Vom Schönen und seiner Wahrheit: Eine Analyse ästhetischer Erlebnisse 9783111536750, 9783111168654

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Vom Schönen und seiner Wahrheit: Eine Analyse ästhetischer Erlebnisse
 9783111536750, 9783111168654

Table of contents :
INHALT
ZUR EINFÜHRUNG
KAPITEL I. Einleitung in den Begriff der ästhetischen Gegenwart
KAPITEL II. Ästhetische Gegenwart als Transformation aktueller Gegenwart
KAPITEL III. Ästhetische Gestalt
KAPITEL IV. Beziehung von ästhetischer Gegenwart und Gestalt auf Kontinuität der Erscheinung
KAPITEL V. Elementare Struktur des ästhetischen Gegenstandes
KAPITEL VI. Ästhetischer Wert — Schönheit
KAPITEL VII. Ästhetische Wahrheit
KAPITEL VIII. Ästhetische Wahrheit im Erlebnis der Natur
KAPITEL IX. Die Kunst als Medium ästhetischer Wahrheit
KAPITEL X. Artistische Bedingungen ästhetischer Wahrheit
KAPITEL XI. Die Vereinigung von Gegenwart und Raum in den bildenden Künsten
KAPITEL XII. Ästhetische Wahrheit in Musik und Dichtung
Ausblicke von Richard Koebner

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VOM S C H Ö N E N U N D S E I N E R W A H R H E I T

Dem Andenken von Ernst Cassirer und Gerhard von Mutius

VOM SCHÖNEN UND SEINER WAHRHEIT EINE ANALYSE ÄSTHETISCHER ERLEBNISSE VON

RICHARD UND GERTRUD KOEBNER

Berlin

1957

WALTER D E G R U Y T E R & CO. vormals G. J . Göschen'eche Verlagehandlung / J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung / Georg Reimer / E a r l J . Trübner / Veit & Comp.

Archiv-Nr. 42 57 57 Copyright 1957 by Walter de Gruyter & Co. — Alle Rechte des Nachdrucks, der photo mechanischen Wiedergabe, der Ubersetzung, der Herstellung von Photokopien und Mikro filmen, auch auszugsweise, vorbehalten. Drude: Deutsche Zentraldruckerei, Berlin SW 61, Dessauer Str. 6/7

INHALT

Seite

Zur Einführung

9 KAPITEL I

Einleitung in den Begriff der ästhetischen Gegenwart 1. Der Begriff der Gegenwart als notwendiger Ausgangspunkt für die Eröterung ästhetischer Erfahrung 2. Die Unabhängigkeit der ästhetischen Erfahrung gegenüber der empirischen Interpretation ihres Gegenstandes 3. Das Problem des Verhältnisses zwischen ästhetischer und aktueller Gegenwart 4. Die fundamentale Struktur aktueller Gegenwart, das doppelte Jetzt 5. Die Wechselbeziehungen von aktueller und- historischer Gegenwart 6. Die Strukturen der aktuellen Gegenwart in ihrer Mannigfaltigkeit • • 7. Die innere Beziehung der ästhetischen Gegenwart auf die Mannigfaltigkeit der Strukturen aktueller Gegenwart 8. „Ich" und „Wir" in ästhetischer Gegenwart

16 17 18 20 21 22 24 26

KAPITEL II

Ästhetische Gegenwart als Transformation aktueller Gegenwart 1. 2. 3. 4.

Das Problem der Transformation Ästhetische Ergriffenheit Die zyklische Struktur der ästhetisdien Gegenwart Natur und Kunst als Inhalt ästhetischer Gegenwart

27 28 30 32

KAPITEL III

Ästhetische Gestalt 1. Ästhetische Gestalt als Prinzip des Aufbaus ästhetischer Erscheinung 2. Die Konzentration des ganzen Gegenstandes in seiner äußeren Erscheinung 3. Die Abwesenheit des Momentes der Hervorbringung in der GestaltSynthese 4. Selbstaussprache als Sinn der Gestalt-Gegebenheit

35 36 37 38 5

Seite

KAPITEL IV

Beziehung von ästhetischer Gegenwart und Gestalt auf Kontinuität der Erscheinung 1. Das Problem 2. Drei Formen der Kontinuität als Struktur-Prinzipien der Erscheinungswelt

39 40

3. Natur als Inbegriff der in Erscheinung repräsentierten körperlichen Kontinua

42

4. Beseeltheit — Zentrierung in einem lebendigen Ich — als besonderes Prinzip individueller Kontinuität 44 5. Individuen geschaffener Wirklichkeit. Das besondere Kontinuitätsprinzip ihrer Ersdieinung 6. Die Gebilde der Darstellung: Abbilder und Sprachsdiöpfungen 7. Koinzidenz der Natur mit Raum und Horizont und den entsprechenden Zeiteinheiten

47

8. Das Kunstwerk und seine Umwelt

49

45 46

KAPITEL V

Elementare Struktur des ästhetischen Gegenstandes 1. Linie

51

2. Rhythmus 3. Farbigkeit 4. Belebung

52 54 55

KAPITEL VI

Ästhetischer Wert — Schönheit

6

1. Die Mannigfaltigkeit der ästhetischen Werttypen 2. Der Begriff der schönen Gestalt

58 58

3. Das Schöne im Sinne des ästhetisch Vollkommenen 4. Das Häßliche als Gegensatz und als Element des ästhetisch Wertvollen

59 60

5. Konvention und Subjektivität im Erlebnis des Schönen

62

6. Das objektiv Bestimmbare im Bereidi des Schönen

63

Seite

KAPITEL VII

Ästhetische Wahrheit 1. Gegebenheit ästhetischer Wahrheit als Leistung ästhetischen Erlebens 2. Ästhetische Wahrheit als Element ästhetischer Kultur und künstlerischer Entwicklung 3. Die symbolische Struktur der ästhetischen Wahrheit 4. Die Fostulate des Ich in uns und ihre Erfüllung durch die ästhetische Wahrheit 5. Zu den Begriffen „unser Sein" und „das Ich in uns" 6. Die Mannigfaltigkeit der ästhetischen Wahrheit 7. Reinheit

65 67 68 71 74 75 77

KAPITEL VIII

Ästhetische Wahrheit im Erlebnis der Natur 1. 2. 3. 4. 5.

Ästhetische Erfahrung als Erfahrung von der Natur 79 Natur als Symbol des Seins 80 Raum 82 Das ästhetische Naturerlebnis als Erlebnis ästhetischer Wahrheit • • 83 Gegenwart und Ewigkeit 84 KAPITEL IX

Die Kunst als Medium ästhetischer Wahrheit 1. Der lebendige Mensch kein Medium ästhetischer Wahrheit 2. Die künstlerische Form der ästhetischen Gegenwart 3. Die Verbindung ästhetischer und affektiver Eindringlichkeit am Kunstwerk 4. Die Eigenbewegung der Gestalt als Offenbarung ästhetischer Wahrheit 5. Die Verknüpfung ästhetischer Wahrheit mit anderen Elementen der ästhetischen Gegenwart im Kunstwerk

85 86 88 91 92

KAPITEL X

Artistische Bedingungen ästhetischer Wahrheit 1. Natürlichkeit und Stil 2. Historische Grenzen ästhetischer Wahrheit

94 97 7

Seite

KAPITEL XI

Die Vereinigung von Gegenwart und Raum in den bildenden Künsten 1. Allgemeines 2. Architektur

99 99

3. Skulptur 101 4. Malerei • 104 5. Raumgestaltung und Bildgestaltung als Verwirklichung des Ich in uns 109 KAPITEL XII

Ästhetische Wahrheit in Musik und Dichtung 1. 2. 3. 4.

Musik und Dichtung als Medien ästhetischer Gegenwart Vom musikalisch Schönen Ästhetische Wahrheit in der Musik Dichtung und ästhetische Wahrheit

110 114 116 118

Ausblicke von Richard Koebner 1. Moderne Kunst und ästhetische Wahrheit 121 2. Ästhetische Wahrheit als subjektive und transzendente Wahrheit • • 124

8

ZUR

EINFÜHRUNG

Von elementaren Gegebenheiten, die mit dem Erlebnis des Schönen regelmäßig verbunden sind, schreiten die folgenden Betrachtungen fort zu besonderen ästhetischen Erlebnissen, die das Bewußtsein einer Erkenntnis in sich tragen. Schönheit eignet immer zunächst dem schönen Gegenstande. Aber sie kann für uns der Repräsentant einer Wahrheit werden, die uns über unser Ich und das die Welt durchdringende Sein Aufschluß gibt. Wir versuchen zu zeigen, wie sich dieser höhere Anspruch rechtfertigt. Wir versuchen zu beschreiben, wie er unser Verhältnis zur Natur und zu den einzelnen Künsten durchdringt. Ein solcher Versuch richtet sich auf ein Problem philosophischer Ästhetik. Zu Anfang des Jahrhunderts stand dieser Zweig der Philosophie in Blüte. Seine Bearbeitung lag in der Richtung des Strebens energischer Denker, Wissenschaft und Kultur durch ein umfassendes System der Philosophie zu beherrschen. Wie dieses System auch geordnet war, es durfte dem Problem des Schönen und der Kunst nicht ausweichen. Das große Vorbild Kants genügte, um ihm darin einen Platz anzuweisen. Dieser Rückhalt der Ästhetik am System der Philosophie ist zusehends schwächer geworden. Der Gedanke einer Koordination letzter Wahrheiten und Werte hat sich aus dem philosophischen Denken zurückgezogen, und damit hat die Geltung ästhetischer Ergebnisse und Urteile aufgehört, eine Frage erster Ordnung an das philosophische Denken zu stellen. Für die Grundgegebenheiten des Denkens sind in der Philosophie der letzten Jahrzehnte Positionen eingenommen worden, zwischen denen eine Verständigung kaum möglich ist. Existenzialphilosophie und logischer Positivismus streiten sich um die Bestimmung der primären Bewußtseinsgegebenheiten. Die Methoden und Ergebnisse moderner Naturwissenschaft haben sowohl zu konstruktiver Spekulation wie zu radikaler Skepsis ermutigt. Auf keinem dieser Wege schien es notwendig, sich nach dem Schönen und der Kunst umzusehen. Wenn die Ausgangspunkte menschlichen Wissens immer aufs neue aufgespürt werden mußten, hatte die ästhetische Ausstattung unseres Lebens, so konnte es scheinen, für die Anweisung eines Platzes einstweilen zu warten. Eine Entwicklung der Philosophie, die im Auflösen stärker war als im Verbinden, rückte die Geltung ästhetischer Urteile noch tiefer in den Schatten der Ungewißheit als die der wissenschaftlichen Erkenntnis und der ethischen Norm. Zur gleichen Zeit ging das Gefühl sozialer und kultureller Sicherheit verloren, das der kontemplativen Beschäftigung mit dem Schönen und 9

der Kunst günstig gewesen war. Diese Kontemplation hatte eine ungestörte Hingabe an jene Werte zur Voraussetzung. Sie war in einer Atmosphäre des Vertrauens auf eine friedliche Weltordnung gediehen. Wer sich noch, daran erinnert, wie furchtbar er durch die gewaltsame Zerreißung Europas aus solchem Vertrauen geweckt wurde, weiß auch, wie diese Zerreißung die Unbefangenheit beeinträchtigte, mit der man von ästhetischen Werten als höchsten Gütern der Menschheit hatte sprechen können. Wendet man sich von diesen eine Generation zurückliegenden Wandlungen zum unmittelbaren Heute, so hat man Anlaß, die allgemeinen Zeitverhältnisse als für ästhetisches Nachdenken noch ungünstiger anzusehen. Wie soll man zu ihm Mut fassen inmitten einer Welt, die sich beständig am Rande der Selbstauflösung weiß? — Aber gerade heute hat sich der Mut zu diesem Nachdenken wieder überall geregt, wo ein freier Gedankenaustausch besteht. Es ist, als ob die Gefährdung aller bisherigen kulturellen Existenz das Gefühl dafür erweckt hätte, was das Schöne und die Kunst in ihr bedeutet haben. Das spontane Interesse an bildender Kunst und Musik hat sich verstärkt. Man täuscht sich kaum, wenn man annimmt, daß es heute in breite Schichten eingedrungen ist, die es früher als überflüssig betrachteten. Der ihm in der Erziehung eingeräumte Platz ist ein Gradmesser hierfür. Mit der praktischen Zuwendung sucht das theoretische Nachdenken Schritt zu halten. Gemeinsam ist allen seinen Bestrebungen ein „anthropologischer" Zug. Die vitale Bedeutung der Kunst für die Kultur wird zum Ausgangspunkt genommen und zu erläutern versucht. Im übrigen sind die Ansatzpunkte so verschieden wie die Richtung anthropologischer Forschung überhaupt. Von der systematischen Philosophie aus ergibt auf Grund der Entwicklung der modernen Logik und Bedeutungslehre der Begriff des Symbols die bevorzugte Orientierung. Nicht minder stark ist eine biologische Ausrichtung. Kunst wird verstanden als die elementare Betätigung, in der der Mensch von seiner Umwelt Besitz ergreift. Diese Funktion beginnt bei den Regungen des Kindes und des primitiven Menschen. So enthält denn auch moderne ästhetische Theorie starke Tendenzen sowohl zu „tiefenpsychologischer" wie auch zu entwicklungsgeschichtlicher Spekulation. Aber es fehlt auch nicht an religionsphilosophischer Orientierung, die in der Kunst die Berührung des Menschen mit dem in der Welt lebendigen Geist aufspürt. Alle solche Deutungen müssen ihre universale Fragestellung mit den aktuellen Problemen in Einklang bringen, zu denen sie die Kunst der jüngsten Vergangenheit herausfordert. Maler, Bildhauer, Architekten, Komponisten und Dichter sind in „Schulen" aufgetreten, die den Bruch mit aller früheren europäischen Tradition proklamieren. Sie haben den Anspruch, revolutionär zu sein, auch darin wahr gemacht, daß sie mit den in diesem Zeichen entstandenen Werken die der Öffentlichkeit dargebotene Produktion beherrschen. Diese Sachlage hat das ästhetische Denken vor Entschei10

düngen gestellt, die in seiner eigenen Begriffsbildung zum Ausdruck kommen mußten. Entweder mußte diese so ausfallen, daß sie die Prinzipien der modernen Kunst mit umfaßte, vielleicht sogar besonders rechtfertigte. Oder man stimmte den radikalsten Revolutionären darin bei, daß man eine begriffliche Aussöhnung zwischen „traditioneller" und „moderner" Kunst für unmöglich erklärte. War dann aber überhaupt noch eine einheitliche Ästhetik möglich, die über nichtssagende Gemeinplätze wie „schön ist, was gefällt", hinauskam? Als wir, die Verfasser der folgenden Betrachtung, mit der bezeichneten Gedankenbewegung vertraut wurden, hatten wir unser Buch schon abgeschlossen. Es war unter äußeren Bedingungen entstanden, die es uns unmöglich machten, von ihr Kenntnis zu gewinnen. Jetzt, da es der Öffentlichkeit übergeben wird, müssen wir uns über sein Verhältnis zu den angedeuteten Gedankenrichtungen Rechenschaft geben. Diese sind selbst untereinander so verschiedenartig, daß sich die Punkte der Übereinstimmung und des Auseinandergehens nur im allgemeinen bezeichnen lassen. Wir begegnen uns mit ihnen in der Forderung, daß der Platz des Schönen und der Kunst in der Reihe der obersten Wahrheiten philosophisch gesichert werden muß. Mit Denkern und Forschern, die ganz andere Methoden angewendet haben, teilen wir die Gewißheit, daß ästhetisches Erleben die Wahrheit sagt, wenn es sich selbst eine tiefere Bedeutung als die des momentanen Genusses zuschreibt. Aber in der Begründung dieser Gewißheit sind wir einen besonderen Weg gegangen. Wir haben die begriffliche Systematik der Philosophie, in deren Rahmen die Ästhetik früher ihren Platz gefunden hatte, nicht wieder herstellen können. Daß der letzte Repräsentant des großen systematischen Bemühens, Nicolai Hartmann, sein Lebenswerk mit einer Ästhetik abgeschlossen hat, ist uns erst nach dem Abschluß unserer Arbeit bekannt geworden. Wie die „Ausblicke" andeuten, glauben wir an die Möglichkeit einer Einordnung unserer Ergebnisse in ein System der Philosophie; über dieses Postulat können wir aber nicht hinausgehen. Darum haben wir uns auch streng auf die Selbstaussage ästhetischer Erlebnisse beschränkt und alle spekulative Anlehnung an Metaphysik, Biologie und Psychologie vermieden. Dagegen wissen wir uns manchen Prinzipien und Ergebnissen verpflichtet, die als Gemeingut der Erkenntnis gelten können, und deren Bedeutung für die Ästhetik nur nicht genügend beachtet worden ist. Kants scharfer Ausblick nach dem Allgemeingültigen im ästhetischen Urteil steht hier obenan. Für den Zugang zu dieser Allgemeingültigkeit fanden wir entscheidende Hinweise bei zwei unter sich selbst verschiedenen Denkrichtungen. Die eine war die von Husserl begründete Phänomenologie — zwar nicht als philosophische Doktrin, wohl aber als Anweisung zur Kontrolle des Bewußtseins. Die Frage nach dem im Wahrnehmen und Fühlen gemeinten Sinn, die Feststellung der Eigenart sowohl wie der Wechselbeziehung von elementaren Erlebnisgehalten war für uns ein methodisches Leitprinzip. Ihre Ausrichtung aber 11

folgte einer Intention, die durch Ernst Cassirers „Begriff der symbolischen Formen" ermutigt war. Imaginatives Schaffen, dem auch die Kunst angehört, ist auf Ziele ausgerichtet, in denen es die begriffliche Erkenntnis ergänzt. Auf die beiden Form-Prinzipien, von denen unsere Untersuchung ausgeht, „Gegenwart" und „Gestalt", sind wir natürlich durch die moderne Psychologie hingeführt worden. Für die Beachtung des erstgenannten Begriffs war entscheidend, daß die „Denkpsychologie" Richard Hönigswalds der systematischen Beziehung zwischen „Präsenz" und Sinnbestimmtheit nachging. Es ist üblich geworden, Ästhetik und Kunstlehre gleichzusetzen. Das besondere Interesse an den Problemen der modernen Kunst hat wahrscheinlich die Tendenz zu dieser Einschränkung, die schon früher bestand, erheblich bestärkt. Im ästhetischen Fühlen als solchem hat sie aber keinen Rückhalt. Es empfängt Schönheit aus der Hand der Natur. Diese Tatsache hat einen Ausgangspunkt unserer Betrachtung gebildet. Im Unterschiede vom sonstigen heutigen Schrifttum behandelt sie das ästhetische Naturerlebnis als eine Erfahrung, in der das Verhältnis von Schönheit und Wahrheit deutlich werden muß. Auf der anderen Seite setzt die zentrale Stellung dieses Wechselverhältnisses der Behandlung der Kunstlehre im Zusammenhang unserer Gedanken bestimmte Grenzen. So elementar auch die Beziehung der Kunst auf ästhetische Wahrheit ist, so kann sich doch nicht alle Kunstübung mit der Verwirklichung ästhetischer Wahrheit decken, und diese Verwirklichung kann auch nicht der alleinige Gradmesser ästhetischen Wertes sein. Wir haben uns deutlich genug hierüber ausgesprochen und wissen sehr wohl, daß unsere Untersuchung durchaus nicht der ganzen Erscheinungswelt der Kunst gerecht wird. Dieser kurze Rechenschaftsbericht wäre unvollständig, wenn er nicht wenigstens im Umriß klarzustellen versuchte, wie sich unser Gedankengang zu dem weit ausgespannten System Nicolai Hartmanns verhält. Das soeben Gesagte berührt wesentliche Momente der Übereinstimmung sowohl wie der Unterscheidung. Hartmann weist, wie wir es auch tun, dem „Rätsel des Naturschönen" einen wichtigen Platz in der Grundlegung der Ästhetik zu. Sein Werk ist aber darauf angelegt, eine systematische Darstellung der Prinzipien aller Künste und aller ästhetischen Werte zu ermöglichen. In beiden Punkten steht weit mehr in Frage als die literarische Aufgabestellung allein. Wir finden bei Hartmann den elementaren Ausgangspunkt unserer Betrachtung bestätigt, von dem aus schon der nächste Schritt zum ästhetischen Naturerlebnis führt. Das Phänomen, das er die „ästhetische Enthobenheit" nennt, haben wir unter der Bestimmung „ästhetische Gegenwart" gleich ihm an den Anfang der Untersuchung gestellt. Von hier aus gelangt er wie wir zu der Position, die die Problematik der Kritik der Urteilskraft wieder aufnimmt. Er kommt wiederholt auf sie zurück. „Das Ganze ist so ein durchaus Objektives, und das will besagen: ein rein gegenständliches Gebilde, . . . 12

obgleich es in seinem gewichtigeren Bestandteile vom Subjekt und seinem Akt her mitbedingt ist und ohne dessen Zutun gar nicht zustande kommt, daher auch nur „für" ein adäquat schauendes Subjekt besteht. Ein Objektives ist eben noch lange kein vom Subjekt unabhängig Seiendes." Wie in dieser grundlegenden Feststellung, so begegnen sich auch später seine Erörterungen und die unsrigen noch wiederholt. Aber Hartmanns Systematik, die ja durch sein ganzes philosophisches System bedingt ist, versucht nicht, wie wir es getan haben, den Wechselbezug des Gegenständlichen und des Subjekts (nach seinem treffenden Ausdruck „das Erscheinungsverhältnis") einer Analyse zu unterwerfen, die auf einen dem ästhetischen Erlebnis selbst immanenten Sinngehalt hinführen müßte. In der stolzen Bescheidenheit philosophischer Resignation sieht Hartmann von vornherein von der Möglichkeit ab, daß das ästhetische Erlebnis selbst um die Wahrheit wissen könnte, die ihm zugrunde liegt. Bei aller Betonung der Wechselbeziehung zwischen der „Struktur und Seinsweise des ästhetischen Gegenstandes und dem „betrachtenden, anschauenden und genießenden Akt" behandelt er beide doch als Themen getrennter Analyse. Wir haben uns bemüht zu zeigen, wie im ästhetischen Grundphänomen diese Trennung durch die Sinngegebenheiten der ästhetischen Gegenwart und ästhetischen Gestalt überbrückt ist. Wir haben es f ü r legitim gehalten, von ihnen aus zur Bestimmung der Gehalte vorzudringen, in denen das ästhetische Erleben selbst den Sinn der Schönheit und ihren eigenen Anspruch auf Wahrheit festhält. Hartmann muß auf diese Zielsetzung verzichten. Er kennt jene tiefsten Gehalte des ästhetischen Erlebens genausogut wie wir. Seine Betrachtungen über „Konvergenz aller großen Kunst" berühren das, was wir mit ästhetischer Wahrheit meinen. Aber es ist sehr bezeichnend, daß er sie nur nachträglich in einem Anhangskapitel „Zur Ontologie des ästhetischen Gegenstandes" beifügen kann. Er würde wahrscheinlich auch den Begriff der ästhetischen Wahrheit, wie wir ihn fassen, als zu subjektivistisch angesehen haben. Im ganzen ist ja seine Darstellung darauf bedacht, die Ästhetik „gegenständlicher" zu machen, als sie die Philosophie früher hat bleiben lassen. Seine Begriffsbildung ermöglichte ihm den Aufbau einer umfassenden Erörterung der Künste und der „Genera des Schönen". Ihre subtile Begriffszergliederung endet zuweilen in Skepsis gegenüber dem gewonnenen Resultat („die alte Kalamität der ästhetischen Werte: sie sind nicht zu fassen"). Aber in einem gewissen Gegensatz zu der Resignation des Verfassers hat sie Dank der ästhetischen Feinfühligkeit, die sie auf Schritt und Tritt begleitet, dem „Betrachter des Schönen" viel zu sagen. Das Erfordernis einer von Zweideutigkeiten befreiten Begriffssprache ist wohl auf keinem Gebiete der Philosophie schwieriger zu befriedigen als auf dem unsrigen. Gefühltes und Geahntes wird mit Worten eher umschrieben als definiert, und alle für solche Umschreibung verfügbaren Worte sind schon mit Vieldeutigkeit belastet. Als wir dem Begriff der 13

„Reinheit" eine entscheidende Stellung für die Bezeichnung ästhetisdier Wahrheit einräumten, konnten wir nicht berücksichtigen, daß sowohl der „Purismus" moderner Künstler wie die Kritik, die er erfahren hat, das Wort in durchaus anderem Sinne verwenden. Wir denken hier vornehmlich an die Erörterungen Hans Sedlmayrs, („Die Revolution der Modernen Kunst", 1955) deren Ergebnisse sich so vielfach mit den unsrigen berühren. Hier wie anderwärts muß der Kontext zur Klarstellung der Begriffssprache beitragen. An einer wesentlichen Stelle haben wir die Verwendung eines und desselben Wortes in zwiefältigem Sinne hingenommen. Es handelt sich hier um den Begriff des ästhetischen Wertes. Der deutsche Sprachgebrauch hat es mit sich gebracht, daß der Terminus „Wert" — übrigens nicht nur auf ästhetischem Gebiete — zwei zwar aufeinander bezogene, aber nicht identische Sinnbezüge enthält. Er bezeichnet einmal Schätzbarkeit und Schätzungsgrad. Zugleich aber richtet er sich auf Objekte des Fühlens und Wollens, denen, aus welchen Gründen immer, Schätzbarkeit zugesprochen wird. Eine scharfe, terminologische Trennung wäre gewiß erwünscht; sie aber in der vorliegenden Arbeit vorzunehmen, hätte deren Rahmen gesprengt. Für die wesentlichste Grundlage des Verständnisses kann freilich auch die sorgfältigste Begriffssprache keine Gewähr bieten: Das ist die Vergegenwärtigung der Erlebnisse, auf deren Interpretation die ganze Betrachtung abzielt. Wir müssen uns darauf verlassen, daß sie dem Leser vertraut sind. Wem Natur nur Erfrischung, Kunst nur Unterhaltung bedeuten, dem sind diese Erlebnisse fremd. Aber auch dem Forsdher, der der Mannigfaltigkeit künstlerischer Produktion in ihren psychologischen und historischen Voraussetzungen nachgeht, kann sich der Sinngehalt des Schönen, der uns hier zu denken gibt, leicht entziehen. Er ist in voller Stärke dem einzelnen Menschen vertraut, der sich mit der Natur und mit Kunstwerken allein gewußt hat und der sie aufgesucht hat, um sich mit ihnen allein zu wissen. Die unmittelbare Sprache dieser Stunden ist stumm. Die Wahrheit, die uns in ihnen aufgeht, hat die Eigenart, daß sie sich ebensosehr zu verschließen wie zu offenbaren scheint. Darum ist es so schwer, auf irgendeinen diskursiven Wege von gedanklicher Frage und Antwort zu ihr zu gelangen. Sie trägt auch immer ein sehr persönliches Gepräge; wir halten ihre Erfahrung fest als einen individuellen Moment in unserem individuellen Leben. Kann ein solches Erlebnis noch anders begriffen werden wie als Funktion mensdilicher Existenz? Kann ihm Wahrheit, kann ihm Gültigkeit abgewonnen werden? Wir dürfen auf ein Zeugnis verweisen, das zugunsten dieser Geltung ausgeht, das ist das Zeugnis europäischer Dichter von Shakespeare an. Man mag einwenden, das sind Dichter einer sehr besonderen Kultursphäre, deren universelle Bedeutung in Zweifel zu ziehen man gerade heute beliebt. Aber dieser Einwand ist nicht entsdieidend. Man würde ihn kaum gegenüber den Erkenntnissen der modernen Natur-Wissenschaft gelten lassen, die der gleichen Epoche entstammen. Was allgemeine Wahrheit enthält, 14

darüber entscheidet kein Plebiszit der Menschheit. Welche allgemeine Wahrheit im Schönen enthalten ist, für diese Entscheidung haben wir kein Plebiszit. des ästhetischen Geschmacks heranzuziehen — und die Tatsache, daß von einem solchen Plebiszit kein einstimmiges Urteil zu erwarten ist, besagt nichts gegen unsere Gewißheit: hier, in dem, was uns dieser Anblick der Natur, dieses Bild, diese Tonfolge, darbieten, ist Wahrheit gegenwärtig, die unser Sein und das Sein der Dinge angeht. Alles was zu fordern ist, ist, daß wir uns über diese im ästhetischen Erlebnis gegenwärtige Wahrheit mehr aussprechen können als es in solchem Bekenntnis geschieht. Das jeweils anschaulich Gegenwärtige — ein Stück Natur, ein Bildwerk, eine Tonfolge — wird, indem es sich vor uns aufbaut, eine Stimme, deren Aussage sich nicht nur auf das unmittelbar Gegenwärtige bezieht. In diesem Gegenwärtigen ist uns etwas zugewandt, das wir nicht anders benennen können als mit dem Namen: das Sein selbst. Es ist ein Geistiges, das die Wirklichkeit durchzieht, gerade da, wo sie sich nur als Erscheinung zu fassen gibt — ein Geistiges, das unser Ich mit dem Sein der Welt verbindet. Es lebt in unserem Innern, es lebt im Raum. Es braucht für seine Bestätigung nichts als ein Aufmerken auf die Bedeutungen, die in seiner Gegenwärtigkeit zusammenklingen und helfen, es eindeutig zu machen. Gegenwart des Seins, so gibt sich die Gegenwart der ästhetischen Erscheinung zu verstehen. Wenn wir dies festhalten, wissen wir schon, an welche Elemente jeder, auch der einfachsten und alltäglichsten ästhetischen Erfahrungen das ästhetische Erlebnis des Seins, oder, wie wir auch sagen, das Erlebnis ästhetischer Wahrheit anknüpft. Es ist die einfache Tatsache, daß Schönes, um als Schönes erfaßt zu werden, uns als das jetzt und hier Gegenwärtige bedeutsam werden muß. Ästhetische Erfahrung unterscheidet sich von anderen Erfahrungen durch die spezifische Struktur der Gegenwart, die sie ausfüllt. Von der Beschreibung dieser Struktur muß unsere Untersuchung ihren Ausgang nehmen. Mai

1957. RICHARD

KOKBNER

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KAPITEL

I

Einleitung in den Begriff der ästhetischen Gegenwart 1. Der Begriff der Gegenwart als notwendiger Ausgangspunkt für die Erörterung ästhetischer Erfahrung Für die Mannigfaltigkeit ästhetischer Phänome ist durchgehends charakteristisch, daß sie an Gegenstände der Erfahrung gebunden sind und zugleich an die besondere Weise, wie w i r diese Gegenstände erfahren. Ästhetische Erfahrung geht in Urteile ein, die Anspruch auf Gültigkeit haben. Diese Landschaft ist erhaben, dieser Mensch ist anmutig, dieses Gemälde ist schön. Diese Musik erschließt Tiefen des dem Gefühl Erfaßbaren. Wir vermögen dem jeweiligen „Dies" einen Platz in der jedem Wissen zugänglichen Erfahrungswelt zuzuweisen. Aber keine allgemein zugängliche Erfahrung besitzt Kriterien, aus deren Anwendung sich ergibt, daß der Gegenstand erhaben, anmutig, schön ist. Keine Erfahrung außer einer, das ist die Erfahrung, die wir an uns selbst machen, wenn wir dem Gegenstand gegenübertreten. Der Gegenstand ist groß, anmutig, schön, tief, wenn er vor uns unmittelbar gegenwärtig ist. Seine Größe usw. ist uns selbst gegenwärtig, wenn er gegenwärtig ist. Dieses Gegenwärtigsein ermöglicht uns, ästhetische Qualitäten am Gegenstande festzuhalten und ästhetische Urteile über ihn abzugeben. Ästhetische Urteile greifen, so können wir sagen, auf „ästhetische Gegenwart" zurück. Die spezifischen Eigentümlichkeiten ästhetischer Gegenwart bilden daher zusammengenommen das erste und fundamentale Prinzip, das alle anderen Kategorien der ästhetischen Erfahrung zur Voraussetzung haben. Wir versuchen im folgenden, dieses Prinzip genauer zu bestimmen, so daß seine selbständige Bedeutung gegenüber anderen Formen der Erfahrung und des Gegenwärtig-Wissens deutlich wird. Wir müssen dabei häufig mit Begriffen arbeiten, deren besonderer Sinn im Zusammenhang der Ästhetik erst an anderer Stelle klargemacht werden kann, z. B. Gestalt, Erscheinung, Kunst, Schönheit. Das ist unvermeidlich eben darum weil alle ästhetischen Kategorien mit der ästhetischen Gegenwart zusammenhängen. Es ist zulässig freilich nur wenn alle Kategorien, die wir hierbei als bestimmbar annehmen, später in dem gleichen Sinne definiert werden, der hier bei ihrer ersten Anwendung vorausgesetzt ist. 16

2. Die Unabhängigkeit der ästhetischen Erfahrung gegenüber der empirischen Interpretation ihres Gegenstandes Die Beziehung auf ästhetische Gegenwart ist das ästhetische Element an Gegenständen der Erfahrung. Sie schließt nämlich ein, daß für den ästhetischen Charakter von Gegenständen nichts wesentlich ist, das nicht in ästhetische Gegenwart treten kann. Mit ihr leisten wir Verzicht auf die Einbeziehung ursächlicher Zusammenhänge in die Analyse des ästhetisch Gegebenen. Nicht daß ästhetische Phänomene außerhalb solcher Zusammenhänge stünden. Als Phänomene der Wirklichkeit, als Tatsachen müssen sie durch Tatsachen bedingt sein. Diese Verknüpfung ist sogar für die Praxis der Herstellung ästhetischer Erfahrung besonders wichtig, sie hat technische Bedeutung. Aber diese technische Beziehung geht nicht selbst in die ästhetische Erfahrung ein. Marmor erhält durch Politur einen Glanz, der Marmorgebilde der Architektur und Plastik ästhetisch eindrucksvoll macht. Was Marmor ist, lehrt die Mineralogie. Wie Marmor poliert wird, hat der Steinmetz zu lernen und der Künstler zu wissen. Der Künstler bestimmt, wieweit die Politur durchgeführt werden soll. Aber daß der Marmor, so poliert, eine besondere Schönheit hat, das allein ist diejenige Erfahrung, die in der ästhetischen Betrachtung des Bildwerkes gewonnen wird. Darin, daß unser Blick auf ihm ruht, bestätigt sich seine Schönheit. In dieser Tatsache, daß unser Blick auf ihm ruht, halten wir das Grundphänomen fest, das wir als ästhetische Gegenwart bezeichnet haben. Wie die ästhetische Erfahrung durch naturhaft gegebene und technische Voraussetzungen bedingt ist, so wird sie unter Umständen auch durch konventionelle Regeln der Herstellung von Gegenständen bestimmt. Musik beruht nicht nur auf der Klangerzeugung der menschlichen Stimme und bestimmter Instrumente, sondern auch auf der Einordnung der Töne und Tonfolgen in Tonsysteme. Diese „Skalen" bedeuten eine Fixierung innerhalb einer unendlichen Mannigfaltigkeit. Die Fixierung der Töne, die Unterscheidung von rein und unrein ist bereits Angelegenheit einer Normbestimmung, an der Generationen von Musikern gearbeitet haben. Noch mehr gilt dies von der Differenzierung und Koordination einer Mannigfaltigkeit von Skalen. In verschiedenen Völkertraditionen werden verschiedene Skalensysteme als verbindliche Normen gehandhabt. Sie sind aber geschaffen worden, um die Grundlage für „musikalische Erlebnisse" herzustellen. Der musikalisch-technisch Gebildete kann im Anhören eines Musikstückes feststellen, wie der Künstler von den Möglichkeiten Gebrauch gemacht hat, die ihm die Norm der Skalensystematik offen stellt. Dieser Prozeß der Nachprüfung ist aber sekundär gegenüber der Wirkung des Musikstückes als eines „Ganzen". Das Musikstück hat als Ganzes eine Gegenwart ausgefüllt. Daß muß es auch für den technischen Kritiker leisten, wenn seine Analyse irgendeinen Sinn haben soll. Durchbrechung der Konvention geschieht, ebenso wie ihre Inne2 Vom Schönen

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haltung, im Interesse besonders gestalteter ästhetischer GegenwartsInhalte. Als bedingendes Moment der ästhetischen Gegenwart, das von ihr unterschieden werden muß, ist schließlich die praktische Zweckbestimmtheit zu nennen, die ästhetisch valenten Objekten, Bewegungen und Äußerungen zu Grunde liegt. Häuser auf Hügeln, die, wie wir wohl sagen, auf uns herabschauen, sind nicht darum dorthin gestellt, damit wir zu ihnen heraufschauen und sie als zu uns herabschauend erleben. Die Bewohner haben sie für ihre besonderen Ansiedlungszwecke dorthin gestellt und ohne diese Zwecke wäre der ganze Eindruck nicht da. Aber sie gehen nicht in den Eindruck selbst ein. Ein Mensch, dessen Erscheinung im Schreiten uns fesselt, ist auf einem bestimmten Gang von einer Stelle zur anderen. Aber wir folgen ihm nicht in dieser Beschäftigung, wenn wir seinen Gang betrachten. So fragen wir auch nidit bei einem Bildwerk oder Porträt, das einen schreitenden oder sitzenden Menschen darstellt, wohin der Dargestellte wohl Schreiten möchte und auf wen der Sitzende wohl wartet, — obwohl Niemand ohne eine Absicht geht oder sitzt. Dieser Unabhängigkeit des ästhetischen Erlebens sind deutliche Grenzen gesetzt. In jeden ästhetischen Eindruck sind Elemente des Verstehens eingeschlossen, ohne die er nicht verstanden werden kann. Wir sehen ein Porträt anders an als das Bild einer Göttin oder Heiligen und wir genießen eine Verszeile nicht wenn sie uns gar nichts zu denken gibt. Die Verknüpfung der Kunst und Dichtung mit intellektuellen Anforderungen ist, geschichtlich gesehen, für die Entwicklung hoher Leistungen in ihnen von entscheidender Bedeutung gewesen. Maler und Dichter entfalten ihre Fähigkeit, die Gegenwart des Betrachters oder Lesers zu fesseln, im Rahmen ihrer Fähigkeit zur anschaulichen Demonstration von häufig sehr komplexen Inhalten der Allegorese, oder Heiligengesdiichte. Sie wandten sich an ein Publikum, für das diese Inhalte so sehr die Welt ihres Wissens bedeuteten, daß der Weg vom inhaltlichen Verstehen zur ergriffenen Anschauung nicht weit war. Für uns Nachlebende, die von anderer intellektueller Wahrheit beherrscht werden, ist die Aufgabe des Verstehens mühsamer. Das inhaltliche Verstehen und das ästhetische Genießen gehen nicht leicht ineinander über. Wir brauchen die Vorbereitung einer Interpretation, um in die Welt des Künstlers zu gelangen. Aber daß die Schöpfer der Divina Commedia oder der Stanzen im Vatikan nicht bloß Lehrinhalte verdeutlichten, sondern die Gegenwart einer höheren Welt aufschlössen, wird auch dem Leser und Betrachter deutlich, für den diese Welt nicht mehr mit der Welt intellektueller Erkenntnis zusammenfällt. 3. Das Problem des Verhältnisses zwischen ästhetischer und aktueller Gegenwart Ästhetische Erfahrung, so zeigt jedes Beispiel, versetzt uns in eine Gegenwart. Eine Gegenwart, die als solche einen besonderen Gewinn 18

unserer Erfahrung bedeutet, das ist ein Sinngehalt, der nur dem ästhetischen Erleben zugrunde liegt. Er ist zugleich in jeden Gegenstand verwoben, dem wir ästhetische Valenz zusprechen. Einen Gegenstand schön nennen heißt ihm die Funktion zusprechen, daß die Zeit, in der wir bei seiner Betrachtung verweilen, als die von ihm geschaffene Gegenwart zu einem bedeutsamen Inhalt unserer Erfahrung wird. Wenn wir im folgenden von ästhetischer Gegenwart reden, beziehen wir uns also immer auf ein Erlebnis von Gegenwärtigem, in dem die Gegenwart des Gegenwärtigen einen beherrschenden Sinngehalt darstellt. Das ist eine unter mannigfaltigen Strukturen empirischer Gegebenheit, für die das Moment des Gegenwärtigseins wesentlich ist. Wir müssen ein weites Feld solcher Strukturen überschauen, um die Besonderheit der ästhetischen Gegenwart deutlich zu erkennen. Allen diesen Strukturen, und so auch der ästhetischen Gegenwart, liegt eine universelle Funktion des Begriffs der Gegenwärtigkeit für unser Bewußtsein überhaupt zugrunde. Einer Gegebenheit aktuell bewußt zu sein und sie gegenwärtig zu haben ist ein und dasselbe. Wenn wir etwas erfahren oder denken oder fühlen so erfahren, denken oder fühlen wir es „jetzt". Alle psychische Realität ist „präsent". Wenn wir aber der ästhetischen Erfahrung die Leistung zusprechen, daß sie uns in eine Gegenwart versetzt, so beziehen wir uns nicht auf dieses Wissen unseres Jetzt also solchen, sondern auf ein besonderes gegenständliches Jetzt, dem es sich gegenüber weiß. Wir beziehen uns auf Tatsachen und Vorgänge der Erfahrung, für deren Bestimmtheit es wesentlich ist, daß sie jetzt wirklich stattfinden. Hier gilt es aber weitere Unterschiede zu treffen. Auf Vorgänge der Wirklichkeit angewendet, bezeichnet der Begriff der Gegenwärtigkeit zunächst ein Verhältnis zwischen ihnen — ihre Gleichzeitigkeit am selben Ort. „Die Überreichung der Urkunde fand in Gegenwart verschiedener Würdenträger statt". Es ist deutlich, daß „in Gegenwart" hier nur soviel bedeutet wie „in Anwesenheit". Das Wort Gegenwart hat auch besondere historische Funktionen: das gegenwärtige Zeitalter, von wann ab immer gerechnet, oder auch rückblickend. Wir sagen von einem Menschen, daß sich für ihn die Schicksale und Aufgaben der Gegenwart durch diese oder jene Ereignisse bestimmten. Diese historischen und biographischen Formen des Gegenwart Habens liegen gleichfalls fernab vom ästhetischen Gegenwart-Wissen, obwohl sie Gegenstände der Kunst werden können. Ästhetische Gegenwart wird vom Individuum erfahren als den ästhetischen Gegenstand einschließend. Der ästhetische Gegenstand ist „jetzt vor mir" — oder ich weiß von ihm aus Erfahrung, daß er jetzt vor mir sein känn. Er löst ein Erlebnis jetzt in mir aus, oder ich weiß, daß er das getan hat. Dieses „Jetzt vor und in mir" ist spontan. Der Gegenstand bietet sich meinem Sehen, Hören und Verstehen so dar, daß er jetzt vor mich hintritt. Ich erlebe das Jetzt in ihm und als seine Leistung. 19

Ähnliches kann nun von anderen Erlebnissen ausgesagt werden, die nicht als ästhetische angesprochen werden wollen. Wir hören oder sehen ein Signal, es ist „jetzt" vor uns. Wir diskutieren — die Meinung des Opponenten wird uns „jetzt" entgegengehalten. Mein Gesprächspartner wirft mir „jetzt" einen fragenden Blick zu. In allen diesen Fällen ist das Jetzt-sein des Erfahrenen auch ausdrücklich in die Erfahrung eingeschlossen. Aber es hat sicherlich keinen ästhetischen Charakter. Dasselbe gilt vom Jetzt in mir. Körperlicher Schmerz, der mich durchzuckt, Behagen, das sich in mir ausbreitet: Diese Ausdrücke wenden wir doch auf ein spontanes und unmittelbares Gegenwart-Wissen an, das wir nicht als ästhetisch ansehen. Ebenso: Gefühle, die in uns aufsteigen, Sehnsucht, Liebe, Dankbarkeit, Schmerz. Wir bezeichnen alle diese Fälle der Gegenwärtigkeit, die sich durch das „vor mir jetzt" und „in mir jetzt" neben das ästhetisch Gegenwärtige stellen und doch nicht mit ihm identisch sind, als „ a k t u e l l e G e g e n w a r t " . Der Ausdruck „aktuell" bezeichnet: Das Gegenwärtige ist ein Vorkommnis im Ablauf des äußeren und inneren Geschehens, das meinem mich jetzt Wissen seinen besonderen Inhalt gibt. Das gilt f ü r das Signal, f ü r die Wechselfälle in der Diskussion oder Unterhaltung, wie auch f ü r den in mir aufsteigenden körperlichen oder seelischen Zustand. In den genannten Fällen liegt die Beziehung der aktuellen Gegenwart auf ästhetische Erfahrung fern. Aber aktuelle Gegenwart ist häufig ästhetisch qualifiziert. Und zugleich gilt: Ästhetische Gegenwart ist immer in aktuelle Gegenwart irgendwelcher Art eingeschlossen. „Jetzt geht die Sonne unter", das ist ein aktuelles Gegenwartserlebnis; und dieses aktuelle Gegenwartserlebnis umschließt die Schönheit des Sonnenunterganges. „Jetzt" konzentriere ich mich auf die Musik, die ich höre, „jetzt setzen die Bläser ein". Diese Momente werden als Gegenwartserlebnisse notiert, mit denen ästhetische Erlebnisse verknüpft sind. Aktuell ist ein jetzt und hier. Es wäre auch aktuell, wenn nichts Ästhetisches stattfände, aber das ästhetische Erlebnis kann n u r statthaben, wenn das Jetzt und Hier sich verwirklicht. Hier, an dieser Stelle eines Raumes muß ich stehen, damit ich das Bild übersehe, das sich mir jetzt in seiner Gestaltung offenbaren soll. Wie unterscheiden wir die ästhetische Gegenwart von der aktuellen, die nicht nur ihre faktische, sondern auch ihre spontan als gegenwärtig erlebte Grundlage bildet? Um diesen Tatbestand zu klären, müssen wir die Mannigfaltigkeit aktueller Gegenwart ins Auge fassen. 4. Die fundamentale Struktur aktueller Gegenwart, das doppelte

Jetzt

Unser Bewußtsein von unserem persönlichen Dasein, Denken, Fühlen, Wollen ist in seiner konkreten Gestaltung immer ein uns jetzt Wissen. So, wie wir uns gegeben sind, gehen wir durch ein Jetzt hindurch. Dieses Jetzt ist von unbestimmter Dauer. Zurückblickend erkennen wir, daß wir 20

ein anderes Jetzt verlassen haben, aber wir ordnen zeitlich Zurückliegendes vielfältig in unser jetziges Jetzt ein. Während ich einen Gedankenzusammenhang, wie z. B. den in dieser Studie vorliegenden, niederschreibe, befinde ich mich meinem eigenen Bewußtsein zufolge kontinuierlich im gleichen Jetzt. Das gilt zunächst von der inhaltlich zusaihmenhängenden und zeitlich ununterbrochenen Aktion, auf die ich konzentriert bin. Zurückblätternd weiß ich wohl, diese und jene Zeilen habe ich vor einer Stunde geschrieben, aber dieser zurückliegende Moment gehört zu dem Jetzt, in welchem ich fortfahre zu schreiben. Wird meine Arbeit unterbrochen, sei es auf kürzere Zeit, sei es z. B. durch die Nachtruhe, so weiß ich freilich: ich habe jetzt anzuknüpfen, wo ich vorhin oder gestern abgebrochen habe. Aber wenn dies geschehen ist, so kann ich dem Sinne nach ein Jetzt wieder herstellen, in dem ich gestanden habe. Dieses Bewußtsein muß sogar eintreten, wenn ich die Überzeugung gewinnen soll, daß meine Tätigkeit die Identität ihrer Richtung und ihres'Charakters gewahrt hat, daß ich „mir selbst treu geblieben bin". Ich bin, ich war. Ich tue, ich tat. Ich fühle, ich fühlte: Dies alles sind Ausdrücke f ü r : ich bin in Gegenwart, die streckenweise dieselbe bleibt, dann mir wieder als verändert erscheint. Dieser Fluß und Wandel meines mich gegenwärtig Wissens ist aber noch nicht genau das Gegenwärtige, das wir im Ausdruck „aktuell Gegenwärtiges" oder „aktuelle Gegenwart" festzuhalten suchen. Aktuell Gegenwärtiges ist vielmehr das Tatsächliche, dem von sich aus ein Jetzt innewohnt. Also: diese Arbeit, mit der ich beschäftigt bin. Die Unruhe, die mich überfällt bei dem Gedanken, daß ich sie abbrechen muß. Die Dämmerung, die hereinbricht während ich schreibe. Diese Gegebenheiten bekunden sich als jetzt geschehend und damit als das Gegenwärtige. Sie tragen f ü r unser Bewußtsein selbst die Note des Jetztseins in sich. Für unser Wissen von uns und der Situation, die uns umgibt, besteht demnach jederzeit ein doppeltes Jetzt. Wir jetzt haben mit Tatbeständen zu tun, die jetzt sind. Diese Begegnung von zweierlei Jetzt ist eine rein subjektive Struktur des Tatsächlichen. 5. Die Wechselbeziehungen von aktueller und historischer

Gegenwart

Bei einer Einordnung unserer Erlebnisse, Handlungen und Zustände in objektive Zusammenhänge lösen wir diese Gegenwartsstruktur auf. Sowohl das aktuell Gegenwärtige wie auch den Fortgang unseres eigenen Gegenwart Habens objektivieren wir dadurch, daß wir sie in räumliche und zeitliche Zusammenhänge einordnen, in denen weder auf unser Wissen von unserem Jetzt noch auf das jeweilige Jetztsein der aktuell gewesenen Vorkommnisse Bezug genommen wird. Alles dies war als individuell Tatsächliches mit anderem individuell Tatsächlichem koordiniert. Es fand statt in chronologisch und chronometrisch bestimmbaren Momenten an geographisch oder topographisch bestimmbaren Orten, während gleichzeitig an anderen ebenso bestimmbaren Orten anderes 21

stattfand. Die räumliche und örtliche Koordination ersetzt dann zugleich das „Hier", das mit jedem aktuellen „Jetzt" zugleich gegeben ist. Bei einer solchen Koordination individueller Erfahrung zu objektiven Tatsachenzusammenhängen gelingt es freilich nur scheinbar, die Beziehung auf unser uns jetzt Wissen völlig auszuschalten. Diese Koordination ist — im weitesten Sinne des Wortes — die historische Einordnung von Geschehnissen. Historische Einordnung hat eine Beziehung zur Gegenwart und zum Ablauf der Gegenwart zur Grundlage. Der historische Gegenwartsbegriff ist, wie wir schon angedeutet haben, verschieden vom Begriff der aktuellen Gegenwart. Aber er ist doch nicht zufällig gleichnamig mit ihm. Historische und ebenso geographische Orientierung wird vollzogen unter der Ansetzung der gemeinsamen Gegenwart, an der gleichzeitig lebende Menschen teilhaben. Diese gemeinsame Gegenwart umfaßt die Vielfältigkeit aktueller Gegenwarten. — Indessen: Diese Umfassung bedeutet auch ihre Auslöschung. Die Feststellung: am 31. März 1950 fanden auf der Erde diese und jene Ereignisse statt, die für verschiedene Individuen und Völker verschieden bedeutsam waren — diese Feststellung nimmt durch die Hervorhebung differenter Bedeutsamkeit auf aktuelles Gegenwart-Haben Bezug. Aber dieses aktuelle Gegenwart-Haben ist zur objektiven Bedeutsamkeit umgedeutet und verschwindet in ihr. Wäre das nicht der Fall, so müßte sich alle geschichtliche Realität in eine Unzahl autobiographischer Notizen auflösen.

6. Die Strukturen der aktuellen Gegenwart in ihrer

Mannigfaltigkeit

Der Charakter der aktuellen Gegenwärtigkeit haftet also an Ereignissen und Erfahrungen in ihrer subjektiven Beziehung auf uns. Er wird unkenntlich gemacht in dem Maße, in dem die fraglichen Tatbestände objektiviert und damit auch der wissenschaftlichen Erkenntnis zugänglich gemacht werden. Aber für unsere subjektive Existenz, für die Struktur unseres „Lebens" hat die aktuelle Gegenwärtigkeit eine grundlegende Bedeutung. Sie entfaltet sich in drei verschiedenen Dimensionen. Diese Dimensionen der aktuellen Gegenwart sind: a) die Aktualität der Aufgabe, b) die Aktualität der Wahrnehmung, c) die Aktualität meiner Affekte und Willensimpulse. Jede dieser Aktualitäten ist in sich mannigfaltig gegliedert. a) Als Aktualität der Aufgabe bezeichnen wir alles, was in die Operationen des Denkens und Verstehens als jeweils zur Erörterung stehend eingeschlossen ist, alles, was mir präsent ist als der Tatbestand, von dem meine Denkoperation ausgeht. Ich habe etwa als aktuelles Problem die Beurteilung einer politischen Situation, die mir die heutige Zeitung darbietet. Hierbei sind mir zunächst einmal die Nachrichten der Zeitung präsent — zugleich aber die historischen, geographischen, staatsrechtlichen usw. Verhältnisse, deren Kenntnis in der Nachricht vorausgesetzt 22

ist oder nach meinem Urteil mit herangezogen werden muß. Weiterhin ist mir präsent, wie mir die Zeitung eine besondere Auffassung suggeriert. Der ganze Vorgang ist aber eingeschlossen darin, daß ich weiß, ich habe mir eine Meinung zu bilden, und daß ich schließlich zu einem entschiedenen oder unentschiedenen Resultat der Meinungsbildung gelange. Mein Gegenwart-Wissen wird davon beherrscht, daß ich diese Urteilsbildung als das Aktuelle auffasse und meine Aktivität demgemäß einrichte. Das ist, was wir mit dem Ausdruck „Aktualität der Aufgabe" bezeichnen. Der grundlegende Sachverhalt ist der gleiche, wenn es sich etwa darum handelt, ein Urteil der Moral oder der Nützlichkeit zu treffen. Es ist ferner der gleiche, wenn sich eine Handlung anschließen muß: Erteilung eines Rates, Stellungnahme zu einer Forderung, Einrichtung meiner Arbeit usw. Er ist, was meine Situation jetzt anlangt, der gleiche, wenn der vorliegende, mir präsente Sachverhalt durch Wahrnehmung dargebracht wird: wenn ich zu beurteilen habe, was jetzt mir sichtbar vorgeht — vor meinem bloßen oder bewaffneten Auge — und wenn sich hieran entweder eine gedankliche Folgerung oder eine Handlung anschließen muß. Immer, wo Verstehen und Urteilen in Frage steht, entsteht ein Jetzt der Aufgabe. In ihm stellt sich die Doppelseitigkeit des Jetzt in besonderer Form dar. Gegenwärtig ist einmal das für die Aufgabe Wesentliche nach seinem Inhalt. Die Aufgabe drängt mir ihre Gegenwart auf. Gegenwärtig ist andrerseits die Tatsache, daß ich mich dieser Aufgabe zuwende, mein Jetzt erhält durch die Aufgabe seine Bestimmtheit. b) Aber das Wahrgenommene, die „Erscheinung" im weitesten Sinn des Wortes, bedeutet selbst eine Aktualität besonderer Art. Erscheinung tritt mir entgegen ganz unabhängig davon, ob ich an ihr Aufgaben zu lösen habe. Daß sich etwas meinem Blick darbietet, oder daß ich etwas höre, rieche, empfinde, dieser Sachverhalt entsteht jeweils nach meinem eigenen Bewußtsein nicht dadurch, daß ich jetzt etwas leisten muß. Er baut das mir Gegenwärtige auf ohne Rücksicht darauf, wie der Ablauf meiner inneren und äußeren Tätigkeit meine Gegenwart gestaltet. Gegenwart tritt in Gestalt von Straßenbildern, Landschaftsbildern, Begegnungen mit Menschen, Stimmen, die an mein Ohr klingen usw. an mich heran und gestaltet mein Wissen von meiner Gegenwart. Ich bin als „Ich jetzt" für mich determiniert durch das, was jetzt angesichts meiner vorgeht oder da ist. Auch hier, in der Aktualität der Wahrnehmung ist das aktuelle Jetzt doppelsinnig. Es ist das aktuell sinnlich Wahrnehmbare vor mir, und es ist mein Jetztsein, das an das Wahrgenommene gebunden ist. Das Wahrgenommene hat sein eigenes Jetzt in der besonderen Konfiguration, in der es mir ansichtig wird. Mein Jetzt ist determiniert durch dieses Ansichtighaben. c) Der Fortgang unseres persönlichen Leben ist ein Fortgang von Jetzt zu Jetzt, dem zugleich die Kontinuität der unserem Denken und Wollen gestellten Aufgaben und die Kontinuität der durch Wahrnehmung an uns herangebrachten Erfahrung den Inhalt geben. Diese beiden Kontinuitäten 23

der Aktualität werden nun ständig von einer dritten Aktualität begleitet. Wir „reagieren" auf das, was sich unserer Wahrnehmung darbietet, mit den Gefühlen und Antrieben, die in uns aufsteigen. Daß sie in uns aufsteigen, daß sie unserem Ichsein angehören, das haben sie mit der Aktualität der Aufgabe gemein. Aber im Unterschiede von dieser fehlt es ihnen an der planvollen Ordnung, die durch verstandene Sachverhalte begründet wird. Gefühle und Antriebe sind „spontan" da, ungelenkt und unbefohlen. Dies wiederum haben sie mit den Wahrnehmungsinhalten gemein. Aber im Unterschiede von diesen kommen sie aus unserem persönlichen Ich, nicht aus der Welt, mit der wir durch unsere Sinne in Berührung treten. Hier schließt sich das ganze Problembereich des Unbewußten an. Die Aktualität unserer Affekte ist nicht nur das Resultat unserer Situationen, sondern zugleich das Produkt gewesener Aktualitäten. So wesentlich indessen diese Tatsache für die Psychologie ist, so ist sie für den einfachen Aufweis der Mannigfaltigkeit des Aktuellen ohne entscheidende Bedeutung. In der Aktualität unserer Affekte und Impulse finden wir nicht jene Verdoppelung des Jetzt, die sich für die Aktualität der Aufgabe und der Wahrnehmung als charakteristisch zeigt. Das Entzücken, der Gram, die Sehnsucht, die jetzt in mir aufsteigen, sind ein eindeutig mir selbst angehöriges Jetzt. Die objektiven Sachverhalte, auf die sie sich beziehen, sind selbst nur dadurch „jetzt", daß sie zugleich Aktualitäten im Rahmen unserer Aufgabestellung oder im Rahmen unserer Wahrnehmung sind. 7. Die innere Beziehung der ästhetischen Gegenwart auf die Mannigfaltigkeit der Strukturen aktueller Gegenwart Ästhetische Gegenwart stellt sich, wie schon gesagt, immer im Rahmen aktueller Gegenwart her. Noch mehr. In ihr kommen alle drei Dimensionen der aktuellen Gegenwart zur Geltung. Wenn wir in ästhetische Gegenwart eintreten, so ist uns eine Aufgabe gestellt: die Aufgabe, ein Objekt — eine Landschaft, einen Menschen, ein Kunstwerk — aufzunehmen und über seinen ästhetischen Charakter, seine Sdiönheit, seinen Aufbau als Gestaltetes, seine Gediegenheit schlüssig zu werden. Dieser Gegenstand ist ferner ein Gegenstand der Erscheinung, ein Gesehenes oder Gehörtes, und als solcher aktuell. Und zum dritten: Diese Erscheinung „bewegt" uns, sie zieht uns an und sie erweckt Gefühle in uns, sie rührt unser Gefühlsleben auf. Die ästhetische Gegenwart ist im Rahmen der aktuellen Gegenwart zunächst dadurch ausgezeichnet, daß in ihr jederzeit alle drei genannten Dimensionen der aktuellen Gegenwart gleichzeitig vertreten sind. Ästhetische Gegenwart ist immer Gegenwart der Wahrnehmung. Ich sehe eine Landschaft oder einen Menschen oder ein Bild. Ich höre eine Stimme oder eine Musik. Ästhetische Gegenwart ist immer das Vollziehen einer Auf24

gäbe. Die Landschaft ordnet sich mir, indem ich auf sie blicke. Das Bildwerk wird in seiner Geste, das Gemälde in seinem Inhalt und Aufbau verstanden. Der Vers muß in seinem Sinn aufgefaßt werden. Die musikalischen Motive müssen sich mir zu einem Ganzen zusammenordnen, während ich die Musik höre. Schließlich wäre im Wahrnehmen und Verstehen keine ästhetische Gegenwart aufgebaut, wenn ich mich nicht durch das Ganze vor mir erregt wüßte, wenn nicht meine Gefühle sprächen, solange mein Sehen, Hören, Verstehen auf dem Ganzen ruht. Eine Koinzidenz von Aufgabe, Wahrnehmung und Gefühl ist freilich nicht allein der ästhetischen Gegenwart eigentümlich. Ich höre einen Tumult auf der Straße. Ich wende ihm meine Aufmerksamkeit zu. Was ich da wahrnehme und beobachte, erregt mich oder hat meine Teilnahme. Hier ist gleichfalls von einer Koinzidenz der drei Formen aktueller Gegenwart zu reden. Aber es handelt sich deutlich nur um aktuelle Gegenwart, die nicht ästhetisch ist. Was macht die Eigenart der Koinzidenz aus, die für die ästhetische Gegenwart charakteristisch ist? Wir könnten von jedem der drei Gegenwartsmotive ausgehen, um diese Eigenart zu treffen, denn alle drei Motive sind charakteristisch abgewandelt. Wir treffen aber die Eigenart der ästhetischen Gegenwart am sichersten, wen wir von einem Moment des Affektbezuges ausgehen, das allein für die ästhetische Gegenwart zutrifft und für uns selbst das Kriterium ihrer Gegebenheit bedeutet. Der Gegenstand fesselt uns. Wir wissen uns ihm zugewendet. Unser Fühlen strömt ihm zu. Er mag manches in sich enthalten, was unser Gefühl erregt. Er mag Erschütterndes erzählen, Leidenschaften aussprechen, die uns vertraut sind. Aber nicht darauf kommt es hier an, denn das hat ästhetische Gegenständlichkeit mit anderer gemein. Das Wesentliche des ästhetischen Affektes ist nicht die Hinwendung zu dem, was der Gegenstand uns schildert, sondern die Hinwendung zu ihm selbst. Die Hinwendung unseres Gefühls ist eingeschlossen in unsere Wahrnehmung und unser Verstehen des Gegenstandes. Und diese drei Aktivitäten durchdringen sich fortwährend. Unser Fühlen bedeutet, daß wir eine Aufgabe haben — nur die e i n e Aufgabe aber, den Gegenstand in seiner Erscheinung ganz aufzunehmen. Dieses Aufnehmen wird immer wieder bedeuten, daß wir verstehen müssen und daß sich etwas uns so ordnet, wie es sich nur dem seiner Aufgabe bewußten Verstehen ordnet. Das alles aber findet nur darum und solange statt, als der Gegenstand uns anzieht. Von einem intensiven ästhetischen Erlebnis sagen wir, daß wir uns nicht satt sehen oder hören können. Das heißt, der Prozeß des Aufnehmens und Verstehens setzt immer wieder von neuem ein, weil der Gegenstand uns so intensiv fesselt — weil er in seiner Erscheinung so stark zu unserem Gefühl spricht. Aber wir täten dem Sinn der ästhetischen Gegenwart unrecht, wenn wir ihn ganz oder auch nur vornehmlich in unser Wissen von uns selbst verlegen würden. Wir sind nicht mit uns beschäftigt. Wir sind beglückt, 25

aber es ist nicht unsere Beglückung, die uns interessiert, wenn es sich wirklich, um ein ästhetisches und nicht um sensuelles oder affektives Erlebnis handelt. Was da spricht und der Gegenwart Sinn und Inhalt gibt, ist der Gegenstand selbst, so wie er sich darbietet und zu verstehen gibt. Er selbst begründet die Hingabe unseres Gefühls, er gebietet sie. Er macht unsere Betrachtung und sogar die Anziehung, die er auf uns ausübt, zu einer in ihm belegenen Aufgabe. E r regiert unsere Gegenwart. In der ästhetischen Gegenwart erscheint also unser Jetzt, unser gegenwärtiges Wahrnehmen, Verstehen und Fühlen als zutage gebracht durdi das Jetzt des Gegenstandes in der Erscheinung, die er darbietet, und in der Aufgabe des Verstehens, die uns seine Erscheinung stellt. Der Gegenstand spricht ein Jetzt aus, und dieses Jetzt wird das unsere. Der Gegenstand weckt und gestaltet unser Jetzt durch eine ihm immanente Gegenwart. 8. „Ich" und „Wir" in ästhetischer

Gegenwart

Diese Struktur der ästhetischen Gegenwart bedingt ein weiteres, unentbehrliches Moment ihres Sinnes. Der Gegenstand ist jetzt vor mir, aber das ist die Verwirklichung eines Appells, den er an jedes Jetzt richtet. Er ist in einem ganz dem Ästhetischen eigenen Sinne f ü r „uns" da. Ohne über Allgemeingültigkeit nachzugrübeln fühle ich mich in einem Punkt getroffen, in dem ein Ichsein, das ich mit anderen teile, zur Geltung kommt. Ich bin zwar in allem meinem Verstehen und Fühlen ganz auf mich allein angewiesen. Ich habe keine ästhetische Gegenwart mehr, wenn ich andere fragen muß, was hier zu erleben ist, oder ob ich richtig empfinde. Noch mehr. Um der ästhetischen Gegenwart ganz sicher zu sein, muß ich mich gegenüber allen Schätzungen, die mir etwa gelehrt worden sind, gegen jedes „man empfindet so" abschließen. Ästhetische Gegenwart ist, wie jede aktuelle Gegenwart, ganz und gar Gegenwart vor mir. Dennoch ist ihr Sinn: W i r werden angesprochen. Hier spricht etwas zu u n s . Ich weiß mich in dieser besonderen Erfahrung mit anderen Menschen verbunden, die ich gar nicht zu kennen brauche. Ich weiß: das ist erhaben, packend, edel, schön. Hier stellt sich doch ein „man" ein. „Man" muß so empfinden. Wer nicht so empfindet, dem fehlt etwas. Ich schließe mich an keine Regel an, und ich stelle keine Regel auf, aber ich bin einer der unendlich Vielen, f ü r den dieser schöne Gegenstand etwas bedeutet — und wenn dies etwas nur ist, daß er schön ist. Damit enthält schon das einfachste ästhetische Erlebnis ein Element der inneren Notwendigkeit, der Wahrheit. Freilich, keine Wahrheit, die in Verstandesurteile eingehen kann und unabhängig davon gälte, ob es Menschen gibt, die sie haben können, sondern Wahrheit f ü r das zu solcher Gegenwart, wie die von mir erfahrene, gelangende Ich. 26

KAPITEL

II

Ästhetische Gegenwart als Transformation aktueller Gegenwart 1. Das Problem der

Transformation

Wir haben festgestellt, daß ästhetische Gegenwart immer eine Beziehung zu aktueller Gegenwart in sich trägt. Für ein nicht ästhetisches Bewußtsein haben die Gegenstände, die den Inhalt ästhetischer Gegenwart bilden, auch die Bedeutung, gegenwärtig vor uns zu sein. Ein Bild wird als ähnlich oder unähnlich beurteilt. Ein Bauwerk wird nach seinem sozialen Zweck befragt. In einer Landschaft orientieren wir uns topographisch. Musik ist f ü r ein unmusikalisches Ohr immerhin ein Klanggebilde spezifischen Charakters. Dichtung läßt sich in Prosa übersetzen. Darüber hinaus ist aber ein nichtästhetischer Gegenwartssinn auch in der ästhetischen Auffassung mit anwesend. Wir fragen bei einem Bildwerk: was stellt es dar, und in seiner Beurteilung spielt die Frage der sachlich adäquaten Darstellung eine auch unter ästhetischen Gesichtspunkten erhebliche Rolle. „Leere Gebärde", „unnatürliche Haltung" sind ästhetisch negative Urteile. „Für eine Kirche ist das Gebäude nidit feierlich genug", auch das ist ein ästhetisches Urteil. Oder „hinter der Fülle des Klangs und der heraufbeschworenen Bilder hat das Gedicht zuwenig Gedankeninhalt". Wir gehen an dieser Stelle nicht der Bedeutung solcher Urteilselemente f ü r die ästhetisdie Auffassung nadi, sondern betrachten nur das Problem, das sie hinsichtlich der Beziehung zwischen aktueller und ästhetischer Gegenwart stellen. Wir sehen: es genügt nicht, die spezifische Verschiedenheit der ästhetischen Gegenwart gegenüber der aktuellen hervorzuheben. Ästhetische Gegenwart ist eine spezifische Modifikation aktueller Gegenwart hinsichtlich ihrer Bedeutung und der Struktur ihrer Gegenwart. Sie ist „transformierte" aktuelle Gegenwart. Diese Transformation kommt uns im ästhetischen Verstehen selbst zum Bewußtsein. Der Gegenstand begegnet uns im Ablauf des aktuell Gegenwärtigen. E r löst sich aus diesem Ablauf heraus. Aber im Moment der Herauslösung gehört er ihm noch an. Unsere Begegnung mit ihm hat der Gegenwart angehört, in der unser Leben in der Zeit weiterschreitet. Daß er ästhetisch bedeutsam wird, heißt, daß dieser Zusammenhang unterbrochen wird. Der Gegenstand steht in einer anderen, eben der ästhetischen Gegenwart, und wir mit ihm. Aber Gegenwart ist doch immer ein Zustand unseres Uns-Wissens. Wir verlieren auch nicht unsere Identität, wenn wir uns mit dem Gegenstand in ästhetischer Gegenwart abschließen. Ein Übergang findet statt, bei dem unser Gegenwärtig-Haben des Gegenstandes einen neuen Sinn 27

und eine neue Struktur annimmt. Diese Transformation gilt es zu verstehen. Ästhetische Betrachtung und Darbietung von Gegenständen für ästhetische Betrachtung haben in der europäischen Kultur eine, man darf sagen, institutionelle Bedeutung erhalten. Wir suchen Landschaften und Architekturwerke auf, um sie ästhetisch zu genießen. Wir wissen, daß wir Werke als Kunstwerke betrachten sollen, wenn wir in Galerien, Konzerthäuser und Theater gehen. Wir achten, wenn wir ein Zimmer betreten, sofort darauf, ob es geschmackvoll eingerichtet ist. Diese absichtsvolle ästhetische Gestaltung der Kultur hat die Folge, daß jenes grundlegende Element der Transformation uns nicht immer zum Bewußtsein kommt. Das Museumsstück steht als Kunstwerk an seinem Platz; was soll es sonst, und was soll gar die Musikaufführung? Um die Bedeutung der Transformation aktueller in ästhetische Gegenwart zu würdigen, müssen wir uns Momente vor Augen führen, in denen wir ohne Vorbereitung an Gegenstände der Erscheinung herantreten, und in denen uns dann die ästhetische Gegenwart gleichsam überfällt. Wir gingen durch den Wald, nur um allein zu sein, und plötzlich schließt sich eine Aussicht vor uns auf. Wir sehen uns unter den Bildnissen um, die an der Wand hängen, und entdecken plötzlich ein Kunstwerk. Wir gehen durch eine Straße und werden durch ein einzelnes Haus gefesselt. In solchen Fällen erleben wir die Transformation der aktuellen Gegenwart in ästhetische gemäß ihrer elementaren Beschaffenheit. 2. Ästhetische

Ergriffenheit

Das Phänomen der Transformation kann in der Feststellung zusammengefaßt werden: Erscheinungen fesseln uns als Gegenstände der Betrachtung und bilden in diesem Sinne ein Ganzes, das die Gegenwart ausfüllt. Freilich: sind wir nicht auch „ergriffen", wenn wir von einer guten Tat oder einem schweren Schicksal hören — wenn uns eine wissenschaftliche Erkenntnis aufgeht, oder wenn uns Liebe bekundet wird? In allen diesen Fällen entstehen für uns qualifizierte Momente unseres Gegenwartwissens. Was zeichnet ihnen gegenüber die ästhetische Gegenwart aus? Die ästhetische Ergriffenheit besitzt eine nur ihr eigene Selbstgenügsamkeit. Wenn eine Trauernachricht nur die Wirkung hat, daß sie mich für eine Weile erschüttert, so ist sie mir nicht tief gegangen. Die Größe eines Verlustes ist nicht an der Erschütterung zu ermessen, die die plötzliche Nachricht von ihm hervorruft. Sie zeigt sich darin, daß sich der Verlust immer wieder in Erinnerung bringt. Mit anderen Worten: es ist nicht der Sinn jener Erschütterung, in einer abgesonderten Gegenwart für sich zu stehen. Mit der Ergriffenheit, deren Inhalt moralische Bewunderung ist, steht es nicht anders. Lassen wir es bei der Erregung bewenden, so hat die bewunderte Handlung ihren Sinn f ü r uns verfehlt. 28

Wir haben nichts davon „gelernt". Ebenso wird der Eindruck, den mir eine wissenschaftliche Entdeckung macht, bedeutungslos, wenn ich die Entdeckung nicht in mein wissenschaftliches Weltbild hineinarbeiten kann. Affekte und Gefühlsstimmungen, die ohne Folgen in unserem Lebensablauf bleiben, nennen wir in einem abschätzigen Sinne „sensationell" oder sentimental. Wenn wir aber eine Erschütterung als ästhetische rechtfertigen können, so verlangen wir nicht, daß sie eine Wirkung auf unsere praktische Lebensgestaltung hat, und wir fühlen dennoch nicht, daß wir in der Sphäre des Sensationellen und Sentimentalen geblieben sind. Es gehört zum Sinn des ästhetischen Erlebnisses, daß es in sich abgeschlossen bleibt. Es verlangt, daß wir bei ihm verweilen. Wir kehren zu dem Gegenstand zurück, nur, um wiederum bei ihm zu verweilen. Wir ordnen ihn anderen Gegenständen zu, nur, weil wir auch bei ihnen verweilen. Ästhetische Gegenwart ist Gegenwart in einer anderen „Welt" als in der, die unser tätiges Leben ausmacht. Die Transformation der aktuellen Gegenwart in ästhetische bedeutet, daß wir immer wieder in diese andere Welt versetzt werden. Bedeutet dies eine Herabwertung der ästhetischen Gegenwart im Zusammenhange des Lebens, das sich hohe moralische oder intellektuelle Ziele setzt? Ist jene Selbstgenügsamkeit der ästhetischen Gegenwart ein Zeichen dafür, daß sie unser Leben nur als ein unwesentliches Spiel begleitet? Die Frage ist oft genug bejaht worden. Hochgespanntes religiöses Leben hat ästhetische Erlebnisse als Verführung oder Störung abgelehnt. Und zweifellos sinkt ästhetische Gegenwart im Gesamtzusammenhange des persönlichen und sozialen Lebens oft genug zu einer vorübergehenden Unterhaltung und zerstreuenden Spielerei herab. Aber das ist keine notwendige Konsequenz. Ästhetische Gegenwart steht trotz ihrer jedesmaligen Isolierung mit den tiefsten und dauernden Wahrheiten in Beziehung, zu denen menschliches Bewußtsein gelangen kann. Aber wir können an dieser Stelle unserer Untersuchung das scheinbare Paradox, das uns hier dargeboten wird, noch nicht auflösen. Es wird später den wesentlichsten Gegenstand unserer Untersuchung bilden. Für jetzt gilt es, die elementare Tatsache festzuhalten: die Transformation der aktuellen Gegenwart in ästhetische stellt sich dar als eine Affektion, die uns, solange sie anhält, ganz und gar an die Erscheinung fesselt, von der sie unserem Bewußtsein nach ausgeht. Die Erscheinung mit allen ihren gegenständlichen Inhalten verlangt von uns, daß wir sie in uns aufnehmen, daß wir sie betrachten und auf ihre Betrachtung konzentriert sind. Die Erscheinung verlangt nichts anderes als Betrachtung, aber als betrachtete beherrscht sie die Gegenwart. In diesem Sinne hat sie die Gegenwart transformiert. Darum lassen wir uns im ästhetischen Erleben Gegenstände darbieten, die außerhalb jener Transformation nur eine unnötige Belastung unseres Affektlebens darstellen würden. Was ist die bildliche oder dichterisch

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dargestellte Tragödie? Es liegt im Ablauf unseres Lebens keine Notwendigkeit dafür vor, daß wir uns mit dem Schicksal Niobes und ihrer Töchter oder dem Schicksal Hamlets und seiner Gegenspieler beschäftigen. Wir möchten keineswegs in der Rolle eines Augenzeugen sein, wenn die Ereignisse als wirklich angenommen werden. Der ganze künstlerische Eindruck würde verlorengehen, wenn wir uns vorstellen, daß wir selbst Horatio oder Fortinbras wären. Aber wir haben uns auch nicht erst deutlich zu machen, daß die Szene ja gar nicht wirklich ist. Die ästhetische Ausrichtung auf den Gegenstand schaltet jede Beziehung auf unseren Lebensablauf von vornherein aus. 3. Die zyklische Struktur der ästhetischen Gegenwart Erschütterung unseres Fühlens führt zur Betrachtung von Erscheinungen und begleitet sie. Gegenstände werden unter unserer inneren Anteilnahme betrachtet. Dies, so sahen wir, ist der Sinn dessen, daß Erscheinungen in ästhetischer Gegenwart stehen und wir in ästhetischer Gegenwart bei ihnen verweilen. Stehen und Verweilen: beide Ausdrücke bezeichnen die eigentümliche Tatsache, daß in der ästhetischen Gegenwart die Zeit in gewissem Sinne stillsteht und in einem anderen Sinne doch fortschreitet und eine dieser Gegenwart eigentümliche Bewegung hat. Die Zeit steht still. Das dürfen wir sagen in Beziehung auf das Verhältnis des Gegenstandes zum Ablauf der Wirklichkeit in der Zeit. Dieser Ablauf ist f ü r den ästhetischen Gegenstand außer Kraft gesetzt. Der Gegenstand der Wahrnehmung hat, sofern er in ästhetischer Gegenwart steht, keine „Umwelt". Faktisch wissen wir fortwährend von solcher Umwelt. Durch die Landschaft, die wir betrachten, ziehen Menschen und Gefährte. Vor ein Gemälde in der Galerie treten immer aufs neue Gruppen von Betrachtern. Während die Musik spielt, prasselt ein Regen nieder. Die Musik selbst kommt nur dadurch zustande, daß der Dirigent und die Musikanten die Bewegungen ausführen, die das Spiel vorwärtsbringen. Dies alles aber geschieht nicht innerhalb des ästhetischen Gegenstandes selbst. Er ist nicht verflochten mit dem, was die aktuelle Gegenwart eines nicht ästhetisch orientierten Beobachters der Situation, in der der Gegenstand erscheint, bilden würde. Er ist abseits der Wirklichkeit, in welcher Gegenstände zueinander im Verhältnis von Ruhe und Bewegung stehen. In diesem Sinne steht f ü r ihn und f ü r uns als Betrachter die Zeit still. Aber die Gegenwart der ästhetischen Erscheinung, die im Verhältnis zur Umwelt stillesteht, ist nach ihrer inneren Struktur keineswegs eine gleichförmig fließende Dauer. Indem wir die Erscheinungen betrachten, werden sie in sich selbst und in ihrem Wechselverhältnis immer lebendiger. Daß wir bei ihnen verweilen, bedeutet uns soviel, wie daß wir immer aufs neue auf sie zurückkommen, und daß sich vor uns entfaltet, was ihr Gegenwärtigsein uns zu sagen hat. Sie beharren in Identität. Dieselbe Land30

Schaft, dasselbe Gemälde, dasselbe Musikwerk ist am Anfang und am Ende der Betrachtung da. Aber im Ablauf seines Gegenwärtigseins hat es sich selbst immer deutlicher interpretiert. Es hat „gesprochen", aber nur um sich selbst auszudeuten. Die Gegenwart, in der das ästhetische Objekt steht, bleibt dementsprechend ein und dieselbe und verwandelt doch ihren Inhalt beständig im Gefolge jener Klärung. Wir dürfen sagen: ästhetische Gegenwart hat eine zyklische Struktur oder trägt eine zyklische Entwicklung in sich. Diese zyklische Entwicklung hat zwei Grundformen. Die erste Grundform eignet Gegenständen, die in ihrer optischen Erscheinung Inhalte ästhetischer Gegenwart werden. Sie werden ästhetisch verstanden, indem unser Blick von ihrer in sich gleichbleibenden Erscheinung gefesselt bleibt. Das gilt von der Natur, es gilt ebenso von Werken der bildenden Kunst. Für eine nicht ästhetische Betrachtung kommt es diesen Gegenständen gegenüber nur darauf an, den Tatbestand aufzunehmen. Was ist hier zu sehen? Welcher geographische Abschnitt kommt zur Übersicht? Was ist im Bilde dargestellt? usw. Diese Tatbestandsaufnahme mag länger oder kürzer dauern, die Fragestellung, die sie motiviert, setzt ihr ihr Ende. Die ästhetische Betrachtung ist ebenso gewissenhaft im sachlichen Verständnis des Vorliegenden. Aber für sie geschieht etwas innerhalb des Vorfindlichen. Die Gegenstände knüpfen vor uns Beziehungen untereinander an — oder sie offenbaren, daß sie Beziehungen zueinander haben. So auch die Elemente eines und desselben Objektes, etwa die Gliedmaßen eines plastischen Kunstwerkes. Wir erleben die Elemente der Erscheinung als einander antwortend, und dies ist ein Prozeß, der sich mehrfach erneuert. Wir treten aus der ästhetischen Betrachtung und Gegenwart heraus, wenn wir die Überzeugung haben, daß weiteres Verweilen uns diese innere Selbstaussprache des Gegenstandes nicht mehr deutlicher machen könnte. — Im Unterschied von Kunstwerken bleibt Natur selten ganz unverändert, während unsere ästhetische Betrachtung auf ihr ruht. Wolken am Himmel bilden neue Gestalten, der Himmel verfärbt sich in der sinkenden Sonne, das Laub bewegt sich. Aber das sind Veränderungen, die wir von Anfang an in Rechnung ziehen. Sie ändern nichts an dem grundlegenden Tatbestand, daß die Landschaft in ihrer Konfiguration eine und dieselbe bleibt, und daß unser Verweilen den Sinn hat, diese beharrende Erscheinung immer deutlicher sprechen zu lassen. Es steht anders, wenn die Erscheinung als bewegte Erscheinung ästhetisch aufgefaßt sein will. Das gilt von der Musik und von der Dichtung. Unser Verweilen bedeutet hier, daß wir dem Fortgang der Erscheinung lauschen. Wir folgen der Veränderung der Melodie und der Aussprache des in der Dichtung Gesagten. Aber wenn wir nur Veränderung wahrnehmen würden, so wäre die Gegenwart fortwährend unterbrochen. Es könnte nicht mehr von der Einheit einer ästhetischen Gegenwart und einer Erscheinung in ihr die Rede sein. Das Musikwerk und die 31

Dichtung müssen also, um ästhetisch zur Geltung zu kommen, so aufgebaut sein, daß sie selbst zyklisch angelegt sind. In ihnen kehren identische Motive in veränderten Konstellationen wieder. Diese künstliche „Variation" im weitesten Sinne des Wortes bringt das Gefüge der ästhetischen Gegenwart selbst zustande. Der Künstler regiert unser Verweilen. Er bestimmt, wann das Kunstwerk, und damit die ästhetische Gegenwart, zum Ende kommt. 4. Natur und Kunst als Inhalt ästhetischer Gegenwart Die ästhetische Bedeutung des Gegenstandes ist immer, daß er sich als gegenwärtig zum Ausdruck bringt. Das gilt von Gegenständen, deren Erscheinung mit gar keiner Absicht der Bekundung in Zusammenhang gebracht werden kann, ganz ebenso wie von solchen, die nur als Medien eines Ausdruckes gegenständliche Einheit haben — wie ein Bildwerk, ein Musikstück, ein gesprochener Satz. Die zyklische Struktur der Gegenwart ist in dem einen Falle wie in dem anderen das entscheidende Kriterium dessen, daß die Erscheinung des Gegenstandes als Entfaltung seiner Gegenwart und damit als ästhetisch Gegenwärtiges aufgefaßt wird. Dennoch sind wir nie darüber im Zweifel, ob die Bekundung des Gegenwärtigseins nur in der Erscheinung als solcher begründet ist, oder ob der Gegenstand seiner Entstehung nach dazu bestimmt ist, als gegenwärtig aufgefaßt zu werden. Die Gegenwart der Erscheinung wird immer entweder auf natürliche Beschaffenheit oder künstlerische Absicht zurückgeführt. Das sichere Wissen um die eine oder die andere Entstehung gehört wesentlich zur ästhetischen Gegenwart. Die Unterscheidung, von der wir hier reden, betrifft die ganze Struktur der ästhetischen Gegenwart. Der Tatbestand, daß uns ein Gegenstand gemäß seiner natürlichen Beschaffenheit fesselt, bedeutet eine andere Auffassung seines Gegenwärtigseins als der andere, daß in ihm eine Absicht auf ästhetische Anziehung, also auf Herstellung ästhetischer Gegenwart lebendig ist. Daß der Himmel, oder eine Baumgruppe, oder auch das Gesicht oder der Gliederbau eines Menschen uns einen ästhetisch valenten Anblick bereiten, das erscheint von jeder verstandesgemäßen Überlegung aus als ein rein subjektiver Tatsachenverhalt. Der Himmel, die Bäume, der Mensch haben ja nichts dazu getan, daß uns dieser Moment bereitet wird. Aber diese rationale Überlegung hat in unserem Erlebnis selbst keinen Platz. Es sind doch die Gegenstände selbst, der Himmel, der Baum, der Mensch, durch die uns eine ästhetische Gegenwart bereitet wird. Sie selbst machen sich uns gegenwärtig. Noch mehr. Wir fassen sie auf als in einer Gegenwart stehend, in der sie uns begegnen. Sie sind „jetzt" so, wie wir sie sehen. Das bezieht sich nicht nur auf unser "Jetzt", in das sie eintreten, und dem sie Form geben. Ihr eigenes Jetzt ist ein Gehalt ihres Wirklichseins, ihrer Wirklichkeit. Es ist dem Sinne des Erlebnisses nach nicht ein Produkt unserer Geschmacksrichtung. Viel32

mehr: soweit wir uns über die Entstehung des Erlebnisses Rechenschaft geben, finden wir es begründet in Momenten wirklicher Beschaffenheit und wirklichen Geschehens, deren Zusammenwirkung dem Gegenstand seine ästhetische Anziehungskraft verleiht. Diese „Konfiguration" ist ein wesentliches Element in dem Jetzt-so-Sein, das der Gegenstand uns entgegenbringt. An allem Sichtbaren, das uns ästhetisch fesselt, hat das Licht einen Anteil, von dem der Gegenstand bestrahlt ist. Wir sehen die Gegenstände im vollen Licht des Mittages oder im Dämmerlicht des Abends, im klaren Licht der Sonne oder im gedämpften Licht des abgeschlossenen Raumes. Der Gegenstand spricht zu uns von seiner Stunde. Sofern ästhetische Gegenwart von diesem Sinngehalt durchzogen ist, dürfen wir sie in einem ganz allgemeinen Sinn als Gegenwart der Natur bezeichnen. Der Gegenstand bereitet uns ästhetische Gegenwart so, wie er aus der Hand der Natur kommt. Die Wirklichkeit tritt uns gegenüber als von Gegenwart zu Gegenwart schreitend und als Offenbarung einer unendlichen Mannigfaltigkeit von Gegenwarten in einer unendlichen Mannigfaltigkeit von Gegenständen, die Phasen des Gegenwärtigseins durchlaufen. Ästhetisch valent zu werden erscheint als eine notwendige Eigenschaft des Wirklichen an sich, sofern es wirklich ist und in Erscheinung tritt. Wir können der Körper-Welt keine Intention auf ästhetische Gegenwart zuschreiben — und wir können dennodi die Tatsache, daß sie uns ästhetische Gegenwart bereitet, nur auf sie selbst zurückführen. In diesem Sinne nennen wir ästhetische Gegenwart eine Funktion der Natur. Dabei bedeutet uns das Wort Natur die Einheit der KörperWelt. Der Idee nach liegt diese Einheit aller ästhetischen Gegenwart ebenso notwendig zugrunde wie die Tatsache des Ich, das Gegenwart erlebt — und alle ästhetische Gegenwart kann darauf zurückgeführt werden, daß das Ich in seiner Gegenwart und die Natur in ihrer Gegenwart sich begegnen. Aber diese Idee wird nur in einer besonderen Gruppe von Erlebnissen vollinhaltlich durch die ästhetische Gegenwart realisiert. Das sind diejenigen Erlebnisse, die wir im besonderen Sinn als NaturErlebnis bezeichnen können. Wir werden uns mit diesem spezifischen Erlebnis der Natur erst später beschäftigen können. Erst dann wird deutlich werden, daß und warum ein umfaissendes Bereich der KörperWelt, nämlich die Erscheinung des Menschen, uns den Sinn einer ästhetischen Gegenwart der Natur nicht immer entgegenträgt. Fürs erste gilt es hier einer anderen Absonderung Rechnung zu tragen — nämlich derjenigen, die das Bereich der Kunst als eine Sphäre spezifischer ästhetischer Gegenwart begründet. Im ästhetischen Naturerlebnis ist dem Gegenstand als Wirklichem zu eigen, daß er jetzt gegenwärtig ist. Die Gegebenheit von Gegenwart im Kunstwerk ist mehrfach geschichtet. Das Kunstwerk entfaltet sich vor uns und spricht im Moment seiner Gegebenheit. Aber diese Sprache eignet ihm, weil es für sie geschaffen ist und die Schaffensintention, „die Hand des Künstlers", ist ein eigener Gegenwartsinhalt des Kunstwerks, 3 Vom Sdiönen

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von dem wir wissen, daß er nicht jetzt eben entsteht, sondern in einer anderen Gegenwart als der unseres Empfangens entstanden ist. Wir sehen den künstlerischen Gedanken, der dem Schaffen zugrunde liegt. Dazu kommt aber unter Umständen noch eine dritte gegenständliche Gegenwart. — Alle Dichtung, alle darstellende bildende Kunst und schließlich alle Musik, sofern sie einen Text hat, madien Personen oder Geschehnisse oder beides in Momenten ihrer aktuellen Gegenwart gegenwärtig. Diese dargestellte Gegenwart ist mit der Gegenwart der künstlerischen Intention eine Einheit eingegangen. — Das ästhetische Erlebnis kommt indessen nur dadurch zustande, daß die „gewesene" Gegenwart des Schaffens und die imaginierte oder abgebildete Gegenwart des Dargestellten in die Gegenwart des Angeschautwerdens eintreten. Daher ist die volle künstlerische Wirkung (Schönheit) daran zu erkennen, daß das Kunstwerk bei jedesmaliger Betrachtung als sich neu darstellend erfaßt wird. Jeder künstlerisch Empfängliche kennt bei wiederholtem Sehen, Hören oder Lesen das Erlebnis: „Es ist mir, als wenn ich das Kunstwerk zum ersten Male aufnähme, obwohl es mir schon lange vertraut ist." Diese Betrachtung verknüpft sich mit der unmittelbaren ästhetischen Gegenwart. Sie bereichert die zyklische Struktur dieser Gegenwart, indem sie früheres Erleben durch jetziges interpretiert und erweitert. Ein Vergleichen jetziger und früherer Eindrücke begleitet freilich auch unser ästhetisches Erleben der Natur. Einer Landschaft gegenübertretend, die uns schon einmal gefesselt hat, finden wir uns aufs neue gefesselt. Aber es fehlt dem Erlebnis der neuen „Gegebenheit" im ästhetischen Landschafts-Erlebnis an dem Motiv, das für das entsprechende Kunsterlebnis entscheidend ist — nämlich das Bewußtsein, daß wir die Schönheit des Gegenstandes adäquater verstehen. Dieses adäquate Verstehen heißt, daß wir uns der Gegenwart, die im Geiste des Künstlers lebendig war, näher wissen. Diese Gegenwart ist das von uns Verstandene. Die Gegenwart, die uns eins ist mit dem schaffenden Künstler, enthält den Doppelsinn der künstlerischen Konzeption und des künstlerischen Schaffens. Wir sehen das Gebilde, wie es ihm vorschwebte, und wir sehen seine schaffende Hand dem Kunstwerk in jedem Zuge aufgeprägt. Wir stehen mit dem Künstler vor dem Gebilde seiner Vision, und wir begleiten ihn in der Verwirklichung dieser Vision. Unser Jetzt wird geordnet durch jenes Jetzt, aus dem wir das Kunstwerk hervorgehen sehen. Die Intention des Künstlers gestaltet unsere Gegenwart. Für die darstellenden Künste bedeutet dies: daß wir der Beobachtung inne werden, die den Künstler gerade diesen Moment einer szenischen Konstellation oder diesen Aspekt einer Landschaft oder diese Gebärde eines Menschen festhalten ließ. Das ist das Mindestmaß der Gegenwart künstlerischer Konzeption, die mit der Gegenwart des Dargestellten zugleich erlebt wird. Es ist das Mindestmaß, denn das Erlebnis des Kunstwerkes wird um so reiner ein ästhetisches Erlebnis sein, je deutlicher die Persönlichkeit künstlerischer Konzeption in jedem Zuge der abgebildeten Realität anwesend ist. 34

KAPITEL

III

Ästhetische Gestalt 1. Ästhetische Gestalt als Prinzip des Aufbaus ästhetischer Erscheinung Wir erkannten ein durchgehendes, immer •wiederkehrendes und charakteristisches Moment ästhetischer Gegenwart in dem zyklischen Charakter, den die Erfahrung der Gegenwart annimmt, sobald wir ästhetisch gefesselt werden. Dem zyklischen Aufbau der Gegenwart entspricht nun eine besondere Struktur des Gegenwart ausfüllenden Gegenstandes. Seine Elemente sind miteinander verbunden unter der Bedeutung, daß sie wechselseitig dazu beitragen, jenen Kreislauf der Gegenwart wirksam zu erhalten. Sie gehören zueinander als einander antwortend, und jedes Element ist zugleich Antwort herausfordernd und selbst antwortend. Der Gegenstand wird so aufgefaßt, daß diese Bedeutung als ihm innewohnend erscheint. Er ist „Ganzes" unter diesem Gesichtspunkt der anschaulichen Wechselbeziehung seiner Glieder. Diese Struktur nennen wir das Prinzip der ästhetischen Gestalt. Der Begriff der Gestalt hat eine Bedeutung auch außerhalb der ästhetischen Erfahrung, und er bezieht sich auch in dieser weiteren Bedeutung darauf, daß Elemente zu einem Ganzen zusammentreten. Wir gehen nicht auf das Verhältnis dieses allgemeinen Gestaltbegriffs zum Begriff der ästhetischen Gestalt ein. Es genügt uns festzuhalten, daß ästhetische Gestalt sich an dem Erlebnis der Herstellung ästhetischer Gegenwart im zyklischen Aufbau erweist. Ein Baum ist jederzeit als ein Ganzes wahrgenommen, und als solches Ganze ist er auch „gestaltet" für eine nicht ästhetische Betrachtung, etwa im Sinne der Beschreibung des pflanzlichen Körpers. Aber wenn wir den Baum auffassen als ein Gebilde, das sich vor unseren Augen aufbaut, dann hat seine Gestaltung den besonderen Sinn, daß Wurzel, Stamm, Zweige, Blätter, miteinander an einem Gesamtbild des Baumes kooperieren. Jedes Stück des Baumes ist „Zug", der mit anderen Zügen zusammentritt. In dem Augenblick, in dem wir den Baum so betrachten, wird er Gestalt im ästhetischen Sinne und bildet Gegenwart im ästhetischen Sinne. — Wir betrachten ein Bild, auf dem Menschen in eifriger Unterredung abgebildet sind. Solange wir lediglich den Vorgang der Unterredung festhalten und etwa Näheres über ihren Inhalt zu erraten suchen, ist weder von ästhetischer Gegenwart noch von ästhetischer Gestalt die Rede. Das wird anders sobald uns aufgeht, daß auf diesem Bilde nicht nur Menschen als in Wechselbeziehung stehend dargestellt sind, sondern eine wechselseitige Beziehung unmittelbar anwesend ist. Ein Antlitz antwortet dem anderen, eine Geste klingt in der anderen Geste wieder. In poetischer Sprache hallt ein Wort in das andere hinein. Das ist eine besondere Beziehung neben der, daß die Worte einander im 3*

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Gefüge des Satzes zugeordnet sind. Die Wechselbeziehungen der Glieder eines ästhetischen Ganzen existieren nur für die ästhetische Gegenwart und in ihrem Zusammenhang. Sie kommen nicht zur Aussprache, wenn der Baum klassifiziert, die abgebildete Landschaft beschrieben, der Ausdruck des Dichters verstandesmäßig ausgedeutet wird. Aber sie machen den Gegenstand als ästhetische Gestalt gegenwärtig. Eine Erscheinung, die durch ästhetische Gegenwart ihre besondere Gegenständlichkeit empfängt, ist ganz und gar Gestalt. Das will heißen: so zu erscheinen, wie sie erscheint, ist ihre Bestimmtheit. Wir müssen, um ihre Eigenart verständlich zu machen, Züge hervorheben, die der Gegenstand gleichsam als für seine Erscheinung charakteristisch selbst hervorhebt. Wir können das niemals vollkommen in Begriffen tun. In der Verdeutlichung einer Gestalt machen wir immer den Anlauf zu ihrer Reproduktion. Wir nennen etwa den Himmel: ein tiefes Blau, das wie sich wölbend erscheint. Der Rhythmus der Struktur eines Baumes in Stamm, Ästen und Blättern: wir möchten diesen Rhythmus in einer Zeichnung festhalten. Oder: es ist uns, als könnten wir den Umriß eines Gebirges zeichnen — obwohl wir wissen, daß eine solche Zeichnung nur einen kümmerlichen Anhaltspunkt gäbe. So suchen wir auch, vielleicht mit dem hindeutenden Finger, den Aufbau eines Bildes, einer Statue, einer Architektur zu verfolgen. Ein musikalisches Ganzes steht vor uns. Wir glauben Klänge und Melodien festzuhalten, die das Gefüge des Ganzen andeuten. Oder: wir heben die Worte hervor, auf denen der Ton liegen muß, wenn das Gedicht als Ganzes vor uns steht. Diese elementaren Züge der ästhetischen Gestaltstruktur werden sich uns noch mit sehr mannigfachem Inhalt erfüllen. Zunächst machen wir uns die in jedem ästhetischen Erlebnis wiederkehrende Bestimmtheit dieser Struktur noch deutlicher, indem wir sie auch negativ bestimmen. Sie ist eine besondere Zusammenhangstruktur. Nach ihr betrachtet wird der Gegenstand als ästhetisches Ganzes angesehen. Das schließt ein, daß Zusammenhangsprinzipien, die dem Gegenstand unter anderen Erfahrungsgesichtspunkten zukommen, hier ausgeschaltet sind. 2. Die Konzentration

des ganzen Gegenstandes in seiner äußeren Erscheinung

Erscheinung ist unter jedem Gesichtspunkt einer Erkenntnis durch Erfahrung soviel wie die „äußere" Erscheinung von etwas, dessen materielle Zusammenhänge jenseits dieses äußeren gesehen werden müssen. Die einfachste Erfahrungserkenntnis sagt uns, daß die Erscheinung, die uns ein Baumstamm darbietet, nur eben die Außenseite seiner Rinde ist, wo nicht die Außenseite seines Holzkerns durchblickt. Der organische Zusammenhang, der den Baum aufbaut, liegt in diesen Außenseiten nicht offen zutage. Aber der Baum, so wie er als Gestalt vor uns steht, liegt hier zutage. Mit anderen Worten: Etwas als Gestalt sehen 36

heißt kein stoffliches Innen zum Außen ergänzen. So, wie der Gegenstand außen ist, ist er ganz. Wir fragen nicht nach einer Masse, die hinter der Oberfläche liegt, sondern der Gegenstand präsentiert sich selbst in seinem Flächenaufbau. Welche Tiefe liegt unter dem Schimmer der Welle? Empirisch gesprochen eine meßbare Tiefe, ästhetisch gesehen oder gestalthaft gesehen die Tiefe, die im Schimmer der Welle liegt. Das Antlitz eines lebendigen Menschen ist nur die Außenseite eines ungeheuer komplizierten körperlichen Gefüges, in dem noch dazu ein persönliches Ich spricht. Wenn wir vom Anblick des Menschen gefesselt sind, so suchen wir das Persönliche nicht tief innen, im körperlichen Organismus. Es ist eins mit dem sichtbaren Antlitz. Das sichtbare Antlitz ist der Mensch als Gestalt. Weil dem so ist, ist es auch allein möglich, ein solches Antlitz und die menschliche Person, die in ihm lebt, in Stein oder Metall nachzubilden, obwohl das empirisch gesprochen „tote" Massen sind, und hier hinter der Oberfläche formlose Masse liegt.

3. Die Abwesenheit

des Momentes der Hervorbringung Gestalt-Synthese

in der •

Diese Verschmelzung des „Innen" und „Außen" zur Gestalthaftigkeit des Gegenstandes läßt keine Frage danach zu, warum der Gegenstand so aussieht wie er aussieht. In der ästhetischen Gegenwart ist eine Frage ausgeschaltet, die in jeder anderen aktuellen Gegenwart unmittelbar lebendig ist: die Frage nach der Hervorbringung dessen, was die Erscheinung uns wahrzunehmen gibt. Diese Ausschaltung betrifft mit besonderer Entschiedenheit die Beziehung des Gegenstandes zu allen Faktoren, unter deren Einwirkung er uns zur Anschauung gebracht ist. Aktuelle Wahrnehmung, die auf theoretische oder praktische Erfahrung ausgeht, konzentriert sich — das heißt konzentriert ihr Gegenwartwissen gerade auf Momente, die für solche Verhältnisse der Hervorbringung und Einwirkung charakteristisch sind. Der Musiklehrer beobachtet, wie sein Schüler es anstellt, um einen Ton oder eine Tonfolge klingen zu lassen. Seine Wahrnehmung konzentriert sich auf die Technik der Hervorbringung des Tones. Ein Kritiker mag zuweilen dieselben Gesichtspunkte zur Geltung bringen. Für das ästhetische Erlebnis aber existiert nur die klingende Tonfolge. Sie hängt in sich zusammen, nicht mit dem produzierenden Musiker. Und eben dies, daß sie in sich zusammenhängt, ist ihr „in Gestalt sein". Dem Auge des Pflanzenkenners erschließt die Erscheinung einer Blüte ein Stadium des Prozesses, in dem das Leben der Pflanze verläuft. Das ästhetische Auge aber ist nicht angezogen vom Anzeichen eines Naturprozesses, sondern von der Blume, so wie sie sich für uns gerade jetzt 37

entfaltet. Die Blume hängt so, wie sie jetzt ist, als Gestalt zusammen, gleich wenn sie gar nicht anders existieren könnte als in dieser Gestalt. Umgekehrt: wo wir nach unserer ganzen gewohnten Einstellung eine Erscheinung ständig im Zusammenhang ihrer Hervorbringung auffassen, hat sie keine ästhetische Bedeutung für uns. Zwar sind ästhetische Gesichtspunkte sehr entscheidend dafür, daß wir uns im Spiegel ansehen, aber dann ist es nicht das Spiegelbild als solches, das uns ästhetisch interessiert. Das Spiegelbild ist nicht als Bild gegenständlich wie das gemalte Bild. Es existiert nur als Abbild, und das will sagen, es wird nicht als Gestalt gegenständlich. Viele ästhetische Erscheinungen sind in ihrer bestimmten Gestaltfiguration nur durch besondere einwirkende Umstände erklärlich. Zur Gestaltung einer Landschaft trägt der Schatten der Wolken bei, der jeweils flüchtig, veränderlich und zufällig ist. Aber die Gestalt verschwindet, wenn wir dieser Entstehung nachgehen. Die Ruine eines Bauwerks können wir darauf ansehen, was sie an Zerstörtem erraten läßt, oder wir können sie daraufhin ansehen, wie sie sich mit ihrer Umgebung zu einem architektonischen Ganzen verbindet. In der zweiten Betrachtung baut sie ein ästhetisch Gegenwärtiges auf. Und daß sie mit ihrer Umgebung — etwa Bäumen und Feldern — als ein Ganzes erscheinen kann, sie, die nicht dazu geschaffen ist, als Ruine hier zu stehen, das ist möglich durch die eigentümliche Synthese der Erscheinung, die wir Gestalt nennen. 4. Selbstaussprache als Sinn der Gestalt-Gegebenheit Daß ein Gegenstand als Gestalt in sich zusammenhängt, macht ihn also ebenso nach außen hin selbstgenugsam, wie audi die ihm zugewendete Betrachtung der Frage nach seinem Innen überhoben ist. Dieser Abgeschlossenheit entsprechen besondere Charakteristika, in denen wir seine Gegebenheit auszudrücken suchen. Es gibt deren mehrere. Sie sind gleichbedeutend in ihrem Sinn, Gestalthaftigkeit auszudrücken. Sie können aber alle nur als andeutend gelten. Wir sagen: Gegenstände bilden ein Ensemble, einen Aufbau. Das Schöne entfaltet sich vor uns, es „steht da". Dieses Stehen ist keine besondere statische Zuständlichkeit, auch eine Tonfolge steht vor unserem Ohr. Auch die Sonne „steht" am Himmel. Wir können ebenso sagen, daß sie „schwebt". Aber ebenso schwebt der Klang, und ebenso schwebt das architektonische Ganze eines Gebäudes. Gleichbedeutend mit Entfaltung, Stehen, Schweben, ist schließlich noch eine Bezeichnung, die aus einem ganz anderen Gebiet zu stammen scheint: das Ganze „spricht". Es spricht sich selbst aus. Dies ist der Ausdruck, der am schärfsten hervorhebt, daß in der ästhetischen Gegenwart der Gegenstand unserem Gegenwartwissen eine Aufgabe stellt. E r ist vor uns gegenwärtig solange er spricht. Er spricht nur dadurch, daß er in seinem Gestaltsein etwas ist, daß er dasteht, daß er sich entfaltet. Aber seine Bedeutung als Sprechendes umschließt weitreichende Funktionen 38

der ästhetischen Gegenständlichkeit, vor allem die Funktion, daß in seiner Gestalt Schönheit hingestellt und die, daß Wahrheit ausgesprochen ist. Wir haben soeben den Ausdruck gebraucht, daß der Gegenstand sich selbst ausspricht. Wir können ebenso sagen, daß er sich selbst gibt, indem er Gestalt ist. Das Selbst, von dem hier die Rede ist, gehört in seiner elementaren Gegebenheit allein der ästhetischen Gegenwart und Gestalt an. Es ist in keiner Weise ein aus der Erscheinung herausgelesenes „Wesen" des Gegenstandes. Eine solche Abstraktion ist dem ästhetischen Erlebnis ganz fremd. Daß sich das Wort „er selbst" uns aufdrängt, bedeutet nur wieder, daß der Gegenstand in seiner Erscheinung selbstgenugsam ist und auf nichts zurückgeführt werden will, das zu ihm zu ergänzen wäre. Das Selbst des ästhetischen Gegenstandes kann sich für eine empirische Analyse auf eine sehr komplexe Entstehung zurückführen lassen. Ein Leuchter mit einer Kerze darin, das ist etwa ein einfacher Fall einer solchen komplexen Entstehung. Aber sobald ich an diese Entstehung denke, habe ich nicht mehr die ästhetische Einheit des Gegenstandes vor mir. Ich erfasse den Leuchter als an einen Platz gestellt, die Kerze als in ihn hineingesteckt. Das ist die Bestimmtheit des Kerzenhalters mit der Kerze als Gebrauchsobjekt. In der ästhetischen Gegenwart steigt der Leuchter zur Kerze auf und schließt sich in ihr ab. Das können wir auch so ausdrücken, daß Leuchter und Kerze zusammen eine Gestalt bilden, und diese Gestalt gibt „sich selbst". Es kommt für sie gar nicht darauf an, daß Leuchter und Kerze aus verschiedenartigen Materialien bestehen. Metall und Wachs haben materiell nichts miteinander gemein, und doch bilden sie hier ein Ganzes, das sein Selbst zur Darstellung bringt. Das Gestaltgebilde kann auch noch weiter gespannt und, empirisch genommen, in noch reicherer Heterogeneität aufgebaut sein. Der Tisch, auf dem der Leuchter steht, die Wand dahinter, noch manch andere Gegenstände im Räume, dies alles kann zur Einheit einer Gestalt, eines Selbst, eines Sprechens zusammentreten.

KAPITEL

IV

Beziehung von ästhetischer Gegenwart und Gestalt auf Kontinuität der Erscheinung 1. Das Problem Die Selbstgenügsamkeit der ästhetischen Gestalt darf nicht so verstanden werden als ob sie alles vergessen machte, was dem Zusammenhang der Wirklichkeit in Raum und Zeit angehört. Kehren wir zum letztgenannten Beispiel zurück, so werden Tisch, Leuchter und Kerze, wenn sie ästhetisch für uns ein Ganzes bilden, doch immer zugleich als 39

das gesehen, das sie nach Aussage unserer Erfahrungen sind. Auch in der ästhetischen Gegenwart bleiben sie Tisch, Leuchter und Kerze. Sie bleiben sogar in ihrem Material bestimmt als Holz, Metall und Wachs. Ästhetische Gestalt ist Wirkliches der Erscheinung, das als Gestaltganzes der ästhetischen Gegenwart Inhalt gibt. In dieser Auffassung liegt nicht etwa die Erfahrung eines besonderen Kausalverhältnisses, einer Hervorbringung der Gestalt durch die Wirklichkeit. Wir sehen nicht die Gestalt durch eine Materie bewirkt. Die ästhetische Gestalt und das in ihr anwesende Wirkliche sind im Erlebnis ästhetischer Gegenwart ein und dasselbe. Es gibt Gestaltgebilde, für die keine andere Bedeutung grundlegend ist als die ihres Gestaltseins: Ornamente, musikalische Klanggebilde. Abgesehen von diesen Gebilden sind die ätshetischen Gestalteinheiten uns immer zugleich in Bedeutungen gegeben, die ihnen auch außerhalb der ästhetischen Gegenwart auf Grund der Gesamtheit unserer Erfahrung von ihnen zukommen würden. Sie sind Gegenstände der Natur und als solche gattungsmäßig bestimmt. Oder sie sind Menschen — oder sie sind Produkte menschlichen Schaffens und als solche wiederum mannigfaltigen Kategorien angehörig. Sie können schließlich geschaffene Abbilder von Gegenständen der Natur, von Menschen, von Produktionen menschlichen Schaffens sein. Was sie auch immer in dieser Hinsicht sind, ihre empirische Bedeutung ist in der ästhetischen Gegenwart um einen Sinngehalt vermehrt: sie sind ästhetische Gestalt. Ästhetische Gestalt ist der empirischen Wirklichkeit als ein besonderer Bedeutungsgehalt aufgeprägt. Mit dieser Feststellung können wir uns aber nicht begnügen. Wir müssen verstehen, wie sich die Sinngegebenheit „ästhetische Gestalt" mit der empirischen Bedeutung des jeweils gegenwärtigen Gegenstandes innerlich verbindet. Außerhalb der ästhetischen Gegenwart sind die ästhetischen Gegebenheiten jeweils Elemente dessen, was in der Erfahrung als Kontinuum des Wirklichen und des Erfahrenen vor uns steht. Ästhetische Gegenwart durchbricht diese Kontinuitäten. Sie schließt die Gegenstände für uns ab, sie schließt sie zur Gestalt zusammen. Dennoch erlaubt sie den Durchblick auf die Kontinuitätszusammenhänge der Erfahrung. Ja, sie kann sogar ohne diesen Durchblick nur dann bestehen, wenn die Erscheinungsgebilde außerhalb der ästhetischen Gegenwart sinnlos wären. Wir müssen untersuchen, wie sich die innere Wechselbeziehung zwischen der Kontinuität des Wirklichen und der Geschlossenheit des ästhetischen Ganzen genauer bestimmt. 2. Drei Formen der Kontinuität als Struktur-Prinzipien der Erscheinungswelt „Kontinuität" — dieser Begriff hat in Anwendung auf unsere Erfahrung eine mannigfaltige Bedeutung. Unsere Erfahrung beruht auf einem Wissen von verschiedenen Kontinuitäten und auf mannigfaltigen 40

Strukturen der Wechselbeziehung zwischen diesen Kontinuitäten. Über diesen weit verzweigten Aufbau müssen wir uns in den Grundzügen aufklären, ehe wir das Verhältnis der ästhetischen Gegenwart und Gestalt zu ihm untersuchen. Gegenstände der Wirklichkeit sind unserer Erfahrung dargeboten, jeder für sich als ein in sich Zusammenhängendes, als ein „Ganzes", ein Ding, oder auch ein Lebewesen oder eine Person. Das ist das elementarste Kontinuum. Dinge sind aber zugleich auch als untereinander verbunden aufgefaßt: der Baum wächst aus dem Erdreich, das Haus ist an der Straße errichtet. Das ist die Kontinuität des zwischendinglichen Zusammenhanges. Beide Formen der Kontinuität treffen für ein und denselben Komplex des Angeschauten zu. Die Blüte ist am Baum und zugleich Teil des Baumes, und ebenso verhält sich das Fenster zum Hause. Wir mögen daher beide Formen der Kontinuität unter einem Prinzip zusammenfassen: Reale Kontinuität innerhalb der Wirklichkeit. Es ist ein einheitliches Prinzip, aber das bedeutet nicht, daß hier von einer einheitlichen Kontinuität die Rede wäre. Vielmehr die Wirklichkeit ist immer, auch in der einfachsten praktischen Erfahrung und ohne weitere Analyse, angeschaut als eine Mannigfaltigkeit von Erscheinungen, in der mannigfaltige Kontinua nebeneinander bestehen. Von diesen Kontinua innerhalb der erfahrenen Wirklichkeit müssen wir die Kontinuität der Erfahrungswelt selbst unterscheiden. Dinge, zwischen denen wir keinen Zusammenhang annehmen, den sie als Dinge von Innen heraus hätten, keinen realen Zusammenhang also, sind doch immer gegeben als dem einen Zusammenhang der räumlichen und zeitlichen Welt angehörend. Sie sind nebeneinander, sie sind gleichzeitig oder nacheinander. Alle diese Beziehungen sind Verbindungen zwischen ihnen. Sie repräsentieren ein umfassendes Prinzip der Kontinuität: die räumlich — zeitliche Kontinuität der Erfahrungswelt selbst. Dies ist eine alle Kontinua der erfahrenen Wirklichkeit übergreifende Einheit. Diese Einheit gibt sich aber schließlich unserer Wahrnehmung niemals rein in einer ihr eigenen Anordnung, sondern sie ist uns vermittelt durch das Kontinuum des „Aspekts", unter dem die Erscheinungswelt jeweils sich unserer Wahrnehmung darbietet. Wir sehen einen Berg in der Ferne, am Rande des Horizontes. Wir sehen viele Dinge im Gesichtsfeld einander überschneidend. Wir sehen Sonne, Mond, Sterne, Wolken „über" der Landschaft. Wir wissen, daß die Ferne, die Überschneidung, das Oben und Unten und die Landschaft selbst nicht der Kontinuität der Erscheinungswelt angehören, aber wir haben die Erscheinungswelt nur im Aspekt, oder Horizont, oder Gesichtsfeld. Und umgekehrt: wir haben das Ganze des Aspekts gegeben als ein wirkliches Raum- und Zeitganzes in sich schließend. Entsprechendes gilt vom Nacheinander. Auch hier unterscheidet sich ein Aspekt der Zeitlichkeit vom zeitlichen Nacheinander als solchen. In die Stille eines Moments bricht ein Geräusch herein. Das ist bedingt durch zeitliches Geschehen, aber die Konstellation, 41

die das Geräusch auf die Stille folgen läßt, besteht nur für unsere individuelle Wahrnehmung. Und andererseits: jede individuelle Wahrnehmung stellt sinnmäßig einen Ausschnitt aus dem zeitlichen Geschehen dar. Die Kontinuität des Aspekts ist nun deutlich schon eingeordnet dem Prinzip, das wir auch für die ästhetische Erfahrung als grundlegend erkannt haben, dem Prinzip der Gegenwart. Daß die Dinge in einem räumlich-zeitlichen Aspekt zusammenhängen, das ist gleichbedeutend damit, daß sie uns unter diesem Aspekt gegenwärtig sind. Das heißt noch nicht, daß sie unter diesem Aspekt als ästhetisches Ganzes herausgelöst werden und einen Aufbau von Gestalt bilden. Aber ästhetische Gegenwart und ästhetische Gestalt sind Formen der Auffassung — und, wie wir hier gleich sagen mögen: Formen der Sinngebung oder Sinnhaftigkeit in der Kontinuitätseinheit des Aspekts. Mit dieser Kontinuitätseinheit, die für sie grundlegend ist, beruhen sie auf der Kontinuitätseinheit der Erfahrungswelt selbst, auf der räumlich-zeitlichen Kontinuität. Diese aber ist schließlich das Gefüge, innerhalb dessen die Mannigfaltigkeit der dinglichen Kontinua und der zwischendinglichen realen Kontinuität steht. Wir müssen jetzt die Elemente dieses Aufbaus in ihrer typischen Verschiedenheit sowohl wie in ihrer Wechselbeziehung genauer betrachten. 3. Natur als Inbegriff der in Erscheinung repräsentierten Kontinua

körperlichen

Als wir vorhin von der dinglichen und zwischendinglichen RealKontinuität sprachen, haben wir einen Hauptunterschied noch nicht berücksichtigt, der die Welt der Dinge in verschiedene Schichten gliedert. Was ist das Prinzip der realen dinglichen oder zwischendinglichen Kontinuität? Es gibt verschiedene Prinzipien, zwischen denen wir in jeder Erfahrung unterscheiden. Dinge werden in sich und untereinander als zusammenhängend angesehen kraft ihrer körperlichen Beschaffenheit, ihres „natürlichen" Aufbaus. Werden sie so angesehen, so gilt uns ihre Erscheinung als Bekundung dieses körperlichen Zusammenhangs. Andere Dinge können uns aber in ihrer einzelnen Erscheinung sowohl wie in ihrem Wechselbezug nur dadurch verständlich sein, daß wir in ihnen ein Ich, ein Wollen und Wissen als anwesend ansetzen. Sie sind von Intention belebt, und diese Intention macht ihre Kontinuität aus. Wo wir körperliche Kontinuität als gegeben ansehen, ist die Erscheinung, die sich unserer Wahrnehmung darbietet, vollständig ihr Repräsentant. Und umgekehrt: überall, wo die Erscheinung, die sich der Wahrnehmung darbietet, genügen muß, um zu sagen, was die erscheinenden Dinge sind, haben wir Körper vor uns. Die Erscheinung hat räumliche Ausdehnung und in ihr sinnliche Qualitäten, Farben, Formen. Sie hat zeitliche Ausdehnung, siebeharrt oder verändert sich in ihrer Farbigkeit 42

und Form. Sie hat eventuell allein zeitliche, nicht zugleich auch räumliche Bestimmheit und ist sinnlich repräsentiert durch akustische Phänomene wie der Wind und andere Geräusche. Wir gehen hier nicht ein auf die räumlichen und zeitlichen Erscheinungen, die im Tasten, Wärme empfinden, Riechen, Schmecken wahrgenommen werden, weil deren Bedeutung für die ästhetische Gestalt nicht in Frage steht. Wir beschäftigen uns nur mit dem Gesehenen und Gehörten. Das heißt, der erscheinende Körper wird aufgefaßt als Element eines übergreifenden, zwischendinglichen Zusammenhanges, der in jedem Punkte Körper und Erscheinung ist und nichts sonst: die Natur. Diese Einordnung ist besonders sinnfällig, wenn der Zusammenhang zwischen Körper und Körper selbst sich der Wahrnehmung darbietet. Wie der Baum sich, umgeben von Erdreich, erhebt, so wächst er aus dem Erdreich. Daß Baum neben Baum steht und das Erdreich sich unter ihnen breitet, darin ist eine übergreifende Einheit von Bäumen und Erdreich gegeben, ein Wald. Ebenso ist ein Feld oder eine Wiese aufgebaut, ebenso eine Gesteinshalde mit Sträuchern darin. Alles zusammen ist wieder ein übergreifender Komplex von Körpern oder Natur, etwa ein Berg. Und der Berg ist selbst wieder ein Komplex innerhalb einer noch mehr übergreifenden Einheit der Natur, der Landschaft. Hier aber greift schon der Zusammenhang des Aspekts ein. Die Landschaft als umfassende Einheit des Stückes Natur, das unserer Anschauung gegeben ist, ist ein Aspekt des Ganzen der Natur. Hier kommen wir zurück auf jenen Begriff der Natur, auf den uns die Analyse der ästhetischen Gegenwart geführt hat. Wir erkannten damals, daß ästhetische Gegenwart den Sinn haben kann, daß Erscheinungsdinge von selbst, ohne Zutun einer schaffenden Hand, zu einem Ganzen zusammentreten, das unsere Gegenwart ausfüllt. Wir erkennen jetzt, warum wir diesen Begriff einführen durften. Das Ganze des Gegenwärtigen, das uns allein durch die Dinge als Erscheinendes bereitet wird, ist notwendig verstanden als ein Gebilde rein körperlicher Kontinuität. Es ist damit verstanden als ein Stück des übergreifenden Kontinuums von körperlich Zusammenhängendem, das wir uns als Natur gegeben wissen. Und so, wie uns die Landschaft zur Gegenwart wird, ist sie ein Aspekt dieses Ganzen. Wenn wir von einer Landschaft reden, so beziehen wir uns auf den dinglichen Aufbau des Gegenwärtigen, in dem Körperliches rein als solches mit Körperlichem rein als solchem eine Einheit eingeht. Wenn wir die Gegebenheit der Landschaft „Naturerlebnis" nennen, so halten wir fest, daß ein solches Gebilde immer einen Aspekt des Zusammenhanges der Natur selbst repräsentiert. Woher wir die Synthese des Natur-Kontinuums nehmen, was an ihr der Anteil der Erfahrung ist, was der Anteil einer aller Erfahrung zugrunde liegenden, „phänomenologisch" zu begreifenden Sinnstruktur — diese Frage steht außerhalb der Erörterung, denn sie ist nicht aktuell, wenn das Natur-Kontinuum Gestalteinheit der ästhetischen Gegenwart wird. Wichtig dagegen ist, daß die Kontinuität der Natur auch als vor43

liegend angesehen wird wo sie sich nicht so sinnfällig darbietet, wie wenn Bäume mit dem Erdreidi in Berührung stehen. Himmel und Erde gehören dem einen Natur-Kontinuum an, obwohl wir nirgends an einen Punkt kommen, an dem das eine an das andere für die Wahrnehmung unmittelbar anschließt. Aus der Wahrnehmung allein können wir auch gar nicht darüber Auskunft geben, inwiefern der Himmel ein Körper ist. Wir wissen nur, daß sich im Blau des wolkenlosen Himmels, in den Wolken am Himmel und in den Gestirnen besondere Bezirke der Natur darstellen. Wir nehmen an, daß auch diese Himmelsdinge lediglich Erscheinendes, Ausgedehntes, Körperliches sind, und damit sind sie Bezirke der Natur. 4. Beseeltheit — Zentrierung in einem lebendigen Ich — als besonderes Prinzip individueller Kontinuität Aber das Kontinuum der Natur ist dennoch nicht überall anwesend, wo körperliche Erscheinung anwesend ist. Körperliche Erscheinung kann ganz oder teilweise unmittelbar in der Wahrnehmung verstanden sein als ein mitanwesendes Ich repräsentierend, und dann liegt ein anderes Kontinuum vor, eben das Kontinuum dieses Ichs. Dieses Ich ist unter Umständen nur animalisch, triebhaft, in Bewegungen repräsentiert, es ist anderwärts das menschliche Ich, das wir in seinen Gebärden, seiner Sprache, den Intentionen seiner Aktion und Reaktion zu verstehen glauben. Es ist schließlich indirekt anwesend in Gebilden, die sich uns darstellen als von Menschen in dieser oder jener Absicht geschaffen. In allen diesen Fällen vollziehen wir, wenn wir das körperliche Gebilde in seiner dinglichen Ganzheit und Kontinuität erfassen, nicht die Zuordnung zum höheren Kontinuitätsganzen der Natur. Wir vollziehen diese Zuordnung nicht, obwohl die sichtbare Berührung mit Körpern der Natur ebenso sinnfällig sein kann wie die zwischen naturhaften Körpern. Für die Erfahrung, die von der Wahrnehmung zur theoretischen Erfassung der Dinge weiterschreitet, sind Tiere nicht andere Elemente der Natur als Pflanzen. Pflanzen und Tiere zusammen bilden das biologische Bereich, aber Pflanzen gehen für die Wahrnehmung als Erscheinungen in Landschaften ein, und Tiere haben an dieser Zuordnung nicht teil. Tiere bleiben Individuen. Ihre Körper bekunden in jedem Zuge der Erscheinung individuelles tierisches Leben, während das Leben, das wir in Pflanzen zu erfassen glauben, das Leben der Natur ist. Daß eine Blüte sich öffnet, werden wir als eine Erscheinung im Ganzen der Natur vor uns ansehen — es ist, wie wenn ein Stern aufgeht: daß ein Tier seine Glieder regt, hat nur mit seinem eigenen animalischen Leben zu tun. Animalisches Leben ist aber auch anwesend in denjenigen Elementen seiner Erscheinung, die wir nicht mit dem Ablauf seiner Triebregungen in Zusammenhang bringen, etwa in seinem Fell. Noch größer ist die Spannweite des vom Ich umfaßten, noch entschiedener die Reduktion der Erscheinung auf das Kontinuum eines in 44

ihr lebendigen leb in aller menschlichen Erscheinung. Für die Auffassung des Menschen als Erscheinung haben die Begriffe Körper und Seele zwar eine große Bedeutung, aber der Körper steht dabei nicht unter dem Gesichtspunkte eines übergreifenden biologischen Naturzusammenhanges. Der Mensch ist zuvörderst in seiner Erscheinung ein Ich, und die auf ihn gerichtete Wahrnehmung folgt den Intentionen, die sie an diesem Ich zu verstehen glaubt. Sie ist ganz auf diese Intentionen konzentriert, wenn wir den Menschen sprechen hören. Sie kann vornehmlich in dieser Richtung gehen, wenn wir seine Blicke und Bewegungen beobachten. Sie verliert das Ich des Menschen selbst dann nicht aus den Augen, wenn sie sich nur mit seiner körperlichen Erscheinung beschäftigt und Züge der Erscheinung im Auge hat, an denen sein Ich gar nicht beteiligt sein kann, wie seine Statur, sein Haar, seine Kleidung. Menschliche Erscheinung ist die Erscheinung eines Ich in seinem Körper und den künstlichen Zutaten, mit denen der Körper ausgestattet ist. Die Bedeutung der körperlichen Momente für das menschliche Individuum ist aber mannigfaltig abgestuft. Sie braucht nur darin zu bestehen, daß sie den Menschen präsentiert. Wir identifizieren ihn in seiner Erscheinung und erinnern uns an ihn in seiner Erscheinung. Die Erscheinung ist selbst in dieser äußerlichen Beziehung weder ein vom Ich des Menschen getrenntes Kontinuum noch gar Element eines umfassenderen Kontinuum, das Menschen mit Menschen oder Dingen zu einem körperlichen Komplex von Erscheinungen verbände. Ich und Körper können aber auch in engere Beziehung miteinander gesetzt sein. Die Person des Menschen „lebt" in seinen Augen, seinem Mund, seiner Stirn, seinen Gesten. Ebenso lebt sie im Tonfall seiner Stimme. Schließlich erfassen wir unter Umständen das Ich und seine körperliche Erscheinung als miteinander kontrastierend: Ein altes Gesicht und ein lebendiger Geist, ein schönes Gesicht und eine leere Persönlichkeit. 5. Individuen geschaffener Wirklichkeit. Das besondere prinzip ihrer Erscheinung

Kontinuitäts-

Von Haus aus anders geartet ist die Struktur der Erscheinungen, die wir als geschaffene Gebilde menschlichen Handelns auffassen. Mit den lebendigen Individuen, den von einem innewohnenden Ich regierten Erscheinungen haben sie gemein, daß sie in sich abgeschlossen sind. Wie die Lebewesen, so entziehen auch sie sich in der Interpretation der Erscheinung dem Zusammenhang der Natur. Das Hajus steht am Bergabhang neben den Bäumen, es ist Stein wie die Felsen, die es umgeben. Aber während Bäume und Steine Elemente des Gebildes Berg sind, ist das Haus nur eben am Berg befindlich und nicht ein Stück des Berges. Wenn wir in der Nacht nur die Lichter der Häuser und die Sterne unterscheiden können, so fällt es uns nicht ein, die beiden Arten leuchtender Gebilde zusammen als leuchtende Natur aufzufassen. Wir sehen die Lichter als 45

Bekundung von Menschen so, wie Menschen sich in Schritten und Stimmen bekunden und wie damit die Schritte und Stimmen in einen anderen Zusammenhang eingeschlossen sind als das Geräusch des Windes oder Wassers. Geschaffene Gebilde sind also unmittelbar f ü r die Wahrnehmung auf etwas Menschliches und damit Ichmäßiges zurückgeführt, das in ihrem Körper anwesend ist. Aber dieses Verhältnis ist in jedem Falle unterschieden von den Weisen, wie wir das Ich im lebendigen Körper anwesend wissen. Das geschaffene Gebilde ist nicht die Verbindung eines Ich und seines Körpers in ihrem gemeinsamen Leben, sondern es ist ein Körper, dessen Aufbau und Erscheinung durch Intentionen bestimmt ist, denen zufolge er geschaffen ist. Ihn als Erscheinung auffassen heißt verstehen, was er kraft der Absicht sein soll, aus der er hervorgegangen ist. Intention und Erscheinung können am geschaffenen Gebilde niemals so auseinandertreten, wie das Ich und sein Körper am lebendigen Individuum. Wohl aber unterscheiden wir verschiedene Schichten in der Intention selbst und damit in der Bedeutung des Gebildes. Das Gebilde hat einen Zweck. Die Lampe soll leuchten; das Gebäude soll Menschen und Dingen Unterkunft geben usw. Neben dieser Zweckintention steht als mögliche andere die ästhetische Intention. Der Gegenstand soll unsere Gegenwart fesseln. Er ist zur Zierde da, oder vielleicht auch ist es seine Hauptaufgabe, als ästhetisches Ganzes aufgefaßt zu werden. Das sind Möglichkeiten, die das geschaffene Gebilde weder mit Dingen der Natur noch mit lebendigen Individuen teilt. Dem spezifischen Gegenwartscharakter der künstlerisch ästhetischen Intention haben wir schon in einer früheren Betrachtung Rechnung getragen. 6. Die Gebilde der Darstellung: Abbilder und Sprachschöpfungen Innerhalb des Gesamtbereichs der geschaffenen Gebilde stehen schließlich noch Strukturen ganz besonderer Art: Gebilde, deren Bedeutung darin aufgeht, daß sie etwas bedeuten. Ein Bild stellt ein Stück Wirklichkeit dar; ein gesprochener oder geschriebener oder gedruckter Satz drückt einen Gedanken, einen Wunsch, ein Gefühl aus. Die Kontinuität, die das Gebilde zusammenhält, ist hier schon nicht mehr die einer Intention, die es regiert, sondern die des Dargestellten oder Ausgedrückten selbst. Im Zeichen dieser Beziehung wird das Gebilde aufgefaßt. Das Bild soll das Abgebildete in seiner Gegenwart vergegenwärtigen, der Satz soll den Gedanken usw. aussprechen. Dem darstellenden Gebilde, dem Bild oder Satz gegenüber fragen wir überhaupt nicht mehr nach einem Zweck. Wir fragen nur, ob wir richtig verstehen, was dargestellt ist oder was der Satz meint. Wohl aber wiederholt sich hier und gerade hier die Möglichkeit jener doppelten Ausrichtung, die wir soeben an anderen geschaffenen Gebilden 46

festgestellt haben. Neben die praktische Aufgabe, in diesem Falle die Abbildung oder Darstellung, tritt auch hier die ästhetische. Das Bild hat nicht nur die Aufgabe, ein Stück Wirklichkeit zu vergegenwärtigen, sondern es hat auch die Aufgabe, betrachtet zu werden und sich als Gestaltganzes für unsere Gegenwart zusammenzuschließen. Der Satz hat uns nicht nur etwas zu erzählen, sondern so, wie er dasteht, so will er uns f e s s e l n , er will als Kunstwerk betrachtet sein. Wir haben hier Bilder und Einheiten des Gesprochenen in einer großen Kategorie zusammengefaßt. Aber in den beiden Bereichen verbinden sich Erscheinung und Sinn in sehr verschiedener Weise miteinander. Das Bild hält in seiner Erscheinung die Erscheinung des Abgebildeten fest. Die Absicht des Gebildes geht hier auf Wiedergabe der Erscheinung, und darum ist an ihm selbst die Erscheinung in jedem Zuge wesentlich. Anders dagegen in Gebilden der Sprache; in Worten und Sätzen ordnet sich die Erscheinung dem gemeinten Sinn so unter, daß sie als Erscheinung gar nicht zur Geltung kommen. Sofern der Text geschrieben oder gedruckt dasteht, hat sein Schriftbild gar nichts mit dem Sinn -zu tun. Es ist vielleicht als ornamentales Ganzes Träger einer besonderen ästhetischen Absicht, aber diese hat wieder nichts mit dem Sinn zu tun, der in den Worten gemeint ist. Die Worte, wirklich oder in Gedanken gehört, klingen; auch das kann etwas relativ Äußerliches sein. Das wesentliche Verstehen spielt sich allein im Sinn-Verstehen der Worte ab. Hier scheint von Erscheinung gar nicht mehr die Rede sein zu können, denn kann Erscheinung da sein, wo gar nichts Sinnliches mehr zur unmittelbaren Gegenwart gehört? Das ist in der Tat nicht möglich. Aber es wäre auch ein Mißverständnis anzunehmen, daß im Verstehen gesprochenen Sinnes nichts Sinnliches, abgesehen vom Wortklang, mehr spräche. Was hier vorliegt, werden wir an anderer Stelle zu untersuchen haben. Ebenso müssen wir die Beantwortung der naheliegenden Frage aufschieben, wohin die Musik gehört — ob sie eine Art von Sprache ist oder lediglich eine für unsere ästhetische Unterhaltung bestimmte Produktion von akustischen Erscheinungen. 7. Koinzidenz der Natur mit Raum, und Horizont und den entsprechenden Zeiteinheiten Wir wenden uns nun zu der Beziehung dieser verschiedenen Strukturen von Kontinuität, die in den Elementen der Erfahrungswelt enthalten ist, zur Kontinuität der Erfahrungswelt selbst in Raum und Zeit und zum Aspekt, den diese Kontinuität jeweils für unsere Gegenwart ergibt. Wir bemerken hier von vornherein eine entscheidende Verschiedenheit dieses Verhältnisses in den Dingen der Natur einerseits und in allen durch Ich oder Intention regierten Erscheinungen andererseits. Wir haben gesehen, daß Dinge, die wir lediglich als Körper auffassen, sich damit auch zugleich als Dinge der Natur darstellen. Das bestimmt 47

sie nicht nur ihrer Artung nach, sondern es bezeichnet auch eine Zuordnung jedes einzelnen Dinges und seiner Erscheinung zum Ganzen der Natur als in Erscheinung Ausgebreitetem. Dieses Ganze ist notwendig überall da gegeben, wo wir uns dem einen Raum und der einen Zeit gegenüber wissen. Für das Verständnis der Erscheinung in ihrer Struktur sind Raum und Natur dasselbe. Wo wir unseren Blick über Naturerscheinungen schweifen lassen, lassen wir ihn sich im Räume ergehen. Und umgekehrt: wenn wir uns den Raum vorstellen, sehen wir ihn durchdrungen von der Kontinuität der Natur. Zugleich sehen wir die Dinge sich verändern im Fortgang der einen Zeit, und dieser Fortgang hat für uns seinen beständigen Inhalt in der Bewegung und Veränderung der Dinge, in denen sich die Kontinuität der Natur erweist. Diese enge Wechselbeziehung erstreckt sich auch auf die Weise, wie Raum und Zeit für uns Gegenwärtiges werden und in die Kontinuität des Aspektes treten. Diese Beziehung drückt sich in bezug auf den Raum aus durch den Begriff des Horizontes, in bezug auf die Zeit durch den Begriff des gegenwärtigen Moments — „diese Stunde". Der Horizont ist der Aspekt, den uns der eine unendliche Raum jeweils gewährt. Dieser Aspekt" ist konkret bestimmt als ein Gefüge, das innerlich von der Kontinuität der Natur zusammengehalten ist. Horizont ist Raum. Er ist damit zugleich Himmel und Erde. Er ist im irdischen Bezirk eine Landschaft in ihrem Aspekt. Ändern wir unseren Standort, so ändert sich dieser Aspekt und damit die konkrete Struktur des Horizontes. Aber wir verbleiben in dem einen Raum und damit der einen Natur. Die Gegebenheit des Horizontes ist eine „jeweilige". Sie bestimmt sich zugleich als ein Abschnitt der Zeit, der hier reale Gegenwart, gegenwärtiger Moment wird. Diese reale Gegenwart aber ist ein zeitliches Moment der Natur. Die Landschaft ist nicht nur hier, sie ist auch jetzt so. Und jedes „Hier" und „Jetzt so", bezogen auf den einen Raum und die eine Zeit ist eine Landschaft, ein Stück Natur. Für Natur ließen wie soeben die Begriffe Himmel und Erde eintreten. Natur und damit Raum baut sich für die Anschauung notwendig in diesen beiden Sphären auf. Sie sind Regionen, deren jeder eigene Formen der Körperlichkeit zugehören. Jede dieser beiden Regionen ist aufgebaut durch Einheiten der Körperwelt, die in Landschaften identisch wiederkehren. Ihre Kontinuität ragt über jede Landschaft hinaus und verbindet unendlich viele Landschaften miteinander: der Taghimmel und der Nachthimmel, die Wolken, Berg und Tal, Fluß, See und Meer. Diese Dinge sind, wo immer wir sie antreffen, nicht einzelne Dinge, sondern Fragmente überall verbreiteter Erscheinung in zufälliger Form und beständigem Wandel: wechselnde Beleuchtung, Ballung und Auflösung von Wolken, Höhen und Tiefen der Erde, Flußwindung, Wellenspiel. Der jeweilige Aspekt der Natur ist beherrscht von einem Aspekt, in dem sich diese übergreifenden Einheiten gerade hier und jetzt darbieten. Sie ergeben den Rahmen des Horizontes. Sie machen damit den einen unendlichen Raum in unendlich mannigfaltiger Individualität gegenwärtig. 48

8. Das Kunstwerk und seine Umwelt Wenn wir einen Gegenstand als Kunstwerk betrachten und würdigen, erfassen wir ihn als ein geschlossenes Ganzes. E r ist also aus seiner Umwelt herausgelöst. E r trägt nicht dazu bei, einen Aspekt der Natur aufzubauen. Wo wir Natur und Geschaffenes faktisch gleichzeitig sehen, treten wir doch von einer Gegenwart in die andere und von einem Gestaltzusammenhang in den anderen, wenn wir von einem zum anderen übergehen. Das gleiche gilt vom Verhältnis zwischen gleichzeitig und im gleichen Wahrnehmungsfeld gegebenen Kunstwerken: Musik oder Dichtung in einem Saal, ein Bild an der Wand, ein Haus an einer Straße. Für die Wahrnehmung, die in aktueller Gegenwart verläuft, wird diese Gegenwart nicht unterbrochen. Für die ästhetische Auffassung aber stehen das Kunstwerk und seine Umwelt nicht in einer und derselben Gegenwart. Wir erleben einen Wechsel der Gegenwart, wenn wir vom Kunstwerk zu seinem Milieu oder von diesem zu ihm übergehen. Diese Diskontinuität bestimmt den Aspekt des Kunstwerkes. Insoweit ist das Verhältnis zwischen dem Kunstwerk und seiner Umwelt nur negativ bestimmt. Aber es hat auch seine positive Seite. Wir wissen um das Nebeneinander des Kunstwerks und der Umgebung, in der es uns begegnet. Der Übergang von einem zum andern ist selbst in das Erlebnis ästhetischer Gegenwart hineingezogen. In diesem Sinne nennen wir ihn — oder das Verhältnis des Kunstwerkes zu seiner Umgebung — harmonisch oder unharmonisch. Das Postulat der harmonischen Umgebung führt zu mannigfachen Ansprüchen an die Darbietung des Kunstwerkes. Im einzelnen sind sie durch die Bedingungen bestimmt, unter denen das Kunstwerk in unsere Gegenwart tritt. Diese Bedingungen sind nicht die gleichen in allen Künsten. Das Postulat der Harmonie stellt an jede von den Künsten besondere Anforderungen. Ein Musikwerk, das nur im Hören als ästhetisches Ganzes aufgefaßt werden will, also jedes Musikwerk mit Ausnahme der Oper — besteht von Haus aus ohne eine ihm zugehörige Umgebung. Die Gegenwart der künstlerischen Konzeption, in die es uns hineinführt, ist ganz in der Musik selbst enthalten. Aber für seine Darbietung bestehen dennoch Forderungen nach einer ihr harmonisch zugeordneten Umwelt. Sie richten sich an die räumliche Umwelt, in der es dem Hörer zur Gegenwart wird. Sie gehen nicht so weit, daß ein individuelles Musikstück einen ihm individuell zugehörigen AufführungsRaum verlangt. Wohl aber verlangt es einen ästhetischen AufführungsRaum, einen Raum, der in sich selbst Architektur ist, hierdurch eine ästhetische Sphäre darstellt — und doch noch Platz dafür läßt, daß in ihm eine andere ästhetische Gegenwart aufsteigt. Auch für die Dichtung entsteht das Problem der harmonischen Umgebung erst mit der Aufführung. E s entsteht also nur für das Drama auf seiner Bühne. Hier aber ergibt sich eine Aufgabe besonderer Art. Der 4

Vom Schönen

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Sprechende und das Gesprochene bilden eine Einheit. Die Erscheinung und Bewegung des Schauspielers sind selbst ein Beitrag zur Darbietung der Dichtung. Die gehen in die Gegenwart des Werkes ein. Die Architektur unterscheidet sich von all den genannten Künsten dadurch, daß man bei ihr nicht eigentlich von Darbietung reden kann. Ein Bauwerk hat ja seinen ihm individuell zugehörigen Platz. In seinem Innern tritt die Frage einer Umwelt, in der es stünde, nirgends auf. Seine Räume werden selbst als Umwelt für Bildwerke, Gemälde, Möbel usw. angesehen. In ihrer Außenansicht stehen Bauwerke in zwei verschiedenen Umwelten. Sie stehen inmitten anderer Bauwerke, oder die Natur bildet ihren Hintergrund. Die harmonische Anlage eines Gebäudes kann bedeuten, daß man es m i t d i e s e m Hintergrund zu einem architektonischen Ganzen verbindet. Dann sind die Nachbargebäude nicht mehr als Umwelt gegenwärtig. In anderen Fällen entsteht hier die Aufgabe einer Rahmen-Gestaltung ähnlich wie bei der Anordnung von Bildwerken und Gemälden in einem Räume. Für die Natur als Umwelt des Bauwerkes besteht diese Möglichkeit nur soweit, als sie als Gartenlandschaft der Hand des Künstlers unterworfen werden kann. Wo diese Möglichkeit aufhört, wird sich die ästhetische Forderung umkehren. Wir werden wünschen, daß sich das Bauwerk in die landschaftliche Umwelt harmonisch einordnet und einen Aspekt, der an dieser ästhetisch wertvoll ist, nicht stört. Malerei und Skulptur sind, wo immer sie in Erscheinung treten, in einem individuellen Rahmen plaziert. Das ist noch etwas anderes als Wiedergabe. Sie treten aus einer Umgebung an uns heran. Sie sind von ihr nicht abgelöst, sondern im Akt der Aufnahme „heben" sie sich von ihr „ab". Ihr Hintergrund" wird ästhetisch valent, indem sie selbst ästhetisch valent werden. Die Harmonie des Auseinandertretens durchzieht die ästhetische Gegenwart.

KAPITEL V

Elementare Struktur des ästhetischen Gegenstandes Von den Beziehungen, die über den ästhetischen Gegenstand hinaus verweisen, seiner Bestimmtheit als Repräsentant der Natur oder seiner selbständigen Stellung gegenüber der Umwelt, in der er wahrgenommen wird, kehren wir zur inneren Struktur des ästhetischen Ganzen zurück. Wir haben einige charakteristische Kategorien kennengelernt, durch die das Zusammenhangsgefüge der Gestalt sich gegenüber anderen Gefügen des Zusammenhanges auszeichnet. Wir sprachen von der Koinzidenz des Innen und Außen, vom „Stehen", „Schweben", „Sprechen" der Gestalt. Das sind Momente des Sinnes, der Bedeutung, die dem Gegenstand inne50

wohnen, sobald er in ästhetische Betrachtung rückt. Sie zeigen, daß der ästhetische Gegenstand etwas in sich selbst ist. Aber sie geben die eigentümliche Struktur des ästhetischen Gegenstandes nur im allgemeinsten Umriß. Zu ihr gehören mannigfaltigere Bestimmungen, die in ästhetischen Erfahrungen wiederkehren. Wir versuchen im folgenden, sie festzuhalten. 1. Linie Gegenstände geben als Gestalt der Gegenwart ihren Inhalt. Dieses Grundphänomen beruht darauf, daß der Gegenstand uns Momente der Erscheinung darbietet, die sich durch die Gegenwart hindurch ständig zusammenfügen, von einer Stelle zur anderen und auf einander zurückweisen. Die Erscheinung ist ein Ganzes, das wir begleiten können. Sie gibt sich uns nicht als zusammengesetzt, sondern als f ü r die Anschauung in der Gegenwart verbunden. Wir bezeichnen dieses Strukturprinzip mit dem Wort „Linie". Das ist ein metaphorischer Ausdruck, der einen einzelnen Typus des vorliegenden Phänomens, nämlich die Umrißzeichnung, f ü r die ganze Mannigfaltigkeit des Phänomens in Anspruch nimmt. Aber die Verwandtschaft aller hier in Frage kommenden Phänomene rechtfertigt diese Metapher. Linie im wörtlichen Sinne liegt vor, wo in der optischen Erscheinung der Umriß einer Fläche betont ist: die Linie eines Ornaments oder die eines Bergumrisses repräsentieren diesen einfachsten Fall. Wir sehen Linie hier so, wie sie sich gegen einen Hintergrund markiert. Aber wir hätten in diesem Fall gar keine ästhetische Gegebenheit, wenn wir nur die Markierung sehen würden. Wir sehen in Wahrheit nicht den Umriß allein. Wir sehen die Erscheinung — die ornamentierte Fläche, den Berg — sich durch die Gegenwart bewegen. Und wir sehen solche Bewegung und damit im allgemeinsten Sinne „Linie", auch, wo gar kein Umriß sich abzeichnet. Ein Baumstamm erhebt sich vor uns. Sein Umriß liegt im Schatten einer Mauer oder der Blätter der Bäume, die hinter ihm stehen. Die Masse des Baumes ist uns viel deutlicher als der Umriß, aber in dieser Masse sehen wir ihn aufsteigen, er faßt sich als Linie zusammen. Weiterhin: er steht nicht isoliert da, und so steht auch die ihm gegebene Linie nicht isoliert da. Sie setzt sich fort in der Zeichnung des Mauerwerks oder im Gewirr der leuchtenden und beschatteten Blätter, vor denen er aufsteigt. An einer Stelle ist die Linie konzentriert, an anderer ist sie weit verzweigt, an einer Stelle ist sie schattig, an der anderen ist sie leuchtend. Aber die ästhetische Gegenwart und die Erfassung der Erscheinung als Gestalt beruhen nicht notwendig darauf, daß wir eine identische Linie durch die Mannigfaltigkeit des Gegebenen hindurch verfolgen. Der Gegenstand kann zwar diese Interpretation verlangen. Es beruhen sogar die aufschlußreichsten ästhetischen Erlebnisse auf dieser Zusammenziehung, in der alle Linie aus einem Punkt zu fließen scheint. Aber diese Synthese 4*

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darf nicht auf dem Zwang beruhen, daß wir eine Linie durch die ganze Mannigfaltigkeit hindurch begleiten wollen. Zwanglose ästhetische Auffassung erblickt überall Linie, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, ob es ein und dieselbe Linie ist. In einem Garten finden wir die verschiedenen Bäume, Sträucher, Beete und Rasenflächen von Linie beherrscht. Der Wind schafft Linie, indem er die Blätter bewegt. Aber was unbewegt stehen bleibt hat auch Linie. Das Wesentliche der ästhetischen Gegebenheit besteht nicht darin, daß überall dieselbe Linie ist, sondern darin, daß überall Linie ist. Diese Struktur können wir auch dadurch bezeichnen, daß überall eine Erscheinung der anderen antwortet. Jenes Nebeneinander der Sträucher, Bäume usw. im Garten ist nicht eine Mannigfaltigkeit von einzelnen Bildern, sondern ein Ganzes eben durch dieses Antworten. Dieses Antworten bemächtigt sich der räumlichen und zeitlichen Distanzen. Dem aufragenden Baum antwortet die Wölbung, die wir in den Himmel hineinlesen. Hier kommt eine Linie aus einer anderen, unermeßlich entfernten Welt und fügt sich dodi in das Liniengefüge ein, das vor uns in den Gartenpflanzen wächst. Noch mehr: wir haben die Himmelswölbung gegenwärtig, wenn wir auf die Bäume blicken. Unsere Wahrnehmung begleitet die Erscheinung als Erscheinung; das ist die ästhetische Gegenwart. Sie ist ein ungebrochener Fluß der Zeit, in dem es kein Vorher und Nachher gibt, sondern wo das Jetztsein sich immer wieder neu „zyklisch" bestätigt. Daß die Erscheinung diesen Fluß der Gegenwart aus sich heraus hergibt, das ist gleichbedeutend damit, daß sie sich als Linie zusammenfaßt. Ästhetische Gegenwart hört auf, wo die Erscheinung nicht mehr als Linie zu sprechen vermag. Die Erscheinung muß etwas hergeben, das wir begleiten können. Wo das nicht gelingt, ist unsere Gegenwart zerrissen. Das Wahrgenommene wird verworren oder durchlöchert. Es ist keine Linie mehr da, darum keine Gestalt und keine ästhetische Gegenwart. 2. Rhythmus Das Phänomen des „Antwortens", das sich mit dem der Linie verbindet, enthält ein zweites Strukturprinzip der ästhetischen Gestalt. Es ist im Grunde enthalten in dem zyklischen Prinzip der ästhetischen Gegenwart. Wir halten es fest unter dem Begriff des Rhythmus. Mit diesem Wort bezeichnen wir, daß die ästhetische Gegenwart durch den Gegenstand selbst gegliedert und artikuliert ist. Die ästhetische Gegenwart bestätigt sich in ihrem Fluß beständig aufs neue. Sie kommt immer wieder auf ihr Einsetzen zurück. Das ist es, was wir mit dem Worte Rhythmus bezeichnen. Wie das Wort Linie der optischen Sphäre entnommen ist, so knüpfen wir mit dem Ausdruck Rhythmus an die akustische Wahrnehmung an. Aber auch in diesem Falle ist die ästhetische Bedeutung des Wortes eine allgemeinere. Ein Klanggebilde muß Rhythmus haben, wenn es als in irgend52

einem Sinne musikalisch aufgefaßt werden soll. Aber dieser Takt-Rhythmus ist Gliederung der Gegenwart durch den als Gestalt zusammengefaßten Klang. Und eine solche Gliederung der Gegenwart durch Erscheinung, die als Gestalt zusammengefaßt ist, eignet ebenso notwendig der ästhetischen Erscheinung, die wir aufnehmen. Darum können wir mit vollem Recht von Rhythmik einer Landschaft oder eines Bildes oder der Bewegung eines Menschen sprechen. Rhythmik bedeutet an Klängen wie an optischen Naturerscheinungen und an Bildern nicht notwendig Gleichförmigkeit der Distanzen, die die Erscheinung gliedern. Eine Flut von Tönen, die plötzlich durch einige isolierte Klänge unterbrochen wird, die dann wieder von einer ganz anderen Melodie abgelöst werden, hat eine ausgesprochene Rhythmik in ihrem unregelmäßigen Wandel. Musikalische Rhythmik lagert sich über den Taktrhythmus, der zu ihrem elementaren Aufbau gehört. Solche freie Rhythmik wendet auch der Maler an, der einer Fülle von Gestalten auf der einen Seite des Bildes eine kleine Gruppe von Einzelfiguren, die in Abständen nebeneinanderstehen, auf der anderen gegenüberstellt. Die gleichmäßige Säulenreihe hat Rhythmik. Aber die Front, aus der ein Bogen oder ein Vorbau herausspringt, ist ebenso rhythmisch gegliedert. Wesentlich für den ästhetischen Eindruck ist nur, daß der Rhythmus nicht verloren geht. Er geht verloren, wenn die Gleichförmigkeit ohne alle Betonung bleibt. An einer tickenden Uhr kann der völlig regelmäßige Takt nach längerem Zuhorchen nicht mehr als Rhythmus aufgefaßt werden. Eine einfache Fensterreihe zeigt uns ebenso in ihrer Norm keine Rhythmik, wenn kein Anlaß besteht, eine Fensteröffnung auf die nächste zu beziehen. Ästhetische Rhythmik ist eben das Faktum, daß das Gegenwärtigsein in der Erscheinung immer aufs neue wieder aufgenommen und betont wird. Dieses Prinzip setzt andererseits auch der Unregelmäßigkeit der Erscheinung ihre Grenzen. Weder die Konfiguration der Erscheinung noch die Distanz in ihrer Abwandlung brauchen sich zu wiederholen. Aber die Erscheinung muß uns einen Anlaß dafür geben, daß wir uns immer aufs neue in der gleichen Gegenwart wissen. Eine vollkommene Willkür im Aufbau der Erscheinung zerreist die Gegenwart ebenso wie eine akzentlose Gleichförmigkeit. Natur zeigt freilich in ihren Landschaften Rhythmik ohne daß wir eine verteilende Hand erkennen, die jedem Gebilde seinen Platz anwiese. Schon die kleinste Baumgruppe hat in sich eine völlig unbeherrschte Mannigfaltigkeit, und dennoch sehen wir Rhythmik im Gewirre ihrer Zweige. Aber das beruht darauf, daß wir alle in einem Anblick vereinigte Natur so ansehen, daß sie uns ein und dieselbe Natur in verschiedenen Gestalten darbietet. Von dieser einen Natur aus gesehen erscheint auch das unübersehbar Vielgestaltige als in jedem Punkte motiviert. Von der Natur sagen wir in diesem Sinne, daß sie spricht. Wir meinen damit, daß sich jedes Erscheinungselement auf das vorher Gesehene bezieht. Wo in 53

diesem Sinne Sprechen gegeben ist, da ist immer selbst Erneuerung der Gegenwart gegeben, und damit Rhythmus. Sprechen — das ist wiederum ein Bild aus einer einzelnen Ersdieinungssphäre. Es weist uns darauf, daß auch das Erscheinungsgebiet, f ü r das wir das Wort Sprechen nicht im bildlichen Sinne anwenden, nämlich die menschliche Rede, Rhythmik hat und ästhetisch valent ist. Sie kann ein ästhetisches Gebilde sein, auch wo ihr musikalischer Charakter sich auf ein Minimum beschränkt. Die akzentuierte Aussprache von Gedanken hält, die gedankliche Darlegung durch Rhythmik zusammen. 3. Farbigkeit Ein Gegenstand, der ästhetische Gegenwart ausfüllt und damit ästhetische Gestalt ist, wird in dieser Betrachtung eine Erscheinung, die sich an jedem Punkt und in jedem Moment in Linie verwandelt und in Rhythmik wiederkehrt. Darin ist ausgesprochen, daß etwas anschauliches vorhanden ist, an dem diese Verwandlung und Wiederkehr vollzogen wird. Das bezieht sich in gewissem und von uns schon erörtertem Sinne auf das empirisch Gegenständliche und seine Kontinuität, auf die Dinge, die wir als Natur oder Geschaffenes oder Dargestelltes verstehen. Aber das genügt nicht. Daß ästhetische Gegenwart und Gestalt sich am Angeschauten immer aufs neue bestätigen wird stets bedeuten, daß eine Mannigfaltigkeit in diesem Ganzen bewältigt ist, eine Mannigfaltigkeit von Erscheinung, die sich in Gestalt verwandelt. Wir werden, ob anschauend oder hörend, beständig von einer Gegebenheit zu einer anderen geleitet, die als Gestalt etwas anders ist als die vorangehende. Der Gegenstand ist nicht immer wieder Linie und nicht nur durch Rhythmik zusammengehalten. Wo die Linie sich fortsetzt, setzt sie sich abgewandelt fort. Wo der Rhythmus wiederkehrt ist etwas Neues in ihn hineingezogen. Dieses Moment der Mannigfaltigkeit nennen wir die Farbigkeit der ästhetischen Erscheinung. In dieser Bezeichnung geben wir wiederum der Gegebenheit einer besonderen Wahrnehmungssphäre eine allgemeinere Bedeutung. Was Farbe im unmittelbaren Sinn des Wortes f ü r die ästhetische Valenz der Naturerscheinung leistet ist ohne weiteres klar. Natur spricht am unmittelbarsten und leichtesten an wo sie einen Reichtum an Farbigkeit darbietet. Solcher Reichtum macht die Gegenwart in seiner unendlich scheinenden Mannigfaltigkeit einer unendlichen Wiederkehr zugänglich. Der Horizont der „reichen" Landschaft, ob Land, ob Meer, erscheint uns wie die Einheit eines unendlich abgewandelten und dabei unablässig fesselnden Schauspiels. Aber Farbigkeit in unserem weiteren ästhetischen Sinne verschwindet nicht, wenn Farbigkeit in diesem nächsten optischen Sinne nur in geringerem Maße gegeben ist: etwa an einem nebligen Wintertag in einer mit kahlen Bäumen besetzten Landschaft. Was hier an Mannigfaltigkeit bleibt, vor allem in der Abtönung des Lichts, kommt auch 54

wieder als Mannigfaltigkeit ästhetisch zur Geltung. Die Schattierung des Grau gliedert den Horizont und gibt der Gegenwart, wie wir sagen möchten, einen sich wandelnden Klang. Die Landschaft ist audi jetzt in ihrer Farbenarmut durch Farbigkeit ästhetisch gehaltvoll. Diese Feststellung überträgt sich leicht auf Malerei. Ein Bild braucht nicht bunt zu sein, um uns in seiner Farbigkeit zu beschäftigen. Seine ästhetische Lebendigkeit beruht darauf, daß das Bild als eine Folge von Momenten zu uns spricht, von denen keiner dem anderen völlig gleich ist und die sich uns nicht als eine zählbare Gruppe von Momenten präsentieren. Sie gehen ineinander über. Im Fortgang der Betrachtung gruppieren sie>sich neu. Dies alles kann in einer Zeichnung oder in einer Bronze- oder Marmorskulptur ganz ebenso gegeben sein wie in einem Gemälde. In diesem Sinne sind auch diese „farblosen" Kunstwerke farbig. In der gegenständlichen Analyse eines Kunstwerkes, zuweilen auch in der technischen, wird man zwischen Licht und Farbe unterscheiden. Als Elemente des ästhetischen Aufbaus gehören sie in ein und dieselbe Kategorie. Farbigkeit wird in Künsten, die an unser Hören appellieren, repräsentiert durch Gegensätze und Verschmelzungen des Klanges, des musikalischen Klanges wie des Klanges der Sprache. Farbigkeit ist aber endlich auch Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, die nicht unmittelbar gegenwärtig ist, sondern die wir gemahnt werden zum Gegenwärtigen zu ergänzen. Ein Kunstwerk ist in unserem ästhetischen Sinne durch Farbigkeit ansprechend, wenn es unsere Phantasie in mannigfaltiger Weise in seine Gegenwart hineinzieht. Das ist vor allem der künstlerische Reichtum der Dichtung. Ein Gedicht spricht in seinen Anklängen, die mit den Worten heraufsteigen. Seine Rhythmik begleitet den Übergang von Anklang zu Anklang. Seine Gegenwart verschmilzt viele Gegenwarten in sich, so viele als Anklänge und Erinnerungen in seinen Worten aufgenommen werden. Auch in diesem Sinne ist die Dichtung von Farbigkeit erfüllt. 4. Belebung Zu Linie, Rhythmus und Farbigkeit tritt als letzte elementare Bestimmung der Gestalt etwas, das die Erscheinung uns über sich selbst zu sagen hat. Sie füllt unsere Gegenwart aus, indem sie uns ihre eigene Gegenwart darbietet. Sie „lebt" vor uns. Daß wir Erscheinendes als Ganzes der Erscheinung ästhetisch auffassen, heißt immer, daß wir von diesem Leben angesprochen sind. Es begleitet die Linie oder Bewegung der Gestalt. Es pulsiert in ihrem Rhythmus. Es wird zur Mannigfaltigkeit ihrer Farbenfülle. Wir können ebensowohl sagen, daß ästhetische Erscheinung immer eine Seele hat, immer Ausdruck ist. Aber wir müssen bei dieser Formulierung beachten, daß „Seele" oder „Ausdruck" als menschlich Ich55

mäßiges nicht zur elementaren Bestimmung des Ästhetischen gehört und hier nicht gemeint ist. Ausdruck im elementar ästhetischen Sinne ist so wenig Aussprache eines Ich wie die Belebung im elementar ästhetischen Sinne Erfahrung einer biologischen Tatsache ist. Wir erfassen dies und erfassen zugleich die positive Bestimmtheit des Lebens der ästhetischen Gestalt am deutlichsten an ästhetischen Erlebnissen, die uns die Natur bereitet. Eine Hochgebirgslandschaft, ganz Fels oder Fels und Schnee, ist belebt, obwohl nichts Pflanzliches in ihr gedeiht. Und sie ist ausdrucksvoll, obwohl wir kein Ich in ihr vermuten. Zu sagen: wir fühlen ein Ich und ein Leben in sie hinein, ist eine künstliche Konstruktion. Täten wir das im ersten Anschauen, so müßten wir bei genauerer Besinnung die Interpretation korrigieren. Wenn von ihr unsere ästhetische Ergriffenheit abhinge, so müßte sich diese Ergriffenheit bei jedem Naturerlebnis in Illusion auflösen. In Wahrheit aber kommt es gar nicht zu solcher Reflexion. Die Landschaft führt bei längerem Anschauen eine immer intensivere Sprache. Ihr „Leben" rückt uns immer näher. Ihr Ausdruck prägt sich uns immer mehr ein, und dies alles geschieht, ohne daß wir nach einem Ich fragen. Auch Kunstwerke haben Belebung und Ausdruck ohne daß wir ein Ich in ihnen festhalten, und es ist häufig ein nutzloses Grübeln, daß wir ihre Lebendigkeit in ein Ich übersetzen. Die Schwingung einer chinesischen Vase erscheint als ausnehmend ausdrucksvoll. Sehen wir darum hier chinesische Seele? Das ist durchaus nicht notwendig. Der Absicht des Künstlers sind wir wahrscheinlich viel näher wenn wir sagen, daß sich in der Vase ein Leben vor uns entfaltet verwandt dem, das sich in einer Blume oder in der Linie einer Frauengestalt entfaltet. Musikwerke sind in der Rhythmik von Tanzfiguren entworfen oder haben in der gleichmäßigen Straffheit ihrer Rhythmik den Charakter von Märschen. Wir werden an diese Bewegungen erinnert. Heißt das nun, daß wir erleben, wie sich Menschen am Tanz freuen oder sich begeistert der Marschdisziplin unterordnen? Wenn es darum ginge, so bedürfte es nicht der großen Mannigfaltigkeit der Tanz- und Marsch-Kompositionen, über die die Musikgeschichte verfügt. Was uns an jeder solchen Komposition neu begegnet, ist eine Individualität des musikalischen Ganzen selbst als eines lebendigen Gestaltganzen. Musik hat freilich die Intention, unser Ich sprechen zu lassen, vielfältig zu ihrer Aufgabe. Das gleiche gilt von den darstellenden Künsten der Malerei, Plastik und Dichtung. Das bedeutet, daß in der Kunst die Aufgabe, unser eigenes Leben auszusprechen hinzutritt zu der anderen, unsere Gegenwart durch das Leben der Gestalt zu beherrschen. Jene Ausdrucksfunktion kann zu dieser hinzutreten, und sie muß sogar hinzutreten, wo die wichtigsten Leistungen der Kunst für unser Gegenwartwissen verwirklicht werden sollen. Aber diese Verbindung darf uns nicht darüber täuschen, daß die elementare Ausdruckssprache der ästhetischen Gestalt 56

von einem in ihr enthüllten Ich unabhängig ist. Wie wir uns dies an der Natur deutlich gemacht haben, an der die Vermutung eines Ich der Erfahrung wiederspricht, so können wir es uns auch an darstellenden Kunstwerken deutlich machen, die sich menschliches Ich zum Gegenstand nehmen. Eine Athene oder Aphrodite antiker Kunst steht beseelt vor uns, ohne daß wir auch nur darüber nachdenken, was nach der Absicht der Darstellung in ihrer Seele vorgeht. Sie sprechen zu uns, ohne uns im mindestens ihr Herz offenzulegen. Wie wäre es sonst möglich, daß die verstümmelten Statuen, deren Köpfe verloren sind, so lebendig für uns sind. Ist hier nur der Körper lebendig? Wir erleben nichts Animalisches. Wir erleben menschliche Gestalt, die als Gestalt Seele hat. Das Leben, das in aller ästhetischen Gestalt elementar zum Ausdruck kommt, ist, wie wir sehen, weder Ich noch Körper, obwohl es als Erscheinung immer einen Körper hat, und obwohl es in der Kunst immer Vergegenwärtigung eines Seelischen sein kann. Wie ist es aber positiv zu bestimmen? Wir dürfen nicht fragen: was lebt in der Gestalt, denn die Gestalt als solche ist belebt. Aber wir können und müssen festhalten wie sie lebt, das heißt welches ihre spezifischen Ausdrucksgehalte sind. Nehmen wir, um alle Verwechslung mit dem seelischen Ausdruck auszuschließen, wieder die Natur als Beispiel. Wir haben in einer Landschaft das Zarte und das Wuchtige, das Anmutige und das Große nebeneinander. Anmut schwingt in einer Blume, Stille atmet im Laub. Majestät flutet in der See, steigt in den Bergen auf, blickt aus dem Himmel auf uns herab. Das sind Lebensinhalte, Ausdrucksgegebenheiten, die zugleich Werte eigentümlicher Art darstellen. Das Dasein der Gestalt entfaltet sich in einer Mannigfaltigkeit von Werten, die die Erscheinung durchziehen, wie Linie, Rhythmik und Farbigkeit sie durchziehen. Und es gibt auch negative Wertgehalte in dieser Skala. Die Natur bietet sie seltener als die menschliche Schöpfung, aber wenn uns eine Landschaft als öde erscheint, so ist das ein negativer Lebensgehalt, den sie ausdrückt. Und die von Menschen geschaffene Erscheinung bietet uns solche Lebendigkeit, die mit negativer Wertbestimmtheit behaftet ist, auf Schritt und Tritt. Sie bietet sie häufig durch Vernachlässigung. Wenn wir von einer Straße sagen, daß sie in ihrer Unordentlichkeit oder Stillosigkeit oder Eintönigkeit ästhetischem Gefühl widerstreitet, so müßten wir das genauer aussprechen in der Form, da ihre Vernachlässigung einen Lebenscharakter ausspricht, den wir nur in negativen Wertkategorien aussprechen können. Ein Gebäude ist plump. Auch das ist Ausdruck und Leben. Und schließlich wir haben die Kategorie des Grotesken, das heißt der Erscheinung, die absichtlich Verzerrung und darin betonte Verneinung ist. — So führt uns das Gestaltelement der Lebendigkeit unmittelbar auf die Mannigfaltigkeit der ästhetischen Werte. Seine Herausforderung erlaubt uns, daß wir uns nunmehr mit diesen Werten auseinandersetzen, und vor allem mit dem Wert, der als der zentrale Begriff des Ästhetischen erscheint, dem Begriff der Schönheit. 57

KAPITEL

VI

Ästhetischer Wert — Schönheit 1. Die Mannigfaltigkeit

der ästhetischen

Werttypen

Ästhetische Lebendigkeit entfaltet sich, wie wir soeben gesehen haben, in einer Mannigfaltigkeit von Typen, deren jeder als ein spezifischer Wertgehalt gilt. Jeder dieser Wertgehalte spricht sich darin aus, daß er mit den anderen Elementen des Gesbaltaufbaus eine innere Verbindung eingeht. Der Ernst oder die Heiterkeit, die eine Landschaft oder ein Kunstwerk beleben, pulsieren in der Linie, die die Erscheinung durchzieht. Sie betonen sich in ihrem Rhythmus. Sie sind die Gesamtnote ihrer Farbigkeit. Die Skala der ästhetischen Werte baut sich in paarweisen Gegensätzen auf. Wir haben soeben in Ernst und Heiterkeit ein solches Gegensatzpaar hervorgehoben. Wir wissen, daß damit nicht das Aussprechen ernster Gedanken und heiterer Gefühle gemeint ist. Der ernste Charakter einer Berglandschaft und die Heiterkeit eines blühenden Gartens appellieren zwar an unsere ernste oder heitere Stimmung, aber sie sind doch nicht selbst Ausdruck solcher Stimmung. Sie liegen in der Rhythmik und Farbigkeit der Erscheinung begriffen und bilden mit ihr ein Ganzes. Andere solche Gegensatzpaare sind Straffheit und Leichtigkeit, Wucht und Zartheit. Gegensätzliche Werte können in ein und demselben ästhetischen Ganzen inbegriffen sein. Linie, Rhythmik, Farbigkeit können von einem Wert zum anderen hinüberführen. Wenn wir in einer Berglandschaft den Blick von den Bergen zum blauen Himmel schweifen lassen, so treten wir vom Ernsten ins Heitere, vom Schweren ins Leichte. Das Leben der Erscheinung hat sein Antlitz verändert, aber dadurch, daß immer Leben die Erscheinung begleitet, hat sich uns die ästhetische Bedeutsamkeit des Ganzen nur von verschiedenen Seiten dargestellt. Europäische Musik ist absichtsvoll auf diese Abwandlung des Wertgehalts ausgerichtet. Eine Variationskomposition zeigt zum Beispiel ihre fesselnde Kraft darin, daß sie uns vom Spielerischen ins Gewaltige und dann wieder ins träumerisch Leichte führt. Der eine Wertgehalt ist in unserem Empfinden noch anwesend wenn der zweite aufklingt, und der Reichtum des durch Gestalt erschlossenen Lebens ist Reichtum dessen, was uns die ästhetische Gegenwart zu bieten hat. 2. Der Begriff der schönen Gestalt Mit den Begriffen Heiterkeit, Grazie, Leichtigkeit sind wir dem Wertgehalt nahe gekommen, den man in einem spezifischen Sinne Schönheit nennt. Er ist aber in keinem dieser Begriffe ganz enthalten. Suchen wir 58

einen zweiten Ñamen f ü r ihn, so bietet sich am ehesten der des Edlen. Auch das Gewaltige und Ernste kann edel und in diesem Sinne schön sein. Der Gegensatz des Schönen im hier gemeinten Sinne ist nicht etwa das Häßliche. Er ist wiederum ein ästhetischer Wert: das Schlichte, Nüchterne, Anspruchslose. Wir sagen von einem Gesicht, daß es edel geformt ist. Die spezifische Rhythmik und Linienführung der Erscheinung, in der wir diesen Wert ausgesprochen finden, enthält eine Akzentuierung, die freilich verlorengeht, wenn die Erscheinung betont straff und streng ist. Aber sie kann, wie gesagt, auch in der Strenge noch enthalten sein. Sie ist nicht mehr da, wenn die Erscheinung sich aus lauter Unscheinbarem, Akzentlosem aufbaut, und doch kann ein solches schlichtes Gefüge wieder ein ästhetisches Wertganzes geben. Halten wir etwa den Kopf einer Athena und eine Landschaftszeichnung Rembrandts nebeneinander, so sehen wir im ersten das Schöne, im zweiten das Schlichte repräsentiert, und beide Male spricht uns ästhetische Gestalt in ihrer Lebendigkeit an. Die europäische bildende Kunst der Neuzeit hat viele Stufen dieser Skala durchmessen. Sie hat zuerst die Mannigfaltigkeit des Edlen und in diesem Sinne Schönen am menschlichen Körper und in der Architektur festzuhalten gesucht. Sie ist später, nachdem sie dieses Ziel vor dem Gewaltigen aus den Augen verloren hatte, in der Entdeckung der Landschaftsnatur auf den Wert des Schlichten geführt worden. Aber der Wertcharakter des Gestalt-Schönen ist unvergessen geblieben und hat zu der Vorstellung geführt, daß ein Kanon des klassisch Schönen bestehe. Die reiche Erfahrung der antiken und europäischen bildenden Kunst, der Musik, der Dichtung berechtigt zweifellos dazu, von Typen der Schönheit oder des Edlen im Reiche der Gestalt zu sprechen. Aber es wäre willkürlich, diesen Typen den obersten Rang im Reiche der ästhetischen Werte überhaupt anzuweisen. Keine objektive Gesetzgebung entscheidet zwischen dem Schönen in diesem Sinne und anderen Wertgehalten, die der Erscheinung in Natur und Kunst ästhetische Anziehungskraft, das heißt die Fähigkeit, ästhetische Gegenwart aufzubauen, mitteilen. 3. Das Schöne im Sinne des ästhetisch

Vollkommenen

Der Begriff der Schönheit wird auch in diesem allgemeineren Sinne verwendet. Wir können uns diesem Sprachgebrauch um so weniger entziehen als er mit einer Grundtatsache der ästhetischen Erfahrung in Zusammenhang steht, nämlich der, daß wir Grade oder Wertigkeitsverhältnisse im Reiche des Ästhetischen anerkennen. Das Wort „schön", in diesem Zusammenhange ausgesprochen, ist gleichbedeutend mit dem ästhetisch Vollkommenen. Daß das ästhetisch Vollkommene nicht immer mit dem Gestalt-Schönen identisch ist, haben wir soeben am Beispiel des Schlichten erkannt. Ein Bild, das uns inhaltlich nicht mehr gibt als eine 59

durch keine Gestaltschönheit auffällige Wirklichkeit, kann uns trotzdem als vollkommen und in diesem Sinne als schön erscheinen. Noch mehr aber: Die Schönheit der Natur, die uns unmittelbar in einer Landschaft zur Gegenwart wird, ist prinzipiell an keinen Typus der Erscheinung gebunden. Wir finden Feld und Waid in Linie, Rhythmik, Farbigkeit belebt, auch wo uns keine Gegenstände gegenüberstehen, an deren schönen Formen unser Blick haftet. Das Kriterium des Schönen im Sinne des Vollkommenen liegt lediglich in der Verwirklichung der elementaren Bedingungen ästhetischer Gegenwart und Gestalt, die wir in unseren ersten Betrachtungen herausgestellt haben. Gegenstände sind ästhetisch vollkommen und in diesem Sinne schön, wenn ihre Gegenwärtigkeit unsere Gegenwart so beherrscht, daß sie die Form der ästhetischen Gegenwart annimmt. Das Phänomen der zyklischen Gegenwart entsteht und bewährt sich ungebrochen: wir können uns nicht sattsehen. Wir werden angezogen und festgehalten. Ein Ganzes der Erscheinung ist da, das sich uns nicht mehr versagt. Das Ganze entsteht dadurch, daß wir ein Lebendigsein, ein Ausdrücken, ein Sprechen in Gestalt verwirklicht finden. Dieses Leben artikuliert sich in Linie, in Rhythmik, in Farbe. Diese elementaren Gegebenheiten verwirklichen sich immer aufs neue wo eine Landschaft, ein Mensch, ein Kunstwerk uns in seiner Schönheit fesselt. 4. Das Häßliche als Gegensatz

und ais Element des ästhetisch

Wertvollen

Zum Schönen im Sinne des ästhetisch Wertvollen oder Vollkommenen gehört aber nach Aussage unseres unmittelbaren Bewußtseins zugleich ein Verhältnis zum Nicht-Ästhetischen. Wir wissen entweder, es ist alles ferngehalten, das die ästhetische Gegenwart stören könnte, oder NichtÄsthetisches, und sogar Häßliches, ist im ästhetischen Ganzen bemeistert. Der erste Fall ist in einer Landschaft gegeben, die nicht durch natürliche oder menschliche Zerstörung zerrissen erscheint. Er ist ferner gegeben im Gestalt-Schönen. Der zweite Fall verwirklicht sich in der Kunst, wenn sie bewußt mit dem Unschönen der Wirklichkeit ringt. Dem Künstler wie auch dem Betrachter begegnet allenthalben das Phänomen des Häßlichen. Die Wirklichkeit ist erfüllt vom Häßlichen. Wir haben uns jetzt mit diesem Begriff auseinanderzusetzen, um sein Verhältnis zum ästhetisch Werthaften zu erfassen. Wie sich das Schöne daran erweist, daß es unsere Gegenwart fesselt, so zeigt sich das Häßliche an sich darin, daß wir spontan vor seiner Gegenwärtigkeit zurückschrecken und daß wir uns von ihm abwenden. Der Begriff des Häßlichen gibt nur darum einen Sinn, weil wir Schönheit aufsuchen, weil wir gefesselt sein wollen. Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß es für den ästhetisch Unempfindlichen auch nichts Häßliches gibt. Das Bewußtsein, einem Häßlichen gegenüberzustehen ist dadurch motiviert, 60

daß wir bei jedem Versuch, das vor uns Stehende zu betrachten, uns aus dem Zusammenhang der Erscheinung herausgerissen, gleichsam von ihr genarrt finden. Die Elementarstrukturen der ästhetischen Gestalt tauchen auf und werden sofort wieder zerrissen. Etwa: Ein Gesicht ist so gebaut, daß seine Linien keine Gesamtlinie geben. Es ist, als wenn irgend etwas daran, die Stirn, das Kinn, die Ohren, das Haar usw. eigene Wege gingen. Oder eine Häuserreihe ist so regellos, daß der. Rhythmus einer Fassade sofort durch den der nächsten zerstört wird. Oder grelle Farben machen an einer Kleidung oder an einem Bilde jede Synthese der Linie oder des Rhythmus unmöglich. In allen diesen Fällen finden wir das Element der Lebendigkeit oder des Ausdrucks, das wir vom ästhetischen Eindruck erwarten, offen negiert. Wir möchten meinen, es ist geradezu verspottet. Kunstwerke können es auf solche Verspottung anlegen. Sie können die Darbietung einer Grimasse zur Absicht haben. Dann ist Häßlichkeit im Kunstwerk gewollt. Wo dies allein der Fall ist, kann von Bemeisterung des Häßlichen nicht die Rede sein. Unter welchen Umständen ist es kein Paradox, daß das Häßliche zugleich schön, das heißt äsithetisch vollkommen ist? Deutlich ist: Das Häßliche ist niemals um seiner Häßlichkeit willen vollkommen. Die Erscheinung spaltet sich in Häßliches und Schönes an ihr. Zugleich aber: die Schönheit, die hier gegenwärtig wird, ist grade an dem, was hier häßlich erscheint, zum Ausdrude gebracht. Das Phänomen existiert nur in sehr begrenzten Gebieten der ästhetischen Erscheinung. Es existiert kaum in der Natur. Gewiß, Natur, die wir als schön zu würdigen gelernt haben, hat lange Zeit hindurch als abstoßend gegolten und gilt vielfach heute noch so. Das betrifft die wilde Natur, Alpengipfel, kahle Felsen. Aber wir sagen nicht: „diese Gebilde sind schön trotz ihrer Häßlichkeit", sondern wir haben die Wucht ihrer Linie und Rhythmik kennengelernt. Auch in der Architektur ist nichts schön und häßlich zugleich. Ebenso tritt der Fall nicht in der Musik ein. Dissonante Musik ist entweder schön, das heißt belebt, oder häßlich, das heißt verzerrtes Geräusch. Der einzige Anwendungsfall des zugleich schön und häßlich ist die Darstellung des Menschen in der abbildenden Kunst und Dichtung. Hier tritt das Phänomen ein, daß der Künstler im Häßlichen Schönheit entdeckt, wobei er das Häßliche weder verschweigen kann noch verschweigen will. Was liegt hier vor? Der abgebildete oder geschilderte Mensch wäre, wo er uns lebendig begegnet, ästhetisch nur abstoßend, vielleicht affektiv bemitleidenswert. Aber in diesem Menschen entdeckt der Künstler Gestalt von eigenem Leben, die die Züge zusammenhält, die im „Modell" dissonant und fratzenhaft sind. Die Gestalt mit ihrem Leben siegt über das Objekt mit dem seinigen, und das Objekt spricht ganz durch sie. Das geht so weit, daß auch das moralisch Abstoßende, das sich in der Erscheinung ausprägt, zum Medium einer Gestalt-Sprache wird: der sinnliche Faunskopf, die Hexe und der Teufel. Ebenso der verfallene Körper: Rembrandts Selbstbildnis. Die Möglichkeit des Häßlichen in der Kunst ist ein 61

Beweis für die Autonomie der Gestaltindividualität. Ein Gestaltganzes lebt in der Darstellung eines Körpers, an dem wir ohne die gestaltende Darstellung ein Leben entweder nicht fühlen könnten oder nicht fühlen wollen würden. 5. Konvention und Subjektivität

im Erlebnis des Schönen

Die eben angeführten Beispiele lassen den weiten Spielraum hervortreten, innerhalb dessen eine objektive Entscheidung darüber, was schön und was häßlich ist, unmöglich ist. Von Anfang an bedeutet die Keduktion ästhetischer Gegenständlichkeit und Werthaftigkeit auf die Gegebenheit ästhetischer Gegenwart, daß das erlebende Ich in diesen Dingen oberster Richter ist. Völlige Übereinstimmung in der Anerkennung dessen, daß Schönes vor uns steht, wird weitgehend nur durch Konvention erzielt. Eine Landschaft lebt für uns, weil sie sich dem Rahmen der Landschaften, die wir als ansprechend kennengelernt haben, einordnet. Menschen, deren Empfinden für Naturschönheit inmitten der Wälder und Wiesen und im gedämpften Licht Mitteleuropas herangewachsen ist, finden die kahlere Landschaft und das grelle Licht der Mittelmeerzone zunächst tot und nichtssagend, wenn nicht abstoßend. Aber der in dieser Zone Herangewachsene hat häufig ein ähnliches Empfinden wenn er nach Mitteleuropa versetzt wird. Nicht weniger traditionell bestimmt ist die Anerkennung menschlicher Schönheit, die bei verschiedenen Rassen geradezu notwendig verschieden ausfällt. Demzufolge unterliegt auch die Kunst in verschiedenen Kulturen verschiedenen Maßstäben. Und diese Maßstäbe verwandeln sich innerhalb der einzelnen Kultur. Die italienische Renaissance vermochte ihre Normen des Schönheits-Empfindens so allgemein zur Geltung zu bringen, daß die mittelalterliche Kunst in den Verruf der unerzogenen Wildheit geriet. Der Ausdruck „gotisch" wurde, wie bekannt, ursprünglich in diesem Sinn verstanden, und daß die gotische Kunst ihre eigenen Wertgehalte hatte, war eine Neuentdeckung des 19. Jahrhunderts. Aber es ist verfänglich, in diesem Zusammenhange von verschiedenen und subjektiven Idealen der Schönheit zu sprechen. Der Ausdruck des ideal Schönen bezieht sich nicht auf das Schöne im Sinne des ästhetisch Vollkommenen, sondern auf das Gestalt-Schöne, das Edle. Wir können feststellen, wie sich die Skala des Schönen in der ostasiatischen Kunst zur Skala des Schönen in der griechischen und römischen Antike verhält, das heißt welche Konfigurationen der Gestalt hier und dort überhaupt als ästhetisch valent aufgefaßt wurden. Wir wissen außerdem, daß die griechische Kunst ein besonders lebhaftes Empfinden für das GestaltSchöne im Sinne des Edlen und damit für ein Schönheitsideal entfaltet hat. Dieses Ideal hat aber damit nicht notwendig einen Gegenpart in jeder anderen Kunsttradition. Es dürfte schwer sein festzustellen, daß jenes 62

Edle, das die klassische griechische Kunst verwirklicht und zu verwirklichen gelehrt hat, außerhalb dieser Tradition überhaupt gefunden worden ist. In diesem Sinne ist es ein „objektiver Wert". Damit ist aber, wie schon vorhin betont, keine Norm begründet, derzufolge eben dieser objektive Wert jederzeit und jeden Ortes in der Kunst verwirklicht werden müßte. Tradition und Konvention sind nicht die einzigen regulierenden Momente subjektiver Gebundenheit in der Anerkennung des ästhetisch Werthaften. Individuelle Fassungskraft, die freilich auch traditionell erzogen werden kann, ist ein zweites Bestimmungsmotiv in dieser Sphäre. Ein Betrachter mag gegenüber einem Bilde das deutliche Bewußtsein haben: „Ich verstehe es nicht, aber das liegt ein mir." Das besagt, daß er sich unfähig fühlt, die Elemente des ihm Dargebotenen zu einem ausdrucksvollen Ganzen zusammenzuschließen, aber wohl erkennt, daß dies dem Künstler und anderen Betrachtern gelungen ist. Die Situation des „unmusikalischen" Musikhörers ist typisch für diese Begrenztheit und das Bewußtsein von ihr.

6. Das objektiv

Bestimmbare

im Bereich des

Schönen

Hier entsteht die Frage: wieweit kann überhaupt ein ästhetisches Empfinden oder Urteil gegenüber einem anderen recht haben und sich als gültig ausweisen? Wir pflegen anzunehmen, daß dies weitgehend möglich ist. Wir finden es unerlaubt, daß der Unmusikalische sagt, Musik ist ein bloßer Sinnenrausch und prinzipiell ästhetisch wertlos. Wenn Inder, deren sehr differenzierte Musik keine Polyphonie kennt, polyphone Musik als bloßes Geräusch ablehnen, so sehen wir das nicht als ein berechtigtes Urteil an. Im ästhetischen Urteil setzen wir voraus, daß es trotz aller Verschiedenheit von Stil und Geschmack doch ästhetische Werte gibt, die Geltung haben und verwirklicht werden, gleichgültig, welche Menschen und wie viele ihnen zugänglich sind. Diese objektiven Werte sind die Typen der Wertskala, auf die wir im Eingang unserer letzten Betrachtung hingeführt worden sind. Sie sind gleichbedeutend mit dem spezifischen Element des Gestalt-Ausdrucks, der Linie, Rhythmus und Farbigkeit des Gebildes mit seinem Leben erfüllt. Heiterkeit, Wucht, Adel, Schlichtheit sind als Gehalte, die die Erscheinung durchziehen und in ihr unsere Gegenwart fesseln, objektive Gehalte der ästhetischen Realität. Ohne ihre Anwesenheit gibt es kein ästhetisches Erleben. Aber zugleich gilt: Jedes Ich, das eines ästhetischen Erlebnisses gewahr ist, wird sich mit anderen Betrachtern, die von demselben Gegenstand ästhetisch angesprochen sind, darüber verständigen können, welcher Gehalt für die Gegebenheit eines ästhetisch lebendigen Ganzen entscheidend war. Es ist nicht vorstellbar, daß ästhetische Meinungen darüber uneinig wären ob eine Landschaft oder ein Bild oder ein Musikstück ge63

waltig oder anmutig seien. Allerdings wissen wir, daß sowohl die Natur wie die Kunst Übergänge kennen. Die Sklaven an Michelangelos Sixtinischer Decke werden als anmutig erscheinen, wenn man sie im einzelnen betrachtet, und als gewaltig, wenn man den Gesamtentwurf der Gemäldefolge im Auge hat. Jedes ästhetische Urteil muß sich darüber ausweisen, welchen spezifischen ästhetischen Ausdrucksgehalt, oder welche Skala der Ausdrucksgehalte es anwesend und für die Gegebenheit des Schönen entscheidend findet. Diese Ausage begründet jeweils den Tatbestand des ästhetischen Erlebnisses. Daß man von einem solchen Erfordernis reden kann, macht es möglich, von der Objektivität ästhetischer Werte zu sprechen — wenn diese Objektivität auch eine andere bleibt als die der rational nachprüfbaren Evidenz. Es ist wichtig, dieses Erlebnis der Anwesenheit spezifisch ästhetischer Gehalte von anderen Erlebnissen zu unterscheiden, die im gleichen Gegenstand an unser Fühlen, oder unser Interesse appellieren können. — Wir haben bisher den Ausdruck des „Gefallens" vermieden, der traditionell so eng mit dem Begriff der Schönheit verknüpft ist. Er ist tatsächlich noch vieldeutiger als der Begriff des Schönen. Gefallen bedeutet immer eine Anziehung. Es bedeutet eine Fesselung unserer Aufmerksamkeit, und damit eine Determinierung unseres Gegenwart-Habens. Aber die Gegenwart, in der wir gern verweilen, ist nicht notwendig die ästhetische Gegenwart. Wir haben deren Kriterien kennengelernt: den zyklischen Aufbau, in dem Momente der Gestalt immer neue Verbindungen eingehen. Das Gestaltganze — Linie, Rhythmus, Farbigkeit als seine Elementarstrukturen, Ausdruck eines bestimmten Typs als belebendes Element. Diese Gegebenheiten, und insbesondere die des spezifisdi ästhetisdien Ausdrucks, sind prinzipiell von anderen Reizen verschieden, die uns bei Gegenständen verweilen lassen. Das kann ein sinnlicher Reiz sein: Wir empfinden Behagen bei Gesichtern bestimmten Typs oder bei bestimmten Farben. Oder es ist ein spielerischer Reiz: Wir verfolgen eine bildlich dargestellte Szene mit Interesse an ihrem Inhalt oder eine erzählte Geschichte mit Spannung. Es kann die Freude sein, bekannte Erscheinungen — Menschen, Tiere — im Bilde als richtig getroffen wiederzufinden. Oder es kann gerade eine Freude an Gegenständen sein, die niemals in der Wirklichkeit anzutreffen sind: fabelhafte Phantasie-Gestalten. Der Anreiz des Gefallens kann einen sentimentalen Inhalt haben, der Künstler appelliert an unser Mitleid. Die Musik läßt schmerzliche oder freudige Erinnerungen in uns anklingen. Schließlich kann unser Gefallen, das uns beim Gegenstand verweilen läßt, durch eine intellektuelle Anregung motiviert sein: Ein Gedicht läßt uns über die Lehre nachdenken, die es verkündet. Oder ein Bild über seine symbolischen Andeutungen. Alle diese Formen der Anregung bedeuten, daß Gegenwärtiges uns bei sich verweilen läßt. Aber dieses Verweilen hat, wenn eines jener Momente dominiert, nicht die Struktur der ästhetischen Gegenwart. Was uns hier gegenübersteht, ist eine Mannigfaltigkeit aktueller Gegenwart. Wir ver64

weilen nicht bei der Erscheinung als solcher. Wir sind entweder auf unser eigenes Ich konzentriert, auf Unser Behagen, unsere Affekte. Oder wir sind auf etwas konzentriert, was nicht in der Erscheinung unmittelbar anwesend, sondern durch sie dargestellt ist, so bei dem inhaltlichen Interesse einer Erzählung oder bei dem intellektuellen Thema eines lehrhaften Bildes oder Gedichtes. Was im technischen Sinne Kunstproduktion heißt, ist vielfach dem historischen Ursprung nach in erster Linie durch solche Interessen bestimmt gewesen. Das besagt nichts darüber, daß sie die eigentlich wesentlichen ästhetischen Interessen wären. Im Gegenteil: Das Erleben, f ü r das eines dieser Interessen dominiert, ist überhaupt kein Erleben spezifisch ästhetischer Werte. Zugleich aber stehen wir der eigentümlichen Tatsache gegenüber, daß es kaum ein ästhetisches Erleben gibt, mit dem sich nicht eines dieser sinnlichen, gefühlsmäßigen oder intellektuellen Interessen verbände. Und f ü r die ästhetischen Erlebnisse höchster Ordnung ist diese Verbindung sogar noch von einer ganz besonderen Bedeutung. Gefühle und Gedanken, die nicht von Haus aus an die ästhetische Gegenwart gebunden sind, dürfen im Erleben der Schönheit nicht vorherrschen. Aber es ist ebenso gewiß, daß ästhetisches Erleben uns gar nichts bedeuten würde, wenn es sich nicht mit Werten verknüpfte, die f ü r den Gesamtzusammenhang unseres persönlichen Lebens grundlegend sind.

KAPITEL

VII

Ästhetische Wahrheit 1. Gegebenheit ästhetischer Wahrheit als Leistung Erlebens

ästhetischen

Unsere letzte Betrachtung hat uns auf die Frage zurückgeführt, die sich uns schon stellte, als sich das ästhetische Erlebnis als „Transformation der Gegenwart" erwies. Ästhetische Gegenwart führt uns aus unserem kontinuierlichen Lebensablauf heraus. Sie isoliert sich gegenüber diesem Lebensablauf. Zugleich isoliert sich in ihr der betrachtete Gegenstand, der die Gegenwart ausfüllt, gegenüber dem Zusammenhang des Geschehens in Raum und Zeit, von dem jede rational empirische Erfassung des Gegenwärtigen zu berichten hätte. In solcher Isolierung konstituiert sich ästhetischer Wert. Wir müssen fragen: In welcher Hinsicht ist solcher Wert wertvoll? Wir können uns nicht damit begnügen, wie es oft geschieht, zu sagen: Er ist eben ein Wert sui generis, denn das entspricht gar nicht der erlebten Wirklichkeit. Die ästhetische Gegenwart, aus unserem Lebensablauf herausgehoben, hat zugleich einen deutlich bestimmten Platz 5 Vom Sdiönen

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in diesem Ablauf. Wir können darüber Rechenschaft geben, was sie im Aufbau unseres Fühlens, Denkens, Handelns leistet. Diese Leistung ist keineswegs einförmig überall die gleiche. Wir müssen verschiedene Typen unterscheiden. Den ersten Modus der Bedeutsamkeit hat die ästhetische Gegenwart mit Gegenwartsformen anderer Struktur gemein. Wir werden unterhalten, spielerisch beschäftigt, und wir genießen das. Die ästhetische Gegenwart dient unserer „Entspannung" — und die Isolierung, in der sie sich aufbaut, ist Mittel zum Zweck solcher Entspannung oder Erholung. Sie ermöglicht für eine vorübergehende Zeit ein leichtes, verantwortungsloses Leben. Eine zweite Art der Bedeutsamkeit ist schon mehr dem ästhetischen Erleben als solchem eigen. In gewissen Formen gehört ästhetisches Erleben zur Ordnung und zum Gleichgewicht des Gemeinschaftslebens. Wir sollen nach Möglichkeit in einer Sphäre ästhetischer Reinlichkeit leben. Unsere Umgebung im täglichen Lebensablauf soll nicht häßlich sein. Wir wissen, ob wir im Zimmer und auf der Straße von Gegenständen umgeben sind, bei denen unser Blick, wenn auch jeweils nur für einen ganz kurzen Moment, mit ästhetischer Befriedigung verweilen kann. Möbel und Häuserfronten können und sollen Linie und Ausdruck haben. Um solchen Verweilens willen haben wir Gärten und legen wir Wert auf Formen der Kleidung, Gebärde, Sprache. Das ist die kulturelle Bedeutung des Ästhetischen. Bald mit anspruchslos ordnender Hand, bald mit dem Willen, eine eindrucksvolle Szenerie zu schaffen, wird dem Leben des Alltags ein ästhetisch gestalteter Rahmen geboten. Autorität — kultische und politische — macht ihre Hoheit eindringlich, indem sie die Stätten ihrer dauernden Anwesenheit, Tempel und Paläste, mit der Würde architektonischer Gestalt umgibt. Technische und geschäftliche Institutionen haben in der modernen Welt Mittel gefunden, sich in eigener Weise mit ästhetischer Feierlichkeit zu bekleiden. Es gibt kaum eine gesellschaftliche Institution, die nicht in den Rahmen ästhetischer Gegenwart hineingestellt werden könnte. Ästhetische Werte sind in einem Gesellschaftskreise in dem Maße lebendig, in dem die fragliche Gesellschaft ästhetischer Gegenwart zu ihren Institutionen Zutritt gibt. In diesem Sinne sprechen wir von ästhetischer Kultur. Ästhetische Kultur ist bei weitem nicht bei allen Völkern gleichartig und noch viel weniger gleich intensiv durchgebildet. Ihre Vernachlässigung ist manchmal ein Zeichen primitiver Zivilisation, manchmal aber auch eine Begleiterscheinung energischer wirtschaftlicher oder auch intellektueller Betätigung. Ästhetische Kultur kann sogar aufs stärkste vernachlässigt sein im Kreise von Menschen, die konventionell eine große Achtung für künstlerische Schöpfungen zutage legen. Für Museen und Konzerte wird Aufwand getrieben, wo das tägliche Leben in greller Häßlichkeit verläuft. Aber in gewisser Hinsicht ist es ganz sinngemäß, daß das Leben des einzelnen mit der Schönheit in Natur und Kunst sich absondert von seinem Leben im Zusammenhang gesellschaftlicher Institutionen. So 66

wenig wie das Faktum der ästhetischen Unterhaltung und Entspannung sagt auch das Faktum der ästhetischen Ordnung im Gesellschaftsleben das letzte Wort über den Wert der ästhetischen Gegenwart und des Schönen für unser persönliches Sein. In der geschmackvollen, angenehmen, feierlichen, würdevollen Darbietung des Gemeinschaftslebens und seiner Schauplätze wird die Kontinuität des Ablaufs der Gegenwart nicht wirklich unterbrochen. In unserem eigenen Zimmer oder auf der Straße oder im Amtsgebäude oder im Andachtshaus, rein als solches betrachtet, sollen wir nicht vergessen, wo wir jetzt sind. Die ästhetische Gestaltung des Lebens-Milieus soll uns diesem Milieu nicht entrücken sondern sie soll unseren Zusammenhang mit ihm harmonisch gestalten. Aber unsere ästhetische Erfahrung weiß von einer noch ganz anderen Leistung des Schönen. Sie weiß von einer ästhetischen Gegenwart, die ganz und gar Entrückung ist. Wir erleben den „Zauber" gewaltiger oder idyllischer Formen in Natur und Kunst. Wir sind dem übermächtigen Rhythmus einer Landschaft, einer Musik, einer Architektur hingegeben. Wir erfahren in ästhetischer Isolierung ein Leben, das größer ist als unser alltägliches. Wohin werden wir geführt, wenn wir im Anschauen des Schönen aus unserem Alltag hinausgeführt werden? Daß wir in ein Dasein versetzt werden, das uns gar nicht angehört, kann nicht die höchste, uns erwünschte Leistung des Schönen sein. Die höchste Leistung, die wir uns vorstellen können, muß darin liegen, daß die ästhetische Gegenwart uns einem Sein nahebringt, das auf dem Grunde unseres Ichseins ruht. Sie muß uns dem Alltag entziehen, um uns unserem tiefsten und wesentlichsten Sein wiederzugeben. Wenn sie uns dieses Bewußtsein ermöglicht, dann macht sie uns jenes unser eigentliches Sein selbst zur Gegenwart. Sie läßt uns dieses Sein erkennen. Sie gibt uns Wahrheit. In Beziehung auf diesen Zusammenhang des ästhetischen Erlebens sprechen wir von einer spezifisch „ästhetischen Wahrheit". 2. Ästhetische Wahrheit als Element ästhetischer Kultur und künstlerischer Entwicklung Die Verwirklichung dieses Sinnes ist mehr als ein theoretisches Postulat. Sie genießt Anerkennung im Aufbau ästhetischer Kultur. Sie nimmt ferner einen aufweisbaren Platz in der geschichtlich-individuellen Gestaltung des Schönen, in der Biographie von Künstlern ein. An moderner, westlicher Kultur sind beide Funktionen leicht festzuhalten, und wir werden sie uns an ihren Beispielen vergegenwärtigen. Aber sie sind auch außerhalb dieser Kultur verwirklicht worden. Ästhetische Kultur steht nicht lediglich im Zeichen des Geschmacks, der Ordnung und Reinlichkeit. Ästhetische Erlebnisse genießen in der modernen Kultur eine, man darf sagen, institutionelle Anerkennung. Gesellschaftliches Leben gilt als unvollkommen, wenn nicht das Leben des einzelnen auf die Bereitung ästhetischer Stunden eingerichtet ist, und s*

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wenn nicht die Organisation der Gesellschaft f ü r die Befriedigung dieses Bedürfnisses Veranstaltungen trifft. Das Verweilen in der Natur und die Betrachtung von Kunstwerken im Sehen, Hören, Lesen gestalten sich als „Andacht", und es gilt als öffentliches Gebot, solche Andacht zu ermöglichen. Der Sinn dieser Andacht ist nicht Zerstreuung; im Gegenteil, sie ist immer Konzentration. Wir wollen Stille f ü r die Naturbetrachtung. Der Kunstbetrachter und der Musikhörer wollen mit dem Kunstwerk allein sein. Der Betrachtung wird der Sinn einer Zwiesprache zugeschrieben, obwohl in ihr nichts spricht als das Angeschaute. Die Annahme ist, daß das Angeschaute unserem Ich antwortet. Wenn wir uns durch leidenschaftliche Aufregung oder intellektuelle Ablenkung zu solcher Andacht nicht fähig fühlen, sie aber früher gekannt haben, so wissen wir, daß wir einer wesentlichen Seite unseres seelischen Daseins entfremdet sind. Wenn wir in eine Umgebung kommen, die uns die Gelegenheit zur ästhetischen Andacht versagt, fern von Natur oder fern von Kunst, ohne Dichtung, Bilder, Musik, so wissen wir unser Leben verarmt und die Welt als arm, in die wir geraten sind. Künstler haben zuweilen sich auszusprechen bemüht, daß Verwirklichung solcher Andacht ihr höchstes Ziel war. Am eindringlichsten hat es der Künstler getan, dem die Fähigkeit, in Worten über sich zu sprechen, am wenigsten gegeben war, Beethoven; Und sein Zeitgenosse, John Keats fand das Wort:.„Beauty is truth, truth beauty", das ganz diejenige Wahrheit meint, von der wir reden. Wichtiger noch als diese gelegentlichen direkten Selbstzeugnisse ist ein indirektes Selbstzeugnis, das mehrere große Künstler, Musiker und Dichter der Neuzeit abgegeben haben. Die Stilentwicklung ihres Schaffens in reiferen Jahren ist nicht anders zu verstehen als durch ein Bestreben nach höchster Prägnanz einer Aussprache, die sie mitzuteilen haben. Reichtum, Dramatik, Virtuosität, die sie in früheren Werken entfaltet haben, werden diesem einen Bestreben geopfert. Gegenüber den reifsten Werken eines Michelangelo, Rembrandt, Tizian, Turner, Shakespeare, Goethe, Beethoven, Brahms spricht man von einem Zuge zur „Vereinfachung" oder „Unsinnlichkeit". Nicht, daß der Sinn f ü r Farbigkeit und Stärke des Ausdrucks den Künstler verlassen hätte, oder daß er sein Werk auf eine rationale Durchsichtigkeit zusammenziehen wollte. Das Kunstwerk ist unsinnlich, insofern es in jedem Zuge ein Sich-Aussprechen sein will, und es ist einfach, weil die Einheit dieses Sich-Aussprechens alle Mannigfaltigkeit sich unterordnet. Solche Absicht bezeugt, daß dem Künstler seine Darbietung eine Botschaft bedeutet. Sie bezeugt die Gewißheit, Wahrheit mitzuteilen. 3. Die symbolische Struktur der ästhetischen

Wahrheit

Wir stehen einer übereinstimmenden Intention gegenüber, die aller großen Kunst eigen ist. Sie ist nicht beschränkt auf die wenigen Künstler, denen ihre Lebensdauer die Möglichkeit gegeben hat, solche kompromiß68

lose Eindringlichkeit zu verwirklichen. Die Gewißheit, eine Wahrheit offenbar zu machen und eine Botschaft mitzuteilen, hat auch in Künstlern gelebt, denen nur eine kurze Spanne des Schaffens vergönnt war. Ein Dichter, für den das gilt, Keats, hat das klassische Wort f ü r diese Aufgabe gefunden. Jeder dieser Künstler war eine Individualität für sich, und was er mitzuteilen hatte, konnte kein anderer mitteilen. Dennoch: Viele solche Künstler kennen, heißt viele Formen der gleichen Wahrheit kennen. Mehr noch: Diese Wahrheit wird uns auch von der Natur entgegengebracht. Das ist die Voraussetzung dessen, daß die Andacht vor der Landschaft sich einen anerkannten Platz im Kulturleben erworben hat. Aber keine Landschaft ist der anderen völlig gleich. Und so verschiedene Landschaftswelten wie die des Hochgebirges, der Heide, der gepflegten Parklandschaft, Acker- und Wiesenflur, Flüsse und Meer, werden alle als Andachtsräume von uns aufgesucht. Endlich: Wir, die Betrachter, wissen uns als verschieden geartete Menschen. Jeder hat seine Landschaft und seine Kunst, die ihn besonders ansprechen. Jeder hat, schließlich und vor allem, das Bewußtsein, daß im Moment seines Erlebens die Landschaft oder das Kunstwerk eine enge Beziehung mit ihm ganz persönlich eingegangen ist. In einer unabschließbaren Mannigfaltigkeit ausgebreitet, wird die ästhetische Wahrheit jeweils ein höchst individuelles Geschehnis. Das Geschehnis ist so individuell, daß es niemals adäquat mitteilbar wird. Menschen können sich untereinander darüber verständigen, daß sie es gehabt haben. Sie können voreinander die Gewißheit vertreten, daß sie ästhetische Gegenwart zu ästhetischer Wahrheit hingeführt hat. Aber sie können den Gehalt dieser Erfahrung nicht in Begriffen festhalten, so wie sie intellektuelle Einsichten in Begriffen festhalten können. In diesen Tatbeständen sind drei elementare Bedingungen ästhetischer Wahrheit inbegriffen. Die eine ist: Ästhetische Gegebenheiten appellieren an ein Element unseres Wissens, das seinem Sinne nach ein und dasselbe Ich in jedem individuellen Ich offenbar macht. Sie beziehen sich auf „das Ich in uns". — Die zweite Voraussetzung lautet: Wenn unzählbar viele Individuen von unendlich vielen Landschaften und Kunstwerken letzten Endes die gleiche Botschaft empfangen, so muß diese Botschaft einen Inhalt haben, den jeder Mensch schon in seinem eigenen SichWissen vorfinden kann. Das Ich in uns wird durch die ästhetische Gegenwart in uns aufgeschlossen. Der Gegenstand macht uns in diesem Sinne wach für uns selbst. — Und drittens: Diese Erschließung bedarf der unendlichen Mannigfaltigkeit ästhetischer Gestalt in der sie sich vollzieht. Sie läßt sich nicht einförmig vollziehen. Sie legt sich nicht in Definitionen und Urteilen fest. Indem sie in Gestalten der Erscheinung spricht, offeribart sie sich in einer Mannigfaltigkeit von Symbolen, deren jedes für sich allein auf die Wirklichkeit des Ich in uns hinführt, ohne dabei mit anderen gleichgearteten gestaltlichen Symbolen in Beziehung zu treten. 69

Wir verwenden hier einen Begriff, dem die moderne Philosophie eine zentrale Bedeutung in der Theorie der Erkenntnis und in der Theorie der Kultur verliehen hat, ohne sich dabei vollständig über seine Funktion zu einigen. In seiner Anwendung hat man sich allseitig weit von der ursprünglichen Bedeutung des griechischen Wortes entfernt, wonach es sich auf Dinge bezieht, die konventionell als Verkörperungen, „Wahrzeichen" für komplexere Tatbestände angesehen werden — so wie ein Ring das Symbol der Ehe ist, das Bild eines Tieres entweder als Wappen das Symbol eines Geschlechts oder das Symbol von Größe und Heiligkeit, ein Stern oder Kreuz das Symbol göttlichen Heils. Auch in unserer gegenwärtigen Untersuchung kehren wir nicht zu dieser Bedeutung zurück. Aber wir halten eines ihrer Elemente fest, nämlich die Tatsache, daß der symbolische Gegenstand unmittelbar an Gefühle der seelischen Zugehörigkeit appelliert, die uns mit dem im Symbol Bezeichneten verbinden. Im übrigen aber ist für uns wie für die moderne Philosophie überhaupt der Begriff des Symbols nicht mehr der einer sinnlichen Abbreviatur für einen komplexeren, noch immerhin der Beschreibung oder Definition zugänglichen Sachverhalt. Wir nehmen die weite Bedeutung des Wortes an, indem es der Tatsache gerecht wird, daß menschliches Denken und Schaffen von Grund aus mit symbolischem Ausdruck seiner Intentionen durchsetzt ist. Das Schöne hat einen Platz für sich innerhalb der Welt des symbolischen Ausdrucks in mehrfacher Hinsicht. Es erfüllt diese Funktion nicht im Zusammenhang jedes möglichen Denkens und jeder möglichen Erfahrung, sondern nur in der ihm eigenen Form der Erfahrung, in der ästhetischen Gegenwart. Und seine symbolische Funktion bezieht und beschränkt sich auf eine universale Wahrheit und Wirklichkeit. In ihm wird das Ich in uns unmittelbar gegenwärtig, und uns wird damit ein Zugang zu dem Sein erschlossen, das uns mit dem Universum verbindet. In der weitest verbreiteten modernen Terminologie ist der Begriff des Symbols mit dem des „Zeichens" identisch. Seine fundamentale Funktion liegt in der Sphäre der Logik und ihrer Verbindung mit der Sprache. Alles Denken vollzieht sich in der wechselseitigen Verknüpfung von Zeichen und damit innerhalb des Gefüges sprachlicher Ausdruckssysteme im weitesten Sinne dieses Wortes. Die Frage entsteht, inwiefern die Erkenntnis überhaupt weiterdringen kann als bis zur Analyse „semantischer" und in diesem Sinne symbolischer Korrelationen. Dieses Problemreich liegt weit jenseits dessen, in dem sich die Bedeutung ästhetischer Erlebnisse entfaltet. Die Bedeutsamkeit des Schönen für die Erschließung des Ich in uns wird als symbolische Funktion viel eher deutlich, wenn man — mit Ernst Cassirer — eine Unterscheidung zwischen Symbol und Zeichen vollzieht. Zeichen, so wie sie die Elemente jeder Sprache bilden — der Wortsprache ebenso wie der exakteren Sprache der Mathematik und der primitiven, weil eingeschränkten Sprache der Signalisierung — wollen und sollen innerhalb ihres Zeichensystems 70

einförmig festgelegt sein. Die elementare Symbolik aber, in der der Mensch sich, der Wirklichkeit geistig bemächtigt, verfügt über die reichste Variabilität des Ausdrucks. Die Sprache selbst gewinnt „symbolische" Bedeutung für den Reichtum dessen, was sie ausdrücken will, nur dadurch, daß ihre Ausgestaltung als Stil eine Elastizität des Aufbaus von Sätzen und der Koordination von Worten erlaubt, die es der einzelnen Persönlichkeit möglich macht, ihre individuelle Auffassung der Wirklichkeit innerhalb der Konventionen des syntaktischen Ausdrucks zur Geltung zu bringen. Diese Individualisierung des symbolischen Ausdrucks geht im ästhetischen Erleben und in der Kunst noch einen erheblichen Schritt weiter, während sich die symbolische Funktion selbst auf einen spezifischen Gehalt zusammenzieht. Drei grundlegende Sachverhalte finden hier statt. Der ästhetische Gegenstand ist von Haus aus streng individuell und behält diese Individualität, wenn er symbolische Bedeutsamkeit gewinnt. Nicht der Löwe, oder das Kreuz, oder die Abbildung der mythischen oder heiligen Person als solcher ist symbolisch, sondern die jeweils eine und besondere Landschaft oder die individuelle figurale Schöpfung, die die Hand eines individuellen Künstlers vor uns hingestellt hat. Das ästhetisch Gegebene spricht symbolisch in der Geschlossenheit der Gestalt, die ihm allein eigen ist. Was es über diese Gestaltlichkeit hinaus als „Sinn" zu geben hat, ist gegenwärtig für uns wie die Gestalt selbst. Dieser Sinn ist nicht nur „vergegenwärtigt" erinnert, bezeichnet, gleichnisweise angedeutet; er lebt in der Erscheinung. Er ist der Sinn des Ich in uns und des geistigen Seins, dem dieses Ich angehört. Er ist damit ein derartig Allgemeines, man darf sagen, Absolutes, daß er sich aller Einordnung in begriffliche Systeme der Ordnung des Wirklichen entzieht. Seine Realisierung ist gar nicht anders möglich als in einer weitest variablen Mannigfaltigkeit des Individuellen, wie sie uns allein durch die Mannigfaltigkeit der ästhetischen Gestalt und des Erlebnisses ästhetischer Gegenwart zugänglich wird. 4. Die Postulate des Ich in uns und ihre Erfüllung durch die ästhetische Wahrheit Wir sind in die Nachbarschaft anderer Wahrheiten und Werte gelangt, die wir von einem geistigen Sein ausgehend wissen, mit denen jedes Ichsein verbunden ist und dem es zugeordnet zu sein verlangt: In unseres Busens Reine wogt ein Streben, Sich einem Höhren, Reinem, Unbekannten Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben, Wir heißen's: fromm sein! — Diese Zeilen sind von Goethe niedergeschrieben um die Zeit, als John Keats seine Verse ausströmte und Beethoven seinen letzten Stil fand. 71

Sie sprechen von einer anderen Wirklichkeit und Wahrheit als der ästhetischen. Aber diese Wahrheit sucht ihren Ausdruck in einem Gedicht. Dieses Gedicht, die „Trilogie der Leidenschaft", endet in „Musik mit Engelsschwingen" und „ewiger Schöne". Das mag uns ein Hinweis auf die notwendige innere Beziehung ästhetischer Wahrheit zu jenen anderen Selbstgewißheiten des geistigen Seins bedeuten. Das Ich in uns wird uns nicht allein durch ästhetische Wahrheit erschlossen. Es ist inbegriffen in Gläubigkeit und Liebe. Aber ästhetische Erlebnisse erfüllen für seine Erschließung zwei unersetzliche Leistungen. Das Ich in uns lebt mit uns in Raum und Zeit, in der Welt, die unseren Sinnen gegeben ist. Und ferner: Es lebt mit uns in dem Leben, das in uns „wogt", es ist nicht abgesondert von unserem Drang, zu leben und von den Gefühlen, die uns Leidenschaft entweder als Geschenk oder als Schicksal beschert. Das Ich in uns hat seinem Sinne nach eine konstante Beziehung sowohl zur sinnlich angeschauten Welt wie zum Getriebe unserer Erfahrung von Glück und Leid. Es ist dennoch nicht schon dadurch verwirklicht, daß wir eine körperlich sensuelle und daß wir eine affektive Existenz führen. Beide Tatbestände bedingen im Alltag unserer Existenz ebensosehr die Interessen, Befriedigungen und Leiden, in denen ein Individuum gegen das andere und zugleich gegen jedes höhere Sein abgeschlossen ist. Die ästhetische Erfahrung führt unser sensuelles und affektives Ichsein in eine Gegenwart, in der es sich mit dem Ichsein in uns eins wissen kann und dieses selbst zur Gegenwart werden läßt. Und sie leistet dies durch Erfüllung der dritten Voraussetzung ästhetischer Wahrheit, auf die wir geführt worden sind: durch die symbolische Beziehung gestalteter Wirklichkeit auf jenes Ichsein. Wo befindet sich das Ich in uns? Wir können es sowenig lokalisieren, wie die Bindung unseres Bewußtseins überhaupt an die Apparatur von Gehirn und Nerven eine Lokalisierung des Wissens von uns bedeutet. Und dennoch ist die Frage nach dem Ort des Ich in uns nicht sinnlos. Nicht ohne Grund haben war den Ausdruck „unser Herz", obwohl wir wissen, daß er nur metaphorisch ist. Wenn wir vom Ich „in uns" reden, so denken wir daran, daß wir — jeder von uns — in der räumlich zeitlichen Welt sind. Unser Ich — das sinnmäßig eine Ich, das jedes Individuum in sich selbst weiß, ist ein Element der räumlichen und zeitlichen Welt. Es ist nicht ausgedehnt und nicht gestaltet, aber es ist von Ausdehnung umgeben, und es schreitet durch die gestaltete Welt. Es ist, so dürfen wir sagen, die eine Hälfte des Wirklichen, das sonst ganz Ausdehnung ist. Und so dürfen wir, wenn wir von der Gewißheit des Ich in uns ausgehen, ein Postulat aussprechen, das sich auf die Gegebenheit der räumlich-zeitlichen Welt bezieht. Diese Gegebenheit muß eine Form annehmen können, in der sie gleichbedeutend ist mit der Gegenwärtigkeit des Ich in uns. Das aber ist es, was sich in der Gegebenheit ästhetischer Wahrheit verwirklicht. Das Bewußtsein, im Schönen einer Wahrheit ansichtig zu werden, ist keine trügerische Einbildung. 72

Es entspricht einer Gewißheit, die jedem Ith mitgegeben ist. Es verhilft dieser Gewißheit zur Realisierung. In diesem Sinne ist, was wir als ästhetische Wahrheit erleben, wirklich Wahrheit. Ein zweites Postulat, das in der Symbolik ästhetischer Erfahrung erfüllt wird, entsteht aus der Erfahrung der seelischen Schicksale, in die uns unsere Leidenschaften hineinführen. Wenn wir unsere Sehnsucht erfüllt und uns glücklich wissen, so haben wir die Gewißheit, daß sich nun der Sinn unseres persönlichen Seins verwirklicht hat. Aber diese Momente der Befriedigung sind zur Vergänglichkeit bestimmt. Am Ablauf unseres Lebens gemessen, sind sie nur kurze Stationen. Ihnen folgt der zerstreute Alltag mit Erregungen, denen wir keinen tieferen Wert beilegen dürfen. Und jenen Momenten des Glücks folgen vor allem schmerzhafte Verluste, unter deren Wucht sie schattenhaft werden und ihre Kraft, uns den Sinn des Lebens zu bestätigen, einbüßen. Was war dann Wahrheit daran, daß wir unserer Beseeligung die Bedeutung einer Erfüllung des unserem Dasein mitgegebenen Sinnes beilegten? — Unser Leiden enthält in anderer Form eine Frage nach seiner Verknüpfung mit dem Sinn unseres Daseins. In seinen stärksten persönlichen Erregungen entfremdet es uns unserem persönlichen Leben als einem Ganzen. Angesichts seiner und der Erfahrungen, die es erregen, kann uns der ganze Ablauf unseres Lebens mit allen Befriedigungen, die er uns gebracht hat, als sinnlos vorkommen. Aber wenn wir durch solche Stadien der Verzweiflung und Verneinung durchgegangen sind, gewinnen wir rückschauend eine andere Ansicht von unserem Leid. Wir gewinnen die Überzeugung, daß es zum Sinn unseres Daseins gehört. Wir sehen ein gewichtiges Moment darin, daß wir unserem persönlichen Leben entfremdet waren. Diese Entfremdung war nichts rein Negatives. Wir erlebten ein Schicksal, das zum Sein des Ich überhaupt gehört. Gegenwart des Glücks ist dem rückschauenden Bewußtsein, das nach dem Sinn des Lebens fragt, zugleich eine Erfüllung und eine Gabe, die sich dem Leben in seinem Gesamtablauf versagt. Gegenwart des Leids ist demselben rückschauenden Blick in seiner Weise gleichfalls eine Erfüllung, nämlich die Offenbarung eines Schicksals, ohne das kein Ichsein denkbar ist. Aber das konnte nicht die unmittelbare Sprache des Leides sein. Die Gegenwart unseres letzten Ichseins in ihm ist freilich nicht die Aussage unseres Fühlens von Leid. Sie entspricht allein der Idee, die wir rückschauend vom Leid gewinnen. Glück und Leid sind die eindringlichsten Formen unseres Gegenwart-Wissens. Sie haben zugleich eine innere Beziehung zu dem Sein, das jedes Ich mit jedem anderen letztlich verbindet. Sie machen das Ich in uns gegenwärtig. Aber gerade diese Funktion ist im Zusammenhang unseres persönlichen Lebens, im Ablauf seiner aktuellen Gegenwart nichts Beständiges. Wir tragen die Gegenwart des Ichseins in uns nicht als dauernden Inhalt unserer aktuellen Gegenwart mit uns fort. 73

So entsteht unser zweites Postulat. Soll es nicht möglich, sein, Gegenwart von Glück und Leid so zu erleben, daß sie in eindeutiger Gewißheit gleichbedeutend mit der Gegenwart des Ich in uns ist? Es ist nur möglich in einer Form des Gegenwart-Habens, die aus dem Ablauf unserer persönlichen Interessen, Affekte, Forderungen, Wünsche, Verpflichtungen herausgehoben ist. Glück und Leid können den Sinn des Ich in uns nur in sich schließen, wenn sie uns entgegengebracht werden von Gegenwärtigem, das nicht unserem Lebensablauf angehört und das dennoch unser ganzes Gegenwart-Wissen an sich, zieht. Glück und Leid werden wach als Verkörperung des geistigen Seins in uns, wenn unsere Erweckung von einer Erscheinung ausgeht, die selbst ihrem Sinne nach zugleich ganz und gar Körper, und ganz und gar Sinn ist. Diese Möglichkeit ist erfüllbar in der ästhetischen Gestalt, die ästhetische Gegenwart aufbaut. Daß solche Gestalt uns Wahrheit bedeutet, ist auch vom Ablauf unseres Lebens aus gesehen kein flüchtiger Schein. Ästhetische Wahrheit ist die adäquate Form, in der die Sinnhaftigkeit der Verknüpfung unseres Seins mit Glück und Leid zur Gegebenheit gelangt. 5. Zu den Begriffen

„unser Sein" und, „das Ich in uns"

Unsere Untersuchung führt uns zum mindesten durch ihre Begriffsspradie in die Nähe von Problemstellungen, die m der Philosophie und Psychologie der letzten Jahrzehnte ein großes Gewicht gewonnen haben. Es ist wohl deutlich, wie sich die vorliegende Betrachtung gegenüber diesen Problemstellungen abgrenzt. Wir sprechen von unserem Sein als von etwas unzweifelhaft Sinnhaftem. Diese Sinnhaftigkeit unserer „Existenz" hat ihren einzigen Ausweis in den Erlebnissen, in denen sie uns gegenwärtig wird. Ästhetische Erlebnisse haben in dieser Hinsicht eine besondere Zeugniskraft. Die zeitgenössische Philosophie der Existenz geht einen anderen Weg. Sie behandelt die Sinnhaftigkeit der Existenz als etwas Fragliches, für dessen Gewißheit wir uns auf kein Erlebnis verlassen können. Sie geht dabei von dem unzweifelhaften Tatbestand aus, daß wir als Menschen nur eine zeitlich begrenzte Existenz haben und deren ganze Bedingtheit nicht als etwas Sinnhaftes rechtfertigen können. Die Existentialphilosophie und unsere Betrachtung reden also an einem entscheidenden Punkte aneinander vorbei. Aber dieser Punkt betrifft den Begriff der Existenz nur, weil er auch den Begriff des Sinnes betrifft. Die Existentialphilosophie kommt zu ihrer Fragestellung darum, weil sie von Sinnhaftigkeit des Seins mehr verlangt als Gegebenheit in unmittelbarer Evidenz. Sie verlangt, daß Sinnhaftigkeit auf Fragen antwortet, die innerhalb des zweckbestimmten Seins einen Sinn geben. Hat unser Sein Fortdauer? Und wozu ist es da? Kann seine empirische Begrenztheit durch Beziehung auf andres Seiendes aufgehoben werden, oder muß sie vielmehr jede Frage nach dem Sinn unseres Seins bestimmen? In der 74

Existentialphilosophie ist Sein, das zeitlich genommen nichts Ewiges verspricht, entweder Unsinn oder eben nur durch solche Enttäuschung bestimmter Sinn. Solche Fragestellungen heben den Sinn der Sinnhaftigkeit auf, für den die ästhetische Wahrheit ein Zeugnis ist. Hier scheiden sich also die Wege. Wir erkennen Sein als sinnhaft, weil uns Sinnhaftigkeit das letzte Kriterium und die wesentlichste Bestimmung des Seins ist. Leben bedeutet uns in der Gegenwärtigkeit von Sinn leben. Wo dieser Schritt nicht vollzogen wird, können unsere Feststellungen nicht gültig sein. Der Begriff des Ich in uns fordert gleichfalls eine Abgrenzung gegenüber einer scheinbar verwandten modernen Begriffsbildung. Er hält einen Doppelsinn der Beziehung jedes Ich zu sich selbst fest. Jedes Ich weiß von sich in einem Sinne gemäß dessen es nur sich selbst angehört. Dennoch weiß es sich zugleich als ein Ich, das das Ichsein als solches verwirklicht. Gerade in dieser Bedeutung erfährt es sich als etwas, dessen Sinnhaftigkeit sich erfüllen kann. Die ästhetische Gegenwart ergibt sich im Verfolg der vorliegenden Betrachtung als ein Ausweis dieser Sinnhaftigkeit des Ichseins. Von dem sinnhaften Ichsein als solchem, das mit allem persönlichen Ichsein verknüpft ist, sprechen wir hier als vom Ich in uns. Wir nehmen die Verflechtung der individuellen und der überindividuellen Bestimmtheit unseres Ichs, die in dieser Bezeichnung ausgedrückt ist, als etwas gegebenes hin. Daß man vom Ich nidit als etwas schlechthin Eindeutigem sprechen kann, ist, wie bekannt, auch eine Grundtatsache für die moderne Psychologie der Persönlichkeit. Die Wissenschaft bedarf einer Unterscheidung der psychischen Phänomene, die aus dem Unbewußten aufsteigen, von denen, über die wir uns unmittelbar Rechenschaft geben, und bedarf weiterer Unterscheidungen, um Differenzen im Aufbau des persönlichen Selbstbewußtseins beschreiben zu können. Die Psychologie spaltet die Persönlichkeit in Einheiten wie das Ego, das Es, das SuperEgo auf. In diesen Unterscheidungen hat das Ich in uns, wie es in den vorliegenden Betrachtungen gefaßt ist, kaum einen Platz. Es ist weder ein Es noch ein Super-Ego, denn es ist ja nicht ein Ausgangspunkt von Triebrichtungen oder ein Sammelpunkt von Reaktionen. Es ist kein Element der handelnden Persönlichkeit. Es ist dasselbe wie das, was wir unser Sein oder unser geistiges Sein genannt haben — unser Ich als etwas Sinnhaftes, so, wie es sich auf Grund bestimmter Erlebnisse, zu denen vornehmlich die ästhetischen gehören, spontan darstellt. Es wird nicht behauptet, daß dieses Ich in uns mehr leistet, als daß es sich als Gegenwärtiges zu erfassen gibt.

6. Die Mannigfaltigkeit

der ästhetischen

Wahrheit

Wir sind dessen gewiß geworden, daß unser Bewußtsein, im Schönen Wahrheit zu empfangen, gerechtfertigt ist. Wir haben das Ich in uns als das Objekt der Wahrheits-Aussage im Schönen erkannt. Wir müssen uns 75

nun daran erinnern, daß diese Aussage eine Funktion des Schönen oder der ästhetischen Vollkommenheit ist. Das ästhetisch Vollkommene ist nicht immer in der gleichen Weise vollkommen. Es verwirklicht sich in der reichen Mannigfaltigkeit dessen, was wir als „Ausdruck" oder „Lebendigkeit" im spezifisch ästhetischen Sinn des Wortes bezeichnet haben. Heiterkeit, Größe, Anmut, Schlichtheit, solche Gehalte bedeuten ebenso viele verschiedene mögliche Formen der ästhetischen Wahrheit selbst. Aber von einer Mannigfaltigkeit der ästhetischen Wahrheit haben wir noch in anderem Sinne zu sprechen. Das Ich in uns, daß uns in der Erweckung durch das Schöne zur Gegenwart gemacht wird, ist selbst von mannigfaltigstem Inhalt. Es ist in gewisser Hinsicht gleichbedeutend mit der Tatsache, daß wir durch die angeschaute Welt schreiten — daß wir in Raum und Zeit lebendig sind, und daß die Welt uns gegenüber ist. Das Ich in uns ist aber zugleich ein geistiges Sein, in sich selbst unanschaulich und unsinnlich. Damit wissen wir es als ein Seiendes, das jenseits aller Leidenschaften steht. Und dennoch wissen wir es auch anwesend in Gefühlen, die wir ohne Leidenschaft nicht kennenlernen würden, in Glück und Leid. Erleben der Schönheit bringt all dies zutage. Schönheit in Natur und Kunst verkörpert das Ich in uns in allen diesen Beziehungen. Aber es ist unmöglich, daß das mannigfaltig Schöne diese Mannigfaltigkeit unseres Ichseins jederzeit im ganzen unmittelbar zur Anschauung bringen sollte. Was uns in ästhetischer Gegenwart geboten wird, das sind verschiedene Aspekte dieses Ichseins. Die Mannigfaltigkeit dieser Aspekte führt uns zurück auf die Mannigfaltigkeit der Formen, in denen sich die Gegebenheit von Erscheinung in ästhetischer Gegenwart transformiert. Wir lernten zwei Grundformen dieser Transformation kennen: Die eine ist die Auffassung der erscheinenden Wirklichkeit als ästhetisch gegenwärtig, das Erlebnis der Natur. Die andere Form der Erzeugung ästhetischer Gegenwart ist in Werken niedergelegt, in denen ein gestaltendes Ich zu uns spricht. Diese Form umfaßt das Reich der Künste. Sofern ästhetische Wahrheit an unser Ichsein in Raum und Zeit schlechthin appelliert, kann sie nirgends eindeutiger gegeben sein als im Anschauen der Wirklichkeit, die ohne menschliches Zutun vor uns steht, nirgends eindeutiger als im Erlebnis der Natur. Unser Sein in Raum und Zeit, das wird uns vor der Natur gegenwärtig. Unser Ichsein, so erlebt, ist allen Leidenschaften enthoben. Aber auch für die Seite unseres Ichseins, die mit unseren Leidenschaften und ihren Schicksalen verflochten ist, steht eine spezifische Form der Repräsentation in Gestalt. Unser Sein, mit Glück und Leid verknüpft, kann nirgends eindeutiger ausgesprochen sein, als da, wo Menschen in Schönheit von ihrem Glück und ihrem Leid ausdrücklich sprechen: in der Dichtung. Aber die Dichtung kann auch selbst wieder von der Natur sprechen. Und andere Künste enthalten in wechselreicher Verbindung das Element der Natur und das Element der Dichtung. Die bildenden Künste — Malerei, Plastik und Architektur — und 76

die Musik geben uns Erscheinung, in der ein persönliches Ich, daß Ich des Künstlers zu uns spricht. In den darstellenden Künsten der Malerei und Plastik ordnet sich der gestaltende Wille des Künstlers am meisten der Erscheinung unter und führt uns so in die Nähe des Naturerlebnisses. Aber die ästhetische Wahrheit, die der darstellende Künstler ausspricht, kann doch indirekt die des leidenschaftlich erlebenden Ich sein. Architektur und Musik sind Gestaltungen, in denen Raum und Zeit emanzipiert vom Bilde der Natur neu geschaffen werden. Kraft dieser Leistung wetteifern ihre Werke mit der Natur in der Vergegenwärtigung unseres geistigen, aller Leidenschaft überhobenen Daseins. Aber sie sind, wie alle Kunst, Ausdruck, und aller ästhetische Ausdruck verknüpft sidi mit seelischem Ausdruck, mit dem Getriebe unserer Gefühle. So wird zumal die Musik, wie sehr sie uns auch der Welt entrücken kann, zur Vergegenwärtigung des Schicksals unseres Ichseins in unserem Glück und Leid. 7. Reinheit Wir erkennen: Die Gegebenheit ästhetischer Wahrheit ist in keinem Sinne etwas Einförmiges. Sie wird gegenwärtig in der ganzen Mannigfaltigkeit der Formen ästhetischen Ausdrucks oder ästhetischer Lebendigkeit, die uns Schönheit bedeuten. Und zugleich wird das Ich in uns in dieser Mannigfaltigkeit der Ausdrucksgehalte selbst als eine Welt mannigfaltiger Inhalte vor uns hingestellt. In gewissem Sinne muß also gelten, daß ästhetische Wahrheit, die doch mit Gegenwart des Ich in uns gleichbedeutend ist, an keinen spezifischen Charakter der Schönheit gebunden ist. Aber mit dieser negativen Feststellung können wir uns nicht zufriedengeben. Ästhetische Wahrheit ist nirgendwo als in der Schönheit. Schönheit ist immer vollendete Beherrschung einer Erscheinung durch den ästhetischen Ausdruck, der sie durchdringt. Also muß ästhetische Wahrheit doch auch mit einem spezifischen Ausdrucksgehalt, einem spezifischen Charakter der Schönheit zusammengehen. Wo ein Gegenstand vollkommen schön ist, wird er durch seine Gestalthaftigkeit und ihre Ausdrucksbestimmtheit f ü r unsere Gegenwart aufgebaut. Gibt er uns zugleich die Gewißheit des Wahren im Schönen, so heißt das, daß diese Gegenwart des Gegenstandes als Gestalt f ü r uns mit der Gegenwart des Ich in uns zusammenfällt. Wenn wir uns die Bedingungen dieser Koinzidenz deutlich machen, so erkennen wir auch schon den spezifischen Schönheitscharakter, der mit ästhetischer Wahrheit zusammengeht. Daß das Ich in uns im Gegenstande und seiner Schönheit gegenwärtig wird, bedeutet eine Ausschließung anderer Wirkungen auf unsere Gegenwart. Die Verwandlung unserer Gegenwart angesichts schöner Gegenstände und Eindrücke kann sich in uns in allerhand Formen besonderer Zuständlichkeit ausprägen. Wir fühlen uns wohlig und erheitert, wir fühlen uns ermuntert, ja berauscht, wir fühlen uns erschüttert, gerührt, mitleids77

voll. Solche Erlebnisse verbinden sich mit dem Erlebnis der Schönheit, aber der ästhetischen Wahrheit bringen sie uns nicht näher. Wir sind viel zu sehr dessen bewußt, was uns der Gegenstand jetzt bedeutet, als daß wir die Gewißheit haben könnten, daß er etwas für unser geistiges Sein bedeutet. Die Schönheit, die mit ästhetischer Wahrheit zusammengeht, enthält ein Element, das man wohl manchmal Sachlichkeit nennt, für das sich aber ein treffenderer Ausdruck finden läßt. Im Gestaltganzen, das unsere Gegenwart ausfüllt, spricht der gestaltete Gegenstand ganz für sich selbst. Wir sind ihm hingegeben, ohne an uns zu denken. Dies ist nun das Phänomen, das für die ästhetische Wahrheit entscheidet: daß wir nichts anderes für den ästhetischen Eindruck in Anspruch nehmen können, als daß die Erscheinung in ihrer Linienführung, Rhythmik, Farbe, ihren Ausdrucksgehalt offenbart. Eben damit wird das Ich in uns selbst Inhalt des vor uns Gegenwärtigen. Wir fühlen das an der besonderen Sprache unserer Ergriffenheit. Der Gegenstand erschüttert uns durch nichts als sein Dasein in Erscheinung. Und diese Erschütterung bedeutet f ü r uns, daß er uns erhebt. Wir fühlen uns in eine höhere Welt versetzt. Das ist die Welt unseres geistigen Seins, die Welt des Ich in uns. So dürfen wir den Ausdruckscharakter, der mit der Gegebenheit ästhetischer Wahrheit zusammengeht, mit dem einen Worte „Reinheit" bezeichnen. Was in der Gestalt lebendig ist, ist rein, es ist die Sprache der Erscheinung als Erscheinung. Aber diese "Reinheit der Gestaltsprache vermittelt zugleich die Gegebenheit unseres Ichseins in seiner Reinheit. Reinheit kann mit den gegensätzlichsten Ausdruckscharakteren verbunden sein, mit Adligkeit, Schlichtheit, Trauer, Heiterkeit, mit Schwere und Leichtigkeit. Sie selbst aber hat keinen ästhetischen Gegenpart. Daß der Gegenstand nicht Reinheit atmet ist nur eine negative Feststellung. Mannigfaltig und gegensätzlich sind auch die Ursprünge des Reinen im Schönen. Erscheinungen, die diesen Charakter haben und darum an unser Innerstes rühren, haben ihren Ursprung häufig ganz im Bereich des Unbewußten und Spontanen. Ebenso häufig aber sind sie das Ergebnis eines höchst disziplinierten Schaffens. Einem spielenden Kind zuzuschauen, kann soviel bedeuten wie ein vollwertiges ästhetisches Erlebnis gerade auch in dem Sinne, daß uns dieses Erlebnis ästhetische Wahrheit vermittelt. Wenn wir von der „Unschuld" dieser Erscheinung sprechen, so stellen wir keine moralische Betrachtung an. Die natürliche Anmut des Kindes macht uns gegenwärtig, was Reinheit in geistigem Sinne ist. Aber in der Kunst ist vollkommene Reinheit vor allem den Werken eigen, deren Gestaltaufbau in strengster und bewußter Konzentration herausgearbeitet ist. Wir können des Reinen im Bereich des Schönen nur ganz innewerden, wenn wir einen weiten Überblick über diese Gegensätzlichkeiten gewinnen. Wir können das nicht anders tun als so, daß wir uns sowohl ästhetische Naturerlebnisse wie die Bereiche der Kunst vor Augen führen. 78

KAPITEL

VIII

Ästhetische Wahrheit im Erlebnis der Natur 1. Ästhetische Erfahrung als Erfahrung von der Natur Die elementaren Betrachtungen unserer Untersuchung haben in zwiefachem Sinne die grundlegende Bedeutung der Natur für den Aufbau unserer ästhetischen Erfahrung erkennen lassen. Himmel und Wolken, Meer und Felsgestein, Blumen und Bäume, Feld und Wald — alle diese Erscheinungen sind nichts als die Welt des Körperlichen selbst. Diese ganze Welt spricht als Gestalt und Schönheit zu uns, aber nirgends ist dieses Sprechen das eines persönlichen Ich. Die Natur ist dem Ich, das sie ästhetisch aufnimmt, ganz fremd und ungleichartig. Sie besteht, das wissen wir, unbekümmert um unser Ich und würde nicht im geringsten anders aussehen, wenn sie uns keine ästhetische Gegenwart bereitete. Dennoch ist ästhetisches Erleben an keiner Stelle denkbar ohne jenes Sprechen der Körperwelt in ihrer Erscheinung. Alles ästhetische Schaffen und Verstehen von Geschaffenem ist nur möglich, weil wir Schönheit durch Dinge empfangen, die wir nicht auf ein Schaffen für unser Verstehen zurückführen können. Diese Dinge, die anschaulichen Gebilde der Natur, geben sich uns als Elemente eines Zusammenhanges, den wir gleichfalls nicht als ein Ganzes rational verstehen können. Körper ist mit Körper, Erscheinung mit Erscheinung durch den Zusammenhang der einen Natur, der in ihnen lebt, verbunden. Unser ästhetisches Erleben empfängt die Erscheinungen in dieser Synthese. Die ästhetische Gegenwart empfängt durch das Bewußtsein, der Natur in ihrem Gestaltreichtum gegenüberzustehen, eine besondere Bedeutung. Das Sprechen der Dinge verknüpft sie untereinander zum Ganzen der Landschaft und zum Aspekt der Natur. Dieser Zusammenhang wird nicht von uns erschlossen oder allmählich im Ablauf der Betrachtung aufgebaut. Wo immer er erfahren wird, liegt er in den einzelnen körperlichen Gebilden mit eingeschlossen, sobald wir von ihrer Erscheinung ergriffen werden. Ästhetisches Erleben kann schon Erlebnis der Natur sein, wenn eine einzelne Blume unser Auge fesselt. Uns wird bewußt, das ist ein Gewachsenes, das sich entfaltet. Der Körper, der in seiner bloßen Körperlichkeit den Ausdruck einer Gestalt hat, ist schon Natur, die als Gestalt spricht. Noch unmittelbarer ist freilich diese Sinngebung in die Erscheinung eingeschlossen, wenn das Gegenwärtige, bei dem unser Blick verweilt, eins ist mit dem Ganzen einer Landschaft, der wir gegenübertreten und die den Horizont ausfüllt. Dann werden Natur und Gegenwart ein und dasselbe. 79

2. Natur als Symbol des Seins Von dieser Gegebenheit ist nur ein Schritt zu einem Erlebnis, das ebenso spontan ist und uns doch in eine andere Sphäre der Wirklichkeit erhebt. Die Gegenwart der Natur wird gleichbedeutend mit der Gegenwart eines Geistigen, das sich unmittelbar an das Ich in uns wendet. Wir haben Natur vor uns, rein Körperliches, in das wir keinerlei Ich hineinlegen können. Aber diese stumme, körperliche Erscheinung, die den Raum erfüllt und die Gegenwart aufbaut, ist uns soviel wie das Sein, in dem unser Ich seinen eigentlichen Ort hat. Wir erfahren angesichts der Gegenwart der Natur aufs unmittelbarste das Ich in uns als Gehalt der Gegenwart. Aber wir erfahren es nicht nur als in uns persönlich eingeschlossen. Wir erfahren es als zugehörig zu einem Sein, das den Raum durchwaltet. Wir erfahren damit dieses Sein selbst als etwas letztlich Unkörperliches, rein Geistiges. Natur in ihrer Erscheinung ist Symbol dieses Seins. Sie ist beherrscht von jener Symbolik, kraft deren die Entfaltung der Erscheinung als Gestalt in die Aussprache eines Sinnes übergeht. Natur spricht zum Ich in uns. In dieser Hinwendung bringt sie das Sein zur Aussprache, das als alle Wirklichkeit durchwaltendes Sein unser Ichsein umschließt. Jedes ästhetische Naturerlebnis kann diesen Sinn annehmen. Er stellt sich spontan ein zugleich mit dem Bewußtsein, der Natur in ihrer Schönheit gegenüberzustehen. Die Gegenwart, die uns von Natur als Gestalt bereitet wird, wird unmittelbar zur Gegenwart eines Geistigen, das überall anwesend ist, wo Natur anwesend ist. Dieser Zusammenklang unterliegt einer weiten Mannigfaltigkeit subjektiver Empfänglichkeit. Sie umfaßt so viele Varietäten, ja Gegensätze, wie die Empfänglichkeit für das Naturschöne überhaupt. Die Natur umschließt einen Reichtum von Landschaftstypen, die voneinander aufs tiefste verschieden sind: das Waldinnere und das Meer, der klare Himmel des Südens und der dunstige des Nordens, Gletscherlandschaft und Wiesen. Selten sind für ein Ich Landschaften aller Typen gleichmäßig schön, und ebenso selten wird für einen Menschen jede Landschaft als Aussprache des Geistigen, das sich an das Ich in ihm wendet, gleichwertig sein. Aber in dieser subjektiven Mannigfaltigkeit der ästhetischen Naturerfahrung kehrt mit innerer Notwendigkeit die Gegenwart des Seins in gleichartiger Struktur wieder. Über diese Notwendigkeit und über die immer wiederkehrende Struktur des Erlebten haben wir noch Rechenschaft zu geben. Die schöne Erscheinung der Natur gibt sich uns spontan als Gegenwart des Seins zu verstehen. Wie ist die Unwillkürlichkeit dieser Manifestation zu verstehen? Die Erlebnisse „dieses Schöne fesselt uns", und „das Sein spricht zu uns als etwas rein Geistiges" haben losgelöst von dem spezifischen Erlebnis, von dem wir hier reden, nichts Gemeinsames. Was sie zusammenschließt ist die Gewißheit, „die Natur ist anwesend". Die Natur 80

entfaltet sich in Schönheit, und die Natur, in Schönheit entfaltet, ist Gegenwart des Seins. Das Gegenwärtigsein der Natur haben wir schon in unseren ersten Untersuchungen als eine ursprüngliche Sinngegebenheit kennengelernt; sie ist eingeschlossen in den Zusammenhang des Wirklichen, das uns zur Gegenwart wird. Diese Gegebenheit füllt das Wissen um unser Jetztsein aus und entfaltet zugleich eine ihr besonders zugehörige Dimension der Gegenwart. Die Natur ist anwesend in einem Aspekt, den sie gerade hier darbietet. So, wie sie hier aussieht, zieht sie an uns vorüber. Wir können sie gar nicht anders ansehen, als selbst eine Gegenwart aus der unendlichen Fülle ihres eigenen Gegenwarthabens entfaltend. Sie zeigt uns eines ihrer „Gesichter". Daß sie uns in dieser Struktur gegenwärtig wird, fällt faktisch immer damit zusammen, daß uns ein Ausschnitt der Natur, die die Erde erfüllt, in einer besonderen Zuständlichkeit gegenübertritt. Dieser Ausschnitt läßt sich in seiner Besonderheit geographisch, topographisch, biologisch, klimatisch bestimmen. Aber auf alle diese empirischen Bedingungen kommt es hier nicht an. Die Bedingtheit, die uns jeweils eine besondere Landschaft in einer besonderen Zuständlichkeit der Jahres- und Tageszeit vor Augen führt, geht unter in der Gegenwart der Natur selbst in der Landschaft, und diese Gegenwart ist ganz eingeschlossen in der Gegenwart, die uns bereitet wird. Die Dinge, die den Horizont erfüllen, repräsentieren die Natur, die an uns vorüberzieht. Sie bilden ein Ganzes als Angeschautes, und in diesem Ganzen spricht die Natur. Sie spricht adäquat im jeweiligen Ganzen der Landschaft. Einem Gegenwartwissen, das uns sie selbst und uns selbst zugleich als anwesend gegenwärtig macht, ist sie nur zugänglich in dieser einen Form einer individuellen Landschaft in ihrem Horizont. Die Landschaft ist immer individuell im eigentlichsten Sinne — diese Landschaft hier, jetzt so gegeben. Es gibt kein „System" der Landschaften, obwohl alle Dinge, die sich zu einer Landschaft vereinigen, Vertreter von Gattungen sind, die sich systematisch ordnen lassen. Aber zugleich repräsentiert jede individuelle Landschaft die Natur. Was wissen wir nun aber in jedem solchen individuellen Erlebnis von der Natur selbst? Wir wissen nur eins: sie ist gegenwärtig. Sie bekundet ihr Dasein in solcher individueller Gestaltung des Horizontes. Und umgekehrt: Diese gegenwärtige Landschaft im Horizont bekundet, daß die Natur besteht. Sie spricht nicht von diesen oder jenen Eigenschaften der Natur, sondern vom Sein der Natur. Durch den Horizont in seiner individuellen Gestaltung blichen wir unmittelbar auf die eine, stets gegenwärtige Natur. Diese aber hat keine andere Bestimmtheit als ihr Dasein. Als Seiendes allein wiederholt sie sich in jeder Gegenwart. Das ist nichts als die Aussage eines Sinnes. Es ist etwas rein Geistiges. In dieser Bedeutung dürfen wir von der Anwesenheit des Seins selbst sprechen. Daß Natur sich als Seiendes gegenwärtig macht, und daß unsere Gegenwart von der Gegenwart des Seins erfüllt ist, ist ein und dasselbe. 6 Vom Sdiönen

81

3. Raum

In der ästhetischen Gegenwart tritt alles Erscheinende in die Synthese des ästhetischen Gestaltaufbaus. Diese Synthese ist etwas ebenso Spontanes und Unmittelbares wie das Bewußtsein der Anwesenheit des Naturganzen oder des Seins. Das Sein hat seine besondere Repräsentation im Aufbau der Natur als Gestalt. Hiermit verbindet sich ein besonderer Sinngehalt der Gestalt. Wir hatten ihn nicht hervorzuheben, als wir von den Strukturelementen der ästhetischen Gestalt sprachen, von Linie, Rhythmus, Farbigkeit, und von der Eigentümlichkeit jedes ästhetischen Gegenstandes, mit einem bestimmten Ausdruck der Schönheit für uns „lebendig" zu sein. Denn diese Bestimmungen sind nichts anderes als Elemente des Faktums der ästhetischen Gestalt als solcher. Jede ästhetische Gestalt ist bewegte Linie, rhythmisch gegliedert, farbig abgewandelt und in alledem einen Charakter ausdrückend. Wenn aber ein Gestaltgebilde in allen diesen Funktionen zugleich die Anwesenheit der Natur ausspricht, so ergibt das ein Ordnungsprinzip, das die Gestaltzüge untereinander in ein Verhältnis bringt, ohne selbst Gestalt zu sein. Dieses Prinzip ist nichts anderes als die Anwesenheit des Raumes in aller Gestalt. Raum wird erlebt als die Einheit, die die Erscheinungen in ihrer Gegenwart sichtbar zusammenhält und dabei doch selbst unsichtbar bleibt. Das Wasser schimmert vor uns, aber in seinem Schimmern ist Tiefe. Erscheinungen einer Landschaft führen von der Nähe in die Ferne. Der Himmel bedeutet Weite. Was immer im Horizont erscheint ist einander zugeordnet, gleichsam in Graden der Unnahbarkeit. Die Erscheinungen der Natur haben alle Charaktere der Gestalt. Sie aufnehmen heißt, daß wir Linien nachgehen, daß wir Dinge in Rhythmen auffassen, daß wir uns einem Wechsel der Farbe hingeben, daß wir von Ausdruck angerührt werden. Aber alle diese Gehalte der Erscheinung geben sich gleichsam als Fragmente eines Ganzen, das ungreifbar bleibt, so sinnkräftig es sich auch in den Gestalten darbietet. Die Erscheinungen führen zu ihm hin wie zu einem unsichtbaren Punkt. Die Erscheinungen kommen im vollen Sinne des Wortes aus dem Unendlichen. Sie opfern damit nichts von dem, was sie individuell anziehend und bedeutungsvoll macht. Im Gegenteil — ihre Schönheit wird dadurch, das sie aus dem Räume kommen und seine Weite und Tiefe bedeuten, vollendet sinnhaft. Die Schönheit der Natur leistet mehr, als daß sie unser Auge befriedigt und unser Fühlen erwärmt. Sie macht den Raum in seiner Unendlichkeit gegenwärtig. Ihr Adel ist der Zauber des Raumes, ihr Beharren das Schweigen des Raumes, ihre Gewalt die Größe des Raumes. Im Erlebnis der Natur ist der Raum so gegeben wie unser Ich uns gegeben ist: als sich erschließend, als sprechend und angesprochen. Die Geschichte der darstellenden Kunst und der Architektur kennt die größte Mannigfaltigkeit ästhetischer Gestaltung des Raumes. Von dieser Mannigfaltigkeit wird an anderer Stelle zu reden sein. Sie ist aufgebaut 82

auf der grundlegenden Gegebenheit des Raumes selbst als eines Sinngehaltes ästhetischer Gegenwart der Natur. 4. Das ästhetische Naturerlebnis

als Erlebnis ästhetischer

Wahrheit

Ein und dasselbe Erlebnis bietet sich uns in vier verschiedenen Sinngehalten dar, die alle aufeinander verweisen, obwohl jeweils einer oder der andere uns dominierend zum Bewußtsein kommen mag. Das uns gegenüberstehende ist schöne Natur, als eine Landschaft zusammengeschlossen. Der Anblick dieser Landschaft bedeutet uns eine Erweckung des Ich in uns. Wir fühlen uns nidit nur im gegenwärtigen Augenblick unseres Lebens angesprochen, sondern in unserem innersten Sein, das sonst hinter dem Ablauf unseres alltäglichen Lebens verborgen liegt. Was da aus der Erscheinung zu uns spricht, ist aber selbst ein geistiges Prinzip, und die Erscheinung ist ganz und gar Entfaltung dieses Prinzips. Die Landschaft ist Symbol des Seins. Und schließlich fällt diese symbolische Beziehung mit der einfachen Tatsache zusammen, daß Landschaft ausgebreitet ist. Ihr Anblick führt uns in die Weite der Welt hinein. In der Landschaft ist Raum gegenwärtig. Gegenwart der Landschaft, Gegenwart des Seins, Gegenwart des Raumes, das ist alles ein und dasselbe. Und von Sein und Raum als Gegenwärtigem wissen wir k r a f t dessen, daß uns zugleich das Ich in uns gegenwärtig ist. Wir erfahren, daß unser geistiges Sein durch die Erscheinung der Natur hindurch zum Sein aufblickt, das sich in Raum ausbreitet, und daß das Sein durch den Raum zu ihm spricht. Schönheit der Natur, in dieser Sinnbestimmtheit empfangen, ist von Haus aus soviel wie eine Wahrheit empfangen. Die Dinge bieten sich uns so dar, daß wir ihrer Zugehörigkeit zu uns, unserer Zugehörigkeit zu ihnen gewiß sind. Diese Wechselbeziehung ist weder die von Körper zu Körper, denn wir erfahren hier nichts von unserem Körper, noch ist sie eine Beziehung von Seele zu Seele, denn wir erfahren nichts von einer Seele der Dinge. Es ist eine Wechselbeziehung von Sinn auf Sinn, die Beziehung des Ich in uns als des Prinzips unseres persönlichen Seins auf das Sein, das in der Natur gegenwärtig ist und als Raum zu uns spricht. Wir haben in alledem die ursprünglichste Form ästhetischer Wahrheit, die ursprünglichste Form insofern, als zu ihrer Verwirklichung nichts anderes gehört, als die Ansichtigkeit der Natur, ihr Gegenwärtigsein in einer Landschaft. Das Naturerlebnis, in dem sich das Sein gegenwärtig macht, hat in hervorragendstem Maße den Charakter der Reinheit, der stets das Kriterium der Gegenwart ästhetischer Wahrheit ist. Natur spricht n u r als Gestalt, die sich in Körpern entfaltet. Ihre Körper bilden zwanglos und absiditslos Gestalt. Wir wissen um die Mannigfaltigkeit der Bereiche des Körperlichen, in die sich die Natur gliedert, um das Vegetative und das Unlebendige, um das Flüssige und um das Feste, um Himmel und 6
twerk ist ästhetische Anziehung durchaus nicht immer ein Erlebnis ästhetischer Wahrheit. Ein Kunstwerk kann schön sein, ohne daß wir das Ich in uns berührt finden. Geschulte Kenner können andererseits das differenzierteste Verständnis ästhetischer Werte in Kunstwerken bestätigen, ohne daß die Gegebenheit ästhetischer Wahrheit für sie irgendwie wesentlich ist. Aber wenn sich in der Kunst Schönheit ohne ästhetische Wahrheit verwirklichen kann, so verwirklicht sich doch diese niemals ohne Schönheit. Um das Verhältnis zwischen beiden zu erfassen, müssen wir elementare Prinzipien der ästhetischen Erfahrung in ihrer besonderen Anwendung auf die Kunst rekapitulieren. Das erste elementare Prinzip, auf das wir zurückzugreifen haben, ist die vielfältige Bedeutung des Tatbestandes ästhetischer Gegenwart. In aller ästhetischen Gegenwart wird unser Jetztsein im Anschauen einer Erscheinung erweckt und an dieses Anschauen gefesselt. Das bedeutet aber stets, daß sich das Angeschaute gegenständlich als Aussprache eines Jetzt zu erfassen gibt. Das Angeschaute tritt vor uns, es spricht sich aus, es wendet sich uns zu. Es beschäftigt uns nur in diesem Jetzt seiner Zuwendung zu uns. Aber diese Zuwendung ist ihm immanent, das Angeschaute trägt ein Jetztsein als g e g e n s t ä n d l i c h e Bestimmheit in sich. 86

Diese gegenständliche Bestimmheit hat im Kunstwerk eine spezifische Struktur. Sein Jetztsein ist die Gegenwart der Hand des Künstlers, die die Gestalt aufbaut. Wir erfassen seine Konzeption des Gegenstandes; wir finden sie ausgedrückt in dem Kunstwerk so, wie es ein für allemal durch ihn gestaltet ist. Wir wissen uns in die Gegenwart seines Erlebens und Schaffens versetzt. Diese seine Gegenwart begleitet und beherrscht die Gegenwart, die das Kunstwerk uns jetzt bereitet. Wenn wir sagen, daß in der Aufnahme des Kunstwerkes das Schaffen des Künstlers gegenwärtig wird, so meinen wir nicht den technischen Prozeß. Was technisch dazu gehörte — wie Bauglieder abgemessen wurden, welche Konfiguration einer Landschaft, einer Szene oder auch nur einer menschlichen Haltung ausgewählt wurde, welche Materialien, Farben, Folgen von Harmonien und Dissonanzen ausgewählt wurden, das alles kann für die Erläuterung des ästhetischen Erlebnisses wesentlich werden. Aber das Erlebnis selbst besteht darin, daß der Gegenstand als Gestalt spricht. Gestalt begegnet uns im Kunstwerk in verschiedenen Formen der Verbindung mit körperlicher Wirklichkeit. Daß das künstlerische Gebilde als Gestalt spricht, kann bedeuten, daß sein körperliches, sinnlich erfaßbares Material für uns nur als Gestalt zusammenhängt. Ein Ornament ist ganz und gar Gestalt. Die Klänge eines Musikstückes sind nur als Element von Gestalt miteinander verbunden. Würden wir sie nicht so aufnehmen, so würden wir sie vielleicht als eine Aufeinanderfolge von Signalen verstehen, aber nicht als Musik. Eine andere Möglichkeit ist, daß die Bestimmtheit, Gestalt aufzubauen, einem Gegenstande aufgeprägt ist, der uns zugleich in einer nicht gestaltlichen Zweckbestimmung gegeben ist. Ein Haus ist ein Wohnhaus oder ein Amtsgebäude, oder ein Tempel,, eine Kirche. Es ist aber außerdem als ein architektonisches Ganzes konzipiert. Und was vom Hause gilt, gilt von Einrichtungen in seinem Innern — von Zimmern, Möbeln, Fenstern, Geräten. Auch sie haben ihren Zweck und zugleich ihre Architektur. Dazu kommt das große Bereich der Kunst, die einen Darstellungsinhalt bewältigt. Dieses Bereich umfaßt sowohl alle Skulptur und Malerei wie auch die Dichtung in allen ihren Formen. Wir fassen die Wiedergabe von Menschen und Landschaften im Bilde dann als Kunstwerk auf, wenn das Wesentlichste für uns nicht darin liegt, wer und was hier abgebildet ist, sondern wenn die Elemente des Abgebildeten sich im Bilde zum Ganzen einer Gestalt verbinden. Dann sagen wir, daß das Ganze in einem nur für das ästhetische Erlebnis gültigen Sinne vor uns erscheint, oder „steht", oder „schwebt", oder zu uns „spricht". Das gleiche gilt von Dichtungen unbeschadet dessen, daß wir den Inhalt ihrer Aussage verstehen müssen. Es ist die Einheit der Gestalt, die die ästhetische Gegenwart in uns auslöst, und sie ist uns im Kunstwerk gegeben als die Konzeption, die das Schaffen des Künstlers beherrscht hat. Durch ihre Vermittlung wird die Gegenwart dieser Konzeption unsere Gegenwart. 87

Die Gegebenheit ästhetischer Gestalt haben wir auf vier Elementarstrukturen zurückgeführt. Wir nannten sie: Linie, Rhythmus, Farbigkeit und Lebendigkeit oder Ausdruck im spezifisch ästhetischen Sinn des Wortes. Wir fanden Schönheit gleichbedeutend mit der inneren Verbindung dieser Elemente. Daß wir der Persönlichkeit des Künstlers innewerden, daß wir in seine Gegenwart eindringen und seine Hand am Werke sehen, besagt, daß wir erleben, wie sich ihm der architektonische oder musikalische oder darstellende und erzählerische Vorwurf diesen Strukturformen der Gestalt unterworfen hat. 3. Die Verbindung ästhetischer und affektiver am, Kunstwerk

Eindringlichkeit

Der Gestalt schaffenden Hand des Künstlers unterwerfen sich Materialien, Klänge, technische Zwecke, dargestellte Inhalte. Aber damit allein ist die ästhetische Gegenwart weder für ihn hergestellt noch für uns, die Betrachtenden. Das Kunstwerk ist berufen, in die Gegenwart des Betrachters einzutreten und sie an sich zu fesseln. Das ist nur möglich, wenn es eine Beziehung unterhält zu Gehalten des Erlebens, die auch außerhalb ästhetischer Erfahrung unsere Gegenwart beherrschen können. Ästhetische Gegenwart ist, wie wir uns deutlich gemacht haben, durchaus nicht die einzige Form, in der unser Gegenwart-Haben, unser geistiges Wachsein angereizt wird, sich auf ein individuelles Gegenwärtiges zu konzentrieren. Der Ablauf unseres Erlebens führt immer zu einer solchen Konzentration, wenn unser affektives Erleben, unser Fühlen in ihm vorherrschend wird. Wir wissen uns erregt in Liebe, Bewunderung, Demut, Glück, Mitleid, Trauer. Diese Gefühle bilden den Rhythmus unseres Lebens. Sie sind die natürlichen Haltepunkte unserer Gegenwart. Was geschaffen ist, um an unser Gegenwartwissen zu appellieren, muß zugleich geschaffen sein, um diese Gefühle zum Sprechen zu bringen. Das Kunstwerk kann unsere Gegenwart nur an sich fesseln, wenn es unsere affektive Gegenwart erwecken kann. Seine besondere Leistung ist, daß es sich auch diese affektive Gegenwart, diese Erregung unserer Leidenschaften und Stimmungen unterwirft. Jede unter den Künsten hat ihre besondere Beziehung zum Reich unserer Affekte. Ein Musikwerk hängt immer als Gestalt in sich zusammen. Aber dieser Zusammenhang ist au