Vom Verständnis der Natur: Jahrbuch Einstein-Forum 2000 9783050077970, 9783050034843

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Vom Verständnis der Natur: Jahrbuch Einstein-Forum 2000
 9783050077970, 9783050034843

Table of contents :
Zu Beginn
EINE KLEINE UNIVERSITÄT OHNE MAUERN
VON GOTT, DEM MENSCHEN UND DER MASCHINE
ZUR AUFKLÄRUNG VERPFLICHTET
Schwerpunkt: Zum Verständnis der Natur
DIE IKONOGRAPHIE ANTIKER PFLANZENBÜCHER UND DIE ÜBERLIEFERUNG BOTANISCHER KENNTNISSE
WARMBLÜTIGE PFLANZEN UND GEFRIERGETROCKNETE FISCHE
WAS DIE DINGE SAGEN Pierre Laszlo
JENSEITS DER WISSENSCHAFT. DER THEOLOGISCHE HORIZONT DER MODERNEN PHYSIK
DER FORTSCHRITT DER PHYSIK IM SELBSTVERSTÄNDNIS DER PHYSIKER
WISSENSCHAFTLICHE VERLÄSSLICHKEIT UND DIE HERAUSFORDERUNG DER DEMOKRATISCHEN GESELLSCHAFT
Aus dem Hause
Tagungsberichte
»ERBSCHAFT UNSERER ZEIT«
Anhang
AUTOREN DIESES BANDES
NEUE PUBLIKATIONEN DES EINSTEIN FORUMS
ABBILDUNGSNACHWEIS

Citation preview

EINSTEIN

BÜCHER

EINSJEIN F OTTUM

VOM VERSTÄNDNIS DER N A T U R

JAHRBUCH 2000

Akademie Verlag

Die Publikation wurde großzügig unterstützt von IBM Deutschland

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Vom Verständnis der Natur / [Red.: Dr. Matthias Kroß] - Berlin: Akad. Verl., 2001 (Jahrbuch des Einstein Forums; 2000) (Einstein Bücher) ISBN 3-05-003484-x

Redaktion:

Dr. Matthias Kroß

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2001 Alle Rechte vorbehalten. Papier: Schriften: Design: Satz: Druck und Bindung:

alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706 Minion, News Gothic Carolyn Steinbeck, Berlin Forelle media, Berlin Druckhaus »Thomas Müntzer« GmbH, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany.

JAHRBUCH 2000 Z U M V E R S T Ä N D N I S DER N A T U R

Zu Beginn

GarySmith Sigrid Weigel SusanNeimann

9 E I N E KLEINE U N I V E R S I T Ä T OHNE M A U E R N 13 V O N G O T T , D E M M E N S C H E N U N D D E R M A S C H I N E 19 Z U R A U F K L Ä R U N G

VERPFLICHTET

Schwerpunkt: Zum Verständnis der Natur Sergio Toresella

31 D I E I K O N O G R A P H I E A N T I K E R

PFLANZENBÜCHER

UND D I E Ü B E R L I E F E R U N G B O T A N I S C H E R Freeman }. Dyson

KENNTNISSE

57 W A R M B L Ü T I G E P F L A N Z E N UND GEFRIERGETROCKNETE FISCHE

RoaldHoffmann

75 W A S D I E D I N G E S A G E N

Pierre Laszlo John C. Polinghome

i n JENSEITS DER W I S S E N S C H A F T . D E R THEOLOGISCHE HORIZONT DER MODERNEN

Erhard Scheibe

127 D E R F O R T S C H R I T T D E R P H Y S I K IM SELBSTVERSTÄNDNIS DER P H Y S I K E R

Isabelle Stengers

149 W I S S E N S C H A F T L I C H E V E R L Ä S S L I C H K E I T UND DIE H E R A U S F O R D E R U N G DER D E M O K R A T I S C H E N GESELLSCHAFT

PHYSIK

Aus dem Hause 175

TAGUNGSBERICHTE

191 » E R B S C H A F T U N S E R E R

ZEIT«

Anhang 196 A U T O R E N D I E S E S

BANDES

198 N E U E P U B L I K A T I O N E N D E S E I N S T E I N 199

ABBILDUNGSNACHWEIS

FORUMS

Zu

BEGINN

REDEN ZUR A M T S E I N F Ü H R U N G VON PROF. D R . S U S A N N E I M A N N A M 12. 10. 2 0 0 0

Gary Smith

EINE KLEINE UNIVERSITÄT OHNE

V

MAUERN

V ir sind heute zusammengekommen, um den Beginn einer neuen

Etappe in der Arbeit des Einstein Forums zu markieren, und ich möchte es mir deshalb versagen, in persönlichen Erinnerungen zu schwelgen. Über das künftige Konzept werden wir gewiß mehr von der neuen Direktorin selbst hören können. Gestatten Sie es mir, daß ich in meinem Beitrag zu diesem wichtigen und schönen Tag ebenfalls nur auf das Konzeptionelle zu sprechen komme. Was war es eigentlich, was wir damals intendierten und was schließlich in seiner Realisierung dem Einstein Forum und seiner Bindung an Potsdam etwas Spezifisches in der Welt des Geistes gab? Ich glaube, es lag vor allem daran, daß wir mit einer neuen Haltung und einer anderen Erwartung an die Vermittlung des akademischen Wissens herangingen. Traditionell kam das Wissen in zwei Aggregatzuständen vor: einmal in der geschlossenen Welt der Universitäten als Diaoder Plurilog der Forscher untereinander (vornehmlich jeweils in einer Disziplin); und auf der anderen Seite in der Form einer Popularisierung, wie sie etwa im journalistischen Sachbuch oder in der populärwissenschaftlichen Zeitschrift stattfindet. Der Gelehrte selbst trat eigentlich nicht vor ein sich frei konstituierendes Publikum, und er tauschte sich nicht auf dem Niveau seiner Forschung öffentlich aus. Das Einstein Forum begann mit der vielleicht arroganten Überzeugung, daß der Gelehrte sehr wohl eine Öffentlichkeit außerhalb der Universitäten finden kann und daß er dabei an der Qualität seines Denkens keine Abstriche und Konzessionen vor dem gefürchteten populären Verständnis machen sollte. Wir glaubten an eine Universität ohne Mauern, an eine GelehrtenAbb. Albert Einstein (ca. 1923) auf der Terrasse. Bisher unveröffentlichte Fotografie von Emil Orlik ( 1 8 7 0 - 1 9 3 2 )

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G A R Y

S M I T H

republik, die sich aus interessierten Individuen konstituiert, und wir fragten nicht danach, ob dieses Publikum aus dem Hörsaal, von der Straße oder aus dem Ruhestand zu uns kam. Wenn man dem Konzept Einstein Forum im Laufe seines Bestehens eine bestimmte Originalität zugestanden hat, dann ist es meiner Ansicht nach im Kern diese Überschreitung und dieses Verlassen des akademischen Raums. Seltsamerweise war das erfolgreich und wurde von genügend Menschen verstanden. Wir hatten aber noch eine zweite Überzeugung, und sie ließ sich unmittelbar aus der ersten ableiten: Wenn diese Institution keine Kompromisse an die Verständlichkeit und an die oberflächliche Aktualität des öffentlichen Interesses machen sollte, dann durfte sie auch nicht das Image eines Völksbildungsvereins anstreben. Wir gaben deshalb auch den Werbemaßnahmen für unsere Veranstaltungen den gleichen Charakter, der unsere Haltung zum Akademismus bestimmte. Wir warben für das, was wir zu bieten hatten, mit vergleichsweise witzigen und anspruchsvollen Stilformen, die es weder in der akademischen Welt noch in den populären Medien der Verständlichkeit gab. Zu unserem Erkennungszeichen wurde ein dreimal im Jahr verschicktes Programmplakat, das mit Fotografien prunkte, die in einem so großen Spannungsverhältnis zu unseren Veranstaltungsthemen standen, daß man sie beim besten Willen nicht als deren visuelle Deutung lesen konnte. Auch in den Tagungsbroschüren lag stets eine kleine Provokation, weil unsere Bildwelt den sinnsuchenden Empfänger durch das Labyrinth erhabener Assoziationen schickte und ihn am Ende ins Reich einer fröhlicheren Wissenschaft entließ. Vielleicht war das auch der Grund, warum unsere Poster gesammelt und von manchem Schwarzen Brett gestohlen werden. Der akademische Klatsch, den unsere Programme provozierten, ließ jedenfalls das Einstein Forum in fernen Köpfen und an entlegenen Orten überlebensgroß werden. Und wenn wir davon erfuhren, stellte sich bei uns manchmal das ungute Gefühl ein, daß wir vielleicht nur auf Pump auf unsere künftige Größe überlebten. Umso schöner ist es, an diesem Wendepunkt in der Geschichte des Forums gemeinsam feststellen zu können, daß das Einstein Forum eine wirkliche Statur gewonnen hat und daß es keineswegs nur die Kleider waren, die hier Leute gemacht haben. Es war der ständig zunehmende Dialog internatonaler Gelehrter, der den Ruf des Einstein Forums hier, in der medialen Reaktion und im Ausland gefestigt hat. Gestatten Sie mir, daß ich dafür nicht nur den Mitarbeitern und den

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EINSTEIN FORUM JAHRBUCH 2000 Z U M V E R S T Ä N D N I S DER N A T U R

EINE KLEINE

UNIVERSITÄT

OHNE

MAUERN

Wissenschaftlern danke. Denn es ist mir ein Bedürfnis, auch die Erinnerung an die Weitsicht der politischen Kräfte wachzuhalten, die nach der Wende hier, in der vergleichsweise kleinen Stadt Potsdam, deren Häuser an manchen Stellen der Stadt noch von den Einschüssen des letzten Krieges gezeichnet sind, den Mut fanden, trotz aller drängenden wirtschaftlichen Probleme diese Institution zu gründen und sie finanziell über die Jahre wachsen zu lassen. Ich danke für dieses Bekenntnis zur Internationalität des Denkens und für das große Vertrauen, das Sie zugleich mir, einem doch wirklich unbekannten Amerikaner in Deutschland, entgegenbrachten. Und ich wünsche Susan Neiman, die eine ausgewiesene und international anerkannte Kollegin ist, daß ihr zusätzlich zu ihrer viel größeren Erfahrung und Kompetenz auch dieses Vertrauen und dieses Bekenntnis des Landes Brandenburg erhalten bleibt.

Sigrid Weigel

V O N G O T T , DEM M E N S C H E N UND DER M A S C H I N E

A

ls Norbert Wiener, der fünfzehn Jahre zuvor mit seinem Buch

Cybernetics or Control and Communication

in the Animal and the Machine ein intellektuelles

Feuerwerk ausgelöst hatte, 1965 sein Buch Gott & Golem Inc. zusammenstellte, schrieb er in der Nachbemerkung: »Da ich darauf bestanden habe, die schöpferische Aktivität unter einem einzigen Titel zu diskutieren und nicht getrennt nach den Gebieten, die Gott, den Menschen und die Maschine betreffen, glaube ich nicht, daß ich mir mehr herausgenommen habe als die normale Freiheit eines Schriftstellers, wenn ich diesem Buch den Titel gebe: Gott & Golem Inc.«' Diese Entschuldigungsrhetorik, die gerade in den faszinierenden Publikationen aus dem Wissenschaftsbetrieb nicht selten anzutreffen ist, ist mehr als eine Floskel, sie ist Symptom. Sie zielt auf jene Verfassung akademischer Traditionen, die bereits Walter Benjamin als »Gebietscharakter« der Wissenschaften karikiert hat: die Trennung des Wissens in Segmente von Zuständigkeiten, fachspezifischen Gegenständen und Spezialsprachen; die Disziplinierung der wissenschaftlichen Neugier im Medium der Disziplinen. Diese Struktur scheint so fest zu sein, daß Wiener für deren Überschreitung das große Wort der Freiheit bemühen mußte, allerdings »die normale Freiheit eines Schriftstellers«, womit die Literatur einmal mehr als das andere der Wissenschaften und als buchstäblicher Frei-Raum definiert wird - um den hohen Preis, als Medium des Wissens nicht wirklich ernst genommen zu werden. Wenn Norbert Wiener seine Vorträge dreißig Jahre später im Einstein Forum hätte halten können, dann hätte er auf diese Formel nicht nur verzichten können, sondern er hätte darauf verzichten müssen. In Potsdam, A m Neuen Markt Nr. 7, herrscht nämlich ein genau umgekehrtes Gebot. Hier darf über Gott, den Menschen und die Maschinen nur unter der Bedingung diskutiert

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SIGRID

WEIGEL

werden, daß dabei keine Rücksicht auf die Grenzen universitärer Fachwissenschaften genommen wird. Gefordert ist vielmehr die Offenheit für ein Gespräch - nicht mit »Vertretern« anderer Fächer, sondern mit anderen, deren Denken sich von ganz anderen Wissenskulturen und -kontexten herleitet. Denn das ist die Crux oder der Klotz am Bein jeder Form von »Interdisziplinarität«, daß die Beteiligten sich gerade darin als Vertreter ihrer Disziplin fühlen und diese glauben legitimieren und verteidigen zu müssen - und zwar meist weit stärker, als das im fachinternen Kreis üblich ist. Ein Vorbild dagegen für ein inspiriertes Gespräch findet sich - in der Literatur, in John L. Castis Das Cambridge Quintett (1998) mit dem schönen Untertitel Eine wissenschaftliche Spekulation. In seinem Buch läßt der Autor, der Mathematiker Casti, den Physiker Charles P. Snow im Jahre 1949 in Cambridge ein Abendessen veranstalten, zu dem er Alan Turing, Ludwig Wittgenstein, Erwin Schrödinger und John B. S. Haidane einlädt, um mit ihnen über Gott, den Menschen und die Maschine zu diskutieren, indem er ihnen die Frage vorlegt: »Ist die Konstruktion einer denkenden Maschine möglich, und sei es auch nur grundsätzlich? Oder gibt es da logische, philosophische und/oder technische Hindernisse, die dem Bau eines solchen Geräts im Wege stehen werden?«2 Casti schreibt sein Buch einem neuen Genre zu, das er »Wissenschaftsfiktion« nennt. Nicht Science fiction, eine Gattung, die lange Zeit als Ideengeber für besonders faszinierende und teils auch aberwitzige und monströse Träume vom Fortschritt der Wissenschaften diente, heute aber an ein Ende gekommen zu sein scheint, weil die Sciences die Fiction längst überholt haben. Und auch nicht Science in fiction, eine Gattung, mit der jüngst der Chemiker und Nobelpreisträger Carl Djerassi, der Erfinder der Anti-Baby-Pille, Bestsellererfolge erzielt, indem er Abenteuer-, Kriminal- und Liebesgeschichten aus der Welt der Laboratorien und Kongresse erzählt: »LabCrime and -Lovestories«. Wenn Casti von Wissenschaftsfiktion spricht, dann geht es um den Entwurf - oder Traum - eines intellektuellen Austausches - vielleicht eher von Denkern als von Wissenschaftlern. Zwar kann das Einstein Forum mit dem traditionellen britischen Ambiente vom Christ's College in Cambridge nicht ganz mithalten, aber an etlichen Sommerabenden, als man nach einem Vortrag oder in der Pause eines Symposiums hier im Hof oder auf dem Platz draußen zusammenstand, meinte schon manch ein Besucher, daß das hiesige Ambiente mit seiner eigentümlich preußisch-italienischen Mischung durchaus seinen eigenen Reiz habe und mit prominenten

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V O N GOTT, D E M

MENSCHEN

UND

DER

MASCHINE

akademischen Plätzen anderswo konkurrieren könne. Um aber mit dem Menü der Snowschen Dinnereinladung konkurrieren zu können, bräuchte das Einstein Forum nicht nur einen höheren Etat, es müßte auch sein Prinzip der offenen Tür für jedermann und jedefrau, egal ob Wissenschaftler oder nicht, aufgeben. Für den Zuspruch eines so heterogenen Auditoriums, wie es seit Jahren nach Potsdam kommt, wird also die Wein-mit-Brezel-Variante gern in Kauf genommen. Doch was die Form des Gesprächs betrifft, so ist das Einstein Forum im Laufe seines über siebenjährigen Bestehens tatsächlich zu einem Ort für Wissenschaftsfiktionen im Sinne Castis geworden. Und vielleicht wird eines Tages auch ein Buch mit dem Titel Das Potsdam Quintett

geschrie-

ben werden. Der Ort der Handlung wäre leicht zu bestimmen: Es wäre vorzugsweise das SommerHaus Albert Einsteins in Caputh, wo das Einstein Forum nicht nur Diskussionsrunden mit Benoit Mandelbrot, Iannis Xenakis und Friedrich Cramer zur Chaostheorie oder mit Nicole Loraux, Gabi Motzkin und anderen zur Kultur des Vergessens veranstaltet hat, sondern wo nach Abschluß manches Symposiums auf Einsteins Terrasse beim Lunch die Gespräche unter den Referenten noch viele Stunden fortgesetzt wurden. Schwieriger wäre es, die dramatis personae zu bestimmen, denn die Liste der Wissenschaftler, die an hiesigen Projekten beteiligt waren, ist derart lang, daß jede (Aus)Wahl zur Qual würde. Und auch was das Thema betrifft, ist das Angebot eher zu reichlich, seien es Tagungen zur Kultur der Evidenz, zum Zusammenhang von Amnestie und Politik, zu den Bildern des Wissens, zu Genealogie und Genetik oder zu den Mikrostrukturen des Wissens in Natur- und Kulturwissenschaften. Dabei ist die Bestimmung der Themen für einen realexistierenden Ort, an dem Wissenschaftsfiktion erprobt wird und der sich als Laboratorium epistemischer Experimente versteht, natürlich sehr viel heikler. Im fünfzigjährigen Blick zurück, der die literarische Anlage von Castis wissenschaftlicher Spekulation begründet, ist es leicht möglich, die damals entscheidende Fragestellung zu profilieren, den leuchtenden Stein aus dem manchmal auch trüben Strom der Wissenschaftsgeschichte herauszufischen. Aber wie wird bestimmt, welches die derzeit schillernden, bedeutsamen und zukunftsweisenden Fragen sind? Ist es der Bürgerkrieg zwischen Robotern verschiedener Labels, ist es die Frage, ob die DNS-Computer die Elektronik überflüssig machen, oder ist es die Kartierung des Traumalphabets in den Hirnregionen? Im Interesse eines Scharfblicks für die innovativen Fragenden bedarf es jener Distanz, in der eine Einrichtung wie das Einstein Forum zum Normal- und Alltagsbetrieb der Wissenschaften steht.

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S I G R I D

W E I G E L

Dazu bedarf es genau jener institutionellen Autonomie, durch die die Diskussionen im Einstein Forum sich frei machen können von Rücksichtnahmen auf fachwissenschaftliche Konsensbildungen und von Opportunismen gegenüber Personen und Institutionen - eine der existentiellen Voraussetzungen, um das enorme Zeitquantum an Langeweile und Leerlauf zu reduzieren, das man im normalen Universitätsbetrieb aus Höflichkeit oder Kollegialität über sich ergehen lassen muß. Und obwohl inzwischen zahlreiche interessante, auch interdisziplinäre Zentren, Sonderforschungsbereiche, Kollegs, Institute und Akademien existieren, die die eingefahrenen Gleise der Disziplinen verlassen haben, so sind solche Orte wie das Einstein Forum dennoch unverzichtbar. Die spezifische, ganz eigene Chance der Einrichtung hängt nämlich an ihrem peripheren und ephemeren Charakter, vermutlich auch daran, daß es sich um eine relativ kleine Einrichtung handelt. Warum ephemer? Weil hier auch über Themen diskutiert werden kann, aus denen nicht ein fünfjähriges, zwanzigköpfiges Forschungsprojekt folgen muß, ist eine Form des Experimentierens und des Probedenkens möglich, gleichsam eine Recherche vor der Recherche. Es ist möglich, Zusammenhänge im Gespräch mit Experten zu erproben und auf ihre Tragfähigkeit hin zu beleuchten, wie beispielsweise unser Versuch im letzten Sommer, zum Thema Der liebe Gott steckt im Detail Wissenschaftler u. a. aus Biologie und Physik, aus Philosophie und Mathematik, aus Kunstgeschichte und Informatik, aus Nanotechnologie und Kriminalistik zusammenkommen zu lassen, um für ein paar Tage ein virtuelles Laboratorium zu eröffnen, in dem das Konzept des »Details« seine Reichweite als Forschungsparadigma unter Beweis stellen mußte. In einer Experimentiersituation aber - und das ist ihre enorme Chance - sind auch Negativbefunde erlaubt, es darf auch etwas beiseite gelegt und für untauglich befunden werden. Warum peripher? Vielleicht gerade aus der Lage etwas am Rande der IC- und EC-Strecken zwischen den Universitätszentren erwächst dem Einstein Forum die Chance, in einer relativ überschaubaren Runde und in konzentrierter Form, fernab vom repräsentativen Procedere abspulender Vortragsserien auf akademischen Großveranstaltungen jene Gesprächsform zu entwickeln, in der auch Ungeklärtes, Unabgesichertes zur Sprache kommen kann. Hier kann eine Kultur der gemeinsamen Erörterung und Kreativität entwickelt werden, die Voraussetzung jeder Wissenskultur sein sollte. Dabei es geht hier ja nicht darum, jene »sieben Welträtsel« zu bestimmen, für die Emil Du Bois-Reymond 1880 in seiner berühmten Rede bei der Leibniz-Feier der Akademie der Wissen-

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V O N GOTT, D E M M E N S C H E N U N D D E R

MASCHINE

Schäften die Vorlage geliefert hat und die - ohne sein Zutun - die Vortragsgattung einer Bilanzierung ungelöster, grundlegender Fragen der Forschung in Gang gesetzt hat, von denen dann jahrhundertweise einige als erledigt abgehakt werden können. Und es geht auch nicht darum, solche umfassenden Perspektiven zu entwickeln, wie Hermann von Helmholtz sie 1861 in seiner Heidelberger Antrittsrede zum Thema »Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesamtheit der Wissenschaft« erörtert hat. Denn der Konzepte für das »Ineinandergreifen« der verschiedenen Fächer - oder um es altmodischer mit Helmholtz zu sagen, dafür, wie »die Facultäten Hand in Hand gehen« können, sind seit und nach Helmholtz sehr viele entwickelt worden. Es ist auch viel und trefflich über die zwei und mehr Kulturen und über Wege und Umwege gesprochen worden, den Abgrund zwischen ihnen zu überwinden. Doch die Brückenköpfe, die dafür gebaut wurden, sind wenige geblieben. Vielleicht müssen sie vom Format her so klein sein wie das Einstein Forum - um solche Szenarien der Wissenschaftsfiktion zu gestalten, wie Casti sie in seinem Cambridge Quintett erfunden hat, und zwar hier und jetzt, und nicht nur im Feld der literarischen Fiktion. Insofern möchte ich meine zweijährige Arbeit am und für das Einstein Forum mit dem Plädoyer schließen: Die deutsche Wissenschaftslandschaft braucht viele Einstein Foren!

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SIGRID

WEIGEL

ANMERKUNGEN i Norbert Wiener: Gott & Golem Inc., Düsseldorf, Wien 1965, S. 125.

2 John L. Casti: Das Cambridge Quintett. Eine wissenschaftliche Spekulation, München '2000, S. 57.

Susan Neiman

ZUR AUFKLÄRUNG

VERPFLICHTET

A ls wir über die Gestaltung dieser Veranstaltung sprachen, waren wir uns alle einig: Daß wir uns gegenseitig in einem fort danken, hält kein Mensch aus. Und trotzdem will ich Sie noch um etwas Geduld bitten. Denn ich habe zu danken - zunächst natürlich meinen Vorrednern, die mich so freundlich dem Publikum vorgestellt haben, daß ich nur ich nur versuchen kann, Ihren Vorstellungen gerecht zu werden. Lassen Sie mich sodann dem Land Brandenburg dafür danken, das sehr bald nach seiner Gründung - trotz aller anderen Herausforderungen der Zeit - mit dem Einstein Forum ein Zeichen zu setzen wagte. Mit dem Einstein Forum ist Brandenburg weit über die deutschen Grenzen hinaus bekannt geworden, nicht nur als ein Ort der internationalen interkulturellen Begegnungen, der schon bald richtungsweisend werden sollte, sondern auch als ein Zentrum, in dem neue Denkformen ausprobiert werden können. Als nächstes gehört mein Dank dem Kuratorium, insbesondere Herrn Professor Eberhard Lämmert, der sicher einen erheblicheren Anteil an der Entstehung des Einstein Forums hatte, als er selber zugibt. Darüber hinaus möchte ich meine Bewunderung für ein Kuratorium ausdrücken, dessen Mitglieder vorbildliche Gestalter der Wissenschaftslandschaft sind. Für die Gelegenheit, von solchen Menschen lernen zu können, bedanke ich mich sehr. Der Gründungsdirektor des Einstein Forums, Gary Smith, hat das Haus so sehr geprägt, daß man immer mit Überraschung erfährt, daß nicht alle Impulse von ihm ausgingen. In einer Zeit, in der nur Kürzungen an der Tagesordnung waren, hat er aus einem Keller ein Institut gezaubert wohl weil er verstanden hat, ein lebendigeres, fröhlicheres Wissenschaftsbild zu vermitteln, als man gewohnt ist, und das nicht nur hierzulande. Sigrid Weigel hat trotz großer Arbeitsbelastung das Einstein Forum weit über den von ihr erwarteten Zeitraum hinaus betreut und durch stürmische

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S U S A N N EI MAN

Zeiten sicher ans Land gesteuert. - Aber an erster Stelle gehört mein Dank den Mitarbeitern, die immer dafür sorgen, daß alles im Haus tatsächlich stimmt: Aus guten Ideen werden tragfähige Konzepte, aus unterschiedlichen Erwartungen zufriedene Gäste, aus bescheidenen Mitteln entsteht ein Haushalt, der nie überzogen wird. Ihnen zusammen gebührt mein Dank dafür, daß ich vor anderthalb Jahren in einem Tel Aviver Strandcafe vier Stunden lang aufs Meer blickte, in tiefster Verzweiflung. Zwar wurde ich bereits von einem Kollegen gefragt, ob ich mich für die frei werdende Leitung des Einstein Forums interessiere. »Spinnst du?« war so ungefähr meine Antwort, denn if h hatte mich und meine Kinder erst vor einigen Jahren nach Israel gebracht, wollte nicht an einen neuen Umzug auch nur denken. Zum Glück, meine ich inzwischen, hat ein anderer Freund kurz danach gefragte, ob ich eigentlich genau wüßte, was ich ohne weiteres auszuschlagen bereit war. Und je mehr ich über das Einstein Forum erfuhr, desto verzweifelter wurde ich, denn mit jeder Auskunft wurde deutlicher, daß es um eine Institution ging, die ich selber gerne erfunden hätte. Denn an solch einem Ort, so wurde mir klar, könnte ich die Eigenschaften am besten einsetzen, die mein eigenes Leben geprägt haben. Das Einstein Forum ist nämlich gerade den Zwischenbereichen gewidmet, in denen ich mich selber seit zwanzig Jahren bewege. Es lebt zunächst von seiner Internationalität. Bislang lagen seine Akzente auf den drei Kulturen, der deutschen, amerikanischen und der jüdischen, in denen ich trotz aller Liebe nicht zu Hause bin und wohl nie gänzlich zu Hause sein werde. Die Konstellation ist nicht beliebig, auch wenn wir uns auf andere Länder und Wissenskulturen hin öffnen möchten, denn die drei Kulturen stehen für eine Idee des Kosmopolitischen, die das Einstein Forum weiter fördern wird. Genauso wichtig ist die Interdisziplinarität, die Erkenntnis, daß die Fragen, die die Wissenschaft in Zukunft leiten werden, selten auf ein Fach begrenzt werden können. Daß die Wissenschaften jeden Tag internationaler und interdisziplinärer werden und auch werden sollen, ist inzwischen so oft gesagt worden, daß Sie sicherlich gleich einschlafen möchten - bis Sie sich überlegen: Wo werden solche Werte gefördert? Prüfungsarbeiten werden begutachtet, Stellen vergeben, Artikel und manchmal auch Bücher werden veröffentlicht; dies geschieht alles abhängig davon, ob der Verfasser sein Spezialgebiet beherrscht. Dies muß auch der Fall sein, denn sorgfältiges Erlernen eines begrenzten Gebietes ist Baustein für jeden fundierten Wissenschaftsbegriff. Wissenschaft fordert Strenge, Teilung, Konzentration, Rückzug auf das eigene Terrain. Das hat aber zur Folge, daß die Eigenschaften, nach denen

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ZUR A U F K L Ä R U N G

VERPFLICHTET

gerufen wird, und das über die Fachgrenzen hinaus Zielende oft außer Acht bleiben, manchmal gar verdächtig erscheinen. Das Einstein Forum ist ein Ort, dessen Aufgabe nicht darin besteht, einen bestimmten Themenbereich zu erarbeiten, sondern gerade die Qualitäten zu fördern, die notgedrungen von fachspezifischen Instituten weniger beachtet werden. So können wir uns leisten, das zu belohnen, was anderswo zwar gefragt, in der Praxis aber oft bestraft wird. Ich fasse die Aufgaben des Einstein Forums unter dem Begriff der Aufklärung zusammen, zu der ich selber seit Jahren stehe. Damit meine ich nicht die historische Epoche, mit der ich mich wissenschaftlich beschäftige. Meine eigenen historischen Recherchen hatten immer normativen Ziele, nämlich einen belastbaren Begriff der Aufklärung herauszuarbeiten, der sowohl philosophischer Kritik wie auch manchem historischen Scheitern stand hält. Dies ist und bleibt eine Aufgabe, die zu bewältigen mir noch bevorsteht. Selbst wenn ich Ihnen eine vollständige Antwort auf die Frage »Was heißt Aufklärung?« heute Abend geben wollte, könnte ich es nicht tun. Statt dessen möchte ich einige Worte darüber sagen, was die Aufklärung und das Einstein Forum miteinander verbindet. Daß beide vom Austausch leben, der über nationale und fachliche Grenzen hinausgeht, liegt auf der Hand. Solche Grenzen waren in der Zeit der klassischen Aufklärung gerade in der Entstehung. Zwar würde heute niemand den Wunsch zu äußern wagen, der »Einstein des Geistes« genannt zu werden, wie damals viele sich danach sehnten, der »Newton des Geistes« zu werden. Wenn wir uns aber beispielsweise darüber klar werden, daß kein geringerer als Jean-Jacques Rousseau dazu gekürt wurde, werden unsere eigenen Voraussetzungen und Strategien klarer. Noch wichtiger als der Austausch zwischen Kulturen und Wissensgebieten ist der Austausch zwischen der Wissenschaft und einer breiten Öffentlichkeit, der die eigentliche Aufgabe des Einstein Forums bildet. Dies wird immer unternommen in der Hoffnung, um Jean Amery zu zitieren, daß »heute noch, nicht weniger als in den Tagen der Enzyklopädisten, Kenntnis zur Erkenntnis führt und diese zur Sittlichkeit.«1 — Sonst könnte man ja zu Hause bleiben. Gerade diese Aufgabe wird häufig mit Skepsis betrachtet. Lehrt die Aufklärung von oben herab, und wenn ja: mit welchem Recht? Und wenn sie das Recht für selbstverständlich hält, wird sie dann nicht zu bloßer Pädagogik? Anders gefragt: Wenn das Einstein Forum sich die Aufgabe stellt, Wissen einem breiten Publikum zu vermitteln, was unterscheidet es von einer Bildungseinrichtung?

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SUSAN

NEIMAN

Zur Aufklärung als Weltanschauung zu stehen heißt natürlich auch, aus den Fehlern der historischen Aufklärung zu lernen - und von Kant vor allem lerne ich immer wieder. Sein Hauptversuch, sein System für die Öffentlichkeit vereinfachend zusammenzufassen, ist durchaus gescheitert. Sein Buch Prolegomena zur einer jeden künftigen Metaphysik ist zwar ein lehrreiches Werk (das ich erst verstand, als ich dabei war, mein eigenes Buch über Kant abzuschließen). Als eine Einführung in die kantische Philosophie, wie sie überall auf der Welt angeboten werden, taugt es kaum. Kant hat uns aber andere Beispiele gegeben, wie ein Wissenschaftler mit der »gemeinen Leserwelt«, wie er zu sagen pflegte, zusammenkommt. Sie finden sich in zahlreichen Texten, die er in der Berlinischen Monatscfori/iveröffentlichte, die damalige Version der New York Review ofBooks. (Die bekannteste davon ist natürlich die Schrift Was heißt Aufldärung? selbst) Oft von aktuellen tagespolitischen Ereignissen ausgehend, führten sie weit darüber hinaus, denn die Texte sind keine Vereinfachung seiner Werke, sondern Ergänzungen. Immer dann, wenn der Wissenschaftler nicht vom Himmel schaut, sondern sich als engagierter Teil einer Gesellschaft versteht, entsteht Aufklärung, wie sie sein soll. Das Einstein Forum bietet folglich keine fertige Vereinfachung von »echtem« Wissenschaftsbetrieb, da dies sowieso meist mißlingt. Wir bleiben vielmehr ein Ort, wo Wissenschaftler selber die Möglichkeit haben, ihre eigenen Grenzen auszuloten, damit Ideen durch Auseinandersetzungen entstehen. Gegenseitiges Lernen sollte als Prinzip selbstverständlich sein, und zwar auf allen Seiten. Manchmal höre ich aber eine Stimme, die sicherlich als Lob gemeint ist: Das Einstein Forum ist schön, weil es uns vor der trockenen, sogar öden deutschen Wissenschaft bewahrt. - Selbstkritik ist immer gut. Doch da ich selber die Vorteile unterschiedlicher Wissenskulturen genossen habe, möchte ich auf keinen Fall die deutsche Wissenschaft entbehren, wohl aber dazu beitragen, daß sie sich etwas auflockert. Hier war ein Gespräch mit einem sehr geschätzten deutschen Kollegen für mich erhellend, der darüber erstaunt war, daß ich mich sehr nach einer Atmosphäre sehnte, die oft in Harvard zu finden war - wo gerade die bekanntesten Professoren sich gegenseitig in ihren Seminaren besuchen oder erste Fassungen ihrer Texte lesen und kritisieren. Der deutsche Kollege gestand, daß ihm manche Podiumsdiskussionen unangenehm seien, denn er fand sich öfters in einer ihm peinlichen Situation: Was tun, wenn der andere einen Fehler macht? »Korrigieren natürlich!« habe ich geantwortet, »möchtest du nicht korrigiert werden, wenn Du Fehler machst?« Ihm war das nicht so ganz geheuer. Ich glaube aber, man muß aber von dem ausgehen, wovon selbst Sokrates ausging: daß man auch Fehler macht.

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ZUR AUFKLÄRUNG

VERPFLICHTET

Aufklärung verstehe ich als einen Prozeß, der nur in der Auseinandersetzung nach allen Seiten stattfinden kann. So kann sie n u r durch formelle Kriterien definiert werden, nicht durch bestimmte Themenbereiche, die ihre Freiheit zur Kritik - auch zur Selbstkritik - einengen könnten. Genauso muß das Einstein Forum sich konsequent verweigern, sich auf ein bestimmtes Wissensgebiet zu beschränken. Unsere Handschrift wird in unserer Arbeitsweise erkennbar, nicht anhand vorgegebener Themen. Ich kann aber schon jetzt einen kleinen Einblick anbieten, welche Themen mir zur Zeit am Herzen liegen und die in den nächsten Jahren aufs Programm gesetzt werden sollen. So wird es eine Tagung mit dem Thema »Zum Glück« geben. Weiterhin planen wir, Einstein zu ehren mit einer Tagung über neuste Zeitforschung. Zudem ist eine Konferenz zum Verständnis des Begriffes der Intention geplant sowie eine Tagung zu der Frage der moralischen Begriffe in der Literatur- und Geschichtsschreibung. Genauere Auskunft kann ich schon heute über andere Projekte geben, die in unmittelbarer Zukunft realisiert werden. Ich freue mich sehr, hier zwei große Vortragsreihen ankündigen zu können, die in Zusammenarbeit mit zwei äußerst wichtigen Institutionen veranstaltet werden. Mit dem Haus der Kulturen der Welt in Berlin werden wir eine Reihe zum interkulterellen Dialog eröffnen. Wir wollen dabei nicht nur die Notwendigkeit solcher Dialoge betonen (dies bedarf, leider Gottes, keines Beweises), sondern konkrete Beispiele dafür präsentieren. So werden wir Wissenschaftler, aber auch Schriftsteller vorstellen, die unterschiedliche Perspektiven und Hintergründe zu ihrer eigenen Kultur darstellen werden. Im Frühjahr 2001 wird dann eine Reihe in Zusammenarbeit mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft eröffnet, die an die so erfolgreich von Gary Smith mit der Berliner Festspiele G m b H veranstaltete Reihe »Erbschaft unserer Zeit« anknüpft, die nach fünf Jahren im Dezember 2000 zu Ende geht. Anders als dieser Reihe wird der neuen Vortragsreihe ein formelles Kriterium auferlegt: Eingeladen sind jeweils zwei Wissenschaftler, die unterschiedlichen Generationen zugehören. Im Vordergrund stehen Fragen wie: Welche Aufgaben sind heute die dringendsten, welche Kämpfe müssen wir ausfechten, von welchen Standpunkten geht man dabei aus? Indem wir Antworten von zwei Generationen von Wissenschaftlern beispielsweise zu den aktuellen Forschungsgebieten wie Genforschung oder Geschichtsschreibung präsentieren, glauben wir, einen neuen Blick in der jeweiligen Wissenschaft anbieten zu können.

EINSTEIN FORUM TAHRBUCH 2000 Z U M V E R S T Ä N D N I S DER N A T U R

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S U S A N

N E I M A N

Als drittes Projekt möchte ich schließlich einen Workshop erwähnen, in dem Michael Walzer zusammen mit anderen Politikwissenschaftlern und Philosophen seine Forschungen zum Thema The fewish Political Tradition diskutieren wird. Hier geht es mir nicht nur um den Inhalt dieses umfangreichen Werkes, sondern auch um eine Tagungspraxis, die sich seit Jahren in Jerusalem bewährt hat. Dort werden Einzelvorträge mit Diskussionen und kritischem Lesen ausgewählter Texten variiert. So wollen wir andere Formen der Wissenschaftsvermittlung ausprobieren, die das Denken immer wieder zum Leben bringt. Sie sehen schon: Wir stehen auf Dialog, Auseinandersetzung, sogar auf Streitgespräche, wenn sie dem Denken dienen. Was alle oben genannten Projekte auszeichnet, ist ein Ideal der Zusammenarbeit, in der Organisation wie im Programm. Dieses Ideal hat das Einstein Forum immer geprägt, und es wird in Zukunft noch lauter betont. Denn ein Hauptverdienst der Aufklärung war es, Wissenschaft als Zusammenarbeit erst bewußt begriffen zu haben. Dies steht zusammen mit der Einsicht, daß die oft verschmähte Vernunft die einzige Möglichkeit ist, einem öffentlichen intellektuellen Raum zu schaffen. Bekenntnis zur Vernunft setzte ich, gegen Kant, nicht mit der Suche nach einem System gleich. Die Zeiten sind vorbei, wo man mit gutem Gewissen hoffen durfte, Wissen in einem System zusammenzufassen, und Aufklärung wehrt sich immer gegen Nostalgie. Auf Vernunft zu bestehen heißt für mich eher, wie Hannah Arendt es in ihrem Buch über Rahel Varnhagen formulierte, sie als einen Garanten dafür zu betrachten, daß man nicht nur sich selbst, so wie man nun einmal ist, und den Mächten ausgeliefert bleibt. Das Einstein Forum lebt nicht nur von den Ideen seiner Leitung, sondern von einer Vielfalt von Ideen - seien es die der wissenschaftlichen Mitarbeiter, des Beirats, oder manchen Freundes des Hauses, der mit einer guten Idee und einem Vorschlag zur Zusammenarbeit zu uns kommt. Auch deshalb ist es unmöglich, die bisherige Arbeit des Einstein Forums auf einen einzigen Begriff zu reduzieren, und dies wird weiterhin so bleiben. Doch wenn ich die Denkrichtung der letzten Jahre zusammenfassen soll, fallen immer wieder zwei gute Geister auf - bei beiden meiner Vorgänger, so unterschiedlich sie auch selber sind: Walter Benjamin und Gershom Scholem. Sie werden weiter, so hoffe ich, ihren Segen über dem Haus walten lassen. Meine eigenen Leitbilder waren sie nie. Insofern bedeutet meine Betonung der Aufklärung nicht nur Kontinuität mit der früheren Arbeit des Hauses, sondern auch eine Wende. Wenn ich selber Orientierung im Denken suche und dabei nicht wieder bei Kant lande, dann wende ich mich oft den Denkern zu, die ich schon zitierte.

24

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ZUR A U F K L Ä R U N G

VERPFLICHTET

Für mich sind Hannah Arendt und Jean Amery Beispiele für eine kritische Aufklärung, die immer wieder versucht, in und durch Verzweiflung Hoffnung zu schöpfen. Manches, was Sie noch erwartet, muß noch ausreifen. Im Gespräch sind neue Publikationskonzepte sowie Pläne für Verbindungen zwischen den Wissenschaften und den Künsten, die sich zu oft mit einer fatalen Mischung aus Neid, Scheu und Skepsis begegnen. Weitere Impulse erwarte ich von einem Beirat, der demnächst neue Mitglieder gewinnen wird. Namen darf ich heute nicht nennen, da das Kuratorium alle neue Vorschläge prüfen muß. Doch ich kann heute schon so viel sagen: Es haben sich eine Reihe herausragender internationaler Wissenschaftler bereit erklärt, sich an das Haus zu binden, weil sie davon überzeugt sind, daß an diesem Ort eine Neugestaltung des öffentlichen intellektuellen Raumes vorgenommen wird, und sie möchten dazu beitragen. Trotz aller feierlichen Stimmung möchte ich mit einem Wort des Unbehagens schließen, denn Selbstkritik habe ich selber gefordert. Als ich 1982 zum ersten Mal nach Berlin kam, gehörten Sprüche wie »Aufklärung ist totalitär« in den besseren Kneipen zum guten Ton. Ausgerüstet mit Kant, aber auch ein bißchen Goethe, wirkte ich höchst anachronistisch - wenn nicht geradezu lustig. Doch inzwischen wirken Appelle an die Aufklärung eher fast modisch. Es ist kein Wunder, daß der Wunsch, sich mit einer preußischen Tradition der Aufklärung zu verbinden, in Brandenburg und Berlin immer deutlicher wird. Doch Aufklärung hat immer etwas mit Kritik an den bestehenden Verhältnissen zu tun. Soll man befürchten, die Aufklärung preiszugeben, wenn man sie zu laut preist? Sicherlich läßt sich die Rückbesinnung auf die Aufklärung ausbeuten - wie jede andere Rückbesinnung auch. Das gehört zu den Paradoxien, die wir »Scheitern durch Erfolg« nennen könnten. Lassen Sie mich zum Schluß nur bemerken, daß Aufklärung sich verrät, wenn sie von Kritik zur Legitimation übergeht. Dies wußte übrigens schon Rousseau. Es kommt alles darauf an, sich immer wieder klarzumachen, daß die Welt durch zwei geteilt wird: in das, was ist, und das, was sein soll. (Was Walter Benjamin, um ihn an dieser Stelle doch wieder als Autorität heranzuziehen, als das größte Verdienst Kants bezeichnete.) Wurzeln der Weltoffenheit und Toleranz in der eigenen Tradition zu suchen, bietet die größte Hoffnung, sie auch in der Zukunft zu finden. Vorsicht ist aber davor geboten, die Unterschiede zwischen dem, was gegeben war, und dem, wie es hätte sein sollen, zu verklären. Gefordert ist ein Seiltanz (wie bei den meisten intellektuellen Anstrengungen, die der Mühe wert sind). Zu diesem Seiltanz fordern wir Sie herzlich auf.

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25

SUSAN

N El M A N

ANMERKUNG

i Jean Amery: »Aufklärung als Philosophia perennis«. In: Ders.: Weiterleben - aber wie? Essays 1968

-1978.

Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Gisela Lindemann, Stuttgart 1982, S. 249.

SCHWERPUNKT

Z U M V E R S T Ä N D N I S DER N A T U R

Zusammengestellt

von Matthias Kroß

Sergio Toresella

D I E IKONOGRAPHIE ANTIKER PFLANZENBÜCHER UND D I E Ü B E R L I E F E R U N G B O T A N I S C H E R KENNTNISSE

F

s gehört heute zu den geläufigen Redensarten, »daß ein Bild mehr sagt als

tausend Worte«. Gemeint ist damit, daß eine bildliche Darstellung mehr, direktere und umfassendere Informationen liefert als eine Beschreibung.' Dies gilt ganz besonders für die Naturwissenschaften, wo die behandelten Dinge meist sehr komplex sind. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß von Anfang an die Texte dieser Wissenschaften Illustrationen enthielten. 2 In dem vorliegenden Artikel sollen einige Probleme der Entstehung und Entwicklung botanischer Illustrationen, und besonders der Pflanzenbücher oder Herbarien3

behandelt werden.

Ludwig Choulant unterscheidet drei Typen von Zeichnungen, die beim Studium der menschlichen Anatomie Verwendung finden: als ersten die einfache Schematisierung, als zweiten die naturalistische Zeichnung, und der dritte Typus zeigt eine idealisierte menschliche Gestalt, die als Idealproportion aus verschiedenen Typen gewonnen wird. 4 Die schematische

Zeichnung

liefert nur eine Skizze der Charakteristiken der dargestellten Teile, deren exakte Kenntnis beim Beobachter vorausgesetzt wird, und sie ist ein bloßes Hilfsmittel zur Illustration bestimmter physiologischer Prinzipien oder Beziehungen zwischen den Organen. Die naturalistische

Zeichnung

stellt im

Detail die Situation dar, wie sie sich bei einem bestimmten Individuum darbietet. Diese Art der Darstellung vernachlässigt die Tatsache, daß für jedes Organ ein gemeinsamer Idealtypus existiert und daß jedes Individuum besondere Abweichungen von dieser Norm repräsentiert. 5 Idealtypische

Dar-

stellungen wurden von Anfang an angestrebt, aber bis heute ist ihre Realisierung schwierig: Der Mißerfolg Wiedergabe

[...]

beruht teilweise auf der nachlässigen

der Form und teilweise auf der willkürlichen

richtigen Typus. Schuld daran ist entweder

E I N S T E I N FORUM JAHRBUCH 2 0 0 0 Z U M V E R S T Ä N D N I S DER N A T U R

31

der unbewußte

und

ungenauen

Abweichung

vom

Einfluß von vor-

SERGIO TORESELLA

gefaßten Vorstellungen oder die Unkenntnis der Details des [...] Wenn diese individuelle

Zeichnung

Abzubildenden.

aber sorgfältig unter der Aufsicht

eines erfahrenen Anatomen ausgeführt ist, wird sie dank ihres spezifischen Realismus und ihrer Übereinstimmung sondern auch zur Weiterentwicklung diese Mittelform,

mit der Natur nicht nur zur Lehre, der Anatomie selbst beitragen.

die nicht mehr ein Individuum,

sondern ein

Idealtypus

ist, kann nur aufgrund der genauen Kenntnis der unendlich vielen derheiten Zustandekommen,

Denn Beson-

deren Summe sie ist.6

Obwohl sie nicht überliefert sind, wissen wir, daß schematische Zeichnungen als Anhang an den Text auch die Historia animalium 7

begleiteten. Auch den Anatomicae

administrationes

des Aristoteles

Galens müssen Zeich-

nungen beigegeben gewesen sein. 8 Diesen läßt sich ein interessantes Beispiel zur Erläuterung der Überlegungen Choulants entnehmen. Im ersten Buch der Anatomicae

administrationes

beschreibt Galen den Zusammenhang zwischen

dem Schlüsselbein und dem Processus acromialis in einer Weise, die zumindest eine schematische Darstellung voraussetzt: »Stell dir vor, daß der Schlüsselbeinknochen A B sei, der Knochenkamm des Schulterblatts B C , daß der Muskel selbst an A und C ansetzt und mit einem Ende zu B, mit dem anderen zu D führt; B sei die Schulterblattspitze, D der Ansatzpunkt des Oberarmmuskels, der ganze Ansatz BD.« 9 Die italienische Ausgabe setzt diese Beschreibung in Abb. 1 Schultermuskulatur nach Galen: Procedimenti anatomici, Mai land 1991, S. 163

der Weise um, wie sie Abb. l zeigt. Die Originalzeichnung Galens ist nicht erhalten, und es gibt nicht einmal Kopien davon. Aus diesem Grunde ist die Skizze v o m Herausgeber der italienischen Ausgabe, Ivan Garofalo, frei entworfen. Für den anatomisch geschulten Betrachter sind diese Darstellungen unverständlich, vor allem die beiden dreieckigen Figuren, die den Deltamuskel darstellen. Erhellend ist jedoch der Vergleich mit den Zeichnungen im zweiten Band der Leipziger Gesamtausgabe der Werke Galens. 10 Deren Herausgeber, Carl Gottlob Kuehn, war Anatom und Pathologe, und seine in Abb. 2 wiedergegebene Zeichnung liefert den Schlüssel zum Verständnis des Gemeinten. Es sind zwei scheinbar wenig wichtige Details, die die Figur in Garofalos Ausgabe im Gegensatz zu der von Kuehn fast unverständlich erscheinen lassen: einmal der Knochenkamm des Schulterblatts, der sich nicht, wie es der Processus acromialis erfordert, nach oben wölbt, und zum anderen der Ansatz B D des Deltamuskels am Oberarmknochen, der im Verhältnis zur Mittellinie des Knochens zu weit versetzt ist. Diese beiden Details machen das Erkennen schwierig." Ivan Garofalo ist Geisteswissenschaftler und hat als solcher einen wissenschaftlichen Text interpretiert, der nach einer Zeichnung verlangte. Der Fall

32

DIE I K O N O G R A P H I E

ANTIKER

P FL A N Z E N B ÜC H ER

scheint gerade deshalb interessant, weil er ein Musterbeispiel dafür bietet, wie in der Vergangenheit die wissenschaftlichen Zeichnungen überliefert wurden. Die Probleme der Überlieferung wissenschaftlicher Zeichnungen waren in der Vergangenheit wohl bekannt u n d sind bis heute nicht gänzlich gelöst. Ohne allzusehr ins Detail zu gehen, kann man sagen, daß es sich einerseits um methodologische und andererseits um praktische Probleme handelte. In methodologischer Hinsicht bestand - obwohl David Lindberg nicht dieser Meinung ist" - im klassischen und im christlichen Denken immer ein gewisses Mißtrauen gegenüber der Sinneswahrnehmung und insbesondere gegenüber dem Gesichtssinn. Es handelt sich dabei nicht nur um die Ablehnung des Sehens, weil aus ihm Irrtümer oder Illusionen resultieren können," sondern auch weil die künstlerische Darstellung weit von der Realität abweichen, ja völlig fiktiv sein kann.14 Unter den Pflanzenkundigen stellte sich das Problem, ob eine Darstellung nützlich oder notwendig für die Vermittlung wissenschaftlicher Kenntnisse sei, nicht als theoretisches, sondern als praktisches Problem. Abgesehen von der Kostenfrage für die Herstellung von Illustrationen war der schwierigste Punkt vor allem die Reproduzierbarkeit des Modells. Der folgende Passus aus Plinius' Naturalis historia, der sich auf die Einführung von Abbildungen in Pflanzenbüchern bezieht, ist in unserem Zusammenhang besonders interessant: Abb. 2 Schultermuskulatur nach der von C. G. Kühn herausgegebenen Ausgabe von Galens

Darüber hinaus haben sich mit dieser Frage auch einige griechische Schriftsteller befaßt, von denen wir an der sie betreffenden Stelle sprachen: Dazu gehören Krateuas, Dionysios und Metrodoros, die eine sehr beein-

Opera omnia. Bd. II,

druckende Art der Behandlung des Stoffes angewandt haben, aus der man

Leipzig 1826, S. 274

aber nichts anderes als die Schwierigkeit des Themas entnehmen

kann.

Sie haben die Pflanzen gezeichnet und darunter ihre Eigenschaften angegeben. Aber die Wiedergabe ist schon an sich nicht sehr wahrheitsgetreu aufgrund der großen Zahl der Farben, vor allem wenn man es der Natur gleichtun will. Darüber hinaus aber bringt die Nachlässigkeit der Kopisten viele Veränderungen mit sich.'5 [...] Aus diesen Gründen haben die anderen Autoren dieses Thema nur schriftlich behandelt. Einige haben nicht einmal Aussagen über das Aussehen der Pflanzen gemacht, sondern sich mit der Angabe des Namens begnügt. Denn es schien ihnen ausreichend, den Interessierten Eigenschaften und Wirkungen der Pflanzen

bekanntzuma-

chen. Diese Kenntnis an sich aber ist nicht schwierig. Ich jedenfalls hatte die Möglichkeit, bis auf sehr wenige Ausnahmen, alle Pflanzen zu betrachten, und ich stützte mich dabei auf die Erfahrung des Antonius Castor, die größte Autorität unserer Zeit auf diesem Gebiet. Ich habe seinen Garten besucht, wo er sehr viel angepflanzt hat.'6

33

SERGIO

TORESELLA

Diesem Passus kann man entnehmen, daß Krateuas, Dionysios und Metrodoros Pflanzenbücher mit bildlichen Darstellungen eingeführt hatten, daß sie sich aber als unbefriedigend erwiesen, so ungenügend (oder überflüssig) für den Gebrauch der Spezialisten (»quoniam satis videbantur potestates vimque demonstrare quaerere volentibus«), daß man in vielen Pflanzenbüchern auf die Beschreibung der Pflanzen verzichtete und sich auf die Nennung von Namen und pharmakologischen

Eigenschaften

beschränkte. Antike Pflanzenbücher verzichten tatsächlich auf die Beschreibung der Pflanzen, und die Zeichnungen sind sehr ungenau. Der Text von De materia medica des Dioskurides beispielsweise ist sehr knapp, schwierig und so reich an Informationen, daß seine Lektüre äußerste Aufmerksamkeit erfordert. Das Werk ist somit in erster Linie zum praktischen Gebrauch als Handbuch gedacht. Einige Autoren, darunter z. B. Riddle17 und Touwalde," argumentieren, daß gerade die Art der botanischen Beschreibung keinen Sinn ergäbe ohne eine dazugehörige Illustration, die es dem Forscher erlaubt, die Pflanze im Freien zu finden, sie von anderen ähnlichen zu unterscheiden und die pharmakologisch wichtigen Teile zu verwenden. De materia medica wäre demnach ein Kräuterbuch für den Pflanzenkundigen oder Arzt, das er mit sich führt, wenn er Kräuter sucht. Dioskurides aber gibt nicht nur nie einen Hinweis auf eine Darstellung, sondern kritisiert auch in scharfen Worten all diejenigen, die ihr Wissen nur aus Büchern haben und von Pflanzen nur dem Hörensagen nach sprechen. Mehr als die Hälfte der Einleitung von De materia medica gibt ganz konkrete Ratschläge für denjenigen, der tatsächlich mit Pflanzen zu tun hat. Es gibt keinen Hinweis auf den Gebrauch der Illustrationen, wie es logisch wäre, wenn sie in dem Kräuterbuch vorgesehen wären." Galen hält die Beschreibungen des Dioskurides für ausreichend und äußert sich dann ausgesprochen sarkastisch über den Arzt Pamphilos (ca. Ende des ersten oder Anfang des zweiten Jahrhunderts nach Chr.) als Vertreter der berüchtigten Spezies der »Schreibtischbotaniker«.20 Dioskurides aber gibt nicht nur relativ selten, in etwa zehn Prozent der Fälle, Beschreibungen der Pflanzen, sondern diese Beschreibungen sind zudem meistens ziemlich knapp und ungenügend. Wenn er die anatomischen Eigenheiten einer Pflanze illustriert, bezieht er sich immer auf eine andere, wie in dem folgenden Beispiel, das der italienischen Übersetzung von Mattioli entnommen ist: »Der Hundsbusch [i?05ß sempervirens L., G. T.] ist ein Strauch, der mehr in die Höhe wächst als der Brombeerstrauch; die Blätter sind länger als die der Myrte. Er trägt rund um die Zweige feste und starke Dornen, bringt eine weiße Blüte und eine längliche Frucht hervor, die einem Olivenkern gleicht, mit der Reife rot wird und innen eine Art Flaum hat.«21 Um diese Beschrei-

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DIE I K O N O G R A P H I E

ANTIKER

P F LA N Z EN B Ü C H ER

bung zu verstehen, muß man ganz offensichtlich wissen, wie ein Brombeerstrauch, eine Myrte und der Olivenbaum aussieht. Ein weiteres Beispiel ist der wilde Mohn [Papaver Rhoeas]: »[Er] wächst im Frühling auf den Feldern mit einer ganz hinfälligen Blüte, von der er bei den Griechen seinen Namen erhalten hat. Die Blätter ähneln der Rauke, dem Oregano, der Zichorie oder Thymian, sie sind aber länger, eingeschnittener und rauh. Der Stiel ist wie bei der Binse gerade, eine Elle hoch und rauh. Die Blüte ähnelt der Wildanemone, rot und manchmal weiß; und die Spitze ist länglich, aber kleiner als die Anemone.« 22 Bemerkenswert ist die Vielzahl der Vergleiche für eine Pflanze, die viel verbreiteter und leichter zu bestimmen ist als die zum Vergleich herangezogenen Beispiele. Die anderen illustrierten Pflanzenbücher - damit meine ich die zum Corpus des Pseudo-Apuleius gehörenden - geben überhaupt keine Beschreibungen der Pflanzen, und die Darstellungen sind derart schematisch, daß es ziemlich schwierig ist, die Pflanzen allein anhand der Zeichnung zu erkennen.23 Es ist daher sehr wahrscheinlich, daß das Ausfindigmachen und Erkennen der Pflanzen vom Lehrer persönlich im Gelände gelehrt wurde (wie es übrigens auch heute noch praktiziert wird). Daher ist der Gebrauch von Illustrationen in den Pflanzenbüchern mehr unter dem Gesichtspunkt der Verlagspolitik als aus wissenschaftlich-pädagogischen Gründen zu erklären.24 Es gibt in der Tat bis zur Einführung des Buchdrucks äußerst selten Hinweise zum Heranziehen der Darstellungen, und auch als die Illustrationen weit verbreitet waren, setzte sich ihr wissenschaftlicher Einsatz nur schwer durch. Der erste Autor, der in der Botanik auf Illustrationen hinweist, ist Cassiodorus. 25 Aber er weist nur auf die Existenz einer lateinischen Dioskurides-Ausgabe mit Illustrationen hin, die die Mönche benutzen sollten, die kein Griechisch konnten. Erst in der ersten Hälfte des 14. Jahrhundert gibt es unzweideutige Hinweise auf die Verwendung von botanischen Darstellungen zu Demonstrationszwecken. Manfredus de Monte Imperiali erklärt in der Einleitung zu seinem Pflanzenbuch: Da ich [...] in der Pharmakologie

immer die Wirkungsweise der Heilmittel

zu wissen und ihre besonderen Eigenschaften zu kennen wünsche und damit sie auch den anderen und besonders den Arzneimittelherstellern

genau

bekannt sind, wollte ich mit eigener Hand ein Buch schreiben und alle Kräuter und sonstigen Heilmittel zusammenstellen, wie ich sie in den Büchern vieler Autoren aufgeschrieben fand; die Kräuter, die ich kannte, und deren Namen angegeben war, habe ich in diesem Buch getreulich und durch Abbildungen

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6

gezeigt.'

35

aufgeschrieben

SERGIO

TORESELLA

V e r o n a

Abb. 4 Identische Stadtansichten von Verona und Mantua in Hartmann Schedels Uber chronicorum, Nürnberg 1493

36

DIE I K O N O G R A P H I E

ANTIKER

P F LA N Z EN B Ü C H ER

A m Rande sei hier bemerkt, daß die von Manfredus verwendeten Abbildungen stark stilisiert und sicherlich von einem in diesem Genre spezialisierten Maler ausgeführt worden sind, der nicht nach der Natur zeichnete (mit der einzigen Ausnahme einer Garnele, vgl. Abb. 3).27 Ungefähr um dieselbe Zeit erwähnt der Florentiner Chronist Villani, daß die Zeichnungen des Malers Stefano von den Ärzten für ihre Studien verwendet wurden.28 Wahrscheinlich als Folge der optischen Untersuchungen, die dann zur Entdeckung der Perspektive durch Brunelleschi fahrten, erscheinen um die Wende des 14. zum 15. Jahrhundert einige Pflanzenbücher mit ausgezeichneten realistischen Darstellungen, die aber von den Pflanzenkundigen nicht als wesentliches Hilfsmittel für ihre Arbeit gewertet wurden. Denn tatsächlich findet sich erst am Ende des 15. Jahrhunderts ein erster ausdrücklicher Hinweis auf die Verwendung einer Darstellung zur Bestimmung einer Pflanze. 2 ' Wenn man dagegen nicht nur die gedruckten Pflanzenbücher, sondern auch andere mit Zeichnungen versehene Texte dieser Zeit heranzieht, wird man sich schnell darüber klar, daß sie keinerlei dokumentarischen Wert besaßen. Alte Stadtdarstellungen beispielsweise sind völlig frei erfunden; es sind Berge, Flüsse, Wälder, Meere und Gebäude gezeigt, die mit der dargestellten Stadt nichts zu tun haben. Die Abbildung wird in qualitativem, nicht quantitativem, und damit nicht in unserem Sinne wissenschaftlich aufgefaßt. Der Liber chronicorum von Hartmann Schedel, gedruckt in Nürnberg 1493, zeigt auf den Blättern 68 und 84 genau dasselbe Bild als Ansicht von Verona und Mantua - und beide sind gleichermaßen frei erfunden (Abb. 4). Diese Art der Darstellung ist weniger fremdartig als man annehmen könnte, sie gehört vielmehr zu unseren alltäglichen Erfahrungen, etwa bei Fernsehnachrichten, bei denen zwischen den Worten des Sprechers und den Bildern kein offenbarer Zusammenhang besteht. Die Bilder werden manchmal, aber keineswegs immer, als Archivbilder gekennzeichnet. Im dem bei Peter Schoeffer am 28. März 1485 in Mainz gedruckten, dem Arzt J. W. von Cube 30 zugeschriebenen Hortus sanitatiswird behauptet, die Abbildungen seien von einem Maler nach der Natur an den Orten, wo sie wachsen, gezeichnet. Dennoch sind die Stiche in einigen Fällen frei erfunden." Für die Kriterien der Verwendung botanischer Illustrationen im 16. Jahrhundert kann man sich auf die grundlegende Forschungsarbeit von Karen Meier Reeds stützen.32 Von unserer Seite bleibt daran zu erinnern, daß Brunschwig erklärte, die Zeichnungen sollten einzig und allein den Leser unterhalten und erfreuen.33 Sebastien von Monteux hielt Zeichnungen von Pflanzen für täuschend34 und war sich in dieser Hinsicht mit Henricus Sybold einig.35 Janus Cornarius sagt, daß zahlreiche Menschen nicht in der Lage sind, die Darstellung einer Pflanze zu erkennen, die sie nicht schon vorher in natura gesehen haben.36 Tragus weigerte sich, Darstellungen in seine erste Ausgabe,

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37

SERGIO

TORESELLA

die 1536 in Straßburg erschien, aufzunehmen. Gegenüber dem Drängen von Wendel Rihel rechtfertigte er sich damit, daß man die Kräuter auf jeden Fall in den Gärten betrachten müßte, wie es Antonius Castor (der Freund des Plinius) getan hatte." Und schließlich ist daran zu erinnern, daß der große Botaniker Clusius 38 in einem Brief vom Dezember 1569 erklärt, daß er die Darstellungen in dem hochberühmten Dioskurides-Kodex der Juliana Anikia, der kurz zuvor vom Wiener Hof angekauft worden war, für die Bestimmung der Pflanzen nur wenig nützlich fand.39 Dieser Eindruck verstärkt sich durch die Tatsache, daß Guilandinus, der den Kodex der Juliana Anikia um 1550 in Konstantinopel sah, ihn benutzte, um eine Textfrage zu klären und dabei die Bedeutung der Darstellungen völlig außer Acht ließ: Jetzt, dachte ich, ist anzufügen, daß Guilandinus die Wahrheit voraussagte, als er vorschlug, nach Plinius >makrotera< zu ersetzen, denn so steht es auch in einem sehr alten Dioskurides-Kodex,

der vor 900 Jahren sorgfältig in

Majuskeln geschrieben wurde. Er wurde in Konstantinopel sorgfältig aufbewahrt vom Sohn des Juden Hammon, dem besten aller Ärzte des Solymannus. Über dieses Buch können sich die Gelehrten bei dem Flamen Augerius kundig machen, einem sehr gelehrten und zugleich in der Kriegskunst bewanderten Mann, der vor wenigen Jahren am Hofe des Sultans als Botschafter des Römischen Kaisers Ferdinand I. verstorben ist, und bei dem Arzt Guglielmus Quacelbenus, den Matthaeolus

kannte,

40

wie sich aus ihrem Briefwechsel ersehen läßt.

Erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, lange nach der Veröffentlichung der großartigen Pflanzenbücher von Brunfels, Fuchs und Mattioli, werden botanische Darstellungen im modernen Sinn zur Identifizierung der Pflanzen verwendet. Die erste Verwendung von botanischen Darstellungen in diesen Pflanzenbüchern diente dazu, die Übereinstimmung einer bestimmten Pflanze mit den Beschreibungen der klassischen Texte zu dokumentieren, nicht, wie man glauben könnte, zu lehren, sie zu erkennen.

und

41

Vorläufig aber sollten wir auf die Illustrationen der ersten Pflanzenbücher zurückkommen. Das älteste Pflanzenbuch, das auf uns gekommen ist, ist ein großartiges Beispiel stätantiker Buchproduktion, ein Werk von luxuriöser Ausstattung für die byzantinische Prinzessin Juliana Anikia. Der Kodex ist auf das Jahr 512 datierbar und ist reich illustriert mit Darstellungen, die sicher nicht nach der Natur gezeichnet sind, sondern nach älteren Vorbildern. Ein Teil der Darstellungen ist von guter Qualität und verweist auf die hervorragenden Eigenschaften des alexandrinischen Vorbilds. Andere dagegen sind ziemlich schematisch und besitzen die mittelmäßige Qualität eines schon weniger alten Vorbilds, das als Kopie von der Kopie wahrscheinlich schon

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DIE I K O N O G R A P H I E A N T I K E R P F L A N Z E N B Ü C H E R

schlecht war.4* Man kann verallgemeinernd sagen, daß die Darstellungen einen unfreiwilligen und mechanischen Prozeß der Schematisierung

durch-

laufen haben, weil sie nicht nach der Natur hergestellt wurden, sondern nach gemalten Vorbildern, die ihrerseits von sehr unterschiedlicher Qualität waren. Daß einige der Originalvorlagen ganz realistisch gezeichnet waren, ist nachweisbar nicht nur aufgrund der Tatsache, daß die Pflanzen leicht erkennbar sind, sondern auch durch einzelne Details wie beispielsweise einen gebrochenen Zweig oder ein heruntergefallenes Blütenblatt. Offensichtlich gehörten die Vorlagen zu der zweiten Kategorie der Klassifizierung von Choulant, zu den naturalistischen Zeichnungen. Eine der Darstellungen aber ist besonders wichtig, weil sie sich vom Rationalismus aller anderen unterscheidet. Die Zeichnung ist teilweise erfunden aufgrund einer linguistischen Konvention, die mit ihrem Namen zusammenhängt (vgl. Abb. 5). Die Abbildung, die in diesem Falle nicht das Original des Dioskurides der Juliana Anikia wiedergibt, zeigt eine Pflanze des

Eryngium

mit einer langen Wurzel, die als Gorgonenhaupt endet. In einem anderen Dioskurides-Kodex, der wenig jünger ist als dieser, trägt die Darstellung den Titel: ERYGGIONE GORGONIO(N), d.h. Eryngium der Gorgo. Daraus erklärt sich die merkwürdige Abbildung, und es wird auch klar, daß diese nicht mehr oder noch nie die Aufgabe hatte, zur Identifizierung der Pflanzen zu dienen, sondern dazu, durch die Einfügung des Gorgonenhauptes den Namen bildlich darzustellen.43 Es handelt sich also hier um ein spiegelbildliches Vorgehen wie bei Oviedo, der es für unmöglich erklärt, die exotische Opuntia zu beschreiben. In beiden Fällen wird der Welt der Worte ein höherer Wert als dem Augenschein, oder, wenn man will, dem verbalen Idealismus ein höherer Wert als dem visuellen Realismus beigemessen. Ich bin sicher, daß die Abbildung nicht beim Erscheinen des Pflanzenbuchs, d.h. am Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, enstanden sein kann. Es ist vielmehr wahrscheinlich, daß sie eingefügt wurde, nachdem der Arzt und Grammatiker Pamphilos den Namen der Pflanzen eine lange Liste von Synonymen in den Hauptsprachen des Reiches beigefügt hatte. Es ist weiterhin wahrscheinlich, daß das Werk des Dioskurides, das von vornherein als sehr bedeutend galt, von den Herausgebern mehr mit dem Blick auf ein allgemeines Publikum als für Spezialisten ausgestattet wurde. Sogar der Aufbau des Textes wurde von ursprünglich fünf Büchern zu alphabetischer Anordnung umgestaltet. Das Frontispiz des Dioskurides der Juliana Anikia 44 zeigt die Personifizierung der Aufmerksamkeit (epinoia), die dem Maler die Alraune mit der Wurzel in Menschengestalt vorführt. Darin kommt entgegen dem Rationalismus, der dem Dioskurides eigen ist, die Einwirkung östlicher (jüdischer) Glaubensvorstellungen zum Ausdruck (vgl. Abb. 6).

F. I S S T F. IN FORUM J A H R B U C H 2 0 0 0 ZUM V E R S T Ä N D N I S D I R NATU R

39

SERGIO TORESELLA

Der wissenschaftliche Text wird also mehr aus Prestigegründen und als Zeichen der Belesenheit überliefert als aus inhaltlichen Gründen, denn die Kultur wendete sich damals bereits vom klassischen Rationalismus ab und dem platonischen Idealismus, der Gnosis und den orientalisierenden Mystizismen zu (Judaismus, Christentum, ägyptische Kulte usw.). Eine andere, um weniges jüngere Abschrift des Dioskurides45 in anderer ikonographischer Tradition zeigt eine andere, sehr interessante Darstellung. Es handelt sich um die Lonchitis [Lanzenkraut]. Die gelben Blüten der Pflanze sind ziemlich naturalistisch und rechtfertigen durchaus den Vergleich mit Masken von Schauspielern. In einem Dioskurides-Kodex aus der Biblioteque Nationale in Paris, der im griechischen Kulturkreis, vielleicht in Ägypten oder in Syrien zur Zeit der ersten Eroberung durch die Araber entstanden sein dürfte, wird die gleiche Lonchitis auf ganz konventionelle Weise als eine nicht identifizierbare Pflanze der »lachenden Köpfchen« dargestellt.46 Im selben Kodex (c.98r) erscheint der Hafer völlig verwandelt als eine Pflanze der »Adlerköpfe«, um zu der Beschreibung des Dioskurides zu passen: »An den oberen Enden hat er einige Auswüchse wie kleine Heuschrecken mit zwei Beinen.«47 Diese Darstellungen, die in einer ganzen Reihe von davon abgeschriebenen arabischen Pflanzenbüchern getreulich nachgebildet werden, zeigen, daß der Prozeß der Idealisierung vom siebten bis zum neunten Jahrhundert immer weiter fortschreitet. Dieses Phänomen entspricht dem der Schematisierung und des Verlustes der Beziehung zur Realität.48 Ein sehr schönes Beispiel für die verbale Interpretation einer Darstellung findet sich in einem Pflanzenbuch des Pseudo-Apuleius, in einem Kodex des neunten Jahrhunderts aus der Gegend von Benevent.49 Die Darstellung des Delphinion (vgl. Abb. 7) ist wirklich einzigartig und in keiner Weise mit der der anderen Pflanzenbücher derselben Familie vergleichbar.50 Es fällt sofort auf, daß die Krone der Blüten aus zwei gegenüberliegenden Sardinen gebildet ist. In den anderen Pflanzenbüchern zeigen die kreisförmig angeordneten Blütenblätter Abbildungen von Fischen, um so den Namen Delphinion für die Pflanze zu rechtfertigen (vgl. Abb. 8). Der Schreiber dieses Kodex lehnt es nicht nur ab, nach der Natur zu zeichnen, sondern auch von seinem Vorbild zu kopieren, und er zeigt auch hier, daß die Realität im Namen liegt. Diese Art von Darstellungen, die wir als geistige Bilder bezeichnen könnten, sind typisch für eine große Gruppe von Pflanzenbüchern, die sogenannten Pflanzenbücher der Alchimisten, die sehr wenig erforscht und schwer zu klassifizieren sind. Ich will mich in dieser Beziehung auf die Feststellung beschränken, daß es sich dabei um für Italien typische, ziemlich weit verbreitete Pflanzenbücher handelt," die vielleicht auf das Pflanzenbuch eines gewissen Perimbel Grecus 52 zurückgehen. Sie finden seit dem Ende des

40

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14. Jahrhunderts Verbreitung, sind im 15. Jahrhundert sehr beliebt und verschwinden in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Sie unterscheiden sich ziemlich stark voneinander, und es ist schwierig, auf den Archetypus zurückzuschließen. Ohne Zweifel gehören diese Pflanzenbücher in die Welt der fahrenden Ärzte und einfachen Kräuterkundigen, die häufig für Alchimisten gehalten wurden, ohne es notwendig zu sein." Die Pflanzenbücher solcher Scharlatane sind niemals gedruckt worden und bilden sicherlich aufgrund der phantastischen Illustrationen im allgemeinen Bewußtsein den Prototyp des mittelalterlichen Pflanzenbuchs. Ihre nur äußerst mühsam zu interpretierenden Illustrationen sind deshalb interessant, weil es sich fast immer um geistige Bilder handelt; die Form der Planze spielt auf ihren Namen an: in der Herba luccia (Lucius sp., brocket, Hecht, pike, vgl. Abb. 9 - 1 0 ) ein Fisch; in der Herba testatoris (Abb. 11) ein menschlicher Kopf; in der Herba

luparia

ein Wolf (Abb. 12). Schwieriger sind die merkwürdigen,

schachbrettförmigen Blätter der Herba teodorites (Abb. 13) zu intepretieren, die sich vielleicht auf die Fähigkeit, im Dunkeln zu leuchten, beziehen. Viele Wurzeln sind rund oder quadratisch mit mehrfarbigen Abteilungen, um zu zeigen, daß sie verschiedenfarbige Ringe aufweisen, wenn man sie zerschneidet. In diesem Falle könnten die Illustrationen eine gewisse diagnostische Funktion haben (vgl. Abb. 1 4 - 1 6 ) . Auf jeden Fall kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Illustrationen dieser Art nicht zum Bestimmen der Pflanzen in der Natur dienen können. Die Erbari degli alchimisti weisen nie einen Text auf, der die Pflanze selbst beschreibt. Immer jedoch wird der Name der Pflanze genannt, der sich nur auf die Tradition dieses spezifischen Typs von Pflanzenbüchern bezieht und durch Ausdrücke aus der Gaunersprache charakterisiert ist. Natürlich werden häufig auch die Krankheiten und Rezepte zu ihrer Heilung genannt. Häufig ist der Text in Dialekt oder in einer Art Küchenlatein geschrieben. Wo man die Pflanzen finden kann, ist indessen oft in außerordentlich stereotyper Form angegeben: »Steht auf sehr kalten Bergen, steht an feuchten Orten, wächst auf Wiesen« (»sta in monti fredissimi, sta in luoghi umidi, cresce nei prati«). In einigen seltenen Fällen ist eine Zeichnung vom Auftraggeber selbst korrigiert und andere Farben der Blüten oder Blätter angegeben. Man hat also insgesamt den Eindruck, daß diese Illustrationen vor allem zur Abrundung des Vortrags dienen sollten, die der Scharlatan vor dem »gebildeten Publikum und der geneigten Versammlung« (»colto pubblico e inclita assemblea«) in der Öffentlichkeit hielt. Auch hier wieder wird die verbale Komponente der herrschenden Kultur privilegiert. Deshalb sind die Erbari degli

alchimisti

nicht grundlegend verschieden von den anderen Pflanzenbüchern von höherem Niveau.54

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SERGIO TORESELLA

Es bleibt zu untersuchen, wie und wann den botanischen Illustrationen neue Aufmerksamkeit als nützlichem Vehikel für die Übermittlung wissenschaftlicher Kenntnisse geschenkt wird. Die Geschichte der Botanik sieht schon seit geraumer Zeit in den Humanisten diejenigen, die gegenüber den auctoritates von Antike und Mittelalter eine neue Haltung eingenommen haben." Sehr verkürzt kann man sagen, daß eine der interessantesten Errungenschaften des Frühhumanismus in der Fähigkeit bestand, die großen klassischen Autoren, die mit dem Gewicht ihrer Autorität das wissenschaftliche Denken des Mittelalters erdrückt hatten, in historischer Perspektive zu sehen und sie kritisch zu analysieren. Merkwürdigerweise erwuchsen die kritischen Fähigkeiten der Humanisten aus der außerordentlichen Verfeinerung ihrer philologischen Forschung, zu der sie das Bemühen um das Ideal der Wiederherstellung der Vollkommenheit und Reinheit des klassischen Latein geführt hatte. Die Analyse der Wörter und ihrer Bedeutung und die Suche nach einer authentischen Fassung der klassischen Texte führten die Humanisten zu einem ständigen Vergleich der Quellen, die fast immer durch Kopisten, durch arabische Übersetzer und verständnislose Kommentatoren entstellt waren. Auf diesem Hintergrund vollzog sich die Kritik von Nicolö Leoniceno,56 Pandolfo Collenuccio57 und Hermolao Barbaro58 an der klassischen Botanik, die in erster Linie von den großen Autoren Plinius, Theophrast, Dioskurides, Galen und ihren arabischen Kommentatoren Serapion, Mesue usw. überliefert worden war.

Abb. 17 Zeichnung des Blattes von Sanicola nach Pandolfo Collenuccio

Die Planzen, von denen die klassischen Autoren sprachen, waren nur mit ihrem Namen und den summarischen und verschwommenen Beschreibungen bekannt, von denen wir oben einige Beispiele gegeben haben. Die Humanisten machten es sich zur Aufgabe, die richtigen Pflanzen zu identifizieren. Im Laufe ihrer Arbeit entdeckten sie, daß ein Gutteil der Verwirrung auf Identifikationsfehlern basierte, die bereits in der Vergangenheit von den Autoren selbst, vor allem von Plinius59 gemacht worden waren. Man hatte auch mit den absolut unzulänglichen Beschreibungen zu kämpfen oder mit der realen Schwierigkeit, im übrigen Europa die Pflanzen der Mittelmeerwelt, wo Dioskurides, Galen und Theophrast gearbeitet hatten, zu finden. Begleitet von hitzigen Debatten untereinander waren diese Wissenschaftler gezwungen, nach Jahrhunderten zum ersten Mal die wirklichen Pflanzen in die Hand zu nehmen, die sie entweder selbst gefunden hatten oder die ihnen von den Kräuterkundigen gezeigt wurden, um sie sorgfältig mit den Texten zu vergleichen. Dadurch mußten sie notgedrungen den morphologischen Details größere Aufmerksamkeit schenken, während bis dahin die medizinisch-pflanzenkundliche Wissenschaft sich nur um die pharmakologisch-kurativen Eigenschaften der Pflanzen gekümmert hatte. Der Arzt war einzig und allein an der

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ANTIKER

P FLA N Z E N B Ü C H ER

virtus und den qualitativen Eigenschaften der Pflanze interessiert und betrachtete das Problem ihrer Bestimmung in der Natur und ihrer quantitativen Eigenschaften mit souveräner Distanz, wenn nicht gar mit Verachtung. Mach braucht nur daran zu denken, daß es große Repertorien von Synonymen pflanzlicher Heilmittel gab, die nach dem Kriterium der Austauschbarkeit aufgebaut und unter dem Namen Quid pro quo bekannt waren. Hier ist in erster Linie über die Entdeckung der botanischen Illustrationen durch Pandolfo Collenuccio zu sprechen. Seine Arbeit, die Defensio

pliniana,

ist eine ziemlich seltene Inkunabel. Das Werk ist von den Historikern der Botanik noch nicht bearbeitet worden, denn sie haben ausschließlich die Auszüge, die im Herbarium

vivae eicones enthalten sind, benutzt. Dieses erste

naturalistische, gedruckte Pflanzenbuch wurde von Otto Brunfels (der für die Deutschen der »Vater der Botanik« ist) herausgegeben. 60 Abb. 18 Zeichnung des Blattes von Sanicola von Hans Weiditz in Otto

Wie man an den Abb. 17 und 18 sehen kann, unterscheidet sich das Blatt auf dem Holzschnitt von Collenuccio grundlegend von dem, das Brunfels

Brunfels' Pflanzenbuch

wiedergegeben hat. Um dies zu verstehen, gebe ich hier den Teil des Kapitels

nach den Angaben von

des Pentaphillum aus der Defensio pliniana wieder, der sich direkt auf die Illu-

Collenuccio

stration bezieht: Da dem so ist, hat das Quinquefolium

seinen Namen daher, daß von der

Wurzel her fünf ganze Blätter emporwachsen.

Und sie sind nicht in fünf

kleine Blättchen (wie bei dem oben genannten pes corvinus) oder beim gemeinen Pentafillon des Leoniceno unterschieden. Sondern es wird gewöhnlich ungefähr in der Weise dargestellt: mit fünf, so würde ich es nennen, ausgedehnten Einschitten wie bei dem Weinblatt oder dem Sellerie. Dies ist auch das Pentafillon, das nach Dioskurides Früchte trägt, die Plinius Erdbeeren nennt. In Venedig gibt es in der Gasse der Heilkräuterhändler

eine berühmte

Apotheke, die als Ladenschild einen Mohrenkopf trägt. In diesem Laden gibt es ein mit so großer Meisterschaft und Genauigkeit gemaltes

Pflanzenbuch,

daß man meint, die Pflanzen wüchsen auf den Seiten und seien nicht nur dargestellt. Dort habe ich die Pflanze mit den oben genannten

Merkmalen

wiedergegeben gesehen: fünf Blätter; und auch jene fünf Blätter hatten (wie wir es dargestellt haben) ausgedehntere Einschnitte; aber es gab auch Früchte, die ich Erdbeeren nennen würde; bei dieser Pflanze stand der lateinische Name Sanicula und der deutsche Sanickel. Offensichtlich wollte Collenuccio eine schematische Darstellung geben (erster Typus nach Choulant), denn er hatte im Merkmal der Einschnitte, die nicht bis zum Blattstengel reichen und das Blatt nicht in fünf kleine Blätter teilen, den entscheidenden Unterschied zwischen dem Quinquefolium dem Pentafillon volgare des Leoniceno gefunden.

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und

SERGIO

TORESELLA

Abb. 21 Zwei Darstellungen von Orobanche

lutea, die die von Plinius gegebene Beschreibung der Pflanze als d e m Glied eines H u n d s

ähnelnd veanschaulichen sollen. Mailand, Privatsammlung, c . l v. 2r.

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DIE I K O N O G R A P H I E A N T I K E R P F L A N Z E N B Ü C H E R

Collenuccio hatte als erster die Idee, eine schematische Zeichnung zu verwenden, er hat als erster den Begriff des botanischen Merkmals verwendet und als erster ein Hendiadyoin zur Bildung bisher nicht vorhandener botanischer Bezeichnungen benutzt: dem heutigen Begriff (Blatt-)Einschnitt entspricht das lateinische Hendiadyoin Angulos sinuatosque. Brunfels, der nicht begriffen hatte, was Collenuccio mit seinem Schema ausdrücken wollte, ließ von einem hervorragenden Künstler" einen Holzschnitt eines Sanickelblattes anfertigen, der sehr gut wurde, aber leider eben nicht die Angulos sinuatosque zeigt, um die sich die ganze Argumentation Collenuccios dreht. Abb. 19 und 20 geben die Seiten aus dem Erbario Roccabonella wieder, das Collenuccio in der Farmacia della Testa del Moro gesehen hatte.62 Die Darstellungen dieses Pflanzenbuchs, die über einen langen Zeitraum, vielleicht zwischen 1415 und 1450 hergestellt wurden, bilden die ersten botanischen Abbildungen nach der Natur.63 Sie sind identisch oder stammen vielleicht von dem gleichen Künstler, der um die Wende des 15. Jahrhunderts das Erbario Carrarese illustriert hat.64 Obwohl sie bekannt waren, hatten sie keinerlei Einfluß auf die Pflanzenbücher und die Botanik des 15. Jahrhunderts, weil in dieser Zeit, wie gesagt, alchimistische Pflanzenbücher in Benutzung waren. Vielleicht hielt der Eigentümer Rinio das

Erbario

Roccabonella eifersüchtig unter Verschluß, und es konnte so keinerlei Wirkung zeigen; wahrscheinlicher ist aber, daß die Wissenschaftler der Zeit - abgesehen von dem künstlerischen Eindruck - die Darstellungen nicht zu schätzen, zu nutzen oder daraus zu lernen vermochten. Der erste und offensichtlich einzige, der das Buch nutzte, war Pandolfo Collenuccio. Daß sich aber der Begriff des botanischen Merkmals unter den Spezialisten durchsetzte, kann man aus der Abb. 21 ersehen, die einem humanistischen Pflanzenbuch aus den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts entstammt. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts tauchen als neue Arten der Pflanzenbücher wie das Pflanzenbuch mit Naturselbstdrucken und der Hortus siccus auf. Der Naturselbstdruck entsteht dadurch, daß Pflanzen mit einem Pigment direkt auf ein feuchtes Blatt aufgepreßt werden.' 5 Ich nehme an, daß die Technik im 12./13. Jahrhundert in Konstantinopel entwickelt worden ist, und sie erscheint zum ersten Mal in einer arabischen Dioskurides-Ausgabe aus dem Jahre 1228.66 In Europa wird die Technik erstmals im Jahre 1425 in dem Pflanzenbuch von Conradus Bouzenbach 67 und in Italien zwischen 1515 und 1530 in einer größeren Zahl von Büchern angewandt. Danach verschwindet sie und wird von den Experten durch den Hortus siccus ersetzt, d. h. durch eine Sammlung von getrockneten Pflanzen. Merkwürdigerweise wurde diese Art von Herbar anfangs als dokumentarischer Beweis für die wirkliche Existenz der vom Botaniker bestimmten und selbst oder in seinem Auftrag gezeichneten Pflanzen verwendet.

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Das Erscheinen des Herbarum vivae eicones von Otto Brunfels im Jahre 1530 und von De historia stirpium von Leonhard Fuchs im Jahre 1542 hatte ohne Zweifel die Vorteile der gedruckten botanischen Illustrationen vor allem für die Verbreitung des Wissens deutlich werden lassen. (In diesem Fall handelte es sich um die Bestimmung der zugelassenen Pflanzen, da wissenschaftliche Periodika damals noch nicht erfunden waren.) Jeder Botaniker besaß ein eigenes Pflanzenbuch, das von ihm selbst oder von einem spezialisierten Künstler gezeichnet war (Hortus pictus). Wenn ein neuer Text über Botanik oder eine neue Ausgabe eines Pflanzenbuches herauskam, verglich er die Illustrationen mit denen seines gezeichneten Exemplars. Die Botaniker unterhielten normalerweise eine intensive Korrespondenz mit ihren Kollegen und den Kräuterkundigen in ganz Europa. Wenn ein Botaniker eine Pflanze veröffentlichte, die seine Kollegen nicht mit den Beschreibungen der Klassiker in Übereinstimmung bringen konnten, wurde er scharf kritisiert, und man machte ihm gewöhnlich den Vorwurf, die Pflanze hergerichtet zu haben, um sie der Beschreibung anzupassen. Je häufiger diese Kritik auftauchte, um so dringender wurde es, durch ein getrocknetes Exemplar die Richtigkeit der Zeichnung oder des Stichs zu beweisen. Damit gelangt man zum letzten Schritt in Richtung auf die modernde wissenschaftliche Illustration. Mit der Erweiterung des geographischen Horizonts nach Afrika, zum Indien im Osten und im Westen wurde der Schatz der botanischen Kenntnisse enorm durch Exemplare bereichert, die von allen Ecken der Welt stammten. Diese Pflanzen gelangten nicht immer im vollkommenen Zustand an ihr Ziel, es konnte etwas fehlen oder unreif sein. Solche Mängel waren nicht leicht zu beseitigen. Den ersten Botanikern wie beispielsweise Mattioli wurde vorgeworfen, sie hätten die fehlenden Teile einfach zusammengesetzt oder sie schlicht erfunden. Mattioli hatte eine heftige Auseinandersetzung über diesen Punkt mit Bartolomeo Maranta, und in ihrem Briefwechsel sind zum ersten Mal Regeln für das Sammeln und Darstellen der Pflanzen aufgestellt.68 Mattioli konnte nie ganz den Vorwurf widerlegen, den Aconitus

pardalianches,

den er in seinen Kommentaren zu Dioskurides vorgestellt hatte, völlig frei erfunden zu haben, und erst am Ende des 19. Jahrhunderts gelang es einem Botaniker, die Pflanze ausfindig machen, die so viel sarkastische Kritik ausgelöst hatte. In Georg Oellingers Pflanzenbuch wird eine offenkundig sehr schöne Tomate dargestellt (vgl. Abb. 22).69 Während diese Illustration einem Laien ausdrucksvoll und sehr klar erscheint, ist sie für den Botaniker falsch und unverständlich: Er erkennt nämlich sofort, daß die Früchte von der Mittellinie der Blattäderung herabhängen und nicht von den Zweigen, wie es sein

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PFLANZENBÜCHER

müßte. 70 Es ist nicht leicht zu verstehen, warum der Künstler diesen Fehler begangen hat. Ich glaube, daß auch in diesem Fall der Ausführende nicht wirklich das abbildete, was er sah, sondern den Namen, d. h. die Vorstellung, die er sich in seinem Kopfe gebildet hatte, wie bereits Choulant bemerkt hat. Da der Künstler nicht verstanden hat, daß die Blätter fiederförmig eingeschnitten sind, hat er die Äderung als Zweige aufgefaßt, von denen die Tomaten herabhängen. Oder aber er hatte als Vorlage eine unreife Pflanze mit Blüten, aber ohne Früchte, und so ließ er die Früchte dort herabhängen, wo es ihm am passendsten schien, nämlich an dem, was er als Zweige ansah. Auch Leonardo sah im Herzen Poren, weil Galen behauptet hatte, es gebe sie. Aus dem Italienischen von Friederike

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Hausmann

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