De Veritate - Über die Wahrheit. Band 1 Wahrheit und Person: Vom Wesen der Seinswahrheit, Erkenntniswahrheit und Urteilswahrheit 9783110330410, 9783110330052

Der erste Band des Über die Wahrheit bietet eine philosophische Untersuchung: (1) der intrinischen und extrinsischen Bed

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De Veritate - Über die Wahrheit. Band 1 Wahrheit und Person: Vom Wesen der Seinswahrheit, Erkenntniswahrheit und Urteilswahrheit
 9783110330410, 9783110330052

Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
PROLEGOMENA
1. Die philosophische Frage nach der Wahrheit als eine Grundfrage derPhilosophie
2. Die Objektivität des Wesens der Wahrheit und die Wissenschaftlichkeitphilosophischer Erkenntnis der Wahrheit trotz mangelnden Konsensesunter den Vertretern diversester Wahrheitstheorien
2.1. Methodologische Schwierigkeiten und einige Mängel bisherigerUntersuchungen über die Wahrheit
2.2. Komplexität und Unendlichkeit des Wahrheitsproblems
2.3. Wille zur Wahrheit oder Wille zur Unwahrheit?
3. Schlußbemerkungen über die Rolle der Wahrheit für menschlichesDenken, Handeln und Leben und über fünf Grundbedeutungen vonWahrheit und die Aufgabe dieses Buches
KAPITEL 1
DIE WAHRHEIT DES SEINS UND WESENS – „ONTOLOGISCHE WAHRHEIT“
I. SEINSWAHRHEIT „IN DEN DINGEN“
1. Seinswahrheit als „wahrhaftes Sein des Seienden“
1.1. Das Wahre als mit dem Seienden identisch
1.2. Seinswahrheit als ontologische Autonomie
1.3. Ontologische Wahrheit als Wirklichsein
1.4. Ontologische Wahrheit als Ursache und Fundament
1.5. Ontologische Wahrheit als „Eigentlichkeit“
2. Ein weiterer intrinsischer Sinn von „Ontologischer Wahrheit“
II. ONTOLOGISCHE WAHRHEIT IN RELATIONEN DES SEIENDEN ZU ETWASANDEREM
1. Ontologische Wahrheit als Sinn und Verstehbarkeit
1.1. Ontologische Wahrheit im allgemeinen als Intelligibilität des Seins
1.2. Die Seinswahrheit als „transzendentale Intelligibilität“ allen Seins
1.3. Ontologische Wahrheit als Intelligibilität nichtnotwendiger sinnvollerWesen
1.4. Ontologische Wahrheit als die „einleuchtende innere Wahrheit“
1.5. Die Grenzen der Einteilung der Seinswahrheit
1.6. Der Vorteil des Begriffs der ontologischen Wahrheit
1.7. Die Unerschöpflichkeit der ontologischen Wahrheit
2. Ontologische Wahrheit als Entsprechung zwischen Wesen und Erscheinungdes Seienden
3. Ontologische Wahrheit als Entsprechung (Adaequatio) zwischen Dingund einem transzendenten Maß
3.1. Wahrheit als ontologische Entsprechung zwischen einem Ding und einemtranszendenten Maß
3.2. Seinswahrheit als Entsprechung zwischen einem Seienden und seiner Idee
3.3. Wahrheit des Seins als Angleichung an die göttlichen Ideen
3.3.1. Die platonischen eide als göttliche Ideen
3.3.2. Augustinus und Thomas platonischer als Platon: individuelle Ideen
3.4. Wahrheit des Seins und des Lebens als Verähnlichung mit Gott:ontologische als sittliche Wahrheit
III. ONTOLOGISCHE WAHRHEIT „ÜBER DEN DINGEN“ ALS INNEREWAHRHEIT DER EIDE UND DER IDEEN SELBST UND ALS INNEREWAHRHEIT DES ABSOLUTEN GÖTTLICHEN SEINS
1. Seinswahrheit als innere Wahrheit der ewigen Ideen (Wesenheiten)selbst
2. Innere Wahrheit als höchste Form innerer Sinnhaftigkeit und Wesensnotwendigkeit
3. Innere Wahrheit als Richtmaß der „Annäherung“ der Dinge an die Idee
4. „Innere Wahrheit“ als höchste Intelligibilität
5. „Innere Wahrheit“ als wahre Unendlichkeit des Seins
IV. DIE BEDEUTUNG DER ONTOLOGISCHEN WAHRHEIT FÜR DIE ETHIK: DIEHÖCHSTE WAHRHEIT DES SEINS ALS SITTLICHE WAHRHEIT UND ALS“VERITAS VITAE”
1. Die intrinsische ontologische Wahrheit
2. Die Wahrheit des Seins im Sittlichen als höhere Intelligibilität undTransparenz des Seins
3. Die ontologische Wahrheit des sittlich Guten als axiologische – alsWertwahrheit
4. Die ontologische Wahrheit als „Entsprechung“ im sittlich Guten
5. Die höchste Erfüllung der ontologischen Wahrheit
KAPITEL 2
1. Einleitende Worte über Erkenntniswahrheit
2. Ontologische Wahrheit und Erkenntnis
2.1. Die transzendentale ontologische Wahrheit aller Seinsmodi
2.2. Die Rolle der ersten ontologischen Prinzipien
3. Exkurs über die verschiedenen Arten von ‘Adaequatio’
3.1. Adaequatio als Entsprechungen nicht-personaler und nicht wesenhaftpersonaler Art
3.2. Adaequatio als Entsprechung zwischen etwas nicht (wesenhaft) Personalemund der Person
3.3. Personale Adaequatio als Adaequari
3.4. Die Entsprechung geistiger, aber nicht selber personaler Gebilde mit derWirklichkeit als Gegenstand des nächsten Kapitels
4. Die Wahrheit der Erkenntnis als Adäquation sui generis
5. Was ist der Träger der Erkenntniswahrheit
5.1. Sinneswahrnehmung und Erkenntniswahrheit
5.2. Begriffsbildung, Definition, Erkenntnis und Urteilsakt als mögliche Trägerder Wahrheit
5.3. Wahrheit des Urteilsaktes oder des Urteilsinhalts?
6. Erkenntnisakte als Träger der Erkenntniswahrheit und die verschiedenenAbstufungen und Gegensätze der Erkenntniswahrheit
6.1. Erkenntniswahrheit als solche und die Wahrheit der Erkenntnisakte imengeren Sinn
6.2. Verschiedene Vollkommenheiten und Gesichtspunkte der Abstufung derErkenntniswahrheit
6.2.1. Nach dem Gegenstand der Erkenntnis
6.2.1.1. Stufen der Erkenntniswahrheit hinsichtlich der Autonomie
6.2.1.2. Wahrheit der Erkenntnis nach dem Grad der Verstehbarkeit ihres Gegenstands
6.2.1.3. Die Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit je nach dem Wert ihres Gegenstandes
6.2.2. Nach den inneren Eigenschaften der Erkenntnis und deren Relation zuihrem Gegenstand
6.2.2.1. Evidenz
6.2.2.2. Klarheit
6.2.2.3. Vollständigkeit
6.2.2.4. Die Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit nach der Tiefe der Erkenntnis
6.2.2.5. Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit gemäß der Unmittelbarkeit einerErkenntnis
6.3. Erkenntniswahrheit kraft der rezeptiven Transzendenz des Erkennens
6.4. Die Anerkennung der Erkenntniswahrheit verlangt eine Beseitigung einigerVerwechslungen und Äquivokationen von ‚Subjekt‘, ‚subjektiv‘ undanderer
6.5. Erkenntniswahrheit als erkennende Aktualisierung der Wahrheit des Urteils
6.6. Erkenntniswahrheit als Erfüllung der ontologischen Wahrheit und als Aletheia.
6.7. Unverzichtbarer Adäquationsbegriff und A-letheia im Kontext der Erkenntniswahrheit
7. Einige Resultate der Untersuchungen über Erkenntniswahrheit
7.1. Erkenntniswahrheit als Wahrheit in einem einzigartigen Sinn
7.2. Die Besonderheit der Erkenntniswahrheit im Licht der ‚rezeptivenTranszendenz‘ des Erkennens
7.3. Differenzierung der Erkenntniswahrheit je nach den Arten und Stufen desErkennens
8. Die absolute Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit
KAPITEL 3
1. Das Problem der Urteilswahrheit als Gegenstand einer rein philosophischenLogik
2. Von Wesen und Wahrheit des Urteils
2.1. Was ist Träger der Urteilswahrheit? Über den Unterschied zwischen Urteilsaktenund dem Urteil als objektiver logischer Entität
2.1.1. Individuelle Verschiedenheit der Urteilsakte gegenüber Allgemeinheit undEinheit der objektiven ‚Urteile‘
2.1.2. Verschiedenheit des immanenten Inhalts des Urteilsaktes vom objektivenlogischen Urteil
2.1.3. Das Urteil ist eine komplexe, aus Begriffen bestehende Bedeutungseinheit,die über ihre Bedeutung hinaus auch Funktionen erfüllt, der Aktdes Urteils nicht
2.1.4. Der Urteilsakt (Behauptungsakt) wird von innen her bewußt vollzogenund besitzt viele weitere Prädikate, die dem logischen Urteil notwendigfehlen
2.2. Vom Unterschied zwischen Wort und Begriff, Urteil und Satz
2.3. Vom Unterschied zwischen Begriffen und Sachen – Urteilen und Sachverhalten
3. Sachverhalt und Urteil
3.1. Zur Geschichte des Sachverhaltsbegriffs
3.2. Was also ist ein Sachverhalt? Innere Wesensmerkmale von Sachverhalten
3.2.1. Eine einfache oder nur eine disjunktive Kurzformel für die formalontologischeSeinsform des Sachverhalts?
3.2.2. Sachverhalte enthalten Gegenstände und Attribute, bestehen aber nichtaus diesen. Die „Transzendenz“ des Sachverhalts gegenüber dem Dingund dessen Prädikaten.
3.2.3. Sachverhalte bestehen weder aus Begriffen noch aus Worten
3.2.4. Sachverhalte behaupten nichts und können nicht wahr oder falsch sein.Daher unterscheiden sie sich wesenhaft von Urteilen und Sätzen
3.2.5. Der Unterschied zwischen Urteilen und Sachverhalten ergibt sich auchaus deren weiterem Merkmal, unabhängig von Urteilen bestehen undgleichgut Gegenstand anderer Gedanken- und Aktarten sein zu können
3.2.6. Sachverhalte zerfallen ebenso notwendig in positive und negative wiekategorische Urteile zwangsläufig positive oder negative Qualität haben
3.2.7. Alle Dinge, deren Attribute, sowie alle Sachverhalte begründen neueSachverhalte bzw. sind in Sachverhalte niedrigerer oder höherer Ordnungeingebunden: Nichts ist jenseits von Sachverhalten
3.2.8. Die notwendige Unendlichkeit der Anzahl von Sachverhalten
3.2.9. Die Daseinsform von Sachverhalten: Sachverhalte bestehen und existierennicht
3.2.10. Sachverhalte können zeitlich und zeitlos, notwendig und kontingent, realund fiktiv sein und an allen Seinsmodi in bestimmtem Maß teilhaben:eine Kritik an Meinongs und Reinachs These der Zeitlosigkeit allerSachverhalte (Objektive)
3.2.11. Alle Sachverhalte, die das ontische Fundament der Wahrheit vonUrteilen sind und diese in gewissem objektivem Sinn ‚wahr machen‘,bestehen ‚an sich‘ im weiteren Sinn und besitzen eine ontischeAutonomie gegenüber dem Urteil, unterscheiden sich deshalb von dennicht tatsächlich bestehenden und rein intentionalen Sachverhalten, dieGegenstand von irrigen Meinungen und falschen Urteilen sind
3.2.12. Sachverhalte sind keine Relationen
3.3. Trägerschaft anderer Prädikate durch Sachverhalte
3.3.1. Sachverhalte als Träger von Modalitäten
3.3.2. Sachverhalte als Träger anderer Eigenschaften
3.4. Äußere logische und ontische Wesensmerkmale und Relationen innerhalbder Sachverhalte
3.4.1. Relation des einander Einschließen
3.4.2. Grund-Folge
3.4.3. Sachverhalte stehen in der Relation kontradiktorischer Gegensätzezueinander
3.4.4. Sachverhalte unterliegen dem Prinzip des ausgeschlossenen Dritten inseinem ontischen Sinn
3.4.5. Sachverhalte als Gegenstand bestimmter und niemals anderer affektiverAntworten und als Träger bestimmter Werte und Unwerte
3.4.6. Äußere Relationen von Sachverhalten zur Sprache, logischen Gedankengebilden,Denkakten, Willensakten und affektiven Antworten
3.4.6.1. Sprachliche Ausdrucksweisen, die auf Sachverhalte hinweisen
3.4.6.2. Logische Gedankeninhalte, die sich notwendig oder häufig auf Sachverhaltebeziehen: Urteile, Fragen, u.a.
3.4.6.3. Beziehung zwischen Sachverhalt, Denkakten, Frageakten und intellektuellenAntworten
3.4.6.4. Die verschiedene Eigenart jener Sachverhalte, die Akten des Wollens,Handelns und Hoffens entsprechen
3.4.6.5. Sachverhalt und Fühlen
3.4.7. Alle dargelegten Argumente ersetzen nicht das direkte intellektuelleErschauen des unreduzierbaren Datums der Sachverhalte
4. Der Sachverhalt als Gegenstand des Urteils und dessen Wahrheit
5. Die sogenannte Modalität des Urteils und die durch verschiedeneUrteilsmodalitäten bedingten Abwandlungen des Wahrheitsanspruchsvon Urteilen und deren Auswirkungen auf die Logik der Schlüsse
5.1. Logische gegenüber ontischen Modalitäten: ihre Verschiedenheit und einigegrundlegende Beziehungen zwischen ihnen
5.2. Welche ontischen Modalitäten (verschiedene Seinsmodalitäten und Seinsweisen)müssen wir unterscheiden?
5.3. Logische Modalitäten: ihre Unabhängigkeit von ontischen Modalitäten trotzder ontologischen Fundierung der Logik
5.4. Epistemische Modalitäten und epistemische Begründungsmodalitäten
5.5. Einige Verwechslungen in der modernen Modallogik
5.6. Ethische Modalitäten
5.7. Zeitliche Modalitäten
5.8. Doxastische Modalitäten
5.9. Rein psychische Modalitäten und ihr Verhältnis zu logischen, epistemischenund ontischen Modalitäten
5.10. Die Gefahr der Verwechslung der verschiedenen Arten von Modalität undvielfache Wechselbeziehungen zwischen ihnen – Eine eingehendeKlärung dieser Unterschiede würde eine rein philosophische Fundierungeiner Revolution und Vertiefung der formalen und materialen modalenLogik ermöglichen
6. Wahrheitsanspruch und Wahrheit des Urteils entsprechend der ‚Quantität‘des Urteils
7. Modifikation des Wahrheitsanspruchs des Urteils entsprechend der Qualitätder Urteile
8. Die Modifikation des Wahrheitsanspruchs gemäß den ‚Relationen‘ desUrteils (kategorischen, hypothetischen, konjunkten und disjunktivenUrteilen)
9. Logische Relationen zwischen verschiedenen wahren Urteilen, derUnterschied zwischen Schluß und Beweis hinsichtlich ihres WahrheitsundBegründungsanspruchs
9.1. Die im Schluß enthaltenen Urteile und ihre Wahrheitsansprüche
9.2. Der Anspruch auf Gültigkeit (Folgerichtigkeit), der ein weiteres Urteileinschließt, das einen Anspruch auf Wahrheit erhebt
9.3. Der Anspruch auf einen Wahrheitszusammenhang zwischen Wahrheit derPrämissen und der Konklusion und seine Verschiedenheit vom Anspruchauf Gültigkeit
9.4. Der Anspruch auf einen Begründungszusammenhang
9.5. Der Unterschied zwischen gültigem Schluß, der Erfüllung seines WahrheitsundBegründungszusammenhangs und Beweis
KAPITEL 4
1. Abhängigkeit und zugleich Unabhängigkeit der Existenz der Urteilswahrheitvom personalen Geist – Ein Paradox?
2. Argumente für die vom Menschen unabhängige Existenz der Wahrheitund Antwort auf Einwände
2.1. Universale Einheit und Identität der Wahrheit
2.2. Zeitlosigkeit der Wahrheit
2.3. Ein an Reinach orientierter Einwand. Wahrheit, Sachverhalt und dieWirklichkeit der ‚bloß möglichen‘ Wahrheit
2.4. Die ‚logische Einheit‘ der Urteilswahrheit und die Unendlichkeit derWahrheitsimplikationen jedes wahren Urteils
2.5. Unhaltbarkeit einer bruchstückhaften Existenz der Wahrheit
2.6. Die Wahrheit als „das Ganze“ kann nicht vom menschlichen Denkenabhängen
2.7. Irrtum ohne Wahrheit unmöglich
2.8. Die Unvollkommenheit der menschlichen Fassung und Formulierungwahrer Urteile schließt aus, daß ‚die Wahrheit‘ nur durch den menschlichenGeist besteht
2.9. In welchen menschlichen Gedanken soll Wahrheit zu bestehen beginnen?Die Unmöglichkeit einer vernünftigen Antwort auf diese Frage erweist dieGegenthese als unhaltbar
2.10. ‚Sprachanalytische‘ Argumente bekräftigen die Erkenntnis, daß derBestand von Wahrheit nicht von menschlichen Urteilen abhängt
3. Direkte Einsicht in die Transzendenz ‚der Wahrheit selbst‘ gegenüberihrer ‚Verkörperung‘ in menschlichen Urteilen und ihrer weiterenWesenseigenschaften als Ziel aller ‚dialektischen Argumente‘
4. Antwort auf Einwände
4.1. Der erste Einwand: Alles, was wir von zeitlosen und von menschlichenGedanken unabhängigen Wahrheiten gesagt hätten, gelte auch vonzeitlosen Falschheiten – eine Art reductio ad absurdum oder wenigstensEinschränkung der positiven Bedeutung unserer Argumentation für daszeitlose Bestehen der Wahrheit
4.2. Widerlegung der Einwände gegen die ‚Wirklichkeit möglicher wahrerUrteile‘ aus der ‚Unwirklichkeit‘ bzw. dem ganz anderen ontologischenStatus und Bezug zur Wirklichkeit ‚möglicher falscher Urteile‘
4.3. Ein weiterer Einwand: Wenn die eben vorgetragene Position richtig wäre,so wären vom Menschen gefällte Urteile nicht mehr wahr und Wahrheitwürde sich durch ihre radikale Transzendenz und Jenseitigkeit völliggetrennt von menschlichen Urteilen in einem intelligiben Kosmos befinden,was den Menschengeist ganz von der Wahrheit abschneiden würde
5. Vom Wert der Wahrheit: ein weiteres axiologisches Argument für denunvergleichlichen ontischen Status der Urteilswahrheit gegenüberjenem der Falschheit
6. Der Einwand, unsere These der trotz ihrer idealen Existenz bestehendenEinbettung der Urteilswahrheit in die wirkliche Welt personaler Aktestelle einen Rückfall in einen überholten Platonismus, in den Psychologismusoder sogar eine unüberzeugende Mischung beider dar – Guterund schlechter Platonismus sowie sechs verschiedene Bedeutungen vonPsychologismus
7. Schluß-Ausblicke
KAPITEL 5
1. Ein Mensch als die Wahrheit ? – Ein grotesker und blasphemischerAnspruch
2. Kann überhaupt eine Person, selbst eine göttliche, die (Urteils)Wahrheitsein?
3. Michel Henry’s rein spekulative, gnostische und pantheistische Interpretationdes Satzes „Ich bin die Wahrheit“
3.1. Jeder bloße Mensch sei Sohn Gottes und dürfe daher von sich sagen, er seidie Wahrheit
3.2. Es gelte daher nicht von Gott allein, daß er die Wahrheit sei, sondern auchvon uns, allerdings nur weil wir letztlich mit Gott und dem einzigAbsoluten, mit dem Leben selber, identisch seien
3.3. Die Aussage eines Menschen, er sei die Wahrheit, ergäbe also für jedenMenschen Sinn
3.4. Die Aussage des Menschen Jesus „Ich bin die Wahrheit“ dürften wir nichtnur in einem religiösen Glauben annehmen, sondern es gäbe eine reinphilosophische Einsicht in sie
4. Gott allein kann von sich sagen „Ich bin die Wahrheit“ – Eine von jenerHenrys völlig verschiedene Interpretation
4.1. „Ich Bin die Wahrheit“ im Sinne der Erkenntniswahrheit
4.1.1. Vollständigkeit
4.1.2. Erkennen der Unendlichkeit, Unmittelbarkeit, restlose Tiefe, unfehlbareGewißheit und weitere Vollkommenheiten der Erkenntniswahrheit in ihrerreinen Form
4.1.3. Zusammenfallen von Sein und Erkennen: Ich bin die Wahrheit
4.2. „Ich Bin die Wahrheit“ im Sinne der ontologischen Wahrheit
4.3. „Ich bin die Wahrheit“ als Aussage über die Identität der logischenWahrheit mit Gott – die Wahrheit als Person und der „Veritas-Beweis“ fürGottes Existenz aus der logischen Wahrheit
4.4. Konklusion: Gott ist in jeder Hinsicht die Wahrheit selbst

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Josef Seifert De Veritate – Über die Wahrheit Vom Wesen der Seinswahrheit, Erkenntniswahrheit und Urteilswahrheit Band 1: Wahrheit und Person

Realistische Phänomenologie: Philosophische Studien der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein und an der Pontificia Universidad Católica de Chile en Santiago/

Realist Phenomenology: Philosophical Studies of the International Academy for Philosophy in the Principality of Liechtenstein and at the Pontificia Universidad Católica de Chile en Santiago Band IV.1/Volume IV.1 EDITORS Professor Juan-Miguel Palacios With Professor John F. Crosby and Professor Czesław Porębski ASSISTANT EDITORS Dr. Cheikh Mbacké Gueye Dr. Matyas Szálay EDITORIAL BOARD Professor Rocco Buttiglione, Rom, Italy Professor Martin Cajthaml, Olomouc, Czech Republic Professor Carlos Casanova, Santiago de Chile Professor Juan-José García Norro, Madrid, Spain Professor Balázs Mezei, Budapest, Hungary Professor Giovanni Reale, Milan, Italy Professor Rogelio Rovira, Madrid, Spain Professor Josef Seifert, Principality of Liechtenstein and Santiago de Chile Professor Tadeusz Styczeî, Lublin, Poland

Josef Seifert

De Veritate – Über die Wahrheit Vom Wesen der Seinswahrheit, Erkenntniswahrheit und Urteilswahrheit Band 1: Wahrheit und Person

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2009 ontos verlag P.O. Box 15 41, D-63133 Heusenstamm www.ontosverlag.com ISBN 978-3-86838-025-5 ISBN des zweibändigen Gesamtwerks: 978-3-86838-027-9 2009 No part of this book may be reproduced, stored in retrieval systems or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, microfilming, recording or otherwise without written permission from the Publisher, with the exception of any material supplied specifically for the purpose of being entered and executed on a computer system, for exclusive use of the purchaser of the work Printed on acid-free paper This hardcover binding meets the International Library standard Printed in Germany by buch bücher dd ag

S. D. Prinz Nikolaus von und zu Liechtenstein, Botschafter des Fürstentums Liechtenstein in Brüssel und Präsident des Stiftungsrats der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein und an der Pontificia Universidad Católica de Chile, herzlich gewidmet — in Freundschaft und Verbundenheit in dem Streben nach Wahrheit und ihrer Erkenntnis — mit dem Ausdruck tiefer Dankbarkeit für seine 25-jährige Freundschaft und treue Verbundenheit mit der IAP. Josef Seifert

INHALTSVERZEICHNIS

WAHRHEIT UND PERSON VOM WESEN DER SEINSWAHRHEIT, ERKENNTNISWAHRHEIT UND URTEILSWAHRHEIT

PROLEGOMENA DIE FRAGE NACH WESEN UND WERT DER WAHRHEIT ALS EINE PHILOSOPHISCHE GRUNDFRAGE ................................................................. 25 1. Die philosophische Frage nach der Wahrheit als eine Grundfrage der Philosophie……………………………………………………………..25 

2. Die Objektivität des Wesens der Wahrheit und die Wissenschaftlichkeit philosophischer Erkenntnis der Wahrheit trotz mangelnden Konsenses unter den Vertretern diversester Wahrheitstheorien……………………………………………………... 29 2.1. Methodologische Schwierigkeiten und einige Mängel bisheriger Untersuchungen über die Wahrheit ...................................................... 32 2.2. Komplexität und Unendlichkeit des Wahrheitsproblems ...................... 37 2.3. Wille zur Wahrheit oder Wille zur Unwahrheit? Über die ethischen Bedingungen philosophischer Erkenntnis und die tiefste Wurzel des Dissenses in der Philosophie, selbst nach Realisierung ihrer höchsten wissenschaftlichen Form: Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit, Haß der Wahrheit und Wille zur Unwahrheit ....................................... 39

3. Schlußbemerkungen über die Rolle der Wahrheit für menschliches Denken, Handeln und Leben und über fünf Grundbedeutungen von Wahrheit und die Aufgabe dieses Buches……………………………...49

8

Inhaltsverzeichnis KAPITEL 1 DIE WAHRHEIT DES SEINS UND WESENS – „ONTOLOGISCHE WAHRHEIT“

I. SEINSWAHRHEIT „IN DEN DINGEN“ (INTRINSISCHER SINN VON ONTOLOGISCHER WAHRHEIT)................................................................. 61 1. Seinswahrheit als „wahrhaftes Sein des Seienden“ – Vier rein ontologische Bedeutungen des Axioms “ens et verum convertuntur” und eine Lehre vom ‚verum‘ als transcendentale in se……………….. 61 1.1. Das Wahre als mit dem Seienden identisch (allgemeinster rein ontologischer Sinn von „ontologischer Wahrheit“). „Die Wahrheit ist (einfach) das, was ist“ – die Unzurückführbarkeit der Seinswahrheit auf die ersten ontologischen Prinzipien, die aber notwendige Korrelate der „rein ontologischen Wahrheit“ im allgemeinsten (transzendentalen) Sinn sind: Kritiken der Kritiken des Begriffs der ontologischen Wahrheit.............................................. 61 1.2. Seinswahrheit als ontologische Autonomie aller wirklich und ideal Seienden und aller (auch fiktiver) Sachen und Sachverhalte, die in irgendeinem Sinne dem Bewußtsein gegenüber autonom sind und sogar Nichtseiendes (Negationen, negative Sachverhalte) einschließen – eine erste allgemeinste und transzendentale Grundbedeutung von „ontologischer Wahrheit“ sowie ihre immense Abstufung und die verschiedenen Begriffe ontologischer Wahrheit unter diesem Gesichtspunkt ........................................................................................ 70 1.3. Ontologische Wahrheit als Wirklichsein: als actualitas rei und als „Ungetrenntheit des Daseins vom Seienden“ oder von „Sein und Wesen“ – Fünf Seinsmodi als allen Kategorien vorausliegende Verschiedenheiten der Seinsform und weiterer grundlegender Sinn der „rein ontologischen Wahrheit“ des Wirklichseins, sowie Grade dieser ontologischen Wahrheit je nach dem Rang des Realseins ............................................................................................... 75 1.4. Ontologische Wahrheit als Ursache und Fundament der Urteilswahrheit (dritte spezifische Grundbedeutung ontologischer Wahrheit): Das Seiende und die Sachverhalte sind wahr, weil sie das ontologische Fundament und Korrelat der Urteilswahrheit sind.... 86

Inhaltsverzeichnis

9

1.5. Ontologische Wahrheit als „Eigentlichkeit“ und als „Wesensentsprechung“ und Harmonie zwischen „einem Ding und seinem Logos“ – Ontologische Wahrheit im vierten spezifischen Sinn als Erfüllung der objektiven Wesensintention eines Dinges und vor allem des wahren Selbst ..................................... 94

2. Ein weiterer intrinsischer Sinn von „Ontologischer Wahrheit“: Das Gute als das Wahre – Ontologische Wahrheit als innere axiologische Eigenschaft und Rechtfertigung des Seins……………….96 

II. ONTOLOGISCHE WAHRHEIT IN RELATIONEN DES SEIENDEN ZU ETWAS ANDERE ............................................................................................ . 103 1. Ontologische Wahrheit als Sinn und Verstehbarkeit: innere, doch zugleich –als „Geistoffenheit“ – relationale Eigenschaft des Seins… 103 1.1. Ontologische Wahrheit im allgemeinen als Intelligibilität des Seins: Zu einer personalistischen und platonischen Dimension der Seinswahrheit ................................................................................104 1.2. Die Seinswahrheit als „transzendentale Intelligibilität“ allen Seins: Zur thomasischen Interpretation der „ontologischen Wahrheit“ als einer implizite „personalistischen Metaphysik“ ..........107 1.3. Ontologische Wahrheit als Intelligibilität nichtnotwendiger sinnvoller Wesen: Rationalität und Intelligibilität in den empirischen Wissenschaften ...............................................................115 1.4. Ontologische Wahrheit als die „einleuchtende innere Wahrheit“ des Wesensnotwendigen, Einsichtigen ...............................................117 1.5. Die Grenzen der Einteilung der Seinswahrheit der Erkennbarkeit und ihre Verbindung mit der ontologischen Wahrheit in den vorhergehenden Bedeutungen .............................................................120 1.6. Der Vorteil des Begriffs der ontologischen Wahrheit als Erkennbarkeit und Einsehbarkeit anstatt der Identifizierung von Wahrheit mit dem autonomen Sein und der Wirklichkeit selber .......121 1.7. Die Unerschöpflichkeit der ontologischen Wahrheit und die Endlichkeit des menschlichen Geistes ................................................122

10

Inhaltsverzeichnis

2. Ontologische Wahrheit als Entsprechung zwischen Wesen und Erscheinung des Seienden……………………………………………. 124 

3. Ontologische Wahrheit als Entsprechung (Adaequatio) zwischen Ding und einem transzendenten Maß………………………………....127 3.1. Wahrheit als ontologische Entsprechung zwischen einem Ding und einem transzendenten Maß...........................................................127 3.2. Seinswahrheit als Entsprechung zwischen einem Seienden und seiner Idee (seinem transzendenten Eidos) – das erste ‚transzendente Maß‘ ............................................................................128 3.3. Wahrheit des Seins als Angleichung an die göttlichen Ideen ..............134 3.3.1. Die platonischen eide als göttliche Ideen……………………………. 136 3.3.2. Augustinus und Thomas platonischer als Platon: individuelle Ideen...138

3.4. Wahrheit des Seins und des Lebens als Verähnlichung mit Gott: ontologische als sittliche Wahrheit ..................................................... 140

III. ONTOLOGISCHE WAHRHEIT „ÜBER DEN DINGEN“ ALS INNERE WAHRHEIT DER EIDE UND DER IDEEN SELBST UND ALS INNERE WAHRHEIT DES ABSOLUTEN GÖTTLICHEN SEINS ................................ 142 1. Seinswahrheit als innere Wahrheit der ewigen Ideen (Wesenheiten) selbst…………………………………………………. 142 

2. Innere Wahrheit als höchste Form innerer Sinnhaftigkeit und Wesensnotwendigkeit…………………………………………………147 

3. Innere Wahrheit als Richtmaß der „Annäherung“ der Dinge an die Idee – Ontologische Wahrheit der “causa exemplaris” als Quelle der Wahrheit des “exemplatum” als “adaequatio rei ad intellectum” (ad ideam)………………………………………………. 147 

4. „Innere Wahrheit“ als höchste Intelligibilität und als höchstes Kriterium der Erkenntnis und Beweis des „in sich selber Seins“ dessen, was jene höchste innere Wahrheit besitzt…………………… 148 

5. „Innere Wahrheit“ als wahre Unendlichkeit des Seins, der Intelligibilität und des Guten sowie der realen Existenz: „Ontologische Wahrheit“ im Sinne der reinen Vollkommenheiten in ihrer unendlichen Gestalt – als innere Wahrheit des Absoluten

Inhaltsverzeichnis

11

Göttlichen Seins selber, einer höchsten ontologischen Wahrheit, die allein Gott zukommt und die Er IST……………………………...149 

IV. DIE BEDEUTUNG DER ONTOLOGISCHEN WAHRHEIT FÜR DIE ETHIK: DIE HÖCHSTE WAHRHEIT DES SEINS ALS SITTLICHE WAHRHEIT UND ALS “VERITAS VITAE” ................................................................ 153 1. Die intrinsische ontologische Wahrheit, vor allem als Aktualität des Wirklichen verstanden, im Verhältnis zur Moral…………………153 

2. Die Wahrheit des Seins im Sittlichen als höhere Intelligibilität und Transparenz des Seins………………………………………….... 155 

3. Die ontologische Wahrheit des sittlich Guten als axiologische – als Wertwahrheit………………………………………………………156 

4. Die ontologische Wahrheit als „Entsprechung“ im sittlich Guten……157 

5. Die höchste Erfüllung der ontologischen Wahrheit jenseits aller „Entsprechung“ im absoluten sittlich Guten…………………………. 158  

KAPITEL 2 WAHRHEIT DES ERKENNENS 1. Einleitende Worte über Erkenntniswahrheit als eigenständiges und faszinierendes Ur-Phänomen, dessen Untersuchung und weitere phänomenologische Erhellung insbesondere angesichts seiner Fehlinterpretationen nötig sind………………………………………. 159 

2. Ontologische Wahrheit und Erkenntnis: das Prinzip der Intelligibilität des Seins als ontologische Grundlage der Erkenntniswahrheit…………………………………………………... 166 2.1. Die transzendentale ontologische Wahrheit aller Seinsmodi als Bedingung und Quelle der Erkenntniswahrheit und die Gründe für die partielle Unanwendbarkeit des Satzes von der Intelligibilität allen Seins auf manche rein intentionale und menschenerzeugte logische Gebilde ..................................................................................166 2.2. Die Rolle der ersten ontologischen Prinzipien für die Intelligibilität und Erkennbarkeit allen Seins.............................................................175

12

Inhaltsverzeichnis

3. Exkurs über die verschiedenen Arten von ‘Adaequatio’ (Angemessenheit) im Reich der ontologischen Wahrheit und der Erkenntniswahrheit……………………………………………………178 3.1. Adaequatio als Entsprechungen nicht-personaler und nicht wesenhaft personaler Art und personbezogene Momente in nicht-personalen Formen der Entsprechung .......................................184 3.2. Adaequatio als Entsprechung zwischen etwas nicht (wesenhaft) Personalem und der Person .................................................................190 3.3. Personale Adaequatio als Adaequari ...................................................191 3.4. Die Entsprechung geistiger, aber nicht selber personaler Gebilde mit der Wirklichkeit als Gegenstand des nächsten Kapitels ...............191

4. Die Wahrheit der Erkenntnis als Adäquation sui generis und als mehr denn Adäquation: „Erkenntniswahrheit als selbsttranszendierendes“ – ‚etwas in dem Begreifen, daß es ist oder nicht ist, und was und wie es ist, und weil es ist oder nicht ist, weil es das ist, was es ist, und nichts anderes, und weil es so ist, wie es ist und nicht anders‘……………............................................... 192 

5. Was ist der Träger der Erkenntniswahrheit – Sinneswahrnehmung, Wesenserfassung (simplex comprehensio), Sachverhaltserkenntnis, Begriffsbildung, Überzeugung oder Urteilsakt?................................... 201 5.1. Sinneswahrnehmung und Erkenntniswahrheit ....................................202 5.2. Begriffsbildung, Definition, Erkenntnis und Urteilsakt als mögliche Träger der Wahrheit ............................................................................208 5.3. Wahrheit des Urteilsaktes oder des Urteilsinhalts? .............................211

6. Erkenntnisakte als Träger der Erkenntniswahrheit und die verschiedenen Abstufungen und Gegensätze der Erkenntniswahrheit…………………………………………………...216 6.1. Erkenntniswahrheit als solche und die Wahrheit der Erkenntnisakte im engeren Sinn (evidente und unbezweifelbare Erkenntnis) als der eindeutigste, unendlich abgestufte, Träger der Erkenntniswahrheit .............................................................................216 6.2. Verschiedene Vollkommenheiten und Gesichtspunkte der Abstufung der Erkenntniswahrheit .....................................................221

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6.2.1. Nach dem Gegenstand der Erkenntnis………………………………. 221 6.2.1.1. Stufen der Erkenntniswahrheit hinsichtlich der Autonomie des erkannten Seins: Von der Erkenntnis von Erscheinungen zur Erkenntnis des Dings an sich – ein wesentlicher Gesichtspunkt für Erkenntniswahrheit und ihre Abstufung………………………………………………….. 221 6.2.1.2. Wahrheit der Erkenntnis nach dem Grad der Verstehbarkeit ihres Gegenstands………...……………….. 225 6.2.1.3. Die Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit je nach dem Wert ihres Gegenstandes……………………………... 226 6.2.2. Nach den inneren Eigenschaften der Erkenntnis und deren Relation zu ihrem Gegenstand………………………………………………….226 6.2.2.1. Evidenz……………………………………………………... 226 6.2.2.2. Klarheit…………………………………………………… 228 6.2.2.3. Vollständigkeit……………………………………………. 228 6.2.2.4. Die Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit nach der Tiefe der Erkenntnis……………………………………… 229 6.2.2.5. Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit gemäß der Unmittelbarkeit einer Erkenntnis………………………… 230

6.3. Erkenntniswahrheit kraft der rezeptiven Transzendenz des Erkennens und ihres Zugangs zu den Dingen an sich und ihre Gegensätze: Irrtum, prinzipielle Unerkennbarkeit (wie Kant sie vom Ding an sich behauptete), und tatsächliche partielle Verborgenheit vor dem menschlichen Geist .......................................231 6.4. Die Anerkennung der Erkenntniswahrheit verlangt eine Beseitigung einiger Verwechslungen und Äquivokationen von ‚Subjekt‘, ‚subjektiv‘ und anderer ...............................................236 6.5. Erkenntniswahrheit als erkennende Aktualisierung der Wahrheit des Urteils (der ‚logischen Wahrheit‘) ................................239 6.6. Erkenntniswahrheit als Erfüllung der ontologischen Wahrheit und als A-letheia. Verborgenheit des Seins als dritter Gegensatz zur Erkenntniswahrheit .......................................................................239 6.7. Unverzichtbarer Adäquationsbegriff und A-letheia im Kontext der Erkenntniswahrheit .............................................................................243

7. Einige Resultate der Untersuchungen über Erkenntniswahrheit…….. 244 7.1. Erkenntniswahrheit als Wahrheit in einem einzigartigen Sinn ...........245

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Inhaltsverzeichnis 7.2. Die Besonderheit der Erkenntniswahrheit im Licht der ‚rezeptiven Transzendenz‘ des Erkennens .............................................................245 7.3. Differenzierung der Erkenntniswahrheit je nach den Arten und Stufen des Erkennens ...................................................................246

8. Die absolute Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit……………… 247 KAPITEL 3 DIE LOGISCHE WAHRHEIT ODER URTEILSWAHRHEIT – ZUM WESEN DER LOGIK, DER WAHRHEIT SOWIE DER ROLLE UND MODIFIKATION VON WAHRHEITSANSPRÜCHEN IN DEN VERSCHIEDENEN ARTEN VON URTEILEN, SCHLÜSSEN UND BEWEISEN 1. Das Problem der Urteilswahrheit als Gegenstand einer rein philosophischen Logik – Eine mathematisierend-symbolische Logik als außerphilosophische Disziplin, die bedeutende Fortschritte erzielt hat, aber unter zwei Bedingungen als philosophischer Rückschritt wissenschaftlicher Logik zu erachten ist……………………………................................................ 251 

2. Von Wesen und Wahrheit des Urteils………………………………...264 2.1. Was ist Träger der Urteilswahrheit? Über den Unterschied zwischen Urteilsakten und dem Urteil als objektiver logischer Entität ..................................................................................265 2.1.1. Individuelle Verschiedenheit der Urteilsakte gegenüber Allgemeinheit und Einheit der objektiven ‚Urteile‘…………………………………. 266 2.1.2. Verschiedenheit des immanenten Inhalts des Urteilsaktes vom objektiven logischen Urteil…………………………………………... 267 2.1.3. Das Urteil ist eine komplexe, aus Begriffen bestehende Bedeutungseinheit, die über ihre Bedeutung hinaus auch Funktionen erfüllt, der Akt des Urteils nicht………………………… 268 2.1.4. Der Urteilsakt (Behauptungsakt) wird von innen her bewußt vollzogen und besitzt viele weitere Prädikate, die dem logischen Urteil notwendig fehlen…………………………………. 270

2.2. Vom Unterschied zwischen Wort und Begriff, Urteil und Satz ....…..272 2.3. Vom Unterschied zwischen Begriffen und Sachen – Urteilen und Sachverhalten ......................................................................................274

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3. Sachverhalt und Urteil……………………………………………….. 276 3.1. Zur Geschichte des Sachverhaltsbegriffs.............................................276 3.2. Was also ist ein Sachverhalt? Innere Wesensmerkmale von Sachverhalten ......................................................................................281 3.2.1. Eine einfache oder nur eine disjunktive Kurzformel für die formalontologische Seinsform des Sachverhalts?........................................... 281 3.2.2. Sachverhalte enthalten Gegenstände und Attribute, bestehen aber nicht aus diesen. Die „Transzendenz“ des Sachverhalts gegenüber dem Ding und dessen Prädikaten………………………... 283 3.2.3. Sachverhalte bestehen weder aus Begriffen noch aus Worten………. 284 3.2.4. Sachverhalte behaupten nichts und können nicht wahr oder falsch sein. Daher unterscheiden sie sich wesenhaft von Urteilen und Sätzen….........................................................................................285 3.2.5. Der Unterschied zwischen Urteilen und Sachverhalten ergibt sich auch aus deren weiterem Merkmal, unabhängig von Urteilen bestehen und gleichgut Gegenstand anderer Gedanken- und Aktarten sein zu können……………………………………………... 285 3.2.6. Sachverhalte zerfallen ebenso notwendig in positive und negative wie kategorische Urteile zwangsläufig positive oder negative Qualität haben………………………………………………………. 286 3.2.7. Alle Dinge, deren Attribute, sowie alle Sachverhalte begründen neue Sachverhalte bzw. sind in Sachverhalte niedrigerer oder höherer Ordnung eingebunden: Nichts ist jenseits von Sachverhalten………………………………………………………… 286 3.2.8. Die notwendige Unendlichkeit der Anzahl von Sachverhalten………287 3.2.9. Die Daseinsform von Sachverhalten: Sachverhalte bestehen und existieren nicht……………………………………………………….. 289 3.2.10. Sachverhalte können zeitlich und zeitlos, notwendig und kontingent, real und fiktiv sein und an allen Seinsmodi in bestimmtem Maß teilhaben: eine Kritik an Meinongs und Reinachs These der Zeitlosigkeit aller Sachverhalte (Objektive)…...…........... 294 3.2.11. Alle Sachverhalte, die das ontische Fundament der Wahrheit von Urteilen sind und diese in gewissem objektivem Sinn ‚wahr machen‘, bestehen ‚an sich‘ im weiteren Sinn und besitzen eine ontische Autonomie gegenüber dem Urteil, unterscheiden sich deshalb von den nicht tatsächlich bestehenden und rein intentionalen Sachverhalten, die Gegenstand von irrigen Meinungen und falschen Urteilen sind……………………………... 296

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Inhaltsverzeichnis 3.2.12. Sachverhalte sind keine Relationen…………………………………296

3.3. Trägerschaft anderer Prädikate durch Sachverhalte ............................305 3.3.1. Sachverhalte als Träger von Modalitäten……………………………. 305 3.3.2. Sachverhalte als Träger anderer Eigenschaften………………………305

3.4. Äußere logische und ontische Wesensmerkmale und Relationen innerhalb der Sachverhalte ..................................................................306 3.4.1. Relation des einander Einschließen…………………………………..306 3.4.2. Grund-Folge…………………………………………………………. 307 3.4.3. Sachverhalte stehen in der Relation kontradiktorischer Gegensätze zueinander……………………………………………………………. 311 3.4.4. Sachverhalte unterliegen dem Prinzip des ausgeschlossenen Dritten in seinem ontischen Sinn…………………………………….. 311 3.4.5. Sachverhalte als Gegenstand bestimmter und niemals anderer affektiver Antworten und als Träger bestimmter Werte und Unwerte……………………………………………………………… 312 3.4.6. Äußere Relationen von Sachverhalten zur Sprache, logischen Gedankengebilden, Denkakten, Willensakten und affektiven Antworten……………………………………………………………. 313 3.4.6.1. Sprachliche Ausdrucksweisen, die auf Sachverhalte hinweisen…………………………………………………. 313 3.4.6.2. Logische Gedankeninhalte, die sich notwendig oder häufig auf Sachverhalte beziehen: Urteile, Fragen, u.a…... 314 3.4.6.3. Beziehung zwischen Sachverhalt, Denkakten, Frageakten und intellektuellen Antworten……………………………. 314 3.4.6.4. Die verschiedene Eigenart jener Sachverhalte, die Akten des Wollens, Handelns und Hoffens entsprechen……….. 320 3.4.6.5. Sachverhalt und Fühlen…………………………………... 320 3.4.7. Alle dargelegten Argumente ersetzen nicht das direkte intellektuelle Erschauen des unreduzierbaren Datums der Sachverhalte…………... 321 

4. Der Sachverhalt als Gegenstand des Urteils und dessen Wahrheit…...321 

5. Die sogenannte Modalität des Urteils und die durch verschiedene Urteilsmodalitäten bedingten Abwandlungen des Wahrheitsanspruchs von Urteilen und deren Auswirkungen auf die Logik der Schlüsse…………………………………………………… 328 5.1. Logische gegenüber ontischen Modalitäten: ihre Verschiedenheit und einige grundlegende Beziehungen zwischen ihnen .....................328

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5.2. Welche ontischen Modalitäten (verschiedene Seinsmodalitäten und Seinsweisen) müssen wir unterscheiden? ....................................340 5.3. Logische Modalitäten: ihre Unabhängigkeit von ontischen Modalitäten trotz der ontologischen Fundierung der Logik ...............344 5.4. Epistemische Modalitäten und epistemische Begründungsmodalitäten ....................................................................349 5.5. Einige Verwechslungen in der modernen Modallogik ........................355 5.6. Ethische Modalitäten ...........................................................................358 5.7. Zeitliche Modalitäten ...........................................................................358 5.8. Doxastische Modalitäten ......................................................................359 5.9. Rein psychische Modalitäten und ihr Verhältnis zu logischen, epistemischen und ontischen Modalitäten ..........................................359 5.10. Die Gefahr der Verwechslung der verschiedenen Arten von Modalität und vielfache Wechselbeziehungen zwischen ihnen – Eine eingehende Klärung dieser Unterschiede würde eine rein philosophische Fundierung einer Revolution und Vertiefung der formalen und materialen modalen Logik ermöglichen .....................360

6. Wahrheitsanspruch und Wahrheit des Urteils entsprechend der ‚Quantität‘ des Urteils………………………………………………... 364 

7. Modifikation des Wahrheitsanspruchs des Urteils entsprechend der Qualität der Urteile……………………………………………………368 

8. Die Modifikation des Wahrheitsanspruchs gemäß den ‚Relationen‘ des Urteils (kategorischen, hypothetischen, konjunkten und disjunktiven Urteilen)…………………………………………………369 

9. Logische Relationen zwischen verschiedenen wahren Urteilen, der Unterschied zwischen Schluß und Beweis hinsichtlich ihres Wahrheits- und Begründungsanspruchs…………………………….. 387 9.1. Die im Schluß enthaltenen Urteile und ihre Wahrheitsansprüche .......387 9.2. Der Anspruch auf Gültigkeit (Folgerichtigkeit), der ein weiteres Urteil einschließt, das einen Anspruch auf Wahrheit erhebt ..............388

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Inhaltsverzeichnis 9.3. Der Anspruch auf einen Wahrheitszusammenhang zwischen Wahrheit der Prämissen und der Konklusion und seine Verschiedenheit vom Anspruch auf Gültigkeit ..................................389 9.4. Der Anspruch auf einen Begründungszusammenhang ........................389 9.5. Der Unterschied zwischen gültigem Schluß, der Erfüllung seines Wahrheits- und Begründungszusammenhangs und Beweis ...............390

KAPITEL 4 DAS EWIGE UND VOLLKOMMENE SEIN DER URTEILSWAHRHEIT UND DIE PERSON EINE PLATONISCH-AUGUSTINISCHE UND PERSONALISTISCHE METAPHYSIK DES ONTOLOGISCHEN STATUS DER URTEILSWAHRHEIT 1. Abhängigkeit und zugleich Unabhängigkeit der Existenz der Urteilswahrheit vom personalen Geist – Ein Paradox?.........................393 

2. Argumente für die vom Menschen unabhängige Existenz der Wahrheit und Antwort auf Einwände………………………………... 401 2.1. Universale Einheit und Identität der Wahrheit ....................................402 2.2. Zeitlosigkeit der Wahrheit ...................................................................406 2.3. Ein an Reinach orientierter Einwand. Wahrheit, Sachverhalt und die Wirklichkeit der ‚bloß möglichen‘ Wahrheit .........................409 2.4. Die ‚logische Einheit‘ der Urteilswahrheit und die Unendlichkeit der Wahrheitsimplikationen jedes wahren Urteils ..............................415 2.5. Unhaltbarkeit einer bruchstückhaften Existenz der Wahrheit .............420 2.6. Die Wahrheit als „das Ganze“ kann nicht vom menschlichen Denken abhängen ................................................................................420 2.7. Irrtum ohne Wahrheit unmöglich ........................................................423 2.8. Die Unvollkommenheit der menschlichen Fassung und Formulierung wahrer Urteile schließt aus, daß ‚die Wahrheit‘ nur durch den menschlichen Geist besteht..........................................424

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2.9. In welchen menschlichen Gedanken soll Wahrheit zu bestehen beginnen? Die Unmöglichkeit einer vernünftigen Antwort auf diese Frage erweist die Gegenthese als unhaltbar ..............................427 2.10. ‚Sprachanalytische‘ Argumente bekräftigen die Erkenntnis, daß der Bestand von Wahrheit nicht von menschlichen Urteilen abhängt ................................................................................................431

3. Direkte Einsicht in die Transzendenz ‚der Wahrheit selbst‘ gegenüber ihrer ‚Verkörperung‘ in menschlichen Urteilen und ihrer weiteren Wesenseigenschaften als Ziel aller ‚dialektischen Argumente‘…………………………………………………………... 434 

4. Antwort auf Einwände………………………………………………. 440 4.1. Der erste Einwand: Alles, was wir von zeitlosen und von menschlichen Gedanken unabhängigen Wahrheiten gesagt hätten, gelte auch von zeitlosen Falschheiten – eine Art reductio ad absurdum oder wenigstens Einschränkung der positiven Bedeutung unserer Argumentation für das zeitlose Bestehen der Wahrheit ..............................................................................................440 4.2. Widerlegung der Einwände gegen die ‚Wirklichkeit möglicher wahrer Urteile‘ aus der ‚Unwirklichkeit‘ bzw. dem ganz anderen ontologischen Status und Bezug zur Wirklichkeit ‚möglicher falscher Urteile‘...................................................................................446 4.3. Ein weiterer Einwand: Wenn die eben vorgetragene Position richtig wäre, so wären vom Menschen gefällte Urteile nicht mehr wahr und Wahrheit würde sich durch ihre radikale Transzendenz und Jenseitigkeit völlig getrennt von menschlichen Urteilen in einem intelligiben Kosmos befinden, was den Menschengeist ganz von der Wahrheit abschneiden würde ........................................450

5. Vom Wert der Wahrheit: ein weiteres axiologisches Argument für den unvergleichlichen ontischen Status der Urteilswahrheit gegenüber jenem der Falschheit……………………………………… 452 

6. Der Einwand, unsere These der trotz ihrer idealen Existenz bestehenden Einbettung der Urteilswahrheit in die wirkliche Welt personaler Akte stelle einen Rückfall in einen überholten

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Platonismus, in den Psychologismus oder sogar eine unüberzeugende Mischung beider dar – Guter und schlechter Platonismus sowie sechs verschiedene Bedeutungen von Psychologismus………………………………………………………. 455 

7. Schluß-Ausblicke…………………………………………………….. 460

KAPITEL 5 „ICH BIN DIE WAHRHEIT“ – IST DIE WAHRHEIT EINE PERSON? 

1. Ein Mensch als die Wahrheit ? – Ein grotesker und blasphemischer Anspruch……………………………………………………………... 462 

2. Kann überhaupt eine Person, selbst eine göttliche, die (Urteils) Wahrheit sein?.......................................................................................467 

3. Michel Henry’s rein spekulative, gnostische und pantheistische Interpretation des Satzes „Ich bin die Wahrheit“…………………….. 469 3.1. Jeder bloße Mensch sei Sohn Gottes und dürfe daher von sich sagen, er sei die Wahrheit ...................................................................471 3.2. Es gelte daher nicht von Gott allein, daß er die Wahrheit sei, sondern auch von uns, allerdings nur weil wir letztlich mit Gott und dem einzig Absoluten, mit dem Leben selber, identisch seien ....474 3.3. Die Aussage eines Menschen, er sei die Wahrheit, ergäbe also für jeden Menschen Sinn.....................................................................475 3.4. Die Aussage des Menschen Jesus „Ich bin die Wahrheit“ dürften wir nicht nur in einem religiösen Glauben annehmen, sondern es gäbe eine rein philosophische Einsicht in sie .................................475

4. Gott allein kann von sich sagen „Ich bin die Wahrheit“ – Eine von jener Henrys völlig verschiedene Interpretation…………… 477 4.1. „Ich Bin die Wahrheit“ im Sinne der Erkenntniswahrheit ..................477 4.1.1. Vollständigkeit………………………………………………………. 478 4.1.2. Erkennen der Unendlichkeit, Unmittelbarkeit, restlose Tiefe, unfehlbare Gewißheit und weitere Vollkommenheiten der Erkenntniswahrheit in ihrer reinen Form…………………………….. 481

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4.1.3. Zusammenfallen von Sein und Erkennen: Ich bin die Wahrheit……. 483

4.2. „Ich Bin die Wahrheit“ im Sinne der ontologischen Wahrheit ...........486 4.3. „Ich bin die Wahrheit“ als Aussage über die Identität der logischen Wahrheit mit Gott – die Wahrheit als Person und der „Veritas-Beweis“ für Gottes Existenz aus der logischen Wahrheit....489 4.4. Konklusion: Gott ist in jeder Hinsicht die Wahrheit selbst .................492

“Quid enim fortius desiderat anima quam veritatem?” „Denn was ersehnt die Seele heftiger als die Wahrheit?“ Augustinus, In iohannis ev. Tr. CXXIV “Je désirais vaquer seulement à la recherche de la vérité” „Ich wollte allein der Erforschung der Wahrheit nachgehen“. René Descartes, Discours de la Méthode, IV.

PROLEGOMENA DIE FRAGE NACH WESEN UND WERT DER WAHRHEIT ALS EINE PHILOSOPHISCHE GRUNDFRAGE

1. Die philosophische Frage nach der Wahrheit als eine Grundfrage der Philosophie Wenn wir Augustins Wort, das wir als Motto dieses Buches gewählt haben, „Wonach sehnt sich die Seele mehr als nach der Wahrheit?“1 hören, wird uns sogleich klar, daß sich diese Sehnsucht nicht bloß auf die Wahrheit bestimmter Urteile über triviale Inhalte richten kann, sondern daß hier Wahrheit in einem gesamthaften und tiefen Sinne gemeint sein muß. Und in einem solchen umfassenden Sinne möchten wir die Frage danach, was Wahrheit ist, in diesem Buch stellen und soweit als möglich zu beantworten suchen. „Was ist Wahrheit?“ ist eine der grundlegendsten Fragen der Philosophie. Daß sie grundlegend ist, erkennt man daraus, daß ihre Bedeutung innerhalb eines philosophischen Ganzen so ausschlaggebend ist, daß sich die verschiedenen Philosophien in besonderem Maße an diesem Punkte unterscheiden, wie sie Wahrheit verstehen. Man könnte die ganze Geschichte der Philosophie und alle großen Systeme derselben danach klassifizieren, welches Wahrheitsverständnis ihnen zugrundeliegt. Über die Frage „Was ist Wahrheit?“ können wir scheinbar Gegensätzliches aussagen: sie ist zugleich eine erste und eine letzte, zugleich eine einfachste und eine schwierigste, eine elementarste und eine komplexeste, eine schlichteste und eine tiefste Frage. Daß die Frage nach Wahrheit eine der ersten Fragen ist, erhellt schon daraus, daß jeder Gedanke und jeder Satz sie bereits voraussetzt; zugleich ist sie eine letzte Frage, da sie, indem sie sich auf Urteile, Erkenntnis, Sprache, Kunst, auf Leben und Moral, auf das Sein als solches und auf das absolute Sein bezieht, ein so weites Feld umspannt, daß sie erst am Ende aller Philosophie ihre rechtmäßige Stelle zu haben scheint; sie ist auch 1

Augustinus, Io. Ev. Tr. 26:5.

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Prolegomena

noch in einem ganz anderen Sinne eine ‚letzte‘ Frage: ihr Gegenstand schließt die äußerste und höchste Sphäre des Seins, des Wesens sowie des Geistigen ein, jene letzte Ebene des Seins und des Geistes, über die hinaus man nicht mehr gehen und fragen kann. Die Frage nach der Wahrheit ist einfach, elementar und schlicht, weil ein jeder von uns tagtäglich die Ausdrücke ‚wahr‘ und ‚falsch‘ verwendet und dabei offenbar ein Vorverständnis der Bedeutung dieser Worte und der mit ihnen bezeichneten Gegenstände besitzt. In diesem Sinne weiß jedes Kind, was Wahrheit ist und es erfordert keinerlei besonderes Raffinement des Denkens oder Erfahrens, um zu verstehen, was wir mit Wahrheit meinen. Wie Augustinus von der Zeit sagt, wissen wir alle, was die Zeit ist, solange uns niemand danach fragt. Dasselbe gilt auch von der Wahrheit. Daher sind auch jene prätentiösen Wahrheitstheorien, die – wie jene Heideggers – implizieren, daß sie uns zuallererst erschließen, was Wahrheit ist und erweisen wollen, daß sie ganz etwas anderes sei als was die abendländische Geistesgeschichte unter ihr schon immer verstanden hat, von vornherein verdächtig. Wir müssen von der einfachen Gegebenheit ausgehen, die jedem Kind bekannt ist. Diese Urgegebenheit möchten wir zur philosophischen prise de conscience bringen und nicht irgendeinen sensationellen neuen Sinn des Wortes ‚Wahrheit‘ entdecken. Zugleich aber stimmen wir Augustinus zu, wenn er von der Zeit gleichfalls sagt, wir wüßten zwar alle, was sie ist, solange wir nicht nach ihr gefragt werden, wir wüßten aber nicht mehr, was sie ist, sobald wir nach ihr gefragt würden. Dieser Ausspruch über die Schwierigkeit der philosophischen Frage nach der Zeit gilt in analogem Sinne auch von der Wahrheit, obwohl diese nicht in demselben Sinne mysteriös ist wie die Zeit.2 Dennoch ist auch die Wahrheit, denkt man tiefer über sie nach, rätselhaft und die Frage nach ihr überaus komplex. Denn so leicht, ja unvermeidlich es ist, ein gewisses Vorverständnis dessen, was Wahrheit ist, zu gewinnen, so schwierig ist es, das, was Wahrheit ihrem Wesen nach und in der überwältigenden Fülle ihrer Aspekte ist, auf den Begriff zu 2

Vgl. dazu Augustinus, Confessiones, xi, 1 ff. J. Seifert, Essere e persona. Verso una fondazione fenomenologica di una metafisica classica e personalistica (Milano: Vita e Pensiero, 1989), Kap. 10.

Wesen und Wert der Wahrheit als eine philosophische Grundfrage

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bringen. Die philosophische Frage „Was ist Wahrheit?“ ist in der Tat überaus schwer zu beantworten, was man nicht zuletzt daraus erkennen kann, daß die verschiedensten Philosophien und Wahrheitstheorien noch nicht in der Lage waren, die zahlreichen und vielschichtigen Bedeutungen von ‚Wahrheit‘ klar in ihrer Verschiedenheit und gegenseitigen Verknüpfung darzustellen. Ja die bedeutendsten Philosophen haben oft obskure, unklare und der Kritik offenstehende Erklärungsversuche des elementarsten Wesens von Wahrheit gegeben, das sie doch in jedem Urteil und in jeder Erkenntnis voraussetzen. Mehr noch: Erst daß die Frage nach der Wahrheit so komplex und ihre Beantwortung so schwierig ist, scheint das Faktum erklären zu können, warum es unter Philosophen so radikale Meinungsverschiedenheiten über das Wesen der Wahrheit selbst gibt. Dies tritt deutlich hervor, auch wenn wir nur die Urteilswahrheit ins Auge fassen und die ontologische Wahrheit sowie die Erkenntniswahrheit außer Acht lassen. Manche sehen die Urteilswahrheit in der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, andere nur in dem, was dem Urteil eines mit Evidenz Urteilenden entspricht. Es fehlt auch nicht an Theorien, die Wahrheit bloß in innerer Kohärenz oder logischer Schlüssigkeit sehen. Wieder andere erblicken ihr Wesen gar nur in der Übereinstimmung einer Meinung mit dem Konsens der Majorität, in Nützlichkeit usf. Viele Philosophen und Studenten der Philosophie meinen angesichts der Meinungsverschiedenheiten von Philosophen in fast allen Fragen, inklusive dem, was Philosophie und Wahrheit seien, daß es keine wissenschaftliche bzw. wohl begründete, objektive philosophische Erkenntnis gebe und daß in unserem Falle feststehe, daß die Antwort auf die Frage, was Wahrheit ist, nur eine Ansichtssache, Ergebnis einer Definition oder Theorie sei. Wahrheit über Wahrheit könne man nicht erkennen. Schon in der Antike war ja der Mangel an Konsens als eine Quelle der pyrrhonischen Skepsis und Verzweiflung an aller Wahrheit erschienen. Edmund Husserl erklärt diese Tatsache eines mangelnden Konsenses über zentrale Fragen der Philosophie in seinem Aufsatz „Philosophie als strenge Wissenschaft“ nicht durch ein Nichtvorhandensein der Wahrheit, sondern dahingehend, daß die Philosophie noch nicht den ihr eigenen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erfülle und eine geeignete Methode und die systematische wissenschaftliche Anwendung derselben erreicht habe.

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Prolegomena

Ergänzend zu dieser Aussage, und entgegen einer solchen Erklärung des Dissenses über Wahrheit, wenn sie als hinreichend angesehen wird, versuchte ich, in einem Aufsatz3 zu zeigen, daß Philosophie zwar noch nicht vollkommen genug, aber doch eindeutig den Anspruch, Wissenschaft und sogar eine strenge Wissenschaft zu sein, erfüllen kann, ohne daß deshalb schon ein allgemeiner Konsens in der Philosophie erreicht sein müßte. Um die Situation der Philosophie, die objektive und wissenschaftliche Erkenntnis erreichen kann, ohne daß ihre Ergebnisse Gegenstand eines breiten oder gar universalen Konsenses unter Philosophen sein müßten, zu erklären, wäre es einerseits nötig, den Charakter wahrer Philosophie als strenger und auf evidenter Erkenntnis beruhender Wissenschaft nachzuweisen. (Das wurde von verschiedenen Philosophen unternommen und von verschiedenen Autoren anderswo versucht und kann hier nicht ausgeführt werden.4) 3

4

Vgl. Josef Seifert, „Phänomenologie und Philosophie als strenge Wissenschaft. Zur Grundlegung einer realistischen phänomenologischen Methode – in kritischem Dialog mit Edmund Husserls Ideen über die Philosophie als strenge Wissenschaft,“ «ɮɢɥɨɫɨɮɢɹ ɤɚɤ ɫɬɪɨɝɚɹ ɧɚɭɤɚ» (Russisch) Logos3 9 (1997), 54-76, “Filosofie jako pĜísná vČda. K založení realistické fenomenologické metody – v kritickém dialogu s Husserlovou ideou filosofie jako prísné vČdy,” (tschechisch) pĜeklad, úvod a bibliografie Martin Cajthaml, (Prague: Vydala KĜestanská akademie ěím, svazek, edice Studium, 1998), S. 14-51. Vgl. etwa Adolf Reinach, „Über Phänomenologie“, in: Adolf Reinach, Sämtliche Werke, Bd. I, Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe mit Kommentar, Bd. I: Die Werke, Teil I: Kritische Neuausgabe (1905-1914), Teil II: Nachgelassene Texte (1906-1917), S. 531-550. Vgl. ebenfalls Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?, 3rd edn, with a New Introductory Essay by Josef Seifert (London: Routledge, 1991), ch. 4. Außer in dem erwähnten Aufsatz versuchte ich, dies zu zeigen in Josef Seifert, Back to Things in Themselves. A Phenomenological Foundation for Classical Realism (London: Routledge, 1987); Erkenntnis objektiver Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis, zweite und erweiterte Auflage (Salzburg: Universitätsverlag A. Pustet, 1976); Sein und Wesen. Philosophie und Realistische Phänomenologie/Philosophy and Realist Phenomenology. Studien der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein/Studies of the International Academy of Philosophy in the Principality Liechtenstein, (Hrsg./Ed.), Rocco Buttiglione and Josef Seifert, Band/Vol. 3 (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1996). In Auseinandersetzung mit dem ethischen Skeptizismus und Nonkognivismus auf Grund des Dissenses der Philoso-

Wesen und Wert der Wahrheit als eine philosophische Grundfrage

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Andererseits müßte verständlich gemacht werden, an welche besonderen Bedingungen der Konsens in philosophicis geknüpft ist, wodurch es verständlich wird, daß philosophische Erkenntnis selbst im Falle ihrer rigoros-wissenschaftlichen Methode und deren strenger Anwendung, sowie evidenter, unbezweifelbarer Erkenntnis, nicht Gegenstand universalen Konsenses ist. Hinsichtlich dieser zweiten Aufgabe möchte ich eine kurze Erklärung geben, die es meines Erachtens verständlich macht, warum auch die einleuchtendsten und präzisesten philosophischen Analysen nicht auf allgemeinen oder breiten philosophischen Konsens zählen dürfen. Das ist für alle Philosophie höchst relevant, ganz besonders aber für eine philosophische Behandlung des Wahrheitsproblems selbst. 2. Die Objektivität des Wesens der Wahrheit und die Wissenschaftlichkeit philosophischer Erkenntnis der Wahrheit trotz mangelnden Konsenses unter den Vertretern diversester Wahrheitstheorien Die mehr oder minder schweren Mängel in den meisten bisherigen Philosophien der Wahrheit und in vielen Wahrheitstheorien sowie das Fehlen eines Konsenses über sie haben – neben den allgemeinen Wurzeln der Irrtümer und dem Phänomen, das Balduin Schwarz als „objektiven Schein“ bezeichnet hat5 – insbesondere drei Ursachen, eine methodolo-

5

phen ging ich ein in Josef Seifert, „Zur Begründung ethischer Normen. Einwände auf Edgar Morschers Position. Ein Diskussionsbeitrag“, in: Vom Wahren und vom Guten, Festschrift zum achtzigsten Geburtstag von Balduin Schwarz (Salzburg: St.Peter Verlag, 1983). „Und dennoch: Ethik ist Episteme, nicht blosse Doxa. Über die wissenschaftliche Begründbarkeit und Überprüfbarkeit ethischer Sätze und Normen. Erwiderung auf Edgar Morscher’s Antwort“, in: ebd. Vgl. Balduin Schwarz, Das Problem des Irrtums in der Philosophie (Münster, Aschaffenburg, 1934). (Neuauflage in Vorbereitung). Vgl. auch Immanuel Kant, Logik (1800), Einleitung, B VII: Denn es wird niemand zugeben, daß er ohne irgend einen Schein der Wahrheit geirrt habe, der vielleicht auch einen Scharfsinnigern hätte täuschen können, weil es hierbei auf subjective Gründe ankommt.

Balduin Schwarz unterscheidet viele Arten und Quellen des „objektiven Scheins“ sowie psychologische und andere Wurzeln von Irrtümern in Analysen, die hier

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Prolegomena

gische, eine in der Schwierigkeit der Sache gelegene, und eine moralische. Der mangelnde Konsens hinsichtlich der philosophischen Bestimmung der Wahrheit hat sicher, wie Edmund Husserl richtig bemerkt, eine Ursache in einer noch nicht erreichten letzten Klarheit hinsichtlich der Methode philosophischer Untersuchungen über die Wahrheit und deren rigoroser Anwendung.6 Ja mehr als die Vertreter anderer Wissenschaften geben Philosophen oft die abenteuerlichsten und unsolidesten Behauptungen von sich, blüht in der Philosophie der Dilettantismus, und findet man in ihr häufig ein methodologisch gesehen mangelhaftes Vorgehen. Selbst große Denker, die tiefe Einsichten in die Natur der Wahrheit gewinnen, gehen oft zu aphoristisch, zu wenig systematisch und differenziert vor und verwechseln auf diese Weise Teilaspekte, Folgen oder Bedingungen der Wahrheit mit deren Wesen oder mit dem Ganzen der Wahrheit. Die erste dieser Ursachen mangelnder Übereinstimmung der Philosophen über die Natur der Wahrheit läßt sich durch eine immer präzisere Wesensanalyse der Wahrheit beseitigen. Dieses Buch versteht sich als einen Versuch einer rigorosen philosophischen Untersuchung über die Wahrheit und damit auch als einen Schritt auf dem langwierigen, doch nötigen Weg zu einer Verbesserung der von Husserl angeprangerten Unwissenschaftlichkeit der Methodologie der Philosophie und ihrer Anwendung auf das Gebiet der Philosophie der Wahrheit selbst. Und hinsichtlich dieser Quelle mangelnden Konsenses ist es keineswegs ausgeschlossen, schwere Fehler und erhebliche Grenzen des Verständnisses der philosophischen Methode bei bisherigen Philosophen, auch bei Husserl selbst, zu überwinden und eine strengere Wissenschaftlichkeit philosophischer Wahrheitsforschung anzustreben und zu erreichen. Eine zweite Ursache für den mangelnden philosophischen Konsens (im

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anwendbar wären. Vgl. meineWürdigung, aber partielle Kritik des Begriffs des objektiven Scheins, wenn Schwarz den Irrtum fast wie ein rein rezeptives Erkennen dieses Scheins darstellt, in Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit2, I. Teil, Kap. 3. Vgl. Edmund Husserl, „Philosophie als strenge Wissenschaft“, in: Edmund Husserl, Aufsätze und Vorträge (1911-1921), Hrsg. Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp, Husserliana Bd. XXV (Dordrecht/Boston/Lancaster: M. Nijhoff, 1987), S. 3-62. Vgl. auch Josef Seifert, „Phänomenologie und Philosophie als strenge Wissenschaft“, zit.

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Gegensatz zu dem breiten Konsens in den Einzelwissenschaften), nämlich die Unermeßlichlichkeit und Unausschöpfbarkeit des gegenständlichen Feldes philosophischer Forschung, liegt tiefer, wird in allen Jahrhunderten zu Resten an Unklarheit und mangelnder Gesamtkonzeption der Wahrheit führen und schließt wohl eine vollendete Philosophie der Wahrheit, eine vollkommene Erkenntnis, oder gar ein vollständiges abgeschlossenes System,7 das ein niemals erreichtes Ideal bleibt, aus. Obwohl aus der Unermeßlichkeit und Tiefe des Gegenstandes der Philosophie, die es verbieten, daß der Philosoph jemals schlechthin alle Dimensionen dessen, was Wahrheit ist, umfassend zu begreifen vermag, nicht eo ipso ein Mangel an Konsens resultieren muß, so hängt dieser doch eng mit der Immensität des Gegenstands der Philosophie zusammen. Denn sobald bruchstückhafte und unvollständige Erkenntnisse verabsolutiert und falsch verallgemeinert oder verschiedene Dinge, auf die sich der Wahrheitsbegriff bezieht, verwechselt werden, kommen Irrtümer zustande und diese, nicht die unvollständigen Erkenntnisse als solche, streiten gegen einander. Je umfassender und vollkommener das philosophische Wahrheitsverständnis wird und all die von verschiedenen Denkern gesehenen Telaspekte berücksichtigt und zugleich richtig einzuordnen vermag, desto mehr läßt sich aber auch diese zweite Quelle mangelnder Übereinstimmung überwinden. Die dritte Ursache hingegen, die moralischen Quellen von Sophismen und Irrtümern sowie die moralischen Fehlhaltungen, welche die wohl entscheidendsten Hindernisse adäquater philosophischer Erkenntnis bilden, würden meines Erachtens auch dann zu heftigsten Widersprüchen in den Wahrheitstheorien führen, wenn es Philosophen gelänge, die klarstmögliche Untersuchung zum Wahrheitsproblem vorzulegen.8 7

8

Wir verstehen den Systembegriff hier nicht in dem besonderen Sinne des deutschen Idealismus und insbesondere Fichtes und Hegels, wo impliziert wird, man könne aus einem einzigen Prinzip die gesamte Wirklichkeit „ableiten“, sondern in dem Sinne der Frucht einer systematischen Erkenntnis der Dinge von einem menschengemäßen Grad der Vollständigkeit. Auch Thomas von Aquin spricht gleich im Prolog einer wichtigen Quaestio des Sentenzenkommentars von dieser entscheidenden moralischen Bedingung der Wahrheitsfindung: Inquirentium autem conditionem in prima parte describit tripliciter: primo quantum ad ipsorum puritatem, quae necessaria est ad tantae veritatis contemplationem;

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Prolegomena

Erforschen wir diese drei Ursachen mangelnden Konsenses eingehender und beantworten wir die Frage, warum dieselben als solche nicht gültige Gründe sind, an der Wissenschaftlichkeit und Gewißheit philosophischer Erkenntnis zu zweifeln. 2.1. Methodologische Schwierigkeiten und einige Mängel bisheriger Untersuchungen über die Wahrheit

Die Komplexität und zugleich einleuchtende Natur der Wahrheit verlangen zu ihrer Erforschung eine methodische und systematische Rückkehr zu den Sachen selbst, zu den verschiedenen Gegebenheiten, auf die wir mit dem Wort Wahrheit abzielen und die es im einzelnen in aller Reinheit herauszuarbeiten gilt. Einer solchen Methode der Rückkehr zu den Sachen selber, die allen Formen des Reduktionismus, der Versimplifizierung usf. widersteht, stehen viele mögliche methodologische Fehler und Vorurteile entgegen, die häufig dazu führen, das Wesen der Wahrheit zu verkürzen und zu verfälschen, was dann auch, und mit gutem Grund, eine allgemeine Akzeptanz solcher falscher Theorien verhindern kann.9 Die Schwierigkeiten, die einer schlichten, aber rigorosen Rückkehr zu den Phänomenen und einer diesen angemessenen philosophischen Methode im Weg stehen, stellen folglich das erste zu bewältigende Hindernis für eine adäquate Erfassung des Wesens von Wahrheit dar. Diese Schwierigkeiten sind besonderer und schwer zu überwindender Art – trotz einer größeren Schlichtheit und ‚Leichtigkeit‘ einer echt philosophischen Methode im Verhältnis zu vielen anderen wissenschaftlichen Methoden. Doch sind, wie Adolf Reinach gezeigt hat, wenige Dinge so schwer wie ein schlichtes und in einem tieferen Wortsinn einfaches Erkennen der Gegebenheiten, vor allem der letzten Urgegebenheiten, die sich nicht durch Anderes erklären lassen, sondern nur von ihnen selbst her aufzuklären sind. Goethe formuliert in seinen die phänomenologische Methode entscheidend inspirierenden Einsichten in Urphänomene, die er so nennt, weil sie letzte 9

Thomas von Aquin, In I Sententiarum, d. 2, q. 1, Pr. Zu dieser Methode und zu ihren Hindernissen vgl. Adolf Reinach, „Über Phänomenologie“, S. 531-550; Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?; Balduin Schwarz, Das Problem des Irrtums in der Philosophie, Josef Seifert, Back to Things in Themselves, Kap. 1.

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Gegebenheiten sind,10 die Unfähigkeit der meisten Menschen, eine solche angemessene Methode zu ihrer Erkenntnis zu finden: Wäre denn aber auch ein solches Urphänomen gefunden, so bleibt immer noch das Uebel, daß man es nicht als ein solches anerkennen will, daß wir hinter ihm und über ihm noch etwas Weiteres aufsuchen, da wir doch hier die Gränze des Schauens eingestehen sollten.11 Es erweist sich als kolossal schwierig für die Menschen, in philosophischem Staunen jene Methode einfachen genauen Hinblickens und rigoroser Analyse zu gebrauchen, die diese Gegebenheiten aufklärt, anstatt sie wegzuerklären oder zu verfehlen. In seinen Gesprächen mit Eckermann gibt Goethe dazu wertvolle Hinweise: Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ... ist das Erstaunen, und wenn das Urphänomen ihn in Erstaunen setzt, so sei er zufrieden; ein Höheres kann es ihm nicht gewähren, und ein Weiteres soll er nicht dahinter suchen; hier ist die Grenze. Aber den Menschen ist der Anblick eines Urphänomens gewöhnlich noch nicht genug, sie denken, es müsse noch weiter gehen, und sie sind den Kindern ähnlich, die, wenn sie in einen Spiegel geguckt, ihn sogleich umwenden, um zu sehen, was auf der anderen Seite ist.12 Der Naturforscher lasse die Urphänomene in ihrer ewigen Ruhe und Herrlichkeit dastehen, der Philosoph nehme sie in seine Region auf...13

Diese Grundmethode der Philosophie erfordert eine besondere und seltene Gabe, ein sich Freimachenkönnen für die Phänomene, ein unerbittliches sie Anblicken und in sie Eindringen, das eine Genauigkeit geistiger Wahrnehmung, ein Höchstmaß an aktiver Rezeptivität und zugleich ein im Fragen phantasiereiches, an Beispielen lernendes und kühnes Denken erfordert, wie ebenfalls Goethe bemerkt hat: Ein einfaches Urphänomen aufzunehmen, es in seiner hohen Bedeutung zu 10

11 12 13

Farbenlehre, ebd., Nr. 175, Bd. 37, S. 67: „Wir nennen sie Urphänomene, weil nichts in der Erscheinung über ihnen liegt...“ J.W. von Goethe, Farbenlehre, II. Abtheilung, Nr. 177, Bd. 37, S. 68. Goethes Gespräche mit Eckermann, S. 448. Goethe, Farbenlehre, ebd., Nr. 177, Bd. 37, S. 68. Vgl. Goethe, Gespräche mit Eckermann, ebd., S. 639.

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Prolegomena erkennen und damit zu wirken, erfordert einen produktiven Geist, der vieles zu übersehen vermag, und ist eine seltene Gabe, die sich nur bei ganz vorzüglichen Naturen findet.14

Sachferne und damit ein Verfehlen einer dem Anschauen gemäßen Methode, wie Goethe bewundernswert formuliert, sind Gefahren, die den Philosophen wesentlich mehr bedrohen und die philosophische Methode schwerer handhabbar machen als die Methoden in anderen Disziplinen und Wissenschaften: Vom Philosophen glauben wir Dank zu verdienen, daß wir gesucht die Phänomene bis zu ihren Urquellen zu verfolgen, bis dorthin, wo sie bloß erscheinen und sind, und wo sich nichts weiter an ihnen erklären läßt...15

In dieser Hinsicht könnte man sogar einen Vergleich echter Philosophie und großer Kunst ziehen, in der es letztlich auch um ein Erschauen und Realisieren intuitiv gegebener letzter Gegebenheiten handelt.16 Zitieren wir noch einmal Goethe: Er soll sich eine Methode bilden, die dem Anschauen gemäß ist; er soll sich hüten, das Anschauen in Begriffe, den Begriff in Worte zu verwandeln, und mit diesen Worten, als wären’s Gegenstände, umzugehen und zu verfahren ... Kann dagegen der Physiker zur Erkenntniß desjenigen gelangen, was wir ein Urphänomen genannt haben, so ist er geborgen und der Philosoph mit ihm; ... denn er [der Philosoph] nimmt aus des Physikers Hand ein Letztes, das bei ihm nun ein erstes wird.17 14 15 16

17

Gespräche mit Eckermann, ebd., S. 639. Vgl. auch ebd., S. 432, 514, 567, 591. Farbenlehre, ebd., Bd. 37, S. 9. Auch Thomas von Aquin nimmt eine unmittelbare intellektuelle Wesens-Schau als Ideal der Erkenntnis an, das er allerdings primär Gott und den Engeln zuschreibt, das aber in weniger vollkommener Form auch der menschlichen Erkenntnis eigen ist. Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, Iia IIae, q. 49, a. 5, RA 2. Farbenlehre, ebd., V. Abtheilung, Nr. 716, 720, Bd. 37, S. 232-233. Vgl. ebd., Nr. 175, Bd. 37, S. 67. Vgl. auch Farbenlehre, ebd., Nr. 177, Bd. 37, S. 68. Vgl. auch Goethe, Nachträge zur Farbenlehre, ebd., Bd. 40, S. 423-425, sowie Goethes Artikel „Über den Granit“, und besonders die von Hans Leisegang in Goethes Denken zitierte Stelle, S. 90. Vgl. auch Farbenlehre, ebd., Bd. 37, Nr.

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Dieses ‚Erste‘ des Urphänomens der Wahrheit zu sehen erlaubt es nicht, Methoden zu verwenden, die wegen ihrer rein formal-symbolischen Sprache und aller ihrer ‚formalistischen‘ Komplikation, wie mathematische Formeln, von den Sachen selbst, von den letzten Urgegebenheiten, entfernt bleiben und leicht zu einem Reduktionismus oder einem Verfehlen der Identität und Eigentümlichkeiten ‚der Sachen selber‘ führen. Als hätte Goethe das Überwuchern solcher an der Mathematik und symbolischen Logik orientierten Methoden in der analytischen Philosophie gekannt, schreibt er: Mathematische Formeln lassen sich in vielen Fällen sehr bequem und glücklich anwenden; aber es bleibt ihnen immer etwas Steifes und Ungelenkes, und wir fühlen bald ihre Unzulänglichkeit, weil wir, selbst in Elementarfällen, sehr früh ein Incommensurables gewahr werden...18

Und Goethe fügt über die Versuche, an mathematischen und mathematisierenden Methoden orientierte Vorgangsweisen zur Erklärung von Urgegebenheiten wie des Lebens zu verwenden, hinzu: „Sie verwandeln das Lebendige in ein Todtes.“19 Dies gilt im weiteren Sinne nicht nur für das Urphänomen des Lebens, sondern für das innerlich ‚Lebendige‘ sämtlicher unreduzierbarer Urphänomene. Sie werden in ein Totes verwandelt, wenn man ihnen und ihren inneren Prinzipien nicht gerecht wird, sondern sie reduziert oder auf andere Weise verfälscht. Es handelt sich hier um das Aufklären letzter elementarer Gegebenheiten, die bei ungeeigneter Methode nur verdunkelt werden: und wie oft wird ... das Elementare durch ein Abgeleitetes mehr zugedeckt, und verdunkelt, als aufgehellt und näher gebracht.20

Durch diese tiefsinnigen Bemerkungen Goethes über eine den Urphänomenen wie der Wahrheit angemessene Methode wird deutlich, wie schwer die Philosophie ist und wie leicht daher auch die sorgfältigsten und

18 19 20

754, S. 247. Farbenlehre, ebd., Bd. 37, Nr. 752, S. 246. Ebd., 752, S. 246. Ebd., 754, S. 247.

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Prolegomena

zuverlässigsten philosophisch-phänomenologischen Ergebnisse von Philosophen verfehlt werden können, weil sie diese primäre und besonders schwierige Methode der Philosophie vernachlässigen oder sogar ihre Notwendigkeit übersehen, wie dies meines Erachtens von weiten Teilen der analytischen Philosophie gilt, besonders von den an Wittgensteins viel unphänomenologischerem Tractatus orientierten formalistischen und axiomatischen, aber auch von Teilen traditioneller scholastischer Philosophie.21 Hingegen sind andere Teile der analytischen Philosophie, die sich eher an Wittgensteins Spätphilosophie orientieren, einer phänomenologischen Vorgangsweise viel näher,22 wenn sie auch die Sachen selbst teilweise noch radikaler verfehlen.23 Doch bestehen die Probleme einer angemessenen philosophischen Methode nicht ausschließlich in den Schwierigkeiten eines solchen ungeminderten Erschauens der Urphänomene, die in der Philosophie den besonderen Charakter in sich und absolut notwendiger Wesenheiten haben, in denen in höchst intelligibler Weise eine Fülle von nur unmittelbar erschaubaren Wesensmerkmalen und Sachverhalten gründen. Vielmehr verlangt eine exakte philosophische Methode auch die genaue, kritische und systematische Untersuchung ihres jeweiligen Gegenstands, dessen begriffliche und terminologische Fassung, zahlreiche Unterscheidungen von ihrem Gegenteil und von benachbarten Phänomenen, Beantwortung von Schwierigkeiten und Einwänden, eine Auflösung von anscheinend auftretenden Antinomien und Paradoxen, usf. Außer der systematischen Entfaltung der 21

22

23

Vgl. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung (Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag, 1963). In mancher Hinsicht phänomenologischer sind Wittgensteins Philosophische Untersuchungen, wenn sie auch mit spielerischen Elementen und nicht wirklich philosophisch seriös untersuchten Begriffen wie sie etwa in der Idee und Wittgeins Terminologie der „Sprachspiele“ erscheinen. Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen – Philosophical Investigations, trans. Elizabeth Anscombe (Oxford: Basil Blackwell, 1958). Die gilt etwa von Wittgensteins Ethik und Religionsphilosophie. Vgl. Josef Seifert, „Person, Religöser Glaube und Wahrheit. Philosophische Analysen und kritische Reflexionen über Ludwig Wittgensteins Religionsphilosophie“, in: Wilhelm Lütterfelds/Thomas Mohrs (Hrsg.), Globales Ethos. Wittgensteins Sprachspiele interkultureller Moral und Religion (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2000), S. 176-204.

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Einsichten in unzurückführbare Gegebenheiten erfordert dies eine Reihe von Elementen und Mitteln, wie die Untersuchung der Merkmale und Gegensätze einer Gegebenheit, die korrekte Benutzung von Analogien, sowie methodologische Tricks und Hilfsmittel, die für alle Philosophie oder nur für bestimmte Teilbereiche der Philosophie nötig sind, wie den methodischen Zweifel, die Einklammerung realer Existenz, Gedankenexprimente, den negativen Test oder ähnliche methodologische Instrumente. Es ist klar, daß viele Denker an diesen Schwierigkeiten einer rigorosen philosophischen Methode, deren genaue Eigenart theoretisch tiefer zu erforschen hier nicht unsere Aufgabe ist, scheitern oder sich sogar deren Mühen ersparen möchten, indem sie auf ein intuitives Vorverständnis der Dinge oder gar auf bloße verbreitete Meinungen über sie rekurrieren, diese aber nicht sorgfältig und kritisch prüfen.24 2.2. Komplexität und Unendlichkeit des Wahrheitsproblems

Die besondere methodologische Problematik der Erforschung der Wahrheit hängt auch mit dem zweiten Hindernis zu einer adäquaten philosophischen Erfassung der Wahrheit zusammen, nämlich mit deren ungeheuer komplexer Natur, wie sie aus der folgenden Untersuchung erhellen wird und teilweise die häufigen Verwechslungen und Irrtümer erklärt, die sich in philosophischen Untersuchungen über die Wahrheit so oft einstellen. Der Klärung der verschiedenen Dimensionen und Bedeutungen von Wahrheit stehen also nicht ausschließlich methodologische Hindernisse entgegen, sondern diese Schwierigkeiten entspringen auch der Komplexität des Themas, das nicht nur menschliches Erkennen als unzulänglich dafür erweist, die ganze Welt dessen, was mit Wahrheit gemeint wird, in seiner Fülle umfassend zu begreifen (wobei sich echte philosophische Erkenntnis als, obzwar unvollständige, Erkenntnis der Wahrheit radikal vom Irrtum unterscheidet),25 sondern Philosophen auch 24

25

Vgl. Josef Seifert, Back to Things in Themselves, zit., sowie meine demnächst erscheinende Schrift: Discurso sobre los métodos. Los métodos de la filosofía y la fenomenología realista (Madrid 2008); Discours des Méthodes. The Methods of Philosophy and Realist Phenomenology (Frankfurt / Paris / Ebikon / Lancaster / New Brunswick: Ontos-Verlag, 2009). Vgl. Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit2, I, Kap. 3.

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Prolegomena

häufig zu verkürzten und einseitigen Auffassungen der Natur der Wahrheit verleitet, damit es ihnen erspart bleibe, in den gewaltigen Abgrund ontologischer, epistemologischer und logischer Gegebenheiten und Problemstellungen einzugehen, ohne deren Erforschung eine den Sachen selbst entsprechende theoretische Erkenntnis der Wahrheit unmöglich ist. Die Umfassendheit des Wahrheitsproblems ergibt sich aus den vielfältigen Weisen, in denen das Sein und die Wirklichkeit selbst, menschliches Erkennen und schließlich das logische Urteil oder auch Personen ‚wahr‘ genannt werden können. Die Frage nach der Wahrheit ist tief und komplex auch deshalb, weil Wahrheit die Sphäre der Sätze, Urteile, des Lebens und des ganzen Seins mit umfaßt, ja nach einem Worte Hegels „das Ganze“ ist26 und bis hinein ins absolute Wesen Gottes reicht, der ‚die Wahrheit selbst‘ ist. (Daß hier die Existenz Gottes in einem philosophischen Werk vorausgesetzt wird, hat nicht darin seinen Grund, daß religiöser Glaube den Boden der Philosophie bilden soll, auch wenn wir seit den ersten Jahrhunderten nach Christus zahlreiche kostbare Schriften finden, deren Autoren aus philosophischen Einsichten und Glaubenserkenntnissen, aus fides und ratio, zugleich schöpfen, sondern vielmehr darin, daß die Existenz und viele Wesenseigenschaften Gott philosophisch und rein rational, wenn auch unvollkommen und unvollständig, erkennbar sind – zum Teil sogar aus dem Wesen der Wahrheit selbst, wie wir sehen werden.)27 Daher ergeben sich verständlicherweise nicht nur zahlreiche be26

Hegel deutet diesen Satz „Das Wahre ist das Ganze“ völlig anders als wir, indem er ihm den Sinn eines Werdens der Wahrheit in der Geschichte gibt: Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein. So widersprechend es scheinen mag, daß das Absolute wesentlich als Resultat zu begreifen sei, so stellt doch eine geringe Überlegung diesen Schein von Widerspruch zurecht. Der Anfang, das Prinzip oder das Absolute, wie es zuerst und unmittelbar ausgesprochen wird, ist nur das Allgemeine.

27

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 21, Hegel-W Bd. 3, 24. Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis. Eine phänomenologische Neubegründung des ontologischen Arguments (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1996), zweite Aufl. 2000.

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greifliche, doch vermeidbare Verkürzungen und Verirrungen von Philosophen bei der Behandlung des Wahrheitsproblems, sondern auch so große Schwierigkeiten für eine angemessene philosophische Erkenntnis der Wahrheit, daß selbst die größten und unbezweifelbarsten Ergebnisse philosophischer Analyse immer neue Abgründe an Problemen eröffnen und mitunter zu Aporien und Schwierigkeiten führen, wegen denen viele Philosophen auch an jenen Ergebnissen zu zweifeln beginnen, hinsichtlich derer wir letzte philosophische Klarheit gewinnen können. Ein solches Bestreiten oder Bezweifeln von unbezweifelbaren Evidenzen auf Grund echter Aporien oder scheinbarer Antinomien aber kann nie berechtigt sein.28 2.3. Wille zur Wahrheit oder Wille zur Unwahrheit? Über die ethischen Bedingungen philosophischer Erkenntnis und die tiefste Wurzel des Dissenses in der Philosophie, selbst nach Realisierung ihrer höchsten wissenschaftlichen Form: Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit, Haß der Wahrheit und Wille zur Unwahrheit

Das dritte – sittliche – Hindernis zu einem adäquaten Verständnis von Wahrheit hängt gleichfalls mit der objektiven Tiefe des Problems der Wahrheit zusammen, das auch auf der Seite des Subjekts eine tiefe, auf das Ganze des Seins und der Wirklichkeit gerichtete, echt philosophische Einstellung und unbedingte Liebe zur Wahrheit erfordert, die schwer zu erlangen sind, weil im Menschen zahllose Leidenschaften, Intentionen und Haltungen bestehen, die ihn eher zu Vorurteilen, Irrtümern und Blindheiten als zur Erkenntnis und Anerkennung der Wahrheit disponieren. Die existentielle Rolle der Wahrheit und damit die Abhängigkeit ihrer richtigen Erkenntnis von einem Freisein von derartigen moralischen Hindernissen philosophischer Erkenntnis leuchtet auch daraus ein, daß das ganze philosophische Denken und Leben eines Menschen entscheidend davon geprägt werden, welches Wahrheitsverständnis seinem Denken und Leben zugrundeliegt und wie er sich selber zur Wahrheit und zur Wahrheitsfrage stellt. Augustinus beschreibt in einem Text, wie schon Sokrates 28

Vgl. Josef Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant (Freiburg/München: Karl Alber, 2001.)

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Prolegomena

in den ersten Abschnitten der Apologie,29 zwei entgegengesetzte Haltungen der Wahrheit gegenüber, die eine, in der man das tun und denken will, was die Wahrheit sagt, die andere, in der man die Wahrheit beherrschen möchte und will, daß sie einem sage, was man selbst, unabhängig von der Wahrheit, möchte.30 Thomas sagt einmal, daß sowohl derjenige, der nicht bereit ist, die Wahrheit zu lieben, wenn sie gegen ihn selbst Zeugnis gibt, als auch jener, der sie gegenüber demjenigen, der sie leugnet, aus falschem Irenismus nicht verteidigt, sich selber mehr als die Wahrheit liebe, da er die Selbstzufriedenheit oder den Frieden und die Ruhe mit anderen der Wahrheit vorziehe.31 Auch kann man seine Freunde oder seine Frau, wenngleich nicht in der wahren Ordnung und Hierarchie der Werte, mehr als die Wahrheit lieben, während man im Falle des anscheinenden Konflikts zwischen Freundesliebe oder ehelicher Liebe, besser gesagt im Falle, in dem die Wünsche des Freundes oder einer geliebten Person mit den Forderungen der Wahrheit in Konflikt treten, der Wahrheit den Vorzug geben soll, wie Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin hervorheben.32 29

Dort unterscheidet Sokrates zwei Arten von gewaltigen Rednern: denjenigen, dessen Beredtsamkeit imstande ist, die Tatsachen zu verdrehen, und jenen, der nur die Wahrheit sagt (Platon, die Apoligie des Sokrates, 17): Am meisten aber habe ich eins von ihnen bewundert unter dem Vielen, was sie gelogen, dieses, wo sie sagten, ihr müßtet euch wohl hüten, daß ihr nicht von mir getäuscht würdet, als der ich gar gewaltig wäre im Reden. Denn daß sie sich nicht schämen, sogleich von mir widerlegt zu werden durch die Tat, wenn ich mich nun auch im geringsten nicht gewaltig zeige im Reden, dieses dünkte mich ihr Unverschämtestes zu sein; wofern diese nicht etwa den gewaltig im Reden nennen, der die Wahrheit redet. Denn wenn sie dies meinen, möchte ich mich wohl dazu bekennen, ein Redner zu sein, der sich nicht mit ihnen vergleicht. Diese nämlich, wie ich behaupte, haben gar nichts Wahres geredet; ihr aber sollt von mir die ganze Wahrheit hören. Jedoch, ihr Athener, beim Zeus, Reden aus zierlich erlesenen Worten gefällig zusammengeschmückt und aufgeputzt, wie dieser ihre waren, keineswegs, sondern ganz schlicht werdet ihr mich reden hören in ungewählten Worten. Denn ich glaube, was ich sage, ist gerecht...

30

31 32

Augustinus, Confessiones, X. 23; X. 26. Vgl. die Übersetzung von G. Graf von Hertling: Augustinus, Bekennntisse (Freiburg i.B.: Herder, 1922). Thomas von Aquin bezieht sich auf diesen Text in Catena Aurea in Joannem, cap. 3, lectio 7. Thomas von Aquin, Contra Impugnantes, pars 4, cap. 2, RA 5; ibid., cap. 3, RA 2. Vgl. Platon, Gorgias, 481-482. Vgl. auch Thomas von Aquin, Sententia Libri Ethicorum, Lectio 6, Nr. 3 ff.

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Dieser Gegensatz im existentiellen Verhältnis zur Wahrheit setzt voraus und zeigt deshalb, daß die Frage nach der Wahrheit nicht eine neutrale ist, sondern gerade weil sie mit eminenten Werten und dem ganzen Leben verknüpft ist, eine bestimmte sittliche Einstellung verlangt, um sie angemessen zu stellen und zu beantworten, was es auch mit sich bringt, daß schon der Wahrheitsbegriff und noch viel mehr die Erkenntnis des Wertes und der ethischen Bedeutung der Wahrheit nicht losgelöst von einer bestimmten Grundhaltung erkennbar sind, in solcher Weise, daß die richtige Grundhaltung den Geist prädisponiert, die Natur der Wahrheit richtig zu erkennen, während die falsche Grundhaltung das Auge des Geistes gegenüber der objektiven Eigenart der Wahrheit, deren Begriff die Tendenz hat, unser ganzes Leben in einer uns oft unangenehmen Form zu beeinflussen, verdunkeln und den Wahrheitsbegriff verfälschen kann. Deshalb ist eine Ethik des Erkenntnis und intellektueller Akte, wie solcher der Zustimmung, in denen sich die Freiheit in mannigfaltiger Weise auswirkt, von grundlegender Bedeutung, um den Mangel an Konsens in der Philosophie nach allen Seiten hin zu verstehen.33 Gerade die absolut fundamentale Bedeutung und Rolle der Wahrheit für das ganze Leben, Denken, sittliche Handeln und künftige Schicksal der Person ist daher Grund für die Versuchung, diese lästige und unsere Willkür und Selbstherrlichkeit störende Wahrheit in der Theorie zu leugnen oder umzudeuten, und sie in der Praxis zu mißachten. Der beste Ort, diese Versuchung des Philosophen, die Wahrheit umzudeuten, festzustellen, ist die eigene Seele. Sowohl diese Versuchung, die Wahrheit umzudeuten, zu leugnen oder zu mißachten, als auch die schlechthin grundlegende Bedeutung der Wahrheit für alle Wissenschaft und für das ganze menschliche Leben und Handeln wird noch besser verständlich, wenn wir bedenken, daß jede menschliche Handlung sowie jedes vom Menschen gefällte Urteil, und jeder Gedanke überhaupt, notwendig Wahrheit voraussetzen. Da kein Gedanke völlig losgelöst von jedem Urteil möglich ist, setzt 33

Eine bewunderswert tiefsinige und klare Arbeit über eine solche Ethik der Zustimmung, außer der klassischen Schrift John Henry Cardinal Newmans, An Essay in Aid of A Grammar of Assent (Westminster, Md.: Christian Classics Inc., 1973), ist Paola Premoli De Marchis Buch, Etica dell’assenso (Milano: Franco Angeli, 2002).

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Prolegomena

doch schon jede Frage und jeder Zweifel Urteile und deren Wahrheitsansprüche voraus. Wie wir sehen werden, handelt es sich bei dieser Wahrheitsvoraussetzung primär um eine der vielen möglichen Bedeutungen von Wahrheit, die Urteilswahrheit. Alles menschliche Urteilen und Handeln ruht auf diesem Fundament der in ihm vorausgesetzten Wahrheit. Nicht zuletzt dadurch unterscheidet sich der Mensch vom Tier.34 Selbst die These, daß es keine Wahrheit gibt und alles erlaubt sei, oder daß der Mensch wie das Tier leben dürfe, setzt Wahrheit voraus. Denn wenn es nicht wirklich keine Wahrheit gibt und nicht tatsächlich „alles erlaubt ist“, dann bleibt ja die Rede, die Willkür im Handeln zu rechtfertigen sucht, unbegründet. Selbst der radikalste Skeptiker und Relativist, der die Ungebundenheit des Lebens durch irgendwelche vorgegebenen Ordnungen behauptet, beansprucht Wahrheit als Begründung für seine Position. Damit aber erkennt auch er noch Wahrheit als Richtlinie menschlichen Handelns an, indem er den Anspruch erhebt, sein Urteil, alles sei erlaubt, stimme mit dem tatsächlichen Erlaubtsein von allem überein. Ja er kann gar nicht umhin, diesen Wahrheitsanspruch zu stellen. Er kann diesen nämlich nicht durch einen subjektiven Akt ausschalten, weil er dem Urteil selbst kraft dessen logischer behauptender Struktur notwendig innewohnt. Gerade weil jedoch Wahrheit derart grundlegend ist, liegt die Versuchung nahe, sie umzudeuten, damit sie nicht mehr hindernd in die Flut unserer Leidenschaften eingreife und überall im menschlichen Leben die ernste Forderung erhebe, sich ihr im Urteilen und im Handeln, wo wir sie stets voraussetzen, in aller Aufrichtigkeit und Freiheit zu unterwerfen. Doch diese Quelle zahlloser Irrtümer und Umdeutungen der Wahrheit, ebenso origineller wie irriger Gedankenkonstrukte, sowie zahlreicher Sophistereien und Gedankenspielereien kann weder die Wesenheit der Wahrheit ändern noch die unbezweifelbare Evidenz aufheben, mit der wir ihnen entgegentreten dürfen und sollen. Die objektive Natur und Erkennbarkeit von Wahrheit zu bezweifeln, nur weil es praktische und unmoralische Gründe für die Umdeutung oder die Ablehnung der Erkennbarkeit der Wahrheit gibt, wäre höchst irational. 34

Vgl. Josef Seifert, „Wahrheit als Orientierungspunkt für menschliche Entscheidungen“, in: prima philosophia Bd. 7 (1994) H 3, S. 289-305.

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Augustinus spricht in dem oben bereits angesprochenen Text von der Möglichkeit des Menschen, zwei radikal verschiedenen Motiven Raum zu geben, einem Willen, der sich der Wahrheit unterordnen und das tun will, was sie ihm sagt, und einem Willen, der sich von Wahrheit loslösen will, der diese aber dennoch notwendig beanspruchen muß, sobald er sein Tun zu rechtfertigen sucht. Augustinus spricht in diesem zweiten Fall von einem Unterjochenwollen der Wahrheit. Hier der Text: ... auf die Frage, ob sie es vorziehen, sich an der Wahrheit zu erfreuen oder an dem Irrtum, werden mir alle ebenso zuversichtlich antworten, sie zögen die Freude an der Wahrheit vor, wie sie ohne zu zögern erklären werden, daß sie glückselig sein wollen. Denn glückseliges Leben ist Freude an der Wahrheit35 ... alle wollen sich an der Wahrheit freuen. Ich habe viele kennengelernt, die gerne täuschten, keinen, der gerne getäuscht wurde... Denn auch diese lieben sie, da sie ja nicht getäuscht werden wollen:... Warum also freuen sie sich trotzdem nicht an ihr? Warum ... gilt des Dichters Wort: Wahrheit erzeugt Haß? Warum ist dein Gesandter den Menschen zum Feind geworden, als er ihnen die Wahrheit predigte, wo sie doch das glückselige Leben lieben, das nichts anderes ist als Freude an der Wahrheit? Bringt vielleicht die Liebe zur Wahrheit es mit sich, daß, wer etwas anderes liebt, wünscht, das, was er liebt, solle die Wahrheit sein, und weil er nicht in Täuschung befangen sein möchte, sich auch nicht überführen lassen will, daß er im Irrtum ist? Dann hassen sie also die Wahrheit um des Gegenstandes willen, den sie an Stelle der Wahrheit lieben. Sie lieben ihren Glanz und hassen ihre Vorwürfe. Da sie nicht getäuscht werden wollen, wohl aber täuschen wollen, so lieben sie die Wahrheit, wenn sie sich ihnen kundmacht, hassen sie aber wenn, was sie selbst sind, von ihr kundgemacht wird. Sie aber vergilt ihnen, und da sie nicht von ihr entdeckt sein wollten, entdeckt sie sie wider Willen, selbst aber entdeckt sie sich ihnen nicht. So, ja so verhält es sich mit dem Menschengeist: schlaff und blind, ohne Sitte und Zucht, will er sich verbergen, aber ihm soll nichts verborgen bleiben. Aber er erreicht das Gegenteil, indem nicht er der Wahrheit, wohl aber diese ihm verborgen 35

Trotz seiner fundamentalen Umdeutung der Wahrheit im Sinne einer transzendentalphilosophischen Kohärenztheorie der Wahrheit hat Johann Gottlieb Fichte dies schön ausgesprochen: Niemand will irren, und jeder Irrende hält seinen Irrthum für Wahrheit.

Johann Gottlieb Fichte, Vermischte Schriften und Aufsätze (1786-1811), „Ueber Belebung und Erhöhung des reinen Interesse für Wahrheit“, VIII342.

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Prolegomena bleibt. O Wahrheit, du bist überall und für alle gegenwärtig, die dich um Rat fragen, und du beantwortest allen die verschiedenen Fragen zugleich. Du antwortest deutlich, aber nicht alle hören deutlich. Alle fragen dich, worüber sie Rat haben wollen, aber nicht immer hören sie, was sie hören wollen. Der ist dein bester Diener, dem nicht so sehr daran gelegen ist, von dir zu hören, was er selber will, als vielmehr das zu wollen, was er von dir hört. 36

In diesem Text schildert Augustinus zwei einander entgegengesetzte Haltungen gegenüber der Wahrheit: Die eine möchte von der Wahrheit nur das hören, was sie selber will. Sie will etwas, strebt etwas an, was sie anstelle der Wahrheit liebt: Macht, Reichtum, Lust. etc. Deshalb anerkennt sie die Wahrheit nur insofern diese bereits vorherbestimmten und festgehaltenen Zielen dient. Diese Haltung nimmt Wahrheit zwar in Anspruch, aber selektiv und utilitär: Sie ist selektiv, insofern sie Wahrheit nur in dem Maß anerkennt, in dem diese die eigenen vorher gesetzten Ziele bestätigt. In dieser Haltung betrachtet der Mensch die Wahrheit mit Scheuklappen und erkennt keine mit seinen Zielen nicht zusammenhängenden oder ihnen gar widersprechenden Wahrheiten an. Ja diese selektive Wahrheitsliebe schlägt leicht in Haß der Wahrheit um, denn die Wahrheit kann letzten Endes nur ganz und als ganzes geliebt werden oder gar nicht. Deshalb wird ein in dieser selektiven „Wahrheitsliebe“ verharrender Mensch eine solche Wahrheit, die seinen vorgegebenen Zielen widerspricht, nicht nur nicht lieben, sondern sogar hassen. Utilitär ist die von Augustinus beschriebene Wahrheitsbeziehung, weil Wahrheit auf ihre Funktion der Förderung bestimmter an Stelle der Wahrheit geliebter Ziele reduziert wird. Sie wird nicht als solche und um ihrer selbst willen geliebt, sondern wegen ihrer Nützlichkeit zur Erreichung vorgesetzter Zwecke. Diese Haltung kann dann eine eigene utilitär-pragmatische Wahrheitstheorie gebären, die das, was ursprünglich als eine Fehlhaltung gegenüber der Wahrheit auftritt, nun zur Wahrheitstheorie erhebt. Letzten Endes ist die von Augustinus beschriebene Haltung viel 36

Augustinus, Bekenntnisse X. 23: X. 26. Übers. G. Graf von Hertling (Freiburg i.B.: Herder, 1922).

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schlimmer als daß sie durch Selektivität und utilitäres in Dienst Nehmen der Wahrheit hinreichend erfaßt werden könnte. Sie zielt auf eine Unterwerfung der Wahrheit unter den Menschen ab: die Wahrheit soll nicht nur partiell betrachtet und von uns in Dienst genommen werden: sie soll nun auch inhaltlich davon abhängen, was wir wünschen. Wir wollen Wahrheit machen, schaffen, sie uns selber unterwerfen, sodaß sie nur das zu sagen hätte, was wir von ihr wünschen. Aus diesem Streben nach schlechthinniger Eigenmächtigkeit folgt dann auch der Haß gegen die Wahrheit, wo sie sich gegen unsere Ziele richtet. Wir können etwas anderes an die Stelle des Wahren und in sich Guten setzen und deshalb für Bedeutung und Wert der Wahrheit und des objektiv Guten erblinden. Aus dem ungeordneten Streben nach Lust folgt ebenso Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit oder sogar Haß ihr gegenüber wie aus Stolz und dem dämonischen Willen zur Macht, der ebenfalls zum Haß gegen Wahrheit führen kann. Augustinus stellt dieser Haltung zur Wahrheit eine ganz andere, nämlich die authentische Liebe zur Wahrheit, gegenüber. In ihr verwurzelt, liebt der Mensch nicht etwas anderes anstelle der Wahrheit, sondern diese selbst. Er will nicht die Wahrheit sich selbst unterwerfen, sondern sich selbst der Wahrheit. Er will nicht die Wahrheit dem Menschen dienstbar machen, sondern faßt umgekehrt den Menschen als Diener der Wahrheit auf. Er will nicht tun, was Sokrates und Platon dem Sophisten zuschreiben, nämlich die Wahrheit wie eine sklavische Puppe das sagen zu lassen, was er selber hören will. Vielmehr will der diese adäquate Haltung einnehmende Mensch das wollen, was er von der Wahrheit hört anstatt das von ihr hören zu wollen, was er selbst unabhängig von ihr will, was dann entweder zur gleichgültigen Ausschaltung oder zum Verbergen, Ausschmücken und Umdeuten der Wahrheit führt.37 Durch die kurze Schilderung dieser beiden Grundmöglichkeiten des Menschen wird deutlich, daß die Wahrheit, so unvermeidbar sie auch für jedes rationale Urteil und jede vernünftige Entscheidung, für die wir Rechenschaft ablegen können, vorausgesetzt wird, doch keineswegs in dem Sinne unvermeidlich Richtmaß menschlichen Denkens oder Handelns 37

In witziger Manier verspottet Nestroy eine solche so weit verbreitete Haltung in einem wenig bekannten Text aus seiner Couplet-Sammlung.

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Prolegomena

ist, daß wir uns wirklich immer oder gar notwendig nach ihr zu richten bräuchten. Es muß vielmehr auf allen Gebieten als die ethische Grundentscheidung und wirkliche Fundamentaloption des Menschen angesehen werden, ob er die Wahrheit zum Richtmaß seines Lebens machen oder ob er vor ihr fliehen, oder gar sie hassen will. Diese Grundentscheidung des Menschen angesichts der Wahrheit kann auch in Form der Alternative ausgedrückt werden, ob der Einzelne die jedem Menschen zur Rationalität nötigen Wahrheitsansprüche in den Dienst der Lüge stellen und „Wahrheit“ sich selbst unterwerfen will, oder ob er sie suchen, sie lieben, und sein Leben und Handeln unter ihre Leitung stellen und sich selber ihr unterwerfen will. Aus dem bisher Gesagten ergeben sich radikal verschiedene Typen des Willens zur Unwahrheit, bzw. drei Arten und Stufen der Radikalität, in denen sich dieser Wille zur Unwahrheit äußern und dabei auch zu theoretischen Wahrheitsbegriffen oder Wahrheitstheorien führen kann, die einen solchen Willen zur Unwahrheit ausdrücken. 1. Die erste Stufe des „Willens zur Unwahrheit“ besteht einfach in einer mehr oder minder großen Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheitsfrage. Dabei sieht der Mensch ganz davon ab, was die Wahrheit über eine Sache verlangt und beschäftigt sich nur mit seinem besonderen Ziel, meist seiner Lust und Befriedigung, auf welchem Gebiete auch immer, aber vielleicht auch mit einem tieferen Teilbereich des eigenen oder auch fremden Glücks. Was Wahrheit ist oder für sein Leben impliziert, schaltet er gleichsam aus dem Bereich seiner Interessen aus, vielleicht nicht ausdrücklich, aber doch wenigstens implizit. Diese Gleichgültigkeit ist jedoch, wie Hildebrand in seinem Werk Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis zeigte, nicht einfach ein Ausfall jeglicher Stellungnahme, sondern vielmehr eine negative „Stellungnahme der Gleichgültigkeit“, der Mißachtung und Verachtung der Wahrheit.38 Diese kann sich in ausdrücklichen Gedanken 38

Vgl. Dietrich von Hildebrand, Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis. Eine Untersuchung über ethische Strukturprobleme (München: Bruckmann, 1918); 3., durchgesehene Auflage (Vallendar-Schönstatt: Patris Verlag, 1982). Vgl. auch Josef Seifert, „Grundhaltung, Tugend und Handlung als ein Grundproblem der Ethik. Würdigung der Entdeckung der sittlichen Grundhaltung durch Dietrich von Hildebrand und kritische Untersuchung der Lehre von der ‚Fundamentaloption‘ innerhalb der ‚rein teleologischen‘ Begründung der Ethik,“ in: Clemens Breuer

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oder Worten Luft machen oder rein implizit durch die begierliche Grundhaltung bedingt sein. 2. Eine zweite Möglichkeit ist eine Stellungnahme des Hasses respektive der Ablehnung, in der der Mensch nicht bloß gleichgültig gegenüber der Wahrheit ist und auf sie nur mit stumpfem Desinteresse reagiert, sondern sie ausdrücklich ablehnt. Von diesem Haß der Wahrheit spricht Augustinus. Es ist möglich, daß insbesondere der stolze und dämonisch hochmütige Mensch die Wahrheit schlechthin haßt, daß er ihr ihre Autonomie und Macht neidet, daß er ihre Überlegenheit und Souveränität nicht anerkennen will. Selbst beim weniger hochmütigen Menschen trifft es oft zu, daß er die Wahrheit zumindest dann haßt, wenn sie ihren Ruf an ihn richtet und in Konflikt mit dem tritt, was er an ihrer Stelle liebt. Ganz besonders wird er die Wahrheit hassen, wenn sie ihm Vorwürfe macht und das Übel seiner eigenen Einstellung offenbart, wenn sie, wie Augustinus sagt, „ihn selbst offenbart“. 3. Drittens ist der Wille zur Unwahrheit in seiner schlimmsten Form vorhanden, wenn er sich als prinzipieller Wille zur Täuschung, zur Verdrehung der Wahrheit, zur Umwertung aller Werte oder als reiner Wille zur Lüge offenbart. Denn ein so verstandener Wille zur Macht haßt die Wahrheit nicht bloß und erkennt sie auch nicht einmal in seiner Auflehnung gegen sie an. Vielmehr will er sie sich selber unterwerfen, untertan machen und eine eigene Antiwahrheit schaffen. Vielleicht findet dieser Wille seinen ungeschminktesten Ausdruck in einem Nietzsche-Wort gegen den Willen zur Wahrheit und einem Gedicht über den Jägergott aus dem Zarathustra,39 in dem der Mensch die Aufforderung, sich der in Gott verkörperten Wahrheit ganz hinzugeben, mit dem Aufschrei „ergib …. Mir dich!“ beantwortet, oder im Wort Zarathustras: Aber daß ich euch ganz mein Herz offenbare, ihr Freunde: wenn es Götter gäbe, wie hielte ich’s aus, kein Gott zu sein! Also gibt es keine Götter.

39

(Hrsg.), Ethik der Tugenden. Menschliche Grundhaltungen als unverzichtbarer Bestandteil moralischen Handelns. Festschrift für Joachim Piegsa zum 70. Geburtstag, 311-360. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, IV, Der Zauberer 1. In: Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. v. K. Schlechta (München: C. Hanser, 1966), Band. II, S. 491-494.

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Prolegomena Wohl zog ich den Schluß: nun aber zieht er mich.40

So wird Nietzsches Philosophie und fiktionalistische oder auch pragmatisch-vitalistische Theorie der Wahrheit, der gemäß Wahrheit nur ist, was dem Wollen zur Macht oder dem Leben dient und Wahrheit gar nicht einen grundlegenden Wert darstellt, zutiefst durch seine Grundhaltung bestimmt, die an die Stelle der Suche nach Wahrheit einen Willen zur Macht setzt. Wir sehen also, wie sehr die philosophischen Antworten auf die Frage nach dem Wesen der Wahrheit und die Philosophie überhaupt an tiefster Stelle deshalb keinen Konsens finden, weil diese Erkenntnisse an moralische Bedingungen geknüpft sind, die viele Philosophen nicht erfüllen mögen. Auch Scheler hat auf diese moralische Dimension und Voraussetzung der Philosophie eindringlich hingewiesen.41 Wir sind davon ausgegangen, daß der Mangel an Konsens ein Grund dafür ist, die Wissenschaftlichkeit der Philosophie oder sogar die Existenz von Wahrheit überhaupt und ihre philosophische Erkennbarkeit zu bezweifeln. Daß dieser Grund skeptischen Zweifels unbegründet ist, geht nicht nur aus der Einsicht in die moralischen Bedingungen der Philosophie hervor, die es mit sich bringen, daß selbst die einleuchtendste Darlegung und Erkenntnis des Wesens der Wahrheit abgelehnt und durch falsche und absurde Wahrheitstheorien ersetzt werden kann. Es geht noch deutlicher aus dem Nachweis hervor, daß selbst die radikalste Bezweiflung und Leugnung von Wahrheit, wie wir sie bei Friedrich Nietzsche finden, immer noch Wahrheit und viele echte Einsichten in ihr Wesen voraussetzt. Deshalb sind ein radikaler Skeptizismus oder Relativismus in Form eines universalen Zweifels oder einer Verwerfung oder Relativierung der Wahrheit keine gültigen Schlüsse aus dem mangelnden universalen Konsens in der Philosophie, weil jeder solcher Skeptizismus oder Relativismus schon wieder unbezweifelbare und absolute Wahrheit voraussetzt. 40 41

Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra II, „Auf den glückseligen Inseln“. Vgl. Max Scheler, „Vom Wesen der Philosophie. Der philosophische Aufschwung und die moralischen Vorbedingungen“, in: Max Scheler, Vom Ewigen im Menschen (Erkenntnislehre und Metaphysik), Schriften aus dem Nachlass Band II, herausgegeben mit einem Anhang von Manfred S. Frings (Bern: Francke Verlag, 1979), S. 61-99.

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3. Schlußbemerkungen über die Rolle der Wahrheit für menschliches Denken, Handeln und Leben und über fünf Grundbedeutungen von Wahrheit und die Aufgabe dieses Buches Kehren wir zu jenen schlichteren und nur mittelbar so dramatischen Fragen zurück, die Gegenstand unserer Untersuchungen sein werden: Was meinen wir mit Wahrheit und was ist sie? Und wie läßt sich ihr Wesen erkennen und Erkenntniswahrheit begründen? Wir möchten diese Fragen hier nur knapp skizzieren und erst im folgenden in ihrer Allgemeinheit stellen und zu beantworten suchen. Von Wahrheit kann in ganz verschiedenen Bedeutungen gesprochen werden. Fünf Grundbedeutungen von Wahrheit, von denen insbesondere die ersten drei uns im folgenden beschäftigen sollen,42 sind gewiß nicht erschöpfend, aber sie decken doch die wichtigsten Grunddimensionen, die man als Wahrheit bezeichnen kann: 1. Ontologische Wahrheit oder Wahrheit des Seins; 2. die Wahrheit des Erkennens, die nicht mit Urteilswahrheit zusammenfällt. 3. Urteilswahrheit, auch logische Wahrheit genannt. („Logische Wahrheit“ ist dabei der weitere Begriff, weil wir nicht ausschließlich die Urteilswahrheit als logische Wahrheit bezeichnen können, sondern etwa auch von der Wahrheit der Definitionen oder Begriffe sprechen können);43 4. Wahrheit des Lebens und insbesondere sittliche Wahrheit;44 5. Wahrheit der Kunst Im folgenden sollen die ersten drei dieser Bedeutungen und Dimensio42

43

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In deren Kontext wird auch von den anderen Bedeutungen der Wahrheit die Rede sein. In diesem weiteren Sinne fallen auch die Wahrheit der Theorien oder Modelle in den Bereich der Urteilswahrheit und können im Sinne der folgenden Erörterungen nicht von ihm getrennt werden, wie Menne vorschlägt. Vgl. Albert Menne, “What is truth?”, Ratio (Juni 1974), 16, 68-75. Der Ausdruck Wahrheit des Lebens (veritas vitae) kommt in unzähligen Variationen in der mittelalterlichen philosophischen Literatur vor, etwa bei Thomas von Aquin, Bonaventura und Duns Scotus. Vgl. etwa Thomas von Aquin In Libros Sent., In IV Sent., d. 46, q. 1, a. 1C, RA 3.

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Prolegomena

nen von Wahrheit in systematischer Form erforscht werden, im Folgeband Der Streit um die Wahrheit insbesondere die dritte, und zwar in kritischem Dialog mit zeitgenössischen Wahrheitstheorien und in dem Bewußtsein, daß es nicht darum geht, für irgendeine Wahrheitstheorie Partei zu ergreifen oder gar eine bloße Wahrheitstheorie zu konstruieren, sondern die Wahrheit über die Wahrheit, das wahre Wesen der Wahrheit, zu erkennen so wie es wirklich ist, was im vorliegenden Buch in friedlicher, schlicht systematischer Weise geschehen soll, im Folgeband Der Streit um die Wahrheit hingegen in einer durch das Feuer der Gigantomachie, die um die Wahrheit tobt, durchgehenden dialektischen Weise, welche das Wesen der Wahrheit in der scharfen Auseinandersetzung mit jener großen Überzahl von Theorien herauszuarbeiten sucht, welche dieses objektive Wesen der Wahrheit leugnen, verfälschen, umdeuten, oder in einer Weise positiv ausdeuten, welche äußerlich bleibt und ihm nicht gerecht wird. Daß es über das Wesen der Wahrheit Wahrheit gibt, daß wir das Wesen der Wahrheit in rigorosen wissenschaftlichen philosophischen Erkenntnissen erfassen und nicht nur in subjektiven Meinungen anzielen oder gar nur nach eigenem Gutdünken konstruieren können, läßt sich nicht durch verbale Behauptungen, sondern nur durch die geistige Tat einer präzisen und kritischen Analyse dessen nachweisen, was Wahrheit ist, kraft deren der Charakter der Philosophie als einer strengen, ja als der strengsten Wissenschaft, die sich auf unbezweifelbar wahre Evidenzen stützt, hervortritt. Von einer solchen sachlichen Untersuchung der Wahrheit her wird sich sowohl zeigen, daß es unerläßlich ist, den exakten und zugleich überaus vielfältigen Sinn der Seinswahrheit und der Wahrheit des Erkenntnisaktes sowie des logischen objektiven Urteils neu herauszuarbeiten, um das Mirandum der Wahrheit mit neuer Frische und Präzision zu fassen, als auch, daß eine solche neue und streng phänomenologische Untersuchung über die Wahrheit keineswegs zu einer radikal neuen und nie dagewesenen Wahrheitsauffassung oder Verwerfung der klassischen Korrespondenzoder Adäquationstheorie der Wahrheit als einem Irrweg oder einer Verfälschung des ursprünglichen Wesens der Wahrheit führt, wie Heidegger meinte. Vielmehr zeigt eine solche Untersuchung und neue Herausarbeitung der eigentümlichen „Entsprechung“ zwischen intellectus und res, zwischen Geist und Sein, Urteil und Sachverhalt, daß die Adäquationslehre

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der Wahrheit keineswegs überholt ist, sondern sich im kritischen Eingehen auf die gültigen Einsichten, die in modernen Wahrheitstheorien stecken, ganz neu in ihrer unentthronbaren und überall, sogar in ihrer Leugnung, vorausgesetzten Bedeutung erweist. Diese vielschichtige und verschieden geartete adaequatio der Wahrheit muß jedoch aufgeklärt und neu erforscht werden, damit die wahre Auffassung dessen, was Wahrheit ist, nicht deshalb verworfen werde, weil sie unzureichend und irreführend dargestellt und begründet wurde. Obwohl wir die Frage nach der Wahrheit des Urteils, die Aussagewahrheit, in das Zentrum der Reflexionen dieser Prolegomena gestellt haben und im Folgeband Der Streit um die Wahrheit fast ausschließlich behandeln werden, so erschöpft die Urteilswahrheit doch keineswegs den Sinn von Wahrheit oder das, was zu Recht ‚Wahrheit‘ genannt wird. Wir werden zeigen, daß die Erkenntnis in einem ganz anderen Sinne wahr ist als das logische Urteilsgebilde und daß dieser erkenntnisspezifische Sinn von Wahrheit in sich und für alle Bereiche der Philosophie und Wissenschaft von absolut grundlegender Bedeutung ist. Auch liegt aller Urteilswahrheit und adaequatio, so fundamental ihre Bedeutung auch ist, ein noch ursprünglicherer Sinn von Wahrheit – der der Wahrheit des Seins selber – zugrunde, dem wir uns wegen dieses seines alle Urteils- und Erkenntniswahrheit erst begründenden Charakters auch als erstes zuwenden möchten. Ja wir fühlen uns insbesondere dazu gehalten, durch eine neue Untersuchung neben der Wahrheit des Urteils und der Wahrheit des Erkennens diese „Wahrheit des Seins“, sowie die letzte Beziehung zwischen Wahrheit und Person, zu erhellen und durch eine phänomenologische Rückkehr zu den Sachen selbst aufzuklären.

KAPITEL 1 DIE WAHRHEIT DES SEINS UND WESENS – „ONTOLOGISCHE WAHRHEIT“ XE. !Ara tò Âlhjðinòn ÓntwV Òn lægwn? JÐEAI. ¿OútwV. FREMDER: Und meinst du unter dem Wahren das im eigentlichen Sinne Seiende?45 THEAITETOS: So meine ich es. Platon, Sophistes 240 b. “Omnes enim de veritate significationis loquuntur; veritatem vero quae est in rerum essentia, pauci considerant.” „Über die Wahrheit der Aussage reden alle. Wenige aber denken über die Wahrheit nach, die im Wesen der Dinge liegt.“ Anselm von Canterbury, Dialog über die Wahrheit, Kap. ix.

Wenden wir uns denn im Lichte dieser programmatisch unserem Kapitel vorangestellten Zitate als erstes dem heute so wenig beachteten, aber fundamentalen Problem der Wahrheit des Seins oder der Wahrheit der Dinge zu, dessen grundlegende Bedeutung insbesondere Platon und Thomas von Aquin erkannt haben und zu dem diese Denker tiefe Einsichten gewannen, welche der gegenwärtigen philosophischen Welt nicht länger fehlen sollten und als wichtige Teile der philosopia perennis, und damit der heute ebenso wie immer wahren Philosophie, wieder bewußt gemacht, aber zugleich neu erobert werden müssen. Es findet sich seit Jahrhunderten fast keine neuere Untersuchung zu diesem Problem außer Heideggers Philosophie der Wahrheit, die jedoch ohne klare Unterscheidungen von Seinswahrheit, Erkenntniswahrheit und Urteilswahrheit spricht und auf die wir wiederholt hinweisen und in Der Streit um die Wahrheit in einem eigenen Kapitel kritisch eingehen werden. 45

Der Ausdruck ÓntwV Òn ist schwer zu übersetzen. Man könnte, mit Schleiermacher diese platonische Wendung als „das wirklich Seiende“ übersetzen. Ich habe es vorgezogen, diesen eigentlich „das seiend Seiende“ bedeutenden Ausdruck als „das im eigentlichen Sinne Seiende“ zu übersetzen, da das, was wir wirklich nennen, nur Teil davon und auch nicht primär das ist, was Platon darunter versteht.

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KAPITEL 1

Nahezu sämtliche Abhandlungen über das Wahrheitsproblem sehen von der ontologischen Wahrheit ab, und selbst jene, die diese, oft nur in Form eines Postskriptums, behandeln, sprechen meist nur von der ontologischen Frage des Seins der (Urteils-)Wahrheit, der wir ein eigenes Kapitel widmen werden, nicht aber von der Wahrheit des Seins.46 Platon und Thomas von Aquin sind jene Denker, denen wir uns, wenngleich in verschiedenen Teilen dieses Kapitels, hinsichtlich dieses Themas in erster Linie verpflichtet fühlen, da wir ihnen wichtige Erkenntnisse verdanken.47 Im Sinne einer umfassenden philosophischen Erkenntnis, die 46

47

Vgl. etwa Heinz-Dieter Heckmann, Was ist Wahrheit? Eine systematisch-kritische Untersuchung philosophischer Wahrheitsmodelle (Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag, 1981), S. 188 ff. Die ausführliche Berücksichtigung Thomas von Aquins in diesem Kapitel hat auch den akzidentellen Grund, daß Teile dieses Kapitels auf eine Einleitung zurückgehen, die ich für eine damals geplante und inzwischen längst verwirklichte italienische Ausgabe der thomasischen Quaestiones disputatae de veritate vorbereitete. Da sich meine Arbeit allzulang hinzog, dachte der Herausgeber, ich hätte meine Zusage vergessen und, ohne mich weiter zu verständigen und mir eine Frist zu setzen (es war mir vordem gesagt worden, es gäbe keine Frist für die Fertigstellung der Einleitung), publizierte er den Band vor der Fertigstellung meiner Einführung, die zu einem kleinen Büchlein angewachsen war. Ich verdanke jedoch dieser Einladung eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Denken des Aquinaten als ich sie sonst in Angriff genommen hätte. Nachdem mich ein ganz andersartiger Grund, nämlich die heftigen Attacken „existentialistischer Thomisten“ und Anhänger Gilsons an der University of Dallas auf meinen, und jeden phänomenologischen, „Essentialismus“ zu jenen Forschungen gezwungen hatten, die mich, neben dem Studium des Hauptwerks von Edith Stein, Endliches und Ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinne des Seins in: Edith Steins Werke, Bd. II, Hrsg. L. Gerber, 2. Aufl. (Wien, 1962); 3. unver. Aufl. (Freiburg: Herder, 1986) zu einer tieferen Beschäftigung mit der thomasischen Philosophie der Existenz führten, welche in Sein und Wesen ihre Frucht brachten, motivierte mich die Einladung, eine Einleitung zur Publikation von De veritate zu schreiben, zu jener Begegnung einer phänomenologischen Philosophie der Wahrheit mit jener Thomas von Aquins, die eine wichtige Wurzel des gegenwärtigen Kapitels ist und die ich schon durch meine vorhergehende Beschäftigung mit Edith Steins Übersetzung der thomasischen Schrift über die Wahrheit begonnen hatte. In die folgenden Ausführungen über die ontologische Wahrheit brachte ich einen guten Teil der mich sehr inspierenden Arbeit über De veritate in Zusammenhang mit einer rein systematischen Erforschung des Wesens der

Die Wahrheit des Seins und Wesens – „Ontologische Wahrheit“

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immer auch ein volles Einbeziehen der Erkenntnisse unserer Vorgänger verlangt, versuche ich jedoch, auch die wichtigen aristotelischen Beiträge sowie die großen Intuitionen Augustins und anderer Denker der platonischaugustinischen Tradition, die ich ebenfalls für unverzichtbare Beiträge zur Erforschung der Wahrheit des Seins halte, voll einzubeziehen und zu zeigen, daß eine Erforschung der Wahrheit des Seins allen früheren Beiträgen voll Rechnung tragen und zugleich aus dem eigenen Sachkontakt heraus weitergehen muß. In diesem Sinne ist sicher die Wahrheit „das Ganze.“ Doch kann eine solche Synthese der Ergebnisse von einander ergänzenden und vielleicht sogar in ihren Grundlinien gegensätzlichen Philosophien und Denkschulen nur dann gelingen, wenn man zu den Sachen selbst zurückkehrt und nichts Anderes im Auge hat, als allen Gegebenheiten, die sich vom Sein selber her zeigen, und all dem Wahren, das von jedem Philosophen, der über die Wahrheit philosophiert hat, gesehen wurde, gerecht zu werden, nicht um einer Synthese, sondern um des symphonischen Charakters der Wahrheit willen.48 In diesem Sinne verstehe man ontologischen Wahrheit und freue mich (in großer Dankbarkeit für die vielen Einsichten und Unterscheidungen, die aus dieser Beschäftigung mit Thomas positiv inspiriert oder dialektisch kritisch motiviert wurden), einen Teil der Philosophie Thomas von Aquins zu würdigen, den ich, neben seiner Philosophie über Sein und Wesen, für den vielleicht tiefsinnigsten und originellsten in seinem Werk halte: seine Philosophie der Wahrheit des Seins. Doch wie bereits gesagt, ist das Ziel dieses Kapitels in keiner Weise eine Darstellung seiner Gedanken, sondern eine genaue Erforschung der Sachen selbst, ganz im Sinne der Bestimmung der Aufgabe des Philosophen durch den Aquinaten selber: Thomas Aquinas, De Coelo et Mundo, I, 22, no 9: Studium philosophiae non est ad hoc quod sciatur quod homines senserint, sed qualiter se habeat veritas rerum. Das Studium der Philosoph zielt nicht darauf ab zu wissen, was die Meinungen der Menschen waren, sondern wie sich die Wahrheit der Dinge verhält. 48

Vgl. Hans Urs von Baltasar, Die Wahrheit ist symphonisch (Einsiedeln: Johannes Verlag, 1972); Truth Is Symphonic (San Francisco: Ignatius Press, 1987); Vgl. Die hochphilosophische Einleitung zu dem klassischen theologischen werk des HegelSchülers Johann Adam Möhler, Symbolik oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten nach ihren öffentlichen Bekenntnisschriften, hrsg., eingel. u. komm. v. Josef Rupert Geiselmann (Köln & Olten:

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KAPITEL 1

die folgenden Ausführungen über die vielen Bedeutungen und Urgegebenheiten, auf welche der Ausdruck „Wahrheit des Seins“ abzielt und über die hinaus wir neben dem schon eroberten Gebieten der Erkenntnis über die Wahrheit noch viele weitere hinzugewinnen sollten. Dabei soll neben den intrinsischen Bedeutungen oder Formen ontologischer Wahrheit besonders die grundlegende Rolle der „Wahrheit des Seins“ als Fundament der Wahrheit der Erkenntnis und der klassischen Adäquationstheorie der Wahrheit herausgearbeitet und durch eine phänomenologische Rückkehr zu den Sachen selbst neu geklärt werden. Von einer solchen sachlichen Untersuchung der Seinswahrheit her soll dann in den darauffolgenden Kapiteln auch gezeigt werden, daß die Adäquationslehre der Wahrheit weder als Theorie der Erkenntniswahrheit noch als eine der logischen Wahrheit, noch die Suche nach deren ontologischem Fundament, überholt sind, sondern daß sich vielmehr im kritischen Eingehen auf die gültigen Einsichten, die in alten und modernen Beiträgen zu einer Philosophie der Wahrheit stecken, Wahrheit in ihrem ontologischen Sinne und im Sinne der klassischen Adäquationslehre ganz neu in ihrer Bedeutung und auch in ihrem Potential zur Kritik alternativer moderner Wahrheitstheorien erweist. Zugleich wird deutlich werden, daß die hergebrachten Ausdrücke der Korrespondenz und Adäquation eine ungeheure Vielfalt grundlegend verschiedener Gegebenheiten verbergen, die einer ganz neuen philosophischen Erforschung bedürfen und daß es in keiner Weise genügt, Begriffe wie „Unverborgenheit“, „Entbergung“ oder „Entdeckendsein des Daseins“ der Wahrheit als Richtigkeit entgegenzusetzen oder gar diese in ihrer Bedeutung herabzusetzen, um der Fülle der grundlegend verschiedenen Dinge gerecht zu werden, die wir Wahrheit nennen. “Omne ens est verum”, „jedes Seiende ist wahr“, oder “omnis res est vera et nulla res est falsa”49, „jedes Ding ist wahr und kein Ding ist

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Verlag Jakob Hegner, 1958). Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica, in: Opera omnia (ut sunt in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), vol. III, Ia Pars, Q. 16, a. 2, co. Vgl. Auch Quaestiones disputatae de veritate, in: Opera omnia (ut sunt in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), vol. III, S. 1-186, Q. 1, a. 10, co.

Die Wahrheit des Seins und Wesens – „Ontologische Wahrheit“

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falsch“, lehrten die mittelalterlichen Philosophen, und von Platon und Aristoteles an über Franz Brentano bis zur Gegenwart hat man auch vom „Seienden als dem Wahren“ sowie von dem „wahrhaft Seienden“ oder sogar vom „wahrsten Sein“ gesprochen.50 Man nennt diese Wahrheit der Dinge auch „ontologische Wahrheit“ und versteht unter diesem Begriff sehr Verschiedenes, was es sorgfältig auseinanderzuhalten gilt. „Ontologische Wahrheit“ ist gewiß ein Begriff, der, wie Josef Pieper in seinem Buch Wahrheit der Dinge hervorhebt,51 heutzutage nicht ohne weiteres, ja fast gar nicht mehr verständlich ist – was tatsächlich auf eine Mehrzahl zeitgenössischer Philosophen zutrifft, auch wenn es neben Heidegger eine Reihe von anderen Denkern gibt, die die Idee einer Seins50

51

So etwa Platon, Theaitetos 186 ff.; Vgl. auch ders., Philebos 58 a, und 59, wo von dem „wahrhaft Seienden“ die Rede ist, sowie zahlreiche andere Stellen, etwa Phaidon 63, wo von den „wahrhaft weisen“ Männern, aber auch den „wahrhaft philosophischen“ usf. die Rede ist, oder ebd., 67 a; Ebd., 109 e-110a ist vom „wahren Himmel“, dem „wahren Licht“ und der „wahren Erde“ die Rede. Im Unterschied zu Aristoteles spricht Platon ungezählte Male von der Wahrheit des Seins und dem „wahrhaft Seienden“. In Timaios 39 e ist von dem „wahrhaft Seienden Lebendigen“ die Rede; im Phaidros 247 wird vom „wahrhaft seienden Wesen“, und vom „wahrhaft Seienden“ gesprochen, ebd. 248 einfach vom „Wahrhaften“, im Sophistes 234 vom „wahren Wesen“, und während Platon gewöhnlich das „wahrhaft Seiende“ nicht mit dem wirklich und lebendig seienden identifiziert, tut er dies im Sophistes, 248 c – 249 a. Auch Aristoteles sagt in seiner Metaphysik, am Schluß von Buch 2, 1, daß „das, was abgeleitete Wahrheiten wahr macht, ist am wahrsten. Deshalb müssen die Prinzipien ewiger Dinge immer wahr sein (denn sie sind nicht nur manchmal wahr, noch gibt es eine Ursache ihres Seins, sondern sie sind die Ursache des Seins anderer Dinge), sodaß wie jedes Seiende hinsichtlich seines Seins ist, so ist es auch hinsichtlich seiner Wahrheit.“ (meine Hervorhebung und Übersetzung). Franz Brentano im dritten Kapitel seiner Schrift Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles (Freiburg i.B., 1862; Neudruck Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1960). Vgl. auch David Farrell Krell, “On the manifold meaning of alétheia: Brentano, Aristotle, Heidegger,” Research in Phenomenology 5: 77-94 (1975). Siehe Josef Pieper, Das Seiende und das Sein; ders., Wahrheit der Dinge. Eine Untersuchung zur Anthropologie des Hochmittelalters (München, 19664). Vgl. auch H. Knittermeyer, Der Terminus transzendental in seiner historischen Entwicklung bis zu Kant. Siehe zur Einführung des Transzendentalienbegriffs und vor allem der reinen Vollkommenheit und der Entwicklung ihrer Erforschung bei Duns Scotus auch J. Seifert, Essere e persona, Kap. 5.

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KAPITEL 1

wahrheit weiterhin verteidigen, wenngleich sie untereinander sehr verschiedene Begriffe derselben haben.52 Doch ist tatsächlich der Begriff der ontologischen Wahrheit dem heutigen Menschen nicht mehr verständlich? Vielleicht gilt dies von einem theoretischen Begriff der Seinswahrheit, doch gilt es keineswegs von einem vorphilosophischen Verständnis derselben. Wenn man bedenkt, was dieser Begriff eigentlich aussagen möchte, ist er nicht so unverständlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen möchte. Dabei geht es im folgenden zunächst um den Versuch eines Aufweises der grundlegenden und nicht abgeleiteten Bedeutungen von Wahrheit, die im Begriff der Seinswahrheit bzw. ontologischen Wahrheit stecken. In diesem Zusammenhang unterscheidet sich noch ein positiver Sinn von Seinswahrheit von dem wichtigen, aber abgeleiteten Sinn von Wahrheit der Dinge, den Pieper als den einzigen zu bewahren scheint,53 und nach dem die Wahrheit der Dinge einfach darin bestünde, daß dieselben, wie übrigens auch das tatsächlich nicht-Seiende bzw., phänomenologisch präziser ausgedrückt, negative Sachverhalte, Gegenstand wahrer Urteile und Aussagen werden können. ‚Seinswahrheit‘ wäre dann nichts weiter als die Tatsache, daß alle ‚logische‘ Wahrheit, d.h. alle Wahrheit von Urteilen, sich auf Seiendes im weitesten Sinne bezieht, und daß dieses also die Voraussetzung für Wahrheit bildet, wie Thomas in De veritate sagt. Wollte man nur ein solches Verständnis ontologischer Wahrheit beibehalten, wäre das Seiende – jedenfalls nach Piepers Meinung, der wir widersprechen werden – nur in einem abgeleiteten und sekundären, nicht in einem formellen und ursprünglichen Sinne wahr. Dabei gilt es zu bedenken, daß wahre Urteile sich auch auf Nichtseiendes, also auf tatsächlich nicht seiende Dinge, beziehen können oder, wie Adolf Reinach in „Zur Theorie des negativen Urteils“ präziser ausführt, auf „negative Sachverhalte“.54 Wir 52

53 54

Vgl. etwa E. N. Platis, „Die Prolegomena zur Metaphysik von Panayotis Kanellopoulos,“ Philosophia (Athen), (1985-86), 15-16, 30-107. Siehe J. Pieper, Wahrheit der Dinge, ebd. Diesen Gedanken finden wir in anderer Form auch bei Thomas von Aquin in De ente et essentia, wo Thomas ausdrücklich betont, daß vom Sein in zwei Grundbedeutungen gesprochen werden kann, einmal in dem Sinne, in dem es in die 10 Kategorien als oberste Seinsweisen zerfalle, ein anderes Mal in jenem Sinne, in dem es jedem wahren Urteil entspreche und auch Privationen und (ontische)

Die Wahrheit des Seins und Wesens – „Ontologische Wahrheit“

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werden im dritten Kapitel sehen, daß ohne eine sorgfältige Analyse und Herausarbeitung der Seinsform der Sachverhalte keine überzeugende Antwort auf die vielen Kritiken der Korrespondenztheorie (Adäquationstheorie) der Wahrheit möglich ist. So zentral wichtig dieser Sinn von Seinswahrheit auch ist, so dünkt er uns doch nicht der einzige und wichtigste. Diesen erblicken wir vielmehr in einem inneren Gehalt des Seienden und des Seins, der uns das ens selber als wahres erschließt. Doch wird dies deutlicher hervortreten, wenn wir im folgenden sieben tief verschiedene Grundbedeutungen von ontologischer Wahrheit unterscheiden, innerhalb derer wir noch eine Reihe weiterer Unterscheidungen treffen müssen, um von dieser differenzierten Sicht der Dinge aus dann zur inneren Einheit und den Verbindungen der verschiedenen Dimensionen und Arten ontologischer Wahrheit vordringen zu können.55 Was also ist diese Wahrheit des Seins selber? Auf diese Frage werden wir im folgenden eingehen und in ihrer Beantwortung darzulegen suchen, daß auch in diesem rein ontologischen Sinn der Wahrheit noch einmal ein allgemeinster und im klassischen und mittelalterlichen Sinne „transzen-

55

Negationen (also so etwas wie „negative Sachverhalte“) umfasse. Derselbe Gedanke, daß wahre Urteile sich oft auf Nichtseiendes beziehe, liegt, wie wir sehen werden, Brentanos Kritik an der klassischen Adäquationslehre zugrunde und scheint ihm die These zu bestätigen, daß Wahrheit nicht als Übereinstimmung zwischen Urteil und Sein definiert werden darf. Wenn man von seinem Relativismus und seiner Homo Mensura These absieht, hat auch der antike Sophist Protagoras denselben umfassenden Seinsbegriff im Auge, wenn er sagt, der Mensch sei das Maß aller Dinge, „der seienden, daß sie sind und der nicht seienden, daß sie nicht sind“. In dem unter Anführungszeichen gesetzten Teil des protagoräischen Satzes weist derselbe genau darauf hin, worauf wahre Urteile sich beziehen und daß ihre Wahrheit darin besteht, daß sie von dem, was ist, sagen, daß es ist und von dem, was nicht ist, daß es nicht ist. Siehe dazu auch Platon, Theaitetos und Sophistes. Ganz ähnlich bestimmt Aristoteles die Wahrheit im Organon. Thomas von Aquin spricht von der Wahrheit in dreifachem Sinne: als einer Eigenschaft der Dinge selbst, dem Fundament der Wahrheit der Aussage, als der Übereinstimmung zwischen Sein und Intellekt, worin formell die ratio veri, das Wesen der Urteilswahrheit, liege, und schließlich als Wirkung von Wahrheit. So erkennt Thomas auch in der Wahrheit des Seins selbst einen wichtigen Sinn von Wahrheit.

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KAPITEL 1

dentaler“ Begriff und mehrere sehr verschiedene spezielle Bedeutungen von ontologischer Wahrheit zu unterscheiden sind. Unter „transzendental“ sind hier zunächst jene Proprietäten und Prinzipien gemeint, die allem Seienden im weitesten Sinne und als solchem zukommen.56 Während jedoch eine wichtige, von Thomas übernommene Unterscheidung das verum (das Wahre) als ein relationales transcendentale, also als wesenhaft relationale Eigenschaft alles Seienden bezeichnet und den intrinsischen Transzendentalien wie dem ens (dem Seienden) selber oder der res, dem Wesen, gegenüberstellt, versuche ich zunächst zu zeigen, daß in einigen ihrer Bedeutungen die ontologische Wahrheit, das verum, auch das Seiende in sich selber kennzeichnet. Ich werde also zunächst die intrinsischen Eigenschaften des Seins untersuchen, die man als ihre Wahrheit bezeichnen kann.

56

Wir werden sehen, daß die dritte Grundbedeutung von ontologischer Wahrheit ebenfalls eine „transzendentale“ Eigenschaft des Seins ist, die wesenhaft relational und daher ganz anders geartet ist als die innere transzendentale Wahrheit des Seins.

Die Wahrheit des Seins und Wesens – „Ontologische Wahrheit“

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I. SEINSWAHRHEIT „IN DEN DINGEN“ (INTRINSISCHER SINN VON ONTOLOGISCHER WAHRHEIT)

1. Seinswahrheit als „wahrhaftes Sein des Seienden“ – Vier rein ontologische Bedeutungen des Axioms “ens et verum convertuntur” und eine Lehre vom ‚verum‘ als transcendentale in se

Res... quae est aliquid positivum extra animam, habet aliquid in se, unde vera dici possit. Das Seiende,... das etwas Positives jenseits der Seele ist, besitzt in sich etwas, weswegen es wahr genannt werden kann. Thomas von Aquin, De veritate Q.I a.5

1.1. Das Wahre als mit dem Seienden identisch (allgemeinster rein ontologischer Sinn von „ontologischer Wahrheit“). „Die Wahrheit ist (einfach) das, was ist“ – die Unzurückführbarkeit der Seinswahrheit auf die ersten ontologischen Prinzipien, die aber notwendige Korrelate der „rein ontologischen Wahrheit“ im allgemeinsten (transzendentalen) Sinn sind: Kritiken der Kritiken des Begriffs der ontologischen Wahrheit „Die Wahrheit ist (einfach) das, was ist.“ Augustinus, Soliloquia, Kap. 5.

In seinem magistralen Werk Quaestiones disputatae de veritate bezieht sich Thomas von Aquin zunächst auf eine Definition von „ontologischer Wahrheit“, die Augustins Soliloquien entstammt, die sich aber gleichfalls in Avicenna’s (Ibn SƯnƗ’s) Metaphysik findet und die Josef Pieper sehr hart kritisiert.57 Thomas von Aquin führt sie gleich zu Beginn von De veritate 57

Vgl. Augstinus, Soliloquia; Avicenna (Ibn SƯnƗ), Metafisica. La scienza delle cose divine. Testo arabe di fronte, testo latino in nota, dreisprachige Ausgabe (arabisch, lateinisch, italienisch), hrsg. Und übers.v. V. Olga Lizzini, Vorwort von Pasquale Porro, Il Pensiero occidentale, Dirett. Giovanni Reale, in Zusammenarbeit mit dem Platon-Institut der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein (Milano: Bompiani, 2002). Siehe J. Pieper, Wahrheit der Dinge, a.a.O., Kap. iv, 1, S. 75 ff. Er gewinnt dieser Definition ihren positiven Sinn nicht ab, obwohl er selbst Thomas’ Interpretation derselben zitiert.

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an: „Die Wahrheit ist (einfach) das, was ist.“58 Avicenna (Ibn SƯnƗ) definiert: „Die Wahrheit eines jeden Dinges ist eine Eigentümlichkeit seines Seins (proprietas sui esse) und dessen, was ist“. 59 Thomas von Aquin läßt diese Definition als gültige Definition zu, sagt aber, daß sie nicht eigentlich die ratio der Wahrheit ausdrücke, daß sie nicht eigentlich das, was wahr ist, selbst definiere oder bestimme, sondern daß sie sich vielmehr auf den Gegenstand des Wahren, vor allem des wahren Urteils, beziehe und also die ontologische Grundlage der Wahrheit anziele. Hier liegt ein Begriff von Seinswahrheit zugrunde, der eigentlich nur die Wahrheit der Aussage als ratio der Wahrheit anerkennt, aber dem Sein insofern Wahrheit zuschreibt, als es Grundlage der Wahrheit der Aussage ist, Ermöglichungsgrund der Urteilswahrheit. Wie wir sehen werden, versteht aber Thomas von Aquin selbst die ontologische Wahrheit der Dinge noch in anderen Weisen. Während damit bei Thomas ein berechtigter Sinn zugelassen wird, in dem die Wahrheit der Dinge als Fundament der Urteilswahrheit behauptet werden darf, übt Thomas Hobbes mit vielen anderen Denkern pauschale Kritik an dieser Wahrheitsdefinition, wenn er sagt, Veritas enim in dicto, non in re consistit (denn Wahrheit liegt in der Aussage, nicht im Ding), und den Begriff der ontologischen Wahrheit als pueril und müßig abweist,60 wobei er sich freilich auf gewisse Texte von Aristoteles oder Thomas von Aquin berufen könnte.61 Ähnliches gilt von Spinoza,62 wenn 58

Augustinus, Soliloquia, Kap. 5. Der volle Text Thomas von Aquins unterstreicht die in der augustinischen Formulierung liegende Gleichsetzung des Wahren mit dem Seienden noch ausdrücklicher (Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, Q. 1, a. 1.): Augustinus in libro Soliloqui dicit quod verum est id quod est. Sed id quod est nihil est nisi ens; ergo verum significat omnino idem quod ens. Verum est id quod est.

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Siehe Avicenna, Metaphysik, VIII, 6; Metafisica. La scienza delle cose divine. Siehe T. Hobbes, Logica III, 7. Aristoteles sagt, das Wahre und Falsche bestehe nicht in den Dingen und Thomas kommentiert diese Stelle zustimmend. Thomas von Aquin, In Libros Metaphysicorum, Lib. 6, Lectio 4, 1 ff.; 14. Könne man dennoch manchmal Dinge wahr oder falsch nennen, so sei dies nur im Hinblick auf das Urteil, das sie nahelegen, möglich. Hier vergißt Thomas m.E. viele der Einsichten in den Sinn ontologischer Wahrheit, die er an anderer Stelle gewinnt z.B. auch jene, die er in seinem Kommentar über den Liber de causis

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dieser auch die objektive Intelligibilität der Wesen anerkennt. Auch Kant weist den Begriff der ontologischen Wahrheit als steril und tautologisch zurück, indem er ihn überdies vierfach mißversteht:63 (1) Einmal verwechselt Kant das „omne ens est verum“ (alles Seiende ist wahr) mit dem Satz der Identität: „Jedes Seiende ist mit sich selbst identisch“. In Wirklichkeit aber ist der Satz der Identität jeden Dinges mit sich, der freilich eines der Grundprinzipien des Seins und damit auch der Seinswahrheit ist, dennoch ganz verschieden von dem Satze, daß jedes Seiende wahr ist, also ontologische Wahrheit besitze – in ihren ganz verschiedenen und noch zu untersuchenden Bedeutungen.

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gewinnt: Thomas von Aquin, In librum de causis, Prooemium. Dort erscheint also gerade, übrigens auch im Sinne der aristotelischen Aussage, jedes Ding verhalte sich zur Wahrheit ebenso wie zum Sein, gerade den Seienden in einem primären Sinne Wahrheit zugesprochen zu werden, wobei freilich die Bedeutung des Wortes Wahrheit eine ganz andere ist. Es ist eine Teilaufgabe des vorliegenden Buches, diese nicht in echten systematischen Einklang gebrachten und scheinbar widersprüchlichen Behauptungen von Aristoteles und Thomas hinsichtlich der echten, in ihnen enthaltenen Einsichten zu untersuchen und in einer systematischen Philosophie der Wahrheit zusammenzuführen. Siehe B. Spinoza, De uno, vero et bono, I, 6. Immanuel Kant, Vorlesungen über die Metaphysik (Pölitz) PM 42: PM42 Es ist eine alte scholastische Lehre: quodlibet ens est unum, verum, bonum seu perfectum. 1) Ein jedes Ding ist einig; 2) Ein jedes Ding ist wahr. Dem Dinge Wahrheit beizulegen, ist wider den Redegebrauch;

Vgl. ders., Kritik der reinen Vernunft, B 113: Diese trägt der unter den Scholastikern so berufene Satz vor: quodlibet ens est unum, verum, bonum. Ob nun zwar der Gebrauch dieses Princips in Absicht auf die Folgerungen (die lauter tautologische Sätze gaben) sehr kümmerlich ausfiel, so daß man es auch in neueren Zeiten beinahe nur ehrenhalber in der Metaphysik aufzustellen pflegt, so verdient doch ein Gedanke, der sich so lange Zeit erhalten hat, so leer er auch zu sein scheint, immer eine Untersuchung seines Ursprungs und berechtigt zur Vermuthung, daß er in irgend einer Verstandesregel seinen Grund habe, der nur, wie es oft geschieht, falsch gedolmetscht worden.

Vgl. Immanuel Kant, Vorlesungen über die Metaphysik (Pölitz) PM 42 ff. Vgl. dazu ferner ders., Nova dilucidatio I389 ff., K16-17, sowie ders., Logik, IX, 52-53, sowie J. Pieper, Wahrheit der Dinge, a.a.O., Kap. 1, S. 19, und Anm. 19, S. 118.

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(2) Sodann hält Kant den Satz der Identität für analytisch.64 Als Grundgesetz aber, das die Wahrheit analytischer Urteile erst begründet, kann das Identitätsprinzip nicht selber analytisch bzw. tautologisch sein. Denn analytische Sätze können nur durch ihren Bezug zum Identitätsprinzip, über das sie nicht hinausgehen und in dem sie gründen, als analytisch definiert werden. Gerade aus diesem Grunde, daß das Identitätsprinzip den Bezugspunkt zur Rede von analytischen Urteilen ausmacht, kann es nicht selber analytisch sein, wenn die Definition nicht zirkulär sein soll. Die Analytizität des Identitätsprinzips anzunehmen ist aber nicht nur deshalb ein Irrtum, weil das Identitätsprinzip – als allen tautologischen Urteilen, die nur durch ihren Bezug zu diesem Identitätsprinzip analytische Urteile sind, zugrundeliegendes Prinzip – nicht selber analytisch sein kann. Beim Identitätsprinzip handelt es sich vielmehr auch evidentermaßen um einen sachhaltigen Satz, der keineswegs bloß aus einer (ohnehin unmöglichen) begrifflichen Definition von „Sein“, sondern aus dessen von seinem Begriff ganz verschiedenen Wesen folgt und deshalb nicht analytisch ist. Gerade daraus nämlich folgt die Analytizität und der hohle, tautologische Charakter von analytischen Sätzen, daß man unter dem Anschein von etwas Neuem nur diesen Satz wieder und wieder anwendet: „Greise (d.h. als alt definierte Männer) sind notwendig alt“, „blau ist blau“, usf. Dieser Satz selber jedoch, daß jedes Seiende, gleich welcher Kategorie, mit sich identisch sein muß, also „es selber (und nichts anderes) ist“, ist keineswegs nur seine eigene tautologische Anwendung, sondern formuliert ein grundlegendes Seinsprinzip. Das Identitätsprinzip im ontologischen Sinne trifft im übrigen nicht schlechtweg in jeder Hinsicht auf alle Seinsmodi zu, woraus erneut der nicht-tautologische Charakter des Identitätsprinzips hervortritt: Denn weder der Satz vom Widerspruch noch der von der Identität und schon gar nicht der vom ausgeschlossenen Dritten können in ihrem strikten Sinne auf die rein intentionalen Gegenständlichkeiten und insbesondere 64

Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft B 408: 3) Der Satz der Identität meiner selbst bei allem Mannigfaltigen, dessen ich mir bewußt bin, ist ein eben so wohl in den Begriffen selbst liegender, mithin analytischer Satz;

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die abgeleiteten rein intentionalen, rein gedachten Gegenstände, angewendet werden. Denn diese rein intentionalen Gegenstände, etwa in absurder Dichtung, oder auch schon bei Homer (nach dem Prinzip „nonnumquam dormit Homerus“, ein geflügeltes Wort, das meint, daß in Homers Ilias schon gestorbene Helden gleichzeitig wieder leben bzw. als lebend beschrieben werden) erlauben die Anwendung der ersten ontologischen Prinzipien des Seins nicht. Zunächst schon deshalb nicht, weil rein intentionale Gegenstände nicht durchwegs bestimmt sind und deshalb etwa Shakespeares Hamlet weder Schinken noch nicht Schinken zum Frühstück gegessen hat, weil Shakespeare, von dem das Sein Hamlets bestimmt ist bzw. der Text des Stücks, darüber schweigt.65 Auch kann jemand innerhalb der rein gedachten und begrifflich konstruierten Gegenstände den Begriff eines „viereckigen Kreises“ bilden, der weder mit sich identisch ist noch tatsächlich bestehen kann noch dem Widerspruchsprinzip gehorcht (weil er nicht viereckig ist, wenn er ein Kreis ist) – aber eben deswegen ausschließlich ein armseliges und ‚rein von Gnaden des Gedachtwerdens lebendes‘ ‚rein intentionales Sein‘ besitzt und niemals in die Welt des wirklichen oder des eigentlichen idealen Seins eintreten kann. Zwar ist es wahr, daß als Seiende bzw. als tatsächliche Gegenstände des Bewußtseins betrachtet, auch die rein intentionalen Gegenstände den ersten Seinsprinzipien unterworfen sind, und etwa entweder bestimmte intentionale Gegenstände sind oder nicht sind, entweder diesen Inhalt haben oder nicht. Jedoch können rein intentionale Gegenstände in ihrem Inhalt bzw. in den in ihnen vermeinten und oft widersprüchlichen „Sachverhalten“ und in anderer Weise in den in sich unbestimmten Aspekten oder „Unbestimmtheitsstellen“, die sie aufweisen, jenseits jenes Reiches des Seins liegen, auf das sich die obersten Seinsprinzipien anwenden lassen und so kann etwa der viereckige Kreis zugleich viereckig und nicht viereckig, rund und nicht rund sein, weder ein Frühstück Hamlets mit oder ohne Ei sein, etc. Insofern allerdings rein intentionale Gegenstände wiederum als in sich widersprüchlich erkannt werden, wendet sich das Widerspruchsprinzip doch wieder auf sie 65

Die von Ingarden in seinem Das literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung aus dem Grenzgebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft (Halle: Max Niemeyer, 1931), 3. Aufl., 1972 eingehend analysierten „Unbestimmtheitsstellen“ in den rein intentionalen Gegenständlichkeiten im literarischen Kunswerk haben bedeutende Auswirkungen auf die Logik.

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an und besagt, daß solche Gegenstände absurd und unmöglich, aus dem Reich des Wirklichen, Möglichen und Sinnvollen ausgeschlossen sind, usf.66 Die Tatsache ferner, daß dieses schlechthin universale Gesetz, daß jedes wirkliche oder authentisch ideale oder mögliche Seiende mit sich identisch ist, je nach der Natur des Seienden nur analog gilt und ganz verschieden angewendet werden muß, zeigt, daß es sich keineswegs um eine hohle Definitionsfrage bzw. um deren logische Implikation handelt. Es gilt nämlich das ontologische Identitätsprinzip für das zeitliche Seiende, das Plotin das „niemals mit sich identische Sein“ nennt, nur im selben Augenblick vollständig, nicht zu verschiedenen Zeiten, während zeitlose Gebilde wie Zahlen immer (zeitlos) mit sich identisch sind. Es kann ferner nur ein reales Seiendes, das eine individuelle und einmalige Identität besitzt, in neuem und wirklicherem Sinn mit sich identisch sein. Und innerhalb des realen Seienden kann nur ein substantielles und personales Subjekt in jenem grundlegend neuen Sinn mit sich identisch genannt werden, den wir „persönliche Identität“ nennen. Angesichts ihrer Zeitlichkeit, der Vergänglichkeit ihres Bewußtseinsstroms und der Wandelbarkeit ihrer Willensentschlüsse ist aber auch eine reale menschliche Person nur unvollkommen mit sich selber identisch. Nur ein ewig gegenwärtiges Seiendes kann volle Identität mit sich selber besitzen und die Ewigkeit Gottes wird von Plotin sogar durch diese vollkommene Identität definiert.67 Auch solche gewaltigen Abstufungen, ja jeweils ganz verschiedene Ordnungen und Dimensionen von Identität beweisen, daß dieses Prinzip keineswegs nur in einer Begriffsdefinition von Sein, sondern aus dessen von unseren Definitionen unabhängigem Wesen hervorgeht bzw. in der Natur der Sachen selber gründet.68 66

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Vgl. Josef Seifert, “El papel de las irrealidades para los principios de contradicción y de razón sufficiente”, Ibáñez-Martín, J.A. (coord.), Realidad e irrealidad. Estudios en homenaje al Profesor Antonio Millán-Puelles (Madrid: RIALP, 2001), S. 119-152. Vgl. Plotin, Über Ewigkeit und Zeit, Enneade III, 7. Übers., eingel. u. komm. von W. Beierwaltes (Frankfurt/M., 1967). Vgl. auch Josef Seifert, Essere e persona, Kap. 10. Siehe dazu D. von Hildebrand, Was ist Philosophie?, a.a.O., Kap. 4. Siehe auch J. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit2, Teil II, Kap. 2. Siehe auch F. Wenisch,

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(3) Drittens verwechselt Kant den ontologischen Satz der Identität mit dem logischen.69 Der sachhaltige Charakter des ontologischen Identitätsprinzips ergibt sich aber gerade auch aus dessen völliger Verschiedenheit vom logischen Satz der Identität, der zwar im ontologischen gründet, aber von diesem sehr verschieden ist. Während nämlich das ontologische Identitätsprinzip die Selbigkeit, das mit sich selber Identischsein jedes Seienden (zumindest im selben Augenblick) aussagt und deshalb gar nicht von der Wahrheit von Urteilen handelt, besagt das „logische Prinzip der Identität“, daß Urteile einer besonderen Art (affirmative Urteile der Identifikation, in denen Subjekt- und Prädikatbegriff identisch sind [wie „ein Mensch ist ein Mensch“] – oder hinsichtlich ihrer Struktur und begrifflichen Form von Subjekt- und Prädikatsbegriffen entsprechend modifizierte Urteile der Attribution, in denen die im Prädikatsbegriff dem Subjekt zugesprochene Eigenschaft bereits in der Definition des Subjektbegriffs enthalten ist wie „Alle Junggesellen [=alle unverheirateten Männer] sind unverheiratet“) notwendig wahr sind. Um den Unterschied zwischen logischem und ontologischem Identitätssatz zu begründen, muß dessen sachliche Verschiedenheit verstanden werden, worin sich wieder der nicht-analytische (nicht-tautologische) Charakter des Identitätsprinzips erweist. Denn der logische Satz der Identität hat nicht die Form „A ist A“,

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“Insight and Necessity”, a.a.O. Vgl. Immanuel Kant, Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze (1764), II294: Alle wahre Urtheile müssen entweder bejahend oder verneinend sein. Weil die Form einer jeden Bejahung darin besteht, daß etwas als ein Merkmal von einem Dinge, d.i. als einerlei mit dem Merkmale eines Dinges, vorgestellt werde, so ist ein jedes bejahende Urtheil wahr, wenn das Prädicat mit dem Subjecte identisch ist. Und da die Form einer jeden Verneinung darin besteht, daß etwas einem Dinge als widerstreitend vorgestellt werde, so ist ein verneinendes Urtheil wahr, wenn das Prädicat dem Subjecte widerspricht. Der Satz also, der das Wesen einer jeden Bejahung ausdrückt und mithin die oberste Formel aller bejahenden Urtheile enthält, heißt: Einem jeden Subjecte kommt ein Prädicat zu, welches ihm identisch ist. Dieses ist der Satz der Identität. Und da der Satz, welcher das Wesen aller Verneinung ausdrückt: keinem Subjecte kommt ein Prädicat zu, welches ihm widerspricht, der Satz des Widerspruchs ist, so ist dieser die erste Formel aller verneinenden Urtheile. Beide zusammen machen die oberste und allgemeine Grundsätze im formalen Verstande von der ganzen menschlichen Vernunft aus. Und hierin haben die meisten geirrt, daß sie dem Satz des Widerspruchs den Rang in Ansehung aller Wahrheiten eingeräumt haben, den er doch nur in Betracht der verneinenden hat. Es ist aber ein jeder Satz unerweislich, der unmittelbar unter einem dieser obersten Grundsätze gedacht wird, aber nicht anders gedacht werden kann.

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wie der ontologische Satz der Identität, der dadurch den Anschein der Analytizät erweckt (obgleich er dennoch nicht tautologisch ist, wie wir gesehen haben); vielmehr spricht der logische Satz der Identität von der Wahrheit aller Sätze einer bestimmten logischen Struktur, weshalb Prädikats- und Subjektsbegriff in ihm ganz verschieden sind, und macht überdies einige Voraussetzungen, welche ihn jedes Verdachts auf seinen tautologischen Charakter entheben.70 (4) Viertens nimmt Kant an, die notwendige Wahrheit des Identitätsprinzips folge einfach aus der vermeintlichen Tatsache, daß alle tautologischen und analytischen Sätze notwendig wahr seien. Nun ist zwar das Identitätsprinzip notwendig von allem realen Seienden und von allen wirklichen Sachverhalten sowie von allen idealen Wesenheiten sowie, in anderem Sinne, von allen möglichen Welten (Möglichkeiten) wahr, nicht aber von allen rein intentionalen Gegenständen und von allen begrifflichen und logischen Gebilden oder von allen unmöglichen Konstrukten. Von all diesen gilt das Identitätsprinzip nicht (oder nur, sofern auch diese Dinge als widerspruchsfreie ‚Seiende‘ genommen werden und ein ‚etwas‘ sind, nämlich etwa ein widerspruchsvoller Begriff oder rein intentionaler Gegenstand, nicht aber von dem in ihnen gemeinten absurden Gegenstand). Die Schlußfolgerung, daß das Identitätsprinzip und seine notwendige Wahrheit nicht daraus folgen können, daß dieses ein analytischer Satz sei, dürfen wir auch daraus ziehen, daß die notwendige Wahrheit des Identitätsprinzips nicht aus einer Definition und der rein logischen Struktur des Satzes der Identität erkannt werden kann, da analytisch-tautologische Sätze auch unter Umständen aus falschen oder widerspruchsvollen Definitionen gebildet werden und deshalb notwendig falsch sein können. Weil also nicht 70

Vgl. das beste Buch einer wirklich philosophischen Logik überhaupt (und eines der wenigen derartigen Werke der jüngeren Zeit, in der eine mathematisierende symbolische Logik, die – samt ihren Anwendungen – wenig mit Philosophie zu tun hat, die philosophische Logik weitgehend verdrängt hat): Alexander Pfänder, Logik, 4. Auflage, herausgegeben und eingeleitet v. Mariano Crespo. Philosophy and Realist Phenomenology. Studies of the International Academy for Philosophy in the Principality Liechtenstein. Universitätsverlag C. Winter Heidelberg Hrsg. v. Rocco Buttiglione und Josef Seifert, Philosophie und Realistische Phänomenologie, Studien der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein/, Bd. 10, (Heidelberg: Universitätsverlag Carl Winter, 2000).

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alle analytischen Sätze wahr sind, kann die notwendige Wahrheit des Identitätssatzes nicht daraus abgeleitet werden, daß es angeblich ein analytischer Satz ist. Ein viereckiger Kreis etwa ist nicht viereckig, weil, wenn er ein Kreis wäre, er gar nicht viereckig sein könnte und umgekehrt ist er auch nicht rund, wenn er doch viereckig sein soll. Um daher die Wahrheit des Identitätsprinzips einzusehen, ist ein Blick jenseits eines reinen logischen Formalismus in das rein ontologische und sachhaltige Identitätsgesetz und seinen Anwendungsbereich (nicht widersprüchlicher Gegenstände und Seiender aller Art) vonnöten. Kehren wir aber wieder zur bereits angesprochenen vielfältigen Kritik am Begriff einer „Seinswahrheit“ zurück, die neben der Kantischen auch viele andere Formen annimmt, in denen dem Begriff der ontologischen Wahrheit ein nutzloser, rein tautologischer, unbrauchbarer, oder bloß repetitiver Charakter zugesprochen wird. Man muß in scharfem Gegensatz zu einer derartigen Zurückweisung der Idee der ontologischen Wahrheit betonen, daß der Begriff der ontologischen Wahrheit nicht nur in der ihrem Range nach klassisch zu nennenden mittelalterlichen Philosophie ein wichtiger Wahrheitsbegriff, sondern auch ein uns durchaus geläufiger und überhaupt ein kaum verzichtbarer, vor allem aber ein von der Wahrheit selber geforderter Begriff ist. Um dies zu erkennen, können wir von einer gleichermaßen phänomenologischen und sprachanalytischen Beobachtung ausgehen.71 Auch heutzutage sagen wir oft: „Ist dieser Mensch, über den Ihr eine erhitzte Debatte führt, ein wahrer Mensch oder nur eine Romanfigur?“ oder: „Ist das eine wahre oder nur eine erfundene Begebenheit?“, oder, wie dies in dem Film Princess Bride eine zentrale Rolle spielt, „Ist das eine wahre Liebe? True Love?“. Und indem wir hier den Ausdruck „wahr“ verwenden, meinen wir natürlich nicht die Wahrheit eines Urteils, sondern wir meinen die Begebenheit, die Sache, die Liebe selbst, haben also einen Sinn von „Seinswahrheit“ im Auge. Dieser erste Begriff von ontologischer Wahrheit leidet vielleicht unter 71

Vgl. zu diesem Verständnis der Sprachanalyse für die Phänomenologie Balduin Schwarz, “The role of linguistic analysis in error analysis”, in: Proceedings of the American Catholic Philosophical Association 34 (1960), S. 127-132.

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dem Gebrechen, das Thomas von Aquin anführt, daß er nämlich noch nicht die ratio des Wahren bezeichnet, daß er nicht eigentlich das Besondere, das die Wahrheit vom Sein unterscheidet, geistig ins Auge faßt. Dennoch ist auch dieser Begriff von Wahrheit unverzichtbar. Indem wir nämlich von der Wahrheit des Seins sprechen, indem wir etwas, was ist, wahr nennen, werden wir nicht Opfer nichtssagender oder tautologischer Reden, wie Hobbes oder Kant meinen, noch ist er so unvernünftig wie eine bloße Wiederholung oder ein bloßes anderes Wort für „Sein“. Der nichttautologische Sinn dieser Wahrheitsdefinition leuchtet deutlicher ein, wenn wir uns fragen, was eigentlich mit diesem „Wahren“, das mit dem Seienden identifiziert wird, gemeint sein kann, und wenn wir in Beantwortung dieser Frage neben der allgemeinsten transzendentalen weitere spezielle Bedeutungen von Seinswahrheit erkennen bzw. unterscheiden. 1.2. Seinswahrheit als ontologische Autonomie aller wirklich und ideal Seienden und aller (auch fiktiver) Sachen und Sachverhalte, die in irgendeinem Sinne dem Bewußtsein gegenüber autonom sind und sogar Nichtseiendes (Negationen, negative Sachverhalte) einschließen – eine erste allgemeinste und transzendentale Grundbedeutung von „ontologischer Wahrheit“ sowie ihre immense Abstufung und die verschiedenen Begriffe ontologischer Wahrheit unter diesem Gesichtspunkt Verum mihi videtur id quod est. Wahr scheint mir das zu sein, was ist. Augustinus, Soliloquia, II, 5.

Eine Unterscheidung Thomas von Aquins in De ente et essentia, der zufolge man zwei Bedeutungen von Sein unterscheiden müsse: erstens das Seiende, das in die zehn Kategorien zerfalle, das reale Seiende, und zweitens alles, was wahren Urteilen, die sich offenkundig auch auf Privationen und „wirklich Nichtseiendes“ beziehen können, entspricht, führt uns auf diesen ersten Sinn von dem Seienden immanenter (innerer) ontologischer Wahrheit.72 Dieser Sinn von „ontologischer Wahrheit“ meint 72

Vgl. Thomas von Aquin, De ente et essentia, in: Opera omnia (ut sunt in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), Bd. 3, S. 583-587, cap. 1 (erste Seite).

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etwas, das zwar auch eine Konsequenz der Wirklichkeit, der „actualitas rei“, sein kann, oft aber Folge eines vom Wirklichkeitscharakter verschiedenen Seinsmodus, wie des idealen Seins von Zahlen, des logischen Seins von Begriffen, der möglichen Welten oder sogar der rein intentionalen Gegenständlichkeiten, insofern sie eindeutig bestimmt sind, ist: nämlich eine elementare innere Autonomie und Unabhängigkeit gegenüber dem menschlichen Geist, die wir in ihrer schwächsten Form sogar in rein intentionalen Gegenständen wie den im Roman Don Quijote festgelegten Unterhaltungen zwischen Don Quijote und Sancho Pansa und des ersteren Kampf mit den Windmühlen finden, da diese von Cervantes einmal festgelegten rein intentionalen Gegenstände unserem Urteil gegenüber autonom sind, weshalb wir in der Literaturwissenschaft Wahres ebenso wie Falsches über die im Roman entworfene Welt sagen können). Diese Autonomie alles Seienden gegenüber menschlicher Subjektivität und in bestimmtem und jeweils zu differenzierendem Sinne ein Eigensein und eine daraus erwachsende Seinsautonomie gegenüber jedem willkürlichen Denken und Urteilen kann in der Tat als Seinswahrheit bezeichnet werden. Durch diese Wahrheit des Seins unterscheiden sich alle tatsächlich bestehenden Sachverhalte und alles Seiende, gleich welchen Seinsmodus und gleich welcher Kategorie, vom Gegenstand irriger Urteile. Dabei handelt es sich bei jener Autonomie des Seins, die wir hier meinen und die auch eine ontologische Bedingung jeder wahren Aussage ist, noch um ein sehr allgemeines Phänomen, um eine oft nur sehr schwache, doch zugleich allumfassende Autonomie des Seins, der dann viele weitere und stärkere Formen der Autonomie des Seins und Unabhängigkeit vom Subjekt als spezifische Formen und Ausprägungen dieser Autonomie gegenübergestellt werden können, und zwar in solcher Weise, daß im Lichte der höheren Arten der Autonomie des Seins die niedrigeren als Heteronomie erscheinen müssen. Wenn wir etwa das „Ding an sich“ als das in sich selber Seiende von Erscheinungen und diese von einem bloßen Schein oder auch von rein vorgestellten oder geträumten Gegenständen und Sachverhalten abgrenzen, wird klar, daß im Verhältnis zur ontologischen Autonomie des Dings an sich Erscheinungen und erst recht rein Vgl. auch Thomas von Aquin, De ente et essentia, dt. Übersetzung Horst Seidl (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1988).

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intentionale Gegenstände keine Autonomie besitzen.73 Dennoch, so ungeheuer abgestuft die Seinsautonomie auch ist, ja so viele radikal verschiedene Arten der Seinsautonomie es auch gibt, so besitzt das Seiende doch in allen seinen Modi eine gewisse allgemeinste ontische Autonomie, die man als Wahrheit ihres Seins bezeichnen kann. Eine erste Stufe dieser ontischen Autonomie finden wir schon in rein intentionalen Gegenständen, insofern diese tatsächlich, wenn auch nur „von Gnaden“ unseres Bewußtseins, existieren. Auch rein geträumte Gebilde können Gegenstand wahrer wie falscher Urteile sein. Habe ich etwa einen schrecklichen Traum über den Tod meines Sohnes gehabt und erzähle diesem, ich hätte etwas Schönes oder auf sein langes glückliches Leben Bezogenes über ihn geträumt, lüge ich und verletze die Wahrheit, weil ich jenem schwachen Sein und jener „Wahrheit des wirklich Geträumten“ widerspreche. Erscheinungen wie die Farben und Töne in der realen Welt, obwohl auch sie vom menschlichen Subjekt als solchem abhängig sind, besitzen dennoch eine größere Autonomie als bloß geträumte Gegenstände. Reale oder abstrakte Möglichkeiten, mögliche Welten im Gegensatz zu Unmöglichkeiten, ideale Wesenheiten von Gerechtigkeit oder Liebe, vor allem aber real existierende Dinge oder Menschen, besitzen eine jeweils andere und stärkere Seinsautonomie bis hin zu einer totalen Unabhängigkeit von sämtlichen intentionalen bewußten Akten von Menschen, die sich auf sie beziehen. Man kann, angesichts der vielen Arten und Stufen ontischer Autonomie, die jeweils höhere Stufe derselben als ‚wahres Sein‘ bezeichnen und diese dann der niedrigeren als nicht oder weniger wahrem Sein gegenüberstellen. So etwa besitzt der Gegenstand eines Traums, eine elementare ontische Autonomie gegenüber unserem willkürlichen Urteilen, die man als sein wahres Sein dem Objekt von Lügen über eigene oder fremde Träume, wie wir sie in infamer Form in Jagos Lügen über Cassios Träume in Shakespeares Othello und Verdis gleichnamiger Oper finden,74 entgegensetzen kann. Auch wenn das wirklich Geträumte unbestreitbar eine gewisse ontische Autonomie besitzt, welche wir etwa dem infam erlogenen Traum 73

74

Vgl. die ausführliche Erörterung der Erkennbarkeit und der verschiedenen Bedeutungen von „Ding an sich“ in Josef Seifert, Back to Things in Themselves; ders., Erkenntnis objektiver Wahrheit2; ders., Sein und Wesen. See William Shakespeare, Othello, Act 3, Scene 3.

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entgegensetzen, so können wir andererseits dem bloß Geträumten andere Seinsmodi gegenüberstellen, im Vergleich zu denen die Traumwelten selber kein wahres Sein besitzen. So etwa sage ich meiner Tochter, wenn sie sich über den Inhalt meines Traums über sie entsetzt: „Ich habe doch das alles, daß Du auf ein Baby schlecht aufgepaßt hast, so daß dieses hernach über einen Abgrund gestürzt ist, nur geträumt. Das war doch keine wahre Wirklichkeit.“ Die Wahrheit des von Träumen unabhängigen Seins wird hier also dem Gegenstand von Träumen gegenübergestellt, die diese höhere Autonomie der Wirklichkeit nicht besitzen. Auf diese Weise besitzen selbst Fiktionen und Gegenstände von Phantasien, und rein intentionale Gegenstände zwar eine erste Stufe ontischer Autonomie, die es erlaubt, ihr wahres Sein vom Gegenstand von Lügen, schlechtem Gedächtnis oder Irrtümern zu unterscheiden, aber im Vergleich zu höheren Arten ontischen Eigenseins besitzen sie kein wahres Sein. Gegenstände von Illusionen und Irrtümern, wenn man sie nicht als wirkliche intentionale Gegenstände solcher Akte erkennt, was sie objektiv sind, sondern wenn man sie so ins Auge faßt, wie der Irrende und einem Schein Erliegende sie vermeint, besitzen hingegen keinerlei ontische Autonomie, nicht einmal deren unterste Stufe.75 Die Autonomie als Wahrheit des Seins besteht also in zahlreichen Modi und Abstufungen: vom allerrealsten Sein, dem wahrsten Sein in diesem Sinne (dem Âlhjðæstaton/alethestaton), bis hinunter zu jener schwachen Seinsautonomie der Art, welche selbst eine einmal konstituierte rein intentionale Gegenständlichkeit oder eine Möglichkeit besitzt. Es gibt eine gewisse „Wahrheit“ des Inhalts des Shakespeare-Stücks Hamlet, der sich vom Inhalt des Othello unterscheidet. Diese Autonomie und dieses „an sich Bestehen“ im weitesten (und angesichts seiner Abhängigkeit vom Künstler gleichsam relativen) Sinne dieses Ausdrucks ist der Grund, aus dem wir auch wahre und falsche Aussagen über das bestehende 75

Thomas von Aquin spricht davon etwa in Compendium theologiae, lb. 1, cap. 207, zwar in einem rein thelogischen Zusammenhang, doch ist dieser von hohem philosophischen Interesse, da das Beispiel einen philosophisch erkennbaren und relevanten Sinn hat: Dicere ergo christum veram carnem non habuisse, nec huiusmodi in veritate, sed solum in phantasia eum fuisse perpessum, est christo imponere falsitatem.

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Theaterstück machen können. Aus diesem weit ausgedehnten Reich von Seienden verschiedenster Modi, die alle ihre je eigene, bescheidene oder starke Seinsautonomie besitzen, ist nur der Gegenstand einer reinen Illusion oder eines Irrtums ausgegrenzt. Er besitzt als solcher keinerlei ontische Autonomie. Als einmal konstituierter intentionaler Gegenstand des Irrtums (also als wirklich intentionaler Gegenstand eines Aktes des Irrens) besitzt allerdings auch dieser eine gewisse Seinsautonomie, die es uns erlaubt, einen bestimmten Irrtum, nicht einen anderen, und dessen rein intentionalen Gegenstand, dem Werk eines Philosophen und diesem selbst, keinem anderen, zuzuschreiben. Aber qua Gegenstand des Irrtums, qua Objekt irrigen Meinens als solchem, besitzt der in keinem Sinne wirklich bestehende und rein subjektiv vermeinte Sachverhalt keine ontische Autonomie und damit keine Seinswahrheit – selbst nicht im weitesten Sinne, der hier unser Thema ist. Unter den weitesten und transzendentalen Sinn der Seinswahrheit fallen alle Seienden und Sachverhalte, die in irgendeinem Sinne jene Autonomie gegenüber dem Subjekt besitzen, die nötig ist, um direkt (als Sachverhalte) oder indirekt (als Gegenstände, die in Sachverhalte eingehen) Gegenstand wahrer oder falscher Urteile sein zu können. Ontologische Wahrheit in ihrem umfassendsten, rein ontologischen Sinne, meint aber nicht das Grundlage-der-Wahrheit-von-Aussagen-Sein selber, sondern jene Seinsautonomie, welche die Bedingung und das Fundament dafür bildet. In diesem Sinne darf nicht nur alles, was in irgendeinem Sinne wirkliche Existenz besitzt, sondern dürfen sogar Negationen und negative Sachverhalte als seiend bezeichnet werden. Also scheinbar auch das, was tatsächlich kein esse besitzt, oder, wie die Phänomenologen sagen würden, das Bestehen des negativen Sachverhalts, „daß X wirklich nicht ist“, kann nicht nur gemäß der Einsichten einer Phänomenologie der negativen Sachverhalte,76 sondern auch nach Thomas als seiend in jenem weiten Sinne bezeichnet werden, in dem das Sein Grundlage der Wahrheit ist. Man dürfte vielleicht Thomas im Anschluß an die Ontologie der Urteilskorrelate von Conrad-Martius deuten und sagen, daß auch das „reine Sach76

Vgl. Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, in: Sämtliche Werke. Texktritische Ausgabe in zwei Bänden, Bd. I: Die Werke, Teil I: Kritische Neuausgabe (1905-1914), Teil II: Nachgelassene Texte (1906-1917), S. 95-140.

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verhaltssein“ ein esse darstelle; dieses ist jedoch gewiß vom esse realer Substanzen und ihrer Eigenschaften scharf zu unterscheiden.77 Wir erinnern in diesem Zusammenhang an die bemerkenswerte Aussage von Thomas, der sagt, daß der Bereich der Wahrheit sogar weiter reiche als der des Seins, weil auch über das Nichtseiende Wahrheit bestehen könne. In gewisser Hinsicht ist dies wieder ein nicht so leicht mit der zentralen Stellung der ratio der Wahrheit als Übereinstimmung mit dem Sein und auch mit den Aussagen über die ontologische Wahrheit als „Ungetrenntheit von Wesen und Dasein“ versöhnbarer Satz, der meines Erachtens jedoch gar keinen wirklichen Widerspruch zu diesen anderen Aussagen bedeutet, sondern vielmehr ein interessantes neues Element hinzufügt. Damit aber gelangen wir schon zu einer weiteren Dimension der ontologischen Wahrheit, die einem Dinge in sich selber zukommt, seinem Wirklichsein, wobei wir eine Fülle bereits angesprochener anderer Stufen und Arten ontischer Autonomie überspringen bzw. hier nicht näher untersuchen. 1.3. Ontologische Wahrheit als Wirklichsein: als actualitas rei und als „Ungetrenntheit des Daseins vom Seienden“ oder von „Sein und Wesen“ – Fünf Seinsmodi als allen Kategorien vorausliegende Verschiedenheiten der Seinsform und weiterer grundlegender Sinn der „rein ontologischen Wahrheit“ des Wirklichseins, sowie Grade dieser ontologischen Wahrheit je nach dem Rang des Realseins esse enim est actualitas omnis rei, …. Das Sein nämlich ist die Wirklichkeit (Aktualität) jedes Dinges… Ipsa actualitas rei est quoddam lumen ipsius. Die Wirklichkeit eines Dinges selbst ist gewissermaßen ein Licht desselben. Thomas von Aquin, Comm. in Liber de Causis, I, 6.

Man kann die augustinische Definition der Seinswahrheit aber auch in einem eingeschränkteren Sinne verstehen, der sich nicht auf alle Seiende und Sachverhalte überhaupt bezieht, sondern nur auf das im prägnanten Wortsinne Wirkliche und dann dieses Wirkliche wahr nennen. Dabei hat 77

Siehe H. Conrad-Martius, Das Sein, a.a.O.

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KAPITEL 1

man dasselbe gerade in seiner Verschiedenheit von vier weiteren Seinsmodi im Auge. Seinsmodi nenne ich jene Grundformen des Seins, deren Verschiedenheiten von einander allgemeinerer Natur sind als die kategorialen Verschiedenheiten wie jene zwischen Substanz und Akzidenz, da diese zwar primär innerhalb des realen Seienden bestehen, aber auch innerhalb der anderen Seinsmodi ihre Stelle haben: 1. Die Urform des Seins ist zweifellos das reale Sein, dem allein eigentliche Wirklichkeit zukommt, das, was Thomas von Aquin den actus essendi im präzisen Sinne nennt und das Aristoteles in der Substanz, dem in sich selber stehenden Seienden, der Urform des realen Seienden, kulminieren sieht, da alle anderen Seinskategorien (Seinsformen) wie Quantität, Qualität, etc. als reale Seiende erst in diesem Urseienden der Substanz fundiert sein und ihren letzten Halt finden können. Es ist jedoch einsichtig, daß nicht die Substanz als solche, sondern erst die Person, und in einem ganz neuen Sinne die absolute Person, das Sein im eigentlichen Sinne darstellt.78 2. Von realen Seienden unterscheiden sich die idealen Gegenstände, Wesenheiten, Ideen, Formen, etc., deren Zeitlosigkeit Platon bewog, sie für das eigentlich Seiende zu halten, denen aber, als Ideen oder eide von etwas deren eigentliche Verwirklichungsform fehlt. Der wirkliche Mensch ist eben der real existierende, lebendige Mensch und nicht die Idee des Menschen, auch wenn das ideale Sein durch seine Zeitlosigkeit und Intelligibilität über die realen Seienden hinausragt. 3. Verschieden von dem realen und dem idealen Seienden, wenngleich in mancher Hinsicht ein Teil des Idealen, sind die möglichen Welten, alle jene Seienden, die real sein könnten, aber nicht real sind. Sie sind, im Vergleich zum realen Seienden, ein Nichts und unterscheiden sich von den ewig zeitlosen und idealen Wesenheiten dadurch, daß jene als ideale nicht real existieren können, sondern ihre eigene ideale Seinsform haben, während die möglichen Welten real sein und werden können. 4. Die rein intentionalen Gegenstände, wie jene von Träumen und Halluzinationen, leben nur von Gnaden bewußter intentionaler Akte, sind rein intentionale Gegenstände und hängen in ihrem Sein von Akten oder als abgeleitete rein intentionale Gegenstände von Bedeutungsgebilden 78

Vgl. Josef Seifert, Essere e persona, Kap. 8-15.

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literarischer und anderer Kunstwerke ab; ihr Sein ist in gewissem Sinne ihr Wahrgenommenwerden, ihr Gedacht- oder Vorgestelltsein, eine armselige Seinsform ganz im Gegensatz zu den realen Akten des sich Vorstellens und Denkens, etc., die voll real sind. 5. Schließlich gibt es noch das ens und esse logicum, d.h. das Sein rein logischer Gebilde der Begriffe sowie der Bedeutungseinheiten höherer Ordnung und ganzheitlicher Art wie das Urteil, die Frage etc., die aus Begriffen gebildet sind, welche, selbst wenn man mit dem Husserl der Logischen Untersuchungen die reine Idealität der Bedeutungen annimmt, doch von anderen idealen Wesenheiten ganz verschieden und dem Geist zugeordnet sind und innerhalb von denen es auch konfuse, verworrene, und von Grund auf verkehrte Begriffe gibt, denen ideale Seinsform zuzuschreiben unangemessen erscheint und die wohl tatsächlich von Menschen gemacht und in ihren Hirnen ausgekocht zu sein scheinen.79 Wenn man nun das wirklich Seiende, welches das Sein in seiner eigentlichsten Form und Aktualität bezeichnet, als das wahre Sein bezeichnet, versteht man die Definition des hl. Augustinus80: „Das Wahre ist das, was ist“; und Avicennas81: „Die Wahrheit eines jeden Dinges ist die Eigentümlichkeit seines Seins (proprietas sui esse) und dessen, was ist“ im Sinne der Wirklichkeit gerade im Unterschied zu allen anderen Seinsmodi und insbesondere zum Sein aller rein intentionalen Gegenständlichkeiten wie der Objekte eines Dramas oder eines Traums, aller Möglichkeiten, aller rein negativen Sachverhalte, etc., die im ersten grundlegenden intrinsischen Sinn von ontologischer Wahrheit inbegriffen sind. In dieser Weise deutet wohl Thomas von Aquin die erwähnte augustinische Definition, wenn er bemerkt, andere Autoren hätten gesagt, alles, was esse besitze, sei deshalb auch wahr. Also verleihe das Sein (oder das 79

80 81

Der Sinn, in dem man auch hier von einer gewissen Idealität der Bedeutungseinheiten sprechen kann, ist Gegenstand meiner schriftlichen Debatte mit Mark Roberts. Vgl. Mark Roberts, “Timeless Truths and Timeless Falsities”, Aletheia, (1994), 6: 266-279, und Josef Seifert, “Are There Timeless Falsities? On the Difference between Truth and Falsity with Respect to the Ideal Existence of Meaning-Units. A Reply to Mark Roberts”, Aletheia VI (Theory of Knowledge and Ethics) (1993-1994), S. 280-320. Augustinus, Soliloquia, Kap. V. Siehe Avicenna, Metaphysik XI, 2.

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KAPITEL 1

Dasein, die Existenz) einer Sache Wahrheit in diesem Sinn, wobei man auf jene einzigartige und archetypische Seinsform abzielt, die wir Wirklichkeit nennen und die wir dem materiellen Kosmos, Pflanzen, Tieren, Menschen, Engeln oder, in einem gänzlich neuen und vollkommenen Sinne, Gott zuschreiben.82 Und wie sie ein Ding zu einem aktuell wirklichen macht, so verleiht sie ihm Vollkommenheit und wahrhaftes Sein: Unde patet quod hoc quod dico esse est actualitas omnium actuum, et propter hoc est perfectio omnium perfectionum.83 Daraus geht hervor, daß das, was ich das Sein (esse) nenne, die Aktualität aller Akte ist und deshalb ist es die Vollkommenheit der Vollkommenheiten. quia esse est actualitas omnis formae vel naturae, non enim bonitas vel humanitas significatur in actu, nisi prout significamus eam esse.84 Denn das Sein ist die Aktualität jeder Form oder Natur, denn auch Güte und Menschheit werden nicht in ihrer Aktualität bezeichnet, wenn wir nicht aussagen, daß sie sind.

Ontologische Wahrheit, wie sie alles Wirkliche kennzeichnet, könnte man mit Thomas auch anders beschreiben und sagen: „Das Wahre ist die Ungeteiltheit des Seins und dessen was ist“ (indivisio esse et eius quod est).85 In diesem Sinne wird das Zusammensein von Wesen und Dasein oder von Dasein (esse) und Seiendem (id quod est) als Wahrheit bezeichnet. Man könnte etwas deshalb ontologisch gesehen „wahr“ nennen, weil 82

83 84 85

Ich kann hier keine eingehende Untersuchung des Wirklichseins geben. Vgl. Josef Seifert, Sein und Wesen, Kap. 2. Thomas von Aquin, Quaestiones Disputatae Q. 7, a. 2, RA 9. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I, Q. 3, a. 4, co. Vgl. Thomas von Aquin, In Libros Sent., In I Sent., d. 19, q. 5, a 1, co: Quaedam [definitio veritatis] autem datur de veritate secundum quod habet fundamentum in re, sicut illa Augustini: verum est id quod est; et alia magistralis: verum est indivisio esse et ejus quod est;

Vgl. auch den Text in Quaestiones disputatae de veritate, in: Opera omnia (ut sunt in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), vol. III, S. 1-186, q. 1, a. 1, co.

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es wirklich ist in irgendeinem Sinn und weil in ihm das Dasein dem, was es ist, nicht fehlt, und es eben deshalb das wahre Ding ist. Während also rein mögliche Welten und die in ihnen gründenden Sachverhalte im ersten Sinne von ontologischer Wahrheit wahr sind und auch Gegenstand wahrer oder falscher Urteile sein können, unterscheiden sie sich von dieser zweiten Bedeutung von ontologischer Wahrheit, ja bilden einen bestimmten Gegensatz zu ihr. Dabei sieht Thomas das Fundament der Wahrheit weniger im Sein als reiner Wesenheit (quidditas), von der er sagt, daß sich auf diese die „Definition“ beziehe, die nicht im eigentlichen Sinne wahr oder falsch sei, sondern auf das reale Seiende, das esse besitzt.86 Thomas scheint dies allerdings nur von der intrinsischen Seinswahrheit und der ontologischen Wahrheit als Fundament wahrer Urteile, nicht aber von der Seinswahrheit als Intelligibilität zu sagen, von der wir noch sprechen werden und die er primär auf das Wesen bezieht.87 Auch spricht er etwa von der „veritas humanae naturae“ und meint damit öfters nur, was tatsächlich zur Natur (zum Wesen) des Menschen gehört, bzw. auch das, was deren Wirklichkeit ausmacht.88 An anderer Stelle spricht er auch in ähnlichem Sinne von der „veritas rei“.89 Häufig hingegen sagt Thomas, Definitionen, die gerade dem reinen Wesen der Dinge entsprechen, könnten nicht im strengen Sinne wahr sein.90 Es scheinen für diese Meinung Thomas von Aquins drei Gründe ausschlaggebend zu sein: (1) weil die Definition nur die Bedeutung eines Begriffs entfalte und kein eigentliches Urteil darstelle, (2) weil Thomas dem Wesen keine so volle Autonomie gegenüber dem Geist zuerkennt wie 86 87 88

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Vgl. Thomas von Aquin, In Libros Sent., In I Sent., d. 19, q. 5, a 1, co. Vgl. Thomas von Aquin In Libros Sent., In I Sent., d. 19, q. 5, a 1, RA 2. Vgl. etwa Thomas von Aquin, Quodlibeta 8, q. 3, Prologus, wo wiederholt in diesem Sinne von der Wahrheit der menschlichen Natur die Rede ist. Vgl. auch Thomas von Aquin, Compendium theologiae, lb. 1, cap. 209, wo er die fundamentale Bedeutung dieses Sinnes von ontologischer Wahrheit für den Glauben hervorhebt. Vgl. etwa Thomas von Aquin, Super decretalem, Nr. 1, wo er allerdings mit diesem Ausdruck die Wahrheit der Wirklichkeit des Leibes Christi im Gegensatz zu einer rein symbolischen zeichenhaften und deshalb unwirklichen (unwahren) Präsenz des Leibes Christi meint (Super decretalem, Nr. 1). Vgl. Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, Q. I, a. 3, co.

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dem existierenden Seienden, und (3) weil nur das existierende Seiende im vollen Sinne real und deshalb Wahrheit begründend sei. (Ad 1): Der erste Grund ist aber nur für Wortdefinitionen (Definitionen von Wortbedeutungen), und auch hier nur teilweise, nicht aber für Sachdefinitionen zutreffend, da diese ein Wesen kennzeichnen wollen und dieses, insbesondere das notwendige Wesen eines Dinges, ebensosehr Gegenstand wahrer und falscher Urteile sein kann wie ein existierendes Ding. Die Definition, insofern sie nicht nur eine begriffliche Bedeutung entfaltet, sondern das Wesen einer Sache aussprechen will und in diesem Sinne eine Realdefinition oder Sach- bzw. Wesensdefinition ist, stellt ein Urteil über dieses Wesen dar, das wahr sein kann, wobei allerdings die Definition als solche, sofern sie nur aussagt, welche Sache gemeint wird, auch eine Wortdefinition oder besser Begriffsdefinition genannt, und die Definition als Urteil über das Wesen einer Sache, also jene Sachdefinition, von der wir sagen können, sie sei wahr, noch unterschieden werden müssen, sodaß Thomas recht behält, wenn er sich nur auf jene Definition, die aussagt, welche Sache gemeint ist, und nicht auf jene, die das Wesen der Sache selber meint, bezieht. (Ad 2): Der zweite Grund trifft höchstens auf jene Fälle zu, in denen eine reine quidditas auch einer Chimäre zukommen kann, die weder in der realen Welt noch in der Welt ewiger idealer eide (eÍdh) ein objektives Fundament besitzt. In diesem Sinne können wir Thomas zustimmen, nicht aber wenn von den Wesen einer realen Spezies oder eines realen Genus die Rede ist, und erst recht nicht, wenn wir von einer absolut notwendigen Wesenheit urteilen, die ein aller Subjektivität gegenüber absolut autonomes Maß der Wahrheit darstellt. (Ad 3): Nur der dritte Grund für die These Thomas von Aquins, daß nämlich das wirklich Seiende allein volle Aktualität des Seins besitzt, macht es allerdings richtig zu behaupten, daß das esse rei als der Grund seiner eigentlichsten Wirklichkeit auch die tiefste Quelle seiner ontologischen Wahrheit darstelle.91 Was aber ist das Wirkliche, dem wir in einzigartigem Sinne ontologische Wahrheit zuschreiben? Zu sagen, worin das Urphänomen des Wirklichseins besteht ist schwer, 91

Vgl. Josef Seifert, Sein und Wesen, zit., Kap. 2.

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so überzeugend auch die Aussage Thomas von Aquins, die Wahrheit des Seins sei die Ungetrenntheit des Daseins vom Wesen, auf das Urphänomen des Wirklichen gegenüber dem bloß Möglichen und Fiktiven hinweist; dieses aber durch etwas anderes zu definieren, ist ausgeschlossen, eben weil es sich hier um ein nicht zurückführbares Phänomen, um eine Urgegebenheit handelt; es ließe sich ja auch auf Möglichkeiten oder ideale Wesenheiten der Satz anwenden, daß ihr Dasein von ihrem Wesen ungetrennt sei. Um deshalb zu verstehen, daß unwirkliche oder fiktive Gegenstände bewußter Akte, die ja auch in bestimmtem Sinne existieren, nicht wirklich und in diesem Sinne nicht wahr sind, muß man schon wirkliches Sein gegenüber rein intentionaler Existenz der Gegenstände intentionaler Akte und die Unterschiede zwischen realem und idealem oder möglichem Sein erfaßt haben, die die fundamentale und unzurückführbare Gegebenheit des Wirklichseins mehr voraussetzen als erklären. Edmund Husserl und nach ihm Martin Heidegger haben versucht, das Wirklichsein durch den Bezug zur Zeit hinreichend zu bestimmen. Alles Sein in der Zeit sei wirklich und alles Wirkliche zeitlich. Doch läßt sich die erste These keinesfalls halten, wenn man bedenkt, daß auch rein intentionale Gegenstände, z.B. die fiktiven Gegenstände des literarischen Kunstwerks, die Ingarden abgeleitete rein intentionale Gegenstände nennt, zeitlich sind, ohne deshalb real zu sein. Auch im Roman oder in der fiktiven Welt eines Theaterstücks und seiner Aufführung gibt es frühere und spätere Handlungen, sodaß auch die fiktive und unwirkliche Welt in einer – wirklichen oder unwirklichen – Zeitfolge steht. So folgen halluzinierte Gegenstände eines Schizophrenen und auch die intentionalen Gegenstände intentionaler Akte des Lesens eines Romans einander in der realen Zeit, während die Zeitenfolge eines Ablaufes in einem Roman selber zur rein intentionalen Gegenständlichkeit der fiktiven Welt gehört. In Michail Bulgakows Roman Der Meister und Margarita z.B. ist Margarita erst die Geliebte des Meisters, dann erst trifft sie den als ordinärer Mann auftretenden Dämon Asasello, reibt sich später mit seiner Schönheits-Creme ein, wird danach zur Hexe und reitet auf dem Besen durch die Lüfte, trifft schließlich Satan und tanzt noch später auf Satans Ball, usf. Also kann man die Zeitlichkeit sowohl in wirklichen als auch in unwirklichen Gegenständen finden und ist nicht nur das Wirkliche zeitlich. Betrachten wir die Umkehrung dieser These, alles Zeitliche sei auch

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wirklich, also die universale Behauptung, die das Wirkliche zum Subjekt und Zeitlichkeit zum Prädikat eines Allgemeinurteils macht, d.h. die These vertritt, alles Wirkliche sei auch zeitlich. Abgesehen davon daß diese These a priori die atheistische oder wenigstens die prozesstheologische Voraussetzung macht, daß es keinen ewigen wirklichen Gott gibt, widerspricht sie der unschwer zu vollziehenden Einsicht, daß gerade in der Zeitlichkeit menschlichen Lebens ein ungeheurer Mangel an Realität liegt. Denn – wie Augustinus bemerkt – ist das Sein-in-der-Zeit nur, indem es sich auf das Nichts, auf das Nichtsein des Vergangenseins zubewegt, das ein nicht-mehr-Sein darstellt, und auch die Zukunft ist ein Noch-nicht. So enthält das zeitliche Seiende in Zukunft und Vergangenheit ein relatives Nichtsein und selbst die Aktualität zeitlichen Gegenwärtigseins ist durch die Flüchtigkeit der Zeit eher ein Übergang zum Nichtsein als etwas im eigentlichsten Sinne Reales. Wie könnte uns aber die relative Unwirklichkeit des zeitlichen Seienden einleuchten, wenn wir nicht zwischen dem Wesen des Wirklichen und dem Wesen des Seins in der Zeit unterschieden?92 Nicht viel besser ergeht es uns mit dem Versuch, das Wirkliche als das zu bestimmen, was Widerstand leistet gegenüber unserem Wollen, Handeln, Begehren oder auch gegenüber unseren Sinnen, vor allem dem Tastsinn. Wenn auch Kant und Scheler dieses Kriterium mit Recht als ein wichtiges Kennzeichnen der Unabhängigkeit der Wirklichkeit von unserem Geist auffassen, so sind doch ideale Wesensgesetze, wie die Mathematik sie erforscht, ebenfalls unabhängig von unseren Wünschen, aber deshalb noch nicht real, da sie jener Urform des Aktuellseins oder Aktualseins entbehren, die wirkliche Leiden, Personen, Tiere, Berge usf. kennzeichnet. Auch der Gegenstand einer hartnäckigen Halluzination eines Wahnsinnigen oder Schizophrenen, wie er eindrucksvoll in dem Film A Beautiful Mind über den genialen schizophrenen Nobelpreisträger John Nash dargestellt wird, leistet dessen Willen Widerstand und geht nicht weg, ist aber desungeachtet irreal. Gleichfalls sind die abgeleiteten rein intentionalen Gegenstände, etwa literarische Charaktere wie Homers Odysseus, von unserer Willkür unab92

Zu diesem Unterschied vgl. Plotins Enneade III, 7 Über Ewigkeit und Zeit; vgl. auch J. Seifert, Essere e persona, Kap. 10.

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hängig, aber deshalb nicht realer als jene Gegenstände willkürlicher Vorstellung, an die Kant und Scheler denken, wenn sie das Unwirkliche als das bezeichnen, was unserer Willkür untersteht und keinen Widerstand leistet, wenn wir es anders haben wollen und das wir im fiat der Imagination nach Vergnügen ändern können, wie dies der Fall ist, wenn wir unseren Kindern ein spontan und frei erfundenes Märchen erzählen, das es vor unserer Erzählung nicht „gab,“ im Gegensatz etwa zum Fall, in dem wir Ihnen erzählen, was in Homers Odyssee von Odysseus und Penelope und deren Handlungen berichtet wird und die nicht von unseren intentionalen Akten oder unserer Willkür abhängen, sodaß wir bei einer Literaturprüfung durchfallen werden, wenn wir die Unabhängigkeit der Gestalten und Taten der homerischen Epen von unserer Willkür nicht einsehen und beachten. Wenn das wirklich Seiende das wahre Seiende ist, dann ist der Begriff „wahr“ fast gleichbedeutend mit „wirklich“. Was wir mit der Frage „Ist es wahr?“ meinen, ist dann: „Ist es in der wirklichen Wirklichkeit so?“ So sehr man die Aussage, das Wirkliche sei wahr, mit Hobbes für eine müßige und leere Aussage erklären mag, so ist es doch keine solche. Vielmehr ist die Wahrheit des Seins des Wirklichen Gegenstand einer Einsicht, die alles eher als eine leere Wiederholung oder gar eine Tautologie ist. Daß das wirklich Seiende (im Gegensatz zu rein intentionalen Gegenständen, zu rein idealem Seiendem, zu möglichen Welten oder zu rein begrifflichsprachlichem Seiendem) im eigentlichsten und wahrsten Sinn seiend und deshalb das wahrste Sein ist, ist eine Grundeinsicht, die Aristoteles im Gegensatz zu Platon gewinnt und die phänomenologisch aufgeklärt werden kann und muß.93 Alles Wirkliche ist in diesem Sinn wahr. Man kann aber in dem genannten Wortsinn von „ontologischer Wahrheit“ ein Seiendes nicht ausschließlich auf Grund der bloßen 93

Vgl. Roman Ingarden, Der Streit um die Existenz der Welt. Bd. I, Existentialontologie (Tübingen: Niemeyer, 1964), Bd. II, 1, Formalontologie, 1. Teil (Tübingen, 1965); ders., On the Motives which led Husserl to Transcendental Idealism; ders., „Die vier Begriffe der Transzendenz und das Problem des Idealismus in Husserl.“ Vgl. auch Josef Seifert, Sein und Wesen, zit., Kap. 2; ders., Ritornare a Platone. Im Anhang eine unveröffentlichte Schrift Adolf Reinachs, hrsg., Vorwort und übers. Von Giuseppe Girgenti. Collana Temi metafisici e problemi del pensiero antico. Studi e testi, vol. 81, (Milano: Vita e Pensiero, 2000).

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formalen Tatsache seiner Existenz, oder sogar seiner realen Existenz, die ein Sandkörnchen oder auch seine Gestalt ebensogut wie eine Person besitzt, wahr nennen, so als gäbe es innerhalb des Realseins keine weiteren Abstufungen und sei alles im selben, univoken Sinne real, sondern erst in jenem Maße, in dem es wirklich ist und real existiert, und sich als solches sowohl von rein intentionalen Gegenständen als auch von möglichen Welten, als auch von idealen Gegenständen unterscheidet, obwohl auch diese einen je verschiedenen Grad der Aktualität besitzen. Und sogar innerhalb des real existierenden Seienden gibt es unendliche Abstufung der Realität zwischen einer Seifenblase und dem absoluten Sein, sodaß sich auch die Wahrheit des Realeins als unendlich differenziert und abgestuft erweist. Je nach der Sphäre des Seins, von der die Rede ist, unterliegt auch dieser zweite Begriff der „ontologischen Wahrheit“ vielen Abwandlungen und je nach dem verwendeten Wirklichkeitsbegriff hat auch dieser Sinn von ontologischer Wahrheit viele Bedeutungen, die den Graden und Stufen des Wirklichseins oder des wahrhaften Seienden,94 das noch innerhalb des Grundcharakters des Realen weiter differenziert werden muß, entsprechen. Das lebendige Sein und vor allem das Personsein sind in einem Sinne „wahres Sein“, in dem bloße Dinge „nicht wahrhaft“, ja ein Nichts sind, und das ewige Sein ist in einem Sinne wahr, in dem das zeitliche, historische nicht wahr ist, sosehr daß im Verhältnis zum höchsten Realen alles andere Wirkliche eine Art Nichts ist.95 94

95

Also des ÓntwV Òn (ontoos on) oder des kýrioV ªn (kyrioos on). Vgl. Platon, Sophistes 240 b; ders., Politeia 583a., 585d. Aristoteles, Metaphysik, in: Aristoteles. Die Lehrschriften, hrsg., übertragen und in ihrer Entstehung erläutert von Dr. Paul Gohlke (Paderborn: Ferdinand Schöningh, 21961); vgl. dazu Giovanni Reale, The Concept of “First Philosophy” and the Unity of the Metaphysics of Aristotle (New York, 1980). Diese Einsicht fehlt übrigens Platon keineswegs, auch wenn man seine Ideen als rein ideales Sein deutet, was nicht unbedingt korrekt ist. Vgl. zu einer alternativen Interpretation Josef Seifert, “The Idea of the Good as the Sum-total of Pure Perfections”, zit. In Timaios 39 e ist von dem „wahrhaft Seienden Lebendigen“ die Rede; vgl. auch die oben bereits zitierte Stelle Sophistes, 248 c – 249 a. Man kann an dieser Stelle auch viele Stellen in der Metaphysik von Aristoteles anführen, in denen dieser das eigentlich seiende als Geist, als nóhsiV no®sewV (noesis noeseos/ Erkenntnis der Erkenntnis) und ewig-lebende Substanz beschreibt. Vgl.

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Das wahrste Sein könnte also von diesem Begriff von ontologischer Wahrheit aus gesehen dasjenige Seiende genannt werden, das den höchsten der gradus entis einnimmt und im vollsten Sinn die Urgegebenheit realer Existenz besitzt. Wenn wir Grade des Seins annehmen (wie dies übrigens auch Thomas von Aquin in einer vielleicht noch mehr vom Neuplatonismus als von Aristoteles beeinflußten Richtung seines Philosophierens tut),96 können wir sagen, daß z.B. die Substanz wahrer ist als die bloßen Akzidenzien oder daß eine Person mehr an Realität besitzt als ein Stein, daß daher die Person ein „wahreres Seiendes“ ist als ein Ding. Oder man könnte sagen, daß das absolute und schlechthin reale Sein „das wahrste Sein“ ist.97 Hier würde man den eigentlichen Grund für die ontische Wahrheit des Seins in der Wirklichkeit, und zwar im nicht total abstrahierendtranzendental-genommenen „Realsein“, sondern im jeweiligen Grade seines Realseins, sowie im Grad der Ungetrenntheit von Sein und Wesen erkennen. In diesem Licht ist auch etwa das notwendig daseiende Sein unvergleichlich wahrhafter seiend als das nicht-notwendige, kontingente; es ist das wahrste, ja in gewissem Sinne das einzig wahrhafte Sein.98 So wird in dieser Fassung der „ontologischen Wahrheit“ der jeweilige Grad des Realseins eines Dinges als Grundlage für die jeweilige Stufe von dessen Wahrsein genommen. Dementsprechend könnte man sagen: „In dem Maß, in dem etwas Aktualität oder Realität des Seins besitzt, in

96

97

gleichfalls Josef Seifert, Essere e persona, a.a.O., Kap. 9, sowie ders., What is Life? On the Originality, Irreducibility and Value of Life. Value Inquiry Book Series (VIBS), ed. by Robert Ginsberg, vol 51/Central European Value Studies (CEVS), ed. by H.G. Callaway (Amsterdam: Rodopi, 1997). Damit ist keineswegs geleugnet, daß auch Aristoteles die Idee der Grade des Wirklichseins kennt und diese eine zentrale Rolle in seiner Metaphysik spielen. Siehe Seifert, Essere e persona, a.a.O., Kap. 8. Auch diesen Gedanken finden wir bei Hilarius und bei Thomas von Aquin, In Libros Sententiarum, In I Sententiarum, d. 8, q. 3, a. 3, ex: Esse enim creaturae non est aliquid per se subsistens, immo est actus subsistentis; sed in deo suum esse est ipse deus subsistens: et ideo dicit, quod est subsistens veritas.

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Vgl. Anselm von Canterbury (Aosta., Proslogion und Ad Proslogion, in: Anselm of Canterbury (Aosta., S. Anselmi Opera omnia, Franciscus Salesius Schmitt (Hg.), 2 Bde. (Stuttgart-Bad-Cannstatt: Friedrich Frommann/Günter Holzboog, 1968), Bd. I, S. 89-139, Kap. 3, S. 103, 6-9.

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ebendemselben Maße ist es auch wahr.“99 Und deshalb ist das absolute Sein die Wahrheit selbst, wie Thomas von Aquin formuliert.100 1.4. Ontologische Wahrheit als Ursache und Fundament der Urteilswahrheit (dritte spezifische Grundbedeutung ontologischer Wahrheit): Das Seiende und die Sachverhalte sind wahr, weil sie das ontologische Fundament und Korrelat der Urteilswahrheit sind

Man kann das Seiende in jedem erdenklichen Sinn, und dann keineswegs nur das Wirkliche, sondern jedweden Sachverhalt, der das Richtmaß wahrer Aussagen bildet, also auch wirklich bestehende Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten, jedoch auch aus einem ganz anderen Grund wahr nennen: nämlich weil das Seiende der (Urteils-)Wahrheit ordnungsgemäß vorausgeht als das, worin das Wahre begründet ist. In De veritate sagt Thomas von Aquin: Wenn die Wahrheit in der Übereinstimmung besteht, so kann sie im Prinzip in drei Weisen gefaßt werden, deren erste sie nach dem benennt, was der Wahrheit ordnungsgemäß vorausgeht und worin das Wahre begründet ist.101

Nur weil das Seiende selber ist, was es ist, und damit auch eine bestimmte Unabhängigkeit von menschlicher Subjektivität und von 99

100

101

Dieser Satz, zu dem uns eine phänomenologische Untersuchung der Sachverhalte führt, steht fast buchstäblich bei Aristoteles und – unabhängig von ihm – bei Augustinus. Siehe Aristoteles, Metaphysik A’ 2.993 b 30 ff: „So wie sich jedes Ding zum Sein verhält, so verhält es sich zur Wahrheit“ (In dem Maße, in dem ein jedes Ding seiend ist, in dem Maße ist es auch wahr.) Siehe Augustinus, De vera religione, xxxvi: „Das Wahre ist in dem Maße wahr, in dem es ist.“ Vgl. Thomas von Aquin, In Libros Sent., In I Sent., d. 19, q. 5, a 1, co. Vgl. auch Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, in: Opera omnia (ut sunt in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), vol. III, S. 1-186, Q. 1, a. 1, RA 5. Thomas von Aquin, De veritate, Quaestio I, Artikel 1. Das ist für unseren Zusammenhang der Kernsatz von Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, in: Opera omnia (ut sunt in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), vol. III, S. 1-186, Q. 1, a. 1, co.

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menschlichem Urteilen besitzt, und auch weil es den „ersten Seinsprinzipien“ untersteht, kann es alle anderen Formen der Wahrheit geben, denen die Seinswahrheit logisch vorhergeht. Insofern wird das Seiende wahr genannt, wie Thomas von Aquin hervorhebt, weil es Fundament und Ursache aller anderen Formen von Wahrheit des Erkennens und des Urteils ist.102 Und diese These Thomas von Aquins ist vollkommen evident in ihrer Wahrheit. Denn es könnte durchaus keine Wahrheit des Urteils geben ohne die zugrundeliegende Wahrheit des Seins, und auch ohne jene Wahrheit, die ihm wegen seiner Geistoffenheit und Intelligibilität zukommt und auf die wir noch ausführlich zurückkommen werden. Obwohl aber die ratio entis der ratio veri vorhergeht, reicht im Hinblick auf die Tatsache, daß das reine Sachverhaltssein, welches das Fundament aller Urteilswahrheit bildet, auch alle möglichen und fiktiven und nicht seienden Dinge und Sachverhalte mit umfaßt bzw. hinsichtlich ihrer besteht, die veritas weiter als das aktuelle Sein, weil sie sich auch auf alle nichtseienden und alle möglichen Dinge beziehen kann. Also ist die Wahrheit in gewisser Hinsicht unermeßlicher als das Sein, weil sie auch über das Nichtseiende besteht: „Etwas kann dem Wahren zugehören, ohne im Bereich des Seienden zu sein“, wie Thomas formuliert. Hier könnte man wieder das, was in De ente et essentia über privatio und negatio gesagt wird, mit einbeziehen. Formal kann das Seiende so weit gefaßt werden, daß es das Wahre und das Nichtseiende mitumfaßt, sofern auch das objektiv Nichtseiende in dem Sinne wahrhaft ist, daß es vom richtig erkennenden Geist als solches erfaßt wird.103 Auch in De veritate zitiert Thomas Aristoteles in diesem Sinne und beruft sich dabei auch auf 102

103

Vgl. Thomas von Aquin, In Libros Sententiarum, In I Sententiarum, d. 2, q. 1, a. 3, ra. 5. Dieser weitere ontologische Seinsbegriff als die Totalität dessen, was wegen seiner Autonomie Gegenstand wahrer Aussagen werden kann, entspricht wohl auch dem Versuch des mexikanischen Philosophen Agustin Basave, in der „habencia“, d.h. in allem, was es in irgendeinem Sinne ‚gibt‘, was in irgendeinem Sinne ‚der Fall ist‘, einen weiteren Begriff als den des Seins als Fundament der Metaphysik zu finden. Vgl. Agustin Basave, Tratado de Metafísica. Teoría de la Habencia. (Mexico D.F.: Ed. Limusa, 1982), sowie Josef Seifert, “Agustin Basave, an Important Philosopher of our Times” in Homenje al Dr. Agustin Fernandez Basave del Valle (Monterrey: Universidad Regiomontana, 1984).

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KAPITEL 1

Avicenna: Darum sagt der Philosoph: Die Negation oder Privation des Seienden werde in einem Sinne seiend genannt.... Darum sagt auch Avicenna am Anfang seiner Metaphysik, es könne nur vom Seienden eine Aussage (enuntiatio) gemacht werden, weil das, worüber ein Satz (propositio) gebildet werde, notwendig unter der Erkenntnis befaßt sein müsse. Daraus wird deutlich, daß alles Wahre in gewissem Sinne ein Seiendes sein muß.104

Man darf in diesen Stellen bei Thomas von Aquin, und deren eigenständiger Entwicklung in der ersten Phase der Wahrheitsphilosophie Franz Brentanos (1889) einen Ansatzpunkt für die spätere phänomenologische Philosophie der Sachverhalte finden. Man kann nicht umhin zu sagen, daß auch Thomas an diesen Stellen so etwas wie negative Sachverhalte annimmt, nämlich, daß es „irgend etwas ist, daß etwas nicht ist und nicht besteht“. Auch dieser negative Sachverhalt „ist etwas“ – allerdings in einem radikal vom Wirklichsein verschiedenen Sinne. Denn was nicht ist, und auch ein negativer Sachverhalt, ein wirklich bestehender Sachverhalt über Möglichkeiten (über mögliche Sachverhalte oder Seiende), oder ein möglicher Sachverhalt, ist nicht ein reales Seiendes, und darum hat Thomas diesen Sinn von Sein gerade vom (realen) Seienden, wie es in die Kategorien zerfällt, unterschieden. Dennoch „gibt es etwas“, dem die wahren Urteile über das Nichtsein entsprechen. Und insofern eben auch wahre Urteile über Mögliches und Nichtseiendes existieren, muß man als Korrelat und Bedingung dieser wahren Urteile irgend etwas Seiendes, obwohl dieses nicht eine res oder ein existierendes Ding ist, annehmen. Es scheint mir, daß Thomas an diesem Punkte in außerordentlich feinem Sachkontakt – und mithilfe der von Irmingard Habbel und anderen genauer untersuchten Begriffe wie der ‘dispositio rei’105 – sehr nahe an die 104

105

Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, in: Opera omnia (ut sunt in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), vol. III, S. 1-186, Q. I, a. 1, RA 7. Vgl. Avicenna, Metaphysik, I, 6. Vgl. Irmingard Habbel, Die Sachverhaltsproblematik in der Phänomenologie und bei Thomas von Aquin (Regensburg, 1960). Vgl. auch Kevin Mulligan (Ed.), Speech Act and Sachverhalt (Dordrecht: Martinus Nijhoff, 1989), sowie Barry

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phänomenologische Unterscheidung zwischen dem Sein von Dingen, bzw. existierenden Dingen, und dem Bestehen von Sachverhalten kommt und daß er, wie zuvor schon Aristoteles, den er in diesem Kontext zitiert, gleichfalls unter dem Begriff des „Seins der Negationen“ auch negative Sachverhalte annimmt: Auch die Wahrheit des Satzes, „daß etwas wirklich nicht ist“, ist ontologisch im Sein (im weitesten Sinne des Wortes) begründet. Und insofern liegt auch in der privatio „ein Sein in irgendeinem Sinn“ und besteht auch hier ein negativer Sachverhalt. Deshalb kann übrigens auch hier das Urteil aufgrund einer adaequatio wahr genannt werden, wenngleich nicht im Sinne einer adaequatio an eine res106 im Sinne einer wirklichen Sache, eines eigentlich Seienden. Aber es gibt auch hier etwas, dem der Geist entspricht, und zwar, wie ich es deuten würde, negative Sachverhalte: „Daß etwas nicht ist“, ist auch irgend etwas und wahre Urteile können mit diesem Etwas, mit diesen tatsächlich bestehenden negativen Sachverhalten, übereinstimmen. Auch diese Bedeutung von ontologischer Wahrheit als Autonomie des Seins und Smith, “Logic and the Sachverhalt”, in: The Monist 72 (1972), S. 53-69. Vgl. auch Thomas von Aquin, De veritate, Q. 1, a. 1. Es ist vielleicht weit hergeholt, in diesen und ähnlichen Texten über den Begriff der “dispositio rei” den Sachverhaltsbegriff der Phänomenologen, das „a-Seineines-B“, vorgebildet sehen zu wollen. Thomas scheint mit diesem Ausdruck jeden Zustand und jede dauernde Seinsbedingung zu meinen, so etwa in Quaestiones disputatae de veritate, in: Opera omnia (ut sunt in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), vol. III, S. 1-186, Q. 2, a. 12, RA4. Dennoch hat Habbel zweifellos recht, wenn sie in manchen Texten, die denselben Ausdruck (der dispositio rei) verwenden, eine Art Vorwegnahme des Sachverhaltsbegriffs erblickt. Thomas von Aquin, Quaestiones Disputatae de Virtutibus, Q. 2, a.9, RA 1. Vielleicht das stärkste Argument für Habbels These ist der Text (Thomas von Aquin, In Libros Metaphysicorum, Buch IX, lectio 11, Nr. 3): Unde manifestum est, quod dispositio rei est causa veritatis in opinione et oratione. 106

Vgl. die klassische Wahrheitsdefinition bei Thomas von Aquin, In Libros Sent., In I Sent., d. 19, q. 5, a 1, co. Zu einem weiteren Spektrum von Einsichten und Unterscheidungen, welche die volle Entdeckung der Sachverhalte vorbereiten, vgl. Barry Smith, “Logic and the Sachverhalt”, S. 53-69; ders., “On the Cognition of States of Affairs”, in: K. Mulligan (Ed.), Speech Act and Sachverhalt, S. 189-225.

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des Seienden im Verhältnis zum urteilenden Bewußtsein, die ein radikaler Relativismus leugnet, aber immer noch voraussetzt, kann noch in einem doppelten Sinne gemeint sein: In einem ersten Sinne kommt sie ausschließlich den Dingen zu, die mehr als nur rein intentionale Gegenstände des Bewußtseins sind, die also mehr sind als Gegenstände von Träumen, als primäre oder auch als abgeleitete rein intentionale Gegenstände, wie Roman Ingarden sie unterscheidet.107 Zweitens kann man aber auch Gegenständen von Träumen oder literarischen Gestalten, insofern sie einmal konkretisiert und aktualisiert sind, ein gewisses Sein an sich im weiteren Sinne und jene Autonomie, die für den Unterschied zwischen wahren und falschen Aussagen vorausgesetzt ist, zuschreiben. Auch über Traumgebilde und literarische Kunstwerke und die in ihnen dargestellten abgeleiteten rein intentionalen Gegenständlichkeiten wie König Lear von Shakespeare können wir ja wahre und falsche Aussagen machen. Es geht nicht an, mit Pieper zu behaupten, daß dieser ontologische Wahrheitsbegriff als Autonomie des Seins bei Thomas nur ein ganz abgeleiteter, sekundärer sei. Denn an bedeutsamer Stelle sagt Thomas, das Seiende sei in primärerem Sinne wahr als die Übereinstimmung des Geistes mit ihm. In diesem Kontext ist es interessant zu bemerken, daß, während Thomas gesagt hatte, daß die eigentliche ratio des Wahren in der Übereinstimmung des Urteils mit dem Seienden liegt, also primär – und das wiederholt er auch später – in dem Urteil und sekundär in der Definition und erst in dritter Linie in den Dingen bestehe,108 sagt er andererseits umgekehrt in De veritate, daß im primären Sinn das Seiende wahr sei. Er bemerkt nämlich, so wie die Ursache des Seins im höchsten Grad seiend ist, so sei auch das, was die Ursache der Wahrheit von anderem ist, in höchstem Grade wahr. Und deshalb macht Thomas auch die Aussage, daß das im höchsten Grad Seiende das im höchsten Grad Wahre sei. Also behauptet er, daß, insofern das Seiende die Ursache von Wahrheit ist, es auch im höchsten Sinne wahr ist. Es steht diese Äußerung mit der 107 108

Vgl. Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk, 3. Aufl., 1972. Vgl. Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, Q. 1, art. 4, co.

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vorhergehenden über die ratio veritatis, in welcher die Übereinstimmung zwischen Geist und Sein und daher nicht das Seiende als wahr begriffen wird,109 in einem gewissen Spannungsverhältnis. Es besteht jedoch kein Widerspruch zwischen beiden Aussagen, weil dort die Urteilswahrheit, hier die ontologische Wahrheit oder das Sein selbst, wenn auch vielleicht das Sein in seiner Offenheit auf Geist hin, als die grundlegendere Form der Wahrheit begriffen wird als die Wahrheit im Sinne der Übereinstimmung. Die beiden Aussagen Thomas von Aquins erweisen sich auch durch eine andere tief personalistische Einsicht des Aquinaten in ihrer inneren Verbindung: Es folge nicht nur auf der einen Seite der Idee nach das Wahre dem Seienden, sondern das Sein finde auf der anderen Seite erst im Erkanntwerden durch den Geist seine Vollendung, ja es sei dazu „geboren“, erkannt zu werden.110 Und daran schließt organisch der Gedanke an, der primäre Sinn von Wahrheit liege in der Seinswahrheit. Wenn wir den Satz Thomas’, ratio veri sequitur rationem entis, erwägen, dann behauptet Thomas meines Erachtens mit Recht, daß (zumindest in gewisser Hinsicht, die nicht in Widerspruch, aber in gewisser Spannung zu der Aussage steht, daß die ratio veritatis primär in der Übereinstimmung eines Geistes mit der Wirklichkeit liege), insofern das Seiende der Urgrund der Wahrheit und ihrer Möglichkeit ist, das Seiende in noch fundamentalerem, höherem Sinne wahr ist, eben weil die ratio veri der ratio entis folge (sequitur). Da nämlich das, was Ursache des Seins von anderem ist, im höchsten Grade seiend ist, so ist auch das, was Ursache der Wahrheit von anderem 109

110

Dem enspricht auch die berühmte Wahrheitsdefinition Anselms, in: Anselm, De veritate, xi, S. Anselmi Opera omnia, (Hrsg.) Franciscus Salesius Schmitt, 2 Vol. (Stuttgart-Bad-Cannstatt: Friedrich Frommann/Günter Holzboog, 1968), Volume 1 S. 190-191. Anselm betrachtet diese Definition offenbar als korrekte Definition aller möglichen Formen der Wahrheit inklusive der Gerechtigkeit in : Anselm: Volume 1 p. 191-192. Thomas von Aquin faßt, wie Anselm selber, diese Definition nicht nur als Definition der Urteilswahrheit, sondern auch der ontologischen Wahrheit und überhaupt als universalste Definition der Wahrheit auffaßt, die deren sämtliche Bedeutungen decke: Thomas von Aquin, In Libros Sent., In I Sent., d. 19, q. 5, a 1, co. Vgl. Thomas von Aquin, De natura generis, cap. 3.

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ist, im höchsten Grade wahr; der Philosoph schließt, daß der ordnungsmäßige Platz (ordo) einer Sache im Sein und in der Wahrheit derselbe ist; in dem Sinne natürlich, daß dort, wo sich das im höchsten Grade Seiende findet, auch das im höchsten Grade Wahre zu finden ist. Und das ist nicht darum so, weil das Seiende und das Wahre ihrer Idee nach dasselbe sind (ratione idem), sondern, weil etwas entsprechend dem, was es vom Seinsbestand in sich hat (ex hoc quod aliquid habet de entitate), dazu geschaffen ist, mit dem erkennenden Geist übereinzustimmen; und so folgt der Idee nach das Wahre dem Seienden (ratio veri sequitur rationem entis). Auch sagt Thomas: Wo etwas von einem Gegenstand früher als von einem andern ausgesagt wird, da muß nicht notwendig der Gegenstand, dem das gemeinsame Prädikat früher zugesprochen wird, Ursache des andern sein, sondern jenes ist die Ursache, in dem sich zuerst die Idee (ratio) jenes Gemeinsamen vollständig vorfindet. So wird das Gesunde zum Beispiel zunächst von dem Lebewesen ausgesagt, in dem sich zuerst die Idee der Gesundheit in Vollkommenheit findet, obwohl die Medizin als die Gesundheit bewirkend gesund genannt wird. Und so muß auch das Wahre, wenn es von mehreren Dingen früher und später ausgesagt wird, von dem früher ausgesagt werden, in dem sich die Idee der Wahrheit in Vollkommenheit findet. Den Abschluß einer jeden Bewegung nun bildet ihr Ziel.111

In diesem Text deutet Thomas die Vereinbarkeit seiner verschiedenen Aussagen über Wahrheit wieder ganz im Hinblick auf die Urteilswahrheit. Die Dinge werden wahr genannt in Hinsicht auf das, worin sich die ratio veri vollständig oder vollkommen findet, nämlich im Urteil oder im Geist. Ja, Thomas fügt noch einen dritten Gedanken zur Begründung seiner Aussage, daß das Sein selber im vornehmlichen Sinne wahr sei, hinzu: die urtümliche Anlage des Seins auf Erkenntnis und auf Wahrheit. Denn er sagt, daß zwar das Seiende und das Wahre nicht ihrer ratio oder ihrer Idee nach dasselbe sind, aber insofern etwas Seinsbestand in sich habe (ex hoc quod aliquid habet de entitate), sei es dazu geschaffen oder dazu geeignet, ja dazu bestimmt (natum), mit dem erkennenden Geist übereinzustimmen. Noch eine weitere vierte Einsicht in die ontologische Wahrheit des 111

De veritate, Q. I, a. 2, c.

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Seins ist hier verborgen: Geistsein und Erkennen stelle die höchste Form des Seins und dessen eigentlichsten Grund dar, eine vom Deutschen Idealismus verabsolutierte und umgedeutete Wahrheit, die auch ein Element jeder echt personalistischen Metaphysik ist. Gehen wir zu den Sachen selbst zurück, um die anscheinenden Widersprüche in den verschiedenen thomasischen Aussagen als keine echten Widersprüche zu erkennen. Wir haben schon gesehen: Thomas sagt einmal, daß das Seiende als Ursache der Wahrheit im höheren Sinne wahr ist, dann sagt er aber auch wieder, daß die ratio veri primär im Urteil liege. Diese beiden Aussagen können evidenterweise nicht beide in derselben Hinsicht gelten. Man muß daher im Blick auf die Sache Wahrheit selber diese beiden Aussagen in ihrem inneren Spannungsverhältnis und ihrer Ergänzung im Blick behalten, um zu erkennen, daß beide wahr sind und einander nicht widersprechen: Der Charakter des Seins als „truthmaker“112 erlaubt es uns tatsächlich, es im primären Sinn des Fundaments von Wahrheit wahr zu nennen,113 während zugleich die vom Realsein verschiedene ratio des Wahren in der Urteilswahrheit betont werden kann. Ja das Sein ist von Natur aus dazu bestimmt, Gegenstand von Erkenntnissen und auch von wahren Urteilen zu werden und in dieser Unverborgenheit und Wahrheit der das Seiende umfassenden geistigen Erkenntnis und des darauf folgenden Urteils erst den eigentlichsten Sinn auch seiner ontologischen Wahrheit zu entfalten. In diesem Gedanken sind alle drei erwähnten Aussagen von Thomas in von den Sachen selbst her verständlicher Weise verbunden.

112

113

Siehe dazu Barry Smith/Kevin Mulligan, “Truth-Makers”. Smith und Mulligan meinen mit dem Begriff des “truth makers” nicht eine irgendwie geartete Produktion der Wahrheit, sondern vielmehr jene Abhängigkeit, kraft deren wahre Urteile und Sätze ein ontologisches Fundament voraussetzen, das sie wahr macht bzw. für ihre Wahrheit verantwortlich ist, so etwas wie Sachverhalte oder einen Weltzustand. Auch in seinem Aristoteles-Kommentar, In libros de gener. Et corrupt., lib. 1, lectio 8, 7, hebt Thomas mit Aristoteles dies hervor, daß ohne Wahrheit des Seins alle andere Wahrheit ohne Fundament wäre.

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1.5. Ontologische Wahrheit als „Eigentlichkeit“ und als „Wesensentsprechung“ und Harmonie zwischen „einem Ding und seinem Logos“ – Ontologische Wahrheit im vierten spezifischen Sinn als Erfüllung der objektiven Wesensintention eines Dinges und vor allem des wahren Selbst

„Ontologische Wahrheit“ kann auch als Entsprechung zwischen „Ding und seinem immanenten Wesen“ verstanden werden. Wahrheit in diesem Sinne ist zunächst einfach Wesensgemäßheit und Eigentlichkeit – noch in einem wertneutralen Sinne. (Wir werden im Lichte des folgenden Abschnittes sehen, daß diese Bedeutung ontologischer Wahrheit sich erst im Reich des Wertvollen in ihrer eigentlichen Bedeutung entfaltet.) Ontologische Wahrheit könnte man in dieser Betrachtung zunächst als die Entsprechung einer Sache ihrem eigentlichen Wesen oder als „Wesensgemäßheit“ eines Dinges bezeichnen. Dieser Sinn von ontologischer Wahrheit lag wohl auch Napoleons Bemerkung nach seiner Begegnung mit Goethe zugrunde: “Voilà un homme!” Eine Vorstufe dieser Wahrheit als Wesensgemäßheit, die noch wertneutral ist, ist die Eigentlichkeit der Verwirklichung eines Wesens, wie sie ebensowohl im Guten wie im Schlechten vorkommt.114 Es ist das Phänomen, das Martin Heidegger als „Eigentlichkeit“ bezeichnet und sowohl der Liebe als auch dem Hasse zuspricht. So sprechen wir von einem eigentlichen Haß, von einer wahrhaftigen Gemeinheit oder einer „wahren Gemeinheit“ und unterscheiden diese von einer nicht voll intendierten, uneigentlichen oder rein konventionellen. Auch Platon spricht in diesem Sinne von ontologischer Wahrheit, etwa vom „wahrhaften Sophisten“.115 Ontologische Wahrheit heißt hier eine Entsprechung einer Sache ihrem eigentlichen Wesen oder die „Wesensgemäßheit“ eines Dinges. Wahr bedeutet hier eine bestimmte Erfüllung der Idee oder des Wesens einer Sache. In diesem Sinne definiert auch Albertus Magnus die Wahrheit 114

115

So nennt Heidegger Liebe und Haß zwei gleichursprüngliche Formen der Eigentlichkeit. Vgl. Martin Heidegger, Nietzsche (Bd. I und II). Feullingen, Günther Neske 1961. Ganz zu Ende des Sophistes 268 sagt er etwa: wer von diesem Geschlecht und Blute den wahrhaften Sophisten abstammen läßt, der wird, wie es scheint, das richtigste sagen. THEAITETOS: Auf alle Weise gewiß.

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als Relation der Dinge zu ihrer ratio formalis.116 So ließe sich wahre von falscher Liebe und in einem analogen Sinn auch echtes von falschem Gold und sogar bei negativen Phänomenen ein „wahrer“ oder „wahrhafter Haß“ von einem uneigentlichen unterscheiden. Auch Avicennas Definition der Wahrheit als jene „Eigentümlichkeit eines Seins, die für es festgesetzt wurde“, kann in diesem Sinne der Wesensgemäßheit gedeutet werden.117 Von Wahrheit in diesem Sinne, ebensowenig wie von ontologischer Wahrheit im Sinne der höheren Stufen der Intelligibilität, denen das Absurde und Sinnwidrige, oder den höheren Stufen des Wertvollseins, denen das Böse entgegensteht, kann keineswegs mit Pieper und Thomas gesagt werden, sie habe keinen Gegensatz der Falschheit und es gelte, „Jedes Seiende ist wahr und kein Ding ist falsch“.118 Auch bedeutet hier „ontologische Falschheit“ nicht jenes Phänomen, das Thomas zuläßt, nämlich bloß eine Relation zu unserem „für Falschhalten“, sondern vielmehr einen objektiven Gegensatz zum Logos und Wesen einer Sache, also eine Eigenschaft, die ihr ganz unabhängig von unserem Urteil zukommt. Diese ontologische Wahrheit als Wesensgemäßheit entfaltet sich in einer ganz neuen Dimension nur in der Sphäre des Wertvollen. Die ontologische Wahrheit als Wesensgemäßheit erfüllt sich nämlich nicht in dem neutralen Sinne der Wesensentsprechung oder Heideggerschen Eigentlichkeit, sondern erst im Axiologischen, wie wir im nächsten Abschnitt noch besser sehen werden. So sprechen wir von einem wahren Kunstwerk, einer wahren Freundschaft oder wahren Liebe. Man könnte ontologische Wahrheit in diesem Sinne als Verwirklichung dessen fassen, 116

Siehe Albertus Magnus, Summa de bono I, 4, 1. Siehe auch Kühle, „Die Lehre Alberts des Großen von den Tranzendentalien“, S. 139. Vgl. auch J. Pieper, op. cit., Kap. iv. 117 Vgl. Avicenna, Metafisica. La scienza delle cose divine, S. 808; Met., VIII, 6: “Veritas enim cuiusque rei est proprietas sui esse quod stabilitum est ei”. 118

“Omnis res est vera et nulla res est falsa”. Siehe auch J. Piepers u.E. falsche Meinung, die er in Wahrheit der Dinge, ebd., Kap. ii, 1, mit diesem Gedanken Thomas von Aquins verbindet: Unser Urteil kann wahr oder falsch sein; die Dinge hingegen sind immer und ausschließlich wahr, niemals falsch.

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was in der werthaften Wesensintention eines Dinges liegt. So könnte man sagen, ein Freund sei in dem Maße ein wahrer Freund, in dem er das, was Freundschaft überhaupt ist, in dem er das Wesen der Freundschaft in seinem Leben verwirklicht. Ein nicht wahrer Freund wäre einer, der zwar ein Freund ist, aber das, was wirklich Freundschaft ist, nur sehr unvollständig und sehr unvollkommen verkörpert. Ein falscher Freund wäre demnach einer, der in ausdrücklichem Widerspruch zu dem steht, was in der inneren Natur von Freundschaft liegt. Hier sehen wir, wie die ontologische Wahrheit als Wesensgemäßheit nicht nur in dem neutralen Sinne der Heideggerschen Eigentlichkeit verstanden werden darf. Erst dann leuchtet der enge Bezug zwischen der ontologischen Wahrheit im Sinne des Guten und im Sinne der Wesensgemäßheit und Entsprechung ein. Wir werden auch sehen, daß dieser Sinn ontologischer Wahrheit als „Wesensgemäßheit“ nicht ausschließlich einen intrinsischen Sinn von Seinswahrheit ausmacht, sondern auch eine der Bedeutungen von ontologischer Wahrheit als Entsprechung zwischen einem Seienden und einem ihm selber transzendenten Maß einschließt. Obwohl auch die axiologische Dimension zu den intrinsischen ontologischen Dimensionen der Wahrheit zu rechnen und deren erwähnte fünfte Form ist, halte ich es für gerechtfertigt, sie nicht unter dem gegenwärtigen Punkt f) als Erfüllung der Wesensintention eines Dinges und nicht einmal nur als Punkt g) dieses Abschnittes über intrinsische ontologische Wahrheit, sondern als eine eigene Art und Bedeutung ontologischer Wahrheit zu behandeln. 2. Ein weiterer intrinsischer Sinn von „Ontologischer Wahrheit“: Das Gute als das Wahre – Ontologische Wahrheit als innere axiologische Eigenschaft und Rechtfertigung des Seins In einem neuen Sinn von ontologischer Wahrheit, der der dritten andernorts unterschiedenen Seinsdimension entspricht,119 wird das Wahrsein im ontologischen Sinn nicht einfach dem Verstehbaren und erst recht nicht dem Realen als solchem zugesprochen, sondern nur dem Eigent119

Siehe J. Seifert, „Die verschiedenen Bedeutungen von Sein“, cit.

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lichen, Wesensgemäßen und Idealen, und an tiefster Stelle nur dem Guten – dem, was Werte trägt.120 Wert verstehen wir dabei in erster Linie als die in sich selber ruhende positive Bedeutsamkeit eines Seienden, als die objektive Kostbarkeit von etwas, die dieses nicht nur für jemanden, für den es angenehm oder sogar objektiv gut ist, sondern in sich selber positiv bedeutsam macht und aus der Sphäre des Indifferenten und Neutralen heraushebt. Wenn wir das Gute in seinem allgemeinsten Sinne nehmen, so bedeutet es nicht bloß die Herausgehobenheit von etwas aus dem Neutralen, Indifferenten, was auch die Übel kennzeichnet, sondern (im Gegensatz zum Schlechten) ein Herausgehobensein von etwas aus der Sphäre des Neutralen durch seine positive Bedeutsamkeit. Doch innerhalb des Guten, das auch Gegenstand eines Begehrens121 oder einer Liebe im weitesten Sinne, wie Brentano ihn verwendet,122 ist, finden wir noch grundsätzlich verschiedene Formen eines solchen Herausgehobenseins durch positive Bedeutsamkeit, grundsätzlich verschiedene Arten positiver Bedeutsamkeit, deren klare und für alle Ethik grundlegende Unterscheidung wir Dietrich von Hildebrand verdanken:123 a. Etwas kann nur rein relativ und subjektiv positiv bedeutsam sein, in Abhängigkeit von unserer subjektiven Lust oder Unlust, von unserem Geschmack. Auch dabei kann es sich um ein legitim subjektiv Befriedigendes oder Angenehmes handeln, das aber vom jeweiligen subjektiven Geschmack eines Menschen, von dem, was ihm schmeckt oder nicht schmeckt, abhängt, wie dem einen Parmesan-Käse wunderbar schmeckt, dem andern gar nicht. Es kann aber auch eine noch rein subjektivere 120

121

122

123

Auch in diesem Sinne spricht Platon oft vom Wahren, z.B. von der „wahren Schönheit“, der „wahren Liebe zur wahren Philosophie“ (Politeia 6. 499), etc. Vgl. auch Josef Seifert, “The Idea of the Good as the Sum-total of Pure Perfections. A New Personalistic Reading of Republic VI and VII”, in: Giovanni Reale and Samuel Scolnikov (Ed.), New Images of Plato. Dialogues on the Idea of the Good (Sankt Augustin: Academia Verlag, 2002), S. 407-424. Etwa in dem Sinne, in dem das scholatische dictum: “bonum est quod omnes desiderant” gemeint ist. Vgl. Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, eingel. U. hrsg. v. Oskar Kraus, unv. Nachdr. der 4. Aufl. (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1955). Dietrich von Hildebrand, Ethik, in: Dietrich von Hildebrand, Gesammelte Werke, Band II (Stuttgart: Kohlhammer, 1973), Kap. 1-11; 17-18.

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positive Bedeutsamkeit sein, die uns anzieht, wenn diese nämlich im Widerspruch zur objektiven Bedeutsamkeit eines Seienden steht. In diesem Sinne mag etwa sogar das Leid des Andern, das objektiv eine Antwort des Mitleids fordert, dem Schadenfrohen oder Sadisten Quelle der Lust sein. b) Auch vom legitimen subjektiv Befriedigenden unterscheidet sich das objektive Gut für eine Person. Dieses wendet sich zwar auch an eine Person, ist für diese ein Gut, ein Geschenk (und schließt alles legitim Lustvolle ein, das zugleich ein objektives Gut ist), aber es besitzt den Charakter eines objektiven Gutes, im wahren Interesse der Person liegenden Etwas. Es fördert die Person, ist ein Gut für sie in einem viel tieferen Sinne. Dennoch bezieht es sich auf jenes einzigartige individuelle Zentrum dieser Person, für die es ein Gut ist, wie etwa eine große Liebe zu mir oder mein Geliebtwerden, oder mein ewiges Heil, objektive Güter und Geschenke für mich sind. Die Bedeutsamkeit, die wir hier im Auge haben, besteht nicht für jedermann. Das Geliebtwerden von einer Frau kann etwa für den einen Mann, den sie liebt, ein großes Geschenk sein, für einen anderen, der sie ebenfalls liebt, aber durch ihre Liebe zum ersten verliert, ein objektives Leid oder Übel: „Watt dim inen sin Uhl, is dem andren sin Nachtigall!“, wie das Sprichwort sagt. Und selbst das höchste Gut für eine Person, ihr ewiges Heil, ist für andere, die dieses Gut nicht erlangen, nicht in gleicher Weise ein objektives Gut, auch wenn auf Grund der Transzendenz der Liebe das Gut für eine andere Person, die jemand liebt, direkt oder indirekt auch ein objektives Geschenk für den Liebenden wird.124 c) Im Unterschied zu diesen beiden Arten positiver Bedeutsamkeit besteht eine dritte und die allergrundlegendste, die deshalb an erster Stelle genannt werden sollte, in einem in-sich-selber-positiv-bedeutsam-Sein, in einem Gutsein einer Sache, die nicht nur für jemanden besteht, sondern ein Seiendes in sich selber positiv bedeutsam macht. Diese in sich ruhende Bedeutsamkeit des Schönen, Wahren, Guten, Gerechten, der Personwürde, ist nicht nur für jemanden, sondern in sich selber gut. Diese Bedeutsamkeit ist, in scharfem Gegensatz zum rein subjektiv Befriedigenden, nicht relativ auf ein Subjekt, nicht einmal relational wie das objektive Gut für die 124

Vgl. die scharfsinnige Analyse dieses Sachverhalts in Dietrich von Hildebrand, Das Wesen der Liebe; Dietrich von Hildebrand. Gesammelte Werke III (Regensburg: J. Habbel, 1971), Kap. 7.

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Person. Dieses in sich Bedeutsame verdient eine Wertantwort, eine Antwort um seiner selbst willen, eine Hingabe des Subjekts. Die Liebe zu ihm oder Freude über es ist „als richtig charakterisiert“, wie Brentano sagt, ohne die Natur dieser „Richtigkeit“ richtig zu begreifen.125 Wir konsumieren es nicht, benutzen es nicht,126 sondern ordnen uns dem in sich Guten unter, geben uns an es hin, bejahen es um seiner selbst willen. Das in sich Wertvolle richtet auch eine Forderung nach einer angemessenen Antwort an uns, es lädt uns nicht bloß ein oder verführt uns gar bloß. Es wendet sich an unsere Freiheit und entthront diese nicht, indem es uns einlullt oder fesselt wie etwas rein subjektiv Befriedigendes. Es ist ferner Quelle wahren Glücks, gerade weil seine Bedeutsamkeit sich nicht darin erschöpft, Mittel für unser Glück zu sein.127 Für uns geht es aber um einen weiteren Aspekt von all diesem, nämlich um die innere Gutheit des Seienden als Wahrheit. Auch diese Bedeutung von ontologischer Wahrheit ist von eminenter Bedeutung, ja wir erblicken in der „Wertwahrheit“ sogar die eigentlichste Seinswahrheit. Denn wenn wir z.B. auf den Neid blicken, der einen Menschen zerfrißt, oder die Eifersucht eines Othello betrachten, der Desdemona ermordet, so besitzen sowohl der Neid als auch die Eifersucht wahrhafte Realität.128 Die Übel des 125

126

127 128

Franz Brentano verdanken wir diese Idee der „als richtig charakterisierten Liebe“ und des „als richtig charakterisierten Hasses“, welche Idee die der angemessenen Wertantwort vorwegnimmt, allerdings ohne jede klare Einsicht, daß das Gute keineswegs darauf reduziert werden kann, Gegenstand einer als richtig charakterisierten Liebe zu sein, sondern im Gegenteil die Erkenntnis des inneren objektiven Wertes der Sache erst die angemessene Antwort begründen und erklären kann, warum die Antwort richtig und angemessen, gebührend ist. Wird dies weggelassen, wie bei Brentano, bricht nur der Gedanke der „als richtig charakterisierten Liebe“, der ja der Wert ihres Gegenstands vorhergehen muß, der erst ihre Richtigkeit begründen kann, sondern erfolgt ein radikaler Rückfall Brentanos in den Psychologismus, Wertagnostizismus und Wertrelativismus, die er gerade überwinden wollte. Vgl. Juan-Miguel Palacios, “Estudio preliminar de: Franz Brentano, El origen del conocimiento moral,” Traducción de Manuel García Morente (Madrid: Tecnos, 2002) S. XI-XXX. Karol Wojtyáa hat in Amour et Responsabilité (Paris, 1978) gezeigt, wie das “se jouir de” sowohl das rein subjektiv Lustvolle als auch ein Benutzen bedeutet. Vgl. Dietrich von Hildebrand, Ethik, Kap. 1-7; 17-18. In De veritate, Quaestio I, sagt Thomas übrigens in zumindest scheinbarem Widerspruch zu seiner Deutung des malum, der gemäss das Übel gar keine

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Neides oder der Eifersucht sind sowohl real als sie auch ein hohes Maß an Verstehbarkeit besitzen, wenn auch gewiß nicht das höchste, da in ihnen – im Vergleich etwa zur Verstehbarkeit der Liebe – eigenartige Widersprüche des Denkens und der Leidenschaften und merkwürdige dunkle Seiten bestehen. Dennoch kann man nicht zu recht bestreiten, daß das Phänomen des Neides Gegenstand einer philosophischen Analyse werden kann, ja daß man hunderte Seiten mit einer Analyse der Wurzeln und Gründe, sowie der Eigenart des Neides, seiner Motivation, Wurzeln und Ziele sowie der aus Neid geborenen Wünsche füllen könnte, sodaß man dem Neid (sogar innerhalb der dritten unterschiedenen Kategorie wesensnotwendiger Sachverhalte) einen hohen Grad von Intelligibilität nicht wird absprechen dürfen. Man mag zwar sagen, daß diese Intelligibilität des Neides keine ursprüngliche ist, sondern gleichsam von der Intelligibilität des Guten zehrt, daß sie daher nicht gleichrangig neben der ontologischen Wahrheit des Wertvollen stehe. Dennoch kann man Phänomenen wie Neid und Eifersucht ontologische Wahrheit weder im ersten noch im zweiten Sinn ganz absprechen. Was man ihnen jedoch entschieden absprechen muß, ist die ontologische Wahrheit in einem weiteren Sinn, der wohl der tiefste ist. In diesem Sinne von „ontologischer Wahrheit“ ist letztlich nur das Werthafte und Gute wahr. Mit welcher Berechtigung, so könnte man jedoch einwerfen, wird hier dem Übel ontologische Wahrheit abgesprochen, haben wir doch den Übeln ontologische Wahrheit im Sinne der Realität zuerkannt? Man muß auf diesen Einwand erwidern, daß wahr in unserem dritten grundsätzlich verschiedenen Zusammenhang nicht nur Erkennbarsein, erst recht nicht nur Wirklichsein, sondern daß „wahr“ hier vielmehr die raison d’être und die positive Erfüllung einer Sache bezeichnet. Das allein wäre wahr in diesem Sinn, was die Rechtfertigung des eigenen Seins durch seinen Wert in sich trägt und seine Berufung und seinen Wert erfüllt, das Seinsollende. In einem solchen Verständnis könnte man in der Tat sagen „ens et verum et bonum convertuntur“, nicht in einem reduktionistischen Sinne, sondern Existenz hat, daß der Ehebruch etwas Böses, ein Übel ist, aber real existiere und daher in dem ersten Sinn von ontologischer Wahrheit von Augustinus: verum est id quod est, etwas Wahres, d.h. etwas Wirkliches ist.

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in jener Weise, daß erst das Gute, weil es in sich selber kostbar ist oder objektiv für eine Person gut ist, und weil es dem Seienden seine innere Rechtfertigung verleiht, wahres Sein ist. In diesem Sinn ist das Wahre das Gute: das Wahre ist das, was durch sein Sein, sowohl durch sein Dasein als auch durch sein Wesen, wertvoll und folglich in seinem Sein bestätigt ist. Wahr in diesem vierten Sinne ist jenes Sein, das, bildlich gesprochen, „inthronisiert“ ist129 und auf dem Thron „des Rechts“ oder der Berechtigung „sitzt“. Das Wahre in diesem Sinn ist das, von dem es gut ist, daß es ist und das dadurch sein Wesen, seine Aufgabe, seine ideale Berufung erfüllt. Das Wahre in diesem Sinn ist also nicht bloß ein Faktum, es fällt nicht mit dem Wirklichen, sondern nur mit dem Vernünftigen zusammen, wie wir das bekannte Hegelwort „Alles Wirkliche ist vernünftig“ kritisch abwandeln können. Wahr in diesem Sinne ist also beileibe nicht alles, was wirklich ist, sondern nur das, was nicht bloß ist, sondern was „zugleich ist und sein soll“. Vom „wahren“ Sein in diesem Sinne gilt, daß es zugleich gut ist, daß es ist. Dieses im axiologischen Wortsinn wahre, also das gute Sein, umfaßt neben seinem grundlegendsten Reich, dem in sich selber Wertvollen, auch alle objektiven Güter für Personen und auch alles legitim Angenehme und Lustvolle, das zu diesen gehört und über deren Wesen und Beziehung wir Dietrich von Hildebrand eine detaillierteste und feinste Analyse verdanken, auf die ich hier nur verweisen, die ich aber hier nicht weiter ausführen kann.130 Auch dieser Begriff von Seinswahrheit läßt unzählige Stufen zu. Etwas ist in dieser Wortbedeutung von „ontologischer Wahrheit“ um so wahrer, 129

130

Dieser Begriff spielt in einer anderen, mehr der „subjektiven Seite“ der Bejahung der objektiven Kostbarkeit und ihres Ausdehnens auf noch nicht festgestellte Bereiche in D. von Hildebrands Philosophie der Liebe eine Rolle. Siehe D. von Hildebrand, Das Wesen der Liebe, Kap. 3. Siehe auch J. Seifert, „Die verschiedenen Bedeutungen von ‚Sein‘“, cit. Vgl. Dietrich von Hildebrand, Ethik, Kap. 1-7; Kap. 1-14; 17-18; 29. Ders., Das Wesen der Liebe; 2e Aufl., italienisch-deutsch (Milano: Pompiani, 2003), Kap. 1, 5, 7. Vgl. auch Fritz Wenisch, Die Objektivität der Werte (Regensburg: Josef Habbel Verlag, 1973), sowie Josef Seifert, „Wert und Wertantwort. Hildebrands Beitrag zur Ethik“, in: Prima Philosophia, Sonderheft 1, 1990.

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in je höherem Maße es wertvoll und Träger des Guten ist. In diesem dritten Sinn ist etwa ein wahrer Mensch jemand, der ein “Ecce homo” im philosophischen Sinne deshalb berechtigt erscheinen läßt, weil er das Wertvollste im Menschsein verwirklicht. In ähnlicher Weise ist eine wahre Freundschaft in diesem Sinne eine, die die der Freundschaft eigenen Werte realisiert.131 Dieser fundamentale Sinn der Wahrheit als das Gute ist besonders eng mit einem weiteren verknüpft. Ontologische Wahrheit, so verstanden, ist nicht mehr eine rein innere Eigenschaft, sondern eine Entsprechung, aber eine Entsprechung besonderer Art zwischen Idee und Wesen. Um dies besser zu verstehen, müssen wir weiter ausholen und die verschiedenen weiteren Formen ontologischer Wahrheit, die in Entsprechungen bestehen, erforschen.

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Auf eine andere zentrale Bedeutung der ontologischen Wahrheit als innerer Wahrheit der Dinge werden wir noch zurückkommen.

Die Wahrheit des Seins und Wesens – „Ontologische Wahrheit“

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II. ONTOLOGISCHE WAHRHEIT IN RELATIONEN DES SEIENDEN ZU ETWAS ANDEREM

1. Ontologische Wahrheit als Sinn und Verstehbarkeit: innere, doch zugleich –als „Geistoffenheit“ – relationale Eigenschaft des Seins Verum importat ordinem quemdam entis ad intellectum; verum habet ordinem ad cognitionem. Das Wahre bringt eine gewisse Hinordnung des Seienden auf den Intellekt mit sich; das Wahre besitzt eine Zuordnung auf Erkenntnis. Thomas von Aquin, De Natura Generis, ii; Summa Theol. Q.16 a.3 Ens non potest intelligi sine vero, quia ens non potest intelligi sine hoc, quod correspondeat vel adaequetur intellectui Das Seiende kann nicht ohne das Wahre verstanden werden, weil das Seiende nicht ohne dieses verstanden werden kann, daß es dem Geist entspreche oder sich ihm angemessen erweise. Thomas von Aquin, De Ver. I, I ad 3. In ipsa operatione intellectus ... completur relatio adaequationis, in qua consistit ratio veritatis In der Tätigkeit des Verstandes ...wird die Relation der Adäquation erfüllt, in der das Wesen (ratio) der Wahrheit besteht Thomas von Aquin, In Sent., I, d. 19, 5, 1. Verum enim addit supra ens rationem cognoscibilis Das Wahre fügt dem Seienden die Beziehung des Erkennbarseins hinzu Thomas von Aquin, De natura generis 2.

Man könnte bei der näheren Bestimmung des „durch sein Sein Wahren“ auch eine ganz andere Richtung einschlagen und sagen, daß es nicht einfach das Realsein, das Wirklichsein als solches oder ein anderer der erwähnten Aspekte der intrinsischen Eigenschaften des Seienden ist, was seine ontologische Wahrheit ausmacht, wie wenn wir etwa wahre Begebenheiten von erfundenen unterscheiden (dann ist es in der Tat dieses Realsein selber, das mit dem Wahrsein gemeint ist), sondern daß die Wahrheit eines Dinges durch eine Relation zwischen ihm und etwas Anderem konstituiert wird, also eine relationale Eigenschaft des Seienden – nicht in se, sondern ad aliud (nicht in sich, sondern auf etwas Anderes hin) – ist, wie auch Thomas von Aquin die transzendentale Proprietät aller Seienden, ihren Charakter als verum, bestimmt. Die erste Relation, die sich

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hier empfiehlt, und die alles Seiende wenigstens potentiell auszeichnet, ist diejenige auf einen erkennenden Geist, die wir in gewisser Weise schon in der Bestimmung der Seinswahrheit als Fundament wahrer Aussagen berührt haben. Im Sinne dieser anderen Richtung das zu verstehen, was Seinswahrheit bedeutet, könnte man ontologische Wahrheit vornehmlich dahingehend bestimmen, daß etwas in dem Maße wahr ist, in dem es intelligibel ist. Ein Seiendes ist demnach wahr in dem Maße, in dem es nicht einfach wirklich, sondern erkennbar ist. Wahr in diesem Sinne wäre ein Seiendes in dem Maße, in dem es sich – wenigstens potentiell – dem Geiste durch seine Intelligibilität und Erkennbarkeit in seinem Sinn erschließt. 1.1. Ontologische Wahrheit im allgemeinen als Intelligibilität des Seins: Zu einer personalistischen und platonischen Dimension der Seinswahrheit

Diese ontologische Wahrheit als Intelligibilität kann dann zunächst im weitesten Sinn verstanden werden. Wahr drückt dann eine Eigenschaft alles Seienden aus, die sich ohne dessen Bezug auf den Geist nicht fassen läßt und sich im Erkanntwerden vollendet, die aber, wie Pieper mit Recht bemerkt,132 nicht im tatsächlichen Erkanntsein besteht. Wohl aber gehört zur ontologischen Wahrheit in diesem Sinn wesensmäßig, daß die Formen sowie das Dasein der Dinge auch von einem andern, nämlich dem Geist, geistig gehabt werden oder wenigstens gehabt werden können.133 Dann wäre also nicht das Wirklichsein als solches, sondern eine ganz andere Dimension des Seins,134 nämlich dessen Intelligibilität, die Ursache des „Wahrseins“ eines Dinges. Dies ist eine wesentlich andere Bedeutung von „ontologischer Wahrheit“ als der Grad seiner Wirklichkeit. Es kann nämlich etwas viel intelligibler sein, das viel weniger real ist. So sind z.B. ein Konzentrationslager oder ein Haufen von Menschen, die sich in einer Großstadt durch eine Untergrundbahn drängen, real; sie sind viel realer als die Gestalten von Shakespeares King Lear, denn keine dieser Gestalten lebt wirklich, keine hat Fleisch und Blut, keine denkt real. Die in einem 132 133

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Wahrheit, a.a.O., Kap. II, 3, S. 38 ff. Zum besonderen Modus dieses Habens siehe J. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit2. Siehe Josef Seifert, „Die verschiedenen Bedeutungen von ‚Sein‘“, S. 301-331.

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literarischen Kunstwerk dargestellten Gegenständlichkeiten sind nicht wirklich; sie gehören der Welt der Fiktion an. Vom Standpunkt der „Ungetrenntheit“ des Seins vom Wesen aus wären also die Menschen in einer Untergrundbahn weitaus ‚wahrer‘. Und doch sind die Gestalten des Shakespeare-Stücks viel intelligibler, es gibt eine viel größere sinnvolle Einheit, in der diese Figuren zueinander stehen als diejenige, in der ein zufällig zusammengewürfelter Haufen von Menschen in einer U-Bahn zu einander stehen. Dies zu erwägen dient nicht nur dem Verständnis, daß – allgemein gesprochen – Intelligibilität des Seins eine ganz andere Dimension ontologischer Wahrheit ist als die bisher erörterten intrinsischen Dimensionen ontologischer Wahrheit und speziell als das Realsein. Vielmehr lenkt diese Überlegung unseren Blick auf die Tatsache, daß das transzendentale verum ein analoger Begriff bzw. eine analoge Gegebenheit ist, die keineswegs allen Seienden im selben Maße zukommt, sondern unendlich vielen Abstufungen unterliegt und außerdem grundsätzlich verschiedene Formen besitzt. Man könnte also das Wahrsein nicht auf das Realsein beziehen, sondern vielmehr auf das Intelligibelsein, auf das Einleuchtendsein und in diesem Sinne wäre das wahrste Sein dasjenige Sein, das am meisten dem Erkennen Nahrung gibt und das objektiv einen Sinn besitzt, der ein reiches, vielfältiges, komplexes Erkennen erlaubt. Dann könnte die wahrste Welt eine rein mögliche, aber ideale und höchst intelligible sein. In jenem anderen thomasischen Sinn von ontologischer Wahrheit hingegen, der durch das reale esse bestimmt ist, wären die realen Menschen in der U-Bahn viel „wahrer“ als die Shakespeare-Gestalten wie Lear oder Cordelia, sogar im Gegensatz zu den höchsten reinen Ideen. Die jeweils verschiedene Gewichtung dieser zwei grundsätzlichen Bedeutungen von ontologischer Wahrheit, so könnte man sagen, unterscheiden Platon von Aristoteles. Aristoteles sieht das Sein im primären Sinne (tò òn kurioos) in erster Linie im realen Sein. Deshalb sagt er, Sein im eigentlichen Sinn heiße die Substanz, das, was in sich selber steht: und zwar nicht die allgemeine Substanz, nicht das allgemeine Wesen von Substanz oder das allgemeine Wesen einer Spezies (die „zweite Substanz“/deutera ousia., sondern dieser Ochs oder dieser Mensch (die

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prote ousia…) Auch sagt Aristoteles aus dem nämlichen Grund, das Sein135 der Akzidenzien oder das „Wahrheit-sein“ gehöre nicht zum Gegenstand der Wissenschaft vom (eigentlich) Seienden, der Metaphysik. Also ist das Reale für ihn das wahre Sein. Für Platon hingegen, woran allerdings auch Aristoteles’ Abhandlungen über Kontemplation und die dianoetischen Tugenden noch lebhaft erinnern,136 ist das wahre Sein primär und vor allem das intelligible Sein, das Sein der Ideen, das Sein der eide, das, was auf Grund seiner hohen Intelligibilität dem Geist Nahrung gibt. Platon entwirft im Phaidros das große Bild, daß die Seelen auf ihren Wagen und auf ihren Flügeln, die ihnen durch den Anblick der Schönheit wachsen, aufsteigen zum Himmel der Ideen und daß dort – auf den ewigen Gefilden der intelligiblen eide – sich die Nahrung der Seele befinde. Und eben deshalb strebten die Seelen mit so großer Macht dahin, weil sie dort ihre Nahrung fänden.137 Unter 135

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Die „erste Substanz“ (protee ousia. deuten wir hier nicht im Sinne der „absoluten Substanz“, sondern im Sinne des konkreten Einzeldings. Siehe zu den verschiedenen Bedeutungen von „erster Substanz“ G. Reale, The Concept of “First Philosophy” and the Unity of the Metaphysics of Aristotle; und J. Seifert, Essere e persona, cit., Kap. 8. Siehe Aristoteles, Nikomachische Ethik, X, vii, 1177 a ff. Vgl. Platon, Phaedrus, 246 e: Das Göttliche nämlich ist das Schöne, Weise, Gute und was dem ähnlich ist. Hiervon also nährt sich und wächst vornehmlich das Gefieder der Seele, durch //I83// das Mißgestaltete aber, das Böse und was sonst jenem entgegengesetzt ist, zehrt es ab und vergeht.

Und ebd., 247-248: Da nun Gottes Verstand sich von unvermischter Vernunft und Wissenschaft nährt, wie auch jeder Seele, welche soll, was ihr gebührt, aufnehmen: so freuen sie sich, das wahrhaft Seiende wieder einmal zu erblicken, und nähren sich an Beschauung des Wahren, und lassen sich wohlsein, bis der Umschwung sie wieder an die vorige Stelle zurückgebracht. //I84// In diesem Umlauf nun erblicken sie die Gerechtigkeit selbst, die Besonnenheit und die Wissenschaft, nicht die, welche eine Entstehung hat, noch welche wieder eine andere ist, für jedes andere von den Dingen, die wir wirkliche nennen, sondern die in dem, was wahrhaft ist, befindliche wahrhafte Wissenschaft, und so auch von dem andern das wahrhaft Seiende erblickt die Seele, und wenn sie sich daran erquickt hat, taucht sie wieder in das Innere des Himmels und kehrt nach Hause zurück. Ist sie dort angekommen: so stellt der Führer die Rosse zur Krippe, wirft ihnen Ambrosia vor und tränkt sie dazu mit Nektar. | Dieses nun ist der ||S248|| Götter Lebensweise. Von den andern Seelen aber konnten einige, welche am besten dem Gotte folgten und ihr nachahmten, das Haupt des Führers hinausstrecken in den äußeren Ort, und so den Umschwung mit vollenden.

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dieser „Nahrung“ versteht Platon wohl vor allem das Einleuchtende, das Intelligible, das Erkennbare, das in diesen ewigen Urbildern enthalten ist. Man kann Platon so deuten, daß er weniger die Realität, sondern viel mehr die Intelligibilität als die Wahrheit des Seins ansehe. Dann wäre das verum oder die ontologische Wahrheit nicht sosehr die Realität oder der Grad der Wirklichkeit, sondern viel mehr die Verstehbarkeit und der Grad der Einleuchtendheit.138 Etwas wäre um so wahrer, je mehr es durch seinen inneren Sinn und durch die Differenziertheit und Fülle seines Sinnes erkennbar, verstehbar, einleuchtend ist.139 Auch wenn man Platon in seiner Hierarchisierung des Seins nicht folgen möchte, so liegt unzweifelhaft im Intelligibelsein eine wesentliche Dimension ontologischer Wahrheit. 1.2. Die Seinswahrheit als „transzendentale Intelligibilität“ allen Seins: Zur thomasischen Interpretation der „ontologischen Wahrheit“ als einer implizite „personalistischen Metaphysik“

Innerhalb dieses Sinnes von „wahr“, d.h. innerhalb der Verstehbarkeit des Seins, gibt es, wie erwähnt, zahlreiche Abstufungen. Diese reichen von der untersten Stufe der Erkennbarkeit, die alles Seiende überhaupt besitzt, bis zur höchsten Stufe der einsichtigen Verstehbarkeit. Man könnte zunächst die Seinswahrheit in dem transzendentalen Sinne des verum deuten, d.h. man könnte sagen, schlechthin alles, was ist, ist auch erkennbar und deshalb wahr. Es ist schlechthin einsichtig, daß es nichts geben kann, das wäre und Sein besäße, aber das zugleich prinzipiell für keinen Intellekt verstehbar wäre. Es kann gewiß vieles geben und gibt es, das kein Mensch verstehen kann, aber nichts das nicht ein entsprechend erkenntnisreicher Geist erkennen könnte. So könnte man auch Thomas von Aquins Verständnis der ontologischen Wahrheit deuten, wenn er sagt: 138

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Vgl. Duns Scotus, Commentaria Oxoniensa ad IV libros Magistri Sententiarum, I, d, 3,1 und 2, 7, n. 364; ibidem, VI, q. III, n. 5; Commentaria Oxoniensia, I, d. 3, Ie 2, 7, n. 364; ibidem, I, d. 3, 3, 5, n. 395). Siehe auch Pieper, op. cit., Kap. iv, S. 73 ff., 131 ff. So schreibt auch Thomas in Summa contra Gentiles, 4, 11,1. Siehe auch Disp. Met. 8,7, n.7.

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Das Ding aber wird nur wahr genannt, sofern es mit dem erkennenden Geist in Übereinstimmung ist. Darum findet sich das Wahre sekundär (posterius) in den Dingen, primär aber (per prius) im erkennenden Geist...Das erste Verhältnis (comparatio) des Seienden zum erkennenden Geist besteht also darin, daß das Seiende dem erkennenden Geist entspricht. Dies Entsprechen aber wird als Übereinstimmung der Sache und der Erkenntnis (adaequatio rei et intellectus) bezeichnet; und darin bestimmt sich formaliter die Idee des Wahren (in hoc formaliter ratio veri perficitur). Das also ist es, was das Wahre noch zum Seienden hinzufügt, nämlich die Gleichförmigkeit (conformitas) oder Übereinstimmung der Sache und des erkennenden Geistes; auf diese Gleichförmigkeit folgt, wie gesagt, das Erkennen der Sache. So geht also der Seinsbestand der Sache dem Bereich der Wahrheit voraus (entitas rei praecedit rationem veritatis), das Erkennen (cognitio) aber ist eine Auswirkung der Wahrheit (quidam veritatis effectus).140

Wenn es nämlich ein Seiendes gibt, zeigt Thomas, das auf alles Seiende bezogen ist, zu dem alles Seiende, und zwar sowohl alles andere Seiende als auch es selbst, eine Relation hat, dann kann man nicht nur die jedem Seienden an sich (in se) zukommenden Prädikate, sondern auch eine solche Relation als ein Merkmal alles Seienden schlechthin bezeichnen. Thomas sagt ferner, wobei er einer aristotelischen Erkenntnis folgt,141 das, was einen Bezug zu allem Seienden überhaupt habe, „aber (ist) die Seele, die gewissermaßen alles ist“.142 Und er fügt hinzu: „Jedes Seiende ist nämlich dem göttlichen Intellekt angeglichen; und es kann sich dem menschlichen Verstand angleichen und umgekehrt.“143 140

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Thomas von Aquin, De veritate I, 1, c. Die Übersetzung, die wegen der phänomenologischen Frische und Anschaulichkeit, mit der sie den thomasischen Text interpretiert, hier zugrundegelegt wurde, stammt von Edith Stein, Edith Steins Werke (Louvain/Freiburg: Herder, 1952), Bd III, S. 11. Aristoteles, De Anima III, 4. Ebd. Siehe auch Aristoteles, De Anima, III, 5. Thomas, De veritate I, a 2, va 1 : “Omne enim ens est adaequatum intellectui divino, et potens adaequare sibi intellectum humanum et a converso.”

Das scheint mir allerdings in anderer Hinsicht ein bedenklicher Satz zu sein, weil er zu implizieren scheint, daß überhaupt kein Sein prinzipiell jenseits der Reichweite des menschlichen Intellekts liegen könne, was mit der Endlichkeit des

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Ich würde die Wahrheit dieses Satzes dahingehend verstehen, daß der Geist zwar keineswegs – wie der Text in seinem buchstäblichen Sinne genommen aussagt – „alles ist“, aber daß alles Seiende prinzipiell dem Intellekt gegenüber „offen steht“ und prinzipiell verstehbar sein muß. Wir können einsehen, daß es ein schlechthin unverstehbares, ein schlechthin nicht intelligibles Sein, nicht geben kann.144 Ja noch mehr, wie Pieper sagt, „spricht sich das Sein in seinem innersten Kern Geist gegenüber aus“ und „sind Sein und Geist für einander“.145 In diesem Sinne ist eine Metaphysik des transzendentalen verum eine personalistische Metaphysik, in der bei aller in sich ruhenden Realität und Sinnhaftigkeit der Dinge diese doch ein „für jemand Dasein“ einschließen, wie Söhngen sagt.146 Prägnant wird diese Geistzugeordnetheit des Seins auch von Hilarius so formuliert: „Das Wahre ist sich manifestierendes und erklärendes Sein“.147 Das transzendentale verum als Erkennbarkeit allen Seins ist eine allgemeinste Proprietät alles Seienden und Seins, als Intelligibilität aller Dinge und jeden Seins überhaupt, verstanden. Wie aber können wir eine solche Erkenntnis der Erkennbarkeit allen Seins erlangen? Setzen wir, oder setzt die mittelalterliche Philosophie bei einer derartigen Behauptung nicht notwendig sowohl eine universale Seinserkenntnis der Dinge an sich als auch die Existenz Gottes voraus, da der menschliche Intellekt doch keineswegs alles Sein zu erkennen vermag? Können wir aber ohne Annahme Gottes a priori wissen, daß auch all jenes Seiende, das sich unserem erkennenden Blick entzieht, erkennbar sein muß

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menschlichen Intellekts kaum zu vereinbaren ist. Wir werden auf diese schwierige Frage der Philosophie und zugleich der Thomas-Interpretation noch zurückkommen. Auf alle Fälle geht Thomas hier auf Aristoteles zurück, der sagt, die Seele oder der Geist sei das, was zu allem Seienden überhaupt in Bezug stehen kann, was, wie Aristoteles sagt, „potentiell alles ist“. Siehe dazu E. Stein, Endliches und Ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins, S. 263 ff., 273 ff. Siehe J. Pieper, Wahrheit der Dinge, op. cit., Kap. iii, 4, S. 67 ff. Siehe G. Söhngen, Sein und Gegenstand. Das scholastische Axiom ‘ens et verum convertuntur’ als Fundament metaphysischer und theologischer Spekulation, S. 115. “Verum est manifestativum et declarativum esse”. Siehe Thomas von Aquin, De veritate I, 1.

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und nicht widersprüchlich, absurd, durch und durch unerkennbar sein kann? In Antwort auf diese Frage drängt sich die Erkenntnis auf, daß die intrinsische Erkennbarkeit allen Seins und damit auch seine Zuordnung auf Erkanntsein erfassen läßt, ohne daß dabei schon die Erkenntnis Gottes vorausgesetzt zu werden bräuchte. Eher könnte umgekehrt die Einsicht in die wesensnotwendige Erkennbarkeit allen Seins Ausgangspunkt eines Arguments für die Existenz Gottes bilden. Denn daß alles Sein und Wesen, alle Form, ja auch alle Möglichkeiten prinzipiell auf Grund ihres Seinscharakters selbst erkennbar sind, was man auch als Prinzip der Verstehbarkeit (der Intelligibilität) bezeichnen könnte (omne ens est intelligibile), leuchtet unmittelbar aus den allgemeinsten Wesenseigenschaften des Seins ein. Freilich setzt diese Erkenntnis voraus, daß wir das allgemeinste Wesen des Seins überhaupt zu erfassen vermögen und in ihm seine notwendige Geistoffenheit vorfinden. Dabei setzen wir diese Intelligibilität des Seienden nicht blind voraus, sondern finden sie im allgemeinsten Wesen des Seins einleuchtend begründet. Wir erfassen: alles Sein, Seiendes jeder Art und Natur, ja auch die Aktualität seines Daseins, seines Esse, ist erkennbar, intelligibel. Zum Charakter der Intelligibilität allen Seins und seiner oben erörterten Rolle als Fundament aller Wahrheit des Erkennens und Urteils gehört in besonderer Weise, daß das Seiende nicht in sich selber unbestimmt sein kann, sondern daß alles Seiende etwas ist, sowohl in sich selber und sich dadurch vom unintelligiblen Nichts unterscheidet (aliquid) als auch ein von anderem Unterschiedenes, ein aliquid im Sinne eines aliud quid, ist. Deshalb ist auch alles Seiende notwendig durch das Identitätsprinzip (jedes Seiende ist – zumindest zur selben Zeit – mit sich identisch, ist es selber, A=A) bestimmt. Denn dem Sein könnte weder selber Wahrheit zugeschrieben werden noch könnte es erkennbar und in wahren Aussagen erreichbar sein, wenn nicht jedes Seiende mit sich selber identisch wäre (ontologisches Identitätsprinzip). Sonst, wenn es zugleich nicht es selber wäre oder auch nur sein könnte, würde ihm alle Intelligibilität fehlen. Das Seiende ist aber auch erkennbar, weil es durch das Widerspruchsprinzip bestimmt wird und weil nichts zugleich und im selben Sinne, sowie

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in derselben Hinsicht, sein und nicht sein kann.148 Wenn es nicht wahr wäre, daß nichts zugleich und im selben Sinne sein und nicht sein, und daß kein Sachverhalt zugleich und im selben Sinne bestehen und nicht bestehen kann (ontologisches Widerspruchsprinzip), und daß deshalb das Sein niemals widersprüchlich sein kann, könnte es ebenfalls weder eine Wahrheit des Seins noch eine solche des Erkennens und des Urteils geben. Würde nicht alles Seiende evidenterweise unter dem Gesetz des Widerspruchsprinzips stehen, wäre es in sich absurd und widersprüchlich, aber infolgedessen auch radikal unerkennbar. So aber, wie nichts Seiendes diesem Prinzip widersprechen kann, so ist auch alles Seiende notwendig erkennbar und verstehbar. Und wie die Wahrheit des Widerspruchsprinzips mit letzter Evidenz erkannt werden kann, so kann auch die teilweise darauf aufbauende Wahrheit des Prinzips der Intelligibilität allen Seins erkannt werden. Denn nur weil zwei einander kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalte einander ausschließen, also das ontologische Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs ein striktes Gesetz allen Seins ist, ist es auch notwendig wahr, daß das logische Widerspruchsprinzip gilt, das besagt, daß zwei einander kontradiktorisch entgegengesetzte Urteile (die eben zwei einander kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalte behaupten) nicht beide zugleich wahr sein können. Und nur weil das Identitätsprinzip gilt, ist jene Selbigkeit aller Dinge garantiert, die unter anderem das der Logik vorgängige Prinzip der Wahrheit analytischer Urteile darstellt. Daß diese notwendigen ontologischen und die korrespondierenden ersten logischen Prinzipien weder Tautologien noch bloße subjektive psychologische Denknotwendigkeiten sind, kann an diesem Ort nicht eingehend nachgewiesen werden.149 Die schlechthin fundamentale 148

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In dieser Hinsicht ist Aristoteles durch die Untersuchungen des Buches K seiner Metaphysik, in dem das Widerspruchsprinzip eingehend entfaltet wird, jener Philosoph, der einen entscheidenden Grund des Charakters der Intelligibilität des Seins entdeckte. Vgl. dazu, neben Alexander Pfänders Logik und der Einführung Mariano Crespos, ebd., auch Dietrich von Hildebrand, Was ist Philosophie?, aus dem Engl. übers. v. Fritz Wenisch, in: Hildebrand, Gesammelte Werke, Bd. I (Regensburg/Stuttgart: Habbel/Kohlhammer, 1976); vgl. auch Fritz Wenisch, “Insight and Objective Necessity – A Demonstration of the Existence of Propositions Which Are

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Bedeutung der ontologischen Wahrheit und Struktur der Dinge als Fundament der Erkenntnis- und der Urteilswahrheit sei jedoch hier betont.150 Um erkennbar zu sein, muß ferner alles Seiende durch das Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten bestimmt sein. Denn wenn es nicht nur in sich unbestimmte Möglichkeiten, auf die das Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten nicht zutrifft, sondern etwas tatsächlich Seiendes oder Wesenhaftes geben könnte, das im selben Sinne weder wäre noch nicht wäre (was vom Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten ausgeschlossen wird), so wären ebenfalls zumindest weite Bereiche ontologischer Wahrheit und Urteilsund Erkenntniswahrheit dahin und könnte es sein, daß von zwei kontradiktorischen Sachverhalten keiner bestünde. Damit bestünde aber ebenfalls eine entscheidende Dimension der Intelligibilität des Seins nicht. Noch ein weiteres erstes Seinsprinzip, auf das insbesondere G. W. Leibniz Gewicht legte, von dem die Intelligibilität und Erkennbarkeit des Seins entscheidend abhängt, ist das Prinzip vom zureichenden Grunde. Dieses ebenfalls absolut evidente Prinzip besagt, daß es nichts geben kann, ohne daß sowohl dafür, daß es ist als auch dafür, wie es ist (für sein Sein und sein Wesen) ein zureichender Grund dafür besteht, daß es ist, anstatt nicht zu sein, und daß es so ist, wie es ist, anstatt anders zu sein.151 Dabei kann dieser zureichende Grund sowohl in einem Seienden selbst liegen, wie beim absoluten Sein, als auch außer ihm wie dies jedenfalls bei allem kontingenten realen Seienden hinsichtlich seiner Exitenz der Fall ist. Dieses einen Grund Haben Müssen, diese Tatsache, daß es niemals sein kann, daß etwas völlig grundlos ist, trägt ebenfalls entscheidend zur

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Simultaneously Informative and Necessarily True?”, Aletheia 4 (1988), S. 107197, sowie Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit2, und ders., Josef Seifert, Back to Things in Themselves. Vgl. auch Barry Smith, “Brentano and Marty: An Inquiry into Being and Truth in Mind”, in: Meaning and Metaphysics, Mulligan, Kevin (ed), Dordrecht: Kluwer, 1990). In ihrem interessanten Artikel “Pyrrhonian Indeterminacy: A Pragmatic Interpretation”, Apeiron, (1993), 26 (2), 77-95, hat darauf auch Priscilla Sakezles hingewiesen, indem sie das in sich unbestimmte und widersprüchliche Seinsverständnis von Protagoras, also dessen Leugnung einer „ontologischen Wahrheit“, als Quelle seiner Leugnung der Urteilswahrheit und der Wahrheit und Möglichkeit der Erkenntnis auffaßt. Vgl. zum Ausschluß einer Reihe falscher Deutungen dieses Prinzips bei Leibniz Josef Seifert, Essere e persona, Kap. 11.

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Erkennbarkeit und Intelligibilität des Seienden bei. Ohne dieses Prinzip wäre das Seiende nur sehr unvollkommen intelligibel und verstehbar, weil die Frage, „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr Nichts?“ dann ganz ohne Antwort bleiben könnte. Mit anderen Worten genügt die bloße Erkennbarkeit des Faktums der Existenz sowie des Wasseins und Wieseins der Dinge nicht, um sie intelligibel sein zu lassen. Auch die Erkennbarkeit des Grundes, warum sie sind, gehört zu ihrer Intelligibilität. Aus diesen vier obersten ontologischen Prinzipien folgen entsprechende oberste logische Prinzipien, die in ihnen gründen und auf die wir erst im Zusammenhang der Diskussion der logischen Wahrheit eingehen werden. Die obersten ontologischen und logischen Prinzipien, von denen die Wahrheit der Dinge als Fundament der Urteilswahrheit abhängt, zeigen sich unserem Geist in ihrer letzten inneren Notwendigkeit, die Kriterium ihrer selbst ist und uns Gewißheit und absolute Evidenz des Erkennens ermöglicht. Wir erfassen hier das So-sein-Müssen und Nicht-anders-seinKönnen dieser Gesetze, die in unserer und in jeder möglichen Welt bestehen müssen: nirgends kann etwa dasselbe demselben zukommen und nicht zukommen, kann derselbe Mensch zugleich leben und nicht leben, usf. Zugleich geht aus der Wahrheit des ontologischen Grundprinzips vom Widerspruch hervor, daß nichts zugleich sein und nichtsein kann, und daß deshalb von einem Paar kontradiktorischer Urteile nicht beide wahr sein können. So wie alle ersten Prinzipien der Logik die ontologischen ersten Prinzipien voraussetzen,152 so setzt auch die ontologische Wahrheit und die Urteilswahrheit diese Prinzipien voraus.153 Diese allgemein und abstrakt formulierte Wahrheit als transzendentale Erkennbarkeit allen Seins reicht jedoch von der niedrigsten Stufe der bloßen Feststellbarkeit bis zu den höchsten Stufen der Einsichtigkeit. Dies hängt mit zwei weiteren entscheidenden Fundamenten der Intelligibilität 152

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Dies hat insbesondere Alexander Pfänder nachgewiesen. Vgl. Alexander Pfänder, Logik4. Ich baue hier ganz auf der aristotelischen Grundlage aus Buch IV (Gamma) der Metaphysik, sowie auf weiteren Studien dieser Sachverhalte auf. Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Text der ersten und zweiten Auflage, Bd I: Prolegomena zu einer reinen Logik, hrsg.v. E. Holenstein, Husserliana, Bd. xviii (Den Haag: M. Nijhoff, 1975). Vgl. neben der Logik Alexander Pfänders auch Josef Seifert, Essere e persona, zit., Kap. 5.

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allen Seins und damit seiner Wahrheit und Geistoffenheit zusammen, mit seinem Charakter als res, als etwas, das ein Wesen hat, und seinem Charakter als unum, als etwas innerlich Geeintem. Es handelt sich dabei um zwei sogenannte transzendentale Seinsbestimmungen. Diese klassische, auf die Antike zurückreichende und im Mittelalter wesentlich weiter entfaltete Transzendentalienlehre,154 die auch in der realistischen Phänomenologie weiter entwickelt wurde,155 stellt eine Grundlage der Erkenntnis der Intelligibilität des Seins dar. Und innerhalb der Transzendentalien sind es in besonderer Weise jene der Wesenhaftigkeit (res) und der Einheit (unum), die hier von entscheidender Bedeutung sind. Denn in jenem Maße, in dem ein Seiendes ein innerlich geeintes Wesen besitzt, ist es auch erkennbar und verstehbar. Und diese innere Einheit des Seins hat, anders als die formalen ontologischen Tatsachen, daß etwas ist oder so und so bestimmt ist, auf die sich das Widerspruchsprinzip bezieht, unendlich viele Abstufungen und begründet daher Intelligibilität und darin fundierte Seinswahrheit in einem unendlich abgestuften Sinne.156 Man kann von Dingen sprechen, die in einem viel höheren Sinn intelligibel, in einem höheren Maß verstehbar sind als andere. Sie verkörpern nicht einfach die formale Tatsache der Intelli154

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Vgl. Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, in: Opera omnia (ut sunt in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), vol. III, S. 1-186, Q. 1. Vgl. auch Alan Wolter, The Transcendentals and their Function in the Metaphysics of Duns Scotus (St. Bonaventure, New York: Franciscan Institute Publications, 1946). Vgl. Edith Stein, Endliches und Ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinne des Seins; Josef Seifert, Sein und Wesen; ders., Essere e persona, cit., Kap. 5. Damit soll nicht geleugnet sein, daß sich in gewissem Maße auch der Gegensatz und die Unverträglichkeit zwischen Sein und Nichtsein, die als solche formalen Tatsachen keine Stufen haben, sowie deren Unverträglichkeit, auf verschiedenen Ebenen der Radikalität bewegen können, was vor allem angesichts eines ewig aus sich Seienden, das überhaupt nicht nicht sein kann und deshalb einen völllig anderen und radikaleren Gegensatz zum Nichtsein bildet, weshalb Anselm es “tu es verissime omnium” nennt, deutlich hervortritt. Vgl. Anselm von Canterbury, Proslogion und Ad Proslogion, in: Anselm of Canterbury (Aosta., S. Anselmi Opera omnia, Franciscus Salesius Schmitt (Hg.), 2 Bde. (Stuttgart-Bad-Cannstatt: Friedrich Frommann/Günter Holzboog, 1968), Bd. I, S. 89-139; vgl. auch Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis2, Kap. 1-2, 11.

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gibilität im allgemeinsten Sinn oder die unterste Stufe der Verstehbarkeit. Im formalsten und allgemeinsten Sinn ist gewiß jedes Seiende erkennbar, so wie wir auch jeden Dreck und jeden Mist – im buchstäblichen und im übertragenen Sinne – und jede törichte Rede einfach feststellen und in diesem Sinn (im Gegensatz zum Widersinnigen oder dem total Unbegreiflichen, dem man verständnislos gegenübersteht) „erkennen“ können. Aber wir müssen Intelligibilität im Sinne der formalsten Eigenschaft prinzipieller Verstehbarkeit und erst recht im Sinne der untersten und niedrigsten Stufe der Erkennbarkeit von deren höheren Stufen unterscheiden. Mit dem Gesagten sollte nicht behauptet werden, daß die formalste Tatsache des Verständlichseins, die sich ja auf alle Fälle der Erkennbarkeit, inklusive der höchsten Stufen des Einsichtigseins, bezieht, und die unterste Stufe der Erkennbarkeit, die bloße äußere Feststellbarkeit, identisch seien. Nur trifft die abstrakteste und formalste Bedeutung des ens als verum selbst auf diese unterste Stufe der Verstehbarkeit zu. Ausschließlich diese letztere aber, und nicht die abstrakteste Tatsache des Verstehbarseins als solchen (und von dessen konkreter Form abstrahierend), bezeichnen wir als erste und unterste Stufe der Verstehbarkeit. Wenden wir uns nun den insbesondere im Charakter des Seienden als res und als unum und den darin begründeten möglichen Stufen innerer Einheit zu. 1.3. Ontologische Wahrheit als Intelligibilität nichtnotwendiger sinnvoller Wesen: Rationalität und Intelligibilität in den empirischen Wissenschaften

In einem von der allgemeinsten Erkennbarkeit allen Seienden, auch des zufälligsten, dessen Elemente nur von außen her durch ein Band reiner Faktizität zusammengehalten werden, prinzipiell verschiedenen und höheren Sinn von Erkennbarkeit schreiben wir diese etwa den verschiedenen Pflanzen- und Tierarten oder den Gestirnen und deren Bahnen zu. Wenn wir den Gegenstandsbereich irgendeiner empirischen Wissenschaft (außer der Mathematik, anderer apriorischer Wissenschaften wie gewisser apriorischer Teile der Physik oder Mereologie, und vor allem der Philosophie) im Auge haben, so treffen wir hier auf einen viel höheren Grad von Intelligibilität. Wir sprechen dann von einem echten Verstehenkönnen, von einem Begreifenkönnen, nicht nur von einem platten Feststellen irgendeiner völlig dunklen und uneinsichtigen Tatsache – dies gilt sogar in

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gewissem Maß von der Geschichte, die konkrete menschliche und oft sehr unverständliche Wirklichkeiten betrachtet, die aber dennoch einen gewissen Grad der Verstehbarkeit besitzen, wenn auch keineswegs den höchsten, den Giambattista Vico ihnen zuschreibt; in Wirklichkeit ist die Natur von den meisten Gesichtspunkten aus viel intelligibler als die Geschichte und insofern Kunstwerke und andere Produkte menschlicher Schöpfung hohe Verstehbarkeit besitzen, ist dies nicht die Folge des in den meisten seiner Bedeutungen falschen Vico’schen verum-factum Prinzips der Fall.157 Und in diesem Sinn, in dem etwa ein Kunstwerk, der menschliche Körper oder auch die Gestirne verstehbar sind, sprechen wir von ontologischer Wahrheit als Intelligibelsein in einem viel höheren Maß als wenn wir von der allgemeinsten Verstehbarkeit allen Seienden reden, das natürlich seinerseits wieder unendlich abgestuft ist. Nach seinem jeweiligen Maß an Verstehbarkeit nennen wir ein Ding im eigentlicheren oder weniger eigentlichen Sinne wahr. Wir sagen, diese Gegenstände sind im eigentlichen Sinn verstehbar, wir können sie nicht bloß feststellen, sondern verstehen. Deshalb sind sie nicht bloße Fakten, sondern sie sind wahr, wobei dieses Wort eine neue Bedeutung gewinnt. „Wahr“ heißt hier das höhere Maß an Verstehbarkeit, Intelligibilität. Es ist diese Eigenschaft, die erst wissenschaftliche Erforschung von etwas sinnvoll macht, weil ein Seiendes auf Grund seiner sinnvollen inneren Einheit, seiner Strukturierung und Gestaltqualitäten, seiner Teilhabe an allgemeinen Wesensformen und Gesetzlichkeiten, in höherer Weise verstehbar und wissenschaftlichen Erkenntnisformen gegenüber zugänglich wird. Aber auch diese zweite Stufe der Einleuchtendheit ist nicht die höchste Stufe ontologischer Wahrheit im Sinne der Intelligibilität. Diese wird auf einer wiederum völlig neuen Ebene erst in den notwendigen Wesenheiten erreicht.

157

Vgl. Josef Seifert, „Versteht der Mensch das von ihm selbst Gemachte besser als das nicht von ihm Geschaffene? Kritische Reflexionen über Giambattista Vicos Verum-Factum-Prinzip“, in: Studi italo-tedeschi/Deutsch-Italienische Studien XVII, Giambattista Vico (1668-1744), S. 53-90.

Die Wahrheit des Seins und Wesens – „Ontologische Wahrheit“

117

1.4. Ontologische Wahrheit als die „einleuchtende innere Wahrheit“ des Wesensnotwendigen, Einsichtigen

Eine grundsätzlich neue Stufe innerer Wesenseinheit finden wir nämlich dort, wo die verschiedenen Eigenschaften und Momente einer Sache so tief innerlich geeint sind, daß sie ohne einander gar nicht sein könnten. Hier begegnen wir jener inneren Wesenseinheit, die absolut notwendige Wesenssachverhalte (Wesensgesetze) grundlegt.158 Solcherart ist das Wesen des Seins als solchen und der in ihm gründenden obersten ontologischen Prinzipien, die wir eben besprachen. Solcherart ist das Wesen der Zahlen und der in ihnen liegenden notwendigen Gesetze. Solcherart ist auch das Wesen des moralisch Guten und des unlösbaren Bandes, das dieses mit jenem einzigartigen sittlichen Sollen, mit Freiheit, mit Verantwortung, mit Verdienst und Schuld usf. verbindet. Solcherart ist das Wesen der Person und der Liebe, in denen unzählige notwendige und höchst intelligible Sachverhalte gründen. Erst solche notwendige Wesenheiten und Wesenssachverhalte sind in einem dritten Sinne der zweiten Grundbedeutung von ontologischer Wahrheit wahr. Sie sind nämlich diejenigen Gegenstände, die nicht bloß verständlich sind, sondern die schlechthin in ihrer Wesensnotwendigkeit dem Geist einleuchten, die wir also durch Einsicht oder Beweis in ihrem Nichtandersseinkönnen erfassen. Sie sind die verstehbarsten, die intelligibelsten Dinge. In ihrem Fall erreicht die „Wahrheit des Seins“ als das Verstehbar- und Einsehbarsein eine prinzipiell neue und höhere Stufe. Wir sprechen also hier von Verstehbarkeit des Seins im Sinne der Einsichtigkeit und wir können sagen, nur das ist das wahre Sein, nur das sind die wahren Gegenstände, die nicht bloß so sind, aber auch anders sein könnten, sondern die so sein müssen und deren innere Notwendigkeit gleichsam ein Licht ist, das den 158

Vgl. dazu Adolf Reinach, „Über Phänomenologie“, S. 531-550. Zu einer Unterscheidung des Wesensnotwendigen vom nicht Wesensnotwendigen und den ihrer Soseinsheinheit nach kontingenten Einheiten vgl. Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?, sowie What is Philosophy?/Che cos’è la filosofia? (bylingual 4th ed.: engl./ital.), Collana: Testi a fronte n. 46 (Milano: Pompiano, 2001), (with Saggio introduttivo von Paola Premoli De Marchi and Saggio integrativo by Josef Seifert), sowie Josef Seifert, Sein und Wesen, Kap. 1, sowie ders., Ritornare a Platone.

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KAPITEL 1

Intellekt, wenn er diese Notwendigkeit erfaßt, trägt. Notwendige Wesensgesetze sind deshalb, wie die deutsche Sprache sagt, „einleuchtend“, sie sind einsichtig, evident. Auf Grund ihrer Evidenz wird erst auf ihrem Niveau die prinzipiell höchste Stufe rational erfaßbarer Einsichtigkeit erreicht. So besteht neben der Verstehbarkeit jedes Dinges, auch des zufälligsten, eine höhere Verstehbarkeit, die einen größeren Sinn voraussetzt und Wesensnotwendigkeit, höchst einleuchtende Intelligibilität der notwendigen Wesenheiten, von denen alle Mathematik, Logik und Philosophie abhängt. Doch ist auch diese Einteilung nicht ausreichend, um die Fülle von Unterschieden zu fassen, die innerhalb des Intelligiblen oder Einsehbaren bestehen, das nicht nur von der untersten Stufe der bloßen Wahrnehmbarkeit oder Feststellbarkeit, und in diesem Sinn der Erkennbarkeit, bis hinauf zu den höchsten Stufen des Einleuchtendseins und des Intelligibelund Verstehbarseins reicht, sondern auch noch viele weitere Unterschiede in der Art seiner Verstehbarkeit aufweist. Denn selbstverständlich liegen auch noch innerhalb der evidenten und wesensnotwendigen Gesetze ungeheure Abstufungen verschiedenster Art vor. Es gibt viel reichere, intelligiblere notwendige Wesenheiten – etwa das Wesen der Person – als andere wie das Wesen der Farbe Orange oder des Punktes. Ja es gibt sogar innerhalb der nicht notwendigen Wesenheiten viel tiefere, viel unerschöpflichere Gebilde, etwa eine konkrete Person, als innerhalb formaler notwendiger Wesenheiten, etwa mathematischer, von denen Schopenhauer sagt, daß sie zwar absolut evident sind, uns aber nichts an ihnen liegt. Jedenfalls, wie wir als Ergebnis der vorausgegangenen Untersuchungen festhalten, muß man innerhalb der ontologischen Wahrheit der Erkennbarkeit eine ungeheure Abstufung anerkennen, die einerseits in einer Art quantitativer Richtung eines immer „mehr verstehbar Seins“, andererseits in eine qualitative Richtung inneren Reichtums der Intelligibilität geht. In einem allgemeinsten transzendentalen Sinn ist alles Seiende wahr und verstehbar, aber innerhalb dieses transzendentalen abstrakten Wahrseins159 159

Im Sinne der univoken, aber abstrahierenden Begriffe des Seins und der Transzendentalien, die Duns Scotus den notiones propriae entgegensetzt. Siehe

Die Wahrheit des Seins und Wesens – „Ontologische Wahrheit“

119

gibt es ungeheuer viele Abstufungen: Von der untersten Stufe bloßer Feststellbarkeit und Wahrnehmbarkeit an bis hinauf zu den höchsten Formen des verstehbaren, einleuchtenden, einsichtigen Seins gibt es viele Grade der Intelligibilität. Auch sind manche Wesensinhalte arme, dünne „Formen“, wie etwa mathematische notwendige Wesenheiten und Gesetze. In schärfstem Gegensatz zu deren mit Dürftigkeit gepaarten präzisen Strukturen stehen qualitativ und inhaltlich „reiche“ Wesen und Gegenstände wie Liebe, Person, Sittlichkeit, Dankbarkeit, Erkenntnis oder Freiheit bis hinauf zum absoluten Sein. Wenn sich die Philosophie objektiver Wesensgesetze und Wesenheiten auf logische und formal-ontologische Zusammenhänge beschränken möchte, um die viel inhaltlicheren Wesenheiten wie Zeit, Zeitlichkeit, Person, Freiheit, Sittlichkeit, Liebe usf. auszuschließen, verliert sie ihr Interesse und wird existentiell unanziehend; außerdem verkennt sie die unermeßliche Sphäre intelligibler Gegenstände philosophischer Erkenntnis.160 Auch begegnen wir innerhalb der Gegenstände einer Philosophie der Religion einer ganz anderen Form reicher, aber geheimnisvoller Intelligibilität, welche diese Dimension der ontologischen Wahrheit auf ihren höchsten qualitativen Stufen in Form unerfindbarer Wesenheiten besitzt, entweder im Sinne absolut einsichtiger, aber zugleich geheimnisvoll tiefer notwendiger Wesenheiten wie derjenigen des Heiligen, oder einer ganz besonderen Art: die einleuchtenden Wesenheiten der erhabensten religiösen Akte und Tugenden, wie der Demut, der Anbetung oder der Gottesliebe, besitzen einerseits eine evidente innere Struktur und einen erhabenen Wert, andererseits verleihen erst Inhalte, die nur durch religiöse Akte des Glaubens voll erfaßt und angenommen werden können, diesen wesenhaft und in der Vernunft einleuchtender Weise erhabenen Akte ihr vernünftiges Fundament.161

160

161

dazu Seifert, Essere e persona, cit., Kap. 5. Dies scheint mir eine Gefahr der von Barry Smith, Kevin Mulligan, u.a. mitbegründeten Manchester Schule des phänomenologischen Realismus zu sein. Vgl. Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Sonderauflage (Munich: Verlag C.H. Beck, 1962); Max Scheler, „Probleme der Religion“, in: Max Scheler, Vom Ewigen im Menschen, 5. Aufl. (Bern und München: Francke Verlag, 1968), S. 101-354. Vgl. Auch Josef Seifert, “L’Homme aurait-il pu avoir inventé Dieu? Réflexions sur la non-inventabilité de Dieu et son rapport avec la foi” in : Atheism and Dialogue

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KAPITEL 1

1.5. Die Grenzen der Einteilung der Seinswahrheit der Erkennbarkeit und ihre Verbindung mit der ontologischen Wahrheit in den vorhergehenden Bedeutungen

Hier gilt es allerdings hinzuzufügen, daß die von mir vorgeschlagene Einteilung der Grade und Arten der Intelligibilität und Verstehbarkeit der Dinge keineswegs die einzige ist. Nicht nur besitzen alle Arten der Wesenserkenntnis auch ihrerseits einen Bezug zur urtümlichen Intelligibilität des realen Seins, des ens und des esse, in deren Licht allein wir überhaupt erst die meisten „Wesenspläne“ (eide) erkennen können, da ja z.B. nur wirkliche Personen eben Personen sind, nur wirkliches Erkennen tatsächliches Erkennen ist usf. und also das Wesenswas des Personseins oder Erkennens verwirklichen.162 Nicht nur gibt es ferner einen Fall, in dem die Notwendigkeit des Wesens und Daseins zusammenfällt.163 Vielmehr gibt es auch einen Reichtum der Intelligibilität etwa in Personen, deren Akten und Schicksalen, oder in musikalischen Kunstwerken, die zwar kontingent sind, im Vergleich mit denen jedoch manche notwendige Wesenheiten, wie die mathematischen, logischen usf. nur eine überaus „dünne“ Intelligibilität aufweisen. Deshalb können in vielen Fällen Dichtungen oder musikalische Kompositionen und andere Kunstwerke oder auch individuelle Persönlichkeiten, oder gar die freien Taten Gottes, ohne wesensnotwendig zu sein, doch eine reichere und tiefere Intelligibilität besitzen als notwendige Wesenheiten. Eine umfassendere Philosophie der Seinswahrheit in ihrer zweiten Grundbedeutung als Erkennbarkeit des Seins müßte also auf die verschiedenen Abstufungen der Intelligibilität eingehen, auf deren Existenz wir nur stellvertretend durch die Bezugnahme auf wenige grundsätzlich verschie-

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XXIII-1 (Città del Vaticano: Segretario per i non Credenti 1988), sowie ders., Essere e persona, ch. 14-15; ders., Gott als Gottesbeweis2; ders., “Scheler on Repentance”, in: Max Scheler, John Crosby (Ed.) American Catholic Philosophical Quarterly, 79, 1 (Winter 2005), 183-202, sowie die philosophischen Teile von Dietrich von Hildebrand, Die Umgestaltung in Christus. Über christliche Grundhaltung. 5. Aufl. (St. Ottilien: Eos Verlag, 1988), Kap. 2, S. 30-38. Siehe dazu J. Seifert, “Essence and Existence”, Kap. 1. Siehe dazu J. Seifert, „Kant und Brentano gegen Anselm und Descartes. Reflexionen über das ontologische Argument“, S. 3-30.

Die Wahrheit des Seins und Wesens – „Ontologische Wahrheit“

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dene Formen einer solchen Abstufung hingewiesen haben, vor allem durch Hinweis auf die Linie, die von bloßen Fakten über sinnerfüllte Wesen zu den notwendigen Wesenheiten führt.164 Wenn es Gott gibt, so gibt es über alle Abstufungen der Erkennbarkeit hinaus ein Sein, in welchem die beiden bisher unterschiedenen prinzipiell verschiedenen Grundbedeutungen von ontologischer Wahrheit, Realsein und Intelligibelsein, sich im höchsten denkbaren Maße gegenseitig durchdringen. In einem höchst wahren Seienden müssen notwendiges Wesen und notwendiges Dasein eins sein. Es ist also sowohl vom Standpunkt der Realität als auch von dem der Intelligibilität aus im höchsten Sinne wahr.165 1.6. Der Vorteil des Begriffs der ontologischen Wahrheit als Erkennbarkeit und Einsehbarkeit anstatt der Identifizierung von Wahrheit mit dem autonomen Sein und der Wirklichkeit selber

Gegenüber der ersten Grundbedeutung von ontologischer Wahrheit, deren Identifizierung mit dem Realsein, besitzt der zweite grundsätzliche Sinn von ontologischer Wahrheit einen grundlegenden Vorteil. Er schließt nämlich, im Gegensatz zum ersten, das Besondere der Wahrheit ein, das was Thomas als ratio veri bezeichnet, nämlich ihren Geistbezug oder ihren Bezug zu der prinzipiellen und eigentümlichen Sphäre des Erkennens, und indirekt des auf dieses gestützten Urteilens, die gegenüber dem Sein als solchem ein eigenes Wesen besitzen, das sich keineswegs in allem Seienden oder allem realen Seienden findet.166 Dennoch wäre es eine falsche Verengung des reichen Begriffs der Seinswahrheit, wenn man von der ersten Grundbedeutung von Seinswahrheit ganz absehen wollte. Dies gilt erst recht von einer weiteren Bedeutung von Seinswahrheit, die uns zum eigentlichen Kern der ontologischen Wahrheit führt.

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165

166

Siehe dazu vor allem D. von Hildebrand, What is Philosophy?, Kap. 4; übers. F. Wenisch, Was ist Philosophie?, S. 63 ff. Vgl. zur Rolle dieser höchsten Verstehbarkeit der absoluten Wesenheit Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis2, bes. Kap. 2; 6-11. Siehe insbesondere Thomas von Aquin, De Ver., Q. 1, a. 2-3.

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KAPITEL 1

1.7. Die Unerschöpflichkeit der ontologischen Wahrheit und die Endlichkeit des menschlichen Geistes Solem etsi non videat oculus nycticoracis, videt tamen eum oculus aquilae Während das Auge der Nachteule die Sonne nicht sieht, sieht sie doch das Auge des Adlers Thomas von Aquin, Comm. in Metaphys. Arist., 2, 1, n. 286167

Eine philosophische Grundfrage, in deren Beantwortung sich Subjektivismus und Idealismus vom Realismus scharf unterscheiden, betrifft die ontologische Wahrheit im zweiten Sinne der Intelligibilität des Seins (1.3) in Hinsicht auf ihr Verhältnis zum menschlichen Geist. Es erhebt sich nämlich die Frage, ob die evidentermaßen jedem Seienden zukommende Wahrheit eine Zuordnung des Seienden zum endlichen oder zu einem absoluten Geiste ist. Pieper interpretiert viele Thomasstellen,168 aus denen hervorgeht, daß der Aquinate annahm, daß alles Sein potentiell vom menschlichen Geist erkannt werden könne, wenn dieser Bezug zum menschlichen Geist auch, im Gegensatz zur Beziehung der Dinge auf den göttlichen Intellekt, durch die sie ihr Sein empfangen, akzidentell für das Sein der Dinge selbst bleibe. Auch schloß Thomas keineswegs aus, sondern behauptete im Gegenteil, daß diese ontologische Wahrheit als in sich selber dem Seienden eigentümliche Offenheit des Seins gegenüber dem Geist und Erkennen zugleich mit einer unendlichen Transzendenz der Intelligibilität und des Lichtes des Seins gegenüber dem menschlichen und jedem endlichen Intellekte einhergehe.169 Innerhalb dieser Thesen können wir noch verschiedene Thesen und Fragen unterscheiden: a. Sicherlich, die Dinge können sein und viele Dinge sind, obwohl kein Mensch sie erkennt. Jede realistische Metaphysik wird dies anerkennen.170 b) Es ist zweifellos so, daß die Intelligibilität der Dinge die Erkenntniskraft des Menschen übersteigt. Dies gilt sogar für so einfache Dinge wie 167 168 169 170

Vgl. Aristoteles, Metaphysik, zit., Buch II, 1. Siehe J. Pieper, op. cit., Kap. iii, 2; iii, 3. Vgl. Thomas von Aquin, Compendium theologiae, lb. 1, cap. 106. Siehe J. Seifert, Back to Things in Themselves. Dort wird der Versuch unternommen, diesen Realismus philosophisch zu begründen.

Die Wahrheit des Seins und Wesens – „Ontologische Wahrheit“

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für das Schachspiel, das gewissermaßen unendliche Dimensionen besitzt, die unser Erkennen übersteigen.171 Die Wahrheit des Seins ist für den Menschen ein „unaustrinkbares Licht“, wie Pieper formuliert, und gerade die am höchsten intelligiblen Dinge sind für unseren Verstand in gewissem Sinn die dunkelsten, da das unendliche Sein mehr als alle endlichen Seienden die Kraft des menschlichen Erkennens, es zu erfassen, übersteigt, ja über diese unsere Erkenntniskraft unendlich hinausragt. Hier läßt sich ein gültiger Sinn der via negativa anwenden: das Nichterkannte des Seins übersteigt für den Menschen alles Erkannte.172 c) Die in gewissem Sinne gleichwohl bestehende Zugeordnetheit des menschlichen Geistes auf alles Erkennbare wird dabei keineswegs in Abrede gestellt. Eine Fähigkeit des Erfassens des Unendlichen ist dem Menschen wesenseigen, ja konstituiert ihn mit als Person und macht Metaphysik überhaupt erst möglich.173 d) Doch folgt daraus zwar, daß alles Sein ein allgemeines potentielles Erkennbarsein des Seins für den menschlichen Geist kennzeichnet, keineswegs jedoch, daß alle Dimensionen der ontologischen Wahrheit dem endlichen Geist zugänglich wären. Sie übersteigen vielmehr unendlich die Fassungskraft des endlichen Verstandes und, sollte dies mit seiner Formulierung geleugnet sein, wäre die These Thomas von Aquins, daß alles Sein und alle Wahrheit potentiell vom menschlichen Geist erkannt werden 171

172

Vgl. J. Seifert, Schachphilosophie (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1989), Kap. 1, S. 14 ff. Darauf legt besonders die sokratische Weisheit des „Wissens des eigenen Nichtwissens“ wert, die Sokrates so definiert: Es scheint aber, ihr Athener, in der Tat der Gott weise zu sein, und mit diesem Orakel dies zu sagen, daß die menschliche Weisheit sehr weniges nur wert ist oder gar nichts, und offenbar nicht dies vom Sokrates zu sagen, sondern nur mich zum Beispiel erwählend, sich meines Namens zu bedienen, wie wenn er sagte: Unter euch, ihr Menschen, ist der der Weiseste, der wie Sokrates einsieht, daß er in der Tat nichts wert ist, was die Weisheit anbelangt.

173

Platon, Apologie, 23 a f. Auch Aristoteles betont das ungeheure Hinausreichen des Seins über alle menschliche Erkenntnis, die gleich der Nachteule die Sonne des Seins und das in sich Intelligibelste nicht deutlich zu schauen vermag, in Metaphysik, Buch II, 1. Siehe dazu die von J. Pieper (op. cit. Kap. v) zitierten Thomas-Stellen aus Summa Theologica I, Q. 77, e.3 ad 4; I, Q. 8, a. 1, c. Siehe auch J. Seifert, Essere e persona, Kap. 6, 9-15.

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KAPITEL 1

könnten, falsch, ja dämonisch, wie Gadamer zu Recht den Anspruch bezeichnet, die Dinge an sich in jenem Sinne zu erkennen, wie sie in sich in der Vollständigkeit aller ihrer intelligiblen Aspekte sind.174 Thomas drückt diesen Sachverhalt an verschiedensten Stellen ganz klar als etwas aus, was eine niemals aufhörende und in der Begrenztheit unseres Geistes liegende Grenze jedes endlichen Verstehens ist.175 Für Bonaventura findet für diesen Sachverhalt das schöne Bild, daß der Mensch zwar das Unendliche nicht teilweise, sondern ganz erkennt, es aber doch allseitig sein Erkennen übersteigt, ähnlich wie die Sonne sich in einem kleinen Wasser oder Spiegel ganz spiegelt, aber doch in sich selber die Fläche des Wassers immens übertrifft.176 2. Ontologische Wahrheit als Entsprechung zwischen Wesen und Erscheinung des Seienden Thomas legt die mit der Erkenntnis bzw. Erkennbarkeit der Wahrheit verbundene ontologische Wahrheit, bezüglich deren Begriffs er auf Anselm verweist, noch in einem ganz anderen Sinne aus. Er deutet sie nicht nur als ein absolutes Phänomen der Erkennbarkeit oder auch der Entsprechung zwischen Sein und göttlicher Idee (worauf wir zurückkommen werden), sondern sieht sie auch in einem besonderen Verhältnis zwischen Seiendem und menschlichem Verstand gründen. Noch spezifischer gesagt, geht es dabei um ein besonderes Verhältnis zwischen Erscheinung und Wesen eines Seienden im Hinblick auf einen begrenzten, und noch präziser, auf den menschlichen, Geist, weil der endliche Geist und vor allem der Mensch allein, auf Grund seiner leib-seelischen Natur, 174

175 176

Allerdings darf dieses Urteil keineswegs auf den Anspruch ausgedehnt werden, mit dem der philosophische Realismus steht und fällt, nämlich etwas vom Sein und Wesen der Dinge, wie sie in sich – unabhängig davon Objekt menschlichen Denkens zu sein – sind, zu erkennen. Zu den verschiedenen Bedeutungen von „Ding an sich“ und zu Gadamers These vgl. Seifert, Back to Things in Themselves, cit., S. 227-231. Vgl. Thomas von Aquin, Compendium theologiae, lb. 1, cap. 216. Siehe Étienne Gilson, Die Philosophie des hl. Bonaventura, 2. Aufl. (Köln: Hegener, 1960); vgl. auch Josef Seifert, „Bonaventuras Interpretation der augustinischen These vom notwendigen Sein der Wahrheit“.

Die Wahrheit des Seins und Wesens – „Ontologische Wahrheit“

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gewisser Täuschungen als Täter oder Opfer fähig ist. Thomas erblickt diese Wahrheit des Seins primär darin, daß eine Sache so erscheint wie sie ist und daß sie deshalb den Menschen zur richtigen Meinung über sie selbst führt. Daher erblickt der Aquinate folgerichtig die entsprechende Falschheit darin, daß die Diskrepanz zwischen Wesen und Erscheinung den ihr begegnenden Menschen irreführt und geneigt macht, etwas Falsches über sie zu glauben, etwa daß sie Gold sei, während sie in Wirklichkeit Katzengold ist. Erst recht besteht dieses Phänomen ontologischer Wahrheit, das im Unterschied zu anderen Bedeutungen ontologischer Wahrheit auch einen Gegensatz ontologischer Falschheit kennt, in der Sphäre der Personen, die durch Wort und Ausdruck wahre oder falsche Erscheinungen erwecken können. Hier können wir wahre Frömmigkeit, die so erscheint, wie sie ist, und die falsche prätendierte Frömmigkeit eines Tartuffe, klar unterscheiden. Für Gott gebe es diese Art der Wahrheit und Falschheit nicht, da Er das wahre Wesen der Dinge kennt und sich nicht täuschen läßt. Thomas deutet mit diesen Gedanken auf einen wichtigen und gültigen Sinn von „ontologischer Wahrheit“, den wir hier nicht weiter behandeln, weil es sich dabei nicht eigentlich um einen weiteren Sinn von ontologischer Wahrheit oder ontologischer Falschheit handelt. Vielmehr hat Thomas hier das erkenntnistheoretisch relevante Phänomen eines „objektiven Scheins“ im Auge, der den Menschen zu Irrtümern führt und über den Balduin Schwarz in seinem Buch über den Irrtum in der Philosophie eindrucksvolle Analysen vorgelegt hat.177 Gewiß gibt es das von Thomas angezielte Phänomen wirklich und analysiert er es korrekt: Und es ist klar, daß jedes beliebige Ding im Vergleich mit dem göttlichen Verstand wahr ist, wie Anselm im Buch über die Wahrheit (Kapitel 7, 8, 11 und 12) sagt. Also ist Wahrheit in allem Seienden, denn es ist hier, was es in der höchsten Wahrheit ist. Darum kann im Vergleich mit dem göttlichen Verstand kein Ding falsch sein; aber im Vergleich mit dem menschlichen Verstand findet sich bisweilen eine Ungleichheit des Dinges und der Erkenntnis, die gewissermaßen vom Dinge selbst verursacht wird; denn das Ding ruft durch das, was von ihm nach außen in Erscheinung tritt, eine Kenntnis seiner in der Seele hervor, denn unsere Erkenntnis nimmt ihren 177

Siehe dazu auch J. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit2, Teil I, Kap.3. Dort werden mögliche Mißverständnisse des Begriffs des objektiven Scheins untersucht.

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KAPITEL 1 Anfang von den Sinnen, deren natürliches Objekt (per se objectum) die sinnlichen Qualitäten sind; darum heißt es im I. Buch über die Seele (Kom. 2), daß die Akzidenzien viel zur Erkenntnis dessen, was etwas ist, beitragen; wenn darum an irgend einem Dinge sinnliche Qualitäten in Erscheinung treten, die auf eine Natur hinweisen, welche ihnen nicht zu Grunde liegt, so sagt man, daß dieses Ding falsch sei; so sagt der Philosoph (Metaphysik VI, 5 Kom. 34 und 4 Kom. 37), falsch sei das, was dazu angetan sei, entweder so zu scheinen, wie es nicht sei, oder als das, was es nicht sei; z.B. falsches Gold, an dem äußerlich die Farbe des Goldes und andere derartige Accidentien in Erscheinung treten, während doch innerlich nicht die Natur des Goldes zu Grunde liegt. Und doch ist das Ding nicht in der Weise Ursache der Falschheit in der Seele, als ob es notwendig Falschheit erzeugte; denn Wahrheit und Falschheit haben ihr Dasein vornehmlich im Urteil der Seele; sofern aber die Seele über die Dinge urteilt, leidet sie nicht von den Dingen, sondern ist vielmehr in gewisser Weise tätig. Darum heißt das Ding nicht falsch, weil es immer eine falsche Beurteilung hervorruft, sondern, weil es dazu angetan ist, sie durch das, was von ihm in Erscheinung tritt, hervorzurufen. Da jedoch, wie gesagt (a 5 u. 8), der Vergleich des Dinges mit dem göttlichen Verstand der wesentliche ist, so heißt es im Hinblick auf ihn an sich wahr; doch der Vergleich mit dem menschlichen Verstand, hinsichtlich dessen es nicht absolut wahr heißt, ist zufällig und so ist, schlechthin (simpliciter) gesprochen, jedes Ding wahr und keines falsch; aber in gewisser Hinsicht (secundum quid), nämlich im Verhältnis zu unserer Erkenntnis, heißen manche Dinge falsch.178

Dabei kann man noch einmal das objektive Verhältnis zwischen Erscheinung und Sein einer Sache von der Eigenschaft der Sache, eine falsche Meinung zu erwecken, abgrenzen. Das erste Verhältnis besteht absolut. In diesem Sinne erkennt auch, ja gerade Gott, das wahre oder unwahre Verhältnis zwischen Sein und Erscheinung einer Sache. Die Eigenschaft eines Seienden hingegen, auf Grund seiner irreführenden Erscheinung eine falsche Meinung über sich zu erwecken, gilt nur im Hinblick auf den endlichen Geist. Wie wir sehen werden, darf man unter ontologischer Wahrheit im Sinne des wahren Freundes nicht bloß die Verborgenheit oder Unverborgenheit oder auch nicht die bloße Klarheit der Erscheinung als Zeichen oder Manifestation des Wesens einer Sache 178

Siehe Thomas von Aquin, De veritate, Q. I, a. 10.

Die Wahrheit des Seins und Wesens – „Ontologische Wahrheit“

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verstehen.179 Vielmehr gibt es eine objektive ontologische Wahrheit oder auch Unwahrheit, die im Erfüllen oder Abweichen eines Dinges von seiner Wesensintention liegt. In dieser Hinsicht besteht das Wahrsein oder Falschsein eines Dinges ganz objektiv, in sich, gleichermaßen vor Gott und vor dem Menschen, ja noch ungleich deutlicher vor einem allwissenden Wesen, in bezug auf das Thomas zu Recht den „objektiven Schein“ ausschließt. So lassen sich für die ontologische Wahrheit und Falschheit im Sinne der Entsprechung zwischen einem Seienden und seinem wahren Wesen oder seiner göttlichen Idee der obige Thomas-Text und die darin zitierte Aussage Anselms, der behauptet, vor Gott seien alle Dinge wahr und keines falsch, nicht halten; hingegen trifft Thomas in der zitierten Stelle sehr richtig jene ontologische Wahrheit und Falschheit, die darin besteht, daß die Erscheinung des Dinges dazu angetan ist, eine falsche Meinung über sich in uns zu erzeugen, was natürlich für ein allwissendes Wesen nicht gilt.180 3. Ontologische Wahrheit als Entsprechung (Adaequatio) zwischen Ding und einem transzendenten Maß 3.1. Wahrheit als ontologische Entsprechung zwischen einem Ding und einem transzendenten Maß

Die vorhin erörterte Dimension der ontologischen Wahrheit, hinsichtlich derer man ein Seiendes als solches nur in dem Ausmaß als wahr bezeichnen kann, in dem es gut ist, führt uns organisch zu einem weiteren Sinn von „ontologischer Wahrheit“: einer Korrespondenz im ontologischen, nicht bloß im gnoseologischen Sinne. Die hier gemeinte ontologische Wahrheit ist nicht einfach ein Merkmal des Seienden selbst, auch nicht seine innere Intelligibilität, sondern vielmehr eine Eigenschaft, die ein Ding kraft seiner Entsprechung zu etwas, also im Verhältnis zu etwas anderem, besitzt. Und zwar geht es hier um eine wirkliche Entsprechung, nicht mehr um eine potentielle wie bei der Erkennbarkeit des Seins. Dabei besteht diese Seinswahrheit nicht etwa einfach in der realen epistemolo179

180

Vgl. dazu die interessanten Ausführungen über die Wahrheit des Seins in Martin Heidegger, Sein und Zeit, § 7. Siehe Thomas von Aquin, De veritate, Q. I, a. 10, eben im Text zitiert.

128

KAPITEL 1

gischen Beziehung des Dinges zum wirklichen Erkanntsein von einem Geist. Das hier gemeinte „einem Maß Entsprechen“ kann unmöglich einfach auf ein Erkanntsein als solches reduziert werden, da ja auch alle ontologisch gesprochen unwahren, d.h. von ihrer Idee abweichenden Dinge, erkannt werden können. Vielmehr geht es um eine Übereinstimmung mit einem dem Ding transzendenten und von Erkenntnis als solcher ganz verschiedenem „idealen Maß“ bzw. Wesensmaß. Seinswahrheit gehört dann einem Ding nicht einfach in sich an, wie seine Realität oder auch sein Wert, sondern liegt in seiner Entsprechung zu etwas anderem. Doch was ist dieses Andere? 3.2. Seinswahrheit als Entsprechung zwischen einem Seienden und seiner Idee (seinem transzendenten Eidos) – das erste ‚transzendente Maß‘

Innerhalb dieser weiteren Grundbedeutung von ontologischer Wahrheit liegt eine erste Bedeutung von ontologischer Wahrheit dort vor, wo die Angleichung an das Wesen nicht nur im Sinne einer Entsprechung des Dings mit seiner eigenen inneren Wesensform, sondern als eine Angleichung an eine der Sache selbst transzendente Idee oder Wesensform im Sinne der platonischen eide gedacht wird. Die Tatsache, daß wir die hier intendierte Wesensentsprechung meist nur im Hinblick auf Wertträger wie Kunstwerke, Freundschaft oder Liebe aussagen, ist nicht zufällig, sosehr auch Martin Heidegger in Liebe und Haß „gleich ursprüngliche Formen der Eigentlichkeit“ erblickt.181 Denn letzten Endes ist nicht der seine Idee erfüllende Haß oder die eigentliche Grobheit wahr zu nennen, sondern nur das eigentliche Gute. So sprechen wir etwa von wahrer Freundschaft und von falscher Freundschaft, von wahrer Liebe und von falscher Liebe. Und wenn wir wahre falscher Liebe, wahre Freundschaft falscher Freundschaft gegenüberstellen, dann meinen wir nicht eine Entsprechung zu unserem Erkennen, sondern haben eine Annäherung der Wirklichkeit an die Idee im Sinne eines sinnerfüllten oder sogar eines notwendigen und in unvergleichlicher Weise intelligiblen Wesensplanes, der dem Ding entsprechenden Wesenheit, im Auge. Ein wahrer Mensch ist einer, in dem Berufung und 181

Vgl. Martin Heidegger, Nietzsche (Bd. I und II). Feullingen, Günther Neske 1961.

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Wert des Menschseins ihre Erfüllung finden, von dem im eigentlichen Sinne gilt: ecce homo,182 eine wahre Gerechtigkeit oder Liebe sind solche, die ihrer zutiefst werthaften Wesenheit konform sind.183 Die Wahrheit des Lebens in diesem Sinne liegt also in einer Angleichung des Lebens an das Gesollte, Gute, an seine „wahre Wesenheit“ oder „Idee“, an das „Ideal“.184 Wenn wir hier von „Idee“ reden, meinen wir nicht bloß irgendeine subjektive Idee. Vielmehr sind für diesen Begriff ontologischer Wahrheit objektive Wesen, Wesenheiten oder Soseinseinheiten vorausgesetzt, deren Sinn und innere Einheit keineswegs bloß von ihrem faktischen Zusammen182

183

Thomas von Aquin verwendet den Ausdruck “veritas humanae naturae” sehr oft, manchmal im hier vorliegenden Sinne, den er auch als “perfectio humanae naturae” bezeichnet (vgl. In Libros Sent., In IV Sent., d. 44, a. 2 D, co), andere Male in jenem der Wirklichkeit der menschlichen Natur (etwa jener Jesu Christi). Unter der Wahrheit des Seins und des Lebens in diesem Sinne versteht auch Thomas eine Angleichung des Seins an das rechte Maß, das er “recta ratio” oder “rectum intellectum” nennt. Vgl. etwa Thomas von Aquin In Libros Sent., In IV Sent., d. 46, q. 1, a. 1C, RA 3: Prout vero actiones nostrae comparantur ad intellectum ut regulatum ad regulam, sic secundum quod intellectus rectus est regula actionum, est veritas vitae; secundum vero quod est regula aequalitatis constitutae in rebus, est veritas justitiae.

Vgl. Thomas von Aquin, In Libros Sent., In IV Sent., d. 46, q. 1, a. 1C, co: Et quia veritatis ratio consistit in adaequatione rerum ad intellectum; inde est quod nomen veritatis transfertur ad significandum adaequationem operum justitiae ad rationes justitiae; et haec est veritas quam dicimus justitiae veritatem; et secundum hoc ipsa justitia idem quod veritas est; sed tamen justitia dicitur secundum aequalitatem exterius constitutam; sed veritas dicitur secundum commensurationem exterioris aequalitatis ad rationes quae sunt in mente; et secundum hoc veritas et justitia eodem intellectu in deo accipiuntur.

Diese Wahrheit des Lebens versteht Thomas auch als ein Leben, das auf dem Fundament der erkannten Wahrheit beruht und in dem man Gott in jener Weise verehrt, die ihn in seiner Wahrheit erkennt. Vgl. Thomas von Aquin, Summa Contra Gentiles, L. 1, cap. 20, 36: Huic autem veritati demonstratae concordat divina auctoritas. Dicitur enim Ioan. 4-24: spiritus est deus, et eos qui eum adorant, in spiritu et veritate adorare oportet. 184

In diesem Sinne faßt die auch Thomas von Aquin auf, wenn er in Summa Theologica I, q. 16, a. 4, RA 3 sagt: Veritas autem vitae dicitur particulariter, secundum quod homo in vita sua implet illud ad quod ordinatur per intellectum divinum, sicut etiam dictum est veritatem esse in ceteris rebus.

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gedachtsein oder ihrem Erkanntsein durch uns oder selbst durch den göttlichen Geist abhängen.185 Das bloße Erkennbarsein und sogar das tatsächliche Erkanntsein, selbst durch Gott, oder gar das einer rein subjektiven Idee, die wir uns von einer Sache machen, Entsprechen eines Dinges kann diese Wahrheit keineswegs konstituieren. Daß eine Frau dem Wunschtraum ihres Mannes entspricht oder umgekehrt, macht Mann oder Frau keineswegs in diesem ontologischen Sinne „wahr“. Daher erscheint es uns als eine falsche Psychologisierung der „ontologischen Wahrheit“ in dem Sinne der Entsprechung der Dinge mit ihren Ideen, wenn diese von Josef Pieper186 und Thomas von Aquin187 hinsichtlich des praktischen Intellekts bloß mit den Erkenntnissen oder auch den Ideen im Geist des Künstlers oder Schöpfers188 identifiziert werden, wobei wir ja alles erkennen können, auch was ganz von seiner „wahren Wesenheit“ oder Idee abweicht. Daß ein Gebäude oder ein Theaterstück der subjektiven Idee des Künstlers entspricht, macht es keineswegs zu einem wahren Kunstwerk, wenn diese Idee nicht dem Guten und der wahren Wesenheit der Kunst überhaupt und des individuellen Kunstwerks entspricht, einer Wahrheit, die von Sinnprinzipien und idealen Regeln bestimmt ist, welche keineswegs hinreichend beschrieben sind, wenn man sie als Idee des Künstlers bezeichnet. Bei genauerer Betrachtung zeigt es sich allerdings, daß viele Texte von Thomas andere Interpretationen offenlassen. Diese Texte kann man so interpretieren, daß sie „göttliche Ideen“ im Sinne der wahren und wertmäßig bestimmten eide und Formen annehmen; wenn die wahren Dinge aber diesen wahren Ideen „entsprechen“, so läßt sich dies keineswegs auf eine bloße Übereinstimmung mit Erkenntnis reduzieren: und so werden die künstlich und künstlerisch hervorgebrachten Dinge durch 185 186

187

188

Vgl. dazu Josef Seifert, Sein und Wesen, Kap. 1. Siehe J. Pieper, Wahrheit der Dinge, a.a.O., II, 6/7, S. 46-48. Eine gewisse Korrektur dieser Konzeption findet sich in vielen augustinischen Stellen Thomas von Aquins und deren Interpretation durch Pieper. Ebd., Kap. iii, 1 ff., S. 57 ff. Bei Thomas kommt der Ausdruck „Wahrheit der Dinge“ (etwa „in rei veritate“) sehr häufig vor. Wenn es sich um den göttlichen Schöpfer handelt, fällt diese Idee des Schöpfes freilich mit der wahren Wesenheit des Dinges zusammen.

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ihre Hinordnung auf unseren Verstand (Geist) wahr genannt. Es wird nämlich ein Haus wahr genannt, das Ähnlichkeit mit jener Form erlangt, die im Geist des Künstlers ist... Und in ähnlicher Weise werden die Naturdinge wahr genannt, insofern sie die Ähnlichkeit jener Formen annehmen, die im göttlichen Geist sind.189

Wenn diese Formen nichts wären als die Idee und die Erkenntnis des Künstlers, müßten wirklich alle Dinge wahr sein, wie Pieper im Anschluß an Thomas behauptet. Wenn jedoch die Ideen und Formen etwas in sich Sinnvolles, Geeintes oder gar Notwendiges sind, dann sind sie ein Maß, von dem sich die Dinge in der Tat, soweit notwendige Wesensgesetze nicht automatisch und notwendig in jedem Seienden realisiert werden wie das Widerspruchsprinzip, entfernen können, wie wir das im ethischen und künstlerischen Bereich finden.190 Im Hinblick auf sinnvolle Naturen oder notwendige Wesenheiten als Fundament notwendiger Sollensgesetze und Ideale gibt es daher sehr wohl Falschheit der Dinge, unwahre Liebe etc. und dann bedeutet die Übereinstimmung mit der Idee viel mehr als Übereinstimmung mit der Erkenntnis des Schöpfers, eine Übereinstimmung, die ja hinsichtlich der göttlichen Schöpfung für alle Dinge und auch alle Erzeugnisse und Taten geschaffener Personen zutrifft und es daher nicht gestatten würde, ontologisch wahre falschen Dingen gegenüberzustellen.191 189

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191

Siehe Thomas von Aquin, Summa Theologica I, Q. 16, a 1. Vgl. auch ders., Quaestiones disputatae de veritate, in: Opera omnia (ut sunt in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), vol. III, S. 1-186, Q. 1, a. 2, co. Dabei ist interessant, daß Christian Wolff und Baumgarten behaupten, die ontologische Wahrheit bestehe im Gegensatz der Dinge zur Unordnung des Traumes und in ihrem den Prinzipien vom Widerspruch und zureichendem Grund Gehorchen, worauf Pieper (ebd., Kap. ii, 5, S. 43 ff.) allzu kritisch eingeht. Denn in der Tag liegt im Realen und sogar im Möglichen, insoferne es diesen Prinzipien gehorcht, ein innerer Sinn. Die wirklichen Seienden erfüllen damit, daß sie im Einklang mit diesen universalen Prinzipien stehen, eine innere objektive Bedingung für Sinn, die freilich das reiche Phänomen ontologischer Wahrheit niemals erschöpfen kann. Dies erkennen übrigens auch Thomas von Aquin und J. Pieper dort an, wo sie von der „göttlichen Kunst“ und den Urbildern sprechen, sowie von deren Nachahmung der göttlichen und unendlich sinnvollen Wesenheit. Von daher müßte Thomas

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Daher meint man mit „Wahrheit“ die Entsprechung zwischen einem Ding, bzw. seinem realen, konkreten Wesen und seiner Idee oder, wie man es auch ausdrücken kann, den Grad der Teilhabe eines Dinges an dem vollen Sinn und Inhalt seines ewigen Wesensplanes.192 Diese Bedeutung von wahr ist eine, die von Platon an in der Philosophie der ontologischen Wahrheit eine große Rolle spielt. Auch bei Thomas und überhaupt in der ganzen mittelalterlichen Theologie läßt sich dieser Sinn von Wahrheit als Gemäßheit der Idee, als Grad der Annäherung zwischen dem einzelnen Ding und dem, was in dessen Wesen angelegt ist, das es zu haben beansprucht oder das es voller verwirklichen sollte, nachweisen. Das „Gemessensein“ einer Sache durch ihren Wesenslogos bzw., wenn man die notwendigen und intelligiblen eide als göttliche Ideen betrachtet, durch den göttlichen Geist, ist viel mehr als bloß ihr Erkanntsein durch Gott, und besteht vielmehr in dem Empfangen ihres Maßes von ihrem wahren Wesen, von ihrem objektiven Logos inklusive der intelligiblen Wesenheit und der notwendigen rationes über dieses Wesen. (1) Je objektiver, intelligibler und notwendiger ein Wesen ist und (2) je mehr eine Abweichung von seiner Wesensintention möglich ist, wie in höchstem Maß bei einem freien Wesen, im Sittlichen oder in der Kunst, desto mehr gibt es auch Falschheit als objektiven Gegensatz zu dieser ontologischen Wahrheit. In vielen modernen Philosophien, in denen die Subjektunabhängigkeit des Wesens oder irgendwelcher Urbilder und idealer Formen fallengelassen wird, wie von Hume und Kant an bis hin zum Marxismus oder zu Sartre, in zahlreichen Denkern der analytischen Philosophie und vielen anderen, muß auch diese Bedeutung von ontologischer Wahrheit, als logische Konsequenz aus solchen Philosophien, fallengelassen werden. Freilich dürfen wir nicht übersehen, daß Kant in seinen ethischen Schriften und auch in der Kritik der reinen Vernunft in vielfacher Hinsicht von der Notwendigkeit einer Angleichung menschlichen Tuns und Seins an das absolute Ideal und die Idee der Heiligkeit spricht und so diesen Sinn von

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auch den Gegensatz zu ontologischer Wahrheit, nämlich ontologische Falschheit, anerkennen. Siehe J. Pieper, ebd. Kap. ii, 8, S. 49 ff. Vgl. auch Thomas von Aquin, Summa Theologica I, q. 14, 1. 12, RA 3. Siehe auch die tiefsinnigen Logos-Spekulationen Bonaventuras in In Sent. I, d. 31, 2, 2. Hex. I, 13. Zu den Gründen dieses Terminus vgl. mein Sein und Wesen, Kap. 1.

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Exemplarität und ontologischer Wahrheit voraussetzt, so etwa in der Kritik der reinen Vernunft, obwohl diese dort kein tragfähiges philosophisches Fundament mehr besitzt.193 Vor allem in der Ethik Kants, in der dieser vom Fortschritt des Sittlichen in Richtung auf Heiligkeit und völlige Angemessenheit menschlichen Wollens an den göttlichen Willen spricht und darauf sogar ein Argument für die Unsterblichkeit der Seele als Postulat der reinen praktischen Vernunft aufbaut, liegt diese Bedeutung von ontologischer Wahrheit zugrunde. Doch hindern solche – trotz seiner Grundgedanken, die die Gültigkeit dieser Einsichten eigentlich ausschließen, gewonnenen – Einsichten Kants in diesen Sinn von ontologischer Wahrheit nicht, daß Kants Philosophie theoretisch keinen Platz für diese Dimension ontologischer Wahrheit läßt oder gar dieselbe theoretisch zu begründen vermag, da sie jede in sich notwendigen Wesenheiten und Formen, die nicht bloß vom Subjekt konstituiert sind, ausschließt. Wahrheit als reine Wesensgemäßheit und Angleichung an das Ideal setzt nicht notwendig die platonische Einsicht in transzendente eide oder gar in die Existenz göttlicher Ideen voraus, um als solche erkannt zu werden. Der hier gemeinte Sinn von ontologischer Wahrheit könnte auch in einer rein aristotelischen Philosophie von Potenz und Akt, von Wesensanlagen und ihrer Erfüllung, von Logos oder Berufung der menschlichen Natur oder von einem aristotelischen immanenten Verständnis der eide begründet werden, weil auch hier eine in je verschiedenem Maße objektive Natur und Wesenheit einer Sache angenommen wird, welcher die Dinge mehr oder weniger entsprechen können. Dennoch meine ich, daß die hier gemeinte Dimension ontologischer Wahrheit, ihrer Entsprechung einer ihr selbst transzendenten Wesenheit, eines Wesensplanes, eigentlich erst begriffen werden kann, wenn man mit Platon die Welt des idealen Seins und der ewigen Wesenheiten entdeckt.194 Diese Ideen als Maß der ontologischen Wahrheit der Dinge im Sinne Platons sind ein durch und durch transzendentes Maß dieser Wahrheit, welche die Dinge nur in dem Maß erreichen, in dem sie den Sinngehalt der eide, der rationes aeternae, verwirklichen. 193 194

Vgl. Kritik der reinen Vernunft B 596 f. Vgl. auch Josef Seifert, Ritornare a Platone, sowie ders., “The Idea of the Good as the Sum-total of Pure Perfections. A New Personalistic Reading of Republic VI and VII”, S. 407-424.

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Dabei handelt es sich hier um eine Entsprechung, die man nicht eigentlich als Ähnlichkeit bezeichnen kann, wenngleich dies hier mehr zutrifft als im Falle der Erkenntniswahrheit, wie wir sehen werden. Der konkrete Mensch, die lebendige Person, ist nicht einer Idee oder Wesenheit ähnlich, die weder lebt noch frei noch Person ist. Vielmehr liegt diese ontologische Wahrheit in einer besondersartigen Erfüllung des in der Idee als Wesensplan Angelegten, in einer Verwirklichung von etwas, wofür oder wovon die ewige Wesenheit Idee ist. 3.3. Wahrheit des Seins als Angleichung an die göttlichen Ideen

Gerade in diesem Punkte finden wir in den ersten Anfängen mittelalterlicher und bei den letzten Vertretern antiker Philosophie eine Revolution. Vom Mittel- und Neuplatonismus und vor allem von Philon und Augustinus’ einflußreicher Schrift De Ideis195 werden jene Ideen, denen ein Seiendes entsprechen soll, um wahr zu sein, nicht mehr als bloße ewige abstrakte Formen, als „platonische Ideen“, sondern als „göttliche Ideen“, als ewige Wesensformen der Dinge im göttlichen Geist, gedeutet. So ist ein Seiendes in dem Maße wahr, in dem es seiner gottgegebenen Aufgabe und Berufung, seiner göttlichen Idee, der Idee, die ein personaler Gott von ihm hat, treu ist. Diese göttlichen Ideen sind aber gleich verschieden von bloßer Erkenntnis Gottes wie die platonischen Ideen. Denn Gott hat auch Erkenntnis aller wirklichen und möglichen Abweichungen von diesen wahren göttlichen Ideen.196 Dieser Begriff der ontologischen Wahrheit findet sich, 195

196

Siehe Augustinus, De diversis quaestionibus LXXXIII, Qu. 46, De ideis, in: Eligius Dekkers, ed., Clavis patrum latinorum (C. Beyaert, Brugis – M. Nijhoff, Hagae Comitis, 1961), PL XL. Von großem philosophischen Interesse in diesem Zusammenhang ist Katharina von Genuas theologischer Traktat über das Fegefeuer, der auf Visionen dieser faszinierenden Heiligen zurückgeht. Siehe Saint Catherine of Genoa, Treatise on Purgatory. The Dialogue (New York: Sheed and Ward, 1946). In unserem rein philosophischen Zusammenhang sehen wir in einer Art von epoché von der Glaubenswahrheit ab, die Katharina beschreibt (und an der der Autor und manche seiner Leser festhalten werden) und halten eine von Glaubensinhalten unabhängige philosophische Erkenntnis fest, die darin auch demjenigen aufleuchtet, der an die tatsächliche Existenz des Fegefeuers nicht glaubt. In Katharinas Schilderung leuchtet der evidente Unterschied zwischen göttlicher Idee (eidos und Idee in

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ungeachtet der eben zitierten, sie gnoseologisch versubjektivierenden Thomas-Stellen, eindeutig bei Thomas von Aquin im Gedanken des Empfangens der Dinge ihres Maßes aus der göttlichen Idee, auch wenn Thomas in dem vollen Text der folgenden Stelle einige andere Bedeutungen von ontologischer Wahrheit wie die zwischen Sein und Erscheinung liegende, mit dieser zu vermengen scheint und das ewige Maß der ontologischen Seinswahrheit als Entsprechung fälschlich mit der göttlichen Erkenntnis zu identifizieren scheint, die ja ebenso die ontologisch wahren wie die falschen Dinge und personalen Akte, die von der Idee abweichen, erkennt:197

197

Gottes Geist) und göttlicher Erkenntnis auf. Denn dort wird beschrieben, daß die Leiden des jenseitigen Reinigungsortes gerade darin bestehen, daß der Seele ihre Sünden und deren Kontrast mit der reinen göttlichen Idee der eigenen Person auf dem Hintergrund seiner unendlichen Heiligkeit klarwerden und daß die Seele selbst danach verlangt, daß diese ideale göttliche Idee der eigenen Person verwirklicht werde. Dabei erkennt Gott beides vollkommen: diese wahre je einzigartige Idee einer Person und deren Abweichung von dieser Idee, deren volles Maß der Abweichung von ihrem reinen Wesen Gott der Seele aus Liebe erst allmählich enthüllt. Dies zeigt den radikalen Unterschied zwischen wahrer göttlicher Idee und bloßer göttlicher Erkenntnis der tatsächlichen Natur der Dinge. Etwa wenn er a.a.O., schreibt: ... aber die theoretische Erkenntnis ist, weil sie von den Dingen empfängt, gewissermaßen von den Dingen selbst bewegt, und so leihen ihr die Dinge ihr Maß (mensurant ipsum). Daraus erhellt, daß die Dinge der Natur, von denen unser Verstand sein Wissen empfängt, unserem Verstand ihr Maß verleihen (Metaphysik X, Komm. 9); sie aber haben ihr Maß vom göttlichen Geist (sunt mensuratae ab intellectu divino), in dem alles Geschaffene ist, wie alles durch den Menschengeist Hervorgebrachte (artificiata. im Geist des Künstlers. So ist also der göttliche Geist maßgebend, nicht maßempfangend, das Naturding aber maßgebend und maßempfangend; unser Geist dagegen ist maßempfangend und nicht den Naturdingen gegenüber, sondern nur den durch menschliche Kunst geschaffenen Dingen (res artificiales) gegenüber maßgebend. Das Naturding ist also zwischen erkennende Geister hineingestellt (constituta. und wird entsprechend der Übereinstimmung mit beiden wahr genannt…. Entsprechend der Übereinstimmung mit dem menschlichen Geist aber wird es wahr genannt, sofern es geeignet ist, von sich aus eine richtige Beurteilung zu begründen (in quantum nata est de se formare veram aestimationem), so wie im Gegensatz dazu die Dinge falsch genannt werden, welche geeignet sind etwas zu scheinen, was sie nicht sind, oder anders zu scheinen, als sie sind (Metaphysik V, Komm. 34). In der ersten Bedeutung aber wohnt die Wahrheit [der Sache] eher inne als in der zweiten (prima ... ratio veritatis per prius inest rei quam secunda), denn die Angemessenheit an den göttlichen Geist ist früher als die an den menschlichen; darum würden die Dinge, auch wenn es keinen menschlichen Geist gäbe, doch wahr genannt werden in der Hinordnung auf den göttlichen Geist.

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Entsprechend der Übereinstimmung mit dem göttlichen Geist aber wird es wahr genannt, sofern es das erfüllt, wozu es durch den göttlichen Geist bestimmt ist (ordinata).198 So interpretiert Thomas von Aquin auch gewiß zu Recht die erwähnte Wahrheitsdefinition Avicennas, wenn er schreibt: Ein Ding wird wahr genannt, wenn es die Wirklichkeit der eigenen Natur realisiert; deshalb sagt Avicenna in seiner Metaphysik, daß die „Wahrheit eines Dinges die Seinseigentümlichkeit jedes Dinges ist, die diesem bestimmt wurde“, … in dem Maß, in dem es seine eigene Wesensratio, die im göttlichen Geist liegt, nachahmt.199 3.3.1. Die platonischen eide als göttliche Ideen

Wir haben schon die Definition der Wahrheit als adaequatio zwischen Intellekt und Ding kennengelernt. Diese „Angleichung“ kann in zweierlei Richtung erfolgen. Sie kann, wie Thomas sagt, Anpassung des Intellektes an die Sache sein. Dann geht es um die Wahrheit der Erkenntnis oder des Urteils. Wahrheit als „Angleichung“ kann aber auch in umgekehrter Richtung erfolgen und die Anpassung der Dinge an den Geist, oder besser an die rationalen Urbilder der Dinge meinen. Ontologische Wahrheit in diesem Sinne wurde nicht nur in Entsprechung der Dinge an ihre eide und Ideen betrachtet, sondern Augustinus hat in dem Werk De Ideis (der Quaestio 46 der 83 Quaestiones über verschiedene Gegenstände)200 eine kurze Abhandlung verfaßt, die für das ganze 198

199

200

Anselm, Über die Wahrheit; Augustin, Über die wahre Religion. Siehe Thomas von Aquin, De veritate, Q. I, a. 1; Übers. Edith Stein, a.a.O., S. 14/15. Siehe Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles, I, 60. Siehe gleichfalls Duns Scotus: “Veritas est conformitas exemplaris ad exemplata”. Collationes seu Disputationes Subtilissimae, Opera ommnia, t. III, 19, 1. Zitiert nach J. Pieper, op. cit., Kap. iv, Anm. 24. De diversis quaestionibus LXXXIII, Qu. 46, De ideis, in: Eligius Dekkers, ed., Clavis patrum latinorum (C. Beyaert, Brugis - M. Nijhoff, Hagae Comitis, 1961), PL XL. Ich habe in einem Aufsatz über Platon vorgeschlagen, bei Platon eine Identifizierung der Idee des Guten mit Gott (dem Demiurgen) anzunehmen und habe eine Reihe von Argument dieser (einstmals schon von Zeller vertretenen) Interpretation entwickelt. Vgl. Josef Seifert, “The Idea of the Good as the Sumtotal of Pure Perfections. A New Personalistic Reading of Republic VI and VII”,

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Mittelalter entscheidend wurde. Augustinus lobt Platon, weil die philosophische Entdeckung der Ideen eine der größten Entdeckungen der Philosophie und eine der wichtigsten Dinge überhaupt für die Philosophie sei. Augustinus tadelt Platon aber, weil dieser den Irrtum begangen habe, diese Ideen und eÍdh (eide) außerhalb des göttlichen Geistes zu setzen. Damit hätte er den Demiurgen, den „Vater und Schöpfer des Weltalls“, wie Platon ihn im Timaios bezeichnet, also Gott, unter die Ideen gesetzt und diese ewigen Ideen und Urbilder außerhalb des göttlichen Geistes als dessen eigenes Richtmaß aufgestellt. Durch eine solche Ideenlehre aber hätte Platon Gott verendlicht und hätte die eide (Formen) in ihrem letzten Grund als göttliche Ideen nicht erkannt. Da diese eide oder Wesenheiten, so sagt Augustinus, unveränderlich und notwendig sind, dürfen wir sie nicht zwischen Gott und die Welt oder über Gott setzen, sondern müssen sie vielmehr als göttliche Ideen betrachten, da Gott allein ewig sein kann und nichts Ewiges und absolut Unveränderliches außer ihm allein ist.201 Durch diese augustinische Erklärung der platonischen Ideen hat das Mittelalter die ontologische Wahrheit nicht bloß als Grad der Entsprechung einer Sache mit ihrer Idee und ihrem Urbild aufgefaßt, sondern auch als den Grad ihrer Entsprechung mit dem göttlichen Intellekt, ja mit Gott selber, verstanden. Die Ideen selbst werden bei Thomas und Bonaventura – trotz feinerer Unterschiede zwischen beiden Positionen, die wir hier nicht beachten – als das „göttliche Wesen selbst, insofern es von der Kreatur nachahmbar ist“ oder auch als die ewigen Ideen, die Gott von der geschaffenen Welt und ihren Wesenheiten hat, verstanden. Der göttliche Intellekt darf dabei nicht bloß als ein unendlicher Intellekt aufgefaßt werden, der alles Tatsächliche weiß und alles erkennt, wie er von Thomas von Aquin dort aufgefaßt zu werden scheint, wo er sagt, alle Dinge seien im Verhältnis zum göttlichen Geiste wahr.202 Vielmehr ist der

201

202

S. 407-424. Auf diese Interpretation Platons und auf die Frage ihrer Berechtigung haben Gaiser und Krämer als Begründer der Tübinger Platon-Schule sowie G. Reale neues Licht geworfen, indem sie den ungeschriebenen Lehren Platons und seiner Theorie der Prinzipien und idealen Zahlen nachgegangen sind. Vgl. G. Reale, Verso una nuova interpretazione die Platone, Kap. 15 ff. De veritate, Q. I, a. 10.

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göttliche Intellekt, wie schon der nous bei Plotin, der „Ort der ewigen, unwandelbaren und notwendigen Ideen“, denen die Dinge und vor allem die Personen entsprechen, aber von denen sie auch in vielerlei Hinsicht abweichen können. Daher ist ontologische Wahrheit in diesem Sinn dann in der mittelalterlichen Philosophie seit Augustinus so begriffen worden, daß sie den Grad der Entsprechung eines Dinges an die Idee, die Gott von diesem Ding hat, oder an das ewige Urbild, das in Gottes Geist von diesem Ding lebt, darstellt. Falschheit des Dinges bestünde dann in der Abweichung desselben von seiner göttlichen Idee, Bestimmung und Berufung. Thomas setzt diese Wahrheit, bezüglich deren Begriffs er auf Anselm verweist, und die ja eine unendliche Abstufung kennt (obwohl er von ihr auch im Verhältnis zum menschlichen Verstand, etwa zu den Ideen im Geist eines Künstlers, spricht) vor allem in ein Verhältnis zum göttlichen Verstand, wie wir gesehen haben, betont dabei aber, daß selbst ein Seiendes, dem diese Wahrheit fehlt oder das sie nicht vollkommen verkörpert, nicht schlechthin falsch genannt werden kann, wohl aus dem doppelten Grunde, daß ihm (1) andere Dimensionen ontologischer Wahrheit sehr wohl zukommen können und daß (2) die vollendete ontologische Wahrheit in diesem Sinne wohl keinem endlichen Ding zukommen kann, da sie ein von uns niemals bis zur Vollendung realisierbares Ideal ist.203 Ontologische Wahrheit im zweiten grundsätzlichen Sinn ist dann letzten Endes der Grad des dem Sinn Entsprechens, der vom personalen Gott seit Ewigkeit erkannt wird und den Dingen verliehen worden ist (stabilitum est, wie Avicenna sagt). 3.3.2. Augustinus und Thomas platonischer als Platon: individuelle Ideen

Nicht nur Augustinus, sondern auch Thomas von Aquin ist noch „platonischer“ als Platon in dem Sinne, daß Platon Ideen von den allgemeinen Wesen, aber höchstens mit Vorbehalt und wohl eher gar nicht Ideen von den Einzeldingen annimmt, währenddem Thomas von Aquin, 203

Siehe Thomas von Aquin, De veritate, Q. I, a. 10: Es wäre auch nicht richtig, darum alle Dinge falsch zu nennen, weil alle Dinge hinter dem zurückbleiben, wozu sie bestimmt sind.

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wie auch Augustinus, Ideen von jedem einzelnen Ding annehmen, vor allem göttliche und ewige Ideen von jeder einzelnen Person. In diesem Sinn wird die ontologische Wahrheit, etwa von Johannes Damascenus und Beda, auch auf jedes Individuum angewandt, so daß jedem Individuum eine eigene unwiederholbare göttliche Idee entspricht und daher die Annäherung und die ontologische Wahrheit jedes Menschen nicht nur seine Entsprechung der allgemeinen Idee des Menschen überhaupt oder der Gerechtigkeit überhaupt gegenüber ist, sondern vielmehr gleichfalls die Annäherung an die je ureigene und unwiederholbare Berufung und Idee, die er selber realisieren soll. In diesem Sinn fügen Augustinus und Thomas der platonischen Auffassung eine viel individuellere Konzeption der ewigen Ideen hinzu. Im Gegensatz zu Platons Beschränkung der göttlichen Ideen auf allgemeine und ewige Urbilder treten in der augustinischen und thomasischen Version neben universellen rationes aeternae in Gott, die nur kraft ihrer universellen Gestaltung auch alle einzelnen Individuen miteinschließen, die Ideen individueller Dinge und vor allem, und in gänzlich neuem Sinne, individueller Personen. Dieser Gedanke wird später in einem positiven Ansatz Hegels über Allgemeinerkenntnis und vor allem im polnischen Personalismus große Bedeutung gewinnen.204 Sie prägt allgemein die christliche Spiritualität, wo immer sie die ewige und jeweils ganz persönliche Liebe Gottes zu jeder Person hervorhebt. Die ontologische Wahrheit als eine Entsprechung dieses Seienden, vor allem der einzigartigen und je einzigen Person, einer ganz und gar individuellen Wesensidee, die zugleich eine mit ewiger Liebe Gottes seit Ewigkeit gedachte und wunderbare Wert-Idee der Person ist, stellt einen alle platonischen Vorstellungen ontologischer Wahrheit hinter sich lassenden, personalistischen und ebenso gewaltigen wie neuen Begriff ontologischer Wahrheit dar.

204

Vgl. Karol Wojtyáa, The Acting Person (Boston: Reidel, 1979); cf. auch “the corrected text, authorized by the author” (unpublished), (official copy), Bibliothek der internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein, Schibbogga 7 B-C, Bendern, Liechtenstein; vgl. auch Josef Seifert, “Karol Cardinal Karol Wojtyáa (Pope John Paul II) as Philosopher and the Cracow/Lublin School of Philosophy” in: Aletheia II (1981), S. 130-199.

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3.4. Wahrheit des Seins und des Lebens als Verähnlichung mit Gott: ontologische als sittliche Wahrheit

Ontologische Wahrheit kann man dann schließlich nicht nur als Grad der Entsprechung des Seins oder Tuns eines Dinges oder einer Person im Verhältnis zu der ewigen göttlichen Idee seines Wesens oder seiner Individualität, einer Entsprechung, die wir nicht als Ähnlichkeit, sondern als Erfüllung der Idee bezeichnet haben, sondern als Gottebenbildlichkeit und als „Verähnlichung mit Gott“ deuten, so wie sie Platon im Theaitetos als Ziel allen menschlichen Gerechtigkeitsstrebens faßt. Die „Verähnlichung mit Gott“205 wird dort zum höchsten sittlichen und metaphysischen Ziel des Menschen erklärt.206 Freilich setzt eine philosophische Verteidigung dieses tiefsten Punktes der ontologischen Wahrheit voraus, daß die Existenz und fundamentalen Vollkommenheiten Gottes vom menschlichen Verstand, von der „natürlichen“ Vernunft, erkannt werden können. Daß dem so ist, kann ich hier nicht begründen, aber habe einer solchen Begründung philosophischer Gotteserkenntnis eine Reihe von Schriften gewidmet.207 Und wenn man die Existenz Gottes als Gegenstand philosophischer Erkenntnis anerkennt, folgt, daß der tiefste Sinn ontologischer Wahrheit eine Entsprechung zwischen Seiendem und Gott ist. Dabei können ganz verschiedene Stufen und Arten der Gottähnlichkeit unterschieden werden, die das Mittelalter mit verschiedenen Ausdrücken bezeichnete. So unterschied man zwischen den „Schatten“ (umbra) Gottes, die eine Gottähnlichkeit auch innerhalb der materiellen Welt, etwa des Meeres und Himmelsgewölbes, darstellen, und den „Spuren“ Gottes, die den Pflanzen und Tieren eine gewisse höhere ontologische Wahrheit im Sinne ihrer 205 206

207

Vgl. Plato, Theaitetos, 176 b. Siehe Platon, Theaitetos, 176 a ff. Siehe auch J. Seifert, Essere e persona, cit., Kap. ix. Vgl. Josef Seifert, a.a.O., Kap. 10-15; ders., Gott als Gottesbeweis; ders. „Die natürliche Gotteserkenntnis als menschlicher Zugang zu Gott,“ in: Franz Breid (Ed.), Der Eine und Dreifaltige Gott als Hoffnung des Menschen zur Jahrtausendwende (Steyr: Ennsthaler Verlag, 2001), 9-102 und andere, etwa „Kant und Brentano gegen Anselm und Descartes. Reflexionen über das ontologische Argument“ in: Theologia (Athens 1985), 3-30.

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Gottähnlichkeit verleihen. Davon unterscheidet sich wesentlich der Charakter der geistigen Person als „Imago Dei“, als Ebenbild Gottes. Und doch erwirbt auch die Person wahre Gottähnlichkeit und damit höchste ontologische Wahrheit ihres Seins erst durch die similitudo, die sich durch ihre Tugenden und sittlich-religiösen Werte konstituiert. Erst diese Vollkommenheit ist wirklich Gottähnlichkeit, ja eine gewisse Einswerdung mit Gott und „Vergöttlichung“, wie sie natürlich den Abgrund zwischen endlicher und unendlicher Person niemals aufhebt, aber dennoch eine wahre und tiefe Gottähnlichkeit begründet, wie sie der geistigen Person entspricht, die nur durch Liebe und rechten Gebrauch ihrer Freiheit208 wirklich Gott ähnlich wird. Denn wenn sie ihre Freiheit mißbraucht, wird die endliche Person in gewisser Weise viel radikaler der Gottähnlichkeit beraubt als die vestigia oder sogar die „Schatten“ Gottes in der Natur. Bei diesem Sinn der ontologischen Wahrheit geht es nicht nur um eine Verähnlichung mit einer göttlichen Idee, sondern um eine Gottähnlichkeit, wie sie im Mittelalter als similitudo Dei bezeichnet wurde. Gottes innere Lichtfülle und Wahrheit selber ist – im Lichte dieses sublimsten Verständnisses ontologischer Wahrheit – das tiefste Maß der ontologischen Wahrheit und das endliche Seiende ist wahr in dem Maß, in dem es eine Ähnlichkeit mit Gott besitzt. Der eigentlichste Sinn der ontologischen Wahrheit als „Entsprechung“ besteht also in der Gottähnlichkeit.

208

Und nach dem christlichen Glauben zugleich auch nur durch göttliche geschenkhafte Gnade.

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III. ONTOLOGISCHE WAHRHEIT „ÜBER DEN DINGEN“ ALS INNERE WAHRHEIT DER EIDE UND DER IDEEN SELBST UND ALS INNERE WAHRHEIT DES ABSOLUTEN GÖTTLICHEN SEINS Veritas est qua ostenditur id quod est. Augustinus, De Vera Religione, xxxvi In libro illius lucis quae veritas dicitur. Bonaventura209

„Entsprechung“ oder „Verähnlichung“ mit ewigen Ideen oder mit Gott aber können nicht den tiefsten Punkt ontologischer Wahrheit erreichen.210 Ontologische Wahrheit auf Grund einer ontologischen Entsprechung zwischen Ding und Idee kann nicht die endgültige Form der ontologischen Wahrheit ausmachen, sosehr sie auch in mancher Hinsicht die ontologische Wahrheit als Intelligibilität und sogar die intrinsische (in ihnen selber liegende) ontologische Wahrheit auf Grund seines eigenen Seins und Wesens in endlichen Seienden an Bedeutung übertrifft. 1. Seinswahrheit als innere Wahrheit der ewigen Ideen (Wesenheiten) selbst Die Übereinstimmung der existierenden Einzeldinge mit ihren idealen Wesenheiten, Wesensplänen und göttlichen Ideen, oder mit Gott selbst, kann jedoch nur dann Grund der ontologischen Wahrheit der Dinge sein, wenn diese Ideen und die letzten Urbilder und Wesenheiten selbst jene Eigenschaft besitzen, die wir als innere ontologische Wahrheit bezeichnen möchten. Wir können von ontologischer Wahrheit in einem tiefsten Sinn sprechen, in welchem diese nicht mehr in einer Entsprechung zwischen dem einzelnen Ding und seinem Wesen, seinem eidos oder seiner von Gott 209

210

Ein Augustinus-Zitat Bonaventuras, das sich in dem für unser Thema höchst aufschlußreichen Sermo (IV): Christus Unus Omnium Magister (8), Bonaventura, Doctoris Seraphici S. Bonaventurae Opera omnia, edita studio et cura PP. Collegii a S. Bonaventura, ad Claras Aquas (Quarracchi) ex Typographia Collegii S. Bonaventura, 10 volumina (1882-1902), vol. V 569 findet. In diesem Punkte stimme ich mit Heidegger überein, sosehr ich viele andere Aspekte seiner Wahrheitstheorie für falsch halte.

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gewollten und erkannten Wesenheit oder mit Gott liegt, sondern in der inneren Wahrheit dieser Wesenheiten und Paradigmata, und im höchsten Sinne in der inneren Wahrheit Gottes selbst, der im höchsten Sinne die Wahrheit ist (weshalb der Anspruch Christi, die Wahrheit zu sein entweder Wahnsinn oder Ärgernis erregende Blasphemie ist, … oder Er ist wirklich Gott und Mensch zugleich, worauf wir in Kapitel 5 zurückkommen werden.) Die Wahrheit des Urseins und Urbildes, aber auch die Wahrheit der ewigen Wesenheiten und Ideen kann nicht wiederum in einer Entsprechung liegen. Wenn man von der Wahrheit der Liebe und Freundschaft selbst spricht, dann meint man nicht, daß die Wesenheit der Liebe ihrer Idee entspricht, wie dies von einer konkreten menschlichen Liebe oder Freundschaft gilt. Vielmehr sind jene „Gegenstände“, jene reinen eide und notwendigen Wesenheiten, insofern sie in sich selbst sinnerfüllt, intelligibel und absolut notwendig sind, in einem höheren Sinn ontologisch wahr. Damit ist nicht nur gemeint, daß ihr ideales Sein von ihrem Wesen unabtrennbar ist und sie also notwendig existieren (ideale Existenz besitzen) und eine indivisio ihres idealen esse von dem, was sie sind, besteht. Damit ist ferner nicht nur ihre wesenhafte ontische Autonomie gegenüber jedem menschlichen Intellekt gemeint und nicht einmal, daß sie sich nie ändern oder falsch werden können. Damit ist nicht nur die Beherrschung der kontingenten Welt durch ihr „Gesetz“ gemeint, dem sich kein Einzelding entziehen kann, das ihnen entsprechen und gehorchen muß. Manchen notwendigen Wesensgesetzen, wie dem Widerspruchsgesetze oder der notwendigen Vorausgesetztheit der Freiheit für moralische Werte muß jedes Seiende, das unter sie fällt, gehorchen. Andere, die die Welt nicht notwendig de facto beherrschen, etwa alle normativen Wesensgesetze wie daß ein Mensch Opfer eines Orkans nicht bestehlen soll, sollte jeder Mensch notwendig befolgen. Wenn wir jedoch von der inneren Wahrheit der Wesenheiten reden, ist all dies nicht gemeint. Vielmehr besagt die höchste innere Wahrheit der notwendigen Wesenheiten, daß diese in sich eine Klarheit, Intelligibilität und Fülle an Verstehbarkeit und Einsehbarkeit besitzen, daß sie die causa exemplaris und letzte Quelle aller anderen Wahrheit der Dinge und aller Erkenntnis und deshalb in einem eminenteren und höheren Sinne selber wahr sind. Und es ist diese innere Wahrheit, vornehmlich die Wahrheit der in sich

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KAPITEL 1

notwendigen und im höchsten Sinne intelligiblen Wesenheiten und Wesensgesetze, die sich von der Seinswahrheit aller kontingenten und konkreten Dinge unterscheidet, weil sie in keiner Weise mehr in einer Entsprechung liegt, sondern Ziel, Urbild, und Maß aller Wahrheit der Entsprechung mit ihnen sind. In dieser höheren inneren Wahrheit der ewigen notwendigen Wesensformen erst finden wir dann auch das letzte und nicht mehr selber gemessene Maß der ontologischen Wahrheit der Dinge, insofern diese in dem Maße wahr sind, als sie jene Wesenheiten möglichst rein verkörpern bzw. an ihnen in sehr verschiedenen Weisen teilhaben. Allein von dieser höheren und rein inneren Wahrheit, die Pieper nicht als solche von der Intelligibilität der realen kontingenten Dinge abhebt, sagt Augustinus in einem doppelten Sinne, daß sie iniudicabilis sei und daß wir in ihrem Licht über alles andere urteilen, sie selbst aber weder im Licht von irgend etwas anderem kritisch beurteilt werden noch ein Kriterium außerhalb ihrer selbst für die Wahrheit unserer Erkenntnis von ihnen besitzen, weil sie selber das äußerste Wahrheitskriterium sind, hinter das wir niemals zurückgehen können. Vielleicht ist es noch mehr dieses Merkmal ihrer Intelligibilität als jenes der Notwendigkeit, zusammen mit dem Wegfallen einer Entsprechung im Verhältnis zu etwas anderem, also dieses „eine letzte Quelle aller Intelligibilität Sein“, was diese höhere Form nicht nur intrinsischer, sondern rein innerer ontologischer Wahrheit, die wir hier im Auge haben, auszeichnet. Es ist die hier gemeinte innere Wahrheit jene der rationes aeternae, und zwar ganz gleichgültig, ob deren Sinnfülle und Intelligibilität dem menschlichen Verstehen wesensnotwendiger Zusammenhänge zugänglich und daher evidens quoad nos ist, oder ob ihre Intelligibilität nur von einem höheren oder gar nur dem höchsten Intellekt tatsächlich erkannt werden kann und deshalb nur quoad se evident ist. In dem letzteren Falle kann unser Auge der Nachteule das Licht ihrer inneren Wahrheit nicht schauen, sondern kann sie nur vom Auge des Adlers erschaut werden. Dann ist ihre Sinnfülle und Intelligibilität ein für den Menschengeist „unaustrinkbares Licht“, welches nur in jener Wahrheit der rationes aeternae aufgezeichnet ist, das Bonaventura als „das Buch jenes Lichtes, das Wahrheit genannt wird“, (“liber illius lucis quae veritas dicitur”) bezeichnet.

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Die ontologische Wahrheit in diesem Sinne transzendiert also sowohl die Erkennbarkeit durch den menschlichen Geist als auch die Wahrheit der kontingenten Dinge, welche in einer Entsprechung mit diesen notwendigen Wesenheiten liegt. Vielmehr ist diese höchste Wahrheit „über dem menschlichen Geist“ und „über den Dingen“, jenseits aller Entsprechung, und doch ist sie von entscheidender und letztbegründender Bedeutung für alle Seienden und für alle Erkenntnis. Es ist die Wahrheit des Maßes und eine Quelle der ontologischen Wahrheit aller Seienden. Zugleich ist diese innere Wahrheit der notwendigen Wesenheiten auch letzte Quelle aller menschlichen und aller Erkenntnis überhaupt. Denn diese innere Wahrheit der Wesenheiten selber ist es, von der Augustinus sagt, daß es in ihrem Licht erst sei, daß wir Licht erkennen und daß sie uns alle Dinge erst zeige. Denn wir können nichts erkennen, ohne zugleich das Licht mancher wesensnotwendiger Wesenheiten und Sachverhalte wie des Widerspruchsprinzips und ungezählter anderer zu erkennen.211 Die notwendigen Wesenheiten selbst sind überdies in ihrer inneren Sinnhaftigkeit wahr, d.h. einleuchtend im höchsten Grad der ontologischen Wahrheit im Sinne der Intelligibilität. Da sie aber diese Intelligibilität nicht mehr aus einer anderen Quelle außer ihnen schöpfen, wie dies alle endlichen Dinge und Wesen tun, sondern in und aus ihrer eigenen inneren notwendigen Wesenheit selber, sind sie, als Quelle und Maß aller Intelligibilität, auch in höherem Sinne wahr und zugleich die letzte Quelle und das letzte Maß aller anderen Arten von ontologischer Wahrheit im Sinne der Intelligibilität der Dinge. Sie werden nicht zuletzt aus diesem zusätzlichen Grund, daß sie nicht nur in höherem Maß intelligibel und einsichtig sondern auch nicht mehr selber wegen einer ÔrjðóthV (orthotes) und Beziehung zu einem anderen Maß intelligibel sind, sondern Quelle und Maß aller anderen Intelligibilität sind, ontologisch wahr genannt. Man könnte weiters bei diesem ihrem Bezug zum erkennenden Geist 211

Und da Augustinus sagt, daß diese notwendigen und höchst intelligiblen Wesenheiten nur in Gott sein können, weil nichts ewig sein kann außer Ihm, liegt in ihrer Erkenntnis auch, wie Augustinus hervorhebt, eine rein natürliche Illumination, die nichts mit Gnade und Offenbarung zu tun hat, sondern an welcher sogar der Teufel, der gewisse notwendige Wahrheiten erkennt, teilhat. Es handelt sich hier um eine rein natürliche und folgerichtig aus der Natur der Objekte objektiver apriorischer Erkenntnis abgeleitete “illuminatio” durch Gott.

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KAPITEL 1

verweilen und hinzufügen, daß wir diese letzte Wahrheit, diese innere Wahrheit, auch deshalb wahr nennen, weil sie ein letztes inneres Kriterium für ihre eigene Wirklichkeit und für ihre nicht vom Menschengeist Erfundenheit sind, bzw. in ihrer Einsichtigkeit enthalten. Auch dieser Gedanke, daß in den notwendigen Wesenheiten nicht nur der höchste Sinn ontologischer Wahrheit, sondern auch das oberste und letzte Evidenzkriterium liegt, findet sich von der antiken Philosophie, insbesondere von Platon und Aristoteles, an bis zur gegenwärtigen Philosophie.212 Diese erhabene Form innerer Wahrheit ist auch das letzte Kriterium der Transzendenz der eide gegenüber dem menschlichen Geist. Die inneren intelligiblen Wesensnotwendigkeiten sind als höchstes Kriterium der eigenen Objektivität auch höchstes Kennzeichen der Unerfundenheit, ja der Unerfindbarkeit der Wahrheit. Wenn wir etwa bei Augustinus in seiner Widerlegung der Skepsis, oder bei Bonaventura in seiner Abhandlung über die Unfehlbarkeit der Erkenntnis notwendiger Wahrheiten (infallibilitas) lesen, so werden wir darauf aufmerksam, daß die innere Wahrheit, die innere Notwendigkeit dieser Wesenheiten, das höchste Kriterium für ihre Wirklichkeit und dafür ist, daß wir Wesenheiten wie die der Zahlen, der Gerechtigkeit, der Person nicht erfunden haben können. Die Notwendigkeit und die mit dieser verknüpfte innere Intelligibilität werden nicht nur deshalb wahr genannt, weil sie das Maß des Sinnes für die ontologische Wahrheit in den anderen Bedeutungen ist, sondern auch, weil sie in sich selber ein Kriterium für eine dem Subjekt gegenüber unabhängige Seinssphäre und für deren Unerfindbarkeit darstellt. Augustinus spricht in diesem Zusammenhang von der iniudicabilitas, von der Unmöglichkeit, ein weiteres Kriterium zu finden für Wirklichkeit und Wahrheit außer der inneren Wahrheit und Evidenz dieser notwendigen Zusammenhänge selbst. Und indem er von der iniudicabilitas, von der Nichtbeurteilbarkeit im Licht eines anderen Kriteriums, also von der letzten Begründung jedes Wahrheitskriteriums überhaupt spricht, zielt er auf ontologische Wahrheit in dem jetzt erörterten Sinn innerer Wahrheit ab, die nicht in einer Entsprechung mit etwas ihnen Äußerem, Fremden, darstellt. Auch Spinoza mit seinem Satz, daß die Wahrheit das Kriterium ihrer 212

Siehe in Aristoteles besonders Metaphysik, Buch IV; und Zweite Analytik.

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selbst und des Falschen sei (verum est index ipsius et falsi), zielt auf diese höchste ontologische und erst infolge ihrer letzten inneren ontologischen Wahrheit erkenntnismäßige Wahrheit ab. In diesem Satz Spinozas ist gewiß diese innere Wahrheit der einsichtigen Wesenheiten und Wesenssachverhalte gemeint, die dann als Folge ihrer inneren ontologischen Wahrheit auch höchstes und oberstes Maß evidenter Erkenntnis ist. Auch darin, daß sie nicht mehr einem anderen Maß und Kriterium unterliegen, sondern selbst ein solches letztes Erkenntniskriterium sind, liegt eine Folge ihrer innersten, höchst sinnvollen Wahrheit und Notwendigkeit, vor allem wenn sie den Charakter letzter und aus nichts anderem ableitbarer Notwendigkeit besitzen. Nicht von einem Stuhl oder irgendeinem Ding, das wir durch Beobachtung verifizieren müssen, ist hier die Rede, sondern von der einleuchtenden Wahrheit jener Dinge, die durch ihre innere Notwendigkeit und Wahrheit, wenn der Geist sie erfaßt, Kriterium ihrer eigenen Wirklichkeit und Kriterium dafür sind, daß sie nicht vom menschlichen Geist erfunden sind. Man könnte auch diese „innere Wahrheit“ noch einmal nach drei Richtungen bestimmen: 2. Innere Wahrheit als höchste Form innerer Sinnhaftigkeit und Wesensnotwendigkeit Auf diese Bedeutung der ontologischen Wahrheit sind wir schon eingegangen und haben drei wesentlich verschiedene Stufen innerer Einheit und die notwendigen Wesenheiten als höchsten Fall innerer sinnvoller Einheit unterschieden. 3. Innere Wahrheit als Richtmaß der „Annäherung“ der Dinge an die Idee – Ontologische Wahrheit der “causa exemplaris” als Quelle der Wahrheit des “exemplatum” als “adaequatio rei ad intellectum” (ad ideam) Zweitens könnte man diese innere Wahrheit als das letzte und höchste Maß für die Wahrheit als Annäherung der Wirklichkeit an die Idee oder

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KAPITEL 1

das Wesen bestimmen. Als Maß dieser Wahrheit derjenigen Dinge, die den eide und Ideen entsprechen, müssen aber diese notwendigen eide und die höchst sinnvollen Ideen selber in noch eminenterem Sinne wahr genannt werden als jene Dinge, die an ihnen teilhaben, wie wir gesehen haben. Nicht der Mensch ist das Maß aller Dinge, sondern die ewigen Ideen und Wesenheiten.213 4. „Innere Wahrheit“ als höchste Intelligibilität und als höchstes Kriterium der Erkenntnis und Beweis des „in sich selber Seins“ dessen, was jene höchste innere Wahrheit besitzt Ut cum veritas quæ est in rerum existentia sit effectum summæ veritatis, ipsa quoque causa est veritatis quæ cogitationis est, et eius quæ est in propositione So wie die Wahrheit des Seins der Dinge die Frucht der höchsten Wahrheit ist, so ist sie zugleich auch die Ursache jener Wahrheit, die dem Erkennen eigen ist und jener, die sich im Urteil findet Anselm von Canterbury

214

Diese „innere Wahrheit“ ist also auch Höhepunkt der ontologischen Wahrheit in dem Sinn von Intelligibilität und damit auch einzigartiges Maß, Urform und Urquelle aller Verstehbarkeit und Einleuchtendheit der Dinge, wobei man freilich innerhalb der notwendigen Wesenheiten und in ihnen gründenden Sachverhalte noch einmal zwischen den letzten Prinzipien und Urphänomenen und den notwendig aus ihnen folgenden und sich ergebenden notwendigen Wahrheiten unterscheiden muß, wie dies besonders auf dem Gebiet der Logik und Mathematik hervortritt. Daher könnte man diese Urform ontologischer „innerer Wahrheit“, vor allem jene der letzten Urgegebenheiten, auch in dem Sinne bestimmen, daß diese in ihrer höchsten Stufe eine innere Unerfindbarkeit und ein Kriterium dafür einschließen, daß das, was in diesem dritten Sinne wahr ist, nicht 213

214

Und auch weil diese, wie schon Platon sagt, der Gott das höchste Maß nennt, in Gott sein müssen, ist Gott dieses höchste Maß. Vgl. Platon, Nomoi 4.716c. Vgl. auch Platon, Theaitetos, 168 d ff.; 170d; 176 b-c; 178 b. Anselm, De veritate, x, Opera, v. 1, p. 190.

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bloß Fiktion, nicht bloß Erfindung, nicht falsch oder vom Menschengeist oder irgendeiner anderen Vernunft bloß „entworfen“ sein kann, sondern in sich selber etwas ist. Mit anderen Worten treten wir hier mit den objektiven und einleuchtenden Dingen an sich in Berührung, deren Sein unmöglich von menschlicher Subjektivität und Geschichtlichkeit abhängen kann. 5. „Innere Wahrheit“ als wahre Unendlichkeit des Seins, der Intelligibilität und des Guten sowie der realen Existenz: „Ontologische Wahrheit“ im Sinne der reinen Vollkommenheiten in ihrer unendlichen Gestalt – als innere Wahrheit des Absoluten Göttlichen Seins selber, einer höchsten ontologischen Wahrheit, die allein Gott zukommt und die Er IST 215

“Gott nun dürfte wohl vornehmlich das Maß aller Dinge für uns sein“ Und alles was ist außer Dir allein, kann auch als nicht seiend gedacht werden. Du allein bist deshalb der Wahrste aller Seienden und hast deshalb am allermeisten Sein: denn was immer sonst noch ist, ist nicht so wahrhaft, und hat deshalb weniger Sein. Anselm von Canterbury, Proslogion III, S. 103, 6–9: Et quidem quidquid est aliud praeter te solum, potest cogitari non esse. Solus igitur verissime omnium, et ideo maximum omnium habes esse: quia quidquid aliud est non sic vere, et idcirco minus habet esse.

Es gibt noch einen weiteren und allerhöchsten Sinn von „ontologischer Wahrheit“, der uns aufgeht, wenn wir sagen, die endlichen Seienden und auch ihre notwendigen Wesenheiten (der Zahlen, der Bewegung, der Zeit usf.) seien nicht das „wahrste Sein“: Die idealen notwendigen Wesenheiten sind nicht das wahrste Sein, weil sie nicht real existieren, sondern nur ideales Sein besitzen, während das wahrste Sein auch im höchsten Sinne real sein muß. Die allein Gott zukommende ontologische Wahrheit schließt auch jenes einzige notwendige reale Dasein bzw. das letzte Zusammenfallen von Sein und Wesen ein, weshalb allein Gott wahrhaft IST, worauf in erster Linie 215

Platon, Die Gesetze, IV 716 c-d: Gott nun dürfte wohl vornehmlich das Maß aller Dinge für uns sein, und weit mehr als so ein Mensch, wie dies einige wollen.

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KAPITEL 1

Anselm abzielt, wenn er sagt, Gott allein sei „der Wahrste von allen,“ dessen Nichtsein unmöglich und nicht einmal denkbar sei. Gott allein ist der Wahrste in diesem Sinne, weil er allein die Fülle der Wirklichkeit, in welcher Sein und Wesen untrennbar eins sind, ist, jenes einzige Wesen unter allen, das so notwendig und voll real ist, daß es nicht nicht-sein kann (ja für den, der “secundum quod res est” denkt, nicht einmal als nichtseiend gedacht werden kann, wie Anselm sagt: wenn jemand dasjenige, was wir Gott nennen, in seiner einzigartigen Wesenheit, zu welcher das reale Dasein genauso notwendig gehört wie alle übrigen Eigenschaften, als solches betrachtet und in seiner Wahrheit erkennt, kann er seine Nichtexistenz nicht einmal mehr denken). Steine, Meere, Gebirge, räumliche Bewegung, ja selbst lebendige Wesen wie Tannen, Katzen und Schweine, sind nicht das wahre Sein, weil sie – obgleich mit Leben beseelt – wesenhaft begrenzt sind. Und nicht einmal der Mensch – trotz seiner Vernunft und gewaltigen Würde und Werthöhe einer gewissen Unendlichkeitsdimension – ist der wahrhaft Seiende, weil auch er in seiner Vergänglichkeit und Zeitlichkeit eher derjenige ist, der nicht wahrhaft ist, als der wahrhaft Seiende. Alle die genannten Naturen sind wesenhaft, ihrer Natur nach, endlich und begrenzt; und auch ihre ewigen notwendigen Wesenheiten wie jene der Farben, der mathematischen Objekte oder sogar menschlicher Akte, sind ferner nicht das wahrhafteste Sein, weil nicht nur ihre Wirklichkeit, sondern auch sie selber als ideale Wesenheiten wesenhaft begrenzt und endlich sind. Gott hingegen ist unendlich, was auf das engste mit dem verbunden ist, dem wir uns jetzt zuwenden. Gott allein ist ferner der Wahrste, weil er der Beste, ja das Gute selber ist und alle reinen Vollkommenheiten in ihrer unendlichen Form verkörpert. Nur jene Attribute, die wenigstens potentiell unendlich und zwar unendlich vollkommen sind, die also in einem genau zu reflektierenden Sinne „transzendental“ sind, weil sie reine Vollkommenheiten sind,216 wären in diesem Sinne ontologisch wahr, was allerdings weder 216

Nur sie sind in jenem Sinne ‚transzendental‘, in dem man die ontologische Wahrheit der schlechthinnigen Vollkommenheiten auch als transzendentale Wahrheit bezeichnen kann. Diese auf die mittelalterliche Philosophie zurückgehende Bedeutung von ‚Transzendentalität‘ unterscheidet sich radikal von der subjektivistischen kantischen Bedeutung dieses Terminus, die das Transzendentale

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bedeutet, daß alle wesenhaft begrenzten Naturen und Seienden auch falsch seien, noch bestreitet, daß diese reinen Vollkommenheiten auch in ihnen, obgleich in endlicher Form, existieren. Dennoch besitzen endliche Verkörperungen reiner Vollkommenheiten nicht die volle Wahrheit des Seins, sind nicht ein ÂlhjðinvV Ón (alethinos on: ein wahrhaft Seiendes) in jenem Sinne, in dem die reinen Vollkommenheiten nur wahrhaft als „sie selber“ und wahrhaft seiend in Gott bestehen, weil sie allein in Ihm unendlich und voll sie selbst sind: unendliches Sein und Leben, unendlicher Geist, unendliche Erkenntnis, Weisheit, Freiheit, Macht, Güte, Gerechtigkeit.217 Diese ihrer Natur nach der Unendlichkeit fähigen reinen Vollkommenheiten sind nicht das am wahrhaftigsten Seiende, solange sie in begrenzter Form existieren wie menschliche endliche Freiheit, Macht, Sein und Leben, Gerechtigkeit und Güte. Erst die unendliche Verkörperung dieser reinen Vollkommenheiten ist daher das wahrhaftige Sein in diesem Sinne. Nur Gott ist in diesem Sinne der wahrhaft Seiende. Nur unendliche Gerechtigkeit ist die Gerechtigkeit selbst, die wahrhafte Gerechtigkeit, nur unendliche Weisheit wahrhaft Weisheit usf. In diesem Sinne der Seinswahrheit kann man erst recht nicht sagen, jedes Seiende sei wahr und das ontologische verum sei eine Eigenschaft, die transzendental in jenem Sinne sei, daß sie allen Seienden schlechthin zugesprochen werden könne. Vielmehr kommt ontologische Wahrheit in diesem Sinne nur den reinen Vollkommenheiten in ihrer unendlichen Fülle und Gestalt

217

in Gegensatz zum Transzendenten und in Gegensatz zu dem vom menschlichen Subjekt Unabhängigen stellt. Das metaphysische gesehen Transzendentale verhält sich gerade umgekehrt: Das Transzendentale im Sinne der reinen Vollkommenheiten ist das Wahre zugleich wegen der Vollkommenheit des Wertes, die in ihm liegt, und wegen seiner totalen Transzendenz und Unabhängigkeit vom menschlichen Bewußtsein. Im übrigen verwendet hier Pieper den thomasischen Begriff der Transzendentalität, der sich auf alle Seienden erstreckt, statt dem anselmischskotistischen, nach dem die Tranzendentalien nur von allen Einschränkungen frei sein müssen und deshalb ebenso solche reinen Vollkommenheiten umfassen, die nicht allen Seienden gemeinsam sind wie Personalität oder Erkenntnis. In diesem tieferen Sinn von „transzendental“ sind alle Arten von Transzendentalien ontologisch wahr, nicht nur die transzendentalen Seinseigenschaften, die allen Dingen gemeinsam sind. Siehe dazu Seifert, Essere e persona, Kap. 5. Sie alle und viele andere sind nicht wesenhaft endlich und begrenzt. Deshalb nennen wir sie reine Vollkommenheiten.

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KAPITEL 1

zu: Das wahrste Sein ist daher einzig Gott, der allein alle reinen Vollkommenheiten verkörpert. Die ontologische Wahrheit, die Gott allein besitzt, ist auch ein letztes Zusammenfallen und ein absoluter Höhepunkt aller unterschiedenen Arten ontologischer Wahrheit: Nur im absoluten göttlichen Sein kulminieren alle Vollkommenheiten des real Seienden, das allein deshalb die Wahrheit selber und Fundament aller Erkenntnis- und Urteilswahrheit ist; die Fülle der Intelligibilität und des Lichtes der Erkennbarkeit, die ein für jeden endlichen Geist „unaustrinkbares Licht“ ist; die Fülle und Quelle aller Werte und alles Seinsollenden, die wegen ihrer Wertfülle kein Maß mehr über sich hat, sondern in sich höchstes Maß ist, in der Gutheit und Wahrheit zusammenfallen. Nur in diesem umfassenden Sinne aller ontologischen (und aller übrigen) Wahrheit ist es berechtigt zu sagen, Gott sei „die Wahrheit“ und die Wahrheit selbst sei Person, eine Aussage, die etwa Thomas von Aquin ganz anders interpretiert218 als Michel Henry, der versucht, den personalen und lebendigen Charakter ganz vom Seinscharakter zu trennen, den er nur für das innerweltliche Seiende gelten lassen möchte, worauf wir im letzten Kapitel in einer kritischen Untersuchung zurückkommen werden.219 An diesem Höhepunkt der ontologischen Wahrheit erst bedeutet diese auch in keinem denkbaren Sinne dieses Wortes mehr die Entsprechung eines Seienden mit irgendeinem Maße außer ihm,220 sondern ein selber höchste Wahrheit Sein.221 218

219

220

221

Thomas von Aquin interpretiert die Wahrheit, die Gott ist, im Sinne der Worte “ego sum via, veritas et vita” (Joh. 14), in ähnlichem Sinne wie wir. Vgl. etwa Thomas von Aquin, Compendium theologiae, lb. 1, cap. 213. Vgl. auch Thomas von Aquin, Catena Aurea in Ioannem, cap. 1, lectio 17. Vgl. Thomas von Aquin, Principium Biblicum, pars 1. Vgl. Michel Henry, Ich bin die Wahrheit. Für eine Philosophie des Christentums (München: K. Alber, 1997), ein Werk, auf das wir im letzten Kapitel zurückkommen werden. Eine in mancher Hinsicht ähnliche Position vertritt Jean-Luc Marion, Dieu sans l’Être (Paris: Communio/FAYARD, 1982). Was etwa Bonaventura noch für alle notwendigen Wesenheiten außer Gott selbst annimmt, indem er diese als die ewigen logoi aller geschöpflichen Formen der Gottabbildbarkeit durch Geschöpfe bezeichnet, die in dem einen göttlichen Logos enthalten seien. Was für nach dem Glauben des Christen nicht ausschließt, daß es selbst innerhalb

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IV. DIE BEDEUTUNG DER ONTOLOGISCHEN WAHRHEIT FÜR DIE ETHIK: DIE HÖCHSTE WAHRHEIT DES SEINS ALS SITTLICHE WAHRHEIT UND ALS “VERITAS VITAE” Um unsere Ausführungen über die ontologische Wahrheit in einen konkreteren Rahmen zu stellen und in ihrer praktischen Bedeutung besser hervortreten zu lassen, betrachten wir ihre Bedeutung für die Ethik. 1. Die intrinsische ontologische Wahrheit, vor allem als Aktualität des Wirklichen verstanden, im Verhältnis zur Moral Wenn wir all die untersuchten Dimensionen ontologischer Wahrheit und nicht zuletzt auch die erörterte eigentümliche Aktualität des Wirklichen betrachten, erkennen wir, daß alle Arten ontologischer Wahrheit und insbesondere auch jene Ungeteiltheit des Wesens vom realen Dasein, die das Wirkliche gegenüber dem Chimärischen oder sogar gegenüber den idealen Wesenheiten auszeichnet, eine besondere und wichtige Rolle für die Ethik spielt. Die Moral ist ein privilegierter Ort, um den gewaltigen Unterschied zwischen Wirklichem und Unwirklichem einzusehen und den Sinn von Wahrheit des Seins zu erkennen, der allein im Wirklichen sich findet: i) Moralische Forderungen können sich nur an wirkliche Seiende richten, wie auch nur in ihnen die Qualitäten von gut und böse selbst existieren können. Denn unwirkliche Gegenstände und fiktive Personen eines Dramas können unmöglich wahre sittliche Werte tragen. Sie können nicht wirklich gut, gerecht, verzeihend sein. Die Merkmale des Sittlichen können niemals in der Tat und in der Wahrheit in fiktiven Gestalten bestehen. Auch Möglichkeiten oder ideale Gegenstände können nicht sittlich gut sein; nur reale Personen sind gut oder böse. der Trinität im höchsten Abbild des Vaters noch eine andere und absolute Wahrheit der Abbildlichkeit gibt, welche aber ganz anderer Natur ist als jene der unvollkommenen endlichen Seienden, welche in ganz anderem Sinne ein Maß ihrer Wahrheit außer ihnen selber besitzen. Doch liegt dieser Bereich thologischer christlicher Theologie jenseits der Aufgabe dieses Buches.

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KAPITEL 1

ii) Auch gehen die meisten sittlichen Forderungen von wirklichen Personen, die wir bejahen, lieben, denen wir helfen sollen, aus. Die ontologische Wahrheit im Sinne der Wirklichkeit und der Ungetrenntheit zwischen Wesen und Dasein liegt also auch im Ursprung und an der Quelle moralischer Imperative und in den Objekt-Personen, von denen moralische Forderungen ausgehen. Denn wenn auch imaginäre Objekte eines Dramas oder Romans oder bloße Möglichkeiten, die wir in der Phantasie betrachten, Gegenstände sittlich guter oder böser Zustimmung und Verwerfung sein können, so ist doch der eigentliche sittlich bedeutsame Gegenstand immer ein realer oder zu realisierender. Nur das wirklich Seiende hat, in seinen Werten und Unwerten, die Kraft, sittliche Forderungen wirksam zu begründen. Deshalb ist auch das wahre Seiende im Sinne des wirklich Seienden der einzige, oder jedenfalls der primäre Quellgrund sittlicher Imperative. iii) Das Sollen des Sittlichen, das kategorisch die Verwirklichung innerer Haltungen oder nach außen hin wirkender Taten fordert, enthält durch die wesenhafte Richtung auf die Realisierung innerer Akte und Haltungen sowie, in der Sphäre der Handlungen, in denen die Person außerhalb ihrer selbst liegende und durch sie zu verwirklichende Sachverhalte intendiert, auf die außerhalb der Person bestehende wirkliche Welt, wiederum eine weitere Dimension der Erkenntnis des immensen Unterschieds zwischen bloß möglichen, oder vorgestellten, und wirklichen Sachverhalten. Das Verstehen von deren Wirklichkeit ist sogar dort vorausgesetzt, wo wir eine Realisierung durch unsere Taten nur beabsichtigen und nicht erreichen.222 Auch die fruchtlose Handlung aber („freilich nicht etwa als 222

Dies bringt Kant im folgenden Text in einprägsamer Weise zum Ausdruck: Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zur Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d.i. an sich, gut und, für sich selbst betrachtet, ohne Vergleich weit höher zu schätzen als alles, was durch ihn zu Gunsten irgend einer Neigung, ja wenn man will, der Summe aller Neigungen nur immer zu Stande gebracht werden könnte. Wenn gleich durch eine besondere Ungunst des Schicksals, oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur es diesem Willen gänzlich an Vermögen fehlte, seine Absicht durchzusetzen; wenn bei seiner größten Bestrebung dennoch nichts von ihm ausgerichtet würde, und nur der gute Wille (freilich nicht etwa als ein bloßer Wunsch, sondern als die Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind) übrig bliebe: so würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas, das seinen vollen Werth in sich selbst hat. Die

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ein bloßer Wunsch, sondern als die Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind“), die trotz ihrer Fruchtlosigkeit „wie ein Juwel doch für sich selbst glänzt“, ist auf die Realisierung von Sachverhalten in der wirklichen Welt gerichtet und somit von dem Bewußtsein des unendlichen Unterschieds zwischen der wahren (wirklichen) Welt und der Welt rein intentionaler Gegenstände durchdrungen. 2. Die Wahrheit des Seins im Sittlichen als höhere Intelligibilität und Transparenz des Seins Fragen wir nach jener ontologischen Wahrheit, die in der Verstehbarkeit und Intelligibilität eines Seienden liegt, so besitzen die reinen idealen Wesenheiten der Gerechtigkeit, der Liebe usf. eine viel höhere Intelligibilität als alle realen menschlichen Akte und Taten endlicher Wesen. Diese Intelligibilität hat die größte Bedeutung für die Ethik. Diese kann ja niemals eine empirische Wissenschaft sein, die einfach die faktischen Handlungen der Menschen und deren Eigenschaften erforscht, die meistens nicht rein und nie vollkommen jene Wesenheiten moralischer Akte und Werte verwirklichen, die der Philosoph erschaut. Vielmehr wendet sich die Ethik nicht den empirisch wirklichen und oft gemischten, sondern jenen wahren idealen Wesenheiten sittlicher Träger, Akte und Qualitäten selbst zu, die durch ihre Notwendigkeit und höhere Einsichtigkeit mehr als durch ihre überlegene Realität hervorstechen; aber auch sie sind auf die wirkliche Welt bezogen: sie sind die Bedingung der Möglichkeit realer Dinge, die Quelle der ihnen möglichen Werte, und sie enthalten in ihren zeitlosen Wesenheiten die Gesetze für alle individuellen moralischen Handlungen und sind gleichsam rationes, Wesenspläne für die wirkliche sittliche Welt. Gerade nur deshalb weil die höhere Intelligibilität sie wahrer macht als die faktische Wirklichkeit, aber andererseits die real existierende Welt in Nützlichkeit oder Fruchtlosigkeit kann diesem Werthe weder etwas zusetzen, noch abnehmen. Sie würde gleichsam nur die Einfassung sein, um ihn im gemeinen Verkehr besser handhaben zu können, oder die Aufmerksamkeit derer, die noch nicht gnug Kenner sind, auf sich zu ziehen, nicht aber um ihn Kennern zu empfehlen und seinen Werth zu bestimmen.

Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kants Werke, Akademie-Textausgabe (Berlin: Walter de Gruyter & Co., 1968), Bd. IV .

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KAPITEL 1

einem anderen Sinne ontologisch wahrer ist als die ideale Welt, verlangt die rein ideale Wesenswahrheit des Sittlichen dessen Realisierung in der wirklichen Welt als Erfüllung der Sollensforderungen, die ausschließlich im real Seienden und in den wirklichen Taten und Haltungen verwirklicht werden können. Genau besehen setzen die Ethik und die sittliche Sollensforderung verschiedene Bedeutungen ontologischer Wahrheit voraus, und zwar: die Seinswahrheit im Sinne der Realität und der realen Existenz, die Intelligibilität und innere Notwendigkeit, sowie die Wahrheit der Erkenntnis; die Wahrheit des Urteils und die axiologische Wertwahrheit. Dieser müssen wir uns näher zuwenden. 3. Die ontologische Wahrheit des sittlich Guten als axiologische – als Wertwahrheit Betrachtet man die axiologische Dimension der Seinswahrheit als innerer Eigenschaft der Dinge, vor allem der realen Seienden, so kann man leicht einsehen, daß diese Dimension der ontologischen Wahrheit gerade im Lichte der moralischen Werte hervortritt. Denn gerade wegen der Verkörperung sittlicher Werte ist ein Mensch wahrhaft ein Mensch und ein wahrer Mensch; der Böse verfälscht das Sein der Person, er lebt in der Unwahrheit – gerade weil er böse ist. Das Sittliche selbst ist das Wahre. Ja die Grundthese, das Grundprinzip der Ethik, daß das sittlich Gute getan werden soll (bonum est faciendum) bezieht sich auf die axiologische Seinswahrheit, die gerade die Voraussetzung des sittlichen Sollens ist. Denn warum soll der Mensch das sittlich Gute tun und das sittlich Böse meiden, wenn nicht gerade im sittlich Guten das wahre, eigentliche Sein und im Bösen etwas liegt, das der raison d’être und der innersten axiologischen Dimension der Seinswahrheit entgegengesetzt ist? Dieser Bezug zwischen der Wahrheit des Seins im Sinne seiner Werthaftigkeit und der Ethik kommt auch in dem klassischen biblischen Satz zum Ausdruck, unsere sittliche Aufgabe bestünde darin, die „Wahrheit zu

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tun“.223 4. Die ontologische Wahrheit als „Entsprechung“ im sittlich Guten Betrachtet man die ontologische Wahrheit nicht mehr als innere Eigenschaft eines Seienden als solche, sondern als dessen einer Wesenheit und Idee Entsprechen, dann ist dieser Sinn der Wahrheit ebenfalls für die Ethik entscheidend. Nicht die Fakten, nicht die Statistik, nicht das, was alle oder die meisten oder auch nur irgendein Mensch tatsächlich tut, kann Maßstab des sittlich Guten und Bösen sein. Nicht die Wirklichkeit des Daseins konstituiert das im ethischen Sinne wahre Sein des Menschen, sondern allein der Grad der Entsprechung zwischen dem tatsächlichen Tun und Lassen eines Menschen mit den Gesetzen der eide, der notwendigen Wesenheiten und objektiven Ideen des sittlich Guten und der Tugenden. Nur die Angleichung des sittlichen Seins an die innere Wahrheit der Ideen ist Maß des Sittlichen. Und wenn das den Dingen transzendente Maß nicht nur in platonisch aufgefaßten rein idealen Formen (Ideen), ja nicht einmal nur in göttlichen Ideen, hinter denen gleichsam der personale Grunde des denkenden, wollenden, gebietenden und liebenden personalen Geistes steht, sondern als Gott selbst verstanden wird in dem Sinne, in dem Platon, gegen Protagoras, Gott das Maß aller Dinge nennt, dann tritt dieser Sinn von ontologischer Wahrheit wieder in besonderer Weise im Ethischen zutage. Denn wird das Maß ontologischer Wahrheit nach dem Maß und Grad der Gottähnlichkeit eines Dinges bestimmt, und nicht nach der puren Tatsächlichkeit, besitzt wiederum das sittliche Gute in der Person die höchste ontologische Wahrheit, weil es allein die tiefste Gottähnlichkeit, die similitudo Dei begründet, jene homoiosis theo, von der Platon sagt, nur Gerechtigkeit und Liebe zur Wahrheit könnten sie begründen.224 Der Empirismus der Verhaltensforschung, die sogar Rattenexperimente und Tierverhalten zum Ausgangspunkt für ethisches Sollen nimmt, wie

223

224

Vgl. dazu Thomas von Aquin, Catena Aurea in Joannem, cap. 3, lectio 7. Vgl. auch G. Elizabeth M. Anscombe, „Die Wahrheit Tun“, in: Aletheia. An International Yearbook of Philosophy VII 1995-2001 (2002). Platon, Theaitetos 176 b.

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KAPITEL 1

Konrad Lorenz und Wolfgang Wickler, oder von Eiff,225 verkennt diesen eigentlich ethischen Sinn der Wahrheit, der gerade nicht im bloßen Wirklichsein als solchem besteht, sondern in der Verwirklichung der wahren sittlichen Wesenheiten, in der Angleichung unserer Taten an einen diesen selbst transzendierenden Maßstab, der in der Verähnlichung mit Gott kulminiert. Auch in der Diskursethik und der Idee der Konsensfähigkeit als Maßstab des Sittlichen werden wir im Fortsetzungsband Der Streit um die Wahrheit eine derartige Verwirrung erkennen. Das wahre Sein im Ethischen ist also jenes wirkliche und in seinem Sein bestätigte wahre Sein, das seinem ewigen Ideal entspricht oder dieses selber in höchster Form verkörpert: das wahre Sein in seinem tiefsten Sinne ist das verkörperte Gute. 5. Die höchste Erfüllung der ontologischen Wahrheit jenseits aller „Entsprechung“ im absoluten sittlich Guten Wenn wir erkennen, daß sittliche Gutheit wesenhaft zu den reinen Vollkommenheiten gehört, dann sehen wir zugleich ein, daß sie ihre höchste Vollendung nicht im Sinne irgendeines Entsprechens einem Urbild oder einer Idee, sondern in der inneren Wahrheit dieses Urbildes selbst, letztlich aber allein in jenem im höchsten Sinne wahren Sein findet, das alle reinen Vollkommenheiten des Seins und des Wesens in unendlicher Form verkörpert. Diese höchste Form ontologischer Wahrheit des absoluten Wesens muß notwendig auch die höchste Verkörperung des sittlich Guten, die höchste Heiligkeit, sein. In diesem Sinne besteht die höchste ontologische Wahrheit des Seins im Guten, die höchste Wahrheit des Guten im sittlich Guten, beider aber im absoluten Gutsein Gottes.

225

Vgl. etwa Konrad Lorenz, Das sogenannte Böse (Wien: Borotha-Schoeler, 1963); Wolfgang Wickler, „Ethologie und Ethik künstlicher Empfängnisregelung“, in: Sexualität und Geburtenkontrolle, hrsg. von Hans Göppert und Wolfgang Wickler, (Freiburg im Breisgau, 1970), S. 15-32; August Wilhelm von Eiff, Alfons Auer, Verantwortung für das menschliche Leben: Die Zeugung des Lebens, das ungeborene Leben, das verlöschende Leben (Düsseldorf: Patmos Verlag, 1991).

KAPITEL 2 WAHRHEIT DES ERKENNENS

eÎ gár t™V se Éroito: „!Ar) Éstin tiV, ¥ Gorgía, pístiV q»eud#V ka˜ Âlhjð®V?” fða™hV Án, äwV Êg¾ oÏmai. — GOR. Na™. — SW. T™ dæ? Êpist®mh Êstìn q»eud#V ka˜ Âlhjð®V? — GOR. OüdamvV. — SW. D²lon Ár) aÜ äóti oü taütón Êstin. — GOR. )Alhjð² lægeiV. SOKRATES: ... Wenn dich jemand fragte, gibt es wohl einen falschen Glauben und einen wahren? Das würdest du bejahen, denke ich? GORGIAS: Ja. SOKRATES: Wie? Auch eine falsche Erkenntnis und eine wahre? GORGIAS: Keineswegs. SOKRATES: Offenbar ist also nicht beides einerlei. GORGIAS: Du hast recht. 226

Platon

1. Einleitende Worte über Erkenntniswahrheit als eigenständiges und faszinierendes Ur-Phänomen, dessen Untersuchung und weitere phänomenologische Erhellung insbesondere angesichts seiner Fehlinterpretationen nötig sind Um dem Leser eine Vorausschau auf die Ergebnisse der in diesem Kapitel darzustellenden Analysen zu geben, wollen wir diese Resultate knapp darstellen, auch wenn wir damit dem Gang der Untersuchung vorausgreifen müssen und die entsprechenden philosophischen Begründungen unserer Thesen erst später im Text liefern können. In diesem Kapitel soll gezeigt werden, daß es neben der Wahrheit des Seins und jener des Urteils eine ganz andersartige Wahrheit, nämlich die des Wahrnehmens, des Erkennens, des Verstehens und der Einsicht gibt.227 226 227

Platon, Gorgias 454c. Übers. Schleiermacher. Auch G.F.W. Hegel spricht, bei aller Vielfalt und Dunkelheit seines Wahrheits-

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Erkenntniswahrheit ist ein Merkmal des Erfassens des Seienden, wie es tatsächlich erscheint, aber auch und vor allem, wie es wirklich und in sich ist. Es soll ferner als evident nachgewiesen werden, daß jede Täuschung und jeder Irrtum, denen diese Wahrheit fehlt, nur möglich sind, weil sie gleichfalls eine wahre Erkenntnis, die niemals falsch sein kann, voraussetzen. Es gibt also an der Wurzel alles Erkenntnislebens und sogar aller Irrtümer und falschen Meinungen echte Erkenntnisse, in denen sich das Seiende jedem bewußt lebenden Menschen so gibt wie es wirklich ist; und diese Erkenntnis ist nie falsch, sondern wahr, wie Augustinus bemerkt: Niemand kann wissen, was falsch ist. Gibst Du mir zu, daß niemand Falsches wissen kann? Aber selbstverständlich, sprach er. 228

Erkenntnis im eigentlichsten Sinne bringt uns ferner nicht ausschließlich mit Erscheinungen, sondern mit Seiendem, nicht bloß wie es uns erscheint, sondern so wie es in sich und an sich ist, in Berührung, worin die Erkenntniswahrheit im präzisesten Sinn des Wortes liegt. Es besteht ferner ein gewaltiger Unterschied zwischen einer Erkenntnis in einem weiteren Sinn, die eigentlich besser als eine richtige Meinung charakterisiert werden kann (weil sie, wie etwa unsere geographische und zu einem großen Teil unsere medizinische und sonstige naturwissenschaftliche und historische Erkenntnis, vom Vertrauen auf unsere Sinne, auf Bücher, Lehrer, Gelehrte, oder Forscher usf. getragen ist und daher nicht ‚reine‘ und evidente Erkenntnis ist), und Erkenntnis in dem engeren Sinn evidenter Erkenntnis. Die erstere ist nur im Sinne eines analytischen Urteils und auf Grund der Definition des Erkennens ‚immer wahr’ (einfach weil wir falsche geographische Urteile und falsche medizinische

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begriffs, in diesem Sinne von Wahrheit, etwa wenn er von der „wahrsten Einsicht über sich selbst“ spricht. Vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 585. (Erstdruck: Bamberg und Würzburg (Goebhardt) 1807. Der Text folgt bis S. 35 der von Hegel kurz vor seinem Tod begonnenen Revision. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 16253 (vgl. Hegel-W Bd. 3, S. 399). Augustinus, Contra Academicos, III, 3, 5; PL, 32. Contra Academicos, Eligius Dekkers (Ed.), Clavis Patrum Latinorum [C.Beyaert, Brugis: M.Nijhoff, Hagae Comitis, 1961], Bd. LXIII.

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Meinungen nicht Erkenntnis nennen, auch wenn sie ganz gleichartige Akte sind wie echte geographische oder medizinische Erkenntnisse und ihre Angemessenheit an die Wirklichkeit ihnen gleichsam nur „von außen“ zukommt). Die zweite, die evidente Erkenntnis, hingegen ist ihrem Wesen nach, unabhängig von unseren Definitionen, immer wahr. Nur auf sie trifft die eingangs als Motto dieses Kapitels zitierte platonische Aussage voll zu: SOKRATES: Wie? Auch eine falsche Erkenntnis und eine wahre? GORGIAS: Keineswegs. SOKRATES: Offenbar ist also nicht beides einerlei.

Die Erkenntnis im eigentlichen und engeren Sinn ist nicht nur äußerlich (durch Übereinstimmung unserer Überzeugungen mit den Tatsachen) wahr, sondern ihrem inneren Wesen nach anderer Natur als ein Irrtum; sie allein besitzt daher Erkenntniswahrheit im strikten Sinn, wie wir zeigen wollen.229 Wir möchten ferner nachweisen, daß der Erkenntnis eine eigentümliche Form der Wahrheit zukommt, die sich zwar radikal von der Urteilswahrheit unterscheidet und eine besondere Form der Unverborgenheit des Seins und des Entdeckens impliziert, die aber nicht so dargestellt werden kann, wie Heidegger sie darstellt, als hätte sie nichts mit Übereinstimmung, assimilatio und adaequatio (ÔrjðóthV, Richtigkeit) gemein. Vielmehr ist diese Erkenntniswahrheit eine ganz besondere und irreduzible Form der ‚Übereinstimmung‘ und des Zusammentreffens zwischen dem Erkenntnisakt einerseits und dem, was ist und was der Fall ist (den Sachen und Sachverhalten) andererseits. Eine solche realistische Philosophie der Erkenntnis und ihrer Wahrheit, welche wir als ein einzigartiges, intentional-geistiges und rezeptives Zusammentreffen und Berührungsverhältnis zwischen Geist und Sein erkennen werden, beruht ferner nicht auf blinden Annahmen, auch nicht, wie viele fideistische Philosophen annehmen, auf einem religiösen oder rein philosophischen Glauben, wie zahlreiche andere Philosophen, vor 229

Vgl. Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, in: Opera omnia (ut sunt in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), vol. III, S. 1-186, Q. I, a. 1, co.

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allem von Karl Jaspers oder auch von Wolfgang Stegmüller inspirierte Denker gemeint haben.230 Wir wollen vielmehr die Existenz evidenter und wesenhaft wahrer Erkenntnis, und damit auch die unbezweifelbare Evidenz der Wahrheit einer realistischen Interpretation der Wahrheit des Erkennens, mit Hilfe rein philosophischer und rationaler Einsichten und Methoden aufweisen. Nur eine realistische Erkenntnistheorie, die das Erkennen nicht in ein Schaffen und Verändern von Gegenständen umdeutet, sondern ihren seinsentdeckenden und seinswahrnehmenden Grundzug anerkennt, kann ferner, so wollen wir zeigen, dem Urphänomen dieser Erkenntniswahrheit, einer wichtigen Form der Wahrheit, gerecht werden, ohne die dem Erkennen zukommende Wahrheit auf ganz andere Formen der Übereinstimmung und Entsprechung zurückführen. Und diese Erkenntniswahrheit wird von uns nicht, wie Stegmüller behauptete, unvermeidlich in einem letztlich blinden und unbegründbaren Urteil angenommen, sondern ist uns mit unbezweifelbarer Gewißheit in evidenter Erkenntnis gegeben, und zwar umso eindeutiger, je höher und absoluter der Evidenzgrad einer Erkenntnis ist. Evidenz (und die sie begleitende Gewißheit) aber ist nicht das einzige Merkmal, kraft dessen die Erkenntnis in vielen Graden der Vollkommenheit wahr sein kann. Auch die eng mit der Gewißheit verknüpfte Klarheit einer Erkenntnis bis hin zur reinsten und klarsten Einsicht unterliegt einer Stufenleiter von Steigerungen der Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit. Ferner kann man einen andersartigen wichtigen Maßstab der Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit seitens ihres Objekts in dem Grad der Verstehbarkeit und Einsichtigkeit der erkannten Gegenstände und Wahrheiten erblicken, bzw. einen Maßstab der Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit anerkennen, der von der Vollkommenheit des Verstehens abhängt, den ihr Gegenstand erlaubt: je intelligibler ihr Gegenstand, 230

Vgl. etwa Wolfgang Stegmüller, Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft (München: Piper, 1970), oder Karl Jaspers, Von der Wahrheit (München, R. Piper & Co, 1958). Stegmüller denkt mit Recht, daß jeder Beweis unmittelbare evidente Einsicht voraussetzt, deren versuchter Beweis nur zu einem Zirkelschluß führen kann, und daß jede Leugnung der Einsicht sie voraussetzt und deshalb widersprüchlich ist, er meint aber auch, daß letzten Endes aller sogenannten Erkenntnis ein blinder und unbegründbarer Glaube zugrunde liegt. Damit übersieht Stegmüller m.E. den elementarsten und wichtigsten Sinn von Erkenntniswahrheit.

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desto mehr und tiefere Wahrheit besitzt der Erkenntnisakt, der seinen einsichtigen Gegenstand erfaßt. In dieser Hinsicht gipfelt die Erkenntniswahrheit in der Einsicht in die durch sich selbst einleuchtenden notwendigen Wesenheiten und ewigen Wahrheiten. In einer anderen und nicht minder bedeutsamen Hinsicht (die mit der Vollkommenheit der Evidenz oder der Klarheit der Erkenntnis zusammentreffen, sich von dieser aber auch weit entfernen kann) ist eine gegebene Erkenntnis um so vollkommener, je vollständiger und umfassender sie ist. In einer weiteren und an sich von den anderen unabhängigen Richtung ist eine Erkenntnis um so vollkommener, je wichtiger, wertvoller und tiefer ihr Gegenstand ist und je tiefer sie in diesen eindringt. Durch unsere Analyse der besonderen Eigenart der Erkenntniswahrheit hoffen wir auch das Richtige in Heideggers Analysen der Wahrheit als Unverborgenheit und sogar in seiner aufs erste absurd anmutenden These, daß das Falsche oder andere Gegensätze zur Wahrheit dieser vorausgingen, herauszuarbeiten, indem wir Heideggers Erkenntnisse der Wahrheit von zahlreichen Annahmen zu trennen beabsichtigen, die wir für irrig halten. In der Erkenntnis, wenigstens in derjenigen im strengen Sinn, tritt das Seiende tatsächlich aus seiner ursprünglichen Verborgenheit vor dem menschlichen Geist heraus und liegt vor dem Erkennenden, in dem Maß, in dem es von ihm erkannt wird, unverborgen da. Bei aller Anerkennung dieses wesentlichen Beitrags Heideggers zum Verstehen der Erkenntniswahrheit wollen wir uns ganz von jenen Vermengungen verschiedener Probleme und vor allem von den subjektivistischen Elementen lösen, die die Heidegger’sche Philosophie der Wahrheit belasten und auf die wir noch in einem eigenen Kapitel im zweiten Band dieses Werks Über die Wahrheit ausführlich zurückkommen werden.231 Die damit angesprochene Verwirrung kann an dieser Stelle nur knapp gekennzeichnet werden. Sie entsteht fürs erste daraus, daß Heidegger mit der Unverborgenheit abwechselnd und in dunkler Sprache (a) die ontologische Wahrheit im Sinne der Erkennbarkeit des Seins, (b) eine Folge der Erkenntnis sowie (c) ein Element und (d) einen Grund von deren Wahrheit meint; und daß er ferner weder die Erkenntniswahrheit in ihrer Besonder231

Josef Seifert, Der Streit um die Wahrheit, Kap. 9-10.

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heit weiter aufklärt noch sie scharf von anderen Dimensionen und Trägern der Wahrheit abgrenzt, sondern diese verschiedenen und gleichermaßen unerläßlichen Wahrheitsbegriffe vermengt und dann von einem „Wesenswandel“ der Wahrheit redet, der sich in Platons Höhlengleichnis ereignet haben soll (so als könnte ein philosophisches Werk das Wesen der Sachen selbst ändern, worin ich nichts als ein vielleicht intendiertes sophistisches Gedankenspiel mit ganz verschiedenen Wahrheitsbegriffen und deren mit einem historischen Wahrheitswandel verwechselte Vermengung erblicken kann). Den subjektivistischen Irrtum in Heidegger sehe ich zunächst in der Art, in welcher er die Urteilswahrheit als eine besondere Form der Übereinstimmung und deren zentrale Rolle herabsetzt und dabei ihrer Verwerfung nahekommt – sie gegen die a-letheia als Unverborgenheit ausspielend, ohne zu bedenken, daß er eben diese Wahrheit als adaequatio (Richtigkeit, orthótes) in jedem seiner eigenen Sätze voraussetzt. Ein Angriff gegen die Urteilswahrheit und Erkenntniswahrheit als adaequatio muß zu einem fatalen Subjektivismus führen, den ich in Heideggers Versuch erblicke, die offensichtlich auf einen Aspekt der Erkenntniswahrheit abzielende Unverborgenheit auf einen immanenten Zustand des Subjekts zu verlagern (das Entdeckendsein des Daseins), anstatt auch die Erkenntniswahrheit wesenhaft in einem besonderen Adäquations- und Entsprechungsverhältnis zwischen Sein und Erkennen zu erblicken. Trotz solcher im Verlauf unserer bevorstehenden Untersuchungen unumgänglicher Kritik an Heideggers Anschauungen liegt in seinem Gedanken der Wahrheit als Unverborgenheit immerhin eine gültige und wichtige Einsicht in das Wesen der Wahrheit, und zwar primär der Erkenntniswahrheit. Denn Wahrheit die Unverborgenheit des Seins zu nennen hat Sinn nur dort, so scheint es, wo man die Offenheit des Seins für den Geist, die Erkennbarkeit, noch eigentlicher aber, wo man jenes tatsächliche Unverborgensein des Seins vor einem personalen Akt, dem Erkenntnisakt, im Auge hat. Erkenntnis also bringt das Seiende aus dem Schleier der Verborgenheit und des Vergessens in die Unverborgenheit, in der das Sein vor dem geistigen Blick des Erkennenden offenliegt, und gerade deshalb kann die Erkenntnis selber wahr genannt werden. Zugleich aber bleibt das Seiende, wie weit auch immer es endliche Erkenntnis seiner Verborgenheit zu entreißen vermag, dem begrenzten Geist stets ein in seiner unendlichen Fülle Verborgenes; das Sein wird

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niemals ein uns restlos Unverborgenes werden.232 Daher ist das absolute Ideal der unendlich viele Abstufungen und Grade besitzenden Erkenntniswahrheit – das vollendete und restlose Erschauen und Erfassen dessen, was ist – ein Ideal vollkommener und allwissender Erkenntnis und damit vollendeter Erkenntniswahrheit, aber eben damit auch für den Menschen ein reines Ideal, das der Mensch niemals verwirklichen, ja dem er nicht einmal ernsthaft nachstreben kann, ohne in eine luziferische Haltung, wie Gadamer sich ausdrückt, oder zumindest in die pedantische, der eigenen Endlichkeit vergessende professorale Haltung zu verfallen, die Famulus Wagner in Goethes Faust verkörpert, wenn er sagt: Mit Eifer hab’ ich mich der Studien beflissen; Zwar weiß ich viel, doch möcht’ ich alles wissen.233

Trotz ihrer wesenhaften menschlichen Unvollkommenheiten und Grenzen aber, und diese Einsicht unterscheidet die Anerkennung der Begrenztheit menschlichen Wissens und Erkennens radikal von jedem Skeptizismus, Agnostizismus und Relativismus,234 ist auch die unvollständige und unvollkommene Erkenntnis, deren der Mensch fähig ist, wie noch deutlicher werden soll, wahre Erkenntnis, und als solche ein das Subjekt transzendierender Akt, der das was ist, als solches erkennt und in seiner erkennenden Berührung mit dem Sein eine einzigartige und auf alle anderen Formen der Wahrheit unreduzierbare Erkenntniswahrheit besitzt, die von höchster Bedeutung und eine staunenswerte Leistung und zugleich Gabe des menschlichen Geistes ist. Auch unvollkommene und unvollständige menschliche Erkenntnis ist wahr und unterscheidet sich radikal von Irrtum. Wir müssen beides, die Größe und das Elend der Wahrheit 232

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Auf die Dialektik zwischen Verborgenheit und Unverborgenheit in der menschlichen Beziehung zum Sein hat ja auch Heidegger immer wieder hingewiesen. Goethe: Faust. Eine Tragödie, S. 29. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 22633 (vgl. Goethe-HA Bd. 3, S. 26). Vgl. Martin Cajthaml, Kritik des Relativismus. Philosophie und Realistische Phänomenologie, Studien der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein/Philosophy and Realist Phenomenology. Studies of the International Academy for Philosophy in the Principality Liechtenstein. Hrsg. v. Rocco Buttiglione und Josef Seifert, Bd. XIV (Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2003).

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menschlicher Erkenntnis, ihre grandeur und ihre misère, wie Pascal sich ausdrückt, im Auge behalten, um den Sachen selbst gerecht zu werden. Auf diese besondere Gegebenheit, jene Wahrheit, die der Erkenntnis als solcher eigen ist, richten wir nun unseren geistigen Blick. Was ist diese Wahrheit der Erkenntnis? Zu einer besseren Beantwortung dieser Frage betrachten wir zunächst eine enge Verbindung zwischen Erkenntniswahrheit und ontologischer Wahrheit. 2. Ontologische Wahrheit und Erkenntnis: das Prinzip der Intelligibilität des Seins als ontologische Grundlage der Erkenntniswahrheit 2.1. Die transzendentale ontologische Wahrheit aller Seinsmodi als Bedingung und Quelle der Erkenntniswahrheit und die Gründe für die partielle Unanwendbarkeit des Satzes von der Intelligibilität allen Seins auf manche rein intentionale und menschenerzeugte logische Gebilde

Schon beim Nachdenken über die allen Seienden innewohnende ontologische Wahrheit sind wir auf die Zuordnung alles Seienden auf den Geist, auf Erkanntwerden und damit auch auf eine besondere Art der Entsprechung von Sein und Geist gestoßen, die wir als Erkennbarkeit, als Intelligibilität oder auch als Offenheit alles Seienden gegenüber dem erkennenden Geist bezeichneten. Um die Wahrheit des Erkennens zu verstehen, müssen wir einige Hauptergebnisse dieser Untersuchungen in Errinerung zu rufen: Bei dem rerum transcendentale geht es nicht notwendig um eine Erkennbarkeit durch den menschlichen Intellekt, der zweifellos viele Dinge nicht weiß und nicht erkennt, und sie auch prinzipiell nicht erkennen kann, weil sie durch ihre unendliche Fülle und Vielfalt seine Erkenntniskraft übersteigen, sondern, wenngleich in jeweils abgestuftem und verschiedenem, analogem Sinne, um eine prinzipielle Offenheit aller seienden und möglichen Dinge gegenüber der Erkenntnis überhaupt. Unter dieses erkennbare Seiende fallen buchstäblich alle Seienden, inklusive aller idealen Gegenstände, aller möglichen Welten und logischen Entitäten (idealer Bedeutungsgebilde wie Begriffe, Urteile, etc.), ja unter es fallen (allerdings mit wichtigen Einschränkungen, auf die wir gleich zurück-

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kommen werden) sogar die „rein intentionalen Gegenstände“, die „reinen Objekte“, denen Roman Ingarden235 und Antonio Millán-Puelles tiefgründige Untersuchungen gewidmet haben.236 Wir sehen ein, daß es eine transzendentale Eigenschaft aller wirklichen und möglichen Seienden, und aller idealen Gegenstände ist, daß sie ihrer Natur nach erkennbar sind. Erkennbarkeit (verum) ist eine Seinsproprietät, die allen Seienden zukommt: jedes Seiende, inklusive aller negativer Sachverhalte und möglichen Welten, kann prinzipiell in den ihm angemessenen Gegebenheitsweisen dem Erkennen zugänglich werden. Dies ist, neben der allgemeinsten Bedeutung von Sein (verum est id quod est), diejenige Bedeutung der transzendentalen Wahrheit, die wirklich, in ihrem allgemeinsten Sinne, allen Seienden aller Seinsmodi überhaupt zukommt: das verum transcendentale, also eine Wahrheit allen Seins aller Kategorien. Wir begegnen hier aber nicht nur einer transzendentalen Seinsproprietät, dem verum transcendentale, sondern auch einem der ersten und allgemeinsten Seinsprinzipien und einem absolut universalen evidenten Sachverhalt: alle Seienden überhaupt sind intelligibel (erkennbar). Alle Seienden, alles Wirkliche und Ideale, alles Mögliche, ferner ideale logische Gebilde wie Begriffe und Gedanken, sowie (solange diese nicht mit der Wirklichkeit und idealen Wesenheiten in Konflikt treten oder konfuse Ausgeburten menschlicher oder dämonischer Geister sind, was ihre Erkennbarkeit einschränkt, ja sie in gewisser Weise anti-intelligibel und in sich unerkennbar macht) auch vom Menschen geformte Gegenstände von Phantasien und Träumen und rein intentionale Gegenstände 235 236

Vgl. vor allem Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk. Wenn ich auch meine, daß Millán-Puelles fälschlicherweise viele Arten von Seienden, wie ideale Gegenstände und Wesenheiten, zu diesen rein intentionalen Gegenständen (reinen Gegenständen) rechnet. Vgl. Antonio Millán-Puelles, Teoría del objeto puro, Colecciónes Cuestiones Fundamentales (Madrid: Ediciones RIALP, 1990). Ins Englische übersetzt von Jorge García-Gómez: The Theory of the Pure Object, hrsg. v. Josef Seifert in der Reihe „Philosophie und Realistische Phänomenologie. Studien der Internationalen Aakdemie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein“ (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1995), Bd. 2. Vgl. dagegen Josef Seifert, Sein und Wesen, Kap. 1, sowie mein Vorwort zum Buch von Antonio Millán-Puelles und meinen Aufsatz “El papel de las irrealidades para los principios de contradicción y de razón sufficiente”, S. 119-152.

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sowie Begriffe und Gedanken, also Seiende aller unterschiedenen Seinsmodi, sind prinzipiell verstehbar oder erkennbar. Alles Seiende ist erkennbar (wenn auch aktuell erkennbar nur für einen unendlichen Geist), so können wir das erwähnte Prinzip auch formulieren. Kein wirklich oder ideal Seiendes und nicht einmal ein Mögliches kann schlechthin und prinzipiell jenseits möglichen Erkanntwerdens liegen. Ähnlich wie einsichtigerweise jedes Seiende mit sich selber identisch ist und kein Seiendes zugleich sein und nicht sein kann, ist es, wenn man das reine Wesen von Sein und von Erkennen vor dem geistigen Blick behält, einsichtig, daß unmöglich etwas Seiendes prinzipiell unerkennbar sein kann. Und in diesem Sinne ist jedes Seiende im weitesten Sinne ontologisch wahr, weil es erkennbar ist, wie wir bereits im vorigen Kapitel erörtert haben. Freilich kann das Seiende im weitesten und umfassendsten Sinne – je nach seiner Art und seinem Wesen – viele Grade und Arten der Verstehbarkeit besitzen, die vom bloßen Festgestelltwerdenkönnen oder Beobachtetwerdenkönnen bis hin zur höchsten Einsichtigkeit und Evidenz reichen, aber dies hindert nicht, daß alles Seiende, wenigstens auf der niedrigsten Stufe, erkennbar ist. Diesen notwendigen Sachverhalt haben wir als „den Satz der Erkennbarkeit allen Seins“, oder besser als „das Prinzip der Intelligibilität des Seins“ bezeichnet. Dieses ist eines jener notwendigen Prinzipien, die sich auf alles Seiende schlechtweg, ja auf jedes einzelne seiner universaltranszendentalen Proprietäten und ontischen Bestandteile und Prinzipien, sowie auf alle Seinsmodi, Kategorien und auf alle Individuen erstrecken. Dabei gilt es zu bemerken, daß wir in der Einsicht in das Prinzip der Intelligibilität allen Seins unendlich weit über alle rein empirische menschliche kognitive Erfahrung hinausgehen. Denn für den Menschen ist nicht nur quantitativ der größte Teil der Seienden unbekannt, sondern er rührt in jedem einzelnen Fall seiner Erkenntnis an die Grenzen des menschlichen Verstehens, da nicht nur das unendliche göttliche Wesen, sondern auch jedes einzelne endliche Seiende, und sei es selbst das geringste, die menschliche Erkenntnisfähigkeit überragt, ja in gewissem Sinne quantitativ und qualitativ unendlich übersteigt. Denn die Erkenntnis unendlich vieler (formal-logisch und inhaltlich aus einem gegebenen Sachverhalt folgender) Sachverhalte und Momente sowie deren vollkom-

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menes Verstehen würden ja erfordern, daß wir alles in einem Ding Seiende und alle seine Relationen, Zukunft und Vergangenheit, und vor allem seine Beziehung zum absoluten Sein perfekt kennen und nicht in vielen Wirklichkeitsbereichen auf Sinneswahrnehmungen und deren Interpretation mit allen ihren Fehlerquellen, Vermutungen, Hypothesen, Meinungen, Annahmen der Richtigkeit historischer Quellen und Berichte über Experimente usf. angewiesen wären. Die Vollkommenheit einer allumfassenden Erkenntnis eines jeden Dinges, die es in seinem eigentlichsten Wesen und Sein und in seiner Einordnung in das Ganze des Seins erfaßt und seine letzten Ursachen und Hintergründe unfehlbar schaut, die Wahrheit als das Ganze, ist daher dem Menschen unerreichbar und ein absolutes System oder absolut umfassendes menschliches Wissen sind reine Idole der Philosophie, welche sich angesichts der Unendlichkeit des Erkennbaren und Wißbaren dem Menschengeist prinzipiell unerreichbar zeigen, weshalb sich selbst der größte Wissenschaftler und Denker immer den Geist des sokratischen Worts „ich weiß, daß ich nichts weiß“ bewahren sollte. Dennoch sehen wir ein, daß allein in einer solchen vollkommenen Erkenntnis die absolute umfassende Erkenntniswahrheit liegen kann, die man in diesem Sinne zu recht als „das Ganze“ bezeichnen kann.237 Erkenntniswahrheit ist aber nicht ausschließlich deren vollkommene Gestalt, sondern zeigt sich uns als etwas, das auch in der bescheidensten 237

Den Satz „die Wahrheit ist das Ganze“ verdanken wir Hegel, auch wenn wir dessen Interpretation dieses Satzes ganz ablehnen. Denn Hegel meint mit diesem Satz etwas sehr Verschiedenes, das ich in keiner Weise übernehmen möchte, nämlich ein sich in der Geschichte entwickelndes Absolutes, das auch alle Widersprüche als Teile des Wahren in sich enthält – etwas, was ich aus vielen Gründen für unmöglich und absurd halte, auch wenn das in allen Philosophien gesehene Wahre sicher Teil der ganzen Wahrheit ist: Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein.

[Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 21. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 15689 (vgl. Hegel-W Bd. 3, S. 24)].

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Erkenntnis vorhanden ist, jedoch eine unendliche Fülle von Abstufungen zuläßt, so wie ja auch im Reich der Sinneserkenntnis zwischen der totalen Unsichtbarkeit eines Dinges und seiner allseitigen und vollendeten Sichtbarkeit unter allen Aspekten unendlich viele Zwischenstufen liegen.238 In all diesen Einsichten in die besondere Natur der Erkenntniswahrheit aber ist uns deren Fundament in der ontologischen Wahrheit mitgegeben: nämlich daß absolut nichts schlechthin jenseits des potentiellen Erkanntwerdens durch einen Geist liegen kann, daß nichts an sich, bzw. für ein vollkommen angemessenes Verstehen, wie es in der Erkennbarkeit des Seins grundgelegt, ja von ihr zur angemessenen Erfüllung des Phänomens der Erkennbarkeit gefordert ist, schlechthin unerkennbar sein kann, was auch von einer atheistischen Metaphysik her, welche die Realexistenz einer absoluten Erkenntnis bestreitet, anerkannt werden kann, da auch sie die Idee einer vollkommenen Erkenntniswahrheit und der restlosen Offenbarkeit aller Dinge dem Geist klar fassen und deren Natur verstehen kann. Mit dieser Gegebenheit ontologischer Wahrheit aber berühren wir schon eine enge Beziehung der Seinswahrheit zur Erkenntniswahrheit: denn die ontologische Wahrheit in diesem Sinne erweist sich als zuinnerst auf die Wahrheit des Erkennens hingeordnet; sie kann sich erst in der Wahrheit des Erkennens vollenden. 239 Mit gewissen Einschränkungen, da wir hier nicht ausschließlich die intelligible Welt idealer Wesenheiten und rein logischer idealer Bedeutungen, sondern auch die Welt der von Menschen erzeugten und irrealen Gebilde betreten, gilt es auch von nur als intentionalen Gegenständen des Bewußtseins Vorgestelltem oder Gedachtem, von Fiktionen, Traumgegen238

239

Oder: „liegen würden.“ Sogar der Atheist, der eine solche reale allumfassende Erkenntnis leugnet, kann deutlich einsehen, daß nur eine solche die schlechthinnige Erkenntniswahrheit besäße. Man könnte sogar aus dieser grundlegenden metaphysisch-erkenntnistheoretischen Einsicht in die Zuordnung allen erkennbaren Seins auf Geist und Verstehen auf die Existenz eines allerkennenden Geistes schließen wollen und etwas wie einen „Gottesbeweis aus der Intelligibilität des Seins“ entwickeln, wobei man neben der prinzipiellen Erkennbarkeit alles Seins auch den metaphysischen Widerspruch einer Welt begründen müßte, in der diese Erkennbarkeit alles Seins durch keine aktuelle Erkenntnis erfüllt wäre oder in der reine Vollkommenheiten wie Erkenntnis nicht in ihrer unendlichen Fülle wirklich wären. Das ist jedoch hier nicht unser Thema.

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ständen, sowie von den ganz anderen, rein begrifflichen, logischen Entitäten, daß sie erkennbar sind, außer von widerspruchsvollen oder absurden Gedankeninhalten und Objekten, deren Gegenstände aus dem Reich des realen und möglichen Seins radikal ausgeschlossen sind, wie viereckige Kreise, oder von verworrenen logischen Gedankengebilden, welche das Produkt von Verwechslungen sind oder von jenen, die, in einer noch grundsätzlicheren Form der Unintelligibilität, gegen die rein logische Grammatik verstoßen, deren Entdeckung einer der bedeutendsten Beiträge der Husserlschen Logischen Untersuchungen zur Sprachphilosophie und Logik war. Nur solche in sich unmögliche oder unbestimmte Gegenstände von Phantasien und Gedanken endlicher Geister, die in sich widersprüchlich oder das Produkt der Vermengung ganz verschiedener Gegebenheiten oder von anderen Verstößen gegen Logik und rein logische Grammatik sind, sind schlechthin unintelligibel und unerkennbar oder sogar anti-intelligibel. Genau genommen müßte auch diese These differenziert werden. Denn die ‚Teile‘ einer widersprüchlichen Idee wie eines viereckigen Kreises können erkannt werden; auch kann erkannt werden, worin die Idee der Synthese ihrer einander widersprechenden Momente besteht. Wir können zudem verstehen, daß und warum diese Momente mit einander unverträglich sind. Nicht hingegen können wir das in sich unmögliche Ding oder Produkt der Verstöße gegen eine rein logische Grammatik selbst verstehen, da dieses wegen seiner Unmöglichkeit auch contra-evident oder wegen seiner in sich logisch unsinnigen Gedankenkomposition unbegreifbar ist. In anderer Weise sind auch das Nichts und das totale Chaos unerkennbar, wobei das Nichts nicht anti-intelligibel ist, wie ein viereckiger Kreis, sondern einfach unintelligibel. Auch dieser Satz muß allerdings differenziert werden: Das Nichts als radikale oder partielle Negation des Seins besitzt eine indirekte Intelligibilität und kann deshalb Gegenstand philosophischer Forschung werden, wobei das „absolute Nichts“ eine so radikale Antithese und Negation des Seins ist, daß wir zugleich die Unmöglichkeit einsehen, daß absolut Nichts sei. Dennoch behält selbst diese auf eine absolute und in sich unmögliche Abwesenheit allen Seins hinweisende Idee des Nichts eine gewisse Intelligibilität. Doch ist dies eine rein negative Intelligibilität, die nicht nur von der positiven des Seins abhängt, wie alle Bedeutungen von „Nichts“, sondern die auch keinerlei

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Erkenntnis ihrer (nicht bestehenden) Möglichkeit zuläßt. Daher ist die Bedeutung des absoluten Nichts sehr verschieden von jenen Bedeutungen von ‚Nichts‘, die es sehr wohl in der Wirklichkeit geben kann wie die totale Abwesenheit alles realen innerweltlichen Seins oder des Seins einer bestimmten Person: „die Welt wurde aus dem Nichts geschaffen“ oder, „vor meiner Zeugung war ich nichts“ weisen keineswegs auf in sich unmögliche Abwesenheiten von Sein hin. Um deutlicher zu sehen, warum jene Seinssphären, die von menschlichem oder endlichem Denken und Phantasieren überhaupt abhängen, nur in eingeschränktem Sinne intelligibel oder sogar anti- und unintelligibel sein können, müssen wir uns kurz den Fundamenten der Erkennbarkeit des Seins zuwenden, welche notwendig oberste ontologische und logische Prinzipien voraussetzen, denen die Produkte menschlichen Denkens und Vorstellens widersprechen können, weshalb diese vom Reich des wirklichen und möglichen, und damit auch des intelligiblen Seins ausgeschlossen sein können. Doch müssen wir an dieser Stelle, um die vor uns liegende Problematik zu bewältigen, drei prinzipielle Unterscheidungen machen: (1) Erstens die Unterscheidung zwischen, in scholastischer Manier gesagt: a) in sich bestehender Unintelligibilität (quoad se), welche prinzipiell außerhalb des Anwendungsbereichs des Prinzips der Intelligibilität des Seins liegt, und b) der nur in Relation auf den Menschengeist oder auf andere endliche Geister bestehenden (Intelligibilität oder) Unintelligibilität (quoad nos). So fallen zum Beiepiel all jene rein intentionalen Gegenstände, in denen widersprüchliche Elemente verbunden werden wie im „viereckigen Kreis“, prinzipiell außerhalb der Sphäre der Intelligibilität des Seins. Hingegen bestehen auch andere, nur auf den Menschengeist und andere endliche Geister bezogenen Grenzen der Erkennbarkeit, von denen manche alles Sein dem totalen erkennenden Zugriff des Menschengeistes entziehen. (2) Zweitens die Unterscheidung zwischen a) all jenen Seinsbereichen (realen, idealen und möglichen), die in sich vollkommen bestimmt sind und deshalb weder außerhalb der prinzipiellen Erkennbarkeit quoad se liegen noch sich außerhalb des Bereichs der Anwendung des Prinzips vom ausgeschlossenen Dritten befinden können, und b) in sich unbestimmten „Seienden“, die weder durch die Unerkennbarkeit des Widersprüchlichen

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noch durch jene des Nichts, noch durch die derjenigen logischen Gebilde, welche die rein logische Grammatik verletzen, sondern durch eine andere Form von in sich bestehender Unerkennbarkeit gekennzeichnet sind. Und zwar hängt diese von einer ontologischen Unbestimmtheit und, noch spezifischer gesprochen, von einer besonderen ontologischen Unbestimmtheit der rein intentionalen Gegenstände aller oder jedenfalls der meisten menschlichen Akte, ab. Diese Unbestimmtheit kennzeichnet in erster Linie, wenngleich nicht ausschließlich, die „abgeleiteten“ rein intentionalen Gegenstände wie die Welt eines Romans oder Schauspiels. Diese Bemerkung führt uns auf unsere dritte Unterscheidung. (3) Drittens müssen wir nämlich die von Roman Ingarden durchgeführte Unterscheidung zwischen ursprünglichen und abgeleiteten rein intentionalen Akten machen. Die ersteren können wir etwa durch Traumgegenstände veranschaulichen; es sind solche intentionalen Gegenstände, die direkt in bewußten und gegenstandsgerichteten Akten einer Person gegeben oder vorgestellt etc. werden. Die abgeleiteten rein intentionalen Gegenstände hingegen lassen sich durch das Medium von sprachlich ausgedrückten Begriffen und Wortbedeutungen in der Literatur oder auch von in einem Gemälde dargestellten oder bloß skizzierten Personen und Sachverhalten veranschaulichen. Insbesondere diese abgeleiteten rein intentionalen Gegenstände nun, wenn auch nicht nur sie, sondern beispielweise auch alle durch Begriffe und Sprache hindurch angezielten Objekte bewußter Akte oder die Gegenstände unaufmerksamer Sinneswahrnehmungen und Beobachtungen, zeichnen sich wesenhaft und notwendig durch jene Unbestimmtheitsstellen aus, welche darin gründen, daß solche Gegenstände niemals vollkommen durchbestimmt oder in vollkommen durchgängiger Weise bestimmte Eigenschaften haben oder nicht haben können. Diese wesenhaften Grenzen der Intelligibilität rein intentionaler Objekte menschlicher bewußter Akte und insbesondere „abgeleiteter rein intentionaler Gegenstände“ gründen in deren von Roman Ingarden herausgearbeitetem, in sich nicht durchgehend bestimmtem Charakter, der seinerseits in den Unendlichkeiten von Eigenschaften und Relationen, die kein endlicher Geist vollkommen erkennen oder gedanklich fixieren kann, seine Quelle hat. Dazu kommt noch der schematische Charakter aller Allgemeinbegriffe, der es mit sich bringt, daß z.B. unter den Begriff „hellrot“

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unendlich viele Farbabschattungen fallen, die ich zwar bis zu einem gewissen Grad in der Wahrnehmung unterscheiden, nicht jedoch begrifflich festlegen kann. Ihre wesenhafte partielle Unbestimmtheit nun schließt die rein intentionalen Gegenstände menschlicher bewußter Akte und insbesondere die abgeleiteten rein intentionalen Gegenstände, von der Anwendbarkeit gewisser oberster und für die Erkennbarkeit des Seins vorausgesetzter Prinzipien wie desjenigen vom ausgeschlossenen Dritten aus. Im Gegensatz zur wirklichen Welt und auch zu möglichen Welten oder den rein intentionalen Gegenständen eines unendlichen Geistes, deren Inhalte bis in jede Einzelheit hinein einen bestimmten Charakter haben und „entweder so oder anders“ sein müssen bzw. (im letzteren Fall) können, besitzen die rein intentionalen Gegenstände menschlicher Akte des Vorstellens und Denkens in sich zahllose Unbestimmtheitsstellen. So ist es etwa, im Gegensatz zu historischen Ereignissen, deren Unbestimmtheit nur relativ zu unserem begrenzten Erkennen (quoad nos) besteht, in sich unbestimmt, ob Shakespeares Hamlet vor der Erscheinung des Geistes seines Vaters gefrühstückt hat oder nicht, weiche, harte oder überhaupt keine Eier gegessen hat, eine dunkelblaue oder hellbraune Bekleidung getragen hat usw. ad infinitum. Da also unendlich viele Stellen an den meisten ursprünglichen und an allen „abgeleiteten“ rein intentionalen Gegenständen, wie sie Gegenstand menschlicher Phantasie und literarischer Werke sind, in sich unbestimmt sind, ist es prinzipiell unbestimmt und unbestimmbar und deshalb auch unerkennbar, welche dieser Bestimmtheiten sie haben. Doch liegt diese weitgehende Unbestimmtheit rein intentionaler Gegenstände nicht an deren Charakter der Irrealität und Abhängigkeit von einem Bewußtsein als dessen Gegenstände als solchem. Vielmehr kann ein Geist, der unendlich viele Bestimmungen zeitlicher, räumlicher oder sonstiger Art erkennt, und nur ein solcher Geist, auch vollständig bestimmte Gegenstände der Phantasie konzipieren, ja alle möglichen Welten bis in ihre letzte Einzelheit vorstellen und erkennen.

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2.2. Die Rolle der ersten ontologischen Prinzipien für die Intelligibilität und Erkennbarkeit allen Seins

Die Rolle der ersten ontologischen Prinzipien für die Intelligibilität und Erkennbarkeit allen Seins hängt eng mit dessen ontologischer Sinnhaftigkeit zusammen, die ihrerseits zuallererst von den „ersten Prinzipien“ des Seins untrennbar ist, wie wir dies schon im ersten Kapitel eingehend erörtert haben. Wenden wir uns daher dem Zusammenhang zwischen der Intelligibilität des Seins und jenen obersten ontologischen Prinzipien zu, denen menschliche Vorstellungs- und Gedankenprodukte widersprechen oder jenseits derer sie liegen können. Jene obersten ontologischen Prinzipien, von denen selbst die unterste Stufe der Erkennbarkeit des Seins abhängt, sind in erster Linie die klassischen ontologischen Prinzipien der Identität, des Widerspruchs, des Ausgeschlossenen Dritten, und das Prinzip vom zureichenden Grund. Wenn nicht jedes Seiende – zumindest im selben Augenblick, und – im Falle höherer und substantiellerer Seiender auch über die gesamte Zeit seines Daseins oder Lebens hinweg – mit sich selber identisch wäre, würde jede Intelligibilität des Seins zusammenbrechen. Dasselbe gilt, wenn das Widerspruchsprinzip nicht gälte und dasselbe in derselben Hinsicht und gleichzeitig sein und nicht sein, derselbe Sachverhalt zugleich bestehen und nicht bestehen oder mit seinem kontradiktorisch entgegengesetzten Sachverhalt zusammenbestehen könnte. Wie wir gesehen haben, ist auch der Satz vom ausgeschlossenen Dritten, demzufolge dasselbe in derselben Hinsicht und zur selben Zeit nur entweder sein oder nicht sein kann, wesentlich für die Konstituierung des Sinnes und der Erkennbarkeit des Seins. Ebenso hängt eine noch tiefere Dimension der Erkennbarkeit des Seins davon ab, daß das Prinzip vom zureichenden Grunde gilt und daß es deshalb unmöglich ist, daß die Frage, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, sowie die Frage, warum ein Ding oder eine Person ist anstatt nicht zu sein und warum etwas ist, was und wie es ist, anstatt anders zu sein, objektiv keine Antwort hätte, wobei dieser zureichende Grund von Leibniz fälschlicherweise mit einem notwendigen Grund identifiziert wurde. In Wirklichkeit kann der zureichende Grunde in einer äußeren Ursache oder im Innern eines impersonalen Seienden oder einer Person

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liegen, sei es in deren Natur, sei es in ihrer freien Entscheidung. Und gerade weil rein logische Gebilde wie Begriffe und Urteile, sofern sie von endlichen Geistern geschaffen sind, in sich widersprüchlich sein oder nicht nur zu verschiedenen Zeiten, sondern sogar gleichzeitig in widersprüchlicher Weise vorgestellt oder gedacht werden können, und weil rein intentionale Gegenstände in sich unbestimmt sein und sich deshalb der Geltung des Prinzips vom ausgeschlossenen Dritten entziehen können, sind rein intentionale Gegenstände ebenso wie rein logische Gebilde oft antiintelligibel oder unintelligibel und unterstehen die rein intentionalen Gegenstände und Seienden sowie die rein logischen Gebilde und die in ihnen gedanklich entworfenen Gegenstände nur insofern den obersten ontologischen und logischen Prinzipien, als sie diesen entweder entsprechen oder durch dieselben als widersprüchlich und unmöglich, oder als obskur oder sogar als unerkennbar erwiesen werden. Zu den ersten Seinsprinzipien gehört nun auch der schon erwähnte „Satz von der Erkennbarkeit des Seins“, der im transzendentalen verum (der ontologischen Wahrheit im Sinne der Erkennbarkeit alles Seienden) seine Wurzel hat.240 Dieses Prinzip der Intelligibilität des Seins aber ist nicht ebenso ursprünglich wie die eben genannten, sondern auf das engste mit diesen ersten Seinsprinzipien – dem Satz der Identität, dem Widerspruchsgesetz, sowie den Prinzipien vom ausgeschlossenen Dritten und vom zureichenden Grund – verknüpft und von ihnen abhängig. Diese betreffen nämlich allen Seienden zukommende Merkmale und allgemeinste Sachverhalte, die 240

Wie schon gesagt, geht die Anwendung dieses Satzes sogar in gewisser negativer Form über alles Seiende und alle Seinsmodi hinaus, da sogar rein negative Sachverhalte und in gewissem Sinne das Nichts in seinen radikal verschiedenen Bedeutungen erkennbar sind: (1) das ‚absolute Nichts‘, das einen unverzichtbaren Grenzbegriff zum Sein überhaupt darstellt und eine wichtige Funktion in den Prinzipien des Widerspruchs und des zureichenden Grundes besitzt, (2) das ‚Nichts als Gegensatz und Nichtsein aller endlichen Dinge‘, also jenes ‚Nichts, aus dem die Welt geschaffen wurde‘, (3) das ‚Nichts als Abwesenheit eines ganz bestimmten Seienden und als Gegensatz zu seiner Existenz‘ wie wenn ich sage: „Bevor ich wurde, war ich nichts,“ (4) das „relative Nichts“ im Vergleich zu einem höheren Seienden (in diesem Sinne ist ein lebloser Leichnam nichts im Vergleich zu einer Person), (5) das Nichts aller endlichen Seienden im Kontrast zum absoluten Sein, (6) das moralische Nichts des Bösen, usf.

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zugleich notwendige Bedingungen der Intelligibilität (des Erkanntwerdenkönnens) sind. Neben diesen vier sogenannten „ersten Seinsprinzipien“ und dem von ihnen abhängigen Prinzip der Intelligibilität des Seins entspricht auch einem jeden der sieben klassischen Transzendentalien, d.h. der grundlegendsten Merkmale jeden Seienden (ens/seiend, res/Wesen, unum/eines, aliquid/etwas, verum/wahr, bonum/gut und pulchrum/schön) zumindest ein erstes ontologisches Prinzip. Der transzendentalen „res”, dem Wesen, etwa entspricht nicht nur das wichtige Prinzip „Jedes Seiende muß ein Wesen (res) besitzen“,241 sondern auch der von Jean Hering formulierte „Satz vom Wesen“, der in der Form, die Jean Hering ihm gibt, auch eine der Bedeutungen des transcendentale aliquid (nämlich aliud quid, etwas im Unterschied von allem anderen) einschließt. Hering formuliert diesen noch weiter differenzierbaren Satz folgendermaßen: Jeder Gegenstand (welche seine Seinsart auch sein möge) hat Ein und nur Ein Wesen, welches als sein Wesen die Fülle der ihn konstituierenden Eigenart ausmacht ... Jedes Wesen ist seinem Sinne nach Wesen von etwas und zwar Wesen von diesem und keinem andern Etwas.242

Von dem Seienden qua Seiendem (ens) und dem Seienden als aliquid (aliud quid und non nihil) gelten ferner zunächst die Wesensgesetze, daß jedes Seiende etwas und nicht nichts, daß es etwas Eigenes und von anderem Verschiedenes ist, und viele andere Prinzipien, von denen die Erkennbarkeit alles Seienden anhängt. Nicht nur weil die hier erwähnten transzendentalen Seinsbestimmungen in verschiedenen Seienden nur analog und in vielfältigen Stufen der Vollkommenheit verwirklicht sind, sondern auch weil es noch zahlreiche andere Bedingungen und Grundlagen der niedrigeren oder höheren und 241

242

Vgl. Josef Seifert, “Esse, Essence, and Infinity: a Dialogue with Existentialist Thomism”, in: The New Scholasticism, (Winter 1984), 84-98. Siehe Jean Hering, Bemerkungen über das Wesen, die Wesenheit und die Idee, 2. Aufl., Hrsg. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, Reihe “Libelli”, 80, reprographischer Nachdruck aus: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, 4, 1921, S. 495-543 (Darmstadt, 1968), S. 10 (497). Wie Hering selbst erläutert, beinhaltet dieser fundamentale Satz, daß jedes individuelle, real existierende Seiende „sein eigenes“ Wesen hat. Ibid., S. 11 (498).

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höchsten Intelligibilität gibt, wie wir gesehen haben, besteht ein unendliches Spektrum der Erkennbarkeit. Wird etwas Seiendes kraft seiner Intelligibilität erkannt, finden wir in dem Erkenntnisakt selber eine ganz andersartige Wahrheit, keine ontologische, sondern eine Erkenntniswahrheit, die eine besondere Form der adaequatio darstellt. Um jedoch die Eigenart der Erkenntniswahrheit und der spezifischen in ihr liegenden angemessenen Entsprechung (adaequatio) deutlicher in den Blick zu heben, muß zunächst noch eingehender gezeigt werden, daß der Begriff der adaequatio (Angemessenheit) in vielfacher Weise verstanden und auf die Bestimmung des Wesens der Wahrheit angewandt werden kann. Daher soll die Eigenart der in der Erkenntniswahrheit liegenden Entsprechung zunächst durch einen Exkurs über verschiedene Arten von Übereinstimmung oder Korrespondenz geklärt werden. 3. Exkurs über die verschiedenen Arten von ‘Adaequatio’ (Angemessenheit) im Reich der ontologischen Wahrheit und der Erkenntniswahrheit Wenn wir von der Erkenntniswahrheit sprechen, beziehen wir uns auf eine jener Bedeutungen von Wahrheit, die man als adaequatio, als ‚Entsprechung‘ bezeichnen kann. Nicht alle Bedeutungen von Wahrheit dürfen jedoch, wenn man den Dingen nicht Gewalt antun möchte, als adaequatio (Angemessenheit) angesehen werden, wie wir schon im vorigen Kapitel dargelegt haben, z.B. nicht die Bedeutung von ontologischer Wahrheit als Ungetrenntheit von Sein und Wesen oder als Wirklichkeit, wie wir diesen Sinn ontologischer Wahrheit beispielsweise bei einer Gegenüberstellung wahrer und erfundener Begebenheiten im Auge haben. Ja die tiefste Bedeutung von ontologischer Wahrheit, die innere Unerfindbarkeit und Sinnhaftigkeit des Seins – und damit auch die Wahrheit der höchsten Urbilder, die in archetypischer Form alle ontologische Wahrheit in sich besitzen – sowie die unendliche Fülle der Gerechtigkeit, die wir die wahre Gerechtigkeit nennen, gleich wie die unendliche Fülle des Guten und aller reinen Vollkommenheiten, die wir mit Platon das wahre ... (X), etwa das wahre Schöne oder das Schöne selbst (aütò d# kalòn) oder das wahre

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Gute selbst (das aütò Âgajðón) nennen können,243 liegen aller adaequatio voraus. Das Wahre heißt hier die vollendete ideale Gestalt oder Verwirklichungsform des Seins und reiner Vollkommenheiten und keineswegs eine adaequatio. Diese Dimensionen ontologischer Wahrheit sind zwar das Fundament aller jener Bereiche der Wahrheit, die auf einem Adäquationsverhältnis beruhen, aber besitzen ihre Wahrheit vor aller solchen Entsprechung, und ihre Wahrheit besteht auch nicht bloß darin, Fundament einer solchen zu sein. In diesem sehr begrenzten Sinne können wir deshalb auch Heidegger zustimmen, daß der Sinn von Wahrheit als adaequatio oder auch als Richtigkeit ein abgeleiteter ist und nicht zum Vergessen noch grundlegenderer Bedeutungen von Wahrheit führen darf.244 Dennoch bleibt der Begriff der adaequatio, was Heidegger grundsätzlich verkennt, ein Schlüsselbegriff für jede angemessene Wahrheitstheorie, besonders für jede Theorie der Urteilswahrheit sowie auch (obzwar in anderem Sinne) der Erkenntniswahrheit. Gerade aus diesem Grund müssen wir uns nun eingehender mit dem Gehalt und Gegenstand des Begriffs der adaequatio (auch ‚Korrespondenz‘, ‚Angemessenheit‘ oder ‚Entsprechung‘ genannt) oder assimilatio beschäftigen. Der Terminus adaequatio hat zumindest vier Grundbedeutungen: 1) Viele Bedeutungen von Wahrheit und von adaequatio bezeichnen überhaupt keine dem bewußten Leben des Geistes eigenen Übereinstimmungen oder Angleichungen, wie sie nur von Personen in Beziehung zu anderen Personen oder Dingen möglich sind. Im Vergleich mit personaler ‚Entsprechung‘ zwischen Akten und ihren Gegenständen bestehen im nicht-personalen und nicht bewußt vollzogenen Verhältnis von Dingen zu ihren Urbildern ‚Entsprechungen‘ in rein analoger und vollständig verschiedener Weise. Adaequatio zielt dann auf irgendein rein objektives, 243

244

Vgl. den Text aus Platons Staat 6.507b, wo er vom Schönen und Guten selbst redet. Vgl. Martin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit (2. Auflage). Bern, Francke 1954; ders., Vom Wesen der Wahrheit (Frankfurt: Klostermann, 51967). Auf eine Kritik der Heideggerschen Lehre, die an diese an sich richtige Bemerkung anknüpft, werden wir in einem eigenen Kapitel über die existentialistische und die Heideggersche Wahrheitstheorie in Der Streit um die Wahrheit, zurückkommen.

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statisches angemessenes Entsprechen eines X einem Y, eine objektive Angemessenheit, Wesensentsprechung oder Ähnlichkeit, also auf eine jeweils besondere Art von Relation der Konformität, Angemessenheit, Entsprechung oder des Ähnlichseins ab. Kraft der jeweiligen Form solcher Entsprechung oder adaequatio können ein Ding, ein Photo, ein Seiendes oder auch eine Person in jeweils sehr verschiedenem, aber doch grundsätzlich gleichartigem Sinne ‚wahr‘ genannt werden, wobei ihre Wahrheit in einer Entsprechung liegt, welche gleichermaßen in Personen und Nichtpersonen möglich ist und also keinen spezifischen Personbezug hat, auch wenn sich diese Form der Entsprechung zwar in Personen ebenso wie in apersonalen Seienden finden kann, aber in Personen eine große Abwandlung und Vervollkommnung erfährt. Dazu gehört etwa das seinem Urbild Entsprechen, das innerhalb personalen Seins einen viel vollkommeneren Grad erreicht. Auch die unter diese erste Kategorie der adaequatio fallende Entsprechung oder Nichtentsprechung zwischen Sein bzw. Wesen zur wahren oder falschen Erscheinung erfährt in Personen, die der Schauspielerei fähig sind und einander täuschen können, eine radikale Abwandlung. 2) Adaequatio kann zweitens auf das Verhältnis von etwas nicht notwendig Personalem zu einer Person und ihren Akten abzielen. In diesem Sinn ist adaequatio keineswegs Eigenschaft einer Person, sondern liegt vielmehr im Verhältnis von etwas (wenigstens möglicherweise) Impersonalem zu einer Person. Der Terminus bezeichnet dann deren Verhältnis zu einer Person, ihren Vermögen oder Akten. Dies ist etwa der Fall der ontologischen Wahrheit als Erkennbarkeit. Die ontologische Wahrheit im Sinne des transzendentalen verum, der Erkennbarkeit allen Seins, ist nicht eine adaequatio in dem Sinne, den wir in personalen Akten finden, sondern eine bloße Zugeordnetheit des Seins gegenüber dem Geist. Sie ist eher die Bedingung der Möglichkeit einer adaequatio im personalen Sinne als selbst eine adaequatio; dennoch besteht sie in einer fundamentalen Hinordnung alles Seins auf einen personalen Geist, der allein sie in ihrer Intelligibilität und Erkennbarkeit auch tatsächlich erkennen kann; auch diese Entsprechung zwischen Sein und Geist könnte man als adaequatio oder assimilatio gelten lassen, wie Thomas von Aquin sie bezeichnet, wenn sie auch eher eine Zuordnung oder eine Hinordnung darstellt, wie man sie besser nennen sollte. Andere Bedeutungen der

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ontologischen Wahrheit, wie die Wahrheit als Angleichung der Dinge an ihre authentischen Wesen und Ideen sind hingegen viel mehr als nur Geistoffenheit. Ontologische Wahrheit in diesem Sinn ist auch in gewisser Hinsicht viel mehr als ein Erkanntwerdenkönnen, das ja auch allen perversen und ontologisch gesehen unwahren Dingen gegenüber möglich ist, die von ihrem Wesenslogos abfallen, obwohl diese Art der adaequatio nicht notwendig Personen voraussetzt, sondern der ersten Art der Entsprechung zugehört. 3) Der Ausdruck adaequatio kann drittens einen aktiven Sinn der deponentialen245 Form von adaequari oder der aktiven von einem se adaequare haben und ist in diesem Sinn ein Aspekt bzw. eine Eigenschaft eines personalen Aktes, einer Haltung oder einer Person selber zu etwas anderem, in erster Linie zu anderen Personen, oft aber auch zu nichtpersonalen Gütern oder Werten, wie die angemessene Wertantwort auf ein Kunstwerk. In diesem letzteren Fall zielt der Ausdruck adaequatio auf ein je nach seiner Form sehr verschiedenes, aktives Adäquatwerden und sich Angleichen einer Person im Verhältnis zu etwas Anderem ab, kennzeichnet also eine Person oder deren Akte im Verhältnis zu Dingen oder anderen Personen.246 Einer der einschneidendsten allgemeinen Unterschiede innerhalb der Welt der adaequationes ist jener zwischen einer solchen angemessenen Entsprechung bewußter personaler Akte im Verhältnis zu einem Gegen245

246

Auf Latein und Griechisch gibt es die passive Form mit aktiver Bedeutung (Deponens). In diesem Sinne verwendet Thomas von Aquin den an sich der Form nach passiven Ausdruck adaequari, in dem im Lateinischen häufigen aktiven Bedeutung, wenn er schreibt: Noster enim intellectus cognitionem accipit a rebus, et ideo causa et mensura veritatis ipsius est esse rei: ex eo enim quod res est, vel non est, oratio dicitur vel vera vel falsa, secundum philosophum. Unde intellectus noster potest esse verus vel falsus, inquantum potest adaequari vel non adaequari.

Thomas von Aquin, Super ep. Ad Romanos, cap. 3, lectio l. Er verwendet aber auch die aktive Form “se adaequare”, etwa im folgenden Text: timor filialis non importat separationem sed magis subiectionem ad ipsum, separationem autem refugit a subiectione ipsius. Sed quodammodo separationem importat per hoc quod non praesumit se ei adaequare, sed ei se subiicit.

Thomas von Aquin, Summa Theol., II IIae, Q 19, a. 10, RA 3.

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stand oder einer anderen Person einerseits, und den rein objektiven Entsprechungen, Zuordnungen und Angemessenheiten, die nicht Eigenschaft personaler Akte sind, andererseits. Alle Fälle der ersteren Art von adaequatio schließen wesenhaft spezifisch personale Beziehungen ein, können nur von bewußten geistigen Akten oder ihren personalen Subjekten ausgesagt werden und besitzen jenen dynamischen aktiven Charakter des sich an etwas Anmessens, etwas Entsprechens oder zu ihm Stellungnehmens, der notwendig ein lebendiges und seiner selbst und der Welt bewußtes und angemessener Erkenntnisse und Antworten fähiges Subjekt voraussetzt. Diese spezifisch personale Entsprechung zwischen Geist und Seiendem kann man dem Urteilsakt, dem Erkenntnisakt, aber auch dem sittlichen Leben einer Person, die in ihrem Leben sittlichen Forderungen entspricht, zusprechen, wobei es auch hier noch zahlreiche Unterschiede gibt, vor allem jene zwischen einem rezeptiven Aufnehmen der Wirklichkeit, einem rezeptiven adaequari und einem aktiven Stellungnehmen und Antworten. 4) Viertens kann der Ausdruck ‚adaequatio‘ eine Entsprechung zwischen etwas nicht selber Personalem, das aber Werk einer Person oder eine der Person zugeordnete logische oder andersartige Sphäre ist, in der sich die Person ausdrückt oder äußert, wie die Sprache oder die Sphäre der logischen Bedeutungen und höheren Bedeutungseinheiten, zu einem Objekt oder Sachverhalt meinen. So können wir von der Angemessenheit der Sprache oder eines weltlichen oder geistlichen Kunstwerks an jene geistige Sphäre, die es zur Sprache bringen oder ausdrücken will, reden. Innerhalb dieses vierten Grundtypus der Übereinstimmung nimmt die adaequatio von Urteilsinhalten (objektiven Urteilen, insofern diese als rein logische Gebilde aus verschiedenen zu einer Einheit geordneten Mehrzahl von Begriffen und Bedeutungseinheiten bestehen und sich von bewußten Akten des Erkennens oder Meinens unterscheiden) und Sachverhalten eine besondere Stellung ein. Denn obwohl die objektiven Urteile (Sätze bzw. in diesen ausgedrückten Behauptungen) nicht selber Personen oder personale Akte sind, so sind sie doch als Bedeutungseinheiten so eng mit personalen Akten verknüpft und auf diese hingeordnet, daß es sich auch hier um eine der personalen Welt zugehörige Übereinstimmung zwischen Urteil und Sachverhalt handelt, auf die wir im nächsten Kapitel zurückkommen werden. Dennoch, da auch objektive Urteile, die in Sätzen ausgedrückt

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werden können, keine Personen sind, ist die ihnen mögliche Wahrheit als adaequatio völlig anderer Natur als jene des Erkenntnisaktes, welche der dritten Art von adaequatio zugehört. Selbst dort also, wo die Wahrheit eine adaequatio (Angemessenheit) ist, als welche man tatsächlich Wahrheit in vielen Bedeutungen bestimmen kann, ist sie nicht immer eine adaequatio intellectus et rei, wie es eine klassische Formulierung des Wesens von Wahrheit impliziert,247 in der übrigens sowohl die Bedeutung von intellectus als auch jene von res auf das genaueste zu klären sein werden, da beide Termini die verschiedensten Bedeutungen haben können, wie im folgenden Kapitel nachgewiesen werden soll. Wie sich dort zeigen wird, geht es bei der res im Falle der Urteilswahrheit auf der Objektseite keineswegs um Sachen oder Dinge als solche, sondern um jene eigentümlichen Gebilde, die wir in der Umgangssprache Fakten oder Tatsachen und in der Philosophie Sachverhalte nennen, die auch genau dem Objekt der lateinischen Konstruktion des ACI (accusativus cum infinitivo) entsprechen: daß etwas ist oder nicht ist, daß ein Ding so oder nicht so ist, daß jemand läuft oder nicht läuft, kommen wird oder nicht, usf. In jedem Urteil geht es um einen Sachverhalt, daß ein A b ist, oder präziser formuliert: „daß ein A b oder daß es nicht b ist“.248 Wie der Sinn von res im Falle der Urteilswahrheit nicht Sache, sondern Sachverhalt ist, so erweist sich auch jener von ‚intellectus‘, der im Falle der Urteilswahrheit der res adäquat entsprechen soll, nicht als intellektueller Akt des Urteilens, sondern als besonders geartetes Urteilsgebilde, die propositio, die eine logische Entität sui generis darstellt, welche weder mit dem Urteilsakt noch mit dem sprachlichen Satz zu verwechseln ist, sondern aus verschiedenen und verschiedenartigen Begriffen besteht, die 247

248

Vgl. etwa Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles, I, cap. 59, Nr. 2. Idem, Quaestiones disputatae de veritate, in: Opera Omnia (ut sunt in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto Busa S. J. (Stuttgart/Bad Cannstadt: Frommann/Holzboog, 1980), vol. III, S. 1-186, Q. 1, art. 1, co. Eine genauere philosophische Analyse zeigt, daß diese disjunktive Formulierung dem allgemeinsten Wesen des Sachverhalts gerechter wird, wie wir im nächsten Kapitel nachweisen wollen, als die Reinachsche Formel, ein Sachverhalt sei seiner allgemeinsten Form nach ein „a-sein eines B“.

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Bedeutungen besitzen bzw. Bedeutungseinheiten sind und zudem verschiedene Funktionen ausüben können, wie besonders Alexander Pfänder gezeigt hat.249 So unterliegt der Sinn der Formel adaequatio rei et intellectus sowohl hinsichtlich der res und der intellectus genannten Gegebenheit, als auch hinsichtlich der Richtung der Beziehung in den drei personbezogenen Dimensionen und Bedeutungen von adaequatio wesentlichen Abwandlungen. 3.1. Adaequatio als Entsprechungen nicht-personaler und nicht wesenhaft personaler Art und personbezogene Momente in nicht-personalen Formen der Entsprechung

Schon im Rahmen der Diskussion der ontologischen Wahrheit sind wir ja, neben Formen ontologischer Wahrheit, die nichts mit Entsprechung zu tun haben, auch auf verschiedene Bedeutungen von Angemessenheit und adaequatio gestoßen: Harmonie zwischen Sein (Wesen) und Erscheinung, Wesensgemäßheit, Erkennbarkeit, Ideengemäßheit und Gottähnlichkeit; sie alle lassen sich als grundlegend verschiedene Aspekte oder fundamental verschiedene Formen der Grundidee einer angemessenen Relation oder wesentlichen Entsprechung – einer adaequatio oder assimilatio – deuten, wobei jede einzelne dieser Arten von Entsprechung und die ihnen jeweils zukommende ontologische Wahrheit ihr je einzigartiges und unzurückführbares Eigenwesen besitzt und grundlegende Unterschiede zu allen anderen aufweist. Diese Bedeutungen von Wahrheit weisen zwar auf eine Entsprechung (adaequatio) hin, nicht aber auf eine Entsprechung (adaequatio) zwischen Geist (intellectus) und Ding (res). So haben wir z.B. im Reiche der ontologischen Wahrheit einen mehrfachen Sinn von adaequatio kennengelernt, der zwar Entsprechung ist, aber kaum unmittelbar etwas mit einer Entsprechung von Ding und Geist zu tun hat. Die Eigentlichkeit bzw. die Wesensgemäßheit eines Seienden, wie wir ihr in der „wahren Gestalt eines Pferdes“, in wahrer Liebe oder wahrer Gerechtigkeit – im Gegensatz zu uneigentlichen Formen derselben – begegnen, ist nicht eine Entsprechung 249

Vgl. Alexander Pfänder, „Die Lehre vom Urteil“, in: Pfänder, Logik, zit.

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zwischen einem Intellekt und einem Ding, sondern zwischen einem Ding (in letzterem Fall einer personalen Wirklichkeit bzw. Akten oder Haltungen einer Person) und der in ihm angelegten bzw. ihm immanenten Wesensform.250 Hier ist die Entsprechung bzw. adaequatio (Angemessenheit) eine zwischen einem konkreten Seienden und seiner Wesenheit oder einem ihm transzendenten „Eidos“. Zwar findet diese Form der orthótes und Übereinstimmung ihre höchste Anwendung im Reich endlicher Personen und kennt sogar, in dem Menschen und Engel als imago Dei oder in der similitudo Dei, ganz neue und wesenhaft personale Formen, aber dennoch bleibt der allgemeine Sinn einer adäquaten Entsprechung zwischen einem Seienden und seiner idealen Form eine Art von adaequatio, die nicht nur im Reich von Personen existiert. Ähnliches gilt auch für das angemessene Entsprechungsverhältnis zwischen dem Wesen eines Seienden und seiner Erscheinung, obwohl hier seitens der Wahrnehmung einer Erscheinung und für deren Konstitution und jene aller Aspekte derselben ein bewußt wahrnehmendes und personales Subjekt vorausgesetzt ist. Ferner findet auch diese Wahrheit der Erscheinung eines Seienden im Verhältnis zu ihrem Sein in Personen eine ganz neue Anwendung. Im Vergleich zu der Form, in denen Personen sich in täuschender und betrügerischer Weise anders darstellen können als sie wirklich sind, ist etwa falsches Gold nicht falsch zu nennen, ebenso wie auch die Wahrheit im Sinne des vollen Einklangs zwischen dem Außenaspekt und der inneren Wirklichkeit personalen Lebens in unvergleichlich höherer Form die Einheit zwischen Sein und Erscheinung besitzt als etwa wahres Gold. Dennoch ist die Adäquatheit zwischen Wesen und Erscheinung als solche nicht eine wesenhaft personale Relation oder Entsprechung, sondern eine Kategorie von Angemessenheitsverhältnis, wie es auch im impersonalen Seienden vorkommen kann. Was also ist die in diesen Formen ontologischer Wahrheit liegende Entsprechung? Auch hier haben wir ja noch verschiedene Phänomene abzugrenzen gehabt. Die ontologische Wahrheit als Wesensgemäßheit ist zunächst ein Entsprechen der Dinge ihren natürlichen Formen und spezi250

Auch der angemessene Ausdruck des Wesens eines Seienden in seiner Erscheinung etwa besteht zwischen Sein und Erscheinung derselben Sache oder Person, und nicht zwischen Sache und Geist.

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fischen Naturen, ihren Formprinzipien, teilweise indem sie sie (im Gegensatz zu Potentialitäten) wirklich (actualiter) verkörpern, teilweise indem sie sie (im Gegensatz zu allem Entgleisen und Abfallen von dem wahren eigenen Wesen) rein und mit einem gewissen Grad von Vollkommenheit verwirklichen. So ist die typische und noch mehr die schöne Form des Pferdekörpers auch dessen wahre Form. So liegt in jeder Erfüllung eines ‚Werde‘ der ‚Du bist‘ durch Erziehung und sogar durch biologische und psychische Entwicklung eine Steigerung der Wahrheit als Wesensgemäßheit, ein Ausgezeugtwerden eines vorher vielleicht nur im Keim oder in ersten Vorformen vorhandenen oder verwirklichten Wesens. Die Ausgeprägtheit eines Wesens und die Reinheit, mit der die in einem Ding schlummernde Form ausgeprägt ist, bestimmen seine ontologische Wahrheit in diesem Sinne. Wahrheit im Sinne einer Angemessenheit eines Dinges an eine ihm selbst transzendente Idee existiert aber nicht ausschließlich in deren Verhältnis zu zeitlosen Ideen und idealen Gesetzen des Schönen, sondern auch in einem rein menschlichen Bereich. In der Kunst und in jedweder Form der Praxis werden die Artefakte in analoger Weise durch den menschlichen Geist und die in ihm anwesenden und von ihm entworfenen oder intendierten Ideen „gemessen“, sagt Thomas. Er differenziert an dieser Stelle nicht zwischen rein subjektiven Ideen eines Künstlers, die auch häßlich sein können und den „wahren“, schönen und guten Ideen, die erst die künstlerische und die ontologische Wahrheit als Entsprechung zwischen einem Wesen und seinem Ideal ausmachen, ebensowenig wie zwischen Erkenntniswahrheit und der Wahrheit in der Kunst als sehr verschiedenen Arten von Entsprechung oder consonantia. Thomas bemerkt nur, daß sie alle in der göttlichen Wahrheit als „erster“ und höchster Wahrheit, die aber nicht mehr selber eine Angemessenheit sein kann, münden, wie er im Anschluß an Aristoteles bemerkt.251 Beim Vorliegen einer der folgenden Voraussetzungen allerdings schließen auch die Arten von adaequatio zwischen realem Wesen und 251

Vgl. den eindrucksvollen Thomas-Text aus Summa Contra Gentiles, l. 1, 62, 5, in dem sowohl die ontologische wie die künstlerische wie auch die Erkenntniswahrheit knapp gefaßt wird. Vgl. auch Thomas von Aquin, Sent. D. 38, q. 1, a. 1, RA 3.

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ewiger Wesenheit252 oder zwischen Idee und konkreter Wirklichkeit eine Entsprechung zwischen Sein und Geist ein, worauf wir im vorhergehenden Kapitel hingewiesen haben: Erstens dann, wenn man sie nicht nur als die Entsprechung eines Dinges mit dem ihm immanenten Wesen, mit seiner Entelechie oder inneren Natur, sondern mit seiner Idee, seinem eidos, der ihm transzendenten Form auffaßt. Während wohl niemand die ontologische Wahrheit des Löwen, der vollumfänglich ein Löwe ist und nicht wie ein halber Hund aussieht, oder eines Löwenbabys, in welchem die Löwenhaftigkeit noch ganz unausgebildet ist, als Angemessenheit zwischen Sein und Geist bezeichnen wird, ist die Übereinstimmung eines Dinges mit seiner transzendenten Idee, seinem Wesensplan – zumindest wenn man die Idee zwar nicht als personalen Geist bezeichnen, wohl aber als etwas objektiv Geistiges und dem Geist Zugeordnetes erkennt – als eine Entsprechung zwischen Ding und etwas Geistigem und daher dem Intellekt Verwandten anzusprechen. Denn auch das in diesem nicht-personalen Sinn „Geistige“ der Ideen oder reinen Wesensformen (eide und andere) könnte objektiv in einer Welt reiner Materie keine Stelle haben, da es so tief und wesenhaft einem personalen, erkennenden Geist zugeordnet ist, auch wenn wir (zwar nicht in der Kunst, aber in der Natur) solche „geistigen“ Gegenstände, Formen und Wesenheiten (Ideen) erkennen können, ohne ihre metaphysische Beziehung zu einem lebendigen personalen Geist zu begreifen. Zweitens kann man die Wesensgemäßheit zwischen Ding und Idee dann als Entsprechung zwischen Geist und Sein auffassen, wenn man im Sinne des mittleren und späten Neuplatonismus sowie der augustinisch geprägten Philosophie, die Wesensformen der Dinge nicht einfach als ewige, in sich ruhende geistige Formen im Sinne der platonischen eide, die der Demiurg („Schöpfer und Vater des Alls“) erkennt, begreift, sondern als göttliche Ideen, also als Ideen eines lebendigen Geistes und in einem lebendigen Geiste, wie mit gegenüber dem Neuplatonismus ganz neuer Entschiedenheit Augustinus die platonischen Ideen deutet.253 Dann kann man auch die 252

253

In meinem Buch Sein und Wesen, Kap. 1, unterscheide ich wesentlich mehr Arten idealer Gebilde als hier, lasse diese feineren Unterscheidungen aber in diesem Zusammenhang der Einfachheit halber weg. Vgl. auch Josef Seifert, “Essence and Existence”, und ders., Ritornare a Platone. Augustinus, De diversis quaestionibus LXXXIII, Qu. 46, De ideis, in: Eligius

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ontologische Wesenswahrheit, das seinem eigenen und eigentlichen Wesen Entsprechen eines Dinges als adaequatio rei ad intellectum deuten, wobei der intellectus nicht den personalen Geist selber, sondern die ewige platonische Wesensform und das Ding das konkrete Seiende meint, das ihm entspricht und angemessen ist bzw. an dieser Idee „teilhat“. Dabei ist ontologische Wahrheit in dem exemplaristischen Sinn, wie wir gesehen haben, in noch tieferem Sinn ein Entsprechen der Dinge, eine adaequatio: nämlich nicht nur ein aktuelles Entsprechen dem ihnen innewohnenden und in ihnen vorher schlummernden Wesen, sondern ein sich Angleichen an ein ihnen selbst transzendentes Maß: ihr Urbild, ihr Ideal, ihr ‚reines‘ Wesen. Die ursprüngliche Wahrheit der Dinge selbst als Entsprechung läge also keineswegs in deren bloßer Angepaßtheit an die Erkenntnisfähigkeit oder an die aktuelle Erkenntnis eines Geistes, sondern an ein geistiges Richtmaß, das mehr als Erkenntnis sein muß, was schon daraus erhellt, daß ja auch die heuchlerischsten, verlogensten und unwahrsten Abirrungen der Dinge von ihren Idealen erkennbar sind und erkannt werden können, aber offenbar nicht schon deshalb wahr im grundsätzlichen ontologischen Sinne des ihrem Urbild Entsprechens sind. Freilich gäbe es da noch vieles sorgsam abzuklären: Inwieweit etwa ist diese adaequatio eine Teilhabe (mæjðexiV)254an der idealen Wesenheit, und was bedeutet dieser platonische Ausdruck der Teilhabe? Inwieweit stellt die wahre Liebe oder Gerechtigkeit weniger eine Teilhabe als eine Verkörperung dieser Wesenheiten dar? Inwieweit läßt sich diese Beziehung als Ähnlichkeit fassen oder ist vielmehr eine andere Art von Sinnbestimmtheit des Einzelnen durch die allgemeine Wesenheit, die sich keineswegs mit dem Begriff der Ähnlichkeit angemessen erfassen läßt? Bei dieser ontologischen Fassung der Wahrheit als adaequatio rei et intellectus oder rei ad intellectum, wird intellectus weder nur als erkennender Geist noch auch nur als menschlicher Intellekt verstanden, sondern entweder als platonisch gedachte ewige und notwendige Ideen und

254

Dekkers, hrsg., Clavis patrum latinorum (C. Beyaert, Brugis – M. Nijhoff, Hagae Comitis, 1961), PL XL. Nur ein einziges Mal verwendet Platon den Ausdruck, nämlich im Parmenides, 132DE. Hingegen spricht er an zahlreichen Stellen, wenn auch oft in anderem Sinn, von metæcðein als Verb und deutet dieses Verhältnis meist als ein Ähnlichwerden.

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Urbilder oder als göttlicher Geist selbst, der diese Ideen in sich birgt, wie Augustinus lehrt, da nichts über unserem Geiste und ungeschaffen ist, was nicht „entweder Gott ist, oder in Gott“.255 Drittens dann, wenn diese Wesensgemäßheit eigentlich eine Entsprechung mit dem absoluten, göttlichen Geist selber ist. Die höchste Form dieser Art von ontologischer Wahrheit als das seinem Urbild Entsprechen ist die Gottähnlichkeit der Dinge. Der göttliche Geist selbst, sagt uns Thomas, und die sinnerfüllten eide, logoi und Ideen im göttlichen Intellekt, sind das letzte Richtmaß der Dinge, eine These, die schon Platon in seinem deus-mensura Satz256 dem homo-mensura Satz des Protagoras entgegensetzte. Gott, der in einem jenseits aller adaequatio liegenden, diese aber in sich einbegreifenden Weise die Wahrheit selbst ist, ist aber kein totes ideales und nur kraft seiner Sinnfülle innerlich wahres Sein, das nicht auch wirklich und deshalb ebenfalls als höchst reales ontologisch wahr wäre. Damit ist in Gott auch aus dem Grunde dieses Zusammenfallens all dieser Dimensionen sein Sein zugleich höchste Einheit, höchste ontologische Wahrheit, und absolute Erkenntniswahrheit (und Fülle aller Urteilswahrheit), in der sowohl die absolute adaequatio als Teil der absoluten Wahrheit, eben die Wahrheit als das schlechthin Ganze aller Erkenntniswahrheit, als auch die Fülle der ontologischen Wahrheit jenseits aller ‚adaequatio‘, doch als zuinnerst wahres Urbild derselben, eingeschlossen ist. 255

256

Dieser Gedankengang hat auch einen Bezug auf den berühmten Veritas-Gottesbeweis Augustins; vgl. Augustinus, De Libero Arbitrio II, VI, 14 ff; bes. II, XV, 39. Vgl. auch H. Schulte, „Gotteserkenntnis und ‘Conversio’ bei Bonaventura“, Theologie und Philosophie (49. Jg. H 2/3 1974), S. 181 ff. Vgl. auch E. Gilson, a. a. O., S. 421-422. Auch J. F. Quinn, The Historical Constitution of St. Bonaventure’s Philosophy (Pontifical Institute of Medieval Studies, Toronto 1973), S. 555. Vgl. ebenfalls in Quinn Anm. 63 (ebd. S. 555). Vgl. auch Bonaventura, Quaestiones Disputatae de Scientia Christi (IV) V 18 15: Vgl. Platon, Die Gesetze, IV 716 c-d: Gott nun dürfte wohl vornehmlich das Maß aller Dinge für uns sein, und weit mehr als so ein Mensch, wie dies einige wollen. Wer also Gott wohlgefällig werden will, muß sich nach allen Kräften ihm möglichst gleich zu werden bemühen, S716d und wer von uns mäßig und besonnen ist, der ist eben hienach Gott wohlgefällig, denn er gleicht ihm; wer aber das Gegenteil, der ist ihm unähnlich und lebt im Widerstreit mit ihm und ist ihm verfeindet; und entsprechend verhält es sich auch mit allen anderen Tugenden und Lastern.

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Viertens dann, wenn die Person das Seiende ist, das in dieser Weise seinem wahren Wesen entspricht, wenn es also das personale Seiende ist, das seiner wahren Wesenheit entspricht. Der Umstand, daß es hier ein geistig-personales Seiendes ist, das seinem wahren Wesen entspricht, verwandelt die Natur dieser Entsprechung von innen. Fünftens dann, wenn sich diese ontologische Wahrheit als moralische Forderung an eine Person richtet, eine Dimension ontologisch-ethischer Wahrheit, die Platon in seinen Erklärungen der äomoíwsiV jðeÖ katà tò dynatón (der größtmöglichen Verähnlichung mit Gott) als höchstes moralisches Ideal des Lebens entfaltete, da wir Gott im tieferen Sinne nur durch Gerechtigkeit und andere Tugenden ähnlich werden können, wie Platon beobachtet.257 3.2. Adaequatio als Entsprechung zwischen etwas nicht (wesenhaft) Personalem und der Person

Eine derartige adaequatio intellectus et rei haben wir bisher in verschiedenen, keineswegs jedoch in allen Formen ontologischer Wahrheit kennengelernt, in welchen die Richtung des Entsprechungsverhältnisses vom Sein zum Geist hin verläuft, also als adaequatio rei ad intellectum gedeutet werden muß. Einige dieser Interpretationen, so die der Offenheit des Seins gegenüber dem Geist und die, daß das Seiende Grundlage und Gegenstand wahrer Aussagen und Erkenntnisse ist bzw. werden kann, läßt sich, eher denn als adaequatio, als eine reine Zuordnung der Dinge auf die Erkenntnis bzw. auf den Geist, also nur als eine Entsprechung im weiteren Sinn, genau genommen als Geistoffenheit des Seins deuten und nicht eigentlich als eine Angleichung. Auf diese Form der Entsprechung sind wir schon ausführlich in Kapitel 1 eingegangen. 257

Vgl. Platon, Theaitetos 176 a-b: diò ka˜ peirâsjðai cðr# Ênjðænde S176b Êkeîse fðeúgein äóti tácðista. fðyg# då äomoíwsiV jðeÖ katà tò dynatón: äomoíwsiV då d™kaion ka˜ äósion metà fðron®sewV genæsjðai. Deshalb muß man auch trachten, von hier S176b dorthin zu entfliehen aufs schleunigste. Der Weg dazu ist Verähnlichung mit Gott soweit als möglich; und diese Verähnlichung, daß man gerecht und fromm sei mit Einsicht.

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3.3. Personale Adaequatio als Adaequari

Sehr oft ist das Adäquatheitsverhältnis zwischen Geist und Sein aber tatsächlich eine adaequatio intellectus et rei, also eine Entsprechung zwischen einer Person bzw. ihren Akten und deren Gegenständen. Diese spezifisch personale Übereinstimmung kann verschiedenen Formen und Richtungen annehmen. Dort wo der Ausdruck adaequatio (intellectus et rei) eine irgendwie geartete dynamisch-personale Angleichung und nicht einfach eine objektive Zuordnung und Entsprechung meint, läßt sich ein anderer wichtiger Unterschied beobachten, welcher in den folgenden Fragen thematisiert wird: In welcher Richtung erfolgt diese Angleichung zwischen Geist und Sein? Geht sie vom Geist zum Seienden (ist sie also eine adaequatio intellectus ad rem), oder verläuft sie umgekehrt von diesem zum Geist hin? Ist sie also eine adaequatio rei ad intellectum? Gibt es also ganz verschiedene Richtungen innerhalb der adaequatio des Geistes an die Wirklichkeit, insbesondere eine rezeptive, in welcher die Bewegungsrichtung vom Seienden zum geistigen Akt hin verläuft und eine entgegengesetzte spontane, in der die Bewegung in umgekehrter Richtung erfolgt und in der sich der Geist meinend auf einen Gegenstand oder Sachverhalt bezieht oder sich an seinen Gegenstand wendet, auf ihn antwortet, ihm gegenüber eine Stellungnahme vollzieht, etc.? Und für unseren Zusammenhang noch wichtiger die Frage: Was ist die spezifische Richtung und Art der adaequatio, welche wir in der Erkenntnis und nur in ihr antreffen? Es ist jedenfalls eine besondere Form der adaequatio im dritten Sinne eines Entsprechens personaler Akte, der wir innerhalb der Erkenntniswahrheit begegnen. Auf deren spezifisches Wesen möchten wir nun eingehen. 3.4. Die Entsprechung geistiger, aber nicht selber personaler Gebilde mit der Wirklichkeit als Gegenstand des nächsten Kapitels

Hingegen lassen wir hier ganz jene andere, vierte Art der adaequatio zwischen geistigen und der Person zugeordneten, aber nicht selber personalen Entitäten wie dem Urteil aus, da diese Art der Entsprechung den Gegenstand der folgenden Kapitel bildet.

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4. Die Wahrheit der Erkenntnis als Adäquation sui generis und als mehr denn Adäquation: „Erkenntniswahrheit als selbsttranszendierendes“ – ‚etwas in dem Begreifen, daß es ist oder nicht ist, und was und wie es ist, und weil es ist oder nicht ist, weil es das ist, was es ist, und nichts anderes, und weil es so ist, wie es ist und nicht anders‘ Die Erkenntniswahrheit verlangt ein ganz besonderes epistemologisches Verständnis der Wahrheit als adaequari intellectus ad rem, das sich nicht auf die metaphysische oder ontologische Wahrheit bezieht, sondern auf jene Wahrheit, die im Geiste selber bzw. in seinem Erfassen des Seienden gleichsam ihren Sitz hat. Diese Wahrheit der Erkenntnis könnte, umgekehrt zur ontologischen adaequatio rei ad intellectum als adaequatio intellectus ad rem definiert werden. Doch bleiben alle diese schematischen Ausdrucksweisen völlig unzureichend, um das betreffende Phänomen richtig wiederzugeben, und bedürfen einer phänomenologischen Auslegung. Diese „Angleichung“ des Intellekts an die Dinge, die viel mehr als eine bloße „Angleichung“ ist, zielt nicht auf die Wahrheit der Dinge, sondern auf Wahrheit im Verstand, auf Wahrheit des Geistes oder im Geist, ab. Auch innerhalb der Wahrheitswelt in personalen Akten unterscheidet sich jedoch die Wahrheit der Erkenntnis von anderen Weisen und Dimensionen, in denen personale Akte wahr genannt werden können. Wenn ein Seiendes tatsächlich erkannt wird, ist nicht nur das Seiende selber wahr, weil es erkennbar ist, sondern darf man auch der Erkenntnis des Seienden Wahrheit in einem ganz neuen Sinn zusprechen. Das Entdecken oder Schauen des Seienden, wie es ist, ist wahr. In diesem Erfassen tritt das Seiende nicht nur in die Nähe des Geistes, entspricht nicht nur etwas im Subjekt, das dem Objekt ähnlich wäre, Gegenständen, wie alle Vorstellungen, denen zufolge Erkenntnis nur ein „Abbild“ der Wirklichkeit wäre, nahelegen.258 Edmund Husserl hat diese Bildertheorie bzw. Abbildtheorie der Erkenntnis in den Logischen Untersuchungen 258

Auch Thomas von Aquin legt diese irrige Idee nahe: “Veritas autem est, quod cognitio fit per similitudinem rei cognitae in cognoscente: oportet enim quod res cognita aliquo modo sit in cognoscente.” In Aristotelis de Anima Libro I, lectio 4, n.1.

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glänzend widerlegt, indem er zeigt, daß jede derartige Theorie sich selber widerspricht, da man ja um etwas als Bild zu erkennen, bereits ein Bewußtsein von dem haben muß, wovon es ein Bild ist. Daher würde jede Auffassung, welche die bewußte, intentionale Beziehung des Erkenntnisaktes zu seinem Gegenstand als Abbildverhältnis begreifen möchte, entweder zu einem unendlichen Regreß oder zu einem Selbstwiderspruch führen, da sie eine Erkenntnis dessen selber voraussetzen muß, wovon sie ein bloßes Abbild sein soll, und damit zu einer Zerstörung der Idee der Erkenntnis selber führen – oder aber die Erkenntnis ist eben nicht ein Abbild der Wirklichkeit, sondern steht zu dieser in einer ganz anderen, intentionalen und sich selber transzendierenden Relation. In Wirklichkeit fällt man bei jedem solchen Versuch verschiedenen falschen Körperbildern und Analogien zum Opfer, wie dem des Bewußtseins als einem Behälter oder Kasten, in den Inhalte hereinkommen müssen, oder dem eines Spiegels oder Bildes, welche einen außer ihnen liegenden Gegenstand bloß abbilden. Solche Analogien können jedoch weder der Intentionalität noch der Transzendenz des geistigen Erkennens gerecht werden. Dies führt auf den Irrtum des Psychologismus zurück, der letzten Endes alle Dinge und intentionalen Gegenstände des Bewußtseins, von denen ich ein Bewußtsein habe, auf „Inhalte“, auf meinem Bewußtsein immanente „Teile“, zurückführen möchte und bestenfalls den Geist wie einen Spiegel auffaßt, in dem selbstverständlich niemals der Gegenstand, sondern nur sein „Bild“ sein könne oder wie einen „Kasten“, der niemals etwas anderes zu umfassen vermöge, als was sich realiter in ihm befinde. So könne auch der Geist niemals sehen, was „jenseits“ seiner selbst ist, sondern nur „immanente Abbilder“ die in ihm seien. Um diejenige Vorstellung von Erkenntnis als „immanenten Gegenständen“ oder Bildern deutlich zu kennzeichnen und abzuweisen, gegen die wir hier ankämpfen, muß noch jene Äquivokation im „Bild-Begriff angedeutet werden, die Nicolai Hartmann in seiner Polemik gegen die Phänomenologie vorbringt. Man könnte nämlich mit Hartmann, so fragwürdig auch diese Terminologie sein mag, unter „Bild“ oder „bloßem Bewußtseinshalt“ intentionale Gegenstände verstehen, von denen wir Bewußtsein haben und die als solche gegenüber unserem Bewußtsein „transzendent“ sind, die aber keine reale Existenz besitzen, z.B. Traum-

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gegenstände.259 Auch solche bloße Gegenstände einer Halluzination könnte man mit einem gewissen Recht gegenüber den realen Gegenständen, von denen wir Bewußtsein haben, als „bloße Bewußtseinsinhalte“ bezeichnen. Doch gerade durch die Betrachtung eines solchen geträumten Gegenstandes, der keine reale transzendente Existenz besitzt, können wir die Falschheit der in unserem Zusammenhang bekämpften Auffassung dartun, nach der uns nur unserem Bewußtsein inexistente Inhalte bekannt seien. Gerade im Falle der Täuschung wird nicht nur die grundlegende Verschiedenheit zwischen unserem Vollzugsbewußtsein und den Gegenständen klar, von denen wir ein Bewußtsein haben, sondern auch die Unmöglichkeit der Auffassung der Erkenntnis als Bild der Wirklichkeit.260 Gerade hier wird deutlich, wie falsch und irreführend es ist, den Geist mit einem Spiegel und die Erkenntnis mit in ihm erscheinenden Abbildern zu vergleichen: Ein Haus, das ich in einem lebhaften Traum oder in einer Halluzination vor mir sehe, ist ebensowenig ein Teil meines bewußten Seins wie ein wirkliches Haus. Es hat zwar nur das armselige und geringste Sein des „Objektseins für meinen Geist“, es scheint nur mir zu sein. Aber deshalb ist es in keiner Weise eher ein Teil meines realen, bewußten Seins als ein wirkliches Haus, wiewohl eine falsche Plausibilität dies nahezulegen scheint. Das im Traum gesehene Haus besitzt zwar keine transzendente, reale Existenz, aber es ist doch wesenhaft „jenseits“ des bewußt vollzogenen Träumens, das zu meinem personalen, unkörperlichen Sein gehört und damit einer gänzlich anderen Seinsart angehört als sein Gegenstand: Das Haus zeigt sich mir in seiner materiellen Natur, einer bestimmten Ausdehnung, Gestalt, mit Zahlen angebbaren Proportionen von Länge, Höhe und Tiefe, mit bestimmten Farben usw. Keine einzige dieser Eigenschaften kommt meinem bewußten Akt zu; wie sehr ich ihn auch durchforschen mag, werde ich nie in ihm irgendeine Eigenschaft seines „bloß intentionalen“ Gegenstandes finden. In diesem Akt findet sich weder ein Haus noch das Bild eines Hauses, wie es sich in einem Spiegel finden 259

260

N. Hartmann behauptet dann, wie gleich näher erläutert wird, daß niemals die Gegenstände als solche in ihrem realen Sein, sondern immer „bloß“ intentionale Gegenstände („Bilder“) uns gegeben sein können, daß also immer das Seiende vom intentionalen Gegenstand verschieden sei. Vgl. dazu den grundlegenden Abschnitt aus E. Husserls Logischen Untersuchungen. II, 1, V S. 372 ff.

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kann. Die Frage des Seins und Nichtseins des Hauses liegt ganz jenseits der realen Existenz meines bewußten Seins. Gerade die Tatsache, daß der Gegenstand, von dem ich Bewußtsein habe, nicht real ist, während mein bewußt vollzogenes Träumen voll real ist, beweist die Wahrheit, daß der Gegenstand meines „Bewußtseins von“ kein Teil oder Inhalt meines Bewußtseins ist. Denn das geträumte Haus existiert nicht in mir, sondern es existiert überhaupt nicht. Schon in der Subjekt-Objekt-Situation261 als solcher liegt also eine Vorstufe der Transzendenz des Erkennens, die prinzipielle Fähigkeit nämlich, bloß immanente Bewußtseinszustände (wie etwa Müdigkeit es ist) zu überschreiten und in intentionaler Weise an einem Gegenstand geistig teilzuhaben,262 der „jenseits“ meines bewußten Seins liegt. Dieses intentionale Bewußtsein von etwas, das ich nicht selbst bin, ist die Voraussetzung für jede Erkenntnis, in der ich geistig an der Wirklichkeit teilhabe. Denn die Gegenstände, Sachverhalte, Ereignisse und Personen, die ich erkenne, sind jenseits der Akte, in denen sie mir gegeben sind, sie existieren jenseits meines bewußten, personalen Seins. Ich kann sie daher nur berühren, wenn ich meine eigenen Bewußtseinszustände überschreiten kann, wenn ich nicht in mir gleichsam steckenbleibe, wie alles apersonale Sein „in sich steckt“. Ich kann nämlich klar einsehen: von all diesen Dingen habe ich ein Bewußtsein – und andererseits: all diese Wirklichkeiten sind von meinem bewußten Sein verschieden, sie liegen jenseits meiner Erkenntnisakte. Gerade der von Nikolai Hartmann angeführte Fall der Täuschung und 261

262

Es muß gesagt werden, daß diese Subjekt-Objekt-Situation in keiner Weise die Vorstellung nahelegen darf, als handle es sich dabei um „Objekte“ im Sinne von „Gegenständen“ als Gegensatz zur Person. Es handelt sich hier um eine radikal vom Dingbegriff verschiedene Gegebenheit: Personen sind uns gerade am allermeisten gegenüber. Die Subjekt-Objekt-Situation im hier gemeinten Sinn findet sich am charakteristischsten in dem Fall, in dem eine unverwechselbare, individuelle, lebendige, unvermischbare Person mir gegenübersteht. Gerade auf Grund der Eigenschaften, die eine Person von allen „Objekten“ im Sinne der Dinge unterscheidet, ist dies so. Manche Denker haben den „chosisme“ fälschlicherweise schon in der Anerkennung dieser Subjekt-Objekt-Situation sehen wollen. Die Subjekt-Objekt-Situation ist ausschließlich bei Personen und nicht bei Tieren zu finden.

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der bloßen oder reinen intentionalen Gegenstände, untersucht man ihn näher, zeigt, daß diese Täuschung und Verwechslung eines rein intentionalen mit einem wirklichen Gegenstand voraussetzt, daß die Erkenntnis auch Sachverhalte und Gegenstande zu erfassen vermag, die nicht nur rein intentionale Gegenstände sind, etwa die Sachverhalte, daß ich diese sehe und daß sie wirklichen ähnlich sehen. Wenn man daher das Sich-Selbst-Überschreiten im Erkennen auf das immanente Bewußtsein reduzieren will, stellt man ein falsches Dogma auf, das schon durch die Tatsache der intentionalen Akte, durch die Urgegebenheit der Subjekt-Objekt-Situation als solche widerlegt wird: Man behauptet, es sei weniger geheimnisvoll, daß wir uns unser selbst bewußt sind, als daß wir von anderem Seienden Bewußtsein haben. Man möchte ein unableitbares und irreduzierbares „Mirandum“ auf ein anderes, nicht weniger geheimnisvolles zurückführen.263 Den Vertretern dieses Dogmas des „Psychologismus“, dieser falschen Reduktion des Gegenstandsbewußtseins auf das Vollzugsbewußtsein bzw. Selbstbewußtsein hat Descartes, obwohl dieser selbst von dem hier bekämpften Vorurteil nicht frei ist, so geantwortet: Denn woher hast du das, daß alles, was der Geist denkt, in ihm selbst sein müsse? Wahrlich, wenn das der Fall wäre, dann müßte er, wenn er die Größe der Welt erkennt, auch sie in sich haben, und so wäre er nicht nur ausgedehnt, sondern an Ausdehnung noch größer als die Welt.264

Weder aber haben wir im Erkennen nur mit im Bewußtsein befindlichen Bildern zu tun noch nur mit rein intentionalen Gegenständen, die Nicolai Hartmann als Bilder in einem anderen Sinne bezeichnet. Vielmehr geht im sich selbst transzendierenden Erkenntnisakt das Subjekt in geistig empfangender Weise über sich selbst hinaus und erfaßt etwas, zumindest unvollständig, als was es ist, so wie es ist und weil es ist und so ist, wie es ist. In dem Erkenntnisakt wird der Erkenntnisgegenstand dem Subjekt ansichtig und die in ihm liegende Entsprechung läßt sich daher keineswegs als ein Abbildverhältnis erklären. Das Gesagte ließe sich noch tiefer entfalten, wenn man die grundsätzlich verschiedenen Weisen 263 264

Vgl. dazu What is philosophy?, S. 15 ff. R. Descartes, Meditationen, 5. Erwiderung (550).

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bewußter und erfahrungsmäßiger Seinsberührungen im intentional bewußten Erkennen von Objekten und im inneren Vollzugsbewußtsein unterscheiden würde, worauf wir hier nicht eingehen können.265 Indirekt wird durch das Erkennen, in dem uns deren Gegenstand aufgeht, auch die Verborgenheit vor dem Geist aller uns unbekannten Dinge überwunden. Man könnte hier an Martin Heideggers Formel der Wahrheit (a-letheia) als Unverborgenheit anknüpfen, wenn dieser Ausdruck bei Heidegger auch zu vage bleibt, weil er zwischen der ontologischen Wahrheit (im Sinne der Erkennbarkeit des Seins) und der Erkenntniswahrheit nicht differenziert. In diesem Sinne läßt sich die 265

Zur Idee des Vollzugsbewußtseins vgl.: Dietrich von Hildebrand, Die Idee der sittlichen Handlung, 2. Auflage (unveränderter reprographischer Nachdruck, zusammen mit der Habilitationsschrift „Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis“ Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1969), S. 1-126, S. 8 ff.; Dietrich von Hildebrand, Moralia. Nachgelassenes Werk. Gesammelte Werke Band V. (Regensburg: Josef Habbel, 1980), S. 208 ff.; Dietrich von Hildebrand, Ästhetik. 1. Teil. Gesammelte Werke, Band V (Stuttgart: Kohlhammer, 1977), S. 32-40, 4957; Dietrich von Hildebrand, Ethik, S. 202 ff., 212, 242; Dietrich von Hildebrand, Ethics, 2nd edn (Chicago: Franciscan Herald Press, 1978), S. 191 ff.; Dietrich von Hildebrand, „Das Cogito und die Erkenntnis der realen Welt. Teilveröffentlichung der Salzburger Vorlesungen Hildebrands“ (Salzburg, Herbst 1964): ‚Wesen und Wert menschlicher Erkenntnis‘“ : (7. und 8. Vorlesung), Aletheia 6/1993-1994 (1994), S. 2- 27; Dietrich von Hildebrand, Transformation in Christ. Our Path to Holiness. Reprint of 1948 (New Hampshire: Sophia Institute Press. 1989), ch. 4; Die Umgestaltung in Christus. Über christliche Grundhaltung, 5. Auflage in den Gesammelten Werken Band X, (Regensburg: Habbel, 1971), Kap. 4. Vgl. auch den ersten Teil von Karol Wojtyáa, The Acting Person; dazu den “corrected text, authorized by the author (unpublished), Bibliothek der internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein, Schibbogga 7 B-C, Bendern;” (dt.) Person und Tat, mit einem Nachwort zur deutschen Ausgabe von A. Poltawski (Freiburg-Basel-Wien: Herder, 1981). Vgl. auch Josef Seifert, “Karol Cardinal Wojtyáa (Pope John Paul II) as Philosopher and the Cracow/Lublin School of Philosophy” in: Aletheia II (1981), pp. 130-199; ders., Back to Things in Themselves. A Phenomenological Foundation for Classical Realism, 144 ff., 176 ff., 181-198, 249 ff., 286 ff., sowie die im Index von Josef Seifert, Back to Things in Themselves, unter ‘consciousness’, und ‘constitution’ angegebenen Stellen, ders., Leib und Seele. Ein Beitrag zur philosophischen Anthropologie (Salzburg: A. Pustet, 1973)., S. 45 ff.; ders., Erkenntnis objektiver Wahrheit2, 59 ff., 65 ff., 118 ff., 212 ff., 233 ff., 150 ff., 161 ff., 203 ff.

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Wahrheit der Erkenntnis nicht nur mit Martin Heidegger als prinzipielle Unverborgenheit des Seins (das wäre die ontologische Wahrheit in einer ihrer Grundbedeutungen), sondern als tatsächliche Unverborgenheit des Seins vor dem erkennenden Subjekt definieren. Diese Erkenntniswahrheit, die ein sich dem Verstand Erschließen des Seins voraussetzt, kommt aber nicht mehr, wie die Erkennbarkeit aller Dinge, dem Sein im Hinblick auf den Geist, sondern dem Erkennen selbst zu. Das Erkennen ist, wenn es überhaupt Erkenntnis ist, wahr, wie Platon sagt – während es gleichgut wahre und falsche Meinungen geben kann. Wahrheit der Erkenntnis kommt nicht dem Sein zu – und zwar auch nicht „im Hinblick auf den Intellekt“, wie Intelligibilität –, sondern dem Erkennen selber. Auch ist Wahrheit der Erkenntnis nicht ein potentieller Bezug zwischen allem Seienden und dem Verstehen, wie die ontologische Wahrheit der Erkennbarkeit. Vielmehr ist sie etwas Aktuelles, und zwar eine innere Eigenschaft des Erkennens, die dieses allerdings nur dann erlangt, wenn es tatsächlich seinen Gegenstand erfaßt. Wahrheit des Erkennens ist also, noch präziser, ein tatsächliches angemessenes Verhältnis des Erkennens als solchen zum erkannten Gegenstand. Dabei ist die Wahrheit des Erkennens nicht eigentlich selbst ein Verhältnis, sondern ein Merkmal des Erkennens, aber ebensowenig seine rein immanente Eigenschaft, sondern – um Thomas von Aquins Ausdrucksweise abzuwandeln – eine Eigenschaft des Erkennens ad aliud.266 Wahrheit kommt dem Erkennen in Relation auf etwas anderes zu, besteht also nicht in einem bloßen ‚Entdeckendsein‘ des Daseins (Menschen), wie Heidegger behauptet. Während aber die ontologische Wahrheit der Erkennbarkeit eine Eigenschaft des Seins im Verhältnis zum Erkennen ist, so ist umgekehrt die Wahrheit des Erkennens zwar eine Eigenschaft der Erkenntnis selbst, aber nur in deren Verhältnis zum erkannten Sein. Erkenntniswahrheit schließt daher ein besondersartiges Adäquationsverhältnis zwischen Geist und Sein ein. Sie besteht in einem ‚etwas in dem 266

Diese Bestimmung dient ihm in Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, Q. I, a. 1, als Kriterium der Abgrenzung zweier Typen transzendentaler Seinsbestimmungen: jener, die allem Seienden in se (in sich) zukommen, wie das Sein selber (ens), und jener, die ihm nur im Hinblick auf etwas anderes, nämlich den Geist, zukommen, wie die Wahrheit – als Intelligibilität verstanden – (das ens als verum).

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Begreifen, daß es ist oder nicht ist, und was und wie es ist oder nicht ist‘. Und im Gegensatz zu jeder bloßen faktischen Übereinstimmung oder jeder bloß faktischen und äußeren consonantia besteht die Erkenntniswahrheit auch in einem Erfassen des Seins als solchen, und „weil es ist oder nicht ist, weil es das ist, was es ist, und nichts anderes, und weil es so ist, wie es ist und nicht anders“. Erkenntniswahrheit also ist jene Eigenschaft der Erkenntnis, die man als erkennende Adäquation oder als ein Zusammentreffen des Erkenntnisaktes mit dem Sein bzw. mit den bestehenden Sachverhalten als solchen, mit dem, was tatsächlich ist oder nicht ist, bezeichnen kann. Ja Erkenntniswahrheit ist noch viel mehr: nämlich eine dem Entdecken dessen, was ist oder nicht ist oder noch besser dem geistigen Haben des Erkannten allein eigentümliche Entsprechung. Und deshalb ist das Erkennen durch eine nur ihm als solchem unmittelbar zukommende Adäquation charakterisiert. Mit dieser Bestimmung der Erkenntniswahrheit befreien wir den Heideggerschen Ausdruck des ‚Entdeckendseins des Daseins‘ (des Menschen) von seinen subjektivistischen Implikationen, die sich daraus ergeben, daß Heidegger das Entdeckendsein von jeder Adäquation loslösen möchte und damit auf eine Art immanenten Zustand bzw. auf eine Seinsweise des Subjekts ohne transzendenten Bezug auf das vom Erkennen unabhängig Seiende reduziert. Dabei unterscheidet sich die wesenhafte Erkenntniswahrheit auch scharf von der Wahrheit der richtigen Meinung, wie Platon so klar hervorhebt.267 267

Halten wir uns noch einmal den eingangs zitierten platonischen Text aus dem Gorgias vor Augen samt seiner Fortsetzung: SOKRATES: Dünkt dir dies nun einerlei, erkannt haben und geglaubt? Wissen durch Erkenntnis und Meinung? Oder verschieden? GORGIAS: Ich, o Sokrates, meine, es ist verschieden. SOKRATES: Und gar recht, meinst du. Du kannst es aber hieraus erkennen. Wenn dich jemand fragte, gibt es wohl einen falschen Glauben und einen wahren? Das würdest du bejahen, denke ich? GORGIAS: Ja. SOKRATES: Wie? Auch eine falsche Erkenntnis und eine wahre? GORGIAS: Keineswegs. SOKRATES: Offenbar ist also nicht beides einerlei. GORGIAS: Du hast recht.

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In einem weiteren Sinne von Erkenntnis, in dem wir auch das, was wir aus der Zeitung oder von unseren Lehrern erfahren, als erkannt bezeichnen, handelt es sich freilich bei dem Erkenntnis genannten Phänomen eher um eine richtige Meinung, die platonische orthé dóxa, und bei der Wahrheit des Erkennens um ein rein objektives Entsprechungsverhältnis zwischen dieser richtigen Überzeugung und dem Sachverhalt. Um den Unterschied zwischen Erkennen im eigentlichen Sinne und richtiger Meinung zu verstehen, müßte man sorgfältig den erkenntnistheoretisch höchst relevanten Unterschied zwischen Erkennen und zwei Bedeutungen von Überzeugung, von Überzeugung und Urteilsakt, und den Unterschied all dieser vom Urteil selber, dem aus Begriffen bestehenden Urteilsgebilde, der propositio, klären, was teilweise im nächsten Kapitel geschehen soll.268 Wenn man daher auch die Erkenntnis im weiteren Sinne (die von Elementen des richtigen Meinens untrennbar ist und auf diesen aufbaut) als „immer“ oder als „notwendig wahr“ erklärt, handelt es sich eher um eine definitorische Bestimmung der Erkenntnis als um deren Wesensbestimmtheit, etwa in dem Sinne: „Erkennen nennen wir nur dasjenige Meinen oder diejenigen auf Vertrauen und Meinen beruhenden Erkenntnisakte, die der Wirklichkeit entsprechen – im Gegensatz zu all jenen ganz gleichartigen Akten, die auf einem objektiv unbegründeten Meinen und Vertrauen beruhen und deshalb keine Erkenntnis sind, sondern Irrtümer darstellen.“ Wahrheit des Erkennens in diesem weiteren Sinne ist dann das einfache Zusammentreffen einer solchen korrekten Meinung, einer orthé dóxa, mit den Sachen selbst bzw. mit den bestehenden Sachverhalten. Im engeren Sinne von Erkennen hingegen ist ihre Wahrheit eine Wesenseigenschaft einer bestimmten Aktart, eben des Erkennens im rigorosen Sinn, und S454e SOKRATES: Doch aber sind sowohl die Wissenden überredet als die Glaubenden. GORGIAS: //II201// So ist es. SOKRATES: Willst du also, wir sollen zwei Arten der Überredung setzen, die eine, welche Glauben hervorbringt ohne Wissen, die andere aber, welche Erkenntnis? GORGIAS: Allerdings. 268

Vgl. dazu auch Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, S. 95-140; Alexander Pfänder, „Die Lehre vom Urteil“, in: Pfänder, Alexander, Logik, zit., in: Logik (Tübingen: Ambrosius Barth/M. Niemeyer, 31963); Dietrich von Hildebrand, Was ist Philosophie?, Kap. 1-2; Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit2, Teil I, Kap. 3.

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gehört die Wahrheit dem Erkennen notwendig von seinem Wesen her zu. Dabei ist jedes Erkennen im strikten, engeren Sinn durch ein von allen Überzeugungen als solchen verschiedenes rezeptiv-intentionales Entdecken und ein sich selber Transzendieren hin zur erkannten Sache oder dem erkannten Sachverhalt ausgezeichnet. Nicht nur der Definition, sondern der Sache selbst nach gibt es dann kein echt erkennend-rezeptives und den Akt selbst transzendierendes Wirklichkeitsverhältnis, das objektiv nicht wahr sein könnte. Im rein empfangenden Wahrnehmen kann niemals ein Irrtum sein, wie auch Aristoteles hervorhebt, im Erkennen im Unterschied zur richtigen Meinung kann kein Irrtum bestehen, wie Platon bekräftigt. Und ein solches Erkennen ist notwendig für jeden Irrtum und für jede Täuschung schon vorausgesetzt, da kein Irrtum und keine Täuschung auch nur denkbar sind, in denen nichts so erkannt würde, wie es tatsächlich ist. Was aber ist genauer gesagt jenes Erkennen, dem Wahrheit wesenhaft zugehört? An diese wichtige Frage schließt eine zweite an: Gibt es in der weiten Sphäre von Akten, die wir Erkennen nennen können oder die innerhalb der Erkenntnissphäre ihren Platz haben, nur die Erkenntnis selber oder viele andere, die in jeweils verschiedenem Sinne wahr genannt werden können? 5. Was ist der Träger der Erkenntniswahrheit – Sinneswahrnehmung, Wesenserfassung (simplex comprehensio), Sachverhaltserkenntnis, Begriffsbildung, Überzeugung oder Urteilsakt? Man könnte innerhalb der Erkenntnissphäre die Sinneswahrnehmung oder auch die Akte der Wesenserfassung (simplex comprehensio) und der Sachverhaltserkenntnis, aber auch andere intellektuelle Akte und sogar theoretische Antworten auf die Erkenntnis wie Begriffsbildung, Überzeugung, Meinung, oder auch den Urteilsakt als Träger der Wahrheit bezeichnen. Je nach dem mit der Erkenntnisspäre verbundenen Akt, den man im Auge hat, tritt der Sinn von Wahrheit des Erkennens in sehr verschiedener Form auf.

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5.1. Sinneswahrnehmung und Erkenntniswahrheit

Gewiß kann man im Rahmen der Sinneswahrnehmung von wahr und falsch reden, vor allem wenn man jene innige Beziehung bedenkt, kraft deren die menschliche Sinneswahrnehmung von Anfang an von intellektuellen Dimensionen durchwirkt ist, die von unserer sinnenhaften Sachund Sachverhaltswahrnehmung nicht loszulösen sind. Jedes Wahrnehmen eines Gegenstands in seiner Form, als ein Individuum einer Gattung, jede sinnliche Erfassung eines Sachverhalts (wie des Liegens eines Buches auf einem Tisch), der ja in seiner geistigen ontischen Struktur und Wesensgestalt niemals unmittelbarer Gegenstand der Sinne selbst ist, sowie jedes Experiment, dessen Resultat ‚wahrgenommen‘ wird und das auf eine intellektuelle Frage antwortet, ist so eng mit Akten des Fragens und Verstehens verknüpft und von diesen begleitet, daß das, was mit den Sinnen wahrgenommen wird und das, was wir, ergänzend zur Sinneswahrnehmung, nur kraft eines Verstehens und einer Interpretation der Sinnesdaten im Licht intellektuell verstandener Kategorien und Wesenheiten, aber meist auch kraft eines gewissen Vertrauens in die Richtigkeit unserer Sinneswahrnehmung und einiger hypothetisch angenommener oder anderen geglaubter Sachverhalte und Gesetze, erfassen, nur künstlich von einander getrennt werden können. In diesem Sinne spricht Kant eine tiefe Wahrheit aus, wenn er sagt, Sinneswahrnehmungen (Anschauungen) ohne Begriffe (wir würden lieber sagen „ohne Begreifen“) seien blind.269 269

Kant fügt in Kritik der reinen Vernunft diesem Satz die These hinzu, die Begriffe ohne Sinneswahrnehmung seien leer. Aber diese These, vor allem da sie sich nicht auf Erfahrung überhaupt, sondern auf bloße Sinneswahrnehmung bezieht und leugnet, daß der Verstand irgendeiner unmittelbaren intellektuellen Anschauung fähig ist, welche These den radikalsten Gegensatz zu Husserls Analyse der „kategorialen Anschauung“, Schelers Philosophie der Wesensschau und Hildebrands Philosophie der Einsicht in notwendige Wesenheiten darstellt, ist überaus problematisch, ja kann als falsch erwiesen werden, da es unmittelbare Erfahrung geistiger Natur ebenso wie geistige unmittelbare Einsicht in allgemeine Wesenheiten gibt, auch wenn alle Erkenntnis auf eine ursprünglich gebende Erfahrung zurückgeht. Hier der Kantsche Text, Kritik der reinen Vernunft, in: Kants Werke, Akademie-Textausgabe (Berlin: Walter de Gruyter & Co., 1968), Bd. III, B 75: Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es eben

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Dies bleibt eine korrekte Einsicht, auch wenn man zur Überzeugung gelangt, daß Begriffe und Prinzipien, die nicht von einer Erkenntnis des Wesens der Dinge gespeist sind und in objektiv bestehenden Sachverhalten, sondern nur in den von Kant angenommenen subjektiven Synthesen wurzeln, die Wahrnehmung nur noch blinder machen würden als sie von Natur aus ohne Begriffe schon ist. Denn die Blindheit der Sinne kann nur durch wirkliches Verstehen und wahres Erkennen überwunden werden, nicht durch bloße immanente geistige Operationen und eine Art intellektuellen Leerlauf der Anwendung subjektiver Verstandeskategorien und – prinzipien, denen kein Sachkontakt zugrunde liegt und die nicht mit den Sachen selbst übereinstimmen, auf Erscheinungen. Hier zeigt sich erneut die absolut grundlegende Wahrheit der Erkenntnis als einmalige Form erkennend-rezeptiver Übereinstimmung und erkennenden Zusammentreffens des Geistes mit dem Sein, und es ist gerade diese, die durch Kants Philosophie radikal in Frage gestellt und geleugnet wird.270 Doch kehren wir zum Problem der Erkenntniswahrheit im Reich der Sinneswahrnehmung zurück. Ihre Wahrheit besitzt die Wahrnehmung nicht bloß durch den intellektuellen Erkenntnisbeitrag (der, wenn er nicht den Charakter rezeptiv geistigen Erfassens hätte, auch Irrtum sein oder zu ihm führen könnte), ohne den die Sinneswahrnehmung keine echte humane so nothwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d.i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d.i. sie unter Begriffe zu bringen). Beide Vermögen oder Fähigkeiten können auch ihre Functionen nicht vertauschen. Der Verstand vermag nichts anzuschauen und die Sinne nichts zu denken.

270

Zur entgegengesetzten Auffassung kann man nicht nur Klassiker wie Platon, Plotin, Aristoteles, Augustinus u.a. zitieren, sondern auch Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Bd I: Prolegomena zu einer reinen Logik; Bd. II, 1: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, 1. Teil, Bd. II, 2: Untersuchungen zur Phänomenologie und Erkenntnis, 2. Teil, hrsg.v. U. Panzer, Husserliana, Bd. xix, 1 und Bd. xix, 2 (Den Haag: Nijhoff, 1984), bes. ebd., II, vi; Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 5. Aufl. (Bern und München: Francke, 1966); Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?, and Che cos’è la filosofia? (Zweispr. Ausgabe: engl./ital.) – Collana: Testi a fronte n. 46. 594 S. (Mit Saggio introduttivo von Paola Premoli De Marchi und Saggio integrativo von Josef Seifert), (Mailand: Compiano, 2001). Vgl. meine Kant-Kritik in diesem Punkt in Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit2, zit.

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KAPITEL 2

Wahrnehmung wäre, sondern auch weil das Wahrnehmen eines Gegenstands und seiner sinnlich erfaßbaren Eigenschaften (Farbe, Ton usf.), so wie sie sind, durch die Sinne selbst bereits eine Wahrheit der Sinneswahrnehmung als solcher besitzt. Die Sinne als solche erschließen uns gewisse Erscheinungen, Eigenschaften und Gegebenheiten so wie sie sind, wenn auch nicht ohne das von der menschlichen Sinneswahrnehmung unlösbare, und wenigstens als Bemühung schon im Baby vorhandene geistige Erfassen,271 in welchem wir auch rein sinnliche Gegebenheiten wie Farben oder Töne als solche, sowie die Dinge (Substanzen), deren Eigenschaften die sinnlich wahrnehmbaren Gegebenheiten sind, und die kausalen Beziehungen, in denen sie stehen, begreifen. Hinsichtlich der über die reine sinnliche Wahrnehmung hinausgehenden Momente der Wahrnehmung (und des mit ihr verknüpften Verstehens und Interpretierens) bildet die Wahrheit der echten Sinneswahrnehmung einen Kontrast zur Falschheit der Sinnestäuschungen. Wenn ein Schizophrener Stimmen hört oder riesige Lastwagen sieht, die auf ihn zufahren, oder ein Träumender im Traum aufschreit, weil er sich von einem Fernlaster erdrückt wähnt, ohne daß es diese Stimmen oder den Lastwagen gäbe, so sind diese Erlebnisse, die uns etwas ganz anders zeigen und glauben machen als es in Wirklichkeit ist, in gewissem Sinne unwahr, auch wenn in dem rein sinnlichen Wahrnehmen des in ihm selbst gegebenen Wahrgenommenen kein Irrtum liegt und wir im Lichte faszinierender und echt phänomenologischer Beiträge Thomas von Aquins später erkennen werden, daß die Falschheit nur im uneigentlichen Sinne in der Sinneswahrnehmung als solcher bestehen kann, sondern eigentlich erst in den Momenten der Interpretation, Überzeugungen und Urteile liegt, die menschliche Sinneswahrnehmung, allerdings auf Grund von deren über das „rein“ in ihnen selber Wahrgenommene hinausweisenden Gestus, auszeichnet; ja solche Momente existieren schon in tierischen Wahrnehmungen, innerhalb deren durch Drogen bewirkte Halluzinationen, auf denen sich ein Tierverhalten 271

Ja Wilhelm von Humboldt glaubt sogar, daß es keine größere Intelligenzleistung gibt als diejenige, die das Kleinkind vollbringt, um von einem sprach-losen Zustand zum ersten Verstehen der Sprache überzugehen. Im Vergleich seien alle Leistungen der Intelligenz von Erwachsenen gering zu achten und deren Herabsehen auf Kinder sei ein versteckter Neid auf dieses dem ihren überlegene Verstehen der Kinder.

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aufbaut, und korrekte Wahrnehmungen unterschieden werden müssen. Trotz dieser notwendigen Differenzierungen ist die die halluzinatorische Wahrnehmung des Schizophrenen oder die Traumwahrnehmung eines Unfalls insofern falsch, als sie uns etwas als wirklich erscheinen läßt, was es nicht ist. Umgekehrt ist die Wahrnehmung des Autos, das uns in einem Unfall tatsächlich verletzt oder gar erdrückt, nur allzu wahr, weil wir hier nicht dem Schein eines als wirklich gegebenen Autos oder einer Gefährdung durch KGB oder CIA Agenten erliegen, wie John Nash in dem Film A Beautiful Mind (und in seinem Leben), sondern ein wirkliches Auto wahrnehmen, das uns tötet. In diesem Zusammenhang sind Thomas von Aquins Bemerkungen über die Sinneserkenntnis und deren Verhältnis zur Wahrheit ebenso faszinierend und sachnah wie weiterer phänomenologischer Aufklärung bedürftig. Insofern die Sinne selbst einfach das darstellen oder „abbilden“, sagt Thomas von Aquin, was ihnen gegeben ist, können sie nur in ähnlicher Weise wie jene Dinge und Erscheinungen selbst „falsch“ sein, die ihrem Wesen nicht entsprechen und die uns zu falschen Urteilen verführen. Interessant ist seine Ausdrucksweise: Wenn also, so sagt der Aquinate, der Gegenstand der Sinne, oder auch die Sinneswahrnehmung selber im Verhältnis zu ihrem Gegenstand, nur wie ein Objekt des Erkennens betrachtet wird, können die Sinneswahrnehmung und der durch sie wahrgenommene Gegenstand nur zur Falschheit Anlaß geben, nicht aber selbst falsch sein. Ein den Augen gebrochen erscheinendes Ruder im Wasser qua so erscheinendes ist nicht falsch, sondern nur das Urteil, es sei gebrochen. Allerdings müssen wir an dieser These des Aquinaten eine leise Kritik anbringen, die dahin geht, daß die Sinneswahrnehmung noch in einem anderen, tieferen und spezifischer auf Erkenntnis bezogenen Sinne wahr ist, nicht nur als wäre sie ein Ding, das nicht falsch sein kann, sondern insofern sie ein echtes Erschließen von etwas ist. Gerade als solches hat sie jene epistemologische Wahrheit des „etwas so Wahrnehmens wie es ist“, was als solches niemals falsch, sondern immer wahr ist, selbst wenn es sich um ein Wahrnehmen im Traum und in der durch Schizophrenie verursachten Halluzination handelt. Auch hier sind uns Bewegung, die Farbe Rot usf. gegeben und als solches wahr erkannt, wie diese sind. Es steckt aber gewiß, worauf Thomas aufmerksam macht, in der Sinneserscheinung als solcher auch eine über das direkt in ihr Wahr-

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KAPITEL 2

genommene hinausgehende Botschaft über die Wirklichkeit. Und diese von der Sinneswahrnehmung als humaner Wahrnehmung untrennbare ‚Botschaft‘ kann der Wirklichkeit entsprechen wie bei der echten Wahrnehmung, oder im Mißverhältnis zu ihr stehen wie die halluzinatorische Wahrnehmung, und also wahr oder falsch sein. Thomas scheint mir dies auch dort zu sehen, wo er darüber spricht, in welchem Sinne die Sinneswahrnehmung dem Geist ähnlich und unähnlich sei. Denn er fügt dem Vergleich der Sinnesgegenstände mit bloßen Dingen eine weitere Einsicht hinzu, daß sich nämlich die Sinne gleichsam zwischen Geist und Dingen befänden: verglichen mit dem Geist seien sie Dinge, verglichen mit den Dingen Geist und Erkenntnis. Noch faszinierender und phänomenologisch relevanter ist die Bemerkung, daß auch insofern die Sinne und die in ihnen dargestellten Gegenstände wie Dinge betrachtet würden, so sei doch der Sinnesgegenstand niemals rein als solcher das wahrgenommene Ding, sondern enthielte immer einen Verweis auf einen Gegenstand jenseits seiner selbst (als Erscheinung oder phantasma betrachtet), was erst den Unterschied etwa zwischen echter Wahrnehmung eines kleinen Mädchens und der halluzinatorischen Wahrnehmung desselben Mädchens durch John Nash erklären kann, die ja beide als Wahrnehmungserlebnis ganz gleich sein können. Und in dieser Weise, sagt Thomas, könnten auch der Gegenstand der Sinne sowie die Sinneserkenntnis selber, und zwar auch in ihrer Betrachtung ‚als Ding‘, also als Objekt der Sinne, in einem besonderen Sinne wahr oder falsch sein – nämlich in ihrer richtigen oder unrichtigen Verweisung über sich selbst hinaus, in ihrem wahren oder falschen Anspruch hinsichtlich der ontologischen Beschaffenheit und Unabhängigkeit des Wahrgenommenen, wobei man hinzufügen könnte, daß ein solcher Unabhängigkeitsanspruch entweder im Wesen des wahrgenommenen Gegenstandes selbst oder aber in der besonderen Art der Gegebenheitsweise des durch die Sinne wahrgenommenen Gegenstandes (etwa eines kläffenden und beißenden Hundes, den wir sehen und hören, vielleicht auch fühlen) wurzelt. Insofern die Sinne dem Intellekt ähnlich sind, führt Thomas aus, und eine Art „ästimatives“ Urteil enthalten, oder auch in der sinnenhaften Phantasie Falsches wie Wahres vorgestellt werden kann, sind die Sinne gleichsam in Analogie zum Intellekt und zu dessen Urteilen wahr oder

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falsch, indem sie der Wirklichkeit gegenüber angemessen oder unangemessen sein können.272 Die Ausführungen des Aquinaten enthalten zweifellos vieles, was aus einem sehr phänomenologischen Zugang zu den Phänomenen geschöpft ist. Ohne Frage ist weder Wahrheit noch Falschheit einfach im Sinnesdatum als solchem, sofern es uns gegeben ist: „Wenn sie [die Sinnlichkeit] also dem Verstand gegenüber gestellt wird, sofern sie ein Ding ist, so gibt es auf keine Weise Falschheit in den Sinnen im Vergleich zum Verstand...“273 In der Sinnesgegebenheit eines gebrochenen Ruders als reinem Datum liegt keine Falschheit. Anders verhält es sich, wenn das Sinnesdatum in einer der Bedeutungen ontologischer Wahrheit und ontologischer Falschheit betrachtet wird, nämlich als Quelle wahrer oder falscher Urteile und wenn der Sinneseindruck uns etwas über die Dinge nahelegt, was nicht der Wirklichkeit entspricht, wenn also die Dinge anders aussehen als sie wirklich sind. Balduin Schwarz spricht in diesem Zusammenhang von einem ‚objektiven Schein‘,274 von einer Gegebenheit, die etwas nicht Seiendes nahelegt oder einen Sachverhalt glauben läßt, der nicht besteht. In diesem Sinne, „sofern sie nämlich eine richtige oder falsche Beurteilung im Verstande hervorrufen“, werden Dinge, aber auch besonders Sinneserscheinungen, wahr oder falsch genannt. In einer dritten Weise verstanden, sind die Sinne, sofern nicht ihre intentionalen Gegenstände, sondern vielmehr ihre eigene bewußte Tätigkeit – und zwar auch in ihrem Verhältnis zum Verstandesurteil – mit berücksichtigt wird, Sitz von Wahrheit und Falschheit. Auch wenn wir von den Urteilen absehen, die der Verstand auf Grund der Sinneswahrnehmungen und in engster Verbindung mit ihnen fällt, liegt in dem sich Zeigen der sinnenhaften Gegenstände, wie sie sind, eine erste Stufe der Erkenntniswahrheit, die wir noch genauer werden untersuchen müssen, und in ihrem die Dinge Zeigen, wie sie nicht sind, ein Moment der Falschheit.

272 273 274

Thomas, De veritate, ebd., Q I, a 1. Ebd. Balduin Schwarz, Das Problem des Irrtums in der Philosophie.

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KAPITEL 2

5.2. Begriffsbildung, Definition, Erkenntnis und Urteilsakt als mögliche Träger der Wahrheit

Thomas von Aquin führt im Zusammenhang der Begriffs- und Urteilsbildung sowie der Frage, ob Definitionen wahr sein können, eine Fülle faszinierender und höchst phänomenologisch durchgeführter Unterscheidungen und Einsichten ein, auf die wir hier nur kurz hinweisen wollen. So unterscheidet er die Akte der Begriffsbildung und „Formung“ des Wesensbegriffs, dessen Bildung in der Definition kulminiere, von den eigentlichen Urteilsakten. Weder den Akt der Wesenserkenntnis und Definition, noch deren Ergebnis, den Begriff und die Definition selbst, betrachtet Thomas aber als eigentlichen Träger der Wahrheit: Wie das Wahre sich früher im Verstand findet als in den Dingen, so findet es sich auch früher in der zusammenfassenden und zergliedernden Verstandestätigkeit als in der Verstandestätigkeit, welche die Washeit der Dinge formt.275

Innerhalb der Definition müssen wir jedoch, wie wir kritisch hinzufügen möchten, noch die wichtige Unterscheidung zwischen einer sogenannten nominellen Definition (oder auch Begriffsdefinition, Wortdefinition) und einer Sachdefinition (Realdefinition) machen, zwischen denen ein gewaltiger Abgrund gähnt, der etwa in der Diskussion des ontologischen Gottesbeweises eine grundlegende Rolle spielt.276 Während wir in der letzteren Art der Definition auch ein Urteil eigener Art über ein Wesen erblicken und diesem Wahrheit oder Falschheit im vollen Sinne zuschreiben möchten, so sind gewiß der Begriff als solcher, und in gewisser Hinsicht auch die Definition, solange diese nämlich nicht ein Urteil über das Wesen einer Sache zum Ausdruck bringt, sondern entweder nur eine nominelle statt einer realen Definition oder nur ein zu prüfender Satz ist, ebenso wie der Akt des Definierens, noch nicht Träger von Wahrheit und 275 276

Siehe Thomas von Aquin, De veritate, Q I, a 3, c (Übers. E. Stein), a.a.O., S. 16. Brentano baut auf dieser Unterscheidung seine (m.E. unberechtigte) Kritik des ontologischen Gottesbeweises auf. Vgl. Franz Brentano, Vom Dasein Gottes, hrsg. A. Kastil (Hamburg: F. Meiner, 1980); ebenfalls Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis2.

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Falschheit im vollen Sinne. Thomas führt einen interessanten, wenn auch für sich selber ungenügenden Grund hierfür an – daß nämlich erst im Urteilsakt das Eigene des Intellekts und dessen eigentümliche Tätigkeit, die dann mit dem Sein übereinstimmen könne, liege.277 Man kann freilich hier Mehreres fragen: Liegen nicht in Begriffsbildungen, in Definitionen von Wesen und erst 277

Denn die Idee des Wahren besteht in der Übereinstimmung des Dinges und der Erkenntnis; es stimmt aber nicht ein- und dasselbe mit sich überein, sondern es ist eine Gleichheit von Verschiedenem; darum findet sich dort zuerst die Idee der Wahrheit im Verstande verwirklicht (invenitur ratio veritatis in intellectu), wo der Verstand zuerst beginnt etwas Eigenes zu haben, was das Ding außerhalb der Seele nicht hat, sondern etwas, was ihm entspricht, so daß zwischen beiden Übereinstimmung angetroffen werden (attendi) kann. Der Verstand aber, der die Washeiten formt, hat nur ein Bild (similitudo) des Dinges, das außerhalb der Seele existiert, sowie die Sinnlichkeit, sofern sie die Spezies des sinnenfälligen Dinges (res sensibilis) aufnimmt; doch wenn der Verstand anfängt, über das wahrgenommene Ding zu urteilen, dann ist eben dieses sein Urteil etwas ihm Eigenes, was sich nicht draußen im Dinge findet. Wenn aber das, was draußen im Dinge ist, mit ihm übereinstimmt, dann heißt das Urteil wahr. Der Verstand urteilt aber dann über ein wahrgenommenes Ding, wenn er sagt, daß etwas ist oder nicht ist, und das ist Sache des zergliedernden und zusammenfassenden Verstandes; darum sagt auch der Philosoph (Metaphysik VI, T. 8), das Zusammenfassen und Zergliedern sei im Verstand und nicht in den Dingen. Und daher kommt es, daß die Wahrheit sich zuerst in der zusammenfassenden und zergliedernden Verstandestätigkeit findet; sekundär aber und nachfolgend (secundario et per posterius) wird vom Wahren auch bei der Definitionen bildenden Verstandestätigkeit gesprochen (in intellectu formante definitiones); darum heißt eine Definition wahr oder falsch, wo ein wahres oder falsches Zusammenfassen vorliegt (ratione compositionis verae vel falsae), letzteres dann nämlich, wenn sie als Definition für etwas aufgestellt wird, dessen Definition sie nicht ist, z.B. wenn die Definition des Kreises dem Dreieck zugewiesen wird; oder auch, wenn die Teile der Definition nicht zusammengefaßt werden können. Wenn z.B. die Definition eines empfindungslosen Lebewesens (rei animalis insensibilis) aufgestellt wird, so ist die darin enthaltene Zusammenfassung, daß nämlich ein Lebewesen empfindungslos sei, falsch. Und eine Definition wird nur mit Beziehung auf die Zusammenfassung (per ordinem ad compositionem) wahr oder falsch genannt, so wie das Ding nur mit Beziehung auf den Verstand wahr genannt wird. Siehe ebd., a 3 (Übers. E. Stein, a.a.O.), S. 16/17.

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KAPITEL 2

recht in definitorischen Urteilen über das Wesen einer Sache eigene Akte, von denen Wahrheit oder Falschheit ausgesagt werden kann? Gibt es nicht auch richtige und falsche Definitionen, korrekte und unkorrekte Begriffe, die diesen Akten entsprechen? Während aber diese Akte in ihrer eigentümlichen Setzung eines Sachverhalts mit dem Selbstverhalten der Sachen zusammentreffen können, müssen wir nicht in der von solchen Urteilen verschiedenen, aber ihnen entsprechenden Sachverhaltserkenntnissen, die den wahren – im Gegensatz zu den falschen – Urteilen zugrundeliegen, einen völlig anderen rezeptiven Akt erkennen, von dem erst Erkenntniswahrheit im eigentlichen Sinn ausgesagt wird,278 weil er von rezeptiver Transzendenz ist, was aber auf das Urteilen als solches nicht zutrifft? Ist es daher nicht unter den Akten innerhalb des kognitiven Lebens der Person insbesondere der Erkenntnisakt, der spezifisch wahr ist, nicht der spontane Akt des Urteilens? Ist es nicht der Akt des rezeptiv-entdeckenden Teilhabens am Sein, dasjenige Erkennen, das der “compositio” und “divisio” des Urteilens selbst erst ihr rationales Fundament verleiht und deshalb in einem primären Sinn Träger der Erkenntniswahrheit genannt zu werden verdient?279 278 279

Dies sagt auch Thomas von dem “habitus principiorum”. In diesem Sinne scheint auch Thomas der Sachverhalts- und der Gegenstandserkenntnis (Wesenserkenntnis) Wahrheit zuzuschreiben, z.B. im folgenden Text: Der Name des Verstandes (intellectus) ist davon hergenommen, daß er das Innerste des Dinges versteht; denn intelligere heißt gleichsam intus legere (innen lesen); die Sinne nämlich und die Einbildungskraft erfassen nur die äußeren Akzidentien; der Verstand allein dringt zum Wesen der Sache vor. Doch darüber hinaus betätigt sich (negotiatur) der Verstand auf Grund der erfaßten Wesenheiten der Dinge auf verschiedene Weise in Schlußverfahren und Forschung (ratiocinando et inquirendo). Der Name des erkennenden Geistes kann also auf doppelte Weise verstanden werden. Einmal nämlich nur im Verhältnis zu dem, wovon ihm zuerst der Name beigelegt wurde; und so sprechen wir in eigentlichem Sinne von Erkennen, wenn wir die Washeit der Dinge erfassen, oder wenn wir das erkennen, was dem Verstand sofort bekannt ist, wenn ihm die Washeiten der Dinge bekannt sind, wie die ersten Prinzipien, die wir erfassen, sobald wir die Termini erfassen; darum bezeichnet man den Verstand als den Habitus der Prinzipien (habitus principiorum). Die Washeit des Dinges aber ist das eigentliche Objekt des Verstandes; wie daher die sinnliche Auffassung der spezifischen Sinnesdaten immer wahr ist, so auch die geistige Erkenntnis in der Erfassung dessen, w a s etwas ist.

Siehe Thomas von Aquin, Über die Seele, III, Komm. 26; Ebd., a 12, corp. Vgl. auch John F. Crosby, “The Role of Receptivity in the Formation of Personality”, in Balduin Schwarz (Ed), Wahrheit, Wert, Sein (Regensburg: Verlag Josef Habbel,

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Ist ferner nicht die Aussage von Thomas, daß erst das Urteil (wobei der Urteilsakt nicht scharf vom Urteilsinhalt und auch nicht vom Akt der Sachverhaltserkenntnis abgegrenzt ist) wahr oder falsch sei, weil es den dem Intellekt eigenen Beitrag darstelle, ungenügend, weil etwa auch der Frageakt einen ganz eigenen Beitrag des Subjekts darstellt, ohne daß ihm deshalb Wahrheit oder Falschheit zukommen können? Muß daher nicht, auch um den spezifischen Sinn, in dem der Urteilsakt (und nicht nur das objektive logische Urteilsgebilde) als wahr bezeichnet werden kann, nicht bloß gesehen werden, daß im Urteilsakt ein Eigenbeitrag des Intellekts liegt, sondern auch das Spezifikum jenes ‚Eigenen‘ verstanden werden, um von Wahrheit sprechen zu können? Geht nicht ferner aus einer solchen Betrachtung des Urteilsaktes in seiner Verschiedenheit vom Erkenntnisakt hervor, daß der mentale Akt, dem in der Erkenntnissphäre primär Wahrheit zugesprochen werden sollte, die rezeptive Erkenntnis selber ist, auch wenn man dem adäquat urteilenden Urteilsakt gleichfalls und in einem anderen Sinne Wahrheit zusprechen kann und sogar seinem Inhalt, dem Urteil selbst, in einem fundamentalen und überaus präzisen Sinn, Wahrheit zusprechen muß. Müssen wir nicht ferner das Eigene der Erkenntnisakte, welche Sachverhalte erfassen, und die Thomas ganz ähnlich wie A. Reinach und D. von Hildebrand von der reinen Gegenstandserkenntnis abgrenzt,280 ganz von dem „Eigenen“ des Urteilsaktes, und dieses wieder scharf von dem objektiven Urteil im Sinne des aus Begriffen (Bedeutungseinheiten) bestehenden komplexen Gedankengebildes, das wir im nächsten Kapitel herausarbeiten werden, unterscheiden? 5.3. Wahrheit des Urteilsaktes oder des Urteilsinhalts?

Wenden wir uns innerhalb der Untersuchung der verschiedenen möglichen Kandidaten für den Platz eines Trägers der Wahrheit im Leben des Intellektes zunächst dem von der Tradition her naheliegendsten Akt zu, dem Urteilen, sowie der Identifizierung der Erkenntniswahrheit mit der

280

1972), 253-261. Siehe dazu auch J. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit2, a.a.O., Kap. i-iii. Siehe D. von Hildebrand, Die Idee der sittlichen Handlung, a.a.O., Kap. i; A. Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“.

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KAPITEL 2

Wahrheit des Urteilens. Diese Wahrheit als Richtigkeit oder Angemessenheit des Denk- oder Urteilsaktes wurde traditionell – etwa bei Anselm von Canterbury und im Thomismus – als Adäquation des Urteilsaktes an die Wirklichkeit gedeutet. Dabei wurde diese Adäquation oder Richtigkeit noch eher äußerlich von der Erkenntnisweise her, in der sie uns gegeben ist, nämlich als „nur durch den Geist wahrnehmbare Richtigkeit“,281 bestimmt, was die genaue Eigenart dieser Adäquatio ganz unterbestimmt, ja fast völlig unbestimmt läßt, da es gänzlich verschiedene Arten von Adäquatio innerhalb jener Richtigkeiten gibt, die nur der Geist wahrzunehmen vermag.282 Wenn man diese allgemeinere Idee der Adäquation spezifischer als eine angemessene Beziehung zwischen Wirklichkeit bzw. wirklich bestehendem Sachverhalt und Urteilsakt sieht, so wäre der bewußte Akt des Behauptens, daß etwas sei oder so sei, oder daß es nicht sei oder nicht so sei, welche Thomas mit Aristoteles Akte des Trennens und Verbindens nennt, Träger der Wahrheit des Denkens, wobei kaum zwischen dem Akt der Sachverhaltserkenntnis und dem Behauptungsakt unterschieden wird, sodaß manches, was dort über das Urteil (nach der einfachen Gegenstandserkenntnis, simplex comprehensio, und vor der Schlußfolgerung, ratiocinatio, als zweite Operation des Intellekts genannt und daher sicher auch die Sachverhaltserkenntnis unter sich begreifend) gesagt wird, wohl eigentlich von der Sachverhaltserkenntnis gilt. Zweifelsohne kann der bewußte Akt des Urteilens in einer angemessenen oder unangemessenen Beziehung zu den geurteilten Sachverhalten stehen. Diese Beziehung der Angemessenheit oder Unangemessenheit des Behauptens, bzw., wie Anselm sagt, der cogitatio, im Verhältnis zu den Sachen wäre dann Träger der Wahrheit oder Falschheit des Urteilens. Aber ist es primär der Akt des Urteilens, der wahr oder falsch ist? Alexander Pfänder und Edmund Husserl haben implizite Kritik an dieser Deutung der Wahrheit geübt. Sie haben betont, und mit starken Gründen, daß es nicht, zumindest nicht primär, der Akt des Urteilens ist, 281 282

Anselm von Canterbury, De ver., Kap. 11. Vgl. Anselm von Canterbury, De veritate, cap. 3. Anselm von Canterbury, Anselm of Canterbury (Aosta., S. Anselmi Opera omnia, (Hrsg.) Franciscus Salesius Schmitt, 2 Vol. (Stuttgart-Bad-Cannstatt: Friedrich Frommann/Günter Holzboog, 1968), Volume 1, Page 180.

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der wahr oder falsch ist. Dieser existiert oder existiert nicht, ist wirklich oder nicht, etc.; in ihm werden wahre oder falsche Urteile gefällt, aber diese Urteile selbst sind ganz anderer Seinsart als personale Akte. Sie bestehen aus Begriffen, nicht die Akte; sie sind identisch dieselben, gleich welches Subjekt urteilt, nicht so die Akte. Nicht die individuell verschiedenen, bewußt vollzogenen Akte des Urteilens sind die eigentlichen Träger der Urteilswahrheit. Wir werden die Gründe für die Fassung wahrer und falscher Urteile als Bedeutungseinheiten, nicht als Akte, erforschen, wenn wir in den nächsten Kapiteln auf die Wahrheit des Urteils bzw. auf die logische Wahrheit zurückkommen. Die Phänomenologen des Datums „Urteilswahrheit“ haben also nicht dem Erkenntnisakt und auch nicht dem Urteilensakt, dem Thomas von Aquin an vielen Stellen primär und formaliter Wahrheit zuspricht, sie haben nicht dem „Akt der Vereinigung oder der Trennung“, als den Thomas mit Aristoteles das Urteil auffaßt, sondern einem objektiven Gebilde logischer Art, dem Urteile, das nicht individuell wie Urteilsakte ist, Wahrheit zugesprochen.283 Pfänder und Husserl, sowie viele andere Logiker und Phänomenologen haben also die Wahrheit, die mit dem Geist verknüpft ist, einem Träger zugesprochen, der nicht selbst ein Akt, sondern ein logisches Gebilde, eine ideale Bedeutungseinheit höherer Ordnung ist, oder besser, sie haben das Urteil als eine eigentümliche komplexe und Sachverhalte setzende bzw. behauptende Bedeutungseinheit oder objektive gedankliche Einheit aufgefaßt, wie wir im Anklang an Husserl, Pfänder und Meinong sagen können. Allerdings hat Husserl die Eigentümlichkeit dieser „objektiven Gedanken“ nicht klar gefaßt, wenn er sie als „Aktspezies“ von Akten des Meinens interpretiert. Dieser Aspekt der Logischen Untersuchungen kann immer noch als ein gewisser Psychologismus aufgefaßt werden. Im 283

Allerdings gibt es ebenfalls viele Thomas-Texte, in denen auch er das Urteil nicht als Akt, sondern als propositio, enunciatio und als ein vom Akt verschiedenes “ens rationis”, als Gedankending, faßt und diesem dann Wahrheit oder Falschheit zuspricht. Thomas spricht in über 900 Stellen von der propositio. Vgl. auch Anselm von Canterbury, De grammatico, iii: Ostende ergo in quo et hic et ibi tanta sit deceptio, ut cum et veræ propositiones et secundum naturam syllogismorum conexæ videantur, nulla tamen eorum conclusiones veritas tueatur.

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KAPITEL 2

Gegensatz dazu ist bei Thomas an manchen Stellen eine viel bessere Phänomenologie der propositio zu finden. Diese ganz neuartige Entität, die definitiv nicht eine Aktspezies ist, ist Träger von Wahrheit und Falschheit und über die genauere Natur dieser Urteile entbrannte eine weitere Debatte, der wir uns in den nächsten Kapiteln zuwenden werden. Obwohl wir uns in dieser Frage der phänomenologischen Logik des Urteils anschließen, ja sie in Beziehung auf das Phänomen der Urteilswahrheit noch schärfer vertreten werden als Husserl oder Pfänder, so darf man unseres Erachtens nicht leugnen, daß es einen guten Sinn ergibt, nicht eine rein logische Entität, die propositio, als alleinigen Träger der Wahrheit aufzufassen, sondern auch in einem gewissen Sinne Behauptungsakte und das Denken selbst wahr oder falsch zu nennen, bzw. in der Angemessenheit oder Unangemessenheit des Behauptungsaktes seine Wahrheit oder Falschheit zu erblicken. Eine Lehre, die ausschließlich den nicht personalen Bedeutungseinheiten als solchen und nicht personalen Akten Wahrheit zusprechen wollte, würde dem Verdikt Hegels verfallen, wenn dieser sagt: „Dagegen muß behauptet werden, daß die Wahrheit nicht eine ausgeprägte Münze ist, die fertig gegeben und so eingestrichen werden kann.“284 Wenn man 284

Man muß zugeben, daß dieses Hegelzitat im Zusammenhang betrachtet anders zu interpretieren ist und die dialektische Hegelsche Auffassung anzielt, nach der die Wahrheit nicht fein säuberlich vom Irrtum getrennt sein soll, sondern sogar dasselbe wahr und falsch sein oder werden kann: Das Wahre und Falsche gehört zu den bestimmten Gedanken, die bewegungslos für eigene Wesen gelten, deren eines drüben, das andere hüben ohne Gemeinschaft mit dem ändern isoliert und fest steht. Dagegen muß behauptet werden, daß die Wahrheit nicht eine ausgeprägte Münze ist, die fertig gegeben und so eingestrichen werden kann. Noch gibt es ein Falsches, sowenig es ein Böses gibt.

[Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 41. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 15709 (vgl. Hegel-W Bd. 3, S. 40)]. Vgl. auch etwa den Text: Der Dogmatismus der Denkungsart im Wissen und im Studium der Philosophie ist nichts anderes als die Meinung, daß das Wahre in einem Satze, der ein festes Resultat ist oder auch der unmittelbar gewußt wird, bestehe.

[Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 43. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 15711 (vgl. Hegel-W Bd. 3, S. 41)].

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bedenkt, daß das objektive, aus Begriffen bestehende Urteil so sehr auf den geistigen Akt des Behauptens hingeordnet ist, daß es nur in ihm tatsächlich gedacht und dadurch, als Inhalt oder sinngemäßes Korrelat des Urteilsaktes, gleichsam erst entsteht und zur Behauptung wird, leuchtet dieser Sinn von Wahrheit der cogitatio des Urteilenden ebenso ein wie wenn man sich klarmacht, daß die reinen Bedeutungseinheiten sozusagen ein totes, apersonales und nicht verstandenes Gebilde sind, solange sie nicht gedacht und im Behauptungsakt als solche erfaßt und geurteilt werden. Das objektive, aus Begriffen zusammengesetzte Urteil erhält sozusagen Leben und Kraft erst durch die Urteilsakte. Und wenn die cogitatio, der Behauptungsakt, das denkende Setzen des Urteils der Wirklichkeit gemäß urteilt, kann man sicher auch diesem Denken Wahrheit nicht absprechen. Vielleicht leuchtet dies noch deutlicher ein, wenn wir an den Irrtum denken, der ja nicht primär das objektive falsche Urteil ist, das wir mitunter Irrtum nennen, sondern das im falschen Meinen und Behaupten liegende Verfehlen dessen, was wirklich der Fall ist. Auch ein solches Verfehlen der Wirklichkeit in dem Akte, der Falsches glaubt und dann behauptet, besitzt eine diesem Akte selber eigene Falschheit. Obwohl dies deutlicher einleuchtet als die Wahrheit des richtigen Urteilens, können wir daraus doch schließen, daß auch umgekehrt das richtige Urteilen, der Akt, in dem ein wahres Urteil, dem eine wahre Überzeugung zugrunde liegt, gefällt wird, kraft seiner angemessenen Beziehung zu den Dingen Ort und Träger einer bestimmten Dimension der gnoseologischen Wahrheit genannt werden kann. Dasselbe gilt auch von den Überzeugungen selber. Trotz der wichtigen Beiträge zur Klärung des Wesens der Urteilswahrheit als Eigenschaft des Urteilsinhalts, also jenes ‚Urteils‘, das sich von Urteilsakten radikal unterscheidet, durch einige Phänomenologen müssen wir den Begriff der Wahrheit des Erkenntnis-, aber auch den des Urteilsaktes, als einen durchaus möglichen und sogar hochbedeutsamen Wahrheitsbegriff festhalten, der bei Thomas zu Recht eine wichtige Rolle spielt.

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KAPITEL 2

6. Erkenntnisakte als Träger der Erkenntniswahrheit und die verschiedenen Abstufungen und Gegensätze der Erkenntniswahrheit 6.1. Erkenntniswahrheit als solche und die Wahrheit der Erkenntnisakte im engeren Sinn (evidente und unbezweifelbare Erkenntnis) als der eindeutigste, unendlich abgestufte, Träger der Erkenntniswahrheit

Kehren wir zum Erkennen im eigentlichen Sinne der rezeptiven Gegenstands- und Wesenserfassung und der Sachverhaltserkenntnis zurück. Denn zu ihm gehört „Erkenntniswahrheit“ primär.285 Ein Erkenntnisakt, und in erster Linie nicht der Akt des Urteilens, sondern der des rezeptiven Erkennens selbst, ist durch seine Offenheit und Entsprechung gegenüber dem Sein, und zwar in dem Maße seines tieferen Erfassens eines Objekts, wie es wirklich ist, d.h. in dessen wirklichem Sein und Wesen, wahr. Wenn es keine Erkenntnis, sondern nur Irrtum und das einem Schein Erliegen gäbe,286 gäbe es auch diese Erkenntniswahrheit nicht. Das aber ist wesensunmöglich, da es auch Irrtum ganz ohne Erkenntnis nicht gibt und jeder Irrtum und Zweifel Erkenntnis voraussetzt, wie Augustinus und Descartes in ihrer Analyse des Cogito gezeigt haben. Jeder Irrtum und jeder Schein setzt eine Reihe von Erkenntnissen voraus, die nicht selber Schein oder Irrtum sein können: z.B. muß wahr sein und erkannt werden, wie es ist, daß ich etwas sehe oder höre, damit Schein oder Irrtum, die durch das Gesehene oder Gehörte zu Stande kommen, überhaupt entstehen können. Und diese jedem Schein und Irrtum zugrundeliegenden Wahrnehmungen und Erkenntnisse sind wahr und manche von ihnen sind auch Erkenntnisse im engeren Sinne evidenter Erkenntnis. In einer bestimmten Hinsicht besitzt keine menschliche Erkenntnis die Erkenntniswahrheit in einem höheren Sinn als die im echten Sinne evidente Erkenntnis, d.h. als jene Erkenntnis, in der der Gegenstand, so wie er ist, mit einer unfehlbaren Gewißheit erfaßt wird und die ihn erfassende Erkenntnis selbst in einer Weise in ihrer Wahrheit erkannt wird, die jeden

285

286

Daß der Akt des Irrens (Überzeugung und Urteil, das sich von Erkenntnis loslöst) ganz anderer Natur ist als Erkenntnis im engeren Sinn, habe ich andernorts ausgeführt: in Erkenntnis objektiver Wahrheit2, Teil I, Kap. 3. Siehe auch J. Seifert, Back to Things in Themselves, zit.

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Zweifel ausschließt und von jedem Zweifel vorausgesetzt wird.287 Die Erkenntniswahrheit in jenem vollen Sinne, in welchem sie in einer evidenten und unbezweifelbaren Erkenntnis lebt, kann auch als unmittelbares Wissen um Wahrheit bezeichnet werden, wie Husserl dies tut: Zum Begriff der Erkenntnis gehört, daß sein Inhalt den Charakter der Wahrheit habe.288 Husserl bestimmt in seiner Kritik des zum Relativismus führenden Psychologismus, der logische Gesetze nur als psychologische Denkgesetze auffaßt, die Evidenz als ein unmittelbares Haben der Wahrheit und läßt in den Logischen Untersuchungen keinen Zweifel daran, daß diese Wahrheit absolut und in keiner Weise auf den Menschen relativ ist: Auch das ‚Ich bin‘ und ‚Ich erlebe dies und jenes‘ wäre eventuell falsch; gesetzt nämlich, daß ich so konstituiert wäre, diese Sätze auf Grund meiner spezifischen Konstitution verneinen zu müssen… Der wesentliche Kern 287

288

Vgl. dazu die ausführliche Entwicklung solcher unbezweifelbarer Erkenntnis im Cogito bei Dietrich von Hildebrand, „Das Cogito und die Erkenntnis der realen Welt“, Teilveröffentlichung der Salzburger Vorlesungen Hildebrands: „Wesen und Wert menschlicher Erkenntnis“, Aletheia 6/1993-1994 (1994), 2- 27; vgl. ferner Josef Seifert, Back to Things in Themselves. A Phenomenological Foundation for Classical Realism, sowie Ludger Hölscher, Die Realität des Geistes. Eine Darstellung und phänomenologische Neubegründung der Argumente Augustins für die geistige Substantialität der Seele (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1999). Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, zit., Kap. 7. Der volle Text lautet: Von psychologistischer Seite könnte jemand unserer Position entgegenhalten, daß wie alle Wahrheit, so auch die der logischen Gesetze in der Erkenntnis liegt, und daß die Erkenntnis als psychisches Erlebnis selbstredend psychologischen Gesetzen untersteht. Aber ohne hier die Frage erschöpfend zu erörtern, in welchem Sinne die Wahrheit in der Erkenntnis liegt, weise ich doch darauf hin, daß keine Änderung psychologischer Tatsächlichkeiten aus der Erkenntnis einen Irrtum, aus dem Irrtum eine Erkenntnis machen kann. Entstehen und Vergehen der Erkenntnisse als Phänomene hängt natürlich an psychologischen Bedingungen, so wie das Entstehen und Vergehen anderer psychischer Phänomene, z.B. der sinnlichen. Aber wie kein psychisches Geschehen es je erreichen kann, daß das Rot, das ich eben anschaue, statt einer Farbe vielmehr ein Ton, oder daß der tiefere von zwei Tönen der höhere sei; oder allgemeiner gesprochen, so wie alles, was in dem Allgemeinen des jeweiligen Erlebnisses liegt und gründet, über jede mögliche Änderung erhaben ist, weil alle Änderung die individuelle Einzelheit angeht, aber für das Begriffliche ohne Sinn ist: so gilt das Entsprechende auch für die ,Inhalte‘ der Erkenntnisakte. Zum Begriff der Erkenntnis gehört, daß sein Inhalt den Charakter der Wahrheit habe.

218

KAPITEL 2 dieses Einwandes besteht darin, daß der Relativismus auch in evidentem Widerstreit ist mit der Evidenz des unmittelbar anschaulichen Daseins.289

Auch von dem Haben der Wahrheit in evidenter Erkenntnis spricht Husserl in einer Weise, die das Wesen der Erkenntniswahrheit faßt: Evidenz ist vielmehr nichts anderes als das „Erlebnis“ der Wahrheit. … Das evidente Urteil aber ist ein Bewußtsein originärer Gegebenheit. Zu ihm verhält sich das nicht-evidente Urteil analog, wie sich die beliebige vorstellende Setzung eines Gegenstandes zu seiner adäquaten Wahrnehmung verhält. Das adäquat Wahrgenommene ist nicht bloß ein irgendwie Gemeintes, sondern, als was es gemeint ist, auch im Akte originär gegeben, d.h. als selbst gegenwärtig und restlos erfaßt... Die Analogie, die alle originär gebenden Erlebnisse verbindet, führt dann zu analogen Reden: man nennt die Evidenz ein Sehen, Einsehen, Erfassen des selbst gegebenen („wahren“) Sachverhalts bzw., in naheliegender Äquivokation, der Wahrheit.290

Jedoch hat Edmund Husserl gerade in diesem Punkte eine radikale Wende, die viel radikaler als die berühmte Heideggersche ‚Kehre‘ ist, erlebt. Er hat diesen Objektivismus vollständig verlassen und ist einem „transzendentalen Relativismus“ verfallen,291 und zwar schon 1905, indem er das evidente Erfassen von etwas, das nicht nur rein intentionaler Gegenstand sein kann, sondern in seinem vom Subjekt unabhängigen Sein an sich erfaßt wird, in Frage stellt, ja leugnet.292 289

290

291

292

Prolegomena, vii, § 36. Ich kann daher Elisabeth Ströker nicht zustimmen, wenn sie Evidenz bei Husserl, zumindest beim Husserl der Logischen Untersuchungen, auf einen bloßen Charakter im Subjekt, auf eine Erfüllung bestimmter Akte in anderen Akten, zurückführen will. Dies verkennt das Wesen der Evidenz und der Erkenntniswahrheit. Vgl. Elisabeth Ströker, „Husserls Evidenzprinzip: Sinn und Grenzen einer methodischen Norm der Phänomenologie als Wissenschaft“, Zeitschrift für philosophische Forschung (Jänner-März 1978), 32, 3-30. Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. I, Prolegomena, Kap. 8, § 51, S. 193. Vgl. Walter Hoeres, Kritik der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie (Stuttgart: Kohlhammer, 1969); ders., “Critique of the Transcendental Metaphysics of Knowing, Phenomenology and Neo-Scholastic Transcendental Philosophy.” Aletheia (1978) I,1, 353-69. Vgl. Edmund Husserl, Die Idee der Phänomenologie (Den Haag: Martinus Nijhoff,

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Damit verläßt Husserl, nicht zuletzt unter dem Eindruck seiner in die Jahre zwischen den Logischen Untersuchungen und 1905 fallenden Kantstudien, seine in den Logischen Untersuchungen gewonnenen Einsichten. Je evidenter die Erkenntnis ist, desto wesenhafter ist sie wahr – ihrer Natur nach wahr und keineswegs bloß ihrem Gegenstande ähnlich. Dies gilt nicht für die Gewißheit im subjektiven Sinne, von der etwa Thomas von Aquin sehr scharfsinnig nachweist, daß sie nicht nur der Erkenntnis, sondern auch der Meinung, und sowohl dem wahren als auch dem falschen Glauben, zukommen kann.293 Denn jene Überzeugungen, die nicht eine reine Folge der Erkenntnis im engeren Sinne darstellen, sondern die sich gleichsam vom rezeptiven Erkenntnisakt verselbständigen und Zustim1950), S. 23, 81-84, Beilage II. Vgl. auch Edmund Husserl, Die Idee der Phänomenologie (The Hague: Martinus Nijhoff, 1950); sowie deren englische Übersetzung, The Idea of Phenomenology, transl. William P. Alston and George Nakhnikian (The Hague: Martinus Nijhoff, 1964); vgl. ebenfalls Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, I, Husserliana Bd. 3, ed. H. L. Van Breda, hrsg. v. W. Biemel (Den Haag, 1950). Es ist schwer zu begreifen, wie derselbe Denker, der diese Urform und Urbedingung bewußtseinsmäßiger Transzendenz in der erkennenden Selbstüberschreitung hin zur idealen und wirklichen Welt so klar gesehen hat und dadurch Wegweiser des Durchbruchs zu einer objektivistischen Philosophie wurde, die tiefere Transzendenz der Erkenntnis in seinem späteren Werk so radikal verfehlen konnte, daß er sogar schrieb: Transzendenz in jeder Form ist ein immanenter, innerhalb des ego sich konstituierender Seinscharakter. Jeder erdenkliche Sinn, jedes erdenkliche Sein, ob es immanent oder transzendent heißt, fällt in den Bereich der transzendentalen Subjektivität als der Sinn und Sein konstituierenden. Das Universum wahren Seins fassen zu wollen als etwas, das außerhalb des Universums möglichen Bewußtseins, möglicher Erkenntnis, möglicher Evidenz steht,... ist unsinnig. Wesensmäßig gehört beides zusammen, und wesensmäßig Zusammengehöriges ist auch konkret eins, eins in der absoluten einzigen Konkretion der transzendentalen Subjektivität.

293

Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, hrsg. u. eingel. von S. Strasser, in: Husserliana: Gesammelte Werke E. Husserls, auf Grund des Nachlasses veröffentlicht vom Husserl-Archiv (Louvain) unter der Leitung von H. L. Breda. (Den Haag, Nijhoff 1950 – 1962), Bd. 1, 1950, § 41. Vgl. meine Kritik dieser Anschauungen in Josef Seifert, „Kritik am Relativismus und Immanentismus in E. Husserls Cartesianischen Meditationen. Die Aequivokationen im Ausdruck ‚transzendentales Ego‘ an der Basis jedes transzendentalen Idealismus.“ Salzburger Jahrbuch für Philosophie XIV, 1970. Vgl. Thomas von Aquin, Quodlibeta 6, q. 4, Prologus.

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KAPITEL 2

mung zu etwas geben, was nicht im engeren Sinne des Wortes erkannt ist, können sehr wohl falsch sein, auch wenn sie von einer subjektiven Gewißheit geprägt sind.294 Es verbietet uns in der Tat nichts zu sagen, daß – in schroffem Gegensatz zu einem Akt des Irrens oder einem Akt falschen Behauptens, in dem der Geist von den Dingen selbst abweicht und der Intellekt etwas setzt, meint oder glaubt, was nicht so ist, wie er es meint – ein Erkenntnisakt, der, wenn er wirklich Erkenntnis ist, mit der Wirklichkeit übereinstimmt, wahr genannt zu werden verdient – eben kraft dieser erkenntnismäßigen Übereinstimmung, ja kraft der sich selbst überschreitenden erkennenden Berührung zwischen erkennendem Subjekt und Gegenstand. Dabei kann sowohl den Urteils- bzw. Behauptungsakten als auch, in noch eigentlicherem Sinne, den ihnen idealiter zugrundeliegenden Akten der Gegenstands- oder Sachverhaltserkenntnis, Wahrheit zugeschrieben werden. Wenn man die Erkenntnisakte in ihrem Unterschied zu Überzeugungen und Urteilen meint, kann man eine zusätzliche und noch stärkere Begründung für die Einführung des Begriffs Erkenntniswahrheit angeben, nämlich Platons Einsicht, daß zwar Überzeugungen wahr oder falsch, Erkenntnisse hingegen immer wahr sein müssen, wie Platon im Gorgias ausführt. Erkenntnis wird also von Platon, und auch von Descartes,295 wahr, und zwar „immer wahr“ genannt. Erkenntnis ist demnach nicht zufälligerweise oder manchmal wahr, sondern immer wahr, wie er sagt. Diese Wahrheit kommt, wie oben schon bemerkt, der Erkenntnis im weiteren Sinn, die durch viele Momente des Vertrauens und Glaubens geprägt ist, nur im Sinne einer Definition zu. Der evidenten Erkenntnis im engeren Sinne hingegen kommt diese Wahrheit ihrem Wesen nach und notwendig zu, und beileibe nicht im Sinne einer bloßen Definition und der daraus folgenden Wahrheit analytischer Urteile. Doch läßt sich das Problem der Erkenntniswahrheit noch auf vielen 294

295

Vgl. die hervorragende Arbeit von Paola Premoli De Marchi, Etica dell’assenso, (Milano: Franco Angeli, 2002). René Descartes, Meditationes de Prima Philosophia, IV, 9. Aus der Ausgabe von 1641 (eigene deutsche Übersetzung). Vgl. René Descartes, Meditationes de Prima Philosophia, Oeuvres de Descartes, hrsg. V. Charles Adam & Paul Tannery, Bd. VII (Paris : J. Vrin, 1983).

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Ebenen fassen und erfordert eine entsprechend komplexe Behandlung. 6.2. Verschiedene Vollkommenheiten und Gesichtspunkte der Abstufung der Erkenntniswahrheit

Das objektive Urteilsgebilde ‚S ist P‘ kann nur entweder wahr oder falsch sein und diese Wahrheit kennt prinzipiell keine Grade der Wahrheit, auch wenn es auch hier zwar andersartige, doch nichtsdestoweniger analoge, Abstufungen zwischen einzelnen wahren Urteilen hinsichtlich ihrer Klarheit oder Verworrenheit, Vollständigkeit oder Unvollständigkeit, durch die sich ein bescheidenes begrenztes Urteil von dem Ganzen der Wahrheit unterscheidet, gibt, wie wir sehen werden. Dennoch kann das Urteil als solches nur entweder wahr oder nicht wahr sein. Es gibt kein Drittes und keine Grade und Stufen seiner Wahrheit, wenn es als ein ganz bestimmtes Urteil genommen wird. Die Erkenntniswahrheit hingegen kommt der Erkenntnis im strikten Sinne nicht entweder zu oder nicht, wie Wahrheit einem Urteil entweder zukommt oder nicht, sondern sie kommt ihm wesenhaft zu: Erkennen strictu sensu ist immer wahr. Doch kennt die Erkenntniswahrheit, ihrer Natur als Entdecken des Seins nach, unzählige Stufen der Vollkommenheit und auch Gradunterschiede, die in ganz verschiedene Richtung gehen und zwar einmal von Charakteristiken des Gegenstands der Erkenntnis, sodann auch von solchen des Erkennens selber abhängen. 6.2.1. Nach dem Gegenstand der Erkenntnis 6.2.1.1. Stufen der Erkenntniswahrheit hinsichtlich der Autonomie des erkannten Seins: Von der Erkenntnis von Erscheinungen zur Erkenntnis des Dings an sich – ein wesentlicher Gesichtspunkt für Erkenntniswahrheit und ihre Abstufung

Hinsichtlich ihres Gegenstandes hängt die Vollkommenheit der Wahrheit der Erkenntnis zunächst davon ab, welche Art der Subjektunabhängigkeit ihr Gegenstand besitzt: ob ein Erkennen nur eine Erscheinung oder das Ding an sich erfaßt. Daher wird auch je nach der Antwort auf die Frage, ob es Erkennen des Dings an sich, d.h. hier des Seienden, wie es in

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KAPITEL 2

sich selber ist, oder ob es eine derartige Erkenntnis nicht gibt, wie Kant meint, die Wahrheit des Erkennens als Entsprechung zwischen Erkenntnisakt und Sein radikal verschieden gedeutet. Wenn alles Sein, dem in menschlicher Erkenntnis entsprochen wird, nur Erscheinung, Produkt oder rein intentionaler Gegenstand des Geistes wäre – was letztlich unmöglich ist, da jeder Schein, jede Erscheinung und jeder rein intentionale Gegenstand wieder ein Ansichsein und dessen Erkenntnis voraussetzen – würde „Erkenntniswahrheit“ etwas ganz anderes und unendlich viel Begrenzteres bedeuten als wenn das Sein gegenüber dem Geist, der es erkennt, an sich besteht. Ja wenn die erste Position – bei all ihrer Widersprüchlichkeit – radikal zu Ende gedacht wird, gäbe es gar keine Erkenntniswahrheit, da man unter dieser Voraussetzung auch Erscheinungen nicht als solche erkennen könnte. Denn dies ist nur möglich, wenn man auch Sachen und Sachverhalte, die in sich bestehen, erkennen kann. Daher ist es auch eine Bedingung jeder Wahrheitserkenntnis und jeder Erkenntniswahrheit, daß man, wenigstens im weiteren Sinn dieses Ausdrucks etwas „an sich“ Seiendes und die in diesem beschlossene Autonomie des Seins gegenüber dem Erkennen erkennen kann.296 Auch die Erscheinung und rein intentionalen Gegenstände könnte man nämlich gar nicht als solche erkennen, wenn man keinerlei Erkenntnis von etwas in sich selber Seienden besäße, mit dem man es kontrastiert. Erst wenn das Sein so erfaßt wird wie es ist, das Seiende an sich, wie es nicht bloß als Gegenstand von Denken, sondern wie es in sich selbst als Seiendes besteht und in sich konstituiert ist, und Erscheinungen als Erscheinungen, gibt es Erkenntniswahrheit im eigentlichen Sinne. Diese ist in ihren höheren Stufen untrennbar mit der rezeptiven Transzendenz des Erkennens im vollen Sinn verknüpft, welche auch das Erfassen der dem Sein in sich selber zukommenden Attribute verlangt. Jeder transzendentale Idealismus und jede „kritische Philosophie“ im Sinne Kants, aber auch jeder soziale oder historische Subjektivismus und Relativismus, leugnen Erkenntniswahrheit im tieferen Sinne der erkennenden Berührung des Geistes mit dem in sich selber Seienden im Sinne 296

Vgl. Josef Seifert, Back to Things in Themselves, Kap. 1-5; ders., Essere e persona, Kap. ii-iv.

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dessen, was nicht bloß Erscheinung, sondern seinsautonom ist.297 Erkenntniswahrheit ginge unter dieser Voraussetzung verloren. Auch der späte Husserl, nach dem jedes erdenkliche Sein vom Subjekt konstituiert ist, ja der sogar (im Gegensatz zu Kant) die Idee des „Ansichseins“ für absurd hält, schließt diesen eigentlichsten Sinn der Erkenntniswahrheit als den Geist transzendierendes Erfassen eines an sich bestehenden Seins oder Wesens aus. Unter diesen Voraussetzungen einer Kant’schen Leugnung der Erkennbarkeit des Dings an sich oder der Leugnung der Existenz und Möglichkeit eines Dings an sich (bei Fichte und Husserl), gäbe es Erkenntniswahrheit einer Erkenntnis, die etwas objektiv und in sich Seiendes erfassen würde, Erkenntniswahrheit als Erreichen eines Ansichseins, nicht. Von Husserls radikal idealistischer Spätphilosophie aus würden zwar alle unterschiedenen Bedeutungen von Erkenntniswahrheit in gewissem Sinn innerhalb rein intentionaler Gegenständlichkeiten, die nach einer radikalen epoché aller transzendenter Seinsund Wesensgeltung übrig blieben, als „eingeklammerte“ weiter bestehen, aber letzten Endes wären nach dieser u.E. echter phänomenologischer Rückkehr zu den Sachen selbst radikal widersprechenden Husserlschen Theorie298 jedes An sich Sein inklusive des absoluten Seins selbst, und damit auch Wesenheiten, Ideen, das Wirkliche überhaupt, die Grade der Intelligibilität und des Wertes, etwa auch die ontologische Wahrheit als Entsprechung zwischen Freundschaft und Idee der Freundschaft, bloße noemata, die vom eigenen Bewußtsein abhingen und damit nicht in ihrem wahren, in sich bestehenden, Sein erkannt würden. Alle vom Deutschen Idealismus oder dem späten Husserl noch anerkannten Bedeutungen von Sein und ontologischer Wahrheit wären letzten Endes auf kein Richtmaß des an sich seienden Wirklichen oder der in sich bestehenden Wesenheiten mehr bezogen, die völlig unabhängig vom menschlichen Bewußtsein sind und bestehen und diesem gerade in ihrem An-sich-Sein oder ihrem in-sich-Bestehen gegeben sind. Von dem Maß, an dem alle Erkenntniswahrheit letztlich gemessen wird und dem sie adäquat entsprechen muß, um Wahrheit zu sein, könnte man nicht sagen, daß es etwas in sich selbst Wirkliches und Bestehendes wäre. Also müssen 297 298

Vgl. Martin Cajthaml, Kritik des Relativismus. Vgl. Josef Seifert, Back to Things in Themselves, zit.

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KAPITEL 2

der Deutsche Idealismus und Husserl, ebenso wie jede neurologische, psychologistische, ökonomische, soziologische oder linguistische Theorie der Konstitution allen Seins durch materielle oder lebendige Strukturen und Faktoren oder durch das Bewußtsein, wofern sie nicht überhaupt radikal leugnen, daß der Mensch Sein erkennen kann, doch, weil sie sowohl das Sein und die ontologische Wahrheit als auch die Erkenntniswahrheit, die nach ihnen nicht mehr auf dem Erfassen dessen beruhen kann, was in sich selber besteht, radikal umdeuten, und die „wahre Erkenntniswahrheit“, die im Erfassen autonom und in sich seiender Dinge, wie sie in sich selber sind, liegt, bestreiten. Um den Einwand gegen Erkenntniswahrheit oder um deren radikal immanentistische Deutung, der zufolge Erkenntnis nur mit ihren eigenen Produkten, die kein Sein in sich besitzen, erkenntnismäßig verbunden wäre, im Deutschen und in jedem ihm verwandten Idealismus zu überwinden, muß man klären, wieweit die Wahrheit des Erkennens reicht – ob sie nur die Entsprechung des erkennenden Aktes mit der Welt als „[Wille und] Vorstellung“, um mit Schopenhauer zu sprechen, ist, oder ob sie auch die Dinge, wie sie „in sich selbst“ bestehen, erreichen kann. Um die Erkenntniswahrheit in einer Erfassung des Seins und der Wahrheit des Seins selbst gründen zu können, die ihr einziges letztes Fundament sein kann, muß die Autonomie des Seins und die Existenz von Dingen an sich erwiesen werden, die nicht bloß noemata oder Vorstellungen eines Subjektes sind und die wir gleichwohl als solche erkennen können. Denn nur, wenn menschliches Erkennen – über alle Erscheinungen, fiktive Welten und rein intentionale Gegenstände, die die Welt bereichern, hinaus – auch etwas erkennen kann, wie es in sich selber ist, besitzt Erkenntnis tatsächlich Wahrheit, ja nur dann kann sie auch Erscheinungen und rein intentionale Gegenstände als solche erfassen.299 Daher müssen sowohl der Deutsche Idealismus mit allen seinen Folgewirkungen als auch alle Formen des vom Empirismus inspirierten Relativismus als Quelle einer eigentlichen Krise und Infragestellung, oder sogar Leugnung der Erkenntniswahrheit diagnostiziert werden.

299

Vgl. dazu D. von Hildebrand, Was ist Philosophie? cit; J. Seifert, Essere e persona, Kap. 1-4, cit.; ders. Back to Things in Themselves, cit.

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225

6.2.1.2. Wahrheit der Erkenntnis nach dem Grad der Verstehbarkeit ihres Gegenstands

In dem Grad der Verstehbarkeit und Einsichtigkeit der erkannten Gegenstände und Wahrheiten kann man noch einen andersartigen wichtigen Teil des Maßes der Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit erblicken, der ebensowenig wie die Autonomie ihres Gegenstandes mit ihrer Evidenz zusammenfällt oder auch nur notwendig mit evidenter Erkenntnis verknüpft ist. Zwar hängen, wie wir sehen werden, einige der wichtigsten Formen evidenter Erkenntnis von der inneren Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit der erkannten Gegenstände ab, worauf wir schon im letzten Kapitel eingegangen sind. Es gibt aber auch eine absolut unbezweifelbare Erkenntnis rein von außen feststellbarer Fakten wie daß ich jetzt Kopfschmerzen fühle oder daß ich überhaupt existiere. Beides sind kontingente Tatsachen, die zwar auf Grund unserer unmittelbaren und direkten inneren Erfahrung mit unbezweifelbarer Evidenz festgestellt und erkannt werden können, nicht aber ein hohes Maß an Intelligibilität und Einsehbarkeit besitzen. So erweist sich der Gesichtspunkt der einleuchtenden Verstehbarkeit erkannter Sachen und Sachverhalte als Quelle einer ganz neuen Vollkommenheit der Erkenntnis und ihrer Wahrheit, als ein Gesichtspunkt, der auf Evidenz unreduzierbar ist. In dieser Hinsicht gipfelt die Erkenntniswahrheit in der Einsicht in die durch sich selbst einleuchtenden notwendigen Wesenheiten und ewigen Wahrheiten, in deren Erkenntnis G. W. Leibniz den wichtigsten Grund des Unterschieds zwischen Mensch und Tier und das Fundament der Rationalität des Menschen erblickt hat und in denen die vielfachen Abstufungen und Grade der Intelligibilität, auf die wir im vorigen Kapitel kurz hingewiesen haben, kulminieren.300

300

Vgl. G. W. Leibniz, Monadologie, in: Leibniz, Die Hauptwerke, zusammengefaßt und übertragen von Gerhard Krüger (Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 1958), und Leibniz, Die philosophischen Schriften, hrsg. v. C.J. Gerhardt (Hildesheim: G. Olms, 1965), in 7 Bänden. Vgl. Auch Brief von Leibniz an Tolomei 1. Vgl. Auch ders., VII Principes de la Nature et de la grace, fondés en Raison,VI 600-601. Ders., Essais de Theodicée, IIIe partie, VI358, 406.

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KAPITEL 2

6.2.1.3. Die Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit je nach dem Wert ihres Gegenstandes

In einer von den bisher erörterten verschiedenen und noch viel unabhängigeren Richtung ist eine Erkenntnis und ihre Wahrheit um so vollkommener, je bedeutsamer und vor allem je wertvoller301 ihr Gegenstand ist. In dieser Hinsicht ist die geringste Erkenntnis über die höchsten Dinge viel wertvoller und infolgedessen auch in einem tieferen Sinne “wahre Erkenntnis“ als selbst die umfassendste Erkenntnis über niedrigere Gegenstände. Aus diesem Gesichtspunkt heraus betrachtet ist auch die auf einem Glauben beruhende Erkenntnis (das Glaubenswissen) der höchsten und sublimsten Wahrheiten, obwohl sie andere Quellen der Erkenntniswahrheit nicht besitzt, mehr wert und in einem tieferen Sinne Besitz der wahren Erkenntnis als alle sonstigen Kenntnisse, auch wenn dieses Wissen nicht die Evidenz der Erkenntnis im engeren Sinne oder gleichermaßen intelligible Gegenstände besitzt wie mathematische Erkenntnisse,302 wie Thomas bemerkt. Man kann daher auch den Wert des Gegenstandes einer Erkenntnis, die Frage, wie vollkommen ihr Objekt ist, einen unabhängigen Maßstab für den Rang der Wahrheit einer Erkenntnis nennen, und zwar einen Maßstab, der bei Aristoteles und Thomas von Aquin und anderen antiken und mittelalterlichen Denkern wiederholt anerkannt, aber seit Descartes weitgehend nicht mehr angemessen gewürdigt wird. 6.2.2. Nach den inneren Eigenschaften der Erkenntnis und deren Relation zu ihrem Gegenstand 6.2.2.1. Evidenz

Betrachtet man die Erkenntnis selber in ihrer inneren Beschaffenheit und in der Beziehung ihres Subjekts zu ihrem Objekt, so erreicht die innere Wahrheit des Erkennens in einer ersten Hinsicht ihr höchstes Maß in der evidenten und zweifelsfreien, objektiv gewissen Erkenntnis, die jede 301

302

Die Begriffe der Bedeutsamkeit und des Wertes unterscheiden sich fundamental. Vgl. Dietrich von Hildebrand, Ethik, Kap. 1-3; 17-18. So schreibt Thomas von Aquin in Summa contra Gentiles, lib. 1, cap. 5.

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Ungewißheit überwindet und an der jeder Zweifel durch das objektive Licht evidenter Erkenntnis zerschellt.303 Evidente Erkenntnis, deren Gegenstand uns mit letzter Gewißheit gegeben ist, ist in einer gewissen Hinsicht allein eindeutige, reine Erkenntnis und nicht eine Art von Meinen oder Glauben, so bedeutsam und wertvoll auch diese, wenn sie wohl begründet sind, sein können. Auch innerhalb der Evidenz-Vollkommenheit jener Erkenntnis, die wir als Erkenntnis im engeren und eigentlichen Sinne bezeichneten, also in jener Hinsicht, in der die Erkenntniswahrheit von der Vollkommenheit der Evidenz der Erkenntnis abhängt, unterliegt sie unendlich vielen Graden und Abstufungen. Freilich besitzt die abstrakte Tatsache des Vorliegens evidenter Erkenntnis als solche, insofern sie den Prinzipien der Identität und des Ausgeschlossenen Dritten unterworfen ist, keine Gradabstufungen: entweder hat jemand unbezweifelbare und evidente Erkenntnis oder nicht. Wohl aber sind der Grad der Bewußtheit evidenter Erkenntnis, nicht zuletzt auch wegen ihrer Abhängigkeit von der Vollkommenheit der Klarheit des Erkenntnisaktes (angefangen von einer rein impliziten Evidenz bis hin zur ausdrücklichen, von der vorphilosophischen bis zur philosophischen, von der gedanklich und begrifflich unklar gefaßten und der 303

Diese Art von Erkenntniswahrheit im strengen Sinne, wie sie etwa evidenten Einsichten in wesensnotwendige Sachverhalte zukommt, drückt Dietrich von Hildebrand in seinem erkenntnistheoretischen Hauptwerk so aus: These ‘necessary’ intelligible unities are so filled with ratio and with intelligibility that their objective validity no longer depends upon the act in which we grasp them. We saw before that if in a dream the such-being of a triangle, of red, or of willing were clearly and unequivocally given to me, the essence itself would not be merely dreamt... We must now advance still further. With respect to the evident states of fact, which are necessarily rooted in these essences, any possibility of an invalidation through a distortion, or insufficiency of our mind, is excluded. Here it would be senseless to say, ‘Perhaps all these states of facts are not valid, perhaps the insight that moral values presuppose a personal being as bearer is only due to a distortion of our intellect, such as craziness or idiocy’.... For the luminous intelligibility and rationality of such insights precisely proves that we are neither crazy nor idiots. Indeed the extreme form of insanity would be to affirm that dogs are just, or that stones are charitable, or that Mars both exists and does not exist.... The unities in which these necessary states of facts are grounded stand entirely on their own feet. All attempts to make these insights relative are dashed to pieces by the meaningfulness and power of the such-being in which they are rooted. If they are univocally and clearly given, they do not need any criterion for the integrity of the act that grasps them, but, on the contrary, they themselves justify the grasping act as not contaminated by error.

D. von Hildebrand, What is philosophy?, S. 115, 116. Vgl. auch a. a. O., S. 130, 131.

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KAPITEL 2

wegen Äquivokationen begrifflich unpräzise gegebenen zur klaren und präzisen Erkenntnis usf.) unzähligen Gradabstufungen unterworfen. 6.2.2.2. Klarheit

Gewißheit und Evidenz aber sind keineswegs die einzigen Merkmale, kraft deren und deren Perfektion entsprechend die Erkenntnis Wahrheit besitzt und in vielen Graden der Vollkommenheit wahr sein kann. Auch die eng mit der Gewißheit verknüpfte Klarheit und, damit eng verbunden, die Differenziertheit in der Erkenntnis unterschiedlicher Phänomene und Dinge bis hin zum reinsten und klarsten Erfassen der Sachen und Sachverhalte unterliegt einer unbegrenzten Stufenleiter von Steigerungen der Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit. Jede reflexiv bewußte Erkenntnisgewißheit setzt zwar ein gewisses Maß an Klarheit voraus, aber es gibt deren unendlich viele Stufen; es war in erster Linie diese Vollkommenheit der Erkenntnis und ihrer Wahrheit, die Descartes in seinem Streben nach ideae clarae et distinctae suchte. Wie die Erkenntnisgewißheit und vor allem der Umfang unzweifelhafter Erkenntnis, so kann auch die jeweilige Klarheit, Differenziertheit und Deutlichkeit einer Erkenntnis in unzähligen Graden vorhanden sein bis hin zur alle Dinge und ihre Unterschiede mit letzter Klarheit schauenden Erkenntnis. 6.2.2.3. Vollständigkeit

Wieder in einer grundverschiedenen und sehr bedeutsamen Hinsicht aber ist eine Erkenntnis um so vollkommener wahr, je vollständiger und umfassender sie ist. Wenn Hegel die Wahrheit das Ganze nennt, ist es wohl genau diese Dimension der Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit, die im Grad ihrer Vollständigkeit liegt, die ihm vorschwebt. Der Grad der Vollständigkeit einer Erkenntnis kann zwar mit dem der Vollkommenheit ihrer Evidenz oder ihrer Klarheit verbunden sein, kann sich aber von diesen auch weit entfernen. So ist es möglich, daß jemand zum Beispiel eine ziemlich umfassende und erschöpfende Kenntnis eines Teiles der Geschichte besitzen und alle Details derselben auswendig kennen kann, ohne daß diese Erkenntnis, die er aus bloßem Hörensagen oder aus Büchern anderer Autoren geschöpft hat, irgendeinen Grad von Evidenz

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besäße. Seine Erkenntnis (im weiteren Sinn) kann aber große Vollständigkeit besitzen, woraus die Verschiedenheit dieser beiden Vollkommenheiten der Erkenntnis und der in ihnen gründenden Dimensionen ihrer Wahrheit deutlich hervortritt. Kennt jemand hingegen nur wenige Details und Fragmente einer evidenten Welt intelligibler Zusammenhänge, etwa nur einige euklidische Theoreme und nur wenige ihrer Beweise, so besitzt er nicht in demselben Sinn und Grad wahre mathematische Erkenntnis wie Euklid, dem diese Zusammenhänge viel vollständiger und in ihrem inneren Zusammenhang, der zu ihrer vollständigeren Erkenntnis gehört, bekannt waren. 6.2.2.4. Die Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit nach der Tiefe der Erkenntnis

Unter einem noch einmal sehr verschiedenen Gesichtspunkt hängt die Stufe der Wahrheit einer Erkenntnis davon ab, wie tief sie in ihren Gegenstand eindringt, was wiederum eine ganz neue Qualifikation von Erkenntnis darstellt, die nicht einfach von der Tiefe ihres Gegenstandes abhängt. Denn auch von den höchsten und sublimsten Gegenständen und Wahrheiten kann jemand eine oberflächliche Kenntnis besitzen, wobei diese Oberflächlichkeit entweder rein intellektuell oder in einer von ihren ethischen Bedingungen her bestimmten Weise „flach“ sein kann. Umgekehrt ist es kaum möglich, in einen trivialen Sachverhalt wie daß jemand statt zehn neun Eier auf dem Supermarkt gekauft hat, tief einzudringen. Die Tiefe der Erkenntnis setzt also auch eine bestimmte Beschaffenheit der Objekte der Erkenntnis, eine spezifische oder qualitative Tiefe oder zumindest eine reiche Intelligibilität des Gegenstands der Erkenntnis oder dessen hohen Wert (als notwendige, aber nicht als hinreichende Bedingungen) voraus. Nur in dem Maße, in dem sie in die objektive spezifische oder qualitative Tiefe ihres Gegenstandes eindringt, gewinnt die Erkenntnis selber Tiefe und erlangt sie jenen Charakter der Wahrheit der Erkenntnis, der von ihrer Tiefe abhängt.304 Dieser Gesichts304

Zu einer Analyse von sieben verschiedenen Bedeutungen von Tiefe, von denen insbesondere die spezifische und qualitative, sowie das Tiefgehen auch in unserem Zusammenhang relevant sind, vgl. Dietrich von Hildebrand, Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis. Eine Untersuchung über ethische Strukturprobleme. Habilitationsschrift, vollständig abgedruckt in: Jahrbuch für Philosophie und

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KAPITEL 2

punkt, der die Erkenntniswahrheit modifiziert, ist auch ganz verschieden von dem der Vollständigkeit, kann ja eine sehr vollständige Erkenntnis ebenso tief wie oberflächlich sein. So kann jemand eine sehr vollständige, aber flache Erkenntnis der Mathematik, der Gerechtigkeit oder der Kunstgeschichte besitzen, wobei freilich eine bestimmte Art der Unvollständigkeit durch den Mangel an Tiefe der Erkenntnis bedingt bleiben wird, sodaß das absolute Ideal der Vollständigkeit auch grenzenlose Tiefe einschließt, ohne daß dadurch der Unterschied beider aufgehoben würde. 6.2.2.5. Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit gemäß der Unmittelbarkeit einer Erkenntnis

Schließlich kann man die Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit auch in dem Maß sehen, in dem sie unmittelbar und direkt ihren Gegenstand schaut und nicht auf unvollkommenere indirekte Modi des Erkennens durch Schlußfolgerungen und logische Argumente angewiesen ist. Das absolute Ideal der Erkenntnis bestünde darin, alles unmittelbar zu schauen, wie es ist (und natürlich auch alle Wahrheitszusammenhänge und logischen Beziehungen einzusehen, ohne auf deren durch das Fehlen einer unmittelbaren intellektuellen Anschauung nötige Anwendung in mittelbaren Schlüssen angewiesen zu sein, um einen Gegenstand und Sachverhalte zu erkennen). Nur eine derartige unmittelbare Schau ihres Gegenstandes kann eine Erkenntnis und deren Wahrheit schlechthin vollkommen machen.

phänomenologische Forschung, Band 5. Halle: Niemeyer. 1922. S. 462-602. Sonderdruck der Habilitationsschrift, ebd. 1921. Reprint Vols. 3-6 (1916-1923) 1989. Bad Feilnbach 2: Schmidt Periodicals; 2. Auflage (unveränderter reprographischer Nachdruck, zusammen mit der Dissertation Die Idee der sittlichen Handlung), hrsg. v. der Dietrich-von-Hildebrand-Gesellschaft (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1969), S. 126-266; 3., durchgesehene Auflage (Vallendar-Schönstatt: Patris Verlag, 1982).

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6.3. Erkenntniswahrheit kraft der rezeptiven Transzendenz des Erkennens und ihres Zugangs zu den Dingen an sich und ihre Gegensätze: Irrtum, prinzipielle Unerkennbarkeit (wie Kant sie vom Ding an sich behauptete), und tatsächliche partielle Verborgenheit vor dem menschlichen Geist

Die Bedeutsamkeit der Erkenntniswahrheit geht besonders deutlich hervor, wenn wir den Kontrast des Erkennens zu seinen Gegensätzen im Auge behalten. Betrachten wir zunächst die allgemeinen Bedingungen dafür, daß Erkenntnis Wahrheit besitzen kann, und stellen dabei ihr und ihrer Wahrheit drei Gegensätze: des Irrtums, der Unerkennbarkeit und der einfachen Ignoranz (des Unwissens) entgegen: 1. Zunächst ist für die spezifische Wahrheit des Erkennens dessen Rezeptivität Voraussetzung, kraft deren die Richtung des Erkennens von dessen Gegenstand zum Erkenntnisakt verläuft und im erkannten Sein ihr Richtmaß hat: Erkennen ist wesenhaft wahr kraft dieser das Subjekt transzendierenden, rezeptiven Teilhabe am Sein, das sich dem erkennenden Geist erschließt. Diesen rezeptiven, empfangenden Grundgestus des Erkenntnisaktes hat Adolf Reinach mit überragender Klarheit herausgearbeitet und gezeigt, wie jede Deutung des Erkennens als ein Setzen, als ein Erzeugen, als ein spontanes geistiges Handeln das Urphänomen des Erkennens verfehlt: Welchen Sinn soll es haben, Erkenntnis zu definieren, sie umzudeuten und zurückzuführen, sich von ihr nach Möglichkeit zu [404] entfernen, um ihr dann etwas unterschieben zu können, was sie nicht ist? Wir reden ja alle von Erkennen und meinen etwas damit. Und wenn uns diese Meinung zu unbestimmt ist, dann können wir uns orientieren an irgendeinem Falle, in dem ein Erkennen vorliegt, ein sicheres und zweifelloses Erkennen, das unkomplizierteste, trivialste Beispiel ist gerade das beste. Denken Sie an den Fall, wo wir erkennen, daß ein Gefühl der Freude uns erfüllt, oder daß wir ein Rot sehen, oder daß Ton und Farbe verschieden sind oder etwas dgl. Auf die einzelnen Fälle des Erkennens und ihre Existenz kommt es auch hier nicht an, aber an ihnen erschauen wir, wie überall, das Was, das Wesen des Erkennens, das in einem Aufnehmen liegt, in einem Empfangen und sich zu eigen Machen eines sich Darbietenden. Auf dieses Wesen müssen wir zugehen, es müssen wir untersuchen; aber wir dürfen ihm nichts Fremdes unterschieben. Wir dürfen z.B. nicht sagen, daß das Erkennen in Wahrheit ein Bestimmen, ein Setzen oder etwas dgl. wäre, wir dürfen es

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KAPITEL 2 nicht, weil man wohl Farben auf Schwingungen zurückführen kann, aber nicht Wesenheiten auf andere Wesenheiten. Wohl gibt es so etwas wie Setzen oder Bestimmen, und auch sein Wesen muß aufgeklärt werden. Wir haben da das Urteil, speziell die Behauptung, als einen spontanen, punktuellen, setzenden Akt; und wir haben gewisse Behauptungen, die sich als bestimmende Setzungen erweisen, so die Behauptungen der Form A ist b. Aber indem wir uns ein Bestimmen, das wir vollziehen, seinem Wesen nach näherbringen, sehen wir doch klar, daß es nicht identisch ist mit dem Wesen des Erkennens, ja noch mehr, wir sehen, daß jede Bestimmung ihrem Wesen nach zurückweist auf ein Erkennen, von dem sie erst ihre Berechtigung und ihre Beglaubigung erhalten kann. Mag man sagen, daß Menschen keine Erkenntnisakte vollziehen können, sondern nur bestimmende Akte – das wäre eine kühne Behauptung, die sich gewiß nicht halten ließe, aber sie wäre in sich selbst nicht sinnlos. Sagt man aber, Erkenntnis sei in Wahrheit Bestimmung, so steht das auf genau derselben Stufe, als wenn man sagen wollte, Töne seien in Wahrheit Farben.305

Und mit ähnlicher Klarheit hat Dietrich von Hildebrand auf diesen rezeptiven Charakter des Erkennens hingewiesen, ohne dessen Verständnis die besondere Form der Erkenntniswahrheit nicht begriffen werden kann. Dabei hat er insbesondere gezeigt, daß das Erkennen, vor allem das Erfassen komplexer und tiefer Dinge, ein geistiges Mitgehen mit dem erkannten Gegenstand, eine hohe Form der Aktivität einschließt, die aber wesenhaft eine rezeptive Aktivität ist, also dem empfangenden Grundzug des Erkennens keineswegs widerstreitet.306 Der Erkenntnisakt ist also rezeptiv, aber keineswegs passiv! Rezeptivität darf hier ferner nicht im Sinne einer nur menschlichem endlichem Intellekt zukommenden Empfänglichkeit gegenüber zuvor nicht gekannten Inhalten verstanden werden, sondern im Sinne einer Erkenntnismetaphysik als Eigenschaft jedes Erkennens überhaupt: Rezeptivität wäre dann einfach jedes, auch das unvollkommenste, „Erfassen dessen, was ist, weil es ist und wie ist.“ Wäre das Erkennen selbst nicht ein Sehen dessen, 305

306

Adolf Reinach, „Über Phänomenologie“, in: Adolf Reinach, Sämtliche Werke, Bd. I, ebd., S. 531-550, [403-404]. Vgl. Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?, Kap. 1. Vgl. auch die deutsche Version dieses Buches: Was ist Philosophie?, Kap. 1, sowie das frühere deutsche Werk Hildebrands, Der Sinn philosophischen Fragens und Erkennens (Bonn: Peter Hanstein, 1950).

Wahrheit des Erkennens

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was ist, weil und insofern es ist, wäre es nicht wahr. Daher verfehlt jede Umdeutung des Erkennens in ein Setzen, Konstituieren, Schaffen oder Ändern ihres Gegenstandes ihr Wesen und das Fundament ihrer Wahrheit. Es gäbe unter dieser Voraussetzung Erkenntniswahrheit einfach nicht, weil nichts erkennbar wäre. Zwei Gegensätze zur Wahrheit der Erkenntnis sind in diesem Kantschen Ansatz verborgen und werden von ihm nicht in ihrem Charakter des radikalen Gegensatzes zum Wesen des Erkennens und seiner Wahrheit verstanden: einmal das Nichterkennen, ja die Unmöglichkeit des Erkennens, weil der Geist nichts empfangen und so sehen könnte wie es ist und weil es ist, wie es ist. Sodann wäre ein von jedem empfangenden Seinsentdecken losgelöstes Erkennen (das in sich unmöglich ist) gar kein Erkennen, sondern ein nur zufällig mit der Wirklichkeit übereinstimmendes Meinen, d.h. ein Setzen und Behaupten von etwas, was nicht ist, von dessen Gegenstand wir nicht wissen, ob er ist oder der Fall ist oder ein Irrtum, wie wir sehen werden. Mit anderen Worten: statt der Erkenntniswahrheit hätten wir nun blinde Behauptungen und Meinungen, deren Übereinstimmung mit der Wirklichkeit gänzlich unerkannt bliebe. Statt der Erkenntniswahrheit, die im Sehen dessen, was ist, gründet, hätten wir nur jene Blindheit, die dem Nichtsehen dessen, was ist, entspricht. Der zweite schon erwähnte Gegensatz zur Erkenntnis und ihrer Wahrheit, der aus einer Leugnung der Rezeptivität des Erkennens folgen würde, wäre der Irrtum. Denn wenn wir nichts so erkennen könnten, wie es objektiv ist, dann wäre jede Behauptung, daß sich etwas tatsächlich oder notwendig so oder so verhalte, möglicherweise ein Irrtum. Wenn ich z.B. das Kausalprinzip, demnach jede Veränderung eine Wirkursache haben muß, nur als subjektives Denkprinzip verstehe, dann ist die in ihm gemachte Aussage wirklich oder zumindest möglicherweise irrig. Wenn der Irrtum in einem Fürwahrhalten oder Glauben, oder aber im Behaupten von Sachverhalten, welche objektiv nicht bestehen, liegt, so könnte innerhalb eines Systems, welches die rezeptive Transzendenz des Erkennens leugnet und das Erkennen in eine konstituierende, schaffende, oder verändernde Tätigkeit umdeutet, jedes vermeintliche Erkennen eigentlich nur ein Irrtum oder rein zufällig wahr sein. Wenn man etwa mit Kant die Erklärung und Möglichkeit der synthetischen a priorischen Urteile nicht in der Erkenntnis notwendiger Wesenheiten und in diesen

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KAPITEL 2

gründender Wesensgesetze erblickt, sondern in einer Denknotwendigkeit und Synthesis, die im Subjekt ihre Wurzel hat, so drücken diese synthetischen Urteile a priori keine Erkenntnis, welche Wahrheit besäße aus, sondern stellen Behauptungen von notwendigen Sachverhalten dar, welche möglicherweise gar nicht bestehen und wären also potentiell Irrtümer. 2. Zweitens verlangt die Wahrheit des Erkennens auch den Zugang zu dem Sein an sich der Dinge: Vielleicht läßt sich das große Gewicht der Wahrheit als Entsprechung der Erkenntnisakte selbst mit dem Sein, und im Tiefsten mit dem Sein der Dinge an sich, am besten erkennen, wenn wir die Deutung des Erkennens durch den Deutschen Idealismus oder andere Spielarten des Idealismus und verwandte subjektivistische oder agnostische Deutungen des Erkennens betrachten. Nach ihnen besteht Wahrheit des Erkennens als Übereinstimmung des Erkennens mit der Wirklichkeit letztlich überhaupt nicht.307 Die Bedeutsamkeit der Erkenntniswahrheit geht besonders deutlich hervor, wenn wir die kantische und ähnliche philosophische Positionen betrachten, denen zufolge die Erkenntnis eine Art immanenter Operation und Produktion sowie Anwendung von Begriffen darstellt, aber das Sein der Sachen selbst, die Wirklichkeit der Dinge an sich, niemals zu erreichen imstande ist. Derartige philosophische Positionen, die eine Erkenntnis der Dinge an sich leugnen, leugnen damit auch (in sich selbst widersprechender Weise) die authentische Wahrheit der Erkenntnis. Wäre das Erkennen von dem Ding an sich, dem in sich selber Seienden, abgeschnitten, wie Kant meint, würde es diese, wie auch der späte Husserl annimmt, selber konstituieren, ausschließlich durch das eigene Bewußtsein konstituierte und „rein intentionale“ Gegenstände erkennen, so wäre das Erkennen in einem tieferen Sinne nicht wahr. Wenn der Zugang zu einem „An sich“ geleugnet wird, wird zumindest die Wahrheit des Erkennens völlig anders gedeutet und immens eingeschränkt, d.h. sie kann nur noch als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit als Erscheinungen oder als Konstituta, die ihrerseits wieder vom eigenen Geist abhängen, gedeutet werden. Wenn auch die logische Wahrheit des Urteils als Übereinstimmung des Urteils mit Sachverhalten, die ja auch 307

Siehe dazu J. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit2, cit.; Back to Things in Themselves, cit.

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über die vom Menschen konstituierten oder geträumten Gegenstände besteht, wie wir im folgenden Kapitel sehen werden, in Kants System indirekt eine tiefgehende Umwandlung erfährt, so würde doch die Idee der Urteilswahrheit als adaequatio zwischen Urteil und Sachverhalt durch eine solche Theorie keinesfalls so wesentlich verändert, 308 wie diejenige der Erkenntniswahrheit. Denn während im Sinne der adaequatio des Urteils ganz objektiv wahre Urteile über nur geträumte oder uns erscheinende Gegenstände und Sachverhalte möglich sind, so wäre hingegen die Erkenntniswahrheit unter der Voraussetzung des Deutschen Idealismus bloß eine Übereinstimmung des Geistes mit seinen eigenen Vorstellungen und den von ihm selbst hervorgebrachten Erscheinungen, nicht aber mit einem Sein oder einer Wirklichkeit, die vom Geist selbst unabhängig besteht. Denn auch wenn es Erkenntniswahrheit im Verhältnis zu heteronomen Gegenständen, die ebenfalls ein gewisses, wenngleich sehr dürftiges Eigensein haben, wie die Gestalten der Dramen Shakespeares, über die wir Wahres erkennen und Falsches behaupten können, gibt, so erfüllt sich doch die ratio der Erkenntniswahrheit erst in ihrem Verhältnis zu solchen Gegenständen, die sich dem erkennenden Geist in ihrer an sich bestehenden Seinsautonomie erschließen, in der Erkenntnis der Dinge an sich, wie sie auch für alle Erscheinungen und Fiktionen vorausgesetzt sind. Wir erkennen all dies besser, wenn wir in dieser Hinsicht den Gegensatz zur Erkenntniswahrheit in der Unerkennbarkeit und der aus dieser hervorgehenden Unerkanntheit erblicken, in unserem Fall in der Unerkennbarkeit der Dinge an sich und der daraus folgenden Unerreichbarkeit der Erkenntniswahrheit über die Dinge an sich, deren Leugnung eine bestimmte Art des Agnostizimus darstellt, welche die Wahrheit des Erkennens radikal in Frage stellt. 3. Drittens setzt die Erkenntniswahrheit kognitive Transzendenz voraus, also die Fähigkeit, nicht nur immanente Inhalte und Ideen in einem monadisch gefaßten Geist ohne Türen und Fenster zu haben, die objektiv der wirklichen Welt entsprechen, sondern sich zu überschreiten und im Erkenntnisakt zu dem jenseits aller rein intentionalen Gegenstände bestehenden Sein und zu an sich bestehenden Sachverhalten (wie sie sogar 308

Siehe Juan-Miguel Palacios, El idealismo transcendental: Teoría de la Verdad.

236

KAPITEL 2

von Schein und Erscheinung vorausgesetzt sind) zu gelangen, sie zu erreichen:309 Diese schlichte Gegebenheit der zum Wesen des Erkennens gehörigen rezeptiven Transzendenz und damit die Wahrheit des Erkennens wird auch beim späteren Husserl, und zwar schon wenige Jahre nach Erscheinen der 1. Auflage der Logischen Untersuchungen,310 in Frage gestellt, ja geleugnet.311 Husserls drückt radikale Skepsis gegenüber jeder möglichen Transzendenz des Erkennens zu einer Wirklichkeit, die in sich besteht, aus. Ja er behauptet sogar, es sei überhaupt ein Unsinn und ein Unding anzunehmen, wir könnten ein transzendentes an sich der Dinge erkennen. Denn wir können ja zweifellos immer nur durch unsere eigenen Akte und unser eigenes Erkennen Sein denken. Auch das „Ding an sich“ können wir nur mit unseren eigenen Denkakten denken. Daher sei ein jenseits der noemata oder der Objekte menschlichen Denkens, ein jenseits der intentionalen Gegenstände menschlichen Denkens bestehendes Sein ein Unfug. Mit dieser Behauptung bestreitet Husserl das Wesen, die Realität und das Fundament eigentlicher Erkenntnistranszendenz und Evidenz, und somit aller Erkenntniswahrheit. Auch hier ist es primär die aus der Unerkennbarkeit folgende Unerkanntheit des Seins an sich, wie es ist, welche den Gegensatz zur Erkenntniswahrheit bildet. 6.4. Die Anerkennung der Erkenntniswahrheit verlangt eine Beseitigung einiger Verwechslungen und Äquivokationen von ‚Subjekt‘, ‚subjektiv‘ und anderer

Wie anderswo ausführlich begründet wurde,312 ist diese Position jedoch 309 310

311

312

Dies ist meine Grundthese in Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit2. 1905 in seinen Wiener Vorträgen über Phänomenologie, die dann als Buch Was ist Phänomenologie? erschienen sind. Siehe J. Seifert, Back to Things in Themselves, cit. Siehe auch Essere e persona, cit., Kap. ii-iv. Vgl. Josef Seifert, „Phänomenologie und Philosophie als strenge Wissenschaft. Zur Grundlegung einer realistischen phänomenologischen Methode – in kritischem Dialog mit Edmund Husserls Ideen über die Philosophie als strenge Wissenschaft,“ S. 14-51; ders., „Kritik am Relativismus und Immanentismus in E. Husserls Cartesianischen Meditationen. Die Aequivokationen im Ausdruck ‚trans-

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nicht nur in sich widersprüchlich, sondern beruht auf einer Reihe von Verwechslungen grundverschiedener Bedeutungen von „Ding an sich“ und ihrer Erkenntnis, sowie von radikal verschiedenen Bedeutungen von „Subjektivität“. Husserls Verwerfung der Idee eines Erkennens der Dinge an sich ist, wie ich dort zu zeigen suchte, keineswegs kritisch durchdacht und außerdem widersprüchlich. Denn die Tatsache, daß wir tatsächlich nur durch unsere eigenen Erkenntnisakte Zugang zum Sein haben können und alle Erkenntnis in diesem Sinne ‚subjektiv‘ ist, darf in keiner Weise gleich von Anfang an mit der Unmöglichkeit identifiziert werden, in diesen Erkenntnisakten transzendierend, d.h. den Akt selbst zum Sein hin übersteigend, zu erkennen.313 Mit anderen Worten, ‚Subjektivität‘ im Sinne von bewußten personalen Akten als Steckenbleiben in rein intentionalen Gegenständen zu deuten verwechselt völlig verschiedene und in keiner Weise einander implizierende Begriffe. Im Gegenteil, Subjektivität im Sinne der Personalität und der Tatsache, daß alle personalen Akte auch bewußte Akte eines Subjekts sind, setzt notwendig voraus, daß dieses Subjekt auch eines Erkennens fähig ist, das kein Steckenbleiben im rein Subjektiven, in rein intentionalen Gegenständen ist. Denn auch jede Täuschung und jeder Irrum, sowie jedes erwachte rationale Bewußtsein überhaupt setzen notwendig einen solchen Sachkontakt und Wirklichkeitskontakt voraus. Ja es ist letzten Endes absurd, auf Grund der bloßen Subjektgebundenheit des Erkennens zu leugnen, daß der Mensch im Erkennen das Ansichsein der Dinge erreichen kann. Man müßte dann nämlich behaupten, daß auch ein allwissendes Wesen das Ansichsein der Dinge nicht erkennen könnte. Denn die Tatsache, daß überhaupt nur ein Geist, und zwar ausschließlich durch seine eigenen Akte, erkennen kann, gilt nicht nur für den Menschen. Es gilt vielmehr für jede, und daher auch für eine göttliche, Erkenntnis, daß sie nur Akt eines Subjekts (einer Person) sein kann. Es

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zendentales Ego‘ an der Basis jedes transzendentalen Idealismus“; ders., Back to Things in Themselves und Essere e persona, cit. Vgl. dazu die Aufklärung verschiedenster Bedeutungen von ‚subjektiv‘ und ‚objektiv‘ in Dietrich von Hildebrand, Was ist Philosophie?, Kap. 5. Dasselbe hat auch Antonio Millán-Puelles gezeigt in Teoría del objeto puro, Colecciónes Cuestiones Fundamentales. Ins Englische übersetzt von Jorge García-Gómez: The Theory of the Pure Object.

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KAPITEL 2

gehört also zur Idee jeder Erkenntnis, selbst des Allwissens und der unfehlbaren Erkenntnis, Akt eines Subjekts zu sein. Schon allein daraus ergibt sich die Absurdität der Behauptung, daß Erkennen, weil es ein Akt des Subjekts sei, nicht etwas erreichen könne, was nicht bloßer immanenter Gegenstand der Akte des Subjekts ist. Nicht nur die Falschheit, sondern die sonderbare Abwegigkeit und innere Widersprüchlichkeit des Irrtums der Behauptung, weil Erkenntnis ein Akt eines Subjektes sei, könne in ihr kein unabhängig vom Subjekt bestehendes Sein gegeben sein, folgt aber auch aus der erörterten Einsicht, daß jede Erscheinung und jeder Schein oder rein intentionale Gegenstand sowohl Sachverhalte, die nicht rein intentionale Gegenstände sind, als auch deren Erkenntnis voraussetzt. Wenn ich z.B. von einem hübschen Mädchen träume, so sind die Tatsache, daß ich sie (im Traum) sehe sowie unzählige konkrete Sachverhalte und meine eigenen Akte nicht bloße intentionale Gegenstände meines Traums, worauf ja bereits Augustinus in seinem si enim, fallor sum, Descartes und andere Denker hingewiesen haben.314 Daß ein philosophisches Genie und ein so ernsthaft nach Wahrheit und Evidenz strebender Denker wie Edmund Husserl, der das Cogito Argument so tief durchdacht und eine so fundamentale Kritik des psychologistischen Subjektivismus und Relativismus entwickelt hat, einem so leicht zu durchschauenden, auf der Äquivokation von „Subjektivität“ beruhenden Fehlschluß erlegen ist und zu einem so absolut grundlegenden Problem der Philosophie eine derart widersprüchliche Position eingenommen hat, bleibt mir unbegreiflich.315

314

Vgl. Ludger Hölscher, Die Realität des Geistes. Eine Darstellung und phänomenologische Neubegründung der Argumente Augustins für die geistige Substantialität der Seele (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1999). 315 Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Band I; ders., Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, hrsg. u. eingel. von S. Strasser, in: Husserliana: Gesammelte Werke E. Husserls, auf Grund des Nachlasses veröffentlicht vom Husserl-Archiv (Louvain) unter der Leitung von H. L. Breda. (Den Haag, Nijhoff 1950 – 1962), Bd. 1, 1950; vgl. Auch Josef Seifert, „Kritik am Relativismus und Immanentismus in E. Husserls Cartesianischen Meditationen. Die Aequivokationen im Ausdruck ‚transzendentales Ego‘ an der Basis jedes transzendentalen Idealismus.“

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6.5. Erkenntniswahrheit als erkennende Aktualisierung der Wahrheit des Urteils (der ‚logischen Wahrheit‘)

Wenn auch dieser Begriff der Erkenntniswahrheit nicht der präziseste und wichtigste Wahrheitsbegriff ist, der mit Wahrheit als adaequatio intellectus et rei gemeint wird, so darf man ihn doch keineswegs ganz verbannen, nicht zuletzt deshalb, weil die logische Wahrheit, von der wir später handeln werden, in ihrem Wesen auf erkennenden und urteilenden Geist hingeordnet ist, so daß, wenn wir sie völlig vom Geist selbst, also von den lebendigen Akten des Geistes, lösen und sie ausschließlich als eine „rein logische Entität“, die nicht selbst in Bezug zum erkennenden Geist steht, denken wollten, auch die Wahrheit des Urteils (logische Wahrheit) in ihrer eigenen Wesensbeschaffenheit, die in ihrer Zuordnung auf Geist mitbegründet ist, verkannt würde. Ja man sollte in der Erkenntniswahrheit eine besondere Aktualisierung der Wahrheit, und damit auch der logischen Wahrheit der Urteilsinhalte selbst im Geist, und zugleich eine einzigartige Entsprechung zwischen geistigem Akt und Wirklichkeit sehen. 6.6. Erkenntniswahrheit als Erfüllung der ontologischen Wahrheit und als Aletheia. Verborgenheit des Seins als dritter Gegensatz zur Erkenntniswahrheit

Erkenntniswahrheit ist in gewisser Weise auch die Erfüllung der ontologischen Wahrheit im Sinne der Offenheit des Seins gegenüber Geist. In dem Maße nämlich, in dem der Geist tatsächlich in das Sein eindringt und dieses sich ihm enthüllt, wird in der Erkenntniswahrheit auch die Seinswahrheit erst ‚aktualisiert‘. Die Erkenntniswahrheit ist, so betrachtet, die Erfüllung der ontologischen Wahrheit im Sinne der potentiellen Offenheit des Seins für Geist. Denn erst in der Erkenntniswahrheit tritt die tatsächliche Offenheit des Seins gegenüber dem Intellekt hervor, und in ihr erst finden wir die verwirklichte Offenheit des Intellekts für das Sein. Wie im Falle der ontologischen Wahrheit viele Stufen und Grade der Abstufung möglich sind, so verhält es sich auch mit der Erkenntniswahrheit. Mit jedem neuen Schritt der Erkenntnis, mit jeder weiteren

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KAPITEL 2

Differenzierung, mit jedem tieferen Eindringen in das Sein wird die Erkenntnis in umfassenderem und höherem Sinn wahr sein. Sie wird sich dem Sein vollkommener angleichen und diesem in höherem Grad in jenem einzigartigen Sinn entsprechen, der die Wahrheit des Erkennens ausmacht. Es ist die Erkenntniswahrheit jene auf keine andere Form der adaequatio reduzierbare „Entsprechung“, die keineswegs die eines bloßen ähnlichen „Abbildes“ der Dinge im Geist ist, und auch nicht eine Assimilation oder ein noch so ideales und differenziert gedachtes „Ähnlichwerden des Geistes der erkannten Sache“ darstellt.316 Vielmehr ist Erkenntniswahrheit eine besondere adaequatio eines seinsentdeckenden, das Subjekt transzendierenden Aktes des Erkennens, der das Sein so vernimmt und begreift, wie es ist. Deshalb müssen wir eine bloße Ähnlichkeits-Korrespondenztheorie der Erkenntniswahrheit, wie sie unter anderen Marty entwirft, für unangemessen und ungenügend halten.317 Bei Marty finden wir zwar erfreulicherweise die Idee der adaequatio als wesentlich für Erkenntniswahrheit sowie auch die Einsicht, daß das Erkennen kein einfaches modifiziertes Abbild des erkannten Wirklichen ist, es fehlt jedoch die Einsicht, daß die Erkenntnisrelation grundverschieden von jeder bloßen idealen Ähnlichkeit ist und dem besonderen rezeptiv-transzendierenden Akt des Erkennens entspricht, der das Erkannte so sieht, wie es ist und es erkennend berührt und intentional an ihm teilnimmt. Erkenntnis ist „immer wahr“, wie Sokrates im Gorgias sagt, weil sie den erkannten Gegenstand nicht anders auffaßt als er ist, sondern so, wie er ist. Je nachdem wie vollkommen und erschöpfend oder unvollständig das Seiende erkannt wird, unterscheiden wir eine unendliche Abstufung von 316

317

Vgl. zu den Meinungen von Aristoteles und Anton Marty, denen zufolge das Erkennen ein Ähnlichwerden, eine Assimilation zwischen Geist und erkanntem Gegenstand sei, Aristoteles, De anima, 418 a 2 ff.; vgl. auch Marty (U 406), sowie Barry Smith, “Brentano and Marty: An Inquiry into Being and Truth,” in: K. Mulligan (Ed.), Mind, Meaning and Metaphysics, S. 111-149, S. 134 ff. Ein Teil des einschlägigen Textes wird von Barry Smith (“Brentano and Marty: An Inquiry into Being and Truth,” zit., S. 135) so übersetzt: What really exists within us is not a peculiar, modified double of the real object, but only the real psychic process to which in certain circumstances there becomes attached as consequence an ideal similarity [emphasis mine, J.S.] with something other, existing independently of this process. (U 415 f.).

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„Graden“ und „Stufen“ der Erkenntniswahrheit, die in gewisser Weise als Stufen der „Unverborgenheit des Seins“ bezeichnet werden können. So ist das Ideal der Erkenntniswahrheit nur in jener Erkenntnis ganz erfüllt, die allem Sein schlechthin und in vollkommener Weise entspricht und „gerecht wird“. In diesem Sinn kann nur ein unendliches Erkennen die Wahrheit des Erkennens vollkommen besitzen. Menschlichem Intellekt steht das Sein ja nur begrenzt offen und für jeden endlichen Geist gilt, daß die Fülle des Seins ihm in zahlreichen Hinsichten verborgen ist. Von hier ergibt sich – bei aller von Friedländer318 aufgedeckten, etymologischen und noch mehr philosophischen Problematik von Heideggers Wahrheitsphilosophie – ein legitimes Anliegen Heideggers in der Übersetzung von Wahrheit als Unverborgenheit des Seins. In diesem Ausdruck sehen wir einen auf Erkenntniswahrheit bezogenen Sinn der ontologischen Wahrheit und, in anderem Sinne, deren Wahrheit selbst richtig bezeichnet, allerdings nur dann, wenn wir den Subjektivismus der Heidegger’schen existentialistischen Definition der Wahrheit als „Entdeckendsein des Daseins“ überwinden und die Erkenntniswahrheit als Unverborgenheit des autonomen Seins gegenüber der Erkenntnis verstehen. Damit gelangen wir zu einem weiteren Gegensatz zur Erkenntniswahrheit: Verborgenheit des Seins, seine Unerkanntheit. In der Tat ist das Sein dem menschlichen Geist in vieler Hinsicht verborgen, sodaß menschliches Erkennen der Fülle der Erkenntniswahrheit entbehrt. Doch darf daraus nicht geschlossen werden, daß die unvollständige Erkenntnis und die ihr entsprechende Verhülltheit und Verborgenheit des Seins mit Irrtum zu identifizieren sei, mit einem Verstelltsein oder einer Verfälschung des Seins. Gewiß birgt die Unvollständigkeit des Erkennens die Gefahr in sich, zu Irrtum zu führen, doch ist sie als solche in keiner Weise Irrtum. Im Gegenteil, „falsche Erkenntnis“ ist im Falle der Erkenntnis im engeren Sinn wesensunmöglich und widerspricht auch bei Erkenntnis im weiteren Sinn dem Begriff der Erkenntnis selbst. So können wir mit Platons Theaitetos und Gorgias sagen, es gäbe falsche Überzeugungen, aber keine falsche Erkenntnis. Alles Wahre der ihrem Wesen nach 318

Paul Friedländer, Platon (3 Bde.). Bd. 1: Eidos, Paideia, Dialogos. Bd. 2: Die platonischen Schriften, erste Periode. Bd. 3: Die platonischen Schriften, zweite und dritte Periode. Berlin 31964 (Bde. 1 und 2), Berlin 31975 (Bd. 3), S. 240.

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KAPITEL 2

wahren Erkenntnis im engeren Sinn, in der dem Menschen das, was ist, wie es ist, zugänglich wird, ist in der allumfassenden Erkenntniswahrheit enthalten. Wenn sich uns etwas zeigt, was wirklich der Fall ist, kann Erkenntnis zwar unendlich vertieft und modifiziert, niemals aber durch die Fülle der Erkenntniswahrheit aufgehoben werden, während sie jedem Irrtum widerspricht. In diesem Sinn ist jede Erkenntniswahrheit absolut wahr und unaufhebbar wahr, so unvollständig die betreffende Erkenntnis auch ist. Erkenne ich, daß ich existiere und frei sowie verantwortlich für mein Handeln bin, so bleibt diese Erkenntnis unaufhebbar wahr und kann niemals durch all das unendlich Viele, das ich weiter über meine Existenz und ihre Ursachen sowie über Freiheit und Verantwortung erkennen kann, aufgehoben oder ungültig gemacht werden. Gegenüber der allumfassenden Erkenntnis und der höchsten Aktualisierung der gnoseologischen Wahrheit in ihr allerdings ist die menschliche Erkenntnis – nicht durch antithetischen Gegensatz wie Irrtum und Lüge, sondern im Sinne ihrer Begrenztheit – nicht (im vollen Sinn) wahr, weil sie nicht „die Wahrheit“ realisiert. Begrenztes Wissen ist dem An sich Seienden im Sinne der Fülle und Totalität des Seins, die nur die Erkenntnis und die Wahrheit umfaßt, nicht in schrankenloser Weise angemessen, sondern nur in analogem, begrenztem Sinn. Ihre Wahrheit hat menschliche Erkenntnis also weder darin, daß sie die (Erkenntnis)Wahrheit ist, noch darin, daß sie im Irrtum verbleibt, sondern darin, daß sie in menschlicher und begrenzter, doch innerhalb ihrer Grenzen angemessener Weise dem Sein, dem was ist, entspricht. In diesem Sinn hat auch Thomas in den oben zitierten Stellen aus De veritate I i, a 10 recht, in denen er sagt, kein Ding sei im Verhältnis zum göttlichen Intellekt, der die absolute Erkenntniswahrheit verkörpert, falsch, sondern nur im Verhältnis zum menschlichen Verstand, wenn es ihn zu einer falschen Meinung über sich verführe, die einen spezifischen Gegensatz zur Erkenntniswahrheit bildet. Von solcher „Falschheit“ als Gegenbegriff zur Wahrheit des Erkennens spricht übrigens auch Kant, nämlich dort, wo er Gott, Welt und Seele einerseits als Ideen bezeichnet, die eine transzendente Geltung beanspruchen, an die wir notwendig glauben, aber andererseits diesen Glauben als einem unvermeidlichen „transzendentalen Schein“ Erliegen brandmarkt, von dem uns die kritische Philosophie zu befreien habe. Damit setzt auch Kant Irrtum

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der Erkenntniswahrheit gegenüber, wenngleich er die Erkenntniswahrheit primär in einer negativen Wendung auf ein kritisches Durchschauen (Erkennen) der täuschenden Prätentionen der Vernunft auf Erkenntnis eingrenzt. Immerhin wird hiermit der Begriff der Erkenntniswahrheit an zentraler Stelle des Kant’schen Systems vorausgesetzt.319 Dasselbe gilt für seinen Begriff der „intellektuellen Anschauung“, der sich radikal von jenem Fichtes unterscheidet und ein dem Menschen nach Kant unzugängliches Anschauen der Dinge an sich meint. Auch wenn er dieses für dem Menschen unzugänglich hält, so setzt er doch – wiederum in widersprüchlicher Weise – voraus, daß wir die Erkenntniswahrheit einer solchen intellektuellen Anschauung und deren objektives Wesen verstehen. 6.7.

Unverzichtbarer Adäquationsbegriff und A-letheia im Kontext der Erkenntniswahrheit

Um dem Phänomen der Erkenntniswahrheit gerecht zu werden, sind neue Kategorie nötig. Soweit stimmen wir auch Martin Heidegger zu, wenn er der bloßen Adäquation, d.h. der Richtigkeit, gegenüber neue Kategorien fordert. Denn die Erkenntniswahrheit ist weder bloß Korrespondenz noch bloße Adäquation. Vielmehr gründet sie im bewußten und zugleich transzendierenden Erfassen der Wirklichkeit. Dennoch widersprechen wir Heidegger: Denn wenn die Wahrheit des Erkennens keine bloße Korrespondenz ist, so ist sie erst recht nicht ein immanenter Zustand des Subjekts, ein Entdeckendsein des Daseins ohne jede Adäquatio im 319

Ich habe den folgenden Text im Auge, in dem Kant die Idee einer intellektuellen Anschauung des Noumenon erfaßt, dieser Erkenntniswahrheit zusprechen würde, aber deren Möglichkeit leugnet: Verstehen wir aber darunter ein Object einer nichtsinnlichen Anschauung, so nehmen wir eine besondere Anschauungsart an, nämlich die intellectuelle, die aber nicht die unsrige ist, von welcher wir auch die Möglichkeit nicht einsehen können, und das wäre das Noumenon in positiver Bedeutung.

Vgl. auch Johann Gottlieb Fichte, Die Thatsachen des Bewußtseins (1813). Bei Fichte bleibt es aber dubios, was eigentlich in seiner ganz von Kant bestimmten Philosophie intellektuelle Anschauung bedeuten kann. Letztlich bedeutet sie nur die Erkenntnis des Ich und seiner Setzungen, nicht eines an sich wirklichen Ich, sondern eines sich selber setzenden Ich; vgl. Johann Gottlieb Fichte, Über das Verhältnis der Logik zur Philosophie und transcendentalen Logik (1812).

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KAPITEL 2

Verhältnis zur Wirklichkeit. Schon das Wort ‚Entdeckendsein‘, das Heidegger gebraucht, beweist dies und widerspricht seinem Versuch, das Entdeckendsein ganz losgelöst von jeder Idee der Adäquation zu denken, obwohl er gerade dies versucht.320 Denn Entdecken ist immer ein ‚etwas Entdecken‘, nicht ein Zustand des Entdeckens als solcher. Auch verlangt das Entdecken im eigentlichen Sinn immer eine gewisse Autonomie des entdeckten Gegenstands, seine Transzendenz gegenüber unserem Erkenntnisakt. Die Wahrheit des Erkennens ist also jenes Verhältnis des Erkennens zum Erkannten, in dem dieses jenem offensteht und sich so erschließt, wie es ist, wie es wirklich erscheint oder scheint, oder wie es an sich selbst ist. Erkenntniswahrheit schließt ferner nicht bloß potentielle Geöffnetheit, sondern tatsächliche Offenheit des Seins gegenüber dem Geist ein. 7. Einige Resultate der Untersuchungen über Erkenntniswahrheit Unsere allgemeinen Überlegungen über Erkenntniswahrheit fassen wir so zusammen: Man darf von einer Wahrheit des Erkennens sprechen. Mit der dem Erkennen zukommenden Wahrheit ist gemeint, daß das Erkennen vom Sein geformt ist: daß es mit dem Sein in Einklang steht, ja darüber hinaus, daß es dieses erkennend berührt, was bei weitem mehr als eine bloße Ähnlichkeit und ganz verschieden von einer solchen ist.321 Die 320

321

Martin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, zit.; ders., Vom Wesen der Wahrheit (Frankfurt: Klostermann, 51967). Darauf, daß dies unhaltbar ist und daß bei Platon aletheia beides ist: Unverborgenheit des Sein und Richtigkeit, hat Paul Friedländer hingewiesen in seinem Platon, cit., S. 240. Thomas erkennt diese Art der Wahrheit des Erkenntnisaktes selbst durchaus an, spricht aber etwas irreführenderweise von einer Ähnlichkeit zwischen Erkenntnis und Erkanntem. Vgl. Thomas von Aquin, De substantiis separatis, Kap. 16. Dabei denkt Thomas allerdings nicht an eine einfach Ähnlichkeit, wie sie etwa zwischen zwei Steinen und deren Formen besteht, sondern vielmehr an eine ganz verschiedenartige Entsprechung zwischen der Form im Ding (in unserem Falle im materiellen Ding) und der Form im Sinne einer “species intelligibilis”, einer intelligiblen und geistigen Form, die der Geist aus dem erkannten Ding abstrahiert hat: vgl. Thomas von Aquin, De substantiis separatis, cap. 16. Während dabei die Menschen nach Thomas die intelligiblen Formen aus den Sinnesdingen abstra-

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Erkenntniswahrheit ist eine einzigartige adaequatio des Intellekts, des erkennenden Geistes, an die Wirklichkeit. Erkenntniswahrheit ist nicht dem logischen Urteilsgebilde als solchem eigen, sondern vielmehr dem erkennenden Akt selbst. 7.1. Erkenntniswahrheit als Wahrheit in einem einzigartigen Sinn

Dem Erkennen können wir Wahrheit in einem Sinn zuschreiben, der unzertrennlich von seiner Rezeptivität und Transzendenz ist. Daher ist Erkenntniswahrheit Wahrheit in einem einzigartigen Sinne, der ganz sui generis ist. Diese Erkenntniswahrheit ist eine adaequatio, weil sie eine besondere Form von Adäquationsbeziehung zwischen Erkenntnisvermögen und Sein (res) einschließt. Angesichts des empfangenden Charakters der Erkenntnis kann deren Verhältnis zum erkannten Gegenstand als eine adaequatio intellectus ad rem beschrieben werden; wo res jeden Gegenstand bedeutet, der erkannt wird, und intellectus den Intellekt (Erkenntnisakt) und deren personales Subjekt bedeutet. Aber im Gegensatz zur im „ad rem“ suggerierten Richtung vom Subjekt zum Objekt liegt im Erkennen jene umgekehrte Richtung, in der sich die Sache dem Geist zeigt und erschließt. 7.2. Die Besonderheit der Erkenntniswahrheit im Licht der ‚rezeptiven Transzendenz‘ des Erkennens

Kraft der rezeptiven Transzendenz des Erkennens findet sich im Erkennen eine Wahrheit sui generis: nicht diejenige des Porträts, des Bildes, der Widerspiegelung, usw. Es ist zunächst die Wahrheit, die nur einem bewußten Akt kraft der besonderen Transzendenz seiner Intentionalität zukommen kann. Ja eine gewisse Transzendenz, die auch in der Erkenntniswahrheit als solcher per eminentiam liegt, ist schon in der Intentionalität vieler bewußter Akte und Erlebnisse enthalten. Diese enthalten etwas jenseits ihrer selbst, gehen über sich und die Immanenz hieren, erkennen sie die höheren Geister, die Engel, wenigstens deren höhere Chöre, entweder im Sinne Platons aus den Ideen (den ewigen Formen) oder aus Gott, während die species intelligibilis in Gott sein eigenes Wesen sei, aus dem er alles erkenne (Ibid., Kap. 16).

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KAPITEL 2

bloßer Bewußtseinsinhalte hinaus. Erkenntniswahrheit als solche aber geht kraft der rezeptiven Transzendenz des Erkennens, die ein wesensnotwendiges Merkmal allen Erkennens und in einem neuen inneren Sinn des Erkennens im engeren Sinn ist, weit über die Vorform der Transzendenz in der Intentionalität selbst hinaus, die ja selbst dem größten Irrtum eigen ist. Diese nur dem Erkenntnisakt eigene Wahrheit kann nur verstanden werden, wenn das wirkliche erkennende Transzendieren und das rezeptive intentionale Verhältnis zwischen Erkenntnisvermögen und Gegenstand verstanden wird. Aletheia als Erkenntniswahrheit ist mehr als ein Entdeckendsein des Subjekts, sie ist ein Verhältnis zwischen der entdeckenden erkennenden Aktivität des Subjekts und dem Gegenstand bzw. dem, wie die Dinge wirklich sind; das Sein tritt kraft dieser Wahrheit des Erkennens aus seiner anfänglichen Verborgenheit heraus. Erkenntniswahrheit ist eine Eigenschaft des Erkennens, die diesem infolge ihres eigenartigen Verhältnisses zu ihrem Gegenstand zukommt, der ontologisch – oder zumindest insofern er oder etwas über ihn erkannt wird – unabhängig von dem Akt des Erkennens ist. Erkenntnis ist wahr, wenn sie erfaßt, daß ihr Gegenstand ist oder was und wie er ist, oder daß etwas nicht ist oder anders ist als von jemandem vermeint, usf. 7.3. Differenzierung der Erkenntniswahrheit je nach den Arten und Stufen des Erkennens

Diese Erkenntniswahrheit gehört den diversen Ebenen und Arten der Erkenntnis auf verschiedene Weise zu: dem Erkennen im engeren Sinn (wie es an der Wurzel allen Erkennens in Sinneswahrnehmung, Gegenstandserkenntnis und Sachverhaltserkenntnis) liegt, gehört Wahrheit per se, und kraft ihres Wesens zu (wesenhaft und von Natur aus, wie wir auch sagen können). Der Akt des Erkennens im engeren Sinne kann nicht irren oder falsch sein. Zum Erkennen im weiteren Sinn gehört Wahrheit per accidens und gleichsam von außen. Innerhalb beider können wir in verschiedenen Richtungen weitere Dimensionen von Erkenntniswahrheit und ganz verschiedene Gesichtspunkte unterscheiden, unter denen Erkenntnis wahr genannt werden kann:

Wahrheit des Erkennens

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je nach ihrer Vollständigkeit, Klarheit, Deutlichkeit, Differenziertheit, Tiefe, usf. Im Unterschied zur Wahrheit des Urteils, zumindest des einzelnen Urteils,322 der wir uns im folgenden zuwenden möchten, besitzt die Erkenntniswahrheit unendlich viele Stufen und Grade der Vollkommenheit. Es ist in der Tat der Erkenntnisakt selbst, der in verschiedenen Hinsichten und Richtungen, aber auch in ganz verschiedenen Graden und Vollkommenheitsstufen, wahr sein kann – in dem Maße, in dem: a. das erkannte Sein Autonomie besitzt; b) der Gegenstand der Erkenntnis intelligibel (verstehbar) ist; c) ihr Gegenstand Wert besitzt; c) die Erkenntnis Evidenz besitzt; b) durch Klarheit ausgezeichnet ist; c) Vollständigkeit erreicht; d) tief in ihren Gegenstand eindringt, sei es in rein intellektueller Hinsicht, sei es in einer von moralischen Haltungen abhängigen Weise ethischer und anderer Werterkenntnis; e) ihren Gegenstand unmittelbar zu erkennen vermag. So darf und muß dem Erkennen in seiner Entsprechung zur Wirklichkeit und zu allen bestehenden Sachverhalten Wahrheit in einem ganz eigenständigen und bedeutsamen sowie differenzierten Sinn zugesprochen werden. Dabei hängt es von der Art der erkennenden Teilnahme und von der ontologischen Struktur und Seinsautonomie des Erkannten ab, in welchem Maße wir von Erkenntniswahrheit sprechen dürfen. 8. Die absolute Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit In allen genannten Hinsichten sind unendliche Dimensionen höherer und niedrigerer Vollkommenheiten der Erkenntnis und damit auch ihrer Wahrheit möglich – bis hin zur unendlichen Erkenntniswahrheit selber. Im Licht ihres absoluten Ideals (der Gewißheit, Vollständigkeit, 322

Innerhalb der Gesamtheit und Ordnung der Urteile finden wir analoge Abstufungen wie innerhalb der Erkenntniswahrheit.

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KAPITEL 2

Klarheit, Tiefe, Unmittelbarkeit) wird auch klar, daß menschliche Erkenntnis, obwohl die Erkenntnis im engeren Sinne immer wahr und absolut ist, wie Platon sagt, nur in einem endlichen und begrenzten Ausmaß Erkenntniswahrheit erlangen kann. Menschliche Erkenntnis kann niemals die volle, unendliche Fülle der Erkenntniswahrheit in dem Sinne eines vollkommenen und alles bis ins letzte durchdringenden unmittelbaren Begreifens aller Dinge, wie sie in sich sind, also die „absolute Wahrheit“ in dem neuen Sinn als vollkommene Erkenntniswahrheit über das Ganze allen Seins in seiner Fülle und Tiefe, besitzen, auch wenn wir das Wesen dieses absoluten Ideals der Erkenntniswahrheit als Richtmaß und Ideal als solches verstehen können und in ihm allein die volle, umfassende und absolut vollkommene Erkenntniswahrheit erblicken dürfen, eine wichtige Einsicht, auf die wir ausführlich in den letzten beiden Kapiteln zurückkommen werden.

KAPITEL 3 DIE LOGISCHE WAHRHEIT ODER URTEILSWAHRHEIT – ZUM WESEN DER LOGIK, DER WAHRHEIT SOWIE DER ROLLE UND MODIFIKATION VON WAHRHEITSANSPRÜCHEN IN DEN VERSCHIEDENEN ARTEN VON URTEILEN, SCHLÜSSEN UND BEWEISEN Wenn wir auch Begriffe als solche, vor allem insofern sich ihre jeweilige Bedeutung durch Definitionen bestimmen läßt, sowie diese Definitionen selbst als wahr oder falsch, als adäquat oder inadäquat bezeichnen können, so sind es doch vor allem Urteile, denen Wahrheit oder Falschheit im strikten logischen Sinne zukommt. Die Rede von ‚logischer Wahrheit‘ kann noch auf Verschiedenes hinweisen. Man kann damit erstens die Wahrheit jener Urteile meinen, die, bei vorausgesetzter Nichtwidersprüchlichkeit ihrer Subjekt- und Prädikatbegriffe, aus rein logischen Gründen ihrer Form wahr sein müssen, z.B. tautologische oder analytische Urteile. Deren Wahrheit folgt aus den allgemeinsten logischen Prinzipien (den logischen Grundsätzen der Identität, des Widerspruchs, des ausgeschlossenen Dritten und des zureichenden Grundes), der logischen Form des Urteils (etwa einem Urteil der vollständigen Identifikation des Prädikats mit dem Subjekt) plus der Bedeutungsrelation zwischen Subjekt- und Prädikatsbegriff, z.B. der völligen Identität des Subjektsbegriffs und Prädikatsbegriffs, wie im Falle des Urteils „Jeder Greis ist ein alter Mann“.323 Zweitens kann man unter ‚logischer Wahrheit‘ synthetische und notwendig wahre Urteile über logische Gegebenheiten und Gesetze, also den Inhalt der Wissenschaft der Logik, meinen. Drittens aber kann der Ausdruck ‚logische Wahrheit‘ einfach auf die Wahrheit jener logischen Entitäten, die aus Begriffen bestehen und die wir Urteile nennen, abzielen. Logische Wahrheit in diesem Sinne ist einfach Urteilswahrheit. Sie heißt ‚logisch‘ nicht weil sie die inhaltliche Wahrheit über Begriffe, Urteile, und andere Gegenstände der Logik wäre oder nur 323

Vgl. zu den vielen Möglichkeiten nicht-informativer Sätze außer den analytischen im Sinne Kants Fritz Wenisch, “Insight and Objective Necessity – A Demonstration of the Existence of Propositions Which Are Simultaneously Informative and Necessarily True?”, S. 107-197.

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KAPITEL 3

die allgemeinen und formalen Elemente und Voraussetzungen der Wahrheit, oder auch alle kraft ihrer reinen Form wahren Urteile umfaßte, sondern sie kommt allen wahren Urteilen auf allen Gebieten im Verhältnis zu ihren Gegenständen zu. Logische Wahrheit heißt die Urteilswahrheit nur weil ihr Träger, das Urteil, kein personaler Akt wie die Erkenntnis oder der Akt des Urteilens ist, sondern das eigentümliche logische Gebilde, das wir Urteil nennen und das aus Begriffen gebildet wird. Nach dem Wesen dieser Wahrheit, die dem wahren Urteil als einem objektiven logischen Gebilde zukommt, fragen wir in diesem Kapitel und möchten versuchen, die unreduzierbare Eigenart dieser Wahrheit klar als solche ins Auge zu fassen. Eine phänomenologische Untersuchung zu einer rein philosophischen Logik der Urteilswahrheit soll im folgenden vor allem in drei Richtungen entwickelt werden: Erstens soll kurz das Wesen der Logik überhaupt und ihres Gegenstands erörtert werden, um die Art von logischer philosophischer Forschung, um die es in diesem Kapitel geht, recht verstehen und einordnen zu können. Zweitens möchten wir eine rigorose, wenn auch nur umrißhafte, phänomenologische Philosophie und Analyse des Urteils, seiner Bestandteile und seiner Arten, sowie der Urteilswahrheit durchführen. Eine solche Untersuchung soll das logische Urteil klar von Akten des Urteilens, von Sätzen und von anderen Phänomenen abgrenzen, mit denen es leicht verwechselt werden könnte. Dabei bauen wir auf den exemplarischen phänomenologischen Forschungen auf, wie sie Edmund Husserl, Adolf Reinach, Alexander Pfänder, Hedwig Conrad Martius, und Roman Ingarden entwickelt haben.324 Drittens werden wir den Einfluß der verschiedenen Modalitäten, Quantitäten, Qualitäten und Relationen des Urteils auf die Natur und Funktionen der Kopula und der Subjekts- und Prädikatsbegriffe, sowie auf die jeweilige Form des Wahrheitsanspruchs des Urteils erforschen. Das Urteil kann ja seiner Quantität, Qualität, Modalität und Relation nach von sehr 324

Vgl. insbesondere Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, S. 95-140; Alexander Pfänder, (Mariano Crespo, Hg.), Logik4; Hedwig Conrad-Martius, Das Sein (München: Kösel, 1957); Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk, wo Ingarden die wichtige Unterscheidung zwischen Urteil und quasi-Urteil macht und überhaupt viele wichtige Beiträge zur phänomenologischen Urteilstheorie macht.

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verschiedener Art sein und diese Unterschiede haben bestimmte Auswirkungen auf die Art und Problematik der Wahrheitsansprüche des Urteils. Dabei wird unser besonderes Augenmerk den Problemen der Modalität und den Fundamenten der modalen Logik gelten.325 Der Interessensschwerpunkt dieses Kapitels aber ist und bleibt die Frage nach dem Wesen des Urteils und seiner Wahrheit als solcher, da wir im gegebenen Rahmen nicht alle Aspekte einer am Prinzip der Rückkehr zu den Sachen selbst orientierten logischen Lehre vom Urteil gleichermaßen ausführlich behandeln können. Zur Realisierung der Zwecke unserer Untersuchung werden wir zunächst die schlichte Frage betrachten, was denn die Urteilswahrheit, und damit was Wahrheit und Falschheit in jenem Sinne sei, der im täglichen Leben auf Schritt und Tritt vorausgesetzt wird, wenn man von der Wahrheit und Falschheit von Aussagen redet. Was also ist das, die Wahrheit des Urteils? 1.

Das Problem der Urteilswahrheit als Gegenstand einer rein philosophischen Logik – Eine mathematisierend-symbolische Logik als außerphilosophische Disziplin, die bedeutende Fortschritte erzielt hat, aber unter zwei Bedingungen als philosophischer Rückschritt wissenschaftlicher Logik zu erachten ist

Die Wahrheit des Urteils ist für die Logik von höchstem Interesse. Es ist dieser Sinn von Wahrheit, der in all den Wahrheits- und Falschheitstafeln der modernen symbolisch-formalen Logik gemeint bzw. vorausgesetzt wird, wenn auch, wie gezeigt werden soll, innerhalb der modernen 325

In alledem soll der Modus der rein historischen Darstellung einem Modus des Symphilosophierens mit Pfänder und anderen phänomenologischen Logikern weichen. Die modale Logik existiert schon im corpus des aristotelischen Organon (vor allem in der Ersten Analytik und in den letzten Kapiteln der Hermeneutik) in einem beträchtlichen Umfang. In die moderne Logik wurde die modale Logik vor allem durch Hugh Mac Coll, Symbolic Logic and Its Applications und C. J. Lewis, A Survey of Symbolic Logic begründet. Eine Einführung der modernen modalen Logik durch die Verbindung zwischen dem Logikkalkül und der Phänomenologie stellt das Werk Beckers dar: Oskar Becker, „Zur Logik der Modalitäten“.

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KAPITEL 3

symbolischen Logik und ihrer Formalistik in der Benutzung von Wahrheits- und Falschheitstafeln und anderen symbolischen Hilfsmitteln häufig ein Ausfall jeden philosophischen Sachkontakts mit dem Phänomen der Wahrheit vorliegt, wie es Goethe vom Philosophen verlangt und bewundernswert geschildert hat: Er soll sich eine Methode bilden, die dem Anschauen gemäß ist; er soll sich hüten, das Anschauen in Begriffe, den Begriff in Worte zu verwandeln, und mit diesen Worten, als wären’s Gegenstände, umzugehen und zu verfahren ... 326

Genau in jene von Goethe angesprochene Gefahr sind viele Logiker gefallen, die in völligem Vergessen des Gegenstands, um den es der Philosophie geht, mit Symbolen und Wahrheitstafeln hantieren, als wären diese die Dinge, die logischen Gegebenheiten selber. Wie wir innerhalb unserer Erörterung Tarskis und der semantischen Wahrheitstheorie in zweiten Band des vorliegenden Werkes sehen werden, führt gerade jene formalistische Art der Verwendung von Wahrheits- und Falschheitstafeln in der Bestimmung der logischen symbolischen Konstanten und Konnektive, auf die die moderne Logik stolz als auf eine ihrer größten Errungenschaften, blickt, zu einer gewissen Veränderung und zumindest Verdunkelung des logisch relevanten Wahrheitsbegriffs, so daß oft nicht einmal irgendein eigentlich philosophischer Begriff der Wahrheit vorausgesetzt, sondern mit einem reinen Formalismus operiert wird, dem – die radikal verschieden beantwortbare und zentrale – philosophische Frage der Logik 326

Zur Farbenlehre. Didaktischer Theil. Der Farbenlehre. polemischer Theil. Geschichte der Farbenlehre. Nachträge zur Farbenlehre. Johann Wolfgang von Goethe, Sämmtliche Werke in 40 Bänden (Stuttgart and Tübingen: J.G. Cotta’scher Verlag, 1840), vls 37-40., V. Abtheilung, Nr. 716, 720, Bd. 37, S. 232233. Vgl. auch Hans Leisegang, Goethes Denken (Leipzig: Felix Meiner, 1932), S. 157-159; 168 f. Vgl. auch die Stelle: Ein einfaches Urphänomen aufzunehmen, es in seiner hohen Bedeutung zu erkennen und damit zu wirken, erfordert einen produktiven Geist, der vieles zu übersehen vermag, und ist eine seltene Gabe, die sich nur bei ganz vorzüglichen Naturen findet.

Johann Wolfgang von Goethe, Goethes Gespräche mit Eckermann (Leibzig: InselVerlag, 1921), S. 639. Vgl. auch ebd., S. 432, 514, 567, 591.

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nach dem Wesen der Wahrheit ganz gleichgültig geworden ist. Eine derartige Abstraktion vom Datum der Urteilswahrheit führt dann dazu, daß so entscheidende Unterschiede wie der zwischen Satz und Urteil, Urteilsakt und Urteil(sinhalt), oder zwischen ‚P ist wahr‘ und ‚P kann wahr sein‘ in (echter philosophischer Grundlagen baren) Systemen symbolischer Logik nicht nur nicht erörtert und beantwortet, sondern auch auf Grund von philosophiefremden Operationen mit Symbolen und Formeln gar nicht mehr gestellt werden. Eine symbolische Logik ohne sorgfältige und rein philosophische Grundlagenforschung führt aber in der Logik zu großen Lücken und einem Mangel an Präzision, unter dem nicht zuletzt auch ihre Anwendung auf konkrete Probleme leiden wird. Insbesondere wenn logische Systeme jener Grundfrage der Philosophie danach, was die Wahrheit des Urteils eigentlich ist, ausweicht, wird nicht nur die rein philosophische logische Forschung einen empfindlichen Rückschritt erleiden, sondern auch ihre Anwendung an Angemessenheit und Nützlichkeit verlieren. Gerade diesen in der heutigen logischen Diskussion oft aus dem Blick verschwindenden Fragen gelten die folgenden Überlegungen. Dabei werden wir uns auch der Frage nach jenen Abwandlungen zuwenden, welche die Wahrheit, die Wahrheitsansprüche und die Rechtfertigungserfordernisse derselben je nach den Unterschieden zwischen Urteilen ihrer Qualität, Quantität, logischen Modalitäten und Relation nach erfahren. Dabei werden wir sehen, wie sowohl die Natur verschiedener Arten von Allgemeinurteilen und von Modalitäten sehr zum Nachteil der Logik vermengt werden. Abschließend werden wir kurz die Urteilswahrheit und die ganz verschiedene Frage der Gültigkeit von Schlüssen, sowie Schluß und Beweis in ihrem Verhältnis zu Wahrheit und Wahrheitsansprüchen von Urteilen untersuchen. Durch diese im vorliegenden Buch nur in allgemeinen Zügen durchgeführten Unterscheidungen hoffen wir, das Wesen der Urteilswahrheit besser verdeutlichen zu können. Um die Eigenart der Urteilswahrheit zu erforschen, müssen und wollen wir als erstes die Natur des Urteils bzw. des Satzes in seinem logischen Sinne untersuchen, uns aber zuvor der Frage zuwenden, in welchem Sinne diese Frage ein Problem der Logik ist. Um nämlich angemessen bestimmen zu können, was logische Wahrheit im Sinne von Urteilswahrheit ist, müssen wir zuerst erkennen, was die Logik überhaupt ist und

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KAPITEL 3

welchen Gegenstand sie untersucht. Man rühmt heute so oft und so allgemein die gewaltigen Fortschritte, die die Logik – von der noch Kant glaubte, daß sie sich niemals wesentlich über das Niveau der aristotelischen Logik erheben könne und die er im wesentlichen für abgeschlossen und vollendet hielt327 – im eben verflossenen Jahrhundert, vor allem seit Boole, Russell-Whitehead und Frege, gemacht habe, daß wir wenigstens kurz unsere von der herrschenden Meinung über die Geschichte der Logik stark abweichende Auffassung darlegen und begründen müssen. Dabei verkennen wir keineswegs die offensichtlichen und bedeutenden Errungenschaften der modernen logischen Theorien und Systeme. Zu den klassischen Teilen der Logik, ihrer Urteils- und Begriffslehre, sowie ihrer Lehre von den unmittelbaren und mittelbaren Schlüssen (Syllogistik), ist im 19. und 20. Jahrhundert viel ergänzt und sind überdies eine lange Reihe ganzer Gebiete der Logik teilweise oder vollständig neu hinzugefügt worden. In der modernen Logik wurden die sogenannten logischen Konstanten wie ‹nicht›, ‹und›, ‹oder›, ‹wenn›, ‹genau dann, wenn›, ‹alle›, ‹einige›, ‹kein›, ‹ist Element von›, ‹ist identisch mit› viel ausführlicher bestimmt und unterschieden als zuvor. Das klassische Fundament der Logik der Schlüsse, die Aussagenlogik, wurde weiter entwickelt. Viele logische Wahrheiten sowie eine große Anzahl von alternativen Systemen, die aber umfangsmäßig mit den Systemen der klassischen Aussagenlogik zusammenfallen, wurden neu erforscht, usw. Die zentrale Theorie der modernen Logik aber ist die Prädikatenlogik und die Quantifikationstheorie. Sie hat Mittel symbolischer Zeichensprachen entwickelt, mit deren Hilfe Urteile und Argumente innerhalb der Mathematik und der Naturwissenschaften (Physik, Chemie, usw.) sowie viele Argumente aus dem Alltagsleben exakt formuliert und analysiert werden können. Ihr Gebiet umfaßt Urteile und Argumente, denen die klassische Theorie der Aussagenverbindungen und der sogenannten Quantität des Urteils (‹alle›, ‹einige›, ‹kein›, ‚einige nicht‘) gegolten hat. Das entscheidend Neue der modernen Logik aber ist ihre formale Sprache und die Entwicklung eines umfassenden symbolischen und quasimathe-

327

Vgl. Immanuel Kant, Logik (1800), IX20-21.

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matischen Systems der mathematischen Logik im weiteren Sinne,328 bzw. der Logistik. Es ist unbestreitbar, daß die Logik als eine reine Formalwissenschaft, die der Mathematik verwandt ist, eine gewaltige Ausdehnung erfahren und revolutionäre Entwicklungen durchlaufen hat.329 Aber da es der Stolz dieser neuen symbolischen Logik ist, wie etwa I. Copi bemerkt, von allen inhaltlichen philosophischen Positionen frei zu sein und z.B. nicht zu entscheiden, ob die logischen Gesetze psychologische oder konventionelle Regeln der Zeichenmanipulation sind, kann man von ihr auch nicht den mindesten Aufschluß über die grundlegendsten philosophischen Frage der Logik erwarten, die gerade solche Fragen sind wie die hier ausgeschlossenen. Selbstredend kann man aus der Tatsache, daß einzelne Logiker wie Copi symbolische Logik von einem philosophisch neutralen Gesichtspunkt aus betreiben und den wissenschaftlichen Vorzug der symbolischen formalen Logik gerade darin sehen, daß sich dieses Jenseits aller divergierenden philosophischen Positionen Stehen von ihrer Natur her nahelegt,330 nicht schließen, daß ihr Standpunkt derjenige aller symbolischen Logiker wäre. Doch beweist die Tatsache, daß dieselbe symbolische Logik weltweit von Logikern völlig verschiedener inhaltlicher philosophischer Standpunkte betrieben werden kann, daß es sich bei ihr – zumindest in dem Maß, in dem diese moderne Logik als dieselbe von inhaltlich ganz verschiedenen philosophischen Positionen aus gebraucht wird, oder in dem Maß, in dem dies auch nur möglich ist – keine Philosophie ist (ebensowenig wie die Mathematik als solche). Denn für die philosophische Logik sind gerade jene Fragen entscheidend wie was das Wesen des Urteils ist, ob Wahrheit Sätzen oder Begriffen zukommt, ob sie in einer adaequatio oder im 328

329 330

Im weiteren Sinn kann man die moderne, rein symbolisch operierende Logik „mathematische Logik“ nennen. Der engere Sinn dieses Terminus würde nur jenen Teil der Logik meinen, der für die Mathematik relevant ist und der noch spezifische mathematische Anwendungen und Teilgebiete der Logik umfaßt, wie etwa die sogenannte ‚mathematische Induktion‘. Vgl. J. M. Bochenski, Formale Logik (Freiburg/München: K. Alber, 1996). So schreibt Irving M. Copi in Symbolic Logic: “Controversial philosophical questions are not allowed to intrude. The entire book is written from what is sincerely intended to be a philosophically neutral point of view.”

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KAPITEL 3

Konsens besteht, was Wesen und Gültigkeit der Schlußgesetze sind usf., von denen die symbolische Logik ebenso wie die Mathematik abstrahieren kann. Nun ist ein solcher Ablösungsprozeß der Logik von der Philosophie, der mathematischen Logik von der philosophischen Logik, vielleicht voll berechtigt und sogar notwendig, wie sich ja auch unbestrittenerweise die Mathematik von der Philosophie der Geraden, der Punkte, Kreise oder Zahlen erst allmählich und mit vollem Recht emanzipiert hat. Allerdings hat weder die Philosophie der Mathematik noch die philosophische Logik durch diese Loslösung irgendeinen Fortschritt erzielt, denn die Philosophie der Mathematik ist eine ganz andere Disziplin als die Mathematik; sie stellt ganz andere Fragen als die Mathematik und fragt z.B. danach, was denn das eigentlich ist, eine Zahl, ein geometrisches Gesetz, usf. bzw. sie sucht eine andere, auf das Wesen dieser Phänomene abzielende Antwort als der Mathematiker – selbst dann, wenn dieser gleichlautende Fragen stellt.331 Bei dem Ablösungsprozeß der Logik von der Philosophie liegen die Sachen ähnlich, aber noch komplizierter, wurde doch die Logik im Gegensatz zur Mathematik ja immer selber für einen wichtigen Teil der Philosophie gehalten, und dies selbstredend mit Recht. Denn Fragen wie die nach dem Wesen und den Arten von Begriffen, nach Urteilen, deren grundsätzlichen Variationsmöglichkeiten und Arten, ihren Wahrheitsansprüchen, ihrer Wahrheit oder Falschheit, nach dem Wesen logischer Gesetze, ihrer Evidenz und ihren Inhalten etc. sind echt philosophische und grundlegende Fragen. Es gibt also eine philosophische Logik, einen Teil der Philosophie, der selbst Logik heißt und den keine andere Disziplin außer der Philosophie bewältigen kann und der auch nicht Philosophie über die Logik, die eine andere Wissenschaft wäre, sondern selbst Logik ist. Daher darf man nicht behaupten, die Logik selbst, das sei bloß jene Formalwissenschaft, die der Mathematik ähnlich sei, und daneben stehe die Philosophie der Logik, ähnlich wie die Philosophie der Mathematik sich von der Mathematik selbst unterscheide. Denn gerade die philosophische Erforschung des 331

Dies hat mit beeindruckender Klarheit Adolf Reinach in „Über Phänomenologie“, in: Adolf Reinach, Sämtliche Werke, Bd. I, ebd., S. 531-550 gezeigt.

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Wesens von Gebilden wie Urteilen, Schlüssen etc. selbst wird und wurde seit Aristoteles Logik genannt und verdient diesen Titel als die Erforschung objektiver Gedanken, sowohl einfacher Bedeutungen wie der Arten von Begriffen, als auch zusammengesetzter wie der Urteile und Argumente, Schlüsse, Beweise, Fragen, etc. Mit vollem Recht kann man gerade jenen Teil der Philosophie, der sich mit diesen Gebilden beschäftigt, Logik nennen. Dabei sollte eines klar sein: Die Entwicklung noch so komplizierter und treffender Systeme symbolischer logischer Prinzipien und Gesetze als solche trägt nichts zu den Lösungen dieser philosophischen Logik bei, sondern bedarf ihrer. Im Licht dieser Ergebnisse ziehe ich es terminologisch vor, von einer philosophischen Logik gegenüber einer mathematischen oder präziser mathematisierenden Logik332 zu sprechen, anstatt eine Philosophie der Logik – analog zu einer Philosophie der Mathematik – der Logik selbst gegenüberzustellen. Eine solche Terminologie zu gebrauchen, die zwischen philosophischer Logik und Philosophie der Logik unterscheidet, ist um so sachdienlicher als es auch eine Philosophie der Logik gibt – und auch das in einem doppelten Sinne. Entweder meint man mit einer Philosophie der Logik eine Metareflexion über die Aufgaben und Erkenntnisweisen der Logik, über ihre Stellung im Ganzen der Wissenschaften, usf. Und dann unterscheidet sich eine solche Philosophie der Logik auch von der klassischen philosophischen Logik selbst und kann sich auf sie beziehen. Oder aber man meint jenen Teil der philosophischen Reflexion über Logik, der gerade nicht die philosophische Logik als solche zum Gegenstand hat, sondern die Logistik (mathematisierende Logik), die Bedeutung und Gültigkeit der in ihr verwendeten Symbole, Gesetze usf. Philosophie der Logik in diesem Sinne ist eine wichtige Aufgabe, ähnlich der einer Philosophie der Mathematik, die uns aber in diesem Buch nicht beschäftigen soll und die selbstverständlich auch primär auf einer philosophischen Logik aufbauen muß. Diese beiden Arten einer Philosophie der Logik unterscheiden sich jedoch von einer philosophischen Logik oder können höchstens als eigenständige Gebiete derselben betrachtet werden, da die 332

Diese Unterscheidung bedeutet, daß die hier gemeinte Logik weder etwa selbst Mathematik ist noch nur einen Teil der logischen Gesetze, nämlich die Logik der Mathematik, zum Gegenstand hätte, sondern eine der Mathematik ähnliche, aber allgemeinere formale Wissenschaft ist.

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KAPITEL 3

philosophische Logik sich hauptsächlich der philosophischen Aufklärung logischer Gegebenheiten und Gesetze selber widmet. Auch über die elementare, wenn auch nicht einfache Frage, was Wahrheit im Sinne der Logik, also Wahrheit des Urteils, und was deren Träger ist, kann selbstverständlich eine Logik, deren Stolz es ist, von solchen Fragen wie der nach dem Wesen des Urteils und der Wahrheit abzusehen, keinerlei Auskunft geben. Ja mit diesem Absehen von den entscheidenden philosophischen Fragen nach dem Wesen und der Natur der logischen Entitäten und der logischen Gesetze hört diese Logik einfach auf, Philosophie zu sein und wird zu einer ganz von der Philosophie verschiedenen Wissenschaft wie die Mathematik dies längst geworden ist. Manchmal wird sie auch zur Antiphilosophie, die in einem hoffnungslosen Reduktionismus versucht, logische Bedeutungen, Urteile, Wahrheit etc. in rein mechanistischer oder ausschließlich sprachanalytischer Weise zu erklären.333 Wir haben auf die gewaltigen Fortschritte der mathematischen oder mathematisierenden Logik seit Boole, Russell-Whitehead, Frege und anderen hingewiesen. In zwei häufig eintretenden Fällen allerdings, so meine ich, liegt in den im 20. Jahrhundert entwickelten beeindruckenden Systemen modaler Logik, Aussage- und Prädikatenlogik usf., denen wir unsere Bewunderung noch weniger versagen als z.B. den Entwicklungen der Schachtheorie oder gar als jenen der modernen Mathematik, kein philosophischer Fortschritt, sondern eher ein Rückschritt: (1) Erstens dann, wenn man meint, diese mathematisierende Logik könne die philosophische Logik ersetzen oder habe sie gar längst abgelöst. In Wirklichkeit hat jedoch die mathematisch-formalisierte Logik nicht nur die philosophische nicht ersetzt, sondern trägt auch als solche nicht einmal das Geringste zu den Lösungen der philosophischen logischen Probleme bei – es sei denn, daß sie mit philosophischen Forschungen Hand in Hand geht, diese inspiriert oder aus ihnen entspringt – sondern macht die Aufgaben und Lösungen einer rein philosophischen Logik nur um so dringlicher und stellt neue philosophische Probleme, die sie ebensowenig beantworten kann wie die Mathematik die philosophischen Probleme der Mathematik zu beantworten vermag. Oder ist es nicht evident, daß die 333

Ein Beispiel dafür ist R. J. Melson, The Logic of Mind (Boston: Reidel, 1982).

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Mathematik als solche weder jene Fragen beantworten kann, die das Wesen mathematischer Entitäten wie der Zahlen, der arithmetischen Grundoperationen, des Objekts der euklidischen und nicht-euklidischen Geometrien, noch jene, die die Gültigkeit der Erkenntnisweisen und Methoden der Mathematik selbst betreffen? Denn die Beantwortung dieser Fragen erfordert philosophische Fragestellungen und Methoden, die sich von jenen der Mathematik ganz unterscheiden. Wenn also die mathematisierende Logik sich vermessen wollte, die philosophische Logik zu ersetzen oder überflüssig gemacht zu haben, dann stellt ihre Entwicklung als Substitut der Philosophie einen geistesgeschichtlichen Rückschritt dar, im Verhältnis zu dem die antiken und mittelalterlichen Logiker, die fast alle zugleich philosophische Logiker waren, in philosophischer Hinsicht unvergleichlich überlegen sind.334 (2) Zweitens ist die große Entwicklung der modernen Logik dann keinerlei Fortschritt philosophischer Logik, sondern vielmehr deren Rückschritt, wenn die Entwicklung formaler und symbolischer logischer Systeme nicht nur partiell, sondern durchgehend wie eine reine Angelegenheit mathematischer Setzungen und Phantasie betrachtet wird und man damit Gefahr läuft, an die Stelle der wirklichen logischen Gesetze, die klassische Beispiele dessen sind, was Reinach oder Dietrich von Hildebrand notwendige Wesensgesetze nennen,335 fiktive und z.T. falsche Gesetze symbolischer Logik, z.B. der modalen Logik und der Prädikatenlogik, zu setzen. Unter solche falsche Gesetze symbolischer Logik würde ich etwa die Axiome derjenigen Formen polyvalenter Logik rechnen, die das Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten verwerfen. Eine besondere Art von polyvalenter Logik, die ich kritisch sehe, wird mitunter als „fuzzy logic“ bezeichnet. Dabei bestreite ich keineswegs, daß eine polyvalente Logik, die mit mehr Wahrheitswerten als nur mit ‚wahr und falsch‘ arbeitet, und deren Anschauungen auch manchmal als ‚fuzzy logic‘ bezeichnet werden, 334

335

Ähnliches gilt für die antiken Mathematiker. Vgl. z.B. die vielfältigen Kommentare zur euklidischen Mathematik in Thomas L. Heath, transl., introd., comm., The Thirteen Books of Euclid’s Elements, 3 vol., reprint of 2nd ed. (New York: Dover, 1956). Vgl. Adolf Reinach, „Über Phänomenologie“, S. 531-550; Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?, Kap. iv.

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einige echte logische Einsichten enthalten und dann entsprechende korrekte Anwendungen haben kann. All das wäre im einzelnen zu prüfen, müßte jedoch mit den echt philosophischen Methoden der Wesensanalysen, die die ewigen Gesetze der Logik nur erneut und vertieft erkennt, untersucht werden. Manchen Anwendungen polyvalenter Logik liegen durchaus echte Einsichten zugrunde, wenn diese auch überaus erklärungsbedürftig sind. Ein negatives Urteil über polyvalente Logiken ist weder im Hinblick auf solche Systeme als solche berechtigt, die neben ‚wahr‘ und ‚falsch‘ auch weitere Werte wie ‚könnte wahr sein‘ usf. annehmen, was ich für dringend erforderlich halte, noch auf Anwendungen einer polyvalenten Logik, die dieser ausschließlich Urteile über in sich oder für unser Erkennen undeterminierte Objekte unterwerfen. Denn hinsichtlich der besonderen Klasse irrealer und in sich selber unbestimmter Objekte gibt es tatsächlich Aussagen, die, mindestens solange sie nicht in eindeutiger Weise bestimmte Sachverhalte behaupten (wie sie auch über fiktive Objekte bestehen) weder wahr noch falsch sind, für die also das Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten nicht gilt, und zwar deshalb, weil sie gar keine bestimmten Dinge, Sachverhalte oder sogar nur eindeutig definierte Möglichkeiten sind. Manche Vertreter der fuzzy logic halten ihre Problemstellung unbegründeter Weise für völlig neu. Grundprobleme dieser ‘unscharfen Logik’336 finden wir jedoch bereits bei Heraklit, einigen Sophisten und bei Platon. Ihr Grundproblem ist also eine alte platonische Einsicht.337 Im Theaitetos ist sogar die Bemerkung, daß dieselbe Sache zugleich 336

337

Die Begriffe einer ‘fuzzy logic’ und einer ‘fuzzy theory’ werden aber oft selber in unpräziser Weise gebraucht und haben die intellektuelle Gemeinschaft gespalten. Nicht nur wurden oft von ihren Vertretern oft alte Ideen wie große Neuerungen eingeführt, sondern simplistische Verurteilungen aller binaren Formen der Logik, auf denen viele Wissenschaften und Wissenszweige beruhen, mußten heftigen Anstoß finden und wurden von vielen Logikern als ein Randphänomen betrachtet, das nur unklare Denker auf den Plan rief. Deshalb wurden wissenschaftliche Arbeiten über ‘fuzzy logic’ vielfach gar nicht publiziert. So bildeten sich eigene Zirkel und Zeitschriften für ‘fuzzy logic’, die sich oft eng mit östlichen Philosophien verbanden. Platon, Theaitetos 154 c-e. Vgl. auch Platon, Parmenides 150 b ff.

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groß und nicht groß, das Doppelte und die Hälfte ein kann, Ausgangspunkt schwieriger Überlegungen über die Ideenlehre. Auch Aristoteles wirft in seinem logischen Werk Peri Hermeneias diese Frage, ob es nicht Aussagen gäbe, die weder wahr noch falsch seien, weil ihr Gegenstand in sich unbestimmt sei, am Beispiel von Aussagen über den Ausgang einer zukünftigen Seeschlacht auf. Roman Ingarden behandelt sie in seinem Das literarische Kunstwerk als Eigenschaften der repräsentierten Welt, die im Gegensatz zu realen Seienden „Unbestimmtheitsstellen“ aufweisen können.338 Da die Haarfarbe von Hamlet von Shakespeare unbestimmt bleibt, gilt weder, daß sie blond noch daß sie nicht blond ist. Manche unscharfen (fuzzy) Logiker lehrten aber ein solches „Jenseits des Prinzips vom ausgeschlossenen Dritten Stehen“ nicht nur für derartige in sich teilweise unbestimmten literarischen Figuren, Hexen u. dgl. Vielmehr vertraten sie die Meinung, alles Seiende und jeder Besitz sei nur in bestimmten Graden möglich; kein Ding besitze eine Eigenschaft im Gegensatz zur kontradiktorischen vollkommen. Einer solchen Meinung liegt die Einsicht zugrunde, daß sich unter dem Schein einer und derselben Aussage „Sokrates ist weise“ oder „Sokrates weiß nichts“ ganz verschiedene Aussagen verbergen können, von denen einige wahr, andere falsch sind. So kann es zugleich wahr sein, daß ein Gegenstand oder eine Zahl 8 (im Vergleich zu anderen kleineren Gegenständen oder Zahlen) groß, zugleich aber (im Vergleich zu größeren Zahlen) klein sein kann. Solche Logiker kritisieren nur den simplistischen Charakter binarer Logiken und meinen fälschlich, das Sorites-Paradox (nach dem man aus dem Bart eines Mannes ein Haar nach dem anderen auszupfen kann, ohne daß sich sein bärtiger Zustand ändere, während man nach Auszupfen des letzten Haares einen bartlosen Mann vor sich habe, woraus folge, daß bärtig und nicht bärtig identisch und ununterscheidbar seien) und andere Paradoxe ließen sich nur durch fuzzy logic lösen. Je nachdem, was man 338

Vgl. Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk; vgl. auch Josef Seifert, “Ingarden’s Theory of the Quasi-Judgment. An exposition of Its Logical Aspects and a Critical Evaluation of Its Value in the Context of Understanding the Literary Work of Art”, in: Adam WĊgrzecki (Hrsg.), Roman Ingarden a filozofia naszego czasu (Kraków: Polskie Towarzystwo Filozoficzne, 1995); und (with Barry Smith) “The Truth about Fiction,” zit.

262

KAPITEL 3

unter dieser versteht, mag ein solches Urteil zutreffen oder auch nicht. Um derartige Antinomien aufzulösen, ist jedoch in keiner Weise ein Abrücken vom Prinzip des ausgeschlossenen Dritten erforderlich, sondern nur seine klarere Formulierung.339 Andere „unscharfe Logiker“ (“fuzzy logicians”) beziehen sich, wenigstens primär, auf Begriffe und nicht die obersten Sätze der Logik. Sie leugnen weniger die obersten Prinzipien der binaren Logik, vor allem die Prinzipien vom ausgeschlossenen Dritten und vom Widerspruch, als sie betonen, daß viele unserer Begriffe (wie glatzköpfig) unscharf seien und in vielfacher Weise verstanden werden könnten je nach dem Grad des Haarverlustes, den man als Bedingung der Glatzköpfigkeit ansetzt.340 Bei anderen Logikern wiederum verbanden sich die Ideen über ‚fuzzy logic‘ mit einem groben Relativismus. Im Rahmen der obersten ontologischen und logischen Prinzipien zu verharren sei nur ein Merkmal westlichen schematisierenden Denkens, für östliches Denken gälte etwas völlig anderes. Einen solchen kulturellen Relativismus, wie er sich auch bei Spengler findet, kann man mit vielen Argumenten zurückweisen.341 Falsch ist ferner jedes Gesetz einer formalisierten symbolischen Logik, in dem die objektiven logischen Folgen aus epistemisch apodiktischen, aus logisch und aus ontologisch notwendigen Sachverhalten bzw. Urteilen verwechselt werden oder die sich über das Wesen so grundlegender und intelligibler Gegebenheiten wie der verschiedenen Arten ontischer, epistemischer und logischer Modalitäten hinwegsetzt. Für ein derartiges Vorgehen in der modernen Logik ließen sich zahlreiche Beispiele finden. Aus dem über Modalitäten Gesagten wird klar hervorgehen, daß eine seriöse und wirklichkeitsgemäße modale Logik diese Unterschiede auf das Sorg339

340

341

Vgl. mein Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant, zit. Max Black (1937) wollte solche vage Begriffe formalisieren. “Fuzzy theory”, erst von Lotfi Zadeh (1965, 1975) entworfen, entwickelt Black’s frühere Analyse, was in Theorien resultiert, die in manchen Wissenschaften vernünftige Anwendungen finden kann, wie immer inadäquat die ihr zugrundeliegende philosophische Erklärung auch ist. Vgl. Charles G. Morgan, “Fuzzy Logic”, Routledge Encyclopedia of Philosophy, Version 1.1, London and New York: Routledge (1999). Vgl. Martin Cajthaml, Kritik des Relativismus.

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fältigste untersuchen und ihnen Rechnung tragen muß, worauf wir noch eingehen werden. Lösen sich Gesetze der symbolischen Logik von den objektiven Wesensgesetzen, die von allen logischen Entitäten handeln, oder wenden sie sich sogar gegen diese, so stehen wir vor einer gewissermaßen „wildgewordenen Logik“, die sich von ihren philosophischen Grundlagen losgelöst hat – ähnlich wie im mathematischen Formalismus und Konventionalismus342 die Mathematik konzipiert wird. An die Stelle der Erforschung notwendiger logischer Wesenheiten und Wesensgesetze tritt dann eine Art logisches System von Schachspielen mit alternativen, reiner Konvention entspringenden Axiomen und Spielregeln,343 wie sich dies besonders in der polyvalenten und anderen Formen moderner Logik findet. Diese unberechtigte Loslösung mancher Systeme und Anwendungsformen symbolischer Logik von philosophischen Wesenseinsichten in logische Gegebenheiten und Gesetze ist eine Gefahr, die ich in analoger Form übrigens auch in der modernen Mathematik und Physik sehe. Noch einen weiteren Grund gibt es, aus dem ich am Fortschritt der philosophischen Logik angesichts der modernen Entwicklung der mathematisierenden Logik zweifle. Man vernachlässigt auf diese Weise die Aufgabe einer philosophischen Aufklärung dessen, was die symbolische mathematische Logik selbst und was der Wert ihrer Gesetze ist, also man glaubt sich der Aufgaben der Philosophie der Logik im zweiten erörterten Sinne enthoben. Wir haben die Absicht, im folgenden rein philosophische Logik zu betreiben und auch nur einige Grundfragen dieser Logik zu stellen: nach 342

343

In diesen Richtungen der Mathematik bzw. der Philosophie der Mathematik wurden mathematische Gesetze und Axiome wie bloße konventionelle Ansetzungen (wie z.B. Schachregeln) betrachtet, z.B. von Poincaré. In Wirklichkeit sind nicht nur die klassischen mathematischen Axiome, neben denen es auch mathematische Ansetzungen und Spielregeln gibt, wie Reinach zeigt, ganz verschieden von Schachregeln oder Konventionen irgendwelcher Art, sondern gibt es auch im Schach andere Gesetze, die keinen konventionellen Charakter besitzen. Vgl. dazu J. Seifert, Schachphilosophie; ders., „Adolf Reinach, Sämtliche Werke. Textkritische Ausgabe in zwei Bänden“, in: Prima Philosophia 3 (1990), 408-415. Vgl. dazu Josef Seifert, Schachphilosophie, Kap. 2-3, wo ich neben konventionellen auch wesensnotwendige Gesetze des Schachspiels unterscheide.

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KAPITEL 3

Wesen und Aufbau des Urteils, nach ihrer Wahrheit und einigen Arten von Urteilen. Hinsichtlich der Beantwortung dieser Fragen dürfen wir von der mathematisierenden Logik nichts erwarten, wenn auch deren Gründer, vor allem Frege und Bolzano, viel zu deren Lösung beigetragen haben (aber nur weil sie auch philosophische Logiker und Philosophen der Logik waren). Vielmehr dürfen wir einen solchen Aufschluß über unsere Fragen nur von der rein philosophischen Logik erhoffen, die eine ganz andere Disziplin ist als ein Entwerfen und Benützen eines Systems symbolischer Logik. Um jedoch den Eindruck zu verhindern, ich meinte, zu dieser echt philosophischen Logik gäbe es keine wichtigen Beiträge in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, betone ich ganz im Gegenteil, daß es auch auf dem Gebiet dieser philosophischen Logik, obwohl deren Aufgaben noch kaum in Angriff genommen wurden, im vergangenen Jahrhundert bedeutende Beiträge gegeben hat, die keineswegs den gewaltigen Leistungen philosophischer Logik in der Antike und im Mittelalter nachstehen, ja diese vielleicht noch übertreffen.344 2. Von Wesen und Wahrheit des Urteils Wir wenden uns also der philosophischen Logik zu, bzw. jenem Teil derselben, der nach der Wahrheit des Urteils und deren Träger fragt. Dabei werden wir zunächst von dem einfachsten Beispiel eines Urteils ausgehen, dem sogenannten assertorischen kategorischen Urteil, dem wir der 344

Nach Aristoteles waren es vor allem die Stoiker und später die mittelalterlichen Denker des 14. Jahrhunderts wie Duns Scotus (dem früher die Grammatica Speculativa zugeschrieben wurde, der aber andere logische Werke hinterließ), William Ockham (Summa Logicae), Thomas von Erfurt (Grammatica Speculativa), Johannes von St. Thomas, Nicholas de Autrecourt, Peter von Spanien, und Francis Suarez, die hier genannt werden müssen: in der Neuzeit waren es nach Leibniz und Bolzano vor allem Edmund Husserl, Logische Untersuchungen; Alexander Pfänder; Logik; Adolf Reinachs Untersuchungen zum negativen Urteil, und Roman Ingardens Analysen des Quasi-Urteils und des Urteils überhaupt – die zur Entwicklung der philosophischen Logik (z.B. Pfänder) oder der Philosophie der Logik (z.B. Husserl) vielleicht sogar noch entscheidender beigetragen haben als die mittelalterlichen Denker.

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Relation nach das hypothetische und disjunktive Urteil und der Modalität nach das problematische und apodiktische Urteil gegenüberstellen könnten. Das assertorische Urteil ist der geeignetste Ausgangspunkt, da wir in ihm weder die Steigerung des Behauptungsschlages, wie im apodiktischen Urteil, noch dessen Reduktion wie diese im problematischen Urteil vorliegt, noch auch Relationen und andere kompliziertere Aspekte hypothetischer und disjunktiver Urteile, sondern gleichsam das Urteil als solches in seiner schlichtesten Gestalt antreffen. Unsere Begründung dafür, das assertorische (kategorische) Urteil als Ausgangspunkt zu nehmen, bestreitet natürlich nicht, daß die Wahrheit des assertorischen notwendig auch die Wahrheit des problematischen und apodiktischen Urteils impliziert, was, wie wir sehen werden, keineswegs auf die entsprechenden ontologischen Modalitäten zutrifft, die hauptsächlich von der „modalen Logik“ untersucht werden. (Ebensowenig besteht überall dort, wo wir assertorische Urteile fällen, eine epistemologische Rechtfertigung dafür, apodiktische Urteile zu fällen, was das Verhältnis zwischen logischen und epistemischen Modalitäten berührt). 2.1. Was ist Träger der Urteilswahrheit? Über den Unterschied zwischen Urteilsakten und dem Urteil als objektiver logischer Entität

Wir können hinsichtlich des Urteils, das für uns durch das kategorische Urteil vertreten wird, zunächst fragen, was eigentlich wahr genannt wird, bzw. was der Träger der Wahrheit in dem Satz oder Urteil ist: „Liechtenstein ist ein Fürstentum“ oder „Liechtenstein ist nicht das größte Land auf dieser Erde“. Das Urteil, dem ich in diesem Fall Wahrheit zuschreibe, ist gewiß nicht mein persönlicher Denkakt oder der Akt meines Behauptens.345 Denn zwischen beiden bestehen die folgenden bedeutenden Unterschiede:

345

Wenigstens sprechen wir hier nicht von der Wahrheit von Erkenntnis- und Urteilsakten, von deren Wahrheit im vorigen Kapitel die Rede war.

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KAPITEL 3

2.1.1. Individuelle Verschiedenheit der Urteilsakte gegenüber Allgemeinheit und Einheit der objektiven ‚Urteile‘

Mein Denkakt ist durchaus individuell und in keinem anderen Bewußtsein zu finden.346 Das Urteil, daß Liechtenstein nicht das größte Land der Erde ist, ist hingegen allgemein in dem Sinne, daß es von jedermann gleichermaßen geurteilt werden kann.347 Und damit ist dieses objektive Urteil auch ein einziges, während es viele verschiedene Urteilsakte gibt. Es kann, wie wir auch sagen können, den Urteilsinhalt von individuell ganz verschiedenen Urteilsakten ausmachen, wobei der Terminus ‚Inhalt‘ hier in anderem Sinne gebraucht wird als wenn wir vom aktuellen Wesen und Inhalt des bewußten Aktes selber reden. Unser Urteil: „Liechtenstein ist nicht das größte Land der Welt“, ist ganz dasselbe Urteil und gleich wahr, ob dieses Urteil nun von Maria, Gabriel oder von Johannes Paul, von Katharina oder von irgend jemand anderem gefällt wird. Es können also nicht unsere jeweils verschiedenen Akte sein, die in diesem Sinn wahr genannt werden, denn sonst wäre der im genannten Urteil ausgedrückte Gedanke nicht ein wahres Urteil, eine Wahrheit, sondern würde sich in viele Erkenntnisakte oder Urteilsakte auflösen, die wahr wären. Die Einheit dieses wahren Urteils könnte nicht erklärt werden, wenn Wahrheit eine Eigenschaft dieser Denkakte wäre, denn im Gegensatz zur vorher diskutierten Erkenntniswahrheit, die durchaus je nach individuellem Maß der Erkenntnisfähigkeit abgewandelt sein kann (obwohl auch sie, wie viele andere reale Wesen von und in real existierenden individuellen Seienden, einen allem wahren Erkennen ‚gemeinsamen‘, doch jeweils durch und durch individuell verkörperten Inhalt hat),348 stünde es im Widerspruch zum Wesen der logischen Wahrheit des Urteils, das in einem Satz ausgedrückt wird, zu behaupten, jedes individuell verschiedene Urteil 346

347

348

Deshalb sieht Pfänder objektive Gedanken, die Produkte von Denkakten, wie Urteile, Schlüsse, Fragen, usf. und deren Elemente, die Begriffe, als Gegenstand der Logik an, und unterscheidet sie scharf von Denkakten. Pfänder, Logik, a.a.O., S. 1-30 Diese für das Urteil als solches charakteristische Allgemeinheit unterscheidet sich selbstverständlich scharf von jener des Allgemeinurteils im Gegensatz zum Individualurteil. Vgl. Pfänder, Logik, a.a.O., S. 31-38. Vgl. dazu mein Sein und Wesen, Kap. 1.

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besäße eine eigene, jeweils verschiedene Wahrheit. Auch sind nicht Denkakte Träger der Falschheit, zumindest nicht jener Falschheit, um die es hier geht. Sie können andere Prädikate haben, z.B. mehr oder minder Intelligenz beweisen und in einem anderen Sinne selbst intelligent sein; sie können wirklich sein, wenn Sie oder ich sie fällen, oder unwirklich, wenn sie nur die imaginären Akte des häufigen Urteilens der Mutter Aglaias in Dostojewskis Der Idiot sind. Doch sind Urteilsakte nicht wahr oder falsch im Sinne der Wahrheit oder Falschheit des Urteils. Husserl drückt diesen Unterschied so aus und weist dabei übrigens auch auf den Sinn der Erkenntniswahrheit und jenen des Urteilsaktes (im Unterschied zur Wahrheit des Urteils selbst) hin, wenn er schreibt: Wollte man sich darauf stützen, daß doch wie jedes Urteil, auch das wahre aus der Konstitution des urteilenden Wesens auf Grund der zugehörigen Naturgesetze erwachse, so würden wir entgegnen: Man vermenge nicht das Urteil als Urteilsinhalt, d. i. als die ideale Einheit, mit dem einzelnen realen Urteilsakt. Die erstere ist gemeint, wo wir von dem Urteil „2x2 ist 4“ sprechen, welches dasselbe ist, wer immer es fällt. Man vermenge auch nicht das wahre Urteil, als den richtigen, wahrheitsgemäßen Urteilsakt, mit der Wahrheit dieses Urteils oder mit dem wahren Urteilsinhalt. ... [der] Wahrheit: 2 x 2 = 4.349

2.1.2. Verschiedenheit des immanenten Inhalts des Urteilsaktes vom objektiven logischen Urteil

Mit ‚Urteilsinhalt‘ meinen wir auch nicht etwa den Gehalt oder Inhalt des bewußten Aktes des Urteilens selbst, eine Auffassung, zu der Husserl in den Logischen Untersuchungen neigt, wo er logische Formen „nichts weiter“ nennt als die „zu idealen Spezies objektivierten Formen der Bedeutungsintention.“350 wenn es auch unbestreitbar ist, daß jeder intentionale, bewußt auf ein Gegenständliches gerichtete Akt notwendig nicht nur ein allgemeines und besonderes Wesen, und damit eine inhaltliche Bestimmtheit, z.B. als Liebe, als Akt des Fragens, als Urteilsakt, sondern auch einen jeweils besonderen Gehalt als ‚diese Liebe‘ 349 350

Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Band I, Kap. 7, § 37, S. 119. Edmund Husserl, ebd., Logische Untersuchungen, Band 2, Kap. 3, §17, S. 154.

268

KAPITEL 3

oder als ‚dieser Urteilsakt‘ besitzt. Dabei besitzt einmal jeder Akt des Urteilens einen Inhalt bzw. einen Gehalt seiner Aktstruktur, der sich klar etwa vom Gehalt von Wahrnehmungsakten oder Akten der Liebe unterscheidet, aber der auch einen jeweils besonderen Inhalt hat, welcher sich auf der Subjektseite befindet und sowohl vom Objekt des jeweils bestimmten Urteilsaktes als auch von anderen Faktoren abhängt, z.B. von der Schärfe des Verständnisses der im Urteil verwendeten Begriffe. Doch ist das Urteil, von dem wir Wahrheit und Falschheit aussagen, im Zusammenhang mit der Wahrheit eines ‚Satzes‘ evidenter Weise nicht ein derartiger Inhalt oder das Wesen eines bewußten Aktes des Behauptens. 2.1.3. Das Urteil ist eine komplexe, aus Begriffen bestehende Bedeutungseinheit, die über ihre Bedeutung hinaus auch Funktionen erfüllt, der Akt des Urteils nicht

Das Urteil ist eine komplexe Bedeutungseinheit, die in einem Aussagesatz, aber auch in anderen Sätzen (etwa in rein rhetorischen Fragen) ausgedrückt werden kann. Diese komplexe und geordnete Ganzheit der logischen und begrifflichen Struktur des Urteils ist eindeutig dem Urteilsakt und dessen immanentem Inhalt gegenüber etwas ganz Neues, Eigenes. Wir können sagen, es sei ein objektives Urteilsgebilde, ein objektiver Gedanke als Produkt oder besser als Korrelat des Urteilsaktes. Und von diesem eigentümlichen Gebilde, dem Urteil im Sinne der propositio, sagen wir, es sei wahr oder falsch. Was aber ist eigentlich dieses Urteil im objektiven logischen Sinne, das Träger von Wahrheit und Falschheit ist? Nach Alexander Pfänder ist es ein Ganzes, das aus Begriffen besteht,351 nach Alexius Meinong ein „Gegenstand höherer Ordnung“, der aus Begriffen gebildet ist.352 Und diese Begriffe selbst sind Gebilde sui generis, Bedeutungen. Das 351 352

Vgl. Alexander Pfänder, Logik, „Die Lehre vom Urteil“ 38-44. Vgl. Alexius Meinong, „Über Annahmen“, in: Alexius Meinong, Gesamtausgabe (Graz: Akad. Druck- u. Verlagsanstalt 1977), Bd. IV, Kap. iii, S. 42 ff.; ders., „Über Emotionale Präsentation,“ in: Alexius Meinong, Gesamtausgabe, ed. by R. Haller and R. Kindlinger, vol. III, Abhandlungen zur Werttheorie (Graz, 1968), Abhandlung VI, S. 283-467.

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Urteil ist ein komplexes Gebilde. Es ist zunächst komplex, weil es nicht bloß einen einzelnen Begriff enthält, sondern eine Vielzahl von Begriffen — zumindest drei, sagt Pfänder: einen Prädikatbegriff, einen Subjektbegriff und die Kopula.353 Es enthält jedes Urteil (obwohl man dies für manche Urteil bezweifelt hat) – wir fügen dies wegen des schwierigen Problems der Existenzsätze und der Impersonalien hinzu354 – wenigstens drei Begriffe, einen Subjektbegriff, einen Prädikatbegriff und die Kopula. Das Urteil verbindet ferner die Begriffe, aus denen es gebildet ist, in einer höheren Einheit, innerhalb deren diese Begriffe nicht nur ihre Bedeutung, auch nicht einmal nur jeweils verschiedene, kontextuell bestimmte Bedeutungen besitzen, sondern auch verschiedene Funktionen erfüllen.355 So haben z.B. die Worte ‚Haus‘ und ‚rot‘ ihre jeweilige Bedeutung, die noch einmal je nach dem Kontext differenziert sein kann, indem ‚Haus‘ einmal einen Palast, ein anderes Mal eine Hütte meinen kann, ‚rot‘ eine dunkelrote oder hellrote Farbe. Wenn ich aber sage ‚Dieses Haus ist rot‘, tritt zur Bedeutung der Begriffe und zu deren Modifikation etwas ganz anderes hinzu. Der Begriff ‚Haus‘ meint nicht nur das Haus, sondern er meint es als Subjekt der Prädikation und gewinnt also selbst die Funktion des Subjekts (d.h. des Subjektbegriffs) des Urteils, der Begriff ‚rot‘ meint seinen Gegenstand als Prädikat, das vom Subjekt ausgesagt wird, und ist selbst Prädikat(sbegriff) des Urteils, und das Wörtchen ‚ist‘, das Pfänder deshalb den sprachlichen Ausdruck eines ‚rein funktionierenden Begriffs‘ nennt,356 scheint sich in der Funktion bzw. in den verschiedenen Funktionen der Kopula zu erschöpfen, von denen gleich noch die Rede sein wird. Es leuchtet hingegen unmittelbar ein, daß Behauptungsakte keineswegs aus Begriffen bestehen oder jene Funktionen ausüben, welche die Kopula innerhalb des Urteils hat. 353 354

355 356

Pfänder, a.a.O., S. 38 ff. Darüber, ob auch diese aus drei Begriffen bestehen, deren zwei in einem Wort ausgedrückt werden, läßt sich diskutieren, vor allem aufgrund der Impersonalien oder nicht-personalen Sätze wie „es regnet“. Sind auch hier in zwei Worten drei Begriffen enthalten, wie Pfänder behauptet? (Pfänder, Logik, a.a.O., S. 49 ff., S. 60 ff. Vgl. Pfänder, Logik, a.a.O., S. 156 ff., 178-179. Vgl. A. Pfänder, Logik, II, viii, S. 156 ff. „Die rein funktionierenden Begriffe“.

270 2.1.4.

KAPITEL 3 Der Urteilsakt (Behauptungsakt) wird von innen her bewußt vollzogen und besitzt viele weitere Prädikate, die dem logischen Urteil notwendig fehlen

Auch der Urteilsakt besitzt eine Fülle von Wesenseigenschaften, die der objektiven logischen Entität des ‚Urteils‘ notwendig fehlen: Der Behauptungsakt ist ein personaler Akt, das objektive, aus Begriffen bestehende Urteil keineswegs. Der Urteilsakt wird von innen her im Vollzugsbewußtsein,357 auf das auch Johann Gottlieb Fichte in seiner faszinierenden und in gewissem Ausmaß die phänomenologische Lehre vom Vollzugsbewußtsein vorwegnehmenden Lehre von der unmittelbaren intellektuellen Anschauung beredt hinweist,358 bewußt erlebt und vollzogen; 357 358

Siehe Fußnote 265. Während Kant so etwas wie intellektuelle Anschauung leugnet und darunter die unmittelbare Schau des Wesens und Daseins der Dinge an sich versteht, hält Fichte die „intellektuelle Anschauung“, unter der er unter anderem das unmittelbare innere Erfahren des eigenen Bewußtseins versteht, für möglich: Johann Gottlieb Fichte, Die Thatsachen des Bewußtseins (1813). Dieser Begriff ist nun schlechthin, er wird nicht, und ist die intellectuelle Anschauung. Nur Er ist die intellectuelle Anschauung. In der Empirie haben wir früher auch eine intellectuelle Anschauung der bloßen Form des Bildes, als nicht des Seins aufgestellt. Alles Bewußtsein ist möglich nur durch das Verstehen des Bildes als solchen, dies ist freilich auch eine intellectuelle Anschauung; aber sie ist das bloße formale Bild der intellectuellen Anschauung, die wir hier hinstellen; dergleichen ja die Erfahrung überhaupt ist in Beziehung auf die reale Erscheinung. Unser jetziger Begriff ist durch diese Form der unmittelbare Ausdruck des überwirklichen, des reinen Charakters dessen, was absolut da ist, der Erscheinung. Er ist es, und Nichts ausser ihm. Erscheint ausser ihm noch etwas Anderes als überwirklich, so geschieht dies nicht durch eine unmittelbar intellectuelle Anschauung desselben, sondern nur durch eine Synthesis der Einen jetzt beschriebenen intellectuellen Ansch auung, mit einem besonderen Falle, mit irgend einem Faktum der Anschauung. (Darum meinten Kant und Andere, es gebe keine intellectuelle Anschauung eines Objekts. Wir läugnen sie nicht. Wie käme man denn hinaus über das Objekt in eine intelligibele Welt? Der Uebergangspunkt bleibt Jenen verborgen: Kant thut einen | IX454 Machtspruch durch den kategorischen Imperativ; das ist trefflich beobachtet, aber schlecht philosophirt!)

Bei Fichte bleibt es aber dubios, was eigentlich in seiner ganz von Kant bestimmten Philosophie intellektuelle Anschauung bedeuten kann. Letztlich bedeutet sie nur die Erkenntnis des Ich und seiner Setzungen, nicht eines an sich wirklichen Ich, sondern eines sich selber setzenden Ich: Die intellectuelle Anschauung kann nur sein die eines faktischen Ich; und umgekehrt die faktische Anschauung kann nur sein ein Verstehen des Ich. Ad 1. Die absolute intellectuelle Anschauung kann nur sein ein Verstehen ihrer selbst, der

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das objektive Urteil kann niemals in diesem Sinne von innen erlebt oder gefühlt und vollzogen werden; es kann nur Objekt oder ‚Medium‘ intentionaler Akte sein, von denen das urteilende Subjekt Bewußtsein hat. Anschauung. Denn wäre sie Verstehen eines Anderen, so wäre sie abhängig von diesem, also nicht absolut. Alles Verstehen aber ist Verstehen eines Etwas, eines Gegebenen. (Denken setzt Anschauung). Darum eben der faktischen Anschauung. Soll darum das Verstehen sich selbst wieder | IX282 verstehen, so muß es sich die Anschauung, sich selbst wieder der Anschauung voraussetzen. Ad 2. Die absolute faktische Anschauung ist ein Bild. Dies aber ist Bild, nur inwiefern es sich als solches versteht. Die absolute Anschauung muß darum sich verstehen, darum sich als Bild schlechthin setzen. Kurz darum nochmals. Im Sein des Bildes liegt es: (wenn wir wissen, was wir reden, und energisch denken)

Die phänomenologischste Stelle Fichtes, in der jenes innere Vollzugsbewußtsein und was Wojtyáa ‘reflective consciousness’, aber vielleicht auch was er ‘reflexive consciousness’ nennt, plastisch als Urgegebenheit beschreibt ist die folgende: I463Dieses dem Philosophen angemuthete Anschauen seiner selbst im Vollziehen des Actes, wodurch ihm das Ich entsteht, nenne ich intellectuelle Anschauung. Sie ist das unmittelbare Bewusstseyn, dass ich handle, und was ich handle: sie ist das, wodurch ich etwas weiss, weil ich es thue. Dass es ein solches Vermögen der intellectuellen Anschauung gebe, lässt sich nicht durch Begriffe demonstriren, noch, was es sey, aus Begriffen entwickeln. Jeder muss es unmittelbar in sich selbst finden, oder er wird es nie kennen lernen. Die Forderung, man solle es ihm durch Raisonnement nachweisen, ist noch um vieles wunderbarer, als die Forderung eines Blindgeborenen seyn würde, dass man ihm, ohne dass er zu sehen brauche, erklären müsse, was die Farben seyen. ...

Und später ebd.: Diese intellectuelle Anschauung ist der einzige feste Standpunct für alle Philosophie. Von ihm aus lässt sich alles, was im Bewusstseyn vorkommt, erklären; aber auch nur von ihm aus. Ohne Selbstbewusstseyn ist überhaupt kein Bewusstseyn; das Selbstbewusstseyn ist aber nur möglich auf die angezeigte Weise: ich bin nur thätig. Von ihm aus kann ich nicht weiter getrieben werden; meine Philosophie wird hier ganz un|abhängig I467 von aller Willkür, und ein Product der eisernen Nothwendigkeit, inwiefern Nothwendigkeit für die freie Vernunft stattfindet; d.h. Product der praktischen Nothwendigkeit. Ich kann von diesem Standpuncte aus nicht weiter gehen, weil ich nicht weiter gehen darf; und so zeigt sich der transscendentale Idealismus zugleich als die einzige pflichtmässige Denkart in der Philosophie, als diejenige Denkart, wo die Speculation und das Sittengesetz sich innigst vereinigen. Ich soll in meinem Denken vom reinen Ich ausgehen, und dasselbe absolut selbstthätig denken, nicht als bestimmt durch die Dinge, sondern als die Dinge bestimmend. Der Begriff des Handelns, der nur durch diese intellectuelle Anschauung des selbstthätigen Ich möglich wird, ist der einzige, der beide Welten, die für uns da sind, vereinigt, die sinnliche und die intelligible. Was meinem Handeln entgegensteht, – etwas entgegensetzen muss ich ihm, denn ich bin endlich – ist die sinnliche, was durch mein Handeln entstehen soll, ist die intelligible Welt.

Johann Gottlieb Fichte, Über das Verhältnis der Logik zur Philosophie und transcendentalen Logik (1812).

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KAPITEL 3

Der Behauptungsakt steht, wenn er seiner eigentlichen Bestimmung nach vollzogen wird, mit der ihm zugrundeliegenden Überzeugung in enger Verbindung und wird von ihr von innen her getragen; das objektive Urteil hingegen steht zu Überzeugungen in einer ganz anderen, viel weniger direkten und äußerlicheren Beziehung. Wenn man ferner nicht mit Reinach annimmt, daß eine Lüge gar kein Behauptungsakt ist, sondern nur ein Schein eines solchen,359 dann wird man anerkennen, daß in dem Falle einer lügenhaften Behauptung der Behauptungsakt sich von der zugrundeliegenden Überzeugung loslösen und ihr widersprechen kann und damit eben zur Lüge wird. Auch dies ist für ein objektives Urteil unmöglich. Es kann nur wahr oder falsch sein, es bewegt sich eben nicht auf der Ebene personaler Akte wie der Behauptungs- und Urteilsakt. In all diesen und vielen anderen Weisen unterscheidet sich der Urteilsakt eindeutig vom Urteil selbst, um dessen Wahrheit es uns jetzt geht. 2.2. Vom Unterschied zwischen Wort und Begriff, Urteil und Satz

Von Begriffen, die Bedeutungseinheiten sind, die weder gesehen noch gehört werden können, müssen wir die gesprochenen oder niedergeschriebenen Worte oder Symbole bzw. die sprachlichen Ausdrücke unterscheiden, die sie ausdrücken. Beide sind eng mit einander verbunden, aber radikal von einander verschieden. Erst recht ist natürlich ein Sachverhalt, etwa daß Don Quijote mit den Windmühlen kämpfte, von einem Satz verschieden. Denn während dieser aus Worten besteht, die ihrerseits aus Silben, Vokalen und Konsonanten gebildet sind und bestimmten Sprachen angehören, wie etwa das Original des Don Quijote Cervantes‘ spanische Version ist, die ganz bestimmte Worte in sich enthält, trifft nichts von alledem auf die im Roman enthaltenen Gedanken (Quasi-Urteile usf.) selbst, die in der deutschen oder französischen Version dieselben sind, und erst recht nicht auf Sachverhalte wie die in dem klassischen Werk beschriebenen zu. Von den aus Begriffen gebildeten Urteilen müssen wir daher die Sätze und die Worte, aus denen Sätze gebildet sind, scharf unterscheiden. In 359

Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, zit.

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Behauptungssätzen werden Urteile ausgedrückt, nicht umgekehrt; es handelt sich hier also um eine klare und einseitige Relation.360 Sätze und Worte können ausgesprochen oder niedergeschrieben, gehört oder gesehen werden; sie können englisch oder deutsch sein oder anderen Sprachen angehören, die Worte, aus denen sie bestehen, weisen als Teile Silben und Buchstaben auf, usf. – alles Eigenschaften, die den Begriffen und Urteilen als solchen niemals zukommen können.361 Diese sind nicht englisch oder deutsch, haben weder Silben noch Buchstaben. Vielmehr lassen sich evidenterweise dieselben Begriffe in Worten verschiedener Mundarten, dieselben Urteile in Sätzen verschiedener Sprachen ausdrücken. Begriffe sind also nicht Teile von sprachlichen Sätzen, sondern jeder Begriff ist eine vom Wort, das ihn ausdrückt, ganz verschiedene Bedeutungseinheit, die in einem Wort nur ausgedrückt wird, keinesfalls aber mit ihm identisch ist. Daher ist es wenigstens undifferenziert, streng genommen aber philosophisch gesehen einfach falsch, Sätze als Träger von Wahrheit und Falschheit anzusehen, es sei denn in einem übertragenen Sinne (weil sie falsche oder wahre Urteile ausdrücken), auch wenn diese Unsitte seit Tarskis semantischer Wahrheitstheorie besonders unter materialistischen und positivistischen Logikern weit verbreitet ist,362 die im übrigen häufig 360

361

362

Vgl. Edmund Husserl, „Ausdruck und Bedeutung“, Logische Untersuchungen. Bd I, Bd. II, und II, hrsg.v. U. Panzer, Husserliana, Bd. xix, 1 und Bd. xix, 2, Bd. II, 1, 1. Pfänder unterscheidet scharf zwischen Sätzen, die aus Worten, die wieder aus Elementen wie Silben und Buchstaben (bzw. Silben, Vokalen und Konsonanten, wenn es um gesprochene Sprache geht) bestehen, und Urteilen. Gleichermaßen scharf unterscheidet er, wie Reinach vor ihm, zwischen Urteilen und Sachverhalten, was sich – wie erwähnt – als grundlegend wichtig für den Unterschied zwischen ontischen und logischen Modalitäten und für die Möglichkeiten sachlicher (realer) und logischer (formaler) Supposition erweist. (Pfänder, a.a.O., S. 33-38). Die Tatsache, daß die symbolische Logik den Unterschied zwischen Sätzen und Urteilen nicht macht, ist ein anderes Zeichen dafür, daß es sich bei ihr um eine der Mathematik ähnliche Wissenschaft formaler Zusammenhänge und nicht um einen Teil der Philosophie handelt, während Pfänders Logik im eigentlichen Sinne eine philosophische und phänomenologische Logik ist. Vgl. etwa aus dem in vieler Hinsicht sehr differenzierten Aufsatz “Meaning and Truth” aus der Routledge Encyclopedia of Philosophy, Version 1.1, London and

274

KAPITEL 3

versuchen, wie wir im Kapitel über Tarski im zweiten Band eingehender studieren werden, auch die Bedeutung von Sätzen durch deren Wahrheitsbedingungen zu bestimmen, sodaß die Bedeutung eines Satzes nichts anderes wäre als die Bedingungen seiner Wahrheit. Wir werden die Unhaltbarkeit dieser These später erörtern, möchten jedoch hier schon festhalten, daß auch innerhalb der analytischen Philosophie vielfach intelligente Kritik an dieser Auffassung geübt wird. 363 2.3. Vom Unterschied zwischen Begriffen und Sachen – Urteilen und Sachverhalten

Durch die meisten Begriffe werden wieder Sachen gemeint, die von ihnen verschieden sind wie Länder (Liechtenstein), Kühe, Sterne, etc. Und diese Dinge haben offensichtlich ganz andere Prädikate als die Begriffe, die sie meinen. Nicht der Begriff der Kuh lebt, wohl aber das durch ihn angezielte Wesen, nicht der Begriff muht, wohl aber die Kuh. So unterscheidet sich die gemeinte Sache, die nicht in das Urteil eingehen kann, von dem Begriff, der konstitutiver Bestandteil des Urteils ist. Die verschiedenen Begriffe im Urteil sind nicht nur Bedeutungen oder Bedeutungseinheiten; sie sind nicht nur objektive Gedanken, gleichsam New York: Routledge (1999): How are we to ensure that correct meaning-specifications for a sentence’s components entail a correct specification for the sentence itself? Here it is customary to appeal to what is often called a ‘truth theory’ for a language. For it is precisely by employing such a theory that statements of truth-conditions of sentences of a language can be deduced from statements about the semantic properties of their components. 363

Vgl. z.B. die folgende Stelle aus “Meaning and Truth”, Routledge Encyclopedia of Philosophy, Version 1.1, London and New York: Routledge (1999): The core suggestion is that the meaning of a declarative sentence may e given by specifying certain conditions under which it is true. Thus the declarative sentence ‘Venus is red’ is true just in case the condition that Venus is red obtains; and this is exactly what the sentence means. As it stands, however, this suggestion provides us with no explanation of the meanings of the words and phrases that make up sentences, since in general they are not expressions that have truth-conditions. (There are no conditions under which the word ‘Venus’ is true.) Furthermore, it needs to be supplemented by some method of circumscribing the truthconditions that embody the meanings of declarative sentences, since there are many conditions under which any given sentence is true: ‘Venus is red’ is true not merely when Venus is red, but also, for example, when Venus is red and 7 + 5 = 12; but it does not mean that Venus is red and 7 + 5 = 12.

Die logische Wahrheit oder Urteilswahrheit

275

Produkte und Medien von Denkakten, die ihre eigenen Merkmale haben, wie daß sie nicht individuell oder bewußt vollzogen wie Akte, sondern diesen zugeordnet sind.364 Sie sind nicht nur sehr verschiedene Arten von Bedeutungen, wie Gegenstandsbegriffe (Hauptbegriffe),365 rein funktionierende Begriffe, Tätigkeitsbegriffe, etc. Sie haben vielmehr auch innerhalb des Urteils je verschiedene Funktionen, worauf wir bereits hingewiesen haben. So wird durch den Subjektbegriff etwas gemeint, auf das sich dann das Urteil, die urteilende Setzung, bezieht. Durch den Subjektbegriff wird nicht nur etwas gemeint, ein Gegenstand, etwa die Kuh, sondern das Subjekt wird als das gemeint, was dem Urteil unterliegt, es wird also gewissermaßen in einer bestimmten Weise meinend angezielt, nämlich eben als das Subjekt, über das dann das Urteil gefällt wird. Das Prädikat hingegen meint eine Bestimmtheit, etwa das Scheinen der Sonne, das Muhen der Kuh oder das „nicht der größte Staat der Erde Sein“ Liechtensteins. Das letztere Prädikat ist eine komplexe und negative Bestimmtheit. Der Prädikatbegriff meint ferner nicht nur eine Bestimmtheit, sondern er hat eine besondere Funktion. Er meint die entsprechende Bestimmtheit als das, was im Urteil dem Subjekt zugewiesen wird. Das Prädikat des Urteils meint also eine Bestimmtheit – und meint sie zugleich in einer bestimmten Weise, eben als Prädikat.366 Das Urteil als ganzes behauptet etwas, es hat einen Gegenstand, über den es etwas aussagt. Genauer besehen eignet sich nicht jede Sache dazu, unmittelbarer Gegenstand eines Urteils zu sein. Es kann dieser Gegenstand des Urteils nicht irgendein Ding sein und auch nicht eine Qualität: die Rose, dieser Mensch etc. können nicht unmittelbar Gegenstand des Urteils sein, sondern nur ein besonderes komplexes Etwas: daß etwas ist oder nicht ist, daß es so und nicht anders ist. Die Phänomenologen haben ein

364

365 366

Zum Problem der Unreduzierbarkeit von Begriffen und Urteilen auf Produkte von Denkakten und ihrer idealen Existenz vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, a.a.O., Prolegomena und II,1; und unten, Kap. 13. Vgl. auch Josef Seifert, “Is the Existence of Truth dependent upon Man?” in Review of Metaphysics 35 1982), S. 461-481. Vgl. Pfänder, Logik, a.a.O., 163-170. Vgl. Pfänder, ebd., S. 178 f.

276

KAPITEL 3

solches a-Sein oder nicht-a-Sein eines B als Sachverhalt bezeichnet.367 Das Mittelalter sprach von Seinsdispositionen oder sachlichen Dispositionen, von einer ‘dispositio rei’.368 Und damit meinten wohl Thomas und andere mittelalterliche Philosophen, wenn auch nicht in klarer Weise, eben dieses selbe eigentümliche Gebilde, den Sachverhalt, der auch Gegenstand von Akten des Behauptens (Urteilens), Denkens, Fragens, Hoffens und Wünschens sein kann. Sachverhalte aber sind auch Gegenstand des objektiven Urteils und können ebenfalls Gegenstand anderer objektiver Gedanken von Fragen, Befehlen, Wünschen, Quasi-Urteilen und vielen anderen Gedanken sein. Auch dies beweist, daß der Sachverhalt sich ganz vom Urteil unterscheidet. Während in dieses notwendig Begriffe als Bestandteile eingehen, gehen Begriffe nur manchmal und dann in verschiedener Weise in Sachverhalte ein. Während das Urteil etwas behauptet, behauptet der Sachverhalt nichts; während in den Sachverhalt reale Dinge wie Kühe oder die Sonne eingehen und Bestandteile des Sachverhalts sind, können weder Kühe noch Sonnen Bestandteile eines Urteils sein. Wegen der zentralen Bedeutung des Verständnisses des Sachverhalts für ein Verständnis des Urteils und seiner Wahrheit wenden wir uns nun seiner Erforschung zu. 3. Sachverhalt und Urteil 3.1. Zur Geschichte des Sachverhaltsbegriffs

Zunächst ein Wort zur Geschichte des Sachverhaltsbegriffs: Die Unterscheidung zwischen Sachverhalten und einfacheren Gegebenheiten wie 367

368

Vgl. Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, S. 95-140; Alexander Pfänder, „Die Lehre vom Urteil“, in: Pfänder, Alexander, Logik, zit., in: Logik (Tübingen: Ambrosius Barth/M. Niemeyer, 31963); Seifert, Josef und Smith, Barry: “Truth about Fiction”, in: Kunst und Ontologie. Roman Ingarden zum 100. Geburtstag (Amsterdam/Atlanta: Editions Rodopi, 1994); Barry Smith, “On the Cognition of States of Affairs”, in: K. Mulligan (Ed.), Speech Act and Sachverhalt, S. 189-225; ders., “Logic and the Sachverhalt”, S. 53-69. Vgl. dazu Irmingard Habbel, Der Sachverhaltsbegriff bei Thomas von Aquin und in der Phänomenologie. Vgl. auch Barry Smith, “On the Cognition of States of Affairs”, S. 189-225.

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Dingen, Gegenständen und deren Eigenschaften hat, wenn auch in rudimentärer und unklarer Form, seit alten Zeiten existiert. Die griechische und insbesondere die mittelalterliche Philosophie hat auf das Phänomen des Sachverhalts häufig mit unbeholfenen Ausdrücken wie dem Verbundensein oder dem Getrenntsein von Elementen oder Relationen hingewiesen.369 Ein Urteil wird dann als wahr bezeichnet, wenn in ihm das, was in Wirklichkeit verbunden ist, verbunden wird, oder wenn das, was in Wirklichkeit getrennt ist, auch im Urteil getrennt wird, falsch im umgekehrten Fall, also wenn das, was in Wirklichkeit vereint ist, getrennt wird, oder was in Wirklichkeit getrennt wird, vereint. In anderen Texten wird das wahre Urteil so bestimmt, daß es aussagt, daß das ist, was wirklich ist, und daß das nicht ist, was tatsächlich ein Nichtseiendes ist, wobei kein ausdrücklicher Unterschied zwischen Sachen und Sachverhalten gemacht, aber auch nicht ausgeschlossen wird, so in dem klassischen Text, auf den die Adäquationstheorie der Wahrheit zurückgeht in Platons Sophistes: FREMDER: Ich will dir also eine Rede vortragen, indem ich eine Sache mit einer Handlung durch Hauptwort und Zeitwort verbinde, wovon aber die Rede ist, sollst du mir sagen. S263a THEAITETOS: Das soll geschehen nach Vermögen. FREMDER: Theaitetos sitzt. Das ist doch nicht eine lange Rede. THEAITETOS: Nein, sondern sehr mäßig. FREMDER: Deine Sache ist also nun zu erklären, wovon sie ist, und was sie beschreibt? THEAITETOS: Offenbar von mir und mich. FREMDER: Wie aber diese wiederum? THEAITETOS: Was für eine? FREMDER: Der Theaitetos, mit dem ich jetzt rede, fliegt. THEAITETOS: Auch von dieser würde wohl niemand etwas anderes sagen, 369

Reinach unterscheidet zwei Bedeutungen von ‚Relation‘: „Der Terminus Relation ist keineswegs eindeutig. Sowohl das links und rechts, oben und unten usw. wird so genannt als auch das links-sein, das oben- und unten-sein usw. Beides aber ist grundverschieden. Nur das zweite ist ein – allerdings ergänzungsbedürftiger – Sachverhalt.“ Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, zit., [91-92], S. 121. Die Relation zwischen ‚links‘ und ‚rechts‘ und dem, was zwischen ihnen ist, Ähnlichkeit usf., unterscheidet er also vom Links-sein oder Ähnlichsein, die auch Reinach als (ergänzungsbedürftige) Sachverhalte betrachtet.

278

KAPITEL 3 als sie rede von mir und über mich. FREMDER: Und irgendeine Beschaffenheit, sagen wir, habe notwendig jede Rede? S263b THEAITETOS: Ja. FREMDER: Wie wollen wir also sagen, daß jede von diesen beschaffen sei? THEAITETOS: Die eine doch falsch, die andere wahr. FREMDER: Und die wahre sagt doch das Wirkliche von dir, daß es ist? THEAITETOS: Ja. FREMDER: Und die falsche von dem Wirklichen verschiedenes? THEAITETOS: //III287// Ja. FREMDER: Also das Nichtwirkliche oder Nichtseiende sagt sie aus als seiend. THEAITETOS: Beinahe. FREMDER: Nämlich Seiendes, nur verschieden von dem Seienden in bezug auf dich. Denn in bezug auf jedes sagten wir doch, gebe es viel Seiendes und viel Nichtseiendes. THEAITETOS: Offenbar freilich.370

Das von uns als wirklich bestehender Sachverhalt bezeichnete Phänomen, das dabei sprachlich nicht klar vom wahren Urteil abgegrenzt wird, wird also manchmal als „das Seiende, daß es ist“ und als „das Nichtseiende, daß es nicht ist“ gemeint, ohne es klar von Dingen und ihren Eigenschaften abzugrenzen.371 370 371

Platon, Sophistes, 262 e-263 b. In anderen antiken und mittelalterlichen Texten wird mit verschiedenen Ausdrücken, z.B. dem sehr vieldeutigen Terminus “dispositio rei”, auf den Sachverhalt hingewiesen, dieser spielt jedoch eine geringe Rolle und im Kontext der Rede von der dispositio rei wird der Sachverhalt auch so wenig klar von anderen Phänomenen wie Relationen, Dispositionen, Zuordnungen oder Anordnungen unterschieden, daß man in der mittelalterlichen Philosophie nicht von einer philosophischen prise de conscience des Sachverhalts sprechen kann. Der stärkste Belegtext für die Interpretation des Ausdrucks dispositio rei als Sachverhalt ist wohl Thomas von Aquins Satz: “Unde manifestum est, quod dispositio rei est causa veritatis in opinione et oratione.” Thomas von Aquin, In Libros Metaphysicorum Liber 9, lectio 11, Nr. 3. Trotz solcher Texte läßt sich die von Irmingard Habbel (in ihrem Buch Die Sachverhaltsproblematik in der Phänomenologie und bei Thomas von Aquin in differenzierter und ausgewogener Weise nahegelegte These, daß Thomas von Aquin den Ausdruck ‚dispositio rei’ ähnlich wie einen Sachverhalt verstanden habe, schwer belegen. In verschiedenen Texten, u.a. in

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Die in wachsendem Maß ausdrückliche und volle Entdeckung der formal-ontischen Grundstruktur des Sachverhalts und seiner grundlegenden Bedeutung für die logische Urteils- und Wahrheitslehre verdanken wir aber erst den Phänomenologen und Grazer Gegenstandstheoretikern, auch wenn an deren Ausarbeitung des Sachverhaltsbegriffs mancherlei zu kritisieren ist.372 Es war eigentlich erst Edmund Husserl, den man als den eigentlichen Entdecker des Sachverhaltsphänomens betrachten muß. Bei Adolf Reinach erfährt die Bestimmung des Wesens des Sachverhalts eine weitere bedeutungsvolle Klärung. Alexander Pfänder, Hedwig Conrad-Martius, Dietrich Quaestiones disputatae de veritate, bezieht sich Thomas von Aquin auf Aristoteles’ Satz, daß sich die Dinge ebenso zum Sein verhalten wie zur Wahrheit und sagt etwa in Antwort auf den Einwand: dispositio rei in esse est sicut sua dispositio in veritate. Ergo verum et ens sunt omnino idem....

Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, in: Opera omnia (ut sunt in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), vol. III, S. 1-186, Q. 2, a. 9, RA 1: Cum autem veritas constet in adaequatione intellectus et rei, si consideretur veritas secundum rationem aequalitatis, quae non recipit magis et minus, sic non contingit esse aliquid magis et minus verum; sed si consideretur ipsum esse rei, quod est ratio veritatis, sicut dicitur in II metaphys., eadem est dispositio rerum in esse et veritate: unde quae sunt magis entia, sunt magis vera; et propter hoc etiam in scientiis demonstrativis magis creduntur principia quam conclusiones.

372

Thomas von Aquin, ebd., ad primum. Doch hier bedeutet dispositio rei sicher nicht Sachverhalt, an anderen Stellen versteht der Aquinate darunter eine Anordnung, ähnlich wie wir heute Disposition verstehen. In wieder anderen Texten muß der Terminus wohl so etwas wie Zuordnung und Hinordung eines Seienden auf sein Ziel verstanden werden. Carl Stumpf verwendete den Ausdruck schon 1888 in ähnlichem Sinn, und Stumpfs eigener Aussage zufolge habe Franz Brentano schon drei Jahrzehnte vorher auf Sachverhalte hingewiesen. Alexius Meinong (der sie als „Objektive“ den „Objekten“ gegenüberstellte) wies noch ausdrücklicher auf Sachverhalte hin und kann in gewisser Weise (eher als Marty, bei dem der Ausdruck eine andere Bedeutung annimmt), als ihr Entdecker gelten, auch wenn er noch nicht scharf zwischen ‚Objektiv’ als Sachverhalt und als Urteil unterschied. Vgl. zu dieser Kritik und einer kurzen Geschichte des Sachverhaltsbegriffs auch Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, S. 95-140, S. 114, Anm. 1.

280

KAPITEL 3

von Hildebrand, Roman Ingarden und andere Phänomenologen können nach gewissen modernen Ahnen (wie Bernard Bolzano373) in die Gruppe der Denker eingereiht werden, die originelle Beiträge zur schärferen Erkenntnis des ganz unreduzierbaren und elementaren Datums der Sachverhalte gemacht haben.374 So haben auch nach Husserl manche Phänomenologen, deren Ziel eine treue Rückkehr zum selbst-Gegebenen war – insbesondere Adolf Reinach – Wesen und Bedeutsamkeit des Phänomens des Sachverhaltes mit neuer Klarheit analysiert. In jüngster Zeit wurde dieser Unterscheidung neue Aufmerksamkeit geschenkt durch Barry Smith, Kevin Mulligan, Mariano Crespo, der insbesondere herausgearbeitet hat, daß Reinachs Philosophie der Sachverhalte (in seiner Ontologie und Gegenstandslehre) die Sachverhalte deutlicher in ihrer ontischen Eigenständigkeit herausgearbeitet hat als Husserl, bei dem speziell in der 6. Logischen Untersuchung die Unterschiede zwischen Urteil und Sachverhalt, sowie zwischen Ontologie der Sachverhalte und Logik, nicht so klar entwickelt sind.375 Auch andere Mitglieder der phänomenologischen Bewegung haben sich der Erforschung des Sachverhaltsproblems angenommen.376 373

374

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376

Vgl. Bernard Bolzano, Grundlegung der Logik (Wissenschaftslehre I/II). Phil. Bibl. Bd. 259 (Hamburg: F. Meiner, 1963). Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, zit., Band I, II; Alexander Pfänder, Logik (Tübingen: Ambrosius Barth/M. Niemeyer, 31963); Das Sein (München: Kösel, 1957); Dietrich von Hildebrand, Der Sinn philosophischen Fragens und Erkennens; ders. Was ist Philosophie?; Roman Ingarden, Der Streit um die Existenz der Welt; Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, S. 95-140. Vgl. Barry Smith, “On the Cognition of States of Affairs”, in: Kevin Mulligan (Ed.), Speech Act and Sachverhalt, S. 189-225; Mariano Crespo, “En torno a los estados de cosas. Una investigación ontológico-formal,” Anuario Filosófico, XXVIII/1 (1995), 143-156; and by the same author, Para una ontología de los estados de cosas esencialmente necesarios. Tesis doctoral. Departamento de Metafísica y Teoría del Conocimiento. Universidad Complutense, Madrid 1995. Zu den mittelalterlichen Vorbildern des Sachverhaltsbegriffs vgl. Irmingard Habbel, Die Sachverhaltsproblematik in der Phänomenologie und bei Thomas von Aquin. Vgl. zur neueren Sachverhaltsdiskussion auch etwa Kevin Mulligan (Hg.), Speech-Act and Sachverhalt: Reinach and The Foundations of Realist Phenomenology. Vgl. auch James M. DuBois, The Philosophy of Adolf Reinach (Boston: Kluwer,

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281

Wie aus den folgenden Überlegungen deutlich werden wird, meinen wir, daß selbst in den meisterhaften Analysen des Sachverhaltsphänomens bei Adolf Reinach einige Unklarheiten und Lücken bestehen, zu deren Überwindung wir einen Beitrag zu leisten hoffen. Adolf Reinach hat überzeugend gezeigt, daß es neben Sachen und ihren Eigenschaften auch Sachverhalte gibt, welche die eigentümliche ontische Form des „a-Seins eines B“ besitzen. Er hat gleichfalls gezeigt, daß diese ontische Struktur der Sachverhalte sowohl positive als auch negative Sachverhalte unter sich begreift. „Daß X y ist“, steht neben dem entsprechenden negativen Sachverhalt, „daß X nicht y ist“. Er hat ferner die Originalität und Nichtzurückführbarkeit der negativen Sachverhalte auf positive Sachverhalte überzeugend aufgewiesen.377 Reinach nennt auch eine ganze Reihe von Wesensmerkmalen oder Charakteristiken von Sachverhalten, durch die deren Eigenart deutlicher in Erscheinung tritt. Diese Merkmale könnte man um einige ergänzen, in manchen anderen Punkten kritisieren, eine Kritik, die wir in die folgende systematische Exposition der Natur des Sachverhalts einbauen werden. Wenden wir uns zunächst einer kurzen Analyse der Sachverhalte und ihrer Charakteristiken zu, um dann im einzelnen auf die wichtigsten der im folgenden genannten Merkmale von Sachverhalten einzugehen. 3.2. Was also ist ein Sachverhalt? Innere Wesensmerkmale von Sachverhalten

3.2.1. Eine einfache oder nur eine disjunktive Kurzformel für die formalontologische Seinsform des Sachverhalts?

Unter einem Sachverhalt verstehen wir eine eigenartige ontische Struktur, die sich von Dingen und deren Prädikaten und Attributen sowie deren immanenten Seinsprinzipien (Gegenständen im weitesten Sinn) klar unterscheidet. Wir könnten diese Seinsform auch als eine formal-ontische Struktur bezeichnen, da dabei vom Inhalt (von der Materie) des Sachverhalts ganz abgesehen wird und nur die allgemeinste Seinsform bestimmt werden soll, die man im Unterschied etwa zu Dingen als Sachverhalt 377

1994). Vgl. auch mein Sein und Wesen, zit., Kap. 2. Vgl. Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, S. 95-140.

282

KAPITEL 3

bezeichnen kann. Diese formalontische Struktur kann präzise als „das aSein eines B“ (Form des positiven Sachverhalts) oder „das nicht-a-Seineines-B“ (Form des negativen Sachverhalts) bezeichnet werden, obwohl auch diese Formel noch nach größerer Präzision verlangt. Es fällt zuvörderst auf, daß es sich dabei eigentlich nicht um eine einzige Kurzform oder Formel der Sachverhaltsstruktur handelt, sondern um zwei: nämlich um eine für den positiven und eine andere für den negativen Sachverhalt. Eine einzige Formel für diese originäre, nicht ableitbare ontische Struktur des Sachverhalts zu finden, die der Tatsache Rechnung trüge, daß Sachverhalte sowohl positiv als auch negativ sein können, ist schwer zu finden. Wenn man „das a-Sein eines B“ als die ursprüngliche formalontische Grundstruktur des Sachverhalts als solchen nimmt, muß man das „a-Sein“ so deuten, daß es – im Kontext der zitierten Formel – nur die allgemeine Sachverhaltsform meint und offenläßt, ob es sich beim „a-Sein“ um ein „positives a-Sein“ oder um ein „Nicht-a-Sein“ eines B handelt. Dann würde man ähnlich verfahren, wie die klassische Logik, wenn sie die Urteilsform als solche als „S ist P“ faßt, wobei klar ist, daß es sich beim Urteil (also bei dieser formal-logischen Form „S ist P“) auch um ein „S ist nicht P“ handeln kann. Da aber dieselbe Formel „S ist P“ in ganz anderer Bedeutung auch das positive im Unterschied zum negativen Urteil ausdrücken kann, erweist sie sich als ungeeignet, um das gemeinte Phänomen des Urteils als solches in klarer und unzweideutiger Weise abzugrenzen. Mindestens ebenso irreführend erscheint uns aus ganz ähnlichen Gründen der Versuch, auch das Wesen des negativen Sachverhalts „B ist nicht a“ mit der Formel des „a-Seins eines B“ bezeichnen zu wollen, die gerade nur die allgemeine Struktur positiver Sachverhalte prägnant zu bezeichnen scheint. Daher ziehen wir zur Kennzeichnung der allgemeinsten einzigartigen ontischen Struktur des Sachverhalts die disjunktive Formel vor: „das aSein oder das nicht-a-Sein eines B“. Auch diese Formel für die allgemeine ontische Struktur des Sachverhalts kann als solche weder den positiven noch den negativen Sachverhalt korrekt definieren, sondern bedarf noch zusätzlicher Klärungen. Denn z.B. könnte mit dem „Gelbsein eines Baumes“ nicht das Phänomen des Sachverhalts gemeint sein, daß der Baum gelb ist, sondern vielmehr das

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Sein des Gelb, das sich an einem Baum findet oder das tatsächliche Anhaften des Prädikates gelb an den Blättern des Baumes. Ein solches Inhärieren der Farbe in einem Baum ist jedoch zweifellos ebensowenig wie das Dasein des Gelb ein Sachverhalt, wie wir noch sehen werden, wenn wir unten Relationen und Existenz von Sachverhalten abgrenzen werden. Auch kann „das Gelbsein eines Baumes“ den Urteilsinhalt meinen oder sogar den Satz anzeigen, die beide klar vom Sachverhalt verschieden sind. Denn der Sachverhalt urteilt nichts, besteht nicht aus Begriffen, kann nicht wahr oder falsch sein, wie das Urteil; der Satz besteht aus Wörtern, gehört einer bestimmten Sprache an und ist noch weniger mit dem Sachverhalt zu verwechseln. Sachverhalte unterscheiden sich in vielen anderen Hinsichten von Sachen und Gegenständen. Geben wir einige der wichtigsten an: 3.2.2. Sachverhalte enthalten Gegenstände und Attribute, bestehen aber nicht aus diesen. Die „Transzendenz“ des Sachverhalts gegenüber dem Ding und dessen Prädikaten.

Sachverhalte können Sachen und Attribute, Begriffe oder Urteile enthalten, sie bestehen aber niemals aus diesen. Sachverhalte sind vielmehr niemals Dinge, Prädikate oder Teile von Dingen, noch sind sie aus diesen zusammengesetzt, als wären sie ein aus diesen bestehendes Konglomerat, sondern sie sind diesen immer in sehr präzisem Sinn transzendent. Zunächst: Nicht ein Mensch, eine Person überhaupt, oder ein Tier kann ein Sachverhalt sein, sondern nur daß diese Seienden existieren oder nicht existieren, so oder anders sind. Nicht mein Wollen kann ein Sachverhalt sein, sondern nur „daß ich etwas will“, usf. Auch ist der Sachverhalt nicht eine Totalität solcher Elemente wie Kühe, braun, Wiese, weiden, sondern eine eigentümlich präzise Struktur wie das Weiden brauner Kühe auf einer Wiese. Sachverhalte bestehen eindeutig nicht aus Dingen, so als wären sie Komplexe oder Sammlungen von solchen. Sie enthalten sie vielmehr in einer anderen, eigentümlichen Weise. Auch Sachverhalte, die sich auf Begriffe beziehen, etwa der Sachverhalt, daß sich in einem Urteil mindestens drei Begriffe finden, beziehen sich zwar auf Begriffe, bestehen aber keineswegs aus ihnen wie das Urteil

284

KAPITEL 3

selbst. Vielmehr enthält dieser Sachverhalt Begriffe in ganz anderer Weise, als daß er aus ihnen gebildet wäre oder bestünde, wie das Urteil. Er bezieht sich auf die Begriffe, indem er in Bezug auf sie, aber nicht aus ihnen besteht. All dies zeigt die eigentümliche Transzendenz des Sachverhalts gegenüber dem Ding und allen seinen Prädikaten. Der Sachverhalt besteht zwar in Bezug auf alle Dinge und enthält sie in gewissem Sinne; sie gehen in ihn ein und sind gleichsam Teile des Sachverhalts, obschon dieser nicht ein Ganzes ist, das aus Dingen wie aus Teilen besteht, sondern er besteht viel eher in Bezug auf Dinge und ihre Prädikate. Schon aus diesem Grunde kann Existenz kein Sachverhalt sein, weil sie – gerade im Gegensatz zu diesem Wesensmerkmal des Sachverhalts – ein dem Dinge zuinnerst eigenes und voll immanentes Attribut oder Prinzip ist, ihr actus essendi.378 Besonders deutlich ergibt sich diese ‚Transzendenz‘ des Sachverhalts hinsichtlich der in ihn eingehenden Dinge in dem erwähnten Fall jener logischen Sachverhalte, die sich auf Begriffe und komplexe Gebilde, die aus Begriffen bestehen, wie Urteile, beziehen. Hier ist es klar, daß diese rein logischen Sachverhalte zwar etwa hinsichtlich der Zahl, Funktion und Art von Begriffen im Urteil, in der Frage, im Schluß usf. bestehen, keineswegs aber aus Begriffen bestehen und daß diese Begriffe in radikal anderer Weise in die logischen Sachverhalte ‚eingehen‘ als z.B. ins Urteil. 3.2.3. Sachverhalte bestehen weder aus Begriffen noch aus Worten

Besonders Anhänger der analytischen Philosophie könnten versucht sein, den Sachverhalt für einen Satz oder für ein Urteil zu halten. Doch leuchtet es sofort ein, daß ein solcher Reduktionismus unhaltbar ist. Denn Sachverhalte bestehen nicht wesenhaft aus Begriffen wie das Urteil, sondern in sie gehen vielmehr nur möglicherweise (im Falle logischer Sachverhalte in bezug auf Begriffe) Urteile oder Begriffe ein; normalerweise gehen nicht Begriffe, aus denen das Urteil immer und wesenhaft besteht und gebildet ist, sondern vielmehr reale Gegenstände und deren Attribute in Sachverhalte ein, wie das Weißsein eines Schafes die weiße 378

Vgl. Josef Seifert, Sein und Wesen, zit., Kap. 2.

Die logische Wahrheit oder Urteilswahrheit

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Farbe und ein Schaf in sich befaßt. 3.2.4. Sachverhalte behaupten nichts und können nicht wahr oder falsch sein. Daher unterscheiden sie sich wesenhaft von Urteilen und Sätzen

Der Unterschied zwischen Sachverhalt und Urteil geht aus einer weiteren Tatsache hervor: Sachverhalte meinen nichts von ihnen Verschiedenes wie das Urteil. Auch bestehen Sachverhalte überall in der Welt ganz unabhängig davon, ob sie in einem Urteil behauptet werden oder nicht. Sie sind zwar einzig möglicher Gegenstand des Urteils, unterscheiden sich aber gerade dadurch von diesem, daß sie Gegenstände von Urteilen sind, aber selber keine Gegenstände haben oder Sachverhalte außerhalb ihrer selbst meinen. Da sie nichts meinen oder behaupten, können Sachverhalte auch nicht Urteile sein. 3.2.5.

Der Unterschied zwischen Urteilen und Sachverhalten ergibt sich auch aus deren weiterem Merkmal, unabhängig von Urteilen bestehen und gleichgut Gegenstand anderer Gedanken- und Aktarten sein zu können

Außerdem ergibt sich diese Verschiedenheit auch aus folgendem Umstand. Sachverhalte bestehen unabhängig von der Frage, ob sie Gegenstand von Urteilen sind oder nicht. Die von Menschen gedachten oder gefällten Urteile decken ja nur einen winzigen Bruchteil der auf allen Gebieten bestehenden Sachverhalte. Ferner können Sachverhalte ja nicht nur unabhängig vom Urteil bestehen und doch auch Gegenstand von Urteilen werden, sondern sie können gleich gut auch Gegenstände von Fragen und anderen Gedanken sein, woraus die Verschiedenheit zwischen Urteil und Sachverhalt noch leichter einleuchtet, da ja niemand denselben Sachverhalt mit dem Urteil, das ihn behauptet und zugleich mit der Frage, die nach seinem Bestehen fragt, oder dem Wunsch, der sich auf ihn richtet, identifizieren wird. Sonst wäre derselbe Sachverhalt ja Urteil, Wunsch, Frage, Zweifel, Verneinung usf. zugleich, die sich alle auf ihn beziehen können.

286

KAPITEL 3

3.2.6. Sachverhalte zerfallen ebenso notwendig in positive und negative wie kategorische Urteile zwangsläufig positive oder negative Qualität haben

Auf einen wichtigen Unterschied von Sachverhalten zu Sachen und Prädikaten sind wir bereits gestoßen: daß es nämlich positive und negative Sachverhalte gibt. Es kann sein, daß etwas ist oder nicht ist, so ist oder nicht so ist. Die negativen Sachverhalte wurden m. E. so vollkommen von Reinach analysiert und gegenüber möglichen Mißverständnissen herausgearbeitet, daß sich hier eine neue Analyse dieses Unterschieds erübrigt. Mit der von Adolf Reinach erreichten Klarheit über die ausführlich von ihm erörterte Unterscheidung zwischen positiven und negativen Sachverhalten erkennen wir einen weiteren Unterschied zu Relationen. Es gibt nicht positive und negative blühende Rosen und auch nicht positive und negative Relationen der Vaterschaft, sondern nur deren Nichtexistenz, während es zu jedem positiven Sachverhalt den korrespondierenden negativen gibt. Und darin unterscheiden sich Sachverhalte und Relationen. Es sei nur darauf hingewiesen, daß der negative Sachverhalt völlig vom negativen Urteil verschieden ist. Während dieses nämlich immer aus Begriffen besteht, bestehen Sachverhalte gewöhnlich keineswegs aus Begriffen, ja streng genommen bestehen sie niemals aus Begriffen, sondern Begriffe können höchstens im Falle logischer Sachverhalte in den Sachverhalt als konstitutive Momente eigener Art eingehen, ohne daß dabei die Sachverhalte selber je aus Begriffen bestünden. Auch die rein logischen Sachverhalte bestehen nicht aus Begriffen, sondern die Sachverhalte beziehen sich vielmehr nur auf diese. Normalerweise kommen in ihnen Begriffe überhaupt nicht vor, wodurch sie sich eindeutig von den negativen Urteilen unterscheiden, in denen nicht nur notwendig Begriffe vorkommen, sondern die im strikten Sinne aus diesen bestehen und aufgebaut sind. 3.2.7. Alle Dinge, deren Attribute, sowie alle Sachverhalte begründen neue Sachverhalte bzw. sind in Sachverhalte niedrigerer oder höherer Ordnung eingebunden: Nichts ist jenseits von Sachverhalten

Trotz den zahlreichen Verschiedenheiten zwischen Sachen und Sachverhalten gibt es kein Ding und keine Eigenschaft eines Dinges oder einer

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Person, ja auch keinen Begriff, kein Urteil, keinen Schluß und keinen Sachverhalt, die nicht wieder weiteren Sachverhalten zugrunde liegen würden, ja auch alle diese weiteren Sachverhalte begründen notwendig wiederum neue Sachverhalte. So wurzelt etwa in jedem Sachverhalt ‚X ist y’ der Sachverhalt, daß der Sachverhalt ‚X ist y‘ besteht, usf. Es kann kein Ding, keine Eigenschaft eines Dinges, kein Wesen, kein Wassein, Sosein oder Wiesein, keine Relation und keinen Sachverhalt geben, die nicht selber wieder als Glieder oder Elemente in Sachverhalte eingingen und Sachverhalte begründeten. Ja man könnte das, was Augustinus in den Soliloquia von der Wahrheit sagt, nämlich daß selbst, wenn die ganze Welt unterginge und es nichts mehr gäbe, es immer noch wahr bliebe, daß es nichts gäbe, weshalb die Wahrheit niemals untergehen kann,379 auch und vor allem auf die Sachverhalte anwenden und sagen: Selbst wenn es nichts gäbe (was aus noch viel tieferen Gründen des notwendig Seienden unmöglich ist), bestünde immer noch der Sachverhalt, daß es nichts gibt und allein schon deshalb ist es in sich unmöglich, daß es überhaupt nichts gibt, da es zumindest notwendig Sachverhalte geben muß. Dies gilt keineswegs von Dingen und deren Eigenschaften, und auch nicht von realer Existenz, daß sie immer von anderen Dingen oder Sachverhalten weiter und weiter begründet würden. 3.2.8. Die notwendige Unendlichkeit der Anzahl von Sachverhalten

Daher gibt es notwendig unendlich viele Sachverhalte, ja – wie dies Augustinus als Gegenstand des unbezweifelbaren Erkennens nachwies – es gibt sogar unendlich viele Sachverhalte, die aus jedem einzigen evident gewußten Sachverhalt hervorgehen: „Wenn ich weiß, daß es wahr ist, daß ich bin“ (oder daß es so ist, daß ich bin) weiß ich auch, daß es wahr ist, daß es wahr ist, daß ich bin bzw. daß dies der Fall ist, d.h. daß es so ist, daß ich bin, usf. ad infinitum. Oder wenn ich nicht irren will, ist es auch wahr, daß es wahr ist, daß ich nicht irren will, usf. ad infinitum:380 379

380

Vgl. Augustinus, Soliloquia [[CSEL 89 S. 83/15] Corpus Augustinianum Gissense a C. Mayer editum] Augustinus, De Trinitate, XV, XII, 21. Vgl. auch [[CCL 50A, S. 493/85] Corpus Augustinianum Gissense a C. Mayer editum]. Die absolut gewissen, unmittelbaren

288

KAPITEL 3

Aber dies ist nur die formalste Unendlichkeit der Sachverhalte, wie sie auch aus der Unendlichkeit der natürlichen Zahlenreihe, der möglichen Brüche, der Stellen irrationaler Zahlen usf. in tausenderlei Richtungen folgt. Diese Konsequenz aus der Annahme von Sachverhalten – ihre unendliche Anzahl – und die gefürchteten Antinomien des Unendlichen haben manche Autoren (wie Roman Ingarden und noch dezidierter Barry Smith) bewogen zu behaupten, daß nur das fundamentum in re von Sachverhalten, wenigstens von negativen Sachverhalten, wie Ingarden einschränkt, nämlich Dinge und deren Eigenschaften, wirklich bestünden bzw. existierten. Sachverhalte selber hingegen, zumindest negative Sachverhalte, wenn sie auch das sind, was das Urteil wahr macht (truthmakers), und gemäß den Vorgegebenheiten der Existenz und Eigenschaften der Dinge, die allein unabhängig vom Denken und Urteilen bestünden, geformt werden sollten, würden nach dieser Auffassung erst durch das Denken als solche geschaffen oder produziert. Diese von Ingarden, Peter Simon, Barry Smith und anderen in verschiedener Form und Radikalität verteidigte These, an der zweifellos richtig ist, daß nicht jeder negative Sachverhalt, wie daß ich nicht ein Wolke bin, gleich fest und sinnvoll im Sein verankert ist wie etwa daß ich ein Mensch bin, läßt sich jedoch unmöglich als ein Gegenargument gegen die Einsicht geltend machen, daß es unendlich viele Sachverhalte gibt und geben muß. Das wird insbesondere evident, wenn man die Auflösbarkeit der behaupteten Antinomien zeigen kann, deren vermeintlich unausweichliches Auftreten das Hauptargument gegen die Unendlichkeit dieser Sachverhalte darstellt,381 und dann auch – ohne in unüberwindliche Widersprüche zu fallen

381

und durch Sinne nicht vermittelten Erkenntnisse, sowie die wahren Urteile und die diesen entsprechenden Sachverhalte aber umfassen aber keineswegs nur eine solche formal-unendliche Anzahl, sondern auf allen Gebieten, seien es Raum, Zeit, Körper, Bewegung, Farbverhältnisse, seien es sittliche Werte und Gegebenheiten, seien es logische Prinzipien und metaphysische Wirklichkeiten, die Person und ihre verschiedenen Akte oder die Kontingenz aller uns bekannten Dinge, seien es ästhetische Gegebenheiten, sei es die Gemeinschaft, das Recht und seine Bereiche, der Staat usw. – überall finden wir unzählige material verschiedene notwendige Wesenheiten und die Sachverhalte, die in ihnen gründen. Vgl. Josef Seifert, „Das Antinomienproblem als ein Grundproblem aller

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– die dem Mathematiker angesichts der natürlichen Zahlenreihe, der Anzahl der Primzahlen, Punkte usf. ganz geläufige Unendlichkeit382 anerkennt. Auch zeigt es sich vom Wesen der Wahrheit her als notwendig, daß nicht nur eine unbestimmte ‘res’ als vages ontisches Fundament von Sachverhalten, sondern genau diejenigen Sachverhalte selbst, die in wahren Urteilen behauptet werden, in einer dem Urteil gegenüber autonomen Weise bestehen müssen.383 3.2.9. Die Daseinsform von Sachverhalten: Sachverhalte bestehen und existieren nicht

Husserl, Reinach und schon Alexius Meinong haben betont,384 daß man von Sachverhalten nicht sagen könne, sie „existierten“ oder sie „existierten nicht“, sondern sie „bestünden“ oder „bestünden nicht“. Es handelt sich also um eine eigentümliche Seinsform, wie sie Sachverhalten eigen ist. In dieser These drücken die genannten Philosophen meines Erachtens eine wichtige Einsicht aus, die darauf hinweist, daß die Form, in der Dinge und jene, in der Sachverhalte sind, grundverschieden ist. Es ist interessant zu

382

383

384

Metaphysik: Kritik der Kritik der reinen Vernunft“ in Prima Philosophia, Bd. 2, H 2, 1989, sowie Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant; vgl. auch meine „Ausführungen zur Frage danach, was existieren heißt in ihrem Verhältnis zur Sachverhaltsproblematik“ in Josef Seifert, Sein und Wesen, Kap. 2; 3. Zwar gibt es in der Philosophie der Mathematik, etwa im Intuitionismus, immer wieder neue Versuche, das Unendliche als bloße subjektive Fiktion oder Ansetzung zu begreifen, aber diese Versuche müssen meines Erachtens scheitern. Vgl. dazu auch Bernard Bolzano, Paradoxien des Unendlichen, hrsg. von F. Prihonský (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1975); Philosophische Bibliothek Band 99; 1920 hrsg. von Alois Hofler, 1955 Unveränderter Abdruck; 1975 Zweite Auflage. Mit Einleitung, Anmerkungen, Registern und Bibliographie neu herausgegeben von Bob van Rootselaar. Eine Darstellung und Entwicklung unserer ausführlicheren Diskussion mit Smith und Mulligan über diesen Punkt würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen und wird einem Buch über Antinomien und logische Paradoxien vorbehalten. Vgl. den Text Reinachs darüber und die Stellenangaben bei Husserl und Meinong in Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, zit., [85], S. 116.

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KAPITEL 3

beobachten, daß diese Einsicht viel eher als Pfänder, der jede ontologische Bedeutung der Kopula im Urteil bestreitet, Conrad-Martius recht gibt, wenn sie im Rahmen ihrer Pfänderkritik in Das Sein sagt, daß auch die Kopula im Urteil neben der Hinbeziehungs- und der Behauptungsfunktion das „reine Sachverhaltssein“ aussage, womit sie gewiß dasselbe, oder wenigstens etwas Ähnliches meint wie Reinach mit dem ‚Bestehen‘. Diese Einsicht ist für die Wahrheitstheorie ungemein wichtig, da die relativ dünne und doch echte Seinsform des Sachverhalts, das Bestehen, wie wir noch weiter ausführen werden, jene Einwände zerstreuen kann, die Franz Brentano gegen die klassische Theorie der Wahrheit als Übereinstimmung des Urteils mit der Wirklichkeit vorbringt, indem er darauf hinweist, daß Urteile wie „es gibt kein Nichts“ nicht mit irgendeinem existierenden Seienden, mit irgendeiner Wirklichkeit übereinstimmen, weshalb er die Adäquationslehre der Wahrheit verwirft und durch seine überaus kritikbedürftige Evidenztheorie der Wahrheit ersetzt. Wenn man hingegen nicht nur das Sein der Dinge, das in den von Brentano gemeinten Fällen gewiß nicht vorliegt, sondern auch das Bestehen von Sachverhalten als eine Seinsform anerkennt, dann liegen in allen von Brentano angegebenen Fällen negative oder positive Sachverhalte vor und besteht keinerlei Grund, die klassische und schlechthin unerläßliche, vor allem aber von der Evidenz der Wahrheit her geforderte Lehre von der Wahrheit als adaequatio (orthótes) zu verwerfen. Jedes wahre Urteil stimmt dann nämlich in seinem behauptenden Hinstellen eines Sachverhalts mit einem tatsächlich unabhängig vom Urteil bestehenden positiven oder negativen Sachverhalt überein. Die Frage, welche Seinsform Sachverhalte besitzen und in welchem Sinne ihr Bestehen sich vom Existieren unterscheidet, muß allerdings innerhalb eines breiteren Spektrums der verschiedenen Seinsweisen und Seinsmodi gesehen werden.385 385

Ich möchte hier auf ein andernorts ausführlich erörtertes Problem und einen Widerspruch in Reinachs Position hinweisen: einerseits unterscheidet er das Existieren der Dinge vom Bestehen der Sachverhalte, andererseits behauptet er, die Existenz selber sei ein Sachverhalt. Schon da Sachverhalte ein derart eigenes, von Existenz verschiedenes Sein besitzen und selbst im Falle realer Sachverhalte niemals voll in die Wirklichkeit eingehen, wie die Dinge, können sie unmöglich deren Existenz ausmachen.

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Wenn wir nämlich auch Reinach darin zustimmen, daß Sachverhalte eine eigene Seinsform, jene des ‚Bestehens‘, haben, so soll doch damit keineswegs ausgeschlossen werden, daß innerhalb der Seinsform der Sachverhalte selber immens viele weitere Unterschiede bestehen. Diverse Sachverhalte bestehen in sehr verschiedener Weise und können in jeweils ganz unterschiedlicher Form real werden. Wenn wir z.B. an die Handlung denken, in der wir einen Sachverhalt realisieren wollen, erkennen wir den ungeheuren Unterschied zwischen möglichen Sachverhalten und tatsächlich bestehenden Sachverhalten, die sich aber auf reine Möglichkeiten beziehen; und zwischen diesen beiden Sachverhaltsarten und wirklichen Sachverhalten, die nicht nur eine besondere Seinsform haben, die ihnen erst erlaubt, als solche überhaupt in die wirkliche Welt eingehen zu können (was rein ideale Sachverhalte oder solche, die sich auf Möglichkeiten beziehen, prinzipiell nicht können), sondern die bereits realisiert sind und deren Elemente reale Seiende sind, besteht noch einmal ein gewaltiger Unterschied. So ist nicht nur das Sein im allgemeinen ein analoger Begriff, da es in radikal verschiedenen Weisen verwirklicht wird, sondern auch das ‚Bestehen‘ von Sachverhalten ist noch einmal ein analoger Begriff, da es im Reich des Möglichen und des Wirklichen, des Fiktiven und des ideal Notwendigen, mit einem Wort auf den diversen Seinsebenen und in den verschiedenen Seinsmodi nur in jeweils ganz verschiedener Weise verwirklicht werden und bestehen kann. Der Frage der Verschiedenartigkeit von Sachverhalten und ihrem ‚Bestehen‘, sowie dem Unterschied zwischen Bestehen und Existieren wenden wir uns also jetzt zu. Zunächst stellen wir dabei fest: Sowohl Dinge als auch Sachverhalte besitzen in den verschiedenen Seinsmodi ‚Sein‘ in jeweils so andersartigem Sinne, daß man nicht nur auf Sachverhalte, sondern ebenso auf manche Existenzformen von Objekten eher den Ausdruck ‚Bestehen‘ als jenen des ‚Existierens‘ anwenden wird. Vergegenwärtigen wir uns diese verschiedenen Seinsmodi und die Variationen im Seinssinn von ‚Gegenständen‘ (Sachen) und Sachverhalten innerhalb derselben: (1) Das reale Sein, von dem Reinach wohl in erster Linie redet und innerhalb dessen man das Existieren der Dinge vom Bestehen der Sachverhalte zu unterscheiden hat, ist der grundlegendste, realste Seins-

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KAPITEL 3

modus, die Urform des Seins, in der wirkliche Materie, lebendige Wesen, Pflanzen, Tiere, Menschen, Engel oder Gott existieren. Die in dieser realen Welt bestehenden Sachverhalte, die sich in unserer kontingenten Welt durch wirkliche Ereignisse verändern, ‚bestehen‘ in ganz anders realem, existierendem Sinne als etwa die „blassen“, rein möglichen Sachverhalte.386 (2) Einen scharfen Kontrast zu diesem Urtypus des Seins, der Wirklichkeit, bilden die „rein intentionalen Gegenstände“ die von Gnaden bewußter Akte leben und nur als Gegenstände des Bewußtseins Sein besitzen, auch wenn dies, einmal fixiert, einem gewissen Seinsmodus entspricht, der ein Maß für wahre oder falsche Aussagen über solche Gegenstände bildet, innerhalb deren man noch viele weitere Unterscheidungen wie zwischen unmittelbaren (wie Traumgegenständen) und abgeleiteten rein intentionalen Gegenständen (wie literarischen Figuren) durchführen mag.387 Die rein intentionalen Gegenstände bestehen nicht einmal im eigentlichen Sinne, sondern für sie gilt das esse est percipi Berkeleys, sie bestehen nur als Gegenstände des Bewußtseins. Dennoch begründen sogar diese ontisch auf schwachen Füßen stehenden rein intentionalen Gegenstände und Sachverhalte wiederum an sich bestehende Sachverhalte über die rein fiktiven Objekte und Sachverhalte. So kann es in der Literaturwissenschaft wahre und falsche Aussagen über literarische Gegenständlichkeiten geben, wie wenn jemand sagt, Othello und nicht Hamlet sei der Mohr von Venedig in Shakespeares Tragödien, was eine deutliche Autonomie der betreffenden Sachverhalte voraussetzt: es ist wirklich so, daß nicht Sancho Pansa, sondern Don Quixote in Cervantes‘ Roman der ‚irrende Ritter‘ ist, usf. Diese tatsächlich und an sich bestehenden Sachverhalte über rein intentionale sind ganz verschieden von den nur vermeinten und in Irrtümern behaupteten Sachverhalten, die keinerlei an sich bestehenden Seinsmodus besitzen. (3) Bedenken wir hingegen den Seinsmodus der ewigen, unveränderlichen idealen Wesenheiten und Gegenstände, so ist ihnen allen ein 386

387

In Märchen und verschiedenen Religionen werden den realen Wesen auch die für real gehaltenen ‚Dschins‘, Zwerge und Riesen, Feen, Luftgeister, Götter und Göttinnen zugerechnet, die in ihrer Seinsform, also wenn sie existierten, auch real wären, wenn sie nicht existieren, rein intentionale Gegenstände sind. Zu diesem Unterschied vgl. Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk.

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unvergleichlich viel stärkeres Sein eigen als rein intentionalen Gegenständen, und zwar ein Sein, das man ebenfalls von realer Existenz dadurch unterscheiden mag, daß man es als ‚(ideales) Bestehen‘ bezeichnen möchte. Doch wenn man nicht nur idealen Sachverhalten, sondern auch idealen Wesenheiten selber, wie dem Dreieck als solchem oder der Wesenheit der Liebe ‚Bestehen‘ anstatt Sein zuschreiben will, um ihre Seinsform von jener realer Seiender abzugrenzen, so spricht man von Bestehen in einem ganz anderen Sinne als im Falle von Sachverhalten.388 Die idealen Wesenheiten ‚bestehen‘ und ‚sind nicht‘, wie man vielleicht sagen möchte, um ihren ganz anderen, nicht im eigentlichen Sinne realen Seinsmodus auszudrücken. Die hier als ‚Bestehen‘ apostrophierte Seinsform aber, die nicht nur den idealen Sachverhalten und Wesensgesetzen, sondern auch den Wesenheiten, Ideen und idealen Gegenständen wie Zahlen zukommt, ist ein ‚Bestehen‘ ganz anderer Art als die spezifische ‚Seinsform‘ von Sachverhalten, die Reinach als Bestehen kennzeichnet. (4) Daneben bilden auch die Möglichkeiten und möglichen Welten eine immense Seinssphäre, die die wirkliche endliche Welt zahlenmäßig so unendlich übertrifft, daß es für einen jeden einzelnen wirklichen Gegenstand und Sachverhalt in der Welt unendlich viele mögliche gibt. So gibt es unendlich Mal unendlich viele mögliche Welten, was man sich plastisch vor Augen führen mag, wenn man an die berühmte Schachlegende denkt, durch die der Erfinder des Schachspiels dem König, der ihn belohnen wollte, bewies, daß sein zu bescheiden klingender Wunsch, eine einfache Verdoppelung eines ersten Weizenkorns auf dem zweiten Feld und dann eine jeweilige weitere Verdoppelung auf dem dritten und den folgenden Feldern bis zum 64. Feld vorzunehmen, keineswegs bescheiden, sondern schlechthin unerfüllbar ist. Denn diese auch von Dante zitierte ‚Verdoppelung auf dem Schachbrett‘ führt zu einer so astronomischen Zahl von Weizenkörnern, daß kein Land der Erde sie hervorbringen und keine Regierung der Welt sie bezahlen könnte.389 Diese Zahl ist aber nichts im Vergleich mit der aus allen möglichen Kombinationen der 32 Figuren sich 388

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Anderswo unterscheide ich innerhalb des „idealen Seins“ zwischen eide (notwendigen idealen Wesenheiten), Ideen (in bestimmtem Sinne kontingenten idealen Wesenheiten), idealen Gegenständen wie Zahlen und idealen „Regeln“, wie sie in der Kunst eine wichtige Rolle spielen. Vgl. J. Seifert, Sein und Wesen, Kap. 1. Vgl. Josef Seifert, Schachphilosophie.

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KAPITEL 3

ergebenden möglichen Positionen auf dem Schachbrett, die die Anzahl der Sekunden seit Weltbeginn unvergleichlich übertrifft. Diese Zahl aber ist wiederum wie schlechthin nichts im Vergleich zur unendlich Mal unendlichen Anzahl möglicher Welten. Diese möglichen Welten (die noch ihrerseits eine Unterscheidung zwischen realen und rein idealen Möglichkeiten und andere Unterscheidungen zulassen) sind nicht einfach Nichts und auch von ihnen kann man, im Hinblick auf ihr relatives Nichtsein sagen, sie existierten nicht, sondern ‚bestünden.‘ Aber auch dann ist das ‚Bestehen‘ in einem anderen Sinne gemeint als wenn man es Sachverhalten zuschreibt. (5) Auf den Seinsmodus rein logischer Entitäten wie Begriffe und Urteile werden wir noch ausführlich zurückkommen. Von ihnen werden wir nicht einmal sagen, sie bestünden, sondern ihnen eine andere Seinsform von rein logischen Gebilden oder entia rationis, oder auch, wenn wir nach dem letzten Träger der ganzen Urteilswahrheit blicken, eine Art idealer Existenz zusprechen, die wir aus später erörterten Gründen nicht als ‚Bestehen’ apostrophieren möchten. Auf diesem breiteren ontologischen Hintergrund gesehen, dürfen wir zwar Reinachs These, daß Sachverhalte einen besonderen Seinsmodus des Bestehens haben, der sich von der Existenz von Dingen unterscheidet, voll zustimmen, müssen aber seine Meinung, nur Sachverhalte besäßen die Seinsform des ‚Bestehens‘, entsprechend modifizieren und einschränken, auch wenn wir diese anderen Arten von Bestehen ihrerseits von jenem der Sachverhalte abgrenzen und insofern Reinach ganz zustimmen. Auch müssen wir innerhalb des Bestehens von Sachverhalten eines in der real existierenden, der idealen, der möglichen und anderen Welten unterscheiden. 3.2.10. Sachverhalte können zeitlich und zeitlos, notwendig und kontingent, real und fiktiv sein und an allen Seinsmodi in bestimmtem Maß teilhaben: eine Kritik an Meinongs und Reinachs These der Zeitlosigkeit aller Sachverhalte (Objektive)

Weil Sachverhalte bestehen und nicht existieren und weil sie in Bezug auf alle Dinge bestehen, können sie sowohl zeitlich als auch zeitlos,

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wirklich und fiktiv usf. sein und an allen anderen Seinsmodi entsprechend teilhaben. Dies haben Reinach und Meinong übersehen, wenn sie glaubten, daß alle Sachverhalte zeitlos wären. Dies ist ein bei so scharfsinnigen Analytikern der Phänomene seltsam den Tatsachen ins Gesicht schlagender Irrtum, der höchstens darin eine gewisse Erklärung finden kann, daß es tatsächlich auch in Bezug auf zeitliche Vorkommnisse zeitlose Sachverhalte sowie zeitlose Wahrheiten gibt. Während ich diese letztere These keineswegs leugne, sondern als wahr anerkenne, so ist es doch unhaltbar zu leugnen, daß es auch unzählige Sachverhalte gibt, die in der realen Welt bestehen und die ebenso wie die zeitlichen realen Dinge zu bestehen beginnen und aufhören. Daß ich gegenwärtig lebe, ist ein Sachverhalt, der nur während meines Lebens besteht und (zumindest im hier gemeinten Sinn von „leben“) weder vor meiner Empfängnis bestand noch nach meinem Tod bestehen wird, während jetzt, solange ich diese Zeilen schreibe, der Sachverhalt, daß ich lebe, notwendig auch besteht und derjenige, daß ich tot bin, der bald eintreten wird, noch nicht besteht. Es gibt also reale und vergängliche Sachverhalte wie daß ich zu einer Zeit lebe, zu einer anderen nicht, oder daß Theaitetos einmal sitzt und einmal steht. Vornehmlich für reale Sachverhalte gilt auch die von Aristoteles als notwendig erkannte Einschränkung des ontologischen Widerspruchsprinzips auf die gleiche Zeit. Ich kann nicht zugleich sitzen und nicht sitzen, und diese zeitliche Bestimmung des im Prinzip Widerspruchs ist eben nur deshalb erforderlich, weil es sich bei Sachverhalten wie jenen, daß ich sitze oder nicht sitze, um zeitliche Sachverhalte handelt, die einmal bestehen und ein anderes Mal nicht. Zeitlose kontradiktorische Sachverhalte schließen einander ja immer aus und deshalb ist hier keinerlei Hinzufügung zeitlicher Bedingungen für die Anwendung des Widerspruchsprinzips nötig. Wären alle Sachverhalte zeitlos, müßte dies für alle Sachverhalte und Urteile gelten, was zweifellos nicht zutrifft. Dies hindert nicht, daß über alle zeitlichen und vergänglichen Sachverhalte auch wieder zeitlose Sachverhalte sowie die ihnen entsprechenden zeitlosen Wahrheiten bestehen, worauf Reinach390 und Meinong in seinem Über Annahmen391 zu 390 391

Vgl. Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, S. 95-140. Alexius Meinong, „Über Annahmen“, in: Alexius Meinong, Gesamtausgabe (Graz:

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KAPITEL 3

Recht aufmerksam machen; aber diese sind nicht die Totalität der bestehenden Sachverhalte. 3.2.11. Alle Sachverhalte, die das ontische Fundament der Wahrheit von Urteilen sind und diese in gewissem objektivem Sinn ‚wahr machen‘, bestehen ‚an sich‘ im weiteren Sinn und besitzen eine ontische Autonomie gegenüber dem Urteil, unterscheiden sich deshalb von den nicht tatsächlich bestehenden und rein intentionalen Sachverhalten, die Gegenstand von irrigen Meinungen und falschen Urteilen sind

Wie wir noch eingehender sehen werden, können Sachverhalte rein als bloße intentionale Gegenstände, was sie ja auch im irrigen Meinen und Behaupten sind, nicht das Fundament der Urteilswahrheit bilden, sondern nur jene Sachverhalte, die ein bestimmtes Maß an Autonomie und Unabhängigkeit besitzen, sind dasjenige Sein, diejenige ‘res’, mit der ein wahres Urteil übereinstimmen muß, um wahr zu sein. Dabei entspricht auch jedem ‚rein intentionalen Sachverhalt‘, etwa dem nur in einem irrigen Meinen vorgestellten Sachverhalt, wenn man ihn nicht so, wie der Irrende ihn vermeint und wie er nicht wirklich besteht, sondern so wie er in der Tat ist (etwa der Sachverhalt, daß ein bestimmter Sachverhalt vom Irrenden wirklich gedacht oder behauptet wird), ein tatsächlich bestehender und deshalb autonomer Sachverhalt, auf den wir uns in wahren Urteilen beziehen können, etwa indem wir über den Sachverhalt urteilen, den der Irrende wirklich gemeint hat, der aber nicht wirklich besteht. 3.2.12. Sachverhalte sind keine Relationen

Man könnte mit der aristotelisch-thomistischen Urteilslehre Sachverhalte mit Relationen gleichsetzen. Dabei kann man mit Reinach noch einmal einen Sinn der Relation, wie die Relation zwischen ‚links‘ und ‚rechts‘, Ähnlichkeit usf., und das Links-Sein oder Ähnlichsein unterscheiden, die auch Reinach als (ergänzungsbedürftige) Sachverhalte

Akad. Druck- u. Verlagsanstalt 1977), Bd. IV, Kap. iii, S. 42 ff.

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betrachtet.392 Damit meint er wohl, daß diese Eigenschaften nicht als solche den Dingen zugehören, sondern nur in Relation zu anderen und daß diesen Relationen die Sachverhalte entsprechen, daß eine Ähnlichkeit zwischen A und B besteht, daß ein Gegenstand sich links von einem anderen befindet, usf. Doch bleibt selbst hier, meine ich, die Relation der Ähnlichkeit oder des Linksseins von einem Sachverhalt verschieden, auch wenn Reinach die Relation der Ähnlichkeit als Sachverhalt und Platon den Sachverhalt, daß Theaitetos sitzt, als eine Relation zwischen Theaitetos und Sitzen auffaßt. In Wirklichkeit aber sind Sachverhalte nicht Relationen, so oft sie auch mit diesen verwechselt wurden. Es wird zum besseren Verständnis dafür, daß Sachverhalte sich von Dingen und deren Attributen unterscheiden, nützlich sein klarzulegen, daß Sachverhalte nicht einmal in jenem besonderen Sinne von Relationen Akzidenzien oder Attribute von Dingen sind. Dadurch wird noch zugleich und vor allem deutlicher hervortreten, daß Existenz weder ein Sachverhalt noch eine Relation sein kann. Insbesondere negative Sachverhalte sind sicherlich keine Relationen, da der Sachverhalt, daß Theaitetos nicht sitzt, sicher nicht eine negative Relation (gibt es eine solche überhaupt?) zwischen Theaitetos und Sitzen ist, was ebenfalls die allgemeine Verschiedenheit von Relation und Sachverhalt eindeutig beweist. Diese kann man auch daraus erkennen, daß viele Prädikate von Relationen überhaupt prinzipiell niemals Sachverhalten zukommen können. Alle Relationen bzw. Beziehungen wie jene von 1 zu 2, von Vater zu Sohn, von Mensch zu Gott im Geschöpfsein, sind als solche keine Sachverhalte. Das kann man leicht daraus erkennen, daß ich nicht Vaterschaft als solche, das Verhältnis des Doppelten, oder 1:2 als solches urteilsmäßig behaupten kann, während ich jeden Sachverhalt in einem Urteil aussagen kann. Umgekehrt ist kein Sachverhalt selber einfach ein Verhältnis oder eine Relation von A zu B. Der Sachverhalt hat immer einen gewissen, von bestimmten Dingen losgelösten Charakter, indem er nie, wie die Relation, den Charakter eines Akzidenz, einer relationalen Eigenschaft von Dingen besitzt, sondern diese vielmehr von außen und ‚von oben‘ her umfaßt und in sich begreift, ohne ihnen selbst zuzukommen oder als Eigenschaft 392

Vgl. Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, zit., [91-92], S. 121.

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anzugehören. Auch bestehen Sachverhalte niemals, wie Relationen, zwischen Dingen, so sehr sie selbstverständlich auch selber in Sachverhalte eingehen müssen: ein Sachverhalt besteht jedoch nicht zwischen Vater und Sohn, Mutter und Kind, der Zahl 1 und 2, wie Relationen. Die Evidenz der Verschiedenheit zwischen Relation und Sachverhalt tritt noch deutlicher hervor, wenn wir an die Prädikate bestimmter Arten von Relationen denken und erkennen, daß diese Attribute niemals Sachverhalten zukommen können. So zeigt sich etwa von der Natur der bewußten intentionalen Relation meines Erkenntnisaktes zu seinem Gegenstand her, daß diese Relation selbst nicht ein Sachverhalt ist und radikal von diesem verschiedene Prädikate besitzt, da ein Sachverhalt wesenhaft nicht erlaubt, bewußt auf etwas von ihm selber Verschiedenes gerichtet zu sein oder selber eine bewußte Beziehung eines Subjekts auf ein Objekt zu sein. Wenn folglich (manche) Relationen Merkmale besitzen können, die einem Sachverhalt niemals zukommen können, so beweist dies die Verschiedenheit dieser Art der Relation und von Relationen überhaupt von Sachverhalten, da sich innerhalb der Kategorie von Relationen zahllose bewußte Beziehungen finden, während Bewußtsein und eine intentionale Subjekt-Objekt-Relation niemals Sachverhalten zukommen kann. Relationen können bewußt sein: sie können nicht nur Gegenstände bewußter Akte werden, was von allem Seienden, Sachverhalten und sogar von Nichtseiendem gilt, sondern sie können auch selber wesenhaft bewußte Relationen sein, wie die Bezogenheit des Wahrnehmungsaktes auf die wahrgenommene Kuh. Hingegen können nie und nimmer Sachverhalte als solche eine bewußte Beziehung ihrer Elemente sein, auch wenn sie sich auf Bewußtsein beziehen. Der Sachverhalt, daß ich in eine bewußte erkennende Relation zu etwas eintrete, ist z.B. nicht selber durch Bewußtsein charakterisiert, er ist in keiner Weise eine bewußte Relation zwischen einer Person und einem Gegenstand. Auch gibt es zahlreiche materielle Relationen, wie ein doppelt so Großsein von A als B, während Sachverhalte niemals in solcher Weise in die materielle Welt eingehen und in ihr bestehen oder Körper selbst kennzeichnen können. Sachverhalte können keine derartigen relationalen physischen Eigenschaften haben. Ferner können Sachverhalte überall bestehen, auch dort, wo es nichts

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gibt: z.B. können wir sagen: „Das Nichts ist kein Ding“, „Es gibt kein wirklich seiendes oder gar lebendiges Nichts“. Wo soll hier eine Relation bestehen? Wie kann das radikale Nichts in Beziehung zu etwas anderem stehen, Relationen zum nicht-Geben besitzen? All dies scheint ungereimt. Wir werden sehen, daß genau an diesem Punkte Brentano mit seinen Einwänden gegen die klassische Wahrheitsdefinition der ‘adaequatio intellectus et rei’ einsetzt. In diesem Zusammenhang werden wir die fundamentale Bedeutung der Entdeckung der Kategorie, oder besser, der transzendentalen, weil auf allen Ebenen bestehenden, Seinsform des Sachverhalts besser erkennen. Wenn man in einer schwachen Korrespondenztheorie der Wahrheit sagen möchte, daß keine so exakte Korrespondenz zwischen dem Behaupteten, einem Sachverhalt, und der Wirklichkeit bestehe, sondern daß es genüge, daß es umherlaufende Kühe und Muh-Sagen gibt, um wahre Urteile zu fundieren, muß man einwenden: Urteile müssen, wenn sie für Logik und Philosophie brauchbar sind, nicht mit ‚irgend etwas dort draußen‘ übereinstimmen, sondern – wie Pfänder in seiner Philosophie des logischen Prinzips vom zureichenden Grund gezeigt hat – in einer ganz genauen und präzisen Weise mit einer bestimmten Art von Gegenstand, nämlich dem Sachverhalt. Daher ist es ganz unzulässig und ungenügend, eine Urteilstheorie zu entwerfen, in welcher kein exakter Bezugspunkt des Urteils, der Sachverhalt, besteht. Warum soll es ferner nicht tatsächlich genug Sachverhalte geben, um die Wahrheit jedes möglichen Urteils zu begründen, sondern sollen Sachverhalte ihr fundamentum in re nur in Gestalt von Dingen, ihren Eigenschaften und Relationen haben? Schreckt einen die unendliche Zahl der Sachverhalte? Dann sollte man auch aus Angst vor den unendlich vielen Zahlen und Primzahlen aufhören zu zählen, aus Angst vor den unendlich vielen Punkten und Teilstrecken aufhören, von diesen zu reden, und auch keine inkommensurablen Linien mehr anerkennen, welche die unendliche Teilbarkeit jeder Strecke voraussetzen? Oder schreckt einen der Gedanke, daß man nur mehr über Sachverhalte urteilt und nicht mehr direkt von Gabriel oder Johannes oder einer sonstigen Person reden könnte? Da braucht man nur zu verstehen, daß Dinge und Personen entscheidende Teile und Bezugspunkte verschiedener Sachverhaltsarten sind, daß Sachverhalte keine sonderbare Sphäre idealer Gegenstände, die von der Wirklichkeit beziehungslos getrennt sind,

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darstellen, sondern sich in ihrer irreduziblen Sachverhaltsgestalt präzise und genau auf Dinge und Personen beziehen, so daß jeder Sachverhalt, wenn er besteht, ganz präzise Bestimmtheiten von Dingen, Personen und Eigenschaften derselben impliziert, weshalb jedes urteilsmäßige Behaupten eines Sachverhalts zugleich ein Reden über Dinge oder Personen, darüber, daß sie sind oder nicht sind, so oder anders sind, Beziehungen haben oder nicht, handeln oder nicht, usf. darstellt. Wenn sie sich auf Personen beziehen, sind Sachverhalte keine Fremdkörper der Person gegenüber, sondern ganz in deren Sein, Leben und Tun eingebettet und sie können ohne Personen selber gar nicht bestehen; noch können sie erkannt werden, ohne daß dabei auch Dinge und Personen erkannt würden, und umgekehrt. Zurück zur Unterscheidung zwischen Erkenntnisrelation und Sachverhalt. Die Relation meines Erkenntnisaktes zu dessen Gegenstand kann als bewußte intentionale Relation klar vom Sachverhalt unterschieden werden, daß eine solche Relation besteht. Ein Sachverhalt ist weder je bewußt und intentional noch kommt er einem Akt zu wie die Erkenntnisrelation zum Erkenntnisgegenstand dem Akt des Erkennens selbst zugehört. Diese Relation ist eine dem Akt selbst in seiner Beziehung zum Objekt eigene Eigenschaft und besitzt nicht die erörterte Transzendenz des Sachverhalts gegenüber den Gegenständen und Akten, auf die dieser sich bezieht. Sie ist in der Tat eine Akzidenz, eine besondere Bestimmtheit einer Sache in ihrem Bezug auf eine andere. Der Sachverhalt ist keine solche einseitige oder doppelseitige Bestimmtheit meines Erkennens oder anderer Gegenstände und Attribute; er ist überhaupt kein Akzidenz. Die wesenhafte Unvereinbarkeit der Wesensbestimmtheiten von Relationen und Sachverhalten erweist sich genauso gut in anderen Fällen. So ist z.B. Ähnlichkeit in der Tat eine Relation zwischen den Farben Rot und Orange, der Sachverhalt hingegen, daß sie ähnlich sind, ist keine Ähnlichkeit, die Relation zwischen Vater und Sohn besteht in einer realen Abhängigkeit des Gezeugtseins durch den Vater (und im Falle einer tieferen Vaterschaft in vielen weiteren Relationen), einer Abhängigkeit, die sich niemals vom Sachverhalt aussagen läßt und die nie im Sachverhalt selbst besteht; eine Relation kann in einer Abhängigkeit kausaler Art bestehen, zwischen Sachverhalten hingegen bestehen Grund-Folge-Verhältnisse, nicht Kausalbeziehungen, auch wenn sie natürlich infolge von Ursachen eintreten und in diesem Sinne gleichsam „indirekt verursacht“ sein

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können. So kann eine Bombenexplosion die Ursache für den Sachverhalt sein, daß jemand seinen Vater im Krieg oder jemand anderer sein Gehör verloren hat, aber direkt verursacht die Bombe den Tod oder die Taubheit, nicht die genannten Sachverhalte. Um eine Relation, z.B. Vaterschaft, zum Gegenstand eines Urteils zu machen, muß ich ferner über die Relation als solche hinaus- und zum entsprechenden Sachverhalt übergehen. Die Relation Vater-Sohn, GelbOrange, Erkenntnis-Gegenstand, Größe-kleiner usf. kann genauso wenig unmittelbar Gegenstand meines Urteils werden wie ein Ding oder sein Attribut. Was ist also ein Sachverhalt? Können wir ihn nicht doch hinreichend durch Dinge und deren Eigenschaften erklären? Bedürfen wir nur der Kategorie der Relation, um den Gegenstand des Urteils zu erklären, aber keiner eigenen formal-ontologischen Kategorie des Sachverhalts? Gibt es irgendeine Charakteristik des Sachverhalts, die nicht zugleich eine solche von Relationen wäre? Die Antwort auf diese Frage haben wir schon gegeben, doch machen wir noch einen zweiten Versuch ihrer Beantwortung, da wir wahrscheinlich nicht alle Leser oder Hörer dieser Ausführungen überzeugt haben werden. So möchten wir das Problem in neuer Weise entfalten und die Einwände gegen unsere Unterscheidung zwischen Relation und Sachverhalt so stellen: 1. Einwand: Zunächst, so könnte man behaupten, zeige sich die trotz unserer Argumente festzuhaltende Identität zwischen Sachverhalt und Relation schon rein sprachlich dadurch, daß derselbe sprachliche Ausdruck – z.B. „das Muhen der Kuh“ – sowohl den Sachverhalt als auch die Relation zwischen Kuh und Muhen meinen kann.393 Darauf erwidere ich: Dieser selbe sprachliche Ausdruck kann sicherlich beides, und auch noch die Tätigkeit des Muhens selbst als Eigenschaft oder Tätigkeit der Kuh, meinen; er kann auch auf verschiedene Relationen zwischen Kuh und Sachverhalt abzielen. Aber dies beweist noch nicht, daß Sachverhalte und Relationen dasselbe sind. Derselbe Satz „Ein Mann namens Rogoshyn reiste am 7. November 1846 von Moskau nach St. Petersburg“ kann ein 393

Während seiner Studien an der IAP stellte Dr. Michael Wenisch diese Einwände im WS 1991.

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KAPITEL 3

Quasi-Urteil in einem Roman ausdrücken, das nur die fiktive Welt aufbaut,394 oder er kann als bloßer Satz der deutschen Sprache betrachtet werden; er kann aber auch ein wirkliches Urteil zum Ausdruck bringen. Daß all dies in demselben Satz ausgedrückt werden kann, heißt jedoch offensichtlich nicht, daß all dies dasselbe ist, genausowenig wie wenn ich ein Bild einer Katze und eine lebendige Katze für identisch halten darf, weil das Wort ‚Katze‘ beide und vieles andere meinen kann. In gleicher Weise ist das Muhen der Kuh, als Sachverhalt verstanden, die Tatsache, daß die Kuh muht. Daß dies der Fall ist, dies wird dann mit dem zitierten Satz gemeint. Wenn der sprachliche Ausdruck hingegen das Muhen selbst meint, dann ist eine lautstarke Tätigkeit, nicht eine Relation gemeint, ja man könnte auch hier noch zweierlei meinen: die Tätigkeit der Kuh, die man als solche nicht hört, und den durch dieses Muhen als Tätigkeit hervorgebrachten eigentümlichen Ton, den man hört. Z.B. hören wir das Muhen in diesem Sinn, aber wir verstehen und hören nicht die Tätigkeit der Kuh und erst recht nicht die Relation zwischen der Kuh und ihrem Muhen, eine Relation, die zwischen der Kuh als Subjekt und dem Akzidenz der Tätigkeit des Muhens, oder zwischen der Tätigkeit des Muhens als Ursache und ihren Wirkungen bestehen, alles Gegebenheiten, die niemals Sachverhalte sein können. Sicher bilden beide, Relationen und Sachverhalte, eine Einheit und sind eng mit einander verknüpft. Aber daß sie nicht wegen ihrer engen Verknüpfung identisch sind, läßt sich auch daraus ablesen, daß das meinende Abzielen auf eine Relation als solche noch nicht ein Urteil konstituiert und, mehr noch, keinen Gegenstand anzielt, der als solcher prinzipiell je geurteilt werden oder Gegenstand anderer objektiver Gedanken, z.B. von Fragen und Wünschen, sein kann. Der Unterschied zwischen Relation und Sachverhalt zeigt sich besonders deutlich dort, wo ein einziges Wort schon ein Wesen in Relation zu einem anderen meint, z.B. Vater, Sohn, Tochter, Mutter, links, rechts usf. Hier ist es jedermann klar, daß niemand solche relationalen Eigenschaften als solche zum Gegenstand des Urteils machen kann. Links 394

Vgl. Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk. Vgl. auch Josef Seifert, “Ingarden’s Theory of the Quasi-Judgment”, zit.

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ist eine relationale Richtung, aber ich kann nicht urteilen: ‚links‘; Vater meint einen Mann in Relation zu einem Kind, aber ich kann deshalb nicht urteilen: ‚Vater‘, und ebensowenig ist „Marias Vater“, ein Ausdruck, der eine Relation ausdrückt, selber möglicher Gegenstand eines Urteils; auch nicht „Vaterschaft“ (also die Relation selbst). Nun könnte jemand einwenden, nicht alle Relationen könnten Gegenstand von Urteilen sein, sondern nur manche, komplexere, wie sie der Ausdruck ‚Subjekt-Objekt-Relation‘ oder ‚Vater-Sohn-Beziehung‘ meint. Aber wenn ich jemand frage, was er gerade behaupten wollte und er antwortet: die Vater-Sohn-Beziehung oder die intentionale Richtung eines Aktes auf einen Gegenstand, der kein immanenter Teil desselben ist, so werden wir sagen: was ist es mit diesen Beziehungen, was Du behaupten wolltest? Wir werden also nach einem Sachverhalt als einem eindeutig von diesen Relationen verschiedenem Etwas fragen. Mehr noch: die Sachverhalte dürfen zwar keineswegs sämtlich in eine Sphäre von idealen Gegenständen versetzt werden, sondern es gibt zeitliche Sachverhalte, die in der wirklichen Welt vorkommen, wie daß jetzt die Kuh muht, später aufgehört hat oder aufhören wird zu muhen, etc. Dennoch bestehen Sachverhalte in lockererer Beziehung zu den Sachen als Relationen. Z.B. existiert die Relation zwischen der Kuh und ihrem Muhen nur solange die Kuh tatsächlich muht. Das Muhen und der mit ihm verbundene Lärm existieren jetzt nicht mehr. Auch der Sachverhalt, daß die Kuh jetzt wirklich muht, kommt und vergeht. Aber es bleiben immerhin die Sachverhalte bestehen, die nicht so vergänglich sind wie die Relationen selbst. Es bleibt der Fall, daß die Kuh dann und dann gemuht hat. Zwar gibt es auch zeitliche Sachverhalte, was Meinongs Philosophie der Objektive und Adolf Reinach leugneten. Nicht alle Sachverhalte sind zeitlos. Gewisse Sachverhalte in bezug auf jedes Ding aber bilden eine ontisch dauerhaftere Sphäre, die es erst erlaubt, über Vergangenes und Zukünftiges zu urteilen und zu sagen: es ist tatsächlich so, daß dies oder jenes eintreten wird oder geschehen ist. Auch in dieser Hinsicht – außer durch ihre alleinige Eignung, direkter Gegenstand von Urteilen zu sein – unterscheiden sich Sachverhalte von Relationen. Selbst jene Sachverhalte, die sich auf die reale, zeitliche Welt beziehen, sind also von dieser viel unabhängiger als Relationen und sind deshalb viel ähnlicher idealen Gegenständen – wie Meinong zu recht hervorgehoben hat, wenn er auch

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sämtliche Sachverhalte mit solchen zeitlosen verwechselt und damit der Tatsache der Existenz zeitlicher Sachverhalte nicht Rechnung trägt, während es in Wirklichkeit zeitliche und zeitlose Sachverhalte gibt, ähnlich wie es auch zeitlose ideale und reale Relationen gibt.395 Es besteht hier jedoch auch ein wesentlicher Unterschied zwischen Sachverhalt und Relation. Es gibt sowohl reale als auch zeitlos bestehende Sachverhalte in Bezug auf zeitliche Relationen zwischen Personen und Ereignissen, verschiedenen Dingen, etc. Und diese zeitlos bestehenden Sachverhalte über oder in Hinsicht auf in der Zeit verwirklichte und in ihr vergangene Relationen unterscheiden sich von den selber vergangenen Relationen und zeigen dadurch ihre Verschiedenheit von diesen; denn über diese vergangenen Dinge und Ereignisse und ihre Relationen bestehen weiterhin in zeitloser und unvergänglicher Weise Sachverhalte, während die Relationen selbst nicht mehr bestehen;396 die vergangenen realen Relationen selber besitzen nicht diese Art zeitloser Präsentialität der Sachverhalte über Vergangenes, sondern sie gehen in die Hallen der Vergangenheit in einer Weise ein, wie weder die zeitlos bestehenden Sachverhalte über vergangene Relationen noch die Wahrheit über sie je in die Vergangenheit eingehen können, was wiederum die Verschiedenheit der Sachverhalte von den Dingen und ihren Akzidenzien und ihre eigentümliche Losgelöstheit von diesen dartut. Übrigens unterscheiden sich noch einmal ideale Sachverhalte über Zeitloses von zeitlos bestehenden historischen Sachverhalten über Vergangenes.

395

396

Vgl. Alexius Meinong, „Über Annahmen“, in: Alexius Meinong, Gesamtausgabe (Graz: Akad. Druck- u. Verlagsanstalt 1977), Bd. IV, Kap. iii, S. 64 ff. Dies schließt nicht aus, wie Erich Heintel in verschiedenen Schriften hervorgehoben hat, daß auch über die Vergangenheit durch das Gegenwärtige und Künftige stets neue Sinnzusammenhänge entstehen, in welche das Vergangene eingebunden ist und durch die es seinen Sinn und Charakter ändern kann. Doch unterscheiden sich diese stets neuen Sachverhalte in Bezug auf Vergangenes und die neuen Relationen von den zeitlos bestehenden Sachverhalten über Relationen, die als solche vergangen sind, während es die in Bezug auf sie bestehenden Sachverhalte nicht sind.

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3.3. Trägerschaft anderer Prädikate durch Sachverhalte

3.3.1. Sachverhalte als Träger von Modalitäten

Meinong nennt ‚Objektive‘ und Reinach die Sachverhalte Träger von Modalitäten, von Zufälligkeit oder Notwendigkeit und dergleichen. Darin haben Meinong und Reinach zweifellos recht, doch meine ich, daß es, wie Pfänder397 ausführt, neben ontischen und psychischen Modalitäten andere Modalitäten ganz verschiedener Natur gibt, nämlich strikt logische Modalitäten, die in problematischen, assertorischen und apodiktischen Urteilen ihre Grundformen besitzen und sich nicht auf Modalitäten von Sachverhalten reduzieren lassen, worauf wir gleich noch zurückkommen werden. Im fünften Abschnitt dieses Kapitels werden wir sehen, daß diejenigen Modalitäten, die Sachverhalten zukommen können, meist nicht nur ihnen zukommen, aber doch sehr wichtig für das Verständnis ihres Wesens sind. Wir werden auch sehen, daß es neben denjenigen Modalitäten, die Sachverhalten zukommen können, andere gibt, die ihnen niemals zu Recht zugesprochen werden dürfen und die wir scharf von den Modalitäten der Sachverhalte abgrenzen müssen, um tiefer in die logische Struktur des Urteils und seine Wahrheit eindringen zu können. Denn es wird sich zeigen, daß für die Logik sowohl die ontischen Modalitäten von Sachverhalten als auch die völlig verschiedenen rein logischen Modalitäten wichtig sind, aber daß beide ganz andere logische Implikationen besitzen. In diesen Erkenntnissen liegen die Grundlagen für eine Reform der sogenannten ‚modalen Logik‘, in der m.E. häufig nur die ontischen Modalitäten, manchmal nur die logischen berücksichtigt werden, aber selten zwischen beiden unterschieden wird, obwohl sie ganz von einander verschieden sind und außerdem ganz verschiedene logische Konsequenzen haben. 3.3.2. Sachverhalte als Träger anderer Eigenschaften

Schließlich kann ein Sachverhalt, und dies ist für sein Wesen charak397

Vgl. Alexander Pfänder, Logik, „Lehre vom Urteil“.

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KAPITEL 3

teristisch, Träger vieler anderer Eigenschaften sein, etwa bestimmter Qualitäten und Werte wie des Tragischen, sittlich Rechten, usf., während er unmöglich Träger anderer Werte wie sittlicher Gutheit, die nur Personen besitzen können oder des Lebens sein kann. Er kann Träger der Aequitas als einer objektiven Rechtheit oder Gerechtigkeit sein; es kann etwa gerecht sein, daß ein Erbe gerecht verteilt wird oder daß einem Schuldigen Strafe zuteil wird, aber ein Sachverhalt kann unmöglich den moralischen Wert der Gerechtigkeit – ebensowenig wie übrigens die für diesen vorausgesetzten Qualitäten des Bewußtseins und der Freiheit – verkörpern oder besitzen. Ein Sachverhalt kann objektiv erfreulich und Gegenstand einer „Freude über“ sein, aber er kann nicht selber Freude empfinden noch kann er Gegenstand der Liebe oder der Freude an einem Gut wie einem Kind oder anderen Menschen sein. Eine Person als solche kann nicht tragisch sein, wohl aber ihr Schicksal, das ein komplexer Sachverhalt ist. Hingegen kann nur eine Person Tragik verstehen, unter ihr leiden, usf. So läßt sich der Sachverhalt dadurch von Gegenständen, Attributen und Relationen abgrenzen, daß man diejenigen Eigenschaften angibt, die er im Gegensatz zu diesen besitzen kann.

3.4. Äußere logische und ontische Wesensmerkmale und Relationen innerhalb der Sachverhalte 3.4.1. Relation des einander Einschließen

Reinach hebt die einsichtige Wahrheit hervor, daß Sachverhalte einander notwendig implizieren, einschließen und in ähnlichen Beziehungen zu einander stehen können, die auch eine wesentliche Grundlage der Logik der Schlüsse und Schlußfolgerungen sind. Reinach behauptet sogar, daß die Beziehung des einander Einschließens nur Sachverhalten zukomme. Ich meine jedoch, daß auch Urteile einander in ähnlicher Weise einschließen können wie Sachverhalte einander implizieren und einschließen, daß es sich dabei aber um eine andere und eindeutig rein logische Form des Einschließens handelt, die in den Bedeutungen und Urteilen gründet und sich innerhalb derselben bewegt:

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die Wahrheit des Urteils X schließt jene des Urteils y ein, was sich vor allem in den sogenannten ‚unmittelbaren Schlüssen‘ in der Logik auswirkt, d.h. in jenen Schlüssen, in denen, im Unterschied zum Syllogismus, aus der Wahrheit einer einzigen Prämisse die Wahrheit anderer Urteile oder eines anderen Urteils erschlossen wird. Wenn solche unmittelbaren Schlüsse material-logisch sind, d.h. in einer besonderen Kenntnis empirischer oder apriorischer inhaltlicher Beschaffenheiten gründen, handelt es sich nicht um ein logisches Einschließungsverhältnis von Urteilen, wohl aber bei formal-logischen unmittelbaren Schlüssen.398 3.4.2. Grund-Folge

Ganz verschieden von einem bloßen logischen bzw. formalontologischen Eingeschlossensein eines Sachverhalts in einem anderen ist die Beziehung von Grund-Folge, von der Reinach ebenfalls behauptet, daß nur Sachverhalte in dieser Beziehung zueinander stehen könnten. Dieses aus einander Folgen, das Grund-Folge-Verhältnis, könne ausschließlich zwischen Sachverhalten bestehen. Ein Sachverhalt könne zwar nicht die ontische Ursache anderer Ereignisse sein, sondern nur Dinge oder deren Tätigkeiten und Akte, doch könne sein Vorliegen der Grund für andere Sachverhalte sein. Daß es geschneit hat, ist der Grund dafür, daß es jetzt kalt ist; der letztere Sachverhalt ist die Folge des ersteren. Hier handelt es sich um ein GrundFolge-Verhältnis innerhalb der realen Welt, dem eine Beziehung zwischen Ursache und Wirkung zugrunde liegt. Allerdings ist das Grund-FolgeVerhältnis nicht selber das reale Ursache-Wirkungs-Verhältnis, sondern das erstere ist gleichsam nur etwas wie ein ‚material-ontisches‘ Abhängigkeitsverhältnis zwischen Sachverhalten, aber eines, das in diesem Falle das reale Verhältnis und die Begründung realer Sachverhalte betrifft und nur vorliegt, weil auch eine reale kausale Beziehung zwischen Schneien und weißer Farbe als Wirkung des Schneiens in der Natur besteht. Dieses inhaltlich in der Natur der Dinge begründete Grund-FolgeVerhältnis unterscheidet sich sicher von dem rein formal-logischen Grund398

Vgl. Alexander Pfänder, Logik, S. 253-288.

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Folge-Verhältnis zwischen der Wahrheit verschiedener Urteile sowie vom formal-ontologischen Grund-Folge-Verhältnis zwischen dem Bestehen verschiedener Sachverhalte. In dem Falle rein formal-logischer GrundFolge-Verhältnisse sehe ich keinen prinzipiellen Unterschied zwischen formal-ontologischen Verhältnissen zwischen Sachverhalten und zwischen den formal-logischen Grund-Folge-Verhältnissen zwischen der Wahrheit verschiedener Urteile, außer daß sich eben die eine auf die Wahrheit von Urteilen und auf Urteile, die ersteren auf die Sachverhalte beziehen und daß deshalb der volle zureichende Grund, dessen Folge die Wahrheit von Urteilen ist, nicht in den rein formal-ontischen Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Sachverhalten liegt, sondern auch in der Urteilsform und anderen Faktoren und Gesetzen, die spezifisch nur für die logischen Entitäten gelten. Unser obiges Beispiel vom Schneien hingegen stellt eine materialinhaltliche oder darin gründende material-logische Grund-Folge-Abhängigkeit dar, für deren Bestehen das kausale Verhältnis zwischen Schnee und Kälte ausschlaggebend ist, das nur empirisch feststellbar ist. Im Falle des folgenden Grund-Folge-Verhältnisses hingegen handelt es sich um ein formal-ontisches (oder auch formal-logisches). Aus einem Sachverhalt können in gleichsam formal-logischer oder präziser gesagt in formal-ontologischer Weise andere Sachverhalte folgen. Daraus, daß alle Einwohner von Florenz weiß sind, folgt, daß einige Einwohner in Florenz weiß sind; daraus, daß einige Einwohner von Florenz weiß und italienische Staatsbürger sind, folgt, daß einige Weiße italienische Staatsbürger sind, usf. Diese rein formalontologische oder onto-logische Weise des Folgens bestimmter Sachverhalte aus anderen verführte Adolf Reinach dazu, die Logik und Schlußgesetze auf Sachverhaltsrelationen reduzieren zu wollen, wobei er zwar ganz richtig erkennt, daß Sachverhalte in rein ontologischen Beziehungen zu einander stehen, die weiten Teilen der Logik exakt entsprechen und zugrundeliegen, und daß sich deshalb diese logischen Gesetze als Sachverhaltsgesetze (formalontologische Gesetze) erklären lassen, aber m.E. übersieht, daß es spezifisch logische Phänomene wie Bedeutungen, Begriffe, begriffliche Funktionen, Wahrheit und Falschheit etc. gibt, die einer Fülle logischer Gesetzmäßigkeiten unterliegen und eine Fülle von Merkmalen und Bedingungen besitzen, die den

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onto-logischen gegenüber eigenständig sind. Wenn wir Reinach in diesem seinem Versuch einer Reduktion der Logik auf formal-ontische Beziehungen zwischen Sachverhalten auch nicht folgen können, so ist doch klar, daß Reinach hier ganz wesentliche und verschiedene Formen des ontischen, logischen und erkenntnismäßigen Grund-Folge-Verhältnisses nennt, die nur zwischen Sachverhalten bestehen. Es kann jedoch auch ein Urteil bzw. dessen Wahrheit aus der Wahrheit anderer Urteile folgen und einen Grund für diese darstellen und diese logischen Grund-Folge-Verhältnisse, da sie sich auf Urteile und deren Wahrheit beziehen und auch andere rein logische Modalitäten und Eigenschaften aufweisen, lassen sich nicht auf formal-ontische reduzieren. Diesbezüglich scheint es mir nötig zuzugeben, daß auch innerhalb der rein logischen Gebilde logische Gründe und logische Folgen existieren, etwa im Rahmen von Schlüssen, und daß diese sich sowohl auf bestehende Sachverhalte als auch auf Urteile und deren Wahrheit beziehen können. Es scheint mir also Reinachs These zu exklusiv auf Sachverhalte bezogen zu sein und zu übersehen, daß auch Urteile in Grund-Folge-Beziehungen stehen können, auch wenn vielleicht Sachverhalten und Urteilen je eigene und verschiedene Arten des Grund-Folge-Verhältnisses entsprechen. Ganz anders verhält es sich, wenn man von Grund und Folge im Bereich der Erkenntnis oder im Bereich der kausalen Ordnung spricht, wie wenn man sagt, der Erkenntnisgrund für das Wahrnehmen von Feuer läge in der Wahrnehmung von Rauch und der Kenntnis eines allgemeinen empirischen Gesetzes des Verhältnisses zwischen Feuer und Rauch. Während in der realen Welt das Feuer die Ursache des Rauches ist, ist also im Erkenntnisbereich oft umgekehrt die Rauchwahrnehmung Grund für die Erkenntnis des Feuers. Oft verhalten sich übrigens die empirischen oder auch die apriorischen inhaltlichen rein ontischen Grund-Folge-Verhältnisse von Sachverhalten gegenüber den logischen Implikationen von Sachverhalten und Urteilen umgekehrt, ähnlich wie im Verhältnis zwischen Ursachen und Wirkungen innerhalb der realen Welt das Abhängigkeitsverhältnis oft umgekehrt wie im Bereich von Erkenntnisgründen verläuft: derselbe Sachverhalt, der in der wirklichen Welt Folge eines anderen ist, ist in der Sphäre des Erkenntnislebens Grund desselben; dasselbe, was in der wirklichen Welt

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Wirkung eines anderen Ereignisses ist, kann in einem logischen Schluß und auch in der Erkenntnis Grund sein: Grund der Wahrheit einer Konklusion oder, wenn derselbe Grund erkannt wird, Grund der Erkenntnis und in gewissem Sinne Ursache derselben sein, wenn man den Ursachebegriff ausdehnt.399 Was also in der wirklichen Welt Grund und Ursache ist, wird in der Sphäre des Erkenntnisgrundes Begründetes, und was ontologisch gesehen Wirkung ist, ist oft im Reich der Erkenntnis Grund. Weiters darf man Reinach fragen, ob nicht auch in der realen Welt Grund-Folge-Verhältnisse existieren, die nicht zwischen Sachverhalten bestehen. Dies hängt mit einem umfassenderen Verständnis dessen zusammen, was man unter ‚Grund‘ verstehen mag. Es gibt doch auch guten Sinn zu sagen: Der Grund für die Nässe der Straße sei der Regen, der in der Nacht gefallen sei und die Nässe sei die Folge des Regens, nicht nur des Sachverhalts, daß es geregnet hat. Ja wieso sollen nicht Ursachen eine besondere Art von Gründen darstellen, was sie sicher tun, wenn man ‚Grund‘ in jenem umfassenden Sinne versteht, wie er dem Prinzip vom zureichenden Grund oder der aristotelischen Unterscheidung von vier Ursachen zugrundeliegt. Kann nicht auch eine Ursache oder Tat in gewissem Sinne Grund für ein Ereignis oder einen Zustand sein? Wenn man an das Prinzip des „zureichenden Grundes“ denkt, so ist es mehr als fraglich, ob man Grund-Folge-(Grund-Begründetes-)-Verhältnisse nicht auf allen Seinsebenen und auch zwischen Seienden bzw. deren Tätigkeiten feststellen muß. Es wird also zu fragen sein, ob nicht beide Termini ‚Grund‘ und ‚Folge‘ viele Anwendungen zulassen und ob man nicht viele Arten der Gründe unterscheiden und dann erst jenes GrundFolge-Verhältnis identifizieren sollte, das ausschließlich im Reich der Sachverhalte (sowie in jenem der Urteile, insofern sich nämlich GrundFolge-Verhältnisse zwischen der Wahrheit verschiedener Urteile nicht von solchen zwischen verschiedenen Sachverhalten loslösen, aber auch nicht auf sie zurückführen lassen) besteht. Im Licht all dieser Schwierigkeiten scheint es mir mehr als fraglich, ob ausschließlich Sachverhalte in dieser Beziehung eines realen Grund-Folge-Verhältnisses zueinander stehen können.

399

Dies habe ich versucht in Josef Seifert, Essere e persona, Kap. 9.

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3.4.3. Sachverhalte stehen in der Relation kontradiktorischer Gegensätze zueinander

Jedem positiven Sachverhalt entspricht ein kontradiktorisch entgegengesetzter negativer. In dieser Hinsicht sind Sachverhalte ähnlich wie Urteile. Auch diese können, wenngleich in einem anderen, rein logischen (und nicht formal-ontischen) Sinn in einem kontradiktorischen Gegensatz zueinander stehen, welcher das Wahrsein, nicht das Sein beider kontradiktorischer Urteile ausschließt. Der Unterschied leuchtet auch daraus ein, daß zwei kontradiktorische Sachverhalte unmöglich zusammen existieren (bestehen) können, sehr wohl aber existieren/bestehen beide kontradiktorischen Urteile; sie können nur nicht beide im selben Sinn, zur selben Zeit usf. wahr sein. Es bleibt allerdings fraglich, ob nicht auch zwischen der Existenz und Nichtexistenz (die sich nicht auf Sachverhalte reduzieren läßt, wie Reinach fälschlich meint)400 einer Sache, oder ihrem Haben oder Nichthaben einer Eigenschaft, ähnliche Oppositionen kontradiktorischer Natur bestehen können, sodaß das in kontradiktorischem Gegensatz zu einander Stehen zu können keineswegs ausschließlich eine Eigenheit von Sachverhalten wäre.401 Man könnte dann höchstens versuchen, in diesem nicht-exklusiven Merkmal von Sachverhalten ein mit anderen Daten geteiltes Charakteristikum zu erblicken, das Sachverhalte immerhin (unter anderen unterscheidenden Merkmalen) auszeichnet, oder den besonderen präzisen Sinn herauszuarbeiten, in welchem nur Sachverhalte einander kontradiktorisch entgegengesetzt sind. 3.4.4. Sachverhalte unterliegen dem Prinzip des ausgeschlossenen Dritten in seinem ontischen Sinn

Ein Sachverhalt kann nur entweder bestehen oder der ihm entgegengesetzte negative Sachverhalt besteht. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. 400 401

Zu einer Kritik an dieser These vgl. Josef Seifert, Sein und Wesen, Kap. 2. Dies kann man nur dann leugnen, wenn man mit Reinach behauptet, Sein im Sinne von Existenz sei selbst ein Sachverhalt, was ich in Josef Seifert, Sein und Wesen, zit., Kap. 2 ausführlich zu widerlegen suchte.

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Die Frage ist, ob es ausschließlich für Sachverhalte gilt, daß es zwischen dem Sein eines Dinges im selben Sinne und seinem Nichtsein keine dritte Möglichkeit gibt. Oder gilt dies nicht ebenso für auch für Relationen oder für das Besitzen oder Nichtbesitzen von Eigenschaften? Eine eingehende und den Rahmen dieses Buches sprengende Untersuchung würde zeigen, daß dieses Prinzip des ausgeschlossenen Dritten ebenso wie das Widerspruchsgesetz auf alle Modi und Arten des Seins seine jeweils entsprechende Anwendung findet und keineswegs nur für Sachverhalte gilt, auch wenn diese Prinzipien auf Sachverhalte ihre präziseste und klarste Anwendung finden und, wie Reinach hervorhebt, ein kontradiktorischer Gegensatz zu Dingen oder Personen (ein Nicht-Ding oder eine Nicht-Person) als solchen unmöglich scheint. 3.4.5. Sachverhalte als Gegenstand bestimmter und niemals anderer affektiver Antworten und als Träger bestimmter Werte und Unwerte

In seinem Nachlaß erwähnt Reinach auch, daß wir an Sachverhalten oder über Sachverhalte Freude und Lust empfinden können. In diesem Rahmen wäre wohl ebenfalls in einem breiteren Rahmen weiter zu klären, welche affektiven Akte (etwa die „Freude über“, im Gegensatz zur „Freude an“, die sich auf Personen oder Kunstwerke beziehen kann, Wünsche etc.) sich ausschließlich auf Sachverhalte oder auch auf von Sachverhalten verschiedene Gegenstände beziehen können. Auch wäre zu erforschen, wozu Hildebrand in Die Idee der sittlichen Handlung einen wichtigen Beitrag geleistet hat,402 ob es gewisse Werte gibt, wie etwa den des Erfreulichen oder des Tragischen, die ausschließlich Werte oder Unwerte von Sachverhalten, im Gegensatz zu anderen Werten, etwa den moralischen, die ausschließlich Werte von Personen sein können. Im Gegensatz zu den moralischen Werten selber, die ausschließlich Personen zukommen können, stehen moralische Attribute wie das des sittlich Richtigen oder sittlich Falschen, des sittliche Geforderten oder des sittlich Erlaubten, die sich in bestimmter Form auf Sachverhalte beziehen, wenn 402

Vgl. Dietrich von Hildebrand, „Die Idee der sittlichen Handlung“ in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, 3. Band. Halle: Niemeyer, 1916, S. 126-251.

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auch deren genaue Relation zu Sachverhalten näher erforscht werden muß, die aber jedenfalls nicht Eigenschaften von Personen sind. Es kann etwa sittlich erlaubt sein, etwas Bestimmtes zu tun. Dieses Erlaubtsein, das niemals einer Person zugeschrieben werden darf, bezieht sich aber wohl primär auf bestimmte Handlungen, in einem anderen Sinn aber auch auf Sachverhalte, etwa wenn man sagt: „Es ist erlaubt, dies oder jenes zu tun“. Man sollte das „Erlaubtsein, daß ....“ vom „Erlaubtsein von etwas“ (einer Handlung) unterscheiden. Hier liegt ein weiteres wichtiges Gebiet philosophischer Forschung der Rolle der Sachverhaltsphilosophie für die Ethik. 3.4.6. Äußere Relationen von Sachverhalten zur Sprache, logischen Gedankengebilden, Denkakten, Willensakten und affektiven Antworten 3.4.6.1. Sprachliche Ausdrucksweisen, die auf Sachverhalte hinweisen.

Auf die erörterte Gegebenheit des Sachverhalts mit dessen eigentümlicher ontischer Struktur, die eine allgemeinste Seinsform darstellt, zielen wir in vielen Redeweisen ab, in praktisch allen Aussagesätzen, Fragesätzen, Befehlssätzen, Wunschsätzen usf., aber etwa in allen oder den meisten Nebensätzen, wie wenn wir sagen: wir haben gesehen (erkannt, usf.), daß etwas ist oder daß es nicht ist, daß es so oder daß es nicht so ist. Auch Ausdrücke wie „Tatsachen“, „Begebenheiten“, „Begebnisse“, „Ereignisse“, „Fälle“, „Geschehen“ oder „Geschehnisse“, „Fakten“ usf. zielen gewöhnlich auf (real) bestehende Sachverhalte ab. Auch Redeweisen wie „es gibt X“, „es gibt X nicht“, „es ist der Fall, daß...“, usf. sind sprachliche Ausdrücke für Gedanken, die auf Sachverhalte abzielen. Man könnte auf viele weitere Redeweisen Bezug nehmen, die fast ausschließlich für Sachverhalte verwendet werden. Denken wir an das englische „there is..“, „it is the case that...“, das italienische „ci sono...“ und „c’è...“, das französische „il-y-a...“, das spanische „hay...“403 und viele andere. Wir haben schon im vorigen Kapitel darauf hingewiesen, daß die lateinische Konstruktion des accusativus cum infinitivo (ACI), in welcher 403

Vgl. etwa Agustin Basave, Tratado de Metafísica. Teoría de la Habencia.

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KAPITEL 3

(meist in der indirekten Rede) der Subjektbegriff im Akkusativ, das Verb im Infinitiv steht, immer einen Sachverhalt meint. Das führt uns zu einer grundlegenderen und rein logischen Erkenntnis, die sich nicht mehr auf die Beziehung zwischen Sachverhalten und bloßen Redeweisen beschränkt: 3.4.6.2. Logische Gedankeninhalte, die sich notwendig oder häufig auf Sachverhalte beziehen: Urteile, Fragen, u.a.

Es gibt grundlegende Formen logischer Bedeutungseinheiten oder objektiver Gedankeninhalte, aber auch bestimmter Denkakte und theoretischer Stellungnahmen oder Antworten, die nur auf Sachverhalte und niemals auf Sachen oder Eigenschaften als solche abzielen können. Sachverhalte allein können direkter Gegenstand von (objektiven) Urteilen und Überzeugungen, aber auch von den ihnen entsprechenden Urteils- und Überzeugungsakten sein. Ich kann nicht von einer Pinie überzeugt sein, sondern nur etwa davon, daß sie im Campo hinter der Villa San Francesco in Florenz steht,404 gefällt wurde, usf. Genauso wenig kann ich Dinge und Eigenschaften direkt im Urteil behaupten, sondern nur Sachverhalte, welche Dinge und ihre Eigenschaften betreffen. Schwieriger liegen die Dinge mit anderen Akten oder objektiven Gedankeninhalten wie Befehlen, die sich nur indirekt (über die Handlungen anderer Personen) auf die Verwirklichung von Sachverhalten beziehen, direkt hingegen Handlungen gebieten; ich kann nicht Sachverhalte befehlen, sondern nur Taten. Auch Fragen, von denen Daubert meinte, daß sie sich nur auf Sachverhalte beziehen können, sind vielleicht in Wirklichkeit nicht ausschließlich auf Sachverhalte bezogen, wie wir gleich sehen werden. 3.4.6.3. Beziehung zwischen Sachverhalt, Denkakten, Frageakten und intellektuellen Antworten

Aus den Überlegungen über Sachverhalte als Gegenstand von verschie404

Ich beziehe mich hier auf die schöne Villa in Florenz, das ehemalige Kloster San Francesco di Paola, das der große Bildhauer Adolf von Hildebrand erworben hat und in dem sein Sohn Dietrich und seine 5 Schwester aufwuchsen.

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denen objektiven Gedanken und den mit diesen verknüpften Akten ergibt sich unmittelbar eine Fülle von psychologisch und anthropologisch relevanten Beziehungen zwischen Sachverhalten und bestimmten Akten der Person. So ist es klar, daß nicht nur das objektive logische Gedanken- bzw. Bedeutungsgebilde des Urteils sich nur auf Sachverhalte beziehen kann, sondern ebenso der Urteilsakt, nicht nur viele Fragen, die sich in ganz anderer, die Antwort offen lassender Weise auf Sachverhalte beziehen als das Urteil, sondern auch der Akt des Fragens, nicht nur der Überzeugungsinhalt, sondern auch der Akt der Überzeugung, des Glaubens usf. Auch der Akt des „Glaubens, daß“ kann sich nur auf Sachverhalte beziehen, während der „Glaube an“ eine Person niemals Sachverhalten, sondern nur Personen gilt, auch wenn er natürlich Überzeugungen wie daß die Person, der wir vertrauen, vertrauenswürdig ist, voraussetzt, und notwendig den Glauben, daß das uns von der Person, an die wir glauben, Mitgeteilte wahr ist, hervorruft. Sachverhalte sind die exklusiven direkten Gegenstände von Überzeugungen und Behauptungen. Weder der Akt der Überzeugung und Behauptung noch die objektiven Überzeugungsinhalte und Urteile, die ihnen entsprechen, können direkt Sachen oder Eigenschaften zum Gegenstand haben. Ihr Gegenstand kann allein ein Sachverhalt sein. Diese Einsicht Reinachs kann man, wie bereits bemerkt, dadurch ergänzen, daß es auch eine ganze Reihe anderer Akte, sowie der ihnen entsprechenden objektiven Gedanken oder Bedeutungseinheiten, die sich auf sie beziehen, gibt, die sich gleichfalls nur auf Sachverhalte beziehen können. Reinach selbst nennt Erkenntnis (im Gegensatz zu Kenntnisnahme oder Wahrnehmung) einen Akt, der nur im Erfassen eines Sachverhalts bestehen kann.405 Im Deutschen ist der Unterschied zwischen Sach- und Sachverhaltserkenntnis klarer, wenn man an die überaktuellen Formen der Erkenntnis, an das Kennen und das Wissen, denkt. Hildebrand zeigt in Was ist Philosophie?,406 daß sich das Kennen ausschließlich auf ‚Sachen‘ im weitesten Sinne, das Wissen hingegen ausschließlich auf Sachverhalte beziehen kann. Dieser Unterschied findet auch im Französischen seine sprachliche Anwendung, wo das connaître sich nur auf Personen, Dinge 405 406

Vgl. Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, zit., [86 ff.], S. 117 ff. Vgl. What is Philosophy?; Was ist Philosophie?

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oder deren Eigenschaften („Sachen“ im weiteren Sinne) beziehen kann, während wir hinsichtlich von Sachverhalten sagen können “je sais, que....” Allerdings ist diese Unterscheidung rein sprachlich im Französischen weniger klar, da man auch sagen kann: “Je sais le français” (ich kann Französisch, oder kenne die französische Sprache) und sich daher das französische “savoir” sowohl auf Sachen als auch auf Sachverhalte beziehen kann. Im Englischen fällt jeder Unterschied weg, da das “knowing” sich sowohl auf Sachen als auch auf Sachverhalte bezieht, wobei allerdings, ähnlich dem Französischen, das “I know that” sich ausschließlich auf Sachverhalte, das “I know X” (ohne das “that”) sich auf Sachen oder deren Eigenschaften bezieht. Ausschließlich jene merkwürdige ontische Formation des Sachverhalts, „daß etwas ist oder nicht ist“, „daß es so ist oder nicht so ist“, kann der Gegenstand jenes eigentümlichen Erkennens, das die deutsche Sprache als „Wissen“ bezeichnet, und jenes eigentümlichen aktuellen Erkennens sein, das Reinach schlechthin mit dem Wort „Erkennen“ bezeichnet. Auch Fragen beziehen sich primär auf Sachverhalte, wenn dies auch hier nicht notwendig der Fall ist, etwa wenn wir fragen „Was ist sein Name?“ oder „Was ist das?“ wobei entweder der Name, der eine Person bezeichnet oder ein unmittelbar sinnlich erschautes Objekt oder geistig erschautes Wesen die Antwort sein können. Allerdings kann man erklären, daß diese Antworten nur verkürzte Redeweisen seien, die eigentlich ebenfalls Sachverhalte meinen, etwa „Sein Name ist Peter“ oder „Das Wesen dieser Sache ist das einer Rose“. Doch stimme ich dieser These aus den folgenden Gründen nicht zu, bzw. halte sie wenigstens für zweifelhaft. Die interessanteste phänomenologische Untersuchung des Wesens der Frage dürfte jene in Johannes Dauberts unveröffentlichtem Werk über die Frage sein.407 Johannes Daubert unterscheidet drei wesensverschiedene 407

Vgl. die exzellente Zusammenfassung seiner Philosophie der Frage in: Karl Schuhmann/Barry Smith, “Question: An Essay in Daubertian Phenomenology”, Philosophy and Phenomenological Research, 47 (1987), 353-384. In seiner Metaphysik hat auch Emmerich Coreth der Frage spezielle Aufmerksamkeit zugewandt und versucht, sie als den besten Anfang der Philosophie und Metaphysik zu erweisen wegen ihrer Offenheit im Vergleich zum Urteil (das Lotz als Ausgangspunkt der Metaphysik gewählt hatte). Emerich Coreth, Metaphysik (Innsbruck-Wien-München: Tyrolia Verlag, 31980). Innerhalb der analytischen

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Gegebenheiten, die man als Frage verstehen könnte, zu denen wir zwei weitere hinzufügen könnten: 1. den geistigen Akt des Fragens: das Fragen. 2. die Frage selbst als ein logisches Gebilde (die Frage selbst) 3. die Frage, die wesenhaft an jemanden adressiert ist, die Anfrage. Wir könnten, mit Dauberts weiterer Analyse, hinzufügen: 4. die Frage als linguistisches Gebilde, den Fragesatz. 5. den Gegenstand der Frage (Frageverhalt). Daubert meint, die Frage könne sich nur auf Sachverhalte beziehen, auch wenn diese als Gegenstand von Fragen (Frageverhalte) anders gemeint würden als wenn sie Gegenstand von Urteilen (Urteilsverhalte) oder von Erkenntnissen (Erkenntnisverhalte) seien. Die Frage ziele gerade darauf ab, daß der Sachverhalt, auf den sich die Frage beziehe, aus einem Frageverhalt zu einem Erkenntnisverhalt würde, indem die Frage die ihr entsprechende Antwort erhalte. Nun scheint es uns in der Tat evident zu sein, daß die Frage notwendig auf eine Antwort abzielt, aber diese kann, so meine ich, nicht ausschließlich in einem Urteil und einer Sachverhaltserkenntnis bestehen, sondern man kann auf Fragen wie „Was ist X?“ auch durch ein „komm und sieh!“ antworten, da man auf diese Fragen, „was ist rot?“, „was ist der Mensch?“ nicht nur durch eine Reihe von Urteilen (Antworten, die sich auf Sachverhalte beziehen) hinreichend antworten kann, sondern deren Beantwortung hauptsächlich einem direkteren Kennenlernen des Wesens einer Sache überlassen muß, sodaß man auf die Frage: „wer ist dieser Mensch?“ durch ein ecce homo, oder auf jene „Was ist die Farbe rot?“ durch ein ecce res antworten muß, da man einem Blinden zwar in Beantwortung seiner Frage Antworten in Urteilsform geben kann, in denen man Sachverhalte behauptet, aber keiner dieser Sachverhalte, sondern nur ein direktes Erblicken der betreffenden Farbe könnte die Frage des Philosophie haben A. Prior und M. Prior 1955 den Ausdruck der „erotetischen Logik“ geprägt, vom griechischen Wort für Frage, und Belnap sowie andere haben die einschlägigen Untersuchungen der Frage erweitert. Vgl. Nuel D. Belnap, Jr./Thomas B. Steel, Jr., Logik von Frage und Antwort. Aus dem Englischen übersetzt von Klaus Brockhaus (Braunschweig/Wiesbaden: Friedr, Vieweg & Sohn, 1976), Original: The Logic of Questions and Answers (New Haven and London: Yale University Press, 1976).

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Blinden, was rot sei, wirklich beantworten. In diesem Sinne erhellt zwar auch durch die Frage, die sich in den meisten Fällen auf Sachverhalte richtet und Antworten erwartet, die in Form von Urteilen über Sachverhalte gegeben werden können, das Wesen des Sachverhalts. In anderen Fällen jedoch, etwa in den „was ist Fragen“ oder in den „Wer ist das?“-Fragen, entsprechen zwar vielleicht allen Fragen auch Sachverhalte, weshalb wir auf die genannten Fragen auch mit Urteilen wie „Das ist eine Farbe“ oder „das ist Herr Müller“ oder „das heißt Beton“ antworten können, erstreckt sich aber der Horizont der Frage über reine Sachverhalte hinaus und verlangt letztlich eine Beantwortung nicht durch eine Sachverhaltserkenntnis, sondern durch eine Sinneswahrnehmung oder kategoriale Anschauung. Obwohl auch hier die Frage zunächst nach einem Sachverhalt fragt und in einem Urteil beantwortbar ist, so ist nicht klar, ob nicht dort, wo die Antwort auf eine Frage auf ein Ding verweist oder mit einem Hinzeigen auf ein Kunstwerk oder einen Menschen beantwortet wird, die Frage mehr als Sachverhalte zum Gegenstand haben und deshalb nur durch eine Anschauung von Sachen und deren Eigenschaften und nicht durch Urteile und Erkenntnisse über Sachverhalte beantwortet werden kann. Fragen wir noch genauer mit Johannes Daubert408, ob Fragen wie jener „Was tut John?“ wirklich ein eigentümlicher Frageverhalt entspricht, der sich durch seine Unbestimmtheit von dem Sachverhalt, wie er Gegenstand von Überzeugungen und Urteilen ist, unterscheidet, oder ob es nicht dieselben Sachverhalte sind, die Gegenstände der Frage und des Urteils oder anderer Gedanken sein können und auf die sich die verschiedenen Gedanken und Denkakte nur in verschiedenen Formen beziehen. Gewiß gilt für viele Fragen, daß ihr Gegenstand unbestimmten Charakter hat. Wenn wir etwa fragen „Was ist das?“, oder „Ist jemand angekommen?“, so fehlt dem Sachverhalt, der Objekt dieser Frage ist, der Charakter eines ganz bestimmten Sachverhalts, allerdings liegt dies nicht daran, daß der Sachverhalt Gegenstand einer Frage ist, sondern gilt auch für die entsprechenden Urteile, etwa für das Urteil: „Irgendjemand ist angekommen“. 408

Vgl. Kevin Mulligan /Karl Schuhmann / Barry Smith, “Question: An Essay in Daubertian Phenomenology”, in: Philosophy and Phenomenological Research, 47 (1987), 353-384.

Die logische Wahrheit oder Urteilswahrheit

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Vielleicht müssen wir hier noch dreierlei unterscheiden: (1) Einmal gibt es einfach die Unbestimmtheit des intendierten Sachverhalts, die beim Gegenstand vieler Fragen vorkommt, aber auch geradesogut in der Gegenständlichkeit anzutreffen ist, die von gleichermaßen unbestimmten Urteilen intendiert wird, wie wenn wir vielleicht auf die bestimmtere Frage „Ist Herr Maier angekommen?“, nicht antworten „Ja, Herr Maier ist angekommen“, sondern „Irgendjemand ist angekommen“. Wie das Beispiel zeigt, kann diese Unbestimmtheit dem Urteil genauso wie der Frage zukommen, und charakterisiert in unserem genannten Fall gerade das Urteil und nicht die Frage, die sich auf einen viel bestimmteren Sachverhalt bezieht als das erwähnte Urteil, wodurch dieses auch keine korrekte und jedenfalls keine hinreichende Antwort auf die gestellte Frage ist. (2) Sodann aber gibt ist eine besondere Form der Indeterminiertheit des Sachverhalts bzw. der Weise, in der derselbe in der Frage intendiert wird, die nur der Frage zukommt, die weder wie das Urteil oder der Befehl den Sachverhalt in einer im weitesten Sinne affirmierenden oder befehlsmäßig bestimmenden Weise meint, sondern als Frage offenläßt, ob er besteht. Man könnte also gerade diesen Sachverhalt, dessen Bestehen offengelassen wird, eben im Hinblick darauf Frageverhalt nennen. (3) Wieder anders geartet ist jene Unbestimmtheit, die nur im urteilsmäßigen Behaupten fehlt; diese letztere Unbestimmtheit findet sich nicht nur in der Frage, sondern in anderer Weise auch in einer Aufforderung oder einem Befehl. Als ich als vierjähriges Kind, nachdem meine Mutter mich gescholten hatte, weil ich einem im Haus arbeitenden Kindermädchen gesagt hatte, „Hilda, sei nicht so dumm“, zur Antwort gab: „Ich habe ja nichts Festes gesagt. Ich habe nicht gesagt: ‚Hilda, Du bist so dumm‘, sondern nur ‚Sei nicht so dumm!‘“, dann fehlt dieses ‚Feste’, das nur im urteilsmäßigen Behaupten präsent ist, ebensosehr dem Befehl (der nicht im zweiten spezifischen Sinne der Frage unbestimmt ist), wie der Frage. Daubert meint wohl die beiden letztgenannten Momente (2 und 3), wenn er von der Unbestimmtheit des Frageverhaltes spricht. Wohl beziehen sich auch eine Reihe von Akten, wie bestimmte Formen der Freude, des Wunsches, der Hoffnung etc. entweder ausschließlich auf Sachverhalte oder sie haben eine bestimmte besondere Form, wenn sie sich

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KAPITEL 3

auf Sachverhalte beziehen – im Unterschied zur Weise, in der sie sich auf Sachen beziehen, wie bei Kennen und Wissen. Andere Akte hingegen wie etwa Liebe oder Verehrung, Bewunderung und dergleichen können sich unmöglich auf Sachverhalte beziehen. 3.4.6.4. Die verschiedene Eigenart jener Sachverhalte, die Akten des Wollens, Handelns und Hoffens entsprechen

Insbesondere Hildebrand hat nachgewiesen, daß das Wollen gilt dies nur vom Wollen im engeren Sinn allerdings so wie es der Handlung, nicht wie es der inneren freien Stellungnahme zugrundeliegt, die auch Personen und realen Gütern gelten kann409 immer auf die Realisierung noch nicht verwirklichter und durch mich verwirklichbarer (oder von mir für durch mich realisierbar gehaltener) Sachverhalte gerichtet sein muß. Dadurch unterscheidet sich die Willensantwort der wirklichen oder beabsichtigten Tat vom Wünschen, das sich auch auf unrealisierbare Sachverhalte beziehen kann (wie die als unerfüllbar gedachten Wünsche), oder vom „Hoffen, daß...“, das zwar auch auf die Realisierung noch nicht realisierter Sachverhalte abzielt, aber – im Gegensatz zum Wollen des Handelnden – solcher, die nicht durch mich realisierbar sind.410 3.4.6.5. Sachverhalt und Fühlen

Wie intellektuelle Akte, so können auch bestimmte Akte des Fühlens, wie ebenfalls Dietrich von Hildebrand nachgewiesen hat, nur auf Sachverhalte, andere niemals auf Sachverhalte gerichtet sein. So gilt etwa die „Freude, daß...“ Sachverhalten, die „Freude an etwas“ nicht; Liebe niemals, Trauer darüber, daß etwas geschehen ist, ebenso wie Gefühle der „Hoffnung, daß ...“ (im Unterschied zur „Hoffnung auf“ oder dem „sich 409

410

Vgl. dazu Josef Seifert, Was ist und was motiviert eine sittliche Handlung?, zit., und Dietrich von Hildebrand, Moralia. Nachgelassenes Werk. Im Unterschied zur „Hoffen, daß“ gibt es allerdings auch ein „Hoffen auf“ eine Person, das dieser und nicht einem Sachverhalt gilt, sowie ein „Sich Erhoffen von etwas“, etwa eines großen Glücks, das direkt diesem Glück selbst und nicht einem Sachverhalt gilt, wobei auch jene Hoffnung, die sich auf den Sachverhalt, etwa „daß mein Sohn in seiner Ehe glücklich werden möge“, bezieht, durch diesen Sachverhalt hindurch das Glück selbst, um dessen Existenz es geht, meint.

Die logische Wahrheit oder Urteilswahrheit

321

etwas Erhoffen“), gelten Sachverhalten, usf.411 3.4.7. Alle dargelegten Argumente ersetzen nicht das direkte intellektuelle Erschauen des unreduzierbaren Datums der Sachverhalte

Der Sachverhalt als solcher kann und muß jedoch am Anfang und am Ende jeder philosophischen Analyse noch direkter als eine ganz besondere ontische Form begriffen werden als dies durch alle diese Argumente geschehen kann, die ja ihrerseits ebenfalls unmittelbare Einsichten voraussetzen. Der Sachverhalt, so haben wir schrittweise immer deutlicher erkannt, ist „das a-Sein oder das nicht-a-Sein eines B“: daß etwas ist oder daß es nicht ist, daß es so und nicht anders ist oder daß es nicht so ist. 4. Der Sachverhalt als Gegenstand des Urteils und dessen Wahrheit Der Sachverhalt wird Gegenstand von Urteilen dann, wenn sein Bestehen behauptet wird. Mit der Behauptung gelangen wir zum Wesen des Urteils. Dabei zeigt es sich, daß die Kopula des Urteils, wie Pfänder sieht, zwei sehr verschiedene Funktionen ausübt und, wie Hedwig ConradMartius mit recht hinzufügt, auch eine inhaltliche ontologische Bedeutung hat, die auf das reine Sachverhaltssein abzielt.412 Im Urteil ‚Liechtenstein ist nicht das größte Land der Erde‘ besitzt das Wörtchen ‚ist‘ einmal jene Funktion, die Pfänder als die Hinbeziehungsfunktion bezeichnet, sodann jene, die er Behauptungsfunktion nennt und die den gemeinten Sachverhalt als solchen setzt, sein Bestehen behauptet.413 Drittens liegt in der Kopula ein ganz allgemeiner ontologischer Sinn, den Pfänder nicht bemerkt, ja implizite leugnet, wenn er der Kopula ausschließlich zwei Funktionen

411

412 413

Vgl. Dietrich von Hildebrand, Die Idee der sittlichen Handlung in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, S. 126-251, sowie ders., Ethik, Kap. 17, und ders., Moralia. Nachgelassenes Werk. Gesammelte Werke Band 5, (Regensburg: Josef Habbel, 1980). Hedwig Conrad-Martius, Das Sein. Pfänder, a.a.O., S. 42 ff.

322

KAPITEL 3

zuspricht und von den ‚rein funktionierenden Begriffen‘ redet.414 Die Kopula sagt auch das reine Sachverhaltssein aus, und auch dies noch in verschiedener ontologischer Bedeutung je nachdem als wie real und seiend die behaupteten Sachverhalte gemeint sind. Das Urteil weist also dem Sachverhalt die ihm jeweils eigene Seinsweise zu, bevor es ihn behaupten kann. Wie Conrad-Martius feststellt, handelt es sich hier um das reine Sachverhaltssein, das a-Sein eines B, oder das Nicht-a-Sein eines B: ‚daß etwas ist‘ oder ‚so ist‘ oder daß es nicht ist, oder was immer sonst noch für Sachverhalte denkbar sein mögen. Und, wie wir schon hinzugefügt haben: auch dieses reine Sachverhaltssein ist kein starrer parmenideischer ‚Seinsklotz‘, der in einem reinen ‚Entweder-oder‘ gefaßt werden könnte, sondern vielmehr geht es gemäß den im ersten Kapiteln unterschiedenen Seinsmodi um jeweils ganz verschiedene Seinsformen der diesen entsprechenden Sachverhalte. Von diesen Momenten ist für das Verständnis der Wahrheit des Urteils (neben dem ontologischen Sinn der Kopula als den Sachverhalt – das Sachverhaltssein – meinend, der auch in der Frage besteht, aber im Urteil eine neue grundlegende Bedeutung gewinnt) vor allem die Behauptungsfunktion, die den Sachverhalt behauptend setzt, am entscheidendsten. In ihr liegt die spezifische Differenz zwischen dem Urteil und allen anderen Gedanken und objektiven Bedeutungseinheiten. Das Urteil setzt einen Sachverhalt, nicht so als ob es ihn schüfe oder hervorbrächte, sondern in der Form ‚behauptender Setzung‘. Die scharfe Abgrenzung der behauptenden Setzung von jeder schöpferischen Setzung gehört zu den schönsten Stellen der Logik Pfänders: Im Urteil dagegen wird der Anspruch gemacht, in der Hinordnung der Prädikatsbestimmtheit auf den Subjektsgegenstand zusammenzutreffen mit einer Forderung des Gegenstandes selbst. Das Urteil ist eben kein Machtspruch über den Gegenstand; es ist seinem eigensten Wesen zuwider, dem Subjektsgegenstand irgendeinen Zwang anzutun, ihm irgendetwas zuzuordnen, was er nicht von sich aus fordert. Das Urteil, das zunächst völlig frei ist in der Wahl seines Subjektsgegenstandes, das also von sich aus seinen Subjektsgegenstand selbstherrlich bestimmt, will dann doch der sich völlig anschmiegende Interpret des gewählten Gegenstandes sein und 414

Pfänder, ebd., S. 42-44, 156-162.

Die logische Wahrheit oder Urteilswahrheit

323

sich ihm in jeder Hinsicht unterwerfen. Jede diktatorische Geste, jede leiseste Bedrückung des Gegenstandes durch das Urteil ist eine Sünde wider den Geist des Urteils und verunreinigt das intellektuelle Gewissen. Man muß daher aus dem Sinn des Behauptungsmomentes jeden Anflug von eigensinniger Entgegensetzung entfernt halten... Das Urteil meint irgendwelche Gegenstände, die es sich unterwirft und über die es, eine Bestimmtheit hinzusetzend oder abspreizend, in Anschmiegung an das Selbstverhalten der Gegenstände, eine Behauptung vollzieht.415 ...es [das Urteil] muß sich ihm absolut sklavenhaft, mit der größten Behutsamkeit anschmiegen. Es liegt im Wesen des Urteils, seine Selbstherrlichkeit gegenüber der Gegenstandswelt von sich aus frei und absolut aufzugeben und in diesem Sinne absolut objektiv sein zu wollen.416

Das Urteil besagt, meint, behauptet, daß ein Sachverhalt besteht. In seiner behauptenden Setzung – und das leuchtet aus deren Wesen ein – erhebt das Urteil notwendig den Anspruch, mit dem Selbstverhalten der Sachen zusammenzutreffen und infolgedessen selbst wahr zu sein. Dieser notwendig mit dem Urteil als Behauptung verknüpfte Wahrheitsanspruch kann in einem Wahrheitsurteil entfaltet werden. „S ist P“ und „dieses Urteil ‚S ist P‘ ist wahr“. Freilich kann dieser Wahrheitsanspruch, der unzertrennlich mit dem Wesen des Urteils verknüpft ist, erfüllt sein, das Urteil kann wirklich wahr sein, oder unerfüllt sein, das Urteil kann in der Tat falsch sein. Und die Wahrheit des Urteils verlangt einerseits zu ihrem Verstehen das Verstehen der Eigenart der behauptenden Funktion des Urteils, und andererseits das Verstehen der eigentümlichen Seinsweise und Autonomie des Sachverhalts, dessen Bestehen die Kopula behauptet und in der Übereinstimmung mit dem das Urteil wahr ist.417 So vorläufig diese Bestimmung der Wahrheit auch ist, Wahrheit liegt in jenem Adäquationsverhältnis oder kommt einem Urteil kraft jenes Adäquationsverhältnisses zu, das darin besteht, daß ein Urteil in seiner Setzung eines von ihm selbst unabhängigen und als solchen intendierten Sachverhalts mit dem Selbstverhalten der Sachen zusammentrifft, daß sich

415 416 417

Ebd., S. 43 f. Vgl. ebd., S. 81. Vgl. Pfänder, ebd., S. 69-82, wo auch die falschen Auffassungen der Wahrheit des Urteils als Für-Wahr-Halten (Konsens) usf. kritisiert werden.

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KAPITEL 3

also die Sachen wirklich so verhalten, wie das Urteil dies behauptet.418 Wie wir im zweiten Band sehen werden, wurde dieser klassische Wahrheitsbegriff von vielen Philosophen direkt und explizit in Frage gestellt, von anderen nur implizite, so etwa von Sir Karl Popper, Alfred Tarski, und Immanuel Kant.419 Eine Reihe der Kapitel des zweiten Bandes des vorliegenden Buches werden die Adäquationstheorie der Wahrheit gegen explizite und implizite Einwände verteidigen, sowie unhaltbare oder unzureichende Formen der Verteidigung einer Korrespondenztheorie der Wahrheit der Kritik unterwerfen – aber im Unterschied zu vielen anderen derartigen Versuchen, nicht auf dem Boden einer fixierten schematischen Theorie, sondern auf jenem einer Methode des phänomenologischen Realismus, welche die Urgegebenheit der Urteilswahrheit und der besonderen Form von ‚Entsprechung‘ herauszuarbeiten sucht, die in dieser liegt, und sie gegen die verschiedensten verkürzten und unrichtigen Wahrheitstheorien und Kritiken verteidigt.420 418

419

420

Zu nicht phänomenologischen modernen Verteidigungen der Adäquations- bzw. Korrespondenztheorie der Wahrheit vgl. Philip Kitcher, “On the Explanatory Role of Correspondence Truth”, Philosophy and Phenomenological Research, 64 (2), March 2002, S. 346-364. Zwar hat J.M. Palacios in seinem Buch, El idealismo transcendental: Teoría de la Verdad, gezeigt, daß Kant explizit die Adäquationstheorie der Wahrheit bejaht hat. Vgl. etwa Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft B 82, 83 und 85. Vgl. auch Harold Langsam, “Kant’s Compatibilism and His Two Conceptions of Truth”, Pacific Philosophical Quarterly, 81(2) June 2000, S. 164-188. Der Autor verteidigt die Auffassung, daß, wie wir schon in früheren Kapiteln argumentiert haben, Kant letztlich von seiner Erkenntnistheorie her zu einer Art der Kohärenztheorie der Wahrheit gelangt. Vgl. dazu auch Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit2, II. Teil. Vgl. auch die Kapitel über Tarskis und Poppers Wahrheitstheorien in Der Streit um die Wahrheit. Vgl. dazu Adolf Reinach, „Über Phänomenologie“, S. 531-550, sowie Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?, zit., Josef Seifert, Back to Things in Themselves, zit. Zu anderen Formen der Verteidigung der Korrespondenztheorie der Wahrheit und einer zeitgenössischen Disputation zwischen Verteidigern und Kritikern der Korrespondenztheorie der Wahrheit vgl. Richard Schantz (Hg.), What Is Truth?, (Berlin: de Gruyter, 2002). Ein Teil der dort vereinten Aufsätze kritisieren die Idee, die wir als evidente Grundlage jeder Philosophie der Wahrheit betrachten: daß nämlich Wahrheit ein Wesen besitzt und einen Inhalt hat, und deshalb nicht, wie die deflatorischen Wahrheitstheorien, auf die wir zurückkommen werden, als

Die logische Wahrheit oder Urteilswahrheit

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Im so differenzierten Sinn können wir mit der scholastischen Formel für die Adäquationstheorie sagen, daß die Wahrheit die Angemessenheit zwischen Intellekt und Wirklichkeit ist, veritas est adaequatio intellectus et rei.421 Diese Definition kann im Rahmen einer Diskussion der Erkenntniswahrheit auch als Angleichung (Adäquation) des Geistes an die Wirklichkeit, intellectus ad rem, gefaßt werden, wie wir gesehen haben. Die Erkenntniswahrheit ist eine Adäquation, eine Entsprechung zwischen Intellekt und Sache, aber das kann nicht der logische Sinn der Wahrheit des Urteils sein. Diese Urteilswahrheit liegt vielmehr in einer Angemessenheit und Angleichung bzw. in einem Zusammentreffen der setzenden Behauptung des objektiven Urteilsgebildes mit dem Selbstverhalten und wirklichen

421

eigenständiger Begriff eliminiert werden darf, ja nicht einmal kann, weil Wahrheit eine jener unleugbaren Urgegebenheiten ist, die man unmöglich leugnen kann, ohne sie schon wieder vorauszusetzen. Andere Beitragende verteidigen die These, daß Wahrheit ein Wesen besitzt und daß dieses in einer Art der Korrespondenz besteht. Vgl. zu einer eher minimalistischen Verteidigung der Korrespondenztheorie etwa William P. Alston, “Truth: Concept and Property”, ebd., S. 11-26. Vgl. auch David M. Armstrong, “Truths and Truthmakers” in: What Is Truth?, ebd., S. 27-37. Zum Thema der ‚Wahrmacher‘ in dem objektiven Sinne irgendwelcher objektiver Faktoren in der Welt, die bestehen müssen, damit ein Urteil wahr sein könne. Vgl. auch den Beitrag des Herausgebers Richard Schantz, “Truth, Meaning, and Reference”, in What Is Truth?, Richard Schantz (Hg.), S. 79-99, sowie Michael Devitt, “The Metaphysics of Deflationary Truth”, ebd., S. 60-78. Vgl. auch Peter Simon/Barry Smith/Kevin Mulligan, “Truth-Makers,” Philosophy and Phenomenological Research, (1984), 44, 287-322. Interessant ist in diesem Zusammenhang einer Verteidigung der Korrespondenztheorie der Wahrheit auch Alejandro Llano, “‘Being as True’ According to Aquinas”, Acta Philosophica, 4 (1) 1995, 73-82. Dieser argumentiert, daß gerade der ontologische Wahrheitsbegriff bei Thomas von Aquin erst das Phänomen der Wahrheit als Korrespondenz erklären kann. Vgl. auch die Verteidigung der These, daß bei Descartes die Korrepondenz- oder Adäquationstheorie der Wahrheit in engem Zusammenhang mit seinen Lehren der klaren und distinkten Ideen und der Evidenz stehen in Georges J. D., Moyal, “Les structures de la vérité chez Descartes”, Dialogue, (1987); 26, 465-490. Vgl. Günther Pöltner, “Veritas est adaequatio intellectus et rei. Der Gesprachsbeitrag des Thomas von Aquin zum Problem der Übereinstimmung”, Zeitschrift für philosophische Forschung, (1983); 37: 563-576.

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KAPITEL 3

Bestehen des in ihm behaupteten Sachverhalts. Wenn also auch die Wahrheit des Urteils als adaequatio intellectus ad rem bezeichnet werden darf und soll, so heißt hier intellectus nicht der Urteilsakt, sondern das objektive Urteilsgebilde, und res nicht die Sache, sondern der Sachverhalt. Ist dann die These der Scholastiker, die Wahrheit des Urteils sei dessen Übereinstimmung mit der Sache, mit der Wirklichkeit (der res) falsch? Diese Formulierung des Wesens der Urteilswahrheit, die übrigens Thomas von Aquin schon als Übereinstimmung mit der dispositio rei (ein Ausdruck, der vielleicht bereits den Sachverhaltsbegriff zum Ausdruck brachte),422 nicht nur mit der Sache als solcher, deutete, ist nicht falsch, auch wenn wir die res primär nicht als Sache, sondern als Sachverhalt auffassen müssen.423 Aber dadurch, daß der intellectus, was hier als Urteil übersetzt werden muß, mit dem Sachverhalt, der allein unmittelbarer Gegenstand des Urteils ist, übereinstimmt, stimmt das Urteil auch indirekt überein mit der Natur der res selbst im buchstäblichen Verständnis dieses Ausdrucks, d.h. mit den Sachen selbst, von denen das Urteil handelt und mit denen es eine enge Einheit bildet, wie wir gesehen haben.424 Je nach der Art des Sachverhalts, z.B. eines Sachverhalts, der in der Welt eines Romans vorkommt, über den wir urteilen können, oder eines Sachverhalts der wirklichen Welt, wird freilich noch einmal der Sinn dieser dem Urteil gegenüber vorliegenden Autonomie des Bestehens eines 422

423

Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles, [23493] Contra Gentiles, lib. 1 cap. 1 n. 5. Vgl. auch: “dispositio rei est causa veritatis in opinione et oratione” (In Metaphysicam, IX, 11, n. 1897). Während der Ausdruck “dispositio rei” hier ohne Gewalttätigkeit als Sachverhalt übersetzt werden kann, bedeutet er oft „Zustand der Sache“ oder auch “Disposition” und kann nicht als Sachverhalt übersetzt werden. Vgl. Auch Irmingard Habbel, Die Sachverhaltsproblematik in der Phänomenologie und bei Thomas von Aquin. Vgl. auch Barry Smith, “Logic and the Sachverhalt,” S. 52-69. Pfänder, ebd., S. 79-82, vor allem S. 80: Die richtige Ausdeutung des Sinnes der Behauptung, ein Urteil sei wahr, können wir gewinnen, wenn wir von der alten Bestimmung ausgehen, die Wahrheit sei die ‘adaequatio intellectus et rei’, wenn wir unter dem ‘intellectus’ hier das Urteil und unter der ‘res’ den von dem Urteil betroffenen Gegenstand verstehen.

424

Darin liegt wohl auch eine Intention von Peter Simon/Barry Smith/Kevin Mulligan, “Truth-Makers,” Philosophy and Phenomenological Research (1984), 44, 287322.

Die logische Wahrheit oder Urteilswahrheit

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Sachverhalts entscheidend modifiziert sein, worauf weder Conrad-Martius noch Pfänder hinreichend hingewiesen haben, wobei auch hier noch einmal der fiktive Sachverhalt als Teil der im Roman beschriebenen und von ihm oft konstituierten gegenständlichen Sphäre und die tatsächlich und ganz autonom bestehenden Sachverhalte über fiktive Sachverhalte unterschieden werden müssen. Der Sachverhalt, daß Shakespeares Figur Hamlet nicht der Mohr von Venedig ist, ist nicht selber ein fiktiver Sachverhalt, sondern besteht nur in Bezug auf eine Fiktion. Ein Wort noch zu dem eigentümlichen Sinn von ‚Entsprechung‘, die hier gemeint wird. Es geht selbstverständlich nicht um jene Entsprechung, die bei allen ähnlichen Wesen vorliegt, wo die Eigenschaften eines Dinges oder eines Menschen jenen eines andern genau entsprechen können. Es geht vielmehr um eine solche Entsprechung, die nur vom Wesen des urteilenden Gedankengebildes her begriffen werden kann. Auch hat etwa Roman Ingarden im Literarischen Kunstwerk425 gezeigt, daß sich die Entsprechung zwischen einem historischen Roman und den in ihm befindlichen Quasi-Urteilen und Gegenständen und Sachverhalten der wirklichen Welt ganz von der Entsprechung zwischen Urteil und behauptetem Sachverhalt unterscheidet. Es liegt hier etwas wie eine ‚matching intention‘ (eine Intention der Übereinstimmung mit historischen Tatsachen und Persönlichkeiten), nicht eine Serie von Behauptungen über historische Fakten vor. Schwieriger ist es, die Frage zu beantworten, ob die adaequatio, in welcher die Urteilswahrheit besteht, das Urteil selbst in seinem Verhältnis zum Sachverhalt, oder aber das Verhältnis zwischen dem behaupteten und dem wirklichen Sachverhalt kennzeichnet. Ich meine, es geht aus verschiedenen Gründen um eine Entsprechung des Urteilsgebildes bzw. der in ihm liegenden Behauptung selbst und des ihm transzendenten Sachverhalts. Deshalb ist der Begriff der ‚Korrespondenz‘ viel zu oberflächlich, um der Eigenart der logischen Wahrheit des Urteils gerecht zu werden. Unsere knappe Kennzeichnung der Urteilswahrheit in ihrem Verhältnis zum Sachverhalt soll daher im zweiten Band des vorliegenden Werkes in Auseinandersetzung mit den verschiedensten Wahrheitstheorien erhärtet und vertieft werden. 425

R. Ingarden, Das literarische Kunstwerk.

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KAPITEL 3

5. Die sogenannte Modalität des Urteils und die durch verschiedene Urteilsmodalitäten bedingten Abwandlungen des Wahrheitsanspruchs von Urteilen und deren Auswirkungen auf die Logik der Schlüsse Jedes Urteil behauptet einen Sachverhalt, bzw. daß dieser besteht. Und mit dieser seiner behauptenden Natur ist untrennbar sein Wahrheitsanspruch verknüpft, der in nichts anderem besteht, als daß das Urteil für sich selber den Anspruch erhebt, mit dem in ihm behaupteten, aber unabhängig von ihm bestehenden Sachverhalt zusammenzutreffen, d.h. jedes Urteil erhebt nicht nur den der Behauptung immanenten Anspruch, daß der behauptete Sachverhalt besteht, sondern den weiteren, daß das Urteil selber in seiner urteilsmäßigen Setzung dem entspricht, was tatsächlich der Fall ist. Damit urteilt jedes Urteil „S ist P“ gleichsam reflexiv über sich selber, schließt also notwendig ein Urteil über seine eigene Wahrheit ein, das wir als Wahrheitsurteil bezeichnen können: „’S ist P‘ ist wahr“. Es ist völlig unmöglich zu urteilen, ohne daß das Urteil einen Wahrheitsanspruch erhöbe. Dennoch wird der jeweilige Wahrheitsanspruch eines Urteils wesentlich durch dessen Modalität modifiziert, sosehr daß das problematische Urteil in seiner Einschränkung des logischen Gewichts der Behauptungsfunktion die Meinung Sir Karl Poppers, der Wahrheitsanspruch eines Urteils sei auf die Feststellung reduzierbar, das gegebene Urteil sei bisher noch nicht falsifiziert worden, plausibel erscheinen läßt. Daher ist es im Rahmen einer Untersuchung über die Urteilswahrheit unerläßlich, auch das Problem der Modalitäten von Urteilen und ihrer jeweiligen Wahrheitsansprüche zu untersuchen, und, ohne deren Beziehungen unberücksichtigt zu lassen, insbesondere logische von ontischen, epistemischen und psychologischen Modalitäten zu unterscheiden, um zahlreiche die logische Diskussion belastende Verwirrungen zu beseitigen.

5.1. Logische gegenüber ontischen Modalitäten: ihre Verschiedenheit und einige grundlegende Beziehungen zwischen ihnen

Im Rahmen unserer Diskussion der Abwandlung des Wahrheitsanspruchs von Urteilen gemäß ihrer Modalität möchten wir zunächst mit

Die logische Wahrheit oder Urteilswahrheit

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den beiden eminenten Phänomenologen Alexander Pfänder426 und Oskar Becker427 eine klare Unterscheidung zwischen logischen und ontischen Modalitäten durchführen und deren Analyse in einigen Aspekten erweitern. Um diesen Unterschied recht zu verstehen, erinnern wir uns zunächst an unsere Scheidung dreier verschiedener Bedeutungs- bzw. Funktionsmomente der Kopula. Wir unterschieden die ontologische Bedeutung der Kopula ‚ist‘, die sich auf das ‚reine Sachverhaltssein‘, und – kraft der Behauptungsfunktion des Urteils – auf dessen tatsächliches Bestehen, bezieht und eine gewisse Autonomie (die je nach Seinsmodus sehr verschiedener Art sein kann) des behaupteten Sachverhalts gegenüber dem Urteil aussagt, von den beiden „reinen Funktionen“ der Kopula: Kraft der Hinbeziehungsfunktion wird der Prädikatsbegriff auf den Subjektbegriff und, ja primär, durch den Prädikatsbegriff hindurch das Prädikat selbst auf den durch den Subjektbegriff gemeinten Gegenstand bezogen. Neben dieser Hinbeziehungsfunktion, die auch in einer Frage, einem Befehl oder einem Wunsch besteht, übt das Urteil – und zwar stellt gerade dies dessen eigentlichen Wesenskern dar – auch eine Behauptungsfunktion aus, d.h. es behauptet das Bestehen des in ihm gemeinten Sachverhalts. Nicht die Hinbeziehungsfunktion des Urteils, die durch die sogenannte Qualität des Urteils modifiziert wird und auch in der Frage oder dem Wunsch in positiver oder negativer Form besteht, wird durch die Modalität des Urteils abgewandelt. Vielmehr sehen wir ein, daß die rein logischen Modalitäten des Urteils dessen Behauptungsfunktion betreffen und zwar Modifikationen ihres „Behauptungsschlages“ sind.428 426 427

428

A.a.O., S. 92 ff. Oskar Becker, „Zur Logik der Modalitäten“, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 11, hrsg. v. Edmund Husserl u.a. (1930), S. 497570. Wir lassen hier die Frage offen, in welcher Weise analoge Modifikationen auch in der Frage vorkommen und ob in ihr die Fragefunktion in ähnlicher Weise modifiziert wird wie die Urteils- oder Behauptungsfunktion im Urteil. Kann ich etwa eine „problematische“ gegenüber einer „assertorischen“ oder einer „nichtproblematischen Frage“ stellen, wie: „Ist es vielleicht so, daß Mr. Smith angekommen ist? Wir sehen hier auch von der Frage ob, ob die für andere Gedanken charakteristischen Funktionen wie je, die zwischen Wünschen, Befehlen usf. unterscheiden, ebenfalls Modalitäten unterliegen. Ist etwa so etwas wir ein apodiktischer, unbedingter oder strenger Befehl gegenüber einem einfachen oder sogar

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KAPITEL 3

Im assertorischen Urteil finden wir das normale, uneingeschränkte logische Gewicht, wie es sich aus dem Wesen des Urteils als solchen ergibt, solange die Behauptungsfunktion nicht modifiziert wird. Wir können deshalb die Modalität des assertorischen Urteils die ‚natürliche‘, oder die ‚normale‘ Modalität desselben nennen, die es besitzt, solange keine besondere Verstärkung oder Abschwächung der Behauptungsfunktion stattfindet. Im problematischen Urteil hingegen liegt eine Abschwächung der Stärke des Behauptungsgewichts vor, während dieses im apodiktischen Urteil gesteigert wird.429 Damit unterscheiden sich die Modalitäten des Urteils, die seine Behauptungsfunktion betreffen, deutlich von den ontischen Modalitäten, wie sie zum Beispiel William Ockham in der Summa Logica430 als Notwendigkeit, Unmöglichkeit, Kontingenz (Zufälligkeit) und Möglichkeit bestimmt, wobei er allerdings diese ontischen Modalitäten nicht von den logischen des Urteils selbst oder von den epistemischen Modalitäten, ja nicht einmal von ganz andersartigen Modalitäten und Arten von objektiven Gedanken (Bedeutungseinheiten) abgrenzt, wie sie sich in den QuasiUrteilen eines Romans finden; ja sogar die rein sprachlichen modalen Ausdrücke werden nicht scharf von den logischen Modalitäten unterschieden. Bevor wir aber auf Ockhams und andere Positionen zur Modalität kritisch eingehen können, müssen wir uns zuerst den sachlichen Unter-

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einem problematisierten zu unterscheiden, ähnlich wie wir spätestens seit Kant wissen, daß Befehle ihrer Relation nach unterschieden werden können, indem sich kategorische von hypothetischen Befehlen unterscheiden. Wir könnten freilich neben diesen klassischen und direkten logischen Modalitäten auch abgeleitete wie die Notwendigkeit oder Kontingenz (Zufälligkeit) der Wahrheit des logischen Urteils unterscheiden. Doch ist die letztere keine ursprünglich logische Modalität, sondern hängt entweder – wie im analytischen Urteil – von der Notwendigkeit der ersten ontologischen und logischen Prinzipien ab (ist also eine Art von ontischer Wesensnotwendigkeit logischer Sachverhalte und Wesenheiten, die ihrerseits von den obersten ontologischen Grundsätzen abhängt), oder aber sie ist von der Wesensnotwendigkeit oder Kontingenz der im Urteil geurteilten Sachverhalte bedingt, also eine nur aus der Notwendigkeit der Sache abgeleitete Notwendigkeit der Wahrheit des Urteils, und damit keine dem Urteil ursprünglich zugehörige Notwendigkeit. Dasselbe gilt von der Modalität der Kontingenz der Wahrheit eines Urteils. II P., K. 1.

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scheidungen selbst zuwenden. Von den logischen Modalitäten unterscheiden sich ontische Modalitäten deutlich, welche Sachverhalte oder auch Wesenheiten, jedenfalls aber nicht Urteile qua spezifisch logische Gebilde kennzeichnen. Sie sind keineswegs eine Modifizierung der „rein funktionierenden“ oder anderer Begriffe innerhalb des Urteils. In keiner Weise vermindern oder erhöhen sie den Behauptungsschlag des Urteils. Vielmehr bestehen sie völlig unabhängig von Urteilen im Sein, es sei denn, man spräche nicht von Urteilen im Sinne der konkreten logischen Urteilsinhalte, qua Bedeutungseinheiten, sondern gleichsam vom ontischen Wesen von Urteilen, das natürlich auch ontische Wesensnotwendigkeiten aufweist und notwendige Sachverhalte begründet, aber nicht indem es sie behauptet, sondern indem es ist was es ist, nämlich ein Urteil. Diese ontischen Notwendigkeiten oder sonstigen Modalitäten kommen dem Urteil nicht in seiner Urteilsfunktion, nicht dem Urteil qua Urteil, sondern dem Wesen des Urteils, als seine ontische Eigenschaft, zu und bilden einen winzigen Ausschnitt aus dem gesamten immensen Reich ontischer Modalitäten, ebenso wie das Urteil nur eines unter ungezählten anderen Dingen ist, die ein Wesen haben und Sachverhalte oder Wesensgesetze einer bestimmten Modalität begründen. Wenn Modalitäten also nicht ontische Eigenschaften des Urteils selbst sind, wie die Wesensnotwendigkeit der Eigenschaften des Urteils und seines Wahrheitsanspruchs, tauchen ontische Modalitäten, wie die Notwendigkeit des Sachverhalts, daß Farbe Ausdehnung voraussetzt, in Relation zum Urteil nur als Gegenstand von Behauptungen auf und sind nicht Eigenschaften von Urteilen. Im Gegensatz dazu befinden sich die logischen Modalitäten des Urteils nur innerhalb der Bedeutungseinheit desselben, als Modifikation seiner Behauptungsfunktion, und sind ganz unabhängig von den Modalitäten der entsprechenden Sachverhalte. Die ontischen Modalitäten hingegen kommen gerade diesen Sachen431 und Sachverhalten selber zu, die auf der Gegenstandsseite von Urteilen liegen.432 Die Verschiedenheit beider ergibt sich ferner deutlich, wenn wir das betrachten, was man die Indifferenz der ontischen gegenüber den logischen 431

432

In diesem Zusammenhang interessieren uns nicht Modalitäten von Sachen, die wir – im Gegensatz zu Adolf Reinach – für möglich halten. A. Pfänder, Logik, a.a.O., S. 92 ff.

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KAPITEL 3

Modalitäten nennen kann. Denselben Sachverhalt, etwa daß England im Qualifikationsspiel in Vaduz am 29. März 2003 Liechtenstein 2:0 besiegt hat, kann z.B. ein Liechtensteiner, der seinen Augen nicht trauen will, in einem problematischen, ein Österreicher in einem assertorischen und ein Engländer in einem apodiktischen Urteil behaupten. Der Sachverhalt selber, der Gegenstand dieser drei Urteile verschiedener Modalität ist, hat ein und dieselbe ontische Modalität, die der Kontingenz und Nichtnotwendigkeit. Es hätte das Spiel, in dem es einige Torchancen für Liechtenstein gab, auch umgekehrt ausgehen können. Man muß demzufolge scharf die logische Modalität der Urteile von der ontischen, in unserem Falle der Kontingenz, des behaupteten Sachverhaltes unterscheiden. Umgekehrt kann auch ein Sachverhalt, dem ontische Notwendigkeit zukommt, in Urteilen aller Modalitäten inklusive problematischen Ureilen ausgesagt werden. Jemand kann etwa sagen: „Vielleicht ist es notwendig, daß jede Person Freiheit besitzt, ich kann es aber nicht fest behaupten.“ Daß sich logische Modalitäten radikal von allen ontischen Modalitäten unterscheiden, geht demnach ganz eindeutig daraus hervor, daß dieselbe ontische Modalität (z.B. die Notwendigkeit notwendiger Wesenssachverhalte) Gegenstand von Urteilen aller dreier Modalitäten werden kann. Dieser Unterschied ergibt sich auch aus der Differenzierung der ontologischen Modalitäten, die in den logischen Modalitäten keine Entsprechung finden, indem es nicht so viele Arten apodiktischer Urteile wie Arten ontischer Notwendigkeit gibt:433 Es bestehen nämlich ganz verschiedene Arten ‚derselben‘ ontischen Modalität, z.B. der Notwendigkeit. Dies wird 433

Die folgenden Differenzierungen ontischer Modalitäten und deren Fundierung in verschiedenen Wesenheiten scheinen nämlich im Gegensatz zu der prinzipiell immer gleichen allgemeinen Eigenart jeder der drei logischen Modalitäten zu stehen, die sich nicht durch ihre Natur, sondern höchstens durch ihren Grad unterscheiden können. Doch angesichts der Tatsache, daß es wohl auch viel mehr das logische Gewicht der Behauptung des Urteils differenzierende rein logische Modalitäten gibt als die drei traditionellerweise anerkannten, und daß man dieser vergleichenden Untersuchung mehr Raum einräumen müßte als uns in diesem Werk zur Verfügung steht, betrachte ich dieses weitere mögliche Argument für die Verschiedenheit zwischen logischen und ontischen Modalitäten an dieser Stelle nicht näher.

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klar, wenn man ganz verschiedene Typen von Universalien und von Soseinseinheiten und die jeweils in ihnen gründenden Notwendigkeiten (z.B. empirisch-kontingente Naturnotwendigkeiten gegenüber absoluten Wesensnotwendigkeiten) betrachtet.434 Auch dadurch bestätigt sich die Verschiedenheit ontischer und logischer Modalitäten. Beide Typen der Modalität zu verwechseln hat – wie Pfänder bemerkt – die weittragendsten philosophischen Konsequenzen und schließt irrige Übergänge zwischen logischen und ontischen Modalitäten ein, wie wir sie etwa bei Kant finden, der ontische Kategorien und Notwendigkeiten aus den Modalitäten und den anderen drei Differenzierungen von Urteilen (der Qualität, Quantität und Relation nach) ableiten will, ein als hoffnungslos erkanntes Unterfangen, sobald man den Unterschied zwischen ontischen und logischen Modalitäten, sowie den übrigen Differenzierungen, des Urteils einsieht. Freilich stehen auch Sachverhalte in logischen Implikationsverhältnissen zu einander und gibt es eine Logik der Sachverhalte, ja vielleicht betreffen sogar die meisten logischen Zusammenhänge Sachverhalte, wie Adolf Reinach meint, sodaß wir eine enge Verbindung zwischen Logik und formaler Ontologie feststellen können, ja, darüber hinausgehend, von einer Onto-Logik sprechen können, die nicht das Verhältnis von Urteilen zu Sachverhalten und zu einander, sondern die gegenseitigen logischen Implikations- und Garantieverhältnisse zwischen den solchen Urteilen entsprechenden Sachverhalten selbst behandelt. Logik in diesem Sinne wäre, wie eine Andeutung Reinachs nahelegt, eine reine Lehre von Implikations- und Ausschließungsbeziehungen zwischen Sachverhalten, eine reine Lehre von Sachverhalten und ihren Relationen des einander Einschließens oder Ausschließens, und zumindest ein Teil der modalen Logik wäre dann eine Lehre über das kontingente, mögliche oder 434

Zu den Bonaventuras einschlägigen Unterscheidungen von vier Arten ontologischer Notwendigkeit gegenüber ontischer Unmöglichkeit und den vielen Arten von Notwendigkeit vgl. Josef Seifert, „Bonaventuras Interpretation der augustinischen These vom notwendigen Sein der Wahrheit“, Franziskanische Studien 59 (1977), 38-52, sowie ders., Back to Things in Themselves. A Phenomenological Foundation for Classical Realism, sowie Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?, Kap. 4.

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KAPITEL 3

notwendige einander Einschließen oder Ausschließen von Sachverhalten. Daß sich aber die Logik nicht auf eine derartige „Logik der Sachverhalte“ reduzieren läßt, wird aus einer Unterscheidung verschiedener Arten von Modalitäten deutlich hervorgehen. Es kann freilich auch eine Logik von Urteilen geben, die über verschiedene ontische Modalitäten urteilen, so daß wir auch in diesem Sinne eine enge Verbindung zwischen Logik und Formalontologie feststellen; ja vielleicht ist diese sogar der bedeutungsvollere Teil modaler Logik, da sich aus der bloßen verschiedenen Stärke des Behauptungsschlages relativ wenige Konsequenzen für die Logik der Schlüsse ergeben: etwa die Regel unmittelbarer Schlüsse, daß aus der Wahrheit eines positiven oder negativen Urteils gleich welcher logischer Modalität auch die Wahrheit eines inhaltlich gleichen Urteils der beiden anderen Modalitäten folgt; doch zugleich das Prinzip, daß die Konklusion eines mittelbaren Schlusses oder Beweises niemals eine stärkere (höhere) logische Modalität besitzen darf als die von der Modalität her schwächste Prämisse oder daß in einem korrekten Schluß die Konklusion aus zwei problematischen Urteilen in noch höherem Grad problematisch sein muß als die problematischen Prämissen.435 (Dies sind Gesetze, die nur für die rein logischen Modalitäten gelten, nicht für die ontischen, wo, wie in den sogenannten Kontingenzbeweisen Gottes, aus einem wahren Urteil über einen kontingenten Sachverhalt, zusammen mit einem wahren Urteil über einen notwendigen Sachverhalt, eine Konklusion folgen kann, welche einen notwendigen Sachverhalt behauptet). Die Logik der formalen Verhältnisse zwischen modal verschiedenen Sachverhalten ist ein viel reicheres und komplizierteres Gebiet als das Gegenstandsgebiet einer Logik der rein logischen Modalitäten. Wir können nicht nur von einer Onto-Logik sprechen, die das Verhältnis von Sachverhalten zu einander, deren Modalitäten sowie deren gegenseitige logische Implikations- und Garantieverhältnisse betrifft, sondern auch von einer Logik der Urteile und der logischen Schlüsse aus den in Prämissen behaupteten Sachverhalten einer gewissen ontischen Modalität und daraus 435

Vgl. Alexander Pfänder, Logik, I, Kap. 7; Kap. 9, 3; Teil IV, A, Kap. 3; Kap. 6. Pfänder formuliert in den sehr kurzen einschlägigen Kapiteln einige dieser Gesetze, widerspricht aber in überraschender Weise einem dieser Gesetze, indem er behauptet, aus zwei assertorischen Urteilen folge eine apodiktische Konklusion.

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in den Konklusionen abgeleiteten Sachverhalten einer bestimmten Modalität. Ganz in dem Sinne derselben Einsicht kann es jedoch selbstredend nicht nur eine Logik jener Urteile geben, die über verschiedene ontische Modalitäten urteilen, sondern auch eine modale reine Onto-Logik, welche die Verhältnisse und Implikationsbeziehungen zwischen verschiedenen Sachverhalten derselben oder verschiedener ontologischer Modalitäten als solche erforscht. Kann man also doch die Logik oder wenigstens weite Teile derselben durch eine Lehre von formalen Beziehungen zwischen Sachverhalten ersetzen? Meiner Ansicht nach ist dies nur teilweise durchführbar. Denn es ist nicht nur unmöglich, die Logik der Begriffe auf diese Weise durch eine Onto-Logik zu ersetzen, sondern auch, das logische Verhältnis zwischen wahren Urteilen innerhalb von Schlüssen vollkommen durch ein Verhältnis von Sachverhalten zu ersetzen, wie Reinach meint. Es handelt sich vielmehr um zwei mit einander freilich eng verknüpfte und einander in vielfacher Hinsicht überschneidender Arten oder Bereiche von Logik – jene, die wahre und falsche Urteile und gültige oder ungültige Schlüsse aus diesen erforscht und eine Logik reiner Sachverhalte.436 Dieser Unterschied einer Logik der Urteile von einer Logik der Sachverhalte findet sich in besonders eklatanter Weise im Bereich der Modallogik. Z.B. folgt aus der Wahrheit des Urteils (ganz gleich ob es sich um ein problematisches, assertorisches oder apodiktisches Urteil handelt), daß im ontologischen Sinn von Notwendigkeit S notwendigerweise P ist, etwas ganz anderes als aus der Wahrheit des Urteils, daß S – wieder im ontologischen Sinn – zufälligerweise P ist. Diese Verschiedenheit hat rein gar nichts damit zu tun, welche rein logische Modalität die betreffenden Urteile besitzen. Ja aus den rein logischen Modalitäten der Prämissen folgt nur, daß die Konklusion in ihrer Modalität derjenigen der schwächsten Prämisse zu folgen hat und daß eine höhere Modalität rein logisch (und vor allem epistemologisch) nicht begründet wäre, ohne daß daraus irgendetwas über die ontischen Modalitäten der von den Prämissen und Konklusionen behaupteten Sachverhalte gesagt werden dürfte. In einem gültigen Argument, in welchem zumindest eine der Prämissen ein problematisches Urteil 436

Vgl. J. Seifert, “Is the Existence of Truth Dependent upon Man?”, 461-481.

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KAPITEL 3

ist, darf die Konklusion nicht eine höhere Modalität besitzen, also nicht assertorisch oder apodiktisch sein. Aus assertorischen oder apodiktischen Urteilen aber folgt nichts über die ontische Notwendigkeit der in ihnen behaupteten Sachverhalte. Aus wahren und von uns als solchen erkannten Prämissen über Sachverhalte, von denen wenigstens einer ontische Modalität der Notwendigkeit besitzt, kann hingegen auf Grund vielfältiger Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Prämissen und Konklusionen in einem logisch gültigen Argument der gerechtfertigte Schluß auf die notwendige Wahrheit einer Konklusion und auf die ontische Notwendigkeit des in ihr festgestellten Sachverhalts folgen. Hier gilt nicht, daß die ontologische Modalität des in der Konklusion behaupteten Sachverhalts der schwächsten ontischen Modalität der Prämissen zu folgen hätte. Vielmehr kann eine einzige Prämisse, die einen notwendigen Sachverhalt aussagt, zusammen mit einer, die einen kontingenten Sachverhalt feststellt, erlauben, einen notwendig bestehenden Sachverhalt abzuleiten. Dies ist etwa, wie erwähnt, bei den thomasischen Gottesbeweisen und anderen kosmologischen Argumenten der Fall. Aus der Prämisse „Ein kontingent existierendes Wesen setzt ein notwendig existierendes voraus“, und der Feststellung der tatsächlichen kontingenten Existenz eines existierenden Wesens folgt die Wahrheit der Behauptung eines notwendig existierenden. Vom Gesichtspunkt ontischer Modalitäten aus gesehen hat also hier der in der Konklusion festgestellte Sachverhalt eine höhere Modalität als der in der schwächsten Prämisse behauptete. Die logische Garantie des Bestehens universaler oder ontologisch notwendiger Sachverhalte durch die Wahrheit der Prämissen in einem Beweis kann daher niemals aus rein logischen Modalitäten abgeleitet werden, sondern hängt vielmehr von dem Bestehen eines oder mehrer in den Prämissen behaupteter ontisch notwendiger Sachverhalte ab. Die ontischen Modalitäten von Sachverhalten sind also dafür ausschlaggebend, ob aus der Wahrheit von Prämissen ontisch gesehen notwendige Sachverhalte erschlossen werden können; in bestimmter und sehr verschiedener, nicht rein logischer Weise, hängt diese Garantie auch von epistemischen Modalitäten ab, worauf wir noch zurückkommen werden; die logische Modalität der Prämissen oder Konklusionen hat hingegen dafür keinerlei Bedeutung. Umgekehrt jedoch haben das Vorliegen ontischer Notwendigkeiten und

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ihre Erkennbarkeit für einen begründeten Wahrheitsanspruch von Allgemeinurteilen der höchsten (apodiktischen) Modalität und damit auch für die Logik überhaupt, die viele solche Urteile über ihre Gesetze und obersten Grundsätze enthält und deren Wahrheit voraussetzt, allerhöchste Bedeutung. So ist die Frage, ob es ontologisch gesehen notwendige universale Sachverhalte gibt, die nicht nur den Normalfall, den Durchschnittsoder den Idealfall, sondern alle Individuen oder Fälle einer allgemeinen Natur betreffen, und ob wir diese erkennen können, für die berechtigte logische Modalität apodiktischer Universalurteile, und für die Logik und deren Prinzipien selber, von entscheidender Bedeutung. Nur wenn ferner in den Prämissen eines Syllogismus wenigstens ein notwendiger allgemeiner Sachverhalt festgestellt wird und objektiv besteht und die logischen Gesetze selber notwendig sind, kann die Wahrheit eines apodiktischen echten Allgemeinurteils, Art-, Attributions- oder Relationsurteils als Konklusion, in welcher eine apodiktische Aussage über einen notwendigen und allgemeinen Sachverhalt gemacht wird, durch die Wahrheit der Prämissen garantiert sein. Gäbe es die ontische Modalität der Notwendigkeit nicht, so hätten die meisten apodiktischen Urteile über Universalien keine zureichende Rechtfertigung, müßten mit Sir Karl Popper durch rein hypothetische und bestenfalls noch nicht falsifizierte Annahmen ersetzt werden und dürften höchstens in problematischen Urteilen behauptet werden. Hätten aber alle echten Allgemeinurteile, seien diese universale oder Arturteile, die nicht nur den Durchschnittsfall, den Normal- oder den Idealfall feststellen, jenen rein hypothetischen Charakter noch nicht falsifizierter Urteile, den Karl Popper annimmt, so wäre niemals die Wahrheit eines Universalurteils, sei es als Prämisse, sei es als Konklusion, erkennbar und wäre daher auch niemals die Modalität eines assertorischen oder apodiktischen Universalurteils gerechtfertigt. Denn erst aus dem objektiven und als solchen erkannten Bestehen echter ontischer Universalien im Sinne notwendiger allgemeiner Wesensgesetze ergibt sich die Rechtfertigung dafür, in apodiktischen (und synthetischen) Art-, Gattungs-, Attributions- oder anderen Arten von Universalurteilen (die nicht rein empirische und auf vollständiger Induktion aufbauende Allgemeinurteile, etwa über die Anzahl einer Reihe von Gegenständen in einem Raum, oder rein analytische Urteile sind) das Bestehen universaler Sachverhalte zu behaupten. Im strengen Sinne assertorische

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und jedenfalls apodiktische Prämissen oder Konklusionen, die über allgemeine und notwendige ontische Sachverhalte und Wesenheiten urteilen, können daher ausschließlich aus dem Bestehen und der Erkenntnis echter Universalien im Sinne ontisch notwendiger allgemeiner Wesenheiten und Sachverhalte ihre Berechtigung schöpfen. Apodiktische oder sogar assertorische synthetische Allgemeinurteile und die deduktive Logik, die sich als logische Theorie auf solche Urteile stützt und sie in ihrer Verwendung in Beweisen in Prämissen und Konklusionen enthält, besitzen also nur dann Berechtigung, wenn es die ontische Modalität notwendiger Sachverhalte wirklich gibt und können daher von einer strikt empiristischen Philosophie aus nie hinreichend begründet werden. Die Wahrheit universaler Prämissen und aus diesen abgeleiteter Konklusionen, und damit zumindest große Teile deduktiver Logik, müssen, wie Popper zu Recht feststellt, immer zweifelhaft bleiben, wenn diese Bedingungen nicht erfüllt sind. Sogar wenn es in abgeschwächtem Sinne in den empirischen Wissenschaften wahre Allgemeinaussagen gibt, die aber nicht notwendig und immer, sondern nur im allgemeinen wahr sind, so rechtfertigen solche empirische Allgemeinheiten, deren („Natur-)Notwendigkeit nicht eine absolute ist, und die deshalb Ausnahmen gestatten, nicht einmal assertorische, und erst recht nicht apodiktische universale Urteile über das Vorliegen ontischer Notwendigkeiten, sondern letztendlich bloß problematische Allgemeinurteile über dieselben. Die Behauptung der strikten Allgemeinheit von Art- oder Gattungseigenschaften kann also nur in notwendigen Wesenheiten und Sachverhalten einen zureichenden rationalen Grund haben. Ohne solche strikt allgemeine Wesenheiten und in ihnen gründende Sachverhalte wären assertorische und vor allem apodiktische nicht-tautologische Allgemeinaussagen und die auf diesen aufbauende Logik und logischen Schlüsse und Beweise nicht rational gerechtfertigt.437 Denn es verlangt die philosophische Berechtigung dafür, apodiktische synthetische Arturteile oder Universalurteile zu fällen, eben die Existenz ontisch notwendiger Sachverhalte und deren sichere Erkenntnis. So erkennen wir, daß die ontische Modalität universaler Sachverhalte 437

Dem widerspricht nicht die Tatsache und das erwähnte Gesetz modaler Logik, daß aus der Wahrheit eines problematischen Urteils natürlich auch die Wahrheit eines assertorischen und apodiktischen Urteils desselben Inhalts folgt.

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für die Rechtfertigung apodiktischer und assertorischer logischer Modalitäten wie jene der obersten logischen Grundsätze und Gesetze selbst und die Anwendung der Aussagelogik in Beweisen, welche apodiktische Urteile über Universalien in Prämissen oder Konklusion enthalten, entscheidend sind. Außer wenn eine vollständige Induktion vorliegt (was nur bei Pseudouniversalien, also einer begrenzten Anzahl empirisch abgegrenzter Subjekte, die eine vollständige Prüfung gestatten, wie die Personen in einem geschlossenen Raum, möglich ist), so folgt deshalb aus Arturteilen, die nur induktiv erschlossen sind und daher nicht mit Sicherheit erkannte wesensnotwendige allgemeine Sachverhalte aussagen, nicht unbedingt, daß jede untergeordnete Spezies oder jeder unter das gegebene Allgemeine fallende Einzelfall die Eigenschaften der Spezies oder des Genus verkörpern müßte. So ist eine auf die von Biologie, Zoologie, Chemie, Medizin usf. anwendbare modale Onto-logik eine andere als eine, die sich auf notwendige allgemeine Urteile und Sachverhalte stützt. Die deduktiven Beweise in empirischen Wissenschaften gehen von streng genommen nur problematischen Arturteilen (oder Individualurteilen) eines höheren oder geringeren Wahrscheinlichkeitsgrades aus und können dem entsprechend in ihren Konklusionen nur zu problematischen Urteilen führen. Nur auf rein apriorische und wesensgesetzliche Notwendigkeiten aufbauende apodiktische Universalurteile in Prämissen oder Konklusionen sind daher streng gerechtfertigt und eines echten Beweises fähig, weil nur in diesen die volle ontische (und im Fall von deren Erkennbarkeit durch den Menschen) gnoseologische Rechtfertigung des Wahrheitsansprüche apodiktischer universaler Prämissen und Konklusionen liegen kann. (Der gläubige Theologe darf freilich behaupten, daß auch auf göttliche Offenbarung gestützte Argumente, welche Wahrheit eines universalen Urteils behaupten, dieselbe oder sogar eine höhere Rechtfertigung apodiktischer Allgemeinurteile begründen.) Bei manchen ihrer Vertreter versucht die sogenannte ‘fuzzy logic’ diesen Verhältnissen gerecht zu werden und das Problem aufzuwerfen und zu bewältigen, wie man zwischen der Behauptung und Wahrheit universaler Implikationen zwischen ‚notwendig und immer wahr‘ und ‚im allgemeinen wahr‘ bzw. innerhalb der jeweiligen Art behaupteter Implikationsverhältnisse unterscheiden könne.

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5.2. Welche ontischen Modalitäten (verschiedene Seinsmodalitäten und Seinsweisen) müssen wir unterscheiden?

Unter ontischen Modalitäten können wir in einem ersten Sinn des Wortes Seinsweisen und auf das Sein oder Nichtsein (wie ‚unmöglich‘) bezügliche Modalitäten meinen, auf die wir ja schon im Rahmen der Analyse der Seinsform von Sachverhalten (des ‚Bestehens‘) hingewiesen haben. Solche ontischen Modalitäten wie „möglich – wirklich – unmöglich“; „real – ideal – fiktiv“ etc. geben grundlegende Seinsweisen (oder auch – z.B. im Falle des Unmöglichen – ein Ausgeschlossensein vom wirklichen Sein) an. Man könnte sie, wenn sie eine positive Seinsbestimmung bezeichnen (wie wirklich, möglich, ideal, oder fiktiv) auch als Seinsmodi bezeichnen, welche eine vor allen Kategorien (die sich primär auf die Wirklichkeit beziehen) liegende allgemeinere Differenzierung des Seins angeben. Im Anschluß an die Tradition, an Pfänder und Becker, aber zugleich in einem eigenständigen Weiterdenken ihrer diesbezüglichen Beiträge, unterscheiden wir (doch ohne dabei Anspruch auf Vollständigkeit dieser Unterscheidungen zu erheben), wie schon vorhin ausgeführt, fünf grundsätzlich verschiedene Seinsweisen bzw. ontische Modalitäten und haben ja schon ein paar Worte zu ihrer jeweiligen Stelle innerhalb der ontologischen Rangordnung gesagt438 und vor allem darauf hingewiesen, daß innerhalb jeder dieser Seinsmodi Sachverhalte in jeweils ganz verschiedener Weise ‚bestehen‘, wobei sowohl deren Modalität im Sinne des jeweiligen Seinsmodus selber als auch innerhalb desselben variieren kann. 1) Reales Sein: So können wir etwa in Bezug auf den ersten und grundlegendsten Seinsmodus, den der Wirklichkeit, das Prädikat ‚wirklich‘ 438

Diese Seinsmodi stellen primär eine Differenzierung hinsichtlich der ersten von drei grundsätzlich verschiedenen ‚Richtungen‘ oder Dimensionen des Seins dar, von denen wir andernorts argumentiert haben, daß sie dieses vom Nichts unterscheiden und viele Grade der Realisierung haben: 1. Realität, 2. Intelligibilität, und 3. Wert. Vgl. Josef Seifert, „Die verschiedenen Bedeutungen von ‚Sein‘– Dietrich von Hildebrand als Metaphysiker und MartinHeideggers Vorwurf der Seinsvergessenheit“, in: Balduin Schwarz, hrsg., Wahrheit, Wert und Sein. Festgabe für Dietrich von Hildebrand zum 80. Geburtstag (Regensburg: Habbel, 1970), S. 301-332.

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(im Gegensatz zu ‚unwirklich‘) selber als eine ontische Grundmodalität, innerhalb deren eine Reihe weitere Modalitäten bestehen, betrachten. Die letzteren sind Unterarten und Spezifikationen der Welt der Wirklichkeit, oder aber stellen Gegensätze zu dieser dar (wie ‚unwirklich‘). Zu den ontischen Modalitäten innerhalb dieses realen Seins rechne ich, und zwar als existentiale Modalitäten, die nicht Sachverhalte, sondern den actus essendi, die Aktualität des Existierens selber, modifizieren, „notwendig existierend – kontingent existierend“. (Diese letztgenannte Unterscheidung findet sich auch außerhalb des Realen innerhalb anderer ontischer Bereiche, z.B. innerhalb des Idealen, wo wir notwendige eide von kontingenten Ideen und solchen idealen Gebilden, die Momente der Kontingenz, Erfindbarkeit und Freiheit einschließen, abgrenzen müssen.)439 In anderer Weise als Notwendigkeit und Kontingenz der Existenz können „vergangen – gegenwärtig – zukünftig“ als ontische Modalitäten innerhalb des Realen bezeichnet werden. Das Gesagte genügt, um sowohl die ontische Modalität der allgemeinen ‚Seinsweise des Realen‘ (‚wirklich‘) als auch um die innerhalb derselben möglichen modalen Bestimmungen (wie vergangen, zukünftig, zufällig, notwendig) als ontische Modalitäten hinreichend deutlich ins Auge zu fassen, um sie nun von den logischen Modalitäten abzugrenzen. Deshalb erübrigt sich hier auch ein tieferes Eindringen in die verschiedenen Gruppen ontischer Modalitäten, wie sie den vier anderen oben genannten Seinsmodi als solchen und den innerhalb jeder derselben möglichen ontischen Modalitäten entsprechen.440 Dennoch sind ein paar Worte über die anderen vier unterschiedenen Seinsmodi hinzuzufügen, um zu sehen, in welcher Weise die Sachverhalte, mit denen wahre Urteile übereinstimmen, durch sie modifiziert werden. 2) Ideales Sein: Wenn wir etwa an die Mehrheit mathematischer und philosophischer wahrer Urteile denken, so beziehen sich diese auf eide, Ideen, ideale Gegenstände wie Zahlen usw. Diejenigen Sachverhalte, die in Urteilen gemeint werden, welche notwendige ideale Gegenstände wie Primzahlen oder andere notwendige Wesenheiten betreffen,441 sind 439 440

441

Vgl. Josef Seifert, Sein und Wesen, Kap. 1. Zu einer ausführlicheren Erörterung dieser Fragen vgl. Josef Seifert, Sein und Wesen. Vgl. Jean Hering, Bemerkungen über das Wesen, die Wesenheit und die Idee, 2.

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notwendig und zeitlos; sie beziehen sich auf ideale Wesenheiten, die ganz objektiv bestehen, in einer durch menschlichen Geist unschaffbaren und unkonstituierbaren Form. Viele Urteile, welche nicht rein ideale Gegenstände wie Zahlen, sondern ideale Wesenspläne realer Gegenstände betreffen, implizieren – auf Grund der Herrschaft idealer Wesenheiten über die reale Welt – auch unzählige konditionale Sachverhalte über reale Seiende, welche unter solche idealen Wesenheiten fallen oder an den eidetischen ewigen Strukturen der Dinge teilhaben. Die Autonomie idealer, vor allem wesensnotwendiger Sachverhalte, ist eine hohe, in gewisser Weise den Sachverhalten, die sich auf reale Seiende in der Zeit beziehen, überlegene, da sie zeitlos, notwendig und unschaffbar sind und außerdem mit der reichen qualitativen Welt idealer Wesenheiten wie dem Wesen der Liebe oder der Freiheit verbunden sind und überdies oft in der Form von idealen „Wesensgesetzen über die reale Welt“ deren Gesetze darstellen. 3) Reine Möglichkeiten und mögliche Welten, im Gegensatz zu unmöglichen Objekten, enthalten zahllose Sachverhalte, die wirklich bestehen, aber da sie nur mögliche Gegenstände betreffen, an der Irrealität des nur Möglichen teilhaben, aber doch in einer eigentümlichen Weise selber nicht nur möglich sind. Genauer gesagt, müssen wir verschiedene Arten von Sachverhalten unterscheiden, die rein mögliche Gegenstände betreffen; einmal die selber nur möglichen Sachverhalte, welche nur dann zu wirklich bestehenden werden, wenn Bewohner der möglichen Welten wirklich werden; dann jene Sachverhalte, die immer tatsächlich bestehen, aber mögliche Welten betreffen. Zum Beispiel ist der Sachverhalt, daß es Aufl., Hrsg. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, Reihe “Libelli”, 80, reprographischer Nachdruck aus: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, 4, 1921, S. 495-543 (Darmstadt, 1968); Roman Ingarden, „Essentiale Fragen“, Jahrbuch für Phänomenologie und phänomenologische Forschung, VII, Hrsg. E. Husserl (Halle a. S., 1924), S. 125-304; ders., Über das Wesen. Philosophie und Realistische Phänomenologie, Studien der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein/Philosophy and Realist Phenomenology. Studies of the International Academy for Philosophy in the Principality Liechtenstein, vol. 18. (Hrsg. Peter McCormick), (Heidelberg: Winter Verlag, 2007). Herbert Spiegelberg, „Über das Wesen der Idee. Eine ontologische Untersuchung“, Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, hrsg. v. E. Husserl u.a. (Halle a.d. Saar: Max Niemeyer, 1930), Bd. 11, S. 1-238. Josef Seifert, Sein und Wesen, Kap. 1.

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unendlich viele mögliche Welten gibt, nicht selber ein nur möglicher, sondern ein tatsächlich bestehender Sachverhalt, der sich nur auf mögliche Welten bezieht. 4) Rein intentionale Gegenstände: Ein paralleler Unterschied besteht hinsichtlich der ursprünglichen oder abgeleiteten rein intentionalen Gegenständen, z.B. der in einem literarischen Kunstwerk entworfenen Welten oder der Gegenständen bloßer Träume.442 Hier gibt es einerseits rein intentionale Sachverhalte, die nur im Traum oder literarischen Werk zu sein scheinen, geträumt, vorgestellt oder gedacht werden, die aber nicht tatsächlich bestehen, wie daß Don Quixote gegen Windmühlen gekämpft hat. Davon verschieden sind alle jene tatsächlich bestehenden und keineswegs nur geträumten und erfundenen Sachverhalte, die geträumte oder literarische Gegenstände betreffen, aber selber keineswegs fiktiv oder geträumt sind, wie daß ich diesen anstatt jenen Gegenstand oder dieses oder jenes Ereignis geträumt habe, oder daß Don Quixote in der von Cervantes‘ Meisterwerk konstituierten Welt gegen Windmühlen kämpft. So wie der Sachverhalt, daß ich träume oder daß ich dies anstatt jenes träume keineswegs selber nur geträumt ist, so sind auch die vom Literaturkritiker über die rein intentionalen, im literarischen Werk konstituierten Gegenstände studierten Sachverhalte keineswegs selber Fiktion, auch wenn sie in gewisser Weise durch die rein fiktive Natur der Gegenstände, auf die sie sich beziehen, „gefärbt“ sind und deshalb nicht denselben realen Charakter besitzen wie etwa historische Sachverhalte oder Sachverhalte, die hier und jetzt wirklich bestehen. Noch einmal ein anderer Fall liegt im Irrtum vor, weil hier nicht durch unsere Phantasie eine Welt rein intentionaler Gegenstände aufgebaut wird, die dann ein gewisses Sein besitzt, sondern weil hier der rein intentionale Gegenstand des Irrtums zwar auch als solcher ein gewisses Sein besitzt, aber der eigentliche Gegenstand des Irrtums ein als tatsächlich bestehend 442

Vgl. die meisterhafte Analyse Roman Ingardens in seinem Das literarische Kunstwerk, 3. Aufl., 1972. In einer m.E. nicht haltbaren Ausdehnung dieses Bereichs behandelt Antonio Millán-Puelles dieses Phänomen in seinem Teoría del objeto puro, Colecciónes Cuestiones Fundamentales. Ins Englische übersetzt von Jorge García-Gómez: The Theory of the Pure Object. Vgl. auch mein “Preface” to Antonio Millàn-Puelles, Teoría del objeto puro; The Theory of the Pure Object, pp. 1-12.

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gemeinter und dafür gehaltener Sachverhalt ist, der dem wirklich bestehenden Sachverhalt kontradiktorisch entgegengesetzt ist. In diesem Sinn hält der Irrende das Gegenteil des tatsächlich bestehenden Sachverhalts für bestehend, behauptet das Bestehen eines Sachverhalts, der nicht besteht und dem wirklich bestehenden entgegengesetzt ist. Auf den fünften allgemeinen Seinsmodus rein logischer Entitäten brauchen wir hier nicht näher einzugehen, da Phänomene, die dieser Sphäre angehören, logische Entitäten und Gesetze, den Hauptteil dieses Kapitels ausmachen und wir im Kapitel 4 ausführlich auf die Eigenart dieses logischen Seins, das Träger der Urteilswahrheit ist, eingehen werden. 5.3. Logische Modalitäten: ihre Unabhängigkeit von ontischen Modalitäten trotz der ontologischen Fundierung der Logik

Nach der knappen Analyse der ontologischen Modalitäten und der kurzen Kennzeichnung und Abgrenzung der logischen von den ontischen Modalitäten und deren Arten wenden wir uns nun noch etwas eingehender der Natur der logischen Modalität und der aufs erste paradox erscheinenden Tatsache ihrer Unabhängigkeit von den ontischen Modalitäten trotz der ontischen Fundamente der Logik zu. Die Modalität im logischen Sinne ist verschieden und in gewissem Sinne ganz unabhängig von der ontischen; sie bezieht sich, wie bereits bemerkt, weder auf Sachverhalte und Seiende noch auf sprachliche Sätze, sondern auf die logischen Gebilde oder komplexen Bedeutungseinheiten, wie Fragen, Befehle oder Urteile, insbesondere auf diese letzteren. Die jeweilige logische Modalität berührt innerhalb der Kopula weder deren ontologische Bedeutung als Setzung des reinen Sachverhaltsseins,443 noch deren hinbeziehende Funktion, sondern nur die Behauptungsfunktion selbst, d.h. jene logische Funktion der Kopula, die den Behauptungsschlag des Urteils ausführt bzw. die einen Sachverhalt behauptet (als solchen hinstellt); diese Funktion kann die 443

Auf die Modalität des gemeinten Sachverhaltsseins beziehen sich jene logischen Bedeutungsmomente des Urteils, die eben die ontischen Modalitäten meinen. Auf die rein ontologische Bedeutung der Kopula, die Pfänder mit seiner Vorstellung, die Kopula sei ein ‚rein funktionierender Begriff‘ übersieht, hat Hedwig ConradMartius in ihrem Buch Das Sein hingewiesen.

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Kopula prinzipiell in unendlich vielen verschiedenen Stärkegraden ausüben, von denen die Logik normalerweise nur drei grob von einander abgrenzt: die des problematischen, des assertorischen und des apodiktischen Urteils. Dabei liegt im assertorischen Urteil weder die Steigerung des Behauptungsschlages, wie im apodiktischen Urteil, noch dessen Verminderung wie im problematischen Urteil vor. Die erörterten ontischen Modalitäten und deren Arten als solche sind sicher nicht dasselbe wie die logischen Modalitäten, noch deren Grundlage. Denn wie gesagt können sich Urteile aller drei logischen Modalitäten auf alle ontischen Modalitäten beziehen. Ich kann etwa ebenso gut über Wirkliches wie über Unwirkliches, über reales und ideales Sein oder auch über rein intentionale Gegenstände, ebenso über Notwendigkeiten wie über Zufälligkeiten im ontologischen Sinne sowohl apodiktische wie auch problematische Urteile rein logischer Modalität fällen.444 Ebenso kann ich über ontische und epistemische Wahrscheinlichkeiten statistischer Art assertorisch oder apodiktisch im logischen Sinn urteilen. Um die ontischen Modalitäten von den logischen zu unterscheiden, denken wir insbesondere an das sogenannte kategorische Urteil. So vermeiden wir, wie schon oben bemerkt, die Notwendigkeit, an dieser Stelle jene besonderen Probleme des hypothetischen und disjunktiven Urteils erörtern zu müssen, die für unser Problem nicht entscheidend sind. Trotz seiner Abgrenzung logischer von ontischen Modalitäten und seines Nachweises, daß die Wahrheit und Falschheit von Urteilen aller logischen Modalitäten einfach vom Bestehen des behaupteten Sachverhalts, gleich welcher ontischer Modalität, abhängt, weist Pfänder ganz eindeutig auf die Fundierung aller logischen Gesetze in den ontologischen Grundgesetzen hin, worin er allerdings Reinach folgt, wenn dieser auch eine Tendenz hat, die logischen Grundgesetze auf ontische Sachverhaltsgesetze zu reduzieren, anstatt sie nur in diesen begründet zu sehen.445 444

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In wundervoll komischer und zugleich hintergründiger Weise finden wir dies in Kart Valentins berühmtem „Antentraum“ bestätigt, in welchem viele apodiktische Urteile über rein geträumte Enten, Würmer oder das Essen derselben vorkommen. Vgl. Alexander Pfänder, (Mariano Crespo, Hg.), Logik4, (99) 92 ff.; vgl. Auch Mariano Crespo, “En torno a los estados de cosas. Una investigación ontológicoformal,” S. 143-156; ders., Para una ontología de los estados de cosas esencialmente necesarios. Vgl. auch Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen

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KAPITEL 3

Ich betrachte es als großes Verdienst Pfänders, ganz eindeutig auf die Fundierung aller logischen Gesetze in den ontologischen Grundgesetzen hingewiesen zu haben. Nur weil z.B. nicht zwei einander kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalte bestehen können, gilt das logische Widerspruchsprinzip, daß das Zusammenbestehenkönnen von Wahrheit und Falschheit desselben Urteils im selben Sinne und zur selben Zeit (wo diese Einschränkung nötig ist) bzw. die Wahrheit zweier einander kontradiktorisch entgegengesetzter Urteile ausgeschlossen ist. Dieses Prinzip ist so evident, daß jede Leugnung es bereits voraussetzt.446 Dennoch besteht die evidente Erkenntnis seiner Wahrheit nicht nur in der Erkenntnis eines notwendigen Widerspruchs seiner Leugnung und erst recht nicht in einer bloßen Erkenntnis einer (hier gar nicht vorliegenden und durch jedes nur allzu häufige Denken von Widersprüchen widerlegten) Denknotwendigkeit, sondern vielmehr in einer Einsicht in die sachliche Wesensnotwendigkeit, daß zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalte objektiv nicht beide bestehen und zwei kontradiktorische Urteile nicht zusammen wahr sein können. Die Notwendigkeit, daß die obersten logischen Wesensgesetze wie das Widerspruchsprinzip in formal-ontischen begründet sein müssen, ist evident. Nur weil z.B. zwei einander kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalte nicht zusammen bestehen können, gilt das logische Widerspruchsprinzip, daß das Zusammen-Bestehens-Können von Wahrheit und Falschheit desselben Urteils im selben Sinne und zur selben Zeit,447 bzw.

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Urteils“, S. 95-140; ders., „Die obersten Regeln der Vernunftschlüsse bei Kant“, in: Kant-Studien, 16 (1911), S. 214-233; wiederabgedruckt in: Adolf Reinach, Sämtliche Werke. Textkritische Ausgabe in 2 Bänden. Herausgegeben von Karl Schuhmann und Barry Smith. München, Philosophia, 1989, S. 51-65. Vgl. auch Barry Smith, “Logic and the Sachverhalt”, S. 53-69, S. 53 ff. Das hat Aristoteles in Metaphysik, in: Aristoteles. Die Lehrschriften, hrsg., übertragen und in ihrer Entstehung erläutert von Dr. Paul Gohlke (Paderborn: Ferdinand Schöningh, 21961), Buch ī hervorgehoben. Darauf weisen auch Bonaventura und Thomas von Aquin hin. Vgl. etwa Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, L. 2, cap. 33, 8. Vgl. dazu auch Summa contra gentiles/Die Summe oder die Verteidigung der höchsten Wahrheiten, übers. Und hrsg. v. H. Fahsel (Zürich, 1952-1960). In manchen Fällen sind diese Einschränkungen bzw. Präzisierungen nötig, in anderen Fällen – etwa zeitloser mathematischer Gesetze – nicht.

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daß das Wahrsein zweier einander kontradiktorisch entgegengesetzter Urteile ausgeschlossen ist. Eine nähere Analyse, wie wir sie hier nur andeuten konnten, erweist eine ontologische Grundlegung der Logik als möglich, ja als unerläßlich: nicht nur der Onto-logik (der rein formal-ontologischen Sachverhaltslehre, die Reinach als den eigentlichen Gegenstand der Logik ansieht), die selbst ein Teil der Ontologie ist, sondern auch der Logik im Sinne Pfänders, die sich auf rein logische Entitäten wie Urteile, Schlüsse – und unmittelbar nicht auf die zugrundeliegenden Sachverhalte – bezieht und deren Wesen, Wahrheit sowie Wahrheits- und Falschheitszusammenhänge aufklärt. In der Abgrenzung der rein logischen von der ontischen Modalität erblicke ich übrigens einen Grund dafür, die modale Logik (und die Logik überhaupt) nicht mit Reinach auf eine reine Sachverhaltslogik zurückzuführen. Eine solche Zurückführung der modalen Logik auf eine ontologische Lehre vom Verhältnis ontischer Modalitäten wäre höchstens für eine Onto-Logik der rein ontischen Modalitäten von Sachverhalten und deren logischen Implikationen möglich, nicht aber für eine Logik der Modalitäten des Urteils und deren Einfluß auf die Logik der Schlüsse. Daß die reine modale Logik und die modale Onto-Logik ganz verschiedene Disziplinen sind, ergibt sich z.B. aus folgender Erkenntnis. Ein einfachstes Axiom einer reinen modalen Logik wäre z.B. dieses: „In der Konklusion eines Schlusses ist niemals eine höhere logische Modalität gerechtfertigt als jene der (hinsichtlich ihrer Modalität nach) schwächsten Prämisse.“ Man kann etwa rein logisch nicht aus zwei apodiktischen und einer problematischen Prämisse mehr als eine problematische Modalität der Konklusion begründen. Ähnliches gilt jedoch, wie bereits gesagt, keineswegs von den objektiven ontischen Modalitäten. Hier kann ein kontingentes (und ontisch nicht notwendiges Faktum), wenn es mit Sicherheit bekannt ist und ebenso sicher unter dem Diktat gewisser ontischer Wesensnotwendigkeiten steht, das Vorliegen ontologisch gesprochen notwendiger Sachverhalte verbürgen.448 448

Für solche Notwendigkeiten gibt Plantinga a. a. O. viele Beispiele, Aristoteles folgend, etwa: “Every human being is necessarily rational”; “Every animal in this room is [as a matter of fact, contingently but truly and certainly] a human being”; deshalb: “Every animal in this room is necessarily rational”. (Plantinga, a. a. O., S. 10).

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Trotz der Fundamente der Logik in ontischen Gesetzen und ontologischen Zusammenhängen lassen sich also logische Modalitäten und Gesetze nicht auf ontische zurückführen. Die Unmöglichkeit der Reduktion der logischen auf ontische Modalitäten und auf eine reine Sachverhaltslogik geht auch aus der Existenz von logischen Gesetzen hervor, die auf rein logischen Phänomenen beruhen, die innerhalb der Ontologie keine Stelle haben, wie Äquivokationen. Man denke etwa an das Gesetz, daß der Mittelbegriff in einem gültigen Syllogismus nicht äquivok gebraucht sein darf. Innerhalb rein ontischer Modalitäten gibt es so etwas wie Äquivokationen überhaupt nicht. Die Eigenständigkeit logischer Modalitäten und Gesetze gegenüber den ontologischen wird ferner auch durch jene logischen Gesetze bezeugt, die auf dem Gegensatz zwischen Wahrheit und Falschheit beruhen, wie daß aus einer falschen Konklusion und der logischen Gültigkeit des Arguments folgt, daß wenigstens eine der Prämissen falsch ist. Im Reich der Sachverhalte als solchen besteht ein solcher Gegensatz zwischen wahr und falsch überhaupt nicht. Allerdings bestehen hier (im Gegensatz zu einer Umkehrung der Gesetze logischer im Falle ontischer Modalitäten und zu den logischen Gesetzen, die von den notwendigen Verhältnissen zwischen wahren und falschen Urteilen reden) strikt parallele formal-ontologische Gesetze, die parallele notwendige Sachverhaltsbeziehungen regieren. So folgt auch formal-ontologisch aus dem Nichtbestehen eines Sachverhalts, der aus den in den Prämissen eines Syllogismus behaupteten Sachverhalten folgt, daß mindestens einer dieser Sachverhalte nicht besteht. Nur im Licht der jeweiligen logischen Strukturen und der Strukturen von Sachverhalten, und im Blick auf die verschiedenen Beziehungen zwischen logischen und ontologischen Wesensgesetzen und Modalitäten lassen sich daher adäquate Systeme modaler Logik und formaler OntoLogik der Sachverhalte aufbauen, die auf die jeweilige Art der vorliegenden Modalitäten und ihre logischen Konsequenzen Rücksicht nehmen. Verschiedene Systeme modaler Logik müssen inhaltlich jeweils ganz verschiedene wahre und evidente Axiome besitzen, je nachdem, ob sie sich auf logische oder ontische und je nachdem, auf welche Art von Sachverhalten und ontischen Modalitäten sie sich beziehen.

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5.4. Epistemische Modalitäten und epistemische Begründungsmodalitäten

Von logischen und ontischen Modalitäten ganz verschieden sind die Erkenntnismodalitäten, epistemische Modalitäten wie objektive und subjektive Gewißheiten, Unsicherheiten und deren vielgestaltige und quasiquantitativ und qualitativ unendlichen Abstufungen. Solche epistemischen Modalitäten haben Auswirkungen auf die erkenntnistheoretische Rechtfertigung der Wahrheitsansprüche von Urteilen verschiedener logischer Modalität und Quantität. Zum Beispiel rechtfertigt eine Popper‘sche Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, welche ausschließlich tentative und revidierbare Wahrheitsansprüche gelten läßt, nur problematische und außerdem letztlich nur negative problematische Urteile, die auf NichtFalsifikation beruhen der Art: „‚S ist P‘ kann als Hypothese angenommen werden und muß nicht verworfen werden, denn es ist (noch) nicht falsifiziert worden‘.“ Eine Bezweiflung evidenter Erkenntnis wirkt sich natürlich auch auf die Logik und deren Axiome und Gesetze selbst aus, die nach einer solchen Theorie entweder wie leere Tautologien aufgefaßt werden müssen oder selber nur empirische Verallgemeinerungen sein könnten, wie Husserl dies für jede Logik, die auf dem Boden des empiristischen Psychologismus steht, nachgewiesen hat. Dabei müßten streng genommen noch ein empiristischer logischer Psychologismus, welcher logische Gesetze auf empirische psychologische Denkgesetze und ein transzendentaler logischer Psychologismus, der sie auf notwendige Denkgesetze zurückführt, unterschieden werden. Beide aber führen auf einen Relativismus, indem nach dieser Theorie die Gesetze der Logik nicht das Wesen von Wahrheit und Falschheit und deren Beziehungen, sondern nur subjektive Denknotwendigkeiten, die sich wesenhaft von logischen Gesetzen unterscheiden, betreffen. Da logische Gesetze aber evidenter Weise stringenten Charakter haben, kann die Logik evidenterweise nicht auf der psychologischen Forschung über empirische und kontingente Gesetze menschlichen Denkens und Bewußtseins beruhen; und da sie die Natur der Urteile und ihre Wahrheit oder Falschheit und in keiner Weise subjektive Denkvorgänge regeln, lassen sich logische Gesetze wesenhaft nicht aus transzen-

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KAPITEL 3

dentalen subjektiven Denkgesetzen ableiten.449 Insofern die Logik Urteile verschiedener objektiver und subjektiver epistemischer Modalitäten, d.h. Urteile, insofern ihre Wahrheit in verschiedenem Grad der Gewißheit erkannt wird, berücksichtigen soll, entfaltet sie sich in einer ganz anderen Richtung epistemischer Modalitäten. Dann erforscht sie etwa die logische Auswirkung epistemischer Modalitäten der Erkenntnis von Prämissen auf die epistemische Modalität der Erkenntnis der Konklusion eines Arguments oder eines Schlusses. Eine solche Logik epistemischer Modalitäten im Reich der Schlüsse nimmt ganz andere Gestalten an und besitzt ganz andere Gesetze als wenn die Bedeutung ontischer und rein logischer Modalitäten in deren Auswirkungen auf die Logik Thema der Forschung ist. Epistemische Modalitäten sind z.B. „evident – nicht evident“; „per se evident – evident per aliud“, aber auch „offenkundig – schwer zu erkennen“, „wahrscheinlich – unwahrscheinlich“ in einem epistemischen Sinn, „gewußt – unbekannt“, etc. Für eine rein epistemische Logik gilt: es kann niemals die Wahrheit der Konklusion eines Schlusses mit einer Erkenntnis höherer epistemischer Modalität erkannt werden als mit der epistemischen Modalität, mit der die am unsichersten erkannte Prämisse gewußt wird. Epistemische Begründungsmodalitäten unterscheiden sich von den erwähnten epistemischen Grund-Modalitäten, welche die Gewißheit einer Erkenntnis betreffen. Sie umfassen Modalitäten wie: „Begründetheit – Unbegründetheit“, „Rationalität – Irrationalität“ der Überzeugung oder Behauptung, etc. Wiederum verschieden sind rein quantitative epistemische Modalitäten wie „allen bekannt“, „von allen für wahr gehalten“, usf. Innerhalb der Überzeugungen könnten auch Modalitäten der Überzeugung den rein epistemischen Modalitäten der Erkenntnis selbst gegenübergestellt werden und führen uns zu einer weiteren Kategorie von Überzeugungsmodalitäten oder Modalitäten der Art und Stärke von Beliefs, die sich von den erkenntnismäßigen Modalitäten abheben, da die Stärke einer Überzeugung z.B. nicht nur ganz verschieden von rein erkenntnisbezogenen Modalitäten wie den epistemischen Stufen der Gewißheit oder Begründetheit ist, sondern auch unabhängig von diesen. Die stärksten, unerschütterlichsten Überzeu449

Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, zit., Band I.

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gungen hegen gerade oft diejenigen, die am wenigsten von etwas verstehen. Hier berühren wir das Reich der psychischen Modalitäten, die wir von den epistemischen ebenso wie von den rein logischen und ontischen, aber auch von den doxastischen Modalitäten abzugrenzen haben. Auch zwischen den epistemischen, logischen und ontischen Modalitäten bestehen – trotz all ihrer Verschiedenheiten – viele Beziehungen, denen wir hier nicht näher nachzugehen brauchen, weil sie jenseits unserer Frage nach dem Wesen der Wahrheit liegen, die wir aber andeuten müssen. So ist es z.B. bei der Ungewißheit der Erkenntnis, ob ein Verdächtiger auch der Mörder ist, sicher unberechtigt, apodiktische Urteile darüber aufzustellen, wer XY ermordet hat. Das gilt allerdings nur für die erkenntnistheoretische Begründung der Urteilsfällung im allgemeinen und des Fällens von Urteilen höherer logischer Modalität (apodiktischen Urteilen) im besonderen, nicht für den zureichenden Grund der Wahrheit der Urteile einer bestimmten logischen Modalität selbst. Denn wenn ein problematisches Urteil wahr ist, so ist auch das assertorische und apodiktische Urteil des gleichen Inhalts wahr; aber wenn auf Grund der epistemologischen Unsicherheit der Erkenntnis seiner Wahrheit nur ein problematisches Urteil gefällt wird, rechtfertigt diese niedrige Stufe der Erkenntnis rein epistemologisch keineswegs das Fällen eines assertorischen oder apodiktischen Urteils. Eine Logik rein logischer modaler Wahrheitszusammenhänge und eine Logik logischer Modalitäten, welche deren epistemischen Modalitäten berücksichtigt und von der epistemologischen Rechtfertigung von Urteilen verschiedener logischer Modalität handelt, sind also sauber zu trennen. Erkenntnistheoretisch gesehen erfordert ein apodiktisches Urteil über empirische Sachverhalte eine viel gewissere Erkenntnis als das Fällen eines problematischen Urteils über dieselben. Ähnliches gilt für die erkenntnistheoretische Begründung eines Urteils über ontische Notwendigkeiten. Zum Beispiel erfordert ein epistemologisch fundiertes apodiktisches Urteil darüber, daß im ontologischen Sinn S notwendigerweise P ist, einen viel höheren Grad an Erkenntnisgewißheit als das – im logischen Sinne – problematische Urteil, daß S „vielleicht“ (logisch gesprochen) notwendigerweise (ontologisch gesehen) P ist. So erkennen wir eine Entsprechung zwischen problematischen, assertorischen und apodiktischen Urteilen und den diesen logischen Modalitäten

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entsprechenden epistemischen Modalitäten, die die erkenntnismäßige Berechtigung dafür liefern, Urteile einer bestimmten Modalität zu fällen. Doch ist diese Beziehung zwischen epistemischen und logischen Modalitäten aus drei Gründen keine strenge: erstens können de facto (und unberechtigterweise) apodiktische Urteile ohne einen zureichenden epistemologischen Grund gefällt werden; zweitens sind der rein logische zureichende Grund für die Wahrheit eines apodiktischen Urteils und der zureichende epistemologische Grund für seine Fällung radikal verschieden, weshalb das Fehlen eines epistemischen zureichenden Grundes zu einem apodiktischen Urteilen nicht das Fehlen eines rein logischen zureichenden Grundes bedeutet; und drittens hängt die Berechtigung zu apodiktischen Urteilen nicht ausschließlich von Erkenntnisgewißheit ab. Nur wenn wir von dem weiten und wichtigen Gebiet zwischenmenschlichen und oft „blinden“ Vertrauens und gegenseitigen Glaubens sowie des religiösen Glaubens absehen, können wir auf der Ebene philosophischer und wissenschaftlicher Erkenntnis die wesentlichsten Beziehungen zwischen epistemischer und logischer Modalität der Urteile so formulieren: Eine unsichere Erkenntnis rechtfertigt nur ein problematisches Urteil; eine Erkenntnis einer gewissen normalen Evidenzstufe ein assertorisches; und ein unbezweifelbar gewisses und evidentes Erkennen ein apodiktisches Urteil. Es ist jedoch klar, daß die epistemische Berechtigung zu apodiktischen Urteilen keineswegs ausschließlich von dem Grad der Erkenntnisevidenz abhängt: es ist voll berechtigt, wenn man gute Gründe für das Vertrauen auf eine Person und ihre Glaubwürdigkeit besitzt, auf Grund eines solchen vernünftigen Glaubens apodiktische Urteile zu fällen und für die Person, der man glaubt „die Hand ins Feuer zu legen“. Die Rationalität und Natur solcher „doxastischer“ Modalitäten ist hier nicht unser Thema. All dies, was für das Verhältnis zwischen logischen und epistemischen Modalitäten gilt, trifft hingegen keineswegs auf die rein logischen Wahrheits- und Begründungszusammenhänge von Urteilen verschiedener logischer Modalität selbst zu. Wenn man die rein logische Rechtfertigung und Begründung logischer Urteile verschiedener Modalitäten betrachtet, so zeigt Pfänder, daß aus dem Bestehen eines Sachverhalts, der Gegenstand eines problematischen Urteils ist, und somit aus des letzteren Wahrheit, notwendig auch die Wahrheit des entsprechenden apodiktischen und assertorischen Urteils folgt.

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Auch dies zeigt übrigens deutlich die Verschiedenheit zwischen logischen und ontischen Modalitäten, da offensichtlich aus der Wahrheit eines apodiktischen Urteils, welches das zufällige Bestehen eines Sachverhalts behauptet, keineswegs folgt, daß dieser Sachverhalt im ontologischen Sinne notwendig bestünde. Wohl aber folgt aus der Wahrheit des problematischen Urteils notwendig auch die Wahrheit des entsprechenden apodiktischen Urteils. Denn die notwendigen logischen Gesetze bezüglich der Wahrheit verschiedener Urteile, die in einem Schluß vereinigt sind, unterliegen ebensowenig einer Modifikation durch die Modalität der Urteile wie die Wahrheit selbst. Die Art der Garantie der Wahrheit der Konklusion durch jene der Prämissen hängt des weiteren nicht nur mit epistemischen und ontischen Modalitäten als solchen, sondern auch mit der Natur der Universalien eng zusammen. Wenn es z.B. nur empirische Allgemeinheiten gibt, deren Naturnotwendigkeit keine absolute ist und deshalb Ausnahmen gestattet, so folgt aus wahren Urteilen über solche empirischen Notwendigkeiten nicht unbedingt, daß jeder unter das gegebene Allgemeine fallende Einzelfall die Eigenschaften der Spezies oder des Genus verkörpern müßte. Auch dies hat Pfänder in seiner Analyse von vier verschiedenen Arten allgemeiner Urteile aufgeklärt. Je nachdem, ob wir es mit generalisierenden, typischen oder mit Arturteilen, mit strikte universalen, ausnahmslosen oder Ausnahmen gestattenden Allgemeinurteilen und Notwendigkeiten zu tun haben, folgen je verschiedene Konklusionen für die Wahrheitsbedingungen solcher Urteile. Ein allgemeines Arturteil etwa, daß die menschliche Hand fünf Finger hat, wird nicht durch einen sechsfingrigen Mann, wie er in der Natur und, unter komischen Vorzeichen, im bekannten Film The Princess Bride vorkommt, widerlegt noch rechtfertigt es die apodiktische Behauptung, daß wenn etwas eine menschliche Hand ist, es notwendig fünf Finger haben muß, auch wenn dies in den meisten Fällen so sein wird. Daher ist eine innerhalb der Biologie, Zoologie, Chemie, Medizin usf., welche nur ut in multis, nicht ut in omnibus gültige Urteile erlauben, anwendbare modale Onto-Logik eine andere als eine, deren Prämissen rein apriorische und wesensgesetzliche ontische (mathematische, logische, ethische usf.) Notwendigkeiten sind, weil die nicht absolut ausnahmslosen Allgemeinheiten in der Natur eigentlich niemals strikte Allgemeinurteile (Arturteile) rechtfertigen, sondern nur meistenteils

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zutreffende Urteile, die in einem ganz strengen Sinn immer Partikulärurteile sind. Zu der ontologischen Voraussetzung schlechthin universaler und wahrer Allgemeinurteile (Arturteile) – in objektiv notwendigen universalen Gesetzen und Sachverhalten – treten noch die erwähnten epistemologischen Voraussetzungen in evidenten Erkenntnissen. So könnte sich erst aus einer mit Gewißheit ausgezeichneten Erkenntnis echter Universalien, nämlich notwendiger allgemeiner Wesensgesetze, eine strikte Rechtfertigung der apodiktischer Universalurteile und der Logik der Beziehungen und Verhältnisse zwischen diesen selber ergeben. Nur von der epistemischen Modalität der ‚Evidenz‘ und der objektiven Gewißheit über universale Sachverhalte und Wahrheiten her lassen sich nicht nur überhaupt logische Gesetze als strikte und zwingende Gesetze begründen, sondern auch nur von einer Erkenntnis dieser Stufe der epistemischen Modalität der Evidenz oder der Gewißheit lassen sich auch strenge logische und formal-ontologische Implikationen und Begründungsverhältnisse zwischen Sachverhalten und Urteilen fundieren. Umgekehrt hat sich die Definition der Implikation in der modernen symbolischen Logik aus einer vorausgesetzten empiristischen nominalistischen Philosophie ergeben, für die es eine starke, und in erster Linie nur in notwendigen Universalien begründbare, Implikation nicht mehr gibt. Auf Grund einer solchen empiristischen oder nominalistischen Grundlegung der Logik wird behauptet, daß – per definitionem durch Wahrheitstafeln – jedes wahre Urteil jedes andere wahre Urteil material impliziert, was eine reine Koexistenz der Wahrheit zweier auf einander nicht bezogener und außerdem nur kontingent wahrer Urteile nicht mehr von einer notwendigen Implikation unterscheidet, wie sie sich nur durch das Darunterfallen eines Singulärurteils unter ein echtes universales Urteil und andere strenge notwendige Gesetze erklären läßt. Der Wahrheitsanspruch allgemeiner Prämissen in einem Argument sowie jener der Konklusionen innerhalb der von Aristoteles entdeckten und später vervollkommneten Formen gültiger Syllogismen,450 läßt sich nur auf eine von zwei Arten erklären: entweder durch das, was Pfänder vollständige Induktion nennt, wobei es 450

Diese hat Pfänder neu und phänomenologisch untersucht und begründet.

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sich (für menschliches Verstehen) um auf begrenzte Zahlen von Individuen beschränkte Klassen, Gruppen oder ‚Allgemeinheiten‘ handeln muß und ferner jede Einzelerkenntnis, die das Allgemeinurteil „alle…“ in sich enthält, gewiß sein muß. Oder durch die evidente und rational-intuitive oder deduktive Erkenntnis notwendiger Wesensgesetze, welche ausnahmslos auch auf eine unbegrenzte Zahl von Individuen anwendbar sind bzw. von diesen gelten.451 Daher ist es unausweichlich, daß eine Logik, welche die höheren epistemischen Modalitäten der Evidenz und der Gewißheit verwirft, entweder eine ihrerseits wieder unbegründbare und nur fälschlich für rein analytisch-tautologisch gehaltene Logik akzeptieren und für begründet halten könnte, oder aber eine rein empirisch-psychologistisch oder Popperianisch-hypothetisch fundierte formale Logik einführen müßte, deren Gesetze in keiner evidenten Erkenntnis gegeben wären und die deshalb nur eine Reihe falsifizierbarer Hypothesen und Annahmen zur Grundlage hätte. Aus einer solchen Logik, die auf einer Erkenntnistheorie beruht, die keine objektive Evidenz über streng allgemeine Sachverhalte anerkennt, ergibt sich dann logisch auch jene abgeschwächte Form der materialen Implikation, die die eigentliche Eigenart strenger logischer und sachlich fundierter Implikationen nicht mehr anerkennen kann, weil deren Anerkennung jede ontisch- und epistemisch-modale Grundlage fehlen würde. 5.5. Einige Verwechslungen in der modernen Modallogik

Werfen wir einen Blick auf die moderne modale Logik, so finden wir in ihr nicht nur gegenüber Pfänder eine fast vollkommene Abwesenheit des Versuchs einer philosophischen Analyse ihrer fundamentalen Begriffe, Gegebenheiten und Prinzipien, an deren Stelle Formeln treten, die von den einen verteidigt, von den anderen bestritten werden, weil sie meist hinsichtlich der gemeinten Sachverhalte ganz unklar sind und in einigen Bedeutungen zutreffen, in anderen nicht, was jedoch nicht in einer eingehenden phänomenologischen Hinkehr zu den gemeinten Sachen selbst geklärt wird. Infolgedessen finden wir nicht nur profunde Unklarheit 451

Vgl. Pfänder, Logik, a. a. O., S. 246 ff., 339-348.

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darüber, was mit „Modalität“ gemeint wird, sondern auch ein rein formales Formelsystem, dessen Stolz es ist, wie Copi schon vor vierzig Jahren bemerkt hat, von allen philosophischen Wesensfragen abzusehen und gerade nur dadurch zu einem einheitlichen System zu gelangen,452 was allerdings in den verschiedenen modallogischen Systemen nicht wirklich der Fall ist. Betrachten wir etwa den Artikel, in dem die Stanford Encyclopedia die Modale Logik einführt, so sehen wir zunächst eine vollendete Unklarheit darüber, was eigentlich eine Modalität im Urteil ist und was sie modifiziert: “A modal is an expression (like ‘necessarily’ or ‘possibly’) that is used to qualify the truth of a judgement.” Erstens – wie sich aus dem Bezug zu allen möglichen Welten zeigt – werden hier zwei ontische Modalitäten der Sachverhalte (notwendig und möglich), die nichts mit einer Urteilsfunktion zu tun haben, mit den rein logischen Modalitäten des Behauptungsschlags verwechselt und zweitens werden diese ontischen Modalitäten als Modifikationen der Wahrheit bezeichnet, was sie in keiner Weise sind. Auch wenn man die Ausdrücke notwendig und möglicherweise (vielleicht) im Sinne der Modalität des Urteils deutet, modifizieren diese die logische Stärke des Behauptungsschlags, nicht aber die Wahrheit. In der Tat sind Urteile dreier verschiedener logischer Modalitäten, wenn der Sachverhalt, den sie meinen, besteht, gleichermaßen und aus demselben Grunde wahr. Auch im darauf folgenden Satz geht der Autor neuerlich auf die ontischen Modalitäten von Sachverhalten über, aber bezieht sich auf die in einer Ausdrucksweise, welche auch die rein logische Modalität der Behauptungsfunktion des Urteils meinen könnte: “Modal logic is, strictly speaking, the study of the deductive behavior of the expressions ‘it is necessary that’ and ‘it is possible that’.” Hier kommt noch die weitere Unklarheit ins Spiel, daß anstatt einen klaren Begriff von dem Urteil zu haben, in dem allein die logische Modalität zu Hause ist, diese nun sprachlichen Ausdrücken (“expressions”) zugeschrieben wird, wobei in sinnwidriger Weise von diesen etwas behauptet wird, was sprachlichen Ausdrücken auf keinen Fall zukommen kann, nämlich logische 452

Vgl. Irving M. Copi, Symbolic Logic, 3rd ed. (New York/London: McMillan/Collier McMillan, 1967).

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Eigenschaften. Außerdem schreibt der Autor diesen sprachlichen Ausdrücken etwas zu, was es gar nicht gibt: nämlich ein “deductive behavior”, so als ob man die logische Struktur eines Arguments als „Benehmen“ oder „Verhalten“ charakterisieren könnte. Der Hauptfehler aber liegt in einer Verwechslung von Funktionen sprachlicher Ausdrücke oder Symbole in Sätzen mit ontischen und dieser mit logischen Modalitäten. Vom Autor wird ferner zwischen den für logische „Modifizierungen der Wahrheit“ gehaltenen Modalitäten der Notwendigkeit und Möglichkeit, deren logische Eigenschaften Hauptgegenstand der Modallogik seien, und anderen Arten von Modifikationen unterschieden, die als Modalitäten bezeichnet werden, wie ethische (deontische), doxastische und zeitliche Bestimmungen: “However, the term ‘modal logic’ may be used more broadly for a family of related systems. These include logics for belief, for tense and other temporal expressions, for the deontic (moral) expressions such as ‘it is obligatory that’ and ‘it is permitted that’, and many others.” Für die beiden Hauptmodalitäten (die eigentlich ontische Modalitäten sind), werden folgende Symbole verwendet: Ƒ Es ist notwendig, daß … ¸ Es ist möglich, daß …

Eine nähere Analyse dieses Artikels und vieler anderer Schriften zur modalen Logik, Zeit- oder tense-Logik, provability logic usf. zeigt, wie die philosophische Unklarheit und sogar der Mangel an Bemühung um Klarheit über die eigentliche Natur der gemeinten Phänomene nicht nur zu einer Fülle verschiedener und einander widersprechender Systeme modaler Logiken führt, sondern wie angemessene Systeme formaler modaler Logik und modaler formaler Onto-Logik sowie materiale (nicht-formale) modale Logiken in anderen Bereichen (wie dem Verpflichtendsein, Erlaubtsein, Verbotensein) nur dann eine echte anwendbare Basis haben und auf wahren Axiomen beruhen können, wenn über ihre Grundbegriffe und die diesen entsprechenden Wesenheiten Klarheit erreicht ist.

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5.6. Ethische Modalitäten

Innerhalb der „ethischen Modalitäten“, deren eingehende Erörterung für unser Thema der Urteilswahrheit nicht notwendig ist, unterscheidet die Modallogik vor allem drei: das Gebotensein (Verpflichtendsein), Erlaubtsein, und Verbotensein und die logischen Beziehungen zwischen ihnen, indem die sogenannte deontische Logik folgende Symbole verwendet: O It is obligatory that/es ist verpflichtend, daß … P It is permitted that/es ist erlaubt, daß … F It is forbidden that/es ist verboten, daß …

5.7. Zeitliche Modalitäten

Einen direkteren Bezug zu unserem Thema haben die zeitlichen ontischen Modalitäten, vor allem das Zukünftigsein, das Aristoteles schon mit der Urteilswahrheit in Verbindung brachte, indem er behauptete, daß die Tatsache, daß kontingente zukünftige Ereignisse nicht nur noch nicht wirklich, sondern auch inhaltlich unbestimmt sind, dazu führe, daß es über sie keine wahren und falschen Aussagen geben könne.453 Wie Pfänder gezeigt, ist jede Zeitenlogik und sind mittelbare und unmittelbare Schlüsse, die auf Zeitbestimmungen aufbauen, materiallogischer (inhaltlich bestimmter) Natur, weil die Sachen selbst, auf die Zeitbestimmungen abzielen, in ihrem Wesen verstanden werden müssen, um die Axiome und Theoreme einer solchen Logik zu verstehen. Für die hauptsächlich in dieser Zeit- oder tense-Logik untersuchten ontischen Modalitäten werden folgende Symbole verwendet: G F H P

It will always be the case that/Es wird immer der Fall sein, daß … It will be the case that/Es wird der Fall sein, daß … It has always been the case that/Es war immer der Fall, daß … It was the case that/Es war der Fall, daß …

Wenn man versteht, und nur wenn man versteht, was aus diesen zeitlichen Bestimmungen folgt, kann man die wahren Axiome einer Logik 453

Aristoteles, Peri Hermeneias/De Interpretatione.

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finden, welche aus zeitlichen Bestimmungen verschiedener Seiender und Ereignisse Schlüsse zieht. 5.8. Doxastische Modalitäten

Von den Modalitäten der Erkenntnis unterscheiden sich noch einmal die Modalitäten des belief/der Überzeugung, wobei man streng genommen noch einmal von den Akten der Überzeugung und den objektiven, dem Urteil ähnlichen Gedankeninhalten der Überzeugungen unterscheiden müßte. Für sie werden folgende Symbole verwendet: Bx x believes that …/x ist davon überzeugt, daß …

5.9. Rein psychische Modalitäten und ihr Verhältnis zu logischen, epistemischen und ontischen Modalitäten

Rein subjektive und daher nicht mehr echte epistemische Modalitäten wie rein subjektive Gewißheiten, aber erst recht die Intensitäten von Überzeugungen oder die Stärke des Glaubens, die Energie, mit der eine Behauptung aufgestellt wird, aber auch Denknotwendigkeiten können zu der ganz anderen Klasse psychischer Modalitäten gerechnet werden, die von den logischen, ontischen und objektiv epistemischen ganz verschieden und für die Logik prinzipiell ganz uninteressant sind, obwohl die bedeutende logische Richtung des Psychologismus, welche die obersten logischen Prinzipien auf Denknotwendigkeiten zu reduzieren sucht, nicht nur die psychischen mit den logischen Modalitäten verwechselt, sondern die letzteren in unhaltbarer und zu einem radikalen Relativismus führender Weise aus den vorigen abzuleiten bzw. auf diese zurückzuführen sucht.454 Nun ist es evident, daß aus psychischen Notwendigkeiten, z.B. aus psychischen Denknotwendigkeiten, seien diese empirisch induktiv oder synthetisch a priori, schlechthin nichts für die Wahrheitszusammenhänge folgt, die die Logik erforscht. 454

Neben Husserls Prolegomena zu den Logischen Untersuchungen geht auch Plantinga (a. a. O., S. 3-8) auf die Verschiedenheit ontischer und logischer Notwendigkeiten von epistemischen und psychischen Modalitäten ein, ohne allerdings die beiden letzten Kategorien und deren Unterarten sauber zu trennen.

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5.10. Die Gefahr der Verwechslung der verschiedenen Arten von Modalität und vielfache Wechselbeziehungen zwischen ihnen – Eine eingehende Klärung dieser Unterschiede würde eine rein philosophische Fundierung einer Revolution und Vertiefung der formalen und materialen modalen Logik ermöglichen

Es gibt wenige schlimmere Gefahren für die Logik und die Philosophie im allgemeinen als eine Verwechslung ganz verschiedener Dinge und Sachverhalte. Diese Gefahr wirkt sich in der Antike und im Mittelalter, aber in gesteigertem Maß in der Moderne und Gegenwart auch auf die Diskussion der modalen Logik sehr negativ aus. Ockham etwa übersieht, daß die von ihm benannten Eigenschaften solche der Objekte des Urteils oder der Erkenntnis usf. sind, nicht des Urteils selbst. Zwar behauptet Ockham, daß die von ihm genannten Modalitäten solche der propositio selbst seien, und daß die Modalität sogar vom ganzen Urteil auszusagen sei (modus praedicabilis de tota propositione), aber in dem, was er dann konkret inhaltlich behauptet, zeigt sich das Fehlen der betreffenden Unterscheidungen. Er bemerkt mit Recht, daß die vier erwähnten Modalitätstypen nicht alle möglichen erschöpfen. Er fügt dabei auch linguistische und andere Typen gnoseologischer Modalitäten hinzu, die sich ganz von ontischen und von logischen unterscheiden, z.B. bekannt – unbekannt, wahr – falsch, geschrieben, gesprochen, in Gedanken gefaßt (verstanden), geglaubt, gemeint, bezweifelt, usf.455 Ockham nimmt zweifelsohne, wenn er als scharfsinniger Logiker diese ganz verschiedenen Arten von Modalität nicht verwechselt, eine modallogische Äquivalenz zwischen den folgenden Urteilen an, die teils ontische, teils epistemische, teils logische Modalitäten aussagen oder enthalten: „Es ist notwendig, daß jeder Mensch ein Lebewesen ist“ (ontologisch), „Man weiß, daß jeder Mensch ein Lebewesen ist“ (epistemisch), etc. Eine solche logische Äquivalenz aller Modalitäten besteht aber in Wirklichkeit in keiner Weise, wie aus dem Gesagten klar sein sollt. Wenn ich z.B. sage: „Ich glaube mit Sicherheit, daß S P ist“, folgt aus dieser epistemisch-psychischen Apodiktizität nicht, daß immer oder jemals „S P ist“. Höchstens wenn die epistemische Modalität die 455

Also auch das, was Ingarden als Quasi-Urteil vom Urteil abgrenzt, faßt Ockham als Modalität desselben. Ebd., P. II, c. 1.

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Frucht echter evidenter Einsicht ist, besteht eine Äquivalenz. Wenn ich mit Sicherheit weiß, daß S P ist, dann ist S P. Aber auch hier besteht keineswegs eine inhaltliche Identität und auch keine logische Äquivalenz zwischen dem höchsten Grad epistemologischer Modalität der Gewißheit und ontischer Notwendigkeit. Daraus, daß ich sicher weiß, daß S P ist, folgt keineswegs daß „S ist P“ notwendig oder notwendig (statt kontingent) wahr sei. Erst recht besteht keine logische Äquivalenz zwischen logischen und ontischen Modalitäten. Es sind ja problematische logische Urteile über eine ontische Notwendigkeit möglich, z.B.: „Es dürfte notwendig sein, daß jedes Urteil mindestens drei Begriffe enthalten muß“ fällt ein logisch abgeschwächtes (problematisches) Urteil über einen notwendigen oder für notwendig gehaltene Sachverhalt.456 Ähnliche Verwechslungen zwischen rein logischen, epistemischen und ontischen Modalitäten finden wir auch bei den Gründern der modernen modalen Logik, z.B. bei H. Mac Coll, der ontische und logische Modalitäten von epistemischen Modalitäten wie ‘known to be true’, ‘known to be false’, ‘neither known to be true nor known to be false’ nicht klar unterscheidet.457 Auch Oskar Becker vermengt458 diese Kategorien mit den ontischen Modalitäten des ‚Unmöglichen‘ und des ‚Notwendigen‘. Obwohl Plantinga die Modalitäten de dicto und de re459 und auch verschiedene epistemologische Modalitäten unterscheidet,460 führt er für die Notwendigkeit de dicto Beispiele notwendig wahrer Urteile an,461 deren Notwendigkeit in der Notwendigkeit von Sachverhalten gründet, und vermengt diese ontischen Modalitäten und Notwendigkeiten mit den eigentlich logischen Modalitäten, wie sie den klassischen Modalitäten des Urteils 456

A. Pfänder, Logik, S. 92 ff. Die scheinbar dieser These widersprechenden Urteile wie die Impersonalien „es schneit“ oder Existenzaussagen sucht Pfänder als ebenfalls aus drei Begriffen gebildete Urteile zu erweisen, was ihm nicht in allen Fällen recht gelingt. 457 Vgl. H. Mac Coll, “Symbolic Reasoning, II”, S. 493 ff., 509 f. 458 Oskar Becker, a.a.O., S. 501 f. 459 Vgl. Alvin Plantinga, The Nature of Necessity, S. 9-43. 460 A. a. O., S. 2-9. 461 Plantinga verwendet korrekterweise den Ausdruck Proposition, um den Urteilsinhalt bzw. den objektiven Gedanken von sprachlichen Sätzen zu unterscheiden, die nur wahr genannt werden können, wenn sie wahre Urteile (Propositions) zum Ausdruck bringen.

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(assertorisch, apodiktisch und problematisch) entsprechen. So bezeichnet er zum Beispiel das Urteil „neun ist notwendig zusammengesetzt“ als eine Notwendigkeit de dicto, obwohl diese Notwendigkeit primär eine des mathematischen Sachverhalts ist, die nur als ihre Folge die Wahrheit des genannten Satzes notwendig macht. Diese Notwendigkeit ist jedenfalls keineswegs eine logische Modalität, die mit den Modalitäten ‚problematisch‘, ‚assertorisch‘ oder ‚apodiktisch‘ zu tun hat.462 Auch verwechselt Plantinga wirkliche oder angebliche psychische Modalitäten wie Denknotwendigkeiten mit logischen Modalitäten de dicto. Zum Beispiel hält er463 das Urteil „das, woran ich denke, ist notwendig eine Primzahl“ (“what I am thinking of is necessarily prime”), nämlich die Zahl 17, mit Recht für eine Notwendigkeit de re, aber was im Urteil „notwendigerweise denke ich an eine Primzahl“ (necessarily, what I am thinking of is prime), also in einer Aussage über ein (von ihm mit Recht verworfenes) notwendiges Denken einer Primzahl gemeint wird, für eine (logische) Modalität de dicto, während es sich dabei eigentlich um eine vermeintliche psychologische Notwendigkeit handelt.464 Nachdem er die psychischen Modalitäten (wie Zaghaftigkeit oder Forschheit des Behauptens) scharf von den logischen Modalitäten unterschieden hat, sagt Pfänder deshalb zu Recht:465 Nach der anderen Seite ist die logische Modalität des problematischen Urteils genau abzuscheiden von der ontologischen Modalität, die in dem vom Urteil entworfenen Sachverhalt liegt.466 462 463 464

465 466

Vgl. Plantinga, a. a. O., S. 9. a. a. O., S. 12. Auch in der Diskussion des sogenannten modalen ontologischen Arguments für die Existenz Gottes werden von Hartshorne und Plantinga Begriffe logischer und ontischer Notwendigkeit mit einander vermengt. Plantinga, a. a. O., S. 205-221. Vgl. auch Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis2, Kap. 2, 12. Pfänder, ebd., S. 94. Und weiter: Dementsprechend ist auch der Sachverhalt, der dem problematischen Sachverhalt als sein Gegenstück gegenübersteht, durchaus kein eigenartiger. Denn durch die beiden Urteile: „Er ist vielleicht im Theater” und „Er ist im Theater” werden keine verschiedenen Sachverhalte, sondern ein und derselbe Sachverhalt entworfen.

(Ebd., S. 96).

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Pfänder faßt seine diesbezüglichen Einsichten so zusammen: Jedes Urteil, mag es einen Sachverhalt entwerfen, welchen es will, hat notwendigerweise eine bestimmte Modalität und ist daher entweder ein problematisches oder ein assertorisches oder ein apodiktisches. Die Modalität betrifft die Behauptungsfunktion der Kopula, die entweder in ihrem logischen Gewicht abgedämpft oder voll oder übersteigert ist. Es liegt gar nicht im Sinn dieser Modalität, in den durch das Urteil entworfenen Sachverhalt eine ontologische Möglichkeit oder Wirklichkeit oder Notwendigkeit hineinzusetzen. Es ist daher unmöglich, aus dem Wesen des problematischen, assertorischen und apodiktischen Urteils die Notwendigkeit abzuleiten, in die entworfenen Sachverhalte die ontologischen Kategorien der Möglichkeit, der Wirklichkeit und der Notwendigkeit hineinzuprojizieren, wie es Kant versucht hat.467

Trotz der scharfen Abgrenzung zwischen logischen und ontischen Modalitäten gibt es, worauf Pfänder nicht hinweist, viele Wechselbeziehungen zwischen logischen, epistemologischen und ontischen Modalitäten, indem z.B. häufig erst die ontische Wesensnotwendigkeit (eine ontische Modalität), wenn sie mit Gewißheit erkannt wird (epistemische Modalität), die volle Rechtfertigung der logischen Modalität des apodiktischen allgemeinen Urteils bietet.468 (Wenn hier von Rechtfertigung die Rede ist, so meinen wir die rationale ontologische oder/und erkenntnismäßige Begründung von Urteilen apodiktischer oder problematischer Modalität im rein logischen Sinn.) Beziehungen bestehen natürlich, wie bereits mehrfach betont, auch zwischen den verschiedenen Typen von Modalitäten, z.B. zwischen epistemischen und ontischen Modalitäten, in bezug auf deren Typen der Verknüpfung sogar jeweils eigene modale Logiken entwickelt werden müssen, weil sich aus den je verschiedenen Typen und Kombinationen 467 468

Ebd., S. 100. Die Dinge liegen anders im Falle der vollständigen Induktion oder unmittelbaren Wahrnehmung und Intuition einer ganzen Gruppe von Gegenständen, wo eine andere Art von Allgemeinheit des allgemeinen Urteils vorliegt, dessen Wahrheit und geurteilten Sachverhalt ich auf Grund der Wahrnehmung erkennen kann (wie: alle Menschen in diesem Zimmer sind Schwarze, was ich sehen kann).

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KAPITEL 3

ontischer, logischer und epistemischer Modalitäten je ganz verschiedene Konsequenzen für die Logik ergeben. Aus den Ergebnissen einer systematischen rein philosophischen Erforschung aller Arten von logischen, ontischen und epistemischen Modalitäten und deren Anwendung in der symbolischen Logik müßte sich also eine radikale Revolution und Vertiefung einer umfassenden und differenzierten modalen Logik und der Wahrheitsansprüche von Urteilen und Konklusionen von Beweisen, die verschiedene logische Modalitäten haben oder sich auf verschiedene andere Arten von Modalitäten beziehen, ergeben. Diese Aufgabe kann hier nur aufgerissen, ihre Ausführung muß Anderen überlassen werden. 6. Wahrheitsanspruch und Wahrheit des Urteils entsprechend der ‚Quantität‘ des Urteils Wir sind schon im Rahmen der Erörterung der Modalität der Urteile auf die Fragen gestoßen, welche ontologischen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen die Logik selbst als Wissenschaft und begründete Wahrheitsansprüche universaler sowie anderer Arten allgemeiner Urteile machen. Die Quantität des Urteils differenziert den Subjektsbegriff in besonderer – eben quantitativer – Weise. Dabei kann diese Differenzierung der ‚Quantität‘ entweder einfach die numerische Einheit oder Mehrheit der Subjektsgegenstände als Gesichtspunkt der Einteilung wählen und dann singuläre und plurale Urteile (Singularurteile und Pluralurteile) unterscheiden. Singularurteile senden, wie Pfänder sich ausdrückt, selbst wenn sie ein Arturteil sind wie ‚Schwefel ist gelb‘ oder sich auf einen Gegenstand beziehen, der viele einzelne Individuen in sich enthält, wie „Dieser Bienenschwarm kann gefährlich werden“, durch den Subjektsbegriff nur „einen einzigen Meinungsstrahl“ auf einen Subjektsgegenstand aus; Pluralurteile hingegen senden in bzw. durch ihren quantifizierten Subjektsbegriff „eine Mehrheit von Meinungsstrahlen auf mehrere Subjektgegenstände“ aus. Das Pluralurteil meint also durch den Subjektsbegriff eine Vielheit von Gegenständen, die nach verschiedenen Gesichtspunkten wie ihrem ‚Was‘, ihrem ‚Wie‘, ihrer Art, ihrer Relation, ihrer räumlichen und zeitlichen Folge oder Lage, ihrem Wert usf. ausgewählt werden können. Eine andere Einteilung der Urteile ihrer Quantität nach hingegen

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unterscheidet Einzelurteile, Partikularurteile und Universalurteile. Diese Einteilung, so zeigt Pfänder, setzt voraus, daß der Subjektsbegriff zunächst eine bestimmte wegen ihrer Art, ihrem Wie, ihrer Relation oder anderen Gesichtspunkten bestimmte Menge von Gegenständen ausgrenze und dann innerhalb dieser so ausgegrenzten Gegenstände entweder einen, oder mehrere, oder aber alle meine. Eine dritte Unterscheidung der Quantität von Urteilen unterscheidet Arturteile und Individualurteile, wobei die Arturteile, obwohl eine Menge von Gegenständen unter die Art fallen, Singulärurteile im angegebenen Sinne sind.469 Eine vierte Unterscheidung der Urteile ihrer Quantität nach differenziert zwischen Kollektiv- und Solitärurteilen, wobei die ersten einen aus vielen Einheiten zusammengesetzten Gegenstand meinen, wie etwa einen Bienenschwarm oder die natürliche Zahlenreihe, denen Eigenschaften zukommen, welche sich in den einzelnen Gliedern des Kollektivs nicht finden, wodurch die logischen Fehler der falschen Komposition und Teilung sich erklären lassen. Innerhalb der Quantität des Urteils stellen insbesondere die Arturteile (wie „der Mensch ist sterblich“) und universale Urteile (wie „Alle Menschen sind sterblich“) ein tieferes Problem hinsichtlich ihres Wahrheitsanspruchs dar, und hier wiederum wirft in erster Linie der Wahrheitsanspruch der apodiktischen und der assertorischen Urteile ein Problem auf. Eine besonders hilfreiche logische Unterscheidung, um den Einfluß der Quantität des Urteils auf Wahrheitsansprüche verschiedener Arten von Allgemeinurteilen zu begreifen, stellt dabei die Abgrenzung von fünf verschiedenen Typen von Arturteilen dar, welche wir Alexander Pfänder verdanken:470 Da ist einmal das Arturteil, deren Subjektbegriff die Art in allen ihren Einzelfällen meint und daher auch im rigorosen Sinne Universalurteile wie „Alle S sind P“ (etwa „alle Menschen sind sterblich“) begründet. (Es gibt auch Attributions-, Relations- und andere Allgemeinurteile, die, ähnlich, über alle Individuen irgendeiner Menge oder Form von allgemeinen Namen oder Eigenschaften urteilen.) Zweitens kann die Art nicht in jedem Fall gemeint werden, sondern nur im Normalfall, etwa im Fall eines gesunden, weder verkümmerten noch 469 470

Vgl. Alexander Pfänder, Logik, S. 111 ff., bes. S. 118. Alexander Pfänder, ebd., S. 121 ff.

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deformierten Tieres einer bestimmten Spezies oder eines gesunden Menschen. Ausnahmen und die Falschheit solcher Urteile über kranke Tiere oder Menschen oder über „abnormale“ Fälle werden hier nicht ausgeschlossen, wie etwa „Die menschliche Hand hat fünf Finger“, ein Urteil, das keineswegs ausschließt, daß es den im Film „Princess Bride“ erwähnten „sixfingered man“ geben kann. Hier kann der Spruch „Ausnahmen bestätigen die Regel“ angewandt werden. Ein dritter Typus von Arturteil bezieht sich auf den Durchschnittsfall oder meint sogar nur einen abstrakten Durchschnittswert, wie etwa: „Das (erwartete) Lebensalter des Mannes ist heutzutage 78 Jahre, zwei Monate, drei Tage.“ Ein solches Urteil braucht auf kein einziges Individuum zutreffen, wenn kein einziger Mann jemals genau dieses Durchschnittsalter erreicht hat, aber dennoch wahr sein, weil es den tatsächlichen Durchschnittswert richtig wiedergibt. Eine vierte Klasse von Arturteilen kann nur den „typischen Fall“ meinen wie wenn jemand sagt „Frauen gehen lieber Lebensmittel einkaufen als Männer“ oder „sind kleiner als Männer“. Dies mag im typischen Fall und damit wohl auch in den meisten Fällen zutreffen, aber wird nicht als strenges Allgemeinurteil im ersten Sinn gemeint, weshalb die Feststellung, daß viele ganz normale Frauen größer sind als viele Männer, oder weniger gern Lebensmittel einkaufen als ihre Männer, solche Urteile nicht widerlegt. Eine fünfte Kategorie von Arturteilen schließlich kann von einem Idealfall bzw. von der vollkommenen Verwirklichung einer Wesenheit sprechen. In diesem Sinn ist etwa der berühmte Lobpreis der Liebe gemeint, den wir im Korintherbrief 1.13 des hl. Paulus finden. Jene herrliche Wesenheit der Liebe, von der in diesem Hohenlied gesprochen wird, findet sich vielleicht in keinem Menschen in dieser vollkommenen Weise und dennoch ist das Urteil vollkommen wahr, und bliebe sogar dann wahr, wenn ein solches Idealurteil auf keinen einzigen realen liebenden Menschen zuträfe. Denn es redet von der idealen Wesenheit der Liebe selbst und nicht von dieser oder jener unvollkommenen Liebe und stellt uns daher den Maßstab vor Augen, kraft dessen wir überhaupt erst die Unvollkommenheit dieser oder jener Liebe feststellen können. Es leuchtet ein, daß je nach der Weise, in der ein Arturteil, oder auch ein anderes Allgemeinurteil wie ein Attributionsurteil, gemeint ist, der in ihm

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behauptete Sachverhalt ein jeweils ganz anderer ist und seine Wahrheit daher davon abhängt, ob genau der in ihm behauptete Sachverhalt tatsächlich besteht oder nicht. Eine ganz andere Frage betrifft die epistemologische Rechtfertigung, allgemeine und insbesondere strikt universale Urteile des ersten eben identifizierten Typus zu behaupten. Zwar ist das Problem der Erkenntnis der Wahrheit sowie der Begründbarkeit von Wahrheitsansprüchen ein erkenntnistheoretisches und nicht ein rein logisches Problem. Man könnte etwa an demselben Wahrheitsverständnis festhalten, dann aber von einem empiristischen Erkenntnisverständnis aus sagen, daß wir die Wahrheit von Arturteilen und von Allgemeinurteilen, wenigstens von solchen der ersten eben erörterten Form, nicht erkennen können. Am Beispiel der Wahrheitstheorie Karl Poppers aber sehen wir, daß dessen ‚negativer Empirismus‘, der Wahrheitsansprüche allgemeiner Urteile nur als „(noch) nicht falsifizierte Hypothesen“ zuläßt, auch zu einer Umformung des Wahrheitsbegriffs selbst führt. Das läßt sich auch an den Gründen aufzeigen, die Rorty für sein Überwechseln zu einem pragmatischen Wahrheitsbegriff anführt, nämlich einem Aufgeben der Idee der „Erkenntnis...als Bemühen, die Natur abzubilden“ und die Habermas in einem bekannten Aufsatz über Rorty erörtert.471 Auch aus der Darstellung und Kritik von Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit im zweiten Band des vorliegenden Werkes werden wir erkennen, daß für das Entstehen der letzten Endes in einem subjektiven Evidenzkriterium 471

Vgl. etwa Jürgen Habermas, „Wahrheit und Rechtfertigung, Zu Richard Rortys pragmatischer Wende“, ursprünglich in Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 44, 1996, 715-741 erschienen, wiederabdruck in Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1999), S. 230-270, besonders den Kommentar über Richard Rortys autobiographische Schrift, Wild Orchids and Trotzky, ebd., S. 230 f., sowie Richard McKay Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature (Princeton, N. J.: Princeton University Press, 1979); ders., “Putnam and the Relativist Menace,” The Journal of Philosophy XC, Spring 1973, 422, sowie Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, zit., S. 239: Rorty selbst stellt den Zusammenhang her zwischen der kontextualistischen Deutung der pragmatischen Wende und dem antirealistischen Verständnis von Erkenntnis einerseits, der Ablehnung einer Kantischen Analysestrategie andererseits. (ebd., S. 239).

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mündenden brentanoschen Kritik an der Adäquationstheorie der Wahrheit erkenntnistheoretische Überlegungen eine entscheidende Rolle spielten. Doch geht auch aus den weiteren zur Korrespondenztheorie der Wahrheit alternativen Wahrheitstheorien des Urteils hervor, daß viele neue Deutungen oder Umdeutungen der Wahrheit des Urteils gerade in dem Aufgeben des Wahrheitsanspruches von Allgemeinurteilen (der ersten und zweiten Form) und in der Verzweiflung an deren Erkennbarkeit ihre Wurzel haben. Eine solche Meinung kann dann leicht zur Aufgabe einer Adäquationstheorie der Wahrheit bzw. einer korrespondenztheoretischen „Wahrheitstheorie“ führen, der zufolge die Urteilswahrheit in der Übereinstimmung des Urteils mit der Wirklichkeit läge. Deshalb sind die erwähnten Unterscheidungen und die Herausarbeitung der erkenntnistheoretischen Sachverhalte im Rahmen einer Analyse des Wesens der Urteilswahrheit und der Wahrheit allgemeiner Urteile von höchster Bedeutung. 7. Modifikation des Wahrheitsanspruchs des Urteils entsprechend der Qualität der Urteile Die sogenannte Qualität der Urteile liegt der Unterscheidung zwischen positiven und negativen Urteilen zugrunde. Die Qualität des Urteils betrifft, wie Pfänder zeigt, primär die Hinbeziehungsfunktion der Kopula. Im positiven, bejahenden Urteil wird das Prädikat auf das Subjekt positiv hinbezogen, ihm zugesprochen; im negativen Urteil wird es negativ auf das Subjekt bezogen und gleichsam von diesem ‚abgespreizt‘.472 Eine entscheidende Bedeutung für eine nähere Klärung des objektiven Wesens der Wahrheit des Urteils spielt nun die Fähigkeit, neben der Wahrheit des bejahenden Urteils auch die Wahrheit des negativen Urteils erklären zu können. Und aufs erste scheint es ganz unmöglich, für die negativen Existenzialurteile wie „das Nichts existiert nicht“ oder: „Bevor ich gezeugt wurde, habe ich nicht existiert“ und für andere negative Urteile irgendeine Sache, eine res auf der Objektseite, ausfindig zu machen. Auf dieses Problem und die Richtung seiner Lösung sind wir bereits in diesem Kapitel ausführlich im Rahmen der Sachverhaltsproblematik, der 472

Vgl. Alexander Pfänder, Logik, S. 84 ff.

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negativen Urteile und der ‚negativen Sachverhalte‘ eingegangen und haben gerade in einer Verteidigung positiver und negativer Sachverhalte die Grundlage der Möglichkeit gesehen, auch für die negativen Urteile in rigoroser und überzeugender Weise daran festzuhalten, daß ihre Wahrheit in einer adaequatio intellectus et rei liegt, wobei intellectus das objektive, aus Begriffen bestehende Urteil, und res den negativen Sachverhalt meint. Die Wichtigkeit dieser Erkenntnis, wegen deren Fehlen Franz Brentano auf Grund von scharfsinnigen Überlegungen die ganze klassische Wahrheitstheorie – mit sehr gefährlichen und irrigen Folgen – verwarf, wird uns im zweiten Band noch eingehender beschäftigen. 8. Die Modifikation des Wahrheitsanspruchs gemäß den ‚Relationen‘ des Urteils (kategorischen, hypothetischen, konjunkten und disjunktiven Urteilen) Wir unterscheiden bekanntlich verschiedene Relationen, insbesondere vier Arten von Urteilen, die ihrer sogenannten ‚Relation‘ nach verschieden sind, von denen das erste ein einfaches Urteil (das kategorische, welches einfach schlicht etwas behauptet) ist, daher eigentlich nur negativ (als deren Negation) unter den Gesichtspunkt der Relation des Urteils fällt, die drei anderen hingegen aus mindestens zwei Urteilen bestehende bzw. diese enthaltende komplexe Urteile darstellen. Die traditionelle Logik unterscheidet das kategorische, das hypothetische und das disjunktive Urteil, und in neuerer Zeit spielen auch Konjunktionen eine wichtige Rolle innerhalb der nach ihrer jeweiligen Relation unterschiedenen Urteilstypen. Die Logik, solange sie nur als formale Logik verstanden wird (welche vom jeweiligen Inhalt, auf den Urteile sich beziehen, absieht), interessiert sich dabei nur für die allgemeinen Urteilsformen, also für die formalen Strukturen der Urteilsrelationen und kümmert sich nicht um die zahllosen material-inhaltlichen Elemente und Gegenstände von Urteilen und nicht einmal für viele inhaltlich je von Zeit der Verben abhängige Strukturen der Urteilsformen, welche etwa die consecutio temporis (Zeitfolge) der Realisierung bzw. des Eintretens von etwas und andere örtliche oder sonstige inhaltliche Bestimmtheiten der behaupteten Sachverhalte betreffen. Allerdings berücksichtigt die moderne Logik, etwa in Form der von A.N. Prior

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KAPITEL 3

neu begründeten und auf Aristoteles und Peirce zurückgehenden Tense(Zeiten)-Logik473 oder der fuzzy logic, in zunehmendem Maße auch jene Arten von materialer Modifikation und Wurzel gültiger logischer Gesetze, die sich etwa aus dem Zeitindex von Urteilen, aus zeitlichen Relationen und verschiedenen Zeitmodalitäten der in einem Urteilskomplex zusammengefaßten Einzelurteile, aus dem deontischen oder aus dem fiktiven Charakter ihrer Gegenstände ergeben. Diese Logiken gehen somit auf eine „materiale Logik“ über, da ihre Axiome ohne Sachkenntnis der Natur der Zeit und anderer Seinsbereiche nicht erkannt werden können und sich nicht aus den reinen Urteilsformen, sondern nur aus der Natur bestimmter Sachbereiche ergeben.474 Eine Berücksichtigung der Natur des außerhalb der logischen Gesetze selber liegenden Seins ist zwar für die Grundlegung aller obersten logischen Sätze gegeben, welche die allgemeinsten Gesetze formaler Ontologie voraussetzen, aber eine noch viel weitergehende Berücksichtigung sachlicher Inhalte ist dort verlangt, wo man, wie in der TenseLogik, bestimmte Seinsbereiche zu verstehen hat, um die nur auf sie 473

Vgl. Arthur N. Prior, Time and Modality (Oxford: Oxford University Press, 1957); vgl. auch die Darstellung von Charles Sanders Peirces’ Beitrag in Peter Øhrstrøm, Existential Graphs and Tense Logic, Department of Communication, Aalborg University, Langagervej 8, 9220 Aalborg Øst, Denmark: http://www.hum.aau.dk/~poe/ARTIKLER/tense_graphs.html: There are many indications that Peirce, as one of the earliest modern philosophers, realized that tenses could, and even should, be reflected in our logic. He formulated his position in the following way: Time has usually been considered by logicians to be what is called ‘extra-logical’ matter. I have never shared this opinion. [CP 4.523] As it appears from this statement, Peirce made himself spokesman for an open and undogmatic understanding of logic. This openness, which was obviously due to his extensive knowledge of classic and scholastic logic, also meant that he would not accept a logic which conceived of truth as timeless. He could easily imagine a new development of modern logic that would take time seriously. Such a logic would just follow the lead of Aristotelian and Scholastic logic by taking seriously such expressions as “E will happen”, “E happened”, “Y happened when X started”. Peirce, however, held that around the turn of the century logicians were not ready to (re)introduce time in logic: But I have thought that logic had not yet reached the state of development at which the introduction of temporal modifications of its forms would not result in great confusion; and I am much of that way of thinking yet. [CP 4.523]

474

Vgl. die scharfe Abgrenzung formallogischer und materiallogischer unmittelbarer Schlüsse bei Alexander Pfänder, Logik, Teil IV, Kap. 7. Über die Arten formallogischer unmittelbarer Schlüsse vgl. ebd., Teil IV, Kap. 1-6.

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bezügliche Logik zu verstehen. Eine Berücksichtigung der Natur und Modi des Seins überhaupt ist jedoch für alle Teile der Logik verlangt. Denn sogar die Anwendbarkeit der scheinbar absoluten logischen Grundgesetze wie des Prinzips vom ausgeschlossenen Dritten auf fiktive und weitgehend in sich unbestimmte Gegenstände ist nicht gegeben. Manche Teilbereiche der Logik scheinen außerhalb von deren Sphäre zu liegen. Um die Natur und vor allem die Wahrheit der ihrer Relation nach unterschiedenen Urteile zu verstehen, sind nicht nur rein logische und entsprechende formal-ontologische Erkenntnisse vonnöten, sondern schon über die Erkenntnis der Urteilsformen hinausgehende Einsichten in die Natur der Zeit, des Raumes oder anderer Sachbereiche vorausgesetzt. Wenn ich etwa daraus, daß der Gegenstand A links vom Gegenstand B liegt, schließe, daß B also vom selben Standort aus rechts von A liegt, so folgt dies nicht aus den formalen Beschaffenheiten dieser Urteile, sondern kann nur aus der Kenntnis des Raumes und der eigenartigen Natur von links und rechts erschlossen werden. Dabei kann man freilich weiter unterscheiden und bemerken, daß die allgemeine Struktur verschiedener Bestimmungen der Zeit, des Ortes, etc. und deren Differenz von der Bedeutung anderer Satzteile durchaus noch zur Logik gehören, auch wenn diese Untersuchungen den Grammatiker und Sprachphilosophen mehr interessieren werden als den Logiker, weil sie sich auf die Sprache und deren Ausdrucksweisen und grammatische Regeln viel mehr auswirken als auf die reinen Gedankenformen, die die Logik erforscht. Wo freilich inhaltliche Einsichten in die Natur spezieller Dinge, etwa der Zeit, vorausgesetzt werden und ein logischer Widerspruch zwischen der Aussage, Ereignis A und B seien gleichzeitig gewesen, Ereignis C habe nach dem Ereignis B stattgefunden und Ereignis C sei doch zu gleicher Zeit mit A gewesen, da fällt man inhaltliche Urteile und setzt die Wahrheit von Urteilen über solche Sachbereiche allgemeinerer oder besonderer Art wie mögliche und unmögliche Beziehungen zwischen zeitlichen Ereignissen voraus, die nicht aus formaler Logik, sondern nur aus Erkenntnissen über das Wesen der Zeit gewonnen werden können und übrigens, wenigstens auf der abstrakten Ebene mikrophysikalischer Vorgänge, von der Relativitätstheorie in ihrer eigentlichen Wahrheit und Gültigkeit bestritten

372

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werden.475 Die formale Logik gehen solche inhaltlichen Erkenntnisse über das Wesen der Zeit, die für material-logische Schlüsse der eben angeführten Art vorausgesetzt sind, nichts an, weshalb die Tense Logik eine Form von „materialer (d.h. nicht-formaler) Logik“ darstellt. Nur die allgemeine Struktur verschiedener Begriffsarten und ihre Rolle im Urteil wird von der formalen Logik erforscht. Man könnte übrigens im Gegensatz zur formalen von einer ‚materialen Logik‘ in verschiedenem Sinne sprechen: 1. Überall, wo man aus inhaltlichen Kenntnissen über gewisse Sachbereiche heraus aus einer Wahrnehmung oder Einsicht Schlüsse zieht, liegt einer jener ‚materialen Schlüsse‘ vor, wie wir sie im täglichen Leben, in vielen Aspekten der Logik der Sprache, der Logik des Aufbaus eines Romans oder einer Tragödie, usf. finden. Es liegen hier Sinnzusammenhänge und im weiteren Sinne logische Zusammenhänge vor, die sich nicht aus den rein formalen Urteils- und Schlußformen, sondern erst aus den inhaltlichen Wesen ihrer Gegenstände erkennen lassen. Nur eine inhaltliche Kenntnis gewisser natürlicher Sachbereiche, und keine rein formale Logik, kann begründen, warum wir berechtigt sind zu schließen, „es hat geregnet“, wenn wir nasse Straßen und Pflanzen sehen, oder warum wir schließen, wenn wir in eine Theateraufführung mit mehreren Schauspielern kommen, in der einer rezitiert; “to be or not to be, that is the question…,” daß das Theater an diesem Abend eine Vorstellung von Shakespeares Hamlet gibt oder warum wir erkennen können, daß der zweite Akt eines Dramas keine logische Verbindung zum ersten hat, in welcher Aussage wir uns auf viele Zusammenhänge künstlerischer und kultureller Natur und auf Gesetze der Natur und Psychologie beziehen müssen. Finden wir es „logisch“, daß jemand daraus, daß die ganze Straße und ihre Umgebung naß sind, darauf schließt, daß es geregnet hat, oder bewundern wir die Logik, mit deren Hilfe Sherlock Holmes Mörder entdeckt, haben wir 475

Wir können hier uns nötig scheinende Kritiken an der in Einsteins Relativitätstheorie der Zeit enthaltenen Philosophie der Zeit nicht ausführen. Vgl. Josef Seifert, „Wissen und Wahrheit in Naturwissenschaft und Glauben“ in Naturwissenschaft und Weltbild. Mathematik und Quantenphysik in unserem Denk- und Wertesystem, eds. H-C. Reichel and E. Prat de la Riba (Vienna: Verlag Hölder-Pichler-Tempsky, 1992)

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diesen Sinn einer materialen Logik im Auge. Da aber die Logik solcher Schlüsse ein unermeßliches Gebiet ist und sich ihre Prinzipien nicht axiomatisieren lassen, haben wir es meistens bei der „materialen Logik“ mit Schlüssen mit sehr einfachen aus der Natur Sache entspringenden Gesetzen zu tun, wie wenn jemand daraus, daß A, von D aus gesehen, links neben B liegt, daß aus dem selben Blickpunkt und bei derselben Stellung der Gegenstände betrachtet, B rechts nven A liegt. Wegen ihres zwar inhaltlichen (materialen), aber immer noch relativ formalen Charakters sind etwa auch die zeitbezogenen Momente von Urteilen und Sachverhalten ein noch direkter für die Logik relevanter Teil der materialen Logik als rein maeriallogische Schlüsse aus umfassenden Sachkenntnissen heraus wie Juristen oder Detektive, aber auch Wissenschaftler, Philosophen und überhaupt alle Menschen sie anwenden. Doch auch die relativ formalen Zusammenhänge, wie sie sich etwa aus den Zeitfolgen und Zeitindexen ergeben, haben in einer rein formalen Logik keinen Platz, weshalb ihre Einbeziehung in die heutige Logik einen Schritt der Erweiterung formaler Logik auf eine materiale Logik hin darstellt. Ein solcher material-logischer Schluß kann freilich auch in einen formal-logischen Syllogismus verwandelt werden, wenn man ihn so interpretiert, daß sich aus der inhaltlichen Kenntnis der Sachbereiche stillschweigend vorausgesetzte andere Prämissen ergeben, die, wenn man sie einmal ausformuliert, zu einem formal gültigen Syllogismus führen. Wenn man etwa die Prinzipien einer Zeitlogik anerkennt, daß ein A: AP (P=past) nicht mit einem Ereignis B: BF (F= future) identisch sein kann, setzt die Erkenntnis eines solchen Prinzips der Zeitenlogik ein Begreifen vom Wesen der Zeit voraus. So lassen sich alle material-logischen unmittelbaren oder mittelbaren Schlüsse in fomallogische verwandeln: wenn man etwa nicht einfach aus der Kenntnis der Natur aus der nassen Straße schließt, es habe geregnet, sondern die zusätzliche Prämisse anführt: Nässe und Pfützen auf einer Straße und den umliegenden Wiesen und Feldern setzt voraus, daß es geregnet hat…, so läßt sich besagter Schluß in einen formal-logischen verwandeln, der sich auf zusätzliche Prämissen stützt. 2. Man könnte unter materialer Logik auch eine Untersuchung jener logischen Bedeutungen und Urteile meinen, deren logischer Gehalt, deren Bedeutung, von den gemeinten Sachen und Sachverhalten allein richtig zu verstehen ist. Solche material-logische Gegebenheiten liegen in zahllosen

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Bedeutungsmomenten von Begriffen und Urteilen, die nicht mehr ihrer reinen logischen Form oder Funktion innerhalb des Urteils (wie Subjekt-, Prädikatstelle, Kopula, etc.) entspringen, sondern ihrem meinenden Abzielen auf bestimmte Sachen und Sachverhalte. So lassen sich etwa der Begriff der Zukunft, der Vergangenheit und der Gegenwart und die Prinzipien der Tense logic, oder auch jene der ‚Farbe‘ oder die Logik der Farbbegriffe, sowie der Sinn und Wahrheitsanspruch von kategorischen oder hypothetischen Urteilen über ontische Modalitäten bzw. notwendige Sachverhalte, und die Bedingungen der Erfüllung von deren Wahrheitsansprüchen nicht mehr formallogisch verstehen oder gar durch bloße Anwendung von Wahrheitstafeln ableiten, worauf wir gleich zurückkommen werden. Mit anderen Worten, es gibt eine unendliche Fülle logischer Gegebenheiten wie Begriffe, Urteile und Schlüsse, deren Prämissen und konstitutiven Bestandteile sich nicht einer formalen Analyse ihrer logischen Formen und Strukturen erschließen, sondern ein Eindringen in ihre inhaltlichen Beschaffenheiten und jene der durch sie gemeinten Gegenstände verlangen, damit die sie regierenden logischen Gesetze erkannt werden. Und auch diese Gegebenheiten besitzen in vielfacher Hinsicht und Richtung eine Struktur, die logisch korrekte oder unlogische oder sogar absurde Gedankenketten und Aussagen grundlegen, welche sich nicht aus der reinen Form solcher Urteile, sondern aus deren inhaltlicher Bestimmtheit ergeben, der wiederum eine „logische Wirklichkeitsstruktur“ zugrunde liegt.476 So wenn jemand sagt: „ich habe dort im Gebüsch etwas Rotes gesehen, also muß dort ein rot gefärbter Körper gewesen sein oder sich noch immer dort befinden,“ so ist die logische Vernünftigkeit der Art, wie ein Detektiv sie benutzt, dieses Schlusses offenkundig. Wenn ein Detektiv hingegen behaupten wollte: „ich habe dort einen roten Gegenstand gesehen, also muß dort ein Geist sein, … oder eine Frau sein“, so werden wir ihn für verrückt halten und ihm nicht ein logisches Vorgehen bescheinigen. Die Gesetze, welche den einen Schluß vernünftig und logisch, den anderen unvernünftig machen, sind aber reine Sachstrukturen der Wirklichkeit und nicht rein formal-logische oder formal-ontologische 476

Vgl. Neben der Behandlung materialer Schlüsse in Alexander Pfänders Logik4, S. 282 (293) ff., 351 (357) ff., sowie Ottokar Blaha, Logische Wirklichkeitsstruktur und personaler Seinsgrund (Graz: Verlag Stiasny, 1955).

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Gesetze. (Gedanken in ähnlicher Richtung liegen wohl auch Ludwig Wittgensteins Terminus der „Sprachspiele“ letztlich zugrunde.)477 Doch auch dann, wenn man die tense logic und ähnliche Gebiete als echte Gebiete der Logik verwirft, in der Logik von allen materialinhaltlichen Beziehungen absieht und nur formal-logische Relationen beachtet (wobei man freilich von den ontischen Relationen und Notwendigkeiten, welche auch aller formalen Logik zugrundeliegen, abstrahiert), so gibt es zweifellos eine große Zahl formaler Relationen, die in der traditionellen Logik wenig erforscht werden und die dazu einladen, neben den traditionellen Relationen des Urteils – den kategorischen, hypothetischen und disjunktiven Urteilen – andere Urteilsformen der Relation nach zu unterscheiden. So verdient gewiß das konjunktive Urteil bzw. die sogenannte Konjunktion, sogar mehr als das kategorische Urteil, das an sich gerade nicht eine Relation zwischen Urteilen einschließt, zu den Relationen des Urteils oder zu der Einteilung der Urteile ihrer Relation nach gerechnet zu werden. Man könnte sich aber sehr wohl fragen, ob nicht auch Nebensätzen, die mit ‚obwohl‘, ‚weil‘, ‚nachdem‘, etc. eingeleitet werden, ja ob nicht allen der Grammatik bekannten verschiedenen Satzarten auch rein formal-logische Unterschiede der Arten objektiver Gedanken entsprechen, so daß das Gebiet der reinen Logik des Urteils hinsichtlich seiner Relation noch unermeßlich viel weiter ist als dessen bisher bearbeitete Teile und deshalb grundlegender neuer Forschungen bedürfte, um der Fülle formal verschiedener logischer Urteilsarten und deren Gesetzen gerecht zu werden, eine Aufgabe, die ja wohl auch Husserl teilweise unter dem Namen der „rein logischen Grammatik“ kannte und in Angriff zu nehmen begann.478 Und zwar muß diese Forschung zuerst mit rein philosophischen Methoden geleistet und kann erst danach in die Sprache, Formeln und Regeln einer formalen symbolischen Logik übertragen werden. Der Einteilung der Urteile ihrer Relation nach liegt eine Betrachtung der Gesamtstruktur der Urteile unter dem Gesichtspunkt, ob sie als komplexe 477

478

Vgl. Josef Seifert, „Person, Religöser Glaube und Wahrheit. Philosophische Analysen und kritische Reflexionen über Ludwig Wittgensteins Religionsphilosophie“, in: Wilhelm Lütterfelds/Thomas Mohrs (Hrsg.), Globales Ethos. Wittgensteins Sprachspiele interkultureller Moral und Religion, S. 176-204. Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, zit., Bd. II, 1, LU 4, S. 301 ff.

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KAPITEL 3

Urteile oder Urteilskomplexe bestimmte Beziehungen zwischen ihren Teilurteilen aufweisen oder, wie das kategorische Urteil, unter dem Gesichtspunkt so genannt sind, daß sie einfach Urteile sind ohne jede Bezogenheit auf andere Urteile, zugrunde. Die Unterscheidung der Relationen des Urteils betrifft nicht nur die Behauptungsfunktion der Kopula des Urteils, wie Pfänder behauptet,479 sondern auch die Hinbeziehungsfunktion der Kopula des Urteils in seiner komplexen Gesamtstruktur und spezifischen Urteilsart. Nehmen wir ein disjunktives Urteil als einfachstes Beispiel: dieses bezieht nicht einfach zwei Prädikate P und Q positiv oder negativ auf ein S, wie das einfachste konjunktive Urteil mit demselben Subjektbegriff, sondern läßt es in der Schwebe, welches Prädikat es positiv oder abspreizend auf das Subjekt S hinbezieht und diesem im Urteil zuspricht. Das kategorische Urteil, das auch unter dieser Einteilung der Urteile nach ihrer Relation erscheint, wird sozusagen rein negativ in diese Klasse von Urteilen gerechnet, da ihm keine Relation zu einem andern Urteil oder Urteilsteil eigen ist. Hypothetische und disjunktive Urteile hingegen enthalten zwei Teilurteile, zwischen denen eine jeweils ganz verschiedene Relation besteht. Da das einfachste aus zwei oder mehr Teilurteilen zusammengesetzte Urteil das konjunktive Urteil ist, das kraft der Konjunktion (eines Begriffs, der sprachlich mit den Wörtchen ‚und‘ ‚auch‘ ‚ebenfalls‘ etc. ausgedrückt wird) eine bloße einfache Aneinanderreihung und Verbindung zweier Behauptungen ist, stellt das konjunktive Urteil einen relativ unkomplizierten Fall für die Logik dar. Denn die Wahrheit des konjunktiven Gesamturteils ist einfach damit gegeben, daß beide Konjunkte (Teilurteile) wahr sind. Die urteilsmäßige Konjunktion tritt nicht eigentlich als eigenständige neue Urteilsart hervor, sondern stellt eine simple Verbindung zweier Urteile dar, auch wenn durch die Konjunktion der beiden Konjunkte etwas Neues geschieht und man Konjunktionen oder Verbindungen mehrerer Urteile (die wir ‚Konjunkte‘ nennen) als ein drittes Urteil der Form verstehen kann: Q ist R UND S ist P, woraus sich ein neues Wahrheitsurteil über die Konjunkte (Teilurteile) ergibt, nämlich: Beide Urteile ‚Q ist R‘ und ‚S ist P‘ sind wahr. Dieses neue Urteil ist wahr, 479

Vgl. Alexander Pfänder, Logik, zit., S. 101 ff.

Die logische Wahrheit oder Urteilswahrheit

377

sobald alle mit einander durch die Konjunktion verbundenen Urteile wahr sind, falsch, wenn eines der beiden oder beide falsch ist, oder auch: wahr, wenn alle in den Teilurteilen behaupteten Sachverhalte bestehen, falsch, wenn einer der beiden behaupteten Sachverhalte oder beide nicht bestehen. Der Terminus ‚Konjunktion‘ ist dabei noch doppeldeutig, weil er gewöhnlich in der Logik als die Gesamtheit der beiden Konjunkte oder als ein drittes Urteil verstanden wird, das zwei oder mehr andere Urteile verbindet, indem es sie „zusammen behauptet“ oder von beiden Wahrheit aussagt. Andererseits meint aber Konjunktion, in einer von der Grammatik bzw. deren logischem Fundament inspirierten Weise, mit diesem Terminus einen bestimmten Begriff, der mit dem ‚und‘ oder dem Symbol š ausgedrückt wird, und kraft dessen erst die Konjunktion der beiden Konjunkte vollzogen wird, ähnlich wie durch den Folgebegriff, dem „folglich“ oder “ergo,” über das Bestehen des in der Konklusion behaupteten Sachverhalts hinaus und der Wahrheit der Konklusion auch deren logisches Folgen aus den vorhergehenden Urteilen (Prämissen) gesetzt wird. In analoger Weise vollzieht der logische und rein funktionierende Begriff der Konjunktion die Verbindung der beiden Konjunkte, sagt also, beide seien wahr. Deshalb genügt für die Wahrheit des konjunktiven480 Gesamturteils S ist P UND Q ist R (der Konjunktion im ersten Sinn) weder die Wahrheit von S ist P noch jene von Q ist R, sondern nur die Wahrheit beider Urteile, wie es in diesem Fall durch die „Wahrheitstafel“ korrekt zum Ausdruck kommt: P

Q

P /\ Q

W W F F

W F W F

W F F F

Wahrheitstabelle für die Konjunktion.

480

Der rein logische Sinn dieses Terminus unterscheidet sich natürlich radikal vom Grammtischen, welcher sich auf irreale oder in der indirekten Rede ausgedrückte Sachverhalte bezieht.

378

KAPITEL 3

Ganz anders verhält es sich mit dem hypothetischen und dem disjunktiven Urteil, in denen wir wesentlich komplizierteren Strukturen begegnen. Werfen wir einen Blick auf die moderne symbolische Logik, so liegt in dieser ein Reduktionismus, da die Erfüllung der Wahrheitsbedingung der sogenannten ‚materialen Implikation‘ (Q ist R o S ist P), in der ein Urteil die Wahrheit eines anderen impliziert, diese schon durch die Wahrheit eines konjunktiven Urteils garantiert sieht und in dem Wahrsein der beiden Teilurteile eine hinreichende Erfüllung der Bedingung der Wahrheit der Implikation sieht. Die Wahrheit der materialen Implikation soll auch dann feststehen, wenn im Falle der Nichtvorhandenheit der Bedingung, in der Falschheit des bedingten Teils des hypothetischen Urteils, wie dies in der folgenden Wahrheitstafel festgehalten ist, die im Sinne der modernen symbolischen Logik den jeweiligen Wahrheitswert der Aussagen a und b und das Resultat für konjunktive, disjunktive hypothetische (konditionale) sowie bikonditionale Urteilsverknüpfungen angibt:

a b

Äquivalenz Konjunktion Disjunktion materiale Implikation XNOR AND OR Konditional Bikonditional

f f f

f

w

w

f w f

w

w

f

w f f

w

f

f

w w w

w

w

w

Die Definition der schwachen (sogenannten materialen) Implikation in der modernen symbolischen Logik hat sich einerseits aus dem Versuch einer rein durch Wahrheitstafeln bestimmten formalen Definition der Implikation, andererseits aus einer vorausgesetzten empiristischen und nominalistischen Philosophie ergeben, für die es eine starke und in erster Linie in notwendigen Universalien begründbare Implikation nicht mehr gibt und wo diese (das aut-aut) nur eine geringe Rolle spielt. Jedes wahre Urteil (etwa daß der Käse stinkt) impliziere jedes andere wahre Urteil (wie daß im Augenblick der Mond scheint). Ferner unterscheidet diese Logik der Implikation nicht zwischen dem Fall, in dem eine Implikation wahr sein kann und dem Fall, in dem sie wahr ist (man denke an die Wahrheit,

Die logische Wahrheit oder Urteilswahrheit

379

daß Schuld Freiheit impliziert, eine notwendige Implikation, deren Bestehen durchaus damit verträglich ist, daß ein Baum weder frei noch schuldig ist). Nur auf Grund der Verwechslung zwischen Wahrsein und Wahrseinkönnen erlaubt sich die symbolische Logik, aus der Falschheit zweier Urteile zu schließen, daß zwischen ihnen eine materiale Implikation (wenn a, dann b) bestehe. Damit wird ein sinnvoller Begriff von Implikation ganz verhindert. Nehmen wir etwa an, man schließe daraus, daß die Straße nicht mit Eis bedeckt ist und daß die Straße nicht auf 100 Grad erhitzt ist, daß es wahr sei (weil a und b falsch sind), daß das Bedecktsein mit Eis eine Erhitzung der Straße auf 100 Grad impliziere, ein offenbarer Unsinn. Also daraus, daß es rein formal-logisch wahr sein kann, daß eine Implikation zwischen a und b besteht, wenn a und b falsch sind, darf man keinesfalls schließen, daß es wahr ist. Sollten alle Implikationen und hypothetischen Urteile auf dieses Niveau reduziert werden, so kann man mit einer solchen Erklärung zwar ein für manche Zwecke nützliches Instrument eines logischen Systems schaffen, entwirft aber eine Theorie des hypothetischen Urteils und der Implikation, die nicht einmal einem rein formalen Sinn materialer Implikation genügen kann, da die oben angesprochenen und zahllose andere und sogar wesensnotwendige Ausschließungsverhältnisse zwischen a’s und b’s nach der Anwendung dieser Wahrheitstafel eine (objektiv in keinerlei Weise bestehende) materiale Implikation zwischen a und b voraussetzen würden. Wenn etwa die Person A weder schuldig noch determiniert ist (also „A ist schuldig“ und „A ist determiniert“ beide falsch sind), würde man behaupten müssen, Das hypothetische Urteil „A’s Schuld impliziert ihr Determiniertsein“ („A ist schuldig“ impliziert „A ist determiniert“) sei wahr, obwohl in Wirklichkeit beide einander ausschließen. Noch viel weniger erklärt eine derartige abenteuerliche und künstliche Ansetzung eines Systems der Logik objektive und sachlich begründete, reale oder gar notwendige Implikationen von Sachverhalten und wahren Urteilen, da nach ihr ja alle wahren Urteile (etwa der Käse stinkt und der Schnee ist weiß) Implikationen einschließen. Mit einer solchen total nominalistischen, positivistischen und reduktionistischen Theorie des hypothetischen Urteils und der Implikation überhaupt verflüchtigt sich der eigentliche Sinn der Implikationsurteile und hypothetischen Urteile, in denen zumindest eine tatsächliche Implikationsbeziehung gemeint sein muß und die mit einem

380

KAPITEL 3

Ausschließungsverhältnis wie in den genannten Fällen unvereinbar ist. Erst recht liefert eine solche Theorie hypothetischer Urteile keinerlei Erklärungen jener konditionalen Urteile, welche eine nicht – vom Urteil als solchem her betrachtet – rein formale, oder – von der Sache her betrachtet – rein faktische, sondern eine materiale, d.h. von den gemeinten Sachverhalten her notwendige oder auch nur sinnvolle Implikation von Sachverhalten und wahren Urteilen behaupten. Vielleicht weil sich eine starke und notwendige Implikation von Sachverhalten (und die Wahrheit der sie aussagenden Urteile) nicht mit dem reinen Instrument der Wahrheitstafeln formalisieren und definieren läßt, vielleicht auch weil der modernen mathematisierenden Logik oft eine positivistische und empiristische Leugnung der Erkennbarkeit nichtanalytischer notwendiger Implikationen zugrunde liegt, hat eine solche Verwässerung der Idee und des Sinnes des hypothetischen Urteils stattgefunden, der zufolge jedes wahre Urteil jedes andere wahre und jedes falsche Urteil jedes andere falsche Urteil impliziere, ja sogar zwei falsche Teilurteile eines hypothetischen Urteils (oder einer Implikation) dessen Wahrheit beweisen sollen, und das einzige Kriterium, unter dem das Urteil ‚S impliziert P‘ falsch wäre, einzig und allein der Fall sei, in dem S wahr und P falsch ist. Damit kommen wir auch wieder auf das Problem der logischen und ontischen Modalitäten zurück. Man muß hier einige Unterscheidungen treffen: Erstens unterscheiden sich hypothetische Urteile, in denen ein sachlich gesehen kontingentes (wie ‚wenn es regnet, wird die Straße naß‘) oder notwendiges Verhältnis der Implikation von Sachverhalten (wie ‚wenn Schuld vorliegt, existiert auch Freiheit‘), und auf Grund solcher sachlicher Beziehungen zwischen Sachverhalten (einer bestimmten Modalität) ein Implikationsverhältnis von wahren Urteilen behauptet wird, von rein formal-logisch notwendigen Implikationen wie: Das Urteil ‚Alle S sind P’ impliziert ‚Einige S sind P‘. Diese drei Fälle, in denen in dem hypothetischen Urteil (der Implikation) ein objektives – kontingentes oder notwendiges, formallogisch oder ontologisch fundiertes – Band zwischen der Wahrheit zweier Urteile (wenn S, dann P) behauptet wird, unterscheiden sich wiederum von ‚reinen‘ hypothetischen Urteilen und Implikationen, in denen keinerlei sachliche Begründung oder logische Notwendigkeit der Implikation ausgesagt oder vorausgesetzt wird und die wahr

Die logische Wahrheit oder Urteilswahrheit

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sein können, wenn beide falsch sind, oder auch wenn S falsch und P wahr ist. Diese rein formal gefaßte ‚Implikation‘ also ist ausschließlich dann eindeutig falsch, wenn S wahr und P falsch ist, aus welchem Grunde immer, aber sie kann nur wahr sein, und muß es nicht, wenn S und P falsch sind, wie wir gesehen haben. Da die drei erstgenannten hypothetischen Urteile eine sachliche oder sogar notwendige (inhaltlich oder formal-logisch begründete) Implikation behaupten, wären diese Art von hypothetischen Urteilen falsch, wenn man in ihrem Sinn eine Implikation zwischen stinkendem Käse und scheinendem Monde behaupten würden – auch wenn ihre Falschheit sich nicht aus rein formal-logischen Anwendungen von Wahrheitstafeln, sondern nur aus einer Betrachtung der mangelnden Entsprechung zwischen behauptetem und wirklichem Sachverhalt erkennen läßt. Begründete Wahrheitsansprüche von sachlich oder formal-logischen notwendigen Implikationsverhältnissen allgemeiner Natur setzen freilich letzten Endes die Erkenntnis des Bestehens solcher notwendiger Sachverhalte der Implikation voraus, die eine vielfach in der modernen symbolischen Logik hypothetischer Urteile vorausgesetzte empiristische oder positivistische Erkenntnistheorie bestreiten wird (es sei denn im Fall analytischer Urteile). Denn die Wahrheitsansprüche der drei erstgenannten Arten und Bedeutungen hypothetischer Urteile kann epistemologisch nur begründet werden, wenn man Erkenntnisse notwendiger Sachverhalte zuläßt, da in ihnen sachlich notwendige Implikationen behauptet werden. Das der klassischen Universalienlehre und Theorie der Wahrheit des hypothetischen Urteils gegenüber reduktionistische Vorgehen in der Definition der Wahrheitsbedingungen des hypothetischen Urteils rührt zum Teil daher, daß man dessen Wahrheitsbedingungen durch das Aufstellen von Wahrheitstafeln (in denen man weder die Beziehung und Unterscheidung zwischen Urteil und Sachverhalt, noch die Art der ausgesagten Sachverhalte und die daraus resultierenden verschiedenen Bedingungen der Wahrheit der sie behauptenden Urteile noch auch den grundlegenden Unterschied zwischen den Wahrheitswerten: ‚muß wahr sein‘ und ‚kann wahr sein‘ beachtet) rein von außen zu erfassen sucht. Teils entsteht eine derartige Reduktion der Wahrheitsbedingungen hypothetischer Urteile auf Grund des an sich legitimen Versuches, die Wahrheit hypothetischer Urteile (S impliziert P) rein formal zu bestimmen,

382

KAPITEL 3

was für bestimmte Zwecke nützlich sein kann. Entweder aus diesem Grund oder aus jenem einer empiristischen oder nominalistischen Grundlegung der Logik wird dann behauptet, daß – per definitionem der Implikation durch Wahrheitstafeln – jedes wahre Urteil jedes andere wahre Urteil material impliziere. P impliziert Q heißt demnach (df) ^ (P. ^ Q). Folglich wird eine bloße Koexistenz zweier kontingent wahrer Urteile (die reine Konjunktion: ‚S ist P‘ ist wahr und ‚Q ist R ist wahr‘), sowie jedes Vorliegen zweier falscher Urteile, und eines ersten falschen Teilurteils innerhalb einer Implikation zweier Urteile bzw. innerhalb des hypothetischen Urteils (S ist falsch) schon für ein hinreichendes Indiz des Vorliegens einer Implikation ‚S impliziert P‘ angesehen. Solange also nicht der einzige der vier möglichen Fälle der Wahrheitstafel, nämlich S (‚S ist P‘) ist wahr und P (‚Q ist R‘) ist falsch eintritt, behauptet man die Wahrheit des hypothetischen Urteils, ohne die erörterten Punkte zu bedenken. So nützlich und in begrenzter Weise auch korrekt ein solcher logischer Formalismus in der Bestimmung der Bedingungen, unter denen ein hypothetisches Urteil (solange man es rein formal betrachtet und von jeder ausgesagten Modalität sachlicher Zusammenhänge absieht) wahr ist bzw. eigentlich nur wahr sein kann, auch sein mag, so wenig kann eine solche Theorie und Anwendung der Wahrheitstafeln die tatsächlichen Bedingungen der Wahrheit eines hypothetischen Urteils überhaupt oder gar die Wahrheitsbedingungen jener hypothetischen Urteile erklären, die notwendige Garantieverhältnisse zwischen der Wahrheit verschiedener Urteile behaupten, wie sie sich innerhalb allgemeiner Urteile nur durch das Darunterfallen eines Singulärurteils unter ein echtes universales Urteil oder andere spezielle notwendige logische Verknüpfungen erklären lassen, die weit über das bloße Zusammenwahrsein zweier Urteile hinausgehen und daher durch deren Vorliegen (oder durch das Vorliegen zweier falscher Urteile oder eines ersten falschen und eines zweiten wahren) keineswegs garantiert sind. Dazu tritt ein weiteres: Der Wahrheitsanspruch allgemeiner Urteile unter den Prämissen und der in diesen behaupteten Implikationen, und damit auch der Wahrheitsanspruch der von ihnen abhängigen Konklusionen der aristotelischen Formen gültiger Syllogismen, die Pfänder neu und phänomenologisch untersucht und begründet hat, läßt sich epistemolo-

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gisch gesehen nur entweder durch tautologisch-analytische Urteile oder – im Reich synthetischer Urteile – durch das begründen, was Pfänder vollständige Induktion nennt, oder aber durch die Erkenntnis notwendiger Wesensgesetze.481 Wird insbesondere diese letztere Grundlage der Erkenntnis der Wahrheit universaler Urteile und Erkenntnisse aufgegeben und wird ferner der eigentliche Sinn jener hypothetischen Urteile, welche notwendige Sachverhaltsbeziehungen behaupten, nicht mehr verstanden, oder aber werden derartige notwendige Implikationen zwischen Sachverhalten notwendiger ontischer Modalität in einer Art nominalistischem oder erkenntnistheoretischem Nihilismus prinzipiell für unerkennbar gehalten, ist es verständlich, daß man zwischen Implikationsverhältnissen zweier Urteile und dem bloßen konjunktiven Urteil, in welchem A ist B und C ist D wahr sind, nicht mehr differenziert bzw. die Wahrheitsbedingungen des hypothetischen Urteils so formal bestimmt, daß damit der Wahrheitsanspruch der meisten hypothetischen Urteile und deren Erfüllung keineswegs mehr erklärt werden können, weil diese hypothetischen Urteile bestimmte sachliche oder logisch notwendige Implikationen behaupten, die weit über das hinausgehen, was sich in jenem reinen logischen Formalismus in der Bestimmung der Wahrheitsbedingungen hypothetischer Urteile oder durch die Angabe der Bedingungen, unter denen sie wahr sein können, erfassen läßt. Gehen wir von diesen Hinweisen auf das Neue des hypothetischen Urteils zu einer tieferen Analyse desselben über. Das hypothetische Urteil ist aus zwei Teilurteilen zusammengesetzt, verbindet diese aber viel enger als die bloße Aneinanderreihung der Konjunktion im logischen Sinne. Es besteht aus einem bedingten Teil und einer Bedingung, auch wenn im hypothetischen Urteil seiner rein logischen Form nach keinerlei kausale Abhängigkeit oder Abhängigkeit der Folge von ihrem Grund, etc. behauptet werden, sondern nur eine rein logische Abhängigkeit und zwar eine Bedingung gesetzt wird, unter der eine bestimmte Behauptung (des bedingten Teils des hypothetischen Urteils) gemacht wird und die Behauptungsfunktion der Kopula in Kraft tritt: Wenn Q R ist, dann ist S P. Es urteilt also das hypothetische Urteil nur bedingungsweise, daß das bedingt Behauptete tatsächlich der Fall ist. Man kann hier von einem 481

Vgl. Pfänder, Logik4, S. 341-344.

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KAPITEL 3

Abhängigmachen des Inkrafttretens der Behauptungsfunktion des nur bedingt behaupteten Haupturteils von der Erfüllung des Wahrheitsanspruchs jenes Urteils, unter der Bedingung von dessen Wahrheit das erste Urteil behauptet wird, reden. Man kann das hypothetische Urteil auch im Hinblick auf die in ihm gemeinten Sachverhalte so ausdrücken: das hypotetische Urteil behauptet den Sachverhalt „S ist P“ nur unter der Bedingung, daß der Sachverhalt „Q ist R“ besteht. Solange der Wahrheitsanspruch des ‚Bedingungsteiles‘ des hypothetischen Urteils nicht erfüllt ist, bleibt der Wahrheitsanspruch des bedingten Teils des hypothetischen Urteils sozusagen suspendiert. Der Teil des hypothetischen Urteils, in dem von der Bedingung die Rede ist (der im Wenn-Satz ausgedrückt ist), wird zwar überhaupt nicht behauptet, aber seine Wahrheit spielt die wichtige Rolle einer Bedingung. Die Wahrheit dieses Satzes geht als Bedingung für die Behauptung des bedingten Teiles in das hypothetische Urteil ein bzw. wird von diesem ins Auge gefaßt. Für das ganze Urteil, daß nämlich S P ist, wenn Q R ist, hingegen erhebt auch das hypothetische Urteil einen unbedingten Wahrheitsanspruch. Es enthält also ein kategorisches Urteil, nämlich daß es der Fall ist, daß S P ist, wenn Q R ist. Wir können in dem hypothetischen Urteil also eigentlich drei verschiedene Urteile erblicken, deren Behauptungscharakter bzw. deren Wahrheitsanspruch folgendermaßen aussieht: 1. Die Hypothese (meist in der Umgangssprache mit einem Wenn-Satz und in der symbolischen Logik durch einen Pfeil für den diesem vorausgehenden Satzteil ausgedrückt) wird nicht behauptet, aber ihr Wahrsein spielt eine entscheidende Rolle für das Haupturteil, das einen Sachverhalt bedingungsweise behauptet. Nur wenn sie nämlich wahr ist, wenn Q R ist, tritt die Behauptung „S ist P“, und damit der Wahrheitsanspruch des bedingten Urteils in Kraft. 2. Das Urteil, welches die bedingte Behauptung enthält, „S ist P“ (wenn Q R ist): Dieses Urteil behauptet einen Sachverhalt, aber nicht unbedingt, sondern bedingt. Sie behauptet den Sachverhalt also nur unter der Voraussetzung, daß die Bedingung vorliegt. S ist P, wenn Q R ist. Der bedingte Wahrheitsanspruch bleibt also so lange in der Schwebe, als Q ist R nicht wahr ist. Es geht hier also, im Gegensatz zum kategorischen Urteil,

Die logische Wahrheit oder Urteilswahrheit

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in dem etwas unbedingt (bedingungslos) einfach behauptet wird, um eine bedingte Behauptung und daher auch um einen bedingten Wahrheitsanspruch. 3. Ein kategorisches Urteil: Schließlich behauptet das hypothetische Urteil als ganzes in unbedingter Weise einen Sachverhalt, nämlich den, daß ein zweites Urteil dann wahr ist, wenn das erste wahr ist. In ihm liegt also auch ein kategorisches Urteil. Es behauptet dabei nicht, daß dieses bedingt gefällte Urteil nur dann wahr sei, wenn das erste wahr sei. Daher wäre die häufig in der modernen Logik und analytischen Philosophie verwendete Formel „x ist dann und nur dann wahr, wenn...“ hier falsch. Der Sinn des hypothetisch gemachten Urteils ist nicht, daß die bedingte Behauptung ‚S ist P‘ nur dann wahr wäre, wenn Q R ist, sondern nur, daß sie jedenfalls dann wahr ist, wenn die Bedingung gegeben ist. Der bedingte Teil des hypothetischen Urteils kann also durchaus auch wahr sein, ohne daß der bedingende Teil wahr sein müßte. Wohl aber impliziert das hypothetische Urteil in seiner These, daß es unmöglich ist, daß die Bedingung wahr und das Bedingte nicht wahr sei, oder daß der in der Bedingung (im Wenn-Satz) behauptete Sachverhalt bestehe, nicht aber der in dem bedingten Teil des hypothetischen Urteils (bedingt) behauptete Sachverhalt. Zu den vier grundsätzlichen Modi hypothetischer Urteile (ponendo ponens, tollendo ponens, ponendo tollens und tollende tollens), sowie zur ausgezeichneten Kritik verschiedener Umdeutungen des hypothetischen Urteils bei Sigwart und anderen verweise ich hier nur auf Pfänders vortrefflichen, wenn auch knappen Analysen.482 Im disjunktiven Urteil kraft seiner besonderen Natur, und zwar im starken disjunktiven Urteil des aut-aut, und nicht dem in der symbolischen Logik öfter verwendeten schwachen disjunktiven Urteil (dem vel: v), wird die Ausführung des Behauptungsschlags auf eine der beiden Seiten der Disjunktion „in der Schwebe gehalten“ und damit zugleich offengelassen, welche Seite des aus zwei Urteilen bestehenden disjunktiven Urteils behauptet wird, bzw. es wird nur behauptet, daß eines von ihnen wahr sei bzw. einer der vom disjunktiven Urteil angezielten Sachverhalte besteht, wie Alexander Pfänder vortrefflich zeigt: 482

Alexander Pfänder, Logik4, S. 103 ff.

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KAPITEL 3

Die Relation der Behauptung in einem Urteil kann nun noch in anderer Weise eine bedingte sein als sie es im hypothetischen Urteil ist. Wenn nämlich eine Mehrheit von Prädikatsbestimmtheiten auf einen und denselben Subjektsgegenstand hinbezogen wird, an dem sie sich aber gegenseitig ausschließen sollen, so kann sicher sein, daß eine von diesen Bestimmtheiten dem Subjektsgegenstand zukommt, aber noch unsicher, welche von der Mehrheit es ist. Dann bleibt der Behauptungsschlag über der Mehrheit hinbezogener Prädikatsbestimmtheiten noch unentschieden in der Schwebe. Es wird zwar dann in dem Urteil tatsächlich etwas über den Subjektsgegenstand behauptet. Aber durch die gemeinsame Hinbeziehung einer bestimmten Mehrheit von sich gegenseitig an dem Subjektsgegenstand ausschließen sollender Prädikatsbestimmtheiten wird die Behauptung in bezog auf jede einzelne dieser Prädikatsbestimmtheiten für sich eine bedingte, nämlich dadurch bedingt, daß jedesmal die anderen Prädikatsbestimmtheiten ausgeschaltet werden. Der Behauptungsschlag ist zentriert auf die Hinbeziehung einer und nur einer der in ein gegenseitiges Ausschließungsverhältnis gesetzten Prädikatsbestimmtheiten, wobei unbestimmt gelassen ist, auf welche der angegebenen Bestimmtheiten er treffen soll. Es ist das sogenannte disjunktive Urteil, das diese Struktur zeigt und für das die Formel gilt: > S ist entweder P oder Q«, wenn die Disjunktion der Prädikate eine zweigliedrige, dagegen: »S ist entweder P oder Q oder R«, »S ist entweder Pl oder P2 oder P3 . . . oder Pn«, wenn die Disjunktion eine dreigliedrige, oder allgemein eine n-gliedrige ist.483

Auch bezüglich der eingehenderen Erörterung des disjunktiven Urteils und der Abgrenzung seiner richtigen von verschiedenen falschen Deutungen verweise ich wieder auf Pfänders vortreffliche Analysen484 und sehe von einer in unserem Zusammenhang nicht grundlegenden Modifikation des Behauptungsmoments im disjunktiven Urteil ab, zumal das disjunktive Urteil, so interessant es auch in sich selber ist, verschiedenen hypothetischen Urteilen logisch äquivalent ist und schon deshalb für unseren Zusammenhang keine eigene weitere Erörterung seines Wahrheitsanspruches verlangt.485 483 484 485

Ebd., S. 106. Ebd., S. S. 106 ff. Vgl. Alexander Pfänder, ebd., S. 107-108: Daß diese Bedingtheit, dieses »in der Schwebe bleiben« der Behauptungsfunktion beim disjunktiven und beim hypothetischen Urteil gleichartig vorkommt und es deshalb

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9. Logische Relationen zwischen verschiedenen wahren Urteilen, der Unterschied zwischen Schluß und Beweis hinsichtlich ihres Wahrheitsund Begründungsanspruchs Es ist an dieser Stelle sicher nicht unsere Aufgabe, eine eingehende Analyse des Schlusses, in dem zwei oder mehr Urteile in anderer Weise verbunden sind als in den Urteilen der Relation nach, zu bieten. Wohl aber müssen wir uns kurz in die Natur des Schlusses, in dem ein Urteil aus einem oder mehreren anderen gefolgert wird, vertiefen, da wir es hier mit einem prinzipiell andersartigen Gedankenganzen oder einer höheren Bedeutungseinheit zu tun haben, deren Bezug zur Frage der Wahrheit wichtig ist. Diese in der Sprache oft mit Wörtern wie „also“, „folglich“ ausgedrückte Relation behauptet die Wahrheit eines Urteils (der Konklusion) als Folge der Wahrheit eines oder mehrerer anderer Urteile (der Prämissen). Der Schluß als ganzes enthält sogar mehrere Urteile und erhebt einen vielfältigen Anspruch, wobei wir vor allem den vielfältigen Wahrheitsanspruch vom Anspruch auf Gültigkeit unterscheiden. 9.1. Die im Schluß enthaltenen Urteile und ihre Wahrheitsansprüche

Die Urteile, die der Schluß enthält, die alle einen Wahrheitsanspruch erheben, sind die folgenden: 1. Jede der Prämissen (im unmittelbaren Schluß ist dies nur eine einzige) behauptet etwas und erhebt damit einen Wahrheitsanspruch. 2. Die Konklusion ist ebenfalls ein Urteil, das einen von ihm selbst verschiedenen Sachverhalt behauptet und für sich selber einen Anspruch rechtfertigt, beide Urteile als bedingte dem kategorischen als dem unbedingten gegenüberzustellen, ergibt sich auch daraus, daß jedes disjunktive Urteil einer bestimmten Anzahl hypothetischer Urteile äquivalent ist. So ist das zweigliedrige disjunktve Urteil äquivalent mit vier hypothetischen, das dreigliedrige mit sechs hypothetischen Urteilen. In unserem Beispiel entsprechen dem disjunktiven Urteil folgende vier hypothetischen Urteile: 1. » Er sagt die Wahrheit, falls er nicht lügt«; z. »Er sagt nicht die Wahrheit, falls er lügt«; 3. »Er lügt, falls er nicht die Wahrheit sagt«; 4. »Er lügt nicht, falls er die Wahrheit sagt«.

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KAPITEL 3

auf Wahrheit erhebt, wie jedes Urteil. 3. Der Schluß enthält noch das zusätzliche Urteil, daß die Wahrheit der Konklusion aus der Wahrheit der Prämissen folge, also daß deren Wahrheit dadurch garantiert sei, daß die Prämissen wahr sind. Dieses Urteil kann falsch sein, auch wenn die Prämissen und die Konklusion wahr sind. So sind etwa die drei Urteile „Manche Deutsche sind Philosophen. Manche Griechen sind Philosophen. Manche Chinesen sind Philosophen“ alle wahr. Aber wenn man vor dem letzten Urteil einfügen wollte: ergo sind manche Chinesen Philosophen, so wäre dieses zusätzliche Urteil in seinem Wahrheitsanspruch (daß das Urteil der Konklusion aus der Wahrheit der Prämissen folge) falsch. (Wiederum behauptet der Schluß keineswegs, daß die Konklusion nur deshalb wahr sei, weil und wenn die Prämissen wahr sind. Es behauptet nur, daß sie sicher dann wahr ist, wenn die Prämissen wahr sind). 9.2. Der Anspruch auf Gültigkeit (Folgerichtigkeit), der ein weiteres Urteil einschließt, das einen Anspruch auf Wahrheit erhebt

Zu diesem zusätzlichen Urteil und dessen Wahrheitsanspruch erhebt der Schluß als ganzer einen Anspruch auf Gültigkeit, den man auch in Form eines vierten, hypothetischen, Urteils, das seinerseits einen Wahrheitsanspruch erhebt, ausdrücken könnte: „Wenn die Prämissen wahr sind, so ist auch die Konklusion wahr“. Der Schluß als solcher erhebt dabei nicht den Anspruch auf Wahrheit der drei genannten Urteile, sondern auf Folgerichtigkeit, die aber auch als jenes Urteil über den logischen Zusammenhang der Wahrheit der Prämissen und Konklusion(en) aufgefaßt werden kann, das sich sowohl von der Behauptung der Wahrheit der Konklusion als auch der Wahrheit als aus den Prämissen folgend unterscheidet. So ist in dem Schluß „Alle Chinesen sind Philosophen. Sokrates ist ein Chinese. Also ist Sokrates ein Philosoph“ der Anspruch auf Gültigkeit und der Wahrheitsanspruch der Konklusion erfüllt, nicht jedoch der Wahrheitsanspruch der Prämissen oder jener des Urteils, daß in diesem Beispiel die Wahrheit der Konklusion aus jener der Prämissen folge. In dem Urteil hingegen: „Alle Chinesen sind Philosophen. Hitler ist ein Chinese. Also ist Hitler ein Philosoph“ sind alle drei Urteile sowie das Urteil, daß die Wahrheit der Konklusion aus jener der Prämissen folge,

Die logische Wahrheit oder Urteilswahrheit

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falsch. Der Anspruch auf Gültigkeit und Folgerichtigkeit hingegen ist erfüllt. Denn in der Tat: wenn die beiden Prämissen wahr wären, würde die Wahrheit der Konklusion folgen. Hier gälte das Wort Mephistos aus Johann Wolfgang von Goethes Faust: Der Philosoph, der tritt herein Und beweist Euch, es müßt so sein. Das Erst wär so, das Zweite so Und drum das Dritt und Vierte so. Und wenn das Erst und Zweit nicht wär, Das Dritt und Viert wär nimmermehr.486

Mit anderen Worten: der Schluß kann vollkommen gültig sein, ohne daß irgendeines der in ihm enthaltenen Urteile wahr sein müßte. 9.3. Der Anspruch auf einen Wahrheitszusammenhang zwischen Wahrheit der Prämissen und der Konklusion und seine Verschiedenheit vom Anspruch auf Gültigkeit

Der Schluß macht nicht nur einen Wahrheitsanspruch für die genannten Urteile und den Anspruch auf Gültigkeit, der auch im Schluß erfüllt sein kann, welcher von falschen Prämissen auf eine wahre oder falsche Konklusion schließt. Vielmehr verbinden sich die Wahrheitsansprüche und der Anspruch auf Gültigkeit in einem weiteren Anspruch – dem auf einen Wahrheitszusammenhang zwischen der Wahrheit der Konklusion mit jener der Prämissen. Der Schluß erhebt nicht nur getrennt Wahrheitsansprüche auf die Wahrheit der Prämissen und der Konklusion, sondern auch auf deren Einheit und darauf daß die Wahrheit der Konlusion durch jene der Prämissen verbürgt sei. 9.4. Der Anspruch auf einen Begründungszusammenhang

Von allen diesen Ansprüchen unterscheidet sich ein weiterer Anspruch, der im Rahmen von Beweisen eine entscheidende Rolle spielt: daß nämlich 486

[Goethe: Faust [in ursprünglicher Gestalt], S. 17. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 21628 (vgl. Goethe-HA Bd. 3, S. 376-377)].

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KAPITEL 3

nicht nur die Wahrheit der Konklusion durch die Wahrheit der Prämissen verbürgt ist, sondern daß sie nicht schon von der Wahrheit der Prämissen in solcher Weise vorausgesetzt ist, daß die Wahrheit der Prämissen gar nicht erkannt werden könnte, ohne bereits die Wahrheit der Konklusion vorauszusetzen. Zwischen Prämissen und Konklusion muß ein Begründungszusammenhang bestehen. Dies setzt zumindest das Wesentliche für jeden Schluß voraus, daß seine Konklusion nicht mit einer seiner Prämissen total oder partiell identisch sein darf. 9.5. Der Unterschied zwischen gültigem Schluß, der Erfüllung seines Wahrheitsund Begründungszusammenhangs und Beweis

Auch in dem idealen Falle, in welchem alle Gültigkeits- und Wahrheitsansprüche, sowie die Ansprüche auf Wahrheits- und Begründungszusammenhang erfüllt werden, liegt jedoch keinerlei Beweis vor. Dieser verlangt nämlich noch die Präsenz zweier wesentlicher Voraussetzungen, die durch Wahrheit und Gültigkeit des Schlusses nicht garantiert sind: Erstens verlangt ein Beweis zusätzlich zur Wahrheit der Prämissen und der Gültigkeit seiner Form, kraft deren die Wahrheit seiner Konklusion aus der Wahrheit seiner Prämissen gültig gefolgert werden kann, auch die tatsächliche Erkenntnis dieser Wahrheit der Prämissen. Dabei genügt es freilich für einen Beweis, daß die Prämissen, etwa eines mathematischen Beweises, allgemein von demjenigen Menschen, der die nötigen Voraussetzungen mitbringt, erkannt werden können, oder sogar, daß – im Falle von empirischen Prämissen – derjenige Mensch, der etwas beweist oder dem etwas bewiesen werden soll, die Wahrheit der Prämissen erkennt. Ein Beweis darf also nicht ausschließlich rein objektiv in seiner Struktur und seinem Aufbau betrachtet werden, sondern besitzt auch Erkenntnisbedingungen: der gültige Schluß ist nur dann ein Beweis, wenn sowohl die Gültigkeit des in ihm enthaltenen Schlusses als auch die Wahrheit seiner Prämissen erkannt sind. Dabei ergeben sich allerdings noch grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten hinsichtlich des Erkenntnissubjekts eines Beweises: 1. Für einen rein objektiven Beweis genügt es, daß die Gültigkeit seiner Schlüsse und die Wahrheit seiner Prämissen von einem idealen Subjekt erkannt werden, dem alle erkennbaren Sachverhalte auch bekannt

Die logische Wahrheit oder Urteilswahrheit

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sind und das deshalb keines Beweises bedarf, aber alle Beweise versteht. 2. Zweitens können wir in einem anthropologischen Sinne einen Schluß dann als objektiven Beweis bezeichnen, wenn die Gültigkeit seiner Schlußformen und die Wahrheit seiner Prämissen und sonstigen Voraussetzungen und Prinzipien von einem allgemein menschlichen Erkenntnisstandpunkt aus erkennbar sind. 3. In anderem Sinne sprechen wir nur im Hinblick auf bestimmte Subjekte, denen etwas bewiesen wird, von Beweisen, worauf Soeren Kierkegaard und Gabriel Marcel oft hingewiesen haben. Wir können bei einem Beweis, auf Grund seiner Erkenntnisbedingungen, das Erkenntnissubjekt berücksichtigen, dem X bewiesen werden soll. Die Erkenntnisfähigkeiten bestimmter Individuen oder Gruppen von Menschen, denen die Erkenntnisbedingungen eines Beweises (hinsichtlich der Prämissen und der Gültigkeit der Schlußform) zugänglich sind, sind vorausgesetzt, damit ihnen etwas bewiesen wird. Ein noch so objektiv gültiger Schluß samt seinen prinzipiell vom Menschen erkennbaren Prämissen sind für alle jene keine Beweise, denen die Erkenntnis der Gültigkeit der Schlußform und (oder) der Wahrheit der Prämissen fehlt. Ein Beweis hat daher niemals rein logische Voraussetzungen wie die Gültigkeit eines Schlusses; ein bloßer gültiger Schluß ist keineswegs ein Beweis. Dieser setzt nicht nur zusätzlich die tatsächliche Wahrheit der Prämissen des in ihm enthaltenen Schlusses, welche keine formal-logische Angelegenheit ist, sondern auch die Erkenntnis von deren Wahrheit voraus. Der Beweis hat also notwendig eine extralogische, und zwar eine epistemologische Voraussetzung. Nur wenn sowohl die Prämissen in ihrer Wahrheit als auch die Gültigkeit der Schlußform erkannt werden, haben wir einen Beweis vor uns. In diesem begegnet uns also eine Verbindung zwischen Urteilswahrheit und Erkenntniswahrheit. Beide sind für ihn vorausgesetzt und so werden wir im Beweis von der logischen Wahrheit des Urteils und der Gültigkeit von Schlüssen wieder auf die Erkenntniswahrheit als auf eine seiner unentbehrlichen Quellen zurückgeführt, die wir im vorhergehenden Kapitel untersucht haben. Der Schluß verlangt zweitens außer dem auseinander Folgen von Urteilen, außer dem Garantieverhältnis, kraft dessen die Wahrheit der Prämissen jene der Schlußfolgerungen sicherstellt, sowie außer dem rein logischen Begründungsverhältnis auch einen weiteren epistemologischen Begründungszusammenhang zwischen der Erkenntnis der Wahrheit der

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KAPITEL 3

Urteile, die die Prämissen des Schlusses bilden, bzw. zwischen der Erkenntnis der Sachverhalte, auf die sie sich beziehen, und der Erkenntnis der Schlußfolgerung. Wenn ich etwa sage: „1. Alle Menschen in diesem Raum sind schwarz, was ich nur dadurch erkenne, daß ich sie sehe. 2. In diesem Zimmer ist auch Bobby (was ich ebenfalls sehe). Also ist Bobby schwarz“, so handelt es sich zwar um einen gültigen Schluß, der alle 4 genannten Ansprüche auf Wahrheit und auf Gültigkeit und sogar jenen auf einen rein logischen Begründungszusammenhang erfüllt, da rein logisch in der Wahrheit der Prämissen nicht jene der Konklusion vorausgesetzt wird. Da jedoch hier die wirkliche oder für einen Beweis erforderliche Erkenntnis der Wahrheit der Konklusion nicht durch die Erkenntnis der Prämissen begründet wird, sondern umgekehrt die Erkenntnis der Prämissen bereits diejenige der Konklusion (durch Wahrnehmung) schon voraussetzt, handelt es sich hier keineswegs um einen Beweis. In unseren vorangegangenen Untersuchungen zum Wesen des Urteils und seinem Wahrheitsanspruch, zum Sachverhalt als jener „res“, welche jene „Sache“ ist, in Übereinstimmung mit der das Urteil wahr ist, und zur Abwandlung des Wahrheitsanspruchs des Urteils in den verschiedenen Urteilsformen und Beweisen, haben wir ein wichtiges Problem der Wahrheit ausgeklammert, dessen Darstellung und Lösung wir im folgenden Kapitel in Angriff nehmen möchten.

KAPITEL 4 DAS EWIGE UND VOLLKOMMENE SEIN DER URTEILSWAHRHEIT UND DIE PERSON EINE PLATONISCH-AUGUSTINISCHE UND PERSONALISTISCHE METAPHYSIK DES ONTOLOGISCHEN STATUS DER URTEILSWAHRHEIT 1. Abhängigkeit und zugleich Unabhängigkeit der Existenz der Urteilswahrheit vom personalen Geist – Ein Paradox? Im dritten Kapitel haben wir uns mit der Wahrheit des Urteils bzw. mit der Wahrheit von in Sätzen ausgedrückten behauptenden Gedanken beschäftigt. So ist es wohl angebracht, uns nun nach den ersten systematischen Ausführungen über die Urteilswahrheit den tieferen metaphysischen Problemen zuzuwenden, welche das letzte Wesen und den ontologischen Status dieser Wahrheit des Urteils betreffen.487 Sind diese Bedeutungseinheiten, denen wir Wahrheit zuschreiben, nichts als objektive Gedanken, zugleich Produkte und Inhalte menschlicher Denkakte, wie Pfänder meint?488 Sind diese objektiven Gedanken, die wir Urteile nennen, wirklich nur Erzeugnisse menschlicher Abstraktionen und Urteilsakte, die sich zusammen mit dem Sein selber in der Geschichte wandeln, wie Heidegger behauptet? Können wir sagen, was Heidegger sagt und Brettschneider gut zusammenfaßt? Die Wahrheit ist zutiefst mit diesen Wandlungen verknüpft und hat sich in gleichem Maße wie das Sein gewandelt. Der Neuansatz im Heideggerschen Denken ist nur auf dem Boden dieser Wandlungen zu verstehen, da Heidegger sich und seine Arbeit in hohem Maße der Geschichte verpflichtet

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Bei der Behandlung dieser Fragen stütze ich mich auf Ausführungen, die ich in zwei Aufsätzen veröffentlicht habe: Josef Seifert, “Is the Existence of Truth dependent upon Man?” S. 461-48; ders., „Könnte die Wahrheit nur durch den menschlichen Geist Bestand haben? Über den ontologischen Status der logischen Urteilswahrheit“ in: Edgar Morscher, et al. (Hrsg.) Vom Wahren und vom Guten. Festschrift zum achtzigsten Geburtstag von Balduin Schwarz. Alexander Pfänder Logik4, S. 9 ff.

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KAPITEL 4 weiß.489

Oder aber handelt es sich beim Träger der Wahrheit um zeitlose ideale Bedeutungseinheiten, die unabhängig von allem menschlichen Denken bestehen? Einfacher gefragt: Besteht der Träger der Wahrheit, das Urteil, nur als Produkt des menschlichen Denkens und hängt daher von diesem ab oder besteht die Urteilswahrheit selber unabhängig von menschlichen Urteilsakten und Erzeugnissen menschlichen Denkens? Setzen aber im letzteren Fall die Urteile, denen wir Wahrheit zuschreiben, überhaupt keinen denkenden Menschen voraus, oder bestehen sie gar unabhängig von jedem denkenden Subjekt überhaupt? Oder aber sind die Träger der Wahrheit, die Urteile, doch ihrem Wesen nach auf Geist, auf dessen Erkenntnis- und Urteilsakte hingeordnet und können, wenn sie nicht in menschlichen Denkakten ihren Ursprung haben und in ihrer unendlichen Fülle erklärbar sind, in ihrem letzten metaphysischen Grund nur durch ein transzendentes und im höchsten Maße und in vollkommenster Weise denkendes Wesen verständlich gemacht werden, selbst wenn die Urteile, die Träger der Wahrheit sind, sich uns vor einer metaphysischen Untersuchung ihres letzten Ursprungs klar erschließen? Der Versuch einer Beantwortung dieser sich aus dem Wesen der Urteilswahrheit ergebenden Fragen nach deren ontologischem Status werden uns tief in eine Metaphysik der Logik und der Sprache hineinführen. In der Folge der Frage nach Abhängigkeit oder Unabhängigkeit der Urteilswahrheit von menschlichen Denkakten und den von diesen gedachten oder gar hervorgebrachten Bedeutungseinheiten und Wortbedeutungen wird sich uns die noch tiefere Frage nach der Existenz einer höheren Sprache als der menschlichen stellen, nach einer idealen und rein logischen Sprache, die nur ein dem Menschen überlegener, ja unendlich überlegener Geist erfassen oder gebrauchen könnte, ja die uns zunächst als völlig unabhängig von jedem denkenden Geist zu bestehen scheint, aber zugleich 489

Vgl. Willy Bretschneider, Sein und Wahrheit. Über die Zusammengehörigkeit von Sein und Wahrheit im Denken Martin Heideggers (Meisenheim am Glan: Verlag Anton Hain, 1965) S. 5. Interessant sind auch die Zusammenhänge zwischen einem derartigen Heraklitismus, dem zufolge alles Sein in ständigem Fluß ist, und dem Relativismus, einem Zusammenhang, dem wir uns hier nicht zuwenden können. Vgl. Martin Cajthaml, Kritik des Relativismus.

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 395 dennoch auf einen absoluten lebendigen Geist verweist. Indem wir diesen Fragen, die uns auch zu metaphysischen Problemen idealer Wesenheiten und Bedeutungen sowie zur Frage nach deren letztem Sitz und letzter Quelle, hinführen wird, nachgehen, werden wir von einem neuen Gesichtspunkt aus die Identifizierung des Seins (wenigstens des realen Seins) mit dem Sein in der Zeit, die wir bei Heidegger und bereits bei Husserl finden,490 kritisch zurückweisen müssen.491 In Sein und Zeit und in anderen Werken hat Martin Heidegger die Behauptung aufgestellt, daß Wahrheit keinen Bestand habe, bevor der Mensch Sein entdecke, bzw. unabhängig vom „Entdeckendsein des Daseins (= Menschen)“. So hätte es z.B. die Wahrheit der Newtonschen Gesetze erst seit und durch Newton gegeben. In konsequenter Weise behauptet Heidegger dann auch, daß der Selbstmörder mit seinem Dasein auch die Wahrheit auslösche.492 Die Auffassung, daß Wahrheit in dem Sinne nur durch den menschlichen Geist bestehe, daß sie nur dank menschlichen Denkens dasei, weil nur dank menschlichem Denken Begriffe und Urteile existierten, ist dabei weder auf Heideggers Kritik der Fassung der Wahrheit als Übereinstimmung (adaequatio) mit der Wirklichkeit, noch auf seine gesamte, tief im Subjektivismus des deutschen Idealismus verhaftete skeptische Position beschränkt, der wir uns in einem eigenen Kapitel des zweiten Bandes des vorliegenden Werkes widmen wollen. Vielmehr bietet sich diese Meinung als die scheinbar einzig natürliche jedem Philosophen an, der nicht an übermenschliche Geister und Götter glaubt oder dieselben auch nur aus 490

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Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Band I, Kap. VII, §§ 32 ff.; Kap. VIII, §§ 46, 51. Vgl. Josef Seifert, Essere e persona. Verso una fondazione fenomenologica di una metafisica classica e personalistica, Kap. 10. Martin Heidegger, Sein und Zeit (10. Auflage), (Tübingen: M. Niemeyer, 1963), Paragraph 44c, S. 226 ff. Ich denke insbesondere an den Text: Alle Wahrheit ist gemäß deren wesenhafter daseinsmäßiger Seinart relativ auf das Sein des Daseins. Ein Skeptiker kann nicht widerlegt werden, so wenig wie das Sein der Wahrheit ‘bewiesen’ werden kann. Der Skeptiker, wenn er faktisch ist, in der Weise der Negation der Wahrheit, braucht auch nicht widerlegt zu werden. Sofern er ist und sich in diesem Sein verstanden hat, hat er in der Verzweiflung des Selbstmords das Dasein und damit die Wahrheit ausgelöscht.

(Ebd., S. 227; 229).

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KAPITEL 4

seiner Philosophie ausschalten möchte. Kein Materialist und Atheist, der etwa mit den Marxisten annimmt, daß es nur Materie und ihre Wirkungen und daß es jenseits der Geschichte und eines an ökonomische und andere materielle Faktoren gebundenen menschlichen Denkens keine geistigen Vollzüge gebe, kann, selbst wenn er daran festhält, daß Wahrheit in einer adaequatio zwischen Urteil und Sachverhalt besteht,493 konsequenterweise eine andere Position vertreten. Er wird nicht daran zweifeln, daß Wahrheit geschichtlich entstehe und stets im Prozeß des Entstehens begriffen sei, da es außer dem menschlichen, historischer Entfaltung unterworfenen kein anderes Denken gebe, das Träger der Wahrheit werden könnte. Auch Thomas von Aquin vertritt die Auffassung, daß der Atheist konsequenterweise von einem Auslöschen der Wahrheit durch eine Vernichtung des Menschen sprechen müßte. Wo Thomas von einer fiktiv angesetzten (als objektiv unmöglich betrachteten) atheistischen Welt spricht, d.h. von einer Welt, in der alle Geister zugrundegehen könnten, meint er, in einer

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Dies gilt nur auf einer sehr peripheren Ebene für den Marxismus, der die Korrespondenztheorie in Form der sogenannten ‚Widerspiegelungslehre‘ festzuhalten scheint. In Wirklichkeit liegt im Marxismus und bei Marx selber der Versuch einer Entthronung der Wahrheitsfrage vor. Vgl. dazu Karl Marx, Die deutsche Ideologie, in: Marx-Engels, Werke, Bd. 3 (Berlin: Dietz Verlag, 1958), und die zweite These über Feuerbach, die eine deutliche Ausschaltung der Wahrheitsfrage von ungeheuren Konsequenzen beinhaltet: 2. Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme – ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i.e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens – das von der Praxis isoliert ist – ist eine rein scholastische Frage.

[Marx: Thesen über Feuerbach, S. 3. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 32418 (vgl. MEW Bd. 3, S. 5)] Vgl. auch Dietrich von Hildebrand, „Die Entthronung der Wahrheit“, in: Dietrich von Hildebrand, Idolkult und Gotteskult. Gesammelte Werke Band VII, (Regensburg: Josef Habbel, 1974), S. 309-339); Martin Cajthaml, Kritik des Relativismus, sowie Josef Seifert, „Ideologie und Philosophie. Kritische Reflexionen über Marx-Engels ‚Deutsche Ideologie‘ – Vom allgemeinen Ideologieverdacht zu unzweifelbarer Wahrheitserkenntnis“ in: Prima Philosophia, Bd. 3, H 1, 1990.

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 397 solchen Welt könne auch die Wahrheit vernichtet werden.494 Die im folgenden kritisch zu behandelnde Auffassung, daß Urteilswahrheit keinerlei von menschlichen Gedanken unabhängige Realität besitze, setzt aber auch nicht notwendig den Materialismus, ja nicht einmal jedes Fehlen der Anerkennung Gottes voraus. Auch Hegel, der das Wahre als „das Ganze“ faßt und vom göttlichen absoluten Geist redet, und Fichte meinen letztlich, daß es diesen Gott nur durch das menschliche Bewußtsein gebe und daß deshalb ohne menschliche historische Entfaltung der absolute Geist und die absolute Wahrheit nicht dawären.495 494

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Siehe Thomas von Aquin, Quaestiones Disputatae de Veritate, Q. l, a. 2. corpus: „Doch wenn man die in sich unmögliche Annahme macht, es gebe keinen Intellekt und die Dinge würden dennoch weiterbestehen, dann würden die Wesensvoraussetzungen der Wahrheit in keiner Weise bestehen bleiben.“ (eigene Übersetzung). Thomas vertritt die Auffassung, nur eine Wahrheit sei ewig, die göttliche. Sähe man daher von Gott ab, könne es nur das Sein geben, nicht aber die Wahrheit, wenn es keinen menschlichen Geist gibt. Er vertritt diese Ansicht in Thomas von Aquin, In Libros Sent., In I Sent., d. 19, q. 5, a 1, RA 3 f. Man denke an den berühmten Atheismusstreit, in den Fichte verwickelt war und der sich an seine Schrift aus dem Jahre 1798 über Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung anknüpfte. Dort (ebd. V, 180 ) wird eine realistische Auffassung der Schöpfung der Welt durch Gott als „totaler Unsinn“ bezeichnet: Eine Erklärung der Welt und ihrer Formen aus Zwecken einer Intelligenz, ist, inwiefern nur wirklich die Welt und ihre Formen erklärt werden sollen, und wir uns sonach auf dem Gebiete der reinen – ich sage der reinen Naturwissenschaft befinden, totaler Unsinn. Ueberdies hilft uns der Satz: eine Intelligenz ist Urheber der Sinnenwelt, nicht das geringste, und bringt uns um keine Linie weiter; denn er hat nicht die mindeste Verständlichkeit, und giebt uns ein paar leere Worte, statt einer Antwort auf die Frage, die wir nicht hätten aufwerfen sollen.

Fichte erklärt in derselben Schrift (V 186), daß wir keinen andern Gott als die „lebendige und wirkende sittliche Ordnung selbst“ annehmen könnten: Jene lebendige und wirkende moralische Ordnung ist selbst Gott; wir bedürfen keines anderen Gottes, und können keinen anderen fassen. Es liegt kein Grund in der Vernunft, aus jener moralischen Weltordnung herauszugehen, und vermittelst eines Schlusses vom Begründeten auf den Grund noch ein besonderes Wesen, als die Ursache desselben, anzunehmen;

Auch Hegels bekannte systematischen Grundthesen, denen zufolge die Phasen des absoluten Geistes, in denen dieser erst zu sich selbst zurückkehrt, nämlich Kunst, Religion und Philosophie, als Teil und Erfüllung des göttlichen Lebens selbst aufgefaßt werden, machen dieselbe Voraussetzung, daß Wahrheit, und damit auch

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KAPITEL 4

Selbst wenn, ja gerade wenn man im erkenntnistheoretischen Realismus anerkennt, daß die Wirklichkeit dem menschlichen Geist durchaus vorgegeben ist und das Sein keinesfalls nur durch die Gnade des Menschen ist, gerade wenn man ferner annimmt, daß das Maß der Wahrheit der Urteile im Sein liegt, so scheint es im Wesen der Wahrheit zu gründen, daß sie Geist voraussetzt und nur in ihm und durch ihn ist. Denn wenn Wahrheit in einer Übereinstimmung zwischen auf der einen Seite Denken und Urteilen und auf der anderen Seite der Wirklichkeit liegt, setzt Wahrheit eben zwei Pole voraus: den Terminus des Seins und den des Geistes. Dem Sein hat sich der Geist im wahren Urteil anzugleichen, der Geist allein aber vollzieht diese Angleichung, er allein kann dasjenige sein oder wenigstens dasjenige Etwas denkend hervorbringen, das sich dem Sein angleicht: das Urteil. Und Wahrheit, mit der ihr eigenen geistigen, personhaften oder jedenfalls geistgeborenen Natur ist nur möglich, wenn zum in sich blinden (etwa dem materiellen) Sein das geistig-intellektuelle Sehen, Erfassen, Abstrahieren und richtige Urteilen tritt, oder aber wenn zum in sich erwachten, „sehenden Sein“ des Bewußtseins urteilsmäßige Fassung sich gesellt, die jeden beliebigen Sachverhalt inklusive der Sachverhalte über das Bewußtsein selber wieder zum Gegenstand wahrer Urteile machen kann. Selbst wenn man mit Alexander Pfänder und anderen Phänomenologen weder sprachliche Sätze (wie Tarski) noch den lebendigen, personalen Geist und seine Erkenntnis- und Urteilsakte als den primären Träger von Wahrheit begreift, sondern Gedanken(-produkte), nämlich eine Sphäre von aus Begriffen zu einer Einheit höherer Ordnung zusammengefügten Urteilen als den primären Träger von Wahrheit erkennt, wie wir dies im vorigen Kapitel begründet haben, so scheint doch für den Atheisten der Schluß unvermeidlich, daß nämlich Wahrheit an menschliches Denken gebunden ist, wenn sie überhaupt besteht. Denn nicht nur Sprache, Aussagesätze, sondern auch und gerade besonders die Bedeutungseinheiten und Urteile, die in solchen Sätzen ausgedrückt werden, scheinen eindeutig geistgeboren zu sein, Gedankendinge, vom Geist hervorgebrachte Bedeutungen und Bedeutungsträger, die ohne Akte des Denkens, Abstrahierens und Urteilens nicht bestünden. Zwar könnte man – etwa mit Roman die Wahrheit, nicht unabhängig vom Menschen Bestand hat.

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 399 Ingarden496 – meinen, diese Bedeutungseinheiten seien als geistgeborene ausschließlich in ihrem Ursprung an den sie hervorbringenden personalen Geist gebunden. Einmal entstanden, besäßen Begriffe und Urteile eine an ideales Sein erinnernde Eigenständigkeit oder zumindest eine intersubjektive Realität, die z.B. ein literarisches Kunstwerk, das nur kraft von Begriffen und Bedeutungseinheiten höherer Ordnung besteht, auch dann noch existieren läßt, wenn der es hervorbringende Künstler längst nicht mehr denkt oder schon verstorben ist und wenn auch kein Leser das Werk kennt oder versteht. Wenn aber auch Begriffe und andere komplexere Bedeutungseinheiten wie Urteile oder Schlußketten eine vom subjektiv-personalen und individuellen Geist, der sie hervorbringt, in gewissem Maße abgesonderte Existenz besitzen können und eine Art „objektiven“ oder „objektivierten“ Geist darstellen, bzw. wenn sie als „objektive Gedankendinge“ oder „Gedankenerzeugnisse“ eine von personalen Denkvollzügen unabhängige Existenz besitzen, die – vielleicht in Büchern niedergelegt bzw. ausgedrückt – nicht weniger wirklich ist als physische Gegenstände, so muß doch eine Tatsache zugegeben werden: Urteilsgebilde als Träger von Wahrheit scheinen doch in ihrem Ursprung und in ihrer inhaltlich-gedanklichen Bestimmtheit an den Menschen gebunden zu sein. Wenn Wahrheit nur als Eigenschaft solcher Urteile bestünde, begänne Wahrheit (wie Kunstwerke etwa) in der Geschichte zu existieren und verdankte ihre Existenz dem menschlichen Geist. Wahrheit wäre dann eine einzigartige Übereinstimmung, im Sinne eines Zusammentreffens des im Urteil gesetzten „rein intentionalen“ Sachverhalts mit dem wirklichen, oder Wahrheit läge in der Übereinstimmung zwischen der im Urteil enthaltenen behauptenden Setzung selbst und dem von dieser angezielten und von ihr unabhängigen Sachverhalt, der in sich selbst Bestand hat. In diesem Sinne wäre auch Wahrheit ganz objektiv. Immerhin bliebe die Wahrheit dabei jedoch vom menschlichen Geist abhängig, jedenfalls was 496

Siehe Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk. Ingardens dort entwickelte Position ist allerdings weit differenzierter als sie hier dargestellt ist. Ingarden unterscheidet zwischen idealen Bedeutungseinheiten und vom Menschen produzierten Wortbedeutungen. Im unmittelbar Folgenden beziehen wir uns nur auf die letzteren; später werden wir auf die ersteren und die hier angedeutete Unterscheidung Ingardens zurückkommen.

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KAPITEL 4

ihren Ursprung und Träger angeht. Denn nur eine Person kann Begriffe bilden, Urteile in eigenartigen Denkakten hervorbringen und durch diese Urteile auf unabhängig von ihnen bestehende Sachverhalte abzielen. Auch wenn dann diese Urteile und die ihnen zukommende Wahrheit als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit fortbestehen, auch nachdem die betreffenden Denkakte vergangen sind, so hängen diese Urteile doch in ihrem Ursprung und in ihrer inhaltlichen Bestimmtheit vom menschlichen Geist ab, der sie hervorgebracht hat, so scheint es. Doch nicht ausschließlich in ihrem Ursprung. Vielmehr, wenn Urteile z.B. ausgedrückt sind, so können sie doch nur von anderen Menschen bzw. von Personen verstanden werden. Ganz abstrahiert von jedem solchem Verstandenwerden, an das nicht nur Bücher, sondern auch der in ihnen ausgedrückte Sinn appellieren, scheinen diese Urteile gar nicht zu existieren oder zumindest nicht eine aktuelle Existenz im eigentlichen Sinne zu besitzen, sondern nur blutleere Schemen von objektiven Urteilen zu bleiben. Damit hinge Wahrheit, in einer Welt, in der es nur Menschen als Personwesen gäbe, zumindest in ihrem Ursprung und in ihrer inhaltlichen Fassung, wohl aber auch betreffs ihres Trägers und hinsichtlich ihrer vollen Aktualität vom menschlichen Geiste ab. Gibt es ausschließlich menschliche Geister, existiert also Wahrheit nur durch sie, auf Grund ihrer Denkakte, und könnte deshalb – zumindest in eigentlicher Aktualität – nicht fortbestehen, wenn einmal alle Menschen, z.B. in einer Weltkatastrophe, zugrundegingen. Damit scheint die These von der Gebundenheit der Wahrheit an den menschlichen Geist, zumindest in einer atheistisch gefaßten Welt, unbestreitbar erhärtet zu sein. Nur wer an Gott, göttliche Wesen, Engel oder andere überirdische Wesen glaubt oder deren Existenz zu beweisen imstande wäre, könnte demnach behaupten, daß Wahrheit nicht nur dank menschlichen Denkens und Urteilens bestehe. Im folgenden soll der Versuch unternommen werden zu zeigen, daß die Wahrheit trotz all dieser gewichtigen Argumente für ihre Abhängigkeit vom Menschen ihrem Wesen nach unabhängig vom menschlichen Geist besteht und daß sich dies auch unabhängig davon einsehen läßt, ob man die Existenz Gottes oder anderer übermenschlicher Geister erkennen kann oder nicht. Und zwar wird von uns nicht nur die Intelligibilität des Seins

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 401 behauptet werden und damit auch die Möglichkeit, Erkenntnisse über die Welt zu erlangen und dieselben in Urteilen niederzulegen bzw. auszudrücken. Vielmehr wird behauptet werden, daß Urteilswahrheit, wie sie in der Übereinstimmung eines geistigen Gebildes, nämlich des Urteils, das aus Begriffen besteht, mit der Wirklichkeit liegt, nicht an die Existenz denkender menschlicher Wesen gebunden sein kann, und daß dies aus dem Wesen der Urteilswahrheit selbst erhellt, nicht bloß aus metaphysischen Beweisen für übermenschliche denkende Wesen. Dabei soll jedoch zugleich nicht in Abrede gestellt werden, was oben begründet wurde, daß Wahrheit wesenhaft auf personal-denkenden Geist zugeordnet bleibt und daß sie Begriffe voraussetzt, die in sich den Stempel der Geistgeborenheit aus personal-denkendem Geist tragen. Ohne einen solchen Geist und seine Denkakte scheinen Begriffe und aus ihnen bestehende Gebilde metaphysisch ‚in der Luft zu hängen‘, ja unmöglich zu sein. Wenn es uns gelingt, sowohl diese letzte These als auch die andere zu erhärten, daß Wahrheit in ihrem Bestand unmöglich an den menschlichen Geist gebunden sein kann, so folgt daraus zunächst etwas, das durchaus paradox erscheinen muß: Denn einerseits, wie sogleich gezeigt werden soll, kann mit Evidenz erkannt werden – und zwar unabhängig davon, ob es außer dem menschlichen Geist noch andere Personen gibt –, daß Wahrheit unabhängig vom menschlichen Geist besteht und andererseits ist die Existenz der Urteilswahrheit ohne die Existenz irgendwelcher Personen in sich metaphysisch unmöglich. Wir werden auf dieses Paradox, das Augustinus im berühmten VeritasBeweis für die Existenz Gottes dahingehend löste, daß die notwendig seiende Wahrheit auch einen notwendig seienden göttlichen Geist beweise, ausführlicher zurückkommen, wollen aber zunächst die auf den ersten Blick paradox und widerspruchsvoll scheinenden Urteile prüfen. 2. Argumente für die vom Menschen unabhängige Existenz der Wahrheit und Antwort auf Einwände Wenden wir uns also der Fülle von Argumenten zu, die beweisen, daß

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KAPITEL 4

die Wahrheit als jenes „Etwas“, das vom Menschen gefällte Urteile „wahr macht“, unmöglich ihre Existenz menschlichem Denken und Urteilen verdanken kann. Dabei sehen wir zunächst völlig von der Frage ab, ob unsere Argumente auch beweisen oder einschließen, daß alle „Bedeutungseinheiten“ (Begriffe, Urteile, Fragen, etc.) insgesamt zeitlose ideale Existenz besitzen, also auch außerhalb von wahren Urteilen, Bestand haben, wie Husserl in den Logischen Untersuchungen in seiner Lehre von der „Idealität der Bedeutungen“ annahm.497 2.1. Universale Einheit und Identität der Wahrheit

Wenn wir an die Wahrheit von Urteilen denken oder besser an jene Wahrheit, die Urteile wahr macht, so ist diese erstens durch eine innere Einheit im Sinne einer Universalität gekennzeichnet, kraft deren sowohl die Wahrheit jedes einzelnen Urteils als auch jene aller Urteile nicht nur zu allen Zeiten und an allen Orten besteht, sondern kraft deren es nur eine Wahrheit gibt, die in dieser ihrer inneren Identität an allen Orten und zu allen Zeiten bzw. überörtlich und überzeitlich existiert. Wir sagen mit Recht, ein Philosoph des 20. Jahrhunderts habe in einem Aufsatz dieselbe Wahrheit formuliert, die schon Platon vor Jahrtausenden ausgedrückt hat. Selbst eine erste oberflächliche Betrachtung ergibt, daß die eine Wahrheit diese universale innere Identität nur dann besitzen kann, wenn sie nicht von Gedankenprozessen bzw. Gedankenprodukten abhängt, die sich zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort ereignen bzw. die entstehen und vom Menschen in der Geschichte erzeugt werden. Denn würde z.B. durch mein richtiges Urteilen jetzt eine Wahrheit erzeugt, die vor meinem Urteilsakt nicht bestanden hat und nur als Eigenschaft des von mir gedachten Urteilsinhalts Bestand hätte, so könnte diese jetzt zu existieren beginnende Wahrheit ja nicht mit jener Wahrheit strikt identisch sein, die von in der Zukunft oder Vergangenheit lebenden Menschen erzeugt würde bzw. als immanente Eigenschaft der von ihnen denkend gesetzten Urteile durch sie hervorgebracht würde. Ähnlich wie die rote Farbe eines heute erzeugten Balles unmöglich mit der roten Farbe eines 497

Vgl. Edmund Husserl, „Ausdruck und Bedeutung“, Logische Untersuchungen, Bd I, II (1 und 2).

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 403 vor hundert Jahren erzeugten Balles strikt identisch sein kann, so könnte auch eine durch meine Denkakte in Urteilen entstehende Wahrheit niemals mit jener identisch sein, die Urteilen real innewohnte, die von denkenden Subjekten zu anderen Zeiten und in anderen Kulturen und Kontinenten vor Jahrtausenden gefällt wurden. Gewiß, Gleichartigkeit der Wahrheit der Urteile, die von längst versunkenen Nationen gedacht wurden, mit jener, die gegenwärtig gefällten Urteilen innewohnt, könnte auf diese Weise eine Erklärung finden. Aber unmöglich läßt sich mit jener Theorie die Tatsache begründen, daß es sich bei der Wahrheit meiner Urteile und jener Urteile um eine und dieselbe identische Wahrheit handelt, die nicht hier und dort, heute und damals in irgendeinem Sinne eine andere ist oder reale Verschiedenheiten aufweist. Das aber unterscheidet die Urteilswahrheit gerade von Denk- und Urteilsakten, daß die letzteren zwar durchaus gleicher Art sein können, niemals aber in allen den verschiedenen Subjekten, in denen sie existieren, identisch sind. Also ließe sich nur die gleiche Natur einer Pluralität von Wahrheiten gleichen Inhalts, nicht aber die („numerische“ oder zugleich abstrakte und konkrete) Identität der Wahrheit unter der Voraussetzung erklären, daß Wahrheit durch das in der Zeit erfolgende urteilsmäßige Setzen von Urteilen durch Menschen existiert, und daß Wahrheit also in der Übereinstimmung dieser vom Menschen erzeugten Urteile (Urteilsinhalte) mit wirklich bestehenden Sachverhalten bestünde. Es ist aber gerade die Identität und Selbigkeit der Wahrheit, die sie über alle Zeiten und Orte erhebt, was in die Augen springt. Ist es doch eine und dieselbe Wahrheit, an der Urteile teilhaben und die Urteile charakterisiert, die zu den verschiedensten Zeiten und von den verschiedensten Menschen gefällt werden. Daraus folgt, daß diese eine identische Wahrheit eben nicht bloß als Eigenschaft von Urteilen bestehen kann, die vom Menschen gefällt werden. Es ist mit dem Wesen dieser universalen einen Wahrheit, die zu allen Zeiten und an allen Orten, die über alle Zeiten und Orte hinweg besteht, unverträglich, daß sie heute oder gestern, hier oder dort zu existieren beginnt in Abhängigkeit von menschlichen Setzungen und Urteilen. Die Ungereimtheit der Auffassung einer Gebundenheit der Existenz von

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KAPITEL 4

Urteilswahrheit an vom Menschen gefällte Urteile tritt noch deutlicher durch die folgenden ‚Konkretisierungen‘ hervor. Wenn wirklich das in meinen Denkakten erzeugte Urteil der einzige seinsmäßige Ort und Träger der Urteilswahrheit wäre und diese erzeugte, könnte man dieselbe Kreativität im Erzeugen von Wahrheit doch keinem andern Menschen absprechen. Dann könnte aber eine Wahrheit gleichen Inhalts morgen von einem anderen Menschen, übermorgen von einem dritten hervorgebracht werden, der – wissend oder nichtwissend um mein Urteil – ein gleiches Urteil fällte. Damit wäre eine potentiell unbeschränkte Multiplikation von Wahrheiten gleichen Inhalts (wie eine derartige ‚Multiplikation‘ von Akten gleicher Natur offenkundig besteht) unausbleiblich. Und von diesen vielen Wahrheiten (gleichen Inhalts) könnten wieder einige oder alle zugrundegehen, wenn die vom Menschen gefällten wahren Urteile zugrundegingen, nicht mehr gedacht oder zurückgezogen würden. Damit würde die Wahrheit gleichen Inhalts multipliziert oder an Zahl reduziert werden, zu existieren beginnen oder aufhören in einem unaufhörlichen historischen Oszillieren zwischen Bestehen und Untergehen (der Wahrheit). Oder wollte jemand im Ernst behaupten, die eine identische Wahrheit werde von den verschiedensten individuell unterschiedenen Denkakten erzeugt? Jemand könnte einwenden: Aber läßt sich diese unbestrittene Selbigkeit und universale Einheit der Wahrheit eines jeden Urteils nicht von dessen Objekt her erklären? Wenn viele Menschen über denselben Sachverhalt ein Urteil fällen, das seinen Bestand behauptet, dann ist die Wahrheit aller ihrer Urteile ‚dieselbe‘, insofern sie aus der Übereinstimmung mit demselben Sachverhalt erwächst. Ähnlich sei es mit ‚derselben Trauer‘ bewandt, die eine große Zahl von Menschen über den Untergang ihres Landes oder über einen anderen Unglücksfall empfinden. Dieser Vergleich zeigt nur noch deutlicher den Sachverhalt, um dessen Erklärung es hier geht. Denn es ist gerade nicht „dieselbe Trauer“, die viele Menschen fühlen – jedenfalls nicht im Sinne einer strikten („numerischen“) Identität. Wenn viele Menschen auf dasselbe Gut eine adäquate Antwort geben, eine adäquate Wertantwort geben498, wie man sagen 498

Dieser Ausdruck wurde von D. von Hildebrand geprägt und spielt in seinen Werken über Ethik und Liebe eine entscheidende Rolle, wie auch innerhalb der Ethik und philosophischen Anthropologie ihm nahestehender Denker.

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 405 könnte, so ist diese Adäquatheit der Wertantwort wirklich deren Eigenschaft; sie ist eine in jeder Wertantwort real verschiedene angemessene Entsprechung (Relation) zum Gegenstand. Die Adäquatheit, die meine Antwort zu einer gebührenden macht, wohnt meiner Antwort real inne und ist daher, auch wenn sie denselben idealen eide oder Sinngesetzen untersteht und von demselben konkreten Gut gefordert wird, eine einzige und je einzigartige.499 In einer eindeutigen (und doch erstaunenswerten) Weise trifft dies gerade nicht auf die Wahrheit zu, die Urteilen zugesprochen werden kann. Es ist gerade nicht so, daß die Wahrheit eines von mir gefällten Urteils von jener eines von jemand Anderem gefällten Urteils individuell verschieden ist, so als handelte es sich hier um zwei verschiedene Wahrheiten gleichen Inhalts. Vielmehr ist es gerade eine identische Wahrheit, um die es hier geht. Vielleicht sind wir deshalb gezwungen zu sagen, daß Wahrheit nicht eine reale, Urteilen immanent innewohnende Eigenschaft der Adäquation an die Wirklichkeit ist, sondern daß die vielen Urteile (sofern es deren überhaupt viele gibt, was gewiß aus der Annahme zu folgen scheint, daß sie Produkte von Denkakten sind, während es nur ein einziges Urteil gleichen Inhaltes geben könnte, wenn dieses ideale Existenz besäße) an der einen Wahrheit teilhaben, bzw. die eine universale Wahrheit, die ihnen in gewissem Sinne transzendent bleibt, ausdrücken. Ein Anhänger Ingardens möchte hier vielleicht darauf hinweisen, daß die im Literarischen Kunstwerk500 von Ingarden beschriebene Seinsweise 499

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Die wesenhafte Individualität jedes personalen Geistes ist eine letzte irreduzible Urgegebenheit und andere Denker zeigten. Vgl. dazu insbesondere Edith Stein, Endliches und Ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinne des Seins; Robert Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ‚etwas‘ und ‚jemand‘ (Stuttgart: Klett-Cotta, 1996); John F. Crosby, The Selfhood of the Human Person (Washington, D.C.: The Catholic University of America Press, 1996); vgl. auch J. Seifert. Leib und Seele. Ein Beitrag zur philosophischen Anthropologie (Salzburg: A. Pustet, 1973), und ders., Das Leib Seele-Problem in der gegenwärtigen philosophischen Diskussion (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1979), sowie Josef Seifert, Essere e persona, cit., und ders., “Essere Persona Come Perfezione Pura. Il Beato Duns Scoto e una nuova metafisica personalistica,” in: De Homine, Dialogo di Filosofia 11 (Rom: Herder/Università Lateranense, 1994), S. 57-75. Siehe Ingarden, Das literarische Kunstwerk, §§ 1 ff.

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von literarischen Kunstwerken sowohl Identität als auch Abhängigkeit vom Menschen einschließt. Ingarden scheint gerade meisterhaft zu zeigen, daß das literarische Kunstwerk sowohl Züge des realen Seins als eines vom Menschen in der Zeit geschaffenen Gebildes aufweist, als es auch ideal-zeitlose Eigenschaften besitzt. Ein und derselbe König Lear, der von Shakespeare zu einem bestimmten Zeitpunkt geschaffen wurde, existiert und wird konkretisiert in unzähligen Übersetzungen, Lesungen und Aufführungen, ohne daß es viele König Lears gäbe. In analoger Weise könne die Wahrheit, ähnlich wie ein literarisches Kunstwerk – als vom Menschen geschaffen und doch zugleich als eine identische in unzähligen Urteilskonkretisationen begriffen werden. Zu diesem Einwand läßt sich zunächst bemerken, daß das Kunstwerk eine andere Seinsweise als die Wahrheit besitzt, indem die Schöpfung eines Kunstwerks überhaupt und sogar die mögliche Schöpfung desselben Werks durch viele nicht dem Wesen des Kunstwerks widerspricht, wie dies in bezug auf Wahrheit aufgewiesen wurde. Das Kunstwerk ist ja ein konkretes, individuelles Gebilde und wenn ihm auch eine gewisse Selbigkeit in vielen Aufführungen zukommt, so besitzt es doch in keiner Weise dieselbe Identität wie die Wahrheit. Die entscheidenden Unterschiede zwischen dem Kunstwerk und der Wahrheit werden später deutlicher hervortreten. Außerdem ist gerade die Art der ‚Transzendenz‘ über die Konkretisierungen und Aufführungen, die Ingarden am literarischen Kunstwerk aufweist, ein Grund für ihn, die Unmöglichkeit der Identität des Kunstwerks mit Eigenschaften konkreter psychischer Akte oder deren Produkten im Sinne von Aufführungen u. dgl. zu behaupten. Wenn also sogar das Kunstwerk in seiner Konkretheit und, wie mit jedem weiteren Argument klarer hervortreten wird, von der der Wahrheit radikal verschiedenen Seinsweise unmöglich eine Eigenschaft der Akte der Zuschauer oder ein Produkt der Akte der Schauspieler sein kann, um wieviel weniger kann dies dann von der Wahrheit behauptet werden? 2.2. Zeitlosigkeit der Wahrheit

Zu dieser Universalität im Sinne der überzeitlich-überörtlichen Identität der Wahrheit jedes Urteils tritt ferner die nahe verwandte Tatsache hinzu, daß Wahrheit zeitlos ist, und zwar besitzt nicht nur die Wahrheit über

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 407 zeitlos bestehende Wesenssachverhalte diese Zeitlosigkeit, sondern auch die Wahrheit über alle zeitlichen Sachverhalte.501 Es ist schlechthin wahr, daß alles, was geschah, ebenso geschah, wie es geschah. Die Wahrheit gleicht einem geistigen „Echo des Seins“, das aber nicht einfach an dem zeitlichen Rhythmus zeitlicher Gebilde teilnimmt, sondern in unzeitlicher oder überzeitlicher Weise alles zeitliche Geschehen betrifft. Zwar läßt sich nicht leugnen, daß etwa der Satz „Julius Caesar herrscht gegenwärtig über das Römische Reich“ im Jahre 5000 v.Chr. falsch, einige wenige Jahre (47-44 v. Chr.) wahr, und seit Caesars Ermordung im Jahr 44 v. Chr. wieder falsch ist. In diesem Sinne nimmt gewiß sie Wahrheit als das „Echo des Seins“ auch am zeitlichen Rhythmus und Zeitindex der Dinge teil. Dennoch gilt: Alle Urteile, die dem Vergangenen jene Prädikate zuschreiben, die es tatsächlich besaß, sind wahr. Diese Wahrheit gehört nicht selber der Vergangenheit und deren nicht-mehr-Bestehen (Sein) an, sondern ‚ist‘ in einer unzeitlichen oder überzeitlichen ‚Gegenwart‘, jedenfalls in einem Seinsmodus, von dem Vergangensein nicht sinnvoll ausgesagt werden kann. Auch die Wahrheit über zukünftige Ereignisse ist nicht selber zukünftig, sondern besteht schon jetzt, auch wenn in der jeweiligen Gegenwart die Wahrheit über Zukünftiges von Irrtümern, wahre von falschen Prophezeiungen vom menschlichen Geist nicht zu unterscheiden sind. Gerade wenn wir aber die Frage stellen, ob eine Aussage über die Zukunft wahr oder falsch ist, setzen wir voraus, daß diese Wahrheit oder Falschheit bereits ‚jetzt‘ den Aussagen über Zukünftiges zukommt, auch wenn sie von uns jetzt nicht erkannt werden kann. Wir setzen voraus, daß z.B. Prophezeiungen entweder wahr oder falsch sind, nicht daß sie erst wahr oder falsch werden. Oder verhalten sich die Dinge 501

Vgl. zeitgenössische Diskussionen der Zeitlosigkeit der Wahrheit wie Aron Edidin, “Eternal Verities: Timeless Truth, Ahistorical Standards, and the One True Story”, American Philosophical Quarterly, (1997), 34 (2): 259-271. Zur Verwerfung zeitloser Wahrheiten vgl. auch etwa Storrs Mccall, “Temporal Flux”, (1966), 3: 270-281. Vgl. auch Mark Roberts, “Timeless Truths and Timeless Falsities”, 6: 266-279; ders., “The Bearer of Truth and Falsity”, Southwest Philosophy Review, (1994); 10 (2): 59-67. And my reply to Mark Roberts, “Are There Timeless Falsities? On the Difference between Truth and Falsity with Respect to the Ideal Existence of Meaning-Units. A Reply to Mark Roberts”, S. 280-320. Vgl. ferner Charles Evans, “Timeless Truth”, Philosophical Review, (1962), 71: 241-242.

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anders? Die Annahme einer schon immer ‚seienden‘ Wahrheit über Zukünftiges wurde bereits in der Antike angefochten und scheint der Tatsache zu widersprechen, daß die Wahrheit von Urteilen über zukünftige Ereignisse eben durch ihre Übereinstimmung mit der Wirklichkeit dieser Ereignisse konstituiert wird. Deshalb, so hat es den Anschein, kann höchstens von der Wahrheit über inhaltlich schon bestimmte und über daher bereits ‚jetzt‘ ontologisch feststehende zukünftige Ereignisse behauptet werden, daß sie in einer Art zeitlosem Jetzt besteht und nicht wie die künftigen Ereignisse selbst erst etwas zu Verwirklichendes ist. Von der Wahrheit über kontingente oder/und freie zukünftige Ereignisse aber könnte nicht behauptet werden, daß sie bereits ‚jetzt‘ bestünde. Diese Wahrheit komme vielmehr selbst erst durch die kontingenten zukünftigen Ereignisse zustande, und sei deshalb zeitlich bzw. historisch. Besonders Aristoteles hat in dem berühmten Beispiel von dem Ausgang einer zukünftigen Seeschlacht nachzuweisen versucht, daß die Urteile über kontingente zukünftige Ereignisse weder wahr noch falsch seien, da das Sein, das solchen Urteilen entspräche, eben noch nicht bestehe. Da die hier angerührten Probleme von großer Schwierigkeit und Komplexität sind, und ihre Lösung auch eine eingehende Behandlung von Zeit und Zukunft erfordern würde und es außerdem für unseren Zusammenhang genügt zu zeigen, daß es überhaupt zeitlose Wahrheit inklusive derer über die Vergangenheit gibt, darf, ja muß in unserem Zusammenhang auf ihre ausführliche Erörterung und erhoffte Bewältigung verzichtet werden.502 Aus diesem Grund sehen wir im folgenden von der Wahrheit über kontingente zukünftige Ereignisse ab und beschränken uns auf die Behandlung unseres Problems, wie es sich hinsichtlich der Wahrheit über vergangene, zeitlose oder notwendige (allgemeine oder zukünftige) Sachverhalte darstellt. Von dieser Wahrheit jedenfalls gilt, daß sie keineswegs jenem zeitlichen Wechsel unterliegt, der die zeitlichen Ereignisse selbst kennzeichnet, daß sie aber einem solchen zeitlichen Entstehen und Vergehen notwendig unterliegen müßte, wenn sie ausschließlich als Eigenschaft von durch den menschlichen Geist geformten Urteilen Existenz gewänne. 502

Vgl. Aristoteles, De Interpretatione, ix, sowie Josef Seifert, Essere e persona, Kap. 10.

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 409 Allerdings könnte man einwenden, daß der sich stets weiter wandelnde Zeitindex von Ereignissen (das Gegenwärtige und Zukünftige wird vergangen, das eben Vergangene längst vergangen, usf.) einen sich gleichfalls wandelnden Charakter der Wahrheit über Zeitliches zur Folge haben müsse. Auch auf eine Behandlung dieses Einwandes muß im gegenwärtigen Rahmen verzichtet werden. Die Zeitlosigkeit der Wahrheit über manche vergangene Sachverhalte (z.B. daß dies oder jenes Ereignis vergangen ist) oder über zeitlose Sachverhalte genügt ja auch völlig für unser Argument, sodaß es für dessen erfolgreiche Entwicklung durchaus nicht nötig ist, auf die erwähnten und andere Probleme einzugehen, die nur bestimmte „Teile“ der Wahrheit betreffen. Wenn nämlich die Wahrheit nur durch das menschliche, in der Geschichte sich ereignende Denken zustandekäme, dann müßte alle Wahrheit, sowohl diejenige über zeitliche Ereignisse als auch jene über vergangene und zeitlose, in der Geschichte entstehen. Gerade eine solche Abhängigkeit der Wahrheit von dem in Zeit sich vollziehenden menschlichen Denken und Urteilen haben wir als unmöglich erkannt. Auch wenn sogar Wahrheit über zeitliche Ereignisse selber zeitlos ist, so unterscheiden sich die wesenhaft zeitlosen Wahrheiten über zeitlose Sachverhalte dennoch scharf von den gleichsam zufällig (kontingent) zeitlosen Wahrheiten über zeitliche vergangene oder zukünftige kontingente Sachverhalte. Das evidente zeitlos schlechthinnige Bestehen von Wahrheit jedoch ist unverträglich mit einer Gebundenheit an menschliches Denken und in der Zeit geformte menschliche Urteile. 2.3. Ein an Reinach orientierter Einwand. Wahrheit, Sachverhalt und die Wirklichkeit der ‚bloß möglichen‘ Wahrheit

An dieser Stelle mag jemand auf Reinachs interessante Untersuchungen über das negative Urteil zurückgreifen. Die letzteren scheinen nämlich zu zeigen, daß die Rede von logischen Gesetzen und Grundsätzen eigentlich inadäquat ist. Zumindest handle es sich meistens, wenn man von Gesetzen oder Sätzen der Logik spreche, und auch beim Gegenstand der Syllogistik, nicht um Wahrheiten oder Urteile (Sätze), von denen Wahrheit oder Falschheit ausgesagt werden kann, sondern um die Sachverhalte, die in Urteilen bloß gemeint werden, nicht aber mit diesen zusammenfallen.

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Diese Sachverhalte, so könnte man etwa mit Meinong sagen, bestehen gewiß in zeitloser Weise (was Meinong bekanntlich von allen „Objektiven“ = Sachverhalten behauptete), nicht aber die Sätze bzw. Urteile, in denen man auf diese Sachverhalte abzielt.503 Auf diesen Ergebnissen Reinachs und Meinongs aufbauend mag man behaupten: Wenn wir von zeitlos bestehender Wahrheit sprechen oder mit Bolzano „Wahrheiten an sich“ annehmen, die vom menschlichen Denken unabhängig sind, so meinten wir, wie sich bei näherer Untersuchung herausstelle, nicht wirklich Wahrheit, sondern den Bezugspunkt für Wahrheit, ihren Gegenstand. Wir meinten nämlich zeitlose oder vergangene Sachverhalte, die ganz unabhängig vom menschlichen Geist bestünden und die wir in der Tat durchaus auch erkennen können. Die Bildung von Urteilen über diese unabhängig vom Menschengeist bestehenden Sachverhalte aber sei keineswegs notwendig oder zeitlos gegeben, noch bestehe die Wahrheit, die an solche Urteile gebunden ist, selber zeitlos. Was unabhängig von Zeit und menschlichem Urteilen bestehe, seien vielmehr vergangene Sachverhalte, die als vergangene eine Art von Unzerstörbarkeit und unveränderbarer ‚zeitloser Vergangenheit‘ besäßen; oder auch zeitlose Sachverhalte, die das intentional gegenständliche Korrelat von Urteilen werden können, aber auch in sich selber eine Seinsform hätten, die als ‚Bestehen‘ gekennzeichnet werden könne und das seinsmäßige Fundament für die Wahrheit von Urteilen bilde.504 Man mag hinzufügen, daß jedem Sachverhalt natürlich potentielle Urteile entsprechen, mögliche Urteile, die dann der mögliche Träger von Wahrheit sind. Diese Wahrheit bestehe aber selbst nur potentiell, da sie nur wirklich werden könne, wenn tatsächlich Urteile gefällt würden, was nur geschehen könne, wenn Menschen tatsächlich dächten und Urteile fällten. Solle daher überhaupt zu recht von einer zeitlos bestehenden Wahrheit (anstatt bloß von zeitlos bestehenden Sachverhalten) die Rede sein, dann nur von zeitloser ‚möglicher Wahrheit‘ oder von der zeitlosen ‚Möglichkeit der Wahrheit‘, die tatsächlich bestünde und gewissermaßen ex parte 503

504

Vgl. etwa Alexius Meinong, „Über Annahmen“, in: Alexius Meinong, Gesamtausgabe (Graz: Akad. Druck- u. Verlagsanstalt 1977), Bd. IV, Kap. iii, S. 42 ff. Siehe auch A. Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“. Dieser Einwand könnte sich außer auf Reinachs und Meinongs genannte Arbeiten auf viele andere phänomenologische Studien von Ingarden u.a. stützen.

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 411 rei (von der Gegenstandsseite her) bereits festgelegt sei, aber ex parte subjecti (von der persongebundenen Seite, den Urteilen aus) gesehen noch keine ausreichende ontologische Grundlage besitze. Daher könne unabhängig vom menschlichen Denken (immer unter der Voraussetzung, daß ausschließlich Menschen denken) keine Wahrheit im Sinne einer aktuellen Eigenschaft aktueller Urteile bestehen, sondern nur ‚Wahrheit‘ im Sinne einer potentiellen Eigenschaft potentieller Urteile. Nur als reine Möglichkeit bestehe Wahrheit daher immer, überall und in zeitloser Weise, ihre aktuelle Existenz aber verdanke die Wahrheit eben neben den wirklich und in vielen Fällen zeitlos bestehenden Sachverhalten dem menschlichen Denken und Urteilen, bzw. den in menschlichen Gedankenoperationen hervorgebrachten Gedankendingen, den aus Begriffen gebildeten Bedeutungseinheiten, die wir ‚Urteile‘ oder ‚Sätze‘ oder beliebig nennen mögen, die allein jedoch – und darauf kommt es an – Träger von Wahrheit seien und unmöglich unabhängig vom denkenden personalen Geist bestehen könnten. Gerade dieser an sich tiefsinnigste der bisher erhobenen Einwände jedoch führt uns zu einem dritten entscheidenden Argument für die vom menschlichen Geiste unabhängige Existenz der Wahrheit. Bei eingehender Prüfung dieses Einwands fallen nämlich zwei sehr bemerkenswerte Tatsachen auf. Erstens scheint es klar zu sein, daß der wichtige, ja entscheidende metaphysische Unterschied zwischen möglichem und wirklichem Sein auf die Wahrheit kaum anzuwenden ist. Denn was soll denn die Wahrheit eines potentiellen Urteils anderes sein als ‚wirklich(e) Wahrheit‘? Ja man kann eine noch radikalere Frage stellen: Ist es nicht der von der Logik erforschten Sphäre von Urteilen und Gedankengebilden eigen, daß solche Urteile wahr oder falsch sind ganz unabhängig davon, ob jemand diese Urteile tatsächlich fällt oder nicht, ähnlich wie auch bestimmte logische Schlüsse oder Schlußarten gültig oder ungültig sind, völlig unabhängig davon, ob jemand tatsächlich in bestimmter Weise schließt oder nicht? Folgt nicht aus der Wahrheit bestimmter Prämissen auf Grund der Gesetze der Logik die Wahrheit bestimmter Schlußfolgerungen ganz gleich ob diese von irgendjemandem gedacht werden oder nicht, oder von ihm sogar

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das Gegenteil der gültigen Konklusion geschlossen wird.505 Denken wir an die wahre Geschichte des Logikprofessors, der seinen Studenten die Aufgabe gab, nach einer Erörterung der klassischen Formen gültiger und ungültiger Syllogismen wenigstens zwei Beispiele gültiger Syllogismen zu finden. In der nächsten Stunde sagt ein Student, er habe leider nur ein Beispiel finden können, worauf der Professor ihn auffordert, sein Beispiel vorzutragen, worauf dieser sagt: „Einige Frauen sind Krankenschwestern. Susanne ist eine Frau. Also ist Susanne einige Krankenschwestern.“ Wenn jemand diesen ganz und gar mißratenen Schluß für gültig und das derart fehlerhaft gefolgerte und nicht nur falsche, sondern unsinnige Urteil für wahr hält, so wird dadurch der Schluß weder schlüssig noch die Konklusion wahr. Ihre Falschheit oder Wahrheit hängt also offensichtlich in keiner Weise vom Denken von Menschen ab. So kann es auch geschehen, daß Konklusionen aus wahren Prämissen, deren Wahrheit behauptet wird, nicht wahr sind, wenn die Konklusionen nicht wirklich aus den Prämissen folgen. Ob also Konklusionen überhaupt gedacht werden oder nicht gedacht werden oder falsche als wahr oder wahre als falsch behauptet werden, ändert nichts daran, daß rein objektiv bestimmte wahre Konklusionen aus Prämissen folgen und ihre Wahrheit durch diese und die logischen Gesetze verbürgt wird und in keinster Weise von ihrem Gedachtsein abhängt.506 Wahrheit ebenso wie ihr ‚gedanklicher Träger‘ (Urteile) scheint also, um diese Sachverhalte erklärlich zu machen, eine Art ‚idealen Seins‘ zu besitzen, innerhalb dessen der Unterschied zwischen möglicher und wirklicher Existenz nicht besteht. Ja in bezug auf diese Urteile scheint es keinerlei Sinn zu ergeben, wirkliche von möglicher Existenz abzugrenzen 505

Auch Aristoteles und Thomas von Aquin scheinen dies zu implizieren, wenn sie sagen: Est enim principiorum veritas causa veritatis in conclusionibus semper veris. Sunt enim quaedam necessaria quae suae necessitatis causam habent, ut etiam Aristoteles dicit in quinto metaphysicae, et in octavo physicorum.

506

Thomas von Aquin, De substantiis separatis, cap. 9. Auch Thomas stimmt dem zu: certis rationibus ostendendum est praedicta veritatem non habere, et rationes praemissas non hoc concludere quod intendunt.

Thomas von Aquin, De substantiis separatis, Kap. 14.

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 413 und dann auch wirkliche möglicher Wahrheit gegenüberzustellen. Wieder anders ausgedrückt dürfte man sagen: Die Wahrheit ‚möglicher Urteile‘ (d. h. jener Urteile, die vom menschlichen Geist gar nicht gefällt oder denkend gesetzt werden) scheint ebenso wirklich Wahrheit zu sein wie die Wahrheit tatsächlich gefällter Urteile. Die zweite auffallende Tatsache ist noch merkwürdiger. Wenn man den zweiten Teil des Einwands bedenkt, der auf einer Unterscheidung zwischen wirklicher und bloß möglicher Wahrheit beruht, so ergibt sich nämlich folgendes. Nehmen wir einmal an, diese Unterscheidung sei völlig berechtigt. Wie es wirkliche, tatsächlich vom Menschen geformte und gefällte Urteile gebe, die reale Träger wirklicher Urteilswahrheit seien, so gebe es auch bloß mögliche Urteile, von denen höchstens rein potentiell Wahrheit ausgesagt werden dürfe. Wenn man nun diese Unterscheidung annimmt, so erweist sich die „bloß möglich“ genannte Wahrheit als viel wirklicher und jedenfalls als viel wichtiger denn die „wirklich“ genannte Wahrheit. Denn wenn wir z.B. sagen: „Ja, dieses Urteil ist wahr“; oder: „Dieser Satz spricht eine tiefe Wahrheit aus“, so meinen wir mit Wahrheit etwas, dem es ganz äußerlich bleibt, ob es urteilsmäßig von Menschen formuliert wird oder nicht. Vielleicht sollte man besser sagen, um nicht den Anschein zu erwecken, daß hier der hohe Wert der Formulierung der Wahrheit durch Menschen in Abrede gestellt werde: Das, was man hier „die Wahrheit“ oder „eine Wahrheit“ nennt, ist gerade nicht primär die real genannte Eigenschaft eines kontingenten individuellen Urteilsgebildes, das ein bestimmter Mensch hervorbringt, sondern vielmehr etwas, das allen wirklichen gedanklichen Fassungen durch den Menschen vorhergeht und das außerdem in allen wirklichen und möglichen gedanklichen Aneignungen von Seiten verschiedener Menschen ein und dasselbe bleibt: nämlich dieselbe bestimmte Wahrheit, die formuliert werden kann oder nicht, erkannt werden oder nicht, schärfer von Menschen gefaßt oder unklar ausgedrückt, usf. Also das, was der Einwand als „bloß mögliche Wahrheit“ bezeichnet und mit dieser Bezeichnung abzuwerten sucht, erscheint gerade als die wirkliche „substantielle“ Wahrheit und die „wirklich“ genannte Wahrheit (nämlich Wahrheit als reale immanente Eigenschaft kontingenter menschlicher Urteile, bzw. vom Menschen gedanklich hervorgebrachter Urteile) erscheint nun als die bloß kontingente, bloß mögliche (d.h. nicht notwendig bestehende und nicht

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wesentliche), ‘unwirkliche’ Wahrheit. Den ersten Teil des obigen Einwands wieder aufnehmend könnte man hier einwenden: Die Wahrheit, die hier wirklicher und wichtiger genannt werde, und die dem menschlichen Denken tatsächlich vorhergeht (auch wenn man von übermenschlichen Personen ganz absieht), ist nicht eigentlich die Urteilswahrheit, sondern was die Scholastiker ‚ontologische Wahrheit‘ nannten. Dieser an sich noch vieldeutige Ausdruck, dessen verschiedene Bedeutungen Gegenstand der Untersuchungen des ersten Kapitels waren, kann hier einfach als objektive Intelligibilität des Seins und der objektiv bestehenden Sachverhalte verstanden werden, d. h. als jene Eigenschaft alles tatsächlich ‚Seienden‘, kraft deren dieses dem erkennenden Geist prinzipiell offensteht, erkennbar ist. Dieser ontologischen Wahrheit entspricht freilich auch eine mögliche oder ‚ideale‘ Ganzheit und Vollständigkeit von Urteilswahrheit, in der urteilsmäßig und begrifflich alles Sein und alle Sachverhalte gleichsam vollkommen widergespiegelt bzw. geistig erfaßt würden. Diese Urteilswahrheit könne aber nur als reine Möglichkeit bzw. als ‚transzendentales‘ Ideal betrachtet werden, solange kein denkender Geist erkennend Begriffe und Urteile bildete, denen allein reale Urteilswahrheit innewohnen könne. Unsere obige Antwort auf den ursprünglichen Einwand verwechsle jene höhere ‚ideale Vollkommenheit‘ und Unabhängigkeit des Ideals ‚reiner Urteilswahrheit‘ als perfekte ‚geistige Widerspiegelung‘ ontologischer Wahrheit (Erkennbarkeit des Seins) mit einer wirklichen Existenz von Urteilswahrheit. Auf diesen Gedankenfehler bzw. auf diese Verwechslung liefe unser ganzes Argument hinaus. Darauf ist zunächst zu antworten: Wie Husserl und Pfänder erwiesen haben, besitzen die Bedeutungseinheiten und Urteile, die Träger von Wahrheit sind, nicht dieselben Eigenschaften wie die Urteilsakte und deren direkte Produkte. Urteile sind nicht individuell verschieden oder zeitlich. Dasselbe Urteil wird von vielen gefällt. Wenn aber das Urteil als Träger von Wahrheit ganz von menschlichen Akten und deren Produkten verschieden ist, stellt sich die Frage, ob nicht jene Urteile, die Träger der Wahrheit sind, selber ein ideales Sein besitzen, das keineswegs als vom Menschengeist hervorgebracht angesehen werden darf. Nur die begrifflichen Unvollkommenheiten, die undeutlichen Fassungen und Konkretisierungen begrifflicher Bedeutungseinheiten können allenfalls vom Menschen

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 415 erzeugt werden, nicht aber die ‚reinen Begriffe‘ und ‚reinen Urteile‘, die allein letzter Träger von Urteilswahrheit sind. Dann sind aber nicht nur die Seienden und ihre Intelligibilität, sondern auch die Welt reiner Begriffe und Urteile sowie die von diesen getragene Wahrheit dem menschlichen Geist vorgegeben. Zweitens kann in Antwort auf den Einwand geltend gemacht werden, daß in ihm die schlechthinnige Unwirklichkeit der Möglichkeit (von Wahrheit) einfach vorausgesetzt, nicht aber rational begründet wird. Vielleicht hat das Mögliche als solches (worauf besonders die Philosophen Zubiri und Basave hingewiesen haben)507 – und zwar in einer je nach Seinsart sehr verschiedenen Weise – zumindest eine besondere Art ‚idealen Seins‘, das nicht einfach mit dem Nichts und dem Nichtigen identifiziert werden darf. Dann könnten aber auch ‚mögliche Urteile‘ Träger einer nicht schlechthin nicht-seienden Urteilswahrheit sein. Dies wäre auch dann zuzugeben, wenn die oben vertretene ‚stärkere‘ These, daß nämlich die ‚möglich‘ genannte Wahrheit die wirklichere sei, verworfen werden sollte. Drittens muß bemerkt werden, daß die Wahrheit, deren Unabhängigkeit vom menschlichen Urteilen hier behauptet wird, deshalb nicht einfach mit der ontologischen Wahrheit bzw. der Intelligibilität von Sachverhalten identifiziert werden darf, weil sie von denen der ontologischen Wahrheit ganz abweichende Wesensmerkmale besitzt. Darauf werden wir noch zurückkommen. 2.4. Die ‚logische Einheit‘ der Urteilswahrheit und die Unendlichkeit der Wahrheitsimplikationen jedes wahren Urteils

Zur Entkräftung der These, daß Urteilswahrheit nur in und durch menschliches Denken und Urteilen existiere, muß noch auf eine bislang unbehandelt gebliebene Art der Einheit der Wahrheit hingewiesen werden, die als (formal- und material-) logische Einheit der Urteilswahrheit bezeichnet werden kann. Jedes wahre Urteil bzw. die Wahrheit jedes Urteils setzt logisch die 507

See Xavier Zubiri, Xavier, Sobre la esencia, 3. Aufl. (Madrid, 1963); see also Agustin Basave, Tratado de Metafísica. Teoría de la Habencia.

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Wahrheit vieler, ja, wie Augustinus zeigt508, unendlich vieler anderer wahrer Urteile voraus bzw. schließt diese in der Weise ein, daß die Wahrheit jedes gegebenen Urteils der logische Grund der Wahrheit von unendlich vielen anderen Wahrheiten ist, die nicht nur faktisch nicht vom Menschen erkannt werden, sondern von keinem Menschen, ja – wie Bonaventura nachzuweisen sucht – von keinem endlichen Geist überhaupt je in ihrer aktuellen Unendlichkeit gedacht werden können.509 Wenn es wahr ist, daß ich existiere, so ist es auch wahr, um bei einem augustinischen Beispiel zu bleiben, daß dies wahr ist, bzw. daß das Urteil, „ich existiere“ wahr ist, sowie auch jenes, das des letzteren Wahrheit behauptet, usf. ad infinitum. Solche logisch notwendigen Wahrheitskonsequenzen können nun nicht auf rein ontologische Abhängigkeiten reduziert werden, die zwischen den in Urteilen gesetzten Sachverhalten bestünden. Ja es ist sogar besonders deutlich unmöglich, die logische Wahrheit (Urteilswahrheit), um die es hier geht, auf ontologische Wahrheit bzw. auf Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Sachverhalten zu reduzieren. Denn erstens setzt die Wahrheit von Urteilen logisch auch andere Wahrheiten voraus, und nicht bloß Sachverhalte. Die logische Ordnung der Wahrheitsvoraussetzungen ist zweitens ganz von ontologischen Abhängigkeitsbeziehungen verschieden, ja diesen oft ‚entgegengesetzt‘, d.h. oft besteht die ontologische Abhängigkeitsbeziehung zwischen Grund und Folge gerade in ‚umgekehrter Richtung‘ zur logischen Abhängigkeitsbeziehung zwischen einer gegebenen Wahrheit als logischem Grund und deren logischen Wahrheitsfolgen. Das zeigt, daß solche logische Wahrheitsabhängigkeiten nicht mit ontologischen Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Sachverhalten identifiziert werden dürfen. An dieser Stelle unserer Ausführungen mag jemand einwenden, daß es bei dem zu beantwortenden, im Anschluß an Reinach vorgebrachten Einwand nicht um die Postulierung eines ontologischen, sondern eines ‚rein logischen‘ oder ‚rein formalontologischen‘ Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Sachverhalten gehe; also nicht etwa um die Behauptung, ein Sachverhalt stünde zu einem anderen im Verhältnis einer Wirkung zu 508 509

Augustinus, De Trinitate, XV, xii, 21. Siehe Bonaventura, Quaestiones Disputatae de Scientia Christi, in: Opera Omnia, vol. V, V, 35; und IV.

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 417 ihrer Ursache, sondern um die These, es gäbe eine ‚rein logische‘ bzw. rein formal-ontologische Verknüpfung von Sachverhalten, die das exakte Korrelat zur Wahrheit der sie setzenden Urteile bildet. Wie z.B. aus der Wahrheit des Urteils: „Alle Menschen sind sterblich“ die Wahrheit des anderen Urteils folgt, daß einige Menschen sterblich sind, so impliziert auch der Sachverhalt, daß alle Menschen sterblich sind, logisch den Sachverhalt, daß einige Menschen sterblich sind – ganz gleichgültig ob irgendeiner dieser Sachverhalte Gegenstand eines wahren Urteils wird oder nicht. Also bräuchte man zur Erklärung der von uns angeführten Tatsachen nicht das Bestehen und die innere logische Verknüpfung von Wahrheiten (die in Wirklichkeit einen erkennenden und urteilenden Geist notwendig voraussetzen), sondern nur die formalontologischen Abhängigkeitsbeziehungen von Sachverhalten, die ganz unabhängig von erkennenden Geistern bestehen, anzuerkennen. In Antwort auf diesen Einwand ist zuzugeben, daß den logischen Abhängigkeitsbeziehungen zwischen der Wahrheit verschiedener Urteile entsprechende formal-ontologische Abhängigkeitsbeziehungen zwischen den in solchen Urteilen behaupteten Sachverhalten exakt korrespondieren. Eine solche Korrespondenz ist ja gerade Bedingung für die logischen Wahrheitsabhängigkeiten: denn ohne das Bestehen der in diesen wahren Urteilen gemeinten Sachverhalte könnten ja die sie eben gerade setzenden Urteile nicht wahr sein. Dennoch entspricht zwar Wahrheit in exakter Weise Sachverhalten (weil nur jene Urteile wahr sind, die der Wirklichkeit entsprechen, d. h. deren behauptende Setzung eines Sachverhalts eben mit dem Selbstverhalten dieses Sachverhalts ‚zusammentrifft‘), unterscheidet sich jedoch eindeutig von ihnen. Sie setzt Urteilsgebilde voraus, die aus Begriffen oder/und Namen bestehen, unter denen zumindest ein abstrakter Begriff sein muß. Urteilswahrheit ist auch nicht Eigenschaft von Sachverhalten, sondern von Urteilen, hat einen ganz anderen „geistigen Charakter“ als viele Sachverhalte, die in bestimmtem Sinne der materiellen Welt angehören können, usf. In allen diesen Punkten unterscheidet sich Urteilswahrheit von den ihr entsprechenden Sachverhalten. Deshalb ist auch die Abhängigkeitsbeziehung, infolge derer die Wahrheit eines Urteils diejenige eines anderen Urteils impliziert, ganz

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verschieden von der logisch-ontologischen Abhängigkeitsbeziehung, die zwischen verschiedenen Sachverhalten obwaltet. Beide Abhängigkeitsbeziehungen bestehen objektiv, keine kann jedoch einfach an die Stelle der anderen treten, obgleich sie einander exakt entsprechen; sie liegen aus den erörterten Gründen auf ganz verschiedenen Ebenen. Es soll nur kurz auf eine andere Frage hingewiesen werden, die, so meine ich, nur affirmativ beantwortet werden sollte – nämlich die Frage, ob notwendig mit dem Gegebensein jedes wahren Urteils sowie jeden Sachverhalts nicht bloß die Wahrheit dieses bestimmten Urteils, das einen bestimmten Sachverhalt zum Gegenstand hat, gegeben ist, und nicht nur der Bestand des Sachverhalts gewährleistet ist, daß das jeweilige Urteil wahr ist, sondern unendlich viele Sachverhalte und wahre Urteile folgen. Ebenso wie die Wahrheit des Urteils „ich existiere“ notwendig die Wahrheit des Urteils, „es ist wahr, daß ich existiere“ einschließt, wie Augustinus zeigt, so schlösse diese letztere Wahrheit auch das Bestehen des Sachverhalts ein, daß dieses Urteil wahr ist. Dieser Sachverhalt könnte seinerseits Gegenstand eines wahren Urteils werden, und so fort bis ins Unendliche. Diese verschiedenen Reihen unendlicher formal-logischer Abhängigkeitsbeziehungen zwischen wahren Urteilen und formalontologischer zwischen Sachverhalten sind trotz ihrer exakten Korrespondenz doch ganz verschieden, was sich darin ausdrückt, daß die Glieder jeder dieser Reihen wesensverschiedene Prädikate haben, wie bereits kurz erörtert wurde. Die logischen Wahrheitsvoraussetzungen und Wahrheitsfolgen sind übrigens nicht auf die rein formalen, von Augustinus erwähnten begrenzt, sondern neben den Gesetzen der formalen Logik, die sich auf unmittelbare und mittelbare formale Schlüsse beziehen, ergeben auch die materiallogischen Wahrheitsabhängigkeiten, die von bestimmten sachlichen Wesenheiten abhängen, daß jedes wahre Urteil nicht nur quantitativ unendlich viele, sondern auch eine unermeßliche Zahl sehr verschiedenartiger und ‚material erfüllter‘ anderer Wahrheiten voraussetzt. So setzt etwa die Wahrheit, daß ich existiere, ontologische Prinzipien wie das des Widerspruchs, notwendige Beziehungen zwischen Wesen und Existenz, das Wesen von Wahrheit überhaupt, aber auch das Wesen der Person usf. voraus. Nun ist es faktisch gewiß nicht der Fall und darüber hinaus in sich

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 419 unmöglich, daß der menschliche Geist alle von einem gegebenen und von ihm erkannten wahren Urteil implizierten – unendlich vielen formalen und materialen – Wahrheiten (=wahren Urteile) aktuell erfaßt und denkt, obwohl dieselben objektiv notwendig bestehen bzw. wahr sein müssen, wenn das von ihm erkannte Urteil wirklich wahr ist. Daraus ergibt sich jedoch zwingend, daß (Urteils-)Wahrheit weiter reicht als das menschliche Urteilen und unmöglich ihre Existenz den urteilsmäßigen Setzungen menschlichen Denkens verdanken kann, sondern vielmehr eindeutig das voraussetzt, was Bernard Bolzano die „Sätze an sich“ nennt.510 Selbst wenn man von der wesenhaften, in der Endlichkeit des menschlichen Verstandes gegründeten Unmöglichkeit, alle logisch von einem gegebenen wahren Urteil vorausgesetzten und aus ihm folgenden wahren Urteile denkend zu erfassen, absieht, so ist das eine klar, daß Menschen tatsächlich oft die Wahrheit eines Urteils erkennen, ohne dessen logische Wahrheitsvoraussetzungen oder Wahrheitsfolgen zu verstehen. Ja, ein Mensch vermag die Wahrheit eines Urteils anzuerkennen und dennoch gleichzeitig die mit ihm logisch notwendig verknüpften Urteile zu verwerfen. Daraus ergibt sich jedoch, daß die objektiv bestehende Tatsache, daß die Wahrheit eines von jemandem gefällten Urteils unermeßlich, ja unendlich viele andere wahre Urteile einschließt, nur unter folgender Voraussetzung bestehen kann: Die (Urteils-)Wahrheit existiert und besteht unabhängig davon, ob Menschen sie erkenntnismäßig erfassen und Urteile fällen, die wahr sind, oder nicht. Will man das Gegenteil behaupten, so muß man eine weitere Ungereimtheit in Kauf nehmen, die zur Grundlage eines weiteren Arguments für die Unabhängigkeit der Wahrheit vom menschlichen Denken dienen kann.

510

Bernard Bolzano, Grundlegung der Logik (Wissenschaftslehre I/II); ders., Theory of science, attempt at a detailed and in the main novel exposition of logic with constant attention to earlier authors. (Edited and translated by Rolf George University of California Press, Berkeley and Los Angeles 1972) – Theory of science (Edited, with an introduction, by Jan Berg. Translated from the German by Burnham Terrell – D. Reidel Publishing Company, Dordrecht and Boston 1973). (vgl. Auch http://www.formalontology.it/bolzanob.htm).

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2.5. Unhaltbarkeit einer bruchstückhaften Existenz der Wahrheit

Nicht nur wäre Wahrheit unter der Annahme, daß sie vom menschlichen Denken und Urteilen abhängt, keine Ganzheit mehr, sondern sie könnte auch in Teilen schon bestehen, während andere Teile der Wahrheit noch nicht existieren würden. Wahrheit würde sogar in dem Sinn bruchstückhaft existieren, daß ein Teil der Wahrheit, z.B. die Wahrheit eines von Newton oder Euklid formulierten Urteils über ein mathematisches oder physikalisches Gesetz, schon existierte (weil diese Urteile vom Menschen erkennend gedacht wurden), während die Wahrheit von logisch notwendig vorausgesetzten Urteilen noch nicht existierte. Dies aber scheint noch absurder als das mögliche Nichtsein von Wahrheit zu sein, daß nämlich partielle Teilwahrheiten (die Wahrheit einzelner Urteile) bereits bestehen, während andere Teilwahrheiten noch nicht sind, die aber zugleich doch von uns später als logisch von den früher erkannten Wahrheiten vorausgesetzt erkannt werden können.511 2.6. Die Wahrheit als „das Ganze“ kann nicht vom menschlichen Denken abhängen

Dieses Argument führt unmittelbar zu einem weiteren, das auf einem umfassenderen Phänomen der Einheit und Ganzheit beruht als das eben erörterte. Eine bereits mehrfach erwähnte Dimension der inneren Einheit der Wahrheit führt zu einem weiteren Argument gegen die Behauptung, daß Wahrheit nur dank menschlichem Denken bestehen könne. Die Wahrheit ist auch eine im Sinne einer vollkommenen Totalität, bzw. im Sinne eines einzigen Ganzen, das nicht nur alle wahren Urteile (die Wahrheit aller wahren Urteile) in sich enthält, sondern sie auch in wunderbarer innerer Harmonie und Einheit verbindet. Wenn die Wahrheit ihre Existenz den von Menschen gedachten Urteilen verdankte, wäre diese 511

Mit der letzten Bemerkung soll jedoch nicht das von uns in anderem Zusammenhang erörterte Argument Augustins und Bonaventuras für das notwendige Dasein der Wahrheit und für die Unmöglichkeit, daß Wahrheit untergehen oder nicht bestehen könnte, als weniger bedeutend abgewertet werden. J. Seifert, „Bonaventuras Interpretation der augustinischen These vom notwendigen Sein der Wahrheit“, Franziskanische Studien (I) 1977, 38-52.

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 421 Wahrheit als allumfassende Ganzheit eine pure Illusion. Wahrheit wäre dann in sich selbst ein Stückwerk, etwas Unfertiges, das sich außerdem in höchst primitiver Weise aus dem Zuwachs von jeweils neuen und vielleicht zudem ohne jeden zeitlichen, örtlichen oder gedanklichen Zusammenhang gedachten wahren Urteilen rein ‚äußerlich‘ zusammensetzen und aufbauen würde. Wahrheit würde dann in keiner Weise einem Licht gleichen, dessen innere Fülle, Ordnung und Einheit von uns stets nur mühsam tastend und in einem wachsenden Prozeß erfaßt wird. Vielmehr wäre sie dann in sich selbst fragmentarisch, unganz und oft durchaus zusammenhangslos. Dies widerspricht jedoch nicht nur der Art, wie Wahrheit – etwa im philosophischen Durst nach ihr – uns gegeben ist, sondern ihrem eindeutig erkennbaren objektiven Wesen, das ein solches fragmentarisches und zusammenhangloses Anwachsen nicht zuläßt. An dieser Stelle möchte jemand vielleicht einwenden: Das Ganze, das hier als die Wahrheit bezeichnet wird und das allen Irrtümern, Lügen und falschen Sätzen entgegengesetzt wird, das auch alle fragmentarischen ‚Wahrheiten‘ einzelner Urteile unendlich übersteigt, ist eine bloße Idee, ein Ideal, dem keine Realität entspricht. Es verriete nur schlechten Platonismus unsererseits, wenn wir diese Idee der Wahrheit wie etwas Wirkliches behandelten und meinten, es gäbe neben unserer realen und radikal unfertigen historischen Wirklichkeit noch einen geistigen Kosmos von Idealen und ewigen Ideen. Gegen diesen Einwand ist zunächst zu sagen, daß die Einstellung, die sich in vielen philosophischen Kreisen eingebürgert hat, wo man den Namen ‚Platonismus‘ wie eine Art philosophisches Schimpfwort gebraucht, ausgesprochen töricht ist. Denn nicht nur war Platon der vielleicht größte Philosoph aller Zeiten, sondern vor allem ist die einzig entscheidende Frage die, wie sich die Sachen wirklich verhalten und ob Platon in einem bestimmten Punkt recht hatte oder nicht. Die Übereinstimmung mit Platon als solche für ein Argument gegen Wahrheit zu halten, ist selbstverständlich Unsinn. Wendet man sich nun dem Gegebenen zu, wird man finden, daß in der Erfahrung dessen, was Wahrheit ist, oder im ahnungshaften Eindringen in die Fülle und Ganzheit, auf die der Name ‚Wahrheit‘ hinweist, die Wahrheit uns als etwas entgegentritt, das ein notwendiges Wesen besitzt, zu dem es auch gehört, daß sie ‚ein Ganzes‘ (Hegel sagte in einem in vieler

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Hinsicht anderen Sinn: ‚das Ganze‘)512 ist. Dazu gibt sich die Wahrheit auch als etwas, das eine eigentümliche Wirklichkeit besitzt, die derjenigen allen menschlichen Denkens überlegen ist. Dieses notwendige Wesen und diese Wirklichkeit der Wahrheit sind die Grundlage der Freude über die innere Schönheit der Wahrheit, der Sehnsucht nach Wahrheit, der Liebe zur Wahrheit. Diese elementaren Erlebnisse vieler Menschen, diese Grunderfahrungen des Philosophen, verlieren ihren ganzen oder jedenfalls ihren eigentlichsten Sinn, wenn Wahrheit erst durch die Urteile des Herrn Maier oder Müller, Heidegger oder Hegel ‚erzeugt‘ wird. Was ist nun jene ‚der‘ Wahrheit wesensnotwendig eigene Ganzheit? Zunächst gründet es in dem unerfindbaren und als objektiv unserem Denken vorgegebenen Wesen der Wahrheit, daß sie eben nur dann ‚die Wahrheit‘ ist, wenn sie die erwähnte innere Einheit und allumfassende Harmonie und Ordnung besitzt, in der sämtliche logischen Wahrheitsbeziehungen, Allgemeinheitsstufen, Wichtigkeitsgrade, Wertränge, inneren Zusammenhänge und gegenseitigen Verflechtungen der Wahrheit einzelner Urteile vollkommen enthalten sind. Die umfassende Wahrheit wäre nicht ‚sie selber‘, sie hätte nicht das höchst intelligible und notwendige Wesen, das wir doch gerade in ihr finden, wenn sie ein in sich unfertiges ‚Gebäude‘ einzelner wahrer Sätze, oder gar eine bloße Sammlung einzelner Wahrheiten wäre, die im Fortschreiten menschlichen Erkennens nur allmählich, äußerlich, oft ganz ohne Einordnung in ein Ganzes, zustandekäme. Wird eingewandt, daß dieses angebliche ‚Wesen‘ der Wahrheit sich eben nur auf ein bloßes Ideal beziehe, das keinerlei Wirklichkeit besitze und nirgends existiere, so erwidern wir: In unserer Erfahrung manifestiert sich gerade die eigenartige Aktualität der Wahrheit als etwas dem menschlichen Geist ebenso Vorgegebenes wie das Wesen der Wahrheit. 512

Vgl. Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Phänomenologie des Geistes, Jubiläumsausgabe Bd. 3, Einleitung: Die nähere Entwicklung gehört in die spekulative Philosophie, worin sie sich als dasjenige zeigen, was sie in Wahrheit sind, nämlich einzelne verschwindende Momente, deren Wahrheit nur das Ganze der denkenden Bewegung, das Wissen selbst ist.

[Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 324. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 15992 (vgl. Hegel-W Bd. 3, S. 228)].

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 423 Diese Realität der Wahrheit gibt sich zunächst als eine notwendige (ideale) Existenz der Wahrheit, die durchaus dem idealen Sein der eide verwandt ist, von dem ich an anderer Stelle eingehend gehandelt habe.513 Der personbezogene Charakter der Wahrheit, der ihrem ‚idealen Sein‘ ganz zu widersprechen scheint und die Annahme des Daseins von Wahrheit nur dann als berechtigt erscheinen läßt, wenn zuerst die reale Existenz von Personen erwiesen ist, verbindet sich in einer gewissen paradoxen Weise mit jenem unveränderlichen Vorgegebensein und Etwassein dem menschlichen Geist gegenüber, dem wir in allem eigentlichen idealen Sein und auch in der Wahrheit begegnen. Mit dieser vom Wesen der Wahrheit untrennbaren idealen, zeitlosen und vollkommenen Existenzweise ist es durchaus unverträglich, daß ein Teil der Wahrheit durch Platon, ein anderer erst durch Aristoteles zu existieren begann. Vielleicht hat Augustinus diesen Charakter der Wahrheit als eines notwendig bestehenden, unwandelbaren, immer gegenwärtigen ‚intellektuellen Lichtes‘, das alles bei weitem, ja unendlich übersteigt, was wir von ihm begreifen, eindringlicher als jeder andere Philosoph beschrieben, wenn er ausruft: „Oh Wahrheit, Wahrheit, wie innig seufzte das Mark meiner Seele nach dir“!514 Damit kann er unmöglich nur jene Wahrheit gemeint haben, die jenen so vielfach unvollkommenen, von Menschen gedachten Urteilen anhaftet. Die umfassende Wahrheit als Gegenstand der glühenden Sehnsucht, die Augustinus beschreibt, läßt sich unmöglich mit jenem ärmlichen Teil der Wahrheit identifizieren, welche in den wahren vom Menschen gedachten Urteilen Bestand hat.515 2.7. Irrtum ohne Wahrheit unmöglich

Ein siebtes und eng verwandtes Argument für unsere These ist das folgende: Wenn man meint, Wahrheit komme nur als Eigenschaft von Urteilen zustande, die ein Mensch tatsächlich denkend und behauptend für wahr halte, so muß man zugeben, daß es Irrtum ohne entsprechende 513 514

515

J. Seifert, „Essence and Existence“, Aletheia I (1977); I,l (1978). “O Veritas, Veritas, quam intime etiam tunc medullae animi suspirabant tibi!” (Confessiones, III, vi, 2).

Vgl. dazu Augustinus, Conf. 3, 10. [[CCL 27 p. 32/43] Corpus Augustinianum Gissense a C. Mayer editum].

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Wahrheit, Falschheit ohne Wahrheit geben könnte. Nehmen wir in einem Gedankenexperiment an, alle lebenden Menschen stellten immerfort und ausschließlich falsche Behauptungen auf, so würden unzählige Irrtümer, aber keine Wahrheit existieren, da diese ja angeblich nur als reale Eigenschaft real vom Menschen konzipierter Urteile existiert. Dies scheint nun nicht nur gefühlsmäßig absurd anzumuten, sondern auch der evidenten Tatsache zu widersprechen, daß ein falsches Urteil nur falsch sein kann, wenn das ihm kontradiktorisch entgegengesetzte Urteil wahr ist. Nur kraft der Wahrheit des Urteils, daß Menschen frei sind, kann das Urteil, daß sie determiniert seien, falsch sein. (In dieser Weise hängt übrigens nur Falschheit von Wahrheit ab, nicht Wahrheit von Falschheit, obwohl auch diese von der Wahrheit impliziert wird, wie hier nicht näher gezeigt werden kann.) Der vielleicht an dieser Stelle aufgeworfene Einwand, daß das NichtBestehen von Sachverhalten für die Konstituierung von Irrtümern genüge, kann in völliger Analogie zu den oben bereits angestellten Überlegungen beantwortet werden, aus denen die Unmöglichkeit hervorgeht, Wahrheitszusammenhänge auf Sachverhaltszusammenhänge zu reduzieren. 2.8. Die Unvollkommenheit der menschlichen Fassung und Formulierung wahrer Urteile schließt aus, daß ‚die Wahrheit‘ nur durch den menschlichen Geist besteht

Daß die Ganzheit der Wahrheit sowie ihr notwendiges Dasein, die es unhaltbar machen, ein Entstehen und Vergehen der Wahrheit durch menschliches Urteilen zu behaupten, unmöglich erst durch die vom Menschen gedachten Urteile zu existieren beginnen kann, läßt sich auch daraus beweisen, daß jeglicher Fassung der Wahrheit im menschlichen Denken und Urteilen eine vielfältige Unvollkommenheit eignet, welche niemals ‚der Wahrheit selbst‘ zugeschrieben werden kann. Diese besitzt vielmehr eine sich deutlich von der Unvollkommenheit aller ihrer menschlichen Fassungen abhebende Vollkommenheit. Diese thesenhaft hingestellte Behauptung soll nun begründet werden. A. Mangel an Klarheit aller menschlichen Wahrheitsfassungen – Klarheit der ‚Wahrheit selbst‘: Wenn wir uns unvoreingenommen die Frage vorlegen, ob wir der Wahrheit einen Mangel an Klarheit, oder gar

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 425 Verworrenheit oder ein Vermischtsein mit Irrtümern zusprechen dürfen, wird die Antwort auf diese Frage ein eindeutiges ‚Nein‘ sein müssen. Ein solches ‚Nein‘ wäre jedoch durchaus unbegründet, ja völlig falsch, wenn die Wahrheit nur in menschlichem Denken oder durch menschliches Urteilen Bestand hätte. Denn keine menschliche Formulierung oder gedankliche urteilsmäßige Fassung von Sachverhalten ist von so perfekter Klarheit, daß sie nicht noch weiterer Klärung bedürfte oder dieselbe wenigstens erlaubte. Wäre die Wahrheit, die die letzte Quelle der Wahrheit von Urteilen ist, in ihrem Sein an menschliches Denken gebunden, könnte man daher von größerer oder geringerer Klarheit der Wahrheit selbst sprechen. Die Wahrheit selbst könnte dann sogar ausgesprochen unklar sein, wie die meisten menschlichen Aussagen, die in manchen Bedeutungen wahr, in anderen falsch sind. Man könnte die Wahrheit selbst – und zwar mithilfe menschlichen Denkens und Urteilens – klarer machen. All dies erweist sich jedoch als evident unsinnig, wenn das Wesen der Wahrheit auch nur oberflächlich verstanden wird. B. Mangel an Tiefe und weitere Unvollkommenheiten aller menschlichen Wahrheitsfassungen: Mangel an Tiefe in aller Fassung der Wahrheit durch den Menschen machen vom Menschen geformte Gedanken unfähig, Träger ‚der Wahrheit selbst‘ zu sein: Ferner sind alle – oder zumindest die meisten – menschlichen Formulierungen der Wahrheit durch einen begrenzten Grad von Tiefe oder sogar durch Oberflächlichkeit und Plattheit gekennzeichnet. Man wird häufig von Urteilen, die von Menschen gefällt werden, sagen müssen, sie seien zwar wahr, aber trivial, nicht tief genug, oberflächlich, usf. Wenn Wahrheit aber ausschließlich im menschlichen Denken oder in den von diesem erzeugten Urteilen ihren existentialen Ort hätte, wäre die Wahrheit selbst zu wenig tief, oberflächlich oder trivial. Auch dies ist evidentermaßen absurd. Eine gewisse Losgelöstheit der Wahrheit bzw. ihres begrifflich-urteilsmäßigen Trägers von den durch menschliches Denken gedachten bzw. denkend hervorgebrachten Begriffen erscheint daher unleugbar, will man die genannten Absurditäten vermeiden. C. Enge, Begrenztheit, Einseitigkeit, Unvollständigkeit etc. menschlicher Wahrheitsfassungen und ‚die Wahrheit‘: Auch andere Eigenschaften, die vielen oder allen menschlichen Fassungen von wahren Urteilen zukommen, widerstreiten dem Wesen der Wahrheit, bzw. können niemals

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der Wahrheit selber zugesprochen werden. So finden sich oft in menschlichen Urteilen Eigenschaften wie Enge, Begrenztheit, Einseitigkeit, Unvollständigkeit, übergroße falsche Nüchternheit, Verstiegenheit usf., bzw. der ‚objektivierte‘ Niederschlag solcher personaler Eigenschaften. Niemals aber lassen sich irgendwelche dieser Eigenschaften von der Wahrheit selbst aussagen. Thesen, wie daß die Wahrheit zu eng, einseitig, begrenzt, unvollständig, irreführend oder verstiegen sei, sind sinnwidrig, weil sie dem notwendigen Wesen der Wahrheit widersprechen. Die Wahrheit selbst ist vielmehr als unendlich weit, unbegrenzt, allumfassend, vollständig, als weder zu nüchtern noch überspannt usf. gegeben. Die Gebrechen und Grenzen, die der Wahrheit, wie sie in vom Menschen gefällten Urteilen erscheint, anhaften, können niemals der ‚Wahrheit selbst‘ zugeschrieben werden. Auch an dieser Stelle wird mancher (etwa ein aristotelisch und thomistisch erzogener, vielleicht auch ein empiristischer antiplatonischer) Denker einwenden: Was wir ‚die Wahrheit selbst‘ nennen, sei ja im Grunde bloß eine Abstraktion, die durch ein Auswählen bzw. ein einfaches abstrahierendes Absehen von der faktischen Totalität der Wirklichkeit zu Stande komme. Wir konzentrierten uns bloß auf einen Aspekt (Teil) bzw. auf einen allgemeinen Zug menschlicher Urteile, nämlich die Übereinstimmung derselben mit der Wirklichkeit. Wir nennen diese Urteile wahr eben in dem Maß und insofern sie mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Daher könne selbstverständlich nicht davon die Rede sein, daß die Wahrheit selbst oberflächlich, verwirrt etc. sei. Das schließe jedoch nicht aus, daß diese „Wahrheit selbst“ nur als ein Aspekt innerhalb des Ganzen des menschlichen Denkens und der von diesem erzeugten Urteile existiere. Denn ‚die Wahrheit selbst‘, das seien eben nur jene Aspekte bzw. ‚Teile‘ aller menschlichen Urteile, die mit der Wirklichkeit übereinstimmen und die deshalb nicht verwirrt, platt usf. sein können. Daher, so wird der Empirist diesen Einwand fassen, sei unser Argument rein tautologisch und entfalte nur in einem analytischen Urteil den Sinn des Wortes „Wahrheit“. In Antwort auf diesen Einwand sei folgendes bemerkt. Streicht man selbst alle Aspekte menschlichen Denkens bzw. der vom Menschen denkend gesetzten Urteile weg, die unvollkommen oder mit intellektuellen Mängeln und Übeln aller Art behaftet sind, und schreibt man zugleich – in positiver Hinsicht – alle Wahrheitsvollkommenheiten menschlicher Urteile

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 427 jenen Gedankenträgern zu, die die ‚Wahrheit selbst‘ tragen, so wird man finden, daß Wahrheit und der ‚ihr selbst‘ entsprechenden begrifflichen Träger eben eine dem menschlichen Denken und den von ihm hervorgebrachten Bedeutungseinheiten gegenüber durchaus unabhängige Wirklichkeit ist. Ohne einen chorismós, d. h. ohne eine vom menschlichen Denken und seinen Produkten losgelöste bzw. diese transzendierende Existenz von Wahrheit kann kein gedankliches Abstraktionskunststück der Welt jemals aus den von Menschen gefällten Urteilen die (reine) Wahrheit destillieren. Dies ist mindestens ebenso unmöglich, wie es unmöglich ist, das reine Wesen der ‚Liebe selbst‘ bzw. die notwendige und vollkommene Wesenheit (das eidos) der Liebe aus allen faktischen menschlichen Liebesbeziehungen durch Abstraktion zu erreichen. Ja, vielleicht wäre dies im Falle der Wahrheit noch weniger möglich wegen der allumfassenden Einheit und Transzendenz der Wahrheit, die sich ganz konkret auf alle Seinsbereiche, alle wirklichen und möglichen Sachverhalte erstreckt und alle inneren ‚Ordnungen‘ der Wahrheit umfaßt. 2.9. In welchen menschlichen Gedanken soll Wahrheit zu bestehen beginnen? Die Unmöglichkeit einer vernünftigen Antwort auf diese Frage erweist die Gegenthese als unhaltbar

Ein anderes Argument, das aus der Defensive in die Offensive hinüberführt, kann hier angeknüpft werden. Wird behauptet, daß Wahrheit allein im menschlichen Denken bzw. in den von diesem hervorgebrachten Gedankengebilden Bestand hat, so kann man fragen: In welchen Gedankengebilden, die der Mensch hervorbringt, soll denn die Wahrheit bestehen, bzw. welche dieser Gedanken sollen denn die Voraussetzung für das Bestehen der (Urteils-)Wahrheit sein? Etwa nur Urteile im strikten Sinn, die neben ihrer objektiven Wahrheit auch vom Urteilenden für wahr gehalten werden? Diese Antwort ist offenbar unbefriedigend, ja unhaltbar. Denn zweifellos sind viele Thesen wahr, obgleich sie nur ein einziger Mensch denkt und denkend lange erwägen, aber dabei vielleicht sogar für falsch halten mag. Ihre Wahrheit hängt ja ebensowenig davon ab, ob der Betreffende sie für wahr hält oder als wahr anerkennt, wie das Fürwahrhalten einer falschen These im Irrtum die falsche These zu einer wahren macht. Also kann – unter der Voraus-

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setzung der Abhängigkeit der Wahrheit vom menschlichen Denken – Wahrheit nicht nur in vom Menschen für wahr gehaltenen und urteilsmäßig aufgestellten, sondern auch in von ihm für falsch befundenen und verworfenen Thesen erstmalig Existenz gewinnen. Doch ist die Lage für den Vertreter der Gegenposition noch viel auswegloser, wenn er gefragt wird, ob Wahrheit etwa auch in irrigen Thesen erstmals zu existieren beginnen kann. Bedenkt er nämlich, daß in fast jedem Irrtum ein sogenanntes ‚Körnchen Wahrheit‘ enthalten ist, so folgt aus seiner Position, daß – wenn etwa eine von einer falschen Generalisierung implizierte „Teilthese“ wahr ist – Wahrheit ihre Existenz einer an sich falschen These verdanken kann, in der trotz ihrer eigenen Falschheit das sprichwörtliche „Körnchen Wahrheit“ steckt, das daher nach Meinung unseres Gesprächspartners erst durch das Aufstellen der irrigen These existiert. Der Anhänger der Gegenposition mag erwidern: Gewiß ist Wahrheit als objektive Übereinstimmung zwischen Urteilen und wirklich bestehenden Sachverhalten vom subjektiven Wahrheitsbewußtsein eines (denkenden) Menschen unabhängig – und dennoch verdankt sie menschlichem Denken ihre Existenz. Daß die in falschen Thesen mitgedachten Thesen Träger von Wahrheit sein können und Wahrheit erstmals im einem Irrtum innewohnenden ‚Wahrheitskörnlein‘ entsteht, ist ebensowenig ungereimt wie die Tatsache, daß die schönen Proportionen in einem vorwiegend häßlichen Gesicht ausschließlich in dem häßlichen Gesicht existieren. Die Schönheit an sich, von der Platon spricht, bleibt eine Illusion. Schönheit existiert nur in realen schönen Dingen. Das hindert aber nicht, daß alle schönen Dinge auch häßliche Züge tragen oder daß möglicherweise die häßlichen sogar überwiegen können, sodaß in solchen Fällen die Schönheit tatsächlich ihre Existenz den (überwiegend) häßlichen Dingen verdanken kann. Ebensowenig sei es dann widersprüchlich anzunehmen, daß die Wahrheit ihre Existenz Irrtümern verdanken könne, in denen sie als ‚Körnlein Wahrheit‘ steckt. Dieser Einwand ist jedoch nur scheinbar zwingend. Zunächst ließe sich auch im Falle der Schönheit zeigen, daß diese selbst eine unvergängliche Wesenheit besitzt und daß es unveränderliche Gesetze der Schönheit gibt, ohne welche kein konkretes Ding schön sein könnte. Das hindert zwar nicht, daß Schönheit erst in einem überwiegend häßlichen Ding reale

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 429 Existenz erlangen kann, aber es zeigt, daß man nur in einem sehr begrenzten Sinn behaupten darf, daß Schönheit ihre Existenz ausschließlich einem (vorwiegend) häßlichen Ding verdanken könne. (Wir sehen in diesem Zusammenhang davon ab, daß es neben der Wesenheit und den ‚Regeln‘ der Schönheit, welche nicht schaffbar oder machbar sind, auch eine absolute wandellose und vollkommene Schönheit geben muß, wie Platon insbesondere im Symposium entwickelt; auch dieser Punkt wird vom hier behandelten Einwand keineswegs widerlegt.) Abgesehen davon also, daß außerdem Schönheit niemals ausschließlich einem häßlichen Ding seine Existenz verdankt, besteht auch zwischen Schönheit und Wahrheit ein großer Unterschied, der jeden allzuschnellen Vergleich verbietet. Während es nämlich im Bereich des Schönen die volle Dualität zwischen idealen Wesenheiten und Gesetzen der Schönheit einerseits und voll verwirklichter Schönheit in sinnlichen und geistigen Seienden andererseits gibt, besteht eine derartige Dualität nicht in derselben Weise in bezug auf Wahrheit. Die Wahrheit ist ein viel konkreteres Ganzes (in dem alle Teilwahrheiten innerlich vereint sind) als die Schönheit. Die konkretere Existenz der Wahrheit (und auch ‚der Schönheit‘) – zumindest was deren Gegebenheit betrifft, bei deren Betrachtung wir von einer rein spekulativ erfaßbaren höchsten Identität von absoluter Wahrheit und Schönheit absehen – äußert sich auch darin, daß jede Formulierung der Wahrheit viel eher als eine Teilhabe an der Wahrheit bzw. als unvollkommene Manifestierung derselben erscheint denn als eine eigentlichere Verwirklichung der sonst bloß als ‚Idee‘ bestehenden Wahrheit. Darauf wurde bereits hingewiesen. Im Falle der Schönheit verhält es sich insofern umgekehrt als dort die Schönheit schöner Dinge durchaus als eine eigentlichere Verwirklichung der Schönheit erfahren wird als die Wesenheit und idealen Gesetze der Schönheit als solche, die im Vergleich zur ‚wirklichen Schönheit‘ zwar als wichtiger als schöne Dinge, aber im Vergleich mit diesen dennoch als eher abstrakt, rein ‚ideal‘ und unwirklich anmuten. (Damit soll nicht geleugnet werden, daß es im Falle der Wahrheit in anderer Weise und sogar in verschärfter Form das Realitäts- bzw. Realisierungsproblem gibt; darauf werden wir noch zurückkommen. Noch soll hier geleugnet werden, daß letztlich auch die Schönheit selbst voll real sei. Es geht uns hier bloß um eine phänomenologische Analyse in einem Sinne, der jeder spekulativen

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metaphysischen Erkenntnis des Absoluten vorausliegt.) Die Wahrheit scheint ihrem Wesen nach in ihrem eigentümlichen ‚Bestehen‘ nicht darauf angewiesen zu sein, daß sie von Menschen in unvollkommenerer oder vollkommenerer Weise urteilsmäßig ‚verwirklicht‘ wird. Dieser Sachverhalt enthüllt sich noch deutlicher, bedenkt man, daß Wahrheit sich eindeutig nicht nur in für wahr oder falsch gehaltenen Urteilen oder auch im ‚Wahrheitskörnchen‘ falscher Thesen, sondern auch in bloß von Romanhelden gedachten „quasi-wirklichen“ Urteilen finden kann.516 Sogar jenen Gedanken, die Ingarden als QuasiUrteile von quasi-wirklichen Urteilen abgrenzt und die z.B. der Autor bzw. die ‘persona’ in einem Roman vorträgt, um die fiktive Welt aufzubauen und die daher selber gar keinen Wahrheitsanspruch machen, wie Ingarden scharfsinnig nachgewiesen hat, kann doch objektiv Wahrheit ‚entsprechen‘, wenn sie nicht als Quasiurteile, sondern als echte Urteile genommen werden.517 Zwar ist es unmöglich, jenen Quasiurteilen, in denen Dostojewski seine Welt aufbaut, selber Wahrheit zuzuschreiben, da sie gar keinen Wahrheitsanspruch erheben und nur der Erfindung der dargestellten Objektivitäten dienen, aber wenn man an die Stelle solcher Quasiurteile, die als solche nicht wahr oder falsch sein können, ein wirkliches Urteil desselben Inhalts setzt, was möglich ist, so kann dieses wahr sein, sodaß die Existenz der Wahrheit sogar von Quasi-Urteilen eines Romanhelden oder von den unwirklichen Urteilen eines Romanhelden abhängen könnte.518 Aber soll man dann behaupten, diese Wahrheit existiere erst 516

517

518

Den Unterschied zwischen quasi-wirklichen Urteilen bzw. den irrealen Urteilen literarischer Figuren und den Quasi-Urteilen des Schriftstellers bzw. der ‘persona’ in einem Roman macht Ingarden in Das literarische Kunstwerk, a.a.O., Kap. v. (II. Teil). Ingarden handelt a.a.O. zwar von einer Entsprechung zwischen den dargestellten Gegenständen eines historischen Romans und der Wirklichkeit, weder aber von der Möglichkeit, in einem literarischen Kunstwerk buchstäblich wahre Urteile anstatt von Quasi-Urteilen zu verwenden, die m. E. besteht, noch von der möglichen „Transformation“, durch die ein Quasi-Urteil als wirkliches genom men werden und als solches wahr sein kann, auch wenn es in einem Roman z.B. nicht als echtes Urteil gemeint ist. Vgl. Josef Seifert, “Ingarden’s Theory of the Quasi-Judgment”, zit. Wahrheit und Falschheit von Urteilen hat ja, im Gegensatz zu Erkenntnis und Irrtum, eine eigentliche Unabhängigkeit vom Bewußtsein denkender Subjekte.

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 431 dann, wenn sie einem Quasiurteil in einem Roman entspricht? Und doch müßte man dies wohl behaupten, wenn die Existenz der Wahrheit von Urteilen abhängen soll, die von Menschen tatsächlich gedacht werden? Von da ist ferner der Übergang zu schlechthin ungedachten Gedanken nicht mehr groß; wenn offenbar nicht wirklich gedachte Gedanken von Romanfiguren und sogar die den Quasiurteilen korrespondierenden Urteile wahr oder falsch sein können, so auch überhaupt ungedachte Gedanken. Es ist in Wirklichkeit weder möglich, die Wahrheit auf jene Wahrheiten zu beschränken, die den vom Menschen tatsächlich gefällten Urteilen als deren Prädikat zuzuschreiben sind, noch auf jene ‚Wahrheiten‘, die als Eigenschaften solcher Thesen auftreten, die von Menschen zwar für falsch gehalten werden, aber doch objektiv wahr sind, noch auch auf jene Wahrheit, die sich in den unwirklichen Urteilen oder sonstigen Gedanken finden, die im literarischen Kunstwerk enthalten sind oder die den QuasiUrteilen entsprechen, die vom Autor weder als wahr noch als (wirklich) falsch hingestellt werden, sondern die Romanwelt erzeugen sollen, dennoch aber objektiv wahren oder falschen urteilen entsprechen können. Besteht aber die Wahrheit eindeutig in dem Sinne objektiv und vom menschlichen Denken unabhängig, daß sie vom Menschen nicht als Wahrheit erkannt oder behauptet zu werden braucht, um doch in vom Menschen gedachten oder erwogenen Thesen zu bestehen, wie soll dann ernsthaft behauptet werden, daß Wahrheit trotz dieser ihrer weitreichenden und offenkundigen Unabhängigkeit von menschlichem Urteilen dennoch in ihrem Bestand davon abhänge, ob ein Mensch in seinen kontingenten und zufälligen Urteilen, oder in ganz anderen Gedankengebilden als Urteilen, ja sogar in seinen Irrtümern, zufällig auf sie stößt? 2.10. ‚Sprachanalytische‘ Argumente bekräftigen die Erkenntnis, daß der Bestand von Wahrheit nicht von menschlichen Urteilen abhängt

Auch sprachanalytische Untersuchungen zeitigen Ergebnisse, die dafür sprechen, daß Wahrheit nicht bloß als Eigenschaft vom Menschen hervorgebrachter Urteile bestehen kann. „Sprachanalyse“ wird im folgenden in dem Sinne verstanden, daß der ‚normale Sprachgebrauch‘ untersucht, bzw. das herausgearbeitet wird, was diesem entspricht; zugleich werden solche Reden und Redewendungen aufgezeigt, die dem gewöhnlichen Sprach-

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gebrauch und einem innerlicheren ‚philosophischen Sprachgefühl‘ zuwiderlaufen. Wittgenstein hat wohl mit Recht, wenn auch ohne die nötigen Unterscheidungen durchzuführen, von der „Tiefengrammatik“ der Sprache geredet und dieselbe der „Oberflächengrammatik“ der Sprache gegenübergestellt.519 Uns geht es im folgenden um eine Erforschung der Gesetze dieser „Tiefengrammatik“ der Sprache bzw. jener Gesetze der Sprache, durch deren Mißachtung „unmögliche“ und „absurde“ oder widersprüchliche Reden zustandekommen. Dabei halten wir Sprachanalyse als solche – bei aller Verwandtschaft ihrer Methode des verstehenden Eindringens in Sinnzusammenhänge mit den Methoden der Philosophie – nicht selber für Philosophie. Die echt philosophische Relevanz der Sprachanalyse liegt daher unserer Meinung nach in folgendem: Was dem Gebrauch einer gesprochenen „normalen“ Sprache oder einer ungekünstelten und richtig interpretierten literarischen Sprache, oder auch den in Wortstämmen und Wortformen objektivierten Gedanken entspricht, muß philosophisch daraufhin untersucht werden (was nur durch – eine der Sprachanalyse transzendente – Philosophie geschehen kann), ob darin eine in der Sprache objektivierte Weisheit ausgedrückt wird, die über die ‚Sachen selbst‘ spricht und uns auf Fakten aufmerksam macht, die uns ohne eine genaue Analyse von Redewendungen u. dgl. leicht entgingen. In diesem Sinne, in dem bereits Platon und Aristoteles häufig Sprachanalysen philosophisch nutzbar machten, wollen auch wir sie heranziehen und als eine wertvolle Quelle philosophischer Erkenntnis achten, die aber nie ein Substitut für die Wesenserkenntnis sein darf, sondern gerade zu dieser hinführen soll.520 Während uns dabei das dem normalen Sprachgebrauch Entsprechende oft über diesen immanenten Sprachgebrauch hinaus auf sachliche Wahrheit hinweist, machen uns häufig andere Redewendungen, die bestimmten 519

520

Zu diesem Begriff Wittgensteins vgl. W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, 4. erw. Auflage, (Stuttgart: Kröner, 1969), S. 586, 698, 704 ff. Vgl. dazu auch B. Schwarz, “The role of linguistic analysis in error analysis”, S. 127-132, und meine „Sprache und Wahrheit. Zum Verhältnis zwischen Satz, Urteil und Sachverhalt“, in: Alex Burri (Hg.), Sprache und Denken/ Language and Thought (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1997), S. 301-324; sowie “Texts and Things”, in: Annual ACPA Proceedings (1999), Vol. LXXII, 41-68.

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 433 Theorien entsprechen müßten, die aber dem akzeptablen Sprachgebrauch widersprechen, auf der Sprache selbst durchaus transzendente objektive Wesensunmöglichkeiten aufmerksam. Solche Wesensunmöglichkeiten können leichter erfaßt werden, wenn zunächst die Sprache und ihre „Tiefengrammatik“ erforscht wird. Dabei dürften die folgenden Argumente auch vom analytischen Philosophen anerkannt werden, ohne daß er ihre eigentliche philosophische Relevanz als über die Sprache hinausweisend und zu einer evidenten Erkenntnis über die wirkliche Welt führend bejahte, oder eine solche Untersuchung, deren höchster Maßstab die Evidenz der ‚Sachen selbst‘ und nicht der Sprachgebrauch ist, überhaupt für nötig erachtete. Ich möchte drei Argumente für das von menschlichen Urteilen unabhängige Bestehen der Wahrheit, die unsere Urteile wahr macht, aus einer Sprachanalyse bringen, die m.E. auf die Evidenz hinweist, daß die Wahrheit unabhängig von ihrer ‚Verkörperung‘ in von Menschen gefällten Urteilen besteht: (1) Es gibt eine Fülle von Redewendungen, die durchaus gebräuchlich sind und beim gewöhnlichen Sprachbewußtsein keinerlei Anstoß erregen, und die zugleich unsere Auffassung von der Unmöglichkeit, daß Wahrheit sich nur als Eigenschaft vom Menschen gefällter Urteile konstituiere, bestätigen. Man denke an Redewendungen oder in der Literatur häufig vorkommende Ausdrücke wie: jemand hat eine wichtige Wahrheit entdeckt (wo ihr Vorgegebensein dem Geist gegenüber vorausgesetzt wird); dieser Mensch besitzt eine sehr unvollständige Erkenntnis der Wahrheit (wobei deren Überlegenheit über menschliche Fassungen derselben angenommen wird); ich sehne mich nach der vollen Wahrheit (hier wird impliziert, daß deren Fülle alles uns Zugängliche übersteigt); die Wahrheit bleibt immer und ändert sich nicht (wobei vorausgesetzt wird, daß sie nicht historisch entsteht und vergeht); das Licht der Wahrheit fällt auf eine Sachlage oder wir bemühen uns, etwas mehr ‘im Licht der Wahrheit’ zu begreifen, soweit uns dies möglich ist (durch welche Redewendung angesetzt wird, daß dieses ‚Licht‘ der Wahrheit unsere Erkenntnis derselben übersteigt); die Wahrheit ist ihm endlich aufgegangen (bei diesem Ausdruck wird nicht notwendig auf die Erkenntnis anderer Menschen Bezug genommen, wohl aber angenommen, daß die Wahrheit, die uns aufgeht, schon bestanden hat, bevor sie uns aufging), usf. (2) Noch viel deutlicher sind jedoch die negativen Hinweise der

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KAPITEL 4

Sprachanalyse. Im Versuch, Redeweisen zu konzipieren, wie sie der Gegenposition entsprächen, zeigt sich, daß diese eindeutig die „Tiefengrammatik“ der Alltagssprache und jedes sinnvollen Sprachgebrauchs sosehr verletzen, daß sie niemals zu Hoffnungen auf allgemeine Einbürgerung in den Sprachgebrauch berechtigen können. Solche Redewendungen wären etwa die folgenden: Seit dem Erscheinen von Aristoteles’ Schriften über Ursachen und Substanz gibt es die Wahrheit über Kausalität und Substanz; im 18. Jahrhundert ging die Wahrheit über den Menschen unter; ein wichtiger Teil der Wahrheit wurde von der modernen Naturwissenschaft und Philosophie erstmals hervorgebracht; vor hundert Jahren existierte die Wahrheit über Mikrophysik noch nicht, usf. Die in die Augen springende Unpassendheit und Anstößigkeit solcher Wendungen, die wohl niemals allgemein sprachbildend werden können, weist uns, so meine ich, auf eine ursprünglichere, in der Sprache nur niedergelegte Evidenz hin, daß eben Wahrheit nicht alleine als Prädikat menschlicher Urteile existieren kann. Die Gründe für diese sachliche Evidenz wurden bereits dargelegt. (3) Ein drittes aus der Sprachanalyse (im erörterten Sinn und mit allen erörterten ‚philosophischen Grenzen‘ solcher linguistischen Reflexionen) zu gewinnendes Argument für unsere Position ist dieses, daß es keine Fälle eines gewöhnlichen Sprachgebrauchs zu geben scheint, die die Gegenseite für ihre Position in Anspruch nehmen könnte. 3. Direkte Einsicht in die Transzendenz ‚der Wahrheit selbst‘ gegenüber ihrer ‚Verkörperung‘ in menschlichen Urteilen und ihrer weiteren Wesenseigenschaften als Ziel aller ‚dialektischen Argumente‘ In sehr verschiedener Weise – und in sehr verschiedenem Maß innerer Überzeugungskraft – führen alle ausgeführten Argumente zu dem Schluß, daß Wahrheit unabhängig von ihrem Auftreten als Eigenschaft menschlicher Gedankenprodukte besteht. Jetzt gilt es jedoch noch darauf hinzuweisen, daß es bei den vorgebrachten Argumenten für diese Tatsache nicht bloß um eine Konklusion aus zahlreichen Prämissen geht, die durch eine Reihe deduktiver Argumente gewonnen wurde. Vielmehr, so soll gezeigt werden, enthüllt

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 435 sich die eigenartige ideale (und vom Menschen unabhängige) Existenz und das Wesen der Wahrheit letztlich in einer direkten intuitiven Wesenserkenntnis. In der hier gemeinten Erkenntnis des Wesens von Wahrheit erschließt sich unmittelbarer als durch Deduktionen, daß Wahrheit in ihrer inneren Notwendigkeit des Wesens und Bestehens unmöglich vom menschlichen, historischen und kontingenten Denken abhängen kann. Der bereits von Aristoteles in der Zweiten Analytik und anderswo hervorgehobene Primat des unmittelbaren Erkennens vor allem deduktiv vermittelten manifestiert sich hier in besonderer Weise. Wir begegnen dabei einer Bestätigung der Ausführungen Platons über die dialektische Methode, denen zufolge am Ende einer langwierigen Kette von Schlußfolgerungen gleichsam als deren höchstes Ziel eine unmittelbare Schau steht. (Man denke etwa an Diotimas Rede im Symposium oder an den Siebenten Brief.) Auch Anselms „ontologisches Argument“ hat eine ähnliche Aufgabe: das, was indirekt durch viele Beweisketten dargelegt wurde, nun auch unvermittelter und direkter zu schauen.521 Dieser Auffassung über die dialektische Methode der Philosophie gemäß steht also die unmittelbare Erkenntnis (die noesis Platons und der nous des Aristoteles) nicht bloß am Anfang jedes Beweises in Form der Erkenntnis der Wahrheit der ersten Prinzipien und Prämissen philosophischer Argumente, sondern auch an deren Ende. Nur der Leser vermag sich selbst zu überzeugen, ob die in diesem Sinne gemeinten folgenden Ausführungen mehr als bloße Wiederholungen der bisher in Form von ‚Konklusionen‘ aus evidenten Prämissen erreichten Ergebnisse darstellen: nämlich den Ausdruck unmittelbar evidenter Erkenntnisse über die Wahrheit selbst. Wahrheit, die vom Menschen gefällte Urteile „wahr macht“, ist wesenhaft mehr als die Wirklichkeitsgemäßheit vom Menschen gefällter Urteile. Sie besteht in unzeitlicher Weise und ist also auch nicht ein Prädikat der vom Menschen gedachten Urteile, die in der Zeit entstehen. Wahrheit kann erst recht nicht einmal entstehen und dann wieder vergehen wie menschliche Urteile und die diesen zukommende Wahrheit als deren Entsprechung mit der Wirklichkeit. Noch kann Wahrheit selbst partiell entstehen und partiell vergehen wie die menschlichen Urteilen real anhaftende Entsprechung mit der Wirklichkeit. Vor allem ist ‚die‘ 521

Vgl. dazu Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis2, Kap. 12.

436

KAPITEL 4

Wahrheit ein geordnetes Ganzes von einer Sublimität, Strukturiertheit und Ordnung, durchwaltet von logischen Abhängigkeiten und Implikationen aller Art – und diese Wahrheit existiert niemals voll in Urteilen und Gedanken von Menschen. Die Wahrheit ist kraft dieser ihrer Wesenseigenschaften notwendig dem menschlichen Geist gegenüber transzendent. Auch ist Wahrheit eine einzige, dieselbe zu allen Zeiten und an allen Orten, oder vielmehr überzeitlich, überörtlich. Daher kann sie auch nicht bloß Eigenschaft von Urteilen sein, die der Mensch zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten bildet und die – insoferne sie vom Menschen hervorgebracht werden – niemals jene absolute Einheit und Universalität begründen können, die wir in der Wahrheit antreffen.522 Aus diesen und anderen Erwägungen über das gegebene Wesen der ‚Wahrheit selbst‘ erschließt sich immer klarer, daß die vom Menschen gedachten und von ihm abhängigen Urteile (Urteilsgebilde) Wahrheit in Form der Teilhabe an etwas tragen, was sie selber ganz überragt, ja was in einer formalen und qualitativen Bedeutung des Wortes unendlich ist und daher den Menschengeist unendlich übersteigt. Die umfassende logische und innere Einheit der Wahrheit erschließt sich als etwas, das nicht in Form einer buchstäblichen Eigenschaft jener Urteile allein verwirklicht werden kann, die vom Menschen gebildet, gefällt, oder auch nur denkend berührt werden. Auch hat sich eindeutig erwiesen, daß Wahrheit besteht, ob der Mensch sie in seinen Urteilen verwirft oder anerkennt, was alles offenkundig unmöglich von der Wahrheit ausgesagt werden dürfte, wenn sie und insoferne sie vom Menschen gefällten Urteilen real als deren Eigenschaft der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zukäme. Freilich bedürfte diese Wesensschau, die erschließt, daß Wahrheit nicht eine Eigenschaft der vom Menschen gefällten Urteile ist, sowie der in diesem Zusammenhang verwendete Begriff der ‚Teilhabe‘ der Klärung. Sicherlich soll keineswegs behauptet werden, daß die vom Menschen gefällten Urteile nicht wirklich wahr sind, daß ihnen Wahrheit nicht real zukommen würde. So unvollständig die in ihnen verkörperte Wahrheit auch sein mag, so sind sie doch wahr und kommt Wahrheit ihnen real zu als ihre 522

Thomas schließt, es gäbe zwei Formen der Wahrheit – eine geschaffene, endliche, fragmentarische in den von Menschen gedachten Urteilen, eine ewige vollkommene im göttlichen Geiste.

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 437 Eigenschaft. Auch ist die ‚unvollständige‘ Wahrheit menschlicher Aussagen doch ‚ganz wahr‘ und radikal von Irrtümern verschieden, da z.B. die Aussage „Der Mensch ist der Erkenntnis fähig“ durch keine ergänzende Erkenntnis oder absolute Erkenntnis je entkräftet werden könnte und daher vervollständigungsbedürftig, jedoch ‚durch und durch wahr‘ ist. Doch ist dieses wirkliche und volle Wahrsein von Urteilen, die wir fällen, nicht identisch mit der Wahrheit in ihrer Fülle oder auch nur mit jener ‚Dimension‘ der Wahrheit, die das von uns gefällte Urteil wahr macht. Die Wahrheit selbst besteht schon vor unserer Urteilsfällung; und es ist in dem Maße, in dem unsere Urteile jene in der ‚Wahrheit selbst‘ immer schon perfekt enthaltene Übereinstimmung mit der Wirklichkeit auch besitzen, daß sie wahr sind. ‚Teilhabe‘ bedeutet hier also den kontingenten und unvollkommenen Besitz jener ‚Eigenschaft‘: Wahrheit, die schon vor ihrer Verwirklichung in unserem Urteil besteht, bzw. die unser Urteil nicht selbst verwirklicht, sondern nur ‚ausdrückt‘ und gleichsam als ‚geliehene‘ besitzt. Die ‚Wahrheit selbst‘ ist auch als vollkommen gegeben; nichts Unvollkommenes ist in ihr, während Unvollkommenheit irgendwelcher Art uns an aller Wahrheit, insoferne sie real vom Menschen geformten Urteilen anhaftet, entgegentritt. Die Wahrheit selbst ist klar, durch und durch klar, sodaß sie durch nichts – es sei denn durch ein Anderssein der Wirklichkeit, in der alles wenig Intelligible und ‚Obskure‘ wegfiele – klarer werden könnte. Diese claritas veritatis bildet einen Kontrast zur Unklarheit, wie sie sich in menschlichen Urteilen und der in ihnen realisierten Wahrheit findet.523 Die ‚Wahrheit selbst‘ ist auch immerwährend tief, während die in menschlichen Urteilen ‚gefaßte‘ Wahrheit bzw. der Ausdruck und die gedankliche Fassung der Wahrheit in vom Menschen geformten Urteilen oft mehr oder minder oberflächlich ist.524 523

524

Bei Augustinus, Thomas und anderen mittelalterlichen Philosophen, aber auch bei Descartes finden sich viele Texte über die innere Klarheit der Wahrheit selbst, bei Thomas vor allem im Zusammenhang der Identifizierung dieser klarsten Wahrheit mit der höchsten Intelligibilität Gottes und der göttlichen Erkenntnis, etwa in Comp. Theol., I, 106. Mit Augustinus betrachtet auch Thomas von Aquin diese Wahrheit als etwas so Vollkommenes, daß seine Schau der Gegenstand der Hoffnung auf die Seligkeit sei:

438

KAPITEL 4

So hat sich im Laufe dieser Untersuchungen Schritt für Schritt deutlicher erwiesen, daß Wahrheit etwas „über dem Menschen“ ist, eine Fülle, die dem menschlichen Geist nur partiell zugänglich wird, während sie selbst in sich ‚ganz‘ und unzeitlich und keineswegs fragmentarisch ist, wie Augustinus unnachahmlich schön formuliert und dabei die Transzendenz der Wahrheit über alles, was der menschliche Geist von ihr in Urteilen verkörpern kann, zum Ausdruck bringt: Gehe nicht nach außen, kehre zu dir selbst zurück. Im inneren Menschen wohnt die Wahrheit, und wenn du deine Natur als veränderlich entdeckst, gehe auch über dich selbst hinaus. Aber bleibe dir bewußt, daß du, wenn du über dich hinausgehst, auch über dich als eine vernünftig denkende Seele hinausgehen mußt. Strebe also dahin, wo das Licht der Vernunft selbst entzündet wird. Denn gelangt nicht jeder, der die Vernunft gut gebraucht, zur Wahrheit? Da die Wahrheit nicht durch Vernunftschlüsse zu sich selbst gelangt, sondern vielmehr selbst das Ziel ist, nach dem der vernünftig denkende Mensch verlangt, so schaue du hier die Übereinstimmung, wie es keine höhere geben kann, und stimme dann auch du mit ihr überein. Gib zu, daß du nicht bist, was sie ist: Sie sucht sich nicht selbst, du aber gelangst als Suchender zu ihr, nicht im Raum, sondern durch die Sehnsucht deines Geistes, so daß sich der innere Mensch mit der innewohnenden Wahrheit vereinigen mag in einer Freude, die nicht niedriger fleischlicher, sondern höchster geistiger Art ist... Das vernünftige Denken schafft nicht die Wahrheit, sondern findet sie vor. Bevor sie gefunden wird, besteht sie bereits in sich selbst, und wenn sie gefunden ist, erneuert sie uns.525 Cognitio enim veritatis est res speranda, cum beatitudo nihil aliud sit quam gaudium de veritate, ut dicit Augustinus in libro confessionum. 525

Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, q. 14, a. 2, co. De Vera Rel. XXXIX,72 f.: ‘Noli foras ire, in te ipsum redi. In interiore homine habitat veritas. Et si tuam naturam mutabilem inveneris, transcende et te ipsum. Sed memento, cum te transcendis, ratiocinantem animam te transcendere. Illuc ergo tende, unde ipsum lumen rationis accenditur. Quo enim pervenit omnis bonus ratiocinator nisi ad veritatem? Cum ad se ipsa veritas non utique ratiocinando perveniat, sed quod ratiocinantes appetunt ipsa sit, vide ibi convenientiam, qua superior esse non possit, et ipse conveni cum ea. Confitere te non esse, quod ipsa est – si quidem se ipsa non quaerit. Tu autem ad eam quaerendo venisti non locorum spatio, sed mentis affectu, ut ipse interior homo cum suo inhabitatore non infima et carnali, sed summa et spirituali voluptate conveniat... Non enim ratiocinatio talia facit, sed invenit. Ergo antequam inveniantur, in se manent, et cum inveniuntur, nos innovant.’

Augustinus, de ver. rel., lib un., 72. Diese Stelle wird auch am Abschluß von

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 439 Aus dem philosophisch zugänglichen Wesen der Wahrheit scheint sich damit ein philosophisch faßbarer Sinn jenes Satzes aus dem Prolog des Johannes-Evangeliums zu ergeben, daß die Wahrheit ein Licht ist, das jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt. Somit erweist eine phänomenologische Wesensanalyse der Wahrheit und ihrer Prädikate, daß ihre Wesenseigenschaften und ihr (ideales) Bestehen (Existieren) ausschließen, daß Wahrheit menschlichem Urteilen und Denken ihre Existenz verdankt. In der Wahrheit kündet sich ein ‚reines Sein‘ und ein ‚absoluter Geist‘ an, die dem unvollkommenen, zeitlichen und kontingenten Wesen und Sein des Menschen unendlich überlegen sind. Die angedeutete tiefer eindringende Untersuchung würde dann auch enthüllen, daß die ‚reinen und idealen‘ Begriffe einer Begriffssphäre höherer und übermenschlicher Ordnung angehören, an der die vom Menschen verwendeten Begriffe nur in begrenzter Weise teilhaben. Die ‚Wahrheit selbst‘ kann daher prinzipiell nicht von den vom Menschen gedachten und geformten Begriffen „getragen“ werden, die sich für eine solche erhabene „Aufgabe“ als völlig unzulänglich herausstellen würden. Während nun ‚die Wahrheit‘ von dieser überzeitlichen idealen Begriffssphäre, bzw. von den aus ihr gebildeten höheren Bedeutungseinheiten und Urteilen getragen wird, setzen falsche Thesen nur die vom Menschen geformten und gedachten Begriffe mit allen ihren Unzulänglichkeiten und dem Fehlen echter Unzeitlichkeit oder Überzeitlichkeit voraus; allerdings gibt es kein menschliches Urteil und nicht einmal ein irriges Urteil, das so falsch wäre, daß es nicht wenigstens durch seine Implikationen und Voraussetzungen, vielleicht aber auch in seiner ausdrücklichen Formulierung, wenn auch in unvollständiger und unvollkommener Form, an diesem Licht der reinen Wahrheit partizipiert und etwas von dieser enthält, das dann in jenem überzeitlichen Sinne der Wahrheit selbst absolut wahr und Husserls Cartesianischen Meditationen zitiert, allerdings nur der erste Satz, ohne die so oft wiederholte Äußerung Augustins, wir müßten uns selbst transzendieren, um die Wahrheit zu erkennen. Zu einem Vergleich zwischen dem wirklichen Sinn dieser Augustinusstelle und Husserls immanentistischer Interpretation derselben siehe auch J. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit2, und Ludger Hölscher, Die Realität des Geistes. Eine Darstellung und phänomenologische Neubegründung der Argumente Augustins für die geistige Substantialität der Seele (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1999), Kap. 2.

440

KAPITEL 4

Teil von ihr ist. 4. Antwort auf Einwände An dieser Stelle der Diskussion könnten eine Reihe von Einwänden gegen unsere Thesen über den ontologischen Status der Urteilswahrheit erhoben werden, die wir darstellen werden und hernach zu entkräften versuchen wollen. 4.1. Der erste Einwand: Alles, was wir von zeitlosen und von menschlichen Gedanken unabhängigen Wahrheiten gesagt hätten, gelte auch von zeitlosen Falschheiten – eine Art reductio ad absurdum oder wenigstens Einschränkung der positiven Bedeutung unserer Argumentation für das zeitlose Bestehen der Wahrheit

Diesem Einwand zufolge ließe sich alles oder das meiste, was wir über die Wahrheit sagten, auch auf Falschheiten und Irrtümer anwenden. Dieser Einwand besagt, wir hätten „zu viel“ bewiesen, was entweder eine Ausweitung unserer Position auf alle falschen Urteile verlange und damit ihre Bedeutung wesentlich einschränke, weil man dasselbe, was wir von der Wahrheit sagten, auch von falschen Urteilen sagen könne, oder aber unsere Argumentation ad absurdum führe. Denn es könnten ja doch auch Philosophen der verschiedensten Epochen, wie sie ‚dieselbe Wahrheit‘ formulieren können, so auch ‚denselben Irrtum‘ begehen, der daher ebenfalls eine zeitlose Existenz besitzen und eine zeitlose ‚Falschheit‘ sein müßte und nicht bloß als Eigenschaft von Urteilen auftreten könnte, die vom Menschen gefällt werden oder wurden. Auch Husserls Position in den Logischen Untersuchungen behauptet ja eine „Idealität der Bedeutungen“ trotz der schwankenden Wortbedeutungen, und diese zeitlose Idealität reiner Bedeutungen muß von der Frage der Wahrheit jener Urteile und komplexen Bedeutungseinheiten, die jedes Urteil ausmachen, ganz unabhängig sein und sich ebenso in falschen Urteilen finden. So führt Husserls Position in ihrer Konsequenz in der Tat in die Richtung einer Behauptung zeitlos und rein ideal bestehender

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 441 falscher 526

Urteile.526

In

diesem

Sinne

versucht

Mark

Roberts527

Vgl. dazu Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Band I und II, 1, 1, „Ausdruck und Bedeutung“. Auch Anselm von Canterbury vertritt in seiner Schrift De veritate eine ähnliche Auffassung, auf die Thomas von Aquin in Quaestiones disputatae de veritate, q. 1, a. 1, AG 3 Bezug nimmt: Praeterea, Anselmus in Lib. De veritate sic argumentatur: si plurium verorum sunt plures veritates, oportet veritates variari secundum varietates verorum. Sed veritates non variantur per variationem rerum verarum, quia destructis rebus veris vel rectis adhuc remanet veritas et rectitudo, secundum quam sunt vera vel recta. Ergo est una tantum veritas. Minorem probat ex hoc quia, destructo signo, adhuc remanet rectitudo significationis, quia rectum est ut significetur hoc quod illud signum significabat; et eadem ratione, destructo quolibet vero vel recto, eius rectitudo vel veritas remanet.

Thomas selber (ibid., RA 3) meint, eine solche zeitlose oder ewige Wahrheit ausschließlich auf Grund der Gotteserkenntnis annehmen zu dürfen, indem er die spezifische Wahrheit des Urteils nur im Geist begründet sieht: Ad tertium dicendum, quod veritas quae remanet destructis rebus, est veritas intellectus divini; et haec simpliciter est una numero: veritas autem quae est in rebus vel in anima, variatur ad varietatem rerum.

Allerdings ist auch hier Thomas, in seinem Versuch einer synthetischen Gesamtschau all dessen, was seine Vorgänger geleistet haben, nicht leicht richtig zu interpretieren. So scheint er in den Responsiones von Quaestiones disputatae de veritate, q. 1, a. 5, RA 5, die augustinisch-anselmischen Argumente für die Ewigkeit der Wahrheit aus deren Wesen für richtig zu befinden und gerade aus der evidenten Unmöglichkeit des Nichtbestehens der Wahrheit auf deren Ewigkeit (in der “prima veritate” im göttlichen Geist zu schließen, und nicht umgekehrt aus dem Beweis eines ewigen Geistes auf die Existenz der ewigen Wahrheit: Non autem non esse rei, sed quidquid veritatis ei attribuitur est ex parte intellectus. Cum dicitur ergo: veritatem non esse, est verum; cum veritas quae hic significatur, sit de non ente, nihil habet nisi in intellectu. Unde ad destructionem veritatis quae est in re, non sequitur nisi esse veritatem quae est in intellectu. Et ita patet quod ex hoc non potest concludi nisi quod veritas quae est in intellectu, est aeterna; et oportet utique quod sit in intellectu aeterno; et haec est veritas prima. Unde ex praedicta ratione ostenditur, sola veritas prima esse aeterna.

Für dieselbe Ansicht gibt es zahlreiche andere Belegstellen. Dennoch bleibt die Position des Aquinaten nicht leicht durchschaubar, da er im Kontext seiner expliziten Behandlung des sogenannten Veritas-Arguments für die Existenz Gottes (das auch dem ontologischen Gottesbeweis nahesteht) ebd., q. 10, a. 12, RA 3, leugnet, daß man aus der Erkenntnis der Ewigkeit des Wahrheit Gottes Existenz beweisen könne: Ad tertium dicendum, quod veritas supra ens fundatur; unde, sicut ens esse in communi est per se notum, ita et etiam veritatem esse. Non est autem per se notum nobis, esse aliquod primum ens quod sit causa omnis entis, quousque hoc vel fides accipiat, vel demonstratio probet; unde nec est per se notum omnem veritatem ab aliqua prima veritate esse.

442

KAPITEL 4

nachzuweisen, daß aus meiner Position folgen würde, gleichfalls die zeitlose Existenz falscher Sätze behaupten zu müssen. Wenn man die zeitlose Existenz wahrer Sätze annähme, müsse man auch die zeitlose Existenz nicht nur möglicher, sondern wirklicher falscher Urteile annehmen. Es ist nicht ganz klar, ob Roberts damit die von mir dargelegte Position nur erweitern oder deren reductio ad absurdum erreichen möchte. Ich betrachte diesen Einwand im folgenden einfach von der Frage seiner rein philosophischen Haltbarkeit aus, also in beiderlei Interpretation, und beantworte ihn in folgender Weise: (1) Zunächst fällt auf, daß sich dieser Einwand offenkundig auf manche der gewichtigsten Argumente für die ideale Existenz der Wahrheit nicht anwenden läßt. Niemand wird z.B. meinen, Irrtümer bildeten ein widerspruchsloses harmonisches Ganzes, innerhalb dessen alle Teile in geordneter Beziehung stehen; noch wird jemand behaupten wollen, es gäbe Irrtümer an sich, die von vollkommener Klarheit, Tiefe usf. sein müßten. Die im Einwand behauptete Parallelität zwischen wahren und falschen Urteilen und ihrer Zeitlosigkeit liegt höchstens partiell vor. Ein erheblicher Defekt seines Einwands besteht deshalb darin, daß er ganz die ungleich tiefere Einheit der Wahrheit übersieht, die in ihrer vollkommenen Widerspruchsfreiheit, intelligiblen Einheit, Klarheit, Differenziertheit, Ganzheit usf. liegt, alles Eigenschaften, die nur der Wahrheit und nicht zeitlosen Falschheiten zukommen und unsere Hauptargumente für das unabhängige Bestehen der Wahrheit darstellen. Die meisten meiner Argumente beweisen nur die Unabhängigkeit der Wahrheit, nicht jene der Falschheit. So etwa läßt sich das Argument aus der völligen inneren Einheit und WiderUnde non sequitur quod deum esse sit per se notum.

Umgekehrt spricht er wieder ibid., Q. 11, a. 3, RA 6, so, als wäre die Wahrheit der propositiones (Sätze, Urteile) evidenterweise unabhängig von ihrer tatsächlichen Formlierung: RA6 Ad sextum dicendum, quod ille qui docet, non causat veritatem, sed causat cognitionem veritatis in discente. Propositiones enim quae docentur, sunt verae etiam antequam sciantur, quia veritas non dependet a scientia nostra, sed ab existentia rerum. 527

Vgl. auch Josef Seifert, “Are There Timeless Falsities? On the Difference between Truth and Falsity with Respect to the Ideal Existence of Meaning-Units. A Reply to Mark Roberts”, 280-320.

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 443 spruchsfreiheit der Wahrheit nicht auf Falschheit anwenden, die das Gegenteil dieser Eigenschaft besitzt, da jedes falsche Urteil vielen wahren, aber auch anderen falschen Urteilen widerspricht. Falschheiten besitzen daher auch in keinerlei Weise jene vollkommene innere Klarheit, Differenziertheit usf., die uns Argumente für die Behauptung der Unabhängigkeit der Wahrheit von ihrer ‚Verkörperung‘ in vom Menschen gedachten Urteilen waren. (2) Aus einem weiteren Grund behaupte ich keine zeitlose Existenz von Irrtümern: Wie aus einer tiefschürfenden Untersuchung über den Irrtum, die Balduin Schwarz vorgelegt hat528, hervorgeht, bilden an sich nicht Irrtümer als solche den Gegensatz zur Wahrheit, sondern falsche Urteile. Zum Irrtum gehört ja mehr als das Aufstellen von falschen Thesen, wie dieses sich ja gleichermaßen in der Lüge findet. Der Irrtum setzt ein subjektives Führ-Wahr-Halten in eigentümlichem Zusammenhang mit dem tatsächlichen Falschsein einer These voraus. Daher ist der Irrtum primär ein personaler Akt, in dem eine falsche These für wahr gehalten wird, und als solcher Akt ist das Irren stets individuell und der jeweiligen Person eigen und es fehlt ihm jene Identität und Einheit, von denen die Rede war. Der Irrtum qua Irrtum besitzt keineswegs jene Universalität und anderen Eigenschaften, die wir in der Wahrheit fanden und die vom jetzt diskutierten Einwand dem Irrtum zugeschrieben werden. (3) Fassen wir aber nicht Irrtümer, sondern falsche Thesen ins Auge, und sehen wir von der Frage ganz ab, ob dieselben von niemandem, vom Lügner oder vom Irrenden vorgebracht werden, so scheint es immerhin wahr zu sein, daß dieselbe falsche These von Menschen verschiedenster Zeiten vertreten werden kann und daher nicht erst durch die betreffenden individuellen Akte als deren Eigenschaft erklärbar sein kann, sondern eine gewisse Zeitlosigkeit besitzt.529 Warum spreche ich dann nur von zeitlosen 528

529

B. Schwarz, Der Irrtum in der Philosophie (Münster i.W.: Verlag Aschendorff, 1934), besonders S. 21 ff. Wir können in diesem Zusammenhang nicht zur Genüge die Gründe entwickeln, die unsere Meinung bestätigen, daß es bei den falschen Thesen mehr um ‚gleichartige‘ als um schlechterdings dieselben Thesen geht, die buchstäblich jene universelle Einzigkeit besäßen, die wir in der Wahrheit fanden. Auch kann hier die Meinung nicht näher begründet werden, daß, insoferne als auch in der falschen These eine gewisse ‚Identität‘ über die Zeiten hinweg und nicht bloße ‚Gleich-

444

KAPITEL 4

wahren und nicht ebenfalls von zeitlosen falschen Urteilen? Während ich zeitlose falsche Urteile nicht ausschließe, spreche ich – wie übrigens auch Bolzano – von den Wahrheiten an sich und nicht von den Falschheiten an sich, wobei Bolzano m.E. ein unzureichendes und inadäquates Verständnis des Phänomens idealer Existenz beweist.530 Ich behandle in den Ausführungen, auf die Roberts sich bezieht,531 weder

530

artigkeit‘ (individuell verschiedener) falscher Thesen vorliegt, diese Identität in der Idealität von Begriffen gründet und daß sich zugleich diese ‚idealen Begriffe‘ von jenen Begriffen abheben, die vom Menschen gebildet wurden und denen die Zufälligkeit und Kontingenz von etwas Geschichtlichem anhaftet. Im Anschluß an bereits erwähnte Untersuchungen Roman Ingardens müßte dann erwiesen werden, daß die gewisse ‚Übergeschichtlichkeit‘ falscher Thesen derjenigen ähnelt, die wir etwa im literarischen Kunstwerk finden. Ja, die letztere ist der ersteren sogar überlegen. Schließlich müßte in Antwort auf obigen Einwand gezeigt werden, daß die falschen Thesen als ‚reine Möglichkeiten‘ allerdings eine Art von unzeitlich-ewiger Möglichkeit darstellen, die aber wegen des Unwerts des Irrtums, bzw. wegen der Falschheit dieser Thesen durchaus nicht mit dem idealen Sein der Wahrheit gleichgestellt werden dürfen. Auch wegen der inneren und äußeren Widersprüchlichkeit des Falschen darf dieses nur als „Schatten der Wahrheit“ bzw. als zeitloser Inbegriff aller Möglichkeiten sämtlicher denkbarer Widersprüche zur metaphysisch viel ursprünglicheren und primären Wahrheit angesehen werden. Eine solche ewig bestehende Möglichkeit aller falschen Thesen, wenn sie bewiesen werden könnte, würde keineswegs evident machen, daß unsere Thesen über die Wahrheit nicht stimmen, noch würde ein solcher Beweis eine gleichartige und gleichwertige ideale und dem Menschen vorgegebene Existenz des Falschen beweisen, wie wir sie für die Wahrheit nachzuweisen suchten. Erst recht gilt für die falschen Thesen nicht, was noch im folgenden über die Wahrheit und ihre Beziehung zum personalen Geiste gesagt werden soll. Bernard Bolzano, Wissenschaftslehre (Leipzig: Felix Meiner, 1929), besonders Part I, §§ 19 ff., 24, wo er sagt, S. 112: Sie haben kein wirkliches Daseyn, d.h. sie sind nichts solches, das in irgend einem Orte, oder zu irgend einer Zeit, oder auf sonst eine Art als etwas Wirkliches bestände.

531

Vgl. Auch Bolzano, ibid.; Part II, §§ 121, 122 (wo er leugnet, daß der Satz an sich ein Seiendes ist, sowie §§ 123 ff., wo er den Begriffe der Sätze an sich näher erklärt; und §§ 195 ff., wo er viele Attribute und Relationen wie ‚Grund-Folge‘ erklärt, die seiner Meinung nach nur wahren Sätzen zugesprochen werden können; vgl. Auch ebd., 3, Teil III (a.a.O., 1930), §§ 290 ff. (Über Urteile). “Is the Existence of Truth dependent upon Man?” S. 461-481.

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 445 explizite Gründe für die Annahme noch für die Verwerfung zeitloser falscher Urteile, aber nehme allerdings an, daß, auch wenn alle falschen Urteile (zumindest als Objekt der Totalität wahrer) eine gewisse Art idealer Existenz besitzen, diese sich grundlegend von jener der Wahrheit unterscheidet. (4) Aus meiner Position, daß die meisten Argumente für die Wahrheit nicht jene der Falschheit beweisen, folgt im übrigen nichts gegen eine Zeitlosigkeit falscher Urteile. Im Gegenteil sage ich, daß in gewisser Weise, als Gegensatz zur Wahrheit und auch als deren Korrelat (Das Urteil „‚S ist P‘ ist falsch“, muß wahr sein, wenn ‚S ist P‘ falsch ist), auch falsche Urteile zeitlos sein müssen und daß sie auch als Gegenstand betreffender wahrer Urteile über Falschheit ‚bestehen‘ müssen. Es läge also ein logischer Fehler darin, wenn Roberts schlösse, es folge daraus, daß ich hinsichtlich der Frage einer vom Menschengeist unabhängigen Existenz von Wahrheit eine Unterscheidung zwischen Wahrheit und Falschheit mache oder nur behaupte, daß aus vielen meiner Argumente die zeitlose Existenz der Wahrheit folgt, ohne von zeitlosen Falschheiten zu reden, daß ich jede zeitlose Existenz falscher Urteile leugnete. Dies tue ich keineswegs. (5) Aus dem Einräumen dieser Tatsache folgt jedoch keinerlei Gleichstellung zeitloser Wahrheit mit zeitloser Falschheit. Vom Standpunkt formaler Logik aus sind vielleicht beide, wahre und falsche Urteile, ganz gleichgestellt, vom Standpunkt der Metaphysik der Wahrheit aus hingegen keineswegs. Roberts stützt sich in seinen Einwänden auf die inhaltliche Identität wahrer Urteile und sagt, eine gleiche Identität bestünde auch im Falle falscher Urteile. Wie daher die zeitlose Existenz der wahren dadurch bewiesen würde, so auch der falschen. Denn auch in ihrem Falle, so führt er weiter aus, bestünde dieselbe identische falsche Behauptung über Jahrtausende hinweg und unabhängig vom Menschen, der sie denke. Doch möchte ich diesbezüglich zur Verteidigung meiner Position gegen diesen Einwand einige sich hinsichtlich der Position Roberts’ unmittelbar stellende Probleme nennen: (6) Auch in Kunstwerken gibt es eine Art von Zeitlosigkeit oder besser Überzeitlichkeit der ihnen angehörenden Bedeutungseinheiten, ohne daß eine menschliche Geschaffenheit von deren konkreter Form zu leugnen ist, wie Ingarden zeigt. Da Roberts in diesem Falle die Abhängigkeit einer

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KAPITEL 4

Shakespeareschen Tragödie oder Komödie vom Geist Shakespeares zugibt, obwohl die Einheit der Identität der Bedeutungseinheiten besteht, warum nicht auch im Falle falscher Urteile? (3) Auch die axiologische Dimension der Wahrheit und damit der tiefste Grund der Unabhängigkeit der Wahrheit vom Menschen wird in Roberts Einwänden nicht berücksichtigt, worauf wir gleich noch zurückkommen werden. 4.2. Widerlegung der Einwände gegen die ‚Wirklichkeit möglicher wahrer Urteile‘ aus der ‚Unwirklichkeit‘ bzw. dem ganz anderen ontologischen Status und Bezug zur Wirklichkeit ‚möglicher falscher Urteile‘

Interessant sind auch Roberts’ Einwände gegen die von uns oben behauptete Wirklichkeit möglicher wahrer Urteile aus dem Blickpunkt falscher Urteile, bei denen der Unterschied möglicher und wirklicher falscher Urteile in die Augen zu springen scheint. Es ist bei falschen Urteilen nämlich der Unterschied zwischen aktuellen und virtuellen bzw. möglichen Urteilen zweifellos sehr groß. Abstrakte logische mögliche Falschheiten und reine zeitlose Bedeutungseinheiten falscher Urteile unterscheiden sich stark von ihrer Objektivierung als Inhalte tatsächlicher Urteilsakte, die Falsches behaupten. Erst durch diese Einbettung in reale Behauptungsakte, und damit erst durch die Beziehung zwischen Urteilsinhalt und Akten der Überzeugung und Behauptung, wird das falsche Urteil zum Irrtum oder zur Lüge. Dieser Unterschied ist mehr als ein psychologischer: die wirklich behaupteten falschen Urteile allein besitzen den Charakter tatsächlicher falscher Behauptungen, nicht die ‚zeitlosen Falschheiten‘. Sie werden erst durch den und in dem Behauptungsakt aus abstrakten falschen Sätzen behauptende Gedanken. Nicht-wirkliche falsche Urteile seien daher von wirklichen Irrtümern oder Lügen sehr verschieden. Deshalb könnten auch wirkliche wahre Urteile scharf von rein möglichen unterschieden werden und sei unsere obige Argumentation inkorrekt. Ich möchte diesen Einwand so beantworten: (1) In gewissem Maß gilt der Unterschied zwischen möglichen und realen Urteilen gewiß auch für wahre, da diese noch viel mehr als falsche

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 447 auf ihre Erkenntnis und darauf, in Urteilsakten behauptet zu werden, bezogen sind und als Inhalt wahrer Aussagen einen ganz neuen Bezug zu realen Denkakten und zur Wirklichkeit personaler Akte gewinnen. Reale Urteile, welche Inhalte von Urteilsakten sind und damit in realen Akten behauptet werden, unterscheiden sich zum Teil kraft des hinter ihnen stehenden Urteilsaktes von ‚reinen‘ wahren Urteilen, die keine Person urteilt, sowie erst recht von dem, was Ingarden Quasi-Urteile nennt, wie sie in Romanen vorkommen und nur den Anschein von Urteilen haben, in Wirklichkeit nur die Welt der Fiktion und den Habitus der Realität derselben aufbauen. (2) Wenn wir von der Realität reden, die ein Urteil dadurch gewinnt, daß es wirklich von einem Geist gedacht oder geurteilt wird, müssen wir einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen wirklichem Gedachtwerden und wirklichem Geurteiltwerden im Auge behalten: a. Der ‚tatsächliche Charakter‘ eines Urteils kann zunächst den wirklich gedachten Gedanken gegenüber dem nur ‚möglicherweise‘ gedachten meinen. Es ist unter Menschen der Fall, daß viele wahre Urteile unwirklich, weil von niemandem gedacht, oder wirklich, weil tatsächlich gedacht, sind. Dasselbe gilt von falschen Urteilen. Wenn es ein allwissendes Wesen gibt, werden von diesem alle wahren und falschen Urteile in diesem Sinne wirklich/aktuell gedacht und besteht in dieser Hinsicht kein Unterschied zwischen beiden. b. Der Charakter der Tatsächlichkeit oder Wirklichkeit eines Urteils kann jedoch in völlig verschiedenem Sinne aufgefaßt werden und die wirkliche Existenz wahrer und falscher Urteile dahingehend bestimmen, daß sie reale Inhalte von Behauptungsakten sind. Unter diesem Gesichtspunkt können wirkliche Urteile möglichen, ihre tatsächliche Existenz ihrer möglichen Existenz gegenüberstellt werden. Hier geht es also nicht nur um wirklich gedachte (und zum Beispiel falsch gefundene oder bezweifelte) Urteile, sondern um wirklich behauptete Urteile, die wirklich und aktuell von einer Person geurteilt werden. Wirklichkeit in diesem Sinne erhält ein Urteil dann und nur dann, wenn es tatsächlich behauptet wird. Und diesbezüglich bestehen wesentliche Unterschiede zwischen wahren und falschen Urteilen. (3) Wenn wir mit wirklichem Urteil jenes Urteil meinen, das tatsächlich von jemandem für wahr gehalten und als wahr gewußt oder wenigstens

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behauptet wird (was freilich, wenn Gott existiert, von allen wahren Urteilen gilt), dann macht der Unterschied zwischen möglichen und wirklichen wahren Urteilen auch einen großen Unterschied aus: nicht für deren Wahrheit, die immer tatsächlich besteht und in diesem Sinne aktuell ist, wohl aber für einen bestimmten Realitätscharakter bzw. Realitätsbezug des Urteils, und dessen reale Beziehung zu einem personalen Geist, auf den es durch und durch zugeordnet ist, ja ohne den es unerklärlich bliebe und seinen geistgeborenen und geistzugeordneten Charakter nicht wirklich besäße, und daher seine eigentlichste Natur und Bestimmung verfehlte. (4) Hier gerade setzt das Veritas-Argument ein, das besagt, daß der Träger der Wahrheit letzten Endes nicht nur die reinen Bedeutungseinheiten sein können, sondern die tatsächlich von einem Geist geurteilten Urteile (Urteilsinhalte). Tatsächlich gedachte und in ihrer Wahrheit behauptete Urteile sind etwas ganz anderes als rein mögliche und machen erst den besonderen geistigen und intellektuellen Charakter des Urteils begreiflich; gerade darauf baut das Veritas-Argument für die Existenz eines unendlichen realen Geistes aus der Unendlichkeit, Klarheit usf. der Wahrheit auf. (5) Es bestehen weitere Unterschiede zwischen wahren und falschen Sätzen hinsichtlich ihrer Bezogenheit auf die Wirklichkeit. So gibt es unendlich viele zeitlos falsche Sätze, die wegen ihres grotesken oder absurden Charakters niemand für wahr halten wird, und die sich daher auch aus diesem Grunde von dem Inhalt tatsächlicher falscher Behauptungen unterscheiden. In diesem Licht ergibt sich daher ein wesentlicher Unterschied zwischen zeitlosen wahren und zeitlosen falschen Urteilen im Hinblick auf einen Geist: viele falsche Urteile sind so absurd, daß kein vernunftbegabtes Wesen sie jemals behaupten würde. Sie werden daher nie einen Urteilsinhalt realer Urteilsakte bilden. Hingegen sind alle wahren Urteile auch Inhalte der Erkenntnis eines allwissenden Geistes und sind Inhalt einer ewig-göttlichen ‚Behauptung‘ ihrer Wahrheit. Dieser Unterscheidung möchten wir nun noch eine weitere und noch wichtigere, rein axiologisch fundierte, hinzufügen: (6) Hinsichtlich ihres Bezugs auf die reale Welt personaler Akte bestehen auch andere zentrale ontologische und axiologisch-ethische Unterschiede zwischen wahren und falschen Urteilen. Im Gegensatz zu falschen Urteilen nämlich sind wahre auf die Einbettung in reale

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 449 Urteilsakte als deren Urteilsinhalte hingeordnet. Das findet auch darin seinen Niederschlag bzw. drückt sich auch in der ethischen Wahrheit aus, daß wahre Urteile behauptet (real geurteilt) werden sollen (manche unbedingt und von jedem Menschen, andere nur dann, wenn sie tatsächlich Inhalt von Behauptungen werden, die immer wahr sein sollen). Falsche Urteile hingegen sollen niemals Inhalte von Behauptungsakten werden. (7) Auch Eigenschaften, die zeitlose Falschheiten scheinbar mit zeitlosen Wahrheiten teilen, wie ihre Universalität und innere logische Verknüpfung mit vielen anderen falschen Urteilen sowie die objektiven logischen Beziehungen zwischen ihnen usf. besitzen sie nicht in, oder kraft, ihrer Falschheit als solcher, sondern nur auf Grund der Wahrheit über die Falschheit! Daher ist die logische Verknüpfung zahlreicher falscher Urteile auch in dieser Hinsicht ganz von jener wahrer Urteile verschieden und ist die diesbezüglich auf den ersten Anschein hin bestehende Vergleichbarkeit täuschend: sie teilen viel weniger mit einander als der Fall zu sein scheint, solange man jene Eigenschaften falscher Urteile, die sie nur auf Grund der Wahrheit über Falschheit besitzen, mit Eigenschaften falscher Urteile als solcher verwechselt. So spricht auch Roberts in seinen Einwänden in Wirklichkeit nicht primär von zeitlosen Falschheiten als solchen, sondern von der Wahrheit über Falschheiten, weil in der Falschheit selbst alle diese Implikationen usf. nicht bestehen bzw. berücksichtigt sind, sondern sogar in falschen Urteilen geleugnet werden oder werden können. Die logischen Implikationen der falschen Urteile etwa bestehen nur in der Wahrheit, nicht im Ozean aller möglicher Falschheiten. Weil Falschheiten in der Totalität all ihrer Falschheit, Widersprüchlichkeit und Absurdität niemals realer Inhalt falscher Urteile rationaler Subjekte sein können, kann Falschheit auch nie denselben ontologischen Status in Bezug auf die personale Realität besitzen wie die Wahrheit, die in ihrer Fülle von einem vollkommenen personalen Geist erkannt und geurteilt werden muß. (8) Dabei ist es auch wichtig festzuhalten, daß die bloße quantitative Unendlichkeit wahrer Sätze nur der relativ äußerlichste Aspekt der Unendlichkeit der Wahrheit ist. Die Fülle der Wahrheit enthält nicht nur – neben der quantitativen Unendlichkeit, daß etwa, wie Augustinus sagt, aus der Wahrheit von S folgt, daß es auch wahr ist, daß S wahr ist, usf. ad

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infinitum – die unendliche inhaltliche Zahl von Wahrheiten über sämtliche Zahlen, geometrischen Objekte, moralischen Wesenheiten usf., sondern auch alle Klärungen, Differenzierungen und Vertiefungen, die überhaupt denkbar sind. Wahrheit selbst beinhaltet den vollkommenen Ausdruck sämtlicher Intelligibilitäten des Seins. So übersteigen die Wahrheit selbst und die für sie als Träger vorausgesetzten Bedeutungseinheiten alles, was der menschliche Intellekt produzieren, ja alles, was er denken oder begreifen könnte. 4.3. Ein weiterer Einwand: Wenn die eben vorgetragene Position richtig wäre, so wären vom Menschen gefällte Urteile nicht mehr wahr und Wahrheit würde sich durch ihre radikale Transzendenz und Jenseitigkeit völlig getrennt von menschlichen Urteilen in einem intelligiben Kosmos befinden, was den Menschengeist ganz von der Wahrheit abschneiden würde

In diesem Einwand ist Folgendes zu sagen: (1) Die von Bolzano als „Sätze an sich“ bezeichneten und unabhängig vom menschlichen Geist bestehenden idealen Bedeutungseinheiten, die Träger der Wahrheit als solcher sind, sind allerdings durch ihre Unendlichkeit sowie ihre Klarheit usf. von jenen wahren Gedanken und Urteilen, die der Mensch denkt und fällt, verschieden. In der Tat sind wahre, von einem Menschen gefällte Urteile in vielfacher Weise notwendig unvollkommen und leiden häufig an einer Reihe hinzukommender und prinzipiell im menschlichen Denken vermeidbarer Mängel. Ja die oft konfusen menschlichen Begriffe und die der Klarheit und anderer Qualitäten der Wahrheit selbst ermangelnden wahren Aussagen menschlicher Personen können wohl als objektive Gedanken und Produkte menschlichen Intellekts aufgefaßt werden und unterscheiden sich daher von den reinen Begriffen und Urteilen der Träger der Wahrheit. Ihre Unvollkommenheiten scheinen ebenso durch den menschlichen Intellekt begründbar zu sein wie falsche, von Menschen gemachte Aussagen und daher scheint der Wahrheit der vom Menschen gedachten Urteile sich ganz von der Wahrheit selbst zu entfernen und wir scheinen sie so menschlichem Denken unerreichbar gemacht zu haben, wie der Einwand feststellt. Darauf muß geantwortet werden: so verschieden auch die vom Menschen gedachten Urteile von jenen reinen und idealen Wahrheitsträgern sind, so sind sie doch

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 451 gleichwohl in vielfältiger Weise mit ihnen verbunden, ja fallen teilweise mit ihnen zusammen: Das an ihnen, was ohne Verwechslungen oder falsche Verallgemeinerungen wirklich rein wahr ist, fällt mit einem Teil der Wahrheit zusammen – ist dieselbe Wahrheit, und diese und deren Träger kann weder ein bloßes Produkt menschlichen Denkens sein noch ist sie menschlichem Erkennen gänzlich entzogen oder unzugänglich. (2) Obgleich es also klar ist, daß der Träger der vollkommenen und ganzen Wahrheit sowie die letzte Quelle der Wahrheit von Menschen gemachter Aussagen nicht irgendein Gedanken-Produkt menschlichen Geistes sein kann, durch das die betreffende Wahrheit erst entstünde, so liegt doch in jedem menschlichen Erfassen und Urteilen, sofern es wirklich wahr ist, ein Erfassen und urteilsmäßiges Behaupten derselben einen Wahrheit, deren Träger die nicht von Menschen geschaffenen Bedeutungseinheiten sind. Der Mensch versteht diese also wirklich und kann Wahrheit aussagen, wenn auch in unvollständiger und unvollkommener Weise, die sich aber scharf vom Irrtum unterscheidet. Da übrigens selbst kein Irrtum ohne irgendwelche Implikationen und Erkenntnisse wahrer Urteile möglich ist, hat der Mensch sogar in seinen Irrtümern an der einen Wahrheit teil und kann sie erkennen und zum Ausdruck bringen. Man könnte dies auch so ausdrücken, daß der Mensch über unvollkommene oder verworrene Begriffe zu den wahren, reinen, idealen und ewig wahren Urteilsgebilden, wenn auch nur unvollkommen, durchdringen kann und diese dann gleichsam in die von ihm gefällten Urteile ‚eingehen‘. (3) Selbst die vollkommenen und übermenschlichen, d.h. vom menschlichen Geist weder gedachten noch ausschöpfbaren Bedeutungseinheiten, die die Träger der Wahrheit selbst sind, sind nicht einfach von jedem Geist unabhängig, da sie qua Bedeutungen offensichtlich einen inneren und wesenhaften Bezug zu Abstraktion, Erkenntnis und Akten des Meinens besitzen. (4) Das Paradox darin ist also, daß die Unendlichkeit und Tiefe der Wahrheit uns zwingt, Bedeutungseinheiten idealer und vollkommener Art jenseits des menschlichen Geistes anzunehmen und doch zuzugeben, daß Begriffe und Urteile einen wesenhaften Bezug zu einem lebendigen Intellekt, und auch zum menschlichen Geist, besitzen. Im Lichte dieser in einer inneren Spannung zu einander stehenden Ergebnissen einer Analyse der Wahrheit verteidige ich die paradoxe Tatsache, daß Bedeutungs-

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KAPITEL 4

einheiten trotz ihrer evidenten Unabhängigkeit vom menschlichen Denken wesenhaft auf Intellekt zugeordnet sind. Ja der Intellekt scheint in der Tat Bedeutungseinheiten, wenn auch keineswegs willkürlich, denkend als Medien, in denen das Denken sich ausdrückt, hervorzubringen. Im Begriff oder Urteil versucht der Mensch, das von ihm erkannte objektive Wesen und objektive Sachverhalte auszudrücken. Selbst die Urteile über Wesensnotwendigkeiten besitzen also nicht jene absolute Geistunabhängigkeit der gemeinten Wesensnotwendigkeiten selbst. Begriffe und Bedeutungseinheiten haben wesenhaft den Charakter von Instrumenten und Medien von Akten des Meinens und, gänzlich von diesen losgelöst, verlieren sie ihren aktuellen und ihnen doch wesenhaft eingeschriebenen Bezug auf einen lebendigen bewußten Geist. Die Urteile besitzen somit einen gleichsam gedoppelten Charakter: einerseits gehen sie in das richtige Denken alles vernünftigen, Logos verstehenden Geistes als dessen Inhalte ein, andererseits können sie, schon auf Grund ihrer Unendlichkeit und Fülle, aber auch auf Grund ihrer weiteren Vollkommenheiten, unmöglich von menschlichen Denkakten produziert werden. Die Auflösung dieses Paradoxes stellt eben die Grundlage des sogenannten Veritas-Arguments für die Existenz eines absoluten realen Geistes dar, worauf wir auch im nächsten Kapitel zurückkommen werden. 5. Vom Wert der Wahrheit: ein weiteres axiologisches Argument für den unvergleichlichen ontischen Status der Urteilswahrheit gegenüber jenem der Falschheit Authentische ideale Existenz hängt eng mit der axiologischen Dimension zusammen. Nur seine Wahrheit und der Wert seiner Wahrheit kann ein Urteil im Reich des Seins und des Idealen ‚inthronisieren‘. Diese Aspekte der Wahrheit – ihren Wert und ihre Schönheit – kann die formale Logik als solche nicht erkennen, sondern sie verlangen eine Wertlehre der Wahrheit, um analysiert und erkannt zu werden. Wenn wir die Wahrheit des Urteils unter dem Gesichtspunkt ihres

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 453 Wertes betrachten, so können wir zunächst dreierlei meinen:532 einmal kann ein wahres oder falsches Urteil rein subjektiv angenehm oder unangenehm sein, es kann unsere Ohren kitzeln oder uns subjektiv mißfallen. Davon hebt sich scharf der objektive Wertcharakter der Wahrheit ab, der niemals falschen Urteilen, sondern nur wahren zukommen kann. Innerhalb dieses objektiven Wertcharakters können wir noch einmal den Wert an sich meinen, der der Wahrheit rein als solcher zukommt, und diesen von ihrem Charakter als einem objektiven Gut für eine Person unterscheiden. Die Wahrheit kann aus ganz verschiedenen Gründen ein objektives Gut für die Person darstellen: Der erste und elementarste Grund ist einfach der, daß die Erkenntnis und das Urteilen der Wahrheit uns in Kontakt mit der Wirklichkeit bringt, was sogar dann ein Gut für uns darstellt, wenn der Inhalt dieser Wahrheit ganz traurig ist. Zweitens kann die Wahrheit eines Urteils, wenn wir sie erkennen und urteilen, ein Gut für uns sein, weil sie unser Erkenntnisstreben erfüllt, was in ganz neuem Sinn auf bedeutungsvolle, ‚schöne‘ Wahrheiten zutrifft. Wahrheit kann auch ein objektives Gut für uns darstellen, weil ihre Erkenntnis und Anerkenntnis uns praktische Vorteile bringt, die von kleinen unbedeutenden Vorteilen über große, wie daß sie unser Leben retten, uns Glück vermitteln kann, bis hin zu ihrer Heilsbedeutung reichen kann. Die Wahrheit kann aber auch aus ganz verschiedenen Gründen in sich selber wertvoll und schön sein: Einmal hat sie schon als Wahrheit, kraft ihrer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, mit den tatsächlich bestehenden Sachverhalten, einen Wert gegenüber allen falschen Urteilen. Sodann hat ihre Erkenntnis einen hohen Wert gegenüber allem Abgeschnittensein von der Realität durch Unwissenheit, Irrtum oder Illusion. Ferner hat die Wahrheit einen umso höheren Wert, je höher, wertvoller und bedeutungsvoller das Sein ist, auf das sie sich bezieht. Der Wert der 532

Ich beziehe mich hier auf die Unterscheidung dreier Arten von positiver Bedeutsamkeit in Dietrich von Hildebrands Ethik.

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Wahrheit über die Funktionen einer Küchenmaschine ist unvergleichlich mit dem Wert der Wahrheit über die letzten und höchsten Dinge. Aus der Einsicht in den Wert der Wahrheit in dem genannten mehrfachen Sinne aber ergeben sich wichtige Konsequenzen für die Beziehung zwischen Urteil und personaler Wirklichkeit und zeigt sich der gewaltige Unterschied erst richtig, der zwischen Wahrheit und Falschheit hinsichtlich ihres Verhältnisses zu personalen Akten besteht. Vor allem sollen, wie bereits im Kontext unserer Antwort auf Einwände erwähnt, zeitlose Falschheiten nicht dieselbe Verankerung in der Realität personaler Urteilsakte besitzen wie zeitlose Wahrheiten. Die tiefste Seinsdimension ist ja die axiologische, und schon deshalb besitzt die Wahrheit einen völlig anderen ontischen Status und gehört zum eigentlich Seienden, während die zeitlosen Falschheiten von der eigentlichsten Seinsdimension, dem Guten und Wertvollen, gleichsam ausgeschlossen werden in dem Sinne, daß sie als Urteilsinhalte realer Urteilsakte ausgeschlossen sein sollten und, wenn sie Urteilsinhalte realer Urteilsakte werden, dies nicht sein sollten.533 Selbst wenn auch Falschheiten ideale Existenz besitzen, besteht also ein entscheidender Unterschied zwischen ihnen und der Wahrheit, indem niemand sie in seinem Urteil behaupten sollte, im Falle der Wahrheit hingegen eine metaphysische axiologisch fundierte Forderung besteht, daß sie auch in tatsächlichen Urteilsakten geurteilt werden sollte. Der Wert als innerste Rechtfertigung des Seins, als tiefste raison d’être, die nur das Wertvolle besitzt, unterscheidet daher die Wahrheit radikal von der Falschheit. Falsche Urteile entbehren aber nicht nur der Sublimität und des Wertes der Wahrheit sowie der im Wert der Wahrheit gründenden raison d’être im Sinne ihrer in sich ruhenden positiven Bedeutsamkeit, sie besitzen auch, neben dem Unwert der Falschheit selbst, alle möglichen weiteren Unwerte, wie Widersprüchlichkeit, Abwegigkeit, Obskurität, Unklarheit, Absurdität, usf. 533

Vgl. zu den drei Seinsdimensionen Josef Seifert, „Die verschiedenen Bedeutungen von ‚Sein‘– Dietrich von Hildebrand als Metaphysiker und Martin Heideggers Vorwurf der Seinsvergessenheit“, in: Balduin Schwarz, hrsg., Wahrheit, Wert und Sein. Festgabe für Dietrich von Hildebrand zum 80. Geburtstag (Regensburg: Habbel, 1970), S. 301-332.

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 455 Doch besitzen falsche Urteile diese negativen Qualitäten nicht als rein mögliche falsche Urteile, die in ihrer ‚rein idealen Falschheit‘ ja auch Gegenstand der Wahrheit sind und als solche ein gewisse ‚zeitlose Existenz‘ haben, die mehr zur Wahrheit als zur Falschheit als solcher gehört, sondern gerade erst als real geurteilte besitzen sie diese Unwerte aktuell. Auch falsche Urteile also besitzen eine ideale Existenz rein logischer Bedeutungseinheiten, aber eine, die wegen ihres Unwertes nicht in die reale Welt personaler Akte des Urteilens eingehen sollte. Daher stehen die zeitlosen Falschheiten auf einer ganz anderen Stufe im Sein und beinhalten eine total andere ontologische Situation und Beziehung zur Person als die Wahrheit: nicht die eines Geurteiltwerdensollens, sondern vielmehr eine, die ihr reales Geurteiltwerden unwertig macht. 6. Der Einwand, unsere These der trotz ihrer idealen Existenz bestehenden Einbettung der Urteilswahrheit in die wirkliche Welt personaler Akte stelle einen Rückfall in einen überholten Platonismus, in den Psychologismus oder sogar eine unüberzeugende Mischung beider dar – Guter und schlechter Platonismus sowie sechs verschiedene Bedeutungen von Psychologismus Gegen die Auffassung, die Wahrheit setze eine Welt idealer Bedeutungseinheiten voraus, zugleich aber seien die Wahrheit und die sie tragenden Urteile trotz ihrer idealen Existenz als Träger der Urteilswahrheit wesenhaft auf personale Existenz bezogen, könnte man einen von zwei weiteren Einwänden erheben: entweder den, unsere These der ‚idealen Existenz der Urteilswahrheit‘ stelle einen überholten Platonismus dar, oder den umgekehrten, unsere Auffassung der Einbettung idealer Bedeutungseinheiten und Sätze an sich in reale Urteilsakte als deren Inhalte in die wirkliche Welt bedeute einen Rückfall in einen Psychologismus. Husserl schon habe diese beiden Irrtümer überwunden und sie seien von der Geschichte der Philosophie längst ad acta gelegt worden. Wir jagten einerseits der für immer verlorenen wilden Orchidee platonischer Philosophie nach, andererseits aber fielen wir in einen reinen Psycholo-

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gismus zurück.534 Was den Einwurf des Platonismus betrifft, so sehe ich, wie aus dem Gesagten deutlich ist, einerseits darin, ideale und dem menschlichen Geist transzendente eide und auch ideale Bedeutungseinheiten anzuerkennen, einen rein positiven Platonismus, der schlicht den Tatsachen entspricht, deren Entdeckung einer der größten Beiträge zur Philosophie darstellt, worauf ich vielfach eingegangen bin.535 Andererseits ist der ganze Gedankengang dieses Kapitels darauf gerichtet, den wahren Platonismus, daß es nämlich zeitlose Wesenheiten und Wahrheiten und eine rein wesensmäßig vollkommenere ideale Welt gibt als unsere endliche reale, mit einem Personalismus und Realismus, und dadurch mit einer Kritik des falschen Platonismus zu verbinden, der die andersartige immense Überlegenheit der realen Welt und vor allem des wahren, eigentlichen Seins, der Person verkennt und von Personen losgelöste Ideen und impersonale ideale Gegenstände über Personen stellt.536 Zum Einwand des „Rückfalls in den Psychologismus“ möchte ich diesen strikt zurückweisen, aber dabei sechs verschiedene Bedeutungen von „Psychologismus“ unterscheiden: 1. Psychologismus kann die falsche und reduktionistische Meinung bezeichnen, objektive Erzeugnisse des Geistes wie Gedanken und Kunstwerke oder ideale Wesenheiten und Gegenstände wie eide und mathematische Objekte oder logische Bedeutungseinheiten, oder auch nicht greifbare Entitäten wie Rechte und Ansprüche, die dem Adressaten von Versprechen oder einem Vertragspartner mit dem Vertragsschluß 534

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536

Vgl. Jürgen Habermas, „Wahrheit und Rechtfertigung, Zu Richard Rortys pragmatischer Wende“, ursprünglich in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 44, 1996, 715-741 erschienen, wiederabdruck in Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1999), S. 230-270. Vgl. Josef Seifert: Erkenntnis objektiver Wahrheit2, 3. Teil,. „Wahrer und falscher Platonismus“; Ritornare a Platone; Sein und Wesen, Kap. 1; “The Idea of the Good as the Sum-total of Pure Perfections. A New Personalistic Reading of Republic VI and VII”, S. 407-424. Vgl. dazu Josef Seifert, Essere e persona, Kap. 9, sowie ders., “Essere Persona Come Perfezione Pura. Il Beato Duns Scoto e una nuova metafisica personalistica,” S. 57-75.

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 457 erwachsen, seien nur psychische Akte oder Gefühle, ja sogar moralische Werte seien nichts als Gefühle und psychische Inhalte. Es gäbe nur, wie Franz Brentano meint, reale materielle Gegenstände und psychische Akte oder psychologische Gegebenheiten. Geistiges und nicht-Psychisches, Irrealia, mögliche Welten, und vor allem ideale Wesenheiten und Bedeutungen, aber auch objektive Werte realer Dinge, die weder physisch noch psychisch sind, gäbe es nicht bzw. wären auf psychische Erlebnisse zurückführbar. Husserls, Reinachs, Pfänders, Ingardens, Schelers u.a. Kritik richtet sich gegen diesen Brentano’schen Psychologismus und zeigt, daß objektive Urteile nicht psychische Akte des Urteilens, literarische Kunstwerke nicht Akte des Dichters oder Lesers, Rechte und Verbindlichkeiten sowie Werte keine bloßen Gefühle oder deren intentionale Gegenstände sind, usf. In diesem Punkte finden wir sogar in dem radikal empiristischen Denken Sir Karl Poppers, in seiner Idee der „dritten Welt“, eine Überwindung des ersten Typus von Psychologismus, insofern er objektive geistige Gehalte wie die der Sprache und Kunst, die sich weder auf materielle Gegenstände noch auf psychische Akte oder Subjekte reduzieren lassen, anerkennt.537 Gegen einen solchen Psychologismus sind weite Teile des vorliegenden Buches geschrieben. 537

Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen; Adolf Reinach, „Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes“, in: Reinach, Adolf, Sämtliche Werke. Texkritische Ausgabe in zwei Bänden, Bd. I: Die Werke, Teil I: Kritische Neuausgabe (1905-1914), Teil II: Nachgelassene Texte (1906-1917); hrsg.v. Karl Schuhmann Barry Smith (München und Wien: Philosophia Verlag, 1989), 141278; Alexander Pfänder, (Mariano Crespo, Hg.), Logik4; Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik; Dietrich von Hildebrand, Die Idee der sittlichen Handlung, S. 126-251; 2. Abdruck ebd. 1930. Sonderdruck ebd. 1930. 126 S. Reprint Vols. 1-2 (1913-1916) 1989 - Bad Feilnbach 2: Schmidt Periodicals. 2. Auflage (unveränderter reprographischer Nachdruck, zusammen mit der Habilitationsschrift „Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis“ –, S. 1-126. Moritz Geiger, Die Bedeutung der Kunst. Zugänge zu einer materialen Wertästhetik. Gesammelte, as de Nachlass ergänzte Schriften, Ed. Klaus Berger and Wolfhart henckmann (Munch: Wilhelm Fink, 1976); The Significance of Art: A Phenomenological Approach to Aesthetics. Edited and translated by Klaus Berger. [Series: Current continental research; 402] (Washington, D.C.: Center for Advanced Research in Phenomenology & University Press of America, 1986); Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk, 3. Aufl., 1972.

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2. Eine zweite und verwandte Form des Psychologismus ist die folgende: Logische Gesetze, die in den reinen Bedeutungseinheiten und Urteilsinhalten gründen und etwa die Verhältnisse ihrer Wahrheit und Falschheit oder die Folgerichtigkeit eines Schlusses beherrschen, werden auf psychologische Gesetze des Denkens reduziert. Damit wird ihre Natur radikal verfälscht: sie werden aus der objektiven logischen Sphäre in jene des Psychischen als dessen Gesetze versetzt, was ihrem Wesen so sehr widerstreitet, daß sie statt objektive und absolut notwendige logische Gesetze zu bleiben, welche wahr sind, nun bloße subjektive Denkgesetze darstellen, deren Notwendigkeit nicht mehr das Verhältnis logischer Entitäten angeht, sondern nur Notwendigkeiten, die unserem Denken entspringen und unsere subjektive Auffassung logischer Entitäten angehen. Wesenheiten und notwendige Wesensgesetze wie das Widerspruchsprinzip werden nun als Produkte des Denkens oder als rein psychologische Gesetze des Denkens eines und desselben Bewußtseins über Widersprüche, anstatt objektive Gesetze der logischen Welt der Bedeutungseinheiten und deren Wahrheit und Falschheit (als strikte notwendige und objektive logische Gesetze, welche die Wahrheit und Falschheit von Urteilen und die Gültigkeit oder Ungültigkeit von Schlüssen betreffen) zu bleiben. Dieser Psychologismus und der aus ihm und der dritten mit diesem Ausdruck bezeichneten Auffassung folgende Skeptizismus und Relativismus ist in besonderer Weise Gegenstand des Kampfes Husserls in Logische Untersuchungen ebenso wie des unsrigen.538 3. In einer dritten Bedeutung von Psychologismus werden logische Gesetze in noch radikalerer Weise umgedeutet: Statt wenigstens als transzendentale und apriorische subjektive Denkgesetze anerkannt zu werden, werden sie nun nicht einmal mehr als objektive und wesensnotwendige Gesetze des Psychischen aufgefaßt, wie daß jedes Denken einen intentionalen Gegenstand haben muß, sondern vielmehr nur als empirische Gesetze des Denkens, von denen psychisch oder soziologisch bedingte Ausnahmen oder Abweichungen durchaus möglich wären. Während es nämlich auch apriorische Gesetze über reale psychische Akte gibt, werden logische Gesetze in dieser dritten Form des Psychologismus nicht mehr als solche verstanden, sondern nur noch als empirische und induktiv gewon538

Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Band I.

Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 459 nene Verallgemeinerungen psychischer Denkgesetze angesehen. (Husserl betrachtet irrtümlicherweise diesen Irrtum und diese dritte Form des Psychologismus als eine notwendige Konsequenz der ersten beiden, so als wären alle Realwissenschaften vom Psychischen empirische Wissenschaften und als wäre Psychologie eine ausschließlich empirische Wissenschaft und gebe es in ihr nicht „reine“ und wesensgesetzliche Teile.) 4. In einem vierten Sinne könnte man von einem Psychologismus, von dem auch Alexander Pfänders Logik nicht ganz frei ist,539 dort reden, wo man die Bedeutungseinheiten und logischen Gebilde sowie Urteil nur als objektive Gedanken und damit als Produkte menschlicher psychischer Akte ansieht und nicht (neben manchen Bedeutungseinheiten wie konfusen Wortbedeutungen und verworrenen Gedanken, welche durchaus Produkte menschlicher Denkakte sind) auch rein ideale Bedeutungseinheiten anerkennt, die in ihrer Zeitlosigkeit, Unendlichkeit und Vollkommenheit nicht von menschlichen Denkakten hervorgebracht werden können. In diesem vierten Sinne ist auch Poppers Lehre von der Welt 3 ein Psychologismus, da er alle ihre „Bewohner“ als Produkte menschlichen Denkens ansieht. Die Leugnung idealer Bedeutungseinheiten als Wahrheitsträger und damit diese vierte Form des Psychologismus haben wir durch die Argumente dieses Kapitels zu widerlegen versucht. 5. Manche Autoren verwechseln eine personalistische Metaphysik logischer Gebilde und Wahrheitsträger mit einem Psychologismus, was eine vollkommen unpassende Bezeichnung der Position ist, daß auch ideale Bedeutungseinheiten ein notwendiges Band zum Intellekt haben, auf ihn zugeordnet sind, aus ihm metaphysische hervorgehen und nur von ihm real gedacht und verstanden werden können. Dies ist nicht Psychologismus, sondern eine personalistische Metaphysik, die eine reine isolierte ideale und „platonische“ Welt von idealen Bedeutungen und Sätzen an sich, welche ohne jeden Bezug auf Personen in sich bestehen, ablehnt. Gegen eine solche radikal-platonische Auffassung reiner „Sätze an sich“, welche total von jedem Geist losgelöst wären, werden wir im folgenden Kapitel argumentieren und hier liegt die Quelle des augustinischen Veritas539

Vgl. Mariano Crespo, Einleitung zu: Alexander Pfänder, (Mariano Crespo, Hrsg.), Logik4, S. VII-XXXIV.

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Arguments für die Existenz Gottes aus der Unbestreitbarkeit der Existenz der Wahrheit. 7. Schluß-Ausblicke Damit berühren wir jedoch ein neues gewaltiges Thema, auf das wir im nächsten Kapitel eingehen werden: die Frage nach dem letzten metaphysischen Urgrund und den ersten Voraussetzungen des Seins und der Wahrheit; sowie das Problem, das Augustinus in seinem sogenannten Veritas-Beweis für die Existenz Gottes beantwortet hat und nach dem in Gott der Inbegriff aller ontologischen Wahrheit und höchsten Intelligibilität, aller Erkenntniswahrheit des klarsten und vollkommensten erkennenden Schauens aller Dinge und Sachverhalte, wie sie sind, und die höchste Urteilswahrheit zusammenfallen und ihre Vollendung erreichen. Wir sind aber – auch vor aller Beantwortung dieser Fragen – viel lieber bereit, zwei einander scheinbar widersprechende, doch sich eindeutig ausweisende Fakten unvermittelt stehen zu lassen und dennoch anzuerkennen, als eine philosophische „Vermittlung“ oder Wegerklärung anzubieten, die einem Prokrustes-Bett gleicht, in dem allen unbequemen oder in ihrer letzten Einheit unverstandenen Wirklichkeiten „Kopf oder Fuß“ abgeschnitten wird um einer verkürzten Einheit eines Systems willen, das entscheidenden Fakten nicht Rechnung trägt. Wie unser Ergebnis der idealen vollkommenen Begriffe und Urteile als letzte Träger der Urteilswahrheit selbst mit der notwendigen Persongebundenheit bzw. metaphysischen Zuordnung zwischen Begriffen, Urteilen und Wahrheit einerseits und Person andererseits zu versöhnen ist, werden wir im folgenden Kapitel wenigstens kurz zu beantworten suchen.

KAPITEL 5 „ICH BIN DIE WAHRHEIT“ – IST DIE WAHRHEIT PERSON? Auch wenn wir bereits auf die vielfältigen Beziehungen zwischen Wahrheit und Person hingewiesen haben, genügt keine der bisherigen Erörterungen, um jene umwerfende Aussage: „Ich bin die Wahrheit“ zu verstehen, die Jesus im Evangelium gegenüber Thomas macht und die, obwohl sie sich in erster Linie an den Glauben wendet, auch der Metaphysik und Religionsphilosophie immense Probleme aufgibt: „Jesus sagte zu ihm540, ‚Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.‘“ (Joh. 14:6) Diese aus einem menschlichen Mund kommende Aussage scheint nicht nur zu besagen, es könne eine Person, sondern es könne ein Mensch die Wahrheit und also jene umfassende, immense Wahrheit sein, welche nicht nur alle Seinswahrheit und alle Erkenntniswahrheit, sondern auch all jene Wahrheit umfaßt, welche sämtliche wahren Urteile über die wirkliche und alle möglichen Welten, sowie über alle Unmöglichkeiten und alles Nichtseiende und alles Dumme und Böse, wahr macht und außerdem alle übrigen Modi und Dimensionen vollkommener Wahrheit des Lebens, des Guten und des Schönen einschließt. In dem Satz „Ich bin die Wahrheit“ stecken vor allem zwei frappierende Aussagen, von denen die zweite unbegreiflich ist und die erste nicht bloß unbegreiflich, sondern skandalös zu sein scheint: (1) daß hier ein Mensch von sich sagt, er sei die Wahrheit, wird von den jüdischen Gesprächspartnern Jesu verständlicherweise als schockierend und als ein Ärgernis empfunden;541 und (2) daß hier überhaupt die Wahrheit selber als Person aufgefaßt wird, während die Urteilswahrheit doch eine Eigenschaft rein idealer logischer Bedeutungseinheiten ist und nicht mit einer Person oder deren Akten identisch sein zu können scheint, ist unbegreiflich. Wie soll eine Person die 540

541

Zu Thomas, dem, weil er erst an die Auferstehung glaubte, als er selber seine Finger und Hand in die Wundmale des Auferstandenen legte, der „ungläubige Thomas“ genannten Apostel. Dies würde ebenso gelten, wenn überhaupt eine endliche Person, also auch ein Engel, dies von sich sagte.

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KAPITEL 5

Wahrheit sein können, wenn wir nicht in die Irrtümer des Psychologismus fallen und den Akt des Urteilens mit dem objektiven Urteilsinhalt, der Wahrheitsträger ist, verwechseln? Wir wenden uns vorab der ersten Unbegreiflichkeit und dem Grund für das durch die erste These veranlaßte Ärgernis zu. 1. Ein Mensch als die Wahrheit ? – Ein grotesker und blasphemischer Anspruch Die Behauptung, ein bloßer Mensch sei die Wahrheit, ist nicht nur unbegreiflich, sondern erregt Anstoß; sie ist entweder blasphemisch oder wahnsinnig. Denn die Wahrheit selber ist von allen endlichen Personen wesensverschieden und sogar ihre volle Erkenntnis ist diesen unmöglich, weil die unendliche Fülle der Wahrheit ein vom menschlichen und jedem endlichen Geist absolut unaustrinkbares Licht und ihm gegenüber ewig transzendent ist. Im Sinne dieser unendlichen Transzendenz der Urteilswahrheit hat es schlechthin keinen Sinn zu sagen, ein Mensch sei die Wahrheit. Welcher Mensch dürfte auch nur die Behauptung wagen, er erkenne die ganze Wahrheit aller wahren Urteile, geschweige denn daß er sagen dürfte, er sei diese allumfassende Wahrheit? Sicherlich kein bloßer Mensch, ohne eine absurd falsche Aussage zu machen. Er kann sie nicht einmal erkennen, und erst recht kann er sie nicht sein! Die rein logische Wahrheit der Übereinstimmung aller Begriffe mit den Wesenheiten der Dinge und aller urteilsmäßigen Bedeutungen der Sätze mit den diesen entsprechenden Sachverhalten ist zwar, selbst wenn sie umfangsmäßig unendlich ist, endlichen Personen in gewissem Sinne unterlegen, weil die Wahrheit, zumindest als rein logische Wahrheit der Urteile verstanden, keine Person ist und diese ein allem impersonalen Seienden gegenüber überlegenes Sein besitzt. Aber dennoch ist die Wahrheit aller unendlich vielen wahren Urteile jedem endlichen Geist in anderer Hinsicht unendlich überlegen, wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, weshalb die Behauptung, ein Mensch sei die Wahrheit, Anlaß zu einem tiefen Ärgernis gibt. Erst recht wenn wir die ganz andersartige Erkenntniswahrheit und die

„Ich bin die Wahrheit“ – Ist die Wahrheit Person?

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ontologische Wahrheit im Auge haben, scheint es absolut absurd zu sein, wenn ein Mensch behauptet, er sei die Wahrheit – die Erkenntniswahrheit oder die ontologische Wahrheit. Welcher Mensch kann die Ungeheuerlichkeit begehen und sagen, er erkenne alles Sein und Wesen und besitze oder sei die volle Wahrheit der Erkenntnis, welche etwas absolut Unendliches, Ungeheures ist? Und dasselbe gilt erst recht von der ontologischen Wahrheit. Welcher Mensch, dessen Sein einen Anfang hat, der sterblich und zeitlich ist und dessen Dasein und Leben ständig über dem Abgrund des Nichts schwebt und von sich selbst her unerklärlich und unbegreiflich ist, dürfte der eigenen Person höchste denkbare Intelligibilität und Realität zusprechen und sich die (ontologische) Wahrheit des Seins oder das wahre Sein nennen? Und wie dürfte er, dessen Sein, wie Augustinus sagt, überhaupt nur ist, indem es sich ständig auf das Nichts hin zubewegt in dem Sinne, daß sein vergangenes Leben nicht mehr und sein künftiges noch nicht ist,542 sich dann die ontologische Wahrheit im Sinne der Fülle und höchsten Form realer Existenz zuschreiben, ohne bodenlosen und blasphemischen Unsinn zu reden? Und wenn wir an die dritte Grundbedeutung ontologischer Wahrheit denken, das Gute: welcher Mensch, der nicht unendlich vermessen wäre, dürfte sich die absolute Wahrheit des Gutseins zuschreiben, welche die höchste raison d’être in sich einschließt und dem Seienden verleiht? Wer dürfte sich in diesem Sinne die Wahrheit, und als solche auch das Gute selbst, nennen oder behaupten, daß er mit dem Guten Selber zusammenfiele und schlechthin unbegrenzt gut und deshalb der wahrhaft Seiende, und in diesem Sinne die Wahrheit, wäre?543 Weder im Sinne der logischen, noch in jenem der Erkenntniswahrheit noch in dem der ontologischen Wahrheit also darf sich ein Sterblicher vermessen zu sagen: „Ich bin die Wahrheit“, ohne eine Torheit und Unsinnigkeit von sich zu geben oder eine grauenvolle Blasphemie auszusprechen. Es sollte auch gar keiner Diskussion bedürfen, den Anspruch eines bloßen Menschen zurückzuweisen, der sich die Wahrheit nennt; man 542

543

Vgl. Augustinus, Confessiones, Buch XI. [[CCL 27 S. 203/19] Corpus Augustinianum Gissense a C. Mayer editum]. Christus sagt dasselbe im Evangelium Markus 10:18 (und Lukas 18:19): “Jesus aber sprach zu ihm: Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als nur einer, Gott.“

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KAPITEL 5

braucht ihn nicht einmal zu prüfen. Denn eine solche Aussage könnte offensichtlich nur Gott von sich machen und selbst dann ist sie schwer begreiflich, wie wir sehen werden, aber wenn ein bloßer Mensch sie tut, können wir nur entsetzt zurückweichen und antworten: „wer ist wie Gott“? Das Gesagte ist auch keine besonders intelligente oder schwer zu gewinnende Feststellung. Im Gegenteil: es wird jeder denkende Mensch es für absurd, Zeichen des Wahnsinns oder für blasphemisch halten, wenn ein Mensch sich die Wahrheit nennt und für Gott erklärt. Es herrscht zwar unter Menschen eine wahrhafte Sucht, sich selbst in der einen oder anderen Form für Gott zu halten oder sich für mit Gott identisch zu erklären, doch sich höchst persönlich als die Wahrheit und damit als den Gott zu bezeichnen, kommt kaum vor. Selbst als die Kaiser des römischen Reiches und andere Machthaber sich zu Göttern erklärten und ausrufen ließen und jene, die ihre Gottheit leugneten, hinrichten oder ermorden ließen, meinten sie nur, sie seien ein Gott auf Erden unter anderen, nicht aber sie seien Zeus oder gar Gott schlechthin, der einzige Gott, wie dies der Ausdruck ‚Ich bin die Wahrheit‘ impliziert, und deshalb wagten sie es auch niemals zu behaupten, sie seien die Wahrheit. Es gab wohl niemals jemand anderen außer Jesus Christus, der von sich sagte, „Ich bin die Wahrheit“, und damit „Ich bin Gott“, mit der wahrscheinlich einzigen Ausnahme des islamischen Mystikers Husain ibn Mansur Hallâjs aus dem 9. und 10. Jahrhundert (858 – 922),544 der in grausamster Weise hingerichtet wurde und als größter Sufi-Märtyrer gilt,545 544

545

Sein Ausspruch anâ'l-haqq, „Ich bin die Absolute Wahrheit“ ist das Motto der Vertreter der Einheitsmystik und von der islamischen Orthodoxie kritisiert worden. Verschiedene seiner Auffassungen führten zu seiner Einkerkerung 913 und grausamen Hinrichtung 922. Fariduddin 'Attar gibt die folgende Beschreibung von der Hinrichtung: Sie sahen viele Wunder, die er bewirkte. Geschwätz ging um, und seine Reden wurden dem Kalifen hinterbracht. Schließlich war man sich darüber einig, daß er sterben müsse. Der Kalif ließ ihn ins Gefängnis werfen. Sie schlugen ihn dreihundert Mal mit Stöcken. Dann führten sie ihn hinaus zur Hinrichtung. Als sie ihn zum Galgen gebracht hatten, küßte er das Holz und setzte seinen Fuß auf die Leiter. „Wie fühlst du dich?“ verspotteten sie ihn. „Der Aufstieg wahrer Menschen führt zur Spitze des Galgens“ antwortete er. Er wandte sich gegen Mekka, erhob die Hände und betete. Dann hieben sie ihm die Hände ab. Er lachte.

„Ich bin die Wahrheit“ – Ist die Wahrheit Person?

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der aber im Übrigen diese Aussage nicht buchstäblich gemeint haben kann, da er andere diametral entgegengesetzte Aussagen gemacht hat.546 Jedenfalls ist Jesus der einzige Mensch, dessen Aussage „Ich bin die Wahrheit“ durch zwei Jahrtausende von zahllosen Menschen ernst genommen wurde. Und dies, obwohl ein Mensch, der von sich sagt, „Ich bin die Wahrheit“, etwas sagt, was ein ungeheuerliches Ärgernis oder eine immense Torheit zu sein scheint, sodaß wir die im Zusammenhang mit der Kreuzigung ausgesprochenen Worte des Apostels Paulus auch hier anwenden können: „…den Juden ein Ärgernis, … den Heiden eine Torheit.“547 Wir stehen hier vor einem Ur-Paradox oder, wie der Christ glaubt, Geheimnis des Christentums, das daraus entspringt, daß es philosophisch evident ist, daß keine endliche Person jemals von sich sagen darf: „Ich bin die Wahrheit“ und daß wir deshalb niemals die Unsinnigkeit glauben dürfen, ein bloßer Mensch sei die Wahrheit, weshalb wir diese Worte Sie hackten seine Füße ab. Er sagte lächelnd: „Mit diesen Füßen machte ich eine Reise auf Erden. Ich habe andere Füße, die jetzt durch beide Welten wandern. Wenn ihr könnt, hackt diese Füße ab!“ Dann rieb er mit seinen blutigen Armstümpfen über sein Gesicht, so dass Arme und Gesicht blutig wurden. „Warum hast du das getan?“ fragten sie ihn. „Ich habe viel Blut verloren und glaube, dass mein Gesicht blaß geworden ist. Ihr denkt, meine Blässe kommt aus Angst. Ich habe Blut auf mein Gesicht gewischt, damit ich in euren Augen rote Backen habe.“ Dann stach man ihm die Augen aus. Dann wollte man seine Zunge abschneiden. „Wartet noch ein wenig, gebt mir noch Zeit für ein Wort“ bat er dringend. „O Gott“, schrie er gen Himmel, „verstoße sie nicht wegen der Leiden, die sie mir um Deinetwillen antun, noch entziehe ihnen die Glückseligkeit. Gelobt sei Gott, denn sie haben meine Füße abgehackt, als ich auf dem Wege zu Dir war. Und wenn sie mir den Kopf abschlagen, so haben sie mich doch auf die Höhe des Galgens gebracht, wo ich Deine Majestät betrachte.“ Dann schnitten sie ihm Nase und Ohren ab. Die letzten Worte, die Halladsch sprach, waren: „Die Liebe zu dem Einen führt zur Einswerdung mit Ihm“. Nach diesen Worten schnitten sie seine Zunge ab. Zur Zeit des Abendgebetes schnitten sie seinen Kopf ab. Er lächelte, als sie das taten. So starb Halladsch.

546

547

Vgl. Annemarie Schimmel, Al-Halladsch – Oh Leute, rettet mich vor Gott (Freiburg: Herder, 1985; 21995). „Die Behauptung, Ihn zu kennen, ist Unwissenheit; … Disputation über Seine Attribute ist Verwirrung; …“ Siehe Annemarie Schimmel, Gärten der Erkenntnis. Das Buch der vierzig Sufi-Meister, (München: Diederichs, 1991). Röm. 1:23.

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KAPITEL 5

Christi „Ich bin die Wahrheit“ nur dann glauben dürfen und sie, objektiv gesprochen, nur dann kein Ärgernis darstellen, wenn derjenige, der sie spricht, wahrhaftig Gott (und Mensch) ist. Dennoch gibt es Philosophen, welche von diesen Worten Jesu fasziniert waren, obwohl sie nicht an seine Gottheit glaubten, sondern ihn als reinen Menschen betrachteten. Wie ist dies zu erklären außer durch ein Fehlen des Sinnes für die von Kiekegaard so scharf herausgearbeitete Ungeheuerlichkeit des Geheimnisses und Paradoxes, die in diesem Anspruch Jesu liegt, Gott und die Wahrheit zu sein? Vielleicht auf folgende Weise: jemand kann durch die Aussage einer Person, sie sei die Wahrheit, angesprochen werden, weil in der Tat wichtige Dimensionen der Wahrheit, wie jene der Erkenntnis, ausschließlich in Personen wirklich sind und es deshalb auf etwas in uns trifft, wenn eine Person von sich erklärt, sie sei die Wahrheit. Indem sie dies sagt, spricht sie der Wahrheit, die sonst eine abstrakte Unendlichkeit zu sein scheint, ein personales Antlitz zu, was uns in gewisser Weise als tief und wahr berührt. Und dennoch ist es uns aus dem eben erwähnten Grunde niemals erlaubt, von einem Menschen zu sagen, er sei die Wahrheit, oder gar er sei die Wahrheit. Das Paradox in den Worten „ich bin die Wahrheit“, aus dem Munde eines Menschen gesprochen, läßt sich ausschließlich dann lösen, und die christliche Religion, deren Gründer und unsichtbares Haupt dies von sich sagte, ist ausschließlich dann nicht absurd, wenn derjenige, der dieses Wort ausspricht, eben nicht ein bloßer Mensch war, sondern Gott IST. Ausschließlich Gott, die absolute Person, und niemals eine endliche Person, darf, so unbegreiflich auch dies für unseren begrenzten Verstand bleibt, von sich sagen, sie sei die Wahrheit. Wenn wir daher diese Aussage Jesu Christi als sinnvolle Aussage betrachten oder sogar glauben, daß Jesus Christus die Wahrheit ist, dann dürfen wir dies ausschließlich dann tun, anstatt mit den Juden oder Muslimen einen solchen maßlosen Anspruch des Menschen Jesus mit Entsetzen abzulehnen, wenn wir an seine wahre Gottheit glauben. Denn zu sagen „Ich bin die Wahrheit“, wie auch zu sagen: „Ich bin das Leben“ oder „Bevor Abraham ward, BIN ICH“, ist nichts anderes als zu sagen: „Ich bin wahrhaft Gott“.548 548

Zu sagen „Ich bin der Weg“ könnte vielleicht noch ein großer Prophet, wenn auch

„Ich bin die Wahrheit“ – Ist die Wahrheit Person?

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Nur wenn also Jesus nicht ausschließlich Mensch, sondern zugleich auch Gott ist, kann der Satz „Ich bin die Wahrheit“ sinnvoll und wahr sein; ein bloßer Mensch hingegen dürfte diesen Satz niemals aussprechen, ohne entweder toll zu sein oder aber dämonischerweise sich selber zu Gott zu erheben. Die Aussage, „Ich bin die Wahrheit“, aus dem Mund Jesu kommend, sollte daher ein unüberwindliches Ärgernis für jeden sein, der nicht glaubt, daß Jesus Gott und Mensch ist und der weiß, was wir mit Wahrheit und was wir mit Gott meinen, und … der nicht wahnsinnig ist. Deshalb sollte jeder, der Jesus als einen bloßen Menschen betrachtet, selbst wenn er ihn für den vollkommensten, weisesten und wissensreichsten Menschen hält, den Satz „Ich bin die Wahrheit“, oder gar den „bevor Abraham ward, BIN ich“ nicht nur für falsch halten, sondern mit den Juden, zu denen Jesus sprach, oder mit dem Koran als absurd und blasphemisch verwerfen.549 Dies mit aller Deutlichkeit herausgestellt zu haben, ist eines der unvergänglichen Verdienste Soeren Kierkegaards.550 2. Kann überhaupt eine Person, selbst eine göttliche, die (Urteils)Wahrheit sein? Doch selbst dann wenn derjenige, der von sich sagt, „Ich bin die Wahrheit“, wirklich zugleich Gott ist, der eine menschliche Natur nur angenommen hat, aber von Natur aus und von Ewigkeit zu Ewigkeit der unendliche, ewige und allwissende Gott ist, ist diese zentrale Aussage schwer verständlich. Ist nicht Wahrheit, jedenfalls jene der Aussage, des Urteils(inhalts), wesenhaft eine unendliche, aber rein ideale logische Entität, die niemals mit einer Person (selbst nicht mit der unendlichen,

549

niemals im selben absoluten und exklusiven Sinne, von sich sagen, niemals aber „Ich bin die Wahrheit“ oder „Ich bin das Leben“. Joh. 8: 58- 59: 58: Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ehe Abraham war, BIN ICH. 59 Da hoben sie Steine auf, um auf ihn zu werfen. Jesus aber verbarg sich und ging aus dem Tempel hinaus.

550

Vgl. vor allem Soeren Kierkegaard, Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken, zit.; und Das Buch Adler, in: S. Kierkegaard, Einübung im Christentum und anderes, hrsg. W. Rest (Köln und Olten: J. Hegner, 1951), S. 393-652.

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KAPITEL 5

göttlichen)551 zusammenfallen kann, sondern eher, wie Platon nach Ansicht der meisten Interpreten von den Ideen (den ewigen Wesensformen) glaubte, über dem göttlichen „Vater und Schöpfer des Alls“ stehen muß?552 Und ist es ferner nicht evidentermaßen unhaltbar, insbesondere die allumfassende Urteilswahrheit, die unendlich vielen wahren Urteile über alles Seiende und Nichtseiende, mit einer göttlichen Person zu identifizieren? Wenn dies überhaupt Sinn ergibt, so jedenfalls nicht, wenn es in einer simplistischen Weise behauptet wird. Ebenso nämlich, wie Gott nicht einfach mit der Fülle aller Zahlen oder Primzahlen oder aller geometrischen Sätze der Euklidschen Geometrie identisch sein und zusammenfallen kann, kann er auch unmöglich einfach mit allen wahren Urteilen über alle Dinge inklusive aller mathematischen Gegenstände oder aller gemeinen menschlichen Handlungen, identifiziert werden. Doch ist nicht trotzdem in anderer Hinsicht eine „reine“, von jeder Person „losgelöste Wahrheit“ als unendliche Fülle wahrer Sätze, ähnlich wie Ideen und mögliche Welten, die keine Personen sind, eine metaphysische Merkwürdigkeit und Unmöglichkeit und wären überdies wahrhaftig der lebendig ihr Sein vollziehenden Person unendlich unterlegen? Und 551 552

Insbesondere wenn es drei göttliche Personen gibt. Vgl. Platon, Timaios 28 c: Das Werdende, sagten wir dann ferner, müsse notwendig durch irgendeine Ursache werden. Den Schöpfer und Vater dieses Alls nun freilich ist es schwierig zu finden, und wenn man ihn gefunden hat, unmöglich, sich für alle verständlich über ihn auszusprechen;

Von diesem göttlichen Urheber der Welt aber sagt er, er blicke auf die ewigen Ideen, mit der Implikation, daß sie über ihm stehen, wie die meisten Interpreten meinen: ótou mån oÜn Àn äo dhmiourgòV pròV tò katà taütà Écðon blæpwn Âeí, toioútœ tin˜ proscðrõmenoV paradeígmati, t#n Îdæan ka˜ dýnamin aütoû Âpergázhtai, kalòn Êx Âná+khV oútwV Âpoteleîsjðai pân: /o@ d) Àn eÎV gegonóV, gennhtÖ paradeígmati proscðrõmenoV, oü kalón.

Zu einer gegenteiligen Auffassung, daß nämlich die Idee des Guten und damit auch die Wahrheit selber bei Platon mit Gott zusammenfallen, vgl., neben den klassischen Werken Zellers, etwa E. Zeller, Die Philosophie der Griechen, I, 25, S. 709-718, bes. S. 712, Josef Seifert, “The Idea of the Good as the Sum-total of Pure Perfections. A New Personalistic Reading of Republic VI and VII”, S. 407-424.

„Ich bin die Wahrheit“ – Ist die Wahrheit Person?

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kommt uns nicht gerade deshalb, angesichts der Tatsache, daß die Person allein das wahrste Sein ist,553 der Satz „Ich bin die Wahrheit“, aus dem Munde einer Person gesprochen, doch sinnvoll vor? Und überzeugt uns das Personsein der Wahrheit nicht noch mehr, wenn wir nicht an die Urteilswahrheit, sondern an die Erkenntniswahrheit, die allein in der Person wirklich sein, oder an die ontologische Wahrheit denken, die sich erst in dem personalen als dem wahrsten Sein erfüllen kann? Gibt es also nicht vielleicht doch einen tiefen und wahren Sinn, in dem ausschließlich ein unendliches personales Seiendes, eine Person und ihre Akte, nicht eine unendliche Menge von Aussagen oder irgendetwas anderes, die Wahrheit sein kann? Unsere bisherigen Überlegungen scheinen auf folgende Ergebnisse hinauszulaufen, die, wie wir sehen werden, von dem bedeutenden französischen Phänomenologen Henry heftig bestritten werden: (1) Kein bloßer Mensch darf von sich sagen, er sei die Wahrheit. (2) Von Gott allein kann gelten, daß er die Wahrheit ist, was wir auch philosophisch zu evidenter Erkenntnis zu bringen hoffen. (3) Die Aussage eines Menschen, er sei die Wahrheit, ergibt nur dann Sinn, wenn dieser Mensch zugleich Gott ist. (4) Wir können diese Aussage des Menschen Jesus nur im Glauben annehmen, weil es keine rein philosophische Einsicht in sie gibt, die uns sicher machen könnte, daß Jesus Christus wirklich Gott ist, so viele vernünftige Gründe jemand auch für diesen Glauben anführen und wirklich besitzen mag. Wir wollen diese Thesen im folgenden im Bereich der Erkenntniswahrheit, der ontologischen Wahrheit und der logischen Wahrheit prüfen. 3. Michel Henry’s rein spekulative, gnostische und pantheistische Interpretation des Satzes „Ich bin die Wahrheit“ Doch noch bevor wir uns eine eigene Auffassung darüber bilden und sie begründen werden, möchten wir uns kritisch dem bekannten Werk Michel 553

Vgl. Josef Seifert, Essere e persona, Kap. 9.

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KAPITEL 5

Henrys Ich bin die Wahrheit zuwenden, der einen Versuch macht, eine rein philosophische Interpretation dieses Satzes „Ich bin die Wahrheit“ zu entwickeln, deren Inhalt den eben erwähnten und gleich noch zu erhärtenden Ergebnissen radikal widerspricht, wie wir leicht sehen können.554 Michel Henry ist Autor eines Buches, das in einer für ein philosophisches Werk des 20. Jahrhunderts (oder auch eines der letzten sechs Jahrhunderte) wohl nie dagewesenen Weise voll von Bibelzitaten ist, aber deren Sinn radikal ändert und sie in einer Weise säkularisiert, welche Hegels Säkularisierung des Christentums weit übertrifft, obwohl Henrys Werk in vielen Passagen tief christlich wirkt. Henry’s für unseren Zusammenhang relevante Position könnte man so zusammenfassen: (1) Jeder bloße Mensch sei Sohn Gottes und dürfe daher von sich sagen, er sei die Wahrheit. (2) Es gelte daher nicht von Gott allein, daß er die Wahrheit sei, sondern auch von uns, allerdings nur weil wir letztlich mit dem sich selbst zeugenden Leben selbst und mit Gott identisch seien. (3) die Aussage eines Menschen, er sei die Wahrheit, sei also für jeden Menschen wahr und weder wahnsinnig noch blasphemisch. (4) Diese Aussage des Menschen Jesus dürften wir nicht nur in einem religiösen Glauben an seine Gottheit annehmen (ansonsten sie ein Ärgernis wäre und wir Jesus als Blasphemiker ablehnen müßten), sondern es gäbe eine rein philosophische Einsicht in sie; ja jedes buchstäbliche Festhalten an Jesu alleiniger Gottheit (als des einzigen Gottmenschen, der von Ewigkeit her Gott ist und in der Zeit menschliche Natur angenommen hat und Mensch geworden ist) sei irrig, ja sogar von einem christlichen Standpunkt aus absurd. Wenden wir uns also zunächst dieser Auffassung, die sich als „christliche Philosophie“ ausgibt, aber in Wirklichkeit, trotz vieler tiefer und ergreifender Passagen in Henrys Werk über Liebe und die Werke der Barmherzigkeit sowie über christliche Ethik und Selbsthingabe,555 eine radikale – monistische und gnostische – Veränderung und Leugnung des Christentums und außerdem eine unhaltbare Metaphysik darstellt, kritisch 554 555

Vgl. Michel Henry, Ich bin die Wahrheit. Für eine Philosophie des Christentums. Vgl. etwa a.a.O., S. 240 ff.

„Ich bin die Wahrheit“ – Ist die Wahrheit Person?

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zu.556 3.1. Jeder bloße Mensch sei Sohn Gottes und dürfe daher von sich sagen, er sei die Wahrheit

Zunächst scheint der französische Phänomenologe Michel Henry ganz damit, daß ausschließlich Gott von sich sagen dürfe, Er sei die Wahrheit, übereinzustimmen, wenn er schreibt: Die Wahrheit des Christentums besteht darin, daß „Jener“, der sich Messias nannte, wirklich dieser Messias war: der Christus, der Sohn Gottes, geboren vor allen Zeiten; Träger des Ewigen Lebens in sich, das er jedem mitteilt, wie es ihm gut dünkt…557

Auch impliziert der Autor eine Adäquationstheorie der Wahrheit, wenn er des weiteren ausführt, daß sich die Texte des Evangeliums auf eine „andere Wirklichkeit als auf die des Textes selbst“ beziehen und daß die Heiligen Schriften nur wahr seien, wenn sich die „Taten und Handlungen Jesu trotz ihres außergewöhnlichen Charakters … wirklich ereignet haben.“558 Doch geht er bald zu einer Heidegger’schen Auffassung der Wahrheit559 über, und zwar interpretiert er diese als „in sich selbst und als solches betrachtetes sich Zeigen“, das dem sich Zeigenden gegenüber gleichgültig und „reines Erscheinen als solches“ sei, ja „im reinen Akt des sich Zeigens besteht“, und das von Michel Henry letzten Endes, ganz ähnlich wie das „Entdeckendsein des Daseins“ bei Heidegger, nicht als ein wirklich 556

557 558 559

Nach Fertigstellung dieses Kapitels wurde ich mit dem hervorragendsten mir bekannten zusamenfassenden und kritischen Artikel über Michel Henrys Werk vertraut, der die hier nur stichwortartig dargestellte Position Henrys synthetisch darstellt, in vieler Hinsicht würdigt, aber in ihren monistisch-pantheistischen Behauptungen, Widersprüchen und ihrer radikalen monistischen Veränderung der christlichen Lehre kritisiert: Markus Enders, „«Ich bin Die Wahrheit». Eine kritische Lektüre von Michel Henrys Philosophie des Christentums“, Archivio di Filosofia, 1, 2/2008, 335-356. Ebd., S. 16. Ebd., S. 17-18. Auf diese werden wir erst im Zweiten Band des vorliegenden Werkes eingehen.

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KAPITEL 5

entdeckendes rezeptives Verhalten des Subjekts, dem sich etwas objektiv Seiendes erschließt, sondern als Akt oder synthetische Tätigkeit eines Subjekts begriffen und ganz in die Nähe der „transzendentalen Einbildungskraft“ Kants gerückt wird.560 Allerdings sei dieser Akt des reinen sich Zeigens primär nicht jener des Entdeckendseins, sondern vielmehr jener der Selbstoffenbarung, der das Wesen des Lebens selbst sei. Das Leben, das Henry ins Zentrum seiner Philosophie rückt und dessen Unreduzierbarkeit auf das nicht Lebendige und Einschränkung auf untergeistige Formen des Lebens er mit Recht und teils blendend hervorhebt,561 sei auch nicht etwas, was vom sich selbst Offenbaren verschieden wäre und sich darin nur zeige, sondern es bestehe in nichts anderem als in diesem sich Zeigen.562 Und nicht nur sei Gott das Leben selbst (in seiner unendlichen Fülle), sondern es gelte auch die umgekehrte Gleichung: „das Wesen des Lebens ist Gott.“ Von dort aus gelangt der Autor zur Meinung, es gäbe nur ein einziges Leben, das er in einem transzendentalphilosophisch-pantheistischen Sinne deutet.563 Allerdings sei dieses Leben nicht im Sinne eines ungeistigen Dranges und Willens zu deuten, unter dessen Zeichen die großen Greuel des 20. Jahrhunderts begangen wurden, sondern eben als ein Leben, das zugleich Weg und Wahrheit sei.564 Dieses Leben sieht der Autor nicht, wie Heidegger, als etwas an, was sozusagen übrigbleibt, wenn man das Spezifisch Menschliche, Sprache und Geist, abgezogen habe, sondern als etwas, was größer sei als alle Lebendigen inklusive des Menschen, ja inklusive Gottes selbst, dem das Leben vorausgehe als das absolut sich selbst zeugende und absolute „phänomenologische Leben“, das eine Art impersonalen und vorpersonalen Lebensstrom bedeute, der sich selbst erzeuge und zugleich das Leben in allen Lebendigen ausmache.565 560 561 562 563 564 565

Ebd., S 25-30. A.a.O., S. 70. Ebd., S. 44. Ebd., S. 44, 54. Ebd., S. 74 f. Es ist für den Leser, der meine einschlägigen Schriften (vor allem Gott als Gottesbeweis2) kennt, unnötig zu sagen, daß ich dies alles für in sich unmöglich und ein reines philosophisch-theologisches Konstrukt halte.

„Ich bin die Wahrheit“ – Ist die Wahrheit Person?

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Dabei nenne das Christentum, wie Henry in seiner säkularisierendphilosophischen Deutung annimmt, das sich selbst erzeugende Leben Vater; was in diesem als Erst-Lebendigem gezeugt werde, Sohn. Es werde aber der Mensch gleichfalls im und aus dem Leben selbst als ein Mensch gezeugt. So sei der Mensch, sowohl im Sinne des Wesens des Christentums als auch in jenem einer „transzendentalen Phänomenologie“, zugleich Sohn Gottes.566 In bestimmten Anklängen an Husserl behauptet Henry, es gehe bei Mensch und Gott, sowie bei Christus und uns, um ein einziges Leben, um eine „transzendentale Geburt der transzendentalen Iche als ‚Mich‘“.567 Die hier zugrundegelegte Ontologie Henrys wirft zahlreiche (und m.E. von seiner Philosophie aus gesehen unlösbare) Probleme auf: Ist wirklich ein „sich Zeigen in Indifferenz zum Gezeigten“ das Wesen der Wahrheit oder gar jenes des Lebens? Kann sich nicht auch Nicht-Lebendiges zeigen, sodaß zwar zum Leben vielleicht eine besondere Art der Selbstoffenbarung gehört, aber das „sich Zeigen“ keineswegs ausschließlich im Leben zu finden ist und deshalb auch nicht das Wesen des Lebens, das viele andere Wesensmerkmale besitzt und überdies eine allem sich Zeigen zugrundeliegende, auf die Materie unreduzierbare Wirklichkeit oder Seele voraussetzt, ausmachen kann?568 Ist nicht ferner biologisches Leben vom geistigseelischen, und unendlich-göttliches vom menschlichen endlichen Leben evident verschieden und ihre Gleichsetzung hinsichtlich des Moments der „Selbstoffenbarung“ daher absolut unhaltbar? Ist ein Gott vorausgehendes und über ihm stehendes „transzendentales Leben“ nicht ein absolut unverständliches Konstrukt? Zwar beruft sich Henry auf die Phänomenologie, aber – was von der späteren Philosophie Husserls gilt, trifft noch ungleich mehr auf seine Philosophie zu: Etwas Unphänomenologischeres, von der Erfahrung und den in ihr gegebenen Wesenheiten und Sachen selbst Abweicherendes und Konstruierteres als diese spekulative Metaphysik läßt sich kaum denken.

566 567 568

Ebd., S. 75 ff. A.a.O., S. 159. Vgl. Josef Seifert, What is Life? On the Originality, Irreducibility and Value of Life.

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KAPITEL 5

3.2. Es gelte daher nicht von Gott allein, daß er die Wahrheit sei, sondern auch von uns, allerdings nur weil wir letztlich mit Gott und dem einzig Absoluten, mit dem Leben selber, identisch seien

Mit erstaunlicher Unverblümtheit und, wenn man die Geschichte des Christentums und die klare Unterscheidung Gottes vom Menschen im Evangelium und in der Theologie kennt, mit kaum nachvollziehbarer Kühnheit, behauptet Henry, „das Christentum“ erkläre, es gäbe nur ein einziges Leben: Gemäß dem Christentum gibt es nur ein „Leben“, das einzige Wesen von allem, was lebt.569

Gott sei daher auch keineswegs die unendliche Fülle des Seins und aller reinen Vollkommenheiten, ein der Welt und allen endlichen Personen und sonstigen Seienden gegenüber transzendenter und unendlicher Gott. Diese Thesen Henrys stellen eine Aufhebung des klassischen Gottesbegriffs selbst, eine radikale Verwerfung jenes Gottesverständnisses, das Augustinus, Thomas von Aquin, Duns Scotus oder Anselm von Canterbury zugrunde liegt, dar, was Hery selber direkt zum Ausdruck bringt: Er ist kein Sein, das mit allen vorstellbaren Eigenschaften versehen ist, die zur höchsten Potenz erhoben wurden, und auch nicht das unendliche Sein, das heißt ein solches Sein, „über dem nichts Größeres gedacht werden kann“ und das aus diesem Grunde notwendig existiert. …570

So könne es auch keine wirkliche Geburt, Schöpfung oder ins Leben Treten des Menschen als Kreatur Gottes geben, sondern der „zu Christus führende Weg“ könne nur „die Wiederholung seiner transzendentalen ‚UrGeburt’ im Schoße des Vaters sein…“ Daher sage auch Christus eine sehr eigentümliche Wahrheit, nämlich „die Wahrheit des Lebens“. Und „die Wahrheit des Lebens ist das Leben selbst“. Das Leben aber, das in uns und Gott ein und dasselbe sei, „ist die Wahrheit“. 571 569 570 571

Henry, a.a.O., S. 80. Ebd., S. 80. a.a.O., S. 128.

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3.3. Die Aussage eines Menschen, er sei die Wahrheit, ergäbe also für jeden Menschen Sinn

Es folgt aus dieser Auffassung, daß Henry (in einer u.E. absolut unakzeptablen und sogar empörenswert unehrlichen Weise) behauptet, nichts weniger als der Kernsatz jeder christlichen Christologie, nach der „dem göttlichen Wesen … eine menschliche Natur hinzugefügt wird“, sei „vom christlichen Standpunkt aus widersinnig“, ebenso wie jede Unterscheidung zwischen menschlichem und göttlichem Wesen. So wie also nur ein einziges Leben existiere, das in Christus und uns denselben Sinn habe und in seinem sich Zeigen die Wahrheit sei, so sei auch jeder Mensch die Wahrheit.572 Dies betrachtet Henry nicht im Sinne von Heideggers (von Henry als widersinnig bezeichneten) „Unterordnung Gottes unter das Sein“,573 sondern aus dem Blickwinkel seiner radikalen transzendentalen Lebensphilosophie und der Einzigkeit dieses Lebens. Wir seien „Söhne im Ursohn“,574 hätten deshalb dasselbe Leben und seien gleichzeitig selber die Wahrheit. 3.4. Die Aussage des Menschen Jesus „Ich bin die Wahrheit“ dürften wir nicht nur in einem religiösen Glauben annehmen, sondern es gäbe eine rein philosophische Einsicht in sie

Dieses abenteuerliche Gemisch aus theologischen, pseudo-theologischen und transzendentalphilosophischen Spekulationen betrachtet Michel Henry als der reinen phänomenologischen Vernunft einleuchtende Wahrheiten, sodaß der ungeheure Satz Christi „Ich bin die Wahrheit“ nicht mehr ein in Kierkegaards Sinn potentiell Anstoß erregender und Ärgernis gebender Satz ist. Ebenso wie seine Worte „Ehe Abraham ward, BIN ICH“, die nahezu zu seiner Steinigung wegen Gotteslästerung und seiner Gleichstellung mit Gott führten, da Jesus den Heiligen und exklusiven Namen Gottes, den Moses aus dem brennenden Dornbusch empfing: „Ich Bin der Ich Bin“, auf sich anwandte, ist nach Henry auch der Satz „Ich bin die Wahrheit“ nicht mehr Gegenstand eines Glaubens an ein unbegrei572 573 574

Vgl. a.a.O., S. 140 ff. A.a.O., S. 220. Vgl. die gute Zusammenfassung des Übersetzers, Rolf Kühn, ebd., S. 386.

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fliches Mysterium der Gottheit Jesu, sondern eine rein rationale Aussage. Erstaulicherweise wirft gerade Henry Anselm von Canterbury einen Rationalismus vor, der die Offenbarung eliminiere und die Existenz Gottes, die sich nicht beweisen lasse, sondern nur geoffenbart werden könne, beweisen wolle.575 In Wirklichkeit aber eliminiert gerade Henry durch seine Destruktion des aller jüdisch-christlichen Offenbarung zugrundeliegenden transzendenten Gottesbegriffs als eines ewigen, von uns verschiedenen Schöpfers, sowie durch seine von den Lehren des Christentums radikal abweichenden und sich als rein transzendentalphilosophische Philosophie ausgebende Theorie, jeden Sinn für religiösen Glauben und Offenbarung im eigentlichen Sinne, indem er eine eigenwillige philosophische Deutung des Christentums als „Offenbarung“ eines allen Personen gemeinsamen, identischen und zur Selbsthingabe und Sohnschaft bestimmten Urlebens deutet, welches uns, also jedem Menschen in seiner eigenen Ipseität, erlaube, sich selbst als die Wahrheit und das Leben anzusehen, das sich als „subjektives Leben“ „in der absoluten Immanenz seiner Selbstaffektion offenbart“.576 Zugleich gehe es um eine „Neugeburt zum göttlichen Leben“. So schön und erbaulich auch die Idee und der Versuch Henrys sind, dem Kern seines Buches entsprechend, in den Lehren des Christentums das Verständnis des eigenen Seins als Gabe des Vaters und die eigene Aufgabe in der Welt als Gegengabe zu verstehen,577 so radikal säkularisiert deutet doch der Autor diese Lehren als rein transzendentalphilosophische, in welchen ein eigentlicher Glaube an die Mysterien Gottes, der Menschwerdung, der Erlösung und der Auferstehung eliminiert werden bzw. in einem angeblich unmittelbar erfahrenen Phänomen eines einzigen in uns selber bestehenden Lebens untergehen und uns berechtigen würden, die (von einem Menschen ausgesprochenen!) unbegreiflichen und schockierenden Worte Christi „Ich bin die Wahrheit“, die in der Tat aus dem Munde jedes Wesens, das nicht wahrhaftig Gott ist, ein Skandal wären, auf uns selber, die wir nun einmal sicher nicht Gott sind, anzuwenden. Dasselbe würde gelten, wenn ein Mensch sich selber jene reinen Vollkom575 576

577

A.a.O., S. 120; S. 216 ff. So faßt Rudolf Bernet die Kerngedanken Henrys zusammen. A.a.O., S. 5 (nicht numeriert). Vgl. die Zusammenfassung Rudolf Bernets, ebd., S. 6-7 (unnumeriert).

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menheiten in ihrer unendlichen Gestalt, die nur in Gott unendlich sein können, zuschreiben und sich die Gerechtigkeit, die Weisheit usf. nennen wollte.578 4. Gott allein kann von sich sagen „Ich bin die Wahrheit“ – Eine von jener Henrys völlig verschiedene Interpretation In schärfstem Gegensatz zu Henry möchte ich hier die These aufstellen und anschließend verteidigen, daß allein Gott579 von sich sagen darf, er sei die Wahrheit. Daß Gott allein die Wahrheit besitzen oder sogar, in einer nicht-reduktionistischen Weise,580 mit ihr zusammenfallen kann oder sogar muß, sieht man am besten im Falle der Erkenntniswahrheit und der ontologischen Wahrheit ein, die auch die veritas vitae einschließt, kann es aber auch im Falle der moralischen und der logischen Wahrheit in je verschiedener Weise sagen. Wenden wir uns schrittweise, von den leichter verständlichen Sachverhalten bis zu den am schwierigsten zu verstehenden fortschreitend, jenen Einsichten zu, in denen sich erschließt, daß kein Mensch, sondern nur Gott sich die Erkenntniswahrheit, die ontologische Wahrheit und die Urteilswahrheit nennen darf und muß. 4.1. „Ich Bin die Wahrheit“ im Sinne der Erkenntniswahrheit

Der Satz, „Ich bin die Wahrheit“581 kann erstens im Sinne der 578

579

580 581

Sicher kann Gott nicht nur die Wahrheit sein, so als wäre er nicht auch das Leben, die Güte, die Freiheit, die Liebe und alle reinen Vollkommenheiten. Und wer die Wahrheit ist, müßte daher auch alle diese anderen Vollkommenheiten besitzen. Vgl. Josef Seifert, Essere e persona. Verso una fondazione fenomenologica di una metafisica classica e personalistica, Kap. 5; ders., “Essere Persona Come Perfezione Pura. Il Beato Duns Scoto e una nuova metafisica personalistica,” S. 57-75. Oder der Gottmensch, der zugleich mit seiner vollen Menschheit ganz Gott ist, dessen Existenz der Philosoph qua Philosoph weder behaupten noch verwerfen darf. René Descartes, 580 Principia philosophiae, XLI. Von dem wir erkannt haben, daß er ausschließlich von Gott gelten kann und niemals von einem Menschen (es sei denn, dieser vereinige in derselben einzigen,

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KAPITEL 5

Erkenntniswahrheit gedeutet werden. Dann meint er die absolute Erfüllung des von der ontologischen und logischen Wahrheit ganz verschiedenen Urphänomens jener Wahrheit, die wir in der Erkenntnis und nur in ihr gefunden haben: jener Unverborgenheit des Seins vor dem erkennenden Geist und jener einzigartigen erkennenden Entsprechung im Erfassen der Dinge so wie sie selber sind. Und dieses Offendaliegen der Dinge vor dem Geist und das sich selbst überschreitende Erkennen der Dinge, so wie sie in sich selber sind, haben wir als etwas erkannt, was im menschlichen und in jedem endlichen Geist nur höchst unvollkommen verwirklicht ist: nicht nur weil der endliche menschliche Geist irrtumsanfällig ist und sehr oft statt jener Wahrheit, die einzig und allein der Erkenntnis selber eigen ist, irrige Meinungen vertritt und falsche Urteile fällt, sondern auch weil jenes Unverborgensein des Seienden vor dem Geist, das nur in der reinen erkennenden Berührung mit dem Sein liegen kann, im Menschen und in jedem endlichen Geist auf Grund seines vielen Nichtwissens und der zahlreichen Unvollkommenheiten seines Erkennens sowie der Unendlichkeit des Seins, insbesondere dessen reiner Vollkommenheiten, nur höchst unvollkommen verwirklicht ist. Viele dieser Unvollkommenheiten sind spezifisch menschlicher Natur, andere kennzeichnen jedes endliche Erkennen, auch das der Engel oder Seligen. Reine Erkenntnis und damit die Erkenntniswahrheit hingegen muß von diesen ihren beiden Gegensätzen des Irrtums und der Unvollkommenheit ganz frei sein. 4.1.1. Vollständigkeit

Die Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit hängt nicht zuletzt von deren Vollständigkeit ab. Vollkommene Erkenntniswahrheit kann daher nur jene Erkenntnis besitzen, die alle Dinge vollständig erkennt. Menschliche Erkenntnis kann niemals vollständig sein. Schon allein weil (neben vielen anderen Gründen) das Sein in seiner Fülle und in seinem Wert unendlich ist, übersteigt es das Erfassungsvermögen des endlichen Geistes unendlich, weshalb die Dinge dem menschlichen Geist gott-menschlichen Person göttliche und menschliche Natur).

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in ihrem Dasein und Wesen weitgehend verborgen sind, nicht nur rein quantitativ, weil wir unendlich viele Sachverhalte und Dinge sowie deren Details nicht erkennen, sondern auch qualitativ, weil wir das, was wir erkennen, nur überaus unvollkommen erkennen. Diese Unvollkommenheit und Unvollständigkeit menschlichen Erkennens zeigt sich besonders im Falle jener mysteriösen Zusammenhänge, die wir als Aporien bezeichnen können. Hier können wir zwar – wenngleich nur unvollständig – zwei Seiten desselben Seienden, wie etwa Leib und Seele, oder zwei Wirklichkeiten wie menschliche Freiheit und deren Abhängigkeit von göttlicher Allmacht, nicht aber deren Zusammenhang vollkommen begreifen, ja gewinnen zunächst den Eindruck, sie seien unverträglich mit einander. In diesen Fällen manifestieren sich am deutlichsten und am bittersten für denjenigen Geist, der volles Begreifen sucht, die Endlichkeit des menschlichen Verstandes und dessen Unfähigkeit eines vollkommenen Verstehens. Descartes drückt dies in einem wunderbaren Text über die tiefe Aporie angesichts des Verhältnisses zwischen menschlicher Freiheit und deren Abhängigkeit von der Allmacht aus: Auf Grund dessen, was wir bisher von Gott erkannt haben, sind wir sicher, daß seine Macht so groß ist, daß wir ein Sakrileg begingen, wenn wir dächten, wir wären jemals fähig gewesen, irgend etwas zu tun, was er nicht vorher geordnet hätte. Aber aus diesem Grunde könnten wir uns leicht in sehr großen Schwierigkeiten verwickeln, wenn wir es unternehmen wollten, die Freiheit unseres Willens mit der göttlichen Vorsehung in Harmonie zu bringen, und wenn wir dies verstehen, das heißt mit unserem Verstande die ganze Ausdehnung unseres freien Willens und die Anordnung der ewigen Vorsehung umfassen und gleichsam in Grenzen einschließen wollten. Statt dessen werden wir keine große Mühe haben, uns von dieser Schwierigkeit zu befreien, wenn wir bemerken, daß unser Denkvermögen begrenzt, und daß die Allmacht Gottes, durch die er nicht nur seit Ewigkeit alles, was ist oder sein kann, gewußt, sondern auch gewollt (bzw. frei zugelassen, Zusatz des Übersetzers) hat ... unendlich ist. Daher kommt es, daß wir genügend Intelligenz besitzen, um klar und deutlich zu erkennen, daß eine solche Macht in Gott ist, aber daß wir nicht genügend Intelligenz haben, um ihre Weite so zu erkennen, daß wir die Art erkennen könnten, wie sie die Handlungen des Menschen vollkommen frei und undeterminiert lasse; und daß andererseits wir auch mit solcher Gewißheit unserer Freiheit und der vom Zwang freien Unbestimmtheit in uns sicher sind, daß es nichts

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KAPITEL 5 gibt, was wir klarer erkennten ... derart, daß die Allmacht Gottes uns in keiner Weise daran hindern darf, von ihr (unserer Freiheit und Unbestimmtheit, Anm. des Übersetzers) überzeugt zu sein. Denn wir hätten Unrecht, an dem zu zweifeln, was wir innerlich wahrnehmen und von dem wir aus Erfahrung wissen, daß es in uns ist, weil wir eine andere ‚Sache‘ nicht verstehen, von der wir wissen, daß sie (für uns – sinngemäßer Zusatz des Übersetzers) von Natur aus unbegreifbar ist.582

Diese insbesonders angesichts aporetischer Zusammenhänge drastisch hervortretende Unvollständigkeit und Unvollkommenheit unseres Begreifens der Dinge könnte nicht als Begrenztheit verstanden werden, wenn wir nicht gleichsam im Spiegel ihres Gegensatzes zur vollkommenen Erkenntnis deren Eigenart und Wesensbestimmtheiten verstünden, in deren Licht allein wir die Unvollkommenheit allen menschlichen Erkennens erfassen können. Dieses unser Verstehen der absolut vollkommenen Erkenntnis ist natürlich selber nicht frei von tiefen Mängeln unseres Begreifens der vollkommenen Erkenntnis. Drei besonders unfaßbare Aspekte der Vollständigkeit der vollkommenen Erkenntnis, deren Zugehörigkeit zur Vollkommenheit des Erkennens wir deutlich sehen, obwohl wir ihre Natur nicht begreifen können, sind die folgenden: die Erkenntnis der Zukunft (welche in einer Welt endlicher Freiheit unmöglich zu sein scheint); die Erkenntnis des inneren Lebens von Personen, das kraft seiner Privatheit und Freiheit allen anderen Beobachtern verborgen ist; und die quantitative und qualitative absolute Unendlichkeit des vollkommenen Wissens und Erkennens. Doch so unerreichbar auch für uns ein volles Begreifen dessen ist, wie solches vollkommene und daher vollständige Erkennen alles 582

Principia philosophiae, in: Oeuvres de Descartes, publiées par Charles Adam et Paul Tannery (Paris: Librairie Philosophique J. Vrin, 1982), Vol. VIII-IX Eigene Übersetzung aus dem Französischen, Tannery IX, 2, S. 42. Vgl. auch den folgenden Text: damit sie [die Unendlichkeit] eine wahrhafte sei, darf sie in keiner Weise begriffen werden, da ihre Unbegreiflichkeit selber im formalen Wesen des Unendlichen liegt.“; „ut sit vera nullo modo debet comprehendi, quoniam ipsa incomprehensibilitas in ratione formali infiniti continetur. René Descartes, Meditationes de Prima Philosophia, Oeuvres de Descartes, hrsg. v. Charles Adam & Paul Tannery, Bd. VII (Paris: J. Vrin, 1983), 1-561, Quintae Responsiones, S. 368, 2-4.

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Seienden möglich ist, so deutlich sehen wir ein, daß vollkommene Erkenntniswahrheit ausschließlich dort ist, wo vollkommenes Erkennen ohne alle Schatten des Nichtwissens und ohne alle Finsternis des Irrtums existiert. 4.1.2. Erkennen der Unendlichkeit, Unmittelbarkeit, restlose Tiefe, unfehlbare Gewißheit und weitere Vollkommenheiten der Erkenntniswahrheit in ihrer reinen Form

Wir dürfen es als eine weitere Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit ansehen, daß der erkennende Geist sowohl die Unendlichkeiten innerhalb des Endlichen als auch und vor allem die absolute göttliche Unendlichkeit klar und distinkt und vollkommen erkennen kann, was keinem endlichen Geist möglich ist. Ferner ist die vollkommene Form der Erkenntnis nur in einer Person realisiert, die alle Gegenstände der Erkenntnis unmittelbar schaut und nicht auf Schlüsse oder Schlußketten angewiesen ist, auch wenn der vollkommen Erkennende natürlich ebenfalls sämtliche logischen Zusammenhänge und Implikationen erkennt. Vollkommene Erkenntnis schließt auch die vollendete Tiefe des Erkennens ein, im Gegensatz zu aller menschlichen Erkenntnis, der die letzte spezifische und qualitative Tiefe des Erkennbaren stets verborgen bleibt.583 Ferner kann nur jene Erkenntnis schlechthin vollkommen sein und vollkommene Erkenntniswahrheit besitzen, die von vollendeter Klarheit ist und in der keine Unklarheiten und Verwirrungen irgendwelcher Art bestehen, wie sie mit menschlicher Erkenntnis immer gemischt sind und unsere Erkenntnis trüben. Weiters kann nur jene Erkenntnis schlechthin vollkommene Erkenntniswahrheit besitzen, die unfehlbar gewiß ist. Unfehlbar gewisse Erkenntnis kann zwar auch der Mensch in Bezug auf gewisse Wahrheiten erlangen, ja man kann behaupten, daß der innerste Kern jeder menschlichen Erkenntnis, das an ihr, was reine Erkenntnis ist, immer irrtumsfrei und unfehlbar ist,584 aber der Umfang unfehlbarer menschlicher Erkenntnis ist in vieler 583

584

Vgl. die faszinierende Untersuchung von sieben Arten personaler „Tiefe“ in Dietrich von Hildebrand, siehe Fußnote 304. Vgl. Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit2, I. Teil, Kap. 3, II. Teil.

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Hinsicht überaus begrenzt und es gibt unendlich viele Gegenstände menschlicher Wissenschaft und empirischer Erkenntnis, in welchen unfehlbare Gewißheit dem Menschen völlig unerreichbar ist, weshalb menschliche Erkenntnis nie in einem umfassenden und totalen Sinn Gewißheit oder gar unfehlbare Gewißheit besitzt. Vollkommene Erkenntniswahrheit kann jedoch nur diejenige Erkenntnis oder besser, nur derjenige Erkennende besitzen, der alle Wahrheit mit unfehlbarer Gewißheit erkennt. Es erübrigt sich jeder Hinweis darauf, daß der menschliche Geist nur einen winzigen Bruchteil des Erkennbaren mit dieser vollenden Erkenntniswahrheit unfehlbarer Gewißheit erkennt und daher nicht die Erkenntniswahrheit ist oder auch nur besitzt. Ferner kann nur jene Erkenntnis vollkommen sein und Erkenntniswahrheit schlechthin besitzen, die alle Erkenntnis in letzter innerer Einheit verbindet, anstatt beziehungslos ein bischen hier und ein wenig dort, etwas früher dies und erst etwas später jenes zu erkennen, ohne des weiteren imstande zu sein, diese Erkenntnisse alle zu verbinden oder gar, sie alle gleichzeitig in voller Aktualität zu besitzen. Auch diese doch so unendlich erstrebenswerte Einheit in allem Wissen und Erkennen in letzter Vollkommenheit zu besitzen ist dem Menschen ganz und gar unmöglich. Nicht nur weil er unzählige Wissenschaften und unendlich viel Wißbares gar nicht kennt und deshalb sein Erkennen bruchstückhaft bleibt, sondern auch weil er das, was er erkennt, in einer zeitlichen Aufeinanderfolge von Erkenntnisakten nur allmählich aufnimmt und dabei immer wieder früher Gewußtes vergißt und jedenfalls nie vollkommen präsent hat. Daher verlangt die vollkommene Verkörperung der Erkenntniswahrheit auch ein Sein jenseits der Zeit bzw. ein voll und immer in unvergänglicher Präsenz gegenwärtiges Subjekt, einen gleichzeitigen und vollkommenen Besitz aller Erkenntnis. Nur wenn alles in einem einzigen und ewigen Blick erkannt wird, kann eine solche Erkenntnis als die Erkenntniswahrheit bezeichnet werden. Denn die zeitliche Aufeinanderfolge von Erkenntnisakten und die schon allein daraus folgende Unfähigkeit, alle Erkenntnis zu vereinen und in einem einzigen Akt zu besitzen, ist eine der zahllosen Unvollkommenheiten menschlichen Erkennens. Auch aus diesem Grund kann nur ein ewiges und göttliches personales Wesen vollkommene Erkenntnis besitzen und vollkommene Erkenntniswahrheit sein oder verkörpern.

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4.1.3. Zusammenfallen von Sein und Erkennen: Ich bin die Wahrheit

Da die Erkenntniswahrheit wesenhaft nur Eigenschaft eines personalen Wesens sein und niemals außerhalb der Person existieren kann, leuchtet es ein, wenn eine Person, die alle Vollkommenheiten der Erkenntniswahrheit, also Allwissen und Allerkennen, besitzt, und sie nicht nur in akzidenteller und zufälliger Weise hat, sondern sie notwendig besitzt und daher in bestimmter Weise mit ihnen zusammenfällt, nicht nur Allerkenntnis und deren Wahrheit besitzt, sondern selber die Erkenntniswahrheit IST. Daher kann in sinnvoller Weise nur eine solche göttliche Person, die notwendig und daher von Ewigkeit zu Ewigkeit existiert und deshalb Erkenntnis in einer nicht-akzidentellen und nicht kontingenten, sondern notwendigen und substantiellen Weise besitzt, von sich sagen: Ich bin die Wahrheit, und dürfen wir nur von ihr allein sagen, Sie ist die Wahrheit. Keine endliche Person besitzt alle Erkenntnis und deshalb kann auch keine endliche Person in vollkommenster Weise die Wahrheit des Erkennens besitzen oder gar sein. Allein Gott hat deshalb nicht in einer bloß begrenzten, unvollständigen und historisch sich entfaltenden, sowie in vielfacher Hinsicht unvollkommenen, Weise Anteil an der Wahrheit des Erkennens, sondern besitzt alle Erkenntniswahrheit in vollkommenster Form und ist mit der vollkommensten Erkenntnis identisch, so daß Er und Er allein von sich sagen kann: Ich bin die (Erkenntnis-)Wahrheit selber. Dies leuchtet am deutlichsten ein, wenn wir an den höchsten Gegenstand aller Erkenntnis, den unendlichen Gott selber, denken. Vor allem Gott ist nämlich, wie Anselm im 15. Kapitel des Proslogion formuliert, nicht nur dasjenige, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann (id quo maius nihil cogitari possit), sondern gerade deshalb auch „etwas, was größer als ist als was [vom Menschen und irgendeiner Kreatur] gedacht werden kann“: „quiddam maius quam cogitari possit“,585 585

Vgl. Anselm of Canterbury (Aosta), Proslogion und Ad Proslogion, in: Anselm of Canterbury (Aosta), S. Anselmi Opera Omnia, Franciscus Salesius Schmitt (Hg.), 2 Bde. (Stuttgart-Bad-Cannstatt: Friedrich Frommann/Günter Holzboog, 1968), Bd. I, S. 89-139, Kap. 15: Ergo domine, non solum es quo maius cogitari nequit, sed es quiddam maius quam cogitari possit. Quoniam namque valet cogitari esse aliquid huiusmodi: si tu non es hoc ipsum, potest cogitari aliquid maius te; quod fieri nequit.

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wobei allerdings das Gedachtwerden und das nicht gedacht werden Können in je verschiedenem Sinn zu verstehen sind.586 Im Sinne der Erkenntniswahrheit ist daher wirklich in jedem endlichen Geist alle Wahrheit mit Nicht-Wahrheit, mit dem Verborgensein des Seins vor dem Blick des endlichen Geistes, vermischt. Im Licht und Spiegel der Unvollkommenheit menschlichen Erkennens gelangen wir jedoch zu einer gewissen Erkenntnis dessen, was die unermeßlich erhabene Erkenntniswahrheit der Erkenntnis Gottes ist, vor dessen Blick ewig und zugleich alles Seiende überhaupt, alles endliche und alles unendliche Sein, alles Vergangene, alles Gegenwärtige und alles Zukünftige und vor allem alles Zeitlose und Ewige restlos und bis in seine tiefsten Tiefen hinein offen daliegt. Es ist ein absolut vollkommenes Erkennen: ein vollständiges, absolut evidentes und unfehlbares, unendlich tiefes und in vollster Aktualität besessenes Erkennen von allem überhaupt. Und eine solche vollkommene Erkenntniswahrheit kennzeichnet ausschließlich das Erkennen Gottes, vor dem alle Dinge in allen ihren Zusammenhängen und in ihrer letzten Eigenart sowie in jedem individuellen Detail vollständig und vollkommenen daliegen. Es ist ein Erkennen, von dem „jedes Haar auf unserem Haupt gezählt“ ist und das die tiefsten Tiefen und Abgründe unserer Seele, aber auch alle Allgemeinheiten und universalen Wesenheiten der Dinge vollkommen erkennt. Nicht nur alle wirklichen Seienden, nicht nur ihre zeitlosen Wesenheiten, auch alle rein intentionalen Gegenstände endlicher Geister, soweit sie in sich erkennbar und bestimmt sind, alle begrifflichen Bedeutungen in all den Unvollkommenheiten, in denen menschliches Denken sie benutzt, aber auch die vollkommen wahren und reinen Begriffe und Begriffs-

586

Und im vorhergehenden Kapitel (14) des Proslogium spricht Anselm von jenem unendlichen Licht, das alles übersteigt, was ein geschaffener Geist erfassen kann: Quanta namque est lux illa, de qua micat omne verum quod rationali menti lucet! Quam ampla est illa veritas, in qua est omne quod verum est, et extra quam non nisi nihil et falsum est! Quam immensa est, quæ uno intuitu videt quæcumque facta sunt, et a quo et per quem et quomodo de nihilo facta sunt! Quid puritatis, quid simplicitatis, quid certitudinis et splendoris ibi est! Certe plus quam a creatura valeat intelligi. Vgl. Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis2, Kap. 1, 2; sowie Kap. 6 ff.

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einheiten und perfekten Urteilsinhalte, die Träger der Wahrheit sind, aber auch alle möglichen Welten bis ins letzte Detail liegen vor diesem allerkennenden Geist ohne jeden Rest des Unwissens und ohne jeden Irrtum und jede Täuschung da. In gleicher Weise werden vom unendlichen Geist alle negativen Sachverhalte, welche die negativen Urteile wahr machen, sowie alles NichtSeiende und das Nichts, das jedem einzelnen endlichen Seienden als sein Nichtsein vorhergeht und aus dem die Welt geschaffen ist, mit letzter Klarheit, unfehlbarer Gewißheit und in der unendlichen Tiefe des Erkennens ohne einen Schatten der Verborgenheit erkannt. Und selbst vor dem geheimnisvollsten aller Seienden, vor Gottes unendlicher Wesenheit und Vollkommenheit, vor seiner jedem endlichen Geist unergründlichen Natur und höchsten Aktualität des Daseins und Wertseins, macht das ungetrübte Licht der göttlichen Erkenntnis und ihrer Wahrheit nicht Halt, sondern dringt bis in die tiefsten und innersten Abgründe des göttlichen Seins vor, das selbst in seiner absoluten Grenzenlosigkeit unverborgen vor dem unendlichen Erkennen liegt. Kein Mensch kann sich auch nur annähernd einen voll adäquaten Begriff von dem unermeßlichen Licht machen, das in einer solchen vollkommensten Erkenntnis liegt. Und doch erfassen wir klar, daß diese zur göttlichen Wesenheit gehört und von ihr untrennbar ist. Und wegen der Notwendigkeit und vor allem der absoluten Untrennbarkeit dieser vollkommensten Erkenntniswahrheit von Gottes Wesen und Aktualität besitzt Gott nicht nur Erkenntnis und ihre vollendetste Wahrheit, sondern ist sie. Wir können diese Idee der unendlichen Wahrheit des Erkennens, die Gott nicht nur hat, sondern ist, klar in ihrer Verschiedenheit von aller endlichen und deshalb mit Unwissenheit gemischten Erkenntnis und Erkenntniswahrheit verstehen, obwohl sie in ihrer unermeßlichen Fülle all unser Fassungsvermögen übersteigt und unserem Geist in ihrem strahlenden Licht ein unergründliches Mysterium ist. Platon, Aristoteles, und nach ihnen Thomas von Aquin und Anselm, verwenden für das Verhältnis zwischen unserer Unfähigkeit, das unermeßliche Licht der göttlichen Wahrheit zu begreifen und dieser selbst ein schönes Bild, dasjenige der sinnlichen Unfähigkeit, direkt in das Licht der Sonne selbst zu blicken. Die Nachteule ist unfähig, das strahlende Sonnenlicht zu schauen, nicht weil dieses nicht strahlend hell wäre, sondern weil ihre Augen unfähig sind, so

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viel Licht aufzunehmen.587 Die vollkommene Wahrheit göttlicher Erkenntnis besitzt auf der einen Seite eine letztlich einleuchtende, innere und unerfindbare Notwendigkeit; sie ist in höchstem Maße das, was Descartes mit seiner idea clara et distincta im Auge gehabt haben mag (auch wenn er die absolute innere Notwendigkeit der Wesenheiten nicht deutlich erfaßt, ja in vielen Passagen sogar geleugnet hat). Auf der anderen Seite liegt das unergründliche Mysterium jener vollkommenen göttlichen Natur und ihrer perfekten Erkenntnis, die das für jeden endlichen Geist unaustrinkbare Licht des Seins in vollkommenster und erschöpfendster Weise trinkt und schaut und deshalb die Wahrheit selbst ist, hinter einem Schleier des unbegreiflichen Mysteriums, das wir nie ergründen können.

4.2. „Ich Bin die Wahrheit“ im Sinne der ontologischen Wahrheit

Wir können nicht nur von der Erkenntniswahrheit, sondern auch von der ontologischen Wahrheit sagen, daß Gott – und zwar Er allein – sie nicht nur hat oder an ihr teilhat, sondern auch die Wahrheit ist. Wir haben im ersten Kapitel gesehen, daß ein Seiendes in verschiedenen Weisen wahr genannt werden kann: Ein Seiendes ist zunächst nur in dem Maße wahr, in dem es wirklich ist. Aus diesem Grund kann auch die vollendete Verkörperung der ontologischen Wahrheit weder in den möglichen Welten, noch in rein idealen Seienden und Eide, oder gar in rein intentionalen Gegenständen liegen, sondern nur in jener wichtigsten Modalität des Seins, dem wirklich Existierenden, das den actus essendi in höchstem Maße besitzt. Innerhalb des real Seienden aber ist im Vergleich zur Wirklichkeit personal lebendigen und bewußten Seins alles Nichtpersonale nur ein Schatten der Wirklichkeit, ein Nichts gleichsam. Deshalb kann nur die Person vollkommene ontologische Wahrheit verkörpern und das wahrste

587

Vgl. Platons Höhlengleichnis in Politeia.7, sowie Siehe insbesondere Thomas von Aquin, De Ver., Q. 1, a. 2-3.

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Sein sein.588 Doch kann das Personsein des endlichen menschlichen personalen Seienden, dessen Wirklichkeit einen Anfang besitzt und das in seiner irdischen, leib-seelischen Situation sterblich ist, dessen bewußtes Leben durch Krankheit, Schlaf und zahllose andere Ursachen unterbrochen oder beeinträchtigt werden kann, und das selbst im wachsten Zustand nur ein endliches Seiendes und durch sein ganzes irdisches Leben und die ganze Geschichte hindurch in der Zeit ist, niemals die Wahrheit und die personale Wirklichkeit des wahrsten Seins besitzen oder gar die Seinswahrheit sein. Ausschließlich das unendliche personale Sein kann die Wahrheit im Sinne der Fülle aller Wirklichkeit, in dem Sinne sein, in dem nur der Ich BIN auch die Wahrheit sein kann. Wenn man schließlich die ontologische Wahrheit in dem verschiedenen Sinne der Intelligibilität und Erkennbarkeit nimmt, so ist es ebenfalls klar, daß nur die unendliche Wirklichkeit, die unendliche Sinnfülle, auch unendliche Erkennbarkeit und Intelligibilität besitzen kann, und kein endliches Seiendes. Dies leuchtet besonders deutlich ein, wenn wir an die absolute Unbegreiflichkeit unseres kontingenten Daseins denken. Daß wir überhaupt sind und nicht vielmehr nicht sind, findet in unserer eigenen Natur keinerlei Erklärung. Allein schon aus diesem Grund entbehrt unser Sein höchster Intelligibilität. In ähnlicher Weise sind unsere spezifischen und persönlichen Grenzen kontingent und durch uns selbst unerklärbar. 588

Den Ausdruck des wahrhaft Seienden, alethinon on, finden wir bei Platon, etwa in Sophistes 240 b: XE. !Ara tò Âlhjðinòn ÓntwV Òn lægwn? JÐEAI. ¿OútwV.

Auch in Politeia 537d spricht Platon davon, zum wahrhaft (met’ aletheias) Seienden zu gelangen: Êp) aütò tò Òn met) ÂlhjðeíaV Îænai.

Bei Platon ist auch die Rede von dem ontos on, von dem „seiend Seiendem“, etwa in dem folgenden und vielen anderen Texten: ½ plhsiásaV ka˜ migeìV tÖ Ónti ÓntwV, genn®saV noûn ka˜ Âl®jðeian, gnoíh te ka˜ ÂlhjðvV zŒh ka˜ træfðoito ka˜ /oútw l®goi ØdînoV, prìn d) oÚ? $WV /oëón t), Éfðh, metriõtata.

Politeia, 6.490b.

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KAPITEL 5

Wie Pascal in einem gewaltigen Bild sagt: Warum bin ich hier und nicht woanders? Warum ist diese Lebenszeit meine und nicht eine kürzere oder längere? Auf wessen Anordnung hin bin ich gerade in diese unter unendlich vielen anderen möglichen Grenzen eingeschlossen? Und dies gilt für alle unsere Grenzen des Erkennens, Lebens, freien Wollens, Liebens. Begrenztheit eines realen Seienden schließt immer die Kontingenz seiner Grenzen und seines Daseins ein. Nur ein unendlicher und aus sich und in sich notwendig seiender Gott kann deshalb auch in diesem Sinne ontologischer Wahrheit das höchste Licht des Intelligiblen, die Wahrheit sein. Meint man ferner mit dem wahren Sein das Gute, das werttragende und in sich selber kostbare und positiv bedeutsame Sein, so ist wiederum klar, daß kein endliches Gut, sondern nur der unendlich Gute und Heilige das wahrste Sein oder die Wahrheit sein kann, weil nur in Ihm allein die moralischen und alle übrigen höchsten Werte und reinen Vollkommenheiten, das Sein und Leben, die Weisheit, Gerechtigkeit, Liebe und Barmherzigkeit vollkommen sind. Deshalb kann allein Gott die Wahrheit im Sinne dessen sein, der kraft seiner immensen Gutheit seine vollste raison d’être in sich, in der Unendlichkeit der eigenen Gutheit, in so unbegrenztem Maße besitzt, daß Er in diesem axiologischen Sinne nicht nur wahres Sein, sondern die Wahrheit ist. Also kann auch in diesem absoluten Wert-Sinne allein Gott die Gutheit selber und also die WertWahrheit sein und dürfte sich niemals ein Mensch den Guten oder die (in seinem Gutsein gründende) Wahrheit nennen.589 Wir haben zu Anfang dieses Werkes einen anderen Sinn ontologischer Wahrheit unterschieden, in dem etwas in dem Maße wahr ist, in dem es seinem Wesen oder seiner idealen Gestalt und Wesenheit konform wird. In diesem Sinne des Abbildseins und einer Art ontologischen Entsprechung 589

Vgl. zu alledem auch Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis2. Sogar Christus, von dem Christen glauben, daß er allein zugleich Gott ist, bekräftigt diese evidente Wahrheit über Gott, wenn er zu dem reichen Jüngling spricht, der ihn als „guter Meister“ anredet: „Warum nennst Du mich gut? Gott allein ist gut.“ (Mt 19:17); vgl. auch Lev 19:2, sowie Papst Johannes Paul II, Veritatis Splendor, (1973), bes. Nr. 72. Zu einer rein philosophischen Begründung dieser metaphysischen Wahrheit vgl. Josef Seifert, “The Idea of the Good as the Sum-total of Pure Perfections. A New Personalistic Reading of Republic VI and VII”, S. 407-424.

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kann Gott selber seine höchste innere Wahrheit unmöglich aus einem Abbildverhältnis zu etwas anderem und Höheren schöpfen.590 Vielmehr haben wir eine noch ursprünglichere Form der Seinswahrheit, die aller Wahrheit des Abbilds zugrundeliegt, in der inneren Wahrheit, die zugleich die Wahrheit des Urbilds ist, entdeckt. Daher kann auch jene tiefste Weise, in der die ontologische Wahrheit nicht dem Abbild (durch eine adaequatio entis ad perfectam formam), sondern allein dem Urbild, dem Vorbild aller Dinge, das als solches letztes Richtmaß aller solchen abgeleiteten Seinswahrheit (kraft eines dem Urbild Entsprechens der endlichen Seienden und Wesen) ist, nur Gott im höchsten und absoluten Sinne zukommen und Ihm allein eigen sein. Also kann auch nur er allein in diesem höchsten Sinne von Seinswahrheit die Wahrheit sein.

4.3. „Ich bin die Wahrheit“ als Aussage über die Identität der logischen Wahrheit mit Gott – die Wahrheit als Person und der „Veritas-Beweis“ für Gottes Existenz aus der logischen Wahrheit

Wenn man an die logische Wahrheit aller Urteile denkt, kann man diese nicht in simplistischer Weise mit Gott identifizieren, denn Gott ist nicht identisch mit dem wahren Satz, daß diese und jene Szene eines pornographischen Films unanständig ist, oder daß 3 eine Primzahl ist. Dennoch kann auch die Wahrheit jedes Urteils nur in einem Geist zu sich selber kommen, nur der Geist kann sie ja erfassen, nur in ihrer Einheit und Verbindung mit dem lebendigen und denkenden Geist kann sie volle Realität erlangen und sonst, wäre sie nicht mit der Wahrheit des Erkennens untrennbar vereint, würde sie ein bloßer Schatten der Wahrheit selbst, eine potentielle Wahrheit, die auf ihr zu sich selber Kommen durch den ihrer bewußten Geist wartet, sein. Denn es ist metaphysisch unnachvollziehbar und eine unhaltbare Hypothese, daß die Wahrheit in der unendlichen Fülle und Vollkommenheit aller wahren Urteile und all ihrer Zusammenhänge 590

In diesem Sinne des Abbildseins und einer Art ontologischen Entsprechung kann Gott selber nur gemäß dem Glaubensmysterium der Trinität und des Sohnes, der allein perfektes Abbild des Vaters ist, und nur im innergöttlichen Leben Gottes, ontologische Wahrheit im Sinne eines vollkommensten Abbildes und Urbildes zugleich zugeschrieben werden.

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nur als Eigenschaft rein idealer zeitloser Urteilsinhalte bestünde, ohne auch als solche verstanden zu werden. Und in dieser ihrer organischen Einheit mit dem personalen Geist, in dieser ihrer vollendeten Form, in der sie ausschließlich als Inhalt des lebendigen, denkenden und urteilenden Geistes Wirklichkeit gewinnt, kann auch die Urteilswahrheit, die logische Wahrheit, nur im vollkommen erkennenden Geiste zu sich selbst kommen und wirklich „sie selber sein.“ Bedenken wir dabei die schon im vorigen Kapitel erörterte und klar zutage liegende Unabhängigkeit der Urteilswahrheit von menschlichen Urteilsakten und die Vollkommenheit der Wahrheit aller Urteile selber, so stellt sich erneut das schon erwähnte Problem, wie dieses „ideale“ Bestehen der Wahrheit mit dem früher erklärten Faktum in Einklang zu bringen sein soll, daß die Urteilswahrheit wesenhaft Begriffe und Urteilsgebilde voraussetzt und daß die letzteren geistgeboren sind und nur durch einen personalen Geist hervorgebracht werden können. Eine Welt ‘ideal seiender’ Begriffe, die ohne jeden personalen Geist einfach da sind, wie sie sich uns als Ergebnis der Untersuchungen des vorigen Kapitels darstellten, ist einerseits zwar bewiesen, andererseits aber ist ihre Behauptung metaphysisch paradox und letztlich für sich alleine betrachtet nicht aufrechtzuerhalten, ohne daß man die Verbindung zwischen dieser rein logischen unendlichen Welt wahrer Urteile mit einem sie vollkommen erkennenden Geist sieht. Die Annahme einer von Personen total losgelösten Welt der Begriffe und „Sätze an sich“ verstößt gegen die in den letzten beiden Kapiteln dargelegte Persongebundenheit logischer Begriffe und Urteile, die diese – in einem scheinbaren Paradox – zugleich mit ihrer reinen und von allen menschlichen Denkakten unabhängigen Idealität auszeichnet. Sollen wir nun einfach vor diesem ungelösten Dilemma stehen bleiben oder gar den Schluß ziehen, daß in unserer Argumentation im vorigen Kapitel irgendein Fehler stecken muß, der sich bei erneuter Überprüfung als solcher zeigen und herausstellen wird? Besteht die Wahrheit vielleicht unbeschadet all unserer Argumente doch nur als deren Eigenschaft in Urteilsgebilden, die von Menschen erzeugt wurden? Und besteht sie daher, wenn es ausschließlich menschliche Personen gibt, nur kraft des Menschen bzw. in der Übereinstimmung zwischen den vom Menschengeist hervorgebrachten Urteilen mit der Wirklichkeit? Nein, wir wollen auf keinen Fall eines der beiden in einem gewissen

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Spannungsverhältnis stehenden Ergebnisse unserer Untersuchungen leugnen, was eine ‚Untreue‘ gegen mit Evidenz erkannte Wahrheit implizieren würde, sondern entweder beide in ihrem Spannungsverhältnis stehen lassen, ohne eine ‚Lösung‘ und Versöhnung beider zu erreichen, oder aber es gelingt uns, sie zu einer Einheit zu bringen. Eine solche innere Einheit und die bloße Scheinbarkeit eines Widerspruchs zwischen ihnen kann in der Richtung einer personalistischen und zugleich platonischen Metaphysik, welche einerseits das Personsein als höchste Seinsform und andererseits ideale Wesenheiten und Bedeutungseinheiten anerkennt, gesucht werden: Es werden jene Begriffe und Urteilsinhalte, die von der Wahrheit als Träger vorausgesetzt werden, immerfort durch einen unzeitlich-ewigen, transzendenten, denkenden Geist hervorgebracht, der der letzte metaphysische „Ort“ der Wahrheit ist bzw. der in geheimnisvoller Weise mit der Wahrheit „zusammenfällt“. Ein tieferes Durchdenken der Spannung zwischen den beiden Tatsachen, die wir zu erhärten suchten (der Persongebundenheit von Begriffen und der von Menschen unabhängigen Existenz der Wahrheit) läßt sich, dies wenigstens ist klar, im Rahmen einer atheistischen Metaphysik nicht bis zum Ende führen. Im vorigen Kapitel hat es uns genügt gezeigt zu haben, daß die Urteilswahrheit nicht erst kraft menschlichen Urteilens und Denkens da ist und daher auch nicht durch Tod, Selbstmord oder Vergessen ausgelöscht werden kann, und daß vor allem die Wahrheit nicht an der Unvollkommenheit, Unklarheit und Verworrenheit menschlichen Denkens leidet, sondern in sich rein, mit Irrtümern nicht vermischt und vollkommen ist, ein transzendentes Licht jenseits menschlichen Denkens. Jetzt mußen wir weitergehen: Weil Gott allein die Urteilswahrheit selbst gesamthaft und vollkommen erkennt und weil sie nur in Gottes Geist ihre volle Wirklichkeit aktuell besitzen und nur in seinem unendlichen personalen Geist die Wurzel aller ewigen Träger der Urteilswahrheit sein kann, kann auch die logische Wahrheit nur in Gott sie selber sein; und da diese Wahrheit nur in oder vor seinem erkennenden Geist selber vollkommen sie selber ist, ist sie nicht nur in Gott wie etwas Ihm selber Fremdes, sondern muß in einer uns freilich nur dunkel zugänglichen Weise mit Gott zusammenfallen. Daher muß Gott, und darf ausschließlich Er sagen, er sei die Wahrheit, die allumfassende, als solche erkannte und im Geist zu sich selber gekommene Wahrheit aller wahren Urteile selbst.

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4.4. Konklusion: Gott ist in jeder Hinsicht die Wahrheit selbst

Daher ist letztlich die Gleichsetzung der Wahrheit selbst, der Erkenntniswahrheit, der ontologischen Wahrheit und der Urteilswahrheit, mit der absoluten personalen Wirklichkeit Gottes logisch und ontologisch gefordert: Gott allein kann nicht Wahrheit haben oder nur an ihr teilhaben, oder sie als etwas ihm selber Vorgegebenes und Fremdes erkennen, sondern er muß sie selber sein: denn nur in Gott findet alle ontologische Wahrheit, alle Erkenntniswahrheit und alle Urteilswahrheit ihre letzte Wirklichkeit und Erfüllung. Wenn daher der Mensch Jesus von sich sagt, er sei die Wahrheit, so ist dies entweder Wahnsinn oder Blasphemie, oder aber … er ist Gott, wie die Christen dies von ihm bekennen: er sei „wahrer Gott und wahrer Mensch“ – in der Einheit einer einzigen Person göttliche und menschliche Natur vereinigend. Der Philosoph kann natürlich den bei den Juden Ärgernis erregenden und den Griechen Torheit scheinenden Wahrheitsanspruch der Worte Christi, „Ich bin die Wahrheit“, eines Anspruchs, der so ungeheuerlich ist, daß er nur vom Glauben angenommen werden kann, nicht beweisen. Alles, was der Philosoph als solcher sagen kann, ist: Wenn Jesus Christus die Wahrheit selber ist, so ist er Gott. Ist es deshalb wahr, daß er die Wahrheit ist, dann ist es auch wahr, daß er Gott ist. Denn, und diese metaphysische Wahrheit ist rein philosophisch auf dem Weg unmittelbarer Einsichten und Beweise erkennbar: Gott allein ist die Wahrheit.