar von der Natur wesensverschieden, aber in seinem primitiven Dasein doch so mit ihr eins, daß die natürlichen Bestimmtheiten zugleich auch Qualitäten des Geistes sind.«19 Zusammenfassend kann man daher sagen, daß das Individuum bei Löwith eigentlich nicht greifbar oder bestimmbar ist im Sinne von etwas, das ist. Es ist noch unzugänglicher verborgen und unbestimmbarer als etwa bei Gehlen, der zwar gleichfalls festhält, es gäbe »im menschlichen Inneren eine Schicht von halbbewußten Interessen, Überzeugungen und erzogenen Abneigungen, ein tragendes, unsichtbares Skelett des geistigen Lebens, das unsere Reaktionen in Form hält und wieder von ihnen in Form gehalten wird, so daß sogar unsere Physis zu Anpassungen und Ablaufsumstimmungen genötigt wird, ohne die sie in ihren eigenen unbeanspruchten Energien entarten müßte«.20 Gehlens Position

17 Karl Löwith: Paul Valéry, S. 304f. 18 Paul Valéry: Aus den Cahiers, S. 124. 19 Karl Löwith: Zur Frage einer philosophischen Anthropologie (1975). In id.: Schriften 1; S. 329-341, S. 334. 20 Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. In id.: Gesamtausgabe, Bd. 3.1; Frankfurt/Main 1993, S. 444.

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allerdings weist einen wesentlichen Unterschied zu Löwith auf: Für Gehlen steht diese »Schicht« in einer direkten Wechselwirkung zum äußeren Leben, sie besteht auch aus »erzogenen Abneigungen« und wird von unseren Reaktionen auf Erfahrungen geprägt. Gehlen zieht daraus die moralische Schlußfolgerung: »wenn unsere Erfahrung bis in die Tiefen dieses Zusammenhanges reicht, dann auch unsere Verantwortung.«21 Bei Gehlen ist auch das, was Löwith Individuum nennt, etwas Gewordenes – bei Löwith bezeichnet der Begriff schlicht das, was wir »sind« – ohne Einflüsse von Außen. Auch diese Vorstellung entspricht derjenigen, die Valéry mit dem »Moi pur« verbindet: es »kann nur sein oder nicht sein. – Es unterliegt keinerlei Wandel. Demenz, Alter, nichts kann ihm etwas anhaben – Dafür kann es nichts ausrichten – weiß nichts. Es ist reine Identität – keine Eigenschaften, keine Attribute.«22 Daher läßt es sich mit Valéry bezeichnen als »das System der allgemeinsten Existenzbedingungen. Es ist eine analytische Form.«23 Als solche ist es auch frei von Moral und Verantwortung, von allem, was sich aus gesellschaftlichen Verhältnissen ergibt. Es bietet uns auf diese Weise die uneingeschränkte Möglichkeit zur Distanzierung und bildet einen letzten Zufluchtsraum unserer Freiheit, oder, wie Löwith im Hinblick auf Burckhardts »Idee vom Individuum« schreibt: »daß dieses inmitten der Abhängigkeit vom allgemeinen Geschehen der Zeit ›unabhängig‹ und insofern frei ist. Was Burckhardt unter dem Menschsein verstand, ist deshalb weder ein ›allgemeines‹ Selbst, noch ein ›einzelnes‹ Selbst, sondern ein ›un-abhängiges Individuum‹, d. h. ein Einzelner, der zugleich weiß und anerkennt, daß er abhängig ist vom allgemeinen Geschehen der Welt.«24 Nur diese Erkenntnis der Un-abhängigkeit versetzt uns in die Lage, die Welt und das Weltgeschehen wirklich zu objektivieren und sie kritisch zu beobachten – eine Haltung, zu der wir laut Löwith eine moralische Verpflichtung haben: »Wir müssen es, weil wir nur durch eine solche Betrachtung des geschichtlichen Wesens im Ganzen die Dinge der Welt geistig zu überwinden vermögen und frei werden von der Dienstbarkeit im Dienste der angreifenden oder widerstrebenden Mächte. Wir müssen es zugleich mit unserm Tribut an die Mächte der Zeit, weil dieser Tribut gar nicht vermeidbar ist, solange wir nur überhaupt noch Genossen der Zeit sind und mit hineinverflochten in das allgemeine, gründendzerstörende Geschehen. Und wir müssen diesem ganzen geschichtlichen Wesen

21 Ibid. 22 Paul Valéry: Aus den Cahiers, S. 111. 23 Ibid., S. 128. 24 Karl Löwith: Jacob Burckhardt. Der Mensch inmitten der Geschichte (1936). In id.: Schriften 7; S. 39-361, S. 171.

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und Unwesen beschauend gegenübertreten, weil wir ihm nur im Abstand des freien Umblicks auch ›gegenüber‹ treten und uns ihm gegenüber so ›objektiv‹ verhalten, wie es dem Menschen seiner Natur nach gegeben ist. Als ein von Natur aus geistiges Wesen vermag er sich, ohne Rücksicht auf sein eigenes Wohloder Übelergehen, alles was ist und geschieht ›wie ein anderes Objekt gegenüber zu halten‹, ohne im Seienden und Geschehenden unfrei und blindlings aufzugehen. Dieses objektive Verhalten, das nicht nur den ausgeprägt theoretischen Menschen kennzeichnet, sondern auch den wahrhaft Handelnden vom bloß Mitgerissenen und obenauf Schwimmenden unterscheidet, ist ein ›hohes Bedürfnis‹, denn es ist geradezu ›unsere Freiheit‹ – aber: ›mitten im Bewußtsein der enormen allgemeinen Gebundenheit und des Stromes der Notwendigkeiten‹.«25

25 Ibid., S. 344f.

Das Verhältnis des Menschen zur Mitwelt

Schon durch diese natürliche Anlage zur objektivierenden Abstandnahme ist der Mensch als ein transzendierendes Wesen bestimmt. Aber nicht nur die Fähigkeit zur Objektivierung ist entscheidend. Ihr entspricht das gesellschaftliche Verhalten als ein Wesen, das auch durch das Eingehen von Verhältnissen mit anderen seine eigenen Grenzen fortwährend überschreitet – in diesem Falle nicht weg von sich selbst, sondern hin zu anderen Mit-Menschen – und das sich auf diese Weise die eigene Mit-Welt aufbaut und in ihr sein Leben führt. Dieses Transzendieren ist für Löwith somit keine nur oberflächliche Eigenschaft des Menschen, sondern ein Wesensmerkmal, das schon in dem Grundgedanken angelegt ist, die Beziehungsfähigkeit des Menschen herauszustellen und ihn als soziales Lebewesen zu definieren. Denn jede Beziehung bedeutet eine Kontaktaufnahme, ein Wegschreiten von dem je eigenen Standpunkt. Folgerichtig stellt sich die Frage, was passiert, wenn ein Mensch zu dieser Transzendenz nicht in der Lage ist – eine Frage, die derjenigen verwandt ist, die sich durch die Definition des Menschen als animal rationale, also als vernünftiges Lebewesen ergibt. Ist ein (biologischer) Mensch, der geistig behindert ist, ein Mensch? Oder stellt sich diese Frage womöglich schon bei einem, der nur unvernünftig handelt? Löwith hat zu solchen Fragestellungen nie direkt Stellung genommen, er behandelt sie allerdings beiläufig in seinem Aufsatz Die Dynamik der Geschichte und der Historismus von 1952. Hier diskutiert er die Frage, ob die Vernunft in der Weltgeschichte zum Ausdruck komme. Löwith lehnt diesen Gedanken ab – und läßt damit auch seine Distanz zu der Idee erkennen, den Menschen über die Vernunft zu bestimmen.1

1

Löwith diskutiert diese Frage im Rahmen seiner Historismus-Kritik. Der Grundgedanke ist auf Hegel zurückzuführen, der in der Geschichte das Wirken eines vernünftigen Weltgeistes am Werk sah und im Gang der Geschichte einen »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit«, einen Fortschritt, dem in einer Menschenwelt der Mensch

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Auch wenn Löwith einem Menschen, der zur Vernunft nicht fähig ist, die Menschlichkeit also keinesfalls abspricht, ist die Frage nach der Weltoffenheit, also die Grundfrage nach der Transzendenz eine Bedingung, von deren Erfüllung ähnlich viel abhängt. Denn derjenige, der »wesentlich nur mit sich selbst spricht« ist zwar noch immer Mensch, aber er »nähert sich bereits dem Irrsinn.

seinen Stempel aufgedrückt hat. Diese gedankliche Tradition hat sich bis weit ins 20. Jahrhundert fortgesetzt und weite Bereiche der Philosophie beeinflußt. Wir finden ähnliche Gedanken beispielsweise im Gottesbegriff nach Auschwitz von Hans Jonas, dessen Text von ganz ähnlichen Voraussetzungen lebt und damit die Gefährdung der Schöpfung durch den Menschen und die Verantwortung des Menschen für die Welt begründet. Für Jonas ist die dort angelegte Ethik der Verantwortung eine Schlußfolgerung aus der Shoah. Löwiths Position ist eine andere, und er zieht andere, gewissermaßen nihilistische Schlüsse. Dennoch vertraut er auf eine kosmische Ordnung der Natur und befürchtet ihre Gefährdung. Doch Löwith führt den Historismus Hegelscher Prägung ad absurdum. Wenn Geschichte nicht einfach geschieht, sondern vom Menschen in einem vernünftigen Sinne gemacht wird, dann muß nach Löwith gelten, daß die Geschichte im Letzten vernünftig ist – und das bedeutet, daß es sie nur dort gibt, »wo Menschen vernünftig handeln, wenn man ›Vernunft‹ als Wesensbestimmung des Menschen faßt und ausschließt, daß auch Irrsinnige und Narren Menschen sind und mitunter geschichtlich handeln. Aber auch, wenn wir den Menschen durch Vernunft definieren, so ist doch nicht alles vernünftige Handeln schon als solches geschichtlich, und auch geschichtliches Handeln ist nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung geschichtlichen Geschehens.« Daher ist für Löwith die Annahme, »daß Vernunft nur in der Geschichte wirksam sei, gegen alle vernünftige Einsicht« und die Tatsache, daß die Natur, wenn sie denn »vernünftig« eingerichtet ist, »mit dem Hervorgang des Menschen ein Lebewesen ins Dasein brachte, das sich aus aller Natur heraussetzen und sich ihr gegenüber- und entgegenstellen kann, […] freilich so rätselhaft wie das theologische Paradox, daß Gott sich gegenüber ein Geschöpf schaffen konnte, welches die Freiheit hat, sich seinem Schöpfer entgegenzustellen und sich von ihm abzuwenden.« (Karl Löwith: Die Dynamik der Geschichte und der Historismus (1952). In id.: Schriften 2; S. 296-329, S. 305 / id.: Natur und Humanität des Menschen (1957). In id.: Schriften 1; S. 259-294, S. 264f.). Eine Konsequenz aus dieser Position ist aber, daß es keinen logisch determinierten Geschichtsverlauf gibt, gegen den sich der Mensch stellen und von dem er gerechterweise zerschmettert werden könnte. Und eine weitere Konsequenz ist das Menschenbild, das sich hier offenbart: der Mensch, der Achtung verdient, wird nicht über seine Vernunft definiert, nicht über seine persönliche Meinung, nicht über seine Geistesgaben. Er ist Mensch, wie »beschädigt« er auch sein mag.

Das Verhältnis des Menschen zur Mitwelt | 163

Dem Irrsinn liegt immer eine Kommunikationslosigkeit zugrunde, eine Befangenheit des Menschen in sich selbst. […] Wirkliches ›Ich‹ bin ich nur als mögliches Du eines andern«.2 So, wie diese Transzendenz die Stellung der Menschen untereinander beschreibt, beschreibt sie aber auch die Stellung des Menschen in seiner Gesellschaft und in der Geschichte insgesamt. Sie ist ein Grundmotiv der Menschenwelt, und das hat für die Situation und vor allem die Selbstverwirklichung des Individuums handfeste Konsequenzen. Denn Löwith schließt sich auch hier Jacob Burckhardt an, der geschrieben hatte: »In Wahrheit ist aber alles Einzelne – ›und wir mit‹ – nicht nur um seiner selbst willen, sondern auch um der ganzen Vergangenheit und Zukunft willen da, und gegenüber diesem großen und ernsten Ganzen der menschlichen Geschichte sind die Ansprüche der Völker und Individuen auf Glück ohne Bedeutung.«3 Das Individuum ist also in mehrfacher Hinsicht in Verhältnisse »eingespannt«, die es zwingen, seine Grenzen zu überschreiten und sich Situationen auszusetzen, die den Menschen übersteigen und die wir nicht kontrollieren können. Der Mensch ist als handelndes Wesen in so hohem Maße von äußeren Faktoren abhängig, daß Löwith beim Versuch seiner Bestimmung gerade nicht zu einer im strengen Sinne »naturwissenschaftlichen«, sondern zu einer ethischen Feststellung kommt: »Sein kritischer Maßstab kann aber immer nur wieder das menschliche Leben selber sein und zum Austrag kommt die Fraglichkeit des eigenen Existenzideals in seiner Verantwortung vor und Auseinandersetzung mit Anderslebenden und Andersdenkenden.«4 Obwohl Löwith konstatiert, das »unausdrückliche Vorbild aller konstruktiv verständlich-machenden Wissen-

2

Id.: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (1928). In id.: Schriften 1; S. 9197, S. 148f. Löwith, dies sei am Rande bemerkt, bezieht sich bei dieser Aussage auf Maxim Gorki: Menschen mit sich allein – ein weiterer Hinweis auf den Einfluß, den marxistische Autoren zeitweise auf Löwith ausübten. Der Text findet sich in einer Sammlung autobiographischer Texte Gorkis; Gorki beschreibt in ihm Personen und ihr Verhalten in vermeintlich unbeobachteten Augenblicken. Tieferes Thema dieser Anekdotensammlung ist das Rätsel Mensch in allen seinen Eigenheiten und die Frage, was dieser Mensch ist beziehungsweise was ihn antreibt – ein Thema für viele von Löwith gelesene russische Autoren (vgl. Maxim Gorki: Durch die Union der Sowjets. Tagebuchnotizen und Skizzen; Berlin 1970, bes. S. 204-209).

3

Karl Löwith: Jacob Burckhardt. Der Mensch inmitten der Geschichte (1936). In id.:

4

Id.: Grundzüge der Entwicklung der Phänomenologie zur Philosophie und ihr Ver-

Schriften 7; S. 39-361, S. 148. hältnis zur protestantischen Theologie (1930). In id.: Schriften 3; S. 33-95, S. 41.

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schaft und eines dementsprechenden Begriffs von strenger Wissenschaftlichkeit ist die neuzeitliche, konstruktive Naturwissenschaft«5 gilt auch hier: es gibt keineswegs nur eine einzige, feststellbare und unumstößliche Wahrheit. Das Vorurteil, das hinter Löwiths Auffassung steckt, ist eben die Bestimmung des Menschen als Mitmensch, die sein Idealbild vom Menschen – dem unter anderem die »letzte Gestalt des Menschen, der uomo singolare und universale der aristokratischen Renaissance«6 entspricht – prägt. Doch ein Mensch, der sich einerseits als Mitmensch unter Mitmenschen definiert – also um seine Abhängigkeit von seinen Mitmenschen weiß – und andererseits an der Unabhängigkeit und Eigenart dessen, was er »eigentlich« ist, festhält, ist in einer paradoxen Situation. Denn er kann nicht Mitmensch sein und so seiner Bestimmung entsprechen, ohne seine Unabhängigkeit einzuschränken oder gar aufzugeben. Er kann sich aber auch nicht von der Mitwelt zurückziehen und sich selbst genügen, weil er damit seiner Bestimmung als Mitmensch, der sich erst durch die Begegnung mit anderen konstituiert, nicht gerecht wird. Der Mensch entwickelt sich also erst durch den Kontakt mit der Mitwelt, er kann nur vermittelt erkannt werden und sich auch selbst nur über das Existenzideal vermittelt verstehen. Selbst ein von der Mitwelt abgeschlossenes Individuum bleibt abhängig von ihr. Dennoch spielt das abgeschlossene Individuum für Löwith eine wichtige Rolle, da es auch die Dinge gibt, die »einer einzig und allein mit sich selbst ausmachen und besprechen kann, wozu einer nicht nur keines andern bedarf, sondern woran ihn die Teilnahme und Mitwisserschaft eines andern nur hindern könnte«7 – dazu gehört unter anderem die Frage nach dem eigenen Existenzideal und überhaupt die Frage nach der eigenen Existenz, deren negative Antwort der Selbstmord ist. Kurz, es geht hier um existentielle Fragen; und so kann dieser Rückzug auf sich selbst auch in einem politischen und moralischen Sinn überlebensnotwendig werden, wie ein Brief des Soziologen René König an Löwith zeigt: »Die Gedrücktheit, die Unlust, die Resignation, alles ist so allgemein geworden, daß Sie glauben ersticken zu müssen. Dann allgemeine Erweichung, die sich durch den ständigen Zwang, Kompromisse zu suchen, zu einer allgemeinen Charaktereigenschaft ausgewachsen hat. Schließlich werden auch da Kompromisse gesucht, wo sie gar nicht nötig wären, und es entsteht ein Zustand fauler Verlogenheit, der auch die Besten ergreift, wenn sich nicht den Mut haben, sich zu isolieren. Man kann übrigens diesen Zustand nicht einmal moralisch beurteilen, denn zu einer richtigen Verlogenheit gehören auch positive Akte, davon ist aber in der

5

Ibid.

6

Id.: Jacob Burckhardt., S. 43.

7

Id.: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 189f.

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Regel nichts zu spüren. Es ist einfach ein allgemeines Sichgehenlassen, ein Sündigen aus dem Unterlassen des Guten«8. Es ist, so heißt es in einem anderen Brief Königs aus derselben Zeit, »ein Zustand, bei dem es sich garnicht leben läßt; ganz gleich, wie Sie es anfangen, wie Sie denken, wie Sie sich fühlen.«9 Die Sprache als Mittler und das Verhältnis von Ich und Du Ein positives Verhältnis zu einem stabilen mitweltlichen Rahmen ist demnach Grundvoraussetzung gelingenden menschlichen Verhaltens; es ist kaum denkbar, wie sonst ein wirklicher Austausch mit anderen überhaupt zustande kommen könnte. Das bedeutet, daß jeder Begegnung eine Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation und dem jeweiligen Gegenüber vorausgehen muß, die diese Anderen zu ihrem Recht kommen läßt. Arnold Gehlen schreibt in diesem Sinne, die »Grundthese, ohne welche die menschliche Erfahrung überhaupt unverständlich bleibt, ist die vom kommunikativen Charakter dieser Erfahrung. […] Die Erfahrung ist kein ›einsamer‹ Vorgang, indem ›Handeln auf ein Du hin‹ die Grundstruktur alles Seelischen ist. In die Rolle dieses Du rückt jedes beliebige Ding, so können wir sagen, dann ein, wenn wir es ›in Erfahrung ziehen‹. […] Es war daher ein großer Fund Schopenhauers, als er den Leib als ›Subjekt-Objekt‹ beschrieb, als ein gleichursprünglich von innen wie von außen gegebenes Etwas, das sich einmal als handelnd in bezug auf die Außenwelt und wieder als Teilinhalt dieser Außenwelt auffassen kann, auf sich selbst wie auf Außendinge reagierend.«10 Diese Bezugnahme und Reaktion ist natürlich keine einseitige Bewegung, sie geht immer in beide Richtungen – und die eigene Reflexion dieses Vorgangs ist von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung von Selbstbewußtsein und einem Verständnis für die eigene Stellung. Auch für Gehlen ist »das Sichversetzen in andere […], nämlich das Hereinnehmen der Antwort des anderen schon in das eigene, an ihn gerichtete Verhalten die fundamentale Funktion […], in der das Selbst sich von sich unterscheidet und sich gegenübertritt, also Selbstbewußtsein sich entwickelt«.11 Mitscherlich/Mitscherlich sehen im Sichversetzen in den anderen, also in unserer Einfühlungsbereitschaft und Ein-

8

Id.: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht; Stuttgart 1986, S. 129.

9

Ibid., S. 128.

10 Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. In id.: Gesamtausgabe (Bd. 3.1); Frankfurt/Main 1993, S. 191. 11 Ibid., S. 242.

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fühlungsfähigkeit die notwendige Bedingung, wenn nicht für menschliches Handeln an sich, so doch für jede Handlung, die moralischen Kategorien genügen will: »Suchen wir in unserer Lage nach einem Mittel, das uns zwingt, unser Handeln moralisch, das heißt mitmenschenfreundlich zu lenken, so kann das nur eine unentwegte Bemühung um einfühlendes Denken sein; weder sentimentale Einsfühlung mit dem anderen noch idealistische Weltverbesserungsideen stehen uns an, auch Verharren in den frühen unbewußten Identifikationen ist uns nicht erlaubt, gefordert ist einfühlendes Denken: eine Bereitschaft also, sich sowohl in den anderen einzufühlen, wie die ›Lage‹ (seine Lage, meine Lage – unsere Beziehung) kritisch zu reflektieren.«12 Ohne tiefer in die Materie einzudringen zeigt sich schon jetzt, daß die Betonung einer auf Kommunikation gegründeten Mitmenschlichkeit und Einfühlsamkeit keine verstreute Ausnahme ist, so daß sich Hannah Arendts Annahme, Jaspers sei »the only philosopher who ever protested against solitude, to whom solitude appears ›pernicious‹ and who even wants to examine ›all thoughts, all experiences, all contents‹ as to ›what they signify for communication‹«13 nicht aufrechterhalten läßt. Der von Arendt als Errungenschaft erkannte Grundgedanke, die Philosophie werde hier zu einem »mediator between many truths, not because it holds the one truth valid for all men, but because only in reasoned communication can humanly and actually become ›true‹ what each man may believe in his isolation from all others«, ist keine jaspersche Spezialität, der damit seinerseits eine alte aristotelische Weisheit wieder entdeckt habe, sondern typisches Kennzeichen einer ganzen Reihe von Denkern, von Feuerbach und Humboldt bis hin zu Buber, Gehlen und Löwith. Und so ist es wenig erstaunlich, daß wir in Arendts Text beinahe wörtlich eine Aussage Löwiths wiederfinden: »Reason that does not want to communicate is already ›unreasonable‹.«14 Daher ist das Verständnis von Bedeutung und Funktion der Sprache für Löwith eine zentrale Frage; diese Auseinandersetzung beginnt mit einer Untersuchung von Humboldts Sprachphilosophie in Löwiths Habilitationsschrift und

12 Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens; München 1968, S. 223. 13 Hannah Arendt: Concern with Politics in Recent European Philosophical Thought. In Grunenberg, Antonia / Meints, Waltraud / Bruns, Oliver / Harckensee, Christine (ed.): Perspektiven politischen Denkens. Zum 100. Geburtstag von Hannah Arendt; Frankfurt/Main 2008, S. 11-31, S. 24. 14 Vgl. die bereits zitierte Stelle aus Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 148f.: »Wer wesentlich nur mit sich selbst spricht, nähert sich bereits dem Irrsinn.«

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setzt sich von da an kontinuierlich fort. Aufsätze wie On Speech and Silence (1946), Die Sprache als Vermittler von Mensch und Welt (1958) und Hegel und die Sprache (1965) belegen dies. Die Rolle des Mittlers zwischen Mensch und Welt, die Löwith der Sprache zuweist, macht deutlich, daß sie ein ebenso soziales wie wertendes Instrument ist, das uns nicht nur Mitteilungen ermöglicht, sondern uns in die Lage versetzt, Projektionen, Urteile und Vorurteile, kurz: eine Stellungnahme zur Welt zu entwickeln. Auch daher kommt der enge Zusammenhang, der für Löwith zwischen Vernunft und Kommunikation besteht, und so ist es nicht verwunderlich, daß auch für ihn wechselseitige, und damit kommunikative Beziehungen generell, besonders aber die Beziehung zwischen einem Ich und einem Du eine wichtige Funktion einnehmen. Löwith geht es, so schreibt Burkhard Liebsch, »um den Nachweis einer ursprünglichen Sozialität der Menschen […]. Der logos des Menschen erweist sich als ursprünglich dia-logisch veranlagt. Das Individuum ist auch in seiner Einzigartigkeit, Unverwechselbarkeit und Unvertretbarkeit gerade nicht unter der Kategorie des ›Einzigen‹ (Stirner) zu subsumieren; im Gegenteil erfährt es sich noch in Vereinzelung und Einsamkeit als ein Sein, dem es, um es mit und gegen Heidegger zu sagen, in seinem Sein um den Anderen geht.«15 Auch bei Humboldt, dem sich Löwith im Rahmen seiner sprachphilosophischen Untersuchungen ausführlich widmet, findet sich bereits die Formel von Ich und Du, die auf den Gedanken zurückgeht, daß Sprache von Natur aus kein Monolog, sondern ein Miteinander, ein Dialog ist. Für Löwith wie für Humboldt findet dieses Sprechen zwischen zwei Personen statt – andere, die am Gespräch unbeteiligt sind, stehen am Rande und zumindest für den Moment außerhalb der unmittelbaren Beziehung zwischen Ich und Du. Das macht auch deutlich, daß die Beziehung zwischen Ich und Du eine gegenseitige Zugewandtheit bedeutet und als solche auf einer Wahl beruht – man wählt sich sein Gegenüber, man entscheidet sich dafür, sich einem ganz bestimmten anderen zuzuwenden und mit ihm zu sprechen. Diese Zuwendung wird durch die Einfühlung, die sie verlangt, zu einer Beziehung, die aus sich selbst heraus moralisch (im Sinne Mitscherlichs) sein muß, wenn sie gelingen will. Wie schon erwähnt, gibt es bei Löwith verschiedene Formen eines Verhältnisses. Die alltägliche Form ist für ihn ein uneigentliches Miteinandersein, das von einem Zweck bestimmt wird. Hier spielt der Mensch eine Rolle insofern, als diese Form des Verhältnisses auf einen »Gebrauch« hinausläuft: einer ist für den

15 Burkhard Liebsch: Verzeitlichte Welt. Variationen über die Philosophie Karl Löwiths; Würzburg 1995, S. 53.

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anderen zu etwas da – in der Diktion Heideggers etwa wie das »Zeug«, wie ein Hammer, dessen Zweck darin besteht, mit ihm zu philosophieren, Köpfe oder Nägel einzuschlagen. Es ist vorstellbar, daß diese Form des Verhältnisses vielleicht nicht gänzlich auf Kommunikation, aber zumindest auf Sprache verzichten kann. Doch Löwith stellt klar im Gegensatz dazu fest: »Die Kategorie ›irgend Einer‹ untersteht […] nicht der Kategorie ›irgend Etwas‹, sie ist ihr mindestens ebenbürtig, wenn nicht übergeordnet, denn das Etwassein ist […] im Einersein inbegriffen.«16 Denn selbst wenn Einer zu etwas gebraucht wird, ist er keine Sache, sondern eine Person, die sich zu mir verhalten kann – und so gilt, »daß ›Etwas‹ schon allein dadurch, daß es Etwas ist, eo ipso von Einem als etwas ganz anderem unterschieden ist, während ein anderer […] sich von Seinesgleichen ausdrücklich als ein ›anderer‹ […] unterscheiden muß. […] Etwas Zuhandenes kann weder es ›selbst‹ sein, noch ›sich‹ (selbst) zu einem verhalten, noch sich selbst zu einem ›verhalten‹. […] Weil sich aber Etwas auch gar nicht wie ein anderer selbst zu mir ›verhalten‹ kann, liegt streng genommen auch gar kein einseitiges ›Verhältnis‹, sondern ein bloßes Sich-selbst-dazu-verhalten vor. Wirklich ›einseitige‹ Verhältnisse gibt es nur innerhalb des einen zum andern. […] Weil Etwas aber überhaupt nicht sich selbst, wie ein anderer, zu mir verhalten kann, kann sich auch Etwas zu Etwas nicht nur nicht ›verhalten‹, sondern streng genommen auch gar nicht auf-einander ›beziehen‹.«17 Auch wenn das Verhältnis zweier Menschen ein streng zweckgebundenes Verhältnis ist, bleibt es doch immer ein Verhältnis. Die Beteiligten stehen in einer wechselseitigen Beziehung zueinander und werden durch diese Beziehung definiert, wie beispielsweise ein Handwerker und sein Auftraggeber. Und zugleich können sie sich diesem Verhältnis auch entziehen oder von sich aus andere Verhältnisse anknüpfen. All dies können Dinge nicht. Dennoch ist es in dieser Situation das Verhältnis bzw. die Rollenerwartung, durch die die beteiligten Personen maßgeblich definiert werden. Daher unterscheidet Löwith zwischen diesem uneigentlichen, weil rein zweckgebundenen Miteinandersein zweier Menschen und einem eigentlichen Miteinandersein eines Ich mit einem Du, die zueinander in einem Beziehungsverhältnis stehen. Ich und Du sind einander zwar durch das Verhältnis verbunden, aber sie werden von diesem Verhältnis nicht bestimmt. Stattdessen gehören sie zueinander und bestimmen sich in Rücksicht aufeinander. Deshalb schreibt Löwith: »Ihre Gegenseitigkeit ist eine solche des Ein-ander. Und indem der eine wie der andere sich selbst zum andern verhalten kann, vollzieht sich ihr Verhältnis zueinander im einheitli-

16 Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 76f. 17 Ibid., S. 77f.

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chen ›sich‹ des Einander.«18 Der wesentliche Unterschied zum uneigentlichen Miteinandersein ist, daß sich dieses Verhältnis nicht nur einseitig aufkündigen läßt – es ist ein ko-reflexives Verhältnis, die Beteiligten reagieren aufeinander und gestalten ihr Verhältnis gemeinsam. Schon dadurch wird dieses Verhältnis zu einem einzigartigen. Hier entsteht eine Gemeinschaft, die vom einen wie vom anderen abhängt und individuell ist – beim uneigentlichen Miteinandersein ist der Eine wie der Andere letztlich unwesentlich und durch irgendeine andere Person ersetzbar, weil der Zweck hier die beteiligten Personen bzw. ihre Beziehung untereinander längst überformt verdrängt hat. Doch auch in einem eigentlichen Miteinandersein sind die Beteiligten zunächst Menschen, die sich in einer Mitwelt bewegen und bestimmte mitweltlich geprägte Rollen zu spielen haben. Als Beispiel wäre ein Verhältnis von Lehrer und Schüler denkbar. Es handelt sich auch hier um Personen, also um – mit Löwiths Worten – Individuen, die sich in umweltlichen Rollen maskiert haben. Sie sind nicht völlig selbständig – auch und gerade voneinander nicht. »Die prinzipielle Struktur der Verhältnisse besteht also immer darin, daß das Sichverhalten des einen mitbestimmt ist durch den andern; es ist reflexiv in Korreflexivität. Abgesehen von seinem Verhältnis zum andern, ist, was einer tut und läßt, nicht verständlich, denn er tut und läßt es ja nicht als abgeschlossenes Individuum, sondern als persona, d. h. als einer, der eine ›Rolle‹ hat, nämlich die, welche ihm durch sein Verhältnis zum andern schon eo ipso erteilt ist, auch dann, wenn einer gar nicht ausdrücklich im Sinne des ›wir‹ spricht und handelt. […] Die Zweideutigkeit wird reflektiert, indem sich der, zu dem man sich verhält, wiederum seinerseits zu einem selbst verhält. […] Dieses Hin und Her, dieser Wechsel im Verhalten reduziert sich in seiner Bedeutung aber nicht darauf, daß sich das Verhalten der beiden abwechselnd vom einen auf den andern verlegt, sondern modifiziert von vornherein das Verhalten eines jeden an ihm selbst.«19 Für Löwith ist in »diesen Verhältnissen des unmittelbaren Füreinanderseins […] also keiner der beiden als Selbsteigner, sondern als Zugehöriger bestimmt. Trotzdem entwickelt sich nur aus solchem Verhältnis und für es die wahre Selbständigkeit eines jeden an ihm selbst (›Ich selbst‹ und ›Du selbst‹) in der gegenseitigen Anerkennung ihres unverhältnismäßigen Daseins.«20 Die Verhältnisse des Menschen transzendieren also ihren eigentlichen Anlaß und ermöglichen so die Entwicklung eines Individuums, das seiner selbst bewußt wird und andere in

18 Ibid., S. 78. 19 Ibid., S. 94. 20 Ibid., S. 87.

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einer Weise anerkennen kann, die über ihre Funktion und die Rolle ihrer Person hinausreicht. Ziel wäre ein unmittelbares, »unverhältnismäßiges« Verhältnis von einem absoluten »Ich selbst« zu einem ebenso absoluten »Du selbst«. Erst ein Verhältnis dieser Art, das nicht mehr von außen dominiert wird, ermöglicht eine tiefere Einsicht in das Wesen des Menschen und die Möglichkeit, eine gewisse Wahrheit zu erreichen: »Die Einheit des Menschen mit dem Menschen ist das erste und letzte Prinzip der Philosophie, der Wahrheit und Allgemeinheit (als einer wesentlichen Bestimmung der Wahrheit). Denn das Wesen des Menschen ist nur in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten, eine Einheit, die sich aber auf die Realität des Unterschieds von Ich und Du stützt.«21 Schon die Tatsache, daß diese Wahrheit auf der Beziehung zwischen einem Ich und einem Du und ihrer jeweiligen Verschiedenheit beruht, zeigt, daß ihre Grundbedingung Weltzugewandtheit und Weltoffenheit ist. Anders als bei Heidegger, bei dem sich nach Löwiths Analyse »die erste Person […] sich selbst der allgemeinen Öffentlichkeit durch radikale Vereinzelung auf sich selbst [entreißt] und […] sich so als Ich dem Man entgegen[stellt]«22, gewinnt sie sich bei Löwith »aus der Verlorenheit in das ›Man‹«, indem »sie sich durch eine ebenbürtige ›zweite Person‹ (Du) […] als ›erste Person‹ (Ich) bestimmen läßt.«23 Folgerichtig zitiert Löwith auch Goethe: »Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird. Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf. Am allerfördersamsten aber sind unsere Nebenmenschen, welche den Vorteil haben, uns mit der Welt aus ihrem Standpunkt zu vergleichen und daher nähere Kenntnis von uns zu erlangen, als wir selbst gewinnen mögen.«24 Mehrdeutigkeit als Prinzip mitmenschlicher Beziehungen Diese Welterkenntnis läßt sich jedoch nicht mit einem traditionellen Wahrheitsbegriff vermischen. Denn wenn Wahrheit und ihre Erkenntnis auf der doch vergänglichen Beziehung zwischen einem Ich und einem Du beruht, die ihrerseits in und mit der Zeit leben, dann ist auch die aus dieser Beziehung abgeleitete Wahrheit notwendig zeitlich bedingt, weil sowohl vom Ich wie vom Du abhängig. Sie

21 Ibid., S. 26. 22 Ibid., S. 96f. 23 Ibid. 24 Johann Wolfgang von Goethe: Bedeutende Förderung durch ein einziges geistreiches Wort; zitiert nach Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 42, Fußnote 19.

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ist aber zugleich von der Beziehung zwischen diesen beiden abhängig, denn auch wenn »alltäglich die ›Welt‹, in der man selbst mit andern ist, wesentlich in der Mitwelt des Daseins inbegriffen [ist], so geht die Welt vollends im einen und andern auf, wenn beide einander ihre ganze Welt bedeuten und nicht nur ›sozusagen‹, sondern faktisch eine ›Welt für sich‹ sind.«25 Durch die Beziehung wird also eine ganz eigene Welt geschaffen, die zwar »in und bei der allgemeinen Welt des öffentlich miteinander Besorgbaren«26 existiert, aber dennoch »ausschließlich ›unsere‹ Welt«27 mit ihren eigenen Gesetzen ist. Damit stellt sich die Ich-Du-Beziehung in Opposition zur allgemeinen Welt, sie führt in ihrer absoluten Form also zu einer modifizierten Form der Vereinzelung, die Heideggers vereinzeltem Dasein zu entsprechen scheint. Dies gilt besonders deshalb, weil ja auch für Heidegger kein »isoliertes Ich gegeben [ist] ohne die Anderen«.28 Was Löwiths Denken von Heidegger vollkommen unterscheidet, ist aber die Bedeutung, die den Anderen zukommt. Denn bei Heidegger sind die Anderen keine Individuen im eigentlichen Sinne, sondern jeder Einzelne geht in der Gruppe der Anderen unter: »Jeder ist der Andere und keiner er selbst.«29 Während Löwith uneigentliches Miteinandersein im alltäglichen Umgang des zweckgebundenen Verkehrs miteinander erkennt und ihm ein »eigentliches Miteinandersein« gegenüberstellt, das kein anderes Ziel kennt als das Verhältnis selbst und dem Einzelnen die Möglichkeit gibt, sich so zu verhalten, wie er wirklich ist, ohne in Zwecke eingespannt oder in bestimmte Richtungen geführt zu werden, bleibt bei Heidegger undurchsichtig, wann und wie der Einzelne aus dem alltäglichen Miteinandersein heraustritt und wie sich darin so etwas wie Gemeinschaft finden läßt. Der Andere gewinnt – weder als Widerpart noch als Partner – bei Heidegger keinen eigenen Standpunkt, er ist eben ein Mit-Mensch, so wie ich auch selbst ein Mit-Mensch bin. Eine besondere Relevanz dieses Menschen, die sich aus dem Menschsein selbst heraus legitimieren könnte, gibt es nicht. Sung-Sik Choi faßt zusammen, daß der »Begriff der Beziehung […] sich bei Heidegger zunächst auf das Zeug, nicht auf die Menschen [bezieht], weil in sei-

25 Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 72f. 26 Ibid., S. 73. 27 Ibid. 28 Martin Heidegger: Sein und Zeit; Tübingen 2006, S. 116. 29 Ibid., S. 128.

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ner Daseinsanalyse die Umwelt den Vorrang vor der Mitwelt hat.«30 Michael Theunissen und Winfried Franzen sehen in Heideggers Entwurf die Beschreibung einer »Monadengemeinschaft«, die an die moderne Massengesellschaft erinnere.31 Aber wenn man Heideggers Beziehungsbegriff als treffende Beschreibung der modernen Gesellschaft versteht, muß man sich verdeutlichen, daß diese Beschreibung enge, bedeutsame, unverwechselbare Beziehungen zu Menschen für nachrangig erklärt. Doch auch wenn Löwiths Begriff der Beziehung sachgerechter und, ganz im Sinne einer wirklichen Beziehung, mehrdimensional angelegt ist, fehlt in seinem Konzept der »eigentlichen« Beziehung »eine gesellschaftstheoretische Perspektive«.32 Das ist allerdings nicht weiter verwunderlich, sondern eine Folge der Herangehensweise: denn der Mensch »an sich«, der Löwith vor allem interessiert, steht jenseits von gesellschaftlich bedingten Rollenerwartungen. Mit dieser Erkenntnis wird die Spaltung des Menschen einmal mehr festgeschrieben: er ist ein Gesellschaftswesen, aber in Gesellschaft hat er nicht die Möglichkeit, er selbst zu sein; zugleich aber ist er von sehr eingeschränkter Soziabilität. Er bezieht sich nicht auf die Gesellschaft als Ganzes, sondern auf einen einzelnen Anderen. Denn um sich selbst zu bestimmen, seiner selbst gewiß zu werden, braucht er den Austausch mit anderen Einzelmenschen auf einer Ebene, die tiefer geht als die rein persönliche. Deshalb ist dieses Verhältnis von Ich und Du bei Löwith »ein einzigartiges – das besagt aber nicht, daß es für jedes Ich nur ein einziges Du gibt.«33 Und so lebt jedes Ich nicht in einer, sondern potentiell in nahezu unendlich vielen Welten – der öffentlichen und der seiner jeweiligen Dus – mit ihren je eigenen Prinzipien. Erst all diese Welten zusammen ergeben so etwas wie »Gesellschaft« – wobei eine solche Gesellschaft aus Beziehungen von Menschen besteht, die miteinander zu tun haben und ihre Angelegenheiten gemeinsam regeln. Sie besitzt von sich aus keinen positiven eigenen Gehalt, sondern bekommt bestenfalls ihn

30 Sung Sik Choi: Der Mensch als Mitmensch. Eine Untersuchung über die Strukturanalyse des Miteinanderseins von Karl Löwith im Vergleich mit dem dialogischen Denken von Martin Buber; Köln [Diss.], 1993, S. 94. 31 Vgl. ibid. 32 Eckart Goebel: Der engagierte Solitär. Die Gewinnung des Begriffs Einsamkeit aus der Phänomenologie der Liebe im Frühwerk Jean-Paul Sartres; Berlin 2001, S. 46. 33 Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 71.

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zugeschrieben – ganz im Sinne einer »erfundenen Gemeinschaft«, wie Benedict Anderson die Nation nannte.34 Dieser Ansatz trennt Löwith von anderen Dialogphilosophen, besonders von Martin Buber – aber auch von jenen unter Löwiths Kritikern, die davon ausgehen, »daß es nur ein wahrhaft konstitutives ›Du‹ geben kann, nämlich Gott«.35 Löwiths Welt- und Menschenbild ist ein grundlegend anderes, und Eckart Goebel ist zuzustimmen, wenn er zusammenfassend schreibt: »in einer entzauberten Welt, in der die Menschen ›alleine‹ sind, bleibt – in der Tat: ›faktisch‹ – nichts anderes, als das Miteinandersein von Ich und Du ›aus dem Miteinandersein von Einem und irgendeinem Anderen‹ herzuleiten. Daß zwei Menschen sich begegnen, ist in der entzauberten Welt purer Zufall; dieser Kontingenz eine unendliche Dimension zu geben ist illusionär.«36 Und so ist es nur konsequent, wenn dieses besondere Verhältnis von Ich und Du nicht nur einen begrenzten zeitlichen Rahmen aufweist, sondern auch von seiner Struktur her kein dauerhaftes Verhältnis sein kann. Für die nähere Bestimmung dieser Verbindung zwischen Einem und einem Anderen muß zunächst zwischen mir und den anderen unterschieden werden. Diese Unterscheidung der anderen als Andere geht immer vom Ich aus: sie sind von mir verschieden, ich allein bin »Ich« und kein »Anderer«. Weil man selbst als konkretes Ich der Ausgangspunkt eines solchen moralischen Verhältnisses zu anderen ist, ist dieses Verhältnis auch als moralisches Verhältnis immer aus diesem konkreten Ich abgeleitet und bestimmbar. Diese »Fraglichkeit der Objektivität des Urteils über den einen und den andern [ist] hinsichtlich ihrer Strenge durch keine künstliche Eindeutigkeit zu beseitigen, sondern in ihrer fraglichen Zweideutigkeit aufzusuchen und dadurch zu beantworten, daß sich der Beurteilende selbst fragt, ob nicht die Verschiedenheit des Verhaltens des einen und anderen in einer Verschiedenheit seines eigenen Verhältnisses zu ihnen mitbegründet ist.«37 Die grundsätzliche Unterscheidung des Einen vom Anderen ist auch für das Verhältnis an sich prägend. Diese Unterscheidung hat für den jungen Löwith im Unterschied zu Valéry ihren positiven Wert darin, daß nur gemeinsam und in der Auseinandersetzung mit dem Anderen sich die Welt erschließen läßt. Einer allein kann sich bei Löwith nicht »wirklich«, das heißt von einem an-

34 Vgl. Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts; Berlin 1998. 35 Eckart Goebel: Der engagierte Solitär, S. 51. 36 Ibid., S. 52. 37 Ibid., S. 70.

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deren Standpunkt aus, widersprechen und hinterfragen.38 Der Andere hat in einem so gearteten Verhältnis von Ich und Du auch daher eine sehr wichtige

38 Valéry beschreibt das Gespräch mit sich selbst genauso wie ein Gespräch mit »einem bestimmten Anderen«: »Es geschieht nicht selten, daß mit sich selbst sprechen ein Sprechen gegen einen bestimmten Anderen ist, der manchmal sogar klar ins Auge gefaßt wird. […] Diese seltsame, unmittelbare Funktionsweise des Zu-sich-Sprechens ist das Zeugnis dafür, wie grob unsere Vorstellung vom Ich ist, wie unbefriedigend die ›psychologischen‹ Notierungen sind. […] Da nun einmal ICH mit MIR spricht, ist es wohl so, daß ICH etwas weiß, was MIR nicht weiß. Es liegt ein Unterschied des internen Zustands vor. So geschieht es, daß MIR das vermutet, was ICH klarstellt – artikuliert. Es gibt dabei Gegensätzlichkeit und Komplementarität. […] Unsere inneren Personen haben jede für sich nur einen Mund und ein Ohr – jedoch mehr als eine Sprache.« (Paul Valéry: Aus den Cahiers. In Thomas Stölzel (ed.): Ich grase meine Gehirnwiese ab. Paul Valéry und seine verborgenen Cahiers; Frankfurt/Main 2011, S. 57-337, S. 156) Für Valéry ist diese Unterscheidung zwischen mir und anderen zunächst eine Erfahrung, die ich mit mir selber mache – und die Voraussetzung dafür, daß ich mich überhaupt nach außen wenden und mit anderen in Kontakt treten kann: »Allein zu sein bedeutet, mit sich zu sein, und das heißt stets, zu zweit zu sein. Andernfalls, ohne diese ›innere‹ Teilung oder Unterscheidung, hätten wir niemals Umgang mit jemand anderem; denn dieser Umgang besteht darin, daß eine fremde Stimme oder ein fremdes Hören an die Stelle des Hörens des Anderen tritt, der in uns ist und das zweite Glied jeden Gedankens bildet. Die grundlegende Relation des Bewußtseins ist wie zwischen zwei Polen – von denen der eine zu mir oder zu dir gehören kann, während der andere notwendig von mir ist. Vielleicht ist es daher so, daß das Denken nach und nach durch die Gesellschaft – im einfachsten Sinne des Wortes – herausgebildet, ausgeprägt wurde.« (Ibid., S. 277) Für Löwith hingegen ist das Individuum – wie schon das Wort sagt – unteilbar und kann sich daher nicht in verschiedene Personen aufspalten. Zwar gesteht er zu, daß man zu sich selbst, also zu seinem Individuum, ein Verhältnis haben und auch mit sich selbst reden kann. Doch diese Rede und dieses Verhältnis unterscheidet sich grundsätzlich von dem Verhältnis mit einem anderen: »Bespräche einer etwas, es rein für sich durchdenkend, so spräche er in Wirklichkeit nicht ungestört mit der Sache selbst, sondern nur mit sich selbst. Der hierin mögliche Einspruch ist kein wirklicher Widerspruch, sondern ein selbstdurchgemachter und vorhergesehener Einwand. […] Das Resultat ist stets dasselbe, nämlich dies, daß die sachliche Entwicklung den ›Begriff der Sache‹ in der Richtung konsequent zu Ende denkt, in welcher er von Anfang an feststand. Die Entwicklung wird zu einer bloßen Explikation und sie kann auch gar nicht anders sein, solange sich nicht der konsequente Fortgang des einen den Wider-

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Funktion: die einer Grenze und eines Widerstands: »›Du‹ bist zunächst gerade alles andere als ein christlich verstandener ›Nächster‹.›Du‹ bist zunächst derjenige, in dem Ich mich behaupten kann, obgleich ›Du‹ zugleich auch der bist, der meinen Anspruch durch den seinen begrenzen kann.«39 Dieses Miteinander ist

spruch eines andern frei begegnen und sich so in seiner ›langen Rede‹ unterbrechen läßt.« (Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 83f.) Unser eigenes Ich ist für Löwith viel mehr ein Teil von uns, als das bei Valéry der Fall ist – umgekehrt aber bedeutet das, daß das Ich eines anderen für Löwith in uns selbst nichts findet, das aus unserem eigenen Erfahrungshorizont heraus vergleichbar wäre und es uns verständlich machen würde. In uns gibt es keine anderen, in uns gibt es nur uns selbst. Daraus folgt für ihn, daß das Verhältnis zu uns selbst einerseits unvergleichlich ist, sich andererseits aber auch nicht anderen mitteilen läßt: »Daß aber keiner dem andern als individuelles Ich, so wie er ungeteilt nur für sich selbst sein kann, zugänglich wird, das besagt nicht, daß Ich für mich selbst nur das Ich eines Du, individuelle persona und nichts für mich selbst, kein absolutes Individuum wäre. ›Ich‹, der ich einzig und allein kein anderer bin, werde mich also dadurch zeigen, daß ich zu mir selber ein ›Verhältnis‹ haben kann, und zwar ein solches, das ausschließlich mich selbst und keinen andern betrifft, ein schlechthin unvergleichliches, einzigartiges Verhältnis. […] Als individuelle Existenz ist einer ungeteilt ganz er selbst, kann sich einer nicht personhaft teilen und folglich auch nicht in diesem seinen unteilbaren Sein mitteilen. Weil einer als Individuum ein je Einziger ist, kann sich einer als solcher, wenn er sich selbst versteht, auch gar nicht mitteilen wollen. Denn was sich einem andern mitteilen läßt, ist das Gemein-Verständliche; gemeinverständlich ist das Mitteilbare aber nicht deshalb, weil alle Aussagen als solche von allgemeiner Wortbedeutung, sondern weil der Mensch, sofern er sich mitteilen kann, kein Individuum, sondern eine in erste und zweite Person teilbare und so durch Gemeinsamkeit bestimmte ›Person‹ ist.« (Ibid., S. 187-189) In der letzten Instanz ist der Mensch also kein Mitmensch mehr, sondern völlig auf sich allein – oder besser: auf seine Natur gestellt. Diese Individualität ist aber bei Löwith keine, die den Menschen von seinen Mit-Menschen prinzipiell entfremdet. Sie grenzt ihn ab, sie konstituiert Verschiedenheit, sie schafft – positiv – Legitimation, weil man sich selbst eben nur bis zu einem gewissen Grade hinterfragen kann. Aber dadurch, daß sie einen individuellen Standpunkt schafft, auf dem jeder Einzelne steht, sorgt sie auch für den Konfliktstoff, der Dialog mit anderen ermöglicht, die Welt erst erschließt und Perpektiven schafft. 39 Ibid., S. 91. Löwith hat diese Aussage später insofern eingeschränkt, als er unter Verweis auf Hermann Cohen gegen die Aussage des Lutherischen Christentums den »Nächsten« als den »Andern« auch in der biblischen Tradition bestimmt – und dieser christlichen Fehlinterpretation zugleich die Verantwortung für die gesellschaftliche

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also – da sowohl Ich und Du ein eigenes Ich, ein Ego und ein alter Ego mit ihren eigenen Standpunkten und Interessen sind – kein paradiesisch-harmonisches, sondern ein konstruktives Mit- und Gegeneinander. Das geht so weit, daß selbst

Ausgrenzung des Anderen zugewiesen hat: »Der Nächste ist auch im Alten Testament nicht ein Stammesgenosse, sondern gerade der Nichtjude. Luthers Übersetzung mit ›Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst‹, die den Einwand nahelegt, ob man denn voraussetzen könne, daß man sich selber liebe, wird von Cohen berichtigt in: ›Liebe den Andern, denn er ist wie du‹, weil die Menschen als Kinder Gottes einander gleich und untereinander Brüder sind. […] Die Liebe zum Fremdling ist das Urmotiv der Menschenliebe. Cohen fügt hinzu, eine wie viel aufrichtigere politische Entwicklung die geschichtliche Kultur genommen hätte, wenn statt der leicht zur Phrase werdenden Nächstenliebe das prägnante Gebot der Liebe des Fremdlings zum Grundgesetz der Religion gemacht worden wäre. Ausdrücke wie ›fremde Volkselemente‹ oder ›Fremdkörper‹ wären dann in der Sprache der Politik unmöglich geworden.« (Karl Löwith: Philosophie der Vernunft und Religion der Offenbarung in H. Cohens Religionsphilosophie (1968). In id.: Schriften 3; S. 349-383, S. 370). Daraus leitet sich ab, daß der Andere, weil er so ist wie ich selber, geachtet werden muß. Nicht ich setze – aus einem individuell begründeten Begründungsrahmen heraus – eine Moral fest, die den anderen miteinbezieht (oder es läßt). Sondern ich erkenne mich im Anderen wieder und indem ich ihn achte, achte ich mich selbst. Insbesondere in der Konfrontation mit Leid wird aus dieser Begründung keine Motivation zur Abgrenzung, sondern eine zur Not-wendigkeit. Beachtenswert ist in diesem Kontext allerdings, daß Löwith hier Hermann Cohen in seinem Sinne um- und damit fehlinterpretiert. Denn Cohen gibt keineswegs der Deutung des »Nächsten« als dem »Anderen« den Vorzug. Er kontrastiert diese Übersetzung mit einem Satz Ben Asais, der auf die Menschlichkeit des Menschen verweist, die darin besteht, daß der Mensch »in der Ähnlichkeit Gottes […] gemacht« sei. Erst dies verweist für Cohen auf einen allgemeinen Begriff des Menschen – und nicht auf eine Perspektive, die von einem Ich ausgeht. Löwith geht es um ein Menschenbild ohne Gott; daher kann er diesen Weg nicht gehen. Was Cohen erst aus Ben Asais Entgegnung ableitet, nimmt Löwith daher als von Cohen gesetzt um am Ende zum gleichen Ergebnis zu gelangen: »Die Gleichheit der Volksgenossen beruht schlechterdings auf der Gleichheit der Menschen […]. Der sittliche Begriff […] hat zu seiner unerläßlichen Voraussetzung den allgemeinen Menschenbegriff. […] Und daher wird es sinnlos, in jenem anderen Satze nur den Volksgenossen zu wittern. Die ganze Thora von der Schöpfung des Menschen an widerlegt diese widerwärtige Ansicht.« Vgl. hierfür: Hermann Cohen: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums; Wiesbaden 1995, S. 137ff., die Zitate finden sich auf S. 138.

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dann, wenn beide in der auslegenden Betrachtung einer Sache übereinkommen, von Übereinstimmung keine Rede sein kann: weil »aber ein jeder doch er selbst und nicht der andere ist, ist diese Gleichsinnigkeit der beiden für einen jeden von verschiedener Bedeutung. […] Und indem somit ein jeder sich selbst in Rücksicht auf einen andern bestimmt oder be-deutet, ist eines jeden Sein und Verhalten prinzipiell zweideutig«40 und damit eben nicht eindeutig von einem universalen Standpunkt aus zu bewerten. Diese Zweideutigkeit greift tief in das Verhältnis von Ich und Du ein und führt Löwith zu einer eigenen Interpretation der Selbständigkeit und Freigabe. Löwith wendet sich zunächst gegen die Vorstellung, jedes Dasein existiere »als ›je eigenes‹ […], dem es um sich selbst geht.«41. Nur vor diesem Hintergrund ist es denkbar, daß der Andere nicht – auch – »Objekt des eigenen Willens« ist. Denn nur wer sich als »je eigener« begreift, kann dem anderen wünschen, »er selbst« zu sein. In Löwiths Worten: dem »Verhalten zu sich selbst entspricht in verhältnis-mäßig gleichsinniger Weise das Verhalten zu einem einzelnen Andern. Auch des andern eigentliche Möglichkeit soll sein: er selbst zu sein.«42 Dieses Denken »wiederholt nur auf einer höheren Stufe die Begegnisstruktur im ›man‹.«43 Löwith versucht mit seiner Definition des Menschen als Mit-Menschen, der in der Mitwelt als Rollenwesen, als persona mit anderen existiert, das menschliche Wesen so tief in das Verhältnis mit seinem jeweiligen Gegenüber einzubetten, daß dieses Verhältnis zu einer entscheidenden Prägung wird, die bis ins eigene Selbstverständnis hineinreicht. Seine einzigartige Individualität liegt im Zusammentreffen zweier Menschen, aber das führt nicht dazu, daß jeder in diesem Verhältnis ganz er selbst ist. Die Setzung des anderen als »er selbst« ist für Löwith nicht der Punkt, an dem ein Verhältnis beginnt, sondern an dem es endet – weil es sich dabei um eine »Freigabe« nach unseren eigenen Maßstäben von Selbständigkeit handelt. Damit sorge ich dafür, daß der andere mir »schon nicht mehr frei, von sich aus, in seiner Selbständigkeit ›begegnen‹«44 kann. Da sie »sich selbst genau diejenige Freiheit [nimmt], welche sie dem andern zu geben bereit ist«45 und kein Akt des Dialogs, sondern einseitiges Handeln ist, »setzt dies voraus, daß dem je eigenen ›Sein-Können‹ eines andern Seinkönnen von

40 Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 88. 41 Ibid., S. 96. 42 Ibid., S. 97. 43 Ibid. 44 Ibid. 45 Ibid., S. 98.

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sich aus entspricht«,46 der andere also einerseits überhaupt und andererseits auch noch in dieser Weise freigegeben werden will! Der Gedanke wird klarer, wenn man sich noch einmal verdeutlicht, was für Löwith dieses vollkommene Selbst bedeutet: es ist das Individuum, und gerade das Individuum steht außerhalb aller Verhältnisse. Die Freigabe des Anderen als Selbst aber löst nicht nur das Verhältnis zwischen Ich und Du auf, sondern diktiert ihm auch noch die Bedingungen, zu denen diese Freigabe stattfindet. Für Löwith entfaltet sich das Du des Anderen gerade im Verhältnis von Ich und Du; dieses Verhältnis zielt nicht auf eine Freigabe des Anderen als gleichwertiges Selbst, die nach Löwith nichts mit Freiheit zu tun hat, sondern den Anderen eher sich selbst überläßt – und also: im Stich läßt. Hinter dieser Vorstellung steckt ein Freiheitsbegriff, der mit unserer individualisierten Vorstellung der Freiheit, die mit den Ideen der Autonomie und Unabhängigkeit unauflösbar verknüpft ist, nicht viel zu tun hat. Wir finden ihn in einem gewissen Grade auch bei Goethe: »Nicht das macht frei, daß wir nichts über uns anerkennen wollen, sondern eben, daß wir etwas verehren, das über uns ist. Denn indem wir es verehren, heben wir uns zu ihm hinauf und legen durch unsere Anerkennung an den Tag, daß wir selber das Höhere in uns tragen und wert sind, seinesgleichen zu sein.«47 Doch Löwith geht darüber hinaus: auch für ihn äußert sich Freiheit nicht in Autonomie, sondern in der Bereitschaft, Vorbilder anzuerkennen, in dem Trieb, sich an dem zu orientieren, von dem sich lernen läßt. Aber diese Orientierung am anderen hat nicht unmittelbar mit dessen Rang oder Qualität zu tun, sie begründet sich aus seiner Differenz, seiner Andersheit an sich und der Reflektion darüber. Vor diesem gedanklichen Hintergrund ist jede Freigabe eines Anderen eine Handlung, die diesem Menschen gerade die Möglichkeit zur Orientierung, zur Höherbildung, aber auch zur Opposition nimmt, weil sie abstreitet, daß diese Orientierung sinnvoll ist – und das, ohne dem Anderen dabei die Möglichkeit zu geben, sich dieser Freigabe effektiv zu widersetzen. So aber werden seine Entwicklungsmöglichkeiten nicht freigesetzt, sondern beschnitten: »Die einen andern freigebende Freigabe setzt also nicht nur überhaupt Gemeinsamkeit von Ich und Du voraus, sondern vorbestimmt den andern als alter Ego rücksichtlich ihrer selbst. Die Freigabe beansprucht den andern extrem als den Ihrigen und nimmt ihm, indem sie ihm selbst die Freiheit gibt, gerade seine ursprüngliche Freiheit.«48 Nur wenn der eine sich im Verhältnis mit einem Du nicht

46 Ibid., S. 98. 47 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens; Berlin 1922, Gespräch vom 18.I.1827, S. 159. 48 Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 98.

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ausschließlich mit Rücksicht auf sich selbst verhält und »sich der eine nach dem andern richtet, gewinnt das Verhältnis den Charakter einer sich selbst genügenden Einrichtung«,49 überschreitet es also die Grenzen der eigenen Person und kann als Verhältnis für sich selbst stehen. Das bedeutet aber auch: alle Beteiligten müssen sich von der Orientierung an ihrem »Selbst«, von dem Wunsch nach »Selbst«-verwirklichung als leitendes Motiv, verabschieden. Die gegenseitige Abhängigkeit von Ich und Du ist also für Löwith Teil ihrer jeweiligen Natur – und als solche tritt sie im Akt des Sprechens zutage. So wie der Dialog aus Erwiderungen besteht, »bedarf das Ich eines entsprechenden Du«,50 bzw. »dem Ich entspricht ein Du.«51 Die gegenseitige Entsprechung in einem »Einander« ist für Löwith Grundlage und Kennzeichen eines jeden verantwortungsvollen Verhältnisses – und bei diesen Formulierungen handelt es sich keineswegs um sprachphilosophische Klingelei. Dahinter steht der Gedanke, daß die Übernahme von Verantwortung eben nicht bedeutet, den anderen zu bevormunden, sondern ihn in seiner Selbständigkeit als gleich und doch verschieden anzuerkennen. Erst durch diese verantwortungsvolle Entsprechung wird die Sprache und das Verhältnis von Ich und Du konkret – und damit real bedeutend: »Ursprünglich gesehen ist das Ich kein raumzeitliches Individuum, sondern der sich mit einem zweiten Verbindende. Ich und Du und Es (worüber wir sprechen) bestimmen sich aus ihrem einheitlichen Verhältnis ›gegenseitig durcheinander‹. […] Das bloße, vom Einzelnen geborene und einen Gegenstand bezeichnende Wort ist ein Scheingebilde. ›Wesenheit, Wirklichkeit, Bestimmtheit, Gewißheit und Geltung (!)‹ gewinnt es erst durch einen Hörenden und Erwiedernden.«52 Dazu ist aber nicht die Freigabe oder das Seinlassen des anderen notwendig, sondern die fortgesetzte Auseinandersetzung im Dialog. Erst aufgrund dieser Auseinandersetzung stellt sich die Frage nach den Bedürfnissen des einzelnen – und auch die Frage nach dem Individuum, »was einer an ihm selber ist«.53 Diese Frage ist aber noch aus einem anderen Grund nachrangig – wenn sie überhaupt zu beantworten ist: Denn die Abhängigkeit des Menschen von anderen ist nicht nur in seiner Definition als »Mitmensch« schon enthalten, sie drückt sich auch im Gespräch des Einen mit dem Anderen aus: »indem ein Wort das andere gibt, kommt eigentlich keiner an ihm selbst zu Wort und zu Gehör. Die Tendenz zu Erwiderung auf das Gehörte unterbindet die freie Begegnismöglichkeit des an-

49 Ibid., S. 98. 50 Ibid., S. 123. 51 Ibid., S. 123. 52 Ibid., S. 123f. 53 Ibid., S. 102.

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dern, denn das Zuhören kommt schon seinerseits dem im Gespräch Begegnenden zuvor.«54 Und so scheint es, daß die unausweichliche Konsequenz von Löwiths radikaler Bestimmung des Menschen als Mitmenschen zwar nicht den Verzicht auf den Glauben an die eigene Individualität und Einzigartigkeit nahelegt, daß aber diese Individualität am Ende nicht viel mehr ist als eine persönliche Note – eine Note allerdings, die entscheidend genug ist, um das Ich von allen anderen zu unterscheiden. So sehr wir diese Unterscheidung in vielen Nuancierungen – etwa Befindlichkeiten – mitteilen können: das Individuum, unser eigenstes Ich, bleibt im Wesentlichen davon ausgenommen. Wir bleiben »uns als je für sich selbständiges Ich, das nur in der Weise des singularen ›bin‹ sein kann, unzugängliche, unmitteilbare Individuen.«55 Darin gründet für Löwith die Problematik unserer Verhältnisse zur Mitwelt. Denn wir können uns nie ganz verständlich machen. Dadurch entstehen nicht nur Mißverständnisse und Konflikte mit anderen; da wir uns in unseren Verhältnissen zu anderen erkennen und ein Selbstbewußtsein entwickeln, steht auch dieses eigene Selbstbewußtsein wie unsere gesellschaftlichen Verhältnisse auf einer sehr fragilen Grundlage. Auch wenn wir als Mitmenschen definiert sind, sind und bleiben wir am Ende auf uns selbst gestellt, wir können die Verantwortung für uns nicht auf andere abschieben – auch nicht auf einen Gott; aber wir können auch nicht billig eine Überlegenheit über andere postulieren. Auch das liegt in der Natur des Menschen als eines Wesens, das aus Verhältnissen heraus bestimmt wird – denn wir können ein Verhältnis, in dem wir unser selbst bewußt sind, nur mit jemandem eingehen, den wir prinzipiell als gleich anerkennen. Auch wenn »der Akzent – auf dir oder mir – faktisch entscheidend ist, […] schließt [dies] nicht aus, sondern ein, daß er als ein bloßer, wenn auch entscheidender Akzent von Grund auf problematisch ist. Er hebt die Zweideutigkeit der menschlichen Verhältnisse so wenig auf, daß er sie vielmehr ausdrücklich zur Geltung bringt; denn es wäre sinnlos, den einen vor dem andern zu betonen, wenn nicht mit dem Anspruch des einen auch schon der des andern gesetzt wäre.«56 Die Anerkennung des anderen als »Meinesgleichen« beinhaltet die Anerkennung des anderen als ein eigenes Individuum, als ein »Du selbst« – so wie wir selbst ein »Ich selbst« sind: »Nur als ›Du selbst‹ bist du mir wahrhaft ebenbürtig.«57 Diese Anerkennung ist auch entscheidend dafür, ob uns ein verantwortli-

54 Ibid., S. 132. 55 Ibid., S. 144. 56 Ibid., S. 151. 57 Ibid., S. 154.

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ches oder nur ein mißbräuchliches Verhältnis mit einem anderen gelingt: »Absolut ist das selbständige Verhältnis zweier Personen nicht deshalb, weil jeder losgelöst vom andern seine Selbständigkeit für sich selbst bewahrte und somit diesseits eines wirklichen ›Verhältnisses‹ und seiner Widerstände stünde, sondern weil es sich jenseits der selbstbezüglichen Widerstandserfahrung befindet, aber im Durchgang durch sie die zunächst gegebene Widerstanderfahrung radikalisiert hat zur freiwilligen Anerkennung der Ebenbürtigkeit des andern.«58 Erst nach Erfüllung dieser Bedingung gegenseitiger Anerkennung kann aus dem Verhältnis heraus so etwas wie Gemeinschaft auch im Individuellen entstehen; »denn jeder Anspruch eines jeden andern ist, indem er von mir vernommen wird, zweideutig: er wird nur als Anspruch vernehmbar, indem ich auch selber etwas beanspruche, nämlich eben dies, daß mich die Rede eines andern in ganz besonderer Weise angeht oder in Anspruch nimmt. Desgleichen besteht in jedem Fall die Möglichkeit, einem Anspruch gehorsam zu folgen oder nicht zu folgen.«59 Der Grund aber, warum man sich in dieser Weise auf einen anderen einläßt ist keine Verwandtschaft, die auf einer ganz freien Wahl- und Willensentscheidung beruht, sondern darauf, daß man ein Grundverständnis für den Standpunkt des anderen von vornherein mitbringt: »Zu eigentlich persönlichen Verhältnissen kommt es zumeist überhaupt nur auf Grund einer vorausgesetzten Gemeinsamkeit im Individuellen – sei es, daß der eine dem andern aus Ähnlichkeit oder auch aus Verschiedenheit zuneigt.«60 Man geht also nicht mit jedem ein frei gewähltes Verhältnis ein, über dessen Aufnahme man autonom entscheiden könnte; stattdessen fühlt man sich zu bestimmten Personen hingezogen oder von ihnen abgestoßen, bevor man überhaupt mit ihnen ins Verhältnis tritt.

58 Ibid., S. 154f. 59 Karl Löwith: Die Sprache als Vermittler von Mensch und Welt (1958). In id.: Schriften 1; S. 349-372, S. 351. 60 Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 187.

Kritikpunkte und Gegenüberstellungen

Auch wenn man Löwiths Beschreibung des Menschen nachvollziehen kann und als zutreffend empfindet, bleiben etliche Fragen offen. Das beginnt bei seiner Welt- und Zeiterfahrung, die man als Kind ihrer Zeit verstehen und kritisieren kann. Löwiths Diagnose, daß sich unsere Kultur als ganzes in einer schweren Krise befindet, ist dementsprechend kein Alleinstellungsmerkmal, sondern eine typische Geisteshaltung seit dem 19. Jahrhundert. Sie manifestierte sich in allen gesellschaftlichen Bereichen und wird von politisch-gesellschaftlichen, geistesgeschichtlichen wie ästhetischen Umwälzungen gleichermaßen getragen. Als solche ist sie allerdings bis heute verbreitet; die Fragen, von denen Löwiths Denken motiviert ist, sind daher nicht erledigt, sondern nach wie vor aktuell – wie schon ein Blick auf den europaweiten Aufstieg rechter Bewegungen beweist, die ihre intellektuellen Anregungen im wesentlichen aus dem Weltbild konservativer Revolutionäre des frühen 20. Jahrhunderts gewinnen und damit in unmittelbarer Kontinuität zu der Krisenerfahrung stehen, aus denen auch die konservative Revolution hervorgegangen ist.1 Bestimmend ist dabei nicht nur ein Gefühl der Orientierungslosigkeit, sondern ebenso die Ablehnung der gegenwärtigen Verhältnisse, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von breiten Schichten in jeder Hinsicht als unbefriedigend und geistlos empfunden wurden.2 Diese Einschätzung fand sich vor allem im

1

Vgl. hierfür ausführlich: Liane Bednarz / Christoph Giesa: Gefährliche Bürger. Die

2

So schrieb Henry van de Velde, der Gründer der Weimarer Kunstgewerbeschule, aus

neue Rechte greift nach der Mitte; München 2015. der das Bauhaus hervorging, 1912 in einem Manifest »Im dritten Viertel des letzten [19.] Jahrhunderts erreichten wir den tiefsten Stand der Erniedrigung in Geschmack und Impotenz. Meine Generation hat zu Beginn ihres Mannesalters den Druck empfunden, unter Menschen von getrübter Intelligenz leben zu müssen […]. Wir empfinden noch heute mit Grauen, in einem Irrenhaus geweilt und der stumpfsinnigen Be-

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Bildungsbürgertum und an den Universitäten, beides Gruppen, die ihren Status von den gesellschaftlichen Veränderungen des aufkommenden Kapitalismus bedroht sahen3 und die ihre Angst vor einer seelenlosen Massengesellschaft ohne Individualität offen zum Ausdruck brachte.4 Bestimmend ist aber auch der Wunsch nach einer Gemeinschaft, die der krisenhaften Stimmung ihre eigenen positiven Inhalte entgegensetzen kann, sei es nun die Volksgemeinschaft oder die sogenannte Leitkultur; Inhalte, die man in der Gesellschaft beziehungsweise im eigenen Leben nicht mehr ausreichend vertreten sieht. Es handelt sich hier also vor allem um eine tiefgreifende Identitätskrise, und es ist daher nicht verwunderlich, daß anthropologische Fragestellungen für viele weitere Autoren eine Rolle spielten. Dies galt zu Beginn des 20. Jahrhunderts in besonderem Maße für Vertreter des deutschsprachigen Judentums, zu denen auch Löwith selbst zu zählen ist. Hier stand die heranwachsende Generation damals vor dem Problem, sich mit den bisweilen nur oberflächlich erfolgreichen Integrationsbemühungen ihrer Eltern auseinandersetzen zu müssen; dabei war die Spannung zur zurückgelassenen Tradition deutlicher spürbar als anderswo. Häufig wird in der Literatur darauf hingewiesen, daß die moralische Orientierung nicht mehr in den eigenen Glaubenswelten gesucht, sondern bei »Lessing und Goethe, Schiller und Kant«5 gefunden wurde. Die Suche nach der eigenen Identität, die häufig »eng mit einer gegen die Selbstgefälligkeit und Oberflächlichkeit des elterlichen Assimilationismus gerichteten Rebellion verknüpft war und dramatisch von ihr verstärkt wurde«,6 machte nicht nur den »moderne[n] jüdische[n] Schriftsteller – auf-

schäftigung der Leute zugeschaut zu haben, deren Gehirn gelähmt war und die eigensinnig, wie nur Irre es sein können, darauf bestanden, auf allem, was ihnen unter die Finger kam, eine Fülle und Überfülle von Verzierungen, Blumen und nackten Frauen anzubringen.« (Henry van de Velde: Amo. Leipzig o.J., S. 8f.) 3

Vgl. ausführlich John Carey: The Intellectuals and the Masses. Pride and Prejudice

4

Vgl. Fritz Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-

5

Michael Löwy: Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken.

among the Literary Intelligentsia, 1880-1939; New York 1993. 1933, Stuttgart 1983, S. 12f. Eine Wahlverwandtschaft; Berlin 2002, S. 47. Vgl. auch Richard Wolin: Heidegger’s Children. Hannah Arendt, Karl Löwith, Hans Jonas, and Herbert Marcuse; Princeton 2001, wo es heißt: »German Jews were allegedly ›Jewish by the grace of Goethe‹« (S. 40). 6

Robert Alter: Unentbehrliche Engel. Tradition und Moderne bei Kafka, Benjamin und Scholem; Berlin 2001, S. 51.

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grund der Besonderheit seiner zweideutigen kulturellen Stellung – zum extremen und exemplarischen Fall des modernen Schriftstellers im allgemeinen«.7 Sie ist exemplarisch für eine ganze Generation, die sich im Kampf um gesellschaftliche Anerkennung und Identifikation, aber auch um ein positives Selbstbild häufig Auseinandersetzungen mit dem eigenen, bürgerlichen Familienerbe führten und sich zugleich auf die Suche nach »dem Einen, was not tut« begaben, auf die Suche nach einer Alternative zur kapitalistischen Entzauberung der Welt, im »Versuch […], die Welt aufs neue zu verzaubern«.8 Dabei entwickelten sie häufig »radikale Forderungen«9 unterschiedlichster Couleur, meist blieben allerdings moralisch-ästhetische Bildungskonzepte bestimmend; nicht selten bedeutete das eine Rückkehr zu verschiedenen Formen religiöser Spiritualität. Martin Buber Ein Musterbeispiel für diese Bewegung ist Martin Bubers dialogisches Konzept, das zu Löwiths Anthropologie auffallend große Ähnlichkeiten aufweist. Sie sind so groß, daß schon von Zeitgenossen nicht nur die Frage nach den Unterschieden, sondern auch die Frage nach der jeweiligen Urheberschaft der Gedanken Löwiths bzw. Bubers gestellt wurde. Beide haben nicht nur biographisch als deutsche Juden aus wohlhabender und integrierter Familie einen ähnlichen Hintergrund, sie wurden von ähnlichen Denkern geprägt und benutzen in ihrem Werk auch die gleichen Bezugspunkte – angefangen von Kant, aber entscheidender noch: Feuerbach, Humboldt, Stirner, Kierkegaard, und Heidegger. Nicht zuletzt arbeiten beide mit nahezu identischen Begrifflichkeiten. Doch auch die Unterschiede zwischen beiden Denkern lassen sich klar benennen. Denn ganz anders als Löwith bewegte sich Buber in viel größerem Maße in einer Traditionslinie explizit jüdischen Denkens mit einem durch und durch messianischem Anspruch und Pathos. Buber ist in seinem Festhalten an religiös-kulturellen Elementen im Angesicht der Moderne ein typischer Vertreter des Zeitgeistes um die Jahrhundertwende, seine Forderung nach jüdischer Renaissance verstand er als »eine Auferstehung von halbem Leben zu ganzem«.10 Paradoxerweise steht Buber damit viel exemplarischer für die Zeitstimmung als

7

Ibid.

8

Michael Löwy: Erlösung und Utopie, S. 45.

9

Siehe Gershom Scholem: Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft; Frankfurt/Main 1975, S. 32.

10 Zitiert nach Michael Brenner: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik; München 2000, S. 34.

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Löwith, denn Löwiths Selbstverständnis verbot ihm sowohl die Rückbindung an das Judentum wie auch die positive Identifikation mit messianischen oder revolutionären Tendenzen. Auch wenn Bubers Vorstellungen trotz ihrer weiten Verbreitung keineswegs unumstritten waren,11 bietet er sich für einen Vergleich mit Löwith an, nicht zuletzt, weil Buber exemplarisch für die Vermischung von Heilsgeschehen und Politik steht, eine Vermischung, die für Löwith das Grundübel der Moderne darstellt. An ihm läßt sich diese These, die Löwiths Forderung nach skeptischer Distanzierung begründet, überprüfen. Da Bubers Denken aber weit über ihn selbst und die jüdische Religion hinausweist, läßt sich auch zeigen, wo gefährliche Potentiale dieser Vermischung liegen – und das, obwohl gerade Buber ein Denker ist, dem es um Koexistenz und Verständigung zu tun war. Er ist im Positiven das, was andere absichtsvoll im Negativen waren. Schon Max Weber hatte festgestellt, daß die Heilserwartung des Judentums einen revolutionären Keim in sich trage. 12 Die Welt ist hier nicht unveränderlich, sondern steht an der Schwelle zu einer umfassenden, alles ergreifenden Umwälzung. Dabei sind nach Michael Löwys Analyse zwei scheinbar gegensätzliche Kräfte am Werke: »Eine restaurative Kraft, die auf die Wiederherstellung eines vergangenen Idealzustands, eines Goldenen Zeitalters und einer verlorenen paradiesischen Harmonie gerichtet ist, und eine utopische Kraft, die eine völlig neue Zukunft und einen Stand der Dinge erstrebt, der noch nie da war. Die Proportion zwischen diesen beiden Kräften ist variabel, aber die messianische Idee kristallisiert sich nur aus ihrer Verbindung heraus.«13 Buber arbeitet bei der Begründung dieser Hoffnung auf zwei Ebenen. Dabei spielen auch für ihn die anthropologische Fragen Kants eine entscheidende Rolle, ja, er leitet aus ihnen mit seiner eigenwilligen Interpretation sogar die Be-

11 Vgl. Micha Brumlik: Theologie und Messianismus im Denken Adornos. In id.: Vernunft und Offenbarung; Berlin 2001, S. 87-114. 12 Max Weber: Das antike Judentum. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie Bd. 2; Tübingen 1921, S. 6: »Für den Juden war die Verheißung die gerade entgegengesetzte: die Sozialordnung der Welt war in das Gegenteil dessen verkehrt, was für die Zukunft verheißen war und sollte künftig wieder umgestürzt werden […]. Die Welt war weder ewig noch unabänderlich, sondern sie war erschaffen und ihre gegenwärtigen Ordnungen waren ein Produkt des Tuns der Menschen, vor allem: der Juden, und der Reaktion ihres Gottes darauf: ein g e s c h i c h t l i c h e s Erzeugnis also, bestimmt, dem eigentlich gottgewollten Zustand wieder Platz zu machen. Das ganze Verhalten der antiken Juden zum Leben wurde durch diese Vorstellung einer k ü n f t i g e n g o t t g e l e i t e t e n p o l i t i s c h e n u n d S o z i a l r e v o l u t i o n b e s t i m m t .« 13 Vgl. Michael Löwy: Erlösung und Utopie, S. 27-29.

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rechtigung zu dieser messianischen Hoffnung ab: »Und schließlich besagt ›Was darf ich hoffen?‹ […] erstens, daß es für mich etwas zu hoffen gibt […], zweitens, daß es mir erlaubt ist das zu hoffen, und drittens, daß ich, eben weil es mir erlaubt ist, erfahren kann, was das ist, das ich hoffen darf. […] Es ist also damit gesagt, daß wir zugleich und in einem mit der Endlichkeit des Menschen seine Teilnahme an der Unendlichkeit erkennen müssen, nicht als zwei Eigenschaften nebeneinander, sondern als die Doppelheit der Prozesse, in der als solcher erst das Dasein des Menschen erkennbar wird.«14 Die berechtigte Existenz menschlicher Hoffnung im Angesicht einer entgötterten Welt wird zum Anlaß der Frage nach dem Menschen selbst. »Die Grausamkeit der Selbstbegegnung in der Einsamkeit, die sich in der Epoche nach Kant nicht mehr durch den Blick in den äußeren Himmel ablenken lassen kann, birgt, so Buber, in der härtesten Selbsterfahrung zugleich die Möglichkeit der Erfahrung des unbekannten Gottes, ist womöglich diese selbst: Die Erfahrung der Fremdheit in der Welt ist die Erfahrung der Fremdheit Gottes.«15 Diese Selbsterkenntnis und Selbsterfahrung ist die Aufgabe des Menschen; und sie läßt sich nur durch die richtige Einordnung des Menschen im Schöpfungsprozeß angehen und lösen. Die Empfindung der Fremdheit Gottes führt dann nicht zur Abkehr, sondern zu einer Neubestimmung des eigenen Verhältnisses zu Gott und damit zu einer Neuentdeckung Gottes: »Wenn der einsam gewordene Mensch zu dem ›toten‹ bekannten Gott nicht mehr ›du‹ sagen kann, kommt alles darauf an, ob er es noch zu dem lebenden unbekannten dadurch sagen kann, daß er mit seinem ganzen Wesen zu einem lebenden bekannten anderen Menschen ›du‹ sagt.«16 Die enge Verbundenheit zwischen Bubers dialogischer Gemeinschaft und der messianischen Erwartung erweist sich aber auch an seiner Bezugnahme auf das kabbalistische Bild der zerbrochenen Gefäße, die mit der aus den Fugen geratenen Welt korrespondieren und die wieder zusammengefügt werden müssen, damit sich die menschliche Hoffnung erfüllen kann. Daher predigt er, daß »alle Inhalte nichtig sind, wenn sie nicht zur Einheit zusammenwachsen und das es in allem Leben auf eins ankommt: die Einheit zu besitzen.«17 Die Vorstellung wie diese Einheit zu erlangen sei, bleibt dabei bei Buber und seinen Zeitgenossen weitgehend diffus. Michael Löwy schreibt: »Es war eine

14 Martin Buber: Das Problem des Menschen; Heidelberg 1948, S. 14f. 15 Eckart Goebel: Der engagierte Solitär. Die Gewinnung des Begriffs Einsamkeit aus der Phänomenologie der Liebe im Frühwerk Jean-Paul Sartres; Berlin 2001, S. 32. 16 Martin Buber: Das Problem des Menschen, S. 103. 17 Id: Drei Reden über das Judentum; Frankfurt/Main 1919, S. 55.

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Generation von Träumern und Utopisten. Sie erstrebten eine Welt, die von Grund auf anders sein sollte, ein Königreich Gottes auf Erden, ein Reich des Geistes, ein Reich der Freiheit, ein Reich des Friedens. Ihr Ideal war die Gemeinschaft, in der alle gleich sind, der freiheitliche Sozialismus, die antiautoritäre Revolte, die permanente Revolution des Geistes.«18 Diese idealistische Einstellung schützte nicht vor Irrwegen, wenn man etwa Bubers Bejahung des Ersten Weltkriegs19 oder seine unkritische Begeisterung für Stefan George 20 bedenkt. So ist es verständlich, wenn seine Utopie gelegentlich auffällige Ähnlichkeiten zum Pathos Erich von Kahlers aufweist, wobei Buber mit »der für den avantgardistischen Diskurs der Zeit typischen Vermengung von Kulturkritik und messianischem Menschheitspathos, die hier aus dem Zionismus eine expressionistische Veranstaltung macht […] den Anspruch [entwickelte], daß seine Generation ›Führer im Glauben‹ zu sein habe.«21 Auch Buber sah »sich als modernen Propheten, Verkünder einer neuen Lehre als Mittel gegen die Entzweiung der Welt, dem Dualismus des Abendlandes, welcher nicht in der Dialektik aufgehoben werden kann.«22 Löwith sah sich der Problematik dieses Dualismus ebenfalls ausgesetzt, weigerte sich jedoch zeitlebens sie aufzulösen, erst recht nicht durch einen Rück-

18 Michael Löwy: Erlösung und Utopie, S. 8. 19 Buber sah darin ein »Zeitalter der Kinesis«, ein »Zeitalter, in dem die Seele des Menschen nicht mehr stockt und starrt, sondern sich ins Äußerste der Tat ausschwingt; in dem die Tat des Menschen nicht mehr von einem Getriebe vieler kleiner Zwecke eingepreßt ist, sondern ihre Freiheit und ihre Vollendung gewinnt im Opfer.« (Martin Buber: Pescara, an einem Augustmorgen. Berlin, nach der Heimkehr. In id.: Werkausgabe Bd. I: Frühe kulturkritische und philosophische Schriften 1891-1924 (ed. Martin Treml); Gütersloh 2001, S. 278) 20 Von Stefan George notiert Buber 1928, er belege die Existenz des Dichterischen in der Gegenwart. Vgl. Willy Haas (ed.): Stefan Georges Stellung deutschen Geistesleben. Eine Reihe autobiographischer Notizen. In id.: Zeitgemäßes aus der literarischen Welt von 1925-1932; Stuttgart 1963, S. 193-201, S. 195. 21 Geret Luhr: »Klassizistisch, humanistisch, aristokratisch«. Zu Erich Kahler und der jüdischen George-Rezeption. In Gert Mattenklott / Michael Philipp / Julius Schoeps (ed.): »Verkannte brüder«? Stefan George und das deutsch-jüdische Bürgertum zwischen Jahrhundertwende und Emigration; Hildesheim 2001, S. 163-174, S. 168. 22 Eveline Goodman-Thau: Freuds Moses, Bubers Moses, Schönbergs Moses. Moderne Konstruktionen einer Identitätskrise. In Id. /Fania Oz-Salzberger (ed.): Das jüdische Erbe Europas. Krise der Kultur im Spannungsfeld von Tradition, Geschichte und Identität; Berlin 2005, S. 253-296, S. 284.

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gang zur Religion. Seine von Buber so verschiedene Haltung habe ich am Beginn der Arbeit im Hinblick auf seinen Wissenschaftsbegriff und seine Auseinandersetzung mit Erich von Kahler zu zeigen versucht. Neben dem persönlichen Eindruck, den Weber auf Löwith machte, wird sicher auch die Tatsache eine Rolle gespielt haben, daß Löwith aus einem Haushalt kam, in dem »ganz und gar von der ›Emanzipation‹« gelebt wurde23, ein Verhältnis zur Tradition nicht mehr gegeben war und Löwith als Philosoph ein dialektisches Selbstverständnis entwickelte, das Widerspruch, Spannung und Krise als produktiv begriff. So konnte Löwith nicht wie Buber ein positives Verhältnis zu einer Gottesidee gewinnen, die sich ableitet aus der Ansprache eines (wie auch immer gearteten) Gottes. Diese Ansprache konnte von Löwith – ebenso wie etwa von Kafka – nicht mehr verstanden und beantwortet werden.24 Wie Kafka befindet sich Löwith in einer »Welt ohne causa und leitenden Anspruch«, die auf ganz andere Weise »an-archisch«25 ist als Bubers Utopie. Mit dem religiösen Grund der Welt entfällt allerdings auch der überkommene ethische Orientierungsrahmen, der doch als unverzichtbar empfunden wird. Wo Buber aus der europäischen Geistesgeschichte heraus zu den Quellen seines Judentums denkt, versucht Löwith in umgekehrter Bewegung, nach dem Abbau überkommener Vorurteile in der Orientierung an Max Webers Verantwortungsethik diesen ethischen Rahmen in seinem Kern zu bewahren und folgt dabei den traditionellen Bildungs- und Ethikkonzeptionen der Aufklärung, namentlich Kants, Herders und Goethes. Anders Buber, dessen eigentlicher Bezugspunkt sein kultureller jüdischer Hintergrund bleibt. Wenn er auf ähnliche Denker verweist wie es auch Löwith tut, geschieht es daher oft unter anderen Vorzeichen und mit einem anderen Schwerpunkt. Gute Beispiele hierfür sind Gustav Landauer und Franz Rosenzweig, die beide auch von Löwith rezipiert wurden. Rosenzweig ist für Löwith vor allem dort interessant, wo er als Parteigänger Heideggers auftritt – und wo er sich von diesem unterscheidet. Und Gustav Landauers »Geistigkeit«26

23 Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht; Stuttgart 1986. S. 54. 24 Werner Hamacher: Ungerufen. Kommentar zu Kafkas Prüfung. In: Neue Rundschau 2/2007, S. 132-153, S. 142f. 25 Ibid., S. 146 26 Vgl. Brief Karl Löwiths an Martin Heidegger, 17.VIII.1921; Marbach/Neckar, Deutsches Literaturarchiv, A: Heidegger: »Immerhin kann die Ungeduld, Flüchtigkeit, das unausgereift Fragmentarische dieser Menschen u[nd] ihrer Arbeit mehr u[nd] andres sein als ein Zeichen von bequemer romantischer Faulheit, Charakterlosigkeit,

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bewunderte Löwith zwar ausdrücklich, eine direkte Einflußnahme Landauers auf Löwiths Werk ist jedoch nur schwer festzustellen. Für Buber jedoch stellen Landauer und Rosenzweig enge Bundesgenossen und Vorbilder dar, und Rosenzweig konnte sich – bei einigen wesentlichen Unterschieden – auch in Bubers transzendierendem Entwurf einer Dialogphilosophie wiederfinden, wie Rosenzweig sie am 19. Oktober 1917 Eugen Rosenstock gegenüber beschrieb: »Sondern mein Ich entsteht im Du. Mit dem Dusagen begreife ich, daß der Andre kein ›Ding‹ ist, sondern ›wie ich‹. Weil aber demnach ein Andrer sein kann wie ich, so hört das Ich auf, das einmalige ›Transzendentale‹ ante omnia festa zu sein, und wird ein Ich, mein Ich und doch kein Es. Mit dem ersten Du ist die Schöpfung des Menschen fertig.«27 Wie bei Buber steht bei Rosenzweig die Frage nach der theologischen Dimension dieses Dialogs im Zentrum. Er orientiert sich an der traditionellen Trias von Gott, Mensch und Welt, die für Rosenzweig zunächst unabhängig und beziehungslos voneinander nebeneinander existieren. Zentral für Rosenzweig ist dabei die Idee der »Offenbarung«, die diese drei Elemente in eine dialogische Beziehung treten läßt. Zeugnis dieser Beziehung ist für den Menschen die Bibel28 – und damit eine Idee von Sprache, die den Kern seiner jüdischen Identität bildet. Man könnte sagen, daß für Rosenzweig menschliche Existenz und Judentum im tiefsten Innern Sprache ist – eine Auffassung, die von anderen jüdischen Denkern geteilt wird29 und auch Buber nicht fremd ist. Rosenzweig ist hier beeinflußt von der Sprachvorstellung Walter Benjamins, die gleichfalls religiös konnotiert ist und deutliche messianische Tendenzen aufweist: »Der ununterbrochene Strom dieser Mitteilung fließt durch die ganze Natur vom niedersten Existierenden bis zum Menschen und vom Menschen zu Gott. Der Mensch teilt sich Gott durch den Namen mit, den er der Natur und seinesgleichen (im Eigennamen) gibt, und der Natur gibt er den Namen nach der Mitteilung, die er von ihr empfängt, denn auch die ganze Natur ist von einer na-

Schwäche, Oberflächlichkeit, Mangel an Tiefe u[nd] Ernst u[nd] reineren Typs. Geistigkeit ist nicht identisch mit Wissenschaftlichkeit u[nd] ein Mann wie Gustav Landauer hatte in den Fingerspitzen mehr u[nd] intensivere Geistigkeit als sämtliche Professoren der Münchner Universität zusammen.« 27 Franz Rosenzweig: Briefe (ed. Edith Rosenzweig); Berlin 1935, S. 254. 28 Vgl. Reinhold Mayer: Einführung. In Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung; Frankfurt/Main 1988, S. XXVIIIff. 29 Vgl. Micha Brumlik: Jüdische Philosophie in der Postmoderne. In Eveline GoodmanThau / Fania Oz-Salzberger: Das jüdische Erbe Europas. Krise der Kultur im Spannungsfeld von Tradition, Geschichte und Identität. Berlin 2005, S. 139-149. S. 145ff.

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menlosen stummen Bewegung durchzogen, dem Residuum des Gotteswortes […] Alle höhere Sprache ist Übersetzung der niederen bis in der letzten Klarheit sich das Wort Gottes entfaltet, das die Einheit dieser Sprachbewegung ist.«30 Wir haben es hier mit einer »teppichhaften Verflechtung und Durchdringung«31 des Seienden zu tun. »Die menschliche Erkenntnis, die sich darin ausdrückt, den Dingen einen Namen zu geben, und das göttliche, schöpferische Wort, das sich gestalthaft in den Dingen ausspricht, greifen ineinander«.32 So ist Sprache eine zu Gott hinführende Übersetzung, ein Akt der Erkenntnis – und deshalb liegt in dieser erkennenden Übersetzung eine messianische Dimension, bei der wieder das kabbalistische Bild der zerbrochenen Gefäße auftaucht, die zusammengefügt werden müssen: »Wie nämlich Scherben eines Gefäßes, um sich zusammenfügen zu lassen, in den kleinsten Einzelheiten einander zu folgen, doch nicht so zu gleichen haben, so muß, anstatt dem Sinn des Originals sich ähnlich zu machen, die Übersetzung liebend vielmehr und bis ins Einzelne hinein dessen Art des Meinens in der eigenen Sprache sich anbilden, um so beide wie Scherben als Bruchstück eines Gefäßes, als Bruchstück einer größeren Sprache erkennbar zu machen.«33 Auch bei Buber besitzt Sprache diese gleichsam übernatürliche Dimension: »So ist Sprache ein Gegenübersein der Wesen. Die Worte der Sprache sind in uns, aber wir sind auch in ihnen. Wenn die Menschen sprechen, stehen sie, wenn auch nur gebrochen, in Gottes Sprache darin. Reines Schaffen fällt mit reinem Sprechen zusammen. Es ist derselbe Akt. Schaffen ist Heraussetzen, Gott schafft, indem er spricht. […] Alles Sprechen ist Antwort, Verantworten. Darum gilt es, in der Sprache immer das unmittelbare, konkrete Wort zu sagen.«34 Diese enge Verknüpfung des sprachlichen Dialogs mit dem Gottesbegriff äußert sich auch darin, daß das absolute »Ich« für Buber in Gott gegeben ist – wie sich auch

30 Walter Benjamin: Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. In id.: Gesammelte Schriften Bd. 2,1; Frankfurt/Main 1991, S. 140-157, S. 157. 31 Anne Eusterschulte: Geschichtlichkeit des Gegenwärtigen. Zum Traditionsbegriff bei Theodor W. Adorno und Walter Benjamin. In Eveline Goodman-Thau / Fania OzSalzberger: Das jüdische Erbe Europas. Krise und Kultur im Spannungsfeld von Tradition, Geschichte und Identität; Berlin 2005, S. 385-415, S. 391. 32 Ibid., 392f. 33 Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers. In id.: Gesammelte Schriften Bd. 4/1; Frankfurt/Main 1972, S. 9-21, S. 18. 34 Hans Kohn: Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit – ein Versuch über Religion und Politik; Hellerau 1930, S. 242.

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in seiner Bibelübersetzung zeigt, wo er das Tetragrammaton, also den Gottesnamen, grundsätzlich mit »Ich« übersetzt.35 Auch diese Verknüpfung von Sprache und messianischer Dimension ist zeittypisch. »Sie ist das Medium, das die Menschheitserneuerung herbeiführen soll«,36 nicht nur bei den Philosophen des Dialogs, sondern auch bei den Geistesaristokraten um Stefan George. Daher ist das messianische Element ein wesentlicher Bestandteil der Funktion der Sprache. Sie ist Ausdruck der Tatsache, daß der Mensch seine besondere Menschlichkeit und Identität durch Ansprache und eigene Mitteilung im Gespräch erhält. So finden wir auch bei Buber eine Ethik, für die die Würde des Mitmenschen absolut zentral ist – denn ohne Achtung ist ein Gespräch nicht möglich. Bei Rosenzweig äußert sich das, wie bei vielen seiner Zeitgenossen, durch sein Bekenntnis zum klassischen Bildungsideal. 37 Aus diesem Bildungsideal, der prononcierten Ablehnung des klassischen Fortschrittsgedankens38 und der religiös-messianischen Hoffnung entsteht so bei Buber und seinem Kreis die Naherwartung einer einbrechenden »Welt, qualitativ verschieden, das absolut Andere im Verhältnis zum gegenwärtigen Zustand der Dinge«, in der zugleich die bestehende autoritäre Ordnung und die Entzauberung der Welt aufgehoben werden,39 »eine Form des Denkens, die jedes Konzept von Evolution und jede Vorstellung von Fortschritt ablehnt«.40 Sie findet sich aber nicht nur bei Religiösen, sondern auch bei vielen säkularen deutschen Juden wie Gustav Landauer. Die messianische Dimension läßt sich also im Umfeld Martin Bubers nicht so einfach ignorieren. Für Buber wie für Franz Rosenzweig ist daher die Bibel das Dokument des Dialogs zwischen Gott und Mensch. Dieser Dialog umfaßt das ganze Weltgeschehen vom Beginn der Schöpfung bis zur endlichen Erlösung: »Die Bibel ist […] von einem Dialog zwischen Himmel und Erde erfüllt, in

35 Vgl. Klaus Reichert: Zwischen den Sprachen. Bubers und Rosenzweigs Bibelübersetzung. In Eveline Goodman-Thau / Fania Oz-Salzberger: Das jüdische Erbe Europas. Krise der Kultur im Spannungsfeld von Tradition, Geschichte und Identität. Berlin 2005; S. 93-105, S. 101. 36 Geret Luhr: »Klassizistisch, humanistisch, aristokratisch«, S. 171. 37 Galili Shahar: theatrum judaicum. Denkspiele im deutsch-jüdischen Diskurs der Moderne; Bielefeld 2007, S. 250f. 38 Vgl. Gershom Scholem: Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum. In id.: Judaica I; Frankfurt/Main 1963, S. 63f., wo Scholem festhält, daß es »keinen Fortschritt in der Geschichte zur Erlösung« gebe. 39 Michael Löwy: Erlösung und Utopie, S. 297. 40 Ibid., S. 193.

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dem erzählt wird, wie Gott immer wieder den Menschen anspricht und von ihm angesprochen wird. Dies ist für ihn die wirkliche Geschichte der Menschheit – als Urkunde überliefert, in der der Mensch aus seinem Leben, aus seiner Wahrheit, sein Leben und das Leben seines Menschengeschlechtes deutet.«41 Aus ihr spricht, eindeutig wie aus nichts sonst, die Wahrheit der ganzen Schöpfung. Zugleich zeigt die Bibel die Gegenwart von Schöpfung und Offenbarung in der Welt, im menschlichen Leben in einer Weise, die für jeden erfahrbar ist: »In der Bibel erstehen Schöpfung, Offenbarung, Erlösung in ihrem Doppelsinn vor uns. Sie ereignen sich nicht wunderhaft außerhalb unseres Lebens, sondern in der Welt, die uns umgibt. […] Schöpfung ist das, was ureinst geschehen ist, aber was auch in jedem Augenblick geschieht, und dessen Wunder wir in der Einmaligkeit jeder Kreatur erleben. Offenbarung ist, was einst in großen weltverwandelnden Augenblicken sich auf die Menschheit niedersenkte, und was wir immer wieder in der Form des Angesprochenwerdens mitten im Alltag erleben, wo in jedem Augenblick Antwort von uns gefordert ist, als Stimme in uns, die nur verstummt erscheint, wenn wir ihr taub sind. Erlösung ist die dereinstige Vollendung der Schöpfung auf dem von der Offenbarung gewiesenen Weg, aber auch, was jedem von uns in unseren Nöten sich zuzuteilen bereit ist. […] Die Bibel spricht den Menschen an: in direkter Rede. […] Es ist Zwiesprache zwischen Ich und Du.«42 Auch deshalb ist für Buber die Sprache mehr als eine Möglichkeit zur Ansprache, Mitteilung und Ordnung des Zusammenlebens: sie ist »Ausdruck und Gleichnis alles geistigen Schaffens.«43 Durch diese allgegenwärtige Ansprache der Offenbarung befindet sich der Mensch ständig in einem Dialog sowohl mit Gott als auch mit dem Schöpfungsprozeß. Dies ruft den Menschen – und beileibe nicht jeden Menschen, sondern nur eine ausgewählte Elite – in die direkte Verantwortung gegenüber Gott und sich selbst, bedeutet aber auch die Weiterentwicklung der Schöpfung und der jüdischen Lehre an sich: »Es sind die, denen diese meine Rede zugedacht ist; es sind wenige, es sind jene Glieder der jüdischen Jugend, die an dem werdenden religiösen Gefühl einer werdenden Menschheitsgeneration in aller Echtheit teilnehmen. Die meine ich, denen es nicht um Sicherung im Chaos der Gegenwart durch Einfügung in eine erprobte Ordnung des Wißbaren und Tubaren geht,

41 Eveline Goodman-Thau / Fania Oz-Salzberger: Tradition und Säkularisierung im Zeitalter der Kulturkritik. Zur Frage der Mosaischen Entscheidung. In id.: Das jüdische Erbe Europas. Krise der Kultur im Spannungsfeld von Tradition, Geschichte und Identität; Berlin 2005, S. 13-39. S. 30f. 42 Hans Kohn: Martin Buber, S. 258. 43 Ibid., S. 240.

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sondern einzig darum, der Berührung des Absoluten in dieser zwielichtigen Stunde, einer Stunde des Todes und der Geburt, wahrhaft standzuhalten [...] Es kann, das sehen wir, nicht ein Anschluß an die jüdische Lehre als an etwas Fertiges und Eindeutiges, nicht einer an das jüdische Gesetz als an etwas Geschlossenes und Unwandelbares sein. Es kann nichts anderes sein, als der Anschluß an die Urkräfte, die lebendigen, religiösen Kräfte, die sich in dem ganzen Bestande der jüdischen Religion, in Lehre und Gesetz, wirkend kundgaben, aber in Lehre und Gesetz nicht zulänglichen Ausdruck gewannen.«44 Nur über diese Zuwendung besteht die Hoffnung, »die Gefäße« wieder aufs neue zusammenzufügen und tatsächlich die Harmonie und Fülle des Lebens, der Beziehung zu Schöpfung und Schöpfer, wiederherzustellen. Dieser Wunsch nach Wiederherstellung der Welt und damit auch der Menschheit konstituiert für Buber das typisch jüdische Streben nach Einheit, »nach Einheit im einzelnen Menschen. Nach Einheit zwischen den Teilen des Volkes, zwischen den Völkern, zwischen der Menschheit und allem Lebendigen. Nach Einheit zwischen Gott und der Welt.«45 Buber verlagert sein Weltbild bewußt in eine kosmologisch-messianische Sphäre, weil er davon ausgeht, daß die zeitgenössische Fortschrittsidee »niemals jenes Gefühl der Sicherheit verleihen« kann.46 Erlösung als intellektueller Begriff oder abstraktes Ziel einer säkularisierten Heilsgeschichte kann dem Menschen keine Sicherheit geben: »nur die Kraft des Glaubens […] kann auch die Vollendung als etwas Gesichertes erfahren, weil als etwas, das uns verbürgt ist von jemand, dem wir vertrauen.«47 Das Verhältnis zu Gott ist nur dann intakt, wenn Gott, der Glaube an ihn und an die direkte Verbundenheit von Gott und Mensch von vornherein als wahr akzeptiert werden; es »beruht auf einem Status des Kontakts, eines Kontakts meiner Ganzheit, mit dem, zu dem ich Vertrauen habe, das Anerkennungsverhältnis auf einem Akt der Akzeptation, einer Akzeptation durch meine Ganzheit, dessen, was ich als wahr anerkenne«.48 Nur wenn sich der Mensch vorbehaltlos von Gott ansprechen, berühren läßt, entsteht Reli-

44 Martin Buber: Cheruth. Eine Rede über Jugend und Religion; Wien 1919, S. 27f. Man vergleiche dieses Pathos etwa mit Heideggers Rektoratsrede und ihrem Appell an die Standhaftigkeit des »Großen«. 45 Id.: Drei Reden über das Judentum, S. 44. 46 Id.: Das Problem des Menschen, S. 48. 47 Ibid., S. 50. 48 Id.: Zwei Glaubensweisen. In id.: Werkausgabe Bd. I: Frühe kulturkritische und philosophische Schriften 1891-1924 (ed. Martin Treml); Gütersloh 2001, S. 651-782, S. 654.

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gion im Sinne Bubers: als »Begegnung von Gott und Mensch, nicht ihre Vereinigung in der Mystik, nicht Theologie, in der Gott unnahbar und beziehungslos wird, sondern lebendige Beziehung von Ich und Du.«49 Aufgrund dieser Schwerpunktverlagerung in den Bereich des Glaubens kann eine philosophische Anthropologie wie die Löwiths für Buber nur unbefriedigend sein.50 Wo Buber Sicherheit zu schaffen sucht, sieht Löwith im Gefolge Webers gerade die Unsicherheit als Signum der Moderne – und bejaht sie als solche. Von Löwith ausgehend muß man eingestehen, daß in einem solchen philosophischen Ansatz die eigentliche Frage Bubers unbeantwortet bleibt, auch wenn, etwa durch die Orientierung an Kant, wichtige Erkenntnisse wie die Einsicht in Würde, Freiheit und Selbständigkeit des Menschen ihr Ergebnis sind. Denn Buber geht es weniger um die Beziehung von Mensch zu Mensch und ihre ethische Ausgestaltung als bzw. um die Menschen an sich – ihm geht es um das, was »zwischen« Ich und Du ist, sie verbindet und damit sowohl die Beziehung wie die Ganzheit des Menschen erst konstituiert. Dieses »Zwischen« läßt sich erst dann erkennen, wenn die Perspektive stimmt, der Mensch den ihm zugewiesenen Platz in der Schöpfung eingenommen hat und das »ewige Du« – und damit eine überweltliche Dimension – als Maßstab genommen wird. Für Buber ist »der wirkliche Mensch« nur der, »der einem nicht menschlichen Sein gegenübersteht, der von ihm immer wieder als von einem unmenschlichen Schicksal überwältigt wird und der dennoch dieses Sein und dieses Schicksal zu erkennen wagt.«51 Das »Zwischen« konstituiert mit den menschlichen Beziehungen auch die allgegenwärtige religiöse Wirklichkeit: die geschichtliche Wirklichkeit der Theophanie und die persönliche Wirklichkeit werden in gleicher Weise von diesem Verhältnis bestimmt, das zudem, wie jedes echte Verhältnis nicht als Einbahnstraße funktioniert, sondern eine Wechselwirkung hat. Buber hat wesentliche Momente dieser Beziehung aus seinem Verständnis des Chassidismus abgeleitet. Hier findet er die Ideen des direkten »Du-Sagen zu Gott, Zwiesprache und

49 Hans Kohn: Martin Buber, S. 221. 50 So schreibt Buber über Löwiths anthropologische Habilitationsschrift Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, sie sei »eine zuverlässige, insbesondre die großen sprachphilosophischen Findungen Wilhelm von Humboldts eindringlich verwertende Strukturanalyse, die aber nicht umhin kann, wenn ein Tor unprogrammatisch aufspringen will, es sorgsam zu verrammeln« (Martin Buber: Nachwort: Zur Geschichte des dialogischen Prinzips. In id.: Das dialogische Prinzip. Gütersloh 2006, S. 299320, S. 312). 51 Martin Buber: Das Problem des Menschen, S. 62.

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Wechselwirkung«.52 Ähnlich einflußreich ist für ihn auch das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler im Chassidismus, das ebenfalls auf Wechselwirkung beruht: »In diesem Verhältnis entfaltet sich die Wechselseitigkeit zur größten Klarheit. Der Lehrer hilft den Schülern, sich zu finden, und in Stunden des Niedergangs helfen die Schüler dem Lehrer, sich wiederzufinden. Der Lehrer entzündet die Seelen der Schüler; nun umgeben sie ihn und leuchten ihm. Der Schüler fragt, und durch die Art seiner Frage erzeugt er, ohne es zu wissen, im Geist des Lehrers eine Antwort, die ohne diese Frage nicht entstanden wäre.«53 Hier findet Buber ein Modell für die »neue Gemeinschaft«, wie sie ihm vorschwebt; das leitende Prinzip ist dabei der Gedanke des fließenden Dialoges, der alle festen Formen, Riten und Institutionen auflöst und auch die Gemeinschaft selbst nicht zu einer festen Form erstarren läßt. Das mag positiv für Bubers Denken gelten, wie Maurice Friedman schreibt,54 es gilt aber auch für konkrete moralische Maßstäbe und Inhalte. Wichtig ist für Buber nicht so sehr was und wie etwas getan wird, sondern welcher Antrieb eine Handlung motiviert. Daher beseitigt diese Formel zwar herkömmliche Moralgesetze, aber nur, um zugleich ein höheres aufzustellen und dieses als Fundament jeder Moral zu bestimmen: das der Verantwortung gegen über der Welt, mit der man im Dialog steht. Die Welt ist »in die Hand des Täters gelegt. Jeder Tat wächst eine ungeheure, über dieses Menschen Leben, Stunde und Ort weit hinausgehende Verantwortung und

52 Sung Sik Choi: Der Mensch als Mitmensch. Eine Untersuchung über die Strukturanalyse des Miteinanderseins von Karl Löwith im Vergleich mit dem dialogischen Denken von Martin Buber; Köln [Diss.], 1993, S. 69. 53 Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim. Zürich 1949, S. 24f. Für die Rolle der Erziehung in Bubers Denken vgl. auch Hans Kohn: Martin Buber, S. 284f. 54 »In the highly significant Foreword to his Hasidic chronicle-novel For the Sake of Heaven, Buber wrote: ›He who hopes for a teaching from me that is anything other than a pointing of this sort will always be disappointed.‹ If we take this statement seriously, and I think we must, then even Buber’s formal philosophical anthropology, such as Between Man and Man and The Knowledge of Man, must be understood not as the comprehensive Weltanschauung, or worldview, of the monological philosopher but as response and address in the dialogue that took place between Buber and the situations and thinkers that he encountered and that takes place between Buber and his reader.« (Maurice Friedman: Introduction. In Martin Buber: Autobiographical Fragments; London 2002, S. 7-19, S. 9). Hier zeigt sich wieder die Zwiespältigkeit dieser Art des Dialogs, denn natürlich beanspruchte auch Buber für sich, »Führer im Glauben« zu sein.

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Bedeutung zu.«55 Der Mensch mit seinem Handeln wird also nicht nur in den Dialog, sondern in die Verantwortung für die Welt und die Geschichte gesetzt. Diese Verantwortung ist, ebenso wie die Begegnung mit Mensch und Welt, allgegenwärtig und bestimmt alle menschlichen Handlungen im Sinne einer gegenseitigen, moralischen Verantwortlichkeit. Aber dennoch bleibt ein seltsamer Beigeschmack, wenn man sich der zeitweisen Begeisterung Bubers für den Weltkrieg und den geistesaristokratischen Elitismus eines Stefan George erinnert. Liegt dieser Verantwortlichkeit wirklich ein unverrückbarer moralischer Gehalt zugrunde? Und wenn ja, von welcher Art ist dieser Gehalt? Betrachtet man Bubers Definition des Gerechten als »das Gerichtete, wozu sich einer richtet und entscheidet«,56 dann scheint dieser eher nicht benennbar oder gar existent zu sein. Denn »gäbe es einen Teufel, so wäre es nicht, der sich gegen Gott, sondern der sich in der Ewigkeit nicht entschied.«57 Auch wenn Buber zugleich bemerkt, daß diese Entscheidung immer auf die Freiheit verweisen muß58 und durchweg auf Begriffe wie »Liebe« und »Gerechtigkeit« abzielt, zeigt sich hier eine grundsätzliche Zweideutigkeit der Buberschen Ethik, die verwandt ist mit der Jaspersschen Feststellung, daß die »Chiffren« von Gott und Teufel gleichberechtigt nebeneinander in der Welt existieren. Bubers Kommentar, der diese Feststellung noch als »wunderliche ›Transzendenz‹« bezeichnet und dem Teufel die »Macht, […] mit seinem Code den Gottes nicht bloß [zu] stören, sondern [zu] verstören«,59 grundsätzlich abstreitet, basiert wiederum lediglich auf Bubers Glauben, dessen Richtigkeit nicht zu beweisen ist; sie muß daher zutiefst fragwürdig bleiben. Die Erfahrung, daß alle hohen Ideale durch menschliches Wirken in ihr genaues Gegenteil verkehrt werden können, ohne ihren Namen oder gar ihre Anziehungskraft wesentlich einzubüßen, kann er nicht entkräften. Hier manifestiert sich in aller Deutlichkeit Bubers messianische Hoffnung – denn die geschichtliche Entwicklung an sich ist aussichtslos und ohne Ziel. Die Aufgabe des Menschen, auf die Einheit hinzuarbeiten und auf die Stimme Gottes, des »ewigen Du« zu hören, ist keine konkrete erfüllbare Aufgabe und auch gar nicht so gedacht. Sie ist ein Prozeß, der nicht zuletzt dem Menschen

55 Hans Kohn: Martin Buber, S. 78. 56 Martin Buber: Ich und Du. In id.: Das dialogische Prinzip; Gütersloh 2006, S. 5-136, S. 55. 57 Ibid. 58 Vgl. ibid. 59 Id.: Nachwort: Zur Geschichte des dialogischen Prinzips. In id.: Das dialogische Prinzip; Gütersloh 2006, S. 299-320, S. 315.

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und seiner Selbstbehauptung dient; denn trotz allem kann er in der Welt seine Einzigartigkeit bewahren, wenn er in lebendige Beziehung zu anderen tritt: »Die Einzigartigkeit des Menschen bewährt sich in seinem Leben mit den anderen. Der Einzelne vollendet sich in der Gemeinschaft. Wenn er aus seiner gesammelten Kraft lebt, lebt er aus der Gemeinschaft.«60 Auf diese Weise kann er einen Weg in Zeit und Schöpfung gehen, den Buber »namenlos« nennt und der kein eigentliches Fortschreiten bedeutet, gleichwohl aber ein eindeutiges Ziel vor Augen hat. Es ist »kein Weg des Fortschritts und der Entwicklung; ein Hinabstieg durch die Spiralen der geistigen Unterwelt, wohl auch ein Aufstieg zum innersten, feinsten, verschlungensten Wirbel zu nennen, wo es kein Weiter mehr und erst recht kein Zurück gibt, nur noch die unerhörte Umkehr: den Durchbruch.«61 Dieser Durchbruch kann nur in der freien Gemeinschaft erfolgen, die Einheit und individuelle Ethik zu konkreter, heiliger Gegenwart und Handlung vereint und somit zum Stifter der Gemeinschaft mit Gott wird. Die Gemeinschaft ist für Buber mehr als nur eine Gruppe von Wesen, die sich miteinander im Gespräch befindet. Denn die Feststellung, daß der eigentliche Schauplatz des dialogischen Lebens die Geschichte als ganzes ist und uns alles zum »Du« werden kann, besagt auch, daß der wirkliche Dialog von menschlicher Rede und menschlichem Alltag weitgehend abgelöst ist. Deshalb ist für Buber die wahre Gemeinschaft eine »von Menschen, die waren, sind und sein werden, eine Gemeinschaft von Toten, Lebenden und Ungeborenen, die zusammen eine Einheit darstellen; und diese ist eben die Einheit, die er als den Grund seines Ich empfindet, seines Ich, das in diese große Kette als ein notwendiges Glied an einen von Ewigkeit bestimmten Orte eingefügt ist.«62 Diese Gemeinschaft ist es, die zunächst das Denken, Wollen und Handeln des Menschen bestimmt. In dieser Gemeinschaft ist der Mensch Teil einer übergeordneten Einheit, der gegenüber er in Verantwortung steht und die zugleich Abbild ist von der Einheit der Welt, in der auch die Trennung von Gut und Böse überwunden wird. Diese Gemeinschaft steht jenseits und über allen religiösen und staatlichen Lebensformen, die – rein für sich betrachtet – nichts zur Erlösung beizutragen haben. Hier manifestiert sich etwas ganz anderes, »etwas Plötzliches und Ungeheures, durchaus nicht Fortsetzung und Verbesserung, sondern Umkehr und Umwandlung.«63 Damit wird sie zum eigentlichen Vorboten des göttlichen Königreiches.

60 Hans Kohn: Martin Buber, S. 82. 61 Martin Buber: Ich und Du,S. 58. 62 Hans Kohn: Martin Buber, S. 94. 63 Martin Buber: Drei Reden über das Judentum, S. 61.

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Ihre konkrete Situierung im Diesseits, in der geschaffenen, menschlichen Welt wiederum deutet darauf hin, daß für Buber das messianische Reich zwar das ganz andere, aber dennoch nichts Außerweltliches darstellt. Deshalb ist die Gemeinschaft ein durch und durch politischer Begriff, der ein grundsätzliches Streben nach Revolution irdischer Verhältnisse beinhaltet und verlangt. Folgerichtig identifiziert sich Buber 1919 mit dem Konzept der Revolution als idealistische Idee, und er notiert: »Auf ihrem Grunde stehend, nicht um irgendwelcher uns zugute kommenden Nebenprodukte willen, nicht als Nutznießer, sondern als Mitkämpfer und Mitträger grüßen wir die Revolution«.64 Dem gegenüber stehen die Ideen des Staates und autoritärer Herrschaft, weil sie prinzipiell, wie revolutionär sie auch sein mögen, keine Erlösung aus den irdischen Verhältnissen erreichen können. Diese Idee ist dem religiösen Gedanken, dessen dialogischer Charakter zutiefst anarchische Züge aufweist, diametral gegenübergestellt. Daher ist auch Bubers Modell einer »freien Assoziation von Gemeinschaften«65 gegen den Staat gerichtet. Zusammen begründen diese Gemeinschaften einen Gesellschaftsbegriff, der frei ist und grundsätzlich auf jeweiliger Gleichheit beruht. Besonders deutlich wird die weltliche Obrigkeit von Bubers Schüler Hans Kohn kritisiert, der sie für »gewalttätig« hält und ihr einen utopistischen, Herrscher gegenüberstellt, der anwesend und abwesend zugleich ist: »Was ist die Gewalttat der Obrigkeit? Der Zwang der falschen Macht. […] Die Obrigkeit ist der Parasit, der dem Volke die Lebenskraft entzieht. […] Der wahre Herrscher befreit das Volk von der Gewalttat der Obrigkeit, indem er statt der Macht das ›Nichtstun‹ walten läßt. […] Er macht, daß Menschen und Dinge sich aus sich selber freuen. […] In dem entarteten Reich ist es so, daß es keinem gewährt ist, seine Angelegenheiten nach eigener Einsicht zu führen, sondern jeder steht unter der Botmäßigkeit der Vielheit. Der wahre Herrscher befreit den Einzelnen von dieser Botmäßigkeit; er entmengt die Menge und läßt jeden frei das Seine verwalten und die Gemeinschaft das Gemeinsame. All dies aber tut er in der Weise des Nichtstuns, und das Volk merkt nicht, daß es einen Herrscher hat; es spricht: Wir sind von selbst so geworden.«66 Bubers neue Gemeinschaft ist dem Bild dieser weltlichen politischen Macht direkt entgegengesetzt und entspricht eher der Vorstellung einer mystischen Gemeinde, »verbunden durch gemeinsames Werk und gemeinsames Opfer, die Gemeinschaft derer, die im Namen des namenlosen Gottes nach dem Zion seiner

64 Id.: Die Revolution und Wir. In id. (ed.): Der Jude Jg. 3; S. 345-347, S. 346. Zitiert nach: Michael Löwy: Erlösung und Utopie, S. 80. 65 Michael Löwy: Erlösung und Utopie, S. 85. 66 Hans Kohn: Martin Buber, S. 121.

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Erfüllung fahren. Das Geheimnis ihres Herzens schwillt über alle Schranke der Lehre und des Gesetzes dem noch Unsäglichen, noch Formlosen zu. Die Erkenntnis der Urkräfte hat ihnen die Macht kundgetan, die es zu neuem Leibwerden beschwören kann: die menschliche Antwort an das Göttliche, die Einung von Geist und Welt.«67 Ziel ist es, die Attribute Gottes im eigenen Leben und in der Existenz der Gemeinschaft zu verwirklichen,68 nicht ein dogmatischer wahrer Glauben oder das Gefühl einer mystischen Gotteserkenntnis. Stattdessen geht es um Gemeindebildung, und in ihr sieht er die einzig wirkliche Antwort auf Gottes Ansprache. Sie soll eine völlig neue Gesellschaftsform der Freiheit, jenseits von Individualismus und Kollektivismus begründen. Es ist Bubers Überzeugung, daß die Ansprache Gottes jeden angeht, denn nur in diesem Dialog kann der Mensch sich wirkliche Ziele setzen und »sich vor der Verzweiflung […] retten, mit der ihn seine Vereinsamung bedroht«69 Nur in diesem Dialog kann der Mensch zum Glauben an ein Du finden – und damit eine eigentliche Bestimmung erlangen, statt einem »Bestimmtsein von Dingen und Trieben, das er mit dem Gefühl der Selbstherrlichkeit, das heißt eben in Willkür vollzieht«70 zu unterliegen. Und nur wenn er eine solche Bestimmung kennt und zu ihr in Verantwortung steht, kann er auch Tugenden entwickeln: Opferbereitschaft, Konkretheit, Respekt vor dem Mitmenschen.71 Kurz: Nur der Mensch, der sich selbst in die Gemeinschaft setzt und sich vor ihr ebenso verantwortet wie vor sich selbst wird zu einem eigentlichen Menschen, der zu seiner Ganzheit

67 Martin Buber: Cheruth, S. 35f. 68 Vgl. id.: Die heimliche Frage. In id.: An der Wende. Reden über das Judentum; Köln 1952, S. 59-82, S. 70f.: »Was aber heißt das, ein Volk Gottes werden? Nicht der gemeinsame Gottesglaube und Gottesdienst macht ein Volk zum Volk Gottes, sondern daß es Gottes ihm offenbarte Eigenschaften, die Gerechtigkeit und die Liebe, in seinem eigenen Leben, und das bedeutet in dem Leben seiner Mitglieder miteinander, verwirkliche, und zwar Gerechtigkeit in dieser Menschen mittelbaren, auf Sachen und Werte gerichteten gegenseitigen Beziehungen, Liebe in ihren unmittelbaren, auf ihr eigenes Sein gerichteten gegenseitigen Beziehungen. Von den beiden aber ist die Liebe das höhere, das entscheidende Prinzip.« 69 Id.: Das Problem des Menschen, S. 160f. 70 Id.: Ich und Du,S. 62f. 71 Ibid. Es ist auffällig und zugleich für Löwiths Charakterisierung als »Skeptiker« bedeutsam, wie nahe Bubers Definition des »willkürlichen Menschen« an Hegels Kritik der Skeptiker steht. Vgl. die Diskussion Hegels am Beginn dieser Arbeit oder Klaus Vieweg: Skepsis und Freiheit. Hegel über den Skeptizismus zwischen Philosophie und Literatur; München 2007, S. 58f.

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und der Fülle seiner Möglichkeiten über die Gesellschaft gefunden hat. Diese Möglichkeiten eröffnen sich jedem, der sich darauf einläßt und sich nicht dadurch von der Gemeinschaft ausgrenzt, indem er das Faktum der Ansprache leugnet. Zugleich ist die Gemeinschaft für Buber auch der einzige Weg, den Versuchungen des Kollektivismus zu widerstehen. Denn wenn der Mensch nicht den Weg zur Gemeinschaft findet, bleibt er ausgegrenzt, allein und in seiner Vereinzelung seiner Verzweiflung schutzlos ausgeliefert. Dann scheint ihm der Kollektivismus einen leichten Ausweg zu bieten: »Es ist offenbar kein Anlaß zur Lebensangst mehr, da man sich doch nur in den ›allgemeinen Willen‹ einzufügen und die eigene Verantwortung für das allzu kompliziert gewordene Dasein in der kollektiven aufgehen zu lassen braucht, die sich als allen Komplikationen gewachsen erweist. Und ebenso ist offenbar kein Anlaß zur Weltangst mehr, da an die Stelle des unheimlich gewordenen Weltalls, mit dem sich sozusagen kein Vertrag mehr machen läßt, die technisierte Natur getreten ist, mit der die Gesellschaft als solche fertig wird oder fertig zu werden scheint. Das Kollektiv macht sich anheischig, die totale Sicherung zu liefern.«72 Doch diese Hoffnung täuscht. In Wahrheit beseitigt das Kollektiv die menschliche Einsamkeit nicht; das Individuum wird im Kollektiv nicht geschützt und geborgen, sondern geopfert. Das Ergebnis ist die Auslöschung der Menschlichkeit des Menschen: »Die Kollektivität gründet sich auf einem organisierten Schwund der Personhaftigkeit, die Gemeinschaft auf ihrer Steigerung und Bestätigung im Zueinander.«73 Buber sieht in dieser Kollektivität keine Haltung, die für sich selbst tragfähig ist – und deshalb ist sie für ihn ein Entwicklungsschritt, der am Ende des Prozesses schließlich zur Auseinandersetzung mit sich selbst und dann zur Gemeindebildung führt. Weil im Kollektiv die individuellen Bedürfnisse des Einzelnen auf Dauer nicht befriedigt werden können weist die Kollektivierung auf den Menschen selbst zurück und führt so in den Dialog. Damit wird zuletzt auch die Einsamkeit des Menschen aufgelöst. »Der moderne Kollektivismus ist die letzte Schranke, die der Mensch vor der Begegnung mit sich selbst aufgerichtet hat. Die nach dem Ende der Imaginationen und Illusionen mögliche und unvermeidliche Begegnung des Menschen mit sich selbst wird sich nur als Begegnung des Einzelnen mit dem Mitmenschen vollziehen können und wird sich als sie vollziehen müssen. Erst wenn der Einzelne den Anderen, in all seiner Anderheit, als sich, als den Menschen erkennt und von da aus zum An-

72 Martin Buber: Das Problem des Menschen, S. 161. 73 Id.: Zwiesprache. In id.: Das dialogische Prinzip; Gütersloh 2006, S. 137-196, S. 185.

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deren durchbricht, wird er, in einer strengen und verwandelnden Begegnung, seine Einsamkeit durchbrochen haben.«74 Dann endlich hat der Mensch eine höhere Stufe erreicht, deren Ziel Buber auch mit der Idee der Gemeindebildung verfolgt: »Der große Mensch […] ist mächtig, unwillkürlich und gelassen mächtig, aber er begehrt nicht nach Macht. Wonach er begehrt, ist Verwirklichung dessen, was er im Sinn hat, Fleischwerden des Geistes.«75 Nach dieser Zielsetzung muß eine Gemeinschaft geführt werden. Daß diese Zielsetzung in ihrer konkreten Umsetzung einen gewissen Charakter der Beliebigkeit allerdings nicht verhehlen kann, wird deutlich, wenn man sich bewußt macht, daß elementar politische Fragen für Buber zunächst überhaupt keine Rolle spielen: »Ob der Staat die Wirtschaft regelt oder die Wirtschaft den Staat beauftragt, ist, solange beide unverwandelt sind, nicht wichtig. Ob die Einrichtungen des Staates freier und die der Wirtschaft gerechter werden, ist wichtig, aber nicht für die Frage nach dem wirklichen Leben, die hier gefragt wird.«76 Entscheidend ist für Buber allein, »ob der Geist, der dusagende, der antwortende Geist am Leben und an der Wirklichkeit bleibt«,77 denn nur in und durch diesen Geist findet die Verwandlung der Gesellschaft in eine Gemeinschaft schließlich statt. Als grundlegender Orientierungspunkt kann somit keine systematisierte Ethik dienen. Stattdessen muß, im Zeichen von Idealen wie Liebe, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit, das Bubersche Prinzip der Einheit umgesetzt werden. Buber diagnostiziert in der modernen Gesellschaft eine Doppelmoral, die das menschliche Handeln bestimmt. Sie entsteht aus der Trennung zwischen öffentlichen und privaten Lebensbereichen, da diese sich in ihren Anforderungen und Gesetzen oftmals widersprechen: »Was er in dem ersten Bereich beim Mitmenschen und bei sich selber mißbilligt, billigt er im zweiten, beim Mitmenschen und bei sich selber; die Lüge degradiert den Privatmann, aber sie steht dem Parteimann wohl an, vorausgesetzt, daß sie kunstreich und erfolgreich genug gehandhabt wird. Diese Zerspaltung der sittlichen Werte ist für den biblischen Glauben unerträglich: Betrug gilt hier unter allen Umständen als schändlich […], auch wenn ihm die Absicht zugrundeliegt, der Sache der Gerechtigkeit, die einer ver-

74 Id.: Das Problem des Menschen, S. 162f. 75 Ibid., S. 66f. 76 Id.: Ich und Du, S. 52 77 Ibid., S. 52f.

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tritt, zur Herrschaft zu verhelfen, ja er ist dann am verderblichsten, weil er das Gute, dem er dienen will, vergiftet und zersetzt.«78 Diese Konflikte und Widersprüche werden durch die Gemeinde aufgehoben. Ziel ist ein klares Bild des Menschen, der durch die freie Beziehung von Ich und Du aus den gesellschaftlichen Gegensätzen und aus der Entfremdung befreit wird und sich am Ende selbst gewinnt. Dabei ist die Beziehung selbst das verwandelnde Moment. Nur durch sie wird der Mensch in den Stand gesetzt, seine Selbständigkeit wie seine Bestimmung zu wahren und voll zum Ausdruck bringen. Nur hier ist der Mensch kein »Eigenwesen« mehr, das heißt, er ist offen für andere und kann deshalb an der Wirklichkeit teilnehmen. Die vielen Widersprüche, die sich aus Bubers Denken zu ergeben scheinen – zwischen politisch-gesellschaftlicher und individueller Sphäre, aber auch auf der religiösen Ebene der Gemeindebildung, zwischen Pluralität, Interessengegensätzen und dem Ziel der Harmonie, zwischen Moderne und Tradition lassen sich nur auflösen, wenn man sich den messianischen Rahmen von Bubers Denken bewußt macht. Das Ziel ist die Verwandlung der ganzen Welt und die Aufhebung der Übel. Ohne diese Dimension verliert Bubers Dialog seinen inneren Sinn. »Die zwischenmenschlichen Beziehungen als solche haben keinen Zusammenhang, aber im ewigen Du haben sie ihren Zusammenhang. Gott als ewiges Du ist daher das Zwischen alles Zwischen, ist die ewige Mitte.«79 Bubers dialogisches Prinzip basiert auf einem unüberprüfbaren und unbeweisbaren Glauben und kann daher nur partikulare Bedeutung haben. Jenseits seiner rein weltlichen Bestimmungen – und damit gerade in seinen fundamentalen Werten und seiner Zielsetzung – ist es nur dem Glaubenden glaub- und nicht fragwürdig. Aber auch darüber hinaus hinterläßt Bubers Ansatz ein zwiespältiges Gefühl. Seine prinzipielle Offenheit für alle denkbaren Möglichkeiten, die sich aus der Gott-Mensch-Beziehung ergeben können ist allumfassend und gerade dadurch unbestimmt. Ihre Voraussetzungen sind nicht klar faßbar, sie lassen sich nicht benennen. Denkbar wäre auch ein Dialog zum Bösen, eine Vorstellung, die für Buber allerdings vollkommen abwegig wäre, weil er an die Allge-

78 Id.: Der Dialog zwischen Himmel und Erde. In id.: An der Wende. Reden über das Judentum; Köln 1952, S. 83-107, S. 93. Es wäre zu fragen, ob diese Spaltung wirklich eine moderne Entwicklung ist oder nicht vielmehr eine, die menschliches Leben schon immer bestimmt hat. Mit Blick auf die antike Tragödie läßt sich die Frage eindeutig beantworten; zugleich aber zeigt dieser Blick, daß unsere Existenz nicht so eindeutig einer einfachen Wahrheit gegenübergestellt ist wie Buber annimmt. Der Beweis, daß es die eine, umfassende Wahrheit überhaupt gibt, muß erst noch geführt werden. 79 Sung Sik Choi: Der Mensch als Mitmensch, S. 178.

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genwart eines guten göttlichen Geistes glaubt. Dieser göttliche Geist sichert eine der Welt inhärente Entwicklung zum Guten – steht damit aber der Grundbedingung einer wirklich offenen Begegnung entgegen, nach der die Dialogpartner einander direkt gegenüberstehen und ihresgleichen sind. Doch was für ein Gott wäre ein Gott, der dem Menschen gleichgestellt ist – selbst wenn dies nur durch eine übermenschliche Gnade geschieht? Denkbar wäre das nur durch Selbstentsagung, etwa wie bei Hans Jonas. Aber was ist dann die göttliche Autorität? Was bedeuten seine Werte? Und was, wenn der Mensch diese Werte, Liebe und Gerechtigkeit, bewußt ablehnt? Außerhalb des Dialoges stellt er sich damit nicht, denn ein Dialog kann sehr wohl auch von verschiedenen Grundsätzen her geführt werden und verlangt nicht unbedingt nach Einheit von Ich und Du. Wir bewegen uns hier in einer Sphäre des Wunders und der angewandten Heilserwartung, aber nicht einer konkreten, klar benennbaren und anzustrebenden Entwicklung. Bubers Erlösungsvision ist nicht – wie andere – von totalitären Zügen durchsetzt. Aber er kann sie nicht klarer beschreiben als in den folgenden Sätzen: »Gemeinschaft aber, werdende Gemeinschaft […] ist das Nichtmehrnebeneinander-, sondern Beieinandersein einer Vielheit von Personen, die, ob sie auch mitsammen sich auf ein Ziel zubewegen, überall ein Aufeinanderzu, ein dynamisches Gegenüber, ein Fluten von Ich zu Du erfährt: Gemeinschaft ist, wo Gemeinschaft geschieht.«80 Das ist Dichtung, und von ihr ist es ein weiter Weg bis zur unerlösten Welt, in der wir leben. Löwiths Menschenbild in der Unterscheidung zu Buber Löwiths Begriff des Menschen ist von Bubers religiös inspirierter Idee grundverschieden, auch wenn ihm gleichfalls ein Prinzip des Dialogs und die Idee von Ich und Du im gegenseitigen Verhältnis zugrundeliegt. Das liegt nicht zuletzt daran, daß Löwith Bubers religiöse Erfahrung von der Welt als letztlich doch geordneter göttlicher Schöpfung nicht nachvollziehen kann, sondern sie als antiquiert empfindet. Bubers Denken ist ihm, ganz wie Kierkegaard und alles existentialistische Philosophieren eine verzweifelte Antwort, ein Ableugnen der historischen Tatsache, daß sich die althergebrachte christliche Kosmologie aufgelöst hat. Heute »we are lost in the universe of modern natural science […]; existence […] is the inter-esse between theoretical thought and reality, that on which theoretical metaphysics necessarily is stranded. [...] Thus, if anything unites the philosophies of existence by a common pattern it is the negative ex-

80 Martin Buber: Zwiesprache, S. 185.

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perience that man has no definite place and nature within the natural universe.«81 Bubers Denken ist für Löwith in doppeltem Sinne nicht nachvollziehbar, denn die religiöse Glaubenswelt ist für ihn durch die moderne Weltsicht vollkommen überholt: »What failed us was not our nerve, but rather our belief in a divinely ordered universe in which man could feel himself at home, or chez soi, as it were. No social order of whatever kind, not even order plus freedom, can possibly make up for that lack of fundamental order in the universe. Hence, we have indeed ›to be‹, or exist«.82 Es ist also nicht so, daß Löwiths Methode schlichtweg nicht in Bereiche vordringt, die nur dem religiösen Fühlen offenstehen, also einen realen Mangel aufweist, weil er einen wesentlichen Aspekt der Welt ignoriert. Für Löwith ist der religiös motivierte Ansatz keine zwangsläufig menschliche Sichtweise, sondern vielmehr umgekehrt ein Symptom einer weitreichenden »Verstiegenheit« mit unabsehbaren Folgen. Auch wenn Buber die Erlösung von Gnade abhängig macht und letztlich – als Ende der herkömmlichen Geschichte – außerhalb der Geschichte plaziert, so kann sie doch auch durch menschliches Handeln herbeigeführt werden. Damit liegt sie zumindest teilweise in den Händen des Menschen, verliert also ihre außergeschichtliche Dimension und stellt ihre eigenen Anforderungen an innergeschichtliches Handeln. Die Kategorie der Verstiegenheit bemißt sich aber für Löwith nicht allein darin, messianische Utopie und menschliches Handeln in Zusammenhang zu setzen. »Verstiegen sind für Löwith überhaupt alle Gedanken, gleichgültig ob religiöser, geschichtsphilosophischer oder existentialistischer Natur, die irgendeinen Sinn in der Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit der Existenz erkennen und darin ihre Hoffnung sehen.«83 Zwar hält auch Löwith an der Idee einer absoluten Wahrheit und einem Urgrund alles Seienden fest, aber für ihn ist die existierende Welt nicht auf den Menschen ausgerichtet und der Mensch als solcher in keiner Weise von der Welt erlösungsbedürftig – oder anders: er ist vielleicht erlösungsbedürftig, aber die Hoffnung auf eine konkrete Erlösung ist nach Löwiths Ansicht bestenfalls eine Selbsttäuschung. Deshalb kann Löwith die Hoffnung auf den Durchbruch des Messianischen und die Errichtung einer ganz anderen, ebenso freien wie anarchischen Welt nicht teilen – und zwar weder als religiöse noch als politische Utopie. Daher ist für Löwith auch die existentialistische Rückkehr zu metaphysi-

81 Karl Löwith: Man between Infinities (1950). In id.: Schriften 3; S. 171-185, S. 171173. 82 Ibid., S, 174. 83 Michael Jaeger: Autobiographie und Geschichte. Wilhelm Dilthey, Georg Misch, Karl Löwith, Gottfried Benn, Alfred Döblin; Stuttgart 1995, S. 179.

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schen Antworten recht weltfremd – sie ist eine Flucht vor der Realität der menschlichen Geworfenheit und als solche kennzeichnet sie »our doctrinaire age, where people long for guidance, security, and constructive results«.84 Als solche gefährdet sie den Menschen und seine Freiheit von Grund auf. Demgegenüber verwahrt sich Löwith gegen jeden Anspruch von Außen. Zwar ist jeder Mensch von anderen in einer Rolle bestimmt, da er aber nicht auf eine Rolle festgelegt ist, sondern beliebig viele davon kombinieren und schaffen kann, wird er durch einzelne Festlegungen nicht im Sinne einer wie auch immer gearteten Einheit wesenhaft betroffen. Den eigentlichen Kern der Person, das »Ich selbst« oder das »Du selbst« macht bei Löwith das Individuum aus, das jeder Mensch in sich trägt. Durch die Menge an Verhältnissen und Möglichkeiten, die diesem Individuum offenstehen, ist es weitgehend unabhängig und dennoch grundverschieden vom Buberschen »Eigenwesen«.85 Denn das Individuum ist bei Löwith zwar in sich geschlossen und für sich, aber mittelbar durchaus umweltlichen Einflüssen ausgesetzt. Wie der Mensch »ist«, wird nach Löwith daher nicht nur von seinen Lebensumständen oder dem Kontakt zu Mitmenschen, sondern auch von der Natur als solcher beeinflußt. Dabei gibt es unendliche Möglichkeiten, die weit über die des »Eigenwesens« hinausreichen, das letztlich eine, wenn auch gefallene, Seele darstellt, die noch immer einen Bruchteil der absoluten Wahrheit eines ewigen Du in sich trägt. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Löwith von »three different orders of the human condition«86 spricht: »the men of material or worldly power, the men of spirit, and the men of holiness. […] These three orders of greatness constitute a discontinuous hierarchy […]. Thus man’s ›disproportion‹ in the universe does not imply the absence of any order, but rather indicates a discontinuous order evidenced by three different and yet analogical kinds of greatness. Man’s aspiration toward greatness is, however, inseparable from man’s essential misery, deficiency, and want. It is the mark of man’s excellence that, whatever possessions and gifts he may have, he is never satisfied with his condition.«87 Löwith orientiert sich an dem, was er als natürlich erlebte Welt, als Kosmos versteht – das Vertrauen auf einen deus ex machina ist für ihn ein Wunderglaube, der weder in der Politik noch in der Wissenschaft etwas verloren hat. Da er diesen Gott ausschließt, verbindet er auch mit dem Beziehungsakt andere Erwartungen: Im Gegensatz zu Buber ist das Versprechen, über eine Beziehung

84 Karl Löwith: Man between Infinities, S. 177. 85 Anders als etwa Sung-Sik Choi annimmt, vgl. Der Mensch als Mitmensch, S. 187 86 Karl Löwith: Man between Infinities, S. 182. 87 Ibid., S. 182f.

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wahre Selbständigkeit, Unabhängigkeit oder gar eine höhere Daseinsform zu erlangen, für Löwith unsinnig. Gerade als soziales Wesen ist der Mensch noch in einem ganz anderen Grade unselbständig als nur als natürliches Geschöpf. Sobald der Mensch in eine Beziehung eintritt, gibt er seine Selbständigkeit graduell auf: weil er eine Rolle übernimmt, aber auch, weil er sich zu einem anderen verhält und auf ihn eingeht. Das bedeutet nicht, daß er sich dabei keine eigene, abgehobene Welt schaffen kann – aber diese Welt hat grundsätzlich keinen übergreifenden Anspruch auf Wahrheit oder Erlösung. Bei Buber, für den diese Welt keine eigene, sondern von dem Geist des »Du« – in letzter Konsequenz also von Gottes Geist – durchdrungen ist, ist das ganz anders. Damit erfüllt Löwith seinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und Neutralität, ein Anspruch, den Buber nicht teilen kann und auch gar nicht teilen will. Sein Erkenntnisanspruch geht in eine ganz andere Dimension als der Löwiths: »Erlaubt ist der Wissenschaft nur der Hinblick auf die Grenze. Ihr Denken steht unter der Herrschaft des Satzes des Widerspruchs, in ihr verselbständigen sich die einzelnen Seelenkräfte und Geistessphären. Demgegenüber ist die religiöse Welterfassung ein Erkennen anderer Art, […] in einem Innewerden aus Verbundenheit, einer Bezogenheit des ganzen Wesens, in einem lebendigen Zusammenhang, der keine Scheidung kennt, kein Abstrahieren von der konkreten Situation.«88 Diese Sichtweise führt dazu, daß Löwith einen offenen Gegensatz sieht zwischen den menschlichen Versuchen, Ordnung und Zivilisation zu schaffen und dem natürlichen Gesetz des Werdens und Vergehens. In der Wechselwirkung dieser Ordnungen liegt für ihn der Kreislauf der Menschenwelt: »Alle Geschichtserfahrung bezeugt jedoch, daß die Menschen für ihr Zusammenleben, im engsten oder auch weitesten Umkreis, zwar darauf angewiesen sind, daß es eine gemeinsame Ordnung gibt, deren Autorität und Gerechtigkeit allgemein anerkannt wird, aber nicht minder zeigt die Geschichte, daß jede solche Rechtsordnung von relativer Dauer ist, durchbrochen wird, sich auflöst und immer wieder von Neuem hergestellt werden muß, ohne jemals an ein Ende zu kommen, worin sich der Fortgang der Geschichte erfüllt.«89 Vor diesem Hintergrund kann der Glaube an die eine Offenbarung oder der an eine bestimmte göttliche Bestimmung zwar als zeitlich und räumlich begrenzte Legitimation dienen, als Zeugnis für eine angebliche kosmologische Wahrheit aber hat er keine Berechtigung – wie überhaupt der Wahrheitsbegriff als Legitimations- und Ordnungsinstrument in der Menschenwelt fehl am Platze ist. Da es Löwith allerdings mit der Philoso-

88 Hans Kohn: Martin Buber, S. 282. 89 Karl Löwith: Curriculum Vitae. In id.: Schriften 1; S. 450-462, S. 459.

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phie sowohl um die Selbstauslegung des Menschen als auch um die Erkenntnis der kosmischen Gesetze geht, gilt für ihn nicht das religiöse, sondern »nur das anthropologische ›Fundament‹ der Philosophie als das wahrhaft glaubwürdige, […] das fundierende oder grundlegende, verständliche und fragwürdige«.90 Löwith muß das Bubersche Einheitsideal schlichtweg als überholtes, romantisch-klassizistisches Ideengut gegolten haben.91 Auch wenn Löwith Bubers Schriften vermutlich frühestens in den 30er Jahren zur Kenntnis nahm, geht er in seinem späteren Denken indirekt auf dessen dialogisches Denken ein, indem er eine Kritik zur religiösen Sprachphilosophie formuliert. Es sei gleich vorausgeschickt, daß diese Kritik Löwiths Buber nur teilweise treffen kann, weil sie nicht auf dem Boden des Judentums, sondern des Christentums steht. Dennoch ist sie relevant, gerade wenn es um die Bedeutung von Sprache und die Beziehung zu Gott geht. Für Löwith beginnen die Schwierigkeiten bereits dort, wo Gott in eine Beziehung mit dem Menschen treten will. Kann »der Mensch überhaupt etwas offenbart bekommen und darauf antworten […], wenn diese Offenbarung nicht auch zu seinen menschlichen Sinnen und in menschlicher Sprache spricht und also auf uns abgestimmt ist und nicht wie etwas gänzlich Anderes und Fremdes in das Eigene hereinbricht?«92 Löwith diagnostiziert hier eine »fundamentale Verlegenheit« des Gläubigen – der gefallene Mensch soll in Beziehung zu Gott treten, kann es aber nicht, weil er gefallen ist und Gott nicht fassen kann.93 Eine rein göttliche, theo-logische Sprache bleibt dem Menschen unverständlich. Gott kann, nach Löwith, nur an seinem Wirken in der Welt, einer natürlichen Offenbarung der Schöpfung erkannt werden: »Denn wie sollten sich Sache und Sage wahrhaft entsprechen können, wenn nicht […] vorausgesetzt wird, daß das Ganze der Welt eine göttliche Schöpfung ist und der Mensch ein alter Deus, dessen Sprache und Geist dem welterschaffenden göttlichen Wort wesentlich korrespondiert, so daß der Mensch als Gottes Ebenbild fähig ist, die in der Schöpfung explizierten Gedanken Gottes nachzudenken und auszusprechen und im

90 Id.: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (1928). In id.: Schriften 1; S. 9197, S. 17. 91 Vgl. eine frühe Rezension Löwiths, in der er die »Leitidee einer vollendeten Einstimmigkeit« auf diese Weise definiert. Karl Löwith: Drei Rezensionen (1926-1930) [Besprechung des Buches Rasse und Seele seines Studienkollegen Ludwig Ferdinand Clauss (1926)]. In id.: Schriften 1, S. 198-218. S. 202. 92 Id.: Die Sprache als Vermittler von Mensch und Welt (1958). In id.: Schriften 1; S. 349-372, S. 354. 93 Ibid., S. 349.

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›Buch‹ der Natur zu lesen, das wie die Bibel von Gott verfasst ist, weshalb auch alles sinnlich Erfahrbare eine gleichsam göttliche Rede ist. Nur wenn sich alles, was ist, dem schöpferischen Wort Gottes verdankt und der Mensch Gottes Fürsprecher ist, hat auch die Sprache des Menschen onto-theologische Relevanz, andernfalls ist sie ein menschliches Instrument.«94 Buber wird von diesem Einwand zunächst nicht getroffen, weil er zur Gotteserkenntnis auf die direkte »Begegnung« setzt, die Züge eines Wunders trägt. Für Buber ist die Sprache des Menschen zumindest göttlich inspiriert und besitzt damit mehr als nur die bloße Fähigkeit, Wahrheit zu übermitteln, Grenzen zu überschreiten und Einheit zu stiften – sie ist für ihn ein göttliches Medium der Wahrheit, und als solches ist sie zwangsläufig wahr. Löwith sieht dies im Rückgriff auf die griechische Philosophie kritischer. Wie Parmenides definiert er die Bezeichnungen der Dinge als »bloße Namen«95 und fügt Platons Kritik von Sprache und Rede an: »Besonders wenn eine Rede einmal aufgeschrieben ist, heißt es im Phaidros, treibt sie sich allerorten herum, bei den Verständigen nicht minder als bei den Unverständigen, und weiß nicht, zu wem sie eigentlich reden oder nicht reden soll; sie vermag sich weder zu wehren noch zu helfen.«96 Wenn Buber sich zur Fundierung seines dialogischen Konzepts auf die Sprachphilosophie des 19. Jahrhunderts, insbesondere auf die Humboldts, beruft, so weist Löwith diesen Versuch als unzulässig zurück, da Humboldt eben nicht mehr die göttlichen Offenbarung als Ausgangspunkt habe, »sondern ausschließlich die vom Menschen erfahrene und zur Sprache gebrachte Welt«97 – ein Argument, mit dem Löwith zugleich erklärt, warum er für sich selbst in Humboldt eine ideale Bezugsperson sieht. Sprache transportiert für Löwith keine höhere Wahrheit, »sondern die beständig wandelbare Erzeugung der Aussprache der Menschheit über sich selbst und die Welt«, das heißt, sie ist nicht universal, sie bringt lediglich »eine Ansicht der Dinge zur Sprache«.98 Sie ist für Löwith eben keine messianische Kategorie mit universalem Anspruch. Wäre dem so, wäre die Bedeutung der Sprache eine völlig andere: »Die Bedeutung der Sprache liegt dann nicht darin, daß sie den Menschen mit seinesgleichen und mit der Welt vermittelt, sondern darin, daß Gott zum Menschen gesprochen hat – einmal für immer.«99

94 Id.: Hegel und die Sprache (1965). In id.: Schriften 1; S. 373-398, S. 392. 95 Id.: Die Sprache als Vermittler, S. 355. 96 Ibid., S. 357. 97 Ibid., S. 359. 98 Ibid., S. 360. 99 Ibid., S. 370.

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Die Eigenschaft der ständigen Wandelbarkeit ist es, die Sprache in Löwiths Augen so unverbindlich macht. Überzeugender wäre für ihn eine Auffassung, die auf unveränderlichen Werten, auf Wahrheiten, auf einer Ethik beruht. Deshalb bezieht sich Löwith in einem Vortrag positiv auf Hermann Cohen – was auch als Kritik an Buber gelesen werden kann. Gott stellt er hier nicht als einen wandelbaren Gesprächspartner oder Verhältnisbegriff dar, sondern als ein unveränderliches Prinzip der Schöpfung: »Der eine einzige Gott der jüdischen Religion ist, was er ist, im Verhältnis zum Menschen, zur Menschheit und zu jedem Menschen. Sein Wesen besteht in dieser ›Korrelation‹.«100 Mit dieser Definition »verbindet [Cohen] nicht nur beide wechselseitig, sondern bewahrt in dieser Verbindung ihren unüberbrückbaren Abstand. […] Es gibt eine Ferne und eine Nähe zu Gott, aber auch in der größten Nähe bleibt Gott ewig fern.«101 Diese Gottferne erlebt Löwith in der Auseinandersetzung mit der Welt, in der er keine wie auch immer geartete Offenbarung Gottes zu erkennen vermag: »Denn was ist offenkundiger für den redenden und fragenden Menschen als die Stummheit der Welt, deren Schweigen um so beredter ist, als der Mensch auf seine Fragen von ihr keine Antwort erhält? Welt und Mensch – ohne Gott als gemeinsamen Schöpfer – entsprechen sich nicht, weil nur der Mensch an die übermenschliche Welt einen Anspruch stellt.«102 Daher kann er nicht, wie Cohen, von einer wirklichen Korrelation und einem engen Band zwischen Gott und dem Menschen ausgehen. Die Vorstellung von relevanten göttlichen Attributen, die nicht objektivierbar und beschreibbar sind, bleibt Löwith fremd;103 es ist ihm unmöglich, von Beziehungen auszugehen, die über die Grenzen der wirklich existierenden und erfahrbaren Welt hinausreichen. Solche Beziehungen sind für ihn schlicht »verstiegen«: »In Wahrheit ist der Glaube an Schöpfung und Offenbarung […] nicht die andere Möglichkeit zur Anerkennung des von Natur aus bestehenden Weltalls, sondern von ihr so verschieden wie ein historisch datierbares, literarisches Dokument von einem alltäglich sichtbaren Phänomen, dem Phänomen schlechthin: daß überhaupt eine Welt ist. Die biblischen Geschichten von der Erschaffung der Welt und von Gottes Offenbarung sind keine mögliche Alternative zu dem beständigen Entstehen und Vergehen von Weltsystemen und

100 Id.: Philosophie der Vernunft und Religion der Offenbarung in H. Cohens Religionsphilosophie (1968). In id.: Schriften 3; S. 349-383, S. 365. 101 Ibid. 102 Id.: Hegel und die Sprache, S. 392f. 103 Zu Cohens Haltung vgl. Peter Eli Gordon: Rosenzweig and Heidegger. Between Judaism and German Philosophy; Berkeley 2003, S. 61ff.

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dem Entstehen und Vergehen des Menschengeschlechts«104. »Keine mögliche Alternative« ist daher auch der Gedanke, daß sich eine wie auch immer geartete göttliche Heiligkeit in der Menschenwelt realisieren könnte, wie abstrakt man diese Realisierung auch immer formuliert. Allerdings bestimmt Religion die menschliche Existenz allein schon deshalb, weil der Erlösungsgedanke in seiner säkularisierten Variante die moderne Gesellschaft und ihr Streben nach Vervollkommnung beherrscht. Der Mensch trägt den Wunsch nach dem Absoluten in sich – sei es nun der nach der absoluten Wahrheit, nach dem absoluten Glück oder der scheinbar unverdächtige nach dem absolut Anderen. »Keiner kann einen Tag verbringen oder eine Nacht durchträumen, ohne daß die Idee der Erlösung in irgendeiner Form über ihn kommt und ihn sein Harren und Warten spüren läßt auf den großen Übertritt. In jeder Religion, in jedem politischen Programm, in der Gleichheitsparole der Verfassungspräambeln und im Ungleichheitsgeschrei der Nationalisten und Fundamentalisten steckt das Gift dieser Idee. Sie ist das endogene Opium des homo sapiens.«105 Auch bei Löwith ist diese Hoffnung auf ihre Weise durchaus präsent – das Streben nach Wahrheit hat er nie aufgegeben und auch bei ihm kehrt am Ende, im Rekurs auf Platon, ausgerechnet der Gemeinschaftsbegriff Bubers in veränderter Form zurück: »Nur aus dem fortgesetzten Bemühen in Gemeinschaft mit Gleichgesinnten trete eines Tages die letzte Einsicht in das Wesen der Dinge plötzlich hervor und entzünde wie ein abspringender Funke ein Licht, das sich dann durch sich selbst ernährt. Eine Art wortlose Erleuchtung, wie sie von allen Weisen des Ostens bezeugt wird.«106 Der Unterschied ist aber auch klar: Buber kennt das unumstößliche Fundament seiner Gemeinde und seines Glaubens. Er ist, wo er sich als Philosoph, aber auch als Lehrer begreift, darin Nietzsche nahe, daß er weiß: »so soll es sein!«107

104 Karl Löwith: Philosophie der Vernunft, S. 382f. 105 Peter von Matt: Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur; München 1997, S. 307. 106 Karl Löwith: Hegel und die Sprache, S. 376f. 107 Vgl. Friedrich Nietzsche: »Ich bestehe darauf, dass man endlich aufhöre, die philosophischen Arbeiter und überhaupt die wissenschaftlichen Menschen mit den Philosophen zu verwechseln […]. Es mag zur Erziehung des wirklichen Philosophen nöthig sein, dass er selbst auch auf allen diesen Stufen einmal gestanden hat, auf welchen seine Diener, die wissenschaftlichen Arbeiter der Philosophie, stehen bleiben, – stehen bleiben m ü s s e n ; er muss selbst vielleicht Kritiker und Skeptiker und Dogmatiker und Historiker und überdies Dichter und Sammler und Reisender und Räthselrather und Moralist und Seher und ›freier Geist‹ und beinahe Alles gewesen

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Im Gegensatz zu Löwith wurzelt Martin Buber in einer religiösen Vorstellung, die ein menschliches Miteinander erst begründen soll – aber nach Löwiths Auffassung utopisch ist. Unabhängig von dieser Einschätzung zeigen schon die vorangegangenen kritischen Bemerkungen zu Buber, daß seine Auffassung nicht unproblematisch ist. Weil er aber bei alledem auf dem festen Boden einer klaren – und vor allem einer menschlichen – Ethik steht, kann man Buber bei aller Schwärmerei für das Führertum eines Stefan George, bei aller – vorübergehenden – Kriegsbegeisterung im ersten Weltkrieg, selbst bei der Unklarheit über den konkreten Inhalt seiner Utopie wie über den Weg dahin nicht den Vorwurf machen, in totalitären Bahnen zu denken. Denn Buber bleibt auf göttliches Wirken, auf ein Wunder angewiesen, um seine Utopie Realität werden zu lassen – es ist nicht der Mensch, der den Weg dorthin bestimmt. Aber vor allem ist Buber in einem Punkt ganz unmißverständlich: Seine Gemeinschaft ist keine zwanghaft homogenisierte, »gesunde« Volksgemeinschaft – sie ist eine Einheit, die sich erst durch und in Pluralität verwirklicht. Sie ist nicht per definitionem ausschließend und exklusiv, sie ist kein Gegeneinander von Gruppen oder Individuen, sie basiert nicht auf dem Kampf, sondern auf dem Miteinander. »Gemeinschaft aber, werdende Gemeinschaft (nur die kennen wir bislang) ist das Nichtmehr-nebeneinander-, sondern Beieinandersein einer Vielheit von Personen, die, ob sie auch mitsammen sich auf ein Ziel zubewege, überall ein Aufeinanderzu, ein dynamisches Gegenüber, ein Fluten von Ich zu Du erfährt: Gemeinschaft ist, wo Gemeinschaft geschieht. Die Kollektivität gründet sich auf einem organisierten Schwund der Personhaftigkeit, die Gemeinschaft auf ihrer Steigerung und Bestätigung im Zueinander.«108

sein, um den Umkreis menschlicher Werthe und Werth-Gefühle zu durchlaufen und mit vielerlei Augen und Gewissen, von der Höhe in jede Ferne, von der Tiefe in jede Höhe, von der Ecke in jede Weite, blicken zu k ö n n e n . Aber dies Alles sind nur Vorbedingungen seiner Aufgabe: diese Aufgabe selbst will etwas Anderes, – sie verlangt, dass er W e r t h e s c h a f f e . […] D i e e i g e n t l i c h e n Ph i l o s o p h e n a b e r s i n d B e f e h l e n d e u n d G e s e t z g e b e r : sie sagen ›so s o l l es sein!‹, sie bestimmen erst das Wohin? und Wozu? des Menschen […] – sie greifen mit schöpferischer Hand nach der Zukunft, und Alles, was ist und war, wird ihnen dabei zum Mittel, zum Werkzeug, zum Hammer. Ihr ›Erkennen‹ ist S c h a f f e n , ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist – W i l l e z u r M a c h t .« (Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft; Aphorismus 211. Leipzig 1903, S. 160-162) 108 Martin Buber: Zwiesprache, S. 185.

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Dennoch sind die Mißtöne, die sich bei Buber finden, kein Zufall. Wie kurz der Weg ist, der von diesem ethischen Anspruch zu einem neuen Denken mit potentiell grauenhaften Resultaten führt, wird sich bei einem Blick auf Bubers Kollegen und – bei allen Unterschieden – Mitstreiter Franz Rosenzweig zeigen. Leo Strauss Löwith teilt diese Überzeugung nicht – hingegen weiß er sich, auch aufgrund der gemeinsamen Lebenserfahrungen, in diesem äußerst wichtigen Punkt vollkommen einig mit Leo Strauss. Beide sind im Herzen zutiefst skeptische Denker; auch wenn Strauss im Gegensatz zu Löwith gläubiger Jude war, teilen sie doch den kulturellen Hintergrund, gingen nur widerwillig ins Exil und sind beide zutiefst von dieser Exilerfahrung geprägt: Leo Strauss sah in ihr ein Paradigma für den modernen Menschen an sich – und für den Philosophen umso mehr: er sei »in an permanent state of exile because he of necessity lives in two places at once and for this reason is never entirely at home. While the philosopher lives in society, his ultimate dwelling lies in the homelessness of his philosophical quest. But this cuts both ways.«109

109 Leora Batnitzky: Leo Strauss and Emmanuel Levinas. Philosophy and the Politics of Revelation; Cambridge 2006, S. 170. Batnitzky sieht darin den entscheidenden Anstoß für Strauss’ Skeptizismus: »It is this philosophical insight […] that propels the skeptical philosopher to recognize the limits, political, moral, and philosophical, of his own skepticism.« (Ibid., S. 168). In diesem Sinne schrieb Strauss auch 1933 an Löwith: »Es gibt hier nur eine Lösung. Wir müssen uns immer wieder sagen: wir ›Männer der Wissenschaft‹ – so nannten sich unseresgleichen im arabischen Mittelalter – non habemus locum manentem, sed querimus«. Löwiths direkte Antwort auf diese Stelle zeigt, daß für ihn die Exilerfahrung persönlich mindestens ebenso einschneidend war, daß er aber die »wissenschaftliche« Haltung, die Strauss hier ansprach, ebenso bejahte: »Was Sie über unser ewiges Emigrantenschicksal sagen leuchtet mir nur zum Teil ein […] und wenn ich auch nicht im völkischen Sinn ›bodenständig‹ bin so weiss ich mich doch so sehr zu Deutschland gehörig dass ich es als Entwurzelung empfinden würde Emigrant zu sein. Das schliesst nicht aus, dass ›wir Männer der Wissenschaft‹ das ›Vorhandene‹ transzendieren und keinen locum manentem haben, sondern fragen.« (siehe die Briefe von Leo Strauss an Karl Löwith vom 14.V.1933 und von Karl Löwith an Leo Strauss vom 28.V.1933 in Leo Strauss: Gesammelte Schriften Bd. 3 (ed. Wiebke und Heinrich Meier); Stuttgart 2001, S. 607-697, S. 625f.)

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Löwith und Strauss treffen sich in dieser Lebenserfahrung und auch in ihrer Herangehensweise an die Wissenschaft – nichts anderes meint Löwith, wenn er gegen »radikale Lösungen« polemisiert: »Stattdessen habe ich eingesehen, daß gerade die ›radikalen‹ Lösungen gar keine Lösungen sind, sondern blinde Versteifungen, die aus der Not eine Tugend machen und das Leben vereinfachen. Das Leben und Zusammenleben der Menschen und Völker ist nicht von der Art, daß es durchführbar ist ohne Geduld und Nachsicht, Skepsis und Resignation, d.h. ohne das, was der heutige Deutsche als unheroisch verneint, weil er für die Hinfälligkeit alles menschlichen Treibens überhaupt keinen Sinn hat.«110 Diese persönliche wie wissenschaftliche Skepsis Löwiths ist bei ihm ebenso wie bei Leo Strauss Ausdruck einer verinnerlichten liberalen Haltung der Weltoffenheit – und nicht des Dogmatismus und einer Orientierung an kurzfristigen Lösungen. Sie steht jenseits des Liberalismus als politischer Ideologie, dem Strauss und Löwith ebenfalls mehr als kritisch gegenüberstanden; aber sie ist der Anspruch einer »liberal education, which at its core is fundamentally transnational as well as transpolitical. [...] While liberal education cannot provide political solutions, it can and should provide a clear-sighted view of the world and its problems that may, outside of the university, lead to practical solutions. But liberal education’s contribution to practical solutions may be more negative than constructive. What the university offers is an opportunity to think through problems in their complexity rather than to provide their solutions.«111 Auch aus dieser Perspektive heraus ist es nur konsequent, daß sowohl Löwith wie Strauss eine sehr eindeutige Antwort geben auf die »well-known question ›Progress or Return?‹ ›neither‹.«112 Es ist diese menschlich-philoso-

110 Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht; Stuttgart 1986, Seite 139. 111 Leora Batnitzky: Leo Strauss and Emmanuel Levinas, S. 179f. 112 Ibid., S. 207. Löwith beantwortet diese Frage, die für ihn eine nach der Hoffnung der irdischen Existenz ist, wörtlich so: »Zur Frage steht deshalb nicht, ob bedingungsloser Glaube und Hoffnung durch ihre relative Vernünftigkeit zu rechtfertigen sind, sondern ob ein bedingungsloser Glaube und eine bedingungslose Hoffnung in einen Menschen gesetzt werden können oder allein in Gott und den Gottmenschen. Hoffnung ist nur durch Glauben gerechtfertigt und dieser rechtfertigt sich selbst. […] Es ist eine zynische Wahrheit, aber nichtsdestoweniger eine Wahrheit, daß auf Zerstörungen Wiederaufbau und auf Massenmorde höhere Geburtsraten folgen. Auf der Ebene der erkundbaren Geschichte würde es in der Tat unvernünftig sein zu erwarten, daß z. B. ein Atombombenkrieg ein für allemal den Zivilisationsprozeß, d. h. die menschliche Aneignung der Welt durch konstruktive Zerstörungen, beendigen wird.

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phische Haltung, die beide Denker über Theorien und konkrete Analysen hinweg eint – und diese Haltung ist damit ein ganz praktisches Beispiel für die bescheidenen Vorzüge skeptischen Denkens: der Versuch einer gründlichen Problemanalyse; die Distanzierung von vermeintlich einfachen, schnellen Lösungen; die Akzeptanz und Achtung abweichender Meinungen, die aus dem Wissen um die Komplexität der Dinge erwächst. So sieht auch Leora Batnitzky den dauernden Verdienst von Leo Strauss nicht in seinen Lösungsansätzen, sondern in der Lehre, die aus dieser skeptischen Haltung heraus entspringt: »there are practical solutions and there is always the need for human action. Yet any solution comes with a cost. [...] And Strauss’s enduring importance as a thinker more generally is precisely his insistence on considering fully the implications and meanings of different practical solutions.«113 Zweifelsohne gilt das auch für Löwith. Denken ist demzufolge ein beständiges Aufmerksammachen – nicht nur auf vermeintliche Lösungen, sondern vor allem auf die Illusionen und Schwierigkeiten, die mit unseren Hoffnungen einhergehen. Die Aufforderung, immer unsere Lösungen und Hoffnungen kritisch zu hinterfragen ist es, was wir auch von Löwith lernen können. Und noch ein ganzes Stück mehr: Denn hinter seinem Denken steht die Erkenntnis, daß wir solche Lösungen überhaupt nur in einem offenen Dialog mit anderen entwickeln können – nicht, indem wir uns auf den Boden der Religion oder einer Ideologie stellen, auch dann nicht, wenn wir uns nur auf unsere eigene Urteilskraft verlassen. Wir müssen, wie Löwith es über Overbeck sagt, erkennen, »daß wir Menschen überhaupt nur vorwärts kommen, indem wir uns von Zeit zu Zeit in die Luft stellen und daß unser Leben unter Bedingungen verläuft, die uns nicht gestatten, uns dieses Experiment zu ersparen.«114 »Von diesem Standpunkt aus […] hat Overbeck seine Stellung zwischen der Kultur und dem Christentum eingenommen. Es fehlte ihm zu seiner Aufgabe einer Kritik der Theologie und des Christentums ›jeder Stachel eines ernsten Christen- oder Religionshasses‹, es fehlte ihm aber ebensosehr die unbedingte

Um jedoch konsequent zu sein, müsste das Vertrauen in die ›Kontinuität‹ der Geschichte zu der klassischen Theorie einer kreisförmigen Bewegung zurückkehren; denn nur unter der Voraussetzung einer Bewegung, die ohne Anfang und Ende ist, ist Kontinuität wirklich erweisbar.« (Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie (1949/1953). In id.: Schriften 2; S. 7-239, S. 220-222) 113 Leora Batnitzky: Leo Strauss and Emmanuel Levinas, S. 207f. 114 Karl Löwith: Atheismus als philosophisches Problem (1967). In id.: Schriften 3; S. 331-347, S. 346.

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Bejahung der Weltlichkeit, die den Atheismus von Strauß, Feuerbach und Bauer leichtfertig macht. Dieser doppelte Mangel ist Overbecks menschlicher und wissenschaftlicher Vorzug, der ihn vor allen Angreifern und Apologeten, wie Nietzsche und Kierkegaard, auszeichnet.«115 Es ist diese Haltung, die – jenseits einer politischen Festlegung – das Fundament einer offenen, pluralen und nicht zuletzt freien und demokratischen Gesellschaft darstellt. Es scheint heute wieder sehr notwendig, daran zu erinnern – und auch daran, daß diese Haltung sich ableitet »from the recognition that no individual (or group) alone (including philosophers) has access to the final truth.«116 Jenseits dieser ganz grundlegenden Übereinstimmung hat Leo Strauss Löwiths Anthropologie in vielen Punkten widersprochen. Ein Beispiel dafür ist der Essay What is Political Philosophy?, in dem Strauss die Aufgabenstellung der Sozialwissenschaften »to understand the most concrete human relation, and that relation is called the I-Thou-We relation«117 kritisiert. Strauss weist darauf hin, daß diese so bezeichnete Beziehung nichts anderes sei als Freundschaft im klassischen Sinne. Eine solche Freundschaft ist aber ein hochgradig individuelles Verhalten, über das sich für Strauss überhaupt nicht in objektivierender Weise sprechen läßt: »By speaking of ›the Thou‹ instead of ›the friend,‹ I am trying to preserve in objective speech what cannot be preserved in objective speech; I am trying to objectify something that is incapable of being objectified. [...] Hence I do injustice to the phenomena; I am untrue to the phenomena; I miss the concrete. While attempting to lay a foundation for genuine human communication, I preserve an incapacity for genuine human communication.«118 Auch wenn diese Kritik sich nicht namentlich auf Löwith bezieht, wendet sie sich gegen entscheidende Lücken in Löwiths Anthropologie. In der Tat gelingt es Löwith nicht, überzeugend zu erklären, warum und unter welchen Voraussetzungen eine Beziehung zwischen Ich und Du entsteht; sie geschieht in einer Welt des Zufalls und ist selbst nicht minder zufällig. Auch wenn man bereit ist zuzugestehen, daß diese Beziehung – so wie eine Freundschaft auch – einen Menschen in entscheidender Weise prägt, bleiben die Me-

115 Id.: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts. In id.: Schriften 4; S. 1-490, S. 483. 116 Leora Batnitzky: Leo Strauss and Emmanuel Levinas, S. 215. 117 Leo Strauss: What Is Political Philosophy? In id.: What Is Political Philosophy? And Other Studies; Chicago 1988, S. 9-55, S. 28. 118 Ibid., S. 29.

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chanismen dieser Prägung unklar; so wie das »Ich selbst« und das »Du selbst« ist auch ihr Verhältnis mehrdeutig, nicht vollständig faßbar und damit rätselhaft. Doch das muß nicht unbedingt bedeuten, daß Löwiths Darstellung unzutreffend ist. Selbst wenn sie das Bedürfnis nach Klarheit und Eindeutigkeit nicht gänzlich befriedigt, ließe sich mit guten Gründen anführen, daß Mehrdeutigkeit und Unklarheit zur Natur des Menschen gehören, weil dieser von vielen Variablen abhängt, seine ihm eigenen Schwächen besitzt und sich auf dieser Basis in viele Richtungen entwickeln kann. Auch die jeweilige Erkenntnis des anderen bleibt eine bruchstückhafte Interpretation. Die von Strauss bemängelte Verfehlung des Konkreten wäre dann nicht nur Methode; sie wäre gerade das Anzeichen einer Interpretation des Menschseins, die der Natur des Menschen nahekommt und dem Menschen eine Freiheit einräumt, die in dem Moment verlorengeht, in dem man den Menschen objektivierend als rein gesellschaftliches oder politisches Wesen bestimmt. Im Sinne dieser Bestimmung ist auch zu berücksichtigen, daß die Kritik, die Leo Strauss übt, noch tiefer geht. Der Vorwurf, dem Phänomen menschlicher Beziehungen nicht gerecht zu werden, legt den Verdacht nahe, daß das von Löwith so herausgestellte »eigentliche Miteinandersein« zwischen Ich und Du gerade nicht das für den Menschen typische Verhalten ist. Interessanterweise würde Löwith diesem Vorwurf wahrscheinlich sogar zustimmen. Auch nach seiner Vorstellung ist die eigentliche Beziehung zwischen Ich und Du zwar das für uns wichtigste Verhalten, aber nicht dasjenige, das normalerweise unsere Verhältnisse in der Gesellschaft kennzeichnet. Denn in der Regel wird unser Verhalten durch die Rollenbeziehungen vorgegeben. Zumeist bewegt sich der Mensch in Funktionsbeziehungen: er füllt eine Rolle aus, er ist zu etwas da, und wer ihm begegnet, hat gleichfalls eine Funktion und ist zu etwas da. Theoretisch ist das zwar ein Mißbrauch – da dennoch in jeder dieser Beziehungen das Potential zu einem wirklichen Miteinandersein liegt, gibt es die Freiheit, diesen Mißbrauch aufzuheben. Es liegt an uns. In jedem Fall wird das eigentliche Potential des Menschen erst im eigentlichen Miteinandersein geweckt: hier zeigt und erfährt sich der Mensch in dem, was ihn besonders prägt und was ihn vor allen anderen Lebewesen besonders auszeichnet. Daher bezeichnet es die Sonderstellung des Menschen. Gerade weil die eigentliche Beziehung zwischen Ich und Du für den Menschen eine so große Ausnahme ist, reicht ihre Bedeutung tief in unsere Persönlichkeit hinein und bestimmt damit auch unser gesellschaftliches Verhalten. Deshalb wäre es zu einfach, in Löwiths Überlegungen nicht mehr zu sehen als ein rein theoretisches Fragen nach »der Wahrheit«. Die Frage nach der »gesell-

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schaftstheoretischen Perspektive«119 ist vollkommen legitim; die Annahme, diese Perspektive sei bei Löwith nicht zu finden, geht allerdings fehl. Denn natürlich hat Löwiths Denken auch eine gesellschaftstheoretische Relevanz, auch wenn sich Löwith nicht explizit der Gesellschaftstheorie widmet oder ein bestimmtes Gesellschaftssystem rechtfertigen beziehungsweise begründen möchte. Löwith bemüht sich, unabhängig von den Erlösungs-, Erweckungs- und Untergangsbewegungen seiner Zeit – sei es der Sozialismus, der Faschismus oder der technische Fortschritt, der den Menschen und die Natur zu überwältigen droht – eine eigene Position zu finden, ohne dabei ein gänzlich neues System zu schaffen. In diesem Sinne bieten seine Betrachtungen Ansatzpunkte für die Kritik herrschender Vorstellungen und machen die Ableitung von gesellschaftlich bedeutsamen ethischen oder moralischen Bestimmungen möglich. Von der religiösen Utopie zum »neuen Denken« Nun kritisiert Löwith nicht nur den Führungsanspruch der Radikalen; viel bedeutsamer ist für ihn, daß sie entgegen der Wortbedeutung gerade nicht über die notwendigen Wurzeln verfügen, die für eine wirklich substanzvolle Position vonnöten sind, von Führung ganz zu schweigen. Stattdessen ist ihr Verständnis von Revolution ein »Glaube aller derer, welche gerne Etwas nicht mehr müssen«.120 In diesem Sinne folgt Löwith Overbeck nicht völlig; er gibt nicht jede

119 Eckart Goebel: Der engagierte Solitär, S. 46. 120 Jacob Burckhardt über die Protestanten. Vgl. id.: Historische Fragmente; Nördlingen 1988, S. 130. Vgl. auch Karl Löwiths Sicht auf Luther als einen nicht minder radikalen Vorgänger Nietzsches: »Actually the classic culture has only survived insofar as it has been assimilated on Roman soil by the Christian Church. Compared with puritan New England, Catholic Italy is a pagan country; Rome, where almost every Christian church is built in and upon a pagan temple, demonstrates this assimilation most strikingly. It is all a ›Santa Maria sopra Minerva‹. This material and spiritual synthesis of Christianity and antiquity was broken up by Luther, a man as great as he was unintellectual. The Reformation alienated us from antiquity by rediscovering the old contradiction between Christianity and paganism. In his protest against the medieval synthesis of Christian faith and Greek philosophy, Luther took St. Paul without his Hellenism and Augustine without his Platonism. But what else is Nietzsche’s decision between Christ and Dionysos than a last consequence of Luther’s separation between the two great sources of European civilization, in spite of his understanding of the Reformation as a destructive revolt against Western tradition? He could not help remaining a Lutheran Protestant and a classical philolo-

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Basis auf und stellt sich restlos »in die Luft«. Löwiths Standpunkt bleibt ist das menschliche Miteinander, dessen Gesetze, insbesondere das Leiden des Menschen, ebenso wie die Idee des Menschen für Löwith im wesentlichen unveränderlich durch die Zeiten bestehen bleiben und daher zu »ewigen« Wahrheiten taugen. Damit bleibt Löwith einer humanistischen und im klassischen Sinne liberalen Traditionslinie verhaftet. Löwith selbst benennt seinen Standort; es ist »der liberale deutschjüdische Standpunkt, auf dem fast hundert Jahre lang das fast ganze deutsche Judentum Platz hatte«.121 Nicht zufällig ist das ein Zitat Franz Rosenzweigs. Allerdings ist für beide – für Rosenzweig bereits 1923, für Löwith erst 1940 – ist dieser Standpunkt »heut offenbar so punktuell geworden, daß nur noch ein Mensch, nämlich ich, darauf wohnen kann«.122 Dabei haben Rosenzweig und Löwith ein sehr unterschiedliches Verständnis davon, was dieser liberale deutsch-jüdische Standpunkt eigentlich bedeutet. Sie unterscheiden sich besonders in ihrem Verständnis der Religion, das bei Rosenzweig in einer Weise ausgeprägt war, die in offenem Widerspruch zum liberalen Religionsverständnis steht.

gist, profoundly impressed by and longing for, the ancient world in its unmixed purity.« (Karl Löwith: Friedrich Nietzsche (1844-1900) (1944). In id.: Schriften 6; S. 396-414, S. 413) 121 Franz Rosenzweig an Gertrud Oppenheim, VII.1923; in Franz Rosenzweig: Briefe (ed. Edith Rosenzweig); Berlin 1935, S. 483 122 Ibid. Löwith beruft sich in seiner Autobiographie Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933 auf diese beiden Zitate und identifiziert sich auch mit Rosenzweigs Selbstbeschreibung als deutscher Jude, die er ebenfalls zitiert: »Ein deutscher Jude, dessen Arbeit über Hegel bekannt ist, während sein eigentliches Werk dem Judentum galt, wurde bei der Verhandlung wegen einer Berufung an eine jüdische Schule über seine Stellung zum Juden- und Deutschtum befragt. ›Da habe ich erwidert, die Antwort auf diese Frage lehnte ich ab; wenn das Leben mich einmal auf die Folter spannen würde und mich in zwei Stücke reißen, so wüßte ich freilich, mit welcher der beiden Hälften das Herz, das ja unsymmetrisch gelagert sei, mitgehen würde; ich wüßte auch, daß ich diese Operation nicht lebendig überstehen würde […].‹ […] ›Wo im Leben des Einzelnen der Schwerpunkt liegen soll, ob überhaupt ein Schwerpunkt und nicht zwei, und wie sich die Massen zwischen diesen Schwerpunkten verteilen mögen – das sind alles Dinge, die jeder Einzelne für sich und mit sich selbst entscheiden muß. Aber er muß entscheiden können. […] Das Leben würde ich nimmermehr zu reglementieren wagen.‹« (zitiert nach: Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht. Stuttgart 1986, Seite 131f.)

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Peter Eli Gordon ist aus diesem Grunde davon überzeugt, daß Rosenzweig gerade nicht Teil der klassisch liberalen Tradition ist, sondern, ganz im Gegensatz zu seinem Lehrer Hermann Cohen, jenseits von ihr steht: »Dissenting from Hermann Cohen and the Jewish progressive tradition of the nineteenth century, Rosenzweig came to suspect that the liberal atomistic notion of citizenship and the belief in community were incompatible. For whereas liberalism demands an inward and individualized mode of religiosity – religion as ›faith‹ – Judaism may presuppose communal structures of identification and practice that cannot easily survive if they are expelled from the public sphere into a life of privacy. […] But ironically, Rosenzweig’s non-Zionism expresses the very same disillusionment with liberal-assimilationist ideals that had propelled so many of his contemporaries into the nationalist movement. In this respect, Rosenzweig was most emphatically not a liberal political thinker.«123 Diesem Verständnis gemäß ist es für Rosenzweig nicht mehr der einzelne Mensch, der den Vorrang hat, sondern – wie bei Buber, aber eben auch wie bei Heidegger – die Gemeinschaft, in der der Einzelne seinen festen Rahmen findet. Diese Gemeinschaft ist das »Wir«, und als solches Kollektiv reicht es über die bloße Gemeinschaft von Ich und Du hinaus: »Wir ist kein Plural; […]. Das Wir […] ist die aus dem Dual entwickelte Allheit, […] die Schlußstrophe des Gesangs der Erlösung […]; im Wir endlich sammelt sich alles zum choralmäßig gleichen Takt des vielstimmigen Schlußgesangs. Alle Stimmen sind hier selbständig geworden, jede singt die Worte nach der eigenen Weise ihrer Seele, doch alle Weisen fügen sich dem gleichen Rhythmus und binden sich zur einen Harmonie.«124 Für Rosenzweig ist es diese eine Harmonie, die in mystischer Weise das entscheidende und bestimmende ist. Sie – und damit die Gemeinschaft – ist dem Einzelnen gegenüber in jedem Fall vorrangig: »Durch jede Form muß der Grundbaß des Satzes durchtönen und die Formen selber müssen in steter Steigerung den Satz immer hymnischer heben. Statt als Erzählung, die vom Erzähler zur Sache strebt, statt als Zwiegespräch, das zwischen zweien hin und her geht, tritt die Grammatik diesmal auf als strophisch sich steigernder Gesang. Und

123 Peter Eli Gordon: Rosenzweig and Heidegger. Between Judaism and German Philosophy; Berkeley 2003, S. 216f. 124 Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung; Frankfurt/Main 1988, S. 264 [226]. Peter Eli Gordon, der diese Stelle gleichfalls zitiert, gibt hier eine verkürzende und falsche Übersetzung, wenn er das »Wir« als »mighty unison« bezeichnet – daher unterstellt er Rosenzweig einen Totalitarismus, der so nicht haltbar und sicher nicht in Rosenzweigs Sinne ist. Vgl. Peter Eli Gordon: Rosenzweig and Heidegger, S. 199.

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Urgesang, der stets Gesang von mehreren ist; der Einzelne singt nicht; erst wenn das Lied als Lied der Vielen entstanden ist, füllt es nachträglich die unsanglichen Formen der Erzählung und des Wechselliedes an und wird zur Ballade des Sängers am Königshofe und zum Lied der Liebe.«125 Wobei »Lied der Liebe« eigentlich zuviel gesagt ist – denn um »Liebe«, überhaupt um ein Thema oder um einen Inhalt geht es – wenn überhaupt – erst in zweiter Linie: »Aber ursprünglich ist der Gesang vielstimmig gleichen Tons und Atems, und über allem Inhalt des Gesanges steht die Form dieser Gemeinsamkeit. Ja der Inhalt ist selbst weiter gar nichts als die Begründung für diese seine Form. Man singt nicht gemeinsam um eines bestimmten Inhalts willen, sondern man sucht sich einen gemeinsamen Inhalt, damit man gemeinsam singen kann.«126 Anders als bei Weber ist der von dieser harmonischen Gemeinschaft vorgegebene Rahmen kein stählernes Gehäuse, das eine Bedingung moderner Gesellschaft ist und gegen das man sich Freiräume erkämpfen und erhalten muß – wie unwahrscheinlich ein Gelingen und wie klein diese Freiräume dann am Ende auch sein mögen. Es ist auch kein Ort für Verantwortungsethik oder ähnliches, weil diese Ethik nur dann einen eigenständigen Sinn macht, wenn es einen festen Rahmen gibt. Webers Modell der Verantwortungsethik verlangt nach einem Motiv, nach einer sinnhaften Entscheidung für die Wahrnehmung einer Verantwortung, aus der dann eine Handlungsweise folgt. Rosenzweigs Gemeinschaft kennt keine solchen rationalen Grenzen; sie ist mystisch – aber nicht nur das: sie ist auch von Grund auf autoritär in einem Sinne, der mit Freiheit nichts mehr zu tun hat, jedenfalls nicht mit einer Freiheit des Individuums. Daher ist bezeichnend, welches Bild Rosenzweig heraufbeschwört, um die Harmonie dieser Gemeinschaft zu beschreiben und zugleich ein praktisches Beispiel ihrer Vorrangstellung vor dem Individuum zu geben. Es scheint direkt aus dem Repertoire konservativer Revolutionäre wie Ernst Jünger entnommen zu sein: »Das Ganze und daß man dazugehört, erlebt sich nur in der Parade, im Fahnengruß, im Vorbeimarsch vor dem obersten Kriegsherrn. Hier, wo salutiert wird vor jemand, der selber vor niemand mehr Front zu machen hat, oder der wie die Fahne dazu gar nicht in der Lage ist, wird nicht mehr ein bloßes dem Untergebenen und dem Vorgesetzten gemeinsames Gehorchen zum Ausdruck gebracht, sondern die Gemeinsamkeit aller Angehörigen dieser Armee durch alle Zeiten; denn Fahnentusch und Fürstengeschlecht, so fühlt der Soldat, ist älter als die Lebenden und wird sie überleben. Und auch nicht die Gemeinsamkeit des Lebens ist hier gemeint; denn die Fahne so gut wie der König stirbt nicht, sondern

125 Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 258 [218]. 126 Ibid.

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wiederum die Schicksalsgemeinschaft nur derer, aber derer nun ganz allgemein durch alle Zeit hindurch, die hier salutieren.«127 Die Konstituierung dieser Gruppe ist ebenfalls eine mystisch-religiöse, denn sie geschieht vor und durch Gott: »Gott selbst muß das letzte Wort sprechen – es darf kein Wort mehr sein. Denn es muß Ende sein und nicht Vorwegnahme mehr. […] Er tuts, Er ist der Erlöser.«128 Aber diese Erlösung durch Gott ist eben erst das letzte Gericht; und das Wir nimmt dieses Gericht bereits vorweg, mit allen theologischen und sozialen(!) Konsequenzen, die dieses Gericht nur haben kann: »Das Wir umfaßt alles, was es ergreifen und erreichen, ja noch was es sichten kann. Aber was es nicht mehr erreichen und auch nicht mehr sichten kann, das muß es um seiner eigenen Geschlossenheit und Einigkeit willen aus seinem hellen, tönenden Kreise hinaus ins kalte Grauen des Nichts stoßen […]. Das Wir kann nicht vermeiden, dies Gericht zu halten; denn nur in diesem Gericht gibt es der Allheit seines Wir bestimmten Inhalt […]. Der Heilige des Herrn muß das Gericht Gottes vorwegnehmen; er muß seine Feinde für die Feinde Gottes er-

127 Ibid., S. 358 [345]. In der Tat beschreibt auch Ernst Jünger diese Erfahrung mehrfach. Und so wie Rosenzweigs Stern der Erlösung eine Kosmologie entfaltet, finden wir auch bei Jünger eine eigene Kosmologie: »Das alles hatte der Mensch gemacht. In seiner Seele ging eine Wandlung vor, und die Landschaft bekam ein neues Gesicht. Denn hinter allem wirkte der Mensch, nur war diese Wirkung oft so gewaltig, daß er sich selbst nicht mehr erkannte darin. Und doch gaben diese Nächte der Wüste, vom Gezuck der Blitze umfaßt und vom ungewissen Schimmer der Leuchtbälle überstrahlt, von seiner Seele ein treues Spiegelbild. […] Wie lange noch, und er mußte im Abgrunde eines irrsinnigen Gelächters zerschmettern. Da schlug wohl jenes geheimnisvolle Pendel, das in allem Lebendigen schwang, jene unfaßbare Weltvernunft, nach der anderen Seite aus und suchte durch die Wucht der Faust, durch Entflammung einer ungeheueren Explosion in das erstarrte Quaderwerk eine Bresche zu schlagen, die zu neuen Bahnen führte. […] Hier gebar ein neues Geschlecht eine neue Auffassung der Welt, indem es durch ein uraltes Erlebnis schritt. Dieser Krieg war ein Urnebel psychischer Möglichkeiten, von Entwicklungen geladen; wer in seinem Einfluß nur das Rohe, Barbarische erkannte, schälte genau mit der gleichen ideologischen Willkür ein einziges Attribut aus einem riesenhaften Komplex wie der, der nur das Patriotisch-Heroische an ihm sah.« (Ernst Jünger: Sturm; Stuttgart 1979, S. 23-26). Die Novelle endet mit dem Tod des Protagonisten und dem Satz: »Sein letztes Gefühl war das des Versinkens im Wirbel einer uralten Melodie.« (ibid., S. 86) 128 Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 265 [229].

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kennen.«129 Auch für Rosenzweig ist der Nächste nicht – etwa im Sinne Cohens oder Löwiths – der Fremde oder der Andere, in dem man sich nur wiedererkennt; stattdessen bedeutet »the injunction to love one’s neighbor [...] precisely that – to love the neighbor (der Nächste), someone who is most close to oneself.«130 Zwar geht es hier ausdrücklich nicht um eine politische Forderung, sondern um eine religiös-mystische Dimension. Doch es ist genau diese Dimension, die der rechtskonservativen Idealisierung des Fronterlebnisses nahekommt, sogar ihre Quellen teilt, und die Rosenzweig in die Nähe konservativer Revolutionäre und intellektueller Nationalsozialisten wie Ernst Jünger, Carl Schmitt und Martin Heidegger rückt. Für Rosenzweig, dem es zuerst um das Leben und religiöse Empfinden der jüdischen Gemeinschaft geht, dreht es sich zwar nicht um politische Ziele und Begriffe im engeren Sinne.131 Es stellt sich aber die Frage, ob in einer Zeit, in der nicht die Religion, sondern der Staat und das Politische das hauptsächlich bestimmende Element geworden sind – und das ist doch spätestens seit der Aufklärung und der französischen Revolution in allen europäischen Gesellschaften der Fall, selbst wenn sich politische Macht noch häufiger der Religion bedient – die Frage der Gemeinschaftsbildung nicht spätestens dann eine politische Frage wird, wenn es um mehr geht als um Familien- und Freundeskreise (und selbst hier ist es oft genug eine politische Frage, man denke an die »Homoehe«, man denke aber auch daran, daß der Staat bis in jüngere Vergangenheit selbst Freundschaften politisch zu regeln versuchte 132). Es ist klar, daß es sich hierbei um eine Gesellschaftsvision dreht, die in Haltung, Anspruch und Radikalität eine große Verwandtschaft zum Geist der politischen Umwälzung hat. So kann es keine große Überraschung sein, wenn sich bei Rosenzweig auch Motive wiederfinden, die sich ohne Schwierigkeit in einem völkischen Sinne interpretieren lassen: »Just as Jewish law and scripture are ›eternally present,‹ so too the Jewish community ›draws its own eternity from the dark sources of the blood‹ [...]. The crucial idea is that the Jewish people does

129 Ibid., S. 264f. [227-228]. 130 Vgl. Peter Eli Gordon: Rosenzweig and Heidegger, S. 198ff. 131 Vgl. ibid., S. 215f. 132 Vgl. §2 des Gesetzes zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre, der jeglichen »außerehelichen Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes« untersagte, also auch persönliche Beziehungen freundschaftlicher Art (Reichsgesetzblatt 1935 I, S. 1146-1147).

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not look to the world to provide the anchors for its understanding of authentic being.«133 Gewiß: Rosenzweig argumentiert nicht im Sinne einer Rassenideologie, Blut ist für ihn ein mystisch-religiöses Konzept – aber gilt das nicht auch für eine intellektuell-esoterische Version der Blut-und-Boden-Ideologie? Spiegeln seine Zeilen nicht genau das Pathos, mit dem etwa Heidegger seine Aufgabe als »fragendes Standhalten inmitten des sich ständig verbergenden Seienden im Ganzen« bestimmt, das so unendlich viel mehr ist als ein bloßes »Kulturgut«, nämlich die »innerst bestimmende Mitte des ganzen volklich-staatlichen Daseins«, eine »das ganze Dasein scharfhaltende und es umgreifende Macht«.134 Ist Rosenzweigs Haltung nicht Heideggers Betonung seiner Herkunft aus den Bergen des Schwarzwaldes ähnlich, die die Gebundenheit an diese Heimat der Verlorenheit in der Welt, die Todtnauberger Hütte der Berliner Universität vorzieht, weil sich nur im heimatlichen Gebirge das Dasein in der Volksgemeinschaft erfahren läßt? Der Unterschied liegt dann am Ende wohl unter anderem darin, daß Rosenzweig tatsächlich konsequent in seinem »unpolitischen« Standpunkt bleibt und den Begriff des Exils als Gegenbegriff zu einer politischen Wirksamkeit im herkömmlichen Sinne sieht. Das ist keine Kleinigkeit. Denn Rosenzweig glaubt gerade nicht an einen nationalistischen Aufbruch, sondern, »unlike the Zionist ideal of the Jews as a nation like all other nations, he eschewed this universalistic kind of nationalism for a theologically based theory of Jewish difference. Resisting political universalism of any sort, Rosenzweig’s disillusionment with liberalism thus drove him away from politics, and away from any general theory of self-determination. Whereas the Zionist asserted the right to state sovereignty upon ancestral lands, Rosenzweig became a philosophical proponent of life in exile.«135 In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, auf eine weitere Ähnlichkeit zwischen Rosenzweig und Heidegger hinzuweisen, die in fataler Wechselwirkung besonders mit Heideggers Philosophie steht: »Paradoxically, one of the deeper ›political‹ similarities between Rosenzweig and Heidegger is that they were both profoundly inept at thinking intelligently about politics. Neither one displayed any true dedication when it came to rumi-

133 Peter Eli Gordon: Rosenzweig and Heidegger, S. 213. 134 Martin Heidegger: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Rede, gehalten bei der feierlichen Übernahme des Rektorats der Universität Freiburg i. Br. am 27. 5. 1933. In id.: Das Rektorat 1933/34. Tatsachen und Gedanken; Frankfurt/Main 1983, S. 9f. 135 Peter Eli Gordon: Rosenzweig and Heidegger, S. 217f.

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nating upon the real problems of public and political life; and neither showed any real aptitude for interpreting the various social issues of the day.«136 Bei Rosenzweig mag dies hinter den theologischen Inhalten zurücktreten und daher die potentiellen Gefahren seiner Philosophie entschärfen. Bei Heidegger ist die Situation eine andere, schon weil sein Führungsanspruch auf politische Wirkung abzielte und er zu einem Repräsentanten der politischen Macht wurde. Martin Heidegger Was bei Rosenzweig noch eine religiös-mystische Gegenrealität konstituieren sollte, wird bei Heidegger auf die konkrete historische Situation angewandt. Damit ist eine direkte Beziehung zum Nationalsozialismus schon durch die Zeitsituation von vornherein gegeben. Sie beginnt bei Heideggers philosophischem Habitus, dort, wo er aus seinem Selbstverständnis heraus »in der Rektoratsrede das Verständnis von Theorie als ›reiner Betrachtung, die nur der Sache in ihrer Fülle und Forderung verbunden bleibt‹ und ›unter Berufung auf die Griechen um seiner selbst willen geschehen‹ solle«137 ablehnt. Diese Beziehung äußerst sich für Löwith schon in Heideggers Meditationen über die Natur des Schwarzwaldes und die Arbeit des Bauern, weil sie mit kontemplativer Schau nichts mehr gemein haben, sondern vielmehr der affirmativen Bejahung eines Daseinskampfes dienen: »Nicht das müßige theorein oder Schauen, sondern die tätige Praxis der sorgenden Existenz erschließe das Sein dieser Welt, und zumal wenn wilde Schneestürme um die Hütte rasen und alles verhängt und verhüllt ist, sei auch die ›hohe Zeit‹ für die Philosophie. Die gedankliche Arbeit müsse so ›hart‹ und ›scharf‹ sein wie diese gefährliche Bergwelt, und die Philosophie sei ihrem Wesen nach von der Arbeit des Bauern überhaupt nicht verschieden. […] Ihre Verwandtschaft mit der nationalsozialistischen Ideologie ist nicht schwer einzusehen: man dankt Gott – wie Herr Goering zu sagen liebt – daß man nicht ›objektiv‹ ist, wo Wollen und Einsatz gilt. Man verneint – mit Nietzsche – Genuß, Glück und Behagen, bejaht dagegen die Härte des Schicksals und die Strenge der Arbeit, die für den Bauern und den Gelehrten dieselbe sein soll.«138

136 Ibid., S. 310. 137 Vgl. Holger Zaborowski: »Eine Frage von Irre und Schuld?« Martin Heidegger und der Nationalsozialismus; Frankfurt/Main 2010, S. 301. 138 Karl Löwith: Der europäische Nihilismus. Betrachtungen zur geistigen Vorgeschichte des europäischen Krieges (1940). In id.: Schriften 2; S. 473-540, S. 519. Löwith hat diese Stelle wörtlich auch in seiner Autobiographie verwendet (vgl. id.: Mein Leben in Deutschland, S. 31f.).

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Dabei geht auch Heidegger nicht vom Leben des Bauern, des Gelehrten oder allgemein gesprochen: des Menschen aus, sondern er beginnt und endet gewissermaßen religiös, mit Kierkegaards Diagnose vom Zusammenbruch der alten Welt. Von ihm übernimmt Heidegger die Wahrnehmung der Gegenwart als einer alles bestimmenden europäischen Katastrophe, die sich Heideggers Analytik des Daseins »mit der Absicht auf eine ›Destruktion‹ und ›Wiederholung‹ der Geschichte der abendländischen Ontologie am Leitfaden des Problems der ›Zeit‹«139 zu eigen macht. Dieser Ausgangspunkt für »die moderne Existenzphilosophie ist daher im Prinzip nicht anders als schon bei Kierkegaard der positive Ausdruck für eine fehlende Allgemeinheit des menschlichen Lebens, für eine faktische Weltlosigkeit, die sie philosophisch rechtfertigt und derzufolge ihr der Nihilismus in der Tat zu einem entscheidenden Problem des Seins werden muß.«140 Löwith vertritt zwar die Ansicht, daß sich diese grundlegende Analyse der Existenzphilosophie nicht zurückweisen läßt – allerdings mit der entscheidenden Einschränkung, dies gelte nur, wenn man »modern« sei und nicht an einen Schöpfergott oder den Kosmos als eine ewige Weltordnung glaube. Denn diese Analyse speist sich für Löwith nicht direkt aus technischen Umwälzungen oder gar aus gesellschaftlichen Fortschritten – sondern vor allem aus dem Zusammenbruch jener beiden »klassischen« Sichtweisen der Welt: der griechischen Weltschau, die ihren »Blick auf das Immerseiende und das So-und-nicht-andersSeiende […] aber nicht auf das jeweils Zufällige, das auch anders sein könnte«141 richtete auf der einen, und der jüdisch-christlichen Weltschau auf der anderen Seite, die – völlig unabhängig, ob sie in Gott den Herrn der Geschichte oder die Erde als eigenen, von der civitas dei abgetrennten Bereich sieht – doch die ewige Wahrheit kennt, nämlich, daß sie in Gott aufgehoben und erlöst wird. Für Löwith gibt es keinen Weg zurück in der Zeit – und damit keinen Weg zurück zum Christentum, aber auch keinen Weg zu einer griechischen Weltschau. Doch sein ganzes philosophischen Streben geht dahin, den Blick auf das Immerseiende einzufordern, und all das, was er als moderne Verstiegenheit erkennt, zu destruieren. Deshalb stellt er nicht wie Heidegger die berühmte Frage aus Was ist Metaphysik?: »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?«142 Die Fragen nach dem Sein und seinem Unterschied zum Dasein oder die nach einer Ek-sistenz finden sich bei ihm nicht – und das deshalb, weil sie

139 Id.: Existenzphilosophie (1932). In id.: Schriften 8; S. 1-18, S. 8. 140 Ibid., S. 9. 141 Id.: Heidegger, S. 131. 142 Martin Heidegger: Was ist Metaphysik?; Frankfurt/Main 1992, S. 42.

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sich für Löwith, gemäß seiner Sicht auf die Antike, überhaupt nicht stellen: das Sein ist für ihn ein unhinterfragbares Element des Kosmos, der im Wortsinne seine eigene Ordnung und sein eigener Schmuck ist, die der Mensch nur kontemplativ bestaunen kann – für Aristoteles der Anfang aller Philosophie. In diesem Sinne kennt Löwith den Nihilismus der Existenzphilosophie nicht; und der eigentliche Kern von Löwiths mitweltlicher Anthropologie ist die Widerlegung der existenzialistischen Vereinzelung und Weltlosigkeit. Der Kern dessen, was hier den Menschen zum Menschen macht ist nicht die absolute Vereinzelung, sondern – wie es in einer Kritik Löwiths an Jaspers heißt – »daß ein Mensch dadurch ein Mensch ist, daß er das Allgemeine in seiner Normalität verwirklicht. Dieses Allgemeine im Menschen, ohne welches jede Philosophie des Menschen sinnlos wäre, bleibt jedoch so lange verdeckt und im Schatten, als es im Lichte eines vereinzelten Selbstseins nur noch als ›Menge‹ (Kierkegaard), ›Masse‹ (Jaspers) und ›Man-sein‹ (Heidegger) erscheint. Menschliche Allgemeinheit ist aber so wenig ein humanitäres Flachland, wie sie ein existentieller Abgrund ist, sondern betrifft das Menschsein als solches, noch diesseits der Spaltung in ›Dasein‹ und ›Existenz‹ und deshalb auch abgesehen von möglicher ›Transzendenz‹.«143 Die Folgen dieser extremen Positionierung des Menschen in der Existenzphilosophie sind für Löwith klar, besonders in der Philosophie Heideggers. Denn was angesichts von Weltlosigkeit und Nihilismus »als letzter Grund der Selbstbewahrung übrigbleibt, ist auch bei ihm nichts anderes als das Pathos des Existierens, die Leidenschaft als solche. Der über ihr eigenes Woher und Wohin unwissenden Leidenschaft des Existierens bleibt als oberste Instanz der Selbstauslegung das Nichts bzw. der Tod und als der kategorische Imperativ die leidenschaftliche ›Freiheit zum Tode‹. Denn: ›ohne ursprüngliche Offenbarkeit des Nichts kein Selbstsein und keine Freiheit‹. In dieser, wenn auch noch so entschlossenen Beantwortung der Frage nach dem Sinn des eigenen Seins und damit des Seins überhaupt erweist sich die Problematik jener Zuspitzung der Seinsfrage auf die nackte ›Faktizität des Daseins‹, also darauf, ›daß es ist‹ und zu sein habe.«144 Diese extreme Zuspitzung der menschlichen Existenz, die vom Sein an sich stets getrennt bleibt und gleichzeitig einzig in der Lage ist, es zu erfahren – »Einzig der Mensch unter allem Seienden erfährt, angerufen von der Stimme des Seins, das Wunder aller Wunder: daß Seiendes ist«, heißt es im Nachwort zu

143 Id.: Existenzphilosophie, S. 17f. 144 Ibid., S. 8.

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Was ist Metaphysik?145 –, führt nicht nur zu einer ganz eigenen Eschatologie, die bei Heidegger der Ausdruck ist der »Zeit der entflohenen Götter und des kommenden Gottes. Das ist die dürftige Zeit, weil sie in einem gedoppelten Mangel und Nicht steht: im Nichtmehr der entflohenen Götter und im Nochnicht des Kommenden«146 steht. Diese Situation des Mangels, der Bedürftigkeit und des Strebens nach Erlösung spiegelt sich auch im Entwurfscharakter des Daseins; es ist ein Sein-Können, das »zu sein hat« und sich auf seine Möglichkeiten hin entwirft. Aus diesen Möglichkeiten wird das Sein zuallererst erfahrbar – und das bedeutet für Heidegger, daß das Mögliche einen prinzipiellen existenzialen Vorrang vor dem Wirklichen hat – eine These, die sich gleichfalls aus Kierkegaard ableiten läßt.147 Heideggers eigene Eschatologie ist nicht nur in ihrem eigenen Sinne religiös, sie ist auch exklusiv – besteht Heidegger doch darauf, als erster die wahre Bedeutung des Sein erkannt zu haben und als einziger »zu wissen, was überhaupt in einem erfüllten Sinn von Sein ›jetzt ist‹ und geschieht und […] aller bisherigen Philosophie […] verborgen blieb«148 – so wie Kierkegaard darauf bestand, als einziger zu wissen, was eigentlich christlich ist. Und so sind sich beide auch

145 Martin Heidegger: Was ist Metaphysik? – Nachwort; Frankfurt/Main 1992, S. 47. 146 Id.: Hölderlin und das Wesen der Dichtung. In: Das Innere Reich (Paul Alverdes / Karl Benno von Mechow ed.) 3/II; München 1936/37, S. 1065-1078, S. 1077. 147 Bei Kierkegaard heißt es: »Ästhetisch und intellektuell gilt, daß nur dann eine Wirklichkeit verstanden und gedacht worden ist, wenn ihr esse [sein] in ihr posse [können] aufgelöst ist. Ethisch gilt, daß nur dann die Möglichkeit verstanden worden ist, wenn jedes posse wirklich ein esse ist. […] In unserer Zeit wird alles zusammengemischt; man beantwortet das Ästhetische ethisch, den Glauben intellektuell usw. Man ist mit allem fertig; und doch achtet man durchaus nicht darauf, in welcher Sphäre jede Frage ihre Antwort findet. In der Welt des Geistes bringt dies eine noch größere Konfusion hervor, als wenn in der bürgerlichen Welt z. B. ein geistliches Anliegen von der Straßenpflasterkommission beantwortet würde. […] Was ist also die Wirklichkeit? Die Idealität. Aber ästhetisch und intellektuell ist die Idealität die Möglichkeit (die Zurückführung ab esse ad posse). Ethisch ist die Idealität die Wirklichkeit im Individuum selbst. Die Wirklichkeit ist die fürs Existieren unendlich interessierte Innerlichkeit. Das ethische Individuum ist für sich selbst am Existieren unendlich interessiert.« (Sören Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift II, Kapitel 3; §2: Möglichkeit höher als Wirklichkeit. Wirklichkeit höher als Möglichkeit. Die poetische und intellektuelle Idealität; die ethische Idealität; Jena 1925, S. 21f.) 148 Karl Löwith: Heidegger, S. 194.

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noch in einem weiteren Punkte einig, wie Löwith schreibt: daß »in allem, was Heidegger denkt und sagt, dennoch ein früh gewähltes Motto aus Kierkegaard: ›Die Zeit der Distinktionen ist vorbei‹«149 leitend bleibt. Dennoch wäre es falsch, Heidegger als Kierkegaardianer zu verstehen. Das liegt nicht nur daran, daß Heidegger die christlichen Kierkegaards Voraussetzungen nicht übernimmt; auch der ethische Anspruch ist fundamental verschieden, wie Heidegger selbst in einem frühen Brief feststellt: »ich will aber mindestens etwas Anderes. Das ist nicht viel, nämlich was ich in der heutigen faktischen Umsturz-Situation lebend als ›notwendig‹ erfahre; ohne den Seitenblick darauf, ob daraus eine ›Kultur‹ wird, oder eine Beschleunigung des Untergangs.«150 Wo Kierkegaard sich bewußt als vereinzeltes Korrektiv verstand, das schon wegen seiner Vereinzelung nicht die Norm sein kann, hat Heidegger einen ganz anderen Anspruch. Der Kern seiner Philosophie, und zwar durch sein ganzes Leben hindurch, ist es, Revolution zu denken, wie Florian Grosser überzeugend nachgewiesen hat151 – und das in einer Weise, bei der »die kritische Aufgabe der Philosophie« mehr als einmal »völlig aufgegeben« wird und »jeder Maßstab für eine tiefer reichende kritische Auseinandersetzung […] verlorengegangen«152 ist, wie Holger Zaborowski feststellt. Doch greift diese Kritik insofern zu kurz, als Heidegger gerade hier sein eigener Maßstab ist – anders als jeder Denker, der sich wie Kierkegaard oder Rosenzweig – auf eine ganz andere Dimension berufen kann und sich selbst dort, wo Gedanken und Fragen in eine ähnliche Richtung gehen wie bei Heidegger, stets mit etwas Größeren konfrontiert sieht: mit der ewigen Wahrheit Gottes, die schon immer da war und immer sein wird. Das bedeutet nicht nur, daß bei Rosenzweig und Kierkegaard eine negative Schranke existiert, die sich so bei Heidegger nicht finden läßt und deren Fehlen die Maßlosigkeit seines Denkens mitverursacht. Es bedeutet auch eine positive Erkenntnis, die Heidegger nicht kennt: denn selbst untheologisch verstanden bedeutet die Annahme einer ewigen Wahrheit bzw. eines ewig gültigen Maßstabs zugleich die Akzeptanz eines immerwährenden Kern alles Seienden, der allem Seienden gleich ist und es in dieser Instanz gleich macht.

149 Ibid.. S. 130. 150 Martin Heidegger an Karl Löwith, 13.IX.1920. In Martin Heidegger / Karl Löwith: Briefwechsel 1919-1973; Freiburg 2017, S. 20. 151 Vgl. Florian Grosser: Revolution denken. Heidegger und das Politische. 1919-1969; München 2011. 152 Holger Zaborowski: »Eine Frage von Irre und Schuld?« Martin Heidegger und der Nationalsozialismus; Frankfurt/Main 2010; S. 431.

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Auch Heidegger kann sich nicht ganz von der Orientierung an einem solchen Maßstab lösen, der bei ihm allerdings eher als Grenze und Anstoß daherkommt. Zwar läßt sich in Sein und Zeit nirgends eine solche überzeitliche Instanz im menschlichen Leben ableiten, und auch Heideggers Verständnis des Bleibenden weist diesem vor allem in Bezug auf das Wandelbare eine entscheidende Bedeutung zu: »Seitdem der Mensch sich in die Gegenwart eines Bleibenden stellt, seitdem kann er sich erst dem Wandelbaren, dem Kommenden und Gehenden aussetzen; denn nur das Beharrliche ist wandelbar. Erst seitdem die ›reißende Zeit‹ aufgerissen ist in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, besteht die Möglichkeit, sich auf ein Bleibendes zu einigen.«153 Dieses »Bleiben im Eigenen ist der Gang an die Quelle. […] Das Bleiben ist ein Gehen in die Nähe des Ursprungs. Wer in dieser Nähe wohnt, erfüllt das Wesen des Bleibens.«154 Das Bleibende markiert also keinen Standpunkt, sondern ein »Gehen in die Nähe des Ursprungs«, einen Prozeß, zu dem die Holzpfade untrennbar dazugehören. Auch hier ist es das Potentielle, das den Vorrang vor dem Eigentlichen hat. Denn für den Menschen bleibt es bei diesem Unterwegssein, der Ursprung existiert nur als Hinweis, und der Hinweis auf ihn ist es, was wirklich zählt. Und doch gibt es auch bei Heidegger eine überzeitliche Instanz, auf die sich alles Dasein hin entwirft und die allem sein eigenes Maß gibt: »Die durch den Tod fixierte Endlichkeit des existierenden Daseins bestimmt in Sein und Zeit auch die endliche Zeitlichkeit des Seins überhaupt. […] Und da für das existierende Dasein des endlichen Menschen Seinsverständnis konstitutiv ist, ist dieses selbst das ›Endlichste im Endlichen‹ und nie absolut zu nehmen. Beide, seiendes Dasein und Sein, finden ihren ›Sinn‹ in der endlichen Zeit.«155 Für Heidegger ist die Erfahrung des Todes keineswegs negativ, denn sie ist der Anstoß, zur Frage nach dem Seienden und dem Sein. »Zu kurz trägt der Blick, wenn ›das Leben‹ zum Problem gemacht und dann auch gelegentlich der Tod berücksichtigt wird«156 so Heidegger in Sein und Zeit. Denn die »ausgezeichnete Möglichkeit«157 des Seinkönnens, seine höchste Instanz ist stets: sein Tod. Damit ist, wie gesagt, nicht der wirkliche Tod gemeint. Dennoch ist es so, daß sich gerade angesichts des Todes das Dasein in besonderer Weise entschließt. Die entschlossene denkerische Auseinandersetzung mit dem eigenen

153 Martin Heidegger: Hölderlin, S. 1071. 154 Id.: »Andenken«. In id.: GA 4 (ed. F.-W. von Herrmann); Frankfurt/Main 1981, S. 79-151, S. 145. 155 Karl Löwith: Heidegger, S. 153. 156 Martin Heidegger: Sein und Zeit; Tübingen 2006, §63, S. 316. 157 Ibid., S. 313.

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Tod erschließt dem Menschen seine Existenz und gibt ihm die Möglichkeit, das Sein, das auch Schicksal ist, zu erfahren. Der Tod erhält damit eine entscheidende Bedeutung für das »Ganzseinkönnen«.158 Es genügt hier die Feststellung, daß dieses Ganzseinkönnen es ist, daß das Dasein vor dem Man-sein besonders auszeichnet und zu dem es sich entschließen muß. Diese Entschlossenheit richtet sich damit auf eine Form des eigenen Sein-könnens, aber eine, die offensichtlich der Bedeutung und der Wahrheit des Seins näherkommt. Einen konkreten Inhalt, der etwa ethischer oder auch nur moralischer Natur wäre, hat sie aber nicht – Löwith spricht wiederholt davon, daß Heideggers »junge Leser entschlossen waren, ohne zu wissen wozu, ehe ihnen die vulgäre Geschichte des ›man‹ einen Inhalt für ihre Entschlossenheit gab«.159 Es bleibt also eine gewisse Leere des Begriffs, die bei Heidegger auch durchaus intendiert ist, denn alles andere würde dem »Charakter der Offenheit« des Seins ja zuwiderlaufen. Da das Sein sich in der Zeit offenbart, sind die zeitlichen Voraussetzungen von Heideggers Philosophie nicht außer Acht zu lassen. Und spätestens hier kommt Heideggers apokalyptischer Tenor wieder zum tragen. Die eigene Zeit wird als so düster und wahrheitsfern empfunden, daß es eben doch bestenfalls darum gehen kann, eine neue »Kultur« zu schaffen, denn die alte ist unrettbar am Ende. »Der Untergang der Wahrheit des Seienden ereignet sich notwendig und zwar als die Vollendung der Metaphysik. Der Untergang vollzieht sich zumal durch den Einsturz der von der Metaphysik geprägten Welt und durch die aus der Metaphysik stammende Verwüstung der Erde. Einsturz und Verwüstung finden den gemäßen Vollzug darin, daß der Mensch der Metaphysik, das animal rationale, zum arbeitenden Tier fest-gestellt wird. […] Ehe das Sein sich in seiner anfänglichen Wahrheit ereignen kann, muß das Sein als der Wille gebrochen, muß die Welt zum Einsturz und die Erde in die Verwüstung und der Mensch zu bloßen Arbeit gezwungen werden«,160 damit sich aus dieser höchsten Not dann – ganz im Sinne von Heideggers Hölderlinverständnis – die Hoffnung

158 Vgl. ibid., Kapitel 3 (§§61-66), S. 301-333. 159 Löwith bringt diesen »trefflichen Witz« um den »innere[n] Nihilismus und selbst ›Nationalsozialismus‹ dieser nackten Entschlossenheit vor dem Nichts« zu charakterisieren wiederholt (so in id.: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht; Stuttgart 1986, S. 29). Die oben zitierte Stelle findet sich in id.: Heidegger, S. 133f. 160 Martin Heidegger: Überwindung der Metaphysik. In id.: Vorträge und Aufsätze; Pfullingen 1954, S. 71-99, S. 72f.

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auf »das Rettende« ergibt: »Erst nach diesem Untergang ereignet sich in langer Zeit die jähe Weile des Anfangs.«161 Karl Löwith bezeichnet dieses »Pathos der Entschiedenheit für die nackte Entscheidung […] zwischen den Weltkriegen«162 als allgemein und wirft denen, die sich mit ihm identifizierten und es verbreiteten vor, sie hätten »die Entscheidung für Hitlers Entschiedenheit vorbereitet und den politischen Umsturz als ›Revolution des Nihilismus‹ möglich gemacht.«163 Dieser Vorwurf richtet sich also nicht nur an Heidegger, aber es ist aus dieser Perspektive in jedem Fall nur konsequent, Heidegger, der ja bis zum Schluß als einer der ausgezeichneten Repräsentanten des tausendjährigen Reiches galt, im Zusammenhang mit anderen Mitdenkern des Nationalsozialismus zu sehen. Die Rektoratsrede ist nicht Zeugnis eines bedauerlichen Irrtums, mit dem es bald wieder vorbei war; sie ist – und das ist auch eine der Thesen in Löwiths Heidegger-Kritik Denker in dürftiger Zeit – ein Fanal, »nicht weil das politische Handeln je mit dem philosophischen Denken ineins fallen könnte, sondern weil das Denken unter Umständen praktische Konsequenzen zeitigt, in denen sich bestimmte Voraussetzungen dieses Denkens selbst exponieren«164 und sei es nur die »entschiedene Bereitschaft, an das geschichtliche Schicksal als solches zu glauben«165 und daraus auch extreme politische Konsequenzen zu ziehen. Das gilt selbst für den späteren Heidegger in seinem Rückzug in der Erwartung der kommenden Parusie des Seins, der den »Grund für die kriegerischen Auseinandersetzungen«166 noch immer nicht im totalen Staat sieht, sondern in der »Gleichförmigkeit des Seienden, in der es nur auf die berechenbare Sicherheit seiner Ordnung ankommt, die es dem Willen zur Macht unterwirft«167 und die sich (auch) in der »vor allen nationalen Unterschieden«168 wirkenden »Gleichförmigkeit der Führerschaft, für die alle Staatsformen nur noch ein Führungsinstrument unter anderen sind«169 äußert. »Diese Unterschiedslosigkeit bezeugt den bereits gesicherten Bestand der Unwelt der Seinsverlassenheit. Die Erde erscheint als die Unwelt der Irrnis. Sie ist

161 Ibid., S. 73. 162 Karl Löwith: Der okkasionelle Dezisionismus von C. Schmitt (1935). In id.: Schriften 8; S. 32-71, S. 61. 163 Ibid. 164 Id.: Heidegger, S. 171. 165 Ibid. 166 Martin Heidegger: Überwindung der Metaphysik, S. 96f. 167 Ibid., S. 97. 168 Ibid. 169 Ibid.

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seynsgeschichtlich der Irrstern.«170 Das Problem ist also nicht der Nationalsozialismus; das Problem ist für Heidegger die gesamte Kultur der Moderne – der Nationalsozialismus war seiner Überzeugung nach immerhin gegen diese Kultur angetreten, um sie abzulösen und »›eine völlige Umwälzung des deutschen Daseins‹, also offenbar dasselbe, was [Heidegger] in späteren Schriften einen Wandel im Wesen des Menschen nennt«171 zu erbringen. Von der Theologie zur Politik – eine Wahlverwandtschaft Die Feindschaft gegen den »objektivierenden« Geist, die Zurückweisung einer höheren Instanz, der Vorzug einer mystischen Entscheidung respektive Offenbarung, die mit theoretischer Erwägung und auch mit objektiv feststellbaren – und, wichtiger noch: mit diskutierbaren! – Fakten nicht viel zu tun hat und die Flucht in die Revolte sind für Löwith Kernelemente des Nationalsozialismus. Auf konkrete Inhalte kommt es dabei gar nicht so sehr an, entscheidend ist vielmehr der Übergang in die politische Dimension, wie er von Heidegger dann auch vollzogen wurde: »Es bedarf nur eines Heraustretens aus der noch halb religiösen Vereinzelung und der Anwendung des ›je eigenen‹ Daseins und seines Müssens auf das eigene ›deutsche Dasein‹ und dessen geschichtliches Schicksal, um den energischen Leerlauf der Existenzkategorien […] in die allgemeine Bewegung der deutschen Existenz überzuführen und nun auf politischem Boden zu destruieren. Und so ist es kein Zufall, wenn Heideggers Existenzialphilosophie bei Carl Schmitt ein politischer ›Dezisionismus‹ entspricht, der das ›Ganzseinkönnen‹ des je eigenen Daseins auf die ›Totalität‹ des je eigenen Staats überträgt. Der Selbstbehauptung des eigenen Daseins entspricht die der politischen Existenz und der ›Freiheit zum Tode‹ das ›Opfer des Lebens‹ im politischen Ernstfall des Kriegs.«172 Deshalb behandelt Löwith Heidegger auch in Verbindung mit Ernst Jünger und insbesondere Carl Schmitt. Denn, so Löwith, »der ›Geist‹ des Nationalsozialismus hatte es nicht so sehr mit dem Nationalen und Sozialen zu tun als vielmehr mit jener radikalen Entschlossenheit und Dynamik, die jede Diskussion und Verständigung ablehnt, weil sie sich einzig und allein auf sich selber verläßt

170 Ibid. 171 Karl Löwith: Heidegger, S. 170. Heute läßt sich die gleiche Verkehrung in der Rhetorik der »neuen« Rechten erkennen, etwa in deren Selbst-Identifikation mit den Widerstandsbewegungen der Weißen Rose, des 20. Juli und der implizierten Gleichsetzung der Bundesrepublik mit der nationalsozialistischen Diktatur. 172 Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland, S. 30f.

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– auf das je eigene (deutsche) Sein-können. Es sind durchwegs Ausdrücke der Gewaltsamkeit und Entschlossenheit, die das Vokabular der nationalsozialistischen Politik und von Heideggers Reden bestimmen. Dem diktatorischen Stil der Politik entspricht das Apodiktische in Heideggers pathetischen Formulierungen. Es ist nur ein Unterschied des Niveaus, aber nicht der Methode, der die internen Differenzen der Gefolgschaft bestimmt, und am Ende ist es das ›Schicksal‹, welches alles Wollen rechtfertigt und ihm einen seinsgeschichtlichen Mantel umhängt. […] Das mindeste, womit sich ihr Denken beschäftigte, waren ›Ursprung‹ und ›Ende‹ oder ›Grenzsituationen‹. Im Grunde sind alle diese Begriffe und Worte der Ausdruck für die bittere und harte Entschlossenheit eines sich vor dem Nichts behauptenden Willens, der auf seine Verachtung des Glücks, der Vernunft und des Mitgefühls stolz ist«173 – also alles dessen, was das tägliche Leben des Menschen ausmacht und lebenswert macht. Hier liegt die Verbindungslinie zwischen Sören Kierkegaard und Carl Schmitt, die Schmitt auch selbst aufgenommen hat. In seiner Politischen Theologie konstruiert Schmitt etwas, was Juliane Rebentisch als »Verbeugung vor Kierkegaards Philosophie der Ausnahme«174 und »Zitatcollage aus Die Wiederholung«175 bezeichnet hat. Schmitt schreibt: »Gerade eine Philosophie des konkreten Lebens darf sich vor der Ausnahme und vor dem extremen Falle nicht zurückziehen, sondern muß sich im höchsten Maße für ihn interessieren. Ihr kann die Ausnahme wichtiger sein als die Regel, nicht aus einer romantischen Ironie für das Paradoxe, sondern mit dem ganzen Ernst einer Einsicht, die tiefer geht als die klaren Generalisationen des durchschnittlich sich Wiederholenden. Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall. Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme.«176 Schon Löwith fiel diese Formulierung auf. Die Argumentation, der Ausnahmezustand sei zentral, weil er »interessanter« sei und daher alles beweise, ist für Löwith ihrerseits das Merkmal einer »verdächtig romantischen Wendung«, die wissenschaftlich nicht haltbar ist und jeden Maßstab von grundlegenden Normen

173 Id.: Der okkasionelle Dezisionismus, S. 67 (vgl. die nahezu wortgleiche Formulierung in id.: Mein Leben in Deutschland, S. 35). 174 Juliane Rebentisch: Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz; Frankfurt/Main 2012, S. 245. 175 Ibid. 176 Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität; Berlin 2004, S. 21.

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entkoppelt und damit unüberprüfbar macht.177 Damit aber besitzt sie nach Schmitts eigenem Urteil keinen echten geistigen Mittelpunkt, der über den ver-

177 Karl Löwith: Der okkasionelle Dezisionismus, S. 38. Vgl. auch Carl Schmitt hervorragende (Selbst-)Charakteristik des romantischen Individuums, bei der er ganz nebenbei auch die »höchste Not« dieses Individuums ad absurdum führt: »Die Besonderheit des romantischen Occasionalismus liegt darin, daß er den Hauptfaktor des occasionalistischen Systems, Gott, subjektiviert. Das vereinzelte, isolierte und emanzipierte Individuum wird in der liberalen bürgerlichen Welt zum Mittelpunkt, zur letzten Instanz, zum Absoluten. Die Illusion, Gott zu sein, […] verband sich daher in der psychologischen Wirklichkeit mit andern, weniger subjektivistischen Affekten, aber das Subjekt beanspruchte doch immer, daß sein Erleben das allein Interessante sei. Der Anspruch kann nur in einer geregelten bürgerlichen Ordnung verwirklicht werden, weil sonst die ›äußern Bedingungen‹ für die ungestörte Beschäftigung mit der eignen Stimmung fehlen. Die Romantik ist psychologisch und historisch ein Produkt bürgerlicher Sekurität. […] Nur das romantisierende Subjekt und seine Tätigkeit sind für die Begriffsbestimmung von Bedeutung. Es hat nun zwar seine Voraussetzung, die bürgerliche Ordnung, nicht romantisiert, sondern lieber ironisiert, weil sie aktuelle Gegenwart war, aber von Schlegels Staatsideal hat man nicht mit Unrecht gesagt, es liege weniger im Mittelalter als im Polizeistaat ›deutscher, d.h. damals kleinlich-pedantischer Form‹.« (Carl Schmitt: Politische Romantik; Berlin 1998, S. 105f.) Es ist bezeichnend, daß Schmitt auch an der, wie man heute sagen würde: post- bzw. contrafaktischen Vorgehensweise des Romantikers, an seiner Ernsthaftigkeit und an seiner Kompetenz, die von ihm erkannten Probleme zu »lösen« kein gutes Haar läßt: »Der Romantiker weicht der Wirklichkeit aus, aber ironisch und mit der Gesinnung der Intrige. Ironie und Intrige sind nicht die Stimmung eines Menschen auf der Flucht, sondern die Aktivität eines Menschen, der, statt neue Wirklichkeiten zu schaffen, die eine Wirklichkeit gegen eine andere ausspielt, um die jeweilig gegenwärtige, begrenzende Wirklichkeit zu paralysieren. Ironisch entzieht er sich der beengenden Objektivität und schützt sich davor, auf irgendetwas festgelegt zu werden; in der Ironie liegt der Vorbehalt aller unendlichen Möglichkeiten. […] Er schützt sich dadurch aber auch vor dem Einwand, der seine Prätentionen vernichten müßte: daß alle Versprechungen und großartigen Projekte, die er den beschränkten Leistungen andrer entgegengehalten hat, durch seine eigene wirkliche Produktion als ein Betrug entlarvt werden. Was überhaupt an konkreten Leistungen in realitate vorliegt, ist für ihn nur ein Abfall, er protestiert dagegen, daß er oder irgendeine Manifestation von ihm in der Beschränktheit gegenwärtiger Realität genommen werde. Das ist er nicht, das ist nicht sein Ich, er ist immer gleichzeitig noch unendlich vieles Andre, unendlich mehr, als er jemals in irgendeiner konkreten Se-

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einzelten und isolierten individuellen hinausgeht. Diese romantische Ausnahme, die sich frei gemacht hat von allen überindividuellen Beschränkungen und Ordnungen ist aber der Kern der politischen, »souveränen« Entscheidung Schmitts, und wenn aus ihr eine politische Ordnung geboren wird, dann stammt sie gerade nicht ab integro, wie Schmitt vorgibt, sondern aus der gegebenen politischen Situation der Ausnahme. Auch wenn »das Wesentliche ist, daß keine höhere Instanz die Entscheidung überprüft«178 ist die okkasionell gebundene Entscheidung damit schon nicht mehr wirklich souverän, sondern entschieden bedingt – wenn auch nicht durch einen positiven politischen Inhalt. Carl Schmitt selbst hat offen eingeräumt, daß eine inhaltliche Verbindung und Wesensverwandtschaft zwischen Theologie und »moderne[r] Staatslehre« – insbesondere zu seiner Theorie vom »Ausnahmezustand« – existiert und diese Beziehung auch nicht zufällig bleibt, sondern sich instrumentell auswirkt: »Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe. Nicht nur ihrer historischen Entwicklung nach, weil sie aus der Theologie auf die Staatslehre übertragen wurden, indem zum Beispiel der allmächtige Gott zum omnipotenten Gesetzgeber wurde, sondern auch in ihrer systematischen Struktur, deren Erkenntnis notwendig ist für eine soziologische Betrachtung dieser Begriffe. Der Ausnahmezustand hat für die Jurisprudenz eine analoge Bedeutung wie das Wunder für die Theologie. […] Die interessanteste politische Verwertung derartiger Analogien findet sich bei den katholischen Staatsphilosophen der Gegenrevolution, bei Bonald, de Maistre und Donoso Cortes. Bei ihnen ist auch auf den ersten Blick zu erkennen, daß es sich um eine begrifflich klare, systematische Analogie und nicht um irgendwelche mystischen, naturphilosophischen oder gar romantischen Spielereien handelt, die, wie für alles andere, so natürlich auch für Staat und Gesellschaft bunte Symbole und Bilder finden.«179

kunde oder bestimmten Äußerung sein könnte. Er betrachtet es als eine Vergewaltigung, ernst genommen zu werden, weil er die jeweilige Gegenwart nicht mit seiner unendlichen Freiheit verwechseln lassen will.« (ibid., S. 82) Vermutlich liegt in dieser lediglich ironischen Haltung auch der tiefere Grund, warum es dem romantischen Individuum grundsätzlich unmöglich ist, die Konsequenzen seines Handelns zu tragen – sei es, daß es von nichts wußte, böswillig fehlinterpretiert wurde oder ihm »die Maus ausrutschte« –: es kennt keine Verantwortung. Schmitt jedenfalls richtet sich in diesen Absätzen selbst. 178 Carl Schmitt: Politische Theologie, S. 61. 179 Ibid., S. 43f.

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Es ist dabei irrelevant, ob diese Wahlverwandtschaft, so wie sie Schmitt postuliert, »zunächst zur historischen Abfolge quer steht«,180 da es sich dabei eben nicht um eine zeitliche Abfolge, sondern um eine strukturelle Ähnlichkeit handelt, auf die bewußt Bezug genommen wird. Schmitt nutzt die These der Strukturverwandtschaft – die in unterschiedlicher Ausprägung von zahlreichen anderen Denkern, nicht zuletzt von Weber und Löwith, geteilt wird – zur »Rückbindung an die Evidenz des theologisch-metaphysischen Fundaments«181 und damit zur Legitimation seines Souveränitätsbegriffes. Schmitt instrumentalisiert die These der Strukturverwandtschaft allerdings nicht nur zur Selbstlegitimation, sondern auch, um einen wesentlichen Unterschied zwischen seiner Haltung und derjenigen der »katholischen Staatsphilosophen der Gegenrevolution« zu verwischen, die Schmitt als seine Bundesgenossen ins Feld führt. Löwith hat darauf hingewiesen. Denn wenn »Schmitt im Zusammenhang damit sagt, das Wesen des Staates reduziere sich somit notwendig auf eine absolute und ›aus dem Nichts geschaffene‹ Entscheidung, die nicht zu rechtfertigen ist, so charakterisiert er zwar damit seine eigene Position, nicht aber die von Donoso Cortes, der als Christ des Glaubens war, daß nur Gott, aber niemals der Mensch aus dem Nichts etwas schaffen kann. Dieser aktive Nihilismus ist vielmehr nur Schmitt selbst und seinen deutschen Geistesverwandten des 20. Jahrhunderts zu eigen.«182 Wir haben es hier also mit einer ganz klassischen Variante der Wahlverwandtschaft zu tun. Schmitt greift Elemente theologischen Denkens auf – eine bestimmte Form des Messianismus, die absolute Entscheidung aus dem Nichts – und verwendet sie in seinem Sinne; dies geschieht nicht nur, weil diese Elemente im politischen ihre natürliche Parallele finden (in der Tat sind ja civitas dei und civitas terrena eher Gegensätze), sondern um der eigenen Theorie etwas von dem

180 vgl. Ulrich Ruh: Säkularisierung als Interpretationskategorie. Zur Bedeutung des christlichen Erbes in der modernen Geistesgeschichte; Freiburg 1979, S. 284. 181 Ibid., S. 285. 182 Karl Löwith: Der okkasionelle Dezisionismus von C. Schmitt (1935). In id.: Schriften 8; S. 32-71, S. 42. Löwith verweist ergänzend auf Ernst Jüngers Abenteuerliches Herz und bemerkt in diesem Zusammenhang, Schmitt bejahe den Hobbesschen Naturzustand »gerade als einen status belli, im Gegensatz zu Hobbes […]. Philosophisch durchschaut worden ist der moderne Nihilismus ausschließlich durch Nietzsche, der erstmals erkannte, daß der moderne Mensch, der an nichts mehr glaubt und nicht mehr weiß, ›wozu‹ er überhaupt da ist, ›lieber noch das Nichts will als nicht mehr will‹. ›Der Wille selbst‹ wird durch diesen Nihilismus der Stärke ›gerettet‹.« (Ibid., Fußnote 37)

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unangreifbaren Nimbus der Theologie mitzugeben – aber auch, weil der Mensch bei Schmitt eben offenbar doch »aus dem Nichts« schaffen kann, also Gottes Rolle längst für sich reklamiert. Dennoch zeigt sich, daß es sich hierbei nicht nur um einen bloßen Mißbrauch, also nicht um eine Ausbeutung der Theologie für politische Zwecke handelt, sondern um eine gegenseitige Beeinflussung und die Schaffung eines ganz neuen, radikalen Denkens. Die aufgezeigten Parallelen zu Rosenzweig unterstützen die These, daß hier kein bedauernswertes Mißverständnis oder eine schlichte Fehlinterpretation vorliegt, und diese Vermutung wird durch die Beobachtung bestätigt, daß die Parallelen zu Rosenzweigs Denken alles andere als ein Einzelfall sind.183 Pathos der Entscheidung: der Ausnahmezustand Zentraler Punkt von Schmitts politischer Theorie ist die Theorie vom Ausnahmezustand. Dieser Ausnahmezustand findet nicht mehr wie ein Wunder im Rahmen einer mystischen Gemeinschaft statt, sondern in einer festen politischen Einheit, die er durch seine wertvernichtende und wertsetzende Kraft völlig umkrempeln kann und im eigentlichen Sinne erst schafft. Anders als ein Messias oder ein Deus ex machina ist der Ausnahmezustand nicht der Endpunkt einer

183 Tatsächlich handelt es sich um eine breite Strömung, zu der nicht nur Heidegger gehört, der sich noch 1921 Löwith gegenüber als »christlicher Theologe« (vgl. Karl Löwith: Der europäische Nihilismus, S. 517) bezeichnete. Zahlreiche andere, von Gogarten bis hin zu den sog. »Deutschen Christen« ließen sich hier nennen. Vgl. aber auch: Steven Aschheim: German Jews beyond Bildung and Liberalism: The Radical Jewish Revival in the Weimar Republic. In id.: Culture and Catastrophe: German and Jewish Confrontation with National Socialism and Other Crises; New York 1996, S. 31-44. Ein anderes Beispiel wäre Walter Benjamin, der Schmitts Begriff vom Ausnahmezustand aufgreift und damit auch die »physiognomischen Ähnlichkeiten der Kulturkritik von anarchistischer und reaktionärer Seite« zum Ausdruck bringt (Norbert Bolz: Charisma und Souveränität. Carl Schmitt und Walter Benjamin im Schatten Max Webers. In Jacob Taubes (ed.): Religionstheorie und Politische Theologie Bd. 1: Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen; München 1983, S. 249-262, S. 254) – auch wenn er seinen Begriff des Ausnahmezustands von Carl Schmitt deutlich abgrenzt (vgl. dazu: Walter Benjamin: Theorien des deutschen Faschismus. Zu der Sammelschrift »Krieg und Krieger«. Herausgegeben von Ernst Jünger. In id.: Gesammelte Schriften Bd. 3 (ed. Hella TiedemannBartels); Frankfurt/Main 1972, S. 238-250 bzw. Giorgio Agamben: Ausnahmezustand. (Homo sacer II.1); Frankfurt/Main 2014, S. 66-68).

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Erlösungsgeschichte; stattdessen gibt er vor, Fundament einer politischen Ordnung zu sein. Allerdings schwebt er in der Theorie der souveränen Entscheidung zwischen Freund und Feind beständig wie eine stete Drohung über der politischen Situation. Ohne die Möglichkeit zum Ausnahmezustand gibt es für Schmitt überhaupt keine Politik – und damit schafft der Ausnahmezustand zwar die politische Gemeinschaft, aber auch sich selbst – und sich selbst schafft er als ewiges Prinzip, ohne eine zeitliche Begrenzung. Daß diese souveräne Entscheidung zwischen Freund und Feind, die den Ausnahmezustand begründet, dabei kein bloß theoretisches Fundament – wie etwa der Staatsvertrag in der klassischen politischen Theorie – sondern eine ganz praktische Bestimmung ist, wird dort deutlich, wo Schmitt über den Pazifismus spricht. Schmitt verdeutlicht in diesem Zusammenhang nämlich, was für ihn Politik zu Politik macht. Es ist nicht Organisation, nicht Regierung, es ist auch keine staatliche oder moralische Idee sondern, einzig und allein: der Krieg. Die Entscheidung ist es, die für Schmitt jede im Wortsinne politische Ordnung schafft; der Krieg – oder die Möglichkeit zum Kriege – ist es, der als Ausdruck eines »seinsmäßigen« Existenzkampfes politische Ordnung und Normierung legitimiert. »Maßgebend ist immer nur die Möglichkeit dieses entscheidenden Falles, des wirklichen Kampfes, und die Entscheidung darüber, ob dieser Fall gegeben ist oder nicht. […] Eine Welt, in der die Möglichkeit eines solchen Kampfes restlos beseitigt und verschwunden ist, ein endgültig pazifizierter Erdball, wäre eine Welt ohne Politik. Es könnte in ihr mancherlei vielleicht sehr interessante Gegensätze und Kontraste geben, Konkurrenzen und Intrigen aller Art, aber sinnvollerweise keinen Gegensatz, auf Grund dessen von Menschen das Opfer ihres Lebens verlangt werden könnte und Menschen ermächtigt werden, Blut zu vergießen und andere Menschen zu töten. […] Würde die pazifistische Gegnerschaft gegen den Krieg so stark, daß sie die Pazifisten gegen die Nicht-Pazifisten in den Krieg treiben könnte, in einen ›Krieg gegen den Krieg‹, so wäre damit bewiesen, daß sie wirklich politische Kraft hat, weil sie stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind zu gruppieren. Ist der Wille, den Krieg zu verhindern, so stark, daß er den Krieg selbst nicht mehr scheut, so ist er eben ein politisches Motiv geworden, d. h. er bejaht, wenn auch nur als extreme Eventualität, den Krieg und sogar den Sinn des Krieges.«184 Diese Orientierung an der »extremen Eventualität« des Krieges ist gleichfalls ein theologisches Moment in Schmitts Denken. Er hat es von Kierkegaard übernommen – denn er fühlt sich Kierkegaard gerade deshalb verwandt, weil dieser

184 Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien; Berlin 2002, S. 35-37.

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»sich am extremen ›Grenzfall‹ und nicht am ›Normalfall‹ orientiert; dies entspreche einer ›Philosophie des konkreten Lebens‹. Daß der ›extremus necessitatus casus‹ im juristischen Sinn und bezogen auf die Politik inhaltlich nichts gemein hat mit Kierkegaards existenziell-religiöser Entscheidung für das ›Eine, das not tut‹, fällt für Schmitt nicht ins Gewicht, weil es ihm nur darum zu tun ist, das anormale Recht der Entscheidung, ganz gleich worüber und wofür, rein als solches sicherzustellen. Die Autorität als solche, die Kraft ihrer Autorität über einen Ausnahmezustand im eminenten Sinn entscheidet, beweist ihm, ›daß sie, um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht‹.«185 Doch wo Kierkegaard aus dem Glauben an Gott heraus denkt, kann Schmitt diese Motivation nicht für sich in Anspruch nehmen – schon deshalb nicht, weil der Glaube an Gott und der an totale politische Führerschaft außerhalb einer Theokratie unvereinbar sind. Diese letzte Definition des »anormalen Rechts der Entscheidung« kennt keine religiösen oder moralischen Instanzen, sie scheint auch von autoritären gesellschaftlichen Zwängen unberührt zu sein. Doch ihre Kettung an die Ausnahme, den extremen Not- bzw. Ernstfall zeigt, daß sie doch an einer uneinholbaren Instanz hängt. Diese Instanz ist nicht, wie bei Heidegger, der Tod. Es ist der Krieg, der alle Inhalte vor dem Hintergrund entwertet, daß er aus der Heideggerschen Freiheit zum Tode etwas macht, was grundverschieden ist und doch demselben Geist entstammt. Auch Löwith wertet Schmitts Entscheidung als rein situationsbezogen ist und ohne jeden eigenen inhaltlichen Gehalt. Er weist dies und ihre enge Verknüpfung mit dem Krieg konkret an Schmitts Begriff des Politischen nach: »Wenn aber Schmitt im Zusammenhang damit sagt, das Wesen des Staates reduziere sich somit notwendig auf eine absolute und ›aus dem Nichts geschaffene‹ Entscheidung, die nicht zu rechtfertigen ist, so charakterisiert er […] damit seine eigene Position […]. Dieser aktive Nihilismus ist vielmehr nur Schmitt selbst und seinen deutschen Geistesverwandten des 20. Jahrhunderts zu eigen. […] Dieser nihilistische Grund einer durch nichts mehr gebundenen Entscheidung wird vollends deutlich im Begriff des Politischen. Wenn man wie Schmitt zur Bestimmung des Politischen durch den Begriff der souveränen Entscheidung von jedem zentralen Sachgebiet abstrahiert, bleibt als Wort der Entscheidung folgerichtig nur übrig der jedes Sachgebiet übersteigende und es in Frage stellende Krieg, d.h. die Bereitschaft zum Nichts […]. Allein die Bereitschaft zum Tod und zum Töten, aber nicht irgendeine Ordnung des Gemeinschaftlichen Lebens, wie sie im ursprünglichen Sinn der Polis liegt, wird zur ›obersten Instanz‹ für Schmitts Begriff vom Wesen der Politik, für den der

185 Karl Löwith: Der okkasionelle Dezisionismus, S. 38.

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Normale Fall des Zusammenlebens in einer öffentlichen Gemeinschaft nicht das Spezifische ist.«186 Daher lehnt Schmitt nicht den Krieg an sich, sondern lediglich eine solche moralische Begründung des Krieges, die ihn als notwendiges Übel auf dem Weg zu einem ethisch besseren Zustand betrachtet, rundweg ab. Seine Argumentation ist dabei wesentlich polemisch und inhaltlich zudem höchst fragwürdig: »Solche Kriege sind notwendigerweise besonders intensive und unmenschliche Kriege, weil sie, über das Politische hinausgehend, den Feind gleichzeitig in moralischen und anderen Kategorien herabsetzen und zum unmenschlichen Scheusal machen müssen, das nicht nur abgewehrt, sondern definitiv vernichtet werden muß, also nicht mehr nur ein in seine Grenzen zurückzuweisender Feind ist. An der Möglichkeit solcher Kriege zeigt sich aber besonders deutlich, worauf es für die Unterscheidung von Freund und Feind für die Erkenntnis des Politischen allein ankommt. Jeder religiöse, moralische, ökonomische, ethnische oder andere Gegensatz verwandelt sich in einen politischen Gegensatz, wenn er stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind effektiv zu gruppieren. Das Politische liegt nicht im Kampf selbst, der wiederum seine eigenen technischen, psychologischen und militärischen Gesetze hat, sondern, wie gesagt, in einem von dieser realen Möglichkeit bestimmten Verhalten, in der klaren Erkenntnis der eigenen, dadurch bestimmten Situation und in der Aufgabe, Freund und Feind richtig zu unterscheiden.«187 Dabei gibt es für Schmitt eigentlich überhaupt »keinen rationalen Zweck, keine noch so richtige Norm, kein noch so vorbildliches Programm, kein noch so schönes soziales Ideal, keine Legitimität oder Legalität, die es rechtfertigen könnte, daß Menschen sich gegenseitig dafür töten. Wenn eine solche physische Vernichtung menschlichen Lebens nicht aus der seinsmäßigen Behauptung der eigenen Existenzform gegenüber einer ebenso seinsmäßigen Verneinung dieser Form geschieht, so läßt sie sich eben nicht rechtfertigen«.188 Damit aber begibt er sich in einen Zirkelschluß, der wohl nicht zuletzt darüber hinwegtäuschen soll, daß die Grundlage seiner Entscheidung zwischen Freund und Feind keine natürliche oder »seinsmäßige«, sondern eine gewollt herbeigeführte ist, mit dem Ziel, diese Entscheidung jeder kritischen Überprüfung zu entziehen. Und so verfällt Schmitt selbst in die Muster des religiösen Endkampfes, wenn er am 4. Oktober 1936 verkündet: »Indem ich mich des Juden erwehre – sagt unser Führer Adolf

186 Ibid., S. 42-44. 187 Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen, S. 37. 188 Ibid., S. 49f.

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Hitler – kämpfe ich für das Werk des Herrn«.189 Schon Löwith hat diesen Selbstwiderspruch Schmitts nachgewiesen: »Die Idee eines gerechten Krieges wird von Schmitt mit einem Hinweis auf Grotius kurzerhand abgewiesen, desgleichen jede moralische Rechtfertigung. Daß infolgedessen als möglicher Rechtsgrund des Krieges nur die einer Rechtfertigung unbedürftige ›seinsmäßige Behauptung‹ der eigenen Existenz, der Kampf gegen einen ›wirklichen‹ Feind übrig bleibt, besagt aber nicht, daß Schmitts Begriff des Politischen etwa keinerlei moralische und metaphysische Voraussetzungen hätte, seien diese auch immoralistischer und nihilistischer Art.«190 Natürlich hätte Schmitt das selbst so nicht gesehen; er begriff sein Denken ja gerade als Ordnungsdenken, getragen von einem »Glauben an eine moralische, rein ideale (oder mythische, wie man sagte) Wirklichkeit, für die man leben, sterben, sich opfern sollte, wenn es galt, eine juristische Ordnung zu durchbrechen oder eine neue zu schaffen.«191 Es zeigt sich also bei genauerer Betrachtung, daß auch Schmitts »souveräne Entscheidung« nicht völlig in der Luft steht, sondern im Zweifel sehr irdisch motiviert ist. Eine Entscheidung zwischen Freund und Feind, eine Entscheidung, in der es vorgeblich um existenzbedrohende Seinsgegensätze geht ist immer eine, die unterscheidet zwischen denen, die sind »wie ich« und denen, die im Gegensatz dazu stehen, die also anders sind. Hier kann es nicht – im Sinne der Bibelauslegung Hermann Cohens heißen: »Liebe den Andern, denn er ist wie Du«; hier kann es nicht um eine säkularisierte Achtung vor dem Andern gehen, die mehr ist als ein »Respekt« vor seiner Gefährlichkeit – ein Respekt, der

189 Carl Schmitt: Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf mit dem jüdischen Geist. In Deutsche Juristen-Zeitung 1941, 1197f. 190 Karl Löwith: Der okkasionelle Dezisionismus, S. 47. 191 Giovanni Gentile: Grundlagen des Faschismus; Köln 1936, S. 19. In diesem Sinne heißt es auch ibid., S. 61: »Deshalb ist der Faschismus idealistisch; er beruft sich auf den Glauben; er erhebt die geistigen Werte (Familie, Vaterland, Kultur, Menschengeist) über jeden zufälligen Wert. Und er proklamiert eine Moral des Opfers und des Kriegsdienstes, nach der das Individuum stets bereit sein muß, auch den Tod für eine über ihm stehende Wirklichkeit hinzunehmen. Der Faschismus ist deshalb durch seine eigene Logik dazu gebracht worden, das Wiedererwachen des religiösen Bewußtseins der Italiener zu fördern; und er verwendet seine lebhafteste Sorge auf die Jugenderziehung in den Schulen und vormilitärischen Institutionen, die er gegründet und in einem System geordnet hat, das vom frühesten Alter bis zu den Jahren des Militärdienstes geht.«

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gleichzeitig Begründung zur Vernichtung des Anderen ist.192 Der Andere ist eben nicht »wie ich«, »Meinesgleichen« – sondern er ist der Feind, und als solcher unterliegt er seinem eigenen Gesetz, wie der emeritierte Verfassungsrechtler Gerd Roellecke in neuerer Zeit unter dem Gewande einer »antike[n] Klugheitsregel« mit einer Deutlichkeit feststellte, die keine Wünsche offenläßt: »Feinde bestraft man nicht. Feinde ehrt und vernichtet man.«193 Spätestens hier sind wir wieder bei dem von Schmitt verurteilten moralisch begründeten Krieg angekommen. Aber was sind die Kriterien, anhand derer man den Feind, der uns negieren will, erkennen kann? Schmitt benennt ein eindeutiges Kriterium für diese Gruppenzugehörigkeit, das auch Löwith bereits identifiziert hat und das seiner seiner Charakteristik von Schmitts Voraussetzungen als »moralische und metaphysische« bzw. »immoralistische und nihilistisch« besonderes Gewicht verleiht.

192 Da Schmitt sich dennoch als Christ versteht, sieht er sich zu einer eher künstlichen Unterscheidung zwischen demjenigen, der »bloß« Gegner ist und dem, gegen den man – nicht persönlich, aber als Teil einer politischen oder »rassischen« Einheit, als Angehöriger eines Volkes – Krieg führt: »Feind ist nur der öffentliche Feind, weil alles, was auf eine solche Gesamtheit von Menschen, insbesondere auf ein ganzes Volk Bezug hat, dadurch öffentlich wird. Feind ist hostis, nicht inimicus im weiteren Sinne; πόλεμος, nicht εχθρός. […] Die viel zitierte Stelle ›Liebet eure Feinde‹ (Matth. 5,44 Luk. 6,27) heißt ›diligite inimicos vestros‹; vom politischen Feind ist nicht die Rede. […] Den Feind im politischen Sinne braucht man nicht persönlich zu hassen, und erst in der Sphäre des Privaten hat es einen Sinn, seinen ›Feind‹, d. h. seinen Gegner, zu lieben.« (Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen, S. 29f.). Zwar ist es sicher richtig, daß man einen politischen Feind nicht persönlich zu hassen braucht – aber sind politische Feindschaften wirklich etwas völlig anderes als persönliche? Geht es nicht hier wie dort oft genug um Interessengegensätze im weitesten Sinne, die nur auf unterschiedlichen Ebenen ausgetragen werden? Bei Schmitt ist das deshalb nicht der Fall, weil er Feindschaft zu einer Existenzfrage macht, der es um »Artgleichheit« geht – und die deshalb im Kern rassistisch ist. Jenseits dieses fragwürdigen Kriteriums bleibt vor allem festzuhalten, daß Schmitts Feststellung den ungemein praktischen Nebeneffekt besitzt, den Einzelnen von Verantwortung völlig freizusprechen – er kann mit vollem Recht von sich behaupten, in Eichmannscher Manier ein bloßer, unschuldiger Buchhalter des Terrors, »privat« aber ganz anders zu sein. So ist der Mensch in und an jeder Situation unschuldig, selbst wenn er einer der Täter ist, die sehr aktiv diese Situation erst entstehen lassen. 193 Gerd Roellecke: Der Rechtsstaat im Kampf gegen den Terror. In Juristen-Zeitung 61/6 (2006); S. 265-270, S. 265.

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Denn es ist wie bereits angedeutet: wo Löwith im Sinne Cohens und Kants den Anderen als »Meinesgleichen« begreift, sieht sich Schmitt genötigt, weiter zu differenzieren: »Innerhalb einer radikal dezisionistischen Staatstheorie, für die der Staat der politische status des Volkes ist, äußert sich dieses Problem darin, daß gefragt werden muß nach der Art der Verbindung, die zwischen dem ›Führer‹, der souverän entscheidet, und seiner ›Gefolgschaft‹ besteht. Auch hier vermag die bloße Polemik gegen den humanitären Menschenbegriff und die demokratische ›Homogenität‹ das Problem der menschlichen Gleichheit nicht zu beseitigen. Auch Schmitt kann nicht umhin, nach einer Gleichheit zu suchen, die die politische Einheit zwischen dem, der führt, und denen, die ihm gehorchen, menschlich verbürgt und trägt. Als eine solche Gleichheit nimmt Schmitt die sogenannte Artgleichheit in Anspruch. […] Das neue Beamtengesetz bemühe sich […] um substanzhafte Artgleichheit des deutschen Volkes mit der politischen Führung: denn Artfremde könne man nicht politisch führen. Die Artgleichheit gebe auch schon die Antwort auf die Frage, ob der neue Staat ein Rechtsstaat sei. Er sei ein gerechter Staat, weil er vom Vertrauen eines artgleichen Volkes getragen werde. Doch bestimmt Schmitt im Begriff des Politischen nirgends des Näheren die spezifische Art dieser Artgleichheit. Nur an einer Stelle wird indirekt deutlich, daß er, wie die meisten anderen auch, darunter eine völkische Gleichheit im Sinn der Rasse versteht. […] Schmitt versteht darunter den Gegensatz von Nichtariern oder Juden und sogenannten Ariern oder Nichtjuden. Und in der Tat gibt es gar kein besseres Beispiel für einen rein polemischen Begriff: denn was ein ›Arier‹ ist, läßt sich überhaupt nur bestimmen durch die Tatsache, daß er kein Nichtarier ist.«194 Antisemitismus als Platzhalter Nun dürfte es aber kein Zufall sein, daß Schmitt seine Definition der Artgleichheit im Sinne völkischer Rassentheorie nebst vielen eindeutig antisemitischen Passagen nach 1933 ebenso unproblematisch in seine Schriften einfügen, wie er sie nach 1945 wieder dadurch aus der Welt schaffen konnte, indem er die fraglichen Werke in den Ausgaben von 1932 wieder abdrucken ließ – in einer Form, in der sie bis heute erscheinen. Wie bereits erwähnt, hat Löwith Schmitts Denken als »okkasionell« und den Begriff der »Artgleichheit« als wesentlich polemisch entlarvt. Das bedeutet in der Konsequenz: es braucht überhaupt keinen Antisemitismus, ja noch nicht einmal rassistisch-völkisches Gedankengut, um im Geiste Schmitts unbehelligt denken zu können.

194 Karl Löwith: Der okkasionelle Dezisionismus, S. 55.

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Friedrich Balke hat mit Blick auf Schmitt darauf hingewiesen, dieser benenne »das Subjekt […] ausdrücklich nicht, sondern lässt es leer. Das heißt, dass der Umfang der Befugnisse im Ausnahmefall nicht vorab festgelegt werden kann. Es heißt außerdem, dass der Staat und seine nicht mehr reibungslos funktionierenden Organe parastaatliche Gruppen oder Personen ermächtigen können, das Gesetz des Handelns an sich zu reißen. Carl Schmitt ist, wie man mit einem glücklich gewählten Begriff Agambens sagen kann, der Theoretiker des ›fluktuierenden Imperiums‹, also der rechtlich nicht zu bändigenden und in keiner Institution ein für alle Mal verankerten souveränen Macht.«195 De facto ist Schmitts Kategorie der Artgleichheit zwar vorwiegend antisemitisch bestimmt, sie läßt sich aber mit vielen, nahezu beliebigen Inhalten füllen läßt, je nachdem, was im Sinne der politischen Machthaber gerade als entartet zu gelten hat. Schon Schmitts häufige Bezugnahme auf Staatsphilosophen der Gegenrevolution zeigt, daß sein eigentlicher Gegner – wenig überraschend für einen konservativen Revolutionär – der liberale, bürgerliche und demokratische Staat des 19. Jahrhunderts und mithin die Moderne ist, die dieser verkörpert. Was Schmitt letztlich vertritt, ist das, was er selbst im Marxismus erkennt: eine »Theorie unmittelbarer Gewaltanwendung […], eine Theorie der direkten Aktion«,196 die allerdings bei Schmitt mangels eigener, positiver Gehalte abhängig bleibt von einem stets neu zu konstruierenden Extremfall, in dem der jeweilige Führer »im Augenblick der Gefahr kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft«,197 um die Ordnung fortgesetzt zu legitimieren und das Recht zu schützen. Ob es auf diese Ordnung als solche tatsächlich ankommen kann und darf? Positiv ist es mehr als fraglich, wie aus diesem Begriff eine Lebens-Ordnung abgeleitet werden kann, die auch für einen Normalfall gilt, also eine Situation, die nicht von einer undiskutierbaren Ausnahme und der Frage nach der nackten Existenz bestimmt wird, sondern in der die alltägliche Ordnung der menschlichen Dinge, etwa seine familiären und gesellschaftlichen Bindungen, im Mittelpunkt stehen. Sie kommen bei Schmitt nicht vor, weil nicht die Ordnung, sondern die Ausnahme für seinen Begriff des Politischen bestimmend ist.

195 Friedrich Balke: Mit diesem Staat ist kein Staat mehr zu machen; in Literaturen 4/2008, S. 20-25, S. 21. 196 Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus; Berlin 1961, S. 76. 197 So Carl Schmitts Kommentar zum Röhmputsch in der Deutschen Juristen-Zeitung vom 1.VIII.1934. Zitiert nach Peter Oestmann: Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren; Köln 2015, S. 254.

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Ausnahmezustand, innere Sicherheit und Terror Daher ist es umso erstaunlicher, daß die Vorstellungen der Artgleichheit und das Freund/Feind-Schema nicht nur von Schmitt selbst, sondern bis heute von seinen Schülern vertreten und verwendet werden, ja sogar eine gewisse politische Renaissance erfahren. Oft werden sie garniert mit der Rede von politischer »Notwendigkeit«, die sich ebenfalls gut ins Pathos der 20er und 30er Jahre einfügt. 198 Schmitts inhaltliche Unbestimmtheit erweist sich heute einmal mehr als Vorteil, da sich dank dieser inhaltlichen Unschärfe suggerieren läßt, man wolle die geltende Rechtsordnung nicht aushebeln, sondern lediglich um ein nützliches »Feindstrafrecht« erweitern, das die demokratische Ordnung sinnvoll ergänzen könne – was schon deshalb nötig sei, weil sich beispielsweise der islamistische Terrorist grundsätzlich außerhalb der Rechtsordnung bewege und diese negiere.199 So kann man sich als aufrechter Demokrat und Vordenker gerieren, während man inhaltlich schon längst ganz andere Positionen vertritt und daran

198 So verknüpft Heidegger Wissenschaft, Staat und Notwendigkeit in der Rektoratsrede wie folgt: »Die Selbstbehauptung der deutschen Universität ist der ursprüngliche, gemeinsame Wille zu ihrem Wesen. […] Wissenschaft und deutsches Schicksal müssen zumal im Wesenswillen zur Macht kommen. Und sie werden es dann und nur dann, wenn wir – Lehrerschaft und Schülerschaft – einmal die Wissenschaft ihrer innersten Notwendigkeit aussetzen und wenn wir zum anderen dem deutschen Schicksal in seiner äußersten Not standhalten.« Notwendig ist dabei sehr buchstäblich das, was die deutsche Schicksalsnot wendet, es ist das »Sein«, bzw. die Erkenntnis desselben. Löwith schreibt dazu: »Das Sein ist einfach ›es selbst‹; es ist aber auch das Offene, Lichtende und Heile; es ist auch das Schickende und Ereignende, welches zeitlich anwest und künftig ankommt, eine Art Advent. Das, was im ausgezeichneten Sinn ›ist‹, ist sich ankündigend in dem weltgeschichtlichen Augenblick einer ›Weltnot‹. Das Eine und Wesentliche ist das Eine, was not tut, und allein aus dieser Not begründet Heidegger auch die ›Notwendigkeit‹ seines Denkens. Es ist vorzüglich dieser religiöse Unterton eines epochalen und eschatologischen Bewußtseins, auf dem die Faszination von Heideggers Denken beruht.« (Martin Heidegger: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, S. 10 / Karl Löwith: Heidegger – Denker in dürftiger Zeit (1953). In id.: Schriften 8; S. 124-234, S. 130). 199 Vgl. hierfür Wolfgang Hetzer: Rechtsstaat oder Ausnahmezustand? Souveränität und Terror; Berlin 2008, insbesondere S. 194-200. Hetzer weist auch nach, daß die Debatte um ein Feindstrafrecht nicht erst durch islamistischen Terror aufgekommen ist, sondern in der Bundesrepublik seit mindestens 1985 geführt wird (ibid., S. 201).

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arbeitet, eine liberal geprägte Rechtsordnung und die mit ihr zwingend verknüpften universalen Menschenrechte abzuschaffen. In der aktuellen Sicherheitsdebatte, wie sie seit dem 11. September 2001 erneut geführt wird, ist in diesem Sinne »Terrorismus eine Form der Kriegführung, zu dessen Bekämpfung es eines neuartigen Präventionsrechts mit kriegsrechtlichen Elementen« bedarf, schon weil sie »gewissen Formen der Schädlingsbekämpfung« gleicht200. Schon in der Wortwahl zeigt sich, wie der Rückgriff auf Gedanken Carl Schmitts gegen die Menschenrechte in Stellung gebracht wird. Unter dem Banner der Notwendigkeit wird eine Situation geschaffen, in der sich die Befugnisse staatlicher Gewalt nahezu beliebig ausweiten lassen. Im so geschaffenen Extremfall kann jeder zum Terroristen werden, der kein »Bürger« ist. Und Bürgerrechte sind eben keine Menschenrechte, sondern können von der Erfüllung sogenannter »Bürgerpflichten« abhängig gemacht werden, die nicht grundsätzlich festgeschrieben werden brauchen, damit sie politisch bestimmbar bleiben und im Zweifelsfalle weit über den gesetzlichen Rahmen hinausreichen können. Sie können dann aufgrund ihrer primären Stellung auch fundamentale Menschenrechte negieren. Schon die grundsätzlich sehr flexibel gehandhabte Anwendung des Terrorbegriffes läßt sich als Indiz dafür heranziehen. Walter Laqueur schrieb bereits 1977: »In letzter Zeit wird der Begriff ›Terrorismus‹ (wie ›Guerilla‹) in so vielen verschiedenen Bedeutungen benutzt, daß er fast völlig seinen Sinn verloren hat. Fast jede und nicht unbedingt nur politische Art der Gewalt wird so beschrieben.«201 Bis heute hat sich nichts an dieser begrifflichen Unschärfe geändert.202 Hinzu kommt seine propagandistische Dimension: Der Begriff des Terrors »is generally pejorative. Some governments are prone to label as terrorism all vio-

200 Vgl. ibid., S. 191. Hetzer umschreibt hier die Position des Freiburger Juraprofessors Michael Pawlik, der 2008 in einem Aufsatz für die FAZ gegen die »verbissenen Verteidiger eines wirklichkeitsenthobenen Rechtsstaatsideals« »die Inhaftierung bis zum Ende der Feindseligkeiten und die Tötung, und zwar grundsätzlich auch außerhalb konkreter Kampfhandlungen« von Terrorverdächtigen forderte (siehe Michael Pawlik: Der Terrorist will nicht resozialisiert werden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 47 vom 25.II.2008, S. 40). 201 Walter Laqueur: Terrorismus; Kronberg 1977, S. 7. 202 Vgl. Ninian Stephen: »a curiosity about terrorism is the absence of agreement as to what is and is not terrorism. […] In the literature there exist innumerable definitions of terrorism, but no general consensus« (id.: Toward a Definition of Terrorism. In Tony Coady / Michael O’Keefe (ed.): Terrorism and Justice. Moral Argument in a Threatened World; Melbourne 2002, S. 1-7, S. 1).

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lent acts committed by their political opponents, while anti-government extremists frequently claim to be the victims of government terror. What is called terrorism thus seems to depend on oneʼs point of view. Use of the term implies a moral judgment; and if one party can successfully attach the label terrorist to its opponent, then it has indirectly persuaded others to adopt its moral viewpoint. Terrorism is what the bad guys do.«203 Die Grundlage für die Entscheidung darüber, ob jemand Terrorist oder Bürger ist, ist ähnlich beliebig wie das Kriterium der »Artgleichheit«, und in der Tat können beide Kriterien zusammenfallen, wie der politische Kampfbegriff des »Flüchtlingsterrors« beweist, der nichts anderes bezeichnet als die illegale Grenzüberschreitung durch Kriegsflüchtlinge. So wird es einfach, einen Notstand zu proklamieren, zu dessen Abwehr dann in rechtsextremen Kreisen der Einsatz von Schußwaffen gegen Frauen und Kinder für verhältnismäßig gehalten und gefordert wird. Ein anderes konkretes aktuelles Beispiel für die Fortdauer solcher Denkmuster finden wir bei dem Bonner Juraprofessor Otto Depenheuer, der 2007 in einer Schrift mit dem Titel »Selbstbehauptung des Rechtsstaates« wohl nicht zufällig an Martin Heideggers berüchtigte Rektoratsrede von 1933 erinnert. Depenheuer bescheinigt dem Terroristen, er frage »nicht nach Recht, weil er sich das Recht gewaltsam nimmt. […] Der Terror setzt die berechenbaren Maßstäbe des bürgerlichen Lebens außer Kraft, verbreitet Angst und Mißtrauen, weil er jederzeit und überall zuschlagen kann und jeder Bürger potentiell Terrorist sein könnte.«204 Hier finden wir eine völlig entgrenzte Terrordefinition, nach der deshalb auch »jeder Bürger potentiell« verdächtig wird, eine Haltung, die bei Geheimdiensten in totalitären Systemen, wie der Staatssicherheit der DDR, zur offiziellen Doktrin gehört. Es ist logisch, daß auch für Depenheuer der demokratische Verfassungsstaat aus diesem Grunde vor allem ein Problem darstellt, das in seiner jetzigen Form beseitigt werden muß. Dies wird deutlich, wenn er die »Herausforderung der Sicherheitsverfassung« beschreibt: »Allerdings zeigt sich der Staat des Grundgesetzes nur bedingt abwehrbereit: als Rechtsstaat kann er terroristischer Gewalt nur nach Maßgabe des Rechts begegnen, die Sicherheitsverfassung ist lückenhaft und die Menschenwürde steht nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts im Grenzfall Maßnahmen staatlicher Selbstbehauptung gegen terroristische Angriffe sogar absolut entgegen.«205 Obwohl der Rechtsstaat längst durch terroristische Gewalt existentiell bedroht werde, sich im

203 Brian Michael Jenkins: The Study of Terrorism: Definitional Problems (ed. The RAND Corporation); Santa Monica 1980, S. 1. 204 Otto Depenheuer: Selbstbehauptung des Rechtsstaates; Paderborn 2008, S. 21. 205 Ibid., S. 20.

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Kriegszustand befände und äußerste Maßnahmen dringend erforderlich seien, verweigert sich der Staat nach Depenheuers Überzeugung schlicht seiner Verantwortung: »Statt dessen wird der Ausnahmezustand verdrängt, der Feind zum Grundrechtsträger und die Opfer möglicher terroristischer Anschläge werden buchstäblich allein und ihrem Schicksal überlassen.«206 Um diese Problematik zu lösen, tritt Depenheuer, ganz im Sinne von Carl Schmitts souveräner Entscheidung zwischen Freund und Feind, für die Schaffung eines Feindstrafrechts ein, das den Ausnahmezustand in die Rechtsordnung einbinden soll. Dabei knüpft er auch in seiner Definition des Feindes unmittelbar an Carl Schmitt an: »der Feind ist nicht intellektueller Gegner, wirtschaftlicher Konkurrent oder künstlerischer Rivale. Während diese auf der Basis einer gemeinsamen Ordnung kämpfen, besteht jene gemeinsame Basis zwischen dem Bürger und dem Feind gerade nicht. Der Feind repräsentiert eben das ganz Andere, die alternative Möglichkeit der eigenen politischen Existenz, die Umwertung aller für wahr gehaltenen Werte: damit ist ›der Feind unsere eigene Frage als Gestalt‹.«207 Genau wie bei Carl Schmitt ist auch bei ihm die Entscheidung zwischen Freund und Feind nicht eindeutig zu treffen: »Feindrecht als reines Gefahrenabwehrrecht beruht als solches stets auf Prognosen, muß also den Fall bedenken, daß der vermutete Feind keiner ist, die Gefahr, die von ihm auszugehen scheint, in Wahrheit nicht existiert.«208 Daher muß der Rechtsstaat nach Depenheuer »dem terrorverdächtigen Feind also jedenfalls ein subjektives Recht zugestehen, nämlich auf gerichtliche Klärung seines Status: als feindlicher Terrorist oder als bürgerlicher Verbrecher.«209 Da mittlerweile die Eliminierung von Terroristen auch ohne Gerichtsverfahren, etwa durch Drohnenangriffe, politische Praxis geworden ist, dürfte auch dieses Recht den vermuteten Feinden des Rechtsstaates post factum et mortem bestimmt große Dienste erweisen. Es stellt sich hier die Frage, wie man einen Krieg führen und gewinnen will, bei dem der Feind nicht klar erkennbar ist – und wie man diesen Krieg an sich begründen will, wenn man nicht entscheiden kann, gegen wen man ihn führt und man das, was man zu verteidigen vorgibt – die Rechtsordnung – in der Praxis der

206 Ibid., S. 29. Es ist natürlich fraglich, ob der Insasse eines mutmaßlich entführten Flugzeugs, das nach dem von Depenheuer vehement befürworteten (aber verfassungswidrigen) Luftsicherheitsgesetz abgeschossen worden wäre, über diese staatliche Fürsorge erfreut gewesen wäre. 207 Ibid., S. 56. Depenheuer zitiert hier nach Carl Schmitt: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen; Berlin 1975, S. 87. 208 Id.: Selbstbehauptung des Rechtsstaates, S. 64. 209 Ibid., S. 65.

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Verteidigung selbst negiert. All diese Unsicherheiten haben gravierende Folgen, die man sich bei der Lektüre vor Augen halten muß – nicht zuletzt die, daß der »Ausnahmezustand« wie schon im 3. Reich eben kein Ausnahmezustand ist: der Krieg gegen den Terror währt immerhin seit 2001, also mittlerweile über 15 Jahre. Er verewigt sich selbst. In diesem Kampf gegen diesen so unbestimmten Feind und Terror, der möglicherweise »in Wahrheit nicht existiert« ist es dann auf einmal nicht mehr »grauenhaft und verrückt« bzw. »ein manifester Betrug«, »von den Menschen zu verlangen, daß sie Krieg führen und im Kriege töten und sich töten lassen«210 – im Gegenteil. Das gilt sowohl für den Kampf gegen den Feind – »zum Feindgefahrenabwehrrecht würden auch spezielle […] Maßnahmen der präventiven Sicherungsverwahrung ebenso zählen wie solche der Internierung potentiell gefährlicher Personenkreise oder die kontrovers diskutierte Frage nach einer – rechtsstaatlich domestizierten – Folter«211 – wie auch für das Verhältnis zwischen Staat und Bürger. Denn dies ist für Depenheuer »nicht durch Grundrechte, sondern durch Grundpflichten charakterisiert.«212 »Sowohl die Erwartung der Opferbereitschaft der anderen als auch die Bereitschaft zum eigenen Opfer für die Gemeinschaft bildet die Konsequenz des Lebens in staatlicher Gemeinschaft.«213 Das bedeutet im Extremfall die Suspendierung der Menschenrechte und der eigenen Rechtsordnung, sofern sie sich dem Schutz der eigenen Bürger verschrieben hat. Der Bürger wird damit zur bloßen Verfügungsmasse des Staates, die aufgeklärte Feststellung, der Mensch sei zuerst Mensch und erst in zweiter Linie Bürger, der Staat hingegen ein bloßes Notinstrument, wird konsequent in ihr Gegenteil verkehrt. Depenheuer allerdings sieht in der (auch gewaltsamen) Einforderung dieses Menschenopfers eine höhere Würde begründet als die, die der Mensch qua Geburt durch die universalen Menschenrechte zugesprochen bekommt; denn der Staat gibt seinem Bürger durch diese Aufopferung die Möglichkeit, überhaupt erst ein richtiger Mensch zu werden: »Wer sein Leben hingegen für nichts zu opfern bereit ist, sondern unter allen Umständen nur leben will, […] der ›läuft Gefahr, ein Niemand zu sein: Er hat nicht Charakter, sondern nur Wünsche, Bedürfnisse und Begierden. […] Dadurch werden auch kaum Spuren hinterlassen; diese Existenz trifft auf kaum mehr als Gleichgültigkeit‹. Tatsächlich kann das einzelne Mitglied eines Solidarverbandes, das im Gefahrenfall das Risiko der

210 Siehe Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen, S. 49. 211 Otto Depenheuer: Selbstbehauptung des Rechtsstaates, S. 72. 212 Ibid., S. 90. 213 Ibid., S. 91.

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Selbstaufgabe seines Lebens für die Gemeinschaft bewußt eingeht, darin seine Selbsterfüllung finden. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Begründung des Bundesverfassungsgerichts, den Abschuß [eines entführten Flugzeugs – J.S.] unter Hinweis auf die Würde der unschuldigen Passagiere zu verbieten, auch unter ethischen Gesichtspunkten mehr als fragwürdig: das Gericht nimmt den dem Tode geweihten unschuldigen Passagieren die letzte ihnen verbliebene Würde, sich für die Gemeinschaft in einer Situation äußerster und auswegloser Gefährdungslage aufzuopfern.«214 Erst durch dieses Opfer erhält daher sowohl der Bürger seine Menschlichkeit – und die Gemeinschaft ihre unhinterfragbare Selbstlegitimation: »Indem der Einzelne durch sein Opfer für die ihn tragende Gemeinschaft den Sinn seiner Existenz erfährt, verbürgt er mit seinem Leben den Sinn und den Wert eben dieser Gemeinschaft: denn ›alle Dinge, für welche wir Opfer gebracht haben, sind im Recht‹.«215 Kann ein Autor, der solche Sätze niederschreibt, der Frage entgehen, ob es in jüngerer Vergangenheit ein politisches Gemeinwesen gab, das so viele Opfer eingefordert und sehr häufig auch bereitwillig erhalten hat wie das Dritte Reich? Welche Konsequenzen zieht er daraus? Sind solche Sätze einfach eine Unachtsamkeit, historische Dummheit oder sind sie ein Mene Tekel dafür, daß der Versuch, Menschenwürde über die politische Gemeinschaft zu bestimmen, zwangsläufig zu einem illiberalen Totalitarismus führt? Verglichen mit Rousseaus These, daß der Mensch von Natur aus zuerst Mensch und erst dann Bürger sei, die sich Karl Löwith zu eigen macht, wird deutlich, daß hier ein exklusiver Begriff von Menschenrechten vertreten wird. Denkt man Depenheuers Thesen zu Ende, landet man sehr rasch bei einem ziemlich eigenwilligen Begriff menschlicher Rechte und Freiheit. Hier werden die klaren Regelungen der Menschenrechte mutwillig durch eine Abwägungssituation ersetzt, in der die Menschenrechte systematisch gegeneinander ausgespielt werden. In diesem Sinne formulierte ein ehemaliger Justizkommissar der EU: »Die erste Freiheit ist, lebendig zu sein«216 – eine Freiheitsidee, die sich im Grunde auch auf ein islamistisches Kalifat oder ein faschistisches Arbeitslager anwenden ließe und sich zudem mit der staatlichen Einforderung des Bürgeropfers auch beliebig einschränken ließe. Es kann hier überhaupt kein Zweifel bestehen: eine solche Haltung läuft der liberalen und demokratischen europäischen

214 Ibid., S. 99f.. 215 Ibid., S. 103f.. 216 Franco Frattini: »Verrückt nach Sicherheit«. EU-Justizkommisar Franco Frattini über seinen Kampf gegen Terroristen und für die perfekte Überwachung der Bürger; In DER SPIEGEL Nr. 11/2008, S. 40f., S. 40.

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Tradition völlig zuwider. Es gibt keine Rangordnung der Freiheiten oder der Grundrechte. Es gibt auch keine Ordnung, nach der bestimmbar wäre, welche Menschen ein Anrecht auf bestimmte Freiheitsrechte haben und welche nicht. Wer sich anschickt, solche Ranglisten aufzustellen schafft keine Rechtssicherheit, sondern zerstört sie dauerhaft. Der langjährige Verfassungsrichter Dieter Grimm schrieb denn auch, ein »Staat, der seine Feinde außerhalb des Rechts stellt, hört damit auf, ein Rechtsstaat zu sein. […] Auf der Menschenwürde ruht die gesamte Verfassungsordnung. Sie gilt absolut.«217 Man muß sich dabei verdeutlichen, daß Depenheuers Thesen nicht ein vereinzeltes Symptom sind, sondern nur ein Teil von Entwicklungen, die in den letzten Jahren zunehmend Raum in der politischen Auseinandersetzung gewonnen haben. Bis heute ist Schmitt ein geistiger Stammvater, der »für einen Politikansatz der Konsequenz und der Rücksichtslosigkeit [steht] – wofür er bis heute von der neuen Rechten verehrt wird«.218 Wie schon vor 80 Jahren ist ein wesentlicher Bestandteil dieser Rücksichtslosigkeit nicht so sehr die bloße Ausgrenzung des fremden Anderen – es ist der Verzicht auf Unterscheidungen, es ist die Absolutsetzung und Totalisierung des Feindes. Das ist das Ende von Liberalismus und Pluralismus, es ist das Ende einer offenen Gesellschaft: »Nur in einem totalitären Regime kann der Feind absolut gesetzt und dann auch absolut bekämpft werden. Genau deshalb wird der auf Diskriminierung und FreundFeind-Schemata verzichtende Liberalismus so verachtet. Die Gesellschaft, die die neuen Rechten anstreben, ist hinter all der sprachlichen Tarnung vor allem eine, in der der Feind die Minderheiten sind, welcher Art sie auch sein mögen, und in der die Diskriminierung selbiger zum Normalzustand erklärt wird. […] Am Ende lässt sich die Stoßrichtung der neuen Rechten gut zusammenfassen: Sie sind gegen die Werte der Aufklärung, gegen die Werte der Französischen Revolution. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – jeder dieser Gedanken, umso mehr, wenn er auf ganz Europa oder gar auf die Weltgesellschaft angewandt werden soll, ist den radikalen Rechtsdenkern zuwider. […] Den Ansatz, die menschliche

217 Dieter Grimm: Innere Sicherheit. Aus der Balance; In DIE ZEIT Nr. 49/2007, S. 14. Vgl. auch schon id.: Sicherheit geht immer auf Kosten der Freiheit; in: DIE ZEIT Nr. 34/2006, S. 15. Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen der Terrorismusbekämpfung auch: Hans-Heiner Kühne: Unzeitgemäße Betrachtungen zum Problem des Terrorismus. In Thomas Feltes / Christian Pfeiffer / Gernot Steinhilper (ed.): Kriminalpolitik und ihre wissenschaftlichen Grundlagen. Festschrift für Professor Dr. Hans-Dieter Schwind zum 70. Geburtstag; Heidelberg 2006, S. 103-110, S. 103, 106ff. 218 Liane Bednarz / Christoph Giesa: Gefährliche Bürger, S. 52.

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Vernunft und wissenschaftliche Erkenntnisse über Religion und Traditionen zu stellen, den Kampf gegen Vorurteile und die Idee der Toleranz, die Emanzipation des Individuums von Institutionen und Organisationen und die dafür notwendige Garantie bürgerlicher Rechte und Freiheiten – all das lehnen die neuen Rechten ab.«219 So wie »der Feind« oder »der Terrorist« Typen sind, die sich über reine Polemik hinaus nicht klar bestimmen lassen, so ist auch der eigene Werthorizont, der hier verteidigt werden soll, letztlich ohne klaren Inhalt und Charakter. Dies gilt für die »neuen« Rechten ebenso wie für die »alten«, die – wo sie den Nationalsozialismus philosophisch begründen wollten, grundsätzlich mit solchen realitätsfernen Typisierungen arbeiteten. Löwith arbeitet das in seiner Kritik an Carl Schmitt ebenso heraus wie in seiner Auseinandersetzung mit Ernst Jüngers programmatischer Schrift Der Arbeiter, von der auch Martin Heidegger stark beeinflußt wurde. Entscheidend ist dabei für Löwith, daß diese Typisierungen oder »Gestalten« alles sinnlos zerstören, was menschliches Zusammenleben ausmacht – und das vor allem dadurch, daß sie den Menschen an sich aufheben, vollkommen nivellieren und auf dieser Basis einen neuen Glauben, einen neuen Gott zu schaffen versuchen: »Jüngers Idee des Arbeiters verneint alle bürgerliche Humanität, Bildung und Sekurität, sie steht auch schon jenseits des Grauens vor dem Zerfall dieser Welt. Seine Verneinung umfaßt die bisherigen Alternativen von Zivilist und Militär, Bourgeois und Proletarier, Gebildeten und Ungebildeten, welche er als sich gegenseitig bedingte Gegensatzpaare erkennt. Was von der bürgerlichen Demokratie im Staat des Arbeiters übrigbleibt, ist – auf Kosten der Freiheit – nur noch die Gleichheit: das gleiche Einbezogensein aller in den Rüstungs- und Arbeitsprozeß, zum Zweck der ›totalen Mobilmachung‹ aller Energien des Lebens. Die Freiheit, die Jünger behauptet, ist nicht ›liberal‹, sondern ein ›Wille zum Auftrag‹ und ihre politische Erscheinungsform keine freie Gesellschaftsordnung, sondern die gewollte Unterordnung im Staat. […] Seinem eigentümlichen Anspruch nach ist der Arbeiter überhaupt kein soziales und ökonomisches Problem, sondern bestimmt durch sein unmittelbares Verhältnis zur Technik und andrerseits zu den elementaren Mächten der Welt. […] Was der Arbeiter ist und schafft, läßt sich individuell und psychologisch nicht deuten. […] Die Frage aber nach dem Wozu dieses so verstandenen Arbeitens wäre für Jünger ein falsch gestelltes Problem, weil es ihm darauf ankommt, ›mit einem Minimum an Warum und Wozu‹ existieren zu können, ›wollen und glauben zu können, ganz abgesehen von den Inhalten, die sich dieses Wollen und Glauben gibt.‹ […] Die Konsequenzen, die sich aus Jüngers nihilistischem Wollen für den

219 Ibid., S. 53-55.

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Begriff der Arbeit ergibt, ist, daß sie ›abstrakt‹ in höchster Potenz ist: sie abstrahiert nicht nur von der Humanität, sondern auch von sich selbst, indem ihr jeder bestimmte Zweck des Bearbeitens fehlt. Sie richtet sich weder nach dem Wesen des Geistes noch nach dem Wesen des Menschen, vielmehr wird sie als eine Funktion der totalen Mobilmachung zu einem anonymen Prozeß, der den Menschen entmenscht. Sie ist keine praktische Bildung des Menschen und keine Bildung der Welt, denn sie formiert nur, um zu zerstören, nach dem Muster der ›Materialschlachten‹, in denen Jünger seine Idee aufging und auf die sie notwendig abzielt.«220 Man mag die in diesem Kapitel aufgezeigten Gedanken ablehnen, weil sie nicht in direkter Verbindung mit Löwith stehen. Sie sind aber trotz allem in seinem Geiste, denn sie bauen wesentlich auf seiner inhaltlichen Kritik an Martin Heidegger und Carl Schmitt auf und bezeichnen in aller Schärfe das, was Julien Benda den »Verrat der Intellektuellen« nannte, »deren Amt die Verteidigung ewiger und interessefreier Werte wie der Vernunft und der Gerechtigkeit ist und die […] dieses ihr Amt zugunsten praktischer Interessen verraten haben.«221 Auch wenn Löwith diese Konsequenz in seinem Werk nie selbst explizit gezogen hat, so ist Benda in seiner politischen Schlußfolgerung, die sich gegen Schmitt und die anderen antidemokratischen Theoretiker des autoritären Staates richtet, zuzustimmen: »Eine solche Haltung bedeutet flagranten Abfall von den geistigen Werten, wenn man davon ausgehen kann, daß Demokratie kraft ihrer Prinzipien […] eine kategorische Affirmation dieser Werte darstellt, namentlich dank ihrer Achtung vor der Gerechtigkeit, vor der Person und vor der Wahrheit. Jeder freie Geist wird anerkennen, daß das in der Erklärung der Menschenrechte oder in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung niedergelegte politische Ideal in eminenter Weise ein clerc-Ideal ist. […] Im Gegensatz dazu gewährt der ›Ordnungsstaat‹, eben weil er auf ›Ordnung‹ aus ist, den Individuen keinerlei Rechte – allenfalls denen einer gewissen Klasse. Er kann sich nichts anderes vorstellen als Verhältnisse, in denen die einen befehlen und die anderen gehorchen. Sein Ideal ist Stärke, nicht Gerechtigkeit. […] Fügen wir hinzu, daß der Ordnungsstaat auch mit der Wahrheit nichts anzufangen weiß. Bei keinem seiner Apostel findet man auch nur eine einzige Zeile zugunsten dieses Wertes, weder bei de Maistre noch bei Bonald noch bei Bourget noch bei ihren heutigen Nachfahren. Eine seiner vitalen Notwendigkeiten besteht im Gegenteil darin,

220 Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts. Anhang – Nachweise und Anmerkungen. In id.: Schriften 4; S. 539559, S. 552-554. 221 Julien Benda: Der Verrat der Intellektuellen; München 1978, S. 13.

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sich jeder Aufklärung der Geister, jeder Entwicklung des kritischen Sinnes zu widersetzen und die Menschen zum ›kollektiven‹ Denken zu zwingen, das heißt […] zum Verzicht auf das Denken überhaupt. So verkündete der Archont von Mein Kampf, es sei nicht gut, die jungen Gehirne mit unnötigem Gepäck zu belasten.«222 Die Ablehnung dieses Ordnungsstaates ist für einen aufgeklärten Intellektuellen, der sich selbst und seine Voraussetzungen versteht, geradezu zwangsläufig – wie für jeden Menschen, dem die Ideale der (Gedanken-)Freiheit und der Gerechtigkeit etwas bedeuten. Das hat auch Löwith verstanden, der sich affirmativ auf das hier zitierte Werk von Julien Benda bezogen hat und immer darauf bestand, sich nicht vereinnahmen zu lassen, gerade von totalitärem politischen Gedankengut und vermeintlichen historischen Zwängen.223

222 Ibid., S. 14-16. 223 So in seinem Aufsatz Marxismus und Geschichte (1958). In Karl Löwith: Schriften 2, S. 330-345. S. 343.

Der Gegenstandpunkt: Löwiths Forderung nach Humanität

Löwith setzt den totalitären Bestrebungen seiner Zeit nun nicht den Typus des demokratischen und liberalen Staatsbürgers entgegen, wohl aber den Menschen, der aufgeklärt, kritisch-abwägend und skeptisch seine Ziele und Möglichkeiten mit den Zeitläuften in Einklang bringt und entsprechend handelt. Dieses Ideal hat Löwith den Vorwurf eingetragen, sich von den großen Zeitfragen verabschiedet zu haben und stattdessen eine letztendlich unwesentliche, weil »naturalistisch-fatalistische« Position einzunehmen, wie Berthold Riesterer in seiner Analyse von Löwiths Interpretation der Gestalt des russischen Generals Kutusow in Tolstois Krieg und Frieden schreibt1 – man könnte eine solche Haltung auch als passiven Opportunismus bezeichnen. Und doch zeigt sich bei genauerer Untersuchung, daß diese Interpretation nicht viel mit Löwiths Verständnis des handelnden und politisch tätigen Menschen zu tun hat. Natürlich hat Riesterer auf den ersten Blick völlig recht, denn Löwith selbst schreibt über Kutusow, der für Tolstoi der entscheidende Gegenspieler Napoleons ist, daß sein »Prinzip des Handelns ein sich selbst verstehender Fatalismus ist«,2 wohingegen »Napoleon seine ihm tatsächlich nicht minder vorgezeichnete Rolle wie ein (sc. bewußter) Schauspieler spielt, in der Meinung er selbst sei es, von dem der Gang und Ausgang des Schauspieles abhängt, der zu befehlen und zu leiten glaubt, wo ihn faktisch doch auch nur die Ereignisse leiten. Napoleon hat nicht, wie Kutusow, die vollkommene ergebene Einsicht in das Schicksalhafte dessen, was geschehen muß und was er in dessen Sinne tun muß, und deshalb ist er auch nicht wie dieser ehrwürdig und tragisch, sondern ko1

Vgl. Berthold Riesterer: Karl Löwith’s View of History. A Critical Appraisal of

2

Karl Löwith: Burckhardts Stellung zu Hegels Geschichtsphilosophie (1928). In id.:

Historicism; Den Haag 1969, S. 22. Schriften 7; S. 9-38, S. 36.

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misch«.3 Nur: gerade an den von Riesterer kritisierten Stellen stellt Löwith mit Kutusow nicht einen weltabgewandten Opportunisten dar, der sich treiben läßt und ansonsten seinen Privatvorteil verfolgt, sondern einen Antagonisten, den man nur dann begreift, wenn man den Text auch als zeitgeschichtlichen Kommentar liest. Ein Indiz dafür ist auch Löwiths Neigung, zentrale Stellen seiner Aufsätze nur leicht variiert an anderer Stelle wiederzuverwenden. Diese Interpretation und Charakteristik Kutusows verwendet Löwith meines Wissens jedoch nur ein einziges Mal, in seiner Marburger Antrittsvorlesung 1928, die er unter dem Titel Burckhardts Stellung zu Hegels Geschichtsphilosophie publizierte. Auch aufgrund des zeitlichen Hintergrunds und Löwiths gleichfalls politisch motivierter Auseinandersetzung mit dem Faschismus liegt es nahe, diese Stelle eher im politischen Sinn denn als reine theoretische Betrachtung zu interpretieren. Löwith hat auch später seine Burckhardt-Monographie vor allem aus der Motivation heraus geschrieben, ein Gegenbild zu entwerfen zur faschistischen und nationalsozialistischen Hegel- und Nietzscheinterpretation, die sowohl Hegel als auch Nietzsche als Vordenker des Nationalsozialismus für sich reklamierte. Doch auch im zitierten Aufsatz, den man als Vorläufer zur späteren umfangreichen Studie sehen kann, ist dieses Motiv bereits zu finden. Löwith verwendet hier die Gegenüberstellung Kutusow-Napoleon, um sich von Hegels Geschichtsbild und seiner Deutung Napoleons abzugrenzen.4 Daß es sich bei Löwiths Darstellung nicht um eine harmlos-belanglose Interpretation Tolstois handelt, sondern er dabei vor allem seiner Zeit den Spiegel vorhält, wird – neben Kontext und zeitlichem Hintergrund der Textentstehung – aus mehreren kleinen Spitzen deutlich, wie sie generell typisch für Löwiths Philosophieren sind. Kutusow wird von Löwith als Mann beschrieben, der sich in allem vom Aktivismus politischer Führer unterscheidet und dem es an jeglicher

3

Ibid.

4

Löwith spricht an mehreren Stellen über »den ungeheuren Eindruck Napoleons« auf Hegel (hier Karl Löwith: Aktualität und Inaktualität Hegels (1971). In id: Sämtliche Schriften 5; S. 277-323, S. 310), wo er auch aus dem berühmten Brief Hegels an Friedrich Philipp Immanuel Niethammer vom 13.X.1806 zitiert, wo die Glorifizierung Napoleons als Verkörperung politischer Macht durch Hegel besonders deutlich wird: »den Kaiser – diese Weltseele – sah ich durch die Stadt zum Rekognoszieren hinausreiten; – es ist in der Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einen Punkt konzentriert, auf einem Pferde sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Briefe von und an Hegel Bd. 1. In id.: Sämtliche Werke Bd. 27; Hamburg 1952, S. 120).

Löwiths Forderung nach Humanität | 259

»Entschlossenheit«5 mangelt. Er ist jemand, »der eigentlich nie etwas ›tut‹, anordnet und befiehlt, der scheinbar überhaupt keine Entschlüsse faßt«.6 Napoleon hingegen wird als »bewußter Schauspieler« beschrieben, also als einer, der nicht nur eine Rolle spielt oder, wie jeder Mensch, ausübt, sondern als jemand, der sich dessen vollauf bewußt ist und seinen Vorteil aus diesem Wissen ziehen möchte. Dadurch wird er zu einem Manipulator. Weil er aber manipuliert – und zwar nicht nur andere, sondern auch sich selbst, da »das Bewußtsein, wel-

5

Löwith schreibt über Heideggers Persönlichkeit und dessen Begriff der Entschlossenheit: »Wodurch er zunächst auf uns wirkte, war nicht die Erwartung eines neuen Systems, sondern gerade das inhaltlich Unbestimmte und bloß Appellierende seines philosophischen Wollens, seine geistige Intensität und Konzentration auf ›das Eine was not tut‹. Erst später wurde uns klar, daß dieses Eine eigentlich nichts war, eine pure Entschlossenheit, von der nicht feststand, wozu? ›Ich bin entschlossen, nur weiß ich nicht wozu‹, hieß der treffliche Witz, den ein Student eines Tages erfand. Der innere Nihilismus und selbst ›Nationalsozialismus‹ dieser nackten Entschlossenheit vor dem Nichts war zunächst durch Züge verdeckt, die an eine religiöse Bekümmerung denken ließen […]. Aus Luther stammte auch das unausgesprochene Motto seiner Existenzialontologie: ›Unus quisque robustus sit in existentia sua‹, was sich Heidegger ohne den Glauben an Christus damit verdeutschte, daß er immer wieder betonte, es komme nur darauf an, ›daß jeder das macht, was er kann‹, auf ›das je eigene SeinKönnen‹ oder die ›existentielle Beschränkung auf die eigene, historische Faktizität‹. Dieses Können nahm er zugleich als ein Müssen in Anspruch oder als ›Schicksal‹. […] Wer von hier aus vorausblickt auf Heideggers Parteinahme für Hitlers Bewegung, wird schon in dieser frühesten Formulierung der geschichtlichen Existenz die spätere Verbindung mit der politischen Entscheidung angelegt finden. Es bedarf nur eines Heraustretens aus der noch halb religiösen Vereinzelung und der Anwendung des ›je eigenen‹ Daseins und seines Müssens auf das eigene ›deutsche Dasein‹ und dessen geschichtliches Schicksal, um den energischen Leerlauf der Existenzkategorien […] in die allgemeine Bewegung der deutschen Existenz überzuführen und nun auf politischem Boden zu destruieren. Und so ist es kein Zufall, wenn Heideggers Existenzialphilosophie bei Carl Schmitt ein politischer ›Dezisionismus‹ entspricht, der das ›Ganzseinkönnen‹ des je eigenen Daseins auf die ›Totalität‹ des je eigenen Staats überträgt. Der Selbstbehauptung des eigenen Daseins entspricht die der politischen Existenz und der ›Freiheit zum Tode‹ das ›Opfer des Lebens‹ im politischen Ernstfall des Kriegs. Das Prinzip ist in beiden Fällen dasselbe: die ›Faktizität‹, d.h. das, was vom Leben übrig bleibt, wenn man mit allen Lebensinhalten aufräumt.« (Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht; Stuttgart 1986, S. 29-31)

6

Karl Löwith: Burckhardts Stellung, S. 36.

260 | Vom Versuch, sich in die Luft zu stellen

ches er von sich selbst hat, […] im Widerspruch zu den unbewußten Mächten, denen er, ob er will oder nicht, folgen muß«7 steht, – ist er eben »komisch«, wie Löwith 1928 im Anschluß an Siegmund Freud formuliert. Als Löwith nur acht Jahre später, wie viele andere mit Berufsverbot belegt, verfolgt und in die Emigration gezwungen, am eigenen Leib erfahren mußte, was der neue Napoleon unter dem Wirken des Weltgeists verstand, dürfte ihm dieser Humor gründlich vergangen sein. Es wundert nicht, daß diese Interpretation keinen Eingang in sein Burckhardt-Buch von 1936 fand. Noch deutlicher wird Löwiths Motiv, Zeitkritik zu üben, wenn er sich nur wenig später auf eine andere Stelle bei Tolstoi bezieht und dort auf einmal über Nationalcharaktere spricht: »Tolstoi unterscheidet einmal die verschiedenen Grundlagen des ›Selbstbewußtseins‹ bei Deutschen, Franzosen, Engländern, Italienern und Russen […]. Der Russe sei besonders deswegen ›selbstbewußt‹, weil er nichts weiß und auch nichts wissen will, da er nicht an die Möglichkeit glaubt, daß man etwas wissen könne. Der Franzose sei selbstbewußt auf Grund seiner persönlichen Vorzüge, der Deutsche auf Grund einer ›abstrakten Idee‹, ›der Wissenschaft‹, ›die er sich selbst ausgedacht hat‹, d.h. einer vermeintlichen Kenntnis der vollkommenen Wahrheit.«8 Löwith stellt diesem französischen Selbstbewußtsein und dem deutschen Sendungsbewußtsein als Seher und Künder einer absoluten Wahrheit, das nur zu Überlegenheitspathos und Allmachtsphantasien führen kann, den Menschen Kutusow entgegen, der in und mit seiner Mitwelt ein einfaches Leben führt: »Kutusow sprach nie von vierzig Jahrhunderten, die von den Pyramiden herabsähen, von den Opfern, die er dem Vaterlande bringe, von dem, was er zu vollbringen beabsichtige oder schon vollbracht habe; er sprach überhaupt nicht über sich, er schauspielerte nicht, er erschien stets als ein ganz einfacher, gewöhnlicher Mensch und redete die einfachsten, gewöhnlichsten Dinge. Er schrieb Briefe an seine Töchter und an Madame Stahl, las Romane, liebte die Gesellschaft schöner Frauen, scherzte mit den Generalen, den Offizieren und Soldaten und widersprach niemals denen, die ihm etwas beweisen wollten. […] Dieser alte Mann war durch die Erfahrung seines Lebens zu der Überzeugung gelangt, daß nicht die Gedanken und die zu ihrem Ausdruck dienenden Worte es sind, wodurch die Menschen in Bewegung gesetzt werden, und so sprach er denn nicht nur in den oben genannten Fällen, sondern fortwährend ganz sinnlose Worte, die ersten besten, die ihm einfielen. Aber dieser selbe Mann, der mit seinen Worten so lässig umging, hat während seiner ganzen Tätigkeit kein einziges

7

Ibid.

8

Ibid., S. 36f.

Löwiths Forderung nach Humanität | 261

Mal ein Wort gesagt, das nicht mit jenem einzigen Ziele in Übereinstimmung gewesen wäre, nach dessen Erreichung im ganzen Verlauf des Krieges sein Streben ging.«9 Dieses Bild Kutusows ist nicht das eines willenlos fatalistischen Menschen, der sich von Schicksal und Natur fremdbestimmt treiben läßt und äußeren Einflüssen vollkommen ausgeliefert ist. Auch Kutusow handelt zielstrebig, aber er bleibt dabei sich selbst treu und geht seinen eigenen Weg. Skeptisch gegenüber sich selbst und anderen achtet er dabei beständig »auf den Gang der Ereignisse […] um nichts Verkehrtes zu unternehmen«.10 Gerade da, wo er geschichtlich handelt, sieht sich Kutusow einem »Stoff« gegenüber, der ihm fremd ist und der sich einem unmittelbaren Gestaltungsdrang entzieht, was von ihm eine Skepsis den eigenen Möglichkeiten und Zielen gegenüber verlangt. Aber da er »inmitten der verständnislosen, ihn umgebenden Menge der einzige war, der damals die

9

Ibid., S. 37. Löwith zitiert hier direkt aus Tolstois Roman. Vgl.: Leo Tolstoi: Krieg und Frieden; München 1953, S. 1407f.. Eine ganz ähnliche charakterisierende Konfrontierung des nationalsozialistischen »neuen Menschen« findet sich auch bei Walter Benjamin, in seinem letzten, 1936 unter Pseudonym veröffentlichten Buch Deutsche Menschen. Eine Folge von Briefen mit dem bezeichnenden Untertitel: »Von Ehre ohne Ruhm / Von Grösse ohne Glanz / Von Würde ohne Sold«. Benjamin konfrontiert seine Zeit hier mit »der Epoche […], in welcher das Bürgertum seine grossen Positionen bezog […]. Es war die Epoche, in der das Bürgertum sein geprägtes und gewichtiges Wort in die Wagschale der Geschichte zu legen hatte. Freilich schwerlich mehr als eben dieses Wort; darum ging sie unschön mit den Gründerjahren zu Ende.« Der im Anschluß an diese Stelle von Benjamin zitierte Brief Goethes an Zelter vom 6.VI.1825 ist auch für Löwith ein wichtiger Bezugspunkt und eine treffende Analyse der »neuen« Zeit. In ihm heißt es: »Reichthum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wornach jeder strebt. Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Facilitäten der Communication sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbilden und dadurch in der Mittelmässigkeit zu verharren … Eigentlich ist es das Jahrhundert für die fähigen Köpfe, für leichtfassende praktische Menschen, die, mit einer gewissen Gewandtheit ausgestattet, ihre Superiorität über die Menge fühlen, wenn sie gleich selbst nicht zum Höchsten begabt sind. Lasst uns soviel als möglich an der Gesinnung halten, in der wir herankamen; wir werden, mit vielleicht noch Wenigen, die Letzten seyn einer Epoche, die so bald nicht wiederkehrt.« (Detlef Holz: Deutsche Menschen. Eine Folge von Briefen; Luzern 1937, S. 7).

10 Karl Löwith: Burckhardts Stellung, S. 36.

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ganze gewaltige Bedeutung jenes Ereignisses begriff«11 und versteht, daß er sich zuerst darauf einstellen muß, um dann zu erkennen, was er will und was er vollbringen kann, ist er auch der einzige, der eben nicht »komisch«, sondern »ehrwürdig und tragisch« ist. Kutusow wird von Löwith als Mensch verstanden, der sich in nahezu idealer Weise gegenüber seiner Mit- und Umwelt verhält. Löwith setzt ihn als Typus, der ein Ideal menschlichen Handelns verkörpert; auf ihn trifft zu, was Valéry über das menschliche Handeln schreibt: »Der Mensch handelt; er übt seine Kräfte an einem fremden Stoffe, er sondert seine Verrichtungen von deren stofflichem Unterbau ab, er hat davon ein klar umrissenes Bewußtsein; darum kann er sie sich ausdenken und aufeinander abstimmen, ehe er sie ausführt; er kann ihnen die mannigfachen Leistungen aufgeben und sie recht verschiedenen Stoffen anpassen – und gerade dieses Vermögen, seine Vorhaben zusammensetzen oder seine Entwürfe in gesonderte Verrichtungen zerlegen zu können, ist es, was er seine Intelligenz nennt. Er ist dem Stoffe seines Unternehmens nicht eingeschmolzen, sondern er geht zwischen diesem Stoffe und seinem Denkbild, zwischen seinem Geiste und seinem Modell hin und her und tauscht in jedem Augenblick, was er will gegen das, was er kann, und was er kann, gegen das, was er erreicht. […] Durch dieses Vermögen des Abstrahierens und des willentlich Fügens setzt er sich aber in einen ganz deutlichen Widerspruch zur Natur, denn diese abstrahiert weder, noch fügt sie zusammen; sie hält weder inne, noch wendet sie sich zurück; sie entwickelt sich außer aller Umkehrbarkeit.«12 Es würde zu weit führen, Valérys Definition eins zu eins zu übertragen – Löwith kannte ihn zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Als unmittelbarer Einfluß ist vermutlich viel eher einmal mehr Max Weber anzunehmen, denn Löwiths Interpretation der Figur Kutusows läßt sich auch als Reminiszenz an Webers Forderung seiner »herben Schlußworte«13 des Vortrags Wissenschaft als Beruf lesen: »daß es mit dem Sehnen und Harren allein nicht getan ist, und es anders machen: an unsere Arbeit gehen und der ›Forderung des Tages‹ gerecht werden – menschlich sowohl wie beruflich«.14 Löwith vertritt hier eine gewollte Selbstbeschränkung des Menschen auf seinen Wirkungsrahmen in der je eigenen Mit-

11 Ibid., S. 37. Auch hier zitiert Löwith Tolstoi direkt – Vgl. Leo Tolstoi: Krieg und Frieden; München 1953, S. 1407. 12 Paul Valéry: Kleine Rede an die Graphischen Künstler. In id.: Über Kunst. Essays; Frankfurt/Main 1962, S. 65-71, S. 69f. 13 Karl Löwith: Curriculum Vitae (1959). In id.: Schriften 1; S. 450-462., S. 454. 14 Max Weber: Wissenschaft als Beruf (1919). In id.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre; Tübingen 1922; S. 524-555, S. 555.

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welt, die unter dem Zeichen der immer bestehenden Spannung zwischen dem eigenen Tun und Wollen auf der einen und Natur und Gesellschaft auf der anderen Seite steht. Sein Vorwurf an die Revolutionäre seiner Zeit ist genau der, daß sie diese Spannung nicht erkennen, akzeptieren und ausgleichen, sondern gewaltsam aufheben wollen. Damit aber überschätzen sie ihre Kräfte und wirken am Ende in ihrer Hybris nur zerstörerisch. Dies bringt Löwith auch 1933 zum Ausdruck, wenn er in der Abgrenzung kritisch zusammenfassend – und mit einem polemischen Seitenhieb auf seine Zeitgenossen, die einen nationalsozialistisch interpretierten Nietzsche verehrten – über die Behandlung dieses Problems durch Nietzsche schreibt: »Einen Weg ›zurück zur Natur‹, im Gleichklang mit ihr, als wäre der Mensch einfach ihresgleichen, hat Nietzsche so wenig gefunden wie hundert Jahre vor ihm Rousseau. Zur Natürlichkeit der Welt der Natur kann sich kein Mensch entschließen. Der natürliche Mensch ist nicht ein Mensch ›zurückübersetzt in die Natur‹, wohl aber eine an ihr selber vieldeutige Menschennatur. Nietzsches Konzeption vom Menschen war jedoch ein heroisch sich selbst überbietender Übermensch. Sein ›homo natura‹ ist der Gewaltmensch des Willens zur Macht über sich selbst und die Welt, ein Herr seiner selbst und ein Beherrscher der Welt. Als Wille zur Macht ist Nietzsches Mensch ein Seinwollen und ein von ihm gewollter Mensch. […] Was Nietzsche selber nicht vermochte, war: das moderne Prinzip des Glaubens an die Macht des Willens umzuschaffen in dieses einfache, weil mit sich selber einig gewordenen Da-sein im Ganzen des Seins, wie es die Wiederkunftslehre als eine zwiespältige Lehre vom unwillkürlichen Sein der Natur und vom Sein-Wollen des Menschen zum Ziel hatte. Sein eigenes Dasein existierte, als ein Sein-Wollen in einem beständigen ›Sichvorauswerfen‹ und ›Sich-doch-nie-Einholen-können‹, in Entwürfen zur Selbstübersteigerung und Selbstüberwindung, aber gerade nicht in einem ruhigen, schlichten Dasein, welches mit sich und seinen Problemen ›fertig‹ geworden ist. Und weil es Nietzsche nicht geglückt ist, aus der gespaltenen Anspannung seines ›Ich will‹ zurückzufinden in den mit sich selber gleichgewordenen Kreis des Ich-bin eines heraklitischen Weltenkinds, wurde auch seine ›Redlichkeit‹ das, was er ihr selber vorwarf, nämlich maßlos und ausschweifend.«15 Ist das eine unpolitische Dimension, die sich nur um den eigenen Garten bekümmert? Möglich. Sie ist aber auch ein Zitat Karl Barths, der sich 1933 bemühte, »hier in Bonn mit meinen Studenten in Vorlesungen und Übungen nach wie vor und als wäre nichts geschehen – vielleicht in leise erhöhtem Ton, aber ohne direkte Bezugnahmen – Theologie und nur Theologie zu treiben. Etwa wie

15 Karl Löwith: Kierkegaard und Nietzsche oder philosophische und theologische Überwindung des Nihilismus (1933). In id.: Schriften 6; S. 53-74, S. 71f.

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der Horengesang der Benediktiner im nahen Maria Laach auch im Dritten Reich zweifellos ohne Unterbruch und Ablenkung ordnungsgemäß weitergegangen ist. Ich halte dafür, das sei auch eine Stellungnahme, jedenfalls eine kirchenpolitische und indirekt sogar eine politische Stellungnahme!«16 Als solche ist sie – ganz wie das philosophische Fragen Heideggers, das als Frage nach wie vor berechtigt und bestehen bleibt – stets gefährdet und von einer beträchtlichen, auch menschlichen Fallhöhe, die alles andere als frei von Begründungsschwächen und logischen Widersprüchen ist. Und so gewinnt auch der Versuch, sich in die Luft zu stellen, eine eigene Legitimität und Notwendigkeit. In diesem Sinne handelt es sich bei der vorliegenden Arbeit auch um eine Parabel über den Firnis der Civilisation einerseits – und um den Versuch einer Standortbestimmung über dem Abgrund.

16 Karl Barth: Theologische Existenz heute!; München 1933, S. 3. Löwiths Urteil über Barth findet sich u.a. als Kontrast zu Heidegger in Löwiths Buch Heidegger – Denker in dürftiger Zeit (1953). In id.: Schriften 8; S. 124-234. Hier heißt es auf den Seiten S. 170f.: »Barth ist kein ›deutscher Christ‹ geworden, sondern christlicher Theologe geblieben, mit einem unbeirrbaren Sinn für das, was wirklich geschah, um ›nach wie vor‹ eine nicht bloß zeitgeschichtliche Wahrheit des Glaubens zu verkünden. […] Dank dieser überlegenen Freiheit von der Macht der Zeit konnte Barth auch die vielfachen Gründe und Hintergründe der ›geradezu verblüffenden Widerstandslosigkeit‹ gegenüber dem Ansturm der politischen Bewegung verstehen und dazu bemerken, daß sich eine tief philosophische Begründung der Ereignisse am sichersten zu finden pflegt, wenn man sich aufs gründlichste von der ›Wirklichkeit‹ hat überennen lassen. Warum sollte aber solch ein freier Abstand zum Geschehen der Zeit, der für den Theologen recht ist, nicht auch billig sein für den, der nicht ›glaubt‹, sondern ›denkt‹.«

Anthropologie heute am Beispiel Ernst Tugendhats

Wenn man die Parallelen der aktuellen politischen Situation mit denen der konservativen Revolution zur Zeit Löwiths außer Acht läßt, scheint seine anthropologisch gefärbte Kritik dieses Strebens nach Vereinfachung und hin zu einer wie auch immer behaupteten »Natur« heute völlig überholt zu sein, nicht zuletzt deshalb, weil sich die technischen Fähigkeiten des Menschen mittlerweile derart entwickelt haben, daß die Herrschaft des Menschen über die ihn umgebende Natur absolut zu werden scheint. Die Frage eines »zurück zur Natur« tritt häufig allenfalls noch als ein romantischer – und als solcher wenig ernstzunehmender – Gegenentwurf auf. Im Wirklichkeit erleben wir, mit welcher Macht der menschliche Wille die Natur bereits überformt hat, sobald wir nur die Augen öffnen: wo es zu Löwiths Zeiten eine welterschütternde Innovation war, eine kleine Kapsel ins All zu schießen, können wir heute das Wetter beeinflussen, Blinde sehend machen, unser Geschlecht verändern; wir sind auf dem Weg, die Veränderung unseres eigenen Erbguts zu beherrschen, wir können selbst Lebewesen künstlich erschaffen; selbst die Erschaffung künstlicher Lebewesen, von Computern und Robotern, die mit einem komplexen, dem unsrigen ähnelnden Gehirn und mit einem eigenen Selbstbewußtsein ausgestattet sind, scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Es kann nicht mehr um eine Rückkehr zur Natur gehen. Löwith hielt das schon zu seiner Zeit für eine Illusion. Aber auf der anderen Seite kann es, stellt sich die Frage nach dem Platz, den der Mensch in dieser von ihm mitgeschaffenen Welt einnimmt nach wie vor, vielleicht sogar drängender als früher. Nicht nur, weil seine Geschöpfe den Menschen eines Tages überwältigen könnten, sondern auch, weil die berechtigte Befürchtung besteht, daß wir uns möglicherweise übernommen haben und die Welt mehr und mehr aus den Fugen gerät: Artensterben, Klimawandel, Umweltzerstörung sind Prozesse, die uns trotz unserer technischen Fähigkeiten direkt angehen und bedrohen. Wo wir die traditionellen Religionen hinter uns gelassen haben,

266 | Vom Versuch, sich in die Luft zu stellen

macht sich allzuoft eine spirituelle Verlorenheit breit, die die Einigkeit des Menschen mit sich selbst doch stark vermissen läßt. Wir haben das gute Gewissen zu uns und unserer Lebenswelt längst verloren; die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in Europa, die Kriege, deren Einhegung immer schwieriger scheint und die wir längst weltweit führen, die Menschen, die nicht zuletzt vor Klimaveränderung, Raubbau, aber auch vor Verfolgungen im eigenen Land fliehen – all das bestimmt das Zeitgefühl auf Jahrzehnte hinaus und sorgt für eine ähnlich krisenhafte Situation wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa. Auch deshalb leben Ansätze wie der Schmitts und der konservativen Revolution derzeit wieder auf. Löwith ist dabei in der aktuellen Diskussion kein Gegengewicht mehr, er ist bei ethischen Fragen oder überhaupt bei philosophischen Auseinandersetzungen im Bereich der Anthropologie scheinbar überholt und interessiert meist nur noch – wenn überhaupt – als historischer Zeitzeuge. Sicher, Löwith macht es einem nicht leicht: wir finden bei ihm keine Informationen über die Gestaltung einer pluralistischen oder demokratischen Gesellschaftsordnung, wir finden selten eigene klare Stellungnahmen aus denen eindeutig hervorgeht, wie wir denken oder was wir tun sollen. Denken und handeln müssen wir selbst; und auch bei der Frage, wo wir im Leben eigentlich stehen, müssen wir unsere eigene Position finden. Dennoch kann man Löwith auch heute noch mit Gewinn lesen und manche Anleitung finden – es ist ja nicht so, daß er keine Positionen bezogen hätte, etwa in der Auseinandersetzung mit Carl Schmitt oder mit dem Fortschrittsglauben. Daß dies auch für seine Anthropologie gilt, soll abschließend ein Vergleich mit dem Berliner Philosophen Ernst Tugendhat zeigen, der wie Löwith ein Schüler Martin Heideggers ist und sich seit den 70er Jahren mit wechselnden Argumenten und Begründungen, gleichwohl aber prägend, in die Debatte eingebracht hat. Löwith scheint ihm auf den ersten Blick schon wegen der philosophischen Herkunft, wegen Tugendhats Abgrenzung von Habermas und dem Versuch, Ethik anthropologisch zu begründen, recht nahe. Und doch trägt diese Annahme bei genauerer Überlegung nicht; auch Tugendhat hat Löwith nicht aufgenommen oder produktiv weitergedacht. Der Grund dafür ist überraschend einfach und findet sich gerade in der gemeinsamen philosophischen Herkunft, der Existenzphilosophie. Tugendhats Ausgangspunkte, das »Isoliertsein des menschlichen Selbstseins«1 und die »Weise, wie Menschen sich wichtig nehmen und um sich besorgt sind, auch

1

Ernst Tugendhat: Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie; München 2004, S. 7

Anthropologie heute am Beispiel Ernst Tugendhats | 267

wenn sie sich um anderes kümmern«2 beruhen für Löwith schlicht auf einer verfehlten Interpretation dessen, was Menschsein ausmacht. Es stellt sich daher die Frage, ob diese Einschätzung zutreffend ist oder Tugendhats Ansatz im positiven Sinne über Löwith hinausreicht. Tugendhats Vorstellungen basieren nicht zuletzt auf seiner Unterstellung, daß jeder Mensch zuallererst sich »als der Mittelpunkt der Welt sieht«3 und diese Vorstellung nur deshalb relativiert (nicht aufgibt!), weil er irgendwann mitbekommt, daß es auch noch andere Menschen gibt, die sich ebenfalls für diesen Mittelpunkt halten. »Jeder ›ich‹-Sager scheint sich absolut wichtig zu nehmen, aber er hat, mehr oder weniger ausdrücklich, ein Bewußtsein davon, daß auch die anderen sich wichtig nehmen und daß er sich in einer Welt befindet, in der er selbst auch anderes wichtig nehmen […] kann.«4 Der Vorrang der Selbstbezogenheit ist damit für Tugendhat die Bedingung dafür, überhaupt in und mit der Welt zu sein; ein wie auch immer geartetes Verhältnis zur Welt beruht für ihn darauf, daß »›ich‹-Sager, um überhaupt etwas wichtig nehmen zu können, sich erstens selbst wichtig nehmen müssen und daß sie zweitens, um sich wichtig nehmen zu können, die Vorstellung brauchen, daß sie für andere wichtig sind. Aus der diffusen Vorstellung, für andere wichtig zu sein, ergäbe sich die Idee, wichtig zu sein (ohne ›für‹), einen Wert zu haben. Man verarbeitet also das Anerkanntwerden zu einem Gefühl, anerkennenswert zu sein.«5 Erst nach diesem Schritt kann der Mensch selbst irgendetwas, das außerhalb seiner Person liegt, für wichtig nehmen. Im Zentrum menschlicher Existenz steht bei Tugendhat der einzelne ganz allein, sein »Leben wird ihm zum ›Endzweck‹«6 – und selbst die Beziehung zu anderen dient zunächst der Selbstbestätigung des Eigenwertes. Das gilt selbst dann, wenn es sich um das dem Menschen eigene Bedürfnis zur Hingabe handelt, also um das Befürfnis, sich für andere einzusetzen und sie wichtig zu nehmen, das für Tugendhat in zwischenmenschlichen Beziehungen zutage tritt. Denn eigentlich ist es kein unbedingt naturgegebener Trieb, sich zurückzunehmen und sich nicht für das Maß aller Dinge zu halten. Zwar schreibt Tugendhat, es gäbe »keine soziale Tätigkeit, in der das Individuum nicht lernen muß, sein Wollen und seine Präferenzen relativ zu denen anderer einzuschränken«,7 dennoch ist diese »Zinke des Zurücktretens«8 für ihn wohl eher eine

2

Ibid.

3

Ibid., S. 30.

4

Ibid.

5

Ibid., S. 44.

6

Ibid., S. 35.

7

Ibid., S. 87.

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Unnannehmlichkeit, eine Einschränkung der eigenen Eitelkeit, aber keineswegs eine Bedingung, die für den Menschen notwendig oder die von vornherein gesetzt wäre. Denn sie betrifft nur »soziale Tätigkeiten« und ist gerade in ihren wesentlichen Aspekten lediglich eine »Möglichkeit, in seinem Bewußtsein, der Mittelpunkt zu sein, zurückzutreten«.9 Denn diese Möglichkeit des Zurücktretens ist für Tugendhat alles andere als absolut; der Mensch gibt seine eigene zentrale Stellung nicht notwendigerweise mit dem Zurücktreten auf, sondern unter Umständen erweitert er durch das objektivierende Zurücktreten lediglich seinen Horizont, um die eigene Stellung als Mittelpunkt der Welt und die eigenen Zwecke besser verteidigen zu können: »Man kann von drei Weisen des Zurücktretenkönnens sprechen, die für deliberative Wesen charakteristisch sind. Die erste betrifft das Zurücktreten von den unmittelbaren Gefühlen mit Rücksicht auf Zwecke und die eigene Zukunft: man lernt, dem, was in der Situation das Angenehme oder Unangenehme ist, Gesichtspunkte des Guten gegenüberzustellen: man lernt, Zwecke gegenüber Empfindungen und die Zukunft gegenüber der Gegenwart wichtig zu nehmen. Hier ist das, woraufhin ein Schritt zurück geschieht, der eigene Zweck und dann das eigene Wohl. Der zweite Schritt besteht in einem Zurücktreten vom eigenen Wohl, weil man auch andere (oder anderes) wichtig nimmt. Im dritten Schritt tritt der ›ich‹-Sager von der eigenen Egozentrizität zurück, im Bewußtsein der Geringfügigkeit von sich und seinen Sorgen innerhalb des Universums. Der ersten Schritt ist für deliberative Wesen eine Notwendigkeit, der zweite kann verschieden stark ausgebildet sein […], der dritte ist nur eine Möglichkeit«.10 Hinter diesen Gedanken Tugendhats steckt nicht die Vorstellung vom Menschen als einem von Natur aus sozialen Wesens, das sich im Verhältnis und der Unterscheidung zu anderen bestimmt und auf diese Weise erst zu einem eigenen Standpunkt kommt. Das liegt weniger an der Tatsache, daß der Mensch bei Tugendhat zunächst von sich ausgeht. Natürlich sieht der Mensch sich selbst und andere zunächst mit seinen Augen – selbst dann, wenn er sich betrachtet wie eine andere Person. Problematisch bei Tugendhat ist nicht dieser Schritt, sondern der, daß der Mensch, sich selbst als Zentrum setzt, um sich dann in einer bewohnten Welt wiederzufinden und aufgrund dieser Erfahrung eventuell zu relativieren. Dabei wird vergessen, daß der Mensch sich von Anfang an – selbst, wenn er sich dessen gar nicht bewußt ist – im Kontext der Mitwelt bewegt und von ihr bestimmt wird! Interessanterweise räumt aber selbst Tugendhat ein, daß

8

Ibid.

9

Ibid., S. 30.

10 Ibid., S. 40.

Anthropologie heute am Beispiel Ernst Tugendhats | 269

ein Mensch sich selbst gar nicht wichtig nehmen kann, ohne erfahren zu haben, daß er von anderen wichtig genommen wird, Selbstliebe also dem Menschen gar nicht möglich ist, ohne zuvor die Liebe anderer erfahren zu haben. Was bleibt, ist die zwangsweise Relativierung des Selbst, die »Zinke des Zurücktretens« – der Mensch relativiert sich nicht selbst, weil das zu seinem Verständnis von sich selbst gehört, nicht, weil es ein natürlicher Vorgang des Zusammenlebens ist, und auch nicht, weil er sich in bestimmten Rollen oder Vorstellungen überhaupt nicht wiederfinden kann. Er ist durch und durch egozentrisch, und nur dort, wo er auf den Anspruch eines anderen stößt und an ihm scheitert, ist er gezwungen, sich zurückzunehmen – was dann in der Reflexion die ethisch wertvolle Auffassung von der eigenen »Geringfügigkeit […] innerhalb des Universums« annehmen kann. Selbstrelativierung und Scheitern sind also unauflöslich miteinander verknüpft. Auf diese Konzeption läßt sich eine Kritik anwenden, die Löwith schon an Jaspers geübt hatte und die diese Perspektive als eine historische Bedingung des bürgerlichen Zeitalters versteht: »Dieser Anschein ist aber selber nur der Widerschein einer sozial bedingten Vereinzelung, welcher aus ihrer Daseinsnot die Tugend der Existenz macht, so wie schon Kierkegaard aus dem Zerfall aller menschlichen Ordnungen seine Kategorie vom ›Einzelnen‹ gewann. […] An Stelle der Hoffnung steht eine Metaphysik des ›Scheiterns‹. Diese Metaphysik des Scheiterns ist die letzte Konsequenz der Voraussetzung des ›Selbstseins‹«.11 Hier klingt auch Stirners »Einziger« an, dem, wie Löwith formuliert, »alles andere, was nicht er selbst ist, zu eigen werden kann«12 und der »nach Stirners eigenen Worten eine absolute – Phrase«13 ist. Exkurs: Löwiths Kritik an der Existenzphilosophie Die Unterscheidung zwischen Löwith und Tugendhat wird deutlicher, wenn man sich Löwiths Kritik an der Existenzphilosophie im allgemeinen und Jaspers im besonderen ansieht – denn bereits hier hatte Löwith kritisiert, die mitweltliche Einbettung des Menschen zu übersehen und diese Kritik auf die Existenzphilosophie insgesamt ausgedehnt. Ihr Verständnis von Mensch und Welt müsse unvollständig bleiben, da sie nicht den Menschen in seiner Mitwelt betrachte, sondern »stets nur die vereinzelte Existenz des Einzelnen betrifft, sein innerliches

11 Karl Löwith: Die geistige Situation der Zeit (1933). In id.: Schriften 8; S. 19-31, S. 28. 12 Id.: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (1928). In id.: Schriften 1; S. 9197, S. 195. 13 Ibid.

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›Selbstsein‹, das private Fürsichsein eines negativ freien Daseins – vereinzelt auch noch in der Art und Weise der ›Kommunikation‹, nämlich von einzelner zu einzelner Existenz. Die moderne Existenzphilosophie ist daher im Prinzip nichts anderes als schon bei Kierkegaard der positive Ausdruck für eine fehlende Allgemeinheit des menschlichen Lebens, für eine faktische Weltlosigkeit, die sie philosophisch rechtfertigt und derzufolge ihr der Nihilismus in der Tat zu einem entscheidenden Problem des Seins werden muß.«14 Sie hat den Menschen aus der Gesamtheit des Lebens herausgelöst und auf eine vereinzelte Existenz reduziert. Damit wird aber weder das Sinnproblem des Menschen gelöst – denn die Philosophie der Existenz kann die Frage nach dem Sinn seiner Existenz nicht aus sich selbst heraus positiv beantworten, weil ihr der sinnstiftende Zusammenhang der Gemeinschaft fehlt. Und andererseits bringt dieser Ansatz das Problem der Selbstbehauptung des Einzelmenschen in noch schärferer Form mit sich, weil ihm die ganze Welt gegenüber und entgegen steht. Das Ergebnis ist nun, daß der einzelne Mensch seinen Eigenwert angesichts der Übermacht der Welt einbüßt, wie Löwith in seiner Kritik an Karl Jaspers festhält: »Jaspers sieht die öffentliche Allgemeinheit des modernen Lebens […] gekennzeichnet durch einen allgemeinen Verfall aller menschlichen Substanz, durch eine sog. Nivellierung des Menschseins zu einem nackten, stummen Dasein. […]. Dieses weltlose Selbstsein kann sich im höchsten Falle seine Welt verklären und in einer ›Kommunikation der Einsamkeit‹, von vereinzelter zu vereinzelter Existenz, je besondere Welten bilden.«15 So bleibt der Mensch, der bei Löwith in einen zweifachen Rahmen eingebettet ist – den Kosmos und die Gemeinschaft der Mitmenschen – bei Jaspers ohne Bindung an die Welt; die Spaltung von Subjekt und Objekt wird damit zu einem Problem, das es in einer außerweltlichen Transzendenz zu überwinden gilt, will der Mensch nicht den Boden unter den Füßen und seinen eigenen Gehalt völlig verlieren. Zugleich verhindert die Flucht in diese außerweltliche Transzendenz eine klare Stellungnahme innerhalb der Welt: »Gemäß dieser

14 Id.: Existenzphilosophie (1932). In id.: Schriften 8; S. 1-18, S. 9. 15 Ibid., Seite 14f. Löwith kritisiert in der Folge auch die Jasperssche Rechtfertigung der Transzendenz, die die Fragwürdigkeit des Lebens verbürge. Sie setze »wie selbstverständlich voraus, daß das eigentliche Menschsein überhaupt durch Fragwürdigkeit ausgezeichnet sein müßte, so daß ein Leben ohne existenziellen Bezug zur Transzendenz ›banal‹ sei. Die Banalität könnte aber auch in eben jener existenziellen Fragwürdigkeit liegen, deren Durchschnitt das Unbehagen und deren Extrem der Nihilismus ist, wogegen das Ungemeine dann dies wäre, daß ein Mensch dadurch ein Mensch ist, daß er das Allgemeine in seiner Normalität verwirklicht.« (ibid., S. 17).

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Grundorientierung bespricht Jaspers mit der ihm eigenen Kunst, aber auch Künstlichkeit der Formulierung, in einer sich auf nichts festlegenden, sondern alles umkreisenden Kritik die konkrete geistige Situation im Staat, in der Erziehung, in der Bildung und im geistigen Schaffen. So treffend und scheinbar unwiderlegbar jede einzelne Bemerkung zu all diesen Fragen ist, im Ganzen setzen sie eine Idee vom ›Selbstsein‹ voraus, welche insofern eine Ideologie ist, als sie der überspitzte und sublimierte Ausdruck einer sozialen Vereinzelung ist, welche schon Hegel als das Signum der modernen bürgerlichen Gesellschaft gekennzeichnet hat. Dieses auf sich zurückgeworfene, weltlose Selbstsein ist wesentlich reflektiert. Die besondere Reflexion, in der sich Jaspers bewegt, hat zur Folge, daß der Leser nichts Bestimmtes gesagt bekommt, weil sich alles, was gesagt wird, gegenseitig einschränkt. […] Jaspers’ Denken und Sprechen bewegt sich, gerade weil es redlich ist, in einer beständigen Abwehr bestehender Alternativen: entweder für dies oder jenes zu sein; die Abwehr richtet sich auch gegen die Verschleierung dieser Alternativen durch Synthesen und Kompromisse nach dem Schema: nicht ›entweder-oder‹ sondern ›sowohl-als auch‹. Dieses Denken führt ihn zu einer unablässigen kritischen Auflockerung aller öffentlich fixierten Positionen, und das Resultat dieser Auflockerung sind ebensoviele ›Weder-Noch‹, z. B. in politischer Hinsicht.«16 Im Gegensatz dazu ist für Löwith der Mensch durch seine mitweltliche Orientierung und die Tatsache, daß er durch die Endlichkeit seiner Zwecke und seines Horizonts in einer Reihe von kleinen, sehr begrenzten, eigenen Welten lebt, die er gemeinsam mit anderen bestimmt, einerseits zu klaren Stellungnahmen – gegenüber dem jeweils anderem und sich selbst – gezwungen. Andererseits stellt sich die Sinnfrage für ihn nicht in aller Schärfe, da Gemeinschaft – Familienverbünde beispielsweise – immer auch sinnstiftend wirkt. Gleichzeitig wird der Mensch nach Löwith auch durch den Kosmos klar bestimmt – nicht als auf sich selbst gestelltes Eigenwesen, sondern als biologisches Naturwesen. Damit ist der Mensch bei Löwith derart anders definiert, daß Löwith in dieser für Jaspers so problematischen Spaltung zwischen Subjekt und Objekt nicht nur kein Problem zu erkennen vermag, sondern sie für eine menschliche Konstante hält, die den Menschen zutiefst prägt: »Die vielbeklagte und angeblich überwundene oder doch zu überwindende Subjekt-Objekt-Spaltung ist also nichts zu Beklagendes und zu Überwindendes, sondern konstitutiv für das Menschsein. Auch Hegels Definition der Freiheit als ›Beisichselbstsein im Anderssein‹ beseitigt diesen Unterschied nicht, sondern vollendet ihn nur. Als Bezug eines Subjekts auf das

16 Id.: Die geistige Situation der Zeit, S. 23f.

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von ihm unterschiedene andere ist das menschliche Bewußtsein ein Weltbewußtsein, dem ein Selbstbewußtsein entspricht.«17 Diese Art des Selbstbewußtseins bedeutet aber auch, daß der Mensch sich ständig mit anderen vergleicht und bewertet. Daher kann man durchaus den Standpunkt vertreten, daß das Setzen von Zwecken und das Handeln des Menschen Ausdruck einer tiefen Unzufriedenheit des Menschen ist. Denn hier geht es um mehr als nur die Befriedigung von Grundbedürfnissen wie Hunger oder Durst. Der Mensch ist, wie es Arnold Gehlen formuliert hat, »sich selbst noch Aufgabe – er ist, kann man auch sagen: das stellungnehmende Wesen. […] [G]erade insofern er sich selbst noch Aufgabe ist, nimmt er auch zu sich selbst Stellung und ›macht sich zu etwas‹. Es ist dies nicht Luxus, der auch unterbleiben könnte, sondern das ›Unfertigsein‹ gehört zu seinen physischen Bedingungen, zu seiner Natur«.18 Unfertig zu sein bedeutet konkret, daß die Aufgabe des Menschen nicht nur in der bloßen Selbsterhaltung liegt, sondern er auch den Trieb besitzt, sich selbst zu bilden und seine Anlagen entsprechend zu entwickeln: »Er ist nicht ›festgerückt‹ heißt: er verfügt noch über seine eigenen Anlagen und Gaben, um zu existieren, er verhält sich zu sich selbst, lebensnotwendig, wie dies kein Tier tut; er lebt nicht, wie ich zu sagen pflege, er führt sein Leben.«19 In diesem Sinne wird auch die Frage nach den menschlichen Möglichkeiten für Löwith wieder relevant – denn philosophische Anthropologie bedeutet für Löwith »dass ich mir sage: ›so sind wir jetzt‹ und 2.) ›was kann noch alles aus dem Menschen werden!‹«20 Löwith und Tugendhat – eine Abgrenzung Der zentrale Punkt, an dem sich Löwith und Tugendhat unterscheiden, ist die Rolle, die sie dem Anderen zuweisen. Auch für Tugendhat ist der Andere für den Menschen von entscheidender Bedeutung: »Der Mensch […] erlebt sich als ein-

17 Id.: Zur Frage einer philosophischen Anthropologie (1975). In id.: Schriften 1; S. 329341, S. 333. 18 Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. In id.: Gesamtausgabe (Bd. 3.1); Frankfurt/Main 1993, S. 30. 19 Ibid., S. 12. 20 Karl Löwith an Leo Strauss, 8.I.1933; in Leo Strauss: Gesammelte Schriften Bd. 3 (ed. Wiebke und Heinrich Meier); Stuttgart 2001, S. 607-697, S. 617.

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sam, als isoliert von seiner Welt, und kann zu einem Glück nur gelangen, wenn es ihm gelingt, seinem Gegenüber dasselbe Gewicht zu geben wie sich selbst.«21 Doch auch wenn dieser Andere ein wesentlicher Bezugspunkt ist, so entspringt die Achtung, die ich ihm entgegenbringe, bei Tugendhat nicht der Erkenntnis, daß dieser ein Mensch und als solcher in Verschiedenheit meinesgleichen ist; ich achte ihn lediglich deshalb, weil diese Achtung auf mich zurückfällt, weil sie mir ermöglicht, mich selbst und die Dinge meiner Umwelt wertzuschätzen und so zu einem Mittel meiner Zufriedenheit wird. Sie folgt also einem rein egoistischen Motiv, das vor allem anderen meine Selbstbezogenheit stärkt. Es scheint eine notwendige Folge dieser Perspektive zu sein, daß auch das eigene Bild vom Anderen zu einer verzerrenden Projektion wird, wie schon Löwith festgestellt hat: »Die herrschende Idee einer objektiven Beurteilung anderer durch Absehen von sich selbst ist zufolge der grundsätzlichen Unterscheidung der andern von einem selbst eine prinzipiell illusionäre Fehltendenz. […] Demgemäß ist die Fraglichkeit der Objektivität des Urteils über den einen und den andern hinsichtlich ihrer Strenge durch keine künstliche Eindeutigkeit zu beseitigen, sondern in ihrer fraglichen Zweideutigkeit aufzusuchen und dadurch zu beantworten, daß sich der Beurteilende selbst fragt, ob nicht die Verschiedenheit des Verhaltens des einen und anderen in einer Verschiedenheit seines eigenen Verhältnisses zu ihnen mitbegründet ist.«22 In diesem Sinne unterscheiden sich Löwith und Tugendhat auch in ihrer Sicht auf die Welt. Während Löwith das menschliche Individuum als Teil einer kosmischen Ordnung sieht, das durch diese Ordnung wesentlich geprägt wird und für sie überhaupt nicht wesentlich ist, nimmt Tugendhat die entgegengesetzte Position ein. Da sich der Mensch bei ihm als Mittelpunkt setzt, ist die Welt bei Tugendhat noch immer mein Eigen und von mir maßgeblich gestaltbar. Dieser Gestaltungsdrang unterliegt dabei den überkommenen Wertvorstellungen, etwas »gut und besser zu machen«23, wobei Tugendhat zunächst auf Platon zurückgreift – wieder ganz im Sinne menschlicher Selbstbezogenheit. »Platon […] wollte […] zeigen, daß das Moralische motivational in dem fundiert ist, was für einen selbst gut ist, also im rechtverstandenen prudentiell Guten. Diese Auffassung ist eigentlich selbstverständlich […]. Man kann in dieser Frage nicht

21 Ernst Tugendhat: Nietzsche und die philosophische Anthropologie: Das Problem der immanenten Transzendenz. In id.: Anthropologie statt Metaphysik; München 2010, S. 13-33, S. 27. 22 Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 69f. 23 Ernst Tugendhat: Egozentrizität und Mystik, S. 67.

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anders, als die antike Tradition auf die eine oder andere Weise wiederaufnehmen.«24 Die Art, in der wir unsere Welt gestalten, liegt zunächst ganz in unserer eigenen Hand und unterliegt unseren eigenen Maßstäben des Guten, keiner übergeordneten Moral. Um dem Menschen überhaupt ein moralisches Fundament zu geben, muß Tugendhat daher Moral als eine gesellschaftliche Forderung einführen, nicht als etwas, das im Menschen selbst in irgendeiner Weise begründet ist: »Ich mache mir hier eine Definition von John Rawls zu eigen (Theory of Justice §66), indem ich sage, moralisch gut ist ein Mitglied einer moralischen Gemeinschaft, wenn es sich so verhält, wie die Mitglieder der moralischen Gemeinschaft es wechselseitig voneinander fordern. Und damit hängen nun die wichtigen Begriffe von Lob und Tadel zusammen. Der Tadel enthält immer auch den affektiven Faktor der Empörung. Im Lob zeigt sich, daß sich das wechselseitige wertend-affektive Verhalten nicht nur auf die negativen Fälle bezieht. Man kann sich mit Bezug auf verschiedene Handlungsweisen von anderen sowohl in der Weise der Geringschätzung wie der Hochschätzung verhalten, und daß man von anderen positiv geschätzt wird und daß man sich für schätzenswert hält – für nicht geringschätzenswert –, ist offenbar für unser Selbstwertgefühl wesentlich. […] Das ist nun also die Struktur, von der ich meine, daß sie für alle Moralen im allgemeinen charakteristisch ist, und sie betrifft gerade jenen Aspekt, der im Kontraktualismus nicht erreichbar schien, den Sinn der moralischen Müssens, des Verpflichtetseins.«25 Das bedeutet auch, daß moralische Verstöße die Gemeinschaft an sich grundsätzlich in Frage stellen, sie sind eine Verfehlung besonderer Ordnung: »das moralisch Gute ist ein besonderes adverbiell Gutes, daher handelt es sich nicht um irgendeine Scham, sondern um eine spezifisch auf das moralisch Gute bezogene Scham, und das kommt darin zum Ausdruck, daß sich das Gefühl der Scham mit dem der Schuld verbindet. Daß bei der Moral das Gefühl nicht nur Scham, sondern auch Schuld ist, hängt damit zusammen, daß die Reaktion der anderen im Fall der Moral nicht nur Geringschätzung ist, sondern so etwas wie Entrüstung, weil, wenn das System der wechselseitigen Forderungen erschüttert wird, die moralische Gemeinschaft im ganzen verletzt wird: es ist, als ob den übrigen Mitgliedern der moralischen Gemeinschaft der Teppich, auf dem sie stehen, entzogen würde.«26

24 Ibid., S. 69f. 25 Id.: Das Problem einer autonomen Moral. In id.: Anthropologie statt Metaphysik; München 2010, S. 114-135, S. 122f. 26 Id.: Egozentrizität und Mystik, S. 72.

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Moral rechtfertigt sich aus den Werten der Gemeinschaft, nicht aus abstrakten absoluten Werten, die unabhängig von einer Gemeinschaft existieren können. Diese Werte müssen zwar nicht festgeschrieben werden, aber sie sind ein selbstverständlicher und wesentlicher Bestandteil der Gemeinschaft, die durch einen Verstoß gegen diese Werte negiert oder zumindest erschüttert wird. Nun ließe sich einwenden, daß gerade totalitäre Gemeinschaften ihre eigenen, sehr streng gehandhabten Wertvorstellungen haben und die Rede vom »gesunden Volksempfinden« besonders häufig als Rechtfertigung benutzen, damit aber zumeist nicht gerade eine humanistische Moralvorstellung pflegen. Tugendhat begegnet diesem Einwand auf wenig überzeugende Weise, indem er diesen »partikularistischen Ideologien« jeden universalen Anspruch abspricht: »Für die partikularistischen Ideologien wie Nazismus und Faschismus, ob man sie nun als Moralen bezeichnen kann oder nicht, gilt deswegen, was für die Aufklärungsmoral nicht gilt, daß sie sich historisch erklären lassen. Sie haben eine nachvollziehbare motivationale Vorgeschichte, und wenn die historischen Bedingungen sich ändern, lösen sie sich auf. Während die Aufklärungsmoral auf einer Motivation beruht, die an sich zeitlos ist, aber auch verdrängt werden kann, verweisen die Motive, auf die sich Nazismus und Faschismus stützen, auf spezielle historische Bedingungen, wie man sie sich z. B. an Hand der deutschen Geschichte in den Jahrzehnten vor 1933 veranschaulichen kann.«27 Gerade wer sich in der Ideengeschichte der letzten drei Jahrhunderte auskennt, wird wohl an dieser Geschichtsdeutung seine Zweifel haben – nicht nur, weil der rückwärtsgewandte Blick auf die Geschichte dazu neigt, überall »spezielle historische Bedingungen« und einen linearen Geschichtsverlauf zu erkennen, wo vieles hätte anders kommen können. Aber auch unabhängig von diesen geschichtsphilosophischen Erwägungen erklingt hier eine Variation jener Argumentation, die in autoritärer Manier die bestehende (Rechts-) Ordnung, die existierende polis, verteidigt. Und das zeigt, daß es hier im Grunde um nichts anderes geht als um eine Machtfrage: Die Gemeinschaft setzt das Recht, und dabei ist es zunächst einmal völlig gleich, ob dieses Recht nun »recht« ist oder »unrecht«. Die Frage, ob diese Rechtssetzung partikularistisch ist oder nicht, ist an sich unerheblich. Zwar mag es durchaus so sein, daß eine partikularistische Ordnung ungerechter ist als eine universalistische. Dennoch ist es höchst fragwürdig, ob eine universalistische Gesellschaftsordnung den Charakter eines sich selbst begründenden, ewigen Prinzips hat – oder ob sie an dieser Vorgabe nicht ebenso scheitert wie eine partikularistische

27 Id: Nazismus und Universalismus. Ist die universalistische Moral historisch erklärbar? In id.: Anthropologie statt Metaphysik; München 2010, S. 206-224, S. 221f.

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Ordnung. Wesentlich ist aber, daß bei Tugendhats Konstruktion völlig unabhängig von der Beschaffenheit der jeweiligen Ordnung das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft in sehr traditioneller Weise gezeichnet wird: die moralischen Werte werden durch die Gruppe gesetzt. Jan Philipp Reemtsma beschreibt diese Situation und Gesellschaftsstruktur mit einem Seitenblick auf das von Sophokles geschilderte Theben Kreons: »Die Frage nach Recht oder Unrecht stellt sich nicht, und wer sie doch stellt, stellt die Polis in Frage. Indem sie der Verordnung Kreons gemäß durch Unterlassung handeln, stellen sie dar, wer sie sind und sein wollen: Untertanen. Sie versichern der Repräsentanz der politischen Macht ihre Loyalität und einander wechselseitig die Stabilität der so beschaffenen Polisverfassung.«28 Löwith versucht diese Darstellung durch seine Definition des Menschen als Mitmenschen einerseits zu bestätigen, andererseits aber zu unterlaufen. Denn wenn er das für den Menschen maßgebliche Verhältnis als das Verhältnis zwischen Ich und Du – und nicht zwischen Individuum und Gemeinschaft – festlegt, schafft er eine Nebenwirklichkeit und räumt ihr den höheren, »überpolitischen«29 Stellenwert ein. Diese Nebenwirklichkeit kann durchaus konträr zum Verhältnis

28 Jan Philipp Reemtsma: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne; Hamburg 2008, S. 58. 29 So schreibt Löwith beispielsweise in einer seltenen politischen Stellungnahme an Jaspers: »Ich glaube wirklich ›über-politisch‹ zu denken wenn ich für eine unbedingte Verweigerung der Beteiligung Westdeutschlands an der atomaren Aufrüstung Stellung nahm. Die Alternative: ›Freiheit‹ oder ›totalitäre Herrschaft‹ scheint mir sachlich nicht zwingend + historisch durch die Atomwaffen überholt zu sein. […] Aber […] das Unbefriedigende an Ihren eindringlichen Erörterungen ist für mich dass infolge des weiten Überblicks alles Für + Wider der entscheidenden Fragen nur in die Schwebe aber zu keiner Entscheidung kommen. Das wurde mir besonders deutlich in Ihrem Exkurs zur Göttinger Erklärung, aber auch in den Ausführungen zu Gandhi, wo Sie das Ausserordentliche dieses Mannes dadurch abschwächen, dass Sie sein Vorgehen als ›moralische Erpressung‹ bezeichnen, die zudem nur innerhalb des liberalen englischen Systems durchführbar war, was aber seiner exzeptionellen Bedeutung gar keinen Eintrag tut. Europa hat mit Ausnahme von A. Schweizer keine vergleichbare moralische Autorität hervorgebracht. Wenn irgendwer dann wirkt dieser nüchterne Christ unserer Zeit aus der ›Wirklichkeit eines Ewigen‹ + daran kann mich die intellektuelle Schwäche der Formel von der ›Ehrfurcht vor dem Leben‹ nicht irre machen.« (Karl Löwith an Karl Jaspers, 18.VIII.1958; Marbach/Neckar, Deutsches Literaturarchiv, A: Jaspers. Der Brief wurde nicht in die bei Wallstein erschienene Ausgabe der Jaspers-Korrespondenzen aufgenommen).

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mit der (politischen) Gemeinschaft stehen. Ihre Welt folgt eigenen Gesetzen, ihre Leitfigur wäre die von Reemtsma geschilderte Antigone, deren Haltung in vielem Löwiths »überpolitischer« Haltung entspricht: »Aus dieser Perspektive ist Antigone eine Anarchistin. Im eigenen Verständnis ist sie das keineswegs, sie versteht sich überhaupt nicht als politisch Handelnde. Sie stellt weder die Polisordnung noch ihren Repräsentanten, noch dessen Recht, Verordnungen zu erlassen, in Frage. Sie will auch nicht demonstrativ handeln, sondern nur nach individuellem Pflichtempfinden. Wenn dieses mit der Gesetzeslage in Konflikt gerät, will sie die Konsequenzen tragen. Antigones Handeln ist also keineswegs etwas wie ein konkurrierendes Bekenntnis zu einer anderen Art von Ordnung oder grundsätzlich anderen Prioritäten. Ihr Handeln sei ›autónomos‹, nach eigenem Gesetz und nur insofern politisch, als es die Möglichkeit solch ›autonomen‹ Handelns ins Spiel bringt und (nach ihrer Entdeckung und Verhaftung) öffentlichkeitswirksam darauf besteht, es müsse auch Ausnahmen geben können.«30 Antigone steht damit nicht so sehr inhaltlich auf einem eigenen Standpunkt, sondern ihre individuelle Moral setzt sie gegen den Anspruch einer Gemeinschaft, der totalitär den ganzen Menschen fordert und zu Kompromissen nicht bereit ist. Antigone fordert nicht grundsätzlich den Vorrang des Individuums vor einer gemeinschaftlich verfaßten Ordnung – nicht zufällig beruft sie sich auf die Götter und damit auf eine andere Ordnung –, aber sie fordert von der politischen Ordnung einen Freiraum, der Diskussionen zuläßt. Ihre Haltung rechtfertigt sich aus der einfachen Erkenntnis, daß eine Gemeinschaft viele Interessen ausgleichen muß und dieses Vorhaben nur dann gelingen kann, wenn Einzelinteressen nicht zu absoluten Gruppeninteressen werden. So, wie eine Gemeinschaft keinen Ewigkeitscharakter besitzt, müssen auch die von ihr gepflegten Wertvorstellungen immer wieder neu erkämpft und begründet werden. Das bedeutet auch, daß jede Moral und jede Wertvorstellung zwar möglicherweise auf unverrückbaren Ideen oder naturrechtlichen Überlegungen aufbaut, aber dennoch relativ ist, weil sie nicht gesetzt werden kann, sondern sich im Diskurs rechtfertigen muß. Doch während bei Löwiths Gegenentwurf die Einbettung des Menschen in Beziehungen zu anderen einen so wesentlichen Charakter hat, daß der Mensch sich erst im Verhältnis zu diesen Anderen selbst erkennen und seinen eigenen Standpunkt gewinnen kann, jeder Andere also eine ganz eigene, durch nichts zu ersetzende Bedeutung besitzt, ist die Verankerung bei Tugendhat viel schwächer. Denn bei ihm sind Moral, die Anderen und die Gemeinschaft im Grunde selbst adverbiell, also lediglich eingrenzende Beigaben; welcher dieser Personen oder

30 Jan Philipp Reemtsma: Vertrauen und Gewalt, S. 58.

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Gruppen ich mich zugehörig fühle, ist allein Sache des jeweiligen Ichs – am Ende wird es die sein, die meiner persönlichen Vorstellung von einem guten Leben am nächsten kommt bzw. mir am meisten Bestätigung gewährt. Auch der Andere als unverrückbarer moralischer Bezugspunkt ist in dieser Rechnung zwar vorhanden, aber seine Rolle ist bei Tugendhat schon deshalb geschmälert, weil er vom Ich sozusagen zweckmäßig erwählt wird – sein Eigenwert und damit auch seine selbständige Absolutheit aber fraglich sind. Wenn man Tugendhat darin folgt, daß unser Verhältnis zu einem Anderen wirklich dadurch motiviert wird, daß wir íhn tolerieren um selbst möglichst gut in einer Gesellschaft leben zu können; daß dieser Andere sich als Mittelpunkt der Welt sieht, weil – oder obwohl – wir es auch machen und sich aus diesem Eingeständnis auch für mich die Möglichkeit ergibt, besser zu leben: es handelte sich bei diesem Anderen, der uns hier gegenübertritt, nicht um einen konkret faßlichen Menschen. Denn all dies führt nicht dazu, daß wir versucht sind, auf den anderen irgendwie einzugehen und uns mit ihm in ein Verhältnis zu setzen. Micha Werner hat zwar darauf hingewiesen, daß ein solches Bild vom Andern sich ohne weiteres im Rahmen von Kants Universalisierung »Kannst Du auch wollen, daß deine Maxime ein allgemeines Gesetz werde?«31 bewegt, denn es sei »keine echte intersubjektive Rollenübernahme, keine reale Kommunikation zwischen Handelnden und Betroffenen, sondern nur ein Gedankenexperiment, nämlich die imaginative Vergegenwärtigung und Bewertung einer mich betreffenden hypothetischen Situation [gefordert]: Ich muß mich fragen, wie ich urteilen würde, wenn ich an der Stelle eines Anderen wäre. Dies ist jedoch nicht dasselbe, wie wenn man den tatsächlichen Standpunkt und die realen Ansprüche von ihr oder ihm berücksichtigt – das heißt: den Standpunkt und die Ansprüche eines konkreten Anderen. […] Um zum universalen Standpunkt zu gelangen, bedürfen wir der Konfrontation mit dem konkreten Anderen nicht. Wir müssen uns nicht an ihm als an einem realen Gegenüber abarbeiten, müssen uns nicht mit seinen potentiell abweichenden Vorstellungen vom guten Leben auseinandersetzen.«32 Ist dieser »universale Standpunkt«, der unser Gegenüber nicht als Menschen, sondern lediglich als unser eigenes Gedankenexperiment zu berücksichtigen gewillt ist und der ganz unabhängig von dem ist, was dieses Gegenüber in der Re-

31 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten; Hamburg 1962, S. 22. 32 Micha Werner: Die Unmittelbarkeit der Begegnung und die Gefahren der Dichotomie: Buber, Lévinas und Jonas über Verantwortung. In Dietrich Böhler / Horst Gronke / Bernadette Herrmann (ed.): Mensch-Gott-Welt. Philosophie des Lebens, Religionsphilosophie und Metaphysik im Werk von Hans Jonas; Freiburg 2008, S. 113-144, S. 117f.

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alität sagt, will und tut, wirklich eine ausreichende Grundlage für ein Zusammenleben von Menschen? Immerhin: eine gewisse Form der Gleichheit wird auf diese Weise konstituiert – »meinesgleichen« ist dieser Andere dort, wo ich ihm unterstelle, daß er dieselbe Haltung zur Welt einnimmt wie ich selbst. Darüber hinaus ist er zweckgebunden und damit – ganz im Sinne Stirners – tatsächlich nur eine Phrase. Er ist mir zwar gleich in dem Sinne, daß ich ihm meine eigenen Ansprüche unterstelle – aber das sagt nichts aus über seinen Stellenwert in meiner Welt und noch weniger über seinen tatsächlichen Wert. Streng genommen existiert dieser Andere nur in meinem Kopf – und ist daher noch weniger ein zu achtendes selbständiges Wesen als in Hannah Arendts Denktagebuch, wo es heißt: »Volo ut sis: Kann heißen, ich will, dass Du seist, wie Du eigentlich bist, dass Du Dein Wesen seist – und ist dann nicht Liebe, sondern Herrschsucht, die unter dem Vorwand zu bestätigen selbst noch das Wesen des Anderen zum Objekt des eigenen Willens macht.«33 Daher ist es wenig verwunderlich, daß Tugendhats weitergehende Konstruktion der Gleichheit von Ich und Du im Vergleich mit Löwiths abweichendem Konzept sehr eindimensional und undifferenziert wirkt und er nicht überzeugend begründen kann, warum »jeder die Interessen des anderen als in einem gewissen Sinn und Ausmaß gleich wichtig ansehen muß wie seine eigenen, und daß er, wenn es viele sind, die Interessen aller so ansehen muß […], und das impliziert, daß jeder gleich viel ›gilt‹«.34 Denn der Andere ist eine Projektion meiner Selbsteinschätzung. In diesem Sinne ist er aber kein Anderer, mit eigenen Bedürfnissen, Wünschen, Begabungen versehen, sondern er ist eigentlich nur ein Abbild meiner selbst – und das hat unmittelbare Konsequenzen für Tugendhats Gerechtigkeitskonzeption. Denn da der Andere nicht ganz ursprünglich anders, sondern eine Projektion meiner selbst ist, kann Tugendhat keine Ethik vertreten, die auf Verschiedenheit besonderen Wert legt. Für ihn ist »Gerechtigkeit […] nicht eine Konsequenz der Vernunft, sondern der Symmetrie, und die Symmetrie ist nicht eine Erfindung, sondern die reale Alternative zur Macht.«35 Auf dieser Basis schreibt er: »Wenn man sagt, der Egalitarismus ist die Moral, die sich in

33 Hannah Arendt: Denktagebuch 1950-1973 Bd. 1 (ed. Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann); München 2002, S. 276. 34 Ernst Tugendhat: Noch einmal über normative Gleichheit. In id.: Anthropologie statt Metaphysik; München 2010, S. 225-239, S. 227. 35 Id.: Der Ursprung der Gleichheit in Recht und Moral. In id.: Anthropologie statt Metaphysik; München 2010, S. 136-155, S. 154.

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der Sicht der Aufklärung ergibt, so heißt das: sie ergibt sich, wenn man vom autonomen Selbstdenken ausgeht.«36 Ziel von Tugendhats Gerechtigkeitsvorstellung ist es daher, die Unterschiede zwischen Ich und Du auszugleichen und eine egalitäre Gesellschaft zu begründen. Nun ist Tugendhat kein Vulgäregalitarist, sondern er befürwortet durchaus Unterschiede. Aber er ordnet diese Unterschiede einer – auch materiellen – Gleichheit unter und führt dabei eigene, wenig überzeugende Kategorien ein: »Beispielsweise bei jener ungleichen Verteilung, von der heute die meisten meinen, daß sie gerecht sei und die man Verteilung nach Verdienst nennt, in dem Sinn, in dem diejenigen, die besser ausgebildet sind und angeblich mehr für das soziale Wohl beitragen, mehr verdienen. Das erscheint mir irrig. Ich habe schon in meinen Vorlesungen über Ethik die Auffassung vertreten, daß so eine Verteilung in Wirklichkeit nicht gerecht ist, sondern lediglich nützlich innerhalb einer kapitalistischen Wirtschaft, während nach meiner Meinung an ihrer Stelle eine Verteilung der Einkommen gerecht wäre, in der diejenigen, die eine Tätigkeit ausführen, die in sich selbst befriedigend ist, weniger verdienen, und die, die schmutzige Arbeit verrichten, mehr Gehalt beziehen. Man könnte dann frei wählen zwischen schwerer Arbeit verbunden mit mehr Einkommen oder angenehmer Arbeit verbunden mit weniger Einkommen.«37 Natürlich ist ein kapitalistisches Gesellschafts- und Entlohnungssystem nicht »gerecht«. Doch Tugendhats Lösungsvorschlag hält einer ganz einfachen Überprüfung nicht stand – er könnte nämlich nur dann funktionieren, wenn eine grundlegende Einigkeit darüber bestünde, was eine befriedigende, was eine schmutzige, was eine schwere und was eine angenehme Arbeit ist – und wie die verschiedenen Grade der Befriedigung, der Schmutzigkeit, der Schwere und auch der Annehmlichkeit denn allgemeinverbindlich festgestellt werden können. Dies wird aber von jedem Menschen anders empfunden. Selbst wenn es um die materielle Kompensation geht wird man feststellen, daß diese von jedem unterschiedlich bewertet wird, ja sogar für jeden ganz praktisch von unterschiedlichem Wert ist – denn 5000€ haben einen ganz anderen Wert in den Händen von jemandem, der mit Geld gut umgehen kann als in denen eines Verschwenders. Wird man deshalb einem notorischen Verschwender für die gleiche Arbeit entsprechend mehr bezahlen? Wohl kaum – selbst wenn es »gerecht« wäre. Daher muß man sich wohl damit abfinden, daß die Ungleichheiten zwischen den Menschen selbst dann, wenn es erstrebenswert wäre, nicht ausgeglichen werden können und es vielmehr darum

36 Id.: Nazismus und Universalismus, S. 224. Schon hier drängt sich mit Löwith die kritische Frage auf: welcher Mensch ist ein »autonomer Selbstdenker«? 37 Id.: Der Ursprung der Gleichheit, S. 152f.

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gehen muß, jedem die besten Möglichkeiten zur Erfüllung seiner Wünsche und Potentiale zu bieten – sofern sie sich in einem ethisch verträglichen Rahmen bewegen. Löwiths Sichtweise verträgt sich gut mit dieser individualistischen Perspektive; man muß aber mit Löwith auch akzeptieren, daß Ungleichheit, Ungerechtigkeiten und Machtverhältnisse nicht aus der Welt zu schaffen sind, weshalb die Zustände dieser Welt einen tendentiell negativen Einfluß auf den einzelnen Menschen ausüben: »Diese Gewalt des einen über den andern ist etwas Ursprüngliches, weil mit der Ungleichheit der menschlichen Anlagen von selbst Gegebenes; sie ist der Preis, den das geschichtliche Leben kostet und der im Falle der griechischen Polis so gut wie in dem der modernen Staaten zu zahlen ist.«38 Dementsprechend sind für Löwith im Unterschied zu Tugendhat Ich und Du alles andere als gleich. Beide bleiben in ihrer Selbständigkeit, in ihren eigenen Wünschen, Fähigkeiten und Möglichkeiten erhalten – und erst in dieser Differenz gleichen sie einander. Wenn Löwith eine Dimension der Gleichheit interessiert, dann ist es die nach der übergeordneten Art der menschlichen Gleichheit, die er als die Einheit der Menschen bezeichnet: »Die Frage nach der Einheit und Verschiedenheit der Menschen ist nicht identisch mit der nach der Gleichheit und Ungleichheit. […] Gleichheit und Ungleichheit beziehen sich immer schon auf bestimmte, voneinander verschiedene Menschen; die Einheit der Menschen oder die ›Menschheit‹ bezieht sich auf das unbestimmte Insgesamt aller Menschen, der verschiedenen und der gleichen. […] Diesen einheitlichen Begriff vom Menschen als solchen setzt jede Philosophie und philosophische Anthropologie voraus, sofern sie überhaupt nur vom Menschen spricht. […] Die Menschen mögen noch so verschieden sein – an Farbe, Gestalt, Sitten und Denkweise – es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß sie weder tierische noch göttliche, sondern menschliche Wesen sind. Auch der ›tierisch‹ verrohte oder bloß ›vegetierende‹ Mensch ist immer nur eine Möglichkeit des Menschen. Kein Tier kann vertieren, keine Pflanze kann vegetieren. Die Frage ist aber: Genügt es schon, kein untermenschliches Tier und kein übermenschlicher Gott zu sein, um positiv so etwas wie ein ›Mensch‹ zu sein? […] Der Mensch als solcher kann unter und über dem Maße des Menschen sein, er kann auch ›unmenschlich‹ sein.«39

38 Karl Löwith: Jacob Burckhardt. Der Mensch inmitten der Geschichte (1936). In id.: Schriften 7; S. 39-361, S. 149. 39 Id.: Die Einheit und die Verschiedenheit der Menschen (1938). In id.: Schriften 1; S. 243-258, S. 243f.

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Die Humanität des Menschen ist für Löwith nicht ein von Natur gegebenes, sondern sozusagen ein Bildungsziel. Auch die Bildung zur Humanität unterliegt dem aufgeklärten Bildungsideal, und so, wie der Mensch in der aufgeklärten Denktradition danach strebt, sich weiterzubilden und dieses Streben Teil seiner Menschlichkeit ist, so ist diese Humanität in Löwiths Denken nicht von Beginn an vollkommen ausgeprägt, sondern wird durch Sozialisation und Erziehung erworben; doch wie der Bildungstrieb der Aufklärung ist auch dieses Streben nach Vervollkommnung der Humanität bereits in der Natur des Menschen angelegt. Und so unterscheiden sich die Menschen nicht nur aufgrund von Interessen, Begabungen und anderen natürlichen oder sozialen Vorbedingungen, die alle gleichermaßen zur Natur des individuellen Menschen gehören, sondern auch im unterschiedlichen Grad ihres Strebens nach und ihrer Bildung zur Humanität. Angesichts dieser unterschiedlichen Veranlagungen hat auch Löwiths Verständnis von Gerechtigkeit nichts mit materiellen Dingen oder einem schlagwortartigen Gebrauch von Chancengleichheit zu tun; er steht in einer Tradition der Aufklärung, die nicht – wie die Egalitaristen – auf die (materielle) Gleichheit des Standpunktes abzielt, sondern auf die möglichst umfassende Erfüllung individueller Möglichkeiten und Bedürfnisse. In diesem Sinne käme Löwith die Ermöglichung eines Bildungskonzepts im Sinne Humboldts wohl eher entgegen: ein Bildungskonzept, das auf Freiheit als der »Möglichkeit einer unbestimmt mannigfaltigen Thätigkeit«40 beruht und nach dieser Maßgabe Potentiale fördert. Mit ihm wird »der wahre Zweck des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt« als »die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen«41 bestimmt. Dem entspricht, daß sich Löwith auch bei seinen sprachphilosophischen Untersuchungen, also dort, wo er anhand der menschlichen Sprache den Standpunkt des Menschen im Verhältnis zu anderen und im Verhältnis zur Welt zu klären versucht, auf Humboldt beruft. Selbst wenn man die zahlreichen historischen und kosmologischen Voraussetzungen ausklammert, die »Welt« bei Löwith ausmachen, auf die er gerade in seinem späteren Denken großen Wert legt und die verhindern, daß der Einzelne ihr Mittelpunkt sein, sie sich zu eigen machen oder sich auch nur als ein solcher Mittelpunkt fühlen kann: es gilt noch immer, daß für Löwith die jeweils für ein Ich und ein Du hauptsächlich relevante Welt durch die Beziehung zwischen die-

40 Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. In id.: Schriften zur Anthropologie und Geschichte (Werke Bd. 5); Darmstadt 1980, S. 56-233, S. 57. 41 Ibid., S. 64.

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sen beiden entsteht, eine Beziehung, die sich selbst genügt und an der beide Beteiligte ihren Anteil haben. Deshalb muß in dieser Beziehung, wenn sie nicht durch einen Mißbrauch zerstört werden soll, der Andere in seiner Verschiedenheit erhalten bleiben; er darf auch nicht gegen seinen Willen für irgendwelche eigenen Zwecke einspannt werden. Dementsprechend ist die Welt, die im Rahmen dieser Beziehung entsteht, in Löwiths Vorstellung kein zuhandenes »Objekt«, sondern steht gewissermaßen »zwischen« Ich und Du. Sie hat keinen Mittelpunkt – wenn es nicht die Beziehung selbst ist – und wird daher nicht einseitig von jemandem bestimmt, sondern ist dem Ich und dem Du gleichermaßen zu eigen. Der Andere ist hier von Beginn an Teil »meiner« Welt, und diese Welt ist ein Gemeinschaftswerk, das ohne den Anderen nicht denkbar wäre. Das gilt selbst dort, wo ich den anderen nicht achte, solange ich nur in einer Beziehung mit ihm stehe. Wegen dieser Bezogenheit auf Andere ist die Stellung des Menschen bei Löwith, wie er selbst formuliert, »zweideutig«. Der Mensch steht als Person in einer Welt, die ihm nicht gehört und die er nur teilweise beeinflussen kann. Insgesamt hat der Andere bei Löwith den höheren Stellenwert, denn auch wenn er faktisch als »meinesgleichen« definiert ist, so ist er doch stets schon vor mir in der Welt und bestimmt mich in entscheidender Weise mit. Während der Mensch bei Löwith einer Vielzahl von mitmenschlichen Einflüssen, aber auch solchen historischer und kultureller Natur unterliegt und schon deshalb in seiner Gestaltungskraft eingeschränkt ist, sieht sich Tugendhat aufgrund seines ichbezogenen Weltbildes viel stärker als Löwith der Frage ausgesetzt, warum die menschliche Gestaltungskraft immer wieder an ihre Grenzen stößt. Auch in diesem Punkt wird der Unterschied zwischen Löwith und Tugendhat also deutlich. Denn Löwith faßt diese Bedingungen des Menschseins im Gedanken der »Macht« bzw. unter dem granitenen Begriff des fatums42, das

42 In der Tat zitiert Löwith ausführlich Nietzsche (vgl. Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft; Leipzig 1903, 7. Hauptstück, §231; S. 191) über die Bedingtheit und Unwandelbarkeit der menschlichen Natur: »›im Grunde von uns, ganz ‚da unten‘, gibt es freilich etwas Unbelehrbares, einen Granit von geistigem Fatum, von vorherbestimmter Entscheidung und Antwort auf vorherbestimmte ausgelesene Fragen. Bei jedem kardinalen Probleme redet ein unwandelbares ‚das bin ich‘ […]. Man findet bei Zeiten gewisse Lösungen von Problemen, die gerade uns starken Glauben machen; vielleicht nennt man sie fürderhin seine ‚Überzeugungen‘. Später – sieht man in ihnen nur Fußstapfen zur Selbsterkenntnis, Wegweiser zum Problem, das wir sind, – richtiger, zur großen Dummheit, die wir sind, zu unserm geistigen Fatum, zum Unbelehrbaren ganz ‚da unten‘.‹ […] Weil aber dieser Lehre gemäß das ›Los der Menschheit‹ schon ›ewig dagewesen‹ und längst

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unseren Glauben, die Welt dauerhaft gestalten zu können, systematisch unterläuft: »Den großen Staatsmännern und Historikern – Thukydides, Polybios, Tacitus; Pericles, Scipio, Cäsar; Machiavelli und Karl V. – war eine solche Überheblichkeit völlig fremd. Sie berichteten politische Geschichten und sie handelten geschichtlich im klaren Bewußtsein um die Hinfälligkeit aller menschlichen Dinge, weil sie die Welt, d. i. den Kosmos, bzw. die Schöpfungsordnung, nicht mit der ›Weltgeschichte‹ verwechselten und Sinn für Proportionen hatten. Sie hatten auch keine phantastische Vorstellung von der Freiheit des Menschen zur Selbstbestimmung. Vielmehr ist es gerade für die großen Willensmenschen der Geschichte kennzeichnend, daß sie an die Fatalität des Fatums oder an eine Vorsehung glaubten.«43 Grundsätzlich ist der Begriff des fatums aber kein beliebiger Begriff, sondern traditionell immer Bestandteil einer festen Ordnung, sei sie naturrechtlich-kosmologisch – wie bei Löwith – oder theologisch. Tugendhat fehlt dieser Bezugsrahmen. Denn eine Welt, die in seinem Sinne dem Menschen untertan ist, verfügt über keine Ordnung, die nicht menschlich und menschengegeben ist. Wo Löwith menschliches Scheitern mit dem fatum erklären kann, steht Tugendhat vor dem Problem, eine ähnliche Instanz zu brauchen – denn menschliches Scheitern gibt es ja offenkundig recht häufig – ohne dabei auf eine solche vorausgesetzte Ordnung zurückgreifen zu können. Er kann auch nicht wirklich auf den Mitmenschen als Einfluß zurückgreifen, denn der ist in einem Weltbild, in dem jeder sich selbst zentral setzt zunächst einmal herzlich irrelevant. Und so muß Tugendhat auf das eher sprunghafte Konzept des Glücks zurückgreifen: »Bei vielen Zielen (bzw. Übeln), um die man sich sorgt, kann man zu ihrer Realisierung (bzw. zur Vermeidung des Übels) selbst nichts tun. Ihre Erfüllung hängt vom Glück ab. […] Auch bei Zielen, für die man etwas tun kann, hängt das Gelingen zumindest auch vom Glück ab. Der Gesichtspunkt des Glücks (im Sinn des engl. luck) kommt gleichzeitig mit dem des Zwecks auf. Nur für Wesen, die auf Zwecke bezogen sind und die planen können, erscheint das, was sie für ihre Ziele brauchen, aber nicht selbst tun und planen können, als

entschieden ist, gibt es auch im Erkennen des Menschen gar keine Beliebigkeit, sondern nur Fatum.« (Karl Löwith: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen (1935). In id.: Schriften 6; S. 100-384, S. 117f.) 43 Karl Löwith: Vermittlung und Unmittelbarkeit bei Hegel, Marx und Feuerbach (1966). In id: Schriften 5; S. 186-220, S. 215f., Fußnote 48. Löwith wendet sich hier gegen die von Th. Litt vertretene These, »daß die Abkehr von der Geschichte und der Antihistorismus ein verhängnisvoller Vorgang sei« (ibid.).

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Glück. Daher gewinnt die Spannung zwischen Glück und Unglück für Wesen, die auf Gutes bezogen sind, eine fundamentale Bedeutung.«44 Aber Glück ist vollkommen unbestimmt und unbestimmbar. Es ist gerade kein Ordnungsbegriff, sondern bezeichnet das, was uns überraschend und unverdient zufällt, den Zu-Fall, den deus ex machina, auf den man nur in Theaterstücken und Groschenromanen rechnen kann. Sicher muß es nicht falsch sein, den Glücksbegriff als Kategorie zu verwenden, aber er verweist immer auf den Menschen, dem Glück widerfährt (oder auch nicht). Der Glücksbegriff besitzt in der Regel keine allgemeine Dimension, sondern lediglich eine sehr persönlichindividuelle – des einen Glück ist meist eines anderen Unglück. Da der Glücksbegriff so eng an den Menschen gebunden ist, macht er als Ordnungsprinzip nur Sinn in einer Welt, die auf den Menschen ausgerichtet ist. Wenn wir aber von Ordnung sprechen, lohnt ein Blick auf die Weltordnung, für die der Begriff des »fatum« steht. Diese Weltordnung ist eine Ordnung im klassischen Sinne: sie ist vielleicht undurchschaubar, aber auf jeden Fall existent, um nicht zu sagen göttlich und trägt nach allgemeiner Überzeugung dazu bei, sich selbst, und damit die Welt, zu erhalten. Im Gegensatz dazu taugt »Glück« gerade nicht als Ordnungsbegriff, weil es das Außerordentliche bezeichnet. Nur in einer Welt, die eben kein Kosmos, keine Ordnung, sondern ein Chaos ist, ließe sich der Glücksbegriff sinnvoll als kennzeichnendes Charakteristikum verwenden. Daher wird dieser Begriff, wie auch Löwith in Anlehnung an Burckhardt festhält, dem Menschen und der Geschichte nicht gerecht: »In Wahrheit ist aber alles Einzelne – ›und wir mit‹ – nicht nur um seiner selbst willen, sondern auch um der ganzen Vergangenheit und Zukunft willen da, und gegenüber diesem großen und ernsten Ganzen der menschlichen Geschichte sind die Ansprüche der Völker und Individuen auf Glück ohne Bedeutung. Der geschichtlich Wissende muß darum versuchen, dieses entweihte und abgeschliffene Wort durch ein zutreffenderes zu ersetzen. Weil aber die Geschichte ein leidvoller Kampf ist, in dessen Bewegung der Mensch erst erfährt, was er kann, ist der Ausdruck ›Unglück‹ beizubehalten. […] Gerade der handelnde Mensch ist auch wesentlich duldender Mensch, und was er erleidet, ist vor allem die Macht. Böse ist sie aber nicht, weil wir sie moralisch als böse beurteilen, sondern ›an sich‹, d.h. einfach als wirkliche, erobernde, knechtende, plündernde und freiheitsberaubende Macht der Geschichte, oder auch als Naturgewalt. Als eine solche wirkliche Macht ist sie die Übermacht über das Wohl und Wehe einzelner Menschen und ganzer Völker, die ihr gegenüber ohnmächtig sind. Noch nie ist eine geschichtliche Macht ohne Gewalttaten, Rechtsbrüche und Verbrechen gegründet worden,

44 Ernst Tugendhat: Egozentrizität und Mystik, S. 36f.

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und doch entwickeln sich die höchsten materiellen und geistigen Besitztümer der Nationen nur in einem durch Macht gesicherten Dasein. […]. Diese Gewalt des einen über den andern ist etwas Ursprüngliches, weil mit der Ungleichheit der menschlichen Anlagen von selbst Gegebenes; sie ist der Preis, den das geschichtliche Leben kostet und der im Falle der griechischen Polis so gut wie in dem der modernen Staaten zu zahlen ist.«45 Natürlich wäre es zu einfach, Tugendhat zu unterstellen, er blende alle diese Gedanken völlig aus und schiebe jede Begrenzung des jeweils eigenen Gestaltungsbereiches auf den zufälligen Einfluß des Glücks. Auch bei ihm taucht der Andere auf. Denn auch der Tugendhatsche Mensch lebt ja in einer Welt, in der es noch andere Menschen gibt, in der »sich Menschen in einem Zusammensein und Zusammentätigsein mit anderen«46 befinden. Dieses Zusammensein ist bei Tugendhat jedoch in bezeichnender Weise problematisch. Denn wo der Andere bei Löwith eine zweideutige Stellung einnimmt, durch die eine ganz eigene, selbstgenügsame und wesentliche Welt geschaffen wird und diese Welt sowohl positiv wie negativ sein kann, führt das Zusammensein bei Tugendhat nicht zu einem neuen Horizont im positiven Sinne, sondern es zeigt uns die eigene Begrenzung, die verdeutlicht, wie »geringfügig« die eigene Existenz ist: Erst diese Geringfügigkeit ermöglicht die Selbstrelativierung, deren Resultat dann ein neuer Blick auf die bereits existierende Welt sein kann. »Solange man sich in der Vielzahl der einzelnen Tätigkeiten und Ziele befindet, nimmt man sich in seiner Egozentrizität absolut wichtig. Wenn man hingegen sein Leben problematisiert, ist es einerseits naheliegend, daß man sich an der Begrenztheit des eigenen Lebens stößt: man ist jetzt nicht nur mit Begrenztheiten im einzelnen konfrontiert, sondern mit der Kontingenz und Begrenztheit des menschlichen Lebens im ganzen, und es ist andererseits naheliegend, daß man sich, indem man sich im

45 Karl Löwith: Jacob Burckhardt, S. 148f. Dementsprechend ist für Löwith ein wahrhaft großer Mensch nicht derjenige, der besonders viel Glück hat, dem alles gelingt oder der ein besonders gutes Leben führt: menschliche Größe zeigt sich für ihn wie für Burckhardt vor allem im Dulden – aber auch im freiwilligen Machtverzicht: »›Seelengröße‹, das besagt für Burckhardt negativ, daß wahrhafte Größe nicht nach der ihrem Wesen nach bösen Macht und erst recht nicht nach dem historischen Effekt beurteilt werden dürfe, sondern geradezu nach dem Verzichtenkönnen auf bloße Macht, aus innerer Güte.« (Karl Löwith: Burckhardts Stellung zu Hegels Geschichtsphilosophie (1928); In id.: Schriften 7, S. 1-38, S. 11) 46 Ernst Tugendhat: Egozentrizität und Mystik, S. 86.

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ganzen ins Auge faßt, in seiner Geringfügigkeit und der Geringfügigkeit der eigenen Sorgen relativ zur Welt wahrnimmt.«47 Es scheint kein Naturgesetz zu sein, daß diese Erfahrung automatisch zur Achtung vor dem Anderen und – rückwirkend – zur Vergrößerung der eigenen Selbstachtung beiträgt. Man kann daher nicht wie Tugendhat an diesem Punkt umstandslos und ohne weitere Begründung mit der Selbstrelativierung beginnen – oder sie, ebenfalls ohne Begründung, seinlassen: »So ergibt sich eine Motivation zur nicht nur partiellen Selbstrelativierung, zur Relativierung der eigenen Wichtigkeiten, der man nachgeben kann oder auch nicht.«48 Naheliegender wäre die Annahme, daß in problematischen Situationen die permanente Erfahrung der eigenen Begrenztheit und der eigenen Bedeutungslosigkeit nicht zur weisen Einsicht der Selbstrelativierung führt, sondern zu einer Trotzreaktion, zur Aggression und Selbstüberhebung. Selbst wenn man diese Analyse nachvollzieht stellt sich die Frage, wohin sie denn am Ende führen soll. Bei Löwith ist die Selbstrelativierung eine notwendige Bedingung alles menschlichen Verhaltens – und der Eintritt des Menschen in Verhältnisse beginnt, genaugenommen, ja schon vor seiner eigentlichen Geburt. Sie geschieht auf den Anderen hin, weil sie ihn von vornherein einbezieht – auch in das Bild, das Einer von sich selbst hat. Diese Dimension ist bei Tugendhat so nicht gegeben, weshalb die Frage ob es etwas gäbe, »das mir als Wollendem als Bezugspunkt dient, auf den hin ich mein einzelnes voluntatives Verhalten sammeln kann«49 für Tugendhat zu einer entscheidenden Dimension wird. Denn in einer Welt, in der ich als Mittelpunkt gesetzt bin, gibt es einen solchen übergeordneten Bezugspunkt per definitionem nicht. Daher bleibt Tugendhats Antwort »mystisch«, außerweltlich und metaphysisch: »Was sich aber sagen läßt, ist, daß die Antwort nur in etwas gefunden werden kann, was ›religiös im weiten Sinn‹, ›nicht von dieser Welt‹ ist. Ist das richtig, so hieße das, daß Menschen von ihrer anthropologischen Struktur her ein verständliches Bedürfnis haben sich zu sammeln, aber daß sie sich darin auf etwas verwiesen sehen, das in dem oben vage verwendeten Sinn ›transzendent‹ ist, und daß es außerhalb von Religion im engeren Sinn (exemplifiziert durch den orthodoxen Juden) oder Mystik (exemplifiziert durch den Zen-Buddhisten) keine Möglichkeit einer ›gesammelten‹ Existenz gibt.«50 Auch wenn Tugendhat diesem Bezugspunkt also nicht den Namen »Gott« geben will – für ihn eine »vielleicht zu spe-

47 Ibid., S. 107. 48 Ibid., S. 107f. 49 Ibid., S. 113. 50 Ibid., S. 113f.

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zielle Antwort«51 – erweist sich seine Anthropologie damit als theologisches Traktat, das stark von christlichen Vorstellungen beeinflußt ist. Aber eben nur beeinflußt – denn es ist zumindest fraglich, ob ein Christ sich wirklich guten Gewissens als Mittelpunkt einer von Gott geschaffenen Welt setzen könnte. Es ist diese eigentümliche Mischung aus Abgrenzung und Verhaftung mit der Tradition, die dazu führt, daß Tugendhats Ergebnisse in gewisser Weise denen Löwiths ähneln. Denn auch Löwith ist ein Denker zwischen Abgrenzung und Tradition, wie schon Leo Strauss festgestellt hat: »Ich finde bei Ihnen alle Elemente eines Humanismus, einer menschlichen Philosophie vom Menschen; aber diese Elemente schiessen nicht zusammen – und zwar darum nicht, weil Sie sich allzu sehr an den Erben unserer anti-humanistischen Tradition orientieren und folglich nicht aus dem Bann dieser Tradition herauskommen.«52 Wie wir gesehen haben, läßt sich ähnliches auch über Tugendhat sagen. Doch Tugendhat geht diesen Weg zum Humanismus nicht so weit wie Löwith, weil für ihn die Selbstrelativierung kein natürliches Verhalten, sondern gewissermaßen eine moralische Entscheidung zur Mystik und Transzendenz ist. Ihr Ziel ist es, das Verständnis von sich selbst und damit von der Welt gezielt zu verändern und so zu einer Transzendenz zu gelangen, die religiöser, mystischer Natur ist: »Der Weg zur Mystik wird darin bestehen, daß man das Gewicht, das die eigenen Wünsche für einen haben, relativiert oder geradezu leugnet, also eine Transformation des Selbstverständnisses. Der Weg der Religion hingegen besteht darin, daß man die Wünsche läßt, wie sie sind, und statt dessen eine Transformation der Welt mittels einer Wunschprojektion vornimmt: die Macht, die die Menschen umgibt, wird zu diskreten Wesen verdichtet, von deren Wirken man sich vorstellen kann, daß das eigene Glück oder Unglück abhängt, und die als von uns beeinflußbar angesehen werden.«53 Diese mystische Dimension ist in ihren Zielen jedoch Löwiths naturrechtlicher Perspektive überraschend ähnlich. Der »Seelenfrieden, der angestrebt wird, ist ein solcher innerhalb unseres normalen Lebens; das Wollen wird nicht verneint, sondern relativiert und eingeschränkt; die Frustrationen werden nicht überwunden, sondern integriert.«54 Tugendhat bezieht sich hierbei auf die Erkenntnisse des Taoismus, strebt aber gleichzeitig immer wieder – gemäß der menschlichen Selbstwahrnehmung – darüber hinaus: »wer sich vor das vom Tao durchherrschte Universum stellt, wird

51 Ibid., S. 113. 52 Leo Strauss an Karl Löwith, 30.XII.1932; in Leo Strauss: Gesammelte Schriften, S. 614. 53 Ernst Tugendhat: Egozentrizität und Mystik, S. 122. 54 Ibid., S. 125.

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sich angesichts seiner Immensität der Relativität der Unterscheidungen von ›groß‹ und ›klein‹ bewußt und bringt sich die eigene Geringfügigkeit und Unwichtigkeit zu Bewußtsein. Das führt zu einem zweiten Gedanken […]. Auf Grund des Bedürfnisses nach Anerkennung erscheint es Menschen wichtig, wichtig zu erscheinen […]. Bestätigung und Ruhm zu suchen, sich zur Schau zu stellen, ist eine Komponente menschlichen Wollens, von dem der taoistische Weise meint, sich ganz frei machen zu sollen. Die Taoisten sprechen hier von einem ›Nicht Handeln‹ (wu wei). Gemeint ist nicht Untätigkeit, sondern ein Tun, das möglichst absichtslos ist wie das der Natur. […] Ein dritter Gedankenkomplex betrifft das Zusammengehören der Gegensätze. Auch hier rekurrieren die Taoisten auf die Natur: alles in der Natur befindet sich in einem Auf und Ab: Geburt und Tod, Wachsen und Vergehen, Steigen und Sinken; so auch das Sein der Menschen. Wer die Dinge vom Tao her sieht, akzeptiert, ja begrüßt jede Wende des Schicksals, auch die ungünstige, weil sie zum ganzen Kreis gehört. […] Die Menschen hingegen sehen sich als steigend oder fallend, sie reflektieren das Geschehen und sind daher in ihrer zeitlichen Antizipation den Emotionen der Sorge, Hoffnung und Angst ausgeliefert. Sie können deswegen nur in einer zweiten Reflexion zur Ruhe kommen, in der sie sich nicht mehr entweder steigend oder fallend sehen, sondern im Bewußtsein der Einheit der Kurve leben. […] In dieser zweiten Reflexion wird die Emotion des Seelenfriedens erreicht. […] Die taoistische Lehre von den Gegensätzen enthält nur ein Minimum von theoretischen Komponenten. Ihre Absicht ist eine rein praktische, die Erreichung der Stille im Sichbewußtmachen der Einheit der ganzen Kurve. Dabei kann man aber nicht stehenbleiben, wenn man bedenkt, daß wir handelnde Wesen sind: wir sind dem Schicksal nicht einfach ausgeliefert, sondern greifen aktiv ein.«55 Viele dieser Elemente finden wir bei Löwith wieder, jedoch teilweise mit entscheidenden Unterschieden. Das beginnt damit, daß bei Löwith die verhältnismäßige Bestimmung des Menschen keine moralische Entscheidung ist, die man treffen kann und die als solche irgendwelche sittlichen Konsequenzen hat. Während Tugendhat auf den Pfad des Dao verweist, auf dem der Mensch von den menschlichen Eitelkeiten, Sorgen und Bedürfnissen zu dieser Natur zurückgeführt werden und zum »Nicht-Handeln« gelangen soll, weil die Erkenntnis, daß alles, Gutes wie Schlechtes, zum harmonischen Kreislauf der Natur gehört, uns Seelenfrieden ermöglicht, setzt Löwith die Einsicht in die Verhältnismäßigkeit des Menschen in einer Weise voraus, daß deren Fehlen den Menschen in die Nähe zur Geisteskrankheit rückt. Für Löwith ist dieses Wissen keine tiefe Weisheit, sondern eine notwendige Erkenntnis in die Natur der Dinge, die er als un-

55 Ibid., S. 133-135.

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veränderliche Gesetze des Kosmos setzt. Er findet sie auch im »östliche[n] Denken«56 wieder, das er als »kosmo-politisch im wörtlichen Sinn«57 versteht. Sie führt aber auch zur weitergehenden Einsicht, daß wir durch unser Handeln beständig die Grenzen des Kosmos überschreiten und in ihn eingreifen, mehr noch: daß wir in ihn eingreifen müssen, weil wir einerseits nun einmal mit unserer Umwelt in einer wechselseitigen Beziehung stehen und andererseits keineswegs jede Wende des Schicksals zu begrüßen ist. Doch diese Konsequenz besitzt für Löwith zunächst keinerlei moralischen Gehalt – die Entscheidung zur Moral, zur Humanität folgt erst an diesem Punkt und ist eine, die wir frei sind selbst zu treffen. Sie ist eine Frage nach der Verantwortung: sind wir bereit dazu, mit Anderen ein Verhältnis einzugehen, in dem wir sie jeweils als meinesgleichen sehen und entsprechend mit ihnen umzugehen? Oder benutzen wir sie zur Erreichung unserer Ziele? Machen wir uns die Erde untertan, zu einem Werkstoff, den wir formen können? Oder nehmen wir uns zurück, weil wir uns als Teil eines großen Ganzen begreifen? »Die Frage ist darum: Woran bemißt sich das Menschsein, wenn der Mensch so vielerlei sein kann, was er nicht schon dadurch ist, daß er von Natur aus, als natürliches Lebewesen, ein Exemplar seiner sich immer gleich bleibenden Gattung ist? Die Menschheit und ihre Menschlichkeit scheinen somit überhaupt kein fragloses, natürliches Merkmal, sondern eine fragwürdige Bestimmung zu sein, eine zur Geschichte der Menschheit gehörige Idee, aber keine naturgeschichtliche Tatsache.«58 Die Bestimmung dieser Idee der Menschlichkeit ist für Löwith nur denkbar über die Betrachtung des Menschen in seinen zutreffend analysierten Verhältnissen mit anderen und mit der Welt insgesamt. Dies ist für Löwith der Schritt, der auch eine menschliche und gerechte Ordnung erst ermöglicht: »Die schon im Altertum aufgeworfene Frage, ob die gerechte Ordnung der Polis ein Abbild der kosmischen Weltordnung ist, oder ob umgekehrt diese nur ein Paradigma der wahren Polis, diese Alternative bleibt nicht in einer unentscheidbaren Schwebe, denn entscheidend ist für den Ordnungsgedanken als solchen der Anblick der Himmelswelt, in deren regelmäßiger Bewegung der Bestand einer übermenschlichen und unverbrüchlichen Ordnung evident ist, wogegen eine vergleichbare Ordnung in der politisch-geschichtlichen Welt so sehr ein Problem ist, daß alles

56 Vgl. Karl Löwith: Natur und Geschichte (1950). In id.: Schriften 2; S. 280-295, S. 285. 57 Id.: Welt und Menschenwelt (1960). In id.: Schriften 1; S. 295-328, S. 303. 58 Id.: Die Einheit und die Verschiedenheit der Menschen (1938). In id.: Schriften 1; S. 243-258, S. 244f.

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Platonische Denken um ihre Herstellung geht. Herstellen läßt sich aber, nach griechischer und östlicher Weisheit, eine vergleichbare Ordnung nur dann, wenn sich der Unfug der Menschenwelt der bestehenden Ordnung der Himmelswelt fügt.«59 Die Humanität, die am Ende dieser Fragen steht, ist für Löwith nichts, was mit dem Menschen als biologischem Wesen quasi mitgeliefert wird. Sie ist im positiven Sinne das, was aus ihm werden kann, sie ist die Aufgabe des Menschen, deren Verfolgung ihn zuallererst zum Menschen werden läßt.

59 Id.: Welt und Menschenwelt, S. 303.

»Eine menschliche Philosophie, welche unter der Idee der Freiheit steht«

Je eingehender man sich mit Löwiths Anthropologie beschäftigt, je deutlicher wird, daß sie nicht nur ein lebenslanges Nachdenken über eine menschliche Philosophie im Sinne einer individualistischen Freiheit ist. Ihr eigentliches Thema ist und bleibt das Verhältnis und die Balance von Freiheit und Beziehung, von Individualität und Person, von Zweckbestimmung und Unabhängigkeit unter den ethischen Maßstäben des Zusammenlebens und dem gegebenen Rahmen der Welt. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, daß Löwith sein Denken auch sprachphilosophisch entwickelt, also aus den Gesetzen der Sprache – verstanden als Verkörperung der Beziehung selbst. Maßgeblich ist dabei der Gedanke, daß sich ein Mensch in der Auseinandersetzung und in der Opposition zu anderen in positiver Weise selbst erkennt, bestimmt und entwickelt. Volker Gerhardt hat in jüngerer Zeit diese Vorgehensweise aufgegriffen und sie als klassische philosophische Methode der Definition, zugleich aber auch als Lebensorganisation und damit als schlechthin politisches Handeln benannt: »Alle tragenden philosophischen Begriffe lassen sich nur durch Abgrenzung gegenüber einem Oppositionsbegriff bestimmen. So geraten etwa Natur und Gesellschaft, Natur und Kultur oder Gesellschaft und Politik in einen Gegensatz, sobald man das jeweils Spezifische benennen will. In einer solchen Gegenüberstellung ist dann die Natur das ›Gegebene‹ und die Gesellschaft das in irgendeiner Weise (immer auch) ›Gemachte‹. In der Abgrenzung zwischen Gesellschaft und Politik hingegen kann die Gesellschaft als ›naturwüchsig‹ und die Politik als ›gesteuert‹ und ›gelenkt‹ erscheinen. […] Was wir da aber abgrenzen, sei es die Technik oder die Mechanik, die Religion, die Kunst oder die Moral, ist, bei aller Selbständigkeit, gleichwohl nie etwas anderes als ein Teil des Lebens. Denn es ist leicht zu sehen, daß ohne die Realität des Lebens alles andere, was immer für uns Bedeutung hat, realitätslos bliebe. […] Hier kann deutlich werden, daß auch der Mensch als ζῷον πολιτικόν nichts anderes ist als ein ζῷον λόγον ἔχον, das

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aus Gründen, die mit seinem Selbstverständnis verknüpft sind, gar nicht umhin kann, sich ausdrücklich auch in Verbindung mit anderen selbst zu bestimmen. Diese Selbstbestimmung eines seiner Lebendigkeit und Vernünftigkeit innewerdenden Wesens führt notwendig zur Politik. Bereits Platon hat dafür eine Formel gefunden, die sowohl die vernünftige Selbstbestimmung des Menschen wie auch die von ihm selbst zu erbringende Sicherung des Lebens zur elementaren Aufgabe dessen macht, was wir heute politisches Handeln nennen.«1 Der zugrundeliegende Versuch, einen eigenen Platz – und damit Sinn – in der Welt zu finden, ist daher keine spezifisch moderne Selbstthematisierung, sondern eine der Fragen, die seit jeher den Menschen als Lebewesen auszeichnen. Es stimmt zwar auch, daß es sich bei der Frage nach dem eigenen Platz und der eigenen Aufgabe um ein Luxusproblem handeln kann, das man erst dann bewußt verfolgt, wenn die dringendsten menschlichen Bedürfnisse befriedigt sind – die eigene Existenz also im materiellen Sinne als einigermaßen gesichert empfunden wird: »Man wird sich selbst zum Problem, weil man keine Aufgaben hat, die einen von sich selbst ablenken.«2 Allerdings geht der Mensch alle »Aufgaben« so an, daß er sie objektiviert und hinterfragt, sie auf Sinngehalt und Lösungsmöglichkeiten hin untersucht. Dabei kommt jeder irgendwann an den Punkt, an dem er sich bei seinen Aufgaben selbst als Problem empfindet und sich selbst hinterfragen muß. Das ist spätestens dann der Fall, wenn Schwierigkeiten auftreten und man auf sich selbst zurückgeworfen wird, weil man durch in Konflikt mit der Mitwelt gerät oder vor dem Scheitern steht. Auch deshalb ist der Aspekt der Sinnfindung bzw. Sinngebung ein wesentliches Element der Persönlichkeitsbildung. Löwith sieht in dieser Sinnfindung eine zentrale Aufgabe des modernen Menschen, insbesondere da sich dieser in der problematischen Situation befindet, daß es ihm an einem religiösen Sinnrahmen im weitesten Sinne – sei es einer allgemein akzeptierten kosmischen Ordnung oder einer religiösen Offenbarung – sehr häufig mangelt. Zugleich wird ihm aber die Erwartung entgegengebracht, »einen Platz zu finden«, sich aktiv in einer offenen Gesellschaftsordnung einzubringen und diese zu erhalten. Er muß Ordnungsentscheidungen treffen, verfügt aber über keine akzeptierten vorgegebenen Strukturen, an denen er sich orientieren kann. Denn die Welt ist in unserer Wahrnehmung zu einer weitgehend

1

Volker Gerhardt: Lebensführung und Politik. Anthropologische Elemente einer philosophischen Theorie der Politik. In Kurt Bayertz (ed.): Politik und Ethik; Stuttgart 1996, S. 9-39, S. 9f.

2

Norbert Bolz: Die Religion des Letzten Menschen. In: Merkur 8/9, 2007, S. 691-698, S. 698.

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selbstgeschaffenen Menschenwelt geworden, und der »Mensch, hineingezwungen in einen selbstgeschaffenen Daseinsapparat, befindet sich nun als solcher, d.h. in seiner Menschlichkeit, in einer Krise.«3 In diesem Sinne definiert Löwith Krise nicht im klassischen Sinne als eine Situation, in der eine Entscheidung getroffen werden muß4, sondern eher als vorgängige Spannung, der eine feste, akzeptierte Ordnung fehlt und die deshalb zu Entscheidungen führen kann: »Krise ist wirklich als der Mangel an Vertrauen. […] Das eigentliche Menschsein ist jetzt als vereinzeltes Selbstsein ohne subjektive Daseinsgestalt, es ist mehr oder minder weltlos und doch der einzig mögliche Ansatzpunkt für neue Verwirklichungen.«5 Diese neuen Verwirklichungen ergeben sich für Löwith aus der Tatsache, daß der Mensch nur in einem herkömmlichen Sinne, ausgehend von einer im christlich verstandenen Sinne durch Gott geschaffenen Welt, »mehr oder minder weltlos« ist. »In einer Welt ohne ›Gott‹ hat auch der Mensch keine ›Seele‹«6 – und genau daraus leitet sich der »Mangel an Vertrauen« ab, der den modernen Menschen so sehr prägt. Löwith bejaht diese Situation grundsätzlich und empfindet sie als Möglichkeit, Klarheit über sich selbst zu gewinnen, sich von vermeintlich gottgegebenen Determinismen zu lösen und sich auf dieser Basis mit Verantwortung Entscheidungen zu stellen. Diese Basis ist einerseits ein »Sich-in-die-Luft-Stellen« in dem Sinne, daß der Mensch sich vor der Aufgabe sieht, sich nicht hinter überkommenen Bindungen und Überzeugungen zu verstecken oder sich auf andere stellen – sondern eben auf sich selbst. Andererseits weist sie darüber hinaus, auf eine Basis, die fester ist als Luft. Denn die Überwindung alter Bindungen bedeutet nicht, daß der Mensch nun ohne jeden Rahmen ist. Nach wie vor lebt er in einer Welt, die existiert, die ihm vorausgeht, irgendwie entstanden ist und die man – im griechischen Sinne – als Prinzip, als Anfang, als Urgrund ansehen kann. Es gilt daher, »zu einem einfachen und natürlichen Begriff vom Menschen zurückzufinden und die Frage nach ihm dort wieder aufzunehmen, wo sie Nietzsche stehen gelassen hat, bei seinem Versuch zur Wiederherstellung eines natürlichen Menschen, durch Abtragung der ›vielen eitlen und schwärmerischen Deutungen und Nebensinne‹, welche sich über den ›Grundtext‹ des menschlichen Seins gelagert haben.«7

3

Karl Löwith: Die geistige Situation der Zeit (1933). In id.: Schriften 8; S. 19-31, S. 21.

4

Von griech. κρίνειν = entscheiden

5

Karl Löwith: Die geistige Situation der Zeit, S. 21f.

6

Ibid., S. 31f.

7

Ibid.

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Das ist das Geheimnis hinter Löwiths Wendung zu einem kosmologischen Weltbild in seinen späteren Schriften. Es ist nicht so sehr der Versuch, den Menschen wieder in einen festen kosmologischen Rahmen, wie ihn noch die Spätantike zu verteidigen versuchte, einzuordnen. Es ist nicht der Versuch, eine Ordnung zu etablieren, die dem Menschen eine Art religiöses Vertrauen in die Welt, in der er lebt, zurückgibt. Wie könnte man als Individuum auch dem blinden Wirken des Kosmos vertrauen und daraus Sicherheit gewinnen? Die Natur ist kein auf uns bezogener, uns verpflichteter, kein personaler Gott, es kommt ihr auf uns nicht an. Ihre Katastrophen unterscheiden sich von Kriegen und Katastrophen, die auf menschliches Handeln unmittelbar zurückzuführen sind insofern, als sie für uns vollkommen beziehungslos sind. Sie unterscheiden sich von göttlichen Strafen, weil sie keine bewußte Reaktion auf unser eigenes Tun sind. Und dennoch setzen sie uns ein Ziel und vor allem: eine Grenze, mit der wir umgehen müssen. Ein Bewußtsein von dieser Ordnung zu schaffen, das nicht zuletzt an die Verantwortung des Menschen für sich selbst als natürliches Wesen appelliert 8 ist es, was die Philosophie für Löwith noch leisten kann, selbst wenn dieser Rahmen bis auf weiteres »ohne Bild«9 bleibt. Für Löwith ist die Philosophie ange-

8

Vgl. das SPIEGEL-Interview, wo Löwith auf die Frage, ob die moderne Philosophie noch eine wissenschaftliche Aufgabe hätte, antwortet: »Das ist in der Tat die Schwierigkeit. Um sie von den hochspezialisierten Wissenschaften grob zu unterscheiden, kann man sagen, daß die Philosophie ganz gleich, ob im traditionellen Sinn Metaphysik oder das, was sich Heidegger darunter vorstellt -- in der Tat nur möglich ist, wenn sie sich um das ›Ganze‹ kümmert. […] Heute hat sich dieses Ganze, meiner Ansicht nach mit Recht, durch die Kritik der Onto-Theologie reduziert auf Mensch und Welt. Welt kann dabei aber nicht nur verstanden werden in der Beschränkung auf die Menschenwelt, sondern Welt heißt Universum, das wirkliche physische Weltall.« (siehe Karl Löwith: Wozu heute noch Philosophie? SPIEGEL-Gespräch mit dem Philosophen Karl Löwith. In: DER SPIEGEL 43/1969 (vom 20.X.), S. 204-211, S. 204)

9

»Aber: was ist die ›Welt‹, wenn sie nicht schon die Summe aller bekannten und unbekannten Dinge ist? An jeglichem Ding erscheint zwar so etwas wie Welt, und wer ein einziges vollkommen aussprechen könnte, würde damit zugleich die ganze Welt zur Sprache bringen, aber diese läßt sich nicht reduzieren auf alle in ihr vorhandenen Dinge, Sterne und Sandkörner, hundertjährige Bäume und Eintagsfliegen, sie alle gehören in gleicher Weise zur Welt, aber sie selber scheint kein Gegenstand wie jeder andere zu sein; sie umfaßt alles, ohne selber faßbar zu sein. Sie ist das Allergrößte und Allerreichste und zugleich so leer wie ein Rahmen ohne Bild«, so Löwith zu Beginn seines Aufsatzes Welt und Menschenwelt (1960). In id.: Schriften 1; S. 295-328,

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sichts der Entdeckungen der Naturwissenschaft in einer prekären Situation – denn um belastbare Aussagen über diesen Kosmos machen zu können, »möchte man wissen, was in der Physik, Astronomie, Weltraumforschung und dergleichen vor sich geht«10 – ein Wissen, zu dessen Verständnis und adäquater Beurteilung Löwith weder sich selbst noch seine Kollegen imstande sah. Was bleibt, ist daher lediglich dies: ein Aufmerksammachen; ein beständiges Hinterfragen, das nichts erklärt, das aber den Menschen beständig darauf hinweist, daß er in Verantwortung sich selbst, seinen Mitmenschen, der Welt gegenüber lebt und damit auch nicht »fertig« wird – sondern sich beständig zur Humanität erziehen muß. In diesem Rahmen gibt es in Löwiths Vorstellung zwei konkrete Aufgaben für die Philosophie. Zum einen ist es die Vertretung des Wissens, daß der Mensch nicht mehr auf einer festen Ordnung steht – und das heißt konkret: Ideologiekritik. Denn wer immer sich auf eine höhere (Wert-)Ordnung beruft, um mit ihr die Welt zu ändern, will, das ist Löwiths zentrale Erkenntnis: betrügen. Überhaupt: die Welt verändern. Löwiths Kosmologie läßt sich auf einen einzigen Satz reduzieren: die Welt ist größer als der Mensch. Wer in sie und ihre Ordnung eingreift, weiß nicht, was er tut – und weder philosophische noch politische Weltentwürfe sind dabei eine brauchbare Anleitung. Auch wenn keine Ordnung perfekt oder gewaltfrei ist, so führt der Bruch mit bestehenden Ordnungen zwangsläufig zu neuer und zu mehr Gewalt. Löwith ist nicht unpolitisch, er ist im klassischen Sinne konservativ und entspricht weitgehend der Definition des Konservatismus, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts John Gray formuliert hat – weshalb Löwith auch technologischen oder gesellschaftlichen Fortschritten gegenüber zunächst einmal skeptisch bleibt. Dieses Beharren auf der Skepsis ist keine »Verfallsgeschichte«,11 wie vielen konservativen Skeptikern gerne unterstellt wird. Sie ist lediglich darauf zurückzuführen, daß Löwith in klassisch konservativer Manier um die Fehlbarkeit und Umkehrbarkeit aller menschlichen Bestrebungen weiß und den Preis, den sie einfordern, deutlich wahrnimmt: »Because conservatives deny the evanescence of imperfection, they

S. 295f. Kritisch zu dieser Haltung u.a. Roberto de Amorim Almeida: Natur und Geschichte. Zur Frage nach der ursprünglichen Dimension abendländischen Denkens vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung zwischen Martin Heidegger und Karl Löwith; Meisenheim am Glan 1976, S. 138-144. Für Amorim Almeida ist diese Auffassung im ganzen eine »erstaunliche Naivität«, die, verglichen mit den Anforderungen eines hegelischen Systems »ziemlich verwirrend« bleibt (ibid.). 10 Karl Löwith: Wozu heute noch Philosophie?, S. 204. 11 Vgl. Iring Fetscher: Der Mensch lebt frei in der Theorie. Zum 75. Geburtstag des Philosophen Karl Löwith; F.A.Z. 7/1972, S. 18.

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reject the Procrustean politics of the utopian blueprint. They are rightly suspicious, moreover, not only of politics as the pursuit of perfection but also of the idea of history as a narrative of progress, with ourselves as its telos. As I understand it, the conservative outlook [...] is deeply at odds with that sentimental religion of humanity, with its ruling superstitions of progress and of convergence on a universal civilisation, which is the secular creed of our times and which has largely succeeded in supplanting the traditional Western faiths. [...] Scientific and technological advance has not, and cannot, diminish the realm of mystery and tragedy in which it is our lot to dwell. [...] Conservatives in the British and European traditions have been spared the hubris of those who make a religion of world-improvement. This is to say that, though they are committed to reform of institutions and practices that fail to serve human needs, they aim to do good in minute particulars, not in grand schemes. [...] In practice, this means a policy which aims to infuse an irreducibly pluralist and self-critical society with the conservative virtues of coherence, self-confidence and stability. [...] For a conservative in the sceptical tradition of Hobbes, Hume and Oakeshott, happiness is a matter of chance, and its pursuit is a profitless enterprise. [...] The task of government is to bolster those institutions and forms of life which, if they cannot confer happiness, nevertheless enable the natural sorrows of human life to be endured in a meaningful and dignified fashion.«12 Löwith ist damit kein Sonderfall, auch wenn sich seine Haltung durch Opposition zum herrschenden Fortschrittsglauben auszeichnet. Im Gegenteil: Rückblickend muß man sagen, daß Löwiths skeptisch-konservative Haltung auch im politischen Sinne sogar typisch war für die Jahrzehnte nach dem zweiten Weltkrieg: »The 1950’s and 1960ʼs are often characterized by the concept of ›consensus politics‹ […]: the centre expanded, as the extreme right had been discredited by fascism, while the post-war left became more and more moderate, shedding almost all remnants of Marxist theory. […] But there really were shared goals: in particular, the vocabulary of ›stability‹ became ubiquitous after 1945. [...] Consensus was justified by the overriding importance of stability, and stability in turn was justified in the language of security.«13 Löwith ist aber insofern untypisch, weil sein Streben nach Konsens im besten Falle halbherzig bleibt, weil für ihn diese politische Haltung verantwor-

12 John Gray: A conservative disposition. Individualism, the free market and the common life. In id.: Beyond the New Right. Markets, Government and the Common Environment; New York 1993, S. 46-65, S. 48-50. 13 Jan-Werner Müller: Contesting Democracy. Political Ideas in Twentieth-Century Europe; New Haven 2011, S. 143f.

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tungsethisch, sozusagen als Mittel zum Zweck legitimiert wird – und nicht von der Annahme, die herrschende Ordnung sei gut und alles sei in bester Ordnung. Löwith hatte erlebt, wie schnell eine scheinbar stabile bürgerliche Gesellschaft zerbrechen und sich selbst aufgeben kann. Sein Ausblick auf Deutschland blieb trotz seiner Remigration entsprechend pessimistisch.14 Dem widerspricht nicht, daß die politische Ordnung über den Menschen und seine Qualität als Mensch zunächst einmal nichts aussagt – und ihn auch nicht unmittelbar betrifft: »Die Menschheit hat schon viele Herrschaftsformen erduldet ohne deshalb die Menschlichkeit einzubüssen. Und wer kann heute schon die Möglichkeiten Russlands + Chinas überblicken? Auch die Deutschen sind durch Hitler nicht schlechter + nicht besser geworden als sie sind.«15 Löwith versucht in diesem skeptisch-konservativen Sinne die Philosophie seiner Zeit zu interpretieren und zu kritisieren. So ist Nietzsche für ihn keineswegs der alles zerstörende Überwinder, als der er »von seinen gewissenlosen Verkündern«16 dargestellt und instrumentalisiert wurde. Nietzsche bleibt für Löwith in Sprache, Gestus und vor allem im Versuch, die Antike wiederzugewinnen, älteren Traditionen verhaftet. In seiner Interpretation ist Nietzsches Erkenntnisinteresse von dem Burckhardts nicht grundsätzlich geschieden: Wo Burckhardt den duldenden und leidenden Menschen verstehen will, rückt – so Löwith – auch Nietzsche das Leid des Menschen in das Zentrum seiner Betrachtungen. »In Wahrheit ist aber Nietzsches gesamte Psychologie der schöpferischen Schwäche, der Ausdrucksweisen der Décadence und weiterhin des Nihilismus und […] das Motiv seiner Lehre von der ewigen Wiederkunft nur zu verstehen als eine – gescheiterte – unablässige Bemühung: dem Leiden einen positiven Sinn abzugewinnen! Das eigentliche Auslegungsmotiv des Lebens ist stets der Kampf um den Sinn des leidvollen menschlichen Lebens – während das neutrale, kosmische Leben in uns, seiner Natur nach, diesseits von Sinn und Sinnlosigkeit steht. Erst deshalb, weil menschliches Leben nicht bloß pathisch ›erlebt‹, sondern im engern Sinn erlitten wird, wird es überhaupt allererst in seiner Bedeutung und seinem Sinn und seinem Wert problematisch und damit auslegungsbedürftig. Deshalb stehen für Nietzsche im Vordergrund des Interesses diejenigen Auslegungsbegriffe, in denen sich das Leiden christlich beziehungsweise

14 Vgl. das Zitat aus dem Brief Löwiths an Eric Voegelin vom 6.VI.1952 auf S. 38f. über die politische Situation in der frühen BRD. 15 Karl Löwith an Karl Jaspers, 18.VIII.1958; Marbach/Neckar, Deutsches Literaturarchiv, A: Jaspers. 16 Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht; Stuttgart 1986, S. 5.

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heidnisch zu verstehen glaubt, nämlich als ›Schuld‹ bzw. als tragisches ›Schicksal‹ und wider Willen anti-christlich formuliert: als ›Unschuld des Lebens‹.«17 Löwith zeigt mit dieser Interpretation, wie weit sein Nietzsche entfernt ist von dem Über-Nietzsche des Nationalsozialismus. Doch er begnügt sich nicht damit, den sich selbst übersteigenden Nietzsche und seine Propheten auf das Leben und Leiden des Menschen zurückzuführen, das seinen heroisch-faschistischen Zeitgenossen herzlich gleichgültig war. Denn weil Löwith die moderne Krisensituation nicht als dramatischen neuen und historisch einmaligen Wendepunkt interpretiert, verlangt er anders als Nietzsche nicht eine Entscheidung zwischen Moderne und Antike, zwischen Fortschritt und Tradition. Im Gegenteil – Löwith stellt sich in dieser Frage auf die Seite Goethes, »der den Unterschied zwischen Antik und Modern, sowie zwischen Heidnisch und Christlich noch nicht als ein Problem der ›Entscheidung‹ empfand. Indem Nietzsche dies tat, war er genötigt, auf der Spitze der Modernität […] die geschlossene Ansicht der griechischen Welt wiederholen zu wollen und sein Ich mit dem Fatum zusammen zu zwingen, während Goethes Natur die Antike im Umkreis des Neuen vergegenwärtigt. Goethe veranschaulichte sich den Gegensatz von Antik und Modern nicht nur an der großen Tragödie, sondern auch im alltäglichen Leben […]. Es ist nicht vorstellbar, eine ähnlich ›bequeme‹ Überlegung bei Nietzsche zu finden. Der Zauber, der für ihn kämpfte, war […] ›die Magie des Extrems, die Verführung, die alles Äußerste übt‹, aber nicht der mildere Zauber des Gleichgewichts, welcher unscheinbar ist. Für den Radikalen ist Goethe ein Kompromiß, weil der Radikale – dem Wortsinn entgegen – wurzellos ist.«18 In dem radikalen Drang, alles niederzureißen oder alles »positiv« komplett neu zu schaffen, kommt für Löwith die eigentlich besondere Krise der Zeit zum Ausdruck. Anzeichen dieser Geisteshaltung ist das »übliche ›epochale‹ Bewußtsein, das seinen großartigen Anfang in Hegels Geschichtsphilosophie nahm und dessen großspurige Ausläufer Spenglers Theorie des Untergangs und Rosenbergs Ideologie des Aufbruchs sind«;19 sein pathetisches Ziel ist das absolute »Eine, was not tut« und darum »notwendig« zu sein hat. Auch Löwiths Lehrer Heidegger ist ein Repräsentant dieser Aufbruchsideologie, weshalb für Löwith auch Heideggers Parteinahme für die deutsche Erweckungsbewegung

17 Id.: Nietzsche im Licht der Philosophie von Ludwig Klages (1927). In id.: Schriften 6; S. 7-52, S. 31. 18 Id.: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts. In id.: Schriften 4; S. 1-490, S. 253. 19 Id.: Rezension zu Hans Joachim Schoeps: Gestalten an der Zeitenwende (1935). In id.: Schriften 3; S. 411-416, S. 411.

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des Nationalsozialismus keine Verirrung, sondern eine logische Konsequenz seiner philosophischen Haltung war; »denn das Motiv und Ziel seiner Existentialphilosophie war ja kein ›Aufmerksammachen aufs Christliche‹, sondern eine ›formale Anzeige‹ der weltlichen Existenz. ›Ich will mindestens etwas anderes – das ist nicht viel: nämlich was ich, in der heutigen faktischen Umsturzsituation als ‚notwendig‘ erfahre, ohne Seitenblick darauf, ob daraus eine ‚Kultur‘ wird oder eine Beschleunigung des Untergangs‹.«20 Es ist dieser historisch-politische Hintergrund, vor dem Löwith die Partei Goethes ergreift und sich aufs alltägliche Leben beruft – und dabei handelt es sich nur um eine Variation seiner Parteinahme für Jacob Burckhardt. Wie für diesen ist auch für Löwith »der einzig für uns mögliche Ausgangspunkt der vom ›duldenden und strebenden Menschen‹ […]. Aus der weitläufigen Weltgeschichte will Burckhardt gerade auf das Nächstliegende zurückführen. Denn in dem, worauf es ankomme, sei der geschichtliche Mensch schon vor 2000 Jahren auf der Höhe der Zeit gewesen. Der menschliche Geist sei schon früh ›komplett‹ gewesen und ›wenn schon in alten Zeiten einer für den anderen das Leben hingab, so ist man darüber nicht mehr hinausgekommen‹«.21 In diesem Sinne bewegt sich Löwith vollkommen innerhalb der klassischen Tradition neuzeitlicher Ethik. Sein a- beziehungsweise überpolitischer Mensch ist eine oppositionelle Konstruktion; und diese Konstruktion dient ganz klassisch der »Abwehr von Zumutungen und Gefahren, die dem Individuum aus der Konkurrenz mit anderen Individuen, aus dem Sog des gesellschaftlichen Konformismus oder aus der Macht des Staates erwachsen. […] Ansprüche, die an das Individuum gestellt werden, treten damit in den Hintergrund, ihnen wird ein grundsätzliches Mißtrauen entgegengebracht […]. Pflichten unterliegen einem besonderen Rechtfertigungsdruck; sie werden […] in der Regel nur als Unterlassungspflichten anerkannt.«22 Die Löwith kennzeichnende philosophische Haltung ist daher die »Behauptung einer prinzipiellen Skepsis gegenüber der systematischen Unterwerfung des Menschen. Philosophisch handelte es sich um eine Bewegung hin zum Ideal der ›freien Persönlichkeit‹, wie es Löwith […] anhand seiner Studien über Jacob Burkhardt entwickelte. Frei bedeutet hier die ›nega-

20 Id.: Der europäische Nihilismus. Betrachtungen zur geistigen Vorgeschichte des europäischen Krieges (1940). In id.: Schriften 2; S. 473-540, S. 516. 21 Id.: Burckhardts Stellung zu Hegels Geschichtsphilosophie (1928). In id.: Schriften 7; S. 1-38, S. 3f. 22 Kurt Bayertz: Staat und Solidarität. In id. (ed.): Politik und Ethik; Stuttgart 1996, S. 305-329, S. 305.

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tive Freiheit der Unabhängigkeit von öffentlichen Bindungen‹, dem begrifflich das ›im weitesten Sinne politisch-gebundene Individuum‹ gegenübersteht«.23 Hinter dieser »freien Persönlichkeit« Löwiths steckt aber noch mehr als die zeitlose prinzipielle Skepsis philosophischen Systemen, Dogmen oder gesellschaftlichen Zwängen gegenüber. Löwiths Vorbild ist nicht Pyrrhon, der ewige Zweifler, den schon Hegel als negativ und zerstörend beschrieben hatte. Nein, Löwiths letzter Geistesverwandter ist – es sei daran erinnert – Paul Valéry. Das gilt nicht nur für das Wissenschaftsverständnis bzw. die Situation des modernen Menschen in einem abstrakten Sinne, das gilt auch und gerade für die skeptische Geisteshaltung. Und so, wie sich Valéry in Monsieur Teste spiegelt, spiegelt sich darin auch Löwiths grundsätzliche intellektuelle Skepsis: Denn »Monsieur Teste […] ist eine Personifikation des Intellekts, die sehr an den Gott erinnert, von dem die negative Theologie des Nicolaus Cusanus handelt. Auf Negation läuft alles, was man von Teste erfahren kann, hinaus. […] Mag Herr Teste sich von Hause aus Mensch fühlen – er hat sich Valérys Weisheit zu Herzen genommen, die wichtigsten Gedanken seien die, die unserm Gefühl widersprechen. Er ist denn auch die Negation des ›Menschlichen‹: ›Sieh, die Dämmerung des Ungefähr bricht herein, und vor der Tür steht die Herrschaft des Entmenschten, welche Hervorgehen wird aus der Genauigkeit, der Strenge und der Reinheit in den Angelegenheiten des Menschen.‹ […] Diese intelligence pure aber, die bei Valéry auf den unwirtlichen Gipfeln einer esoterischen Dichtung Winterquartiere bezogen hat, ist doch dieselbe, unter deren Führung das europäische Bürgertum im Zeitalter der Entdeckungen auf seine Eroberungen ausging. Der cartesianische Zweifel am Wissen hat sich bei Valéry fast abenteuerlich und dennoch methodisch vertieft zu einem Zweifel an den Fragen selbst: ›Nichts anderes als unsere geistige Ausfallserscheinungen sind der Bereich der Mächte des Zufalls, der Götter und des Schicksals. Besäßen wir auf alles eine Antwort – will sagen eine exakte Antwort – so würden diese Mächte nicht existieren … Wir fühlen das auch genau, und dies ist der Grund, warum wir uns am Ende gegen unsere eigenen Fragen wenden. Das müßte aber den Anfang darstellen. Man muß im Innern bei sich selber eine Frage formen, die allen andern vorhergeht und ihrer jeder abfragt, was sie taugt.‹«24

23 Martin Kagel: Heillose Historie – Sinn der Geschichte und geschichtlicher Sinn in Autobiographie und Geschichtstheorie Karl Löwiths. In Gerald Hartung / Kay Schiller (ed.): Weltoffener Humanismus. Philosophie, Philologie und Geschichte in der deutsch-jüdischen Emigration; Bielefeld 2006, S. 35-52, S. 41. 24 Walter Benjamin: Paul Valéry. Zu seinem 60. Geburtstag. In id.: In id.: Gesammelte Schriften Bd. 2/1; Frankfurt/Main 1991, S. 386-390, S. 388-390. Benjamin beendet

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Daher geht es Löwith nicht nur darum, durch skeptisches Fragen die Unabhängigkeit des Individuums und seine Freiheit von politischem Mißbrauch zu gewährleisten. Es geht nicht nur um die Bewahrung des Menschen vor der Korrumpierung durch Macht, es geht um eine Frage nach dem Menschlichen, sogar um eine Infragestellung des Menschlichen; aber das Ziel von Löwiths Fragestellung ist nicht die Zerstörung, sondern die Bewahrung dieser humanitas, wie auch sein starrsinniges Festhalten an den Menschenrechten beweist. Starrsinnig ist dieses Festhalten deshalb, weil Löwith hier – ohne weitere Begründung – die Trennlinie zu dem zieht, was ggf. von anderer Seite als »faktisch notwendig« deklariert wird und damit im Sinne des duldenden und leidenden Menschen eine eigene Notwendigkeit postuliert. Das ist keine Schwäche von Löwiths Position, er erweist sich auch hier als nüchterner Beobachter Weberscher Schule. Löwith weiß, daß die humanistischen Werte nicht natürlich sind und sich – ebensowenig wie die Menschenrechte – nicht letztgültig begründen lassen, ja nicht einmal zu verstehen sind: diese »letzten ›Zwecke‹ und ›Werte‹, an denen das Handeln eines Menschen erfahrungsgemäß orientiert sein kann, vermögen wir sehr oft nicht voll evident zu verstehen, sondern unter Umständen zwar intellektuell zu erfassen, dabei aber andrerseits, je radikaler sie von unseren eigenen letzten Werten abweichen,

diese Beschreibung mit einem Bild, das unmittelbar an Löwiths Parabel des modernen Menschen gemahnt, der sich, schiffbrüchig, an seinem Glauben in die Geschichte zu klammern versucht und dabei so erfolglos ist, als hielte er sich an den Wellen fest – aber nicht, weil Valéry dieser Narretei so genau gliche, sondern weil er ihr genaues Gegenbild ist: »Der Blick, den er auf diese kommende Welt wirft, ist […] der des wetterkundigen Seemanns, der den großen Sturm nahen fühlt und die veränderten Bedingungen des Weltgeschehens – ›zunehmende Präzision und Genauigkeit, zunehmende Wirkungsstärke‹ – zu gut erkannt hat, um nicht zu wissen, daß ihnen gegenüber selbst ›die tiefsten Gedanken eines Machiavell oder Richelieu heute nur die Zuverlässigkeit und den Wert von Börsentips‹ haben. So steht er ›aufrecht da, der Mann auf dem Kap des Denkens, Ausschau haltend, so scharf er kann, nach den Grenzen der Dinge oder der Sehkraft.‹« (ibid., S. 390). Für Löwiths Parabel vgl. Karl Löwith: Marxismus und Geschichte (1958). In id.: Schriften 2; S. 330-345, S. 345 – »Man glaubt nur noch an den Geist der Zeit, an den Zeitgeist, ›the wave of the future‹, das Geschick der Geschichte, vulgär verstanden oder sublim. Wenn uns die Zeitgeschichte aber irgend etwas lehrt, dann offenbart dies, daß sie nichts ist, woran man sich halten und woran man sein Leben orientieren könnte. Sich inmitten der Geschichte an ihr orientieren zu wollen, das wäre so, wie wenn man sich bei einem Schiffbruch an den Wogen festhalten wollte.«

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desto schwieriger uns durch die einfühlende Phantasie nacherlebend verständlich zu machen. Je nach Lage des Falles müssen wir dann uns begnügen, sie nur intellektuell zu deuten, oder unter Umständen, wenn auch das mißlingt, geradezu: sie als Gegebenheiten einfach hinnehmen, und aus ihren soweit als möglich intellektuell gedeuteten oder soweit möglich einfühlend annäherungsweise nacherlebten Richtpunkten den Ablauf des durch sie motivierten Handelns uns verständlich machen. Dahin gehören z. B. viele religiöse und karitative Virtuosenleistungen für den dafür Unempfänglichen. Ebenso auch extrem rationalistische Fanatismen (›Menschenrechte‹) für den, der diese Richtpunkte seinerseits radikal perhorresziert.«25 Die mangelnde Begründbarkeit spricht jedoch nicht gegen die Notwendigkeit von solchen letzten Werten und »Fanatismen« für ein friedliches und gesichertes gesellschaftliches Zusammenleben. Wie beim klassischen Konservativen leitet sich aus Löwiths Betonung des menschlichen Leids und dem Wunsch, menschlicher Existenz einen positiven Sinn zu verleihen das Interesse ab, Konzepte wie Menschenrechte und Humanität, aber auch die Erhaltung unserer Lebenswelt bzw. des Kosmos zu vertreten. Deshalb hält auch Löwith an diesen Ideen fest und versucht, auf sie als ein »Geländer« menschlicher Existenz zu verweisen, wohl wissend, daß dieser Verweis nur für denjenigen überzeugend sein kann, der gewillt ist, sich darauf einzulassen. Auch hierin erinnert Löwith an Max Weber, für den »die einzige Alternative zum Kulturprotestantismus mit seinem manchmal seichten evolutionistischen Zukunftsoptimismus ein heroischer Pessimismus der Verteidigung des liberalen Individualismus gegen die ihn bedrohenden Tendenzen und ein schroffes Kierkegaardsches ›Entweder-Oder‹ der Wahl zwischen Werten«26 war, wie Hans Joas schreibt. Löwiths Motivation, an diesem »heroischen Pessimismus« festzuhalten, läßt sich aus den geschichtlichen Ereignissen, deren Zeitzeuge Löwith war, unmittelbar begründen. Aber dennoch ist diese Motivation nicht an diese Zeitläufte gebunden, und auch Löwith verweigert sich einer bloß »tagesaktuellen« Kommentierung geschichtlicher oder politischer Prozesse. Wie auch Jacob Burckhardt geht Löwith eigentlich vom Wissen um die Kosten geschichtlicher Prozesse aus, ein Wissen, das unabhängig von einzelnen historischen Ereignissen den Verlauf der menschlichen Geschichte insgesamt betrifft. Denn für Löwith und Burckhardt ist die Geschichte »nicht mehr in derselben Weise wie für Hegel eine

25 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie; Tübingen 1980, S. 2. 26 Hans Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte; Berlin 2011, S. 60.

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Geschichte des ›Geistes‹ und damit der Freiheit; denn für Hegel ist der Geist ›das Absolute‹, für Burckhardt wesentlich ein bedingter, weil der duldende und handelnde Mensch, dieses Herz der Geschichte, überhaupt ein Sterblicher ist und sein Treiben ein Erdentreiben. Damit aber dieses Treiben kein bloßes Umgetriebensein ist, bedarf es zum Handeln wie zum Erkennen des Abstands der freien Betrachtung und eines Maßstabs zur richtigen Schätzung der Dinge. […] So wenig man mit diesem ›mäßigen‹ Resultat die überzeugen kann, welche heute bereit sind, um jeden Preis wieder an irgendetwas zu glauben, wird Burckhardt doch glaubwürdiger bleiben als seine Gegner, welche die Regungen ihres Zweifels mit falschen Gewißheiten übertäuben und ihre Zahlungsunfähigkeit dadurch beweisen, daß sie die Kosten der Gegenwart mit einer vielversprechenden Zukunft oder mit einer schon erfüllten Vergangenheit decken zu können vermeinen.«27 Kosten des Lebens: Geburt und Tod Die »Kosten der Gegenwart« betreffen nicht nur geschichtliche Prozesse. Sie lassen sich auch ganz konkret auf das Individuum beziehen, und das nicht nur, weil unser Leben von geschichtlichen Prozessen unmittelbar beeinflußt wird. So werden sie ganz konkret zu Kosten unseres, zu Kosten des Lebens; und dazu zählen für Löwith nicht nur die von uns nicht kontrollierbaren Einflüsse weltlicher Macht oder natürlicher Katastrophen, sondern bereits die schlichte Tatsache, daß wir überhaupt am Leben sind und dieser unserer Existenz einen Sinn finden müssen! Denn für Löwith liegt die erste Einschränkung menschlicher Freiheit schon darin, daß wir überhaupt zur Welt gekommen sind, ohne daß uns jemand gefragt hat – eine Einschränkung mit potentiell zerstörerischen Konsequenzen!28 Auch hierin drückt sich aus, daß Löwith die positiven Hoffnungen ei-

27 Karl Löwith: Jacob Burckhardt. Der Mensch inmitten der Geschichte (1936). In id.: Schriften 7; S. 39-361, S. 348. 28 Löwith bezieht sich in dieser Frage auf Dostojewski, der »den modernen Menschen, der ein ›Materialist‹, d. h. Naturalist ist, fragen [läßt]: Welches Recht hat die Natur gehabt, mich ohne meine Einwilligung in die Welt zu setzen, und zwar mit einem Bewußtsein um das eigene Dasein und folglich uneins mit sich selbst an der Last des Lebens leidend? […] Die Natur kann mir auf meine Frage nach dem Sinn des Lebens keine Antwort geben, und da ich gleichzeitig Ankläger und Beklagter bin, so verurteile ich diese blinde Natur, die mich so ungeniert geschaffen hat. Weil ich aber die Natur, derzufolge ich da bin, nicht vernichten kann, vernichte ich mich selbst, einfach weil es mir zu langweilig ist, diese Tyrannei, an der kein Mensch schuld ist, zu ertragen.«

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nes populären Humanismus auf allgemeinen menschlichen Fortschritt und auf unser Streben nach Erfüllung oder, allgemeiner, nach irdischem Glück, nicht teilt. Dementsprechend taugt die Geburt für ihn auch keineswegs zum Gegenprinzip des Heideggerschen Todesprinzips, als absolut gesehener Beginn und Ausgang schöpferischer Möglichkeiten und menschlicher Potentiale – vergleichbar etwa zu Hannah Arendts Natalitätsprinzip. »Leben und Tod gehören zusammen wie Entstehen und Vergehen. […] Geburt und Tod, Anfang und Ende unseres bewußten menschlichen Lebens, geschehen jedoch ohne unser Wissen und Wollen; sie begrenzen den Spielraum unseres freien Verhaltens und Könnens, das wir zumeist zum Maßstab der Beurteilung des spezifisch Menschlichen nehmen, als wäre der Mensch nicht auch eine Hervorbringung der einen Natur aller Dinge.«29 Geburt und Tod sind somit in gleicher Weise Eckpunkte, die in unser Wollen eingreifen und den Rahmen unserer Existenz vorgeben. »Geburt und Tod, Beginn und Ende jeder Existenz sind existenzial nicht faßbar, weil sie nicht auf einem selbstbewußten und eigenwilligen Verhalten beruhen. Sie ereignen sich schlechthin, unabhängig von unseren Möglichkeiten oder unserem Seinkönnen«.30 Weil die Geburt – auch wenn sie nicht »faßbar« ist – Ursprung unserer bewußten Existenz ist, ist für Löwith »das vollzugslose blosse Faktum der Geburt […] die später daraus erwachsende Nötigung dieses Faktum u[nd] seine Konsequenzen zu ›übernehmen‹, das nicht-wählbare zu wählen (im

(vgl. Karl Löwith: Die Freiheit zum Tode (1965). In id.: Schriften 1; S. 418-425, S. 420). Vgl. aber auch Löwiths Bezug auf Valéry: »Da aber niemand danach verlangt hat, ›à figurer dans cette affaire‹ […], die wir Leben nennen, und Valéry bekennt, daß er den Menschen nicht erfunden hätte […], wird solches Akzeptieren zur ersten und letzten, schlechthin entscheidenden Frage für jedes selbstbewußte Leben.« (id.: Paul Valéry. Grundzüge seines philosophischen Denkens. (1971). In id.: Schriften 9, S. 229-400, S. 325). Die Konsequenzen des Selbstmords erstrecken sich jedoch nicht nur auf das Leben des Einzelnen, das durch ihn sein Ende findet.Welche Verheerungen ein Selbstmord auch im Umfeld eines solchen Menschen anrichten kann läßt sich leicht vorstellen – das ist aber eine Perspektive, die in existenzphilosophischen Ansätzen, etwa bei Heidegger, nicht interessiert. Gelegentlich werden diese Verheerungen auch berücksichtigt, jedoch als eher gering eingeschätzt – »denn man lebt nicht mit den Toten« (Jean Améry: Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod. Stuttgart 1983, S. 55). 29 Id.: Die Freiheit zum Tode, S. 418. 30 Ibid., S. 423.

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Kierkeg[aardschen] Sinn)«31 zunächst die größere Zumutung, weil sich aus ihm eine Aufgabe ableitet, die sich allen Menschen in gleicher Weise stellt: zu leben. Hier ist der Tod tatsächlich ein Gegenmodell und ein möglicher, selbstbestimmter Ausweg, der sich philosophisch bedenken läßt und mit dem man sich als Mensch wie mit einer äußersten Möglichkeit auch auseinandersetzen sollte: »mir würde ein Ausgangspunkt für diese Fragen in jenem andern Faktum einleuchtend sein: in der spezif[isch] menschlichen Möglichkeit: des Selbstmords; des freiwilligen(?) Ausgangs aus einem Eingang dessen ›woraus‹ nicht diskutierbar ist.«32 Auch diese Herangehensweise an Leben und Tod läßt sich wieder auf das Urbild des »leidenden Menschens« zurückführen. Denn so, wie der Selbstmord ein Ausweg aus einem Leben ist, das man als unerträglich empfindet, so ist die Art, wie uns der Tod als Ereignis vermittelt wird, für Löwith eng mit dem Leid der anderen bzw. unserem Verhältnis dazu verknüpft – der Tod ist nicht positiv, ein Zielpunkt menschlichen Lebens, auf den der Mensch sein Dasein hin entwirft; er ist vor allem ein Ende, wir erleben ihn vor allem als den Tod der anderen, den wir miterleben und überleben. Auch in dieser Wahrnehmung trifft sich Löwith mit Burckhardt, aber eben auch mit zeitgenössischen Denkern wie Martin Buber und Franz Rosenzweig: »Der wirkliche Anfang für die Erkenntnis des All oder des Ganzen des Seienden ist nach Rosenzweig nicht ein überschwängliches Denken, sondern eine faktische Wirklichkeit: der Mensch ›schlechtweg, der noch da ist‹, ein Begriff von reiner ›Tatsächlichkeit‹, der etwas Bestimmtes und Einzelnes meint, aber keine ›Idee‹ und kein allgemeines ›Wesen‹. […] Das neue Denken versteht, daß es selbst, und alles was ist, in jedem Augenblick zeitlich, schon da und noch nicht da, gewesenes und zukünftiges ist, wogegen die alte Philosophie seit den Griechen zeitlos zu denken bestrebt war. […] Diejenige Wirklichkeit, die im Voraus vorzüglich sichtbar macht, daß ich ›noch da bin‹, ist […] der Tod«.33 Was wir aber aus dieser Wirklichkeit lernen können, ist die Erkenntnis »der tragischen Dimension der Geschichte, in der die Erfahrung einen Anspruch für die Zukunft geltend macht. […] Am Tod des Anderen erst wird einschneidend sichtbar, daß die finale Wahrheit der Sorge um sich ihre Vergeblichkeit ist. Das Ergriffenwerden von dieser Vergeblichkeit mündet in die Erinnerung ans Verstummte als Treue zu dem, was in ihm schei-

31 Karl Löwith an Martin Heidegger, 15.II.1923; Marbach/Neckar, Deutsches Literaturarchiv, A: Heidegger. 32 Ibid. 33 Karl Löwith: M. Heidegger und F. Rosenzweig. Ein Nachtrag zu Sein und Zeit (1942/43). In id.: Schriften 8; S. 72-101, S. 76-78.

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terte; eine Erinnerung, die das Gescheiterte bezeugt und es nicht nur so behandelt, als sei es schlicht vorbei wie ein Stück, nach dem man nach Hause geht. Der Erinnernde bezeugt das vergangene Leben des Anderen und verifiziert sich zugleich damit als ein Nachkommender, von dem der Andere Besitz ergriffen hat.«34 Doch auch wenn »die Erfahrung des Todes, die wir an den vor uns Sterbenden machen, etwas Einschneidendes und Erschütterndes ist, woran wir unsere allgemein menschliche Endlichkeit und Nichtigkeit wahrnehmen – aber auch etwas tief Befriedigendes, weil der Tote in die vollendete Ruhe und Stille eines wie immer vollbrachten Lebens eingeht«35 und diese Erfahrung auch unsere eigene Lebensführung zutiefst prägt, geht es Löwith nicht nur darum, als Überlebender Zeugnis abzulegen – denn eine Beschränkung darauf hieße, den »Pflock des Augenblicks«,36 der den Menschen zu einem geschichtslosen Herdentier werden läßt, dem immer nur die kurzfristigsten Interessen in den Blick kommen, durch den »Pflock der Vergangenheit« zu ersetzen. Das Faktum des Überlebens und Erinnerns konfrontiert uns weniger mit dem individuellen Schicksal als solchem, sondern mit der Einsicht in die generelle Endlichkeit menschlicher Existenz auch in positiver Weise: daß sie nämlich trotz ihrer Endlichkeit und Vergeblichkeit sinnvoll und erfüllend ist. Kosten des Lebens: Mensch und Gesellschaft Im nächsten Schritt bedeutet das auch, durch die Betrachtung menschlichen Lebens und des gesamten Geschichtsprozesses ein Verständnis von dieser Unzulänglichkeit menschlichen Tuns und Wünschens zu gewinnen, diese zu akzeptieren und sich gerade dadurch auch von dieser Beschränkung zu emanzipieren um ein im Sinne Burckhardts freies Verhältnis zur Welt zu gewinnen: »Ein Weg zur Freiheit ist ihm die Vergegenwärtigung des Vergangenen aber nicht nur dadurch, daß sie geschichtlich aufweist, welches Ausmaß an persönlicher Unabhängigkeit einmal möglich gewesen ist, sondern vor allem schon dadurch, daß Betrachtung rein als solche den Menschen frei macht, ein spezifisch freies Ver-

34 Burkhard Liebsch: Verzeitlichte Welt. Variationen über die Philosophie Karl Löwiths; Würzburg 1995, S. 126. 35 Karl Löwith: Die Freiheit zum Tode, S. 424. 36 Friedrich Nietzsche: Unzeitgemässe Betrachtungen, Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben; Leipzig 1899, S. 283. Siehe auch Karl Löwith: Burckhardts Stellung, S. 13.

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hältnis zur Welt ist.«37 Doch ist der Verzicht auf Illusionen und Hoffnung im weitesten Sinne ein Teil des Preises, den ein Leben in Freiheit verlangt. Löwith zeigt sich damit nicht nur als getreuer Schüler Webers;38 diese Haltung ermöglicht ihm auch die Distanzierung von allen politischen Ideologien, deren Geschäftsgrundlage die Furcht und Hoffnung der Menschen ist – und die den Menschen zu ihrer Verwirklichung in Dienst stellen wollen. Schon diese Indienststellung erklärt Löwith mit Burckhardt »als unverträglich mit der ›Natur‹ – selbst des griechischen Menschen«39 und sieht deshalb in der Emanzipation des unpolitischen Menschen vom »totalen Anspruch des Staates«40 eine zutiefst politische Handlung: wenn der Mensch frei sein will, ist er paradoxerweise dazu gezwungen, in Opposition zur Gesellschaft zu gehen, weil er sonst von ihr überwältigt wird. »Die letzte Voraussetzung von Webers ›individualistischen‹ Definitionen der sogenannten sozialen ›Gebilde‹ ist aber, daß wahrhaft-wirklich und existenzberechtigt heute nur noch das ›Individuum‹, der auf sich gestellte einzelne Mensch ist, nachdem den ›Objektivitäten‹ jeder Art infolge ihrer Entzauberung (durch Rationalisierung) keine selbständige Bedeutung mehr zukommt. Wäre der Staat dagegen wirklich noch eine ›res publica‹ und der Mensch als solcher ein Stadt- und Staatsbürger und nicht in erster Linie eine sich selbst überantwortete Privatperson, dann hätte es sehr wohl Sinn, auch den Staat selbst substanzhaft und ›universalistisch‹ und nicht nur auf die Chancen seiner ›Existenz‹ hin zu interpretieren.«41 Löwith beruft sich für diese Unterscheidung auf ihre »klassische Formulierung durch Rousseau […], der mit Rücksicht auf den modernen bourgeois unterscheidet zwischen dem ›homme‹ und dem ›citoyen‹. An dieser Unterscheidung von Mensch und Bürger schließen sich alle folgenden Staatstheorien des 19. Jahrhunderts an, sowohl die liberalen wie auch die totalitären, die diesen Unterschied als einen ›Widerspruch‹ aufheben wollen, indem sie ein unbedingtes Staatsbürgertum, ein unbedingtes Menschentum oder auch eine Volksgemeinschaft von rassischer Eigenart postulieren, und zwar in Form einer radikalen Kritik der bürgerlichen Gesellschaft, deren Mensch für sich ein Privatmensch

37 Karl Löwith: Burckhardts Stellung, S. 13. 38 Vgl. Karl Löwith: Max Weber und Karl Marx (1932). In id: Sämtliche Schriften 5; S. 324-407, S. 344. 39 Id.: Jacob Burckhardt, S. 194. 40 Ibid. 41 Id.: Max Weber und Karl Marx, S. 345.

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und außerdem noch ein Staatsbürger ist.«42 Damit stellt sich Löwith gegen alle Versuche, diese Unterscheidung aufzuheben oder zu verwischen – wohl wissend, daß eine Aufhebung dieser Unterscheidung den Menschen – nicht aber den Bürger – in seiner Existenz als Eigenwesen zugunsten einer Abdikation von Freiheit und grundlegenden Rechten empfindlich bedroht. Zugleich aber ist klar, daß der Mensch allein für sich und aus der Gemeinschaft genommen, schlicht nicht lebensfähig wäre. Auch hier folgt er Burckhardt, der angesichts »dieser Idee vom Menschen als einem ›zoon politikon‹ oder ›gesellschaftlichen Gattungswesen‹ […] darauf bestanden [hatte], daß der abendländische Mensch, heute wie damals, inmitten der Öffentlichkeit und des Gemeinwesens ein eigenes und besonderes Dasein will. Dagegen hat er in der modernen Form dieser Besonderheit, ›dem völligen Egoismus des jetzigen Privatmenschen‹, der vom Staat, der seinerseits ein ›separates Leben‹ führt, bloß die möglichste Sicherung seiner Person und Habe will, ebenso wie Hegel und Marx eine Zerstörung des wahren Verbandes zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen erblickt.«43 Löwith nimmt also eine Position ein, die in ihrer Kritik der Gegenwart in differenzierender Weise uneindeutig ist und sich nur dann ganz verstehen läßt, wenn man sich erneut vor Augen führt, daß jeder Mensch für ihn ein selbständiges, aber dennoch verhältnismäßig existierendes Wesen ist. Seine Freiheit kann dieser Privatmensch nur dort pflegen, wo er nicht in den Kontext gesellschaftlich-politischer Zwänge gestellt ist: Daher wird zum »eigentlichen Interesse des apolitischen Menschen […] anstelle des Staates dann notwendig die ›Kultur‹, die in Burckhardts Geschichtsschreibung nicht zufällig den Vorrang hat vor dem Staat und der Religion. Sie ist das ›Freie‹, ›Bewegliche‹, ›Vielgestaltige‹ im Verhältnis zu der festlegenden und vereinfachenden Zwangsgewalt des Staats und der dogmatischen Religion«.44 Diese Antwort fließt bei Löwith mit Max Webers Antwort auf die Frage »wie es angesichts dieser übermächtigen Tendenz zur Rationalisierung des gesamten Lebens überhaupt noch möglich ist, irgendwelche Reste einer in irgendeinem Sinn ›individualistischen Bewegungsfreiheit‹ zu retten«45 zusammen. Weber hatte in diesem Zusammenhang von der »grundsätzliche[n] Entzaube-

42 Id.: Jacob Burckhardt, S. 195. Vgl. auch id.: Menschenrechte und Bürgerrechte bei Rousseau, Hegel und Marx (1966). In id: Schriften 5; S. 174-185, S. 174f. 43 Karl Löwith: Jacob Burckhardt, S. 195. 44 Ibid., S. 195f. 45 Id.: Max Weber und Karl Marx, S. 363.

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rung der Welt«46 gesprochen und sah die »positive ›Chance‹ dieser Enttäuschung des Menschen und jener Entzauberung der Welt durch Rationalisierung« in der »›nüchterne[n]‹ Bejahung des Alltags und seiner ›Forderung‹. Die Bejahung dieses Alltags ist zugleich die Verneinung jeglicher Transzendenz, auch der des ›Fortschritts‹. Fortschritt bedeutet dann nur noch ein Weiterschreiten in den vorgezeichneten Bahnen des Schicksals, mit Leidenschaft und Resignation. Im Vergleich zu jedem transzendenten Glauben ist dieser Glaube an das Schicksal der Zeit und an die Leidenschaft zeitlichen Handelns positive Glaubenslosigkeit. Das Positive dieses mangelnden Glaubens an etwas, was das Schicksal der Zeit und die Forderung des Tages überschritte – an objektiv vorhandene Werte, Sinne, Gültigkeiten – ist aber die Subjektivität der rationalen Verantwortung als einer reinen Eigenverantwortung des Individuums vor sich selbst.«47 Wenn man nun den Kulturbegriff nicht abstrakt auf eine sterile »zivilisierte Barbarei«48 bezieht, die von Tabus, Dogmen und Codes beherrscht wird, sondern damit gemäß seiner ursprünglichen Bedeutung alles das bezeichnet, was der Mensch in seinem Leben in Kunst, Technik, Denken positiv hervorbringt, dann bezieht er sich sowohl auf das Alltagsleben wie auf die »cultura animi«49, die Pflege des Geistes. Es handelt sich dann um eine Kategorie der Bildung, die nicht erst seit Kant einen starken moralischen Anspruch mit sich bringt und das Urbild von Löwiths Forderung ist nach Humanität zu streben. Dadurch tritt Löwith – ohne es auszusprechen – einen Schritt hinter den Weberschen Radikalismus zurück und korrigiert so das, was er hauptsächlich an Weber kritisiert: »Die wirklich mögliche Totalität aber, welche er selbst praktizierte, war nicht die Zusammennahme aller möglichen Einseitigkeiten zu einer sogenannten Viel-

46 Ibid., S. 364. 47 Ibid. 48 Id.: Jacob Burckhardt, S. 43. 49 Vgl. Marcus Tullius Cicero: Tusculanae disputationes II/13: »atque […] ut ager quamvis fertilis sine cultura fructuosus esse non potest, sic sina doctrina animus; ita est utraque res sine altera debilis. cultura autem animi philosophia est; haec extrahit vitia radicitus et praeparat animos ad satus accipiendos eaque mandat iis et […] serit, quae adulta fructus uberrimos ferant.« (»Und […] wie ein Acker, auch wenn er fruchtbar ist, ohne Pflege keine Frucht tragen kann, so auch die Seele nicht ohne Belehrung. Jedes ist ohne das andere wirkungslos. Pflege der Seele ist aber die Philosophie: sie zieht die Laster mit der Wurzel aus, bereitet die Seelen dazu, die Saat zu empfangen, übergibt sie ihnen und säet […] was dann, wenn es ausgewachsen ist, die reichste Frucht bringt.«) – Marcus Tullius Cicero: Gespräche in Tusculum. Lateinisch-deutsch (ed. Olof Gigon); München 1976, S. 124/125.

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seitigkeit, sondern die negative Totalität der Bewegungsfreiheit nach allen Seiten, die Durchbrechung eines jeden ›Gehäuses‹, jeder praktischen und theoretischen Einrichtung, Ordnung und Sicherung – um jenen Rest von Individualismus auch in der Wissenschaft zu bewahren, der ihm das wahrhaft Menschliche bedeutete.«50 Wenn Löwith Kultur und Humanität als höchste Ziele benennt, erklärt er nicht die »negative Totalität der Bewegungsfreiheit nach allen Seiten« zum höchsten Ziel, sondern gibt eine klare Richtung vor – aus dem Wissen heraus, daß Webers Bewegungsfreiheit die Verantwortungsethik eines Chefplaners des Terrors – wie etwa Eichmann – ebenso rechtfertigt wie eine Mutter Theresa. Im ganzen aber teilt er Webers Position, insofern sie positiv »die Zusammennahme aller möglichen Einseitigkeiten zu einer sogenannten Vielseitigkeit« umfaßt, also eine Gesellschaft einfordert, die aus einer Kultur der Widerspruchsakzeptanz einen größtmöglichen Pluralismus entstehen läßt: »Webers Position ist an ihr selbst und wesentlich Opposition, sein Gegner ein zu ihm gehöriger Widerpart. In dieser Welt gegen sie eigene Zwecke durchzusetzen, die nicht von dieser Welt und doch für sie berechnet sind, das ist der positive Sinn jener ›Bewegungsfreiheit‹, auf die es Weber ankam. […] Mit dieser endgültigen Bejahung der Produktivität des Widerspruchs steht Weber in äußerstem Gegensatz zu Marx, der nicht zuletzt darin Hegelianer blieb, daß er die ›Widersprüche‹ der bürgerlichen Gesellschaft prinzipiell aufheben wollte, wenngleich nicht wie Hegel durch ihre Aufbewahrung in einem absolut organisierten Staat, sondern durch ihre völlige Beseitigung in einer schlechthin gegensatzlosen Gesellschaft. Dagegen war der immer neu bewältigte Widerspruch der Anerkennung einer

50 Karl Löwith: Max Weber und Karl Marx, S. 405. Vgl. auch: »Weber […] hat den Weg zum autoritären und diktatorischen Führerstaat positiv dadurch gebahnt, daß er überhaupt die irrationale ›charismatische‹ Führerschaft und die ›Führerdemokratie mit Maschine‹ vertrat, und negativ durch die gewollte Inhaltslosigkeit, durch das Formelle seines politischen Ethos, dessen letzte Instanz nur die entschiedene Wahl einer Wertsetzung unter andern war, gleichgültig welcher. Von seiner These, daß uns nur ein ›Prophet‹ zu sagen vermöchte, was wir objektiv tun sollen, daß dieser aber nicht da sei, so daß in dieser autoritätslosen Zeit einer verfallenden Öffentlichkeit jeder für sich entscheiden müsse, was er zu tun gedenke – von dieser total individualistischen These ist es nur ein Schritt bis zur völligen Einordnung in einen totalen Gesinnungsbetrieb unter den Willen eines redegewaltigen Führers, welcher der Masse sagt, was sie glauben und tun soll.« (id: Max Weber und seine Nachfolger. In id.: Schriften 5; S. 408-418, S. 413)

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rationalisierten Welt in der Gegentendenz auf die Freiheit zur Eigenverantwortung die bewegende Kraft in Webers ganzem Verhalten.«51 Die Bedeutung, die Löwith Widerspruch, Verhältnismäßigkeit, Anderssein – und dem Gedanken, daß der Mensch ein Naturwesen ist, das sein Leben mit der Aufgabe verbringt, sich selbst zur Humanität zu bilden – zumißt, läßt sein Denken »zur anthropologischen Grundlegung der Philosophie werden«;52 denn das ethische Motiv von Löwiths Anthropologie ist, wie schon Helmut Fahrenbach erkannt hat, »dass in der Strukturanalyse des Sich-Verhaltens in und zu den mitmenschlichen Verhältnissen zugleich dessen ethische Dimension der wechselseitigen Anerkennung und Verantwortung miterschlossen wird.«53 Was bleibt, ist also das, was Löwith schon als junger Mann in seinen Briefen an Erich von Kahler als zentral bestimmte: »ausschliesslich das persönl[ich] Ethische – von Mensch zu Mensch«54 und daraus abgeleitet »das dualistische Element das ich […] aufrecht erhalte u[nd] nicht aus ration[alen] Gründen sondern aus einer ethisch[en] Gewissensevidenz heraus.«55 Dieses dualistische Element bedeutet aber auch, daß der Mensch sich nicht einfach auf einen Standpunkt oder eine Definition festlegen läßt. Er ist bestimmt durch das, was ihn als Verhältnis bindet, was als Potential in ihm steckt, durch das, was aus ihm werden kann und durch das Ideal, an dem er sich orientiert. Er ist ein Wesen, das sich beständig in einer Schwellensituation befindet. Löwiths Idee vom Menschen entspricht damit einem Menschenbild, wie es seit Jahrhunderten immer wieder vertreten wird: »Die Lage des Menschen ist so: Ein Engelsflügel wurde gebracht und an einen Eselschwanz gebunden, damit der Esel vielleicht dank der Leuchtkraft der Gesellschaft des Engels auch ein Engel

51 Id.: Max Weber und Karl Marx, S. 365f. 52 Helmut Fahrenbach: Karl Löwith in der Weimarer Zeit (1928 – 1933). Philosophie – nach dem »revolutionären Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts«. In DZPhil 53/6 (2005), S. 851-869, S. 863. 53 Ibid. 54 Karl Löwith an Erich von Kahler, 15.IX.1920; Marbach/Neckar, Deutsches Literaturarchiv, A: Kahler. 55 Karl Löwith an Erich von Kahler, 20.XII.1920; Marbach/Neckar, Deutsches Literaturarchiv, A: Kahler.

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würde« heißt es bei Rumi56 – und schon in der Tora wird der Mensch als Ebenbild Gottes gesehen, aber eben auch als bloße Handvoll Staub.57 Die Schwierigkeit der menschlichen Situation liegt dabei nicht zuletzt im beständigen Kampf mit dem eigenen Anspruch, der auch ein Kampf gegen sich selbst ist. Löwith setzt in diesem Zusammenhang die Aufgabe, sich zur Humanität heraufzubilden als Rechtfertigung des Menschseins – im Gegensatz zum »Absinken zur Brutalität« bzw. zum »vertieren«. Auch Paul Valéry spricht das negative Fundament des Menschen offen an: »Furcht vor SICH SELBST ist der Auftakt zur Moral. Nicht wagen, das zu sein, was man ist«.58 Denn die Bedeutung des Menschen liegt nicht darin, daß er geboren wurde und jetzt existiert, also nicht in seiner Existenz an sich – sondern darin, welchen Anspruch er mit dieser Existenz verknüpft und wie er diesem Anspruch als Individuum gerecht wird: »Der Mensch hat Wert nur insofern, als er sich nicht manövrieren läßt von der Natur, von seinen Instinkten, von der Gesellschaft, von der Nachahmung, von der Eitelkeit – kurz, von dem, was war, vielmehr einzig durch die Überlegung dessen, was sein kann oder nicht sein kann.«59 Valérys Aussage erinnert an Nietzsches Forderung nach dem Übermenschen. Das ist kein Zufall. Denn trotz Löwiths wiederholter These von der Unwandelbarkeit der kosmischen Gesetze und der prinzipiellen Unveränderlichkeit des Menschen steht hinter dieser Auffassung keine distanzlose Rückkehr zu einer spätantiken Sichtweise der Welt. Im Gegenteil: Der Mensch wird hier nicht in der alten, sondern in einer neuen, »modernen« Welt plaziert, die allerdings nicht – wie bei den völkischen Verkündern Nietzsches – unter dem Banner der Rasse steht. Diese neue Welt verlangt, wie jede »neue Welt«, nach einem Opfer – das sie von Löwith auch erhält. Denn nichts anderes ist sein Skeptizismus, mit dem er im Sinne der Moderne überkommene Vorstellungen und Überzeugungen destruieren will und angesichts der Welt der modernen Naturwissenschaft nicht nur die Frage nach Gott, sondern auch die herkömmliche Philosophie an ein Ende gelangt sieht. Löwith läßt die traditionelle Weltorientierung und Wertbegrün-

56 Zitiert nach Annemarie Schimmel: Die Zeichen Gottes. Die religiöse Welt des Islam; München 1995, S. 224. 57 Vgl. die Unterschiede der beiden Schöpfungserzählungen in Bereschit (Genesis) Kap. 1 und 2. Die Tora nach der Übersetzung von Moses Mendelssohn mit den Prophetenlesungen im Anhang (ed. Anette Böckler); Darmstadt 2002, S. 34-36. 58 Paul Valéry: Aus den Cahiers. In Thomas Stölzel (ed.): Ich grase meine Gehirnwiese ab. Paul Valéry und seine verborgenen Cahiers. Frankfurt/Main 2011, S. 57-337, S. 72. 59 Ibid.

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dung des Menschen hinter sich, ohne dafür ein neues philosophisches System zu setzen oder einzufordern. Damit spiegelt Löwith einerseits eine Entwicklung, die er auch bei Nietzsche festmacht – und andererseits scheut er aus skeptischer Motivation vor ihr zurück: »Sein Verhängnis war eben dass er, als Erbe christlicher Erfahrungen, sich nicht mit antiker Naivität auf seine ›Inspiration‹ festlegen konnte, sondern sie als einen Willensentschluss festhalten musste. […] Der Überschuss an Leidenschaft mit dem sich N[ietzsche] später auf diesen Gedanken wirft – obwohl er ihm bis zuletzt nur ›vielleicht‹ wahr ist – […] ist zugleich das Forcierte und das sekundär-Ursprüngliche an N[ietzsche], wodurch er seine fatale Aufgabe erfüllte. Von Natur aus war Burckhardt gewiss die ursprünglichere Natur, was nicht hinderte dass B[urckhardt] als säkularisierter Mönch in Resignation endete. N[ietzsche] […] hat sich von der Philologie + Wagnerdienst + Zarathustrastil soweit vorangetrieben dass er […] selbst Philosoph + Prophet wurde um in einem echten Wahnsinn zu enden + selbst ein Mythos zu werden […]. Statt eines zurückgezogenen weltlichen Mönchs ist er ein geistiger Sendbote in der Welt, ein Apostel geworden – einer der schon das Neue lebt, während B[urckhardt] noch vom Alten lebt. […] Damit hat N[ietzsche] nicht nur den Zerfall der alten europ[äischen] Welt besiegelt, sondern auch eine neue initiiert. Seine Affinität zum ›neuen Reich‹ Georges sowohl als zum wirklichen 3. Reich + zu allem was seit 1914 offensichtlich vor sich geht, scheint mir für die geschichtliche und existentielle Wahrheit seiner Aufgabe zu sprechen. […] Wenn sie darunter das Überschreiten aller natürlichen Gegebenheiten verstehen dann ist N[ietzsche] extrem transzendierend, aber nicht um eines vagen Jasperschen Transzendierens willen sondern auf ein bestimmtes, nicht christliches Ziel hin, genannt: ›Dionysische Welt‹. Um dessentwillen muss er in der Tat Vergessen können, wie das ›Ich bin‹ des kosmischen Kindes in der 3. Verwandlung. […] Für ein Individuum gehört in der Tat eine Art Grössenwahn dazu um sich anzumassen die geistige Führung Europas zu bestimmen, aber dieser Ehrgeiz ist nicht wahnsinniger als etwa der Dostojewskis, oder im Gebiet der polit[ischen] Tat der von Napoleon + …Hitler. Das Neue was N[ietzsche] […] eingeleitet hat ist, wenigstens im Stadium der Geburtswehen, alles andere als sympathisch, sogar greulich, und mir persönlich liegt N[ietzsche]’s apostol[ischer] Anspruch himmelweit fern. Ich sympathisiere ›natürlich‹ mit Burckhardt (+ in bedingterer Weise mit Goethe), aber da ich weiss dass meine Sympathie für B[urckhardt]s Rückzug meiner eigenen Schwäche entspricht, so kann ich nicht umhin, im Gegensatz zu meiner Sympathie, für die Wahrheit einzutreten welche N[ietzsche] ist + für das was er durch Zerstörung gestiftet + angestiftet hat. Dass Sie in m[einem] Buch meine ›Position‹ nicht herausgefunden haben liegt nicht an einem Mangel an Imagination sondern daran, dass meine Reserve auf Grund des

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vorhin Gesagten, die Substanz meiner ›Position‹ ist, falls Sie mir, als Nichtamerikaner, zugestehen können dass ›to sit on the fence‹ auch eine Position ist – politisch vergleichbar etwa der von Tocqueville gegenüber dem alten + neuen Regime.«60 Sitting on the fence Löwith formuliert seine eigene Position also so, daß er den Menschen – wie Nietzsche – angesichts der Moderne tatsächlich an der Schwelle zu einer neuen Welt sieht, er diese Zukunftsvision auch vielleicht als »Wahrheit«, aber doch nichtsdestoweniger als »greulich« einstuft und sich gerade von Nietzsches Weise, diese Wahrheit zu vertreten und zu bejahen, »himmelweit« geschieden sieht. Seine eigene Position »on the fence« führt dazu, daß er diese Wahrheit, auch jenseits der inhaltlichen Kritik, die er unter anderem an der Position der Nationalsozialisten, an Carl Schmitt und Martin Heidegger vorbringt, eben nicht entschieden vertreten kann. Stattdessen führen Löwiths Skeptizismus, seine Orientierung an klassischen Quellen und seine Orientierung an der Anthropologie zu einer Rückwendung des modernen Menschen zu der Welt, aus der er kommt, und zu der doch für Löwith kein Weg zurück führt. Sie ist aber auch in sich selbst eine positive Haltung, weil die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Zeit die Möglichkeit zu einer eigenen Stellungnahme als Ausgangspunkt erst eröffnet. Löwiths Positionierung über den allgemeinen Glauben an Zukunft und Fortschritt ebenso hinaus wie über die Forderung nach einer Revolution oder einer neuen Welt. Die Frage nach Alternativen wird zwar nicht ausgesprochen, sie ist aber als Aufgabe mit Händen zu greifen. Damit hat Löwiths Position »on the fence« oder »auf der Schwelle« noch eine andere Dimension als ihre stoischen oder ihre nur konservativen, traditionell-religiös orientierten Variationen – und sie bringt den Menschen in eine schwierige, dezidiert moderne Situation, aus der es kein Entkommen gibt. Kafka hat dafür in den Briefen an Milena das Bild vom »Rütteln der Fliege an der Leimrute«61 gebraucht, und auch wenn Kafka in diesem Zusammenhang vom Verhältnis zum Vater und der Familie spricht, läßt sich dieses Bild sehr wohl auf Löwith anwenden. Denn vordergründig kannte Löwith diese Auseinander-

60 Karl Löwith an Eric Voegelin, 7.I.1945. In Karl Löwith / Eric Voegelin: Briefwechsel. Mit einer Einleitung von Peter J. Opitz. In Sinn und Form 6/2007, S. 764-794, S. 775f. 61 Franz Kafka an Milena Jesenska, 31.VII.1920. In Franz Kafka: Briefe an Milena; Frankfurt/Main 2011, S. 165.

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setzungen mit den Eltern, besonders mit dem Vater, und den Vorwurf der Wertlosigkeit des eigenen Tuns sehr wohl – die Jugendbriefe an Heidegger geben darüber beredtes Zeugnis ab. Doch geht es hier nicht um eine persönliche Auseinandersetzung, sondern um den Konflikt und den Übertritt in eine neue Welt an sich, in der die althergebrachten Maßstäbe – seien es die der Familie, die der Religion, selbst die der Ethik – nicht mehr gelten. Kafka hat dieses Motiv vielfach verarbeitet – und sein Fazit gilt für ihn ebenso wie für Löwith: »Das Entsetzliche, das die Schwellensituation hier hat, ist mit dem Glück, das sie anderswo vermittelt, vereinbar. Glück und Grauen sind da komplementär. Das eine bedingt ja das andere. Das Lebenslabor besteht im qualvollen Eingeklemmtsein auf der Schwelle zwischen den Türrahmen, aber genau so wird es auch zur Voraussetzung der ungeheuren Aufschwünge im Gegenraum. Das ist keine Mischung von Glück und Qual, sondern ein Zugleich der beiden aufs je Maßlose. Es ist so, wie wenn einer gefangen wäre, und er hätte nicht nur die Absicht zu fliehen, was vielleicht erreichbar wäre, sondern auch noch, und zwar gleichzeitig, die Absicht, das Gefängnis in ein Lustschloß für sich umzubauen. Wenn er aber flieht, kann er nicht umbauen, und wenn er umbaut, kann er nicht fliehen.«62 Diese Ausweglosigkeit der menschlichen Situation empfindet auch Löwith; aber anders als Kafka ist seine Konsequenz weniger verzweifelt, weniger offenkundig unter der eigenen Zwangslage leidend. Denn bevor es zum äußersten kommt, wendet Löwith sich zurück und besinnt sich philosophisch auf die Tradition (ohne sie unkritisch zu übernehmen), menschlich aber auf Vorbilder wie Max Weber, Albert Schweitzer, Gandhi oder seinen Vater: »In meines Vaters Vermächtnis an mich, welches eine Zusammenfassung seines Lebens enthält, ist nur die Rede von der ›Härte‹ und von der ›Schönheit‹ des Lebens und von den ›Schicksalen‹, die den Menschen betroffen haben und von der eigenen Verantwortung, die darin liegt, wie man es ›trägt‹. Und das alles finde ich menschlich, männlich und wahr – als Sohn meines Vaters und als einer, der ›philosophiert‹.«63

62 Peter von Matt: Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur; München 1997. S. 296. Die letzten beiden Sätze sind ein direktes Zitat aus Franz Kafka: Brief an den Vater; Frankfurt/Main 1994, S. 175. 63 Karl Löwith an Gerhard Krüger, 28.XI.1932, NL Krüger, UA Tübingen. Zitiert nach Matthias Bormuth: Ereignis und Geschichte. Karl Löwith kritisiert Martin Heidegger. In Id. / Ulrich von Bülow (ed.): Marburger Hermeneutik zwischen Tradition und Krise; Göttingen 2008, S. 65-91, S. 91.

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Mit dieser Konstruktion des Menschen als eines Schwellenwesens, das ewig in einer Entwicklungssituation hin zu seiner eigenen Menschlichkeit steckt und aus dieser seiner Haut nicht herauskann, aber gleichwohl aus ihr herauswill und herausmuß, ist Löwith seiner ursprünglich formulierten Aufgabenstellung einer Anthropologie unter der Idee der Freiheit treu geblieben. Denn Freiheit wird von ihm nicht in dem gesellschaftlichen Sinne Hannah Arendts verstanden, als freie Handlungsmöglichkeit zwischen einem Ich und einem Du oder generell zwischen verschiedenen Menschen: »Ursprünglich erfahre ich Freiheit und Unfreiheit im Verkehr mit anderen und nicht im Verkehr mit mir selbst. Frei sein können Menschen nur im Bezug aufeinander, also nur im Bereich des Politischen und des Handelns; nur dort erfahren sie, was Freiheit positiv ist und daß sie mehr ist als ein Nicht-gezwungen-Werden.«64 Hingegen ist für Löwith Freiheit ein Verwirklichungs- und Emanzipationsprozeß; und Teil dieses Prozesses ist nicht zuletzt auch die Befreiung von sich selbst, die Gewinnung eines eigenen Standpunktes – und von diesem aus die Verwirklichung einer moralischen Idee des Miteinanders, die von gegenseitiger Achtung, Freiheit und Menschenbildung geprägt ist. Diese Idee ist eine zutiefst humane Idee vom Menschen, die vor jeder offiziösen gesellschaftlichen Verfassung existiert und ohne sie funktioniert, weil sie durch ein Verhältnis zwischen Ich und Du begründet wird, das man – in der Form einer unendlichen Anzahl von Lebenswelten – mit jedem Menschen, der einem begegnet in mehr oder weniger ausgeprägter Form besitzt; im Notfall läßt sich dieses Verhältnis jedoch auch völlig auf die eigene Person beschränken. Die Begründung der Menschenrechte liegt für Löwith in der gleichermaßen einfachen und unumstößlichen Tatsache des menschlichen Miteinanders – und nicht »aus einem Status in Raum und Zeit – ebendem des demokratischen Staatsbürgers«.65 Gleichheit und Verschiedenheit des Menschen Dieser »demokratische Staatsbürger« ist für Löwith ein Konstrukt, das den »ganzen« Menschen auf bestimmte Aspekte seiner Identität festlegt und ihn daher seiner eigenen Menschlichkeit beraubt. Es wird dem Menschen in seiner Universalität nicht gerecht. Besonders bedenklich ist für Löwith die Erfahrung,

64 Hannah Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft; München 2000, S. 201. 65 Jürgen Habermas: Zur Verfassung Europas. Ein Essay; Berlin 2011, S. 30. Für Habermas bleibt daher auch die universale Garantie von Menschenrechten abhängig von »einer demokratisch verfassten Weltgesellschaft« (ibid., S. 31).

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daß der Staatsbürger aufgrund dieser Einschränkung nicht als Mensch aus sich selbst heraus legitimiert ist, sondern eine zusätzliche Legitimation aus seinem staatlichen Kollektiv benötigt, wozu er gegebenenfalls den Vorstellungen dieses Kollektivs – bzw. seiner Machthaber und Träger – angepaßt werden muß; seien diese Vorstellungen nun eine Leitkultur, eine nationale oder gar eine Rasseidee. Solche Konstrukte sind für Löwith nicht nur deshalb problematisch, weil sie den Menschen festlegen und in dieser Weise politisch ausbeuten – sondern auch, weil diese Konstrukte ihn von sich selbst entfremden und über wichtige Aspekte seines Wesens hinwegtäuschen. Eine weitere Folge ist die künstliche Abtrennung des Menschen von anderen, die doch in wesentlichen Aspekten sehr ähnlich sind. Dadurch ist man nicht nur in Vorurteilen befangen, man wird zugleich daran gehindert, sie aufzulösen, weil man dem anderen nicht mehr unbefangen begegnen kann: »Menschliche Verhaltensweisen verteilen sich nicht auf platonische Rasseideen […]. Und gerade wer seinen heimatlichen Horizont im Ausland erweitert hat, erfährt zunächst als das Auffallendste, wie viel durchgreifender heute der soziale Unterschied ist als der allgemeine rassenmäßige Hintergrund. […] Was alles nicht hindert, daß ›auf dem Grund ihrer Seele‹ zwar nicht so sehr ›die‹ Italiener und ›die‹ Deutschen – qua Rassen –, sehr wohl aber dieser bestimmte und jener bestimmte Mensch substantiell verschieden sind und sich daher ›im Grunde‹ nicht verstehen können. […] Und weil der Mensch seinem Wesen nach keine gestalthafte Substanz oder gar ein ›Stilgebilde‹ ist, sondern substantiell begrenzte Möglichkeiten hat, welche ›das‹ Leben einem jedem offenbart, aber nicht im Sinne jener Möglichkeiten, die man einmal für immer mitbekommen und vielleicht ausdrücklich ergriffen hat, ist es überhaupt sinnvoll und aufschlussreich, Möglichkeiten – z. B. des ›Genusses‹ der ›Gegenwart‹, im Unterschied zur gewohnten ›Sorge‹ um die ›Zukunft‹ – an andersartig lebenden Mitmenschen aufgezeigt zu bekommen – aber nicht zwecks theoretischer Konstatierung ihres Anders-seins und Versteifung auf ein eigenes So-und-nichtanders-sein, sondern behufs einer Erweiterung der eigenen faktischen Lebensmöglichkeiten […]. Eine thematische Bekümmerung um das eigene rassenmäßige Geschick ist, wie jede Bemühung um etwas, das sich prinzipiell nur von selbst macht, notwendig ohne Verständnis für die möglichen Aufgaben des Menschen, ganz abgesehen davon, daß die stilisierende Erschauung reiner Rasseideen das Problem einer faktischen Rassenvermischung, das seinerseits wieder die Sorge um Rassenreinheit motiviert, allererst als ein ›Problem‹ erzeugt.«66

66 Karl Löwith: Drei Rezensionen (1926-1930). Besprechung des Buches Rasse und Seele von Ludwig Ferdinand Clauss (1926). In id.: Schriften 1; S. 198-218, S. 206208.

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Gegenüber diesen politischen Ideologien hält Löwith an der liberalen Forderung der Gleichheit aller Menschen fest – allerdings nicht im egalitären Sinne Tugendhats oder anderer Denker. Löwiths Idee der Gleichheit ist eine Gleichheit in Verschiedenheit, sie meint Gleichheit als Menschen – und damit Gleichheit in der grundlegendsten Bestimmung der eigenen Existenz. Politische, kulturelle, aber auch temporale Überformungen können an diesem grundlegenden Prinzip der Gleichheit nichts wesentlich ändern, auch wenn sie zur Verschiedenheit einen entscheidenden Beitrag leisten. Erst diese strukturelle Gleichheit ermöglicht einen kommunikativen Austausch und eine Verständigung untereinander, erst aus ihr lassen sich die Grundregeln – Achtung und Rücksichtnahme – für ein mitmenschliches Miteinandersein ableiten. Sicher hat Herlinde Pauer-Studer recht, wenn sie Schwierigkeiten damit hat, »das Prinzip gleicher Achtung und Rücksichtnahme als Gleichheitsgrundsatz zu verstehen. Denn maßgeblich für dieses Prinzip ist nicht die Idee der Egalität, sondern die Idee der personalen Anerkennung. Gleiche Achtung und Rücksichtnahme entspricht einem Anerkennungsprinzip, bringt aber neben dem Aspekt der Anerkennung aller Personen für sich genommen keine spezifisch egalitären Gesichtspunkte ins Spiel.«67 Löwiths Konzept ist egalitären Gesichtspunkten diametral entgegengesetzt und zeigt eine enge Verwandtschaft zu Goethes Freiheitsbegriff, der gegenseitige Achtung voraussetzt, aber aus dieser Achtung – die auch Ausdruck einer empfundenen Rangdistanz ist – die Möglichkeit gewinnt, sich in aufklärerischer Tradition emporzubilden und somit einen höheren Grad von Freiheit zu gewinnen. Dieses Festhalten an einem »höheren Grad von Freiheit« ist auch für Löwith entscheidend, denn Gleichheit bedeutet für ihn eben auch: Einschränkung menschlicher Pluralität und Verlust individueller Einzigartigkeit. Denn er unterscheidet »diese andern als Meinesgleichen zunächst nicht ausdrücklich von mir selbst, aber doch untereinander. Ihr Verschiedensein gilt ebenso wie ihr Meinesgleichensein als das Selbstverständliche. […] Befremdend ist unter anderen stets die Gleichheit, z. B. ihr Uniformiertsein […]. Und das Befremdlichste wäre die Begegnung mit einem andern, der einem andern oder einem selbst völlig gliche, ein Doppelgänger wäre. Das Unheimliche des Doppelgängers ist, daß er einem die Selbstverständlichkeit der eigenen Singularität oder Einzigkeit von einem andern her zum gegenständlich deutlichen Bewußtsein bringt, der ›ersten

67 Herlinde Pauer-Studer: Freiheit und Gleichheit: Zwei Grundwerte und ihre Bedeutungen. In Id. / Herta Nagl-Docekal: Freiheit, Gleichheit und Autonomie; Wien 2003, S. 234-273, S. 248.

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Person‹ zeigt, daß sie noch einmal in zweiter Person da ist, und sie so ihrer einmaligen Einzigkeit beraubt.«68 Mit dem Nationalsozialismus zeigen aber gerade die politischen Ereignisse aus Löwiths Lebenszeit eindrücklich, wie gefährlich es ist, die Verschiedenheit der Menschen zu einem elementaren Rangunterschied zu machen, diesen zu verabsolutieren und ihn zu einem Mittel der Ausgrenzung oder einem Kriterium gesellschaftlicher Teilhabe werden zu lassen. Das Kriterium der menschlichen Verschiedenheit verkehrt sich von einem Positivum in sein Gegenteil, wenn man versucht, aus Differenz und Distanz eine Ordnung zu formen und aus polemischen Entgegensetzungen ein Prinzip aller Dinge ableitet: »Nachdem die prinzipielle Lösung des Individuums von den kollektiven, dogmatischen, bloß traditionellen Bindungen vollbracht war, geht sie nun dahin weiter, daß die so verselbständigten Individuen sich auch von einander unterscheiden wollen, steigt auf zu der sittlichen Forderung, daß jeder gleichsam ein Idealbild seiner selbst, das keinem anderen gleich ist, verwirkliche. […] Damit wird eine Organisation der mannigfaltigen Einseitigkeiten nahegelegt, die ein Ganzes, dem Einzelnen erst seinen Platz anweisend, zum Herrn über ihn macht. Daher hat dieser Individualismus leicht antiliberale Neigungen und so ist er in allen seinen spezifischen Zügen das Gegenbild der Kantischen Auffassung; so aber, daß innerhalb seiner die ganz differenten Lebensbilder sich noch immer als Ergänzung des Kantischen darstellen«69. Achtung als leitendes Prinzip Deshalb ist Löwiths Betonung des Kantschen Prinzip der Achtung besonders wichtig, denn Achtung ist kein Organisationsprinzip, sondern der unmittelbare und individuelle Ausdruck einer Beziehung zwischen Ich und Du. Als Ausdruck einer Beziehung aber läßt es sich nur schwer ohne das Prinzip struktureller Gleichheit entwickeln – selbst dann, wenn die der Achtung unmittelbar zugrundeliegende personale Anerkennung in dem anderen ein Vorbild erkennt, dem man nacheifern und sich angleichen will. Der Grund liegt schlicht darin, daß personale Anerkennung ein sehr individuelles Verhalten ist und daher nicht darauf beruht, worin zwei Personen einander gleich sind, sondern worin sie sich voneinander unterscheiden. Insofern ist die Idee der Egalität tatsächlich nicht

68 Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (1928). In id.: Schriften 1; S. 9-197, S. 65. 69 Georg Simmel: Kant und der Individualismus. In id: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Bd. 1; Frankfurt/Main 1995, S. 273-282, S. 281.

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maßgeblich für diese Anerkennung. Allerdings ist diese Anerkennung ohne die Idee der Gleichheit auch nicht denkbar, weil sie – und auch Pauer-Studer sieht diesen Zusammenhang – ein gegenseitiges Verhalten ist, das im Hinblick und in Rücksicht auf den anderen stattfindet. Aber gerade diese Gegenseitigkeit und Rücksichtnahme setzt Verständigung und als deren Grundlage eine strukturelle Gleichheit voraus. Das gilt zwar auch für die von Pauer-Studer angeführten »spezifisch egalitären Gesichtspunkte« – doch diese führen zwangsläufig zu einer Ungleichbehandlung, die sich nur schwer rechtfertigen läßt und deren Ergebnisse keine vorausgesetzte strukturelle, sondern eine künstlich geschaffene, aber gleichwohl sehr voraussetzungsreiche und damit höchst fragwürdige Gleichheit ist. Personale Anerkennung im Sinne Löwiths setzt nicht die Orientierung an einem achtenswerten Idealbild voraus. Ihre notwendige Bedingung ist stattdessen die positive Unterscheidung von anderen. Damit geht einher die Forderung nach einer Relativierung der eigenen Person und ihrer Vorstellungen – und weil das so ist, hält Löwith gegen Hegel an der »›Realität des Unterschieds‹ von Ich und Du, des Einen und Andern«70 fest und sieht mit »Kant die Wahrheit der menschlichen Verhältnisse gerade dadurch gesichert […], daß die gegenseitige Achtung als ein Prinzip der Unterscheidung die Vereinigungstendenz der Wechselliebe positiv einschränkt. Die Absolutheit der Sittlichkeit im Geiste Hegels bedeutet eine absolute Aufhebung der Selbständigkeit des einen und andern in ihrer ›relativen Identität‹ – die Unbedingtheit der Moralität in Kants Verstande die Ermöglichung unbedingt selbständiger, absoluter Verhältnisse; Hegel verabsolutiert im Verhältnis die Einheit, Kant befreit diese dem Verhältnis immanente Tendenz zur Vereinheitlichung, indem er die Selbständigkeit der sich zueinander Verhaltenden zwar aus der ›Liebe‹, aber gegen deren natürliche Geneigtheit begründet.«71 Löwiths Prinzip der Achtung ist also alles andere als eine natürliche Verhaltensweise; stattdessen wird auch hier der Wille vorausgesetzt, auf die eigene Autonomie zu verzichten, diese Autonomie aber dennoch dem Anderen zuzugestehen und auf dieser Basis ein Miteinander zu ermöglichen, das mehr ist als ein bloßes Einander-gebrauchen: »Dem natürlichen Egoismus setzt sich also zweierlei entgegen: erstens die Pflicht zum Selbstzwang, welche den Egoismus der selbstsüchtigen Neigung einschränkt. und zweitens die Achtung eines jeden andern als Selbstzweck, welche den Egoismus als selbstsüchtige Neigung einschränkt.«72 Da Achtung immer zu einem Miteinander führt und sie sich aus den

70 Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 183. 71 Ibid., S. 183. 72 Ibid., S. 173.

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menschlichen Verhältnissen zueinander ableitet, ist sie durchaus voraussetzungsreich – nicht zuletzt, weil sie etwa im Unterschied zur christlichen Goldenen Regel nur auf der Basis von Gegenseitigkeit funktioniert. Eine weitere wesentliche Voraussetzung ist, daß eine Verständigung von gleich zu gleich unter Menschen überhaupt möglich und wünschenswert ist – und gerade in dieser Forderung stellt sich Löwith deutlich gegen den Zeitgeist bzw. jede konservative Bestrebung. Vor diesem Hintergrund ist auch zu beachten, daß Löwiths anthropologischer Ansatz und seine moralische Kategorie der »Achtung« nicht nur von Kant, sondern auch von Feuerbachs Grundlegung der philosophischen Anthropologie der »Liebe« konzeptionell stark beeinflußt sind.73 Wie für Feuerbach, von dem Löwith sagt, er habe versucht, den ethischen Kern des Christentums über das Ende des Christentums hinaus zu retten, ist auch für Löwith eines der Grundprinzipien seiner Philosophie das »Du« des anderen Menschen; da er jedoch Feuerbachs Schwerpunkt auf der menschlichen »Sinnlichkeit« als wenig konkret und inhaltsreich kritisiert, ist für ihn das maßgebende Prinzip menschlicher Beziehungen nicht die Liebe, sondern die Achtung, die zusätzlich zur sinnlichen noch eine rationale und eine moralische Dimension beinhaltet. Damit bleibt Löwith auch ein ganzes Stück näher an Kant, der die Achtung der »schuldigen Pflicht«, die Liebe jedoch nur der »verdienstlichen Pflicht« zugeordnet hatte.74 Allerdings bewegen wir uns beim Kantischen Achtungsbegrif im Rahmen der Rechtslehre. Achtung ist bei Kant nicht auf den Mitmenschen bezogen, sondern als Achtung vor dem Gesetz zu verstehen, was auch Hans-Georg Gadamer schon früh kritisch Löwith gegenüber bemerkte: »Kant vollends vermag die Fragestellung Löwiths nicht genau in seinem Sinne zu stützen und verschiebt sie unmerklich nach einer anderen Richtung. Denn Achtung im kantischen Sinne ist Achtung vor dem Gesetz, d. h. aber, das Phänomen der Achtung enthält in sich selbst eine Verallgemeinerung des Menschlichen und nicht die Tendenz zur Anerkennung des Du in seiner Sonderart und um dieser Sonderart willen. So vermag auch Kants Lehre von der ›Freundschaft‹ den Sinn ausschließlicher ›eigentlicher‹ Verhältnisse und ihre Reflexionsproblematik nicht so zu erläutern,

73 Vgl. id.: L. Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (1928). In id: Schriften 5; S. 1-26, S. 19. 74 Vgl. Manfred Riedel: Menschenrechtsuniversalismus und Patriotismus. Kants politisches Vermächtnis an unsere Zeit. In Kurt Bayertz (ed.): Politik und Ethik; Stuttgart 1996, S. 331-361, S. 340-342.

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wie Löwith meint.«75 Wenn man diese Kritik Gadamers berücksichtigt und bedenkt, daß Löwith in Kenntnis dieser Kritik trotzdem am Achtungsbegriff festhielt, dann ist davon auszugehen, daß Löwith Kants Idee zwar aufnimmt, ihn sich aber »historisch nicht ohne Verbiegungen«76 zu eigen macht, um damit über den formalrechtlichen Rahmen hinaus ein allgemeines Moralgesetz zu bezeichnen. Auch hier wird deutlich, daß es dabei nicht um ein natürliches Verhalten geht, sondern um eines, das bereits auf einer bewußten Entscheidung und objektivierenden Verallgemeinerung menschlicher Verhältnisse aufbaut. Dieses Achtungsprinzip Löwiths führt zwar zur Achtung dem Anderen gegenüber und damit in die Anfänge moralischer Bestimmungen, doch sind diese Bestimmungen aus verschiedenen Gründen nicht mit den Festlegungen verwandt, wie sie heute im Bereich der Ethik von der Idee der Achtung vor dem Menschen ausgehend beispielsweise von Hans Joas entwickelt werden. Joas versucht, Ethik vom Konzept einer Sakralisierung der Person ausgehend zu begründen, ein Versuch, der von Löwith schon deshalb nicht mitgetragen werden kann, weil er in einer solchen Sakralisierung eine Spätfolge der – seiner Ansicht nach überholten – Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit sieht: »Die geschichtliche Welt aber, in der sich die Ansicht bilden konnte, daß jeder Mensch, der ein menschliches Antlitz hat, schon als solcher die ›Würde‹ und die ›Bestimmung‹ Mensch-zu-sein hat, diese geschichtliche Welt ist ursprünglich nicht die jetzt verebbende Welt der humanitären Humanität, sondern die Welt des Christentums, in welcher der Mensch seine Bestimmung durch den Gottmenschen Christus hat. Das Bild, welches den homo unserer europäischen Welt überhaupt erst zum Menschen macht, ist ursprünglich bedingt durch die Vorstellung, die sich der Jude oder der Christ von sich selbst als einem Ebenbild Gottes macht«77 – eine Kontinuität, die Joas auch überhaupt nicht abstreitet, sondern durch seine positive Bezugnahme auf Ernst Troeltsch wohl eher unterstreicht. Sie entspricht damit – wie schon John Gray festgestellt hatte – einer religiösen Überhöhung des Menschen, für die es bei nüchterner Betrachtung keine tragfähige Grundlage gibt. Deshalb würde Löwith niemals einen Anderen – schon gar nicht als »Person« – sakralisieren. Löwith definiert den Anderen ausdrücklich als »meinesgleichen«; eine Sakralisierung würde diese substantielle Gleichheit zwischen Ich

75 Hans-Georg Gadamer: Ich und Du (K. Löwith) (1929). In id.: Gesammelte Werke Bd. 4; Tübingen 1987, S. 234-239, S. 239. 76 Ibid. 77 Karl Löwith: Die Einheit und die Verschiedenheit der Menschen (1938). In id.: Schriften 1; S. 243-258, S. 245.

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und Du aufheben und das Ich in eine viel zu starke, einseitige Abhängigkeit vom anderen bringen – das Problem auch der Buberschen Anthropologie. Auch als Mensch »an sich«, also als abstrakte Idee verstanden, sprechen aus Löwiths Sicht schwerwiegende Argumente gegen eine solche Sakralisierung, da der Mensch realistisch betrachtet eben nicht das Ziel der Welt, sondern nur ein ziemlich irrelevantes Staubkorn in einem vollkommen übermenschlichen Kosmos ist. Das gilt auch dann, wenn der Mensch auf der Erde das dominante Geschöpf geworden ist und sie im sogenannten Anthropozän mehr prägt als nur irgendein Tier jemals zuvor. Eine Sakralisierung des Menschen wäre für Löwith daher vor allem eines: Maßlosigkeit, Hybris und Selbsttäuschung. Das bedeutet jedoch nicht, daß Löwiths ethische Maßstäbe hinter Joas oder Buber zurückbleiben würden. Denn er hält trotz allem mit Kant daran fest, daß der Mensch grundsätzlich »zugleich ›Weltwesen‹ und ›Weltbürger‹ ist«, dessen »Sittlichkeit letztlich auf die Idee der Freiheit zurückführt […], diese aber der Selbständigkeit des Menschen Ausdruck gibt und […] er an sich selbst, als freier Selbstzweck sein kann. […] Die Anerkennung des Menschen als eines freien Selbstzwecks ist die Voraussetzung für die Wahrheit jeder weiteren Bestimmung dessen, was einer ist, denn nur diese formale Anerkenntnis seiner Freiheit erkennt den Menschen so, wie er ›an sich selbst‹, d. i. seiner eigenen Möglichkeit nach bestimmt ist.«78 Doch diese Bestimmung als »Weltwesen und Weltbürger« ist zugleich eine mitmenschliche Bestimmung des Menschen, die sich von der Bestimmung durch Zwecke und gesellschaftliche Zwänge unterscheidet durch »›die Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten‹, […] daß mit dem eigenen Dasein das Dasein ›eines Ganzen anderer, mit mir in Gemeinschaft stehender Wesen (Welt genannt)‹ da ist«.79 Dieses »Weltbürgertum« ist im klassischen Sinne kosmopolitisch. Der Andere, sogar der Fremde wird in ihm zum Prototyp und Testfall einer mitmenschlichen Haltung: »Die Liebe zum Fremdling ist das Urmotiv der Menschenliebe«.80 Das Bekenntnis zu dieser Form der Achtung und gegen die Ausgrenzung des anderen ist für Löwith die Bedingung für eine »aufrichtigere politische

78 Id.: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 167f. 79 Ibid., S. 172f. 80 Id.: Philosophie der Vernunft und Religion der Offenbarung in H. Cohens Religionsphilosophie (1968). In id.: Schriften 3; S. 349-383, S. 370.

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Entwicklung«81 unserer Kultur: »Ausdrücke wie ›fremde Volkselemente‹ oder ›Fremdkörper‹ wären dann in der Sprache der Politik unmöglich geworden.«82 Es handelt sich bei dieser ethischen Maxime um anderes und um mehr als das christliche Konzept der bloßen Nächstenliebe. Auf Buber angewendet sprengt sie den durch die Gemeinschaft vorgegebenen Rahmen, weil sie weder durch göttliche Gnade motiviert ist noch einen freiwilligen Zusammenschluß von Gleichgesinnten verlangt – sie besteht noch nicht einmal auf einem gemeinsamen Streben oder einer Gleichsinnigkeit, wie es Bubers Gemeinschaftsidee ausmacht. Der Fremde ist es, der in Löwiths Interpretation der Achtung die besondere Liebe verdient, nicht ein uns ohnehin schon nahes »Du«. Motiviert ist diese Haltung in Löwiths Anthropologie wie schon bei Jacob Burckhardt und Hermann Cohen durch die »Einsicht in die Gebrechlichkeit, die Armut, das Elend und das Leiden des Menschen. Der Arme und Leidende ist ›der Typus des Menschen‹«;83 nur die unmittelbare Auseinandersetzung mit dem Anderen kann zu einer Philosophie des Dialogs und der Verständigung führen. Damit steht Löwith in schärfstem Kontrast zum kriegerischen Ausnahmezustand Carl Schmitts und des Faschismus bzw. zum völkischen Konzept der »Artgleichheit«, das in diesem Kontext Gemeinschaft – auch Rechtsgemeinschaft, begründet. »Grundnorm der Versöhnlichkeit unter den Menschen ist der Friede, während die Versöhnung des Menschen mit Gott das Grundwesen der jüdischen Religion ist. Sie hat zur Voraussetzung die Versöhnung von Mensch zu Mensch und ihr Endergebnis ist die Versöhnung des Menschen mit sich selbst, der Seelenfriede.«84 Löwith kann sich auch deshalb positiv auf Hermann Cohen beziehen, weil Cohens Hintergrund mehr ist als nur das Judentum und seine religiöse Offenbarung. Cohens »Religion der Vernunft« war durch den »Primat der Sittlichkeit […] einig mit Kant und durch Kant mit der deutschen Klassik«,85 einer Ebene also, die sowohl ethisch wie kulturell bestimmt ist und der sich auch Löwith zugehörig fühlte. Allerdings ist gerade die Rückbindung an einen partikular kulturell deutschen Rahmen, an ein Deutschtum für Löwith auch problematisch. Deshalb kritisiert er an Cohen, daß sich dieser bei der Entwicklung seiner universalen Ethik nicht auf einen gleichfalls universalen Standpunkt stellt. Denn die kulturelle Identifikation ist eine persönliche Frage, die aus Löwiths Sicht wissen-

81 Ibid. 82 Ibid. 83 Ibid., S. 375. 84 Ibid., S. 375f. 85 Ibid., S. 377.

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schaftlich wenig taugt und gerade bei Cohen in der Verbindung zwischen jüdischer Ethik und innerer Wahrheit des Deutschtums zu einer groben Verirrung geführt hat.86 Mit deutlicher Spitze gegen nationalistische Überzeugungen bemerkt Löwith daher: »Der philosophische Irrtum Cohens bestand nicht in seinem lebenslangem Bestreben, sich als deutscher Jude zu wissen, sondern darin, daß er es für nötig hielt, Deutschland zur vaterländischen Heimat zu haben, überhaupt als Philosoph eine ›Heimat‹ zu haben, als ob die geschichtliche Mitwelt und Umwelt, in die man zufällig hineingeboren wird, auch schon das Eine und Ganze der Welt wäre, um die es der Philosophie als dem Denken des Einen und Ganzen geht. Gegenüber dieser einzigen philosophischen Grundfrage nach dem Einen und Ganzen ist die Frage ›Sind wir noch Christen?‹ und: ›Sind wir noch Juden?‹, die Cohen am Ende seines Aufsatzes über Die Bedeutung des Judentums für den religiösen Fortschritt der Menschheit berührt, relativ unwichtig.«87

86 Vgl. Hermann Cohens Schrift Deutschtum und Judentum. Mit grundlegenden Betrachtungen über Staat und Internationalismus; Gießen 1915. 87 Karl Löwith: Philosophie der Vernunft, S. 381f. Während für Löwith solche Fragen nach der äußeren Erscheinungsform des Menschen vernachlässigbar sind, da die menschliche Differenz von der fundamentalen Gleichheit aller Menschen überlagert wird, betont Friedrich Schleiermacher gerade die jeweiligen Differenzen – nicht nur diejenigen äußerlicher Natur – und geht damit weit über Löwith und Cohen hinaus. Denn nur über die Erkenntnis und Akzeptanz der Differenz, der »Eigentümlichkeit« des Menschen in all ihren Formen ist bei Schleiermacher Erkenntnis der Menschheit überhaupt möglich: »es ist mir klar geworden, daß jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll, in einer eignen Mischung ihrer Elemente, damit auf jede Weise sie sich offenbare und wirklich werde in der Fülle der Unendlichkeit alles, was aus ihrem Schoße hervorgehen kann. […] Wo ich jetzt, was es sei, nach meinem Geist und Sinn handle, da stellt die Fantasie zum deutlichsten Beweise der freien Wahl noch tausend Arten vor, wie, ohne der Menschheit Gesetze zu verletzen, anders gehandelt werden konnte, in anderm Geist und Sinn; ich denke mich in tausend Bildungen hinein, um desto deutlicher die eigne zu zu erblicken.« (Friedrich Schleiermacher: Monologen. Eine Neujahrsgabe; Darmstadt 1984, S. 19f.) Vgl. auch Julius Schaller: Vorlesungen über Schleiermacher; Halle 1844, S. 97f. Diese Betonung der menschlichen Eigentümlichkeit auch als ethische Maxime führt dazu, daß Schleiermacher das biblische Liebesgebot de facto noch weiter auslegt als Cohen und Löwith. Nicht »Liebe den Andern, denn er ist wie Du« müßte es hier heißen, sondern: »Liebe den Andern, denn er ist anders«!

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Löwith hat verschiedentlich versucht, alternative Begründungen und Vorbilder für eine menschliche Moral zu entwickeln, etwa mit dem Konzept des gentlemans, das in seinem Verständnis in jeder menschlichen Kultur vorkommt – ja sogar menschliche Kultur im Wortsinne erst ausmacht. In Deutschland sieht er Herder als einen ihrer wichtigsten Repräsentanten: »Die wichtigste literarische Quelle sind dafür Ciceros Schriften. Der Humanismus des 15. Jahrhunderts hat diese antike Überlieferung wieder aufgenommen und in zahlreichen Traktaten Über die Würde des Menschen neu belebt. Humanitas ist sinnverwandt mit urbanitas und umfaßt im römischen Sprachgebrauch all jene Vorzüge des Menschen, die heute noch den englischen Begriff des gentleman auszeichnen. Der Mensch ist nur menschlich, wenn er ›gentle‹ ist, d. h. nicht grob und gewalttätig, sondern gesittet und maßhaltend, sich von seinen unmittelbaren Antrieben zurückhaltend. Der gentleman ist großmütig und freimütig und zugleich reserviert. […] Der humane Mensch ist im engeren und weiteren Sinn ›gebildet‹, er ist nicht unwissend und unkultiviert. Der durchgebildete Mensch ist nicht roh und starrköpfig, schwerfällig und unduldsam, sondern leichtbeweglich, anmutig, höflich. Zugleich ist er seiner selbst so sicher, daß er gegen Andersartige und Andersdenkende gelassen sein kann. […] Diese Idee vom Menschen als einem gentleman ist historisch keineswegs auf die römische Spätantike beschränkt.«88 Diese Konstruktion Löwiths und ihre Ableitung sind vielfach auf Ablehnung gestoßen, nicht zuletzt deshalb, weil Herder selbst explizit aus christlichen Quellen schöpft, und daher als Begründung für ein alternatives, nichtchristlich-säkulares Narrativ wenig taugt.89 Letztlich ist aber sowohl Löwiths Versuch, die Humanität alternativ zu begründen ebenso wie die Kritik daran nichts, was den Kern der Sache wirklich berührt. Denn es liegt auf der Hand, daß Humanität – vermittelt durch das Prinzip gegenseitiger, personaler Achtung – der entscheidende Faktor für ein gelingendes Leben ist, das auch einen moralisch-humanen Wert haben soll. Wert- und sinnlos wäre die »Idee der Menschheit« nur dann, wenn man entweder der Menschlichkeit eine Absage erteilt oder es zu ihr eine menschlichere Alternative gäbe, also eine, die der Natur des Menschen besser entspricht und ihm ein besseres Leben, ein Mehr an Frieden sowie an Wohlstand ermöglicht. Und selbst dieses Verständnis von Sinnhaftigkeit greift zu kurz, wenn man der Idee der Menschheit Georg Simmels Idee der Sittlichkeit zugrundelegt, die mit Löwiths

88 Id.: Natur und Humanität des Menschen (1957). In id.: Schriften 1; S. 259-294, S. 272f. 89 Vgl. Mihan Dabag: Löwiths Kritik der Geschichtsphilosophie und sein Entwurf einer Anthropologie; Bochum 1989, S. 151.

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Vorhaben einer »menschlichen Anthropologie, welche unter der Idee der Freiheit steht«, korrespondiert. Denn für Simmel ist »die Sittlichkeit […] der Wert, der allein dem freien Menschen eigentümlich ist: denn es ist der einzige, den wir uns selbst geben können. […] Es gehört zu den Triumphen der menschlichen Wesensart, daß der höchste Wertpunkt in uns zugleich das Eigenste, Persönlichste, Zentralste unserer Existenz ist: wir sind nur da ganz wir selbst, wo wir zugleich am wertvollsten sind, und umgekehrt: unser Dasein gewinnt sein Wertmaximum nur unter der Bedingung, daß sein ganzes Handeln der Ausdruck seiner eigensten Innerlichkeit sei und völlig frei von allem, was wir nicht selber sind. […] Die Souveränität des Ich gegenüber allen Außenwerken des Lebens – der kostbarste Besitz des modernen Bewußtseins, das Minimum und zugleich Maximum seiner ›Freiheit‹ – wäre vernichtet, wenn die Sittlichkeit nur ein Mittel zum Glück wäre; denn sie ist der Ort und Träger unserer Freiheit, ihr Sinn liegt in der Selbstverantwortlichkeit«.90 Wird die Idee der einen Menschheit auf diese Weise als sittliches Gebot verstanden, ist sie reiner Selbstzweck in dem Sinne, daß sich in ihm das menschliche Wesen – so wie es ist und so wie es sein soll – in der höchstmöglichen Form ausbildet und der Mensch zwar nicht durch Selbstüberwindung zu einem Übermenschen transzendiert, er aber das beste aus sich macht, ohne sich selbst zu verlieren: »Also wollen wir bei dem Wort Humanität bleiben, an welches unter Alten und Neuern die besten Schriftsteller so würdige Begriffe geknüpft haben. Humanität ist der Charakter unseres Geschlechts; er ist uns aber nur in Anlagen angeboren und muß uns eigentlich angebildet werden. Wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit […] Humanität ist der Schatz und die Ausbeute aller menschlichen Bemühungen, gleichsam die Kunst unseres Geschlechts. Die Bildung zu ihr ist ein Werk, das unablässig fortgesetzt werden muß, oder wir sinken […] zur […] Brutalität zurück.«91 Auch für Löwith ist die Humanität eben »kein ›Vorurteil‹, das man ableben könnte, sondern zur Natur des Menschen gehörig, wenngleich die humanitäre ›Menschlichkeit‹ und ihr reaktionäres Gegenstück, die sich heroisch dünkende Intoleranz, die wahre Natur des Menschen: sein Elend und seine Größe, seine Hinfälligkeit und Standhaftigkeit, gleichermaßen verkennen. Goethe sagt von der Toleranz, sie sei eine Gesinnung, die vorübergehen müsse, um zur ›Anerkennung‹ zu werden, und in dieser bestehe die ›wahre Liberalität‹. […] Seiner sel-

90 Georg Simmel: Die Lehre Kants von Pflicht und Glück. In id: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908 Bd.1; Frankfurt/Main 1995, S. 247-254, S. 252f. 91 Johann Gottfried Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität. In id.: Werke Bd. 5; Berlin 1978, S. 76.

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ber gewiß ließ er auch anders Denkende und Geartete gelten. […] Das Menschliche erkennen und anerkennen hieß ihm ein Drittes zwischen den Irrtümern und Wahrheiten beachten, die unter den Menschen ›hin- und herschwanken‹; man könne es ›Eigenheiten‹ benennen. ›Sie sind das, was das Individuum konstituiert, das Allgemeine wird dadurch spezifiziert und in dem Allerwunderlichsten blickt immer noch etwas Verstand, Vernunft und Wohlwollen hindurch, das uns anzieht und fesselt.‹«92 Vor allem aber ist die Humanität ein moralisches Konzept, das als solches nur eine Möglichkeit des Menschen darstellt. Denn so wie Löwith Nietzsches Kritik anerkennt, macht er sich über die Grenzen der Humanität ebensowenig Illusionen wie Valéry. Die Verbindung zwischen Nietzsche und Valéry sieht Löwith in der von ihm geteilten »Skepsis gegenüber dem Menschlichen«, die »sich keine Illusionen darüber [macht], daß das Zusammenleben der Menschen auf einer Menschlichkeit beruht, die so allzumenschlicher Eigenschaften bedarf wie: Imitation und Rivalität, Ängstlichkeit, Angriffslust und Brutalität«93 – und so bezeichnet Löwiths Rede von der Humanität nicht eine für den Menschen typische Umgangsform. Sie ist moralisch, sie ist eine Forderung, die als Maßstab menschlichen Handelns zwar bei dem, der sie akzeptiert, Autorität genießen kann, die in der Praxis – als Prinzip menschlicher Handlungen und Beziehungen – jedoch oft genug sehr zu wünschen übrig läßt. So bleibt die Forderung nach Humanität im wesentlichen unerfüllbar; sie ist ein Ziel, das jeder von uns anstreben kann, aber sie entspricht nicht dem Menschen, so wie er ist – und wird es auch nie. Doch gerade diese Unerfüllbarkeit ist das Merkmal, anhand dessen Humanität als spezifisch menschliche Eigenschaft bestimmt werden kann. Denn Humanität ist an den Menschen als natürliches Lebewesen gekettet, und als solches kann er nicht »bis ans Ende gehen«.94 Daher bedeutet mit Valéry und Nietzsche »eine Überwindung des Menschen, auf das Über- und Unmenschliche«95 anzustreben nicht nur den Verzicht auf die Gegensätze und »Eigenheiten« des individuellen Menschen. Mit den individuellen menschlichen Eigenheiten verschwindet auch die Idee der Humanität selbst. Dennoch ist genau diese Überwindung des Menschen »die Wahrheit […] welche Nietzsche ist«.96 Denn der Gedanke, daß der Mensch sich seine Welt

92 Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche, S. 406f. 93 Karl Löwith: Paul Valéry, S. 293. 94 Ibid. 95 Ibid. 96 Karl Löwith an Eric Voegelin, 7.I.1945. In Karl Löwith / Eric Voegelin: Briefwechsel. Mit einer Einleitung von Peter J. Opitz. In Sinn und Form 6/2007, S. 764-794, S. 776.

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selbst schafft, führt seit dem 19. Jahrhundert vermehrt zu revolutionären Bewegungen, die genau dies versuchten – wobei sie auch vor der Neuschaffung des Menschen nicht zurückschreckten. Heute macht der technologische Fortschritt diese Neuschaffung mehr und mehr möglich. »Die Anschauungsweise und Denkform, mit der die moderne Wissenschaft an die Gegebenheit der Natur herantritt, ihre Methode und ihr Erkenntnisziel, sind durch das Arbeitsethos der Leistung und den Willen zur Macht bestimmt […]. Es ist von hier aus nur noch ein, obgleich entscheidender Schritt in derselben Richtung, wenn die neuesten Wissenschaften, Kybernetik und experimentelle Genetik, nicht nur die Welt außer uns durch wissenschaftlich-technische Arbeit anders machen, als sie bisher gewesen ist, sondern schließlich den Macher selbst verändern wollen, damit er es mit seinen neuen Gemächten aufnehmen kann und ihnen gemäß wird. Die neue und kaum noch ›mechanisch‹ zu nennende Maschinen- und Informationstechnik, deren Modell sich auch auf organische Prozesse weitgehend übertragen läßt, stellt nicht nur Maschinen her, die sich selbst regulieren und sogar reproduzieren; sie macht auch aus dem Deus creatus von einst einen ›Prothesengott‹ (Freud), mit dem Ziel der künstlichen Erzeugung eines übermenschlichen Homunculus. Die kybernetische Utopie einer Menschenmaschine, die den bisherigen Menschen übertrifft und schließlich ersetzt, entspringt der Voraussetzung, daß zwar die Menschenmaschine durch Wissenschaft technisch entwickelbar ist, nicht aber der lebendige Mensch selbst.«97 Da der Mensch – wenn auch nicht als Individuum, so doch als Gattung, dazu neigt das, was er tun kann auch tatsächlich zu tun, sieht Löwith den heutigen Menschen an der Schwelle zu einem Umbruch, hinter der tatsächlich nichts mehr so sein wird wie es bisher war: »Angenommen, es könnte dem Menschen gelingen, die Welt der Natur wie seine Umwelt zu beherrschen und Bacons Gleichung von Wissen und Macht zur Vollendung zu bringen, so wäre der Mensch nicht mehr Mensch und die Welt nicht mehr Welt.«98 Daher ist die Frage nach dem Menschen und seiner Humanität, aber auch nach seinem Verhältnis zur Welt, auch heute aktuell. Womöglich läßt sich sogar feststellen, daß die menschliche Substanz heute gefährdeter ist als je zuvor. Die Frage nach ihr hat in vielen Bereichen, nicht nur im Umweltschutz und der Gentechnik eine mittlerweile alltägliche Relevanz, die sich nicht selten zu einer Bedeutungsschwere ausweitet, bei der es buchstäblich um Leben und Tod geht. Bewegungen wie der Posthumanismus werben offensiv damit, unsere Vorstel-

97 Karl Löwith: Vicos Grundsatz: verum et factum convertuntur. Seine theologische Prämisse und deren Konsequenzen (1968). In id.: Schriften 9; S. 195-227, S. 225-227. 98 Id.: Welt und Menschenwelt, S. 328.

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lungen vom Menschen im Verein mit Hirnforschung, Computertechnik, Robotik und Nanotechnologie vollkommen umzukrempeln. Das wirkt sich auch auf den Bereich der Ethik aus – ohne daß die alte Frage nach der Humanität, nach Menschlichkeit, nach Anstand erledigt wäre und an Aktualität verloren hätte. Christa Wolf, die sich ihr Leben lang mit dieser Frage beschäftigt hat, kommt schließlich zu der »Einsicht, daß die Aufgabe falsch gestellt, also nicht zu bewältigen ist, [sie] führt über Konflikte hinweg zum Verstummen. […] Es kommt nicht darauf an, daß wir uns als anständige Menschen fühlen können – was immer das heißen mag. Darauf ist es nicht angelegt. Daß wir nicht aufhören können und dürfen, uns daran abzuarbeiten, ist unser einziges wirkliches Privileg, eine Dauerspannung, die unsere Schreibbemühungen hervortreibt, immer öfter aber blockiert.«99 Es ist gut möglich, daß sich über dieses menschliche Dilemma gar nicht mehr sagen läßt. Das heißt aber auch: die Frage nach dem Menschen bleibt. Sie bleibt die »Aufgabe des Tages«.

99 Christa Wolf: Moskauer Tagebücher. Wer wir sind und wer wir waren. Reisetagebücher, Texte, Briefe, Dokumente 1957-1989; Berlin 2014, S. 145.

Literaturverzeichnis

Das der Arbeit vorangesetzte Zitat Martin Heideggers entstammt einem Brief vom 19.VIII.1921 an Karl Löwith; es wurde nach der von Alfred Denker herausgegebenen Briefausgabe, S. 52f. zitiert. Das Gedicht von Hans Sahl entstammt seinem bei Weidle erschienenen Gedichtband Die Hellen Nächte. Gedichte aus Frankreich, S. 25. Die in der Danksagung zitierte Erzählung über Originalität entstammt Bertold Brechts Bändchen Über Lyrik, S. 106. Nicht im Literaturverzeichnis aufgeführt wurden Quellenstücke aus den Nachlässen Karl Löwiths, Martin Heideggers, Karl Jaspersʼ und Erich von Kahlers. Sie sind zu finden im Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar (siehe die jeweiligen Einzelnachweise in den Fußnoten). Die Tora nach der Übersetzung von Moses Mendelssohn mit den Prophetenlesungen im Anhang (ed. Anette Böckler); Darmstadt 2002. Reichsministerium des Innern (ed.): Reichsgesetzblatt Teil 1, Jahrgang 1935; Berlin 1935.

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Danksagung

Nach zehn Jahren hat ein so intensives Projekt wie diese Arbeit meist zahlreiche Opfer gefordert und erhalten. Ohne den fachlichen Rat von Christian Wiese, Enrico Donaggio, Steven Aschheim und Rüdiger Bender wäre sie nie geworden, was sie ist; ohne die Ermutigung und Unterstützung von Emmanouela Grypeou, Julia Carls, meiner Frau, meinen Eltern und zuletzt von Hye Young Kim nie fertiggestellt worden. André Munzinger danke ich für den Hinweis auf Schleiermacher, Adelheid Krautter danke ich für das Recht, Löwiths Nachlaß für diese Arbeit auszuwerten und umfangreich zu zitieren. Sowohl fachlichen Rat wie unablässige Unterstützung danke ich in besonderem Maße meiner Großmutter, die, obwohl sie nie ein ordentliches Studium absolvierte und lediglich einen Volksschulabschluß besaß, die einzige war, mit der sich in meiner Familie verständig über Philosophie reden ließ. Sie hat die Fertigstellung der Arbeit nicht mehr erlebt, war aber kurz vor ihrem Tod fest davon überzeugt, daß ich die Promotion geschafft und nebenbei viele Kinder gezeugt habe. Nun, auch daran werde ich arbeiten. Ein besonderer Dank gilt meinen Berliner Ärzten, ohne die die Erfüllung dieser zweiten Aufgabenstellung heute unmöglich wäre – wenn ich überhaupt noch am Leben wäre. Ohne Wilhelm Schmidt-Biggemann, der mich umstandslos als Doktoranden annahm und mir eine akademische Heimat gab als ich eine brauchte, wäre diese Arbeit zwar fertig, aber niemals eine Dissertation geworden. Dieser Dank schließt meinen Zweitgutachter Prof. Bongardt mit ein. Überhaupt konnte diese Arbeit nur geschrieben werden an den Orten, die das Arbeiten in dieser Welt ermöglichen und angenehm werden lassen – besonders hervorzuheben sind das Deutsche Literaturarchiv in Marbach, das Franz Rosenzweig Minerva Research Center an der Hebrew University in Jerusalem, das Barood daselbst, das Koeppen in Greifswald, in Berlin das Szimpla bzw. das Casero; in Lübeck sind es die Stadtbibliothek, die mich manches Mal aus

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höchster Bedrängnis retteten, das Kaffeehaus und das Zolln. Doch ohne die Mitmenschen, die einen prägenden Einfluß auf mich ausübten, hätte die Arbeit noch viel weniger geschrieben werden können. Daher danke ich den Denkern und Lehrern, die ich in meinem Leben bisher kennenlernen durfte; auch ohne direkte inhaltliche Anregungen wäre ich ohne sie nicht geworden, was ich werde. Einige sind im Literaturverzeichnis erwähnt. Unter ihnen wäre besonders HansGeorg Gadamer zu nennen; ungenannt blieben neben anderen Walter Jens und meine Freiburger Philosophielehrerin Barbara Selz. Von ihnen allen wurde mir in mehreren Seminaren eine philosophische und ethisch-moralische Haltung gelehrt, die hoffentlich auch diese Arbeit trägt. Im ganzen gilt, was Bert Brecht in einer seiner Geschichten vom Herrn K. schrieb: Originalität »Heute«, beklagte sich Herr K., »gibt es Unzählige, die sich öffentlich rühmen, ganz allein große Bücher verfassen zu können, und dies wird allgemein gebilligt. Der chinesische Philosoph Dschuang Dsi verfaßte noch im Mannesalter ein Buch von 100.000 Wörtern, das zu neun Zehnteln aus Zitaten bestand. Solche Bücher können bei uns nicht mehr geschrieben werden, da der Geist fehlt. Infolgedessen werden Gedanken nur in eigner Werkstatt hergestellt, indem sich der faul vorkommt, der nicht genug davon fertigbringt. Freilich gibt es dann auch keinen Gedanken, der übernommen werden, und auch keine Formulierung eines Gedankens, die zitiert werden könnte. Wie wenig brauchen diese alle zu ihrer Tätigkeit! Ein Federhalter und etwas Papier ist das einzige, was sie vorzeigen können! Und ohne jede Hilfe, nur mit dem kümmerlichen Material, das ein einzelner auf seinen Armen herbeischaffen kann, errichten sie ihre Hütten! Größere Gebäude kennen sie nicht als solche, die ein einziger zu bauen imstande ist!« Wie leicht wäre es gewesen, und wie verführerisch war es, alles hinzuschmeißen. Ihr alle tragt die Verantwortung dafür, daß es nicht so gekommen ist und ein weiteres Buch auf die Welt losgelassen wurde, in der es nur wenige Leser finden wird. Ihr alle seid verantwortlich dafür, daß ich mich jahrelang mit einem Projekt plagte, an dessen Erfolg ich zeitweise selbst nicht mehr glaubte. Ihr alle seid verantwortlich, daß ich meine Familie, besonders meine Frau, immer wieder hintanstellte, anstatt zu Hause zu sitzen, HartzIV zu beziehen, allen auf den Nerv zu gehen und mich um die Kinder zu kümmern – wie es ein anständiger Geisteswissenschaftler tun sollte. Meine künftige berufliche Karriere wird es Euch danken (oder wohl eher nicht). Ich tue es auch. Es waren alles andere als sorgenfreie, aber erfüllte und sinnvolle Jahre, und das ist ein großes Privileg.

Philosophie Andreas Weber

Sein und Teilen Eine Praxis schöpferischer Existenz August 2017, 140 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3527-0 E-Book PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3527-4 EPUB: 12,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3527-0

Björn Vedder

Neue Freunde Über Freundschaft in Zeiten von Facebook März 2017, 200 S., kart. 22,99 € (DE), 978-3-8376-3868-4 E-Book PDF: 20,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3868-8 EPUB: 20,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3868-4

Jürgen Manemann

Der Dschihad und der Nihilismus des Westens Warum ziehen junge Europäer in den Krieg? 2015, 136 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3324-5 E-Book PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3324-9 EPUB: 12,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3324-5

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Philosophie Hans-Willi Weis

Der Intellektuelle als Yogi Für eine neue Kunst der Aufmerksamkeit im digitalen Zeitalter 2015, 304 S., kart. 22,99 € (DE), 978-3-8376-3175-3 E-Book PDF: 20,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3175-7 EPUB: 20,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3175-3

Franck Fischbach

Manifest für eine Sozialphilosophie (aus dem Französischen übersetzt von Lilian Peter, mit einem Nachwort von Thomas Bedorf und Kurt Röttgers) 2016, 160 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3244-6 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3244-0

Claus Dierksmeier

Qualitative Freiheit Selbstbestimmung in weltbürgerlicher Verantwortung 2016, 456 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3477-8 E-Book PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3477-2 EPUB: 17,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3477-8

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