Vom Olymp zum Boulevard: Die europäischen Monarchien von 1815 bis heute – Verlierer der Geschichte? [1 ed.] 9783428553587, 9783428153589

Ist die Monarchie ein Verlierer der Geschichte? Eine lange in der Geschichtswissenschaft verbreitete Modernisierungsthes

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Vom Olymp zum Boulevard: Die europäischen Monarchien von 1815 bis heute – Verlierer der Geschichte? [1 ed.]
 9783428553587, 9783428153589

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Vom Olymp zum Boulevard: Die europäischen Monarchien von 1815 bis heute – Verlierer der Geschichte? Herausgegeben von

Benjamin Hasselhorn Marc von Knorring

Duncker & Humblot . Berlin

Prinz-Albert-Forschungen Prince Albert Research Publications

Prinz-Albert-Forschungen Prince Albert Research Publications Neue Folge In Verbindung mit Ronald G. Asch, Franziska Bartl, Ralf Behrwald, Jeremy Black, Christopher Clark, Carl-Christian Dressel, Hermann Hiery, Stefanie Knöll, Ludger Körntgen, Hans-Christof Kraus, Stefan Schieren, Dieter J. Weiß herausgegeben von

Frank-Lothar Kroll

Band 1 / Volume 1

Vom Olymp zum Boulevard: Die europäischen Monarchien von 1815 bis heute – Verlierer der Geschichte?

Herausgegeben von

Benjamin Hasselhorn Marc von Knorring

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: Das Druckteam GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 2199-4285 ISBN 978-3-428-15358-9 (Print) ISBN 978-3-428-55358-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-85358-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Geleitwort Mit dem Band „Vom Olymp zum Boulevard: Die europäischen Monarchien von 1815 bis heute – Verlierer der Geschichte?“ eröffnet die PrinzAlbert-Gesellschaft die Neuauflage einer Schriftenreihe, deren Bände als Ergänzung und Begleitung der 1983 von Kurt Kluxen, dem ersten Vorsitzenden der Gesellschaft, begründeten und seit 2014 im Verlag Duncker & Humblot / Berlin erscheinenden „Prinz-Albert-Studien“ dienen. Nach dem personellen Wechsel des Vorsitzes der Gesellschaft war die Einrichtung einer „Neuen Folge“ der „Prinz-Albert-Forschungen“ aus Sicht des Vorstandes, des Wissenschaftlichen Beirates und der Mitgliederversammlung wünschenswert, um einen klaren Neuanfang zu kennzeichnen. Die „Neue Folge“ der „Prinz-Albert-Forschungen“ wird, wie bisher, Dissertationen, Habilitationen, Sammelbände, Konferenzprotokolle und Quellen­ editionen in deutscher und englischer Sprache aufnehmen, sich dabei jedoch, anders als bisher, um eine verstärkte Berücksichtigung historisch relevanter Aspekte bemühen – insbesondere aus den Bereichen der Dynastie- und Di­ plomatiegeschichte, der Kultur- und I­deengeschichte, der modernen Biographieforschung und mentalitätshistorischer Problemstellungen. Vorstand, Wissenschaftlicher Beirat und Mitglieder der Prinz-Albert-Gesellschaft hoffen auf diese Weise der Erforschung der deutsch-britischen Beziehungen in Vergangenheit und Gegenwart neue Impulse zu vermitteln und – nicht zuletzt angesichts aktueller europapolitischer Tendenzen und Entwicklungen – die ideellen, intellektuellen und wissenschaftlichen Verbindungen und Kontakte des Inselreiches zum Kontinent zu bewahren und zu vertiefen. Frank-Lothar Kroll Hon. Chairman

Vorwort Dieser Band hat seinen Ursprung in einer Tagung, die wir im September 2015 an der Universität Passau durchgeführt haben. Der Universitätsleitung gebührt unser großer Dank für die uneingeschränkte finanzielle Förderung dieser Veranstaltung, ohne die unser Anliegen von vornherein kaum hätte verwirklicht werden können. Die uneingeschränkte Bereitschaft namhafter Monarchiehistoriker, zum Programm und damit zum Gelingen dieser Tagung beizutragen, und die vielen positiven Reaktionen auf ihren Verlauf und ihre Ergebnisse haben uns darin bestärkt, die Referate nunmehr als Aufsätze zu versammeln und zu publizieren. Nicht alle der seinerzeit beteiligten Kollegen sahen sich in der Lage, ihren Teil dazu beizusteuern, andere wiederum konnten wir für den Sammelband hinzugewinnen. Im Ergebnis liegt ein abgerundetes Korpus profunder Studien über Wege und Umwege der europäischen Monarchien von 1815 bis zur Gegenwart vor – das wir nunmehr in der Hoffnung auf vorbehaltlose Wahrnehmung und sich daraus ergebende konstruktive Diskussionen der geschichtswissenschaftlichen Öffentlichkeit vorlegen. Dass dieser Band erscheinen konnte, war ebenfalls keine Selbstverständlichkeit. Vor diesem Hintergrund gebührt unser größter Dank Herrn Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll, Chemnitz, für seine stets ebenso interessierte wie wohlwollende und nicht zuletzt großzügige Begleitung und Förderung des Projekts, und insbesondere als Vorsitzendem der Prinz-Albert-Gesellschaft für die Aufnahme des Bandes in deren Schriftenreihe. Passau und Berlin, im November 2017

Benjamin Hasselhorn Marc von Knorring

Inhalt Benjamin Hasselhorn / Marc von Knorring: Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 I. Phasen der Monarchiegeschichte Josef Johannes Schmid: Fatalität der Revolution? – Monarchische Innovation und Behauptung monarchischer Tradition (1760–1820)  . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Jes Fabricius Møller: Die Domestizierung der Monarchien des 19. Jahrhunderts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Benjamin Hasselhorn: Das Monarchiesterben 1914–1945: Ein Siegeszug der Demokratie?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Marc von Knorring: Nur Moderatoren und Medienstars? Europäische Herrscherfamilien seit dem Zweiten Weltkrieg  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 II. Europäische Herrscherhäuser Eberhard Straub: Die letzten Hohenzollern: Die ästhetisierte Monarchie als historisches Kostümstück und Große Oper  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Frank-Lothar Kroll: Zwischen Autokratie und Konstitutionalismus. Herrschaftsbegründung und Herrschaftsausübung im späten Zarenreich  . . . . . . . . . . . . . 101 Matthias Stickler: Die Habsburger – eine alteuropäische Dynastie im Spannungsfeld von Konstitutionalismus und Nationalismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Dieter J. Weiß: Das Wittelsbacher Königtum – Entwicklung des Legitimitätsprinzips  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Georg Eckert: Legitimationsstiftung durch Skandale: Die eigenartige Popularität der britischen Monarchie in der Moderne  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 III. Begründungsstrategien monarchischer Herrschaft Hans-Christof Kraus: Monarchie und Volk – Idee und Problem der ‚Volksmonar­ chie‘ in Deutschland. Eine Skizze  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Volker Sellin: Die Nationalisierung der Monarchie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Franz-Reiner Erkens: Vom „magischen Kitt“ der Monarchie. Ein Essai über die longue durée und das allmähliche Verblassen religiöser Herrschaftsbezüge  255 Autorenverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

Einleitung Von Benjamin Hasselhorn, Berlin, und Marc von Knorring, Passau Das öffentliche Interesse an der Monarchie als Staats- und Herrschaftsform sowie als Bewahrerin von Kultur und Tradition ist seit langem ungebrochen und hat in jüngster Zeit eher noch zugenommen. Regelmäßig wird etwa über die spanische und vor allem die britische Monarchie, insbesondere die Rolle Königin Elisabeths und ihrer engeren Familie im öffentlichen Leben berichtet. Thronwechsel und dynastische Hochzeiten auch in kleineren Ländern wie Belgien oder den Niederlanden finden stets Aufmerksamkeit in Presse und Fernsehen und werden unter politischen und gesellschaftlichen Aspekten analysiert – und das nicht nur mit Blick auf die tatsächlich regierenden Königs- bzw. Fürstenhäuser Europas, wie 2011 die Übertragung der Hochzeit von Prinz Georg, des Chefs des Hauses Hohenzollern, im deutschen Fernsehen gezeigt hat. Unterdessen ist auch die Monarchiegeschichtsschreibung wieder deutlich im Aufwind. Die ältere, auf Fragen nach verfassungsrechtlichen Kompetenzen, politischer Macht und sozial-hierarchischen Wandlungen fixierte historische Forschung hatte die europäischen Monarchien des 19. und erst recht des 20. Jahrhunderts über Jahrzehnte hinweg leichthin als Auslaufmodelle gebrandmarkt, als „Verlierer der Geschichte“, deren Schicksal im Grunde schon mit den Ereignissen von 1789, spätestens aber seit der Etablierung der Wiener Ordnung im Jahr 1815 besiegelt gewesen sei, bis sich schließlich vor allem in der Zäsur von 1918, zum Teil noch verzögert bis 1945, das unabwendbare Schicksal der europäischen Dynastien vollzogen habe – von wenigen, freilich in der Folge bedeutungslosen Ausnahmen abgesehen1. Das Negativurteil über den historischen Stellenwert der europäischen Monarchien fußt dabei auf den ersten Blick auf durchaus schlagkräftigen Argu1  Beispielhaft für diese ältere Forschungsmeinung Hans Boldt, ‚Monarchie‘ im 19. Jahrhundert, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978, 189–214; ebenso beispielhaft für deren Fortwirken, dabei jedoch trotz wissenschaftlichen Anspruchs polemisch überspitzend und sogar mit Gehässigkeiten durchsetzt Lothar Machtan, Die Abdankung. Wie Deutschlands gekrönte Häupter aus der Geschichte fielen, Berlin 2008.

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menten: Der sukzessive Verfall der Machtposition der Monarchen durch Konstitutionalisierung und Parlamentarisierung in den Jahrzehnten zwischen den Befreiungskriegen und dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der damit einhergehende Verfall ihrer Legitimationsbasis vom Gottesgnadentum über zweckrationale Begründungen bis hin zur Beschränkung ihres Amtes auf bloße Repräsentativfunktionen, schließlich die allmähliche quantitative Reduzierung der monarchisch verfassten Staaten in Europa, immer wieder versinnbildlicht in der Zäsur der Revolutionen von 1917 / 18, und der dramatische Ansehensverlust vieler Dynastien gerade in der Folge des Ersten Weltkriegs – keine der mit ihm untergegangenen Monarchien ist jemals restauriert worden – sprechen für sich genommen eine eindeutige Sprache. Demgegenüber hat sich jedoch in den vergangenen gut zwei Jahrzehnten mehr und mehr ein Forschungszweig etabliert, der dieses Verdikt durch Studien von ungleich größerer thematischer Breite und analytischer Tiefe nicht nur ins Wanken gebracht, sondern aus heutiger Sicht unhaltbar gemacht hat. Die Vertreter dieses Forschungszweigs, den man mit Fug und Recht als „neue Monarchiegeschichte“ bezeichnen kann, haben sich dabei nicht einfach mit einem differenzierteren Blick auf konstitutionelle Praxis und ­Machtstrukturen in den Königs- und Fürstenherrschaften Europas begnügt. Vielmehr haben Sie die Perspektiven etwa durch moderne kultur- und mediengeschichtliche Fragestellungen enorm erweitert und so eine völlig neue Einschätzung des Phänomens „Monarchie“ im 19. und 20. Jahrhundert begründet – genannt seien an dieser Stelle nur pars pro toto David Cannadine (Die Erfindung der britischen Monarchie 1820–1994, 1994), Johannes Paulmann (Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, 2000), Monika Wienfort (Monarchie in der bürgerlichen Gesellschaft. Deutschland und England von 1640–1848, 1993), Volker Sellin (Gewalt und Legitimität. Die europäische Monarchie im Zeitalter der Revolutionen, 2011) und Dieter Langewiesche (Die Monarchie im Jahrhundert Europas, 2013); hinzu kommen zahlreiche Detailstudien zu einzelnen europäischen Monarchen2. So unterschiedlich die Arbeiten dieser „neuen Monarchiegeschichte“ sind, so ist ihnen doch gemeinsam, dass sie nicht einfach davon ausgehen, dass die 2  Vgl. auch die Beiträge in den folgenden, jüngst erschienenen Sammelbänden: Frank-Lothar Kroll / Dieter J. Weiß (Hrsg.), Inszenierung oder Legitimation? / Monarchy and the Art of Representation. Die Monarchie in Europa im 19. und 20. Jahrhundert. Ein deutsch-englischer Vergleich (Prinz-Albert-Studien / Prince Albert Studies, 31), Berlin 2015; Frank-Lothar Kroll / Martin Munke (Hrsg.), Hannover  – CoburgGotha – Windsor. Probleme und Perspektiven einer vergleichenden deutsch-britischen Dynastiegeschichte vom 18. bis in das 20. Jahrhundert / Problems and perspectives of a comparative German-British dynastic history from the 18th to the 20th century (Prinz-Albert-Studien / Prince Albert Studies, 32), Berlin 2015.

Einleitung3

Monarchie seit dem 19. Jahrhundert eine von den Zeitläuften überholte Institution ist, sondern dass sie im Gegenteil in den vergangenen zweihundert Jahren ihre enorme Wandelbarkeit und Anpassungsfähigkeit unter Beweis gestellt hat. In diesem Sinne kommen daher die verschiedenen Legitimations- und Überlebensstrategien monarchischer Staaten ebenso in den Blick wie der Wandel in Funktion und Selbstverständnis der Herrscher bzw. Dynastien. In den einschlägigen Untersuchungen wird dementsprechend nicht nur den großen monarchischen Staatswesen wie Frankreich oder Deutschland (bis bzw. ab 1871) bescheinigt, im Lauf des 19. Jahrhunderts nach außen und innen herausragende politische, sozialreformerische und integrative Leistungen vollbracht und ihre Stellung durch ausgeklügelte Legitimationsstrategien gesichert zu haben; zugleich werden die Umbrüche von 1918 etwa auch in Österreich-Ungarn als vielfach von der Bevölkerung ungewollt verstanden. Die Stabilisierung der nach 1945 verbliebenen gut zehn Monarchien in Europa (bei Wegfall Griechenlands und Hinzutreten Spaniens), die wieder zunehmende Bedeutung ihrer Oberhäupter als Staatsorgane über den Parteiinteressen und einflussreiche politische Berater in stabilen Demokratien, ihre Funktion als Integrations- und Identifikationssymbole, sowie die schon erwähnte große Rolle der Herrscherfamilien in den Medien und ihre aktuell wieder große Beliebtheit in der Bevölkerung oftmals nicht nur des eigenen Landes (auch über die Krisen und Skandale des späteren 20. Jahrhunderts hinweg, wie etwa die Beispiele Großbritanniens oder der skandinavischen Königreiche zeigen) stehen dem früher vorherrschenden eindimensionalen Negativurteil ebenfalls – oft diametral – entgegen. Die einzelnen Elemente bzw. Aspekte dieser neuen Sichtweise harren freilich – zumal dort, wo sie im Zusammenhang mit einem engeren räumlichen oder zeitlichen Fokus stehen – bislang einer Zusammenfassung und gebündelten Reflexion. Diese zu leisten und damit dem Diktum des ununterbrochenen Abstiegs der Monarchie in Europa seit ihrer um 1800 beginnenden Infragestellung aus größerer und umfassenderer Perspektive zu begegnen, ist eines der Anliegen dieses Sammelbandes, der auf den Vorträgen einer Tagung basiert, die die Herausgeber im September 2015 an der Universität Passau veranstaltet haben. Die Leitfrage des Projekts knüpft damit einerseits an aktuelle geschichtswissenschaftliche Erkenntnisinteressen an, wie sie etwa im Motto des 50. Deutschen Historikertags vom September 2014 („Gewinner und Verlierer“) zum Ausdruck gekommen sind, andererseits bezieht sie sich auf ein klassisches Deutungskonzept der „politischen Moderne“ als – normativ verstandener – Fortschrittsgeschichte, dessen Plausibilität zwar im Zuge der Kritik an den seit den 1970er Jahren etablierten strukturgeschichtlichen „Meistererzählungen“ vordergründig nachgelassen hat, das implizit aber weiterhin außerordentlich wirksam ist, obwohl es in dieser vereinfachten Form einer Überprüfung an den Quellen nicht standhält.

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Innerhalb dieses übergeordneten Rahmens versucht der vorliegende Band, dessen Autorenkreis im Vergleich zur Tagung noch um zusätzliche Experten erweitert werden konnte, das Feld der monarchiegeschichtlichen Forschung für das 19. und 20. Jahrhundert abzustecken und dabei auf der Basis der neuen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte verbliebene Forschungslücken zu füllen bzw. zumindest zu benennen. Dazu orientieren sich alle Beitrage an einer Reihe gemeinsamer weiterführender Fragestellungen, wie etwa: Erfuhren die europäischen Monarchien bzw. ihre Oberhäupter einen Machtverlust oder lediglich eine Machtverlagerung durch ihren seit 1815 sich vollziehenden Funktionswandel? Wie hoch ist ihr informeller Einfluss in den modernen Staatswesen, nicht zuletzt auch als Verkörperung von Tradition und Kontinuität in Zeiten beschleunigten Wandels, im Vergleich zu ihren früheren Regierungskompetenzen einzuschätzen? Konnten sie womöglich auf lange Sicht den Verlust an Divinität und verfassungsmäßig fixierten Machtbefugnissen durch einen Gewinn an Ansehen (oder gar Beliebtheit) und informellen Einflussmöglichkeiten kompensieren? Kann allein schon ihre offenkundige Anpassungsfähigkeit an die sich wandelnden Verhältnisse als Erfolg gewertet werden, oder ist ihre Entwicklung letztlich doch als kontinuierlicher Bedeutungsverlust mit retardierenden Momenten zu charakterisieren? Kann aufs Ganze gesehen überhaupt von einer geradlinigen Entwicklung die Rede sein, oder hat die Monarchie im Europa der vergangenen beiden Jahrhunderte, gegebenenfalls mehrfach, einen Statuswechsel erfahren? Schon wenn man diese Fragen nur stellt, wird sofort deutlich, dass die Beurteilung des Phänomens „europäische Monarchien“ allein über die Integration verschiedener Betrachtungsebenen gelingen kann, wobei keineswegs nur verfassungs- und politik-, sondern vor allem auch ideen-, sozial- und kulturgeschichtliche, speziell etwa medien- und wahrnehmungshistorische Aspekte berücksichtigt werden müssen. Dabei ist es keineswegs so, dass bestimmte Zugriffsweisen an bestimmte historische Teilepochen gebunden sind, wie etwa die mittlerweile etablierte Einstufung des letzten deutschen Monarchen Wilhelm II. als „Medienkaiser“ oder die Verfassungskrise des Jahres 2011 in Luxemburg, in deren Folge der Handlungsspielraum des Großherzogs mit dessen Einverständnis weiter eingeschränkt wurde, eindrücklich zeigen. Vor diesem Hintergrund ist es das Anliegen des vorliegenden Sammelbandes, durch die Vereinigung von unterschiedlichen Herangehensweisen, Perspektiven und Auffassungen auf einer breiten Grundlage von Nationalgeschichten – d. h. unter vergleichender Einbeziehung nicht nur weniger „großer“ Staaten, sondern auch der kleineren bis hin zu Monaco und Liechtenstein mit ihren jeweils spezifischen Ausprägungen der „Einherrschaft“ – zu einem abgewogenen, differenzierten Urteil über die europäische(n) Monarchie(n) zu kommen und ihren Stellenwert im Wandel der Zeiten sowohl zu bestimmen als auch zu erklären.

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Dies geschieht in drei Stufen, die den Band in drei Kapitel teilen. Im ersten Kapitel wird zunächst ein vier Beiträge umfassender chronologischer Bogen gezogen. Die international vergleichend angelegten Einzelstudien zeigen, dass den europäischen Monarchien des 19. und 20. Jahrhunderts aufs Ganze gesehen eine bemerkenswerte Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit zu eigen war, die die Bedeutung und den Einfluss der Herrscher(dynastien) mehr verlagerten, als sie zu schmälern. Josef Johannes Schmid weist nach, dass bereits in den Jahren von 1760 bis 1820 die klassisch-traditionelle, sakrale Legitimierung des Königtums durch widerstrebende Einflüsse nicht beeinträchtigt werden konnte und die „aufgeklärte Monarchie“ keineswegs nur als Katalysator für ihrem Wesen nach diametral entgegengesetzte gesellschaftliche Systeme zu sehen ist. Durch die Verbindung von (sakraler) Tradition und Aufklärung ergab sich vielmehr die Möglichkeit einer monarchischen Neuakzentuierung auch im revolutionären Kontext. Das 19. Jahrhundert brachte dann, den innovativen Überlegungen Jes Fabricius Møllers zufolge, die „Domestizierung“ der Monarchie, idealtypisch bestehend aus den fünf aufeinanderfolgenden Stufen Meritokratisierung, Kodifizierung (der monarchischen Rechte in einer Konstitution), Konvergenz (der verfassungsmäßigen Rechte des Herrschers und des Volkes), Nationalisierung und Popularisierung, was allerdings nicht als lineare, zwangsläufige Abfolge zu verstehen ist. Denjenigen Monarchien, die diese Entwicklung mitvollzogen, sicherte sie nicht nur das Überleben, sondern erleichterte auch ihre Umwandlung in demokratische und parlamentarische „Einherrschaften“ modernen Typs. Benjamin Hasselhorn begründet im Anschluss daran, dass es infolge der beiden Weltkriege keineswegs ein allgemeines „Monarchiesterben“ zugunsten von Republik und Demokratie gab, da lediglich die im Ersten Weltkrieg unterlegenen Mächte (mit Ausnahme Bulgariens!) sowie die 1945 im Einflussbereich der Sowjetunion gelegenen Staatswesen transformiert wurden. Die Gesamtentwicklung war dabei stark von kontingenten Gegebenheiten abhängig, und die allgemeinen Tendenzen sprachen keinesfalls durchgängig für eine allgemeine Demokratisierung, während es in der Zwischenkriegszeit dort bemerkenswerte Restaurierungsbestrebungen gab, wo man erkannte, dass den Monarchen selbst wenig oder keine Verantwortung für die Krisen der Zeit zukam. Marc von Knorring unternimmt schließlich eine Neubewertung der konkreten politischen Macht der verbliebenen rund ein Dutzend Monarchinnen und Monarchen im heutigen Europa, jenseits ihrer zur Genüge bekannten, medial begründeten Bedeutung für Integration und Identifikation in ihren Gemeinwesen. Im Ergebnis hatten und haben die Königinnen und Könige in ihrer Mehrheit entscheidenden oder zumindest signifikanten Einfluss, sei es über Kompetenzen aus der Verfassung oder durch informelle Möglichkeiten außerhalb der Konstitution, wobei ihre überparteiliche Funk-

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tion in der Demokratie von den Bevölkerungen ihrer Länder grundsätzlich akzeptiert und goutiert wurde und wird. Nicht zu übersehen sind dabei freilich Tendenzen zur Einschränkung monarchischer Machtbefugnisse, wenn sie in der Öffentlichkeit in konkreten Fällen als unangemessen wahrgenommen werden. Die Beiträge des zweiten Kapitels konkretisieren den grundsätzlichen Befund, indem sie sich auf den Weg einzelner europäischer Herrscherhäuser – des britischen, des russischen, des preußischen, des österreichischen und des bayerischen  – im 19. und 20. Jahrhundert konzentrieren. Dabei entsteht ein differenziertes Bild der Strategien und Entwicklungsmöglichkeiten monarchischer Staatswesen, das auf Ungleichzeitigkeiten und nicht-lineare Prozesse, die Rolle divergierender Rahmenbedingungen für Erfolg und Scheitern der Dynastien, aber auch ihre grundsätzliche Fähigkeit verweist, sich spezifischen Bedürfnissen ihrer „Untertanen“ anzupassen. Auffällig ist dabei die unterschiedlich ausgeprägte Fähigkeit, dynastische mit nationaler Repräsentation in Einklang zu bringen und einen Ausgleich zwischen monarchischen und konstitutionell-parlamentarischen Machtbefugnissen zu erreichen, sowie die Tatsache, dass das Schicksal der jeweiligen Monarchie um 1918 letztlich abhängig vom Erfolg des jeweiligen Staates auf dem außenpolitischen Parkett bzw. von seinem Kriegsglück war. Gerade für diese Frage wäre eine gesonderte Untersuchung des extrem wechselvollen Weges der französischen Monarchie im 19. Jahrhundert aufschlussreich gewesen  – leider gelang es nicht, für diese Thematik einen geeigneten Autor zu finden, sodass die Untersuchung der französischen Monarchie (die zweifellos geeignet wäre, einen eigenen Band zu füllen) ein Desiderat bleibt. Georg Eckert stellt hier zunächst heraus, wie sehr Familienskandale (nach dem Maßstab bürgerlicher Eheideale), die nach Art eines Schauspiels mit „guten“ und „bösen“ Charakteren medial vermittelt wurden, dem britischen Königshaus Popularität sicherten und es zur Projektionsfläche von Identifikation machten. Frank-Lothar Kroll beleuchtet den erst spät entschiedenen Widerstreit von Autokratie und Konstitutionalismus im Zarenreich, wo viele Entwicklungen anders verliefen als im übrigen Europa und vor allem die traditionellen Begründungsmuster monarchischer Herrschaft sehr viel langlebiger waren, freilich mit einem ebenso singulären, gewaltsamen Ende der Monarchie zu Beginn des 20. Jahrhunderts; einer konsequenten Nationalisierung der Dynastie stand hier der Charakter Russlands als Vielvölkerreich entgegen. Eberhard Straub betont, wie sehr die Könige von Preußen dem wachsenden Bedürfnis aller Bevölkerungsschichten nach „Interessantem“ entgegenkamen und es zunächst etwa mit Selbstästhetisierung und romantisch-historisierender Architektur, dann mit immer mehr Festen und Empfängen, schließlich den theaterhaften Inszenierungen Wilhelms II. erfolgreich befriedigten.

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Für Österreich-Ungarn arbeitet Matthias Stickler heraus, dass die zentrifugalen Kräfte in diesem multinationalen Staatswesen von den Habsburgern mithilfe einer letztlich in der Pragmatischen Sanktion von 1713 wurzelnden vor- und überkonstitutionellen Legitimitätsreserve ausgebremst werden konnten, was den Kaisern und Königen sogar faktisch eine erhebliche extrakonstitutionelle Handlungsfreiheit sicherte. Langfristig erwies sich jedoch dieses Konzept, das auf die retardierende Abwehr aller modernen Formen staatlicher Integration hinauslief, als problematisch, weil es im Kern destruktiv war; hinzu kam die tief sitzende Überzeugung der Herrscher, dass die Habsburgermonarchie konstitutionell-parlamentarisch nicht zu regieren sei. Die bayerischen Könige, Prinzen und Herzöge dagegen, so Dieter J. Weiß, können als Paradebeispiel für die gemeineuropäischen Grundzüge der Monarchieentwicklung bis 1918 gelten. Überdies wirkten sie sogar anschließend weiter durch Repräsentation, öffentliche Anteilnahme und Adaption moderner Entwicklungen – ähnlich wie die bis heute in Europa regierenden Dynastien! – auf die Geschicke Bayerns ein, wenn auch naturgemäß abgeschwächt und mehr im Verborgenen. Die Aufsätze des dritten Kapitels schließlich verhandeln in chronologisch ebenso wie geographisch übergreifender Perspektive verschiedene Ansätze zur Legitimierung monarchischer Herrschaft in Europa und zeigen dabei insgesamt auch, welche Tücken vermeintlich modernen und welche langfristige Wirkungskraft vermeintlich überholten Begründungsstrategien innewohnen können; sie schließen dabei den Bogen zu den Überlegungen der Beiträge des ersten Kapitels. Das theoretische Konzept der „Volksmonarchie“, laut Hans-Christof Kraus von den einschlägig argumentierenden Denkern zunächst als patriarchalische, dann als soziale, in der Folge als konstitutionell-parlamentarische und schließlich als demokratisch-nationale Monarchie mit staats- und volksintegrativer Funktion definiert, betonte stets den Aspekt der Volksnähe als für die europäischen Herrscher überlebenswichtig. In der Praxis vielfach nachvollzogen, gelang den meisten Monarchen die letzte Anpassungsstufe nicht, d. h. eine echte Annäherung und Verbindung zwischen König und Volk jenseits bloßer Volkstümlichkeit des Herrschers wurde in der Regel verfehlt. Die notwendige Konstitutionalisierung und Nationalisierung der europäischen Monarchien, so Volker Sellin, gelang dagegen in der Regel; tatsächlich waren die europäischen Herrscher die führenden Kräfte bei der Ausarbeitung und Implementierung von Verfassungen im 19. Jahrhundert und bei der Entwicklung der Symbiose von Dynastie und Nation. Höchst bemerkenswert ist abschließend die Feststellung von Franz-Reiner Erkens, dass der Rekurs auf das vermeintlich seit 1789 obsolete Gottesgnadentum als Grundlage für monarchische Herrschaft mit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einen neuen Aufschwung erfuhr, bevor es mit dem Ende des Ersten Weltkriegs

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weitgehend als erledigt betrachtet worden sei. Doch selbst im 20. Jahrhundert gab es noch diverse Tendenzen zur (Re‑)Sakralisierung der Monarchie. Die einzelnen Beiträge stecken so insgesamt ein Forschungsfeld ab, das – wie eingangs ausgeführt – gerade nach den geschichtswissenschaftlichen Umwälzungen der vergangenen zwanzig Jahre unbedingt einer Konsolidierung bedarf, eines zusammenfassenden Rückblicks auf den gegenwärtigen Stand monarchiegeschichtlicher Forschung. Auf dieser Grundlage kann ein alternatives Deutungskonzept entstehen, das die vielfältigen politischen, rechtlichen und kulturellen Wandlungen integrieren kann, denen die europäische Monarchie im 19. und 20. Jahrhundert unterlag. Damit kann die veraltete Rede von der Monarchie als „Modernisierungsverlierer“ zukünftig durch ein den neuen Forschungsergebnissen angemesseneres Interpretament ersetzt werden.

I. Phasen der Monarchiegeschichte

Fatalität der Revolution? – Monarchische Innovation und Behauptung monarchischer Tradition (1760–1820) Von Josef Johannes Schmid, Mainz / Manubach Gerne wird die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts und in noch stärkerem Maße die revolutionäre „Sattelzeit“ um 1800 als Abendröte der Monarchien klassischer Prägung gesehen. Jedoch führen solch methodisch-analytische Stereotypen, wie bei ähnlich umstrittenen Themenfeldern, etwa der Selbstbehauptung des Adels in der Frühen Neuzeit1, beziehungsweise der Konfessionalisierungsdebatte2 gezeigt, zum Ignorieren innerer, also immanenter Behauptungs- und Innovationspotentiale der untersuchten Phänomene. Eine nähere Beschäftigung mit der tatsächlichen Situation europäischer Kronen nach 1700 ergibt ein weitaus differenzierteres Bild mit deutlich anderen Akzenten. Sieht man historisch-monarchische Entwicklungen nur, oder nahezu ausschließlich, als Produkt einer Entwicklungsdynamik evolutionär fortschreitender Amelioration, so erscheinen Revolution, Republikanismus und eine inhaltlich eindeutig definierte Demokratieidee3 als quasi unabwendbare Folgeerscheinung monarchischer Dekadenz und Erschöpfung4. 1  Ronald G. Asch, Zwischen defensiver Legitimation und kultureller Hegemonie: Strategien adliger Selbstbehauptung in der frühen Neuzeit, in: zeitenblicke 4 (2005), Nr. 2, [2005-06-28], URL: http: /  / www.zeitenblicke.de / 2005 / 2 / Asch / index_html. 2  Josef J. Schmid, ‚No Bishops, no King‘ – die „religio monarchica“ als unbeachtetes Element der Konfessionalisierungsdebatte, in: Das Konfessionalisierungsparadigma – Leistungen, Probleme, Grenzen (Bayreuther historische Kolloquien 18), hrsg. von Thomas Brockmann / Dieter J. Weiß, Münster 2013, 165–181. 3  „The Revolution created and elaborated […] the ideal of democracy, which forms the creative tension with the notion of sovereignty that informs the functioning of modern democratic liberal states. This was the truly original contribution of the Revolution to modern political culture“ (James Livesey, Making Democracy in the French Revolution, Cambridge, Mass. 2001, 19). 4  Dieser vor allem in der populären, beziehungsweise popularisierenden Wahrnehmung zentrale (Trug-)Schluß auf den Punkt gebracht bei: Politische und wirtschaftliche Ursachen der Französischen Revolution, in: https: /  / www.lernhelfer.de / schue lerlexikon / geschichte / artikel / politische-und-wirtschaftliche-ursachen-der-franzoesi schen: „Die Ursachen für die Französische Revolution lagen in der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise des absolutistischen Staates“.

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Daß diese Sicht maßgeblichen, ja zentralen Tendenzen des behandelten Zeitraums widerspricht, soll Gegenstand der nachfolgenden Zeilen bilden, die den Beweis erbringen wollen, daß in den Jahren 1760 bis 1820 weder das klassisch-traditionelle Königtum, noch sein Wesen, noch seine immanente Kraft „des geweihten Königs“ durch widerstrebende Einflüsse5 „getötet“ werden konnten6 und die „aufgeklärte Monarchie“ keineswegs nur als Transformationsmotor von ihrem Wesen diametral entgegengesetzten gesellschaftlichen Systemen zu sehen ist7. Die Monarchien des 18. Jahrhunderts – eine Neubewertung Die Revision hergebrachter Denkmuster kann damit beginnen, eine Erschütterung der monarchischen Idee nicht in der unmittelbar „vorrevolutionären“ Zeit anzusetzen, sondern vielmehr um 1715. Hierfür lassen sich einige Indikatoren anführen. In Frankreich änderte sich die Lage durch den Tod Ludwigs XIV. am 1. September 1715 grundlegend, die darauffolgende régence des Duc d’Orléans sollte das monarchische Selbstverständnis in seinen Grundfesten treffen8 und durch seine vollkommene Abkehr von der bisherigen Politik des großen Königs im Inneren (Allianz mit den alten Feinden der zentralen Monarchie: Hochadel, parlements, Finanzbürgertum) und Äußeren (Allianz mit England gegen das dynastisch verwandte Spanien) die Situation auf den Kopf stellen. Das fatale Experiment des Law’schen Systems hatte überdies nicht nur den Finanzmarkt (Massenverluste einfacher Anleger gegenüber 5  Naheliegender und ehrlicher denn Rekurse auf vermeintliche innere Logiken klingt die lapidare Feststellung Murats von 1793 betreffs Art und Weise der Veränderung: „Die Freiheit muß mit Gewalt geschaffen werden, und jetzt ist der Augenblick gekommen, um auf eine gewisse Zeit den Despotismus der Freiheit zu organisieren, um den Despotismus der Könige zu zerschmettern!“ (zit. nach: François Furet / Denis Richet, Die Französische Revolution, München 1981 [orig. La Révolution, 2 Bde., Paris 1965 / 1966], 258). 6  So das Postulat in: ebd., 239: „Der Gesalbte Gottes, der mit allen Heilskräften Begabte wird ein für allemal mit Ludwig XVI. zu Staub. Man kann zwar zwanzig Jahre später die Monarchie wieder aufrichten, nicht aber die Mystik des geweihten Königs“. 7  „Therefore, European kingdoms were essentially transformed thanks to the great enlightened despots and their ministers, preparing the way for the important constitutional changes introduced in the last third of the eighteenth century“ (Abstract zu: Bruno Aguilera-Barchet, A History of Western Public Law; Between Nation and State, Cham 2015, 257–286, URL: http: /  / link.springer.com / chapter / 10.1007 %2F9783-319-11803-1_10). 8  Josef J. Schmid, Sacrum Monarchiae Speculum – der Sacre Ludwigs XV. 1722: monarchische Tradition, Zeremoniell, Liturgie, Münster 2007, 208–225.



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unmoralischen Profiten weniger, darunter der régent selbst), sondern vor allem auch das Vertrauen des einfachen Volkes in die Staatsführung an sich nachhaltig erschüttert, trug das wertlos gewordene Geld doch das Konterfei des Monarchen9. In England hatte bereits ein Jahr zuvor der Tod der letzten Stuartkönigin Anne I. und die Hannoveraner Thronfolge in Person Georges I. zum vorübergehenden Totalverlust jeglicher genuin-monarchischer Identität geführt: Nicht nur sprach George I. kein Wort der Sprache seiner neuen Landeskinder, sein von deutschem Luthertum geprägtes Wesen und seine Allianz mit der sich nahezu ausschließlich auf die Finanzlobby der Londoner City stützende Whig-Fraktion führten zur Aufgabe all dessen, was zumal seit der Restauration, letztlich aber seit Beginn der Stuartzeit am Anfang des 17. Jahrhunderts den Charakter der englischen Monarchie ausgemacht hatte  – für unseren Kontext am deutlichsten illustriert durch die Aufgabe der königlichen Handauflegung, also die Leugnung der thaumaturgischen Komponente des Königtums durch den König selbst10. In Preußen hatte der 1713 erfolgte Regierungswechsel zu einer Abkehr von der klassischen Monarchieidee, wie sie unter Friedrich I. konzipiert und realisiert worden war11, zur Neuakzentuierung der Monarchie als „Dienerin des Volkes“ geführt; die Sicht vom König als des ersten, obersten und am härtesten arbeitenden Beamten des Reiches bezeichnete eine Wende weg von der dem kalvinischen preußischen Hause Hohenzollern an sich fremden sakramentalen Grundlegung der Kronidee, wie sie zuvor unter deren erstem König – versinnbildlicht im Salbungsakt von 170112 – zum Ausdruck gekommen war. Zwar wohnte auch dieser neuen Sicht ein erhebliches ethischreligiöses Potential inne (das, nebenbei bemerkt, der entsprechenden Ausrichtung der spanischen Monarchie unter Philipp II. äußerst verwandt war), aber eben keine klassische Grundlegung aufwies13. In Schweden sollte der Tod Karls XII. 1721 zum zeitweiligen Totalverlust königlicher Dominanz in einem Lande führen, das jetzt, unter den Vertretern des Hauses Hessen-Kassel, zu einem Kampfplatz innenpolitischen Fraktions9  Michael Sonenscher, Before the Deluge. Public Debt Inequality and the Intellectual Origins of the French Revolution, Princeton 2007. 10  David J. Sturdy, The Royal Touch in England, in: European Monarchy: Its Evolution and Practice from Roman Antiquity to Modern Times, hrsg. von Heinz Duchhardt / Richard A. Jackson / David J. Sturdy, Stuttgart 1992, 171–184, bes. 182–184. 11  Heide Barmeyer (Hrsg.), Die preußische Rangerhöhung und Königskrönung 1701 in deutscher und europäischer Sicht, Frankfurt / Main u. a. 2002; zu Friedrich I.: Frank Göse, Friedrich I. (1657–1713). Ein König in Preußen, Regensburg 2012. 12  Zu Bewertung und Nachleben der Krönung von 1701: Christopher Clark, Preußen: Aufstieg und Niedergang – 1600–1947, München 2013, 102–105. 13  Ebd., 105–108.

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kampfes verkam, von interessierten Drittmächten weidlich unterstützt und ausgenutzt14. Im Deutschen Reich hatte der Tod Josephs I. 1711 das Ende des kurzlebigen Versuchs mit sich gebracht, den monarchischen Zentralbefugnissen gegenüber einem sich immer mehr parzellierenden Reichsverband neue Geltung zu verschaffen. Die Politik des neuen Souveräns, Carls VI., war nun eindeutig auf habsburgisch-österreichische Eigendynamik gelegt. Österreich schied so aus dem concert der klassischen Monarchien aus, mit ihm das Reich; der lange Transformationsprozeß, den das gegenläufige, aber zu kurzlebige „Kaisertum“ Carls VII. (1742–1745) nicht aufhalten konnte, führte mit stringenter Logik aber rechtlicher Fragwürdigkeit zur Proklamation des Österreichischen Kaisertums 1804 und dem Verschwinden des sichtbaren Reichskörpers 180615. Rußland als Vorreiter des klassisch erneuerten Monarchiegedankens Inmitten dieser scheinbar eindeutigen Gesamttendenz wies Europa nur eine einzige echte Gegenbewegung auf, diese allerdings von enormer Wirkmächtigkeit: die sich ab Peter I., dem Großen klassisch-neu definierende russische Monarchie. 1721 erfolgte die Verkündigung des Kaisertums, das heißt der nun offiziell-staatstheoretischen und -rechtlichen Anknüpfung an die römische Idee christlicher Prägung, wie sie in Konstantinopel idealtypisch verkörpert gewesen war. Zeremoniell-sakramental aber stand die französische Monarchie bei der Neudefinition Pate, ein Einfluß, der spätestens während des Frankreichaufenthaltes Peters 1717 nachweislich Gestalt angenommen hatte16. In der Krönung von Peters zweiter Frau Ekaterina 1724 fand dies zum ersten Mal in einem Zeremoniell Ausdruck, das sein Wesen als Amalgam byzantinisch-französischen Erbes nicht verleugnen konnte17. 14  Siehe

unten Anmm. 35–42. Brauneder, Kaiserwürde durch Verwaltungsakt: der österreichische Kaisertitel von 1804, in: Wahl und Krönung in Zeiten des Umbruchs (Mainzer Studien zur Neueren Geschichte 23), hrsg. von Ludolf Pelizæus, Frankfurt / Main u. a. 2008, 199–213. 16  Josef J. Schmid, Imperator Russiæ – monarchische Traditionsstiftung in vermeintlich anti-traditioneller Umbruchszeit, in: Wahl und Krönung in Zeiten des Umbruchs (Mainzer Studien zur Neueren Geschichte 23), hrsg. von Ludolf Pelizæus, Frankfurt / Main u. a. 2008, 157–173, zu Peter I. und Frankreich: ebd., 160–164. 17  Zur Krönung von 1724 siehe Anm. 18; zu Katharina I. siehe V. Andreev, Ekaterina Pervaja, Sankt Petersburg 1869; Philip Longworth, Three Empresses: Catherine I, Anne and Elizabeth of Russia, London 1972; Lindsey Hughes, Russia in the Age of Peter the Great, New Haven / London 1998, 394–398. 15  Wilhelm



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Alle großen Kaiserinnen des 18. Jahrhundert sollten dieser Grundlegung treu bleiben, die unter Ekaterina II. ihren sichtbaren Höhepunkt erreichte. Prägend wirkte, daß Peter I. seine Idee des Kaisertums 1724 zum ersten Male öffentlich hatte demonstrieren können18 – als genuine Umsetzung des französischen Zeremoniells: die zahlreichen Hofämter und -chargen19, das Tragen und Darreichen der Regalien, das Halten des Mantels, die Bestallung eines ‚Maître des Cérémonies‘ in der Person des Grafen Tolstoi, Triumphpforten, Amnestien, Steuererlässe, Eintrittskarten20 – alles ein schlagender Beleg des publizistischen Erfolgs der ‚Relations‘ des Sacres Ludwigs XV. 1722 zu Reims21, wo all dies exemplarisch vorexerziert worden war22. Dabei handelte es sich keineswegs um eine bloße Kopie französischer Modelle und Denkwelten, welche so auch gar nicht möglich beziehungsweise überzeugend gewesen wäre. Das Bewahren und Beharren auf eigener russischer Tradition und vor allem byzantinischem Erbe Seite an Seite mit den neuen gallikanischen Elementen23 erst ergab die Konzeption des Imperium Russarum. Die vor diesem epochalen Ergebnis zweitrangige Frage nach der Weihe(möglichkeit) einer Frau nahm man dafür in Kauf und schuf so eine erneute Präzedenz nunmehr wirklich sakramentaltheologischer Natur24. Doch hatte nicht auch das meerbeherrschende England die große Elizabeth, zwei 18  Zur Krönung Katharinas I. siehe Opisanie koronatsii e.v. Ekateriny Aleksejevny, Sankt Petersburg 1724; Richard Wortman, Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy, Princeton 1995, Bd. 1, 69–72; L. Hughes, Russia (Anm. 17), 262 f. 19  Nachweis aller archivalischen Quellen und zeremonieller Details in: L. Hughes, Russia (Anm. 17), 519 f., Anm. 133–137. 20  Eine diese Transfers komplett ignorierende Deutung findet sich in R. Wortman, Scenarios (Anm. 18), 69, der die Handlung von 1724 als lediglich dahingerichtet sah, „to give religious sanctions to the principle of utility (sic!), Western ways, and the unchallenged supremacy of secular (sic!) power“. Zur Kritik der offensichtlichen terminologischen und inhaltlichen Verkennungen Wortmans, siehe L. Hughes, Russia (Anm. 17), 515, Anm. 3 und ebd., 519 f., Anm. 135. 21  Eine Liste der zu diesem Zeitpunkt erhältlichen diesbezüglichen Schriften in: J. J. Schmid, Sacrum (Anm. 8), XXXII–XXXIV. 22  Zum Vergleich der einzelnen Punkte siehe ebd.: die Triumphpforten ebd., 334– 336; die Amnestien / Sträflingsfreilassungen ebd., 513–517; die Steuererlässe ebd., 594 f.; die Eintrittskarten ebd., 332, v. a. Anm. 53; die Hofämter und ihre Aufgaben schließlich ebd., passim. 23  Vgl. Josef J. Schmid, Rex Christus – die Tradition der französischen Monarchie als Brücke zwischen Ost und West (5.–19. Jh.), in: Vom Schisma zu den Kreuzzügen: 1054–1204, hrsg. von Peter Bruns / Georg Gresser, Paderborn 2005, 205–234. 24  Dies war eine Neuerung in der Stellung der Frau, bislang „they were not re­ gard­ed as direct contenders for power: no woman had ever occupied the Muscovite throne in her own right“ (L. Hughes, Russia [Anm. 17], 2). Auch dahingehend sind die Neuerungen Peters I. und die Krönung seiner zweiten Frau von 1724 bedeutsam, vgl. Lindsey Hughes, Russia the Great’s Two Weddings: Changing Images of Women

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Marys und schließlich Queen Anne gesalbt, ohne dadurch den Zorn Gottes auf sich zu ziehen? Am wichtigsten aber war ganz sicher die Neubewertung und Hervorhebung der Salbung, welche in Rußland nunmehr, gemäß den zeremoniellen Neuordnungen der Jahre 1723 ff., nach der Krönung, kurz vor dem Empfang der Eucharistie, erfolgte. Die Übernahme der Salbungstradition in das russische Zeremoniell entsprach somit genau der petrinischen Intention eines Amalgams dieser beiden sakramentalen Monarchien par excellence25. Wie sehr der Salbungsgedanke als dominierende Leitidee die ganze Krönungshandlung nunmehr bestimmt, belegt die Ankündigung der Krönung Katharinas II., der Großen, 1762. Hatte man sich bislang auf eine allgemeine Proklamation der bevorstehenden Feier mir der Aufforderung zum Gebet für die Fürstin begnügt26, so hieß es nun ausdrücklich: „A l’exemple des monarques orthodoxes russes, nos prédécesseurs, ainsi que des pieux roi de Grèce et des plus anciens rois d’Israël, qui avaient coutume de se faire oindre d’huile consacrée, nous avons décidé de recevoir, sans plus tarder, l’onction susdite et de mettre la couronne sur notre front“ [Herv.d. d.Verf]27.

Damit, auch in der seriellen Gewichtung – zuerst der Hinweis auf die Salbung, sodann erst auf die früher dominierende Krönung – hatte die geschickte, allen nationalen Gegebenheiten Rußlands Rechnung tragende Adaption der französischen Tradition ihren Abschluß gefunden. in a Transitional Age, in: Women in Russia and Ukraine, hrsg. von Rosalind Marsh, Cambridge 1996, 31–44. 25  Mit einem Zeremoniallöffel salbt der Metropolit die Kaiserin „au front, aux yeux, aux narines, à la bouche, aux oreilles, à la poitrine, au sein et aux mains“; in dem Moment, da der Hl. Chrisam die kaiserliche Stirn berührt, beginnt die große Glocke der Kathedrale zu läuten, von den Mauern des Kreml und der Stadtmauer, aber auch von den umliegenden Garnisonen donnern die Salven der Artillerie und schließlich mischen sich alle Glocken von Moskau in das Festgeläut. Darauf kommuniziert der / die Geweihte wie der französische König nach priesterlicher Art, freilich, wie zuvor der byzantinische basileus, in der Weise der Ostkirche (vgl. Couronnements des Souverains Russes à partir du Tsar Michel Fédorovitch jusqu’à l’Empereur Alexandre III., hrsg. v. Kaiserlichen Zeremonialamt, St. Petersburg 1883, 47). 26  Vgl. den Text zur Ankündigung der Krönung Annas I. 1740: „Considérant que la très sérénissime et très puissante souveraine, impératrice Anne Iwanovna, autocrate de Toute la Russie, a ordonné et ordonne qu’il soit procédé à son couronnement, avec la divine assistance, le 28 avril courant, cette date est portée à la connaissance publique, afin que tous les fidèles sujets de Sa Majesté élèvent leurs prières au ToutPuissant, non-seulement pour le succès de la grande entreprise susdite, mais encore pour que le Seigneur répande libéralement ses grâces sur Sa Majesté et lui accorde un règne stable et prospère, à la plus grande joie de tous ses fidèles sujets“ (ebd., 38). 27  Zit. nach: ebd., 58.



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Frankreich – oder die monarchische Revolution Wie aber stand es um die Monarchie in jenem Lande selbst bestellt, dessen monarchische Tradition sich von so großer Wirkmächtigkeit bis hinein nach Rußland erwiesen hatte? Die oben bereits gezeigten Weichenstellungen der régence hatten ihre Wirkung erzielt, die Geister, welche eine kurzsichtige Politik gerufen, wurde man nicht mehr los. Wir befinden uns im Jahre des Heils 1774. Die oben geschilderten Konstellationen und Grundzüge gelten zwar großenteils noch, doch die königliche Welt ist brüchig geworden28. In Übersee hatte der Friedensschluß von 1763 Frankreich trotz eines tapferen Kampfes den Verlust von ganz Canada und enorme Schulden gebracht. Das Ministerium Choiseul 1765–1770 diente, unter dem Vorwand, diese mißliche Lage zu beheben, ganz anderen Zielen: die Ideen der neuen vermeintlichen Aufklärung politische Realität werden zu lassen. In Zirkeln und Gesellschaften wurde an den Grundpfeilern der Monarchie gerüttelt, der Minister und das Parlement de Paris29 waren ihre Exponenten. Des Königs Geduld nahm ab. Nachdem es in einigen parlements de province zu offenem Aufruhr gegen die königliche Autorität gekommen war, berief Louis XV am 3.  März 1766 ein Lit de justice des Pariser parlement ein, in dem er seiner Position zur Stellung und Bedeutung des Monarchen unzweideutig Ausdruck verlieh: „[…] Je ne souffrirai pas qu’il se forme, dans mon royaume une association qui ferait dégénérer en une association de résistance le lien naturel des mêmes devoirs et des obligations communes, ni qu’il s’introduise dans la monarchie un corps imaginaire qui ne pourrait qu’en troubler l’harmonie. La magistrature ne forme point un corps ni un ordre séparé des trois ordres du royaume; les magistrats sont mes officiers, chargés de m’acquitter du devoir vraiment royal de rendre la justice à mes sujets … […]

28  Grundlegend für die Geschichte der Zeit und des Königs sind Michel Antoine, Louis XV, Paris 1989 (Ndr. 1993) und Jean-Christian Petitfils, Louis XV, Paris 2014. Daneben liest man noch immer mit großem Gewinn das Pionierwerk von Pierre Gaxotte, La Siècle de Louis XV, Paris 1946 / 1974 / 1997 [die vollständigste französische Textausgabe ist diejenige von 1974] (dt.: Ludwig XV. und sein Jahrhundert, München 1954). 29  Allgemein zur Bedeutung der parlements und ihrer Subversion unter Louis XV: Julian Swann, Politics and the Parlement of Paris under Louis XV, 1754–1774, Cambridge / New York 1995; Bernard Faÿ, Die Große Revolution 1715–1815, München 1960 (orig. La Grande Révolution 1715–1815, Paris 1959), 10–73; P. Gaxotte, Siècle 1974 (Anm. 28), 345–388; M. Antoine, Louis XV (Anm. 28), 910–980.

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Entreprendre d’ériger en principes des nouveautés si pernicieuses, c’est faire injure à la magistrature, démentir son institution, trahir ses intérêts, et méconnaître les véritables lois fondamentales de l’État, comme s’il était permis d’oublier que c’est en ma personne seule que réside la puissance souveraine, dont le caractère propre est l’esprit de conseil, de justice et de raison; […] que c’est à moi seul qu’appartient le pouvoir législatif, sans dépendance et sans partage; […] que l’ordre public tout entier émane de moi; que j’en suis le gardien suprême; que mon peuple n’est qu’un avec moi, et que les droits et les intérêts de la nation, dont on ose faire un corps séparé du monarque, sont nécessairement unis avec les miens, et ne reposent qu’en mes mains.“ [Herv. d. d. Verf.]30

Da diese offenen Worte allein offenbar nicht fruchteten, begann am Heiligabend 1770 die eigentliche révolution royale31. Choiseul wurde ohne Angabe von Gründen entlassen und René de Maupeou32 zum Nachfolger ernannt, mit der alten Regierung verbündete Parlamentsmitglieder in der Provinz und Brüder der Loge waren bereits zuvor verhaftet worden. Als das Pariser Parlament sich wehrte, wurde wiederum ein lit de justice angesetzt (7.  Dezember 1770). Der neue Kanzler Maupeou setzte auf energische Politik, in der Verwaltung wie im Finanzwesen. „Diesmal stützte Ludwig Maupeou bis zum Ende, und sein Kanzler ging auch bis ans Ende. Er erinnerte die Parlements an ihre zahllosen Revolten, an ihren Ungehorsam und an ihre Disziplinlosigkeit. Endlich gab er ihnen zu verstehen, daß er sein Amt nur von Gott erhalten habe und daß das Parlement keinerlei Recht dazu besaß, seiner Autorität Hindernisse in den Weg zu legen“33.

Als das Pariser Parlament protestierte und sich mit den Prinzen von Geblüt und anderen Geistesverwandten gegen den König zusammenschloß, er30  Procès-verbal du lit de justice du 3 mars 1766, in: Mercure historique de mars, Paris 1766, 174–181 ; vgl. Jean Charles Léonard Simonde de Sismondi, Histoire des Français, tome XXIX, Paris 1842, 360–364. 31  Vincent Guffroy, Le vilain petit homme noir – la réforme du Chancelier de Maupeou et la bataille de l’Opinion, Lille 2013; Durand Echeverria, The Maupeou Revolution: A Study in the History of Libertarianism. France, 1770–1774, Baton Rouge 1985. 32  René Nicolas Charles Augustin de Maupeou (1714–1792), zu ihm siehe David A. Bell, Lawyers into Demagogues: Chancellor Maupeou and the Transformation of Legal Practice in France 1771–1789, in: Past and Present 130 (1991), 107–141; Jacques de Maupeou, Le chancelier Maupeou, Paris 1942; Jules Flammermont, Le chancelier Maupeou et les parlements, Paris 1883. 33  B. Faÿ, Revolution (Anm. 29), 34.



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hielten seine Mitglieder in der Nacht vom 19. auf 20.  Januar 1771 von Maupeou lediglich einen kleinen Zettel zugestellt, darauf zwei Wörter standen „oui“ – „non“. Ersteres bedeutete die Annahme der königlichen Politik, zweiteres das Exil. Als alle am nächsten Tag mit nein geantwortet hatten, erfolgte die Auflösung und das Exil des parlements. Das Ergebnis der falschen Politik von Jahrzehnten, geführt und unterstützt eben von jenem parlement, schließlich die Mißwirtschaft Choiseuls, hatten den König zu radikalen Mitteln greifen lassen, die königliche Revolution war vollzogen, die drohende Ersetzung der königlichen Autorität durch jene der parlements, mit allen weltanschaulichen und geistigen Konsequenzen, war verhindert. Allein, „le coup de majesté a été contesté par une partie de l’opinion, insensible à l’amélioration des institutions judiciaires et inconsciente du fait qu’en restaurant son autorité et en libérant l’État du despotisme des juges, Louis XV remplissait les conditions nécessaires pour conduire heureusement son royaume vers plus d’égalité et vers un des formes nouvelles de liberté“34.

Die Zukunft schien erfolgversprechend, das Volk faßte, vor allem auf dem Lande, wieder Vertrauen zum König, der die Situation des Landes erneut, wirklich souverän, in der Hand zu halten schien. Doch just zu diesem Zeitpunkt nahm der Tod dem König die Leitung der Staatsgeschäfte aus der Hand. Unter seinem Nachfolger Louis XVI, jung und unerfahren, kamen genau diejenigen Kreise wieder in die Regierungsverantwortung, welche der alte König schließlich entfernt hatte. Und dennoch sollte die Königliche Revolution von 1770 nicht ohne Widerhall bleiben. Sie fand ihn in jenem Land, dessen jungen König Louis XV „mon fils spirituel“ genannt hatte – nicht ohne Grund. Gustav III. – der königliche Staatsstreich Mit England, Frankreich und Rußland zählte Schweden zu den Monarchien, welche sich die sakrale Tradition in Salbung und Krönung über die Jahrhunderte hinweg und allen konfessionellen und politischen Veränderungen zum Trotz erhalten hatte. Um die tatsächliche königliche Prärogative im Land aber stand es schlecht, seit die Fraktionen der „Hüte“ und „Kappen“ mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Klientelrückbindungen und daraus folgenden außen- und innenpolitischen Ausrichtungen seit der Thronbesteigung Friedrichs I. 1720 die faktische Leitung der Landesgeschicke übernommen hatten35. Dessen Nachfolger, Adolf Friedrich, hatte zweimal vergeblich 34  M.

Antoine, Louis XV (Anm. 28), 961. dieser als „Freiheitszeit“ verbrämten Epoche siehe Michael Roberts, The Age of Liberty: Sweden 1719–1772, Cambridge 2003. Zurecht hatte schon Nord35  Zu

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(1756 und 1768) versucht, die Lage zu ändern und schließlich als ein hauptsächlich mit der Herstellung von Schnupftabakdosen beschäftigter Marionettenkönig seine Tage beendet. Mit der Thronbesteigung seines Sohnes Gustavs36 1771 aber sollte sich die Lage schlagartig ändern. Dieser war zunächst einer „absoluten“ Form des Königtums deutlich abgeneigt, hatte aber in den vergangenen Jahren zunehmend erkannt, daß dies letztendlich die einzige Lösung für die immer verworrenere innere Lage seines Landes sein würde37. Während eines Frankreichaufenthaltes im Frühjahr 1771 konnte er die Effekte der von Louis XV angestoßenen révolution royale beobachten und vereinbarte mit dem König und der französischen Regierung eine enge Zusammenarbeit im Hinblick auf vergleichbare Änderungen in seinem Heimatland38. Nach seiner unmittelbar im Anschluß erfolgten Thronbesteigung eröffnete er im Juni 1771 den Reichstag mit einem glühenden Appell zur nationalen Einheit (zum ersten Mal seit über hundert Jahren in Schwedisch), der einen bleibenden Eindruck hinterließ, aber an den Gegebenheiten nichts änderte  – im Gegenteil. Als die führenden „Kappen“ die Prärogativen der Krone sogar noch weiter zu ihren Gunsten einschränken wollten, entschloß sich Gustav zu einer Aktion manu militari39. Während Vertraute in Finnland eine Erhebung anbahnten, scheiterten im Frühsommer 1772 in Stockholm letzte Versuche einer Aussöhnung zwischen den Fraktionen. Überall im Lande brachen Aufstände aus. „On the 16th of August the Cap leader, Ture Rudbeck, arrived at Stockholm with the news of the insurrection in the south, and Gustavus found himself isolated in the midst of enemies. Sprengtporten lay weather-bound in Finland, Toll was five mann darauf hingewiesen, daß gerade die schwedische Freiheit durch die unhaltbaren Zustände in Gefahr geraten war: Claude Nordmann, Gustave III – un démocrate couronné, Lille 1986, 5–26. 36  Gunnar von Proschwitz, Gustaf III Mannen bakom myten, Wiken 1992; C. Nordmann, Gustave III (Anm. 35); Beth Hennings, Gustaf III. En biografi, Stockholm 1957.  – Daneben bleibt Bains Standardwerk nach wie vor Referenz: Robert Nisbet Bain, Gustavus III. and his Contemporaries, 2 Bde., London 21904, daraus die exzellente Zusammenfassung: ders., Art. „Gustavus III“, in: Encyclopædia Britannica, vol. 12, London 1911, 736–738. 37  1768 hatte Gustav als Kronprinz kommentiert: „That we should have lost the constitutional battle does not distress us so much, but what does dismay me is to see my poor nation so sunk in corruption as to place its own felicity in absolute anarchy“ (zit. nach: R. N. Bain, Gustavus III 1911 [Anm. 36], 737). 38  M. Antoine, Louis XV (Anm. 28), 953 (auch zum Anteil des frz. Königs an den Umbrüchen in Schweden); C. Nordmann, Gustave (Anm. 35), 27–44; R. N. Bain, Gustavus III, I 1904 (Anm. 36), 52–60. 39  Jörg-Peter Findeisen, Gustafs III. Staatsstreich 1772  – Motive und Zielsetzungen des schwedischen Königs, in: Europäische Herrscher. Ihre Rolle bei der Gestaltung von Politik und Gesellschaft vom 16. bis 18. Jahrhundert, hrsg. von Günter Vogler, Weimar 1988, 243–252.



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hundred miles away, the Hat leaders were in hiding. Gustavus thereupon resolved to strike the decisive blow without waiting for the arrival of Sprengtporten. He acted with military promptitude. On the evening of the 18th all the officers whom he thought he could trust received secret instructions to assemble in the great square facing the arsenal on the following morning. At ten o’clock on the 19th Gustavus mounted his horse and rode straight to the arsenal. On the way his adherents joined him in little groups, as if by accident, so that by the time he reached his destination he had about two hundred officers in his suite. After parade he reconducted them to the guard-room of the palace and unfolded his plans to them. He then dictated a new oath of allegiance, and every one signed it without hesitation. It absolved them from their allegiance to the estates, and bound them solely to obey their lawful king, Gustavus III. Meanwhile the senate and the governor-general, Rudbeck, had been arrested and the fleet secured. Then Gustavus made a tour of the city and was everywhere received by enthusiastic crowds, who hailed him as a deliverer“40.

Durch den entschlossen durchgeführten Umsturz und die daraus resultierende Neuordnung des Landes, „la Suède offrait à l’Europe étonnée le spectacle d’une unité retrouvée après cinquante ans de luttes politiques et de troubles“41. Weiterhin bedroht blieb die neue Konstitution aber von seiten der Hauptprofiteure der alten Ordnung, namentlich Schwedens Gegnern Dänemark und Rußland. Gegen beide vermochte sich Gustav in mehreren Kriegen zu behaupten, eine von Rußland nur halbherzig unterstützte erneute Verschwörung des alten Reichsadels endete 1788 in der Verhaftung von deren Anführern und einem wiederum neuen Staatsgesetz, welches dem König nun nahezu unumschränkte Vollmachten im Inneren und Äußeren einräumte. 1791, als die Bedrohung der monarchischen Idee durch die französische Revolution immanent wurde, schloß Gustav sogar mit seiner alten Gegnerin Katharina von Rußland ein Bündnis zum Zwecke der Aufrechterhaltung der traditionellen Ordnung. Einem direkten Eingreifen in den europäischen Kriegsschauplatz aber kam ein von der entmachteten Adelsriege initiiertes Attentat zuvor: Am 16. März 1792 schoß ein schwedischer Adeliger während eines Opernballes auf den König, der seiner Verletzung zwei Wochen später erlag. Aufgrund der in dieser Frist getroffenen Maßnahmen konnte das schwedisch-königliche Modell aber bis 1809 überleben. Durch seine Weichenstellungen von 1772 und 1788 konnte Gustav III. eine der bedeutungsvollsten Kehrtwenden in der Geschichte der Monarchie bewirken. Seine von der Bevölkerung frenetisch gefeierte Alleinregierung sollte dem Land in zwanzig Jahren ein seit Jahrhunderten nicht mehr gekanntes Niveau an wirtschaftlicher und kultureller Blüte sowie innerem Frieden bereiten. Als Schnittmenge rationaler Geisteshaltung und monarchisch-tradi40  R.

41  C.

N. Bain, Gustavus III 1911 (Anm. 36), 737. Nordmann, Gustave (Anm. 35), 59.

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tioneller Beharrung stellt sie bis heute ein einzigartiges Phänomen fürstlicher Innovation dar42. George III – die Wiedergeburt der englischen Monarchie 1759 war England durch seine Siege in Europa und vor allem in Nordamerika und Indien quasi zum „master of the World“ geworden43. Zuhause aber, im Herzland des Empire, zeigte ein Blick hinter diese glorreiche Fassade das Bild einer bröckelnden Identität. König George II hatte sich im Alter zu einem unfreundlichen Tyrannen entwickelt und sich Land und Familie, darunter auch seinem Erben, entfremdet44. Die Regierung lag nach wie vor in der Hand wirtschafts-, also gewinnorientierter Whig-Kreise, die finanzielle Belastung des Reiches stieg ins Ungeheuerliche, Lösungsansätze für die zahlreichen durch den Krieg anderweitig hinzugekommenen Probleme – vor allem in Nordamerika – waren nicht erkennbar45. Der Tod des zweiten George und die Thronbesteigung seines Enkels änderten hier ebenso schlagartig wie in Schweden vieles, wenngleich auf weniger dramatische Weise: Nicht nur brachte der neue Souverän von Anfang an seine sehr pointierte Sicht der Monarchie und seiner damit verbundenen erhabenen Position zum Ausdruck (exemplarisch in der Krönung von 1761), auch der Wechsel hin zu einer Tory-Regierung zeigte deutlich den Kurswechsel. In Nordamerika führten die Royal Proclamation von 1763 sowie der Quebec Act von 1774 unter maßgeblicher Beteiligung des Monarchen zu einer Stabilisierung der Verhältnisse unter Gewährung auffallender Sonderrechte für die neue Bevölkerung46. Die paternalistische Sicht Georges äußerte sich auch in der Festschreibung seiner Schutzfunktion der indigenen Bevölkerung gegenüber47. Wirtschaftsinteressen wurden zu Gunsten einer moralischen Neubewertung der Politik zurückgedrängt, der König selbst lebte sein Verständnis vom „Vater des Volkes“ exemplarisch und entschlossen vor: Die frugale Lebensweise des „farmer 42  Gut als analytische Summe: Jörg-Peter Findeisen, Der aufgeklärte Absolutismus Gustavs III., Jena 1989. 43  Frank McLynn, 1759 – the Year Britain Became Master of the World, New York 2004. 44  Zu George II siehe Andrew C. Thompson, George II: King and Elector, New Haven / London 2011; John Van der Kiste, George II and Queen Caroline, Stroud 1997. 45  Vgl. Jeremy Black, George II: Puppet of the Politicians?, Exeter 2007. 46  Colin Calloway, The Scratch of a Pen: 1763 and the Transformation of North America, Oxford 2006. 47  John Borrows, Wampum at Niagara: The Royal Proclamation, Canadian Legal History, and Self-Government, in: Aboriginal and Treaty Rights in Canada, hrsg. von Michael Asch, Vancouver 1997, 155–172.



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George“ unterstrich die Wertschätzung alter, auf Landwirtschaft und Familienverband gegründeter Ideale48. Der erste tatsächlich englisch denkende, fühlende und sprechende Monarch seit über fünfzig Jahren war und blieb entschlossen, das Konzept des Reiches als Personenverbandstaat aufrechtzuerhalten und legte damit die Grundlagen britisch-konservativen Denkens bis in die Gegenwart: Persönliche Rechte, Freiheiten und Besitzungen waren unter der Pax Britannica unzweideutig geschützt und bewahrt – ein Schutz, den der König in und durch seine Person nicht nur symbolisierte, sondern garantierte und gewährleistete. Alle erhaltenen Zeugnisse Georges III sprechen diese Sprache einer tief empfundenen Pflicht gegenüber dem ihm anvertrauten Gemeinwohl – dafür verlangte und erwartete er auch die Ein- und Unterordnung des einzelnen unter diese Idee des common good. Daß der Widerstand dagegen nicht von seiten einzelner Interessensvertreter, sondern vor allem auch der neuen rationalistischen Denkschule nicht ausbleiben würde, erstaunt wenig. Dennoch vermochten weder der Aufstand und der letztendliche Wegfall der amerikanischen Besitzungen49, noch die zunehmende gesundheitliche Beeinträchtigung des Königs50 diesen einmal eingeschlagenen Kurs gänzlich zu ändern. Vielmehr legte er die Grundlage für Motivation und Willen Englands, gegenüber Horror und Exzessen der französischen Revolution, egal ob diese sich republikanisch oder kaiserlich gewandete, über zwanzig Jahre hinweg bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit und der nationalen Erschöpfung die Stirn zu bieten und schließlich zu triumphieren51. Über die Adaptionen mehrerer Generationen hinweg sollte die von George III initiierte Neuakzentuierung der Monarchie52 unter Victoria I sodann bis ins 20. Jahrhundert hinein die Maximen englischer Politik und Gesellschaft entscheidend prägen53. 48  Jeremy Black, George III: America’s Last King, New Haven 2006, 144–161; Christopher Hibbert, George III: A Personal History, London 1999, 96–104. 49  Andrew Jackson O’Shaughnessy, ‚If Others Will Not Be Active, I Must Drive‘: George III and the American Revolution, in: Early American Studies 2 (1) / iii (2004), 1–46; Peter D. G. Thomas, George III and the American Revolution, in: History 70 (228) (1985), 16–31. 50  Ida Macalpine / Richard Hunter, The ‚Insanity‘ of King George III: a Classic Case of Porphyria, in: British Medical Journal 1 / 5479 (1966), 65–71. 51  Josef J. Schmid, Britannia rule(s), in: Napoleon, hrsg. von Elmar Heinz, Schwäbisch Hall 2003, 38–41. 52  Grayson M. Ditchfield, George III: An Essay in Monarchy, Basingstoke 2002. 53  Der Grund dafür, daß gerade dieser so entscheidende Monarch Englands in der populären Wahrnehmung als „mad King George“ in die Geschichte einging, ist sicher nicht nur in seinen zeitweiligen, mit dem Alter zunehmenden gesundheitlichen Krisen (die schließlich zur Regency seines Sohnes und Nachfolgers George (IV) führten) zu erklären. George hatte sich seit seinem Regierungsantritt massiv Feinde im ideologisch entgegengesetzten Lager, v. a. in den Zirkeln der Whigs, gemacht, die

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Der König und die Kaiserin Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts sah in der Mitte des europäischen Kontinents ein weiteres Beispiel monarchischer Innovation und Selbstbehauptung. Im tragischen Konflikt zwischen Österreich und Preußen gelang es deren Fürsten nicht nur, in Fortführung ererbter Politik, ihre Rechte gegenüber den Partikulargewalten endgültig durchzusetzen, sondern überdies in persönlicher Federführung die Form des Staates weit über ihre eigenen Lebenszeiten hinaus festzuschreiben. Zwar von grundverschiedenem Naturell, erreichten dabei beide Kontrahenten, Friedrich II.54 ebenso wie Maria Theresia55, eine Konsolidierung des Staatswesens unter eindeutig monarchischen Vorzeichen – ein Phänomen, welches in Preußen mitunter durchaus Züge fürstlicher Autokratie trug. Es ist hier weder Ort noch Raum, die friderizianischen56 und theresianischen57 „Reformen“ (besser spräche man von „innovativen Maßnahmen“ oder Grundsätzen) im einzelnen nachzuzeichnen, dies ist anderorts ausführlich erfolgt. Entscheidend blieb deren Tragweite und Tragfähigkeit über die Lebensspanne der singulären Einzelpersönlichkeiten hinaus bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, was nicht zuletzt an der umfassenden Vielseitigkeit des Geleisteten gelegen sein mag: von Zivil-, Staats- und Rechtsordnungen bis hin zu militärischen, wirtschaftlichen und bevölkerungspolitischen Neuausrichtungen. Wiewohl vor allem in Preußen unter dem Ansturm des revolutionär-neukaiserlichen Furors und seiner ideellen auch vor Verleumdungen (v. a. gegenüber John Bute, dem Vertrauten des Königs) und eventuell auch vor Mordanschlägen (Porphyrie kann auch durch regelmäßige Vergiftung hervorgerufen werden) nicht haltmachten. Eine Neubewertung der Persönlichkeit setzte erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein, vgl. Herbert Butterfield, George III and the Historians, London 1957; Robert A. Smith, Reinterpreting the Reign of George III, in: Recent Views on British History: Essays on Historical Writing since 1966, hrsg. von Richard Schlatter, New Brunswick, N.J. 1984, 197–254. 54  Einen auch nur im Ansatz zufriedenstellenden bibliographischen Überblick zu Friedrich dem Großen zu geben, kann nicht Anliegen dieser Zeilen sein; gerade im deutschen Sprachraum ist zudem sein Bild noch von zu vielen divergierenden Sichtweisen geprägt. Daher sei hier nur auf einige exzellente jüngere Studien verwiesen: David Fraser, Frederick the Great, London 2000; Jean-Paul Bled, Frédéric le Grand, Paris 2004; Johannes Kunisch, Friedrich der Große. Der König und seine Zeit, München 42005; Tim Blanning, Frederick the Great: King of Prussia, New York 2016. 55  Zu Maria Theresia erscheint die Situation exakt umgekehrt, an neueren Werken sind lediglich zu nennen: Barbara Stollberg-Rilinger, Maria Theresia, München 2017; Jean-Paul Bled, Marie-Thérèse d’Autriche, Paris 2001. 56  T. Blanning, Frederick (Anm. 54), 127–148. 57  Jean Bérenger, Histoire de l’empire des Habsbourg, Bd. 2: 1665–1918, Paris‎ 2012, 149–180.



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Mitstreiter vieles zeitweilig ins Wanken und in Österreich manches von dem unter Maria Theresia Angestoßenem erst im Laufe der Zeit (der völlige „Ausgleich“ mit Ungarn etwa erst 1867) zur vollen Umsetzung kam58, blieben die Maximen einer „vernünftigen fürstlichen Staatsordnung“59 deutlich monarchischer Prägung gewährleistet60. Die Monarchie im Sturm der Erhebung Die so erfolgte Neuakzentuierung der großen Monarchien im Zeichen fürstlich-traditioneller Selbstbehauptung ermöglichte es ihnen, dem revolutionären Ansturm sowohl militärisch als auch – und entscheidender – ideell zu widerstehen. Von England, Preußen und Österreich war diesbezüglich bereits die Rede, in Schweden etwa kann dies sogar anhand der Gestalt des Jean Baptiste Bernadotte biographisch exemplifiziert werden61. Als ehemaliger königlicher Offizier war dieser zunächst dem revolutionären Ideal vollends erlegen, hatte für das neue Frankreich auf nahezu allen Kriegsschauplätzen gekämpft und schließlich sogar gegenüber dem neuen Alleinherrscher Bonaparte seine Eigenständigkeit behaupten können62. Bereits in seiner Eigenschaft als Gouverneur von Hamburg63 hatte er selbständiges Handeln bewiesen und zum ersten Mal fürstliche Aufgaben übernommen. Dies empfahl ihn in offenbar hohem Maße für Höheres, denn als die schwedische Krone 1810 nach erfolgter Absetzung eines Königs und dem Ausfall zweier potentieller Thronerben verzweifelt eine personelle Option suchte, fiel die 58  Anna M. Drabek / Richard G. Plaschka / Adam Wandruszka (Hrsg.), Ungarn und Österreich unter Maria Theresia und Joseph II. Neue Aspekte im Verhältnis der beiden Länder (Veröffentlichungen der Kommission für die Geschichte Österreichs 11), Wien 1982. 59  Vgl. Helmut Reinalter, Art. „Maria Theresia“, in: Lexikon zum Aufgeklärten Absolutismus in Europa: Herrscher – Denker – Sachbegriffe, hrsg. von Helmut Reinalter, Wien 2005, 403; Hanns L. Mikoletzky, The Enlightened Despot, in: Maria Theresa, hrsg. von Karl A. Roider, Englewood Cliffs, N.J. 1973, 145–149. 60  Für Maria Theresia hierzu sehr pointiert: Constance Lily Morris, Maria Theresa  – The Last Conservative, New York / London 1937 (Ndr. 2007); Robert Kann, The Moderate Conservative, in: Maria Theresa, hrsg. von Karl A. Roider, Englewood Cliffs, N.J. 1973, 149–153. 61  Franck Favier, Bernadotte: Un maréchal d’empire sur le trône de Suède, Paris 2010; Jörg-Peter Findeisen, Jean Baptiste Bernadotte. Revolutionsgeneral, Marschall Napoleons, König von Schweden und Norwegen, Gernsbach 2010; Alan Palmer, Bernadotte: Napoleon’s Marshal, Sweden’s King, London 1990. 62  Torvald T. Höjer, Carl XIV Johan, Bd. 1: Den franska tiden, Stockholm 1939. 63  Josef J. Schmid, Schiffe, Geld und Franzosen – Hamburg und die Kontinentalsperre, 1806–1815, in: Napoleon, hrsg. von Elmar Heinz, Schwäbisch Hall 2003, 66–69.

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Wahl auf Bernadotte64. Nachdem Napoleon, der dem Kandidaten zeitlebens mißtrauisch gegenüberstand65, schließlich seine Zustimmung erteilt hatte, wurde der ehemalige Revolutionsgeneral 1810 zum schwedischen Kronprinzen ernannt und vom regierenden König adoptiert. Der Korse sollte sein Plazet bald bereuen: Unter Bernadotte erfocht das schwedische Kontingent entscheidende Siege in den Befreiungskriegen, 1814 zog er in das von den Alliierten besetzte Paris ein. Alle Anfeindungen im Inneren und Äußeren konnten nicht verhindern, daß der ehemalige Revolutionär, der angeblich auf seinem Rücken eine Tätowierung mit der Inschrift „Mort aux Rois!“ trug, am 11. Mai 1818 als Karl XIV. zum König von Schweden und am 7. September des Jahres als Karl III. Johann zum König von Norwegen gekrönt wurde. In beiden Ländern setzte er die monarchische Neuordnung66, durchaus im Sinne Gustavs III., mit dem Karl ideell manches verband, durch und ermöglichte so den Weg beider Monarchien in die Zeit der Neuerungen des 19. Jahrhunderts67. Weniger wechselhaft zeigte sich die russische Monarchie angesichts der revolutionären Bedrohung. Zwar waren Katharinas der Großen68 außenpolitische Ziele69 zumeist im Widerspruch zu jenen Frankreichs unter Louis XV und Louis XVI gestanden; Streitpunkt war unter anderem Katharinas Ambition, das Osmanische Reich zu zerschlagen und an dessen Stelle ein neubyzantinisches christliches Reich unter russischer Führung am Bosporus zu errichten70. 64  Hans Klaeber, Marschall Bernadotte, Kronprinz von Schweden, Gotha 1910; Torvald T. Höjer, Carl XIV Johan, Bd. 2: Kronprinstiden, Stockholm 1943. 65  Sir Dunbar Plunket Barton, Bernadotte and Napoleon: 1763–1810, London 1921. 66  Zu Monarchie und Monarchiegedanken unter Karl XIV. Johan siehe Mikael Alm / Brittinger Johansson (Hrsg.), Script of Kingship: Essays on Bernadotte and Dynastic Formation in an Age of Revolution (Opuscula historica Upsaliensia 37), Uppsala 2008. 67  Torvald T. Höjer, Carl XIV Johan, Bd. 3: Konungstiden, Stockholm 1960. 68  Zu Katharina der Großen siehe Robert K. Massie, Catherine the Great: Portrait of a Woman, New York 2011; Simon Dixon, Catherine the Great, New York 2009; Hélène Carrère d’Encausse, Catherine II  – un age d’or pour la Russie, Paris 2002; Isabel de Madariaga, Katharina die Große. Das Leben der russischen Kaiserin, München 22006 (Catherine the Great – a Short History, London 1990). 69  Vgl. Erich Donnert, Katharina die Große und ihre Zeit. Rußland im Zeitalter der Aufklärung, Leipzig 1996; Isabel de Madariaga, Russia in the Age of Catherine the Great, New Haven 1981. 70  Edgar Hösch, Das sogenannte ‚griechische Projekt Katharinas II.‘, in: Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas NF 12 (1964), 168–206; ders., Katharina II. und Rußlands Einbruch in den Machtbereich des Osmanischen Reiches 1768 bis 1774, in: Osteuropäische Geschichte in vergleichender Sicht (= Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte 3), Berlin 1996, 175–190.



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Als aber die monarchische Welt Frankreichs 1789 scheinbar zerbrach, zögerte Katharina nicht, den Kampf gegen die sogenannte Revolution aufzunehmen. Ihre unverhohlenen diesbezüglichen Äußerungen klingen wie ein dem westlichen Wahn vorgehaltener russischer Spiegel einstmaliger monarchisch-religiöser Übereinstimmungen: „Qu’est-ce que cela ? Louis XVI a accepté une constitution démente et s’est empressé de prêter un serment que nul n’attendait de lui et qu’il n’a nulle intention de respecter. Qui sont les imbéciles qui lui font accomplir de telles sottises  ? Tout cela est affreux et bas, comme si on oubliait la foi, la décence et l’honneur. En entendant cela, en lisant ces horreurs, je me suis terriblement fâchée […] Renoncer aux dieux auxquels on croit dans son cœur, c’est le crime d’un lâche et non une erreur“71.

So gab sie der Welt zu verstehen, daß nunmehr, nach der de-facto-Absetzung und schließlichen Ermordung Ludwigs XVI., das geheiligte priesterliche Königtum eben durch sie allein vertreten und verteidigt würde72. Dieses Prinzip einer monarchischen Vorreiterposition hatte sie sowohl ihrem Sohn, Paul I.73, als auch – in noch höherem Maße – dem von ihr erzogenen Enkel Alexander I.74 vererbt. Wiewohl Alexander, wie seine Großmutter, die Gedankenwelten des novus ordo sehr genau kannte und die Berechtigung von einigen daraus erwachsenden Forderungen durchaus anerkannte, blieb er zeitlebens dem rein-monarchischen Prinzip treu, ein Prinzip, welches er sodann auf dem Wiener Kongreß als einzig anwesender auswärtiger Fürst umzusetzen gewillt war. Zuvor hatte er in dem von Katharina vorgelebten zähen Durchhaltewillen allen Widrigkeiten der Napoleonischen Herausforderung getrotzt und Rußland schließlich, wiewohl unter horrenden Opfern, zum Führer der antinapoleonischen Allianz gemacht75. Mit der gleichen Entschlußkraft sollte er auch nach 1815 an seinen Prinzipien festhalten76, als 71  Ekaterina II 1792 an Baron Grimm, zit. nach H. Carrère d’Encausse, Catherine II (Anm. 68), 534. 72  H. Carrère d’Encausse, Catherine II (Anm. 68), 527–557; I. d. Madariaga, Katharina (Anm. 68), 230–246. 73  Zu Monarchiegedanken und Politik siehe Roderick E. McGrew, Paul I of Russia, Oxford 1992, 192–243. 74  Marie-Pierre Rey, Alexandre Ier, Paris 2009; Henri Troyat, Alexandre Ier – Le Sphinx du Nord, Paris 1981; Alan Palmer, Alexander I: Tsar of War and Peace, New York 1974. 75  Dominic Lieven, Russia Against Napoleon: The Battle for Europe – 1807 to 1814, London 2009. 76  So schon Phillips 1911: „Yet Alexander was sincere. Even the Holy Alliance, the pet offspring of his pietism, does not deserve the sinister reputation it has since obtained. To the other powers it seemed, at best ‚verbiage‘ and ‚exalted nonsense‘, at worst an effort of the tsar to establish the hegemony of Russia on the goodwill of the smaller signatory powers. To the Liberals, then and afterwards it was clearly a hy-

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revolutionäre Ideen, nunmehr in unmilitärischer Gestalt, Rußland überzogen. Dies alles war Ausdruck des Auftrages eines übernommenen Erbes. Diese Verbindung von sakral-sakramentaler Monarchie mit deren heilsgeschichtlichen Auftrag, also die Summe des byzantinisch-französischen Amalgams, wird kennzeichnend für die weitere Geschichte Rußlands bleiben und bis hinein in die Literatur wirken, so etwa in Lew Tolstois ‚Krieg und Frieden‘: „Rußland allein muß der Retter Europas werden. Unser kaiserlicher Wohltäter kennt seine hohe Bestimmung und wird ihr treu bleiben. Das ist das einzige, worauf ich mich verlasse. Unserem guten, wundervollen Kaiser steht die gewaltigste Rolle der Welt bevor, und er ist so herrlich und gut, daß Gott ihn nicht im Stich lassen wird. Er wird tun, wozu er ausersehen ist, er wird die Hydra der Revolution erwürgen. […] Wir allein müssen das Blut des Gerechten [Ludwigs XVI., d. Verf.] sühnen. […] Sie [die anderen Mächte] haben die Selbstverleugnung unseres Kaisers nicht begriffen, sie können sie gar nicht begreifen, weil er eben nichts für sich selbst begehrt, sondern nur an das Heil der ganzen Welt denkt […]. Ich glaube nur an Gott und an die hohe Bestimmung unseres geliebten Kaisers. Er wird Europa retten“77.

Eine der Kernkrisenregionen der Zeit bildete dabei Polen. Infolge der Unbilden der Zeit war das einstmalige polnisch-litauische Großreich zu Ende des 18. Jahrhunderts zur politischen Bedeutungslosigkeit und zum Spielball der Nachbarländer herabgesunken78. Nicht zuletzt die Gefahr eines völligen Verschwindens motivierte 1790 unter Ägide des letzten polnischen Königs Stanisław II. August79 eine radikale Neuorientierung, welche am 3. Mai 1791 zur Verabschiedung einer polnischen Verfassung führte80. Dieses Dokument, wiewohl in der Folgezeit rasch durch den Gang der weiteren Ereignisse wirkungslos geworden81, ist dennoch ein sprechender Beleg für die Vitalität des pocritical conspiracy against freedom. Yet to Alexander himself it seemed the only means of placing the ‚confederation of Europe‘ on a firm basis of principle and, so far from its being directed against liberty he declared roundly to all the signatory powers that ‚free constitutions were the logical outcome of its doctrines.‘ “ (Walter Alison Phillips, Art. „Alexander I“, in: EB, London 1911, I, 556–559, hier 558). 77  Lew Graf Tolstoi, Krieg und Frieden. Vollständige und ungekürzte Ausgabe in einem Band in der Übersetzung von Werner Bergengruen, Berlin / Darmstadt 1956, 9. 78  Józef A. Gierowski, The Polish-Lithuanian Commonwealth in the XVIIIth Century: From Anarchy to Well-Organised State, Krakow 1996. 79  Edwin C. Blackburn, Stanislaus Leszczynski and the Polish Constitution of May 3, 1791, in: The Polish Review 36 / 4 (1991), 397–405. 80  Samuel Fiszman, Constitution and Reform in Eighteenth-Century Poland: The Constitution of 3 May 1791, Bloomington 1997; Jan Kusber, Vom Projekt zum Mythos – Die polnische Maiverfassung 1791, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 52 / 8 (2004), 685–699. 81  Daniel Stone, The First (and Only) Year of the May 3 Constitution, in: Canadian Slavonic Papers 35 / 1–2 (1993), 69–86.



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monarchischen Gedankens. Neben zahlreichen anderen erstaunlichen Vorgaben sieht die von Revolutionären gefeierte und von Monarchen gefürchtete Konstitution nämlich in Artikel VII vor: „[…] haben uns nach reiflicher Überlegung bewogen, den polnischen Thron nach dem Gesetze der Erbfolge zu vergeben. Wie verordnen daher, daß nach unserem der Gnade Gottes heimgestellten Ableben der jetzige Churfürst von Sachsen in Polen König seyn soll […], dessen Nachkommen de lumbis männlichen Geschlechts wir den sächsischen Thron bestimmen“82.

Diese wenigen Worte bedeuteten nichts anderes, als daß nach Jahrhunderten der Freiheitsbehauptung gegenüber Einfluß erheischenden Nachbarstaaten (zunächst Schweden, dann Sachsen), nun gerade zur Behauptung revolutionärer Freiheiten auf just jenes Prinzip der Erbmonarchie zurückgegriffen wird, das der polnischen Tradition bis dahin so entgegengesetzt war. 1815 setzte Alexander I. gegen Metternich eine Neuauflage dieser Verfassung durch83. Wenngleich die russische Präponderanz hier übermächtig zu spüren war (Polen sollte in Personalunion mit Rußland regiert werden)84, so blieb doch einiges von den 1791 postulierten Maximen erhalten: Sowohl die bürgerlichen Freiheiten und Rechtsgrundsätze wurden kraft monarchischer Garantie sichergestellt, als auch am Prinzip der Erbmonarchie festgehalten85. Daß die Entwicklung der Dinge nach Alexander I. über diese Perspektive eines monarchisch-revolutionären Amalgams hinwegging, nimmt der Tatsache nichts von seiner Signifikanz, daß hier ein weiteres Mal die Unmöglichkeit einer monarchischen Neuakzentuierung auch im revolutionären Kontext widerlegt worden war.

82  Karl H. L. Pölitz, Die europäischen Verfassungen seit dem Jahre 1789 bis auf die neueste Zeit, Bd. 3: Die Verfassungen Polens, der freien Stadt Cracau …, Leipzig 1833, 12. 83  Zu den politischen Ideen Alexanders I. zwischen monarchischer Tradition und liberaler Neigung s. Allen McConnell, Tsar Alexander I: Paternalistic Reformer, New York 1970, zu den Verfassungen ebd., 148–163. 84  „Die oben geschilderte Rechtslage Kongreßpolens gestattet jedoch kaum, dem Königreich die Eigenschaft eines Staates abzusprechen […] Soweit jedoch die Realunion eine Verbindung von zwei gleichberechtigten Staaten, also ein Koordinationsverhältnis darstellt, darf von einer Realunion zwischen Kongreßpolen und dem Russischen Reich keine Rede sein. […] Es kann somit nur von einer Staatenverbindung mit einem einseitigen Abhängigkeitsverhältnis, von einer Unio inæquali jure gesprochen werden“ (Alekszandr N. Makarov, Die russisch-polnischen Rechtsbeziehungen seit 1815 unter spezieller Berücksichtigung der Staatsangehörigkeitsfragen, in: ZaöRV 1 [1929], 330–367, hier: 336 f.). 85  Harold Nicolson, The Congress of Vienna: A Study in Allied Unity: 1812–1822, New York 2001, 179 f.

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Ausblick – ein „König von Amerika“? Haben die Jahre der revolutionären Erschütterung zwischen 1770 und 1820 ein dauerhaft republikanisches Staatswesen hervorgebracht, so handelt es sich dabei nach wohl allgemein akzeptierter Einschätzung um die Vereinigten Staaten von Amerika. Um so mehr mag die Überzeugung des fünften Präsidenten der USA, James Monroe, erstaunen, „that various persons among the Federalists in the time of Washington had been adherents of monarchy“.86 Grund dieser Feststellung war die Überlieferung, der zufolge in den 1780er Jahren „Mr. Gorham, formerly President of Congress, had written a letter to Prince Henry87, brother of the great Frederic, desiring him to come to the U. S. to be their king“, dieser aber das Angebot mit der Begründung abgelehnt hätte, die Amerikaner „had shown so much determination agt. [against] their old King, that they wd. [would] not readily submit to a new one“88. Lange Zeit galt es als unvorstellbar, daß Nathaniel Gorham (1738–1796)89, einer der führenden Gestalten bei Redaktion und Unterzeichnung der amerikanischen Verfassung 1787, ein Jahr zuvor, also zehn Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung, die Idee hätte hegen können, an die Spitze der jungen USA einen europäischen König zu berufen90, beziehungsweise diesem Gedanken Raum in Diskussionen gegeben zu haben. Tatsächlich aber lagen die Dinge nicht so klar. Der allem Anschein nach an diesem Unterfangen mitbeteiligte Alexander Hamilton91 sollte während der Verhandlungen um die Verfassung 1787 zur Exekutivgewalt des zukünftigen Staatsoberhauptes ausführen: „The English model was the only good one on this subject. The hereditary interest of the king was so interwoven with that of the nation, and his personal emoluments so great, that he was placed above the danger of being corrupted from abroad […]. Let one executive be appointed for life who dares execute his powers“92. 86  Richard Krauel, Prince Henry of Prussia and the Regency of the United States, 1786, in: The American Historical Review 17 / 1 (1911), 44–51, hier 46. 87  Chester Verne Easum, Prince Henry of Prussia, Brother of Frederick the Great, Madison 21971 (dt. Göttingen 1958). 88  Charles R. King, The Life and Correspondence of Rufus King, 6 Bde., New York 1894–1900, hier Bd. 6 (1900), 643; vgl. Stanislaus Murray Hamilton (Hrsg.), The Writings of James Monroe, Including a Collection of his Public and Private Papers and Correspondence …, 7 Bde., New York 1898–1903, hier Bd. 5 (1901), 343. 89  Zu ihm: Joseph C. Morton, Shapers of the Great Debate at the Constitutional Convention of 1787: a Biographical Dictionary (Shapers of the Great American Debates 8), Westport, Conn. 2006, 117–120. 90  Kevin Repp, Über das Angebot der amerikanischen Regentschaft an Prinz Heinrich von Preußen, in: Prinz Heinrich von Preußen – ein Europäer in Rheinsberg, hrsg. von Jörg Meiner, München 2002, 145–147. 91  Ron Chernow, Alexander Hamilton, New York 2004. 92  James Madison, The Constitutional Convention. Edited by Edward J. Larson and Michael P. Winship, New York 2005, 51.



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Ohne die Worte „König“ oder „Monarchie“, die logische Schlußfolgerung aus den obigen Feststellungen, offen auszusprechen, fügte Hamilton erklärend hinzu: „And let me observe that an executive is less dangerous to the liberties of the people when in office during life than for seven years. It may be said this constitutes as an elective monarchy […]. But by making the executive subject to impeachment, the term ‚monarchy‘ cannot apply […]93“.

Zu diesem Zeitpunkt war das tatsächlich erfolgte Angebot an Prinz Heinrich von Preußen durch dessen Ablehnung auch schon hinfällig geworden. Wohl noch im Herbst 1786 hatte dieser seinem Freund und amerikanischen Vertrauensmann, General von Steuben, geantwortet: „Monsieur, Votre lettre du 2 du mois 9bre [2 novembre 1786] m’est parvenue. Je l’ai reçue avec tout le sentiment de la reconnaissance mêlée de surprise. Vos bonnes intentions sont bien dignes de mon estime, elles me paraissent l’effet d’un zèle que je voudrais reconnaitre, tandis que ma surprise est une suite des nouvelles que j’apprends par la lettre d’un de vos amis. J’avoue que je ne saurais croire qu’on pût se résoudre à changer les principes du gouvernement qu’on a établi dans les Etats-Unis de l’Amérique, mais si la nation entière se trouverait d’accord pour en établir d’autres, et choisirait pour son modèle la constitution d’Angleterre, d’après mon jugement je dois avouer que c’est de toutes les constitutions celle qui me parait la plus parfaite. […]“94.

Wie Krauel vor nunmehr schon über hundert Jahren beobachtete, liegt der Rückschluß nahe, Heinrich habe tatsächlich eine entsprechende Einladung erhalten, diese aber wohl auch aus taktischer Rücksichtnahme – nicht zuletzt auf Frankreich95 – nicht angenommen96. Mit dieser Episode waren die monarchischen Diskussionen in den und um die jungen Vereinigten Staaten noch lange nicht ausgestanden. Eine hierfür aufschlußreiche Kontroverse entspann sich gegen Ende der 1780er Jahre um Haltung und Person John Adams’, des späteren zweiten Präsidenten der USA, der zu diesem Zeitpunkt als Vizepräsident unter anderem die Amts­ geschäfte des Senates leitete. Hierbei, „Adams’ enemies resented his propensity for joining in Senate debates and suspected him of ‚monarchist‘ 93  Ebd.; zu Hamiltons politischen Konzeptionen siehe Gerald Stourzh, Alexander Hamilton and the Idea of Republican Government, Stanford 1970. 94  Undat.: Heinrich an Steuben, zit. nach: R. Krauel, Prince Henry (Anm. 86), 47 f. 95  Worauf Heinrich auch in seinem Schreiben an Steuben hinwies, vgl. ebd., 47: „Les Français sont jusqu’a cette heure les vrais alliés des Etats-Unis de l’Amérique. Il me parait que rien de grand pourra solidement se faire chez vous, à moins d’y faire concourir cet allié“. 96  Ebd., 49.

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sentiments“97. Tatsächlich hatte Adams solchen „Verdächtigungen“ in der Vergangenheit durchaus dadurch Nahrung gegeben, indem er unter anderem formuliert hatte, „hereditary monarchy or aristocracy“ wären die „only institutions that can possibly preserve the laws and liberties of the people“98. Obwohl Adams sich zum Teil heftig gegen solche Vorwürfe verwahrte99, konnte deren Plausibilität nicht von der Hand gewiesen werden100. Adams hatte, aufgrund seiner in Frankreich gemachten Erfahrungen, wiederholt auf die Notwendigkeit einer Einschränkung der Aristokratie hingewiesen, deren Entstehen er in Amerika in Form der neuen politischen Elite sah – wenn auch ohne explizite Nennung einer alternativen Staatsform. „Nevertheless, he conveyed his doubts about the new American system clearly enough to shake the confidence of friends and to provide damaging evidence for enemies that he was an aristocrat and monarchist. Needless to say, Adams anticipated and looked forward to this response in his proud, combative way. ‚The Cry of monarchy‘ always greeted advocates of the strong executive. ‚I have run the gauntlet too long among libels, halters, axes, daggers, cannonballs and pistol bullit (sic), in the Service of this people, to be at this age afraid of their injustice.‘ But the inevitable attacks on Adams, crude as they were, stumbled on a truth that he did not admit to himself. He was leaning toward monarchy and aristocracy (as distinct from kings and aristocrats) at the time he wrote ‚Davila‘, though he did not directly reveal this in its essays. Decidedly, some time after he became vice-president, Adams concluded that the United States would have to adopt a hereditary legislature and a monarch. In the course of writing ‚Davila‘ he retreated from and denied ever having held such an opinion. He insisted that he had imagined such an arrangement only as a contingency, and a distant one at that“101.

Virulent wurde die Auseinandersetzung 1789 während der Debatten um einen angemessenen Titel und die damit zusammenhängende Anrede des amerikanischen Präsidenten. Adams votierte hier zunächst für „Protector of Their [the United States’] Liberties“ und „Your Highness“102, modifizierte dies dann aber dahin, Präsident und Vizepräsident „should be given ‚the title 97  Mark O. Hatfield, Vice Presidents of the United States  – John Adams (1789– 1797), in: http: /  / www.senate.gov / artandhistory / history / resources / pdf / john_adams. pdf, 8. 98  Alexander Biddle (Hrsg.), Old Family Letters: contains letters of John Adams, all but the first two addressed to Dr. Benjamin Rush; one letter from Samuel Adams, one from John Quincy Adams, and several …, Philadelphia 1892, 38 f. 99  John Patrick Diggins (Hrsg.), The Portable John Adams, New York 2004, 466 f. 100  Vgl. Kathleen Bartoloni-Tuazon, For Fear of an Elective King, Ithaca 2014, 89. 101  Peter Shaw, The Character of John Adams, Chapel Hill 2014, 231. 102  23 Mai 1789: James Madison an Thomas Jefferson (Julian P. Boyd [Hrsg.], The Papers of Thomas Jefferson, vol. XV, Princeton 1958, 147 f.); vgl. James H. Hutson, John Adams’ Title Campaign, in: The New England Quarterly 41 / 1 (1968), 30– 39, hier 30.



Fatalität der Revolution?

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of Majesty‘ “103. Die Motivation zu dieser Initiative entsprang Adams’ Einsicht, der Titel „Hoheit“ käme allen deutschen Duodezfürsten zu, was Rang und Stellung eines US-Präsidenten kaum angemessen sein konnte. Vielmehr mußten dessen in der Verfassung angelegten „königlichen“ Vollmachten eine adäquate Titulatur entsprechen: „The Constitution had endowed the Presidency with ‚regal authorities‘  – and to underline this point Adams liked to quote an observation which the Prince of Orange had honored him with, ‚Monsieur[,] vous al[l]ez avoir a [un] roi, sous le title [titre] de Président‘104 – and therefore Washington should have a title reflecting this fact“105.

Der Einsatz für eine Monarchie unter einem auf Lebenszeit gekürten Wahlmonarchen entsprang somit letztlich der Sorge vor einer zu starken Zentralgewalt in Form einer sich verselbständigenden Führungsschicht. „A second reason for Adams’ advocacy of titles was, paradoxically, to prevent the government from getting too strong. In his opinion all men would be tyrants if they could – rich men, poor men, gentlemen, simple men. Aristocrats he feared the most, however. ‚You are afraid of the one,‘ he wrote Jefferson on December 6, 1787, ‚I, of the few […] You are Apprehensive of Monarchy: I, of Aristocracy.‘106 The Vice-President’s apprehensions about aristocracy arose from his belief that its wealth, intelligence, and ambition would, unless checked by some countervailing force, corrupt the people, impose on their ‚simple honesty and plain sense,‘ and ultimately deprive them of their liberty. This prospect could be averted, he believed, by separating the grandees from the mass and by putting them into a separate governmental realm, into their own Upper House, for example, a move which was ‚to all honest and useful intents, an ostracism‘107“108.

Sprechend und bezeichnend ist es, sich diese Auseinandersetzungen im Rahmen unseres Erörterungsgegenstandes bewußt zu machen: Offenbar kreisten die hauptsächlichen Diskussionen in den frühen, vermeintlich von republikanischem Eifer erfüllten Vereinigten Staaten um die Alternative zwischen Aristokratie und starker Monarchie. Geführt wurden sie weder von Außenseitern des Geschehens, noch von versponnenen Einzelgängern – im Gegenteil. Stand Adams, bei aller intellektuellen Unabhängigkeit und Redlichkeit, den federalists um Alexander Hamilton nahe, denen er auch seine Wahl zum Präsidenten 1797 verdankte, so vertrat sein Hauptopponent und paradoxer103  28

Jan 1789, Adams an William Tudor (zit. nach: ebd., 34, Anm. 27). Jun 1789: Adams an Tudor (zit. nach ebd., 34, Anm. 24). 105  Ebd., 34. 106  6 Dec 1787: Adams an Jefferson (The Papers of Thomas Jefferson, vol. XII, Princeton 1955, 396). 107  John Adams, A Defence of the Constitutions of the Government of the United States of America, London 1794, vol. 1, XIV. 108  J. H. Huston, John Adams’ Title Campaign (Anm. 102), 36. 104  28

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weise bester Freund Thomas Jefferson das andere, mit Whig- und Jakobiner­ idealen durchsetzte Lager der democratic republicans. Von daher ist deren Unverständnis für die Adams’schen Initiativen  – Jefferson nannte den Vorschlag, den Präsidenten als Majestät zu bezeichnen „the most superlatively ridiculous thing I ever heard of“109 – durchaus nachzuvollziehen, weniger deren subtile Ausnutzung während des Wahlkampfes 1800, in dem es Jefferson schließlich unter Einsatz schmutzigster Mittel gelang, sich gegen Adams durchzusetzen110. Damit hatte der Streit um Staatsoberhaupt und Präsidentialtitulatur eine Bedeutung erlangt, die weit über die engen Grenzen der eigentlichen Kontexte hinauswies. Letzteren hatte George Washington bereits 1789 entschieden, indem er – um den fragilen inneren Frieden bemüht – der Eingabe James Madisons, Jeffersons Vertrauten und Nachfolgers, entsprochen hatte, es bei „Mr. President“ zu belassen. Grundlegend aber beleuchtete er das Potential der monarchischen Idee inmitten revolutionärer Zeiten und Umbrüche weit über Europa hinaus, einer Idee – das belegt die Summe des hier Betrachteten –, welche gerade in jener ihr vermeintlich fatalen Epoche weit davon entfernt war, an Potential und Perspektive einzubüßen. Im Gegenteil: Von der Erneuerung altklassisch-traditioneller Ansätze des Sakralkönigtums über die Funktion als Vermittler zwischen gesellschaftlichen Antagonismen und als nationale Identitätsstiftung bis hin zur Option in den Entstehungsprozessen neuer staatlicher Gebilde blieb sie von anhaltender Aktualität.

109  29 Jul 1789: Jefferson an Madison (The Papers of Thomas Jefferson, vol. XV [Anm. 102], 315 f.). 110  Bereits 1799 hatte eine Verleumdungskampagne gegen Adams eingesetzt, deren Konzeption im Hintergrund bei Jefferson lag, deren Ausführung aber dem zweifelhaften Publizisten James T. Callender überlassen wurde. 1800 erschien dessen Schrift The Prospect Before Us, deren erklärte Absicht es war, „to exhibit the multiplied corruptions of the federal government and more especially the misconduct of the president, Mr. Adams“ (James Thomson Callender, The Prospect Before Us, 3 fasc., Richmond, Va. 1800, hier: I, [3]). Adams wurde hier als geisteskranker Tyrann hingestellt, dessen erklärtes Ziel es sei, sich selbst zum König und seinen Sohn John Quincy zum erblichen Thronfolger zu machen. Beim Lesen der Korrekturfahnen, „Jefferson was pleased. Telling Callender that the book ‚cannot fail to produce the best effect‘ […]“ (John Ferling, Adams vs. Jefferson: The Tumultuous Election of 1800, New York 2004, 136; zur gesamten Hetzkampagne gegen Adams siehe ebd., 135–140).

Die Domestizierung der Monarchien des 19. Jahrhunderts Von Jes Fabricius Møller, Kopenhagen Bis weit in die 1980er Jahre hinein erschien es den meisten Historikern, die sich mit dem 19. Jahrhundert befassten, als sinnlos, ihre Aufmerksamkeit der Monarchie als Institution zuzuwenden. Monarchien waren „placed in the terminal ward of history“ und galten „as survivals of the ancien régime, gaudy extravaganzas, bound to fail“.1 Auch heute neigt die Politikgeschichtsforschung dazu, die Monarchie zu ignorieren, da diese als unbedeutendes Requisit auf der Bühne der neuzeitlichen Weltgeschichte angesehen wird. In den letzten Jahren allerdings haben immer mehr Historiker begriffen, dass die Tatsache, dass die meisten Staaten des 20. Jahrhunderts Republiken wurden, es nicht rechtfertigt, die Monarchien des 19. Jahrhunderts zu ignorieren  – mit den Worten C. A. Baylys: „What should be stressed is that these monarchical systems, with their ill-assorted mishmash of charismatic authority and populism, of ritual and base privilege, of intrigue and leadership, were valuable to nineteenth-century polities in many ways.“2 Die Monarchie änderte im 19. Jahrhundert ihren politischen Status, sie wurde aber nicht politisch bedeutungslos. Man könnte sogar  – mit Dieter Langewiesche – dafür plädieren, dass das 19. Jahrhundert in Wirklichkeit ein monarchisches Jahrhundert war.3 Jeder einzelne im Europa des 19. Jahrhunderts neu gegründete Staat war eine Monarchie.4 Die Monarchie als Staatsform erwies sich also einerseits über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg als sehr stabil. Andererseits diente die Monarchie aber auch der Illusion von Stabilität. „The existence of the crown serves to disguise change“, wie es Georg V. in den 1890er Jahren ausdrückte, als er 1  Christopher Alan Bayly, The Birth of the Modern World 1780–1914, Oxford 2004, 427. 2  Ebd. 3  Dieter Langewiesche, Die Monarchie im Europa des bürgerlichen Jahrhunderts. Das Königreich Württemberg, in: Das Königreich Württemberg 1806–1918. Monarchie und Moderne. Ausstellungskatalog, Stuttgart 2006, 25–37, hier 26. 4  Dieter Langewiesche, Die Monarchie im Jahrhundert Europas. Selbstbehauptung durch Wandel im 19. Jahrhundert (Schriften der philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 50), Heidelberg 2013, 20.

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noch Thronerbe war.5 Unter dem Anschein von Kontinuität änderte sich die Monarchie im Laufe des Jahrhunderts tatsächlich fundamental. Die Änderung bestand jedoch nicht in einem bloßen Verschwinden einer alten Institution. Manche der Veränderungen dienten, wie David Cannadine gezeigt hat, als Ausgleich für den Verlust bestimmter politischer Funktionen.6 Dennoch war diese Transformation etwas anderes als der Verlust früherer Größe. In vielen Fallen gewannen Monarchen neue Größe, indem sie sich selbst neu erfanden, und sorgten dadurch dafür, dass viele Monarchien die Unruhen im beginnenden 20. Jahrhundert überlebten. Ich schlage vor, dies einen Prozess der Domestizierung zu nennen, der aus fünf Elementen besteht: Meritokratisierung, Kodifizierung, Konvergenz, Nationalisierung und Popularisierung. Diese Elemente sind als Konzepte sowohl der Kulturgeschichts- als auch der Politikgeschichtsforschung entnommen; in ihrer Kombination halte ich sie für sehr hilfreich, um diesen Wandlungsprozess zu konzeptualisieren. Ich habe nicht vor, eine grand theory zu präsentieren; eher nutze ich Beispiele und Fälle, die allen, die sich mit dem Thema befassen, wohlbekannt sein dürften, um unser Bild der Monarchie des 19. Jahrhunderts und damit des Staates des 19. Jahrhunderts insgesamt zu erhellen. Ich folge mit meiner Begrifflichkeit Simon Schama, der die Wendung „The Domestication of Majesty“ geprägt hat. Er beobachtete eine Entwicklung vom 17. bis ins 20. Jahrhundert, in welcher königliche Porträts weniger majestätisch, weniger dynastisch und dafür intimer, erreichbarer und zugewandter wurden, gezähmt, heimisch, zum Haus (domus) gehörend. Das Bild einer regierenden Dynastie wurde umgeformt „from a clan of deities to a domestic parlor group.“ Schamas Beobachtung geschah in Reaktion auf David Cannadine, der für denselben Zeitraum eine wachsende Ritualisierung der Monarchie ausmachte. Schama schloss daraus, dass die Monarchen zu erkennen begonnen hatten, dass ihr dauerhaftes Überleben von der Erfüllung zweier unterschiedlicher – und scheinbar gegensätzlicher – Erwartungen abhing: „In so far as the survival of monarchy into the twentieth century has depended on its success at embodying a patriotic mystique, it came to be important that the institution should be seen to be the family of families, at once dynastic and domestic, remote and accessible, magical and mundane.“7 5  Neil Blain / Hugh O’Donnell, Media, Monarchy and Power, Bristol 2003, 58. Zu Monarchie und Kontinuität vgl. Max Weber, Grundriss der Sozialökonomik, III. Abteilung, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1922, 648–649. 6  In seiner klassischen Studie zur britischen Monarchie hat David Cannadine gezeigt, wie königliche Zeremonien in dem Moment immer elaborierter und professioneller wurden, als die politische Macht des Monarchen schwand: David Cannadine, The Context, Performance and Meaning of Ritual, in:, The Invention of Tradition, hrsg. von Eric J. Hobsbawm und Terence O. Ranger, Cambridge 1983, 101–164. 7  Simon Schama, The Domestication of Majesty. Royal Family Portraiture, 1500– 1850, in: Journal of Interdisciplinary History XVII / 1 (1986), 155–183.



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Meritokratisierung Diese Entwicklung ging einher mit dem Niedergang der Idee der Aristokratie und dem Aufstieg des Bürgertums sowohl als Klasse als auch als Ideal, was konkret bedeutete, dass die Position innerhalb der Gesellschaft entscheidend von der Bildung abhing, von Ausbildung und Leistung, nicht von der Geburt. Im 19. Jahrhundert erlebte die Auffassung, dass Status oder Privilegien legitimer Weise durch Geburt erlangt werden könnten, einen schweren Niedergang. Dies war einer der Hauptgründe dafür, dass traditionelle Formen monarchischer Legitimität an Überzeugungskraft verloren. Monarchen und Königshäuser – genau wie die Aristokratie – waren gezwungen, ihre Strategie zu ändern und meritokratische Verhaltensweisen zu imitieren. Der Hochadel und die Königshäuser benötigten Ausbildung und Karriere, oder zumindest mussten sie so tun, als wären sie gebildet und übten einen Beruf aus. Eine geistliche Laufbahn, ein traditioneller Weg sozialen Aufstiegs für die unteren Klassen, stand für die Königshäuser generell außer Frage; aber das Militär bot eine Karriere, die für die meisten männlichen Mitglieder der Königshäuser attraktiv war. Für Könige war es schon immer wichtig gewesen, Kriege zu gewinnen, schon um die eigene Popularität und Legitimität zu stärken. Es spricht ohnehin manches dafür, in militärischer Stärke und Führungskraft den Ursprung der Monarchie selbst zu sehen. Man könnte sogar behaupten, dass die Könige der Frühgeschichte einfach erfolgreiche warlords waren, deren Macht ausschließlich auf der Fähigkeit basierte, andere warlords zu besiegen. Eine Dynastie wurde geschaffen, wenn Herrscher mit der Behauptung überzeugen konnten, dass diese göttliche Gabe, Kriege zu gewinnen, ein Familienerbe sei, sodass künftige Herrscher ausschließlich aus den Nachfahren – oder angeblichen Nachfahren  – des ersten Königs rekrutiert werden sollten.8 Oder um es in anderen Worten auszudrücken: Das Charisma des ersten Königs wurde transformiert in das Charisma der Dynastie. Dieser Mechanismus, neue Dynastien zu schaffen, war denjenigen, die im 19. Jahrhundert nach Macht suchten, nicht unbekannt. Auf diese Weise wurde Napoleon Bonaparte zum Kaiser; und einem seiner Generäle, Jean Baptiste Bernadotte, ein Mann von niedriger Geburt, gelang es, 1810 zum Erben des schwedischen Throns gewählt zu werden und innerhalb weniger 8  D. Langewiesche, Die Monarchie im Jahrhundert Europas (Anm. 4), 11. Im frühen Mittelalter galt jeder Nachkomme eines Königs als wählbar für den dänischen Thron. Dies verursachte eine Reihe von Bürgerkriegen und gewalttätigen Auseinandersetzungen um den Thron. Die Primogenitur wurde als allgemeine Regel im späten Mittelalter eingeführt, was die Zahl der Konflikte deutlich reduzierte.

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Jahre auch den norwegischen Thron durch eine Personalunion mit Schweden zu erlangen. Amerika ist die große Ausnahme der Regel, dass alle Staaten des 19. Jahrhunderts Monarchien waren, doch die Präsidenten der amerikanischen Republiken erinnerten als Staatsoberhäupter unverkennbar an ihre monarchischen Zeitgenossen – „elected kings with the name of presidents“9 – auch in der Art, wie sie militärische Ausbildung und Herkunft nutzten, um ihre Positionen zu erlangen und / oder zu legitimieren, besonders die monarchischen Emporkömmlinge: Napoleon I., Karl XIV. Johan von Schweden und Norwegen, Augustín de Iturbide, Kaiser von Mexiko, und Jean-Jacques Dessalines von Haiti. Die meisten amerikanischen Präsidenten im 19. Jahrhundert waren Generäle oder hochrangige Offiziere; der Präzedenzfall hierzu war 1789 durch den ersten US-Präsidenten, Georg Washington, geschaffen worden. Bis ins späte 18. Jahrhundert hinein wurden Könige als siegreiche römische Kaiser porträtiert. Diese Bildwahl änderte sich im 19. Jahrhundert; aber nicht, weil etwa die Idee des Kriegerkönigs aufgegeben worden wäre. Die Könige und Fürsten Europas trugen nun nicht nur Offiziersuniformen, sondern strebten auch ausdrücklich eine militärische Laufbahn an.10 Einige von ihnen führten sogar Männer in die Schlacht, so wie Prinz Umberto (später Umberto I.) in der Schlacht von Villafranca 1866. In Preußen war die Militärlaufbahn ein Privileg des Adels, aber sie erforderte nichtsdestotrotz Übung und Fähigkeiten. Die preußische Armee blieb auch nach 1871 aristokratisch – und preußisch –, aber die neue deutsche kaiserliche Marine war wesentlich weniger traditionell und viel stärker meritokratisch. Prinz Heinrich, der Bruder Kaiser Wilhelms II., wählte eine Marinekarriere, genau wie prominente Mitglieder der Königshäuser in Großbritannien, Griechenland und Dänemark in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.11 Selbstverständlich mussten die Königshäuser weiterhin in einer „dynastischen“ und „königlichen“ Weise agieren. Das war besonders dann der Fall, wenn Dynastien bürgerliche Ursprünge hatten – wie bei den Bernadottes von 9  Joseph M. Colomer, Elected Kings with the Name of Presidents. On the origins of presidentialism in the United States and Latin America, in: Revista Latinoamericana de Política Comparada 7 (2013), 79–97. 10  Volker Sellin, Gewalt und Legitimität. Die europäische Monarchie im Zeitalter der Revolutionen, München 2011, 179; Christian Hauβer, Kaiser Pedro II., in: Populisten, Revolutionäre, Staatsmänner, hrsg. von Nikolaus Werz, Frankfurt a. M. 2010, 144–170. 11  Miriam Schneider, „Young, brave, and true, he wears the blue“. The concept of the „Sailor Prince“ in 19th-century European Monarchies, in: Inszenierung oder Legitimation? Die Monarchie in Europa im 19. und 20. Jahrhundert. Ein deutsch-englischer Vergleich (Prinz-Albert-Studien 31), hrsg. von Frank-Lothar Kroll und Dieter Weiß, Berlin 2015, 169–183.



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Schweden; doch sie, wie so viele andere Mitglieder königlicher Familien, orientierten sich ebenfalls an bürgerlichen Verhaltensmustern, beispielsweise durch Mitgliedschaft bei den Freimaurern, einer durch und durch meritokratischen und nicht-aristokratischen Institution.12 Kodifizierung Ein wichtiger Aspekt der Domestizierung der Monarchie bestand darin, dass der Monarch aufhörte, den Staat zu definieren. Die Tatsache, dass die meisten europäischen Staaten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schriftliche Verfassungen erhielten, verschob deren Gravitationszentrum. Obwohl die nachnapoleonische Ära allgemein als sehr konservativ gilt, konnte sie dem durch die Revolution herbeigeführten fundamentalen Wandel nicht entgehen. Im Prozess der Restauration betrieben die Monarchen das Geschäft der Revolution, um Volker Sellin zu paraphrasieren.13 Als dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV., einer der letzten Könige, die an ein göttlich legitimiertes Königtum glaubten, durch das Frankfurter Parlament 1849 die Krone eines künftigen deutschen Reiches angeboten wurde, lehnte dieser ab, weil er nicht durch ein „Hundehalsband“ gefesselt sein oder den „Ludergeruch der Revolution“ annehmen wolle.14 Zur gleichen Zeit musste aber auch er eine moderne Verfassung für Preußen akzeptieren. Der Hintergrund war natürlich die Französische Revolution, oder genauer, die Revolutionen und ihr Verlangen nach Volkssouveränität. Wieder finden wir verschwommene Grenzen zwischen der Monarchie und präsidentieller Herrschaft. König Louis-Philippe von Frankreich, der Bürgerkönig, wurde durch eine Revolution an die Macht gebracht und durch eine andere Revolution wieder abgesetzt. Bevor er sich selbst zum Kaiser machte, war Napoleon III. einer der ersten Präsidenten der Weltgeschichte, die durch ein allgemeines männliches Wahlrecht gewählt wurden.15 Kodifizierung oder eine schriftliche Verfassung sollten nicht mit Demokratisierung oder parlamentarisch-demokratischer Herrschaft verwechselt wer-

12  Per Sandin, Ett kungahus i tiden, Uppsala 2011 (mit englischer Zusammenfassung). Viele Freimaurer waren Adlige, aber die Werte der Freimaurerei waren meritokratisch. Vgl. auch Frank-Lothar Kroll, Zwischen europäischem Bewußtsein und nationaler Identität. Legitimationsstrategien monarchischer Eliten im Europa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift, Beiheft 44 (2007), 353–374. 13  V. Sellin, Gewalt (Anm. 10), 6. 14  Winfried Baumgart, Friederich Wilhelm IV., in: Preußens Herrscher, hrsg. von Frank-Lothar Kroll, München 2009, 219–241, hier 232. 15  J. M. Colomer, Elected Kings (Anm. 9), 85, 88.

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den.16 Die Verfassungen der europäischen Monarchien basierten oft auf dem Prinzip einer Mischverfassung. Die Verfassungstheorie bezog sich auf viele Quellen: in gewissem Grad auf den contrat social, die Gewaltenteilung und die Idee der Volkssouveränität, aber auch auf viel ältere Theorien, die bis auf Polybius, Aristoteles und Platon zurückgingen – die Idee, dass eine Verfassung das Gleichgewicht zwischen drei Grundformen der Herrschaft halten sollte: Demokratie, Oligarchie / Aristokratie und Monarchie. „Demokratie“ wurde allgemein als Schmähwort betrachtet. Während die Demokratie oft als Erbe des klassischen Griechenland gilt, waren doch die beiden einflussreichsten politischen Theoretiker im klassischen Griechenland, Platon und Aristoteles, scharfe Kritiker der Demokratie als Herrschaftsform. Wenn es ein griechisches Erbe im Zeitalter klassischer Bildung gibt, dann ist dieses ein antidemokratisches.17 In manchen Ländern behielten die alten Stände- und Abgeordnetenversammlungen eine privilegierte Repräsentation der Aristokratie (Schweden, England), aber insgesamt befand sich die Legitimität der Aristokratie unbestreitbar im Niedergang.18 Das 19. Jahrhundert war zwar durchaus elitär, aber während das 18. Jahrhundert die noblesse d’epée durch den Amtsadel ersetzte, ersetzte das 19. Jahrhundert die Aristokratie als solche durch die Meritokratie als Ideal. Die Aristokratie verschwand oder verlor ihre Macht nicht über Nacht, aber ihre Legitimität war schwer herausgefordert. Ihre Macht beruhte in wesentlich höherem Grade als zuvor auf dem Sachverhalt, dass Aristokraten typischer Weise Landbesitzer waren. Weit bis ins 19. Jahrhundert hinein war Landbesitz weiterhin in den meisten europäischen Ländern das vorherrschende Mittel, um über Generationen hinweg Wohlstand zu sichern. Während Wahlrecht und Steuern oftmals eng verbunden waren („no representation without taxation“ sozusagen), blieb der Einfluss der Landelite bestehen. Aber generell waren Erziehung und Bildung die neuen Säulen politischer Macht, entgegen dem Privileg durch Geburt auf der einen, der Unbildung der Massen auf der anderen Seite. Wenn jeder Bauer oder Arbeiter wählen dürfte, so würde es sich um Plethokratie oder Plutokratie handeln, eine Tyrannei der Masse, die nicht Weisheit bedeute, sondern die Summe der Irrtümer und Eigeninteressen der ungebildeten Klassen, so die Argumentation der Gebildeten. 16  Dieser Unterschied wurde erarbeitet von: Alfred Stepan / Juan L. Linz / Juli F. Minoves, Democratic Parliamentary Monarchies, in: Journal of Democracy 25 / 2 (2014), 35–51. 17  Für den Aufschluss über diesen Sachverhalt möchte ich Mogens Herman Hansen danken. 18  S. E. Finer, The History of Government from the Earliest Times, Bd. III, Oxford 1997, 1567.



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Typischerweise basierte eine Verfassung auf einem Gleichgewicht zwischen dem monarchischen Prinzip auf der einen und dem repräsentativen Prinzip auf der anderen Seite, oder um es anders auszudrücken: auf einer revidierten Form der klassischen monarchia mixta.19 Die Herrschaftsform in Dänemark (1849) und Norwegen (1814) war (und ist laut den Verfassungen beider Länder bis heute) eine monarchia limitata.20 Konvergenz Die Ähnlichkeiten zwischen der präsidentiellen Herrschaft in Amerika und den europäischen Monarchien waren derart, dass man von einer Konvergenz des republikanischen und des monarchischen Konstitutionalismus sprechen könnte. Die US-Verfassung hält die Balance zwischen Volksrepräsentation (House of Representatives), territorialer Repräsentation (Senat) und Exekutive (Präsident). Aber sie könnte auch betrachtet werden als Nachahmung des klassischen Gleichgewichts zwischen einem demokratischen, einem aristokratischen und einem monarchischen Element. Tatsächlich, wenn wir den Sachverhalt ignorieren, dass der Präsident sich alle vier Jahre zur Wahl stellen muss, erinnert die US-Verfassung sehr stark an eine Verfassung, wie sie im monarchischen Europa des 19. Jahrhunderts üblich war. Alle Verfassungen – die republikanischen wie die monarchischen – hatten wichtige gemeinsame Merkmale. Erstens: Keine diente dem Zweck, die reine Demokratie zu schaffen. Vor allem die Französische Revolution hatte die Angst vor der Herrschaft des Pöbels in Europa installiert. Zweitens bestand die Absicht darin, die absolute Monarchie abzuschaffen, nicht aber die Monarchie als solche. Drittens war die verfassungsgemäße Rolle sowohl der Präsidenten als auch der Monarchen sehr ähnlich. Theoretisch mussten sich nur die Präsidenten zur Wahl stellen, aber praktisch wurden auch die Monarchen in gewisser Weise gewählt. Die Liste der gewählten – oder ausgewählten – Monarchen oder Thronerben ist lang: Schweden 1810, Norwegen 1814 und 1905, Frankreich 1830, Dänemark 1853, Griechenland 1831 und 1863, Rumänien 1866, Spanien 1868, Italien 1870 und Bulgarien 1887. Zu diesem undeutlichen Bild einer Amalgamierung oder Konvergenz von meritokratischen und dynastischen Prinzipien des Zugangs zur Macht kommt die Tatsache hinzu, dass Präsidentensöhne bald begannen, sich ebenfalls zur Wahl zum Präsidenten zu stellen.21 19  Horst Dreitzel, Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft. Semantik und Theorie der Einherrschaft in Deutschland von der Reformation bis zum Vormärz, Bd. I, Köln / Weimar / Wien 1991, 82. 20  Jes Fabricius Møller, Det indskrænkede monarki og teorien om statens ligevægt, in: Historisk Tidsskrift 4 (2014), 539–564. 21  J. M. Colomer, Elected Kings (Anm. 15), 83.

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Aus den Monarchen wurden Quasi-Präsidenten. Der Monarch hatte in manchen Fällen das Recht, gegen ein Gesetz Veto einzulegen oder es zu verzögern, das Parlament aufzulösen, die Regierung zu ernennen und zu entlassen, die Armee zu befehligen und die Verurteilten zu begnadigen; aber selbst wenn er alle diese Machtbefugnisse besaß, machte er kaum Gebrauch von ihnen – oder tat dies nur vorsichtig. Verfassungen basierten entweder auf dem Prinzip der Volkssouveränität (Norwegen 1814, Belgien 1830) oder wurden durch königliches Statut garantiert (Frankreich 1814, Dänemark 1849), aber sie setzten immer Begrenzungen, Bedingungen und Definitionen ein. Sogar konservative Rechtstheoretiker wie Friedrich Julius Stahl akzeptierten diese Auffassung.22 Üblicherweise legte eine Verfassung die Regeln der Nachfolge fest, begrenzte den Zugang der Monarchen zu anderen Thronen, regulierte die Rekrutierung eines neuen Monarchen für einen unbesetzten Thron und bestimmte den modus operandi für den Fall, dass ein Monarch herrschaftsunfähig wurde.23 Die dynastische und erbliche Grundlage des Staates erodierte langsam: Der Monarch bestimmte nicht länger sein Königreich. Eher wurde er durch die Verfassung bestimmt, oder wie Immanuel Kant Ende des 18. Jahrhunderts sehr vorausschauend bemerkte: „Der Staat erwirbt […] einen Regenten, nicht dieser als ein solcher […] den Staat.“24 Nationalisierung Im Laufe dieser Entwicklung stieg die Nation zum größten Alliierten der Monarchen auf. Während des Langen 19. Jahrhunderts hörten die Monarchen auf, in erster Linie Mitglieder einer Dynastie zu sein und wurden stattdessen Repräsentanten ihres Staates und Mitglieder einer Nation.25 Dies wurde am sinnfälligsten illustriert durch die Erfindung des Titels „House of Windsor“ 22  Arthur Schlegelmilch, Die Alternative des monarchischen Konstitutionalismus. Eine Neuinterpretation der deutschen und österreichischen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bonn 2009, 68. 23  Dies war sogar in der preußischen Verfassung von 1848 der Fall (§§ 51–57). 1850 wurde ein Abschnitt ergänzt (§ 57), der die Herrschaft für den Fall einer Vakanz des Throns behandelte. Zu den tatsächlichen Abdankungen vgl. H. Mehrkens, Rangieren auf dem Abstellgleis: Europas abgesetzte Herrscher 1830–1870, in: Das Erbe der Monarchie, hrsg. von Thomas Biskup und Martin Kohlrausch, Frankfurt a. M. 2008, 37–58. 24  Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Immanuel Kant. Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. Werkausgabe Bd. XI, Frankfurt a. M. 1993, 197. Die Bemerkung gilt der Frage der Personalunion, die Kant für unmoralisch hält. 25  Johannes Paulmann, Searching for a ‚Royal International‘. The Mechanics of Monarchical Relations in Nineteenth-Century Europe, in: The Mechanics of Interna-



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während des Ersten Weltkriegs, als der britische König Georg V., ein Nachkomme der deutschen Dynastien Hannover, Sachsen-Coburg und Gotha, Hessen-Kassel und Glücksburg, diesen nicht sehr populären Stammbaum kurzerhand umformte, indem er ihm einen Namen gab, der eher „britisch“ als „deutsch“ konnotiert war; eher „heimisch“ als „fremd“.26 Wie wir inzwischen wissen, wurde der Nationalstaat (nicht im alltagsüblichen Gebrauch des Wortes, als souveräner Staat, sondern vielmehr als ein Staat, dessen Bürger derselben Nation angehörten27) nur in sehr wenigen Fällen realisiert. Eine der wenigen Monarchien des 20. Jahrhunderts, Island, ist  – oder war zumindest  – eine davon.28 Die meisten Staaten blieben Konglomerate verschiedener Territorien, Völkerschaften, Verwaltungsbereiche und Kulturen. Aber der Nationalismus als Idee war so stark, dass die Hohenzollern deutsch wurden, die Glücksburger dänisch (beziehungsweise griechisch und norwegisch), die Sachsen-Coburg und Gothaer britisch (und belgisch und portugiesisch und bulgarisch) und so weiter.29 Popularisierung Um eine Allianz mit ihren Untertanen und Mitgliedern derselben Nation einzugehen, mussten die gekrönten Häupter die emotionalen Bindungen stärken. Monarchen haben immer die Liebe und die Zuneigung ihrer Untertanen gesucht, doch als aus Untertanen Bürger wurden und aus Bürgern das Volk, waren die königlichen Häuser unter wachsenden Druck gesetzt, populär zu werden. Diese Eigenschaft war, qua Definition, nicht durch Volkswahl bestimmt, sondern durch die Zustimmung des Volkes. Wie Bagehot 1867 beobachtete, war die Beziehung zwischen dem Staatsoberhaupt und dem Volk in tionalism. Culture, Society, and Politics from the 1840s to the First World War, hrsg. von Johannes Paulmann und Martin Geyer, Oxford 2001, 145–76. 26  Hartmut Pogge von Strandmann, Nationalisierungsdruck und königliche Namensänderung in England. Das Ende der Großfamilie europäischer Dynastien, in: Rivalität und Partnerschaft: Studien zu den deutsch-britischen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Gerhard A. Ritter und Peter Wende, Paderborn 1999, 69–91. 27  Ernest Gellner, Nations and Nationalism, Ithaca 1983, 1. 28  Island gehörte zum dänischen Königreich bis 1918, als es eine souveräne Monarchie wurde in Personalunion mit Dänemark. 1944 wurde Island eine Republik. Die 26 Jahre monarchischer Herrschaft werden oft verleugnet und interpretiert als Meilenstein von „kolonialer“ (Island war niemals Kolonie) Herrschaft zu nationaler Unabhängigkeit. 29  Ein besonderes interessantes Forschungsgebiet im Hinblick auf die Beziehung zwischen Monarchie und Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert ist die Personalunion: Russland-Finnland, Schweden-Norwegen, Großbritannien-Hannover, Dänemark-Holstein, Österreich-Ungarn, Dänemark-Island, Großbritannien-Kanada, Großbritannien-Australien etc.

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monarchischen Staaten eine emotionale, keine rationale wie in Republiken.30 Die Massenmedien spielten hierbei eine wichtige Rolle. Wie Peter Burke gezeigt hat, kann bereits die Darstellung Ludwigs XIV. im Bild auf Münzen und Reiterstatuen auf öffentlichen Plätzen als eine frühe Form der Massenmedien interpretiert werden.31 Sogar heute kann zwar eine Parade hunderttausende Zuschauer haben und eine Statue über die Zeit hinweg sogar noch mehr, aber die massenmedialen Formate, die im 19. Jahrhundert entstanden, wie Zeitschriften und Zeitungen, ermöglichten viel besser die Idee einer persönlichen, wenn auch eingebildeten oder asymmetrischen, emotionalen Beziehung zwischen der Familie und dem einzelnen Bürger.32 Aus dem Sonnenkönig wurde der celebrity star. Zusammenfassung Der Zusammenbruch der meisten großen und vielen der kleineren Monarchien in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde durch den Krieg verursacht – genauer: durch verlorene Kriege – und durch die Tatsache, dass „traditional conceptions of legitimacy as well as the principles of dynastic descent had become widely discredited“33. Demokratie oder Volksherrschaft hatte ein Monopol erlangt, was die Legitimation politischer Macht betraf. Das bedeutet allerdings nicht, dass jede Republik demokratisch war. Jan-Werner Müller erklärt dies folgendermaßen: „The point is not that there was no need for public justification before 1919 – of course there was. But in the twentieth century it had to become both more extensive and more explicit. This was even the case when legitimacy was supposed to be grounded in the personal charisma of a leader, or rely on a functioning state bureaucracy capable of delivering what citizens desired: neither charisma nor welfare provision speaks for or explains itself. The new pressure for public justification was especially evident with right-wing regimes which sought to rule in the name of tradition, as well as with the royal dictatorships which flourished in interwar Europe in particular: tradition and monarchical legitimacy were no longer understood to be self-evident or habitually accepted – they had to be articulated and actively promoted. There was simply no way back from the demands for mass political justification.“34

30  Walter

Bagehot, The English Constitution [1867], Oxford 2001, 41. Burke, The Fabrication of Louis XIV, New Haven 1992. 32  Die klassische Studie über die emotionale Verbindung zwischen gewöhnlichen Familien und der königlichen Familie ist: Michael Billig, Talking of the Royal Fam­ ily, London 1992. 33  Jan-Werner Müller, Contesting Democracy, Yale 2011, 3. 34  Ebd. 31  Peter



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Die überlebenden Monarchien mussten sich an diese neue Situation anpassen. Die einzige Möglichkeit für eine zeitgenössische Monarchie, in dieser neuen geistigen Umgebung zu überleben, bestand darin, zu einer demokratischen und parlamentarischen Monarchie zu werden.35 Im Rückblick nach mehr als einem Jahrhundert können wir nun erkennen, dass der Prozess, den ich die Domestizierung der Monarchie genannt habe, als Anfangspunkt für die Entstehung der demokratischen und parlamentarischen Monarchie gesehen werden kann, aber das bedeutet nicht, dass dies von vornherein die Absicht gewesen wäre. Diese Entwicklungen verliefen weder linear noch teleologisch. Die Kodifizierung geschah nicht in der Absicht, demokratische und parlamentarische Monarchien zu schaffen. Popularität war nicht von vornherein als Vorläufer des Starkults der modernen Königshäuser geplant. Meritokratisierung war ein Weg zur Legitimierung eines Monarchen mit tatsächlichem persönlichen Einfluss und politischer Macht. Andererseits bereiteten Schlüsselelemente des Domestizierungsprozesses den Weg für das Überleben der Monarchie im 20. Jahrhundert. Die Transformation einer dynastischen Familie in „die erste Familie der Nation“, die mediale Aufmerksamkeit, die stärkere emotionale Verbindung und der Eindruck von Identität zwischen der Bevölkerung und der königlichen Familie gehören zu den Elementen desjenigen Prozesses, der vom 19. Jahrhundert ausgehend die heute existierenden demokratischen und parlamentarischen Monarchien herbeigeführt hat.

35  Dieses Konzept wird entwickelt in A. Stepan / Juan J. Linz / J.F. Minoves, Democratic Parliamentary Monarchies, in: Journal of Democracy 25 / 2 (April 2014), 35–51, die einen allgemeinen Überblick geben über die meisten der 44 im Zeitalter der Demokratie existierenden Monarchien.

Das Monarchiesterben 1914–1945: Ein Siegeszug der Demokratie? Von Benjamin Hasselhorn, Berlin / Wittenberg I. Als am 9.  November 1918 Kaiser Wilhelm II. den Zug bestieg, der ihn kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs ins neutrale Holland bringen sollte, war das Schicksal der Monarchie in Deutschland besiegelt. Die Abdankung des Kaisers, vor allem aber die sang- und klanglose Flucht ins neutrale Ausland war für die Zeitgenossen ein entscheidender Faktor für den totalen Glaubwürdigkeitsverlust der Monarchie1. Ein desertierender Kaiser war für die Deutschen zu viel, zumal sie in den Jahren der Regierung Wilhelms II. gelernt hatten, den Kaiser als symbolischen Repräsentanten, ja als Personifikation der deutschen Nation zu betrachten2. Mit der Abfahrt des Zuges nach Holland war der Zug der Monarchie in Deutschland ebenfalls abgefahren. Die ungeheure Bedeutung der kaiserlichen Flucht wird vor allem daran erkennbar, wie intensiv in den Folgejahren über alternative Handlungsmöglichkeiten Wilhelms II. debattiert wurde3. Hauptsächlich wurden zwei Alternativen diskutiert: die militärische Niederschlagung der Revolution im Inneren mit dem Kaiser an der Spitze seines Heeres, und der Tod des Kaisers an 1  Vgl. Martin Kohlrausch, Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Monarchie (Elitenwandeln in der Moderne, 7), Berlin 2006, bes. 365–369. 2  Vgl. dazu vor allem Benjamin Hasselhorn, Politische Theologie Wilhelms II. (Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 44), Berlin 2012, 78–86. Vgl. außerdem Nicolaus Sombart, Wilhelm II. Sündenbock und Herr der Mitte, Berlin 1997, bes. 58; Christopher Clark, Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers, München 2008, 78; Michael A. Förster, Kulturpolitik im Dienst der Legitimation. Oper, Theater und Volkslied als Mittel der Politik Kaiser Wilhelms II. (Mainzer Studien zur Neueren Geschichte, 25), Frankfurt a. M. u. a. 2009, 254; Michael A. Obst, „Einer nur ist Herr im Reiche“. Kaiser Wilhelm II. als politischer Redner (Otto-von-Bismarck-Stiftung Wissenschaftliche Reihe, 14), München u. a. 2010, 422–426; Martin Kohlrausch (Hrsg.), Samt und Stahl. Wilhelm II. im Urteil seiner Zeitgenossen, Berlin 2006, 10, 14 u. 19. 3  Vgl. für das Folgende B. Hasselhorn, Politische Theologie (Anm. 2), 248–256; dort auch Quellen- und weitere Literaturhinweise.

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der Front. Beide Pläne kannte Wilhelm II.: den ersten hatte er selbst vorgeschlagen, war aber von seinen Generälen im Stich gelassen worden, die ihm am 6.  November 1918 erklärten, das Heer stehe nicht mehr geschlossen hinter ihm. Für die „Königstod“-Alternative gab es im direkten Umfeld des Kaisers zwei verschiedene Pläne, von denen wohl mindestens einer dem Kaiser auch direkt angetragen wurde. Dieser versuchte sich später vom Exil aus für seine Flucht zu rechtfertigen, aber seine Interpretation der Flucht als „Opfer“ der eigenen Person zum Besten des Vaterlandes übernahm in Deutschland doch kaum jemand. Dafür entfaltete die „Königstod“-Vorstellung – von Wilhelm II. während seiner Regierung selbst zum Teil befeuert – erhebliche Wirkung und regte die Phantasie an; noch in den 1960er Jahren wurde über die dadurch möglicherweise verpasste Chance einer Rettung der Monarchie in Deutschland diskutiert. Nach 1918 hielt jedenfalls kaum jemand am Kaiser fest; selbst die zahlreichen Anhänger einer Restauration hielten die Person Wilhelms II. überwiegend für diskreditiert. Dennoch wäre es übertrieben, wenn man allein die Person des letzten deutschen Kaisers für das Ende der deutschen Monarchie verantwortlich machte. Denn es wäre dann doch sehr erklärungsbedürftig, wieso es nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich und in der Türkei (und zuvor noch in Russland) zu einem „Monarchiesterben“4 kam. Hier setzt nun eine inzwischen geradezu klassische, in radikaler wie in gemäßigter Form vertretene und lange Zeit mehr oder weniger alleinige Gültigkeit beanspruchende Hypothese ein. Sie lautet in Kurzform: Der „Monarchienkollaps der Mittelmächte“5 entsprach einer weltgeschichtlichen Entwicklungstendenz, die durch den Ersten Weltkrieg einen Schub bekam. Im Hintergrund steht hierbei die eine oder andere Form der Modernisierungsthese6. Demnach kam es insbesondere infolge der Französischen Revolution zu gravierenden Veränderungen im Gesellschaftlichen wie im Politischen, und das Ergebnis war ein „weltweite[r] Demokratisierungsprozess“7. Die Siegermächte des Ersten Weltkriegs konnten in dieser Perspektive als Agenten des historischen Fortschritts verstanden werden, und deren Kriegspropaganda vom Kampf der westlichen Zivilisation gegen die deutsche Barbarei entsprach mehr oder weniger der historischen Realität. Anliegen in diesem Kampf der Demokratien gegen die Nichtdemokratien war es, wie US-Präsi4  Heinz Gollwitzer, Funktion der Monarchie in der Demokratie, in: ders., Weltpolitik und deutsche Geschichte. Gesammelte Studien, hrsg. von Hans-Christof Kraus (Schriftenreihe der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 77), Göttingen 2008, 527–538, hier 527. 5  Ebd., 528. 6  Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975. 7  H. Gollwitzer, Funktion (Anm. 4), 527.



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dent Woodrow Wilson es selbst ausdrückte: „to make the world safe for democracy“8, das ganze garniert mit manch apokalyptischen Vorstellungszusammenhängen wie etwa, im Ersten Weltkrieg den „war that will end war“9 zu führen. Schließlich hatte Wilson schon lange vor dem Krieg als Ziel verkündet, der drohenden „reaktionären Revolution“10 im Namen von Demokratie und Freiheit entgegenzutreten. Es dürfte aber auf der Hand liegen, dass diese Deutung sich allenfalls oberflächlich mit der historischen Realität vereinbaren lässt. Denn zunächst einmal war die Demokratisierung der Welt ein ideologisches Ziel, das sich in dieser Form nur die Vereinigten Staaten von Amerika auf die Fahnen geschrieben hatten, die vor 1917 gar nicht aktiv am Krieg teilnahmen. Durchgesetzt wurde das Demokratisierungsziel daher schließlich auch nur in Bezug auf die Verlierermächte des Ersten Weltkriegs. Dort – und nur dort – wurden die bestehenden Monarchien zerschlagen und durch republikanische Staatsformen ersetzt. Dieser Umstand war zudem äußerst ambivalent, denn die demokratische Republik stand dadurch in den Verlierergesellschaften von Beginn an im Geruch eines aufgezwungenen „Systems der Sieger“. Wie sehr dies den „deutsche[n] Gemütszustand“ beeinflusste, beschrieb Thomas Mann 1930 in seiner „Deutschen Ansprache“: „Diese demokratische Moralität, die während des Krieges den Mund so voll genommen hatte und den Krieg als Mittel zu betrachten schien, eine neue bessere Welt zu schaffen, hat bei Friedensschluß nur sehr bruchstückweise Wort gehalten und sich durch die Wirklichkeit, die psychischen Nachwirkungen der Kriegswut und durch den Machtrausch des Sieges in einem Grade verderben lassen, daß es dem deutschen Volke aufs äußerste erschwert war, an die höhere Berufung der anderen zum Siege zu glauben.“11 Natürlich waren auch Großbritannien und Frankreich 1914 mit dem in aller Massivität propagandistisch vorgetragenen Anspruch in den Krieg eingetreten, die westliche Zivilisation gegen die vor allem deutsche Barbarei zu verteidigen. Und ein wesentlicher Teil  dieser Barbarei war für die britische wie französische Kriegspropaganda nicht nur die Person, sondern auch die Institution des Kaisers12. Dennoch wird man nicht sagen können, dass man 8  Zit. nach David Hunter Miller, The drafting of the Covenant, Bd. I, New York / London 1928, 165. 9  H. G. Wells, The War that will end War, London 1914. 10  Woodrow Wilson, Democracy and Efficiency [1901], in: ders., Public Papers, Bd. 1, New York 1925, 416–442, hier 422. 11  Thomas Mann, Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft, Berlin 1930, 13. 12  Zur britischen Anti-Kaiser-Propaganda vgl. Lothar Reinermann, Der Kaiser in England. Wilhelm II. und sein Bild in der britischen Öffentlichkeit (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, 48), Paderborn u. a. 2001, 441–470;

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von westlicher Seite den Aspekt der Staatsform allzu stark gemacht hätte. Eher ging es um die aus britischer und französischer Perspektive defizitäre Gesellschaftsform der Mittelmächte. Es ging weniger um Demokratie bzw. Republik gegen Monarchie, sondern um Freiheit gegen Autoritarismus. Bereits am 8. August 1914 veröffentlichte die französische Académie des Sciences Morales et Politiques eine Stellungnahme ihres Präsidenten, Henri Bergson, der diese Frontstellung in aller Deutlichkeit aussprach: „Der entschlossene Kampf gegen Deutschland ist der Kampf selbst der Zivilisation gegen die Barbarei. Alle Welt spürt es, aber unsere Akademie hat vielleicht eine besondere Autorität, es auszusprechen. In großen Teilen dem Studium psychologischer, moralischer und sozialer Fragen gewidmet, erfüllt sie eine schlichte wissenschaftliche Pflicht mit der Feststellung, daß die Brutalität und der Zynismus Deutschlands, seine Verachtung aller Gerechtigkeit und Wahrheit einen Rückfall in den Zustand der Wildheit bedeuten.“13 Die Entente-Propaganda konnte sich sogar bis zu dem Punkt steigern, an dem es um den Kampf der Menschheit gegen die Unmenschheit ging, gegen die „Hunnen“, die „wilde Bestie“, die „deutsche Rasse“14. Es liegt jedenfalls auf der Hand, dass die Deutschen und ihre Lebensweise als das Hauptproblem galten, nicht die auch auf Entente-Seite zum Teil vorhandene Staatsform Monarchie. Entsprechend kam auch niemand auf die Idee, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs die Staatsform der Sieger anzutasten. Die Monarchien in Deutschland, Österreich und der Türkei wurden abgeschafft, ohne dass auch nur der geringste Zweifel an der Legitimität der britischen Monarchie geäußert wurde. Natürlich konnte man auf die Unterschiede der britischen Form der Monarchie gegenüber denjenigen der Mittelmächte verweisen, auf den parlamentarischen Charakter der ersteren und den konstitutionell-monarchistischen der letzteren. Aber es bleibt doch dabei: Ein allgemeines Monarchiesterben außerdem Jost Rebentisch, Die vielen Gesichter des Kaisers. Wilhelm II. in der deutschen und britischen Karikatur (1888–1918) (Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 20), Berlin 2000, 207–236, und Martin Schramm, Das Deutschlandbild in der britischen Presse 1912–1919, Berlin 2007. 13  Zit. nach Jürgen von Ungern-Sternberg / Wolfgang von Ungern-Sternberg, Der Aufruf „An die Kulturwelt!“ Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg. Mit einer Dokumentation (Historische Mitteilungen, Beiheft 18), Stuttgart 1996, 55. 14  Eine systematische und quellengestützte Untersuchung zur Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg steht noch aus, trotz der Arbeiten etwa von Michael L. Sanders / Philip M. Taylor, Britische Propaganda im Ersten Weltkrieg, Berlin 1990, oder Klaus-Jürgen Bremm, Propaganda im Ersten Weltkrieg, Darmstadt 2013. Eine Zusammenstellung von antideutschen Äußerungen französischer Gelehrter während des Ersten Weltkriegs bietet Joachim Kühn (Hrsg.), Französische Kulturträger im Dienste der Völkerverhetzung, Jena 1917.



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infolge des Ersten Weltkriegs gab es nicht; es gab das nur für die Verlierer, und selbst da nicht für alle, wie das Beispiel Bulgarien zeigt15. Gegen eine Deutung des Ersten Weltkriegs als Kampf zwischen Demokratien und Nichtdemokratien spricht auch die Rolle Russlands. In den ersten drei Kriegsjahren gab es kaum ein wirkungsvolleres Gegenargument gegen den britischen und französischen Anspruch, die Freiheit gegen den Autoritarismus zu verteidigen, als den Hinweis auf deren russischen Verbündeten, der ohne Zweifel das autokratischste und autoritärste System aller Kriegsbeteiligten besaß – und der sich überdies in Ostpreußen zahlreicher Kriegsverbrechen schuldig machte16. Als dieses autokratische System dann  – nicht etwa infolge der Intervention der Westmächte, sondern aufgrund der sich abzeichnenden militärischen Niederlage und damit verbundener innenpolitischer Krisen – abgeräumt wurde, trat an dessen Stelle schließlich keine Demokratie, sondern eine kommunistische Diktatur. Die stellte sich selbst zwar aus Imagegründen auch immer wieder propagandistisch als Demokratie, ja sogar als die einzig wahre Demokratie dar, aber das überzeugte außer anderen Kommunisten doch nur diejenigen, die aus taktischen Gründen – etwa weil sie mit Russland verbündet waren – sich etwas davon versprachen. II. Welche Erklärung aber gibt es dann für die staatspolitischen Wirkungen des Ersten Weltkriegs, also für den durch den Krieg angestoßenen ersten Schub des „Monarchiesterbens“ in Europa, der 1917 Russland, 1918 Deutschland und Österreich, 1922 die Türkei traf? Heinz Gollwitzer hat hierzu die These vertreten, dass dies mit den im Laufe des 19. Jahrhunderts sich verändernden Voraussetzungen zusammenhängt, unter denen die Monarchie existierte. Die Monarchie war zur Jahrhundertwende längst nicht mehr selbstverständlicher Teil der staatlichen Tradition, sondern war inzwischen gezwungen, ihre Nützlichkeit unter Beweis zu stellen17. Besonders deutlich wird dieser Sachverhalt erkennbar an dem Bemühen der Verteidiger der monarchischen Staatsform, die Begründung fürstlicher 15  Vgl. Nikolaj Poppetrov, Flucht aus der Demokratie: Autoritarismus und autoritäres Regime in Bulgarien 1919–1944, in: Autoritäre Regime in Ostmitteleuropa 1919–1941, hrsg. von Erwin Oberländer, Mainz 1995, 379–401. 16  Vgl. Henry Müller-Meiningen, „Who are the Huns?“ The Law of Nations and its Breakers, Berlin 1915, 167 f. 17  Heinz Gollwitzer, Die Endphase der Monarchie in Deutschland, in: ders., Weltpolitik und deutsche Geschichte. Gesammelte Studien, hrsg. von Hans-Christof Kraus (Schriftenreihe der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 77), Göttingen 2008, 363–383.

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Herrschaft zu verändern – unter Wahrung allerdings der traditionellen Begrifflichkeiten18. So wurde das Gottesgnadentum im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem in erster Linie staatsrechtlichen Begriff. Dieser konnte jenseits jeder konkreten religiösen Vorstellung verwendet werden und bedeutete dann einfach die rechtliche Ursprünglichkeit der monarchischen Staatsgewalt, im Gegensatz zu republikanischen und demokratischen Vorstellungen von einer Volkssouveränität. Das führte allerdings zu einer Reihe von Problemen: Die Monarchie wurde zur Parteistaatsform – die Linke favorisierte eine grundsätzlich andere Ordnung – und die rechtliche Ursprünglichkeit der Monarchie leuchtete um so weniger ein, je weniger man sich konkret-religiös irgend etwas unter „Gottesgnadentum“ vorstellen konnte. Verteidiger der Monarchie neigten deshalb immer stärker dazu, das Gottesgnadentum mehr oder weniger als bloße Floskel zu interpretieren und statt dessen mit Hilfe des „monarchischen Prinzips“19 die Vorzüge der Monarchie rational zu belegen. In erster Linie wurde argumentiert, dass der Monarch aufgrund seiner Unabhängigkeit von allen weltlichen Instanzen in besonderer Weise in der Lage sei, „Hüter des Staatsgedan­ kens“20 zu sein, d. h. als überparteilich Herrschender das Wohl des Ganzen im Auge zu haben, eben weil er seine Macht keiner einzelnen gesellschaftlichen Gruppe, politischen Instanz oder Lobby verdankte. Mit der Verlagerung der Argumentation auf Nützlichkeitsfragen verlor die Monarchie allerdings ihre Selbstverständlichkeit und war einem historisch neuartigen Erfolgsdruck ausgesetzt. Das würde hinreichend erklären, weshalb nur diejenigen Monarchien durch den Ersten Weltkrieg abgeräumt wurden, die eine militärische Niederlage zu verantworten hatten. Dieser Befund ist allerdings in mehrerer Hinsicht noch zu präzisieren bzw. zu differenzieren: Zunächst nämlich ist festzustellen, dass es der Monarchie in zahlreichen Fällen sehr wohl gelang, auf die allgemeinen Entwicklungstendenzen konstruktiv zu reagieren. Das größte Erfolgsmodell dabei war die „Symbiose von Nation und Monarchie“21. Schon 1867 entwarf Walter Bagehot sozusagen die klassische Theorie der modernen Monarchie: Das Königtum, so Bagehot, ziehe sich mehr und mehr aus den direkten politischen für das Folgende B. Hasselhorn, Politische Theologie (Anm. 2), 62–78. Hintze, Das monarchische Prinzip und die konstitutionelle Verfassung [1911], in: ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, hrsg. von Gerhard Oestreich, 2., erweiterte Aufl., Göttingen 1962, 359–389. 20  Ebd., 388. 21  Dieter Langewiesche, Die Monarchie im Jahrhundert Europas. Selbstbehauptung durch Wandel im 19. Jahrhundert (Schriften der philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 50), Heidelberg 2013, 19. 18  Vgl.

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Entscheidungsprozessen heraus und beschränke sich auf die Funktion, ein „visible symbol of unity“22 zu sein. Die Zukunftsfähigkeit der Monarchie wurde in diesem Sinne darin gesehen, dass sie in der Lage war, eine mächtige Zeittendenz – die Nationalisierung – durch Personalisierung zu veranschaulichen, und zudem darin die „weitläufige Zone der Gemütsbedürfnisse“23 zu bedienen, in die auch das Bedürfnis nach „Ehrerbietung“24 gehört. Zu dieser Analyse passt es außerdem, dass die Verlagerung von traditionalen auf rationale Begründungen der Herrschaft im 19. Jahrhundert keineswegs eine Einbahnstraße ist. Vielmehr lässt sich für die Endphase des 19. Jahrhunderts sogar ein gewisser gegenläufiger Trend ausmachen: Mehrere europäische Monarchien begannen, sich wieder verstärkt gerade auf monarchisch-sakrale Traditionen zu berufen. Zu nennen ist hier etwa Ludwig II. von Bayern, aber auch Napoléon III, dessen Bestreben, revolutionäres, traditionelles und bonapartistisches Erbe zu vermitteln sogar im – allerdings gescheiterten – Versuch eines Sacre zu Notre Dame gipfelte25. Zu nennen sind weiterhin die russischen Herrscher, deren religiöse Herrschaftsbegründung über das ganze 19. Jahrhundert hinweg ungebrochen blieb26. Dasselbe gilt übrigens für die britische Monarchie, die bis heute an ihrem Gottesgnadentum festhält, ohne diese Tatsache in der Öffentlichkeit allzu sehr zu betonen27. Und einen vielfach belächelten und leider zu selten ernst genommenen Sonderfall stellt der Versuch Kaiser Wilhelms II. dar, eine moderne und evangelische Adaption des traditionellen Gottesgnadentums zu propagieren28. Es ist insgesamt viel zu lange und viel zu eindimensional von der Tendenz zur Säkularisierung, zur Verweltlichung aller Lebensbereiche und zur Entsakralisierung und Entzauberung der Welt ausgegangen worden, und so konnten die überaus zahlreichen Tendenzen zu einer neuen Mystik und zu einer 22  Walther

Bagehot, The English Constitution, London 1867, 70. Funktion (Anm. 4), 533. 24  Ebd., 534. 25  Vgl. Michel Petzet, Gebaute Träume. Die Schlösser Ludwigs II. von Bayern, München 1995; Marcus Spangenberg, Der Thronsaal von Schloß Neuschwanstein. König Ludwig II. und sein Verständnis vom Gottesgnadentum, Regensburg 1999; Jean Tulard, Art. „Sacre“, in: Dictionnaire du Second Empire, hrsg. von Jean Tulard, Paris 1995, 1152. Zur geistesgeschichtlichen Einordnung vgl. Josef Johannes Schmid, Waterloo – eine Standortbestimmung, in: Waterloo – 18. Juni 1815. Geschichte einer europäischen Schlacht, hrsg. von Josef Johannes Schmid, Bonn 2009, 17­–55, hier 40–43; dort auch weiterführende Literaturhinweise. 26  Vgl. Josef Johannes Schmid, Imperator Russiae – monarchische Traditionsstiftung in vermeintlich anti-traditioneller Umbruchszeit, in: Wahl und Krönung in Zeiten des Umbruchs, hrsg. von Ludolf Pelizæus (Mainzer Studien zur Neueren Geschichte, 23), Frankfurt a. M. u. a. 2008, 157–173, hier 171–173. 27  Vgl. Vernon Bogdanor, The Monarchy and the Constitution, Oxford 1995, 29. 28  Vgl. B. Hasselhorn, Politische Theologie (Anm. 2), 62–78. 23  H. Gollwitzer,

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Resakralisierung im je konkreten Einzelfall voreilig als Anachronismen abgetan werden. Dabei hat selbst der große Theoretiker der „Entzauberung“ der Welt, Max Weber, in der Endphase seines Lebens einen Trend zur Wiederverzauberung der Welt diagnostiziert und hat keineswegs einer allgemeinen Rationalisierung der Lebensbezüge das Wort geredet29. Die Belege, die gegen die eindimensionale Säkularisierung sprechen, sind inzwischen so zahlreich, dass man sie nicht mehr als anachronistische Ausnahmen abtun kann30. Entsprechendes gilt von den Belegen gegen eine allgemeine Demokratisierung. Es ist daher mehr als fraglich, ob man ernsthaft von so etwas wie einer Welttendenz zur Demokratie sprechen kann. Vielmehr scheint es eher so zu sein, dass es bis 1914 eine Reihe durchaus vielversprechender Versuche gegeben hat, die monarchischen Traditionen fortzuführen und an die sich verändernden gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen zu adaptieren. Es war der Erste Weltkrieg, der diesen Bemühungen ein abruptes Ende gesetzt hat. Der Krieg  – und insbesondere sein Ausgang  – war nach dieser Perspektive dann nicht Verstärker einer ohnehin bestehenden Welttendenz, sondern schob vielmehr eine neue an – oder war dasjenige historisch-kontingente Ereignis, das den Ausschlag gab, welche der gegenläufigen Tendenzen fortan den historischen Verlauf bestimmen sollte. Denn dass sich die deutsche und die österreichische Monarchie gehalten hätten, wenn die Mittelmächte den Ersten Weltkrieg gewonnen hätten, ist ein Sachverhalt, an dem kein ernsthafter Zweifel möglich ist. Die monarchische Tradition schon für das Jahrhundert vor dem Ersten Weltkrieg zum Anachronismus zu erklären, würde jedenfalls heißen, die Geschichte vom Ergebnis her zu interpretieren. Tatsächlich liegen die Dinge aber noch ein ganzes Stück komplizierter: Denn mit dem ersten Schub des Monarchiesterbens infolge des Ersten Weltkriegs ist keineswegs ein Siegeszug der Demokratie verbunden. Das sieht höchstens auf den ersten Blick so aus, weil die Monarchien in den Verliererstaaten durch demokratische Republiken ersetzt wurden. In Wirklichkeit ist aber geradezu das Gegenteil festzustellen: Eher wird man sagen können, dass die Folgen des Ersten Weltkriegs dahin führten, dass im Laufe der Zwischenkriegszeit die Demokratie mindestens phasenweise gemeineuropäisch als überlebte Staatsform erscheinen konnte. 29  Vgl. dazu vor allem Wilhelm Hennis, Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1987, bes. 12, 34–35 u. 54. 30  Einen ersten Überblick zu diesem Zusammenhang bieten Olaf Blaschke / FrankMichael Kuhlemann, Religion und Geschichte und Gesellschaft. Sozialhistorische Perspektiven für die vergleichende Erforschung religiöser Mentalitäten und Milieus, in: Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen, hrsg. von Olaf Blaschke und Frank-Michael Kuhlemann (Religiöse Kulturen der Moderne, 2), Gütersloh 2 2000, 7–56.



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Unbestritten jedenfalls dürfte sein, dass die neuen Republiken in Deutschland und Österreich in den Augen vieler Staatsbürger kaum über die notwendige „Legitimität“31 verfügten, dass die Gegner der Republik durchweg in der Überzahl blieben und dass die Republiken schließlich auch nicht viel mehr als ein Jahrzehnt am Leben blieben. In Deutschland, so ist in der Forschung seit Jahrzehnten bekannt, wurde im Laufe der 1920er Jahre die sogenannte „Konservative Revolution“ zur Leitideologie. Schon 1919 hatte Ernst Troeltsch vor der „Welle von rechts“32 gewarnt und damit vor allem die in der jungen Generation vorherrschenden politischen Auffassungen gemeint. Bei aller Heterogenität der verschiedenen Strömungen innerhalb der „Konservativen Revolution“ ist die Behauptung ihrer Zusammengehörigkeit gerechtfertigt aufgrund gemeinsamer Leitvorstellungen, vor allem aufgrund der gemeinsamen Ablehnung der „Ideen von 1789“, verbunden mit der Überzeugung, dass die parlamentarische Demokratie nicht das Modell der Zukunft sei, sondern dass es gelingen müsse, die offenkundige Krise der politischen Moderne zu überwinden, indem man sich ihren destruktiven Wirkungen entgegenstelle und zu einer neuen Ordnung komme33. Nun war die Situation in Deutschland sicherlich eine besondere und die Denker und Politiker der „Konservativen Revolution“ daher besonders einflussreich. Entsprechende Phänomene sind allerdings für die Zwischenkriegszeit in ganz Europa zu beobachten, gerade auch in den Siegerstaaten: Von 31  Der Begriff wird hier im Sinne Max Webers verwendet: „Keine Herrschaft begnügt sich, nach aller Erfahrung, freiwillig mit den nur materiellen oder nur affektuellen oder nur wertrationalen Motiven als Chancen ihres Fortbestandes. Jede sucht vielmehr den Glauben an ihre ‚Legitimität‘ zu erwecken und zu pflegen.“ (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft [1919], Stuttgart 2006, § 1, 122.) 32  Ernst Troeltsch, Die Welle von rechts (Januar 1920), in: ders., Kritische Gesamtausgabe, Bd. 14: Spektator-Briefe und Berliner Briefe (1919–1922), hrsg. von Gangolf Hübinger, Berlin u. a. 2015, 218–228. 33  Grundlegend zum Verständnis der ‚Konservativen Revolution‘ als geistesgeschichtliche Bewegung ist nach wie vor das erstmals 1950 erschienene Standardwerk Armin Mohler / Karlheinz Weißmann, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, Graz 62005. Vgl. auch Stefan Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993. Breuer bestreitet die Tragfähigkeit des Begriffs ‚Konservative Revolution‘ zur Kennzeichnung einer eindeutig abgrenzbaren politischen Strömung und schlägt stattdessen für den Kernbereich der ‚Konservativen Revolution‘  – die Jungkonservativen und die Nationalrevolutionäre  – den Begriff ‚Neuer Nationalismus‘ vor, da von einer Zuordnung zum traditionellen Konservatismus, aber auch zum Nationalsozialismus nicht die Rede sein könne (bes. 181–194). Der Alternativbegriff ‚Neuer Nationalismus‘ ist allerdings nicht weniger problematisch zur klaren Abgrenzung der ‚Konservativen Revolution‘ von ähnlichen Strömungen. Die Heterogenität und schwierige Abgrenzbarkeit der ‚Konservativen Revolution‘ ist wohl in erster Linie durch ihre ideologische Dominanz in den 1920er und 1930er Jahren erklärbar.

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der in der „Action Française“ wurzelnden „Jungen Rechten“34 in Frankreich bis zu den „Neo-Tories“35 in England gab es starke Gruppierungen, die in radikalerer oder gemäßigterer Form Auffassungen vertraten, die denen der verschiedenen Denkfamilien der deutschen „Konservativen Revolution“ entsprachen. Selbst in dem an sich relativ krisenfesten England waren die „NeoTories“ zeitweise relativ nah an einer Machtübernahme, und in Deutschland waren Vertreter der „Jungkonservativen“ in der Endphase der Weimarer Republik unmittelbar in Regierungsverantwortung. Die politische Ideengeschichte der Zwischenkriegszeit dürfte daher weniger einen Siegeszug der Demokratie, sondern eher eine Epoche der Konservativen Revolution in Europa konstatieren. Für unseren Zusammenhang sind hier vier Sachverhalte interessant: 1. Nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa ist in der Zwischenkriegszeit in stärkerer oder schwächerer Form eine Bewegung fassbar, die sich ausdrücklich gegen die parlamentarische Demokratie bzw. den Parlamentarismus überhaupt richtet. Man kann daher von der Zwischenkriegszeit als einer „Krisenzeit der klassischen Moderne“36 sprechen. 2. Diese Bewegung ist unbestreitbar modern. Als antimodern kann man sie höchstens insofern beschreiben, als sie sich gegen jene Positionen richtet, die in einem normativen Konzept von politischer Moderne damit assoziiert werden: Liberalismus, Parlamentarismus, Individualismus, Universalismus37. 3. Es gibt eine starke Tendenz unter den Gemäßigten dieser Denkrichtung, die Monarchie restaurieren bzw. stärken zu wollen, weil sie ihnen als Bollwerk gegen die zerstörerischen Tendenzen der Moderne erscheint. 34  Hans-Wilhelm Eckert, Konservative Revolution in Frankreich? Die Nonkonformisten der Jeune Droite und des Ordre Nouveau in der Krise der 30er Jahre (Studien zur Zeitgeschichte, 58), München 2000. 35  Bernhard Dietz, Neo-Tories. Britische Konservative im Aufstand gegen Demokratie und politische Moderne 1929–1939 (Veröffentlichungen des DHI London, 73). München 2012. 36  Andreas Wirsching, Krisenzeit der „Klassischen Moderne“ oder deutscher „Sonderweg“? Überlegungen zum Projekt Faktoren der Stabilität und Instabilität in der Demokratie der Zwischenkriegszeit. Deutschland und Frankreich im Vergleich, in: 50 Jahre Institut für Zeitgeschichte. Eine Bilanz, hrsg. von Horst Möller und Udo Hengst, München 1999, 365–381. 37  Das gibt selbst ein offen parteilich agierender Historiker wie Volker Weiß zu: Volker Weiß, Moderne Antimoderne. Arthur Moeller van den Bruck und der Wandel des Konservatismus, Paderborn 2012, bes. 14–15. Weiß gibt als Ziel seiner Untersuchung ausdrücklich an, den „Revitalisierungsversuche[n]“ der Gedankenwelt der Konservativen Revolution „durch theoretisierende Kreise deutscher und europäischer Rechter […] jede Grundlage“ zu entziehen, versteht seine Arbeit also als Instrument im politischen Meinungskampf der Gegenwart (ebd.).



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Diese Denker konnten sich vom weiteren Gang der Dinge bestätigt fühlen, denn aus ihrer Sicht war die totalitäre Diktatur eine unmittelbare Folgewirkung aus der Entwicklung der politischen Ordnung seit 1789. Das ist beileibe keine Auffassung, die die politische Rechte für sich gepachtet hatte.38 In Deutschland wurde die Rückkehr zur Monarchie als Bollwerk gegen eine Radikalisierung der Lage in erster Linie von den sogenannten „Jungkonservativen“ vertreten. Reichskanzler Heinrich Brüning etwa behauptete nach dem Krieg, er habe während seiner Amtszeit die Wiedereinführung der Monarchie nach britischem Vorbild angestrebt39. Weniger bekannt ist vielleicht, dass Edgar Julius Jung als politischer Berater und Redenschreiber Franz Papens noch im Frühjahr 1934 seinen Einfluss in eine ähnliche Richtung geltend zu machen versuchte40: Papen solle Reichspräsident Paul Hindenburg nahelegen, ein politisches Testament zu verfassen, in welchem für den Fall seines Ablebens die Wiedereinführung der Monarchie empfohlen werde. Hindenburg entschied sich allerdings, diesen Wunsch nicht zum Teil seines Testaments zu machen, sondern in einem persönlichen Brief an Hitler zu äußern, dessen Inhalt nicht veröffentlicht wurde. 4. Teil dieser konservativ-revolutionären Modernität ist es aber auch, dass hier zwar gegen den Parlamentarismus polemisiert wird, dass man aber nicht unbedingt eine Rückkehr zur Monarchie anstrebt, besonders nicht bei den radikaleren Gruppierungen41. Dabei gilt allerdings nicht die Herrschaft des Einzelnen als überholt, sondern dessen traditionelle Begründung. Angestrebt wird im großen und ganzen eine Form der Autorität, die man – der begrifflichen Kategorisierung Max Webers folgend – charisma38  Verwiesen sei hier beispielhaft auf Max Horkheimer, der 1939 urteilte: „Die Ordnung, die 1789 als fortschrittlich ihren Weg antrat, trug von Beginn an die Tendenz zum Nationalsozialismus in sich.“ (Max Horkheimer, Die Juden und Europa [1939], in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Gunzelin Schmid Noerr und Alfred Schmidt, Bd. 4: Schriften 1936–1941, Frankfurt a. M. 22009, 208–331, hier 324). 39  Vgl. Heinrich Brüning, Memoiren 1918–1934, Stuttgart 1970, 454 (und öfter). Die Richtigkeit dieser nachträglichen Behauptung Brünings ist früh in Zweifel gezogen worden; es ist durchaus wahrscheinlich, dass Brüning die Bedeutung dieses Ziels in seinen Memoiren übertrieben hat: vgl. Andreas Rödder, Dichtung und Wahrheit. Der Quellenwert von Heinrich Brünings Memoiren und seine Kanzlerschaft, in: Historische Zeitschrift 265 (1997), 77–116, bes. 91–96. 40  Vgl. Franz von Papen, Der Wahrheit eine Gasse, München 1952, 369. Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Fritz Günther von Tschirschky, Erinnerungen eines Hochverräters, Stuttgart 1972, 157–160. 41  Eine echte Affinität zur Monarchie gab es unter den Anhängern der Konservativen Revolution in Deutschland im Grunde nur bei Teilen der „Jungkonservativen“, während insbesondere die „Nationalrevolutionäre“ sich sehr weitgehend von entsprechenden Vorstellungen entfernten. Vgl. A. Mohler / K. Weißmann, Die konservative Revolution (Anm. 33), bes. 144–158.

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tisch nennen kann, nachdem – so die Diagnose – die traditionelle Herrschaftsform ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. In dieser Überlegung liegt die Affinität mancher konservativ-revolutionärer Denker für den Faschismus begründet, der nach dem Urteil vieler Zeitgenossen gegenüber der veralteten Monarchie und der schwachen Demokratie als das zukunftsfähige Ordnungsmodell erschien. Ende der 1930er Jahre konnte es daher durchaus scheinen, als seien die Tage der parlamentarischen Demokratie in Europa gezählt: Deutschland und Österreich hatten sich längst wieder von ihr losgesagt, dasselbe gilt im Prinzip für Spanien, in Italien war schon lange eine faschistische Diktatur errichtet worden. Großbritannien war Monarchie geblieben, nur Frankreich war als Republik übriggeblieben. Große Teile der politischen und intellektuellen Eliten Europas waren von der Schwäche der Demokratie gegenüber den neuen, charismatischen Formen der Diktatur überzeugt. Dass es eine weltweite Tendenz zur Demokratisierung gebe, konnte Ende der 1930er Jahre kein politischer Beobachter behaupten, der Augen im Kopf hatte. III. Der Zweite Weltkrieg spitzte die Konfliktlage zu: Hatten beispielsweise die deutschen Protagonisten einer „Konservativen Revolution“ von einer Art „drittem Weg“42 geträumt – weder Demokratie noch totalitäre Diktatur, weder Kapitalismus noch Kommunismus usw. – so schien es nun plötzlich, als sei ein solcher Weg dauerhaft versperrt. Die Lager, die sich formierten, schienen eindeutig nach dem Prinzip gestaltet zu sein: die Demokratien auf der einen, die Diktaturen auf der anderen Seite. Tatsächlich spielten aber auch im Zweiten Weltkrieg selbstverständlich sozusagen „klassische“ machtstaatliche Motive weiterhin eine wesentliche Rolle43. Dass die Dichotomie „Nichtdemokratien“ gegen „Demokratien“ auch im Zweiten Weltkrieg nicht restlos aufgeht, wird jedenfalls spätestens durch den Seitenwechsel der Sowjetunion und deren Aufnahme in den Kreis der „Demokratien“ erkennbar. Es wiederholte sich hier in gewisser Weise das Szenario des Ersten Weltkriegs: Die Demokratien (wenn man einmal vom britischen Sonderfall absieht) mit dem ganz und gar undemokratischen Russ42  Zeev Sternhell, La troisième voie fasciste ou la recherche d’une culture politique alternative, in: Ni gauche, ni d ­ roite: Les chassés-croisés idéologiques des intellectuels français et allemands dans l’entre-deux-guerres, hrsg. von Gilbert Merlio, Bordeaux 1991, 17–29. 43  Grundlegend zur Außenpolitik Deutschlands während des Zweiten Weltkriegs: Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871–1945, Stuttgart 1995.



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land gegen die undemokratischen Mittel- bzw. Achsenmächte. Das Ergebnis war dem des Ersten Weltkriegs nicht unähnlich, mit der Ausnahme, dass es keine russische Niederlage und daher auch keinen Zusammenbruch der politischen Ordnung in der Sowjetunion gab. Die Sowjetunion war dann interessanter Weise auch der Hauptmotor für den zweiten Schub des europäischen Monarchiesterbens, den nach 194544. Denn durch die Ausdehnung des sowjetischen Machtbereichs auf Osteuropa wurden die dort noch bestehenden Monarchien beseitigt. Das gilt für Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien und Albanien. In ihrem Herrschaftsgebiet duldete die Sowjetunion keine traditionelle Form der Alleinherrschaft. Und um den Reigen des Monarchiesterbens zu vervollständigen: In Italien wurde die Monarchie 1946 per Volksentscheid abgeschafft. Von einem Siegeszug der Demokratie ist aber auch in diesem Fall nicht ernsthaft zu reden. Selbstverständlich besaßen die USA nach 1945 die Macht, den Staaten in ihrem Einflussbereich das politische System zu diktieren. Aber das gilt für die Sowjetunion genauso. Die noch bestehenden Monarchien in den Siegerstaaten und bei den Neutralen wurden nicht angetastet – bis heute. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989–1992 fand zudem keine konsequente Demokratisierung der Welt statt; im Gegenteil traten Phänomene auf, die eher auf eine neue Krise der Demokratie hindeuten. Die Kritik am Demokratiedefizit der Institutionen der Europäischen Union, das durch das Jubiläum des Wiener Kongresses befeuerte neue Interesse an einer europäischen Friedensordnung „von oben“, die ausdrücklich gegen die Demokratie gerichteten Positionierungen von einflussreichen Journalisten und Unternehmern wie Fareed Zakaria oder Nicolas Berggruen, die als Propagandisten einer neuen Technokratie auftreten45, und schließlich die zahlreicher werdenden politischen Denker, die von einer kommenden oder sogar schon eingetroffenen Ära der „Postdemokratie“46 sprechen – das alles spricht nicht wirklich dafür, dass die Demokratie sich auf einem Siegeszug befindet. Jedenfalls entspricht es möglicherweise einem auf Deutschland (und Österreich) verengten Blickwinkel, wenn man das Monarchiesterben 1918–1945 für eine Art zwangsläufigen Prozess hält. In Wirklichkeit war die Entwicklung vielmehr von sehr kontingenten Gegebenheiten abhängig, und die allgemeinen Tendenzen der Zeit sprachen zwar nicht unbedingt für eine Restauration, aber auch keinesfalls durchgängig für eine allgemeine Demokratisierung. Man sollte daher mit behaupteten Zwangsläufigkeiten sehr vorsichtig dazu H. Gollwitzer, Funktion (Anm. 4), 528. Zakaria, Das Ende der Freiheit? Wieviel Demokratie verträgt der Mensch?, New York 2008; Nicolas Berggruen, Klug regieren. Politik für das 21. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 2013. 46  Vor allem: Colin Crouch, Post-Demokratie, Frankfurt a. M. 2008. 44  Vgl.

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sein: Geschichte ist ein offener Prozess und ist voll von unvorhergesehenen Entwicklungen. Dass die Zeiten der Monarchie seit 1945 vorbei wären, ist nicht nur nicht gesagt. Es ist empirisch widerlegbar.

Nur Moderatoren und Medienstars? Europäische Herrscherfamilien seit dem Zweiten Weltkrieg Von Marc von Knorring, Passau I. Die europäischen Monarchien nach 1945 – Überblick und Problemstellung Das Ende des Zweiten Weltkriegs löste in Europa abermals eine „Welle von Republikanisierung“ aus, nachdem bereits zahlreiche Kaiser- und Königreiche der Zäsur von 1918 zum Opfer gefallen waren1. Übrig blieb rund ein Dutzend monarchisch verfasster Staaten, deren Bestand seither stabil geblieben ist: Belgien, Dänemark, Großbritannien, Liechtenstein, Luxemburg, Monaco, die Niederlande, Norwegen, Schweden und der Vatikan2; der Wegfall Griechenlands 1967 / 74 wurde gewissermaßen durch das Hinzutreten Spaniens 1975 / 78 wieder kompensiert. Für die weit überwiegende Mehrheit der Staatsoberhäupter dieser Länder galt spätestens seit der „Stunde Null“, 1  Dieter Langewiesche, Die Monarchie im Jahrhundert Europas. Selbstbehauptung durch Wandel im 19. Jahrhundert (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 50), Heidelberg 2013, 40 (Zitat); vgl. Heinz Gollwitzer, Funktion der Monarchie in der Demokratie, in: ders., Weltpolitik und deutsche Geschichte. Gesammelte Studien, hrsg. v. Hans-Christof Kraus (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 77), Göttingen 2008, 527–538 (zuerst 1989), hier 527 f.; Pierre Miquel, Europas letzte Könige. Die Monarchien im 20. Jahrhundert. Aus dem Französischen übertragen von Gerda Kurz und Siglinde Summerer, Stuttgart 1994, 316; Geoffrey Bocca, Könige mit und ohne Thron. Europäische Monarchien im XX. Jahrhundert, Stuttgart / Hamburg [1963], 6. 2  Zoltán Tibor Pállinger, Monarchien in Europa von heute unter besonderer Berücksichtigung der neuesten Verfassungsentwicklung im Fürstentum Liechtenstein. Überarbeitetes Manuskript eines Vortrags am Institut für Österreichische und Europäische Rechtsgeschichte der Universität Wien vom 1.  Dezember 2003 (LiechtensteinInstitut, Beiträge 18 / 2003), Bendern 2003, 1; Tobias Friske, Staatsform Monarchie. Was unterscheidet eine Monarchie heute noch von einer Republik?, Magisterarbeit Freiburg i. Br. 2007 (http: /  / www.freidok.uni-freiburg.de / volltexte / 3325 / pdf / FRISKE_ Staatsform_Monarchie.pdf), 137. Pállinger zählt noch Andorra hinzu, dessen Einstufung als Monarchie jedoch zu Recht von Friske (ebd., 43) abgelehnt wird, da die beiden „Coprincipes“, der spanische Bischof von Urgell und der französische Staatspräsident, jeweils für sich genommen nicht als Monarchen definiert werden können.

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dass sie sich an das parlamentarische System anzupassen hatten und in der Demokratie durch Leistung für Staat und Gesellschaft legitimieren mussten, wenn Dynastie und Herrschaft Bestand haben sollten3. Tatsächlich „erwiesen sich die europäischen Monarchien nach dem Zweiten Weltkrieg als äusserst stabil und anpassungsfähig.“4 Nachdem Geoffrey Bocca noch 1963 gemahnt hatte, die verbliebenen Herrscher müssten erst beweisen, dass „die Aufgaben, die an die Stelle ihrer früheren Machtvollkommenheit getreten sind“ von ihnen „besser als von anderen Institutionen durchgeführt werden können“5, stellte Heinz Gollwitzer bereits Ende der 1980er Jahre fest, dass die vergangenen Jahrzehnte gezeigt hätten, wie sehr die Integration traditioneller, überkommener Elemente monarchischer Herrschaft in die modernen Demokratien sowohl den Wünschen der Menschen entgegenkomme, als auch den jeweiligen Staatswesen gut tue6. Und noch einmal rund 15 Jahre später konstatierte Zoltán Tibor Pállinger, was heute wohl niemand mehr ernsthaft bestreiten dürfte: „Die meisten europäischen Monarchien sind stabile und erfolgreiche Staaten, deren Institutionen den Test der Zeit bestanden haben. Die Monarchie bietet ein gangbares Modell, Legitimität mit der politischen Konkurrenz zu verbinden.“7 Dieser Erfolg der europäischen Dynastien nach 1945 wird nun in der Regel darauf zurückgeführt, dass sie seither erfolgreich just diejenigen Funktionen ausfüllten, die ihnen in den modernen Demokratien vor allem zuzukommen scheinen. Diese Funktionen lassen sich mit den Begriffen „Moderatoren“ und „Medienstars“ umreißen – wobei hiermit im Grunde lediglich zwei Seiten derselben Medaille angesprochen sind: „Moderierend“ tätig zu sein im Sinne eines ausgleichenden Wirkens in Staat und Gesellschaft, sei es durch aktive Vermittlung als überparteiliche Autorität in politischen Konflikten, sei es quasi passiv als symbolische Verkörperung des Ganzen und seiner Einheit, seiner Geschichte und Traditionen bei öffentlichen Anlässen  – allʼ dies war schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch schwer und mit fortschreitender Zeit immer weniger ohne mediale Präsenz denkbar. Umgekehrt sorgte die öffentliche, breiten gesellschaftlichen Kreisen durch die Massenmedien zugänglich gemachte Zelebrierung glanzvoller Familienfeste ebenso wie die Ausbreitung monarchischer Skandale auf demselben Weg auf unterschiedliche Weise 3  D. Langewiesche, Die Monarchie (Anm. 1), 41; Z. T. Pállinger, Monarchien in Europa (Anm. 2), 1. 4  Zoltán Tibor Pállinger, Potentiale der Monarchie zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in: Liechtenstein-Institut (Hrsg.), 25 Jahre Liechtenstein-Institut (1986–2011) (Liechtenstein Politische Schriften, 50), Schaan 2011, 315–333, hier 326. 5  G. Bocca, Könige (Anm. 1), 7. 6  H. Gollwitzer, Funktion der Monarchie (Anm. 1), 537. 7  Z. T. Pállinger, Monarchien in Europa (Anm. 2), 2; vgl. Z. T. Pállinger, Potentiale der Monarchie (Anm. 4), 316 und öfter.



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für Momente der Identifikation in der Bevölkerung, und die so immer wieder suggerierte Nähe zur Herrscherfamilie zeitigte gleichermaßen integrative und stabilisierende – oder eben im weiteren Sinne „moderierende“ Effekte8. Nicht so eindeutig ist unterdessen das Urteil über die politische Rolle der europäischen Monarchen seit 1945. Pállinger etwa konstatiert, dass der nicht vom Volk gewählte, durch Erbfolge auf den Thron gelangte König oder Fürst in der Demokratie zwangsläufig, zumindest qua Verfassungspraxis auf repräsentative Funktionen beschränkt sein müsse und gar nicht mehr sein könne und dürfe als ein „unparteiisches, über den Interessenkonflikten stehendes Symbol [für] die Einheit des Staates“, was diesem zugleich Legitimität verschaffe und den Monarchen selbst als neutralen Identitätsstifter, als Autorität und gegebenenfalls auch moralisches Vorbild qualifiziere9. In dieser Sichtweise wäre also die Beschränkung der Herrscherfamilien auf eine Funktion als „Moderatoren“ und „Medienstars“ systemimmanent. Demgegenüber weist Peter Häberle zu Recht darauf hin, dass die Existenz selbst einer strikt auf repräsentative Funktionen beschränkten monarchischen Spitze im Staat unweigerlich „das Entstehen privilegierter Eliten“ sowie „nicht öffentlich verantworteter Beziehungs- und Einflußgeflechte“ mit sich bringe, und damit Ansatzpunkte zur Ausübung von Herrschaft10. Heinz Gollwitzer schließlich hat davor gewarnt, die mit dem Amt des Staatsoberhaupts verbundenen, durchaus unterschiedlich dimensionierten verfassungsmäßigen Rechte zu unterschätzen, wie sie in den demokratischen Staaten mit monarchischer Spitze nach 1945 festgeschrieben wurden bzw. fortgalten; die hier gebotenen Spielräume seien beachtlich, ihre Ausschöpfung immer eine Frage der Persönlichkeit und der Befähigung des jeweiligen Monarchen gewesen11. 8  Ausführlich zu beiden Aspekten mit zahlreichen konkreten Beispielen René Häusler, Rückkehr der Mitte? Königtum zwischen Mythos und Moderne. Ein Beitrag zur Theorie der Monarchie im Zeichen des wiedererstarkenden Royalismus in Ostmittel- und Südosteuropa, Frankfurt am Main 1993, 13–16, 20–44; P. Miquel, Europas letzte Könige (Anm. 1), 317–326; der Aspekt der medialen Präsenz und seiner Funktion besonders bei Alexis Schwarzenbach, Königliche Träume. Eine Kulturgeschichte der Monarchie 1789–1997, München 2012, passim; Brenda Ralph Lewis, Monarchy. The History of an Idea, Phoenix Mill 2003, 181–190; Arthur W. Purdue, Long to Reign? The Survival of Monarchies in the Modern World, Phoenix Mill u. a. 2005, 206–226. 9  Z. T. Pállinger, Monarchien in Europa (Anm. 2), 1 f. (Zitat), 5; Z. T. Pállinger, Potentiale der Monarchie (Anm. 4), 328–330. Ähnlich H. Gollwitzer, Funktion der Monarchie (Anm. 1), 533–535, und Peter Häberle, Monarchische Strukturen und Funktionen in europäischen Verfassungsstaaten – eine vergleichende Textstufenanalyse, in: Johannes Hengstschläger u. a. (Hrsg.), Für Staat und Recht. Festschrift für Herbert Schambeck, Berlin 1994, 683–699, hier 695 f., doch mit gewichtigen Einschränkungen (vgl. u.). 10  P. Häberle, Monarchische Strukturen (Anm. 9), 696. 11  H. Gollwitzer, Funktion der Monarchie (Anm. 1), 535 f.

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An diesen Gedanken möchte dieser Beitrag anknüpfen und fragen, welche politischen Aktivitäten europäische Monarchen bzw. Dynastien in der Zeit vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Gegenwart entfalteten, welche Wege ihnen dabei zur Verfügung standen, welchen Einfluss sie tatsächlich nehmen konnten, welche Effekte dies hatte und ob die Funktionszuschreibung als bloße „Moderatoren“ und „Medienstars“ letztlich ausreicht oder der Ergänzung bedarf. Bemerkenswerterweise hat sich die Forschung kaum Gedanken über diese Fragen gemacht, sieht man einmal von einer überschaubaren Reihe politikwissenschaftlich orientierter Sammelwerke zu den Regierungssystemen innerhalb Europas ab, die in den einschlägigen Länderartikeln sowohl auf die Verfassungen und ihre Entwicklung seit 1945 eingehen als auch hier und da bescheidene Versuche zur Bestimmung des monarchischen Einflusses in der Praxis beinhalten12. Weitere Informationen liefern einzelne Ländergeschichten und Herrscherbiographien, wobei die Aufmerksamkeit der Literatur durchaus unterschiedlich verteilt ist und beispielsweise über Großbritannien und Königin Elisabeth II. ebenso wie über Liechtenstein und seine Fürsten ungleich mehr aufschlussreiche Titel zu finden sind als etwa über die Herrscher Schwedens oder Monacos13. Auch hier liegt der Fokus jedoch in der Regel auf anderen Dingen – und so verwundert es nicht, dass es auch an einer vergleichenden Zusammenschau und Systematisierung der verstreuten Einzelbefunde fehlt14. Eine solche Synthese zu leisten soll im Folgenden versucht werden, freilich nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit, sondern lediglich in Form einer ersten Annäherung. Dabei sollen die Verfassungen der in Frage kommenden Staaten nur insoweit betrachtet werden, als ihre Bestimmungen in unmittelbarem Zusammenhang mit den historischen Ereignissen stehen. Die Kompetenzen der Monarchen waren de jure sehr verschieden, sie konnten – abgesehen von der quasi selbstverständlichen Repräsentation des Staates 12  Gisela Riescher / Alexander Thumfart (Hrsg.), Monarchien (Studienkurs Politikwissenschaft), Baden-Baden 2008; Jürgen Hartmann / Udo Kempf, Staatsoberhäupter in der Demokratie, Wiesbaden 2011; Wolfgang Ismayr (Hrsg.), Die politischen Systeme Westeuropas, 4., aktualis. u. überarb. Aufl. Wiesbaden 2009. In großem Umfang ist hier auch die in der jeweiligen Nationalsprache verfasste Literatur berücksichtigt worden. – Vgl. zu den oftmals politisch motivierten Schwerpunktsetzungen der historischen Forschung in diesem Zusammenhang auch Matthias Stickler, Machtverlust und Beharrung. Dimensionen einer erneuerten politischen Geschichte der regierenden Dynastien Europas im 20. Jahrhundert, in: Hans-Christof Kraus / Thomas Nicklas (Hrsg.), Geschichte der Politik. Alte und Neue Wege (Historische Zeitschrift, Beihefte N. F. 44), München 2007, 375–396, hier 375 ff. 13  Vgl. die Anmerkungen ab Abschnitt II. 14  Z. T. Pállinger, Monarchien in Europa (Anm. 2), 12–31, argumentiert hier bezeichnenderweise nicht historisch, sondern in enger Orientierung an den gültigen Verfassungstexten.



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nach innen und außen – die Mitwirkung bei der Gesetzgebung, bei der Ernennung und Entlassung der Regierung sowie bei der Einberufung und Auflösung des Parlaments ebenso beinhalten wie die Wahrnehmung von Notstandsbefugnissen, den militärischen Oberbefehl und manches mehr, jeweils in unterschiedlichem Ausmaß, mit und ohne Mitwirkung anderer Verfassungsorgane15. Entscheidend ist jedoch grundsätzlich erstens  – siehe Gollwitzer – was der einzelne Monarch daraus gemacht hat, zudem aber auch zweitens, ob und inwieweit die übrigen Kräfte im Staat monarchische Einflussnahme zuließen16, zumal angesichts teils massiver Verfassungslücken oftmals erst in der Praxis ausgehandelt wurde, wie die Befugnisse verteilt sein sollten17. Mit diesen Maßgaben sollen nun im Folgenden die europäischen Monarchien betrachtet werden, und zwar in drei Gruppen zusammengefasst, je abgestuft nach politischem Einfluss der seit 1945 amtierenden Herrscher. Im Fazit wird dann schließlich zu fragen sein, welche Relevanz die vorliegenden Erkenntnisse für das Gesamtbild bzw. für die Bewertung der Rolle der Königinnen und Könige, Großherzöge und Fürsten in Staat und Gesellschaft der vergangenen sieben Jahrzehnte haben. II. Der Monarch als Inhaber oder dominierender Partizipator der Macht Trotz etwaigen anderslautenden oder -interpretierbaren Formulierungen in der jeweiligen Verfassung handelt es sich bei den bis heute in Europa existierenden Monarchien im Normalfall um parlamentarische – mit Ausnahme des Vatikan, Monacos und Liechtensteins18, der kleinsten also, die bestenfalls partiell in das gängige Schema der Monarchie in der Demokratie passen, jedoch in der Forschung  – vgl. oben  – stets außer Acht gelassen werden. Die Frage nach der politischen Macht des Staatsoberhaupts seit dem Zweiten Weltkrieg ist freilich in allen diesen Fällen leicht zu beantworten. Der Vatikan – korrekt: der „Staat der Vatikanstadt“ –, um mit dem kleinsten der drei Länder zu beginnen, kann als „absolute priesterliche Wahlmon15  Eingehend dazu ebd., 15; vgl. Tobias Friske, Monarchien – Überblick und Systematik, in: G. Riescher / A. Thumfart, Monarchien (Anm. 12), 14–23, hier 21 f.; T. Friske, Staatsform Monarchie (Anm. 2), 139. 16  Vgl. auch Z. T. Pállinger, Monarchien in Europa (Anm. 2), 7; speziell für Großbritannien etwa Judith Gurr, Großbritannien, in: G. Riescher / A. Thumfart, Monarchien (Anm. 12), 71–82, hier 72. 17  Vgl. unten, besonders etwa die Literatur zu Großbritannien, den Niederlanden, Luxemburg und Dänemark. 18  Vgl. G. Riescher / A. Thumfart, Monarchien (Anm. 12), 334 (Anhang).

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archie“ gelten, weil die vom Konklave der Kardinäle gewählten Päpste seit jeher die tatsächlichen Inhaber aller Gewalten waren, auch wenn sie sich natürlich diverser Behörden und Kommissionen zur Ausübung ihrer Herrschaftsrechte bedienten und Befugnisse immer wieder delegierten19. Die Außenpolitik wurde dabei stets vom Heiligen Stuhl als Völkerrechtssubjekt geführt20, was als staatsrechtliche Konstruktion der umfassenden Macht der Pontifices freilich keinen Abbruch tat. Pius XII., Johannes XXIII., Paul VI., Johannes Paul I., Johannes Paul II. und der 2013 resignierte Benedikt XVI. verfügten mithin quasi als „geistliche Monarchen“ ganz klar über die weitreichendsten Kompetenzen aller Herrscher in Europa, jedoch dicht gefolgt von den konstitutionellen Monarchen Monacos und Liechtensteins. Gleich hinter den Päpsten rangieren dabei die Fürsten von Monaco aus der Familie der Grimaldi, die in den vergangenen sieben Jahrzehnten „eine für europäische Verhältnisse erstaunliche Machtfülle“ innehatten21. Schon der 1949 auf den Thron gelangte Rainier III. nutzte seine Befugnisse voll aus, ja er konnte zwischen 1959 und 1962 sogar die Verfassung suspendieren und nach eigenem Gutdünken schalten und walten22. Stets besaß er das alleinige Recht zur Gesetzesinitiative. Das vom Volk gewählte Parlament, der Nationalrat, konnte lediglich Vorschläge für Gesetze machen; diese wurden dann von der fürstlichen Regierung zu Gesetzesvorlagen ausgearbeitet und vom Staatsoberhaupt eingebracht – sofern es denn wollte, denn der Fürst verfügte auch über ein absolutes Vetorecht im Gesetzgebungsprozess. Den Abgeordneten blieb immerhin ein Zustimmungsvorbehalt, und auch die Budgetkon­ trolle zählte zu ihren insgesamt eher bescheidenen Einflussmöglichkeiten; lediglich bei Verfassungsänderungen wirkte der Nationalrat gleichberechtigt mit. Im Übrigen machte Rainier zumindest bis 1962 einige Male von seinem Recht Gebrauch, im Alleingang das Parlament aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen23. Gemeinsam mit der völlig von ihm abhängigen, d. h. von ihm ernannten und gegebenenfalls auch wieder abgesetzten Regierung konnte das Staatsoberhaupt einfache Verordnungen erlassen, wobei es in Fragen betreffend die fürstliche Familie, die äußeren Angelegenheiten oder die Justiz nicht 19  Thomas König, Vatikan, in: G. Riescher / A. Thumfart, Monarchien (Anm. 12), 310–316, hier 310–313 (die Zitate 310 f.); vgl. Wilfried Marxer / Zoltán Tibor Pállinger, Die politischen Systeme Andorras, Liechtensteins, Monacos, San Marinos und des Vatikan, in: W. Ismayr, Die politischen Systeme (Anm. 12), 901–955, hier 947– 953. 20  T. König, Vatikan (Anm. 19), 313. 21  Emanuel Richter / Jan Rohwerder, Monaco, in: G. Riescher / A. Thumfart, Monarchien (Anm. 12), 182–195, hier 186 (Zitat); J. Hartmann / U. Kempf, Staatsoberhäupter (Anm. 12), 76 f. 22  E. Richter / J. Rohwerder, Monaco (Anm. 21), 191. 23  Ebd., 186 f.; J. Hartmann / U. Kempf, Staatsoberhäupter (Anm. 12), 79 f.



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einmal auf diese Institution angewiesen war. Lediglich in administrativen Angelegenheiten verfügte die monegassische Regierung über gewisse eigene Kompetenzen; als bloße Arbeitsebene war sie ganz im Dienst des Monarchen tätig und für die Umsetzung von Gesetzen und Verordnungen zuständig24. Als Beratungsorgan des Fürsten fungierte unterdessen ein von diesem selbst eingesetzter Kronrat, der qua Verfassung bei bestimmten politischen Materien vom Staatsoberhaupt gehört werden musste25. Albert II. der seinem Vater Rainier 2005 auf dem Thron folgte, übernahm alle diese Rechte ohne Abstriche, er bezog jedoch zunehmend Fachleute in die Regierung ein und delegierte Kompetenzen, ohne diese freilich effektiv aus der Hand zu geben26. Die völlige Souveränität, d. h. konkret die Unabhängigkeit von Frankreich erlangte das Fürstentum Monaco unterdessen erst nach der Jahrtausendwende, und zwar im Wesentlichen in zwei Schritten, die die Stellung des Monarchen weiter stärkten: Seit 2005 ist er bei der Auswahl seines Regierungschefs nicht mehr an eine von Paris vorgelegte Dreierliste französischer Staatsbürger gebunden27. Bereits seit 2002 vertritt der Fürst allein das Land nach außen, wobei das Parlament allerdings internationalen Verträgen zustimmen muss28. In Liechtenstein wurde die Verfassung zwar im Jahr 2003 dahingehend ergänzt, dass ein bestimmtes Quorum der Staatsbürger einen Misstrauensantrag gegen den Fürsten stellen und diesen damit theoretisch zu Fall bringen kann. Die Hürden für dieses Verfahren sind jedoch hoch, und sollte eine anschließende Volksabstimmung dem amtierenden Staatsoberhaupt tatsächlich das Misstrauen aussprechen, so läge die Entscheidung über das weitere Vorgehen bei der fürstlichen Familie, die dann nach Hausgesetz zu verfahren und gegebenenfalls einen unmittelbaren Nachfolger zu benennen hätte29. Der offiziell seit 1989, faktisch jedoch bereits seit 1984 als Stellvertreter seines Vaters herrschende Fürst Hans Adam II. dürfte dies jedenfalls kaum als Anlass gesehen haben, von seiner Linie abzuweichen, die monarchischen Prärogativen konsequent in Anspruch zu nehmen. Sein Vater, der schon vor dem 24  E. Richter / J. Rohwerder, Monaco (Anm. 21), 186–188; W. Marxer / Z. T. Pállinger, Die politischen Systeme (Anm. 19), 926 f., 929 f.; J. Hartmann / U. Kempf, Staatsoberhäupter (Anm. 12), 78. 25  E. Richter / J. Rohwerder, Monaco (Anm. 21), 188 f.; W. Marxer / Z. T. Pállinger, Die politischen Systeme (Anm. 19), 926. 26  E. Richter / J. Rohwerder, Monaco (Anm. 21), 192. 27  J. Hartmann / U. Kempf, Staatsoberhäupter (Anm. 12), 78. 28  E. Richter / J. Rohwerder, Monaco (Anm. 21), 184–186, 189 f.; W. Marxer / Z. T. Pállinger, Die politischen Systeme (Anm. 19), 926. 29  Z. T. Pállinger, Monarchien in Europa (Anm. 2), 8–11; Zoltán Tibor Pállinger, Liechtenstein, in: G. Riescher / A. Thumfart, Monarchien (Anm. 12), 139–153, hier 146.

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Zweiten Weltkrieg amtierende, 1989 verstorbene Franz Josef II. hatte stets von seinen verfassungsmäßigen Rechten Gebrauch gemacht, dabei aber immer konsensorientiert gehandelt; Hans Adam bekundete indessen ausdrücklich, dass er nicht vorhabe, die Entwicklungstendenzen in anderen europäischen Monarchien nachzuvollziehen und nur mehr als bloßer „Grüssaugust der Regierung“ zu fungieren. Er wandte sich damit zugleich entschieden gegen die unter seinem Vater allmählich eingeschliffene Praxis, das Parlament sukzessive zu stärken, und setzte sich schließlich auch bei der erwähnten Verfassungsänderung von 2003 durch30. Aus grober Perspektive sind die Unterschiede zur Zeit davor freilich marginal; viele Kompetenzen, die die Monarchen andernorts seit langem nur noch formal besitzen, übten und üben neben den monegassischen auch die Fürsten von Liechtenstein bis heute faktisch aus (wobei seit 2004 Erbprinz Alois II. als Stellvertreter seines Vaters Hans Adam die meisten von dessen Funktionen übernommen hat)31. Auch nach 1945 vertrat der Monarch das Land nach außen und unterzeichnete Staatsverträge, allerdings nach Zustimmung des Landtags. Er besaß ebenso wie das Parlament das Initiativrecht bei der Gesetzgebung, verfügte allerdings allein über ein absolutes Vetorecht, das auch zweimal Anwendung fand – was offenbar genügte, um die Abgeordneten nachhaltig für die Wünsche des Fürsten zu sensibilisieren, denn der Wille des Staatsoberhaupts wird seitdem bereits im Gesetzgebungsprozess einkalkuliert. Darüber hinaus hatte der Monarch das Recht, Notverordnungen mit sechs Monaten Gültigkeit zu erlassen, die allerdings nicht die Verfassung betreffen durften und vom Regierungschef gegengezeichnet werden mussten. Die Fürsten von Liechtenstein beriefen den Landtag qua Verfassung jährlich ein, konnten ihn jedoch – ebenso wie auf der anderen Seite das Volk bzw. die Gemeinden – bei Vorliegen eines wichtigen Grundes jederzeit auflösen. Auf Vorschlag des Landtags ernannten sie die Regierung, und ebenso wie die Parlamentarier konnte auch das Staatsoberhaupt den Ministern das Vertrauen entziehen; im Übrigen musste der Regierungschef den Fürsten laufend über seine Arbeit informieren32. Alles in allem steht das Fürstentum Liechtenstein damit an dritter Stelle hinter dem Vatikan und Monaco, was den Einfluss seines Staatsoberhaupts auf die Geschicke des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg angeht, und deutlich vor den übrigen, noch zu besprechenden Staaten. Dabei sind diese 30  Z. T. Pállinger, Liechtenstein (Anm. 29), 148–150 (das Zitat 148). Vgl. auch M. Stickler, Machtverlust (Anm. 12), 393 f. 31  Ebd., 141, 151. 32  Z. T. Pállinger, Monarchien in Europa (Anm. 2), passim; Z. T. Pállinger, Liechtenstein (Anm. 29), 143–146; W. Marxer / Z. T. Pállinger, Die politischen Systeme (Anm. 19), 916.



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drei Monarchien nach wie vor stabil und keineswegs vom Untergang bedroht – anders als eine vierte, die man zu dieser Gruppe hinzu zählen müsste, wenn sie noch in der Form existierte, wie es rund ein Vierteljahrhundert lang nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall war. Die Rede ist von Griechenland, dessen 1967 bzw. formalrechtlich erst 1974 untergegangenes Königtum an dieser Stelle der Vollständigkeit halber kurz zu betrachten ist. Auf Druck der USA war in Griechenland nach dem Zweiten Weltkrieg ein parlamentarisches System eingeführt worden, und König Paul III. aus dem Haus Oldenburg verzichtete seit seinem Regierungsantritt im Jahr 1947 auf jegliche Versuche, hieran etwas zu ändern. Seit 1951 wendete sich jedoch das Blatt, der König und die ihm eng verbundene Militärführung wurden nunmehr von den Vereinigten Staaten aus Angst vor dem Erstarken kommunistischer Tendenzen ermutigt, ihre Vorstellungen vom Staat in die Tat umzusetzen33. Die offene Opposition der Königsfamilie gegen die Zentrumsregierung in Athen führte dann noch im selben Jahr zu Neuwahlen und zu einem Regierungswechsel, und bereits 1952 wurde eine neue Verfassung verabschiedet, die dem König das Recht einräumte, „nach Empfehlung des Kabinetts“ die Verfassung teilweise außer Kraft zu setzen, den Notstand auszurufen und im Mobilisierungsfall Militärtribunale zu gestatten, als Oberbefehlshaber freilich selbst die Mobilisierung auch bei inneren Unruhen anzuordnen und gegebenenfalls in die Geschäfte der Regierung einzugreifen. Dies verschaffte Paul III. im Endeffekt „sehr extensive Kompetenzen bei der aktiven Regierungspolitik“, da er entsprechend Druck ausüben konnte und dies bisweilen vor Parlamentswahlen auch nutzte, um missliebige Kräfte einzuschüchtern; die Ernennung neuer Minister musste freilich vom Parlament bestätigt werden34. Verfassungskonform handelte der griechische König, als er 1955 nach dem Tod von Premierminister Papagos dem nachrangigen Minister Karamanlis den Auftrag zur Regierungsbildung erteilte, was heftige Proteste von Seiten des Parlaments nach sich zog; freilich standen wohl auch die Interessen der USA hinter dieser eher ungewöhnlichen Maßnahme35. Seit 1958 stand Paul wegen seiner Machtfülle, der engen Verbindung mit dem Militär und der „weiterhin extensive[n] Beteiligung der königlichen Familie an der Gestaltung der Innenund Außenpolitik“ – und nicht zuletzt wegen der permanenten Einmischungsversuche seiner Frau, Königin Friederike – zunehmend in der öffentlichen Kritik, obwohl er „sehr vorsichtig mit seinen weitreichenden außerparlamen33  Konstantina Botsiou, Griechenlands Weg nach Europa. Von der Truman-Doktrin bis zur Assoziierung mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 1947–1961 (Moderne Geschichte und Politik, 14), Frankfurt am Main u. a. 1999, 133 f., 138. 34  Ebd., 145, 148 f. (die Zitate 149). 35  Ebd., 253 f., 262.

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tarischen Befugnissen umging“36. Die Beziehungen zur amtierenden Regierung Karamanlis verschlechterten sich zusehends, und als Paul im Jahr 1963 eine vom Premierminister angestrebte Verfassungsänderung verhindert und diesen entlassen hatte, war klar, dass mit ihm und den überkommenen Staatsstrukturen keine Demokratisierung möglich sein würde. Zur Republik wurde Griechenland freilich erst nach der Niederwerfung der 1967 etablierten Militärdiktatur, die die monarchische Staatsform offiziell beibehalten, Pauls Nachfolger Konstantin II. jedoch zunehmend eingeschränkt hatte37. III. Der Monarch als Juniorpartner und „stiller Teilhaber“ der Regierung Die Königinnen und Könige der Niederlande, Großbritanniens, Spaniens und Belgiens lassen sich – in dieser Reihenfolge – zu einer zweiten Gruppe europäischer Monarchen zusammenfassen, die in den Jahrzehnten nach 1945 zwar deutlich weniger reale Macht als die bereits behandelten Fürsten ausüben, aber dennoch erkennbaren oder zumindest erschließbaren Einfluss auf die Politik ihrer Länder nehmen konnten, wenn auch zum Teil auf informellen Wegen und nicht immer mit uneingeschränkter Zustimmung der Öffentlichkeit. Die niederländischen Königinnen der Nachkriegszeit, Juliana (reg. 1948– 1980) und Beatrix (1980–2013) aus dem Haus Oranien, verstanden es in ihren Amtszeiten, die wöchentlichen Treffen mit ihren wechselnden Ministerpräsidenten sowie regelmäßige Zusammenkünfte auch mit einzelnen Ministern zu nutzen, um die Politik der Regierung zu beeinflussen. Insbesondere Beatrix werden hier große Erfolge zugeschrieben; sie habe aufgrund ihrer Erfahrungen und ihrer umfassenden Sachkenntnis immer wieder Entscheidungen lenken können – wobei freilich aufgrund der allseitigen Verschwiegenheitspflicht in der Sache meist nur Andeutungen überliefert sind38. Nicht außer Acht zu lassen ist daneben, dass die amtierende Königin immer auch als Präsidentin des Staatsrats fungierte, eines 28-köpfigen Gremiums, dem stets auch weitere Mitglieder des Königshauses angehörten und das bis heute an der Gesetzgebung prüfend, beratend und empfehlend beteiligt ist39. Einige 36  Ebd.,

379 f. 381–384. 38  Rudy B. Andeweg / Galen A. Irwin, Governance and Politics of the Netherlands, 4. ed. Houndmills 2014, 22; Wichard Woyke, Niederlande, in: G. Riescher / A. Thum­ fart, Monarchien (Anm. 12), 209–215, hier 212; J. Hartmann / U. Kempf, Staatsoberhäupter (Anm. 12), 44; Norbert Lepszy / Markus Wilp, Das politische System der Niederlande, in: W. Ismayr, Die politischen Systeme (Anm. 12), 405–450, hier 407. 39  N. Lepszy / M. Wilp, Das politische System (Anm. 38), 407; W. Woyke, Niederlande (Anm. 38), 211. 37  Ebd.,



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harte Fakten gibt es unterdessen aber auch, und es dürfte bezeichnend für die Autorität und den Einfluss der Monarchinnen in der Vergangenheit sein, dass Juliana durch die Verweigerung ihrer Unterschrift etwa 1948 drei Todesurteile gegen deutsche Kriegsverbrecher und 1972 ein Gesetz zur Neuregelung der Mitgliedschaft im königlichen Haushalt zu Fall bringen konnte, während Beatrix in den 90er Jahren die Eröffnung einer holländischen Botschaft in Jordanien durchsetzte40. Im Prozess der Regierungsbildung nach Parlamentswahlen nahmen die Staatsoberhäupter der Niederlande stets ihr verfassungsmäßiges Recht zur Initiative wahr, das – vereinfacht gesprochen – zunächst Konsultationen der Königin mit den Vorsitzenden der Fraktionen vorsah, woraufhin sie eine vertrauenswürdige, kompetente Person, meist einen altgedienten Politiker zum sogenannten Informateur ernannte, der Möglichkeiten der Koalitionsbildung ausloten sollte. Auf seinen Bericht und seine Empfehlung hin ernannte die Monarchin dann einen aktiven Politiker – in der Regel aus den Reihen einer der erfolgreichsten Parteien – zum Formateur, dessen Aufgabe es nun war, konkret eine Regierung zu bilden; mit der Ernennung des vom Parlament bestätigten Ministerpräsidenten durch das Staatsoberhaupt fand der Prozess dann seinen Abschluss. Aufgrund der Vielfalt des niederländischen Parteiensystems ergaben sich hier oftmals beachtliche Einflussmöglichkeiten für die Monarchin41. Um nicht politisch Stellung zu beziehen, beauftragten Juliana und Beatrix jedoch in komplizierten Fällen normalerweise nicht nur einen, sondern zwei oder auch mehr Politiker mit der Sondierung42. Es gibt aber auch Gegenbeispiele: Nach den Wahlen von 1981, 1994 und 2010 ernannte Beatrix jeweils denjenigen Parteiführer zum Informateur, der am wenigsten Widerstand gegen eine mögliche Koalition signalisierte bzw. die konstruktivste Haltung erkennen ließ; dies diente einer raschen Regierungsbildung, wurde in der Öffentlichkeit allerdings immer auch als unzulässige politische Stellungnahme der Königin kritisiert43. Im Jahr 2012 wurde dieses Verfahren dann abgeschafft und die Mehrheitsfindung nach Wahlen vollständig in die Kompetenz des Parlaments übertragen – ob diese Entscheidung allerdings als direkte Reaktion auf Beatrixʼ Amtsgebaren zu werten ist, muss dahingestellt bleiben44. 40  R. B. Andeweg / G. A. Irwin, Governance and Politics (Anm. 38), 22 f.; W. Woyke, Niederlande (Anm. 38), 212. 41  N. Lepszy / M. Wilp, Das politische System (Anm. 38), 407, 413 f.; W. Woyke, Niederlande (Anm. 38), 212 f.; J. Hartmann / U. Kempf, Staatsoberhäupter (Anm. 12), 46. 42  R. B. Andeweg / G. A. Irwin, Governance and Politics (Anm. 38), 142. 43  Ebd.; W. Woyke, Niederlande (Anm. 38), 212 f.; J. Hartmann / U. Kempf, Staatsoberhäupter (Anm. 12), 47. 44  R. B. Andeweg / G. A. Irwin, Governance and Politics (Anm. 38), 23, 143.

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Wie sah es demgegenüber in Großbritannien aus? Walter Bagehot hat bereits um 1870 den eigentlichen politischen Spielraum der britischen Monarchen in einer bis heute vielzitierten Wendung auf den Punkt gebracht: Sie hätten das Recht, konsultiert zu werden, zu ermutigen und zu warnen45. Auf diesem Weg gelang es der seit 1952 amtierenden Königin Elisabeth II. im Lauf der Jahrzehnte, gehörigen Einfluss auf die Geschicke ihres Landes zu nehmen, gegründet auf ihre ständig wachsende, bald umfassende Sachkenntnis und Versiertheit in allen innen- und außenpolitischen Angelegenheiten46. Konkret boten ihr von Beginn an die wöchentlichen Audienzen des Premierministers die Möglichkeit, ihre Vorstellungen in den politischen Entscheidungsprozess einzubringen; diese Unterredungen fanden zwar regelmäßig unter vier Augen statt und wurden stets streng vertraulich behandelt, so dass über ihre Inhalte und Ergebnisse kaum etwas bekannt ist47, doch legen nachträgliche ebenso wie bereits zeitgenössische Äußerungen einer ganzen Reihe von ehemaligen Regierungschefs den Schluss nahe, dass Elisabeth II. nicht zuletzt auch aufgrund ihrer Überzeugungskraft und ihrer Fähigkeit, Meinungen zu ändern, immer wieder ein gewichtiges, wenn nicht entscheidendes Wort mitgesprochen hat48. Der informelle Charakter der Einflussnahme war freilich zugleich die wichtigste Voraussetzung für diese dauerhafte Beteiligung des Staatsoberhaupts an der Macht. Das zeigt sich ex negativo auch an der Entwicklung in einem anderen Bereich, in dem die Monarchin einige Male persönlich eingriff: dem der Regierungsbildung. Bis Mitte der 1960er Jahre hatte die Konservative Partei in Großbritannien kein Verfahren zur Nachfolgeregelung im Fall des Todes oder des Rücktritts eines von ihr gestellten Premierministers erarbeitet. Gleich dreimal sah sich Elisabeth II. daher bemüßigt, aus eigener Verantwortung (und gedeckt durch die Verfassungsgesetzgebung) einen Nachfolger zu bestimmen: 1955 beim Wechsel von Winston Churchill zu Anthony Eden, 1957 beim 45  Vgl. etwa Peter Alter, Elisabeth II. (seit 1952), in: Peter Wende (Hrsg.), Englische Könige und Königinnen der Neuzeit. Von Heinrich VII. bis Elisabeth II., München 2008, 354–366, hier 361; J. Gurr, Großbritannien (Anm. 16), 72; J. Hartmann / U. Kempf, Staatsoberhäupter (Anm. 12), 31 f. 46  Vgl. allgemein P. Alter, Elisabeth II. (Anm. 45), 361 f. 47  Rodney Brazier, The Monarchy, in: Vernon Bogdanor (Hrsg.), The British Constitution in the Twentieth Century, Oxford 2003, 69–95, hier 79 f.; J. Gurr, Großbritannien (Anm. 16), 77; J. Hartmann / U. Kempf, Staatsoberhäupter (Anm. 12), 32. 48  Siehe insbesondere Ben Pimlott, The Queen. Elizabeth II and the Monarchy. Golden Jubilee Edition, London 2001, passim. Genannt werden hier zumeist Harold MacMillan, Harold Wilson, Edward Heath, James Callaghan, Margaret Thatcher und John Major: Vernon Bogdanor, The Monarchy and the Constitution, Oxford 1995, 72 f.; P. Alter, Elisabeth II. (Anm. 45), 362; R. Brazier, The Monarchy (Anm. 47), 80; vgl. auch Roland Sturm, Das politische System Großbritanniens, in: W. Ismayr, Die politischen Systeme (Anm. 12), 265–306, hier 270.



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Wechsel von Eden zu Harold MacMillan und schließlich 1963 beim Wechsel von MacMillan zu Sir Alec Douglas-Home. In den beiden letztgenannten Fällen geschah dies gegen den Willen der Mehrheit der Konservativen, die sich daher im Jahr 1965 doch auf eine parteiinterne Vorgehensweise verständigten49. Auch in der Öffentlichkeit hatten diese Eingriffe für Aufsehen und für Unmut gesorgt, so dass sich die Königin künftig wohlweislich zurückhielt und etwa bei unklaren Mehrheitsverhältnissen nach Unterhauswahlen, dem in Großbritannien mit seinem faktischen Zwei-Parteien-System freilich sehr seltenen Fall eines sogenannten „hung parliament“, äußerst zurückhaltend agierte und rasch den Führer der aussichtsreichsten Fraktion mit der Regierungsbildung beauftragte, wie erstmals 1974 und zuletzt im Jahr 2010 geschehen50. Alles in allem scheinen damit die politischen Möglichkeiten der britischen Königin in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus durchaus vergleichbar dimensioniert gewesen zu sein wie die ihrer holländischen Pendants, wenn auch mit ein paar geringfügigen Abstrichen. Dasselbe kann für Spanien und sein Staatsoberhaupt konstatiert werden. Das hohe Ansehen der Krone gründet hier seit langem auf dem immensen Beitrag des 2014 resignierten Königs Juan Carlos de Borbón zur Umwandlung des Landes von der Franco-Diktatur in eine stabile Demokratie, wobei sein Engagement bei der Niederschlagung des Militärputsches von 1981 immer eine besondere Rolle gespielt hat51. Ähnlich wie Elisabeth II. in Großbritannien konnte Juan Carlos durch engen, wenn auch nicht derart formalisierten, regelmäßigen Kontakt mit den wechselnden Ministerpräsidenten seine Vorstellungen in die Politik einbringen52; hin und wieder übernahm er sogar auf Bitten des amtierenden Regierungschefs die Leitung von Kabinettssitzungen53. Hinzu kam auch bei ihm die besondere Rolle des Monarchen im Regierungsbildungsprozess: Nach den Wahlen führte der König regelmäßig Gespräche mit den Parteien und schlug dann dem Parlamentspräsidenten einen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten vor; wenn dieser anschließend nicht gewählt wurde, wiederholte sich die Prozedur so 49  1955 und 1963: J. Hartmann / U. Kempf, Staatsoberhäupter (Anm. 12), 29; 1957 und 1963: P. Alter, Elisabeth II. (Anm. 45), 361; R. Brazier, The Monarchy (Anm. 47), 70, 74; J. Gurr, Großbritannien (Anm. 16), 76 f.; ausführlich hierzu V. Bogdanor, The Monarchy (Anm. 48), 93–99. 50  J. Hartmann / U. Kempf, Staatsoberhäupter (Anm. 12), 30 f.; vgl. generell R. Sturm, Das politische System (Anm. 48), 269. 51  Marianne Kneuer, Spanien, in: G. Riescher / A. Thumfart, Monarchien (Anm. 12), 270–280, hier 274 ff.; vgl. Harald Barrios, Das politische System Spaniens, in: W. Ismayr, Die politischen Systeme (Anm. 12), 713–764, hier 717; J. Hartmann / U. Kempf, Staatsoberhäupter (Anm. 12), 72. 52  Charles Powell, Juan Carlos of Spain. Self-Made Monarch, Houndmills 1996, 181–205. 53  H. Barrios, Das politische System (Anm. 51), 717.

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lange, bis entweder ein Regierungschef bestätigt war oder das Parlament schließlich gemäß der Verfassung wieder aufgelöst und Neuwahlen angesetzt werden mussten. Insbesondere bei unklaren Mehrheitsverhältnissen verfügte Juan Carlos auf diese Weise über beträchtliche Einflussmöglichkeiten, die er freilich stets dazu gebrauchte, einen Konsens herbeizuführen, wie beispielsweise die Verhandlungen zur Regierungsbildung nach den Wahlen von 1993 und 1996 gezeigt haben54. Ausschlaggebend für die Amtsführung der belgischen Könige seit dem Zweiten Weltkrieg war die Krise des Jahres 1950. Als Leopold III. aus der Dynastie Sachsen-Coburg und Gotha nach kriegsbedingter Abwesenheit auf den Thron zurückkehren wollte, sah er sich mit Kollaborationsvorwürfen und heftigen öffentlichen Protesten konfrontiert. Der Vorwurf, die deutschen Besatzer unterstützt zu haben, erwies als haltlos; dennoch verzichtete Leopold auf die Königswürde. Schon sein Sohn und Nachfolger Baudouin nahm allʼ dies zum Anlass, seine verfassungsmäßigen Rechte nur sehr eingeschränkt wahrzunehmen bzw. auszuschöpfen, was einen Usus schuf, dem sich auch sein Bruder Albert II. nach der Thronbesteigung im Jahr 1993 nicht mehr hätte widersetzen können55. Wie wenig reale Macht der Monarch schon zuvor etwa aus der Verfassungsklausel schöpfen konnte, dass Gesetze erst nach ihrer Unterzeichnung durch das Staatsoberhaupt in Kraft treten können, zeigte sich im Jahr 1990, als Baudouin sich aus Gewissensgründen weigerte, ein Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch abzusegnen, und keinen anderen Ausweg sah, als sich selbst für zwei Tage für regierungsunfähig zu erklären, damit der Premierminister an seiner Stelle handeln konnte56. Offenkundige Macht fiel dagegen auch den belgischen Königen immer dann zu, wenn es nach Parlamentswahlen darum ging, eine neue Regierung zu bilden57, wobei das Verfahren mit der Bestellung erst eines Informateurs und dann eines Formateurs dem Usus der niederländischen Nachbarn sehr stark ähnelte58. Das ebenfalls durchaus komplexe belgische Parteiensystem, 54  M. Kneuer, Spanien (Anm. 51), 272; vgl. H. Barrios, Das politische System (Anm. 51), 723; J. Hartmann / U. Kempf, Staatsoberhäupter (Anm. 12), 71 f. 55  Michael Erbe, Belgien – Luxemburg (Die Deutschen und ihre Nachbarn), München 2009, 61; vgl. J. Hartmann / U. Kempf, Staatsoberhäupter (Anm. 12), 50; Claus Hecking, Das politische System, in: Johannes Koll (Hrsg.), Belgien. Geschichte, ­Politik, Kultur, Wirtschaft, Münster 2007, 45–72, hier 59. 56  Wichard Woyke, Das politische System Belgiens, in: W. Ismayr, Die politischen Systeme (Anm. 12), 451–482, hier 454; vgl. J. Hartmann / U. Kempf, Staatsoberhäupter (Anm. 12), 51. 57  Vgl. Wichard Woyke, Belgien, in: G. Riescher / A. Thumfart, Monarchien (Anm. 12), 33–41, hier 34. 58  C. Hecking, Das politische System (Anm. 55), 57; W. Woyke, Belgien (Anm. 57), 37 f.; W. Woyke, Das politische System (Anm. 56), 460.



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das absolute Mehrheiten schon immer sehr unwahrscheinlich machte, begünstigte hier stets die Einflussnahme des Monarchen59. Sein darüber hinaus vorhandener Ermessensspielraum auch im Falle des Scheiterns einer Regierung und der anschließenden Auflösung des Parlaments wurde freilich 1993 / 94 durch die Einführung des konstruktiven Misstrauensvotums beseitigt60, und die komplizierte föderale Neuordnung nach der Jahrtausendwende, mit der Zuweisung von Selbstverwaltungsrechten an geographische Regionen sowie an – hiermit nicht deckungsgleiche – Sprachgemeinschaften, minderte die reale Macht Alberts II. erneut61. Doch trotz diesen Einschränkungen verfügte er bis zu seiner Abdankung 2013 über deutlich größeren politischen Einfluss als manche seiner Pendants auf europäischen Thronen62, wie zuletzt noch sein beharrliches und am Ende erfolgreiches Eintreten für die Bildung einer Regierung in der Krise nach den Wahlen von 2007 zeigte63. IV. Der Monarch als politische Randfigur Übrig bleiben vier Monarchien, in denen die politische Rolle des Staatsoberhaupts seit langem auf ein Minimum begrenzt ist, nämlich Luxemburg und die drei skandinavischen Königreiche. Alle nach dem Zweiten Weltkrieg amtierenden Luxemburger Staatsoberhäupter aus dem Haus Nassau-Weilburg, die Großherzogin Charlotte (1919–1964) sowie ihre Nachfolger Jean (1964– 2000) und Henri (seit 2000), „überließen der Regierung die Führung der Tagesgeschäfte“, ungeachtet ihrer umfangreichen verfassungsmäßigen Herrschaftsrechte64. Dabei scheint der ständige Kontakt zum Kabinett keinen besonderen Einfluss der Monarchen auf die Politik mit sich gebracht zu haben65. Im Rahmen der Regierungsbildung spielten die Großherzöge stets eine deutlich geringere Rolle als ihre Pendants in den Nachbarstaaten Belgien und den Niederlanden, weil sie bei der Bestimmung des Premierministers von vornherein strikt an die Mehrheitsverhältnisse gebunden waren; die Einsetzung von Informateur und Formateur war hier immer nur bei einem Scheitern 59  J. Hartmann / U. Kempf, Staatsoberhäupter (Anm. 12), 51. Vgl. auch M. Stickler, Machtverlust (Anm. 12), 384, der in diesem Zusammenhang auf „den wachsenden Antagonismus beider Volksgruppen“, also Flamen und Wallonen verweist, der wiederum einer gewissen Zersplitterung des belgischen Parteiensystems zugrunde liegt. 60  Ebd. 61  W. Woyke, Das politische System (Anm. 56), 453 f. 62  C. Hecking, Das politische System (Anm. 55), 59. 63  W. Woyke, Belgien (Anm. 57), 38; vgl. W. Woyke, Das politische System (Anm. 56), 454. 64  Paul Dostert, Luxemburg, in: G. Riescher / A. Thumfart, Monarchien (Anm. 12), 154–162, hier 158 f. 65  Ebd., 161.

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der Regierungsbildung oder für den Fall eines erfolgreichen Misstrauensvotums des Parlaments vorgesehen66. Und auch wenn bekannt ist, dass das Luxemburger Staatsoberhaupt bei Streitigkeiten in Koalitionsverhandlungen hin und wieder zu Rate gezogen wurde, so ist doch eine besondere Einflussnahme auf das Ergebnis in keinem Fall nachweisbar67. Im Jahr 2003 wurde der Großherzog zudem aus dem Verfahren zur Verfassungsänderung ausgeschaltet68, und nach der Weigerung Henris im Jahr 2008, ein Euthanasiegesetz zu unterschreiben, wurde auch der rein formale Zeichnungsvorbehalt des Monarchen kurzerhand aus der Konstitution entfernt69. Die dänische Verfassung räumt dem Staatsoberhaupt ebenfalls weitgehende Befugnisse in der Exekutive und mit Abstrichen auch in der Legislative ein, während Parteien und demokratische Verfahren dort nicht einmal Erwähnung finden – in der Praxis ist die Machtverteilung jedoch seit langem diametral entgegengesetzt70. Dabei wurde es quasi zur Überlebensstrategie der Königsfamilie aus dem Haus Glücksburg, sich demokratisch gesonnen und volksnah zu geben und im Zweifelsfall auch auf angestammte Mitspracherechte zu verzichten71. Frederik IX., der von 1947 bis 1972 regierte, hielt sich etwa noch „relativ dicht“ an die Bestimmungen der Verfassung, die es ihm erlaubten, im Rahmen der Regierungsbildung Anzahl und Ressortzuschnitt der Minister zu bestimmen; bei Koalitionsverhandlungen war er selbstverständlich anwesend72. Seine bis heute amtierende Tochter und Nachfolgerin Margarete gab dagegen unmittelbar alle verbliebenen Mitspracherechte auf; sie ließ „sich nach den Parlamentswahlen von den Parteisprechern […] informieren und nominiert[e] formal einen Verhandlungsführer für die Regierungsbildung“73, jedoch erst, nachdem die Parteien unter sich eine Lösung ausgehandelt hatten, so dass die Königin – obwohl sie immer wieder als Vermittlerin auftrat74 – auch stets aus etwaigen Zwistigkeiten herausge66  Michael Schroen, Das politische System Luxemburgs, in: W. Ismayr, Die politischen Systeme (Anm. 12), 483–513, hier 484; M. Erbe, Belgien – Luxemburg (Anm. 55), 66. 67  P. Dostert, Luxemburg (Anm. 64), 161; M. Schroen, Das politische System (Anm. 66), 488. 68  M. Erbe, Belgien – Luxemburg (Anm. 55), 67. 69  Marcus Stölb, Künftig ohne Vetorecht, in: Das Parlament Nr. 52 vom 22.12.2008; vgl. M. Schroen, Das politische System (Anm. 66), 484, 508. 70  Bernd Henningsen, Dänemark, in: G. Riescher / A. Thumfart, Monarchien (Anm. 12), 61–70, hier 63 f.; Peter Nannestad, Das politische System Dänemarks, in: W. Ismayr, Die politischen Systeme (Anm. 12), 65–106, hier 69. 71  B. Henningsen, Dänemark (Anm. 70), 66 f. 72  Ebd., 64; J. Hartmann / U. Kempf, Staatsoberhäupter (Anm. 12), 56. 73  B. Henningsen, Dänemark (Anm. 70), 64. 74  Ebd., 65; J. Hartmann / U. Kempf, Staatsoberhäupter (Anm. 12), 57.



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halten wurde und nie eine im eigentlichen Sinne politische Entscheidung treffen musste75. Norwegen ist erst seit 1905 ein souveränes Königreich. Seinem Oberhaupt räumte man qua Verfassung weitgehende Rechte vor allem in der Exekutive ein, die jedoch von Beginn an nicht genutzt wurden, so dass sie faktisch bald verlorengingen76. Zwar traf sich der Monarch seit jeher wöchentlich mit dem Kabinett, er wurde jedoch immer nur über die aktuellen Geschäfte informiert und konnte in begrenztem Umfang Fragen stellen, eine Diskussion fand grundsätzlich nicht statt. Die monatlichen Treffen zwischen Staatsoberhaupt und Regierungschef haben traditionell einen ähnlichen Charakter, d. h. von einer Art „Machtinstrument“ wie in Großbritannien oder den Niederlanden kann hier zumindest für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht die Rede sein77, weder unter Haakon VII. (1905–1957) noch unter Olav V. (1957– 1991) oder dem seit 1991 amtierenden Harald V., die wie ihre dänischen Pendants dem Haus Glücksburg entstammen. Dabei zeichneten sich auch die norwegischen Könige und ihre Familien stets durch ein ausdrücklich die Demokratie bejahendes und förderndes Verhalten aus78. Am unteren Ende der Machtskala rangieren die schwedischen Monarchen aus der Familie Bernadotte. Schweden hat im Gegensatz zu Dänemark und Norwegen den Wortlaut seiner Verfassung Mitte der 1970er Jahre an die Realitäten angepasst, d. h. „der […] König verfügt […] weder de facto noch de jure über politische Macht.“79 Carl XVI. Gustaf, seit 1973 Staatsoberhaupt, ging damit selbst rein formaler Befugnisse verlustig, aus denen seine Pendants in Dänemark und Norwegen weiterhin zumindest theoretisch gewisse Eingriffsrechte ableiten konnten und die auch seine Vorgänger ­ ­Gustav  V. (1907–1950) und Gustav VI. Adolf (1950–1973) wenigstens teilweise noch wahrgenommen hatten. So durfte er seitdem ausdrücklich nicht die Regierung ernennen oder entlassen und auch nicht an Kabinettssitzungen teilnehmen, ja nicht einmal Verordnungen und Gesetze unterzeichnen; selbst 75  P. Nannestad, Das politische System (Anm. 70), 76; J. Hartmann / U. Kempf, Staatsoberhäupter (Anm. 12), 56; vgl. auch Jörg-Peter Findeisen, Dänemark. Von den Anfängen bis zur Gegenwart (Geschichte der Länder Skandinaviens), 2., erg. Aufl. Regensburg 2008, 266 f. 76  Bernd Henningsen, Norwegen, in: G. Riescher / A. Thumfart, Monarchien (Anm. 12), 216–227, hier 220 f.; vgl. J. Hartmann / U. Kempf, Staatsoberhäupter (Anm. 12), 64 f.; Hermann Groß / Walter Rothholz, Das politische System Norwegens, in: W. Ismayr, Die politischen Systeme (Anm. 12), 151–193, hier 154, 169. 77  B. Henningsen, Norwegen (Anm. 76), 220. 78  H. Groß / W. Rothholz, Das politische System (Anm. 76), 155. 79  Bernd Henningsen, Schweden, in: G. Riescher / A. Thumfart, Monarchien (Anm. 12), 260–269, hier 262 f. (das Zitat 263); vgl. J. Hartmann / U. Kempf, Staatsoberhäupter (Anm. 12), 61.

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der nominelle militärische Oberbefehl steht ihm gemäß dem Wortlaut der Verfassung nicht zu, wo nunmehr die Inhaber derjenigen Ämter aufscheinen, die bereits zuvor die politische Verantwortung für alle diese Kompetenzen innehatten80. Regelmäßig, doch lediglich dreimal pro Jahr wurde der König von Schweden seit dem Krieg von der amtierenden Regierung über die aktuelle Lage informiert und durfte einige Fragen dazu stellen, und dies auch nur, damit er bei der Wahrnehmung seiner verbliebenen zeremoniellen Aufgaben wie etwa der Eröffnung des Reichstags nicht ganz kenntnislos sei81. Daneben führte er stets den Vorsitz im „Beirat für auswärtige Angelegenheiten“ des Parlaments, und zu diesem Zweck wurde ihm regelmäßig „eine privilegierte Information über die Außenpolitik“ zuteil82, aus der sich freilich keinerlei politisches Kapital schlagen ließ. Im Übrigen beschied sich auch die schwedische Königsfamilie in den letzten Jahrzehnten bewusst und ausdrücklich mit ihrer reduzierten Rolle im Rahmen des demokratischen Regierungssystems, was ihrem Ansehen ebenso zugute kam, wie dies wie bei den beiden anderen skandinavischen Dynastien der Fall war83. V. Fazit Dieser Beitrag hat danach gefragt, welche politischen Aktivitäten die nach dem Zweiten Weltkrieg auf europäischen Thronen verbliebenen Monarchen bzw. Dynastien bis heute entfaltet haben und welche Wege ihnen dafür offen standen, welchen Einfluss sie dabei tatsächlich auf die Geschicke ihrer Länder nehmen konnten und welche Effekte dies hatte, und schließlich, ob die Einstufung als „Moderatoren“ und „Medienstars“ ausreicht, um ihre Funktion in den modernen Staatswesen zu beschreiben, oder ob sie der Ergänzung bedarf. Obwohl mancher Befund vage bleiben muss und manche Einflussnahme nur indirekt erschlossen werden kann, legt die Betrachtung der elf bzw. zwölf in Frage kommenden Monarchien und ihrer Staatsoberhäupter doch in großer Deutlichkeit nahe, dass die europäischen Königinnen und Könige, Großherzöge und Fürsten der vergangenen 70 Jahre in ihrer Gesamtheit auch als „Politiker“ gesehen werden müssen, um zu einem ausgewogenen Gesamtbild zu kommen. Dabei muss freilich differenziert werden, denn so einheitlich, 80  Detlef Jahn, Das politische System Schwedens, in: W. Ismayr, Die politischen Systeme (Anm. 12), 107–149, hier 109; B. Henningsen, Schweden (Anm. 79), 264. 81  B. Henningsen, Schweden (Anm. 79), 265; D. Jahn, Das politische System (Anm. 80), 109. 82  B. Henningsen, Schweden (Anm. 79), 265; J. Hartmann / U. Kempf, Staatsoberhäupter (Anm. 12), 62. 83  J. Hartmann / U. Kempf, Staatsoberhäupter (Anm. 12), 62.



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wie die Forschung oft suggerieren mag, ist das Bild der nach 1945 bestehenden monarchischen Staatswesen eben keineswegs: Den durch den Verfassungsusus in ihren Ländern und durch die Erwartungen ihrer „Untertanen“ stark eingeschränkten bzw. mit der Zeit rasch machtlos gewordenen parlamentarischen Herrschern Luxemburgs, Dänemarks, Norwegens und Schwedens stehen die absoluten bzw. konstitutionellen Staatsoberhäupter des Vatikan, Monacos und Liechtensteins gegenüber, die cum grano salis stets unangefochten ihre Gemeinwesen regierten; auch wenn man deren Gewicht angesichts der deutlich geringeren Größe ihrer Länder und deren Bevölkerungszahl als marginal einschätzen mag, so stellen sie doch gleichermaßen wahrzunehmende „monarchische Entitäten“ dar wie die erstgenannten. Mit dem Wegfall Griechenlands und dem Hinzutreten Spaniens in den Kreis der zeitgenössischen Monarchien wurde in den 1970er Jahren nun gleichsam die machtmäßige „Mittelpartei“ unter den europäischen Herrschern erweitert, die sicher die interessanteste, weil von vornherein am wenigsten eindeutig zu klassifizierende Gruppe darstellt. Soweit erkennbar, gelang es den Königinnen und Königen der Niederlande, Großbritanniens, Belgiens und eben Spaniens in jüngerer und jüngster Vergangenheit vorrangig auf zwei Wegen, Einfluss auf die Regierung bzw. auf die Innen- und Außenpolitik ihrer Staaten zu nehmen: zum einen offiziell durch die Wahrnehmung einer tragenden Rolle bei der Regierungsbildung, zum anderen inoffiziell durch den engen Gesprächskontakt zu den Regierungschefs und Ministern im Rahmen gleichwohl formalisierter, regelmäßiger Zusammenkünfte. Wie vor allem die Beispiele Beatrixʼ der Niederlande, Elisabeths von Großbritannien und auch Juan Carlosʼ von Spanien zeigen bzw. zur Genüge nahelegen, spielte dabei tatsächlich stets die Persönlichkeit des Herrschers eine entscheidende Rolle. Auf der anderen Seite belegt das offenkundige Verlangen der Bevölkerungen in den skandinavischen Ländern nach „demokratischen“ Königen ebenso wie die Reaktionen von Öffentlichkeit und Parteien auf vermeintliche oder tatsächliche Kompetenzüberschreitungen von Monarchen, die beispielsweise in den Benelux-Staaten noch jüngst per Gesetz in ihren Befugnissen beschränkt wurden, dass nach 1945 stets auch politische Tradition und Kultur eines Landes den Spielraum von Herrschern und Dynastien begrenzten. Dabei scheint die Tendenz, zumal wenn man etwa auch die Selbstbeschränkung der britischen Königin bei der letzten Regierungsbildung oder das seit neuestem in Liechtenstein mögliche – wenngleich mehr symbolische – Misstrauensvotum gegen den Fürsten in Rechnung stellt, in Richtung einer weiteren Reduzierung monarchischer Einflussmöglichkeiten zu gehen. Abgesehen davon jedoch, dass man das Ausmaß bzw. die Auswirkungen dieser durchaus erzwungenen Abstriche unterschiedlich beurteilen mag, ist es

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nicht Sache des Historikers, aktuelle Entwicklungen zu beurteilen oder gar Prognosen über die Zukunft abzugeben. Die Praxis der sieben Jahrzehnte seit 1945 spricht dafür, dass die europäischen Herrscherfamilien in ihren Ländern alles in allem nicht nur „Moderatoren“ und „Medienstars“ waren, sondern auch politische Größen, wobei freilich die Gewichtung dieser drei Elemente, aus denen sich ihre Rolle in Staat und Gesellschaft tatsächlich konstituierte, von Fall zu Fall variiert, wie in der Einteilung in drei machtmäßig abgestufte Gruppen zum Ausdruck gekommen ist. Vergessen sollte man dabei mit Blick auf Luxemburg und die skandinavischen Monarchien aber auch die eingangs zitierte Feststellung Häberles über die unvermeidlichen informellen „Beziehungs- und Einflußgeflechte“ der Monarchen nicht, auch wenn es hier an konkreten Belegen mangelt. Die trotz den immer wieder angeführten, nicht unerheblichen Kosten für die Alimentierung der Herrscherfamilien unverändert hohen Beliebtheitsbzw. Akzeptanzwerte unter der Bevölkerung so gut wie aller betrachteten Staaten84 legen jedenfalls aufs Ganze gesehen den Schluss nahe, dass es eben immer wieder auch die politische Funktion war, die dazu beigetragen hat, dass sich die zeitgenössischen Monarchen angesichts der wohl unvermeidlichen Zähigkeiten des parlamentarischen Alltags behaupten konnten. Die europäischen Herrscherdynastien haben damit zweifellos ihre Rolle in einer infolge des Zweiten Weltkriegs noch einmal drastisch gewandelten Welt gefunden, und es wäre sicherlich alles andere als angemessen, sie vor diesem Hintergrund als „Verlierer“ der Geschichte zu bezeichnen.

84  Vgl. die zitierten Beiträge in G. Riescher / A. Thumfart, Monarchien (Anm. 12), und W. Ismayr, Die politischen Systeme (Anm. 12), sowie die zitierten Stellen aus J. Hartmann / U. Kempf, Staatsoberhäupter (Anm. 12), wo die Fakten trotz erkennbarer Ungläubigkeit bzw. unverhohlen zum Ausdruck gebrachten Widerwillens nicht verschwiegen werden (können).

II. Europäische Herrscherhäuser

Die letzten Hohenzollern: Die ästhetisierte Monarchie als historisches Kostümstück und Große Oper Von Eberhard Straub, Berlin „Alle Geschäfte müssen erlernt werden, und heutigen Tages ist das Geschäft eines konstitutionellen Souveräns, soll es gut gehen, ein recht schwieriges“1. Das bemerkte 1838 Leopold, der erste König der Belgier, in einem Brief an seine Nichte, die Königin Victoria. Erst in der bürgerlichen Erwerbs- und Arbeitsgesellschaft lag es nahe, das Königtum als Beruf mit einer besonderen Tüchtigkeit wie jede andere Tätigkeit, eben als ein erlernbares métier aufzufassen. Im vorrevolutionären, königlichen Staat war geheimnislose Herrschaft unvorstellbar. In Pedro Calderón de la Barcas Königsdrama „Das Leben ein Traum“ – 1635 aufgeführt – kommt Prinz Sigismund in einer scharfsinnigen Grübelei über sich und die Idee des Königtums zu dem Schluss: „König sei er, träumt der König,  /  Und in diesen Wahn versenkt,  /  Herrscht, gebietet er und lenkt“2. In diesem Sinne ist Herrschen mehr Sache der Einbildungskraft als des bloßen Verstandes, weshalb Kathedermänner auf dem Thron meist eine schlechte Figur abgeben3. Darüber waren sich weltkluge Denker und erfahrene Politiker einig. Das herkömmliche Herrscherideal mit seinen Bildern und suggestiven Formeln war während der Französischen Revolution zum Ärgernis geworden für Wirtschaftsbürger, die jedes Geschäft wegen seiner Brauchbarkeit und der Aussicht auf mögliche Gewinne beurteilten und deshalb eine berufsbezogene Ausbildung forderten. Pracht, gefälliger Prunk, Riten und Zeremonien, kurzum die Kunst der Repräsentation, stand bald im Rufe, nur ein anderes Wort für sündhafte Verschwendung zu sein. In der Prosa des neuen Weltzustandes nach den Kriegen mit der Revolution und Napoléon mit ihren rechtlichen, moralischen und politischen Kon1  Heinz Dollinger, Das Leitbild des Bürgerkönigtums in der europäischen Monarchie des 19. Jahrhunderts, in: Hof, Kultur und Politik im 19. Jahrhundert, hrsg. v. Karl Ferdinand Werner, Bonn 1985, 325–348, hier 336. 2  Pedro Calderón de la Barca, Das Leben ein Traum [1663], Leipzig 1964, 133. 3  Juan Huarte de San Juan, Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften, Zerbst 1752, 200 f.

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ventionen war der Kreis für ideale und deshalb notwendig schöne Gestaltungen sehr begrenzt, woran Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seiner 1835 veröffentlichten Ästhetik erinnerte: Die vorherrschenden rechtschaffenen Lebensformen entbehrten jedes tieferen Gehaltes. Ein Ideal von Richtern oder Monarchen entwerfen zu wollen, sei in einer solchen Gegenwart völlig unpassend. Ein Justizbeamter handele, wie es Amt und Pflicht erfordern. Individuelle Eigenschaften, etwa Milde des Benehmens oder ungewöhnlicher Scharfsinn, seien nicht entscheidend oder der substantielle Inhalt seines Tuns. „Ebenso sind die Monarchen unserer Zeit nicht mehr […] eine in sich konkrete Spitze des Ganzen, sondern ein mehr oder weniger abstrakter Mittelpunkt innerhalb für sich bereits ausgebildeter und durch Gesetz und Verfassung feststehender Einrichtungen. Die wichtigsten Regentenhandlungen haben die Monarchen unserer Zeit aus den Händen gegeben; sie sprechen nicht mehr selber Recht, die Finanzen, bürgerliche Ordnung und Sicherheit ist nicht mehr ihr eigenes, spezielles Geschäft, Krieg und Frieden wird durch die allgemeinen auswärtigen politischen Verhältnisse bestimmt, welche ihrer partikulären Leitung und Macht nicht angehören; und wenn ihnen auch in betreff auf alle Beziehungen die letzte, oberste Entscheidung zukommt, so gehört doch der eigentliche Inhalt der Beschlüsse im ganzen weniger der Individualität ihres Willens an, als er bereits für sich selber feststeht, so dass die Spitze des eigenen subjektiven monarchischen Willens in Rücksicht auf das Allgemeine und Öffentliche nur formaler Art ist“4. Die Grundlagen der überlieferten Monarchie waren ein für alle Male erschüttert und mit ihr unweigerlich die Idee der Repräsentation, von der bis 1789 die gesamte Gesellschaft durchdrungen war. Im großen Welttheater musste jeder seiner öffentlichen Rolle gerecht werden und sich den glücklichen Gedanken Gottes, der jedem Stand seine Würde verleiht, ganz zu eigen machen. Der göttliche Spielmeister beurteilt am Ende des Spiels nicht, ob einer als wahrer Mensch gelebt hatte, sondern ob er als Bauer, Kaufmann, Ritter, Priester oder als König der jeweils geforderten Nachfolge Christi in den jeweils angemessenen Formen genügte. Nicht das individuelle Sosein, vielmehr das repräsentative Dasein entschied über das Heil des Einzelnen. Die Gleichheit in der Sünde und vor den göttlichen Gnadenmitteln kannte keine Gleichheit bei den auferlegten Pflichten, standesgemäße Tugenden zu üben und sich anzustrengen, je auf seine Art gottgefällig zu leben. Wem viel in dieser Welt gegeben wurde, von dem durfte auch viel verlangt werden. Also vor allem von Königen und den Aristokraten. Der König war die höchste Macht nach Gott dem Allmächtigen. Alle Macht als Reflex der göttlichen Allmacht war deshalb gut. Die alte Welt war eine Welt der Vielfalt 4  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 13: Vorlesungen über die Ästhetik I, Frankfurt a. M. 1970, 243 f.



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und verschiedenster Vollmachten. Deren Einigkeit stellte der Monarch nicht her, sondern er repräsentierte die Einheit und wies darüber die mannigfachen ordines auf den sie alle umfassenden ordo hin. Aus der Eins entwickelt sich die Vielfalt. Sie birgt in sich, wie der Dreifaltige Gott, selbständige Einheiten, die dennoch miteinander eine Person bilden, ohne ihre Eigentümlichkeit zu verlieren. Die Majestät der Könige oder des Kaisers erinnert unmittelbar an die Maiestas des Christus rex et imperator, die sie als dessen Stellvertreter veranschaulicht. In Analogie zum Corpus Christi mysticum, zur sichtbaren Kirche mit ihrem Oberhaupt, dem Bischof von Rom, wurde der königliche Staat als ein weiteres Corpus mysticum des Christus-Königs gedeutet. Die königlichen Staaten, wie sich seit dem 11. Jahrhundert entwickelten, waren  – mit den Worten von Ernst Kantorowicz – mystische Monarchien auf rationaler Grundlage5. Das Rechtskönigtum wurde mit feinster Geistesakrobatik als Sachwalter göttlicher Gerechtigkeit begründet und gefeiert. Die kaiserlichen oder königlichen Juristen verstanden sich wie die Priester als sacerdotes der göttlichen Gerechtigkeit. Der Palast des Herrschers, des servus legis, der unter dem Gesetz steht, wurde wegen der dort geübten Rechtspflege zum Heiligtum, zum templum, ja sein Reich zum Heiligen Römischen Reich, das sich seit Friedrich Barbarossa gleichberechtigt der einen Heiligen und Römischen Kirche zu Seite stellte. Alles, was mit der Majestät zu tun hat, rückte aus der profanen in eine sakrale Sphäre: Zeremonien, das Schloss, die prächtige Hofhaltung, Ehrenbögen, Trionfi aller Art, Turniere oder Opern als großes Festspiel zum Ruhme des göttlichen Weltherrschers und seiner Repräsentanten6. Diese Bestandteile der höfischen Welt waren keine beliebigen Äußerlichkeiten und bloßer Zierrat. Sie gehörten zur liturgischen Feier des Königtums, in dem sämtliche Ideen aufleuchteten und sichtbar machten, was die Welt in Innersten zusammenhält. Königliche Repräsentation der Majestät kann nur das Stabile, das Dauernde sichtbar machen. Denn der Staat als Form der ihn belebenden Ideen, meint, wie sein Namen andeutet, den status, die Gleichgewichtslage der Meinungen und Interessen. Königliche Herrschaft ist in diesem Sinne die ruhige Ausübung der Herrschaftsrechte. „Kurz, herrschen heißt sitzen, – auf dem Thron, der sella curulis, dem Ministersitz, dem Heiligen Stuhl. Entgegen einem harmlosen Zeitungsschreiber-Standpunkt ist 5  Ernst H. Kantorowicz, Mysteries of State. An Absolutist Concept and its Late Mediaeval Origins, in: ders., Selected Studies, New York 1965, 381 f.; sowie José Antonio Maravall, La idea de cuerpo mistico en España antes de Erasmo, in: ders., Estudios de Historia del pensamiento espanol, Madrid 1967, 177 f. 6  Eberhard Straub, Repraesentatio Maiestatis oder churbaierische Freudenfeste. Die höfischen Feste in der Münchner Residenz vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, München 1969, 2 f.

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Herrschen weniger eine Angelegenheit der Faust als des Sitzfleisches“7, wie José Ortega y Gasset im „Aufstand der Massen“ bemerkte. Die Pracht des Hofes galt nicht als eitles Prangen. Wer sie vernachlässigte, machte sich vielmehr verdächtig, den Respekt vor der göttlichen Majestät zu vernachlässigen. Sie ist mit der Schönheit identisch, dem splendor veritatis, dem Glanz der Wahrheit, der göttlichen Macht und ihres ewigen Ruhmes. Deshalb muss sich der Fürst ganz in seine „real persona“, in seine königliche Rolle versenken, und alles Menschlich-Zufällige oder Natürliche abstreifen, um der König zu werden, der niemals stirbt, völlig ergriffen von der Idee der ewigen, die Zeiten überdauernden Majestät. Der Monarch gehört weniger sich selbst, sondern als Bild oder Statue allen. Dazu angehalten mit seiner Würde die Majestät Gottes zu repräsentieren, darf er das decorum, den höfischen Glanz nicht gering schätzen, wie Diego de Saavedra Fajardo 1640 in seiner „Idea de un principe político christiano“ mahnte8. Es gehörte tatsächlich viel Phantasie dazu, um von dem Sinn der Liturgie und der Zeremonien um den Thron ganz und gar ergriffen zu sein. Die dafür erforderlichen Kräfte ließen im späteren 18. Jahrhundert allmählich nach, je mehr die Natur gefeiert wurde, von der sich der gezierte, unnatürliche Höfling allzu weit entfernt habe und worüber er seine wichtigste Aufgabe verfehlte, ein wahrer Mensch, ein homo vere humanus zu werden. Das Ewige mit seiner schönen Gesetzmäßigkeit sollte nun die Natur, die Stiefmutter des Menschen, wie man bislang behauptete, bereithalten. Hieß es früher, der Mensch müsse sich von der Natur lösen und ihre wie seine natürlichen Schwächen überwinden, so wurde er nun dazu ermuntert, authentisch, ganz menschlich, zu sein und den Geboten seiner ureigenen Natur zu folgen. Die Renaturalisierung des Menschen, der bislang als roher Diamant geschliffen werden musste, damit er überhaupt strahlen könne, revolutionierte die Höfe und die adeligen Lebensformen. Die Natur aufgrund natürlicher Gesetze galt auf einmal auch als vernünftig und die Vernunft als ihr Zwilling. Der Staat sollte demgemäß vernünftig und also menschlich und natürlich werden, eingerichtet zum Wohle des Menschen, damit dieser unter staatlichem Schutze zu allgemeiner Menschlichkeit finde, indem er sich zum wahren Menschen bilde. Der Staat, der Rechtsstaat, der Gesetzesstaat und bald der Verfassungsstaat drängten sich als große Abstraktionen vor. Der Monarch wurde zum Staatsorgan, manche sprachen auch schon um 1815 vom Staatschef. Die Souveränität wechselte von der Krone zum Staat. Aus einer anschaulichen Idee, auf 7  José Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen [1930], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. III, Stuttgart 1978, 103. 8  Diego de Saavedra Fajardo, Idea de un principe político christiano, representada en cien empresas [1640], Madrid 1946, 199.



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eine Person angewiesen, um erscheinen zu können, wurde eine unpersönliche Abstraktion, die nur über Gedanken im Wortsinne verständlich gemacht werden konnte. An die Stelle anschaulicher, bildhafter Wahrheiten traten blutleere rechtsphilosophische Begriffe, Professorenideen, die Juan Huarte de San Ina einst gefürchtet hatte und die Bismarck verabscheute. Im Rechtsstaat und Verfassungsstaat überwölbt vom Kulturstaat kann man leben, aber keiner vermag gelehrten Abstraktionen mit seiner Person zu einer gewissen Ansehnlichkeit zu verhelfen. Die revolutionäre Republik in Frankreich stürzte ab dem Herbst 1793 in ziemliche Verlegenheit, als sie auf repräsentative Anschaulichkeit nicht verzichten wollte. Die Vernunft, der Quell des Vernunftstaates, der jeden in seiner natürlichen Würde als Mensch schützt, ließ sich, wie Schiller vermutete, denken, aber nicht abbilden oder in Bildern erläutern9. Konsequente Revolutionäre bekannten sich zur Bilderfeindlichkeit, um die erhabenen Ideen nicht zu verunreinigen. Aus gutem Grund: Sobald die Revolution versuchte, über Bilder das revolutionäre Volk zu erziehen und über sich selbst aufzuklären oder die Revolution zu feiern, geriet sie unweigerlich in die Abhängigkeit der Formen monarchischer und kirchlicher Repräsentation10. Eine verinnerlichte Menschlichkeit, die sich in Empfindsamkeit und zärtlicher Nächstenliebe vernünftiger Humanisten mitteilt, wird unsichtbar – wie die gestaltlose Kirche des Protestantismus – in ihrem inneren Reich dauernd bewegter Gefühle. Diese weiten Räume unermesslicher menschlicher Fülle entziehen sich jeder Organisation und Institution. Das allen Erscheinungen überlegene Innere entwertetet die äußeren Formen als Äußerlichkeiten, als bloßen Schmuck oder überflüssige Schnörkeln, die nur ablenken von Natur und Wahrheit und dem natürlich-wahren Menschen. Solche humanistische Seelenschönheit ließ sich mühelos mit den Herzensergießungen der Stillen im Lande und der städtischen Pietisten vereinbaren. In Preußen war der Pietismus eine Macht, gar nicht so fern dem enthusiastischen Humanismus und seiner Bildung zu allgemeiner Menschlichkeit. Die so gebildeten Bürger und Menschen veredeln den Staat und dessen Einrichtungen mit ihrer Sittlichkeit, die tätig werden möchte, um kultivierend und befreiend das äußere Leben zu durchdringen. Der Kulturprotestantismus versöhnte im Kulturstaat das übermächtige innere mit dem notwendigen äußerlichen Reich einer gemeinsamen Weltvernunft. Den preußischen Königen und Prinzen fiel es nicht schwer, sich den Wellen gemütvoller Rationalität anzuvertrauen, da sie fast alle auf eine poetisch beschwingte Weise fromm waren, immer bereit, auf die Stimme 9  Friedrich Schiller: Über Anmut und Würde [1793], in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 5, München 1959, 439. 10  Lynn Hunt, Symbole der Macht – Macht der Symbole, Frankfurt am Main, 1989, 110 f.

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des Herzens zu achten, in der Gott in menschlicher Sprache redet. Diese Innerlichkeit fühlte sich in Eintracht mit der natürlichen Vernunft und dem von ihr geprägten Vernunftstaat. Die seit dem kaiserlichen Rom immer beschworene Bestimmung des Monarchen, sich im Dienst für das Allgemeinwohl zu verzehren, ließ sich umstandslos mit der Formel vom ersten Diener des Staates vereinbaren. Dieses Dienenwollen und Dienensollen der Monarchen vollendete sich im Sinne der neuen Humanität im menschlichen Regiment gekrönter Menschen. Sind Herrscher solche Menschenfreunde, dann genügen sie den höchsten Aufgaben, wie Jean Paul versicherte, „daß Fürsten mit keinen Nebenkünsten, so wie die alten Statuen mit keinen Farben, geschmückt zu sein brauchen“11. Aber Schillers Schulkamerad aus Stuttgart, der Oberst Christian Karl Ludwig von Massenbach, lange in preußischen Diensten, mochte sich nicht mit einer Dienstfertigkeit ohne Anmut zufrieden geben. Er warnte den preußischen Kronprinzen und späteren König Friedrich Wilhelm IV. in einer ihm gewidmeten Rede 1817: „Wie jeder Mensch, so geht der Fürst unter, wenn ihn nicht das Ideal des Großen, Schönen, Herrlichen auf den Schwingen des Adlers emporträgt“12. Sein Herrscherideal hängt mit der ästhetischen Erziehung in Schillers Sinne zusammen. Sie allein macht frei und souverän. Sie allein erlaubt es jedem, ein wahrer Sonnenkönig zu werden als souveräne Sonne seines Sittentages. Dahin gelangt wie jeder Mensch auch ein König nur über das Schöne. Die Musik erfüllt die Seele mit erhabenen Empfindungen für das Große und mit süßen Gefühlen des Mitleids, die Schaubühne leistet gleiches mit bewegenden, rührenden Dramen, wie überhaupt die Poesie aller Völker die Phantasie der Fürsten dauernd beschäftigen soll, um durch das Studium der Sprachen in den Geist der Völker einzudringen und, mit ihm vertraut, seine Möglichkeiten im Konzert der Mächte besser zu verstehen. Dieser schwäbische Idealist erhob eine Bemerkung Gneisenaus: auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet, zum anspruchsvollen Programm der Humanisierung des Fürsten durch Kunst und Wissenschaft13. Die wirklich königliche Kunst, die alle Talente des Monarchen als vollkommenen Menschen aufleuchten lässt, ist nicht mehr die Architektur, sondern die Beredsamkeit, mit deren Hilfe er Menschen im Staat zu einer Gemeinschaft vereint, die nach dem Wahren, Guten strebt, das des Schönen bedarf, will es herzbezwingend wirken. Werden die anschaulichen Wahrheiten und Bilder in den Hintergrund gedrängt und gewinnen die Gedanken die 11  Jean

Paul, Sämtliche Werke in vier Bänden, Bd. 3, Paris 1843, 469. nach Wilhelm Münch, Gedanken über Fürstenerziehung aus Alter und Neuer Zeit, München 1909, 209. 13  Raymon Aron, Clausewitz. Den Krieg denken, Berlin 1980, 594. 12  Zit.



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Obermacht, empfängt unweigerlich die erklärende Rede eine ganz neue öffentliche Funktion. Es handelt sich bei ihr nicht mehr um die feierliche Prunkrede mit ihren rhetorischen Schnörkeln und Ornamenten zu Ehren des Herrschers. Der Monarch redet nun selber und tritt als öffentlicher Sinnstifter auf. Früher ließ der Monarch Symbole und Allegorien für sich reden, jetzt soll er unmittelbar als eindrucksvolle Persönlichkeit seinem Amt einen besonderen, individuellen, eben menschlichen Charakter verleihen. Das hatte nichts mehr mit der herkömmlichen Repräsentation der Majestät zu tun, die dem Typos galt, der auf den Topos angewiesen war, auf Redefiguren, und Bilder, die seit Jahrhundert gebraucht wurden und damit die Dauer einer überpersönlichen Ordnung legitimierten. Jetzt sollte das zufällige, gebildete Individuum das Königtum rechtfertigen. Die spätere Kaiserin, die Königin Augusta – übrigens perfekt in der Kunst der Repräsentation – redete zuweilen wie jedes bildungsbürgerliche Individuum: „Die Aufgabe jeder Erziehung ist und bleibt, den Menschen dem Menschen entgegen zu bilden, und der Mensch in dieser höchsten Auffassung des Ausdrucks tut in jetziger Zeit in den fürstlichen Häusern Not, da der persönliche Wert eine Hauptstütze ihrer Macht geworden ist“14. Solche Versuche, die Monarchie zu modernisieren, erwiesen sich bald als fragwürdig. Sie überforderten die Monarchen, die statt zu „Naturen“ zu deren Gegensatz wurden: zu „problematischen Naturen“, die Goethe in Dichtung und Wahrheit näher charakterisierte: „Problematische Naturen sind die Menschen, welche keiner Lage gewachsen sind, in der sie sich befinden, und denen keine genug tut; daraus entsteht der ungeheure Widerstreit, der das Leben ohne Genuss verzehrt“15. Es fiel den belesenen, empfindsamen „Kulturmenschen“ unter den Prinzen und Königen immer schwerer, die individuelle Privatperson mit der öffentlichen harmonisch zu verbinden. Darin äußerte sich das typische Dilemma in den nachrevolutionären Epochen: die drei Personen, den Schöngeist, den Berufsmenschen als Offizier und die Hoheit in einer Person, die auch noch ein ausgeprägtes Individuum sein sollte, miteinander zu versöhnen. Auch stärkere Naturen als Friedrich Wilhelm IV., Friedrich III. oder Wilhelm II. wären überfordert gewesen, dieser Dreifaltigkeit heterogener Lebensformen zu genügen, ohne ihr Ich zu zersplittern. Im Zeitalter des Interessanten konnte es daher nicht ausbleiben, das die Monarchen und Prinzen „interessant“ wurden. Ein König vor der Revolution, der als interessant auffiel, hatte sein Amt nicht recht verstanden, mehr eine Idee als ein Mensch zu sein. Seit ihrer Vermenschlichung entdeckten Fürsten hingegen die Wonnen der Privatheit und der Gewöhnlichkeit. Das war nicht nach Franz Herre, Kaiser Wilhelm I. Der letzte Preuße, Köln 1980, 147. Wolfgang Goethe, Maximen und Reflexionen [1833], in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 17, München 1991, 742. 14  Zit.

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weiter verwunderlich. Wenn zunehmend das Religiöse zur Privatangelegenheit erklärt wurde, dann wurde im Gegenzug alsbald alles Private heilig, das Eigentum und vor allem der Mensch in seinem Eigen Tum. Jetzt kam es zur allmählichen Spaltung von privat und öffentlich mitten in der einen und möglichst in sich ruhenden Person. Die Fürsten hofften in der Liebesheirat, in ungetrübter Häuslichkeit, im Kreis der Verwandten und Freunden wie alle sentimentalen Gemütsmenschen so etwas wie Glück zu finden. Friedrich Wilhelm III. und Luise, die Königin seines Herzens, repräsentierten nicht so sehr die Majestät, die an der Krone haftet, als die Majestät der Liebe und herzlichen Eintracht, welche der Familie ihren heiligen Charakter verleiht. Das Hohe Paar adelte die Familie überhaupt zur Heiligen Familie und trat ganz bewusst als Landesvater und Landesmutter auf, ihre „Nationen“ wie einen weiten Familienverband anführend. Die Schlösser in Potsdam und Berlin mit ihrem unpersönlichen Prunk blieben ihnen unbehaglich. Ihre schönsten Zeiten verbrachten sie draußen in einem Gutshof in Paretz im Einklang mit der Natur und den natürlichen Menschen auf dem Lande. Sie schufen sich eine Idylle mit Reminiszenzen aus Vergils „Eklogen“ und Goethes „Hermann und Dorothea“. Dieses ungekünstelte Leben sollte allerdings nicht mit Bürgerlichkeit verwechselt werden. Solch raffiniert schlichtes und dennoch adeliges Landleben ergab sich aus ästhetisch-literarischen Verspieltheiten, die wie der modische Landschaftspark als ideales Reich der Freundschaft, der zarten Gefühle und feinen Stimmungen ein Gegenentwurf zur rohen Natur und dem Lärm draußen in der Welt sein sollte. Einfachheit sucht der elegante Weltmann, um sich von „Europens übertünchter Höflichkeit“16 zu erholen. Friedrich Wilhelm III. oder Wilhelm I. achteten in ihren komfortablen Stadtwohnungen in Berlin Unter den Linden unbedingt auf die Regeln des guten Geschmackes, denen gerade große Herren unterworfen sind. Bei der Einrichtung ihrer im geschmacklichen Sinne repräsentativen Räume, bemühten sie sich, einen bewusst offiziellen, repräsentativen Charakter im früheren Sinn mit sinnreichen Allegorien, Bildern und Symbolen zu vermeiden17. Das Palais war trotz einiger dienstlicher Kabinette eine Sphäre der Intimität und nobler Geselligkeit, kein Palast und öffentlicher Raum. Selbst wenn Könige und Kaiser dort festlich empfangen wurden, bewegten sie sich fast ausschließlich im Familien- und Freundeskreis. Zahllose Bilder, Photographien, 16  Johann Gottfried Seume, Der Wilde [vor 1793], in: ders., Werke, Bd. 2, Berlin 1993, 478–481, hier 478. 17  Helmut Börsch-Supan, Wohnungen preußischer Könige im 19. Jahrhundert, in: Hof, Kultur und Politik im 19. Jahrhundert, hrsg. v. Karl Ferdinand Werner (Anm. 1), 99–120; Helmut Engel, Das Haus des Deutschen Kaisers. Das „alte Palais“ Unter den Linden, Berlin 2004.



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Statuen oder zufällige Erinnerungsstücke machten diese Seelenräume zu einem musée sentimentale, zur Andachtsstätte dankbarer Anhänglichkeit an nahe und ferne Vertraute. Seit der Revolution und dem Angriff auf die Monarchen und die monarchische Idee begannen die Fürsten damit, zu reisen, Verwandte zu besuchen, Freundschaft mit Cousinen und Onkeln zu schließen. Sie trafen sich in ihren Schlössern oder bequemen Stadthäusern, noch lieber in Kurorten. Dort wohnten sie in Marienbad, Teplitz, Karlsbad oder in Baden-Baden in sehr beengten, kleinen Wohnungen wie reisende Studenten und genossen den improvisierten Lebensstil, auf den sie gar nicht mehr verzichten wollten. Später stiegen sie in den Palasthotels ab, die überraschende Annehmlichkeiten boten, die sie in ihren Schlössern gar nicht kannten. Diese Beweglichkeit und Unübersichtlichkeit brachte Prinzen und Fürsten mit allen möglichen Leuten aus allen Kreisen zusammen. Das Reisen und die zwanglosen Bekanntschaften wirkten egalisierend. Kunstfreunde fanden sich ohne strenge Rücksicht auf die unterschiedlichen Milieus; Bildung und Enthusiasmus für das Schöne vereinten und vereinheitlichten. Das hatte unvermeidlich Folgen auch für die erotischen Neigungen oder Leidenschaften, da die Liebe Standesschranken überwindet und nicht bereit ist, sich von herzlosen Rücksichten einengen zu lassen. Daher kam es immer häufiger zu morganatischen Ehen, obschon sie weiterhin als Zeichen von Disziplinlosigkeit galten. Doch die Toleranz wuchs, wenn Könige wie Friedrich Wilhelm III. und sein Vetter König Wilhelm I. der Niederlande ihren Launen bei einer zweiten Ehe nachgaben, weil des Alleinseins überdrüssig. Häufig unterwegs entdeckten die Fürstlichkeiten die hübschen Abenteuer beim Einkaufen in unterschiedlichsten Geschäften. Sie schlenderten durch Gassen und Straßen, saßen anschließend in Kaffeehäusern und Weinstuben, ohne Leibwächter in ihrer Nähe. Es galt noch als ausgesprochen unelegant, die eigene Kutsche oder die eines Besuches mit militärischen Eskorten zu versehen wie einen Transport von Strafgefangenen. Auf Reisen kleideten sich die Prinzen und Fürsten nach der jeweiligen Mode. Sie bewegten sich als „Zivilisten“ oder Privatleute, oft genug auch Inkognito, um zeremoniellen Zwängen ausweichen zu können. Manche scheinbar privaten Eigenschaften waren unerlässlich für einen eleganten Auftritt in der Öffentlichkeit: vorzüglich zu tanzen und zu reiten und unverkrampft in mehreren Sprachen auch mit völlig Unbekannten ein Gespräch zu führen. Literarische, wissenschaftliche und musikalische Talente zu pflegen, bildete die Voraussetzung dafür, auch weiterhin als aufgeschlossener Mäzen Kunst und Wissenschaft zu fördern. Jeder preußische König und die meisten unter den Prinzen frönten poetischen oder historischen Neigungen, die sie dazu befähigten, mit Künstlern oder Gelehrten sachkundig zu debattieren. Friedrich Wilhelm III. verblüffte Theologen mit seinen breiten Kenntnissen in der Liturgiegeschichte der Kirche seit der Antike. Wie die

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meisten Hohenzollern beherrschte er die musikalischen Regeln so weit, um konventionelle Stücke oder Märsche korrekt verfertigen zu können. Wilhelm I. wird immer nur als schlichter Soldat von den Historikern geschildert. Doch er verstand genug von Architektur, um als Bauherr seine Ideen durchzusetzen. Er verfügte über einen geschulten Geschmack in Fragen der Inneneinrichtung. Schloss Babelsberg und das Palais Unter den Linden bildeten einen sehr persönlichen, also individualisierten Rahmen für familiäres Treiben und gesellige Zusammenkünfte mit Professoren, Künstlern oder Aris­ tokraten. Politik durfte in den Gesprächen nicht berührt werden. Von der ­Orchestermusik verstand Wilhelm I. nichts. Sie war ihm ein unzugängliches Abrakadabra im Gegensatz zu seiner Frau Auguste oder später Augusta. Aber im Königlichen Opernhaus fühlte sich der leidenschaftliche Melomane ganz zu Haus und schämte sich in der Öffentlichkeit überhaupt nicht, von Spontini, Rossini, Donizetti, Bellini oder später noch von Verdi bis zu Tränen gerührt worden zu sein. Er konnte sehr ärgerlich werden, wenn die Berliner oder die Musikjournalisten „seinen“ Sängern nicht genug Beifall spendeten. Alle preußischen Könige konnten sich sehr persönlich und gewandt in amtlichen Memoranden und im dienstlichen Verkehr ausdrücken, waren brillante Redner und liebenswürdige Briefschreiber. Friedrich Wilhelm IV., das Originalgenie auf allen Gebieten, ein gekrönter uomo universale oder im gut preußischen, neuhumanistischen Sinn umfassend gebildet, gefiel sich in Briefen an Freunden in einer witzig-stilisierten Herzlichkeit oder sehr preziösen Gemütlichkeit, fern jeder gewöhnlichen oder bürgerlichen Mitmenschlichkeit. Gerade um sich von den Bürgern zu unterscheiden, spielten die preußischen Prinzen gerne mit dem genialen Jargon der Berliner Straßenjungen oder Gören und gefielen sich in einer vor allem sie amüsierenden Geheimsprache, die fernere oder frisch angeheirate Verwandte erst einmal verdrießlich stimmte, weil sie sich im Gespräch ausgeschlossen fühlten. Prinzen, die als Menschen auftraten und als solche auch geschätzt wurden, wollten aber unter keinen Umständen mit Bürgern verwechselt werden, deren schlichte Sitten sie lächerlich gemacht hätte. Als peinliche Figuren durften sie nicht auffallen, um nicht das sogenannte Publikum zu enttäuschen. Das freute sich an den königlichen Menschen, doch sollten sie auch nicht allzu menschlich sein, nicht wie Du und Ich oder Hinz und Kunz. Das Volk und die Bürger, die arbeitsamen Stände, wollten nicht um die schöne höfische Repräsentation gebracht werden, ernüchtert vom vernünftigen Verwaltungsstaat, bald als ehernes Gehäuse begriffen, in dem jeder funktionieren muss. Die Monarchie brachte Poesie in die Routine des geschäftigen Lebens, wie Gneisenau vermutet hatte. Die Repräsentation der Majestät war nie poetisch, obschon immer bedeutungsvoll gewesen. Die äußeren Formen der höfischen Epochen vom 13. Jahrhundert bis zur Großen Revolution konnten sich wandeln, aber es waren immer die gleichen Anschauungen, die in jeweils anderer Form



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sich offenbarten. Der allegorische, mythologische und symbolische Apparat, der Vorrat an immer gleichen Formeln, wurde unermüdlich neu variiert, um unerwartete Nuancen bereichert. Eine Institution, die ein Abbild des Ewigen, einer immer gültigen Ordnung, sein sollte, konnte nicht mit jeweils wechselnden, originellen Ideen legitimiert werden. Der Typos verlangt nach dem Topos. Doch seit der Mitte des 18. Jahrhunderts büßten die hergebrachten Vorstellungen ihre bindende Kraft ein. Der Heroe und Heilige des überlieferten Herrscherideals wich vor dem Menschen, dem natürlich-vernünftigen, zurück. Die Fürsten und Aristokraten wurden ihrer repräsentativen Rollen überdrüssig, weil sie gar nicht mehr so sicher wussten, was sie überhaupt repräsentierten: die Majestät des Königs aller Könige, die juristische Idee der staatlichen Souveränität oder den großen Menschen, der zum Herrschen berechtigt ist, weil er sich selbst beherrscht. Darüber wurde die Kunst der Repräsentation, auf die doch nicht verzichtet werden konnte, zu einer anstrengenden Aufgabe. Da die überzeitlichen Glaubenssätze zum Gottesgnadentum und die sozialethische Einheit der Kardinaltugenden und des heroischen Eifers, über das allzu Menschliche zu triumphieren, nicht mehr recht die Aristokraten und Könige überzeugte, stellte sich zum ersten Mal eine Stilfrage in der Kunst, die mit all ihren Richtungen von der der höfischen Repräsentation abhing. Eine freie Kunst hatte es ja nie gegeben. Die Kunst war Auftragskunst. Kirche und Schloss waren die beiden großen Bedeutungsträger, um die sich alle Künste gruppierten. Sobald Ideen, welche jahrhundertelang die öffentliche Kunst in ihren Dienst genommen hatten, nur noch halbherzig gebilligt wurden, erübrigte sich die Pflicht, sie anschaulich zu machen. „Der Schein, was ist er, dem das Wesen fehle?  /  Das Wesen wär’ es, wenn es nicht erschienen?“18 Mit dieser Frage präzisierte Goethe in seinem Revolutionsdrama „Die natürliche Tochter“ 1803 die damals durch die Revolution offenbar gewordene Spannung zwischen Idee und Gestalt, Wesen und Erscheinung. Werden die Ideale nur halbherzig als Konventionen noch hingenommen, dann wandeln sich deren Formen zu gefälligen Dekorationen, beliebig und unverbindlich, eben zum wesenlosen Scheine. Die Revolution bewirkte einen umfassenden Kulturbruch. Sie richtete sich nicht gegen die Missbräuche. Sie war der gewaltsame Versuch, die Bräuche überhaupt zu ändern, um zu einer anderen, wohlproportionierten Ordnung zu gelangen. Sie folgte einem Traum von klassischer Regelmäßigkeit und Harmonie. Die Einfachheit der Natur, die Zeitlosigkeit ihrer Gesetze und die heitere Geometrie vernünftiger, der Natur abgeschauter Proportionen sollten zu einem neuen Stil verhelfen, der das Unabänderliche und Beständige sinnfällig machte. Die griechisch-römische Klassik schien 18  Johann Wolfgang Goethe, Die Natürliche Tochter [1803], in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6.1, München 1986, 272.

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dafür das angemessene Vorbild zu sein, um zu würdigen Formen zu gelangen, die unberührt vom zufälligen Schmuck der wechselnden Epochen das Dauernde in seiner Majestät und Erhabenheit zum alle Sinne ergreifenden Erlebnis machen19. Die Revolution hatte die Monarchie als etwas durch die Geschichte Widerlegtes und Überlebtes umgestürzt. Fürsten und Aristokraten versuchten, die Geschichte zu überlisten. Sie befreundeten sich mit der Klassischen Schönheit, ihrer Einfachheit und stillen Größe, durchaus in der Absicht an, mit ihr im Bündnis die Krone und deren Institutionen eindrucksvoll als stabile Elemente den revolutionären Turbulenzen gegenüber zu stellen. Die Monarchen schlugen mit mannigfachen Klassizismen einen ästhetischen Weg ein. Sie beteiligten sich auf ihre Art an der fortschreitenden Säkularisierung der Schönheit, die nichts mehr mit Gott zu tun hatte, sondern sich zum Kunstschönen reinigte, frei von sämtlichen künstlerisch unfeinen Beimischungen. Sie begannen damit, sich selbst, die Monarchie und die Kunst zu ästhetisieren. Ein Künstler wie Karl Friedrich Schinkel konnte nach seinen Vorstellungen oder in Übereinstimmung mit dem Geschmack Friedrich Wilhelms IV. oder des Prinzen Carl von Preußen fürstliche Wohnsitze als rein ästhetischdekorative Aufgabe auffassen. Das Römische Bad und Charlottenhof im Garten von Sanssouci, Schloss Klein-Glienicke oder das Gartenhaus Friedrich Wilhelms III. im Charlottenburger Schlosspark waren aparte Anlagen, die mit römischen Erinnerungen spielten, doch sie könnten für jeden adeligen Herren entworfen sein. Sie künden höchstens von der vornehmen Lebensart ihrer Bewohner, die als Privatleute gerade nicht wie auf dem Präsentierteller für andere da sein wollten, sondern die komfortablen Innenräume als Veräußerung ihres innerlichen Seelenraumes verstanden. Offizieller gab sich der preußische Klassizismus in öffentlichen, königlichen Bauten: im Schauspielhaus und im Alten Museum Schinkels. Dort gab er der erhabenen Idee des Neuhumanismus einen angemessenen Ausdruck, dass Kunst und das Kunstschöne zur inneren Freiheit führen, die dazu berechtigt, befreiend und bildend im öffentlichen Leben zu wirken. Der preußische Klassizismus entstand keineswegs als preußischer Stil, ihn ermöglichten sublime Phantasien belesener Menschenfreunde, die danach trachteten, mit Poesie der Prosa im alltäglichen Leben einigen Schmuck zu verleihen. Die klassizistischen Formeln konnten allerdings das Gefühl für die Vergänglichkeit in der Welt als Geschichte nicht vollständig verdrängen. Denn die Antike ließ sich gar nicht von der Spätantike trennen und der fürchterlichsten Katastrophe vor der Französischen Revolution: dem Untergang des Römischen Reichs. Die Französische Revolution hatte im Namen der Ge19  Hugh

Honour, Neo-Classicism, London 1984, 101 f.



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schichte die Monarchie als historischen Ballast behandelt und abgeschüttelt. Die Monarchien gehörten von nun an zur Alten Welt, die überwunden werden musste, um die Welt insgesamt verjüngen. Adel und Könige erinnerten unvermeidlich an das Vergangene und Gestrige. Doch daraus konnte ein Vorteil gewonnen werden. Die Macht der Geschichte konnte auch in dem Sinne gedeutet werden, dass alle gedachten und gemachten Staaten auf Sand gebaut sind, weil stabile Ordnungen wachsen und werden, während die künstlichen, unhistorischen Gebilde, wie sie die Revolution hervorbrachte, so rasch zerfallen, wie sie entstanden. Die Historizität der Monarchien, ihr Alter, ihre lange Dauer konnten auf diese Art als besonderer Vorzug gewürdigt werden, weil die Geschichte gerade von ihrer Lebenskraft sprach. Die Historisierung der Geschichte zu eigenartigen Lebensepochen, die miteinander zusammenhängen, führte zu einer bewussten Historisierung der Monarchie. Sie erneuerte so oft das allgemeine Leben, weil sie als lebendige Macht nie mit ihren Ursprüngen brach, sondern sich entwickelte und wandelte, ohne sich von ihrem Wurzelgrund zu lösen. Das Mittelalter, die ritterliche Zeit, in der ein christlicher Adel deutscher Nation zwischen Volk und König vermittelte, entdeckten alle Dynastien für sich, um mit dem feierlichen Hinweis ihrer fernen Ursprünge zu bekunden, keine lästige Antiquität zu sein. Sie nannten sich jetzt stolz nach ihren Stammburgen Hohenzollern, Wittelsbacher oder Habsburger, um ihr Alter hervorzuheben und daran zu erinnern, dass Preußen, Bayern oder Österreich Gebilde sind, von diesen ritterlichen Familien geschaffen. Der gotische Stil schien nun besonders geeignet, die historische Würde und Größe der Königshäuser mit ihren Kronländern zu verdeutlichen. Der gotische Charakter von Kirche und königlichem Staat, von den Revolutionären als Skandal angeprangert, durfte nun polemisch gegen die Umsturzpartei gerichtet deren Überlegenheit bezeugen. Die neugotischen Burgschlösser der preußischen Könige wie Stolzenfels am Rhein, Burg Hohenzollern in Schwaben oder Babelsberg in der Nähe Potsdams sind liebenswürdige Phantasien über gotische Themen, beziehungsreiche Schmuckstücke einer die Vergangenheiten romantisierenden Absicht, Poesie, für moderne Nervöse von Nervösen ersonnen. Es ging gar nicht so sehr um Geschichte, es ging um Anknüpfungspunkte für historisierende Assoziationen fürstlicher Anempfindungsakrobaten, die sich stimmungsvoll in die Vorwelt ihrer Ahnen versetzen möchten und dabei hoffen, Ruhe im Fluss der Zeit zu gewinnen. Die fremd gewordene Vergangenheit wird für den modernen Fremdling zu einem besonderen Reiz, um das flüchtige Dasein wenigstens sentimentalisch im Schönen, in der monumentalen Vorbildlichkeit historischer Erinnerung zu befestigen, ohne den Komfort der allerneuesten Neuzeit dabei zu vermissen. Die Schönheit wird von allen historischen Bedingungen gerade mit deren verspielten Zitaten abgelöst, sie wird in beliebiger kunstschöner Gestalt zum Bild des Ewigen, wie die Natur

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in ihren wechselnden, doch dauerhaften Formen20. Die Ästhetisierung der Welt, der Vergangenheit, der eigenen hinfälligen Existenz ist der einzige Anker, der Halt gewährt. Eine angeblich nüchterne, ganz unpoetische Soldatennatur wie Wilhelm I. schuf sich in seinem englisch-gotischen Babelsberg, das nichts mit Brandenburg oder Preußen zu tun hat, seine Fluchtburg, die ihm die Illusion gewährte, im Schönen den trostlosen Vergänglichkeiten entrückt zu sein. Sein angeheirateter Neffe Ludwig II. zog die überraschendsten Konsequenzen aus dieser sehr privaten Ästhetisierung der Monarchie. Mit Kostümen und Bildungszierrat aus literarischen Assoziationskabinetten schmückte sich jetzt die ästhetische und sehr individualisierte Monarchie. Noch im späten 18. Jahrhundert konnten Fürsten als neuer Herkules oder Theseus gefeiert werden. Die alten Heroen und Götter wurden als Prototypen königlicher Herrschaft weiterhin gebraucht, um mit mythischem Personal, längst zu christlichen Tugendhelden umgetauft, die Beständigkeit der göttlichen Weltordnung festlich zu feiern. Jetzt verblassten die olympischen Götter zu reinem Bildungsgut. In zwei großen, letzten höfischen Festen in Berlin und Potsdam, die auch sehr politische Demonstrationen der preußisch-russischen Freundschaft, ja Einigkeit, waren, traten sie gar nicht mehr auf. Am 27.  Januar 1821 gab es zu Ehren des russischen Kaiserpaars, Nikolaus und Alexandra Feodorowna, der früheren Charlotte von Preußen, im Berliner Schloss eine Folge von lebenden Bildern aus den orientalischen Romanzen des Iren Thomas Moore, die den langen Weg der persischen Prinzessin Lalla Rukh zu dem König von Bukhara vergegenwärtigten, der für sie als Gemahl ausgewählt worden war. Die von Wilhelm Hensel entworfenen Arrangements veranschaulichten zur Musik Gasparo Spontinis die unberechenbare Macht der Liebe über die Herzen, bis endlich das füreinander bestimmte Paar begeistert durch die Liebe erfährt, wirklich füreinander bestimmt zu sein, wie die Stimmen ihrer Herzen beiden versicherten. Im orientalischen Kostüm wird dabei die Standes- und Vernunftehe zwischen den beiden Königkindern Nikolaus und Charlotte zum rührenden Beispiel der geglückten romantischen Liebesheirat stilisiert. Der Orient kam gerade in Mode, Thomas Moores Versepos, 1817 erschienen, war ein europäischer Erfolg, es wurde 1822 von Friedrich de la Motte Foucqué ins Deutsche übersetzt und fand sofort viele hingerissene Leser. Die Ehe als Ergebnis freier Wahl gleich gestimmter Seelen, die ohne einander nicht mehr sein können, beschäftigte schon seit der Epoche der Empfindsamkeit all jene, die nach Liebe schmachteten. Prinz Friedrich Wilhelm, der spätere König, war in der Familie der zärtlichste Orientalist. Seine ländliche 20  Eberhard Straub, Repraesentatio Maiestatis, in: Staatsrepraesentation, hrsg. v. Jörg-Dieter Gauger und Justin Stagl, Berlin 1992, 75–88, hier 83.



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Villa Charlottenhof nannte er sein Siam. Kurz nach den Befreiungskriegen begann er einen Briefroman für seine Schwester Charlotte, die „Königin von Borneo“21. Der Dichter de la Motte Foucqué entzückte mit seinen Ritteromanen nicht nur die Prinzen und Prinzessinnen in Berlin. Die mittelalterlichen Turnierhelden und Kämpfer für alles Schöne und Wahre glichen trotz der mittelalterlichen Tracht Potsdamer Offizieren. Kurzum, dies Fest während eines Staats- und Verwandtenbesuches gehörte zur Feier der modischen Innerlichkeit, ungeachtet der russischen und preußischen politischen Allianz. Nicht viel anders verhält es sich mit dem großen Ritterspiel um den Zauber der weißen Rose, das am 13. Juli 1829 vor und im Neuen Palais in Potsdam stattfand. Auch dieses letzte adlige Carrousel oder Kampfspiel zu Pferde in Europa, wiederum um der russischen Kaiserin zu huldigen, gefiel vor allem als exquisites Kostümstück22. Die weiße Rose hatte die Prinzessin unter dem Eindruck von de la Motte Foucqués 1812 veröffentlichten Roman „Der Zauberring“ zu ihrer Lieblingsblume ausgewählt. Sie nannte sich nach einer der adligen Fräulein des Romans Blanchefleur, und diesen Idealnamen legte sie nie ab, ihr Kult mit den weißen Rosen hielt ihn für alle lebendig. Die aufwendige Festfolge von Ritterturnier draußen im Ehrenhof und von Karl Friedrich Schinkel inszenierten lebenden Bildern zu Versen de la Motte Foucqués und anschließendem Ball im Schloss handelte von den Wirkungen der leibhaftigen Weißen Rose, der schönen und großherzigen Kaiserin auf die allem Edlen zugetanen Ritter, auf Feen und gute Geister. Selbst Rübezahl verschreckt keinen, sondern huldigt der Kaiserin beflissen als einem guten Geist, der Glück und Freude spendet. Es wird zwar kurz Moskau im Bild vorgestellt und der Kriegsgöttin Bellona – ein überraschendes klassisches Zitat – wegen der Orientkrise ein Auftritt gewährt, aber Krieg und Frieden sind nur ein Anlass, um die liebliche Rose und den männlichen Lorbeer zu feiern: „sie mehren das Schöne  /  Steigern das Licht und gebären den Glanz“23. Alle Hoffnung, jedes Sehnen der von Prinzen und Aristokraten gespielten Ritter richten sich auf das innere Reich: „Klingt ihr Harfen in lieblichen Tönen,  /  Traget in’s Reich des unendlichen Schönen  /  brünstiger Wünsche melodischen Klang“24. Die öffentliche und politische Wirkung war eine kunstpolitische. Denn die Feste wurden mit aufwendigen Illustrationen publiziert und fanden Anerkennung und Bewunderung. Preußen hatte auf anmutige Weise dokumentiert, wie 21  Friedrich Wilhelm IV., Die Königin von Borneo. Roman, hrsg. v. Frank-Lothar Kroll, Berlin 1997. 22  Gerd H. Zuchold, Der Zauber der Weißen Rose. Das letzte bedeutende Fest am preußischen Hofe. Tradition und Bedeutung, Berlin 2002. 23  Ebd., 60. 24  Ebd., 63.

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Waffen und Kunst sich vereinigen können, um gemeinsam das Lebensfest zu verschönen. Die Poesie schmückt die Throne und ist deren beste Stütze. Solche historischen Prunkstücke vermittelten über die poetischen Zaubereien und den Genuss des gesteigerten Augenblicks hinaus keine weiteren Gewissheiten. Die Geschichte bot Möglichkeiten für überraschende Maskeraden. Diese blieben aber als gefühlvolle Zauber und Märchenspiele nur Theater, weit entfernt vom hohen Sinn des ehemaligen großen Welttheaters. Solche ästhetisierende Historisierung von Königtum und Adel blieb beliebig, sie konnte höchstens vorübergehend die Monarchie stilvoll verzieren. Die Formen notwendiger Repräsentation mussten unweigerlich zum historischen Schauspiel werden, das damals gerade besonders gepflegt wurde. Monarchen und Hofleute fügten sich mannigfachen neuen Ideen oder bloßen Moden, aber sie waren nicht mehr dazu im Stande, neue Riten oder festliche Bräuche zu ersinnen. Sie zehrten vom Erbe. Trotz aller Vereinfachung des höfischen Zeremoniells hielten sie an den herkömmlichen Livreen fest, an Prunkkutschen aus fernen Zeiten, an Krönungsmänteln oder dekorativen Kostümen, um einige festliche oder bedeutende Anlässe luxuriös der banalen und prosaischen Gegenwart zu entrücken. In einer Epoche der historischen Umzüge, in der öffentliche Personen in Talare schlüpften, goldene Amtsketten trugen und Barette aufsetzten, biedere Bürger deutsche Renaissancebürger spielten, Studenten sich wie fahrende Scholaren mittelalterlich verkleideten und alle möglichen Gelegenheiten als Anlass für Maskeraden genutzt wurden, fiel die Monarchie als Kostümstück gar nicht auf. Sie entsprach mit ihrem antiquarischen Flitter den geschmacklichen Bedürfnissen ihrer Zeitgenossen und wirkte deshalb fast modern oder zeitgemäß. Viele sogenannten Traditionen wurden überhaupt erst jetzt erfunden. Der Berliner Hof stand weiterhin im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens. Die Monarchen achteten darauf, mit gediegenem Luxus nicht hinter den übrigen Höfen zurück zu bleiben und regelmäßig auch im Stadtschloss Bälle, Empfänge oder Ordensfeste zu veranstalten. Je älter das Jahrhundert wurde und je demokratischer, desto mehr stieg die Anziehungskraft und das Prestige des Hofes. Übrigens nicht nur in Berlin, auch in Paris während des Zweiten Kaiserreiches oder im London der Kaiserin von Indien. Die Feierlichkeit gemessener Zeremonien, zelebriert von Gestalten in Samt, Seide, Purpur und Hermelin, poetisierten das eherne Gehäuse, in dem sich eine durchrationalisierte, von der Maschine disziplinierte Massengesellschaft einrichtete. Über Hofberichterstattung mit vielen Lithographien, Photographie, zuletzt über den Film, konnten Massen an den prächtigen Ereignissen teilnehmen, ganz abgesehen davon, dass sie als Publikum bei Paraden, Umfahrten, Hochzeiten oder Begräbnissen unentbehrlich waren. Die ästhetisierte Monarchie als Spektakel, als große Oper war ein dauerndes Erfolgsstück. Der Kulissenzauber um Kaiser Wilhelm II. fiel einigen sehr empfindlichen



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Zeitgenossen als Lüge und falscher Pomp auf. Aber wallende Mäntel, Schleppen, historisierende Kostümbälle in alten Schlössern mit Aufzug und Zentralheizung gehörten zu einem ganz modernen Schauspiel, das die Neugierde und Sensationslust, auch den bürgerlichen Snob ergötzte, der eine Einladung ins Schloss erhielt. Die ästhetisierte Monarchie war insofern zeitgemäß25. Die Poesie und der schöne Schein bewahrten wegen ihrer Substanzlosigkeit die Throne lange Zeit vor Einsturzgefahren aus Altersschwäche. Denn Monarchen beherrschten ungeachtet mancher Nervositäten und Verspannungen als problematischen Naturen die Kunst, die Repräsentation zu repräsentieren und für einigen Glanz in der Prosa des neuen, nüchternen Weltzustandes zu sorgen.

25  Eberhard

Straub, Wilhelm II. in der Politik seiner Zeit, Berlin 2008, 228 f.

Zwischen Autokratie und Konstitutionalismus Herrschaftsbegründung und Herrschaftsausübung im späten Zarenreich Von Frank-Lothar Kroll, Chemnitz Um die Mitte des 19. Jahrhunderts schien von allen großen europäischen Monarchien allein das russische Zarentum einer unbeschwerten und unangefochtenen Zukunft entgegenzusehen. In Paris war am 24.  Februar 1848 die immerhin 18-jährige Herrschaft des sogenannten Bürgerkönigs und letzten französischen Königs überhaupt, Louis-Philippe von Orleans, gescheitert und kurz darauf die Republik proklamiert worden. In Wien beugte sich am Abend des 13. März 1848 der von den revolutionären Pariser Ereignissen erschütterte österreichische Staatskanzler Metternich den aufrührerischen Volksmassen und demissionierte; zwei Tage später, am 15. März, erkannte das Haus Habsburg durch kaiserliches Manifest das Recht des Volkes auf politische Mitsprache durch eine parlamentarische Vertretung an und gab damit das monarchische Prinzip faktisch vorerst preis. In Berlin kam es am 18. und 19. März 1848 zur bisher schwersten und demütigendsten Niederlage des preußischen Königtums, das nach blutigen Barrikadenkämpfen vor den Aufständischen kapitulierte und die „lieben Berliner“ um Frieden und Verständigung bat. In München legte König Ludwig I. am 20. März 1848, angesichts allgemeinen Aufruhrs und heftiger Unruhen, die Krone nieder – ein Schritt, dem eine Reihe anderer deutscher Throninhaber folgte: so Großherzog Ludwig II. von Hessen-Darmstadt bereits am 5. März 1848, Herzog Joseph von Sachsen-Altenburg am 30. November 1848 und Kaiser Ferdinand I., der Gütige von Österreich – im Volksmund zuweilen „Gütinand der Fertige“ genannt – am 2. Dezember 1848. Selbst im zutiefst royalistisch gesinnten Königreich Dänemark trotzte im März 1848 eine aufgebrachte Menschenmenge durch Lärm und Tumult vor dem Kopenhagener Schloss dem irenisch gesinnten neuen König Frederik VII., der gerade an seiner altertumswissenschaftlichen Abhandlung „Über den Bau der Riesenbetten in unserer Vorzeit“ arbeitete (erschienen: Kopenhagen 1863) und bei dieser literarischen Unternehmung nur ungern gestört werden wollte, ein eiderdänisches „Märzministerium“ und später, am 5. Juni 1849, ein liberales „Staatsgrundgesetz“ ab, das den absolutistisch regierten dänischen Konglomeratstaat in eine konstitutionelle Monarchie verwandelte und in seinen wesentlichen Bestimmungen bis heute Gültigkeit besitzt.

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Alle diese Turbulenzen des „tollen Jahres“ 1848 / 49, ganz zu schweigen von den kriegerischen Verwicklungen auf der italienischen Halbinsel, schienen einen flächendeckenden Substanzverlust monarchischer Legitimität anzudeuten, ja auf das Ende des dynastischen Europas überhaupt vorauszuweisen. Allein Russland hatte, als einzige der drei konservativen Ostmächte, nicht nur den Stürmen der Revolution von 1848 unbeirrt standgehalten, sondern seinerseits Anfang April 1849 seinen Truppen den Befehl zur Niederschlagung des ungarischen Aufstandes erteilt und dadurch wesentlich zum Sieg der Gegenrevolution im Habsburgerreich beigetragen. Entsprechend groß war das Selbstbewusstsein des damals regierenden Zaren Nikolaus I. gewesen, der eine Zeit lang sogar daran gedacht hatte, sich in die inneren Angelegenheiten des westlichen Nachbarlandes Preußen durch eine direkte, alle revolutionären Händel beendende Militärintervention einzumischen, dabei die preußischen Ostgebiete bis zur Weichsel vorübergehend zu besetzen und den amtierenden Hohenzollernkönig Friedrich Wilhelm IV., seinen Schwager, durch einen Staatsstreich unter Führung von dessen Bruder, des Prinzen Wilhelm, zur Demission zu veranlassen1. Worauf basierte dieses Selbstbewusstsein des russischen Zaren? Was waren die Gründe und Ursachen für die vermeintlich unerschütterliche und unangreifbare Würde seines monarchischen Amtes? Worin lag das – doch offensichtlich – ganz erhebliche legitimatorische Potenzial russischen Herrschertums, das sich, mit mancherlei Abschwächungen zwar, doch letztlich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts weitgehend ungebrochen erhalten hat? War die russische Autokratie eine echte Alternative zum westeuropäischen Modell einer konstitutionellen Monarchie2  – wie dies Nikolaus I., Alexander  III. und, mit ihnen, zahlreiche slavophil gesinnte Verfechter der „russischen Idee“ nicht müde wurden zu behaupten? Oder bot das Regiment der Zaren nur eine Kümmerform unausgefalteter Verfassungsstaatlichkeit, die es schleunigst fortzuentwickeln und englischen, französischen, belgischen oder seit 1849 auch preußischen Vorbildern anzupassen galt3 – wie dies, seit Ver1  Dazu detailliert Uwe Liszkowski, Russland und die Revolution von 1848 / 49. Prinzipien und Interessen, in: Rudolf Jaworski / Robert Luft (Hrsg.), Revolutionen in Ostmitteleuropa. München 1996, 343–369; zuletzt Frank-Lothar Kroll, Staatsräson oder Familieninteresse? Möglichkeiten und Grenzen dynastischer Netzwerkbildung zwischen Preußen und Russland im 19. Jahrhundert, in: FBPG, N. F. 20 (2010), 1–41, hier 22 ff. 2  Zu diesem Aspekt Michael Cherniavsky, Tsar and People. Studies in Russian Myths, New Haven / London 1961, bes. 166 ff., 172 ff., 185 f.; für den Zusammenhang ferner die älteren Studien von Nikolas V. Riasanovsky, Russland und der Westen. Die Lehre der Slawophilen. Studie über eine romantische Ideologie, München 1954, und Andrzej Walicki, The Slavophile Controversy. History of a Conservative Utopia in Nineteenth-Century Russian Thought, Oxford 1975. 3  Vgl. hierzu die noch immer brauchbare „klassische“ Studie von Otto Hoetzsch, Die historischen Grundlagen eines konstitutionellen Lebens in Rußland, in: ders.



Zwischen Autokratie und Konstitutionalismus

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öffentlichung des berühmten Ersten Philosophischen Briefes von Peter Jakovlevič Čaadaev (1794–1856) im Jahr 1836, die russischen „Westler“ und mit ihnen wohl letztlich auch Zar Alexander II., die große Lichtgestalt in der Geschichte Russlands, favorisierten? Diesen Fragen begegnen die folgenden Darlegungen mit dem Versuch einer Antwort, der es nicht zuletzt darauf ankommt, die monarchiegeschichtliche Themenstellung dem Zentralproblem der russischen Geschichte – und übrigens auch der russischen Gegenwart  – zuzuordnen. Dieses Problem gipfelt in der Frage, ob der Zustand Westeuropas für das Schicksal Russlands von vorbildhafter Bedeutung zu sein vermochte, oder ob sich Russlands Selbstverständnis in bewusster Abgrenzung, ja Gegnerschaft zu Europa konstituierte4. Russische Geschichtsdenker und russische Philosophen ringen seit nunmehr fast 200 Jahren um eine Klärung dieser Frage5 – und sie wird auch in den folgenden Darlegungen, mal deutlicher, mal weniger deutlich, immer wieder anklingen. Dabei ist eine zeitlich weiter ausholende Perspektive unumgänglich, denn die im Vergleich zur westlichen Entwicklungsdauer wesentlich länger währende Kontinuität in der Geschichte der russischen Herrscherideologie macht es erforderlich, auch eine primär dem 19. und frühen 20. Jahrhundert geltende Fragestellung in ausgedehnterer Weise historisch rückzuversichern. Dies wird in einem ersten Kapitel (I.) geschehen. Im zweiten Kapitel (II.) gilt der Blick, darauf aufbauend, den Formen und Wandlungen zarischer Selbstlegitimation im 19. Jahrhundert. Ein drittes Kapitel (III.) erörtert die Möglichkeiten und Grenzen des russischen Konstitutionalismus.

(Hrsg.), Beiträge zur russischen Geschichte. Th. Schiemann zum 60. Geburtstag von Freunden und Schülern dargebracht, Berlin 1907, 83–109, sowie den knappen Überblick von Detlef Jena, Zwischen Aufklärung und Industriegesellschaft. Der russische Liberalismus von seinen Anfängen bis zum Jahre 1905, in: JbLibF 4 (1992), 9–32; grundlegend zum russischen „Westlertum“ des 19. Jahrhunderts weiterhin Peter Scheibert, Von Bakunin zu Lenin. Geschichte der russischen revolutionären Ideologien 1840–1895. Bd. 1 (mehr nicht erschienen): Die Formung des radikalen Denkens in der Auseinandersetzung mit deutschem Idealismus und französischem Bürgertum, Leiden 1956, 36–60. 4  Dazu umfassend und mit weiterführender Literatur Frank-Lothar Kroll, Russland und Europa. Historisch-politische Probleme und kulturelle Perspektiven, in: Peter Jurczek / Matthias Niedobitek (Hrsg.), Europäische Forschungsperspektiven. Elemente einer Europawissenschaft, Berlin 2008, 13–58. 5  Vgl. die maßstabsetzenden und weiterhin unentbehrlichen Untersuchungen von Alexander von Schelting, Russland und Europa im russischen Geschichtsdenken, Bern 1948; ders., Russland und der Westen im russischen Geschichtsdenken der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aus dem Nachlass hrsg. und bearb. v. Hans-Joachim Torke, Berlin 1989; ferner wichtig Dieter Groh, Russland und das Selbstverständnis Europas. Ein Beitrag zur europäischen Geistesgeschichte, Neuwied 1961.

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I. In den Zeiten russischer Geschichte, die der verstärkten Kenntnisnahme westlicher Monarchie-Modelle vorangingen, also bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, galt im Zarenreich das Prinzip der Selbstherrschaft, der Autokratie, des samoderžavie, als weithin eingeübte Regierungsmethode6. Gemeinhin dient der Begriff „Moskauer Autokratie“ zur Bezeichnung „einer besonders intensiven Ausprägung monarchischer Herrschaft […], die sich von anderen zeitgenössischen [europäischen] Herrschaftsverhältnissen [durch eine weitaus strengere Handhabung der Krongewalt] unterscheidet“7. Man hat als Grund für diese Differenz zwischen westlicher und östlicher, zwischen europäischer und russischer Herrschaftsauffassung und Herrschaftsausübung mongolischtatarische Einflüsse einerseits8 und byzantinisch-ostkirchliche Traditionen andererseits9 namhaft gemacht. Tatsächlich stammt der Begriff samoderžavie (= Selbstherrschaft) bzw. samoderžec (= Selbstherrscher), der von den Moskauer Großfürsten seit den 1490er Jahren als Titulatur verwendet wurde10, aus Byzanz – wie denn über6  Zur „Frühgeschichte“ russischer Herrscherideologie vgl. in diesem Zusammenhang Manfred Hellmann, Slawisches, insbesondere ostslawisches Herrschertum des Mittelalters (1956). Wieder abgedruckt in: ders., Beiträge zur Geschichte des östlichen Europa im Mittelalter. Gesammelte Aufsätze, Amsterdam 1988, 37–71, und Klaus Zernack, Fürst und Volk in der ostslavischen Frühzeit, in: FOEG 18 (1973), 9–23. 7  So die treffende Definition in der vorzüglichen Studie von Ekkehard Klug, Wie entstand und was war die Moskauer Autokratie?, in: Eckhard Hübner / Ekkehard Klug / Jan Kusber (Hrsg.), Zwischen Christianisierung und Europäisierung. Beiträge zur Geschichte Osteuropas in Mittelalter und Früher Neuzeit. Festschrift für Peter Nitsche zum 65.  Geburtstag, Stuttgart 1988, 91–113, hier 91; vgl. ferner bereits Lothar Dralle, Die Wurzeln der Moskauer Autokratie, in: Herbert Ludat (Hrsg.), Politik, Gesellschaft, Geschichtsschreibung: Festschrift für Frantiček Graus, Köln 1982, 362–379. 8  Aus der Fülle einschlägiger Literatur zu diesem Themenkomplex ragen heraus Irene Neander, Die Bedeutung der Mongolenherrschaft in Rußland (1954). Wieder abgedruckt in: Peter Nitsche (Hrsg.), Die Anfänge des Moskauer Staates, Darmstadt 1977, 340–360; Charles J. Halperin, Russia and the Golden Horde. The Mongol Impact on Medieval Russian History, Bloomington 1985; Jan Kusber, Ende und Auswirkungen der Mongolenherrschaft in Rußland, in: Stephan Conermann / Jan Kusber (Hrsg.), Die Mongolen in Asien und Europa, Frankfurt am Main u. a. 1997, 207–229. 9  Dazu William K. Medlin, Moscow an East Rome. A Political Study of the Relations of Church and State in Muscovite Russia, Genf 1952; Manfred Hellmann, Moskau und Byzanz (1969). Wieder abgedruckt in: ders., Beiträge (Anm. 6), 243–268; Edgar Hösch, Byzanz und die Byzanzidee in der russischen Geschichte, in: Saeculum 20 (1969), 6–17. 10  Dazu speziell Ernst Binner, Zur Datierung des „Samoderžec“ in der russischen Herrschertitulatur, in: Saeculum 20 (1969), 57–68; Marc Szeftel, The Title of Muscovite Monarch up to the end of the Seventeenth Century, in: Canadian Slavic Studies 13 (1979), 59–81, sowie Gustave Alef, The Origins of Muscovite Autocracy. The Age of Ivan III, Berlin 1986, bes. 55–94; grundlegend für die gesamte Fragestellung noch



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haupt manche ideologischen Versatzstücke der Moskauer Autokratie, also der Herrschaftsverfassung des vorpetrinischen Russlands, auf oströmisch-byzantinische Vorbilder verweisen11, was eine deutliche Trennlinie zu weströmischabendländischen Herrschaftskonzeptionen markiert12. Diesem Zusammenhang ist auch die um 1500 entwickelte, lange Zeit nachwirkende und vielfach erörterte13 Ideologie von „Moskau, dem dritten Rom“ einbeschrieben, gemäß derer Russland das letzte und einzig noch verbliebene Reich der Rechtgläubigkeit sei, nachdem alle anderen Imperien, als Folge ihrer vermeintlichen Abkehr vom „echten“ Glauben, verdientermaßen untergegangen seien14. immer die allerdings etwas sperrige Darstellung von Helmut Neubauer, Car und Selbstherrscher. Beiträge zur Geschichte der Autokratie in Rußland, Wiesbaden 1964, bes. 20 ff., sowie zuletzt vorzüglich Matthias Stadelmann, Autokrat, Zar, Kaiser. Vorstellungen und Realisierungen russischer Herrschaft in der Frühen Neuzeit, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 19 (2015), 97–132. 11  Vgl. Michael Cherniavsky, Khan or Basileus: An Aspect of Russian Mediaeval Political Theory, in: JHIdeas 20 (1959), 459–476; Victor Glötzner, Das Moskauer Cartum und die byzantinische Kaiseridee, in: Saeculum 21 (1970), 393–418; Gustave Alef, Byzantine and Russian Autocracy: A comparison, in: FOEG 50 (1995), 9–27. 12  Zur oströmisch-byzantinischen Herrscherideologie vgl. in diesem Zusammenhang die älteren Studien von Otto Treittinger, Die oströmische Kaiser- und Reichsidee nach ihrer Gestaltung im höfischen Zeremoniell, Jena 1938, und Anton Michel, Die Kaisermacht in der Ostkirche (834–1204), Darmstadt 1959; dem Einfluss oströmisch-byzantinischer Herrscherbilder auf den Westen widmet sich in vielfältigen gelehrten und bis heute unübertroffenen Forschungen Werner Ohnsorge, Das Zweikaiserproblem im früheren Mittelalter. Die Bedeutung des byzantinischen Reiches für die Entwicklung der Staatsidee in Europa, Hildesheim 1947, bes. 121 ff; ders., Byzanz und das Abendland im 9. und 10. Jahrhundert. Zur Entwicklung des Kaiserbegriffs und der Staatsideologie (1954). Wieder abgedruckt in: ders., Abendland und Byzanz. Gesammelte Aufsätze zur Geschichte der byzantinisch-abendländischen Beziehungen und des Kaisertums, Darmstadt 1963, 1–49; ders., Byzanz und das abendländische Kaisertum (1965). Wieder abgedruckt in: ders., Konstantinopel und der Okzident. Gesammelte Aufsätze zur Geschichte der byzantinisch-abendländischen Beziehungen und des Kaisertums, Darmstadt 1966, 294–300; ders., Das abendländische Kaisertum (1969). Wieder abgedruckt in: ders., Ost-Rom und der Westen. Gesammelte Aufsätze zur Geschichte der byzantinisch-abendländischen Beziehungen und des Kaisertums, Darmstadt 1983, 1–36. 13  So vor allem in den „klassischen“ Arbeiten von Hildegard Schaeder, Moskau – das dritte Rom, 2. Aufl. Darmstadt 1959, bes. 25 ff., und Wilhelm Lettenbauer, Moskau das dritte Rom. Zur Geschichte einer politischen Theorie, München 1961, bes. 51–72; vgl. ferner Peter Nitsche, Moskau – das dritte Rom?, in: GWU 42 (1991), 341–354; wichtig zuletzt aus kulturwissenschaftlich-semiotischer Perspektive die Bemerkungen von Boris Andreevič Uspenskij, Le perception de l’histoire et la doctrine „Moscou  – troisième Rome“, in: Alain Boureau / Claudio-Sergio Ingerflom (Hrsg.), La royauté sacrée dans le monde chrétien, Paris 1992, 129–137. 14  Dazu speziell erneut Peter Nitsche, Translatio imperii? Beobachtungen zum historischen Selbstverständnis im Moskauer Zarentum um die Mitte des 16. Jahrhunderts, in: JbbGOE 35 (1987), 321–338.

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Distanz zu „westlichen“ Regierungsvorstellungen und Verwaltungspraktiken schuf darüber hinaus unzweifelhaft die von der Mitte des 13. Jahrhunderts bis zum Ende des 15. Jahrhunderts währende Mongolenherrschaft. Weite Gebiete Russlands waren durch die mongolische Eroberung für die Dauer von zweieinhalb Jahrhunderten vom Abendland faktisch isoliert. Es gab keine politischen, dynastischen und kulturellen Kontakte, wie sie zuvor, zu Zeiten der Kiewer Rus, in erheblichem Umfang bestanden hatten. Möglich waren allenfalls einige lockere Handelsbeziehungen. Auch die für den Westen so überaus prägenden Kulturfaktoren der Renaissance, der Reformation und des Humanismus, das reaktivierte Erbe der Antike, einschließlich des Römischen Rechts und des Naturrechts, waren im fernen Moskau infolge dieser Abschottung lediglich als ein fernes „Echo“ vernehmbar15. Das Regiment der Mongolen, ein auf Ausbeutung bedachtes Zwangssystem, ließ darüber hinaus keinen Raum für die Entfaltung partizipatorischer oder emanzipatorischer Politikvorstellungen. Es schwächte die ehedem starke Stellung der russischen Städte, es dezimierte die in fortwährende Kämpfe und Kriegszüge eingebundenen Reihen des russischen Adels, und es schuf – etwa in der rüden Art der Steuereintreibung und Tributerhebung oder im willkürlichen Umgang mit dem Grund und Boden der Untertanen, auch und gerade der höhergestellten – fragwürdige Vorbilder oder doch zumindest Präzedenzfälle, an welche die Moskauer Großfürsten nach dem Ende der Mongolenherrschaft anknüpfen konnten und nicht selten im Sinne einer autokratischen Fundierung und Stabilisierung ihrer Machtstellung angeknüpft haben16. Dennoch wäre es sehr verfehlt, aus solchen Phänomenen – mit Autoren wie Max Weber oder Karl Wittfogel – wohlfeil zu schlussfolgern, dass Russland seit den Zeiten der Mongolen, und gar bis zum Sturz der Romanovs, zum Herrschaftstyp der „orientalischen Despotie“ gehöre17. Schon Karl Marx 15  Günther Stökl, Das Echo von Renaissance und Reformation im Moskauer Russland (1959). Wieder abgedruckt in: ders., Der russische Staat in Mittelalter und Früher Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze aus Anlaß seines 65.  Geburtstages, hrsg. von Manfred Alexander / Hans Hecker / Maria Lammich, Wiesbaden 1981, 255–272. 16  Entsprechende Kontinuitätslinien betont vor allem Berthold Spuler, Die Goldene Horde und Rußlands Schicksal (1955). Wieder abgedruckt in: P. Nitsche, Anfänge (Anm. 8), 361–378. 17  Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 2. Aufl. Tübingen 1925, 719 ff.; Karl Wittfogel, Orientalischer Despotismus, dt. Ausg., Köln / Berlin 1962, 234 ff., 424 ff. Nicht selten wird diese Schlussfolgerung auch über die Zeit nach der Oktoberrevolution von 1917 hinaus gezogen, der „Autoritarismus“ bolschewistischer und sogar aktueller Herrschaftstechniken in Russland mit entsprechenden „Erblasten“ in Verbindung gebracht; jüngstes Beispiel derart geschichtsfremder Spekulationen bei William Zimmerman, Russland regieren. Von Lenin bis Putin, Mainz 2015; ausgewogener im Urteil, jedoch in ähnliche Richtung zielend bereits die in ihrer vollendeten Unübersichtlichkeit



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hatte eine solch vermeintliche Kontinuität in geschichtsklitternder Absicht unterstellt18. Von einem rein despotischen Regime unterschieden sich jedoch bereits die Moskauer Herrscher – und zwar durch eine dreifach gebundene Beschränkung ihrer Macht19. Sie waren gebunden durch das göttliche Recht, manifestiert in der bis zum späten 17. Jahrhundert juristisch autonomen Stellung der Kirche; sie waren gebunden durch das Recht der Tradition, verkörpert vor allem im Anspruch der Bojaren auf die Besetzung herausgehobener Staatsämter; und sie waren gebunden durch das Recht der legitimen Erbfolge, vorgegeben in der Pflicht zur Wahrung dynastischer Kontinuität, der sich im Prinzip kein Träger der Krone entziehen konnte – wo dies dennoch geschah, etwa bei Iwan IV. 1581 oder bei Peter I. 1718, endeten solche Unternehmungen in schweren Krisen und Katastrophen. Entscheidender für den Charakter herrscherlicher Macht in Russland war ohnehin ein anderes Phänomen. Nach dem Ende der Mongolenzeit ist es in Moskau nicht, wie fast überall sonst im west- und ostmitteleuropäischen Raum während des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, zur dauerhaften Herausbildung korporativer oder kommunaler Körperschaften gekommen. In Russland gab es kein regional verankertes Ständewesen, es gab, trotz einiger Ansätze im 16. Jahrhundert20, keine Landtage, keine mehr oder weniger fest in­ stitutionalisierten Beratungsorgane für die Krone, weder repräsentative landschaftliche Adelsverbände noch städtische Magistrate, die als erprobte und eigenständige Gesellschaftsfaktoren zu firmieren wussten und einen Anspruch auf politische Mitwirkung – etwa durch Einflussnahme auf die Gesetzgebung und ein begrenztes Steuerbewilligungsrecht – oder gar auf Teilhabe an der Macht zu erlangen und langfristig aufrecht zu erhalten vermocht hätten21. In wenig brauchbare Arbeit von Michael Silnizki, Der Geist der russischen Herrschaftstradition. Eine vergleichende Studie zur russischen und abendländischen Herrschaftsverfassung unter besonderer Berücksichtigung der deutschen verfassungshistorischen und rechtsstaatlichen Entwicklungen, Köln / Weimar / Wien 1991, bes. 149 ff. 18  So Karl Marx, Enthüllungen zur Geschichte der Diplomatie im 18. Jahrhundert, hrsg. von Karl August Wittfogel, Frankfurt am Main 1981, 115, 126. 19  Dies betont zu Recht Hans-Joachim Torke, Autokratie und Absolutismus in Rußland. Begriffsklärung und Periodisierung, in: Uwe Halbach / Hans Hecker / An­ dreas Kappeler (Hrsg.), Geschichte Altrußlands in der Begriffswelt ihrer Quellen. Festschrift zum 70. Geburtstag von Günther Stökl, Stuttgart 1986, 32–49, hier 35. 20  Hier vor allem die 1549 von Zar Iwan IV. einberufene „Ständeversammlung“ (Zemskij Sobor) des Moskauer Staates; zu deren Möglichkeiten und Grenzen vgl. Günther Stökl, Die Moskauer Landesversammlung. Forschungsproblem und politisches Leitbild, in: Karl Erich Born (Hrsg.), Historische Forschungen und Probleme. Peter Rassow zum 70. Geburtstage dargebracht, Wiesbaden 1961, 66–87. 21  Dies erstmals – gegen mancherlei Einwände vor allem von russischer, aber auch von sowjetischer Seite – überzeugend begründet zu haben, ist das Verdienst der sorgfältig ausgewogenen Untersuchung von Günther Stökl, Gab es im Moskauer Staat

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diesem Sinne war die zarische Autokratie tatsächlich unbeschränkt, der russische Herrscher war, anders als in den Feudalmonarchien des Westens mit ihren lehnsrechtlich vielfach abgestuften Vasallitäts-, Klientel- und Gefolgschaftsbeziehungen22, anders auch als in den ohnehin weitaus stärker von ständisch-libertären Mitspracherechten geprägten politischen Landschaften Ostmitteleuropas23, der ausschließliche Träger staatlicher Gewalt. So fehlte die produktive Gegenkraft feudaler Amtsträger, auf die der Herrscher hätte Rücksicht nehmen müssen24 – wie denn überhaupt ein irgendwie gesetzlich verbrieftes, vertraglich ausgehandeltes oder institutionell verankertes Wider„Stände“? (1963). Wieder abgedruckt in: ders., Der russische Staat (Anm. 15), 146– 167; die neueren Studien von Werner Philipp, Zur Frage nach der Existenz altrussischer Stände, in: FOEG 27 (1980), 64–76, und Hans-Heinrich Nolte, Gab es im Moskauer Staat Stände? Ein Plädoyer für nichtlinear vergleichende Forschung, in: E.  Hübner / E. Klug / J. Kusber, Zwischen Christianisierung und Europäisierung (Anm. 7), 115–128, bieten demgegenüber keine substantiell weiterführenden Erkenntnisse.  – Ob man darüber hinaus in der These von Nancy Shields Kollmann, Kinship and Politics. The Making of the Muscovite Political System, 1345–1547, Stanford 1987 – sie unterstellt der Autokratie der Moskauer Zaren lediglich den Charakter einer „Fassade“ (ebd., 19) zwecks wohlfeiler Bemäntelung einer real existierenden Bojarenoligarchie – einen Ausgangspunkt für die partielle Neueinschätzung „ständischer“ Einflüsse in Russland erblicken kann, ist in der Forschung umstritten. Mehrheitsfähig ist diese These jedenfalls nicht. 22  Dazu Hans Kammler, Die Feudalmonarchien. Politische und wirtschaftlich-soziale Faktoren ihrer Entwicklung und Funktionsweise, Köln / Wien 1974; vgl. aber Manfred Hellmann, Probleme des Feudalismus in Rußland (1960). Wieder abgedruckt in: ders., Beiträge (Anm. 6), 177–200, sowie den noch immer sehr lesenswerten älteren Ost-West-Vergleich von Otto Hoetzsch, Adel und Lehnswesen in Rußland und Polen und ihr Verhältnis zur deutschen Entwicklung (1912). Wieder abgedruckt in: ders., Osteuropa und Deutscher Osten. Kleine Schriften zu ihrer Geschichte, Königsberg 1934, 50–101. 23  Dazu vor allem Klaus Zernack, Osteuropa. Eine Einführung in seine Geschichte, München 1977, 38 f., 71 f., 80; spezieller ders., Staatsmacht und Ständefreiheit. Politik und Gesellschaft in der Geschichte des östlichen Mitteleuropa, in: Hugo Weczerka (Hrsg.), Stände und Landesherrschaft in Ostmitteleuropa in der Frühen Neuzeit, ­Marburg 1995, 1–10; grundlegend sodann Wolfgang Neugebauer, Standschaft als Ver­fassungsproblem. Die historischen Grundlagen ständischer Partizipation in ostmitteleuropäischen Regionen, Goldbach 1995, sowie ders., Raumtypologie und Ständeverfassung. Betrachtungen zur vergleichenden Verfassungsgeschichte am ost­mittel­ euro­päischen Beispiel, in: Joachim Bahlcke / Hans-Jürgen Bömelburg / Norbert Kersken (Hrsg.), Ständefreiheit und Staatsgestaltung in Ostmitteleuropa. Übernationale Gemeinsamkeiten in der politischen Kultur vom 16.–18. Jahrhundert, Leipzig 1996, 283–310. 24  Den europäischen „Idealtypus“ dieses Verfassungszustandes skizziert demgegenüber meisterhaft, mit Seitenblicken auf Russland Dietrich Gerhard, Regionalismus und ständisches Wesen als ein Grundthema europäischer Geschichte (1952). Wieder abgedruckt in: ders., Alte und Neue Welt in vergleichender Geschichtsbetrachtung, Göttingen 1962, 13–39; die „Sonderart osteuropäischer Staatlichkeit“ betont in diesem Zusammenhang mit Nachdruck Günther Stökl, Die Wurzeln des mo-



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standsrecht der Untertanen gegen tatsächliche oder vermeintliche herrscher­ liche Fehlleistungen seit den Zeiten Ivans IV. unbekannt war. Dieser Zar propagierte als erster Moskauer Herrscher an der Schwelle zur Neuzeit nachdrücklich die Idee einer göttlichen Herkunft der Staatsgewalt und leitete aus der damit verbundenen Verpflichtung gegenüber Gott die Forderung nach absoluter Unterwerfung unter die Verfügungsmacht des Monarchen ab25. In Theorie und Praxis trat so an die Stelle der Ständegesellschaft, in der treffenden Formulierung von Hans-Joachim Torke, eine „staatsbedingte Gesellschaft“26. Infolgedessen vermochten die Moskauer Herrscher bereits im 16. Jahrhundert herrschaftsintensivierende Neuerungen zu realisieren, die in den meisten Monarchien des europäischen Westens vielfach erst später auf der politischen Agenda stehen sollten: das „Regieren aus dem Kabinett“; die Aufstellung eines halbregulären Stehenden Heeres, der sogenannten Strelitzen; die Verankerung des Rechts in einer allein durch den Herrscher begründeten Ordnung. Mit alledem waren charakteristische Wesenszüge des Absolutismus antizipiert, wie sie dann im Modernisierungswerk Peters des Großen seit Beginn des 18. Jahrhunderts in eine nun gleichsam postume Übereinstimmung mit der zeitgleich erfolgenden absolutistischen Neuformierung der Fürstenherrschaft in den meisten Ländern Westeuropas gebracht wurden. Jetzt erst erfolgten echte Übernahmen fremder Modelle, die allesamt auf eine nochmalige Bündelung monarchischer Macht hinausliefen. Zu diesen machtstabilisierenden Faktoren zählten die Einschränkung kirchlicher Rechte und die Minderung kirchlicher Besitzungen zugunsten des Staates ebenso wie die Intensivierung und Rationalisierung der Verwaltung oder die höfisch-architektonische Prachtentfaltung in der neuen, 1701 gegründeten Residenzstadt Sankt Petersburg, die nicht nur der Demonstration herrscherlichen Glanzes diente, sondern auch geographisch die neugewonnene Nähe zur absolutistischen Staatenwelt Europas sinnfällig zum Ausdruck bringen sollte. „Absolutismus“ und „Europäisierung“ waren unter Peter dem Großen als zwei Seiten einer Medaille aufeinander bezogen – und das blieb auch so, nachdem Peters autokratischer Absolutismus unter seinen späten Nachfolgern, Peter III. und dessen Mörderin Katharina II., in einen freilich sehr verhalten praktizierten

dernen Staates in Osteuropa (1953). Wieder abgedruckt in: ders., Der russische Staat (Anm. 15), 20–34, Zitat 34. 25  Diesen Sachverhalt beschreibt monographisch, leider mit ermüdender Lang­ atmigkeit Victor Leontovitsch, Die Rechtsumwälzung unter Iwan dem Schrecklichen und die Ideologie der russischen Selbstherrschaft, Stuttgart 1947; neuere Diskussion der Thematik bei Joel Raba, The Authority of the Muscovite Ruler at the Dawn of the Modern Era, in: JbbGOE 24 (1976), 321–344. 26  Hans-Joachim Torke, Die staatsbedingte Gesellschaft im Moskauer Reich. Zar und Zemlja in der altrussischen Herrschaftsverfassung 1613–1689, Leiden 1974, 37.

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„aufgeklärten“ Absolutismus überging27 – bis hin zur Rezeption naturrechtlicher Staatsvorstellungen und Rousseauscher Politikmodelle im Einzugsfeld des kaiserlichen Hofes und bei der intellektuellen Elite des Zarenreiches im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert28. II. In der historischen Osteuropaforschung herrscht mittlerweile relative Einigkeit darüber, dass sich die Phase einer begrenzt aufgeklärt-absolutistischen Regierungspraxis von 1762 bis zum Beginn der großen Reformen unter Zar Alexander II. 1861 gehalten hat. Selbst das anfangs bereits erwähnte, vielgescholtene strenge Regiment von Nikolaus I. ist, jedenfalls bis zum Ausbruch der Märzrevolution 1848 in Mitteleuropa, von dieser Praxis zwar graduell, nicht aber prinzipiell abgekommen; lange Zeit versuchte sich auch dieser Zar in einem schwierigen „Balanceakt […] zwischen Reaktion und relativem Fortschritt“29 zu behaupten. Als „patriarchalischer Landesvater“30 war Nikolaus I., ganz im Sinne der Vertreter des Aufgeklärten Absolutismus, darum bemüht, dem „Gemeinwohl“ (so wie er dieses verstand) zu dienen, dabei freilich nicht auf eine Mitwirkung gesellschaftlicher Kräfte und Gruppen „von unten“ zu setzen, sondern ausschließlich auf polizeistaatlich-bürokratische Gesetzgebung und Ordnungswahrung „von oben“, d. h. mittels herrscherlicher Verfügungen und autokratischer Oktrois. Erst seit den angedeuteten Erschütterungen von 1848 / 49 entwickelte sich Nikolaus I. zum „Gendarmen Europas“, der überall Umsturz und Revolte mutmaßte, welcher Gefahr er durch Verschärfung der Zensur, durch Intensivierung der staatlichen Polizeiaufsicht und durch vermehrte Post-, Grenz- und Einreisekontrollen in seinem Reich prä27  Zur besonderen Problematik dieses Begriffs hinsichtlich seiner Anwendbarkeit auf die Verhältnisse in Russland vgl. neben dem älteren Forschungsüberblick von Dietrich Geyer, Der aufgeklärte Absolutismus in Russland. Bemerkungen zur Forschungslage, in: JbbGOE 30 (1982), 176–189, repräsentativ Karl Otmar Freiherr von Aretin, Das Problem des aufgeklärten Absolutismus in der Geschichte Rußlands, in: Klaus Zernack (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Russlands. Bd. 2: 1613–1856. Vom Randstaat zur Hegemonialmacht, 2. Halbbd., Stuttgart 2001, 849–869, und Erich Donnert, Autokratie, Absolutismus und aufgeklärter Absolutismus in Rußland, in: Harm Klueting / Helmut Reinalter (Hrsg.), Der aufgeklärte Absolutismus im europäischen Vergleich, Wien / Köln / Weimar 2002, 181–206. 28  Dazu monographisch Frank-Lothar Kroll, Rousseau in Preußen und Russland. Zur Geschichte seiner Wirkung im 18. Jahrhundert, Berlin 2012, 33–50. 29  So zutreffend Nikolaus Katzer, Nikolaus I. 1825–1855, in: Hans-Joachim Torke (Hrsg.), Die russischen Zaren 1547–1917, München 1995, 289–314, hier 292; so liege auch „kein Grund vor“, dessen Regierungszeit „ausschließlich von ihrem bedrückenden Ende her oder aus der Perspektive der nachfolgenden Reformzeit zu besichtigen“ (ebd.). 30  So ebenfalls treffend Matthias Stadelmann, Die Romanovs, Stuttgart 2008, 159.



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ventiv zu begegnen suchte31. Freilich vermochte das strenge Regiment dieses Zaren, bei aller Härte, Engführung und Unduldsamkeit, „selbst seinen politischen Gegnern gegenüber ein gewisses Maß von patriarchalisch-menschlichem Wohlwollen, Nachsicht, Versöhnlichkeit und Gnade aufzubringen“, sodass seine Herrschaft – verglichen mit der bodenlosen Brutalität bolschewistischer Gewaltausübung im Moskau des 20. Jahrhunderts – Charakterzüge offenbarte, die „geradezu menschlich angenehm berühren“32. Bei alledem darf zudem nicht übersehen werden, dass es in Russland unmittelbar nach Beendigung der napoleonischen Kriege, anders als in Westund Mitteleuropa, zunächst kaum ernstzunehmende Verfechter des konstitutionellen Prinzips gegeben hat, wie dieses in der französischen Charte von 1814 erstmals programmatisch fixiert worden war33 und den europäischen Verfassungsdiskurs als Leitidee für mindestens zwei Generationen nachhaltig prägen sollte34. Zwar hatte es unter Zar Alexander I. einige halbherzig erwogene Pläne zu einer Beteiligung des Volkes am Staatsleben gegeben – als Thronfolger hatte Alexander einst davon geträumt, auf sein Selbstherrschertum zugunsten von Vertretern der Nation zu verzichten. Sein vertrauter Ratgeber und Mitarbeiter Michail Michajlovič Speranskij (1772–1839) war zwischen 1809 und 1815 mit der Ausarbeitung eines Verfassungsprojekts beschäftigt, das dem Prinzip der Gewaltenteilung und der Idee einer beratenden Vertretungskörperschaft des Volkes verpflichtet war35. Und ein weiterer Vertrauensmann des Kaisers, Nikolaj Nikolaevič Novosilcev (1761–1831), präsentierte 1820 gar eine Charte constitutionnelle de l’Empire de Russe, die ebenfalls Gewaltenteilung, eine Volksvertretung und Grundrechtsgarantien 31  Dazu im Einzelnen Marianna T. Choldin, A Fence around the Empire. Russian Censorship of Western Ideas under the Tsars, Durham 1985, bes. 44 ff. 32  So A. v. Schelting, Rußland und Europa (Anm. 5), 293. 33  Dazu speziell Volker Sellin, Die Erfindung des monarchischen Prinzips. JaquesClaude Beugnots Präambel zur „Charte Constitutionnelle“ (2008). Wieder abgedruckt in: ders., Politik und Gesellschaft. Abhandlungen zur Europäischen Geschichte, hrsg. von Frank-Lothar Kroll, Berlin / Boston 2015, 305–315; ferner ders., „Heute ist die Revolution monarchisch“. Legitimität und Legitimierungspolitik im Zeitalter des Wiener Kongresses (1996). Wieder abgedruckt in: ebd., 317–337. 34  Vgl. dazu erneut vor allem die luziden Untersuchungen von Volker Sellin, Die geraubte Revolution. Der Sturz Napoleons und die Restauration in Europa, Göttingen 2001, 225 ff.; ders., Gewalt und Legitimität. Die europäische Monarchie im Zeitalter der Revolutionen, München 2011, 171–216; zuletzt ders., Das Jahrhundert der Restaurationen 1814 bis 1906, München 2014, bes. 55 ff.; zuletzt knapp ders., Die europäische Monarchie im Zeitalter der Revolutionen (2014). Wieder abgedruckt in: ­Ulrich Lappenküper (Hrsg.), Otto von Bismarck und das „lange 19. Jahrhundert“. Lebendige Vergangenheit im Spiegel der „Friedrichsruher Beiträge“ 1996–2016, Paderborn 2017, 1147–1161. 35  Dazu speziell Marc Raeff, Plans für Politicial Reform in Imperial Russia, 1730– 1905, Englewood Cliffs 1966, 93–109.

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vorsah36. Doch alle diese halboffiziellen Planungen der frühen 1820er Jahre blieben ebenso ephemer und unausgefaltet wie sich die in ihrer Bedeutung und Reichweite maßlos überschätzten Verfassungsutopien der Dekabristen bei genauerem Zusehen als krude Mixtur aus teils föderalistischen, teils zentralistisch-nationalistischen bis hin zu xenophoben und tendenziell pan­ slavistischen Positionen entpuppten37. Eine ernstzunehmende Breitenwirkung vermochten solche Utopien nicht zu entwickeln, und auch in die Passformen „westlicher“ Verfassungsmodelle ließen sie sich keineswegs einfügen. Überhaupt dürften alle verfassungsgeschichtlichen Interpretationsansätze, welche die Zarenherrschaft des frühen 19. Jahrhunderts mit der Messlatte parlamentarisch-konstitutionellen Fortschritts beurteilen, an den damaligen staatlichen Realitäten Russlands vorbeizielen. Wer die Verfassungswirklichkeit des Zarenreiches in den Rahmen der gesamteuropäischen Verfassungsentwicklung des Vormärz hineinstellt, wird zwar eine Reihe von Kriterien namhaft machen können, welche die zuweilen fast allmächtig scheinende Kompetenzenfülle des Monarchen einhegten und das russische Staatsleben in begrenztem Umfang zu „westlichen“ Politikvorstelllungen hin öffnete. So besaßen die kaiserlichen Ministerien und das Ministerkomitee als oberste Exekutivgremien eingeschränkt legislative Kompetenzen; auf der Ebene der Lokalverwaltung wählte der Adel die regionalen Vollzugsorgane, in den ländlichen Dorfgemeinden kam den Bauern das Recht zu, Gemeindeälteste und Dorfpolizisten aus ihren eigenen Reihen zu bestimmen; und die seit Beginn der 1830er Jahre, wiederum unter Federführung des Reformpolitikers Speranskij in Angriff genommene Kodifizierung des russischen Rechts verlieh der zarischen Autokratie nicht nur erstmals eine gesetzliche Grundlage, sondern ermöglichte hinfort auch „ein an Rechtsnormen ausgerichtetes Handeln von Verwaltung und Justiz“38. Doch, aufs Ganze gesehen, stand das paternalistische Prinzip nicht zur Disposition, Nikolaus I. übte, nicht zuletzt mittels einer 1826 eigens einge36  Dazu Georges Vernadsky, La Charte constitutionnelle de l’Empire Russe de l’an 1820, Paris 1933, bes. 64–91. 37  Zur Verfassungskonzeption der Dekabristen vgl. die verstreuten Bemerkungen bei Hans Lemberg, Die nationale Gedankenwelt der Dekabristen, Köln / Graz 1963, 82 ff., 125–129, 132 f.; den Einfluss westlicher Staats- und Verfassungsvorstellungen auf einzelne Dekabristen analysierte eingehend bereits Eugenie Salkind, Die Dekabristen in ihrer Beziehung zu Westeuropa. Ein Beitrag zur Geschichte der Entstehung des Dekabristenaufstandes vom 14. / 26.  Dezember 1825, in: Jahrbücher für Kultur und Geschichte der Slaven, N. F. 4 (1928), 380–410, 505–573. 38  Dietmar Wulff / Michael Dmitrievic Karpačev, Russland, in: Peter Brandt / Werner Daum / Martin Kirsch / Arthur Schlegelmilch (Hrsg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel. Bd. 2: 1815–1847, Bonn 2012, 1221–1262, Zitat 1242.



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richteten Abteilung seiner „Persönlichen Kanzlei“39, weiterhin die oberste Kontrolle über alle legislativen, exekutiven und judikativen Prozesse im Land aus. Man musste damals durchaus kein Verfechter zugespitzter Aperçus sein, wie der Literaturkritiker Vissarion Grigorevič Belinskij (1811–1848), dem ein Sack Kartoffeln für die Russen mehr galt als der Wert einer Verfassung40, um einzusehen, dass im Zarenreich die meisten Voraussetzungen fehlten, um die dem konstitutionellen Vertragsdenken West- und Mitteleuropas so geläufige Forderung nach einer aus Wahlen hervorgegangenen Volksvertretung Gehör und Resonanz zu verschaffen. Vielen Repräsentanten des geistig-kulturellen Lebens in Russland galt damals das Prinzip der Selbstherrschaft als eine nach wie vor unangefochtene Selbstverständlichkeit, prominente Schriftsteller wie Alexander Sergeevič Puškin (1799–1837) oder Nikolai Wassiljewitsch Gogol (1809–1852) rechtfertigten die zarische Autokratie ebenso wie dies, wenngleich mit anderen Argumenten und Zielvorgaben, die Vertreter dezidiert slavophilen Gedankenguts taten, allen voran der Diplomat und Lyriker Fedor Ivanovič Tjutčev (1803–1873) oder der Moskauer Literaturprofessor Stepan Petrovič Ševyrev (1806–1864). Im russischen Bauerntum wurde das Streben nach politischen Mitspracherechten darüber hinaus ohnehin durch einen flächendeckend verbreiteten „Volksmonarchismus“ neutralisiert41. Jedenfalls verliefen die Bruchlinien in der russischen politischen Kultur des frühen 19. Jahrhunderts nicht zwischen konstitutionellem Repräsentativsystem und monarchischem Absolutismus; vielmehr standen sich lange Zeit im Grunde nur die „Willkür gerichtlich nicht zu belangender [adlig-oligarchischer] Satrapen“42 einerseits und die vom Selbstherrscher erlassenen, damit nicht weniger willkürlich zustande gekommenen, aber zumindest allgemein verbindlichen Gesetzesverfügungen andererseits als Alternative gegenüber. Solche spezifischen Gegebenheiten in Rechnung stellend, haben neuere monarchiegeschichtliche Forschungen angemessenere Bezugsgrößen zum Verständnis der Zarenherrschaft und zum Verstehen ihrer lange währenden Popularität ins Spiel gebracht. Richard S. Wortman untersucht in seinem zweibändigen Meisterwerk Scenarios of Power43 das symbolische Handeln 39  Dazu instruktiv Peter S. Squire, The Third Department. The Establishment and Practices of the Political Police in the Russia of Nicholaus I, Cambridge 1968. 40  Nach N. Katzer, Nikolaus I. (Anm. 29), 313. 41  Zu diesem Phänomen sehr aufschlussreich Daniel Field, Rebels in the Name of the Tsar, Boston 1989, bes. 17–26. 42  So Peter Scheibert, Marginalien zu einer neuen Speranskij-Biographie, in: ­JbbGOE, N. F. 6 (1958), 449–467, hier 453 f. 43  Richard S. Wortman, Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy. Bd. 1: From Peter the Great to the Death of Nicholas I, Princeton 1995; Bd. 2: From Alexander II to the Abdication of Nicholas II, Princeton 2000.

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und die rituellen Repräsentationsformen zarischer Herrschaft, wie sie sich für die Zeitgenossen in zeremoniellen Inszenierungen öffentlichkeitswirksam darboten. Prozessionen und Paraden, Bälle und Gottesdienste, Hoffeste, Krönungsfeierlichkeiten und Regierungsjubiläen – solche und ähnliche „Scenarios“ bestätigten die Kontinuität der Dynastie ebenso, wie sie den Untertanen die Inhalte und Herrschaftsziele des jeweils aktuellen zarischen Regiments plastisch vor Augen zu führen vermochten. Denn, so Wortman, „jeder russische Herrscher inszenierte diesen Mythos, den intellektuellen Idealen und kulturellen Mustern seiner Zeit entsprechend, aufs Neue“44. Er entwarf seine je-eigene Rolle, und er präsentierte dabei variable, im Einzelnen durchaus voneinander abweichende Konzepte von Monarchie und monarchischer Herrschaft im 19. Jahrhundert. Vielleicht war es kein Zufall, dass Nikolaus I. hier bewusst eigene Akzente setzte. 1826, nach der Krönung und Salbung in der Moskauer UspenskijKathedrale, in der von 1547 bis 1896 alle russischen Zaren gekrönt wurden, begab er sich zur benachbarten Maria-Verkündigungs-Kathedrale, um dort die legendäre Rote Treppe emporzuschreiten. Zur Überraschung, ja zum Erschrecken der vielen tausend Anwesenden unterbrach er seinen Aufstieg nach wenigen Schritten abrupt, wendete sich zurück und verbeugte sich dreimal tief und feierlich in verschiedene Richtungen vor der auf dem Platz des Kreml versammelten Menschenmenge. Nicht enden wollende Jubelrufe ertönten, Mützen, Hüte und Spazierstöcke flogen in die Luft, viele Zuschauer weinten vor Rührung, andere umarmten einander in Ergriffenheit und tauschten Freudenküsse aus45. Was aus heutiger Sicht vielleicht wie eine nette Geste anmuten mag, war tatsächlich ein wohlbedachter symbolträchtiger Akt von weitreichender performativer Bedeutung. Unabhängig von den grundlegenden Forschungen Wortmans, weitab auch von jeder Bezogenheit auf die spezifischen Problemstellungen des Zarenreiches im 19. Jahrhundert, hat die Frühneuzeithistorikerin Barbara StollbergRilinger unlängst die Bedeutung symbolischer Handlungen, zeremonieller Akte und ritueller Inszenierungen mit Blick auf das Verfassungsleben des Heiligen Römischen Reiches als „ein vormodernes Äquivalent für die geschriebene Verfassung der Moderne“ interpretiert46 und, ganz im Sinne Wortmans, 44  Richard S. Wortman, Repräsentationen der russischen Monarchie und die Szenarien der Macht, in: Jörg Baberowski / David Feest / Christoph Gumb (Hrsg.), Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt am Main 2008, 38–55, hier 46; vgl. ders., Ceremony and Empire in the Evolution of Russian Monarchy, in: Catherine Evtuhov / Boris Gasparov / Alexander Ospovat / Mark von Hagen (Hrsg.), Kazan, Moscow, St. Petersburg. Multiple Faces of Russian Empire, Moskau 1997, 23–39. 45  Eindringliche Schilderung dieser Szene bei R. S. Wortman, Scenarios I (Anm. 43), 291.



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monarchische Rituale als Handlungsabfolge gedeutet, „die durch Standardisierung […], Wiederholung […], Performativität […] gekennzeichnet ist und eine elementare soziale strukturbildende Wirkung besitzt“47. Diese Sichtweise lässt sich, mit einigem Recht, auf die Performativität herrscherlichen Handelns durch Nikolaus I. übertragen. Mit seiner demonstrativen Verbeugung vor dem Volk erwies der frisch Gekrönte den Untertanen seine Reverenz. Er bekundete sein Bewusstsein von der Würde des übernommenen Amtes und der auf ihm lastenden Verantwortung und übernahm so vor den Augen der Öffentlichkeit eine in ihrer Art bindende Verpflichtung für sein künftiges Regierungshandeln. Diese Verpflichtung hieß: Dienst und Hingabe zum Wohl der Untertanen im Interesse des allgemeinen Besten. Die Jubelrufe der Anwesenden konnten in solcher Interpretation als Huldigungsgeste gelten, als bestätigende Antwort des Volkes auf die Verpflichtungsgebärde des Gekrönten. Lag darin nicht, so mochte man meinen, die implizite Anerkennung einer engen wechselseitigen Bezogenheit von Zar und Volk, die keines Verfassungsvertrages bedurfte, um ihre Wirksamkeit unter Beweis zu stellen? Kam hier nicht jene schöne Harmonie zwischen Herrscher und Beherrschten, wie sie den slavophilen Verfechtern der „altrussischen Idee“ als Ideal staatlicher Ordnung vorschwebte, gleichsam als lebendiges Bild zum Ausdruck? „Bowing, the tsar recognizes the love of the people as the source of his unlimited power […]. The exultant cries on the square become a symbolic substitute for institutionalized expressions of the will of the people.“48 Jedenfalls gewann die kaiserliche Verbeugungsgeste seit ihrer erstmaligen Inszenierung traditionsbildende Kraft: Nikolaus I. zelebrierte sie im Rahmen seiner Moskau-Besuche stets aufs Neue, und auch alle seine drei Amtsnachfolger integrierten sie in das symbolpolitische Repertoire ihrer Kaiserkrönungen. Bei den Krönungsfeierlichkeiten für Zar Alexander II. im Jahr 1856 stand indes ein anderer symbolpolitischer Akt im Vordergrund49. Jetzt wurden erstmals Abordnungen von Staatsbauern aus allen Regionen des Reiches in die Krönungsprozession einbezogen. Das war ein versteckter Hinweis auf Geltung und Würde eines gesellschaftlich bisher gering geachteten, zudem in persönlicher Unfreiheit gehaltenen Standes50 und entsprach dem Reformprogramm des neuen Zaren, dem die 1861 dann tatsächlich erfolgende Beseiti46  Barbara Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008, 14. 47  Barbara Stollberg-Rilinger, Rituale, Frankfurt am Main 2013, 9. 48  So die überzeugende Interpretation von R. S. Wortman, Scenarios I (Anm. 43), 292. 49  Vgl. ebd., II, 34 ff. 50  Zu dessen Neubeurteilung unter Alexander II. vgl. unter kulturalistischem Blickwinkel instruktiv Irinia Paperno, The Liberation of the Serfs as a Cultural Symbol, in: The Russian Review 50 (1991), 417–436.

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gung des Systems der Leibeigenschaft – wie übrigens auch die noch immer viel zu wenig erforschte Frage der Arbeiterschutzgesetzgebung51 – von Anfang an als dringlichstes Anliegen seiner Regierung galt52. Doch es gab noch eine weitere Botschaft dieses Zaren an Volk und Öffentlichkeit. In den von Wortman erstmals detailliert ausgewerteten Krönungsalben – das waren luxuriös gestaltete Bildbände, die das „Scenario“ des jeweiligen Kaisers bei den heimischen, aber auch bei ausländischen Eliten bekannt machen und verbreiten sollten53 – dominierte die Farbenvielfalt zentralasiatischer und kaukasischer Völkerschaften; Baschkiren und Tscherkessen, Tataren und Kosaken, Armenier und Georgier begleiteten den frisch Gekrönten in ihren jeweiligen Volkstrachten, spezifisch „Russisches“ trat demgegenüber verhältnismäßig zurück. Auf diese Weise schien das Regiment Alexanders II. der multiethnischen Vielfalt seines Reiches verpflichtet, in ihr gleichsam symbolisch „geborgen“ zu sein. Einen wiederum vollkommen anders gearteten Bezugsrahmen vermittelt ein Blick auf die inszenatorische Agenda Zar Alexanders III.54 Dessen Krönungsalbum von 1883 bediente primär den nationalrussischen Mythos, nun dominierten alt-moskovitische Attribute und vorpetrinische Bilder die Szenerie, „which did not rely on the rational egoism or contractual agreements of the west“55. Auch das war eine klare Botschaft. Sie verband die Betonung des ethnisch russischen Charakters des Zarentums mit der Reaktivierung frühneuzeitlicher russischer Herrschertradition, einschließlich des Prinzips der Selbstherrschaft, des samoderžavie, wozu dann selbstverständlich auch eine Intensivierung der spirituellen Grundlagen zarischer Macht zählte – und das hieß konkret: die Festigung der Verbindung zur russisch-orthodoxen Kirche. Die bereits unter Nikolaus I. durch den seinerzeitigen, von 1833 bis 1849 amtierenden gelehrten Bildungsminister Sergej Semënovič Uvarov (1786–1855) propagierte Trias „Autokratie – Orthodoxie – Volkstum“ wurde hinfort, bis zum Ausbruch der Revolution von 1905, erneut zu einer mehr oder weniger offiziell vertretenen Grundlage des Regierungsprogramms der beiden letzten Zaren56. Seinen konkreten Niederschlag fand dieses Programm nach 1881 bekanntlich in einer Politik der Russifizierung, die sich gegen die 51  Dazu explizit Helmut Neubauer, Alexander II. und die Arbeiterfrage, in: Ostdeutsche Wissenschaft. Jahrbuch des Ostdeutschen Kulturrates 7 (1960), 109–126. 52  Zur persönlichen Motivation des Zaren vgl. in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich N. G. O. Pereira, Alexander II and the Decision to Emancipate the Russian Serfs, 1855–1861, in: Canadian Slavic Papers 22 (1980), 99–115. 53  Vgl. Edward Kasinec und Richard Wortman, The Mythology of Empire. Imperial Russian Coronation Albums, in: Biblion. The Bulletin of the New York Public Library 1 (1992), 77–100. 54  Vgl. R. S. Wortman, Scenarios II (Anm. 43), 212–234. 55  Ebd., 224.



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nicht-russischen Minderheiten des Imperiums richtete57; in einer Politik monarchischer Machtausweitung durch Intensivierung des administrativ-militärischen Apparates58; und in einer Politik staatlich forcierten Kirchenbaus, der den sogenannten Altrussischen Stil auch in jenen Regionen des Imperiums favorisierte59, in denen mehrheitlich keine Russen lebten, besonders im russisch beherrschten Teil Polens, in den Ostseeprovinzen Estland, Livland und Kurland sowie im Großfürstentum Finnland. Mit alledem wurde für ein Vierteljahrhundert ein Herrschaftssystem praktiziert, das nicht nur in strikter Frontstellung zu allen „westlichen“ Auffassungen von staatsbürgerlicher Emanzipation und politischer Partizipation verharrte, sondern darüber hinaus in einen wachsenden Gegensatz zu den Vertretern der gebildeten Gesellschaft, ja zur russischen Gesellschaft überhaupt geriet. Konstantin Petrovič Pobedonoscev (1827–1907), von 1880 bis 1905 als „Oberprokuror des Heiligsten Sinods“ für die politische Leitung der russischen Staatskirche und für zahlreiche reaktionäre Maßnahmen der Regierung verantwortlich60, war im Verfolg solcher Auffassungen fest davon überzeugt, dass „die gesunden russischen Menschen“ nichts mehr fürchteten als die Einführung einer Konstitution. „Dann schon lieber eine russische Revolution und beispiellose Wirren als eine Konstitution“. Eine Revolution 56  Zu den von Uvarov propagierten Prinzipien vgl. im vorliegenden Zusammenhang Cynthia H. Whittaker, The Origins of Modern Russian Education. An intellectual biography of Count Sergei Uvarov, 1786–1855, De Kalb 1984; zur Bedeutung dieser Prinzipien generell Edward C. Thaden, Conservative Nationalism in Nineteenth-Century Russia, Seattle 1964; zu ihrer Wirkung nach 1881 vgl. Peter A. Zai­ onchkovskii, The Russian Autocracy under Alexander III, Gulf Breeze 1976. 57  Vgl. z. B. Edward Thaden (Hrsg.), Russification in the Baltic Provinces and Finland, 1855–1914, Princeton 1981; Theodore R. Weeks, Nation and State in Late Imperial Russia. Nationalism and Russification on the Western Frontier, 1863–1914, De Kalb 1996; Ricarda Vulpius, Nationalisierung der Religion. Russifizierungspolitik und ukrainische Nationsbildung (1860–1920), Wiesbaden 2005. 58  Dazu Heide Whelan, Alexander III and the State Council. Bureaucracy and Counterreform in Late Imperial Russia, New Brunswick 1982. 59  Vgl. z. B. John O. Norman, Alexander III as a Patron of Russian Art, in: ders. (Hrsg.), New Perspectives of Russian and Soviet Artistic Culture. Selected Papers from the Fourth World Congress for Soviet and East European Studies, 1990, New York 1994, bes. 28–33, und Sergei N. Gontar, Alexander III’s Reforms in the Decorative Arts, in: Maria Feodorovna Empress of Russia, Kopenhagen 1997; ferner William Craft Brumfield, The „New Style“ and the Revival of Orthodox Church Architecture, 1900–1914, in: ders. / Milos M. Velimirovic (Hrsg.), Christianity and the Arts in Russia, Cambridge 1991, 105–123, sowie zuletzt Richard Wortman, The „Russian Style“ in Church Architecture as Imperial Symbol after 1881, in: James Cracraft / Daniel Rowland (Hrsg.), Architectures of Russian Identity. 1500 to the Present, Ithaca 2003, 101–116. 60  Über ihn die ältere Biographie von Robert F. Byrnes, Pobedonostsev. His Life and Thought, Bloomington 1968.

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nämlich könne man rasch niederwerfen. Eine Konstitution hingegen sei „Gift für den ganzen Organismus, das ihn durch die beständige Lüge zerfrißt, die die russische Seele nicht annimmt“61. Auf den Gedanken, dass die Gewährung einer Konstitution vielleicht dazu beitragen konnte, eine Revolution zu vermeiden, ist Pobedonoscev zeitlebens nicht gekommen. III. Gerade dies jedoch – die Vorbereitung und Gewährung einer Konstitution zwecks Vermeidung einer Revolution – war das große Ziel, an das sich der Reformer-Zar Alexander II. und seine liberalen Ratgeber und Mitarbeiter Anfang 1881 gemeinsam heranzutasten entschlossen zeigten – allen voran Großfürst Konstantin Nikolajevič (1827–1892), der sehr fortschrittlich gesinnte älteste Bruder des Zaren, Innenminister Graf Michail Tarielovič LorisMelikov (1824–1888), Finanzminister Alexander Agéevič Abaza (1821– 1895), Kriegsminister Graf Dmitrij Alekseevič Miljutin (1816–1912) und Graf Pjotr Alexandrovič Valuev (1815–1890), der Vorsitzende des Ministerkomitees. Ein von Innenminister Loris-Melikov vorgelegter Entwurf, der vorsah, Repräsentanten aller gesellschaftlichen Gruppen an der Ausarbeitung von Gesetzesentwürfen zu beteiligen62, war von Alexander II. im Januar 1881 grundsätzlich gutgeheißen worden. Die Realisierung dieses Entwurfes hätte Russland noch nicht in einen Verfassungsstaat verwandelt. Doch ein irreversibler Weg zur schrittweisen Konstitutionalisierung des Imperiums wäre damit wohl gewiesen worden. Loris-Melikovs Entwurf war vom Zaren für den Vormittag des 4. März 1881 zur abschließenden Beratung und Unterzeichnung vorgesehen. Am Mittag des 1. März 1881 riss ein von Terroristen 61  Pobedonoscev an (Kronprinz) Alexander (III.), 14. Dezember 1879; zitiert nach Gerhard Simon, Konstantin Petrovič Pobedonoscev und die Kirchenpolitik des Heiligen Sinod 1880–1905, Göttingen 1969, 28; zur Präzisierung solcher Gedankengänge vgl. auch K. P. Pobedonoszew, Sammlung moskowitischer Studien über das politische und geistige Leben der Gegenwart mit Bezug auf Russland, Dresden 1904. 62  Dazu speziell Bernhard Thies, Die sog. Loris-Melikovsche Verfassung und ihre Vorgeschichte (1863–81) (Teil I und II), phil. Diss. Berlin 1915, bes. 17 ff., 41 ff.; ferner Hans Heilbronner, Alexander III and the Reform Plan of Loris-Melikov, in: JModH 33 (1961), 384–397; zur bevorstehenden „Verfassungsgebung“ im März 1881 vgl. auch den aufschlussreichen Erinnerungsbericht des damals in kaiserlich russischen Diensten stehenden preußischen Generalmajors Richard Graf von Pfeil und Klein-Ellguth, Das Ende Kaiser Alexanders II. Meine Erlebnisse in russischen Diensten 1878–1881, Berlin 1903, 131 f.; zur Deutung des Jahres 1881 als „Schicksalswende“ des Zarenreiches vgl. jetzt sehr überzeugend Matthias Stadelmann, „Die Einladung der Gesellschaft“ und ihre Ausladung. 1881 als Schicksalsjahr in Russlands politischer Geschichte, in: ders. / Lilia Antipow (Hrsg.), Schlüsseljahre. Zentrale Konstellationen der mittel- und osteuropäischen Geschichte. Festschrift für Helmut Altrichter zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2011, 185–201.



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gezündeter Sprengsatz Alexander II. auf der Fahrt über den Katharinenkanal in Sankt Petersburg beide Beine ab. Seine Nachfolger glaubten – zu ihrem und ihres Landes Verhängnis – auf die Absicherung ihrer Herrschaft mittels Konstitutionalisierung verzichten zu können. Revolutionsprophylaxe bestand für sie nicht darin  – wie für alle anderen Monarchen in Europa  –, ihrem Land eine Verfassung zu gewähren. Sie suchten ihr Heil vielmehr in der Neufundierung einer von möglichst wenigen Schranken eingehegten Autokratie. Die mit diesem Begriff in Russland verbundenen Möglichkeiten und Grenzen wurden vorangehend erörtert. Dabei war deutlich geworden, dass der zarischen Macht, selbst in ihren „besten“ Zeiten, Hürden entgegenstanden, die ihre Träger nur schwer überschreiten konnten und in der Vergangenheit niemals mit dauerhaftem Erfolg überschritten hatten. Umso mehr galt dies für das ausgehende 19. Jahrhundert. Die zwanzigjährige Reformperiode unter Alexander II. hatte, trotz mancherlei Gegenwinds63, unhintergehbare Fakten geschaffen – das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit gehörte ebenso dazu wie der Grundsatz der Gewaltenteilung oder die Praxis der regionalen Selbstverwaltung –, die auch Alexander  III. und sein Schreckgespenst Pobedonoscev mit ihrem angestrengten Versuch einer „Gegenreform“64 nicht mehr aus der Welt zu schaffen vermochten. Überdies hatte sich mittlerweile eine einflussreiche, auf liberale Grundsätze verpflichtete Ministerialbürokratie formiert65, die „westlichen“ Verfassungsvorstellungen anhing66 und den Mythos vom Bündnis zwischen Kaiser, Volk und Kirche, wie ihn auch der letzte Zar, Nikolaus II., beharrlich verfocht, nicht mehr unbesehen hinnehmen mochte. Am Ende des 19. Jahrhunderts war in Russland der Ruf nach einer Neulegitimation monarchischer Herrschaft unüberhörbar geworden. Die „große Stunde“ der russischen Verfassungsfreunde67 schlug nach dem Bankrott der zarischen Politik im Russisch-japanischen Krieg und der auf die 63  Frühe reformkritische Gegenstimmen verzeichnet Friedrich Diestelmeier, Soziale Angst. Konservative Reaktionen auf liberale Reformpolitik in Rußland unter Alexander II. (1855–1866), Frankfurt am Main 1985. 64  So treffend Heinz-Dietrich Löwe, Alexander III., in: H.-J. Torke, Die russischen Zaren (Anm. 29), 339–353, hier 348. 65  Dazu vorzüglich W. Bruce Lincoln, In the Vanguard of Reform. Russia’s En­ light­ened Bureaucrats, 1825–1861, De Kalb 1982. 66  Vgl. die Skizzen von Heinz-Dietrich Löwe, Bürgertum, liberale Bewegung und gouvernementaler Liberalismus im Zarenreich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, in: Dieter Langewiesche (Hrsg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen 1988, 515–533, und Manfred Hildermeier, Liberales Milieu in russischer Provinz. Kommunales Engagement, bürgerliche Vereine und Zivilgesellschaft 1900–1917, in: JbbGOE 51 (2003), 498–548. 67  Den (steinigen) Weg der russischen „Konstitutionalisten“ bis zum Durchbruch von 1905 / 06 durchmisst noch immer eindrucksvoll Victor Leontovitsch, Geschichte

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militärische Niederlage folgenden revolutionären Erschütterungen von 1905. Man kann nicht sagen, dass die Konstitutionalisten – wie sie selbst sich nannten – die Gunst dieser Stunde nicht zu nutzen gewusst hätten. Vorbereitet wurde die große Wende – „ein Meilenstein in der Geschichte des russischen Konstitutionalismus“68 – durch den wohl bedeutendsten Kopf in der damaligen Umgebung des Zaren, den Vorsitzenden des Ministerkomitees Grafen Sergej Julevič Vitte (1849–1915). Gegen starke hinhaltende Widerstände des – wie stets – völlig überforderten Monarchen zwang er Nikolaus II. in die Rolle des Verfassungsstifters und rang ihm jenes Manifest vom 17. Oktober 1905 ab, das den Erlass einer Konstitution, die Einrichtung eines vom Volk gewählten Parlaments, die Garantie bürgerlicher Freiheitsrechte, eine effektivere Kontrolle der Verwaltung und, nicht zuletzt, die Bildung eines Kabinetts unter Vorsitz eines politisch verantwortlichen Premierministers ankündigte69. Das dann in Folge dieser zarischen Versprechen ausgearbeitete und am 23. April 1906 in Kraft getretene Staatsgrundgesetz verwandelte das kaiserliche Russland in eine konstitutionelle Monarchie – eindeutig, unwiderruflich und unumkehrbar. Kaum eine Interpretation dürfte die Struktur dieser ersten (und bis 1992 einzigen) rechtsstaatlichen Verfassung Russlands gründlicher missverstanden und vor allem die in ihr beschlossenen Entwicklungsperspektiven restloser verkannt haben, als das sachfremde Lamento Max Webers und sein ebenso herablassendes wie wohlfeiles Diktum vom vermeintlichen russischen Scheinkonstitutionalismus70. Ein Schein kaschiert das Sein und arbeitet mit Attrapdes Liberalismus in Russland, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1974, bes. 341 ff.; neuere, stärker problemorientierte Darstellung bei Klaus Fröhlich, The Emergence of Russian Constitutionalism, 1900–1904. The Relationship between Social Mobilization and Political Group Formation in Pre-revolutionary Russia, Den Haag 1981. 68  So V. Sellin, Das Jahrhundert der Restaurationen (Anm. 34), 125. 69  Die einzelnen Etappenschritte dieses dramatischen Ringens, einschließlich der bewegten Vorgeschichte, schildert minutiös Marc Szeftel, Nicholas II’s Constitutional Decisions of Oct. 17–19, 1905, and Sergius Witte’s Role, in: Album J. Balon, Namur 1968, 461–493, sowie ders., The Form of Government of the Russian Empire Prior to the Constitutional Reforms of 1905–06, in: John Shelton Curtiss (Hrsg.), Essays in Russian and Soviet History in Honor of Geroid Tanquary Robinson, Leiden 1965, 105–119. 70  Vgl. Max Weber, Russlands Übergang zum Scheinkonstitutionalismus (1906). Wiederabgedruckt in: ders., Gesammelte politische Schriften. Mit einem Geleitwort von Theodor Heuss neu hrsg. von Johannes Winckelmann, 2., erw. Aufl. Tübingen 1958, 66–108; vgl. auch: ders., Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Russland (1906), in: ebd., 30–65, sowie ders., Russlands Übergang zur Scheindemokratie (1917), in: ebd., 192–210.  – Alle drei Aufsätze zeugen, trotz demonstrativ herausgekehrter Gelehrsamkeit, von einem deutlichen Mangel an Vertrautheit mit der komplizierten inneren Lage Russlands, welchen Mangel der muntere Schwadroneur im letzten seiner drei Beiträge (S. 192) naiverweise auch offen eingesteht; zur zeitgenös-



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pen. Doch die russische Verfassung von 1906 war keine Attrappe, sondern eine überaus wirkmächtige Realität. Wie jede andere Verfassung des Kontinents band die russische Verfassung von 1906 die meisten politisch relevanten Aktivitäten des Staatsoberhaupts an die Zustimmung der gewählten und im Parlament versammelten Abgeordneten. Die Duma besaß jene beiden verfassungsmäßig verbürgten Kompetenzen, die jeder Volksvertretung zustehen, wenn sie denn rechtmäßigerweise den Anspruch auf eine solche Bezeichnung erheben will: Teilhabe an der Legislative zum einen, Beratung und Genehmigung des Staatshaushalts zum anderen. Kein Gesetz konnte ohne Zustimmung der Duma-Mehrheit verabschiedet werden oder gar in Kraft treten. Gegen ihr Votum konnten keine Steuern eingeführt, keine Anleihen erhoben, keine Ausgaben getätigt werden. Zwar besaß der Zar ein Vetorecht sowie Prärogativen im militärischen Bereich und in der Außenpolitik; Artikel 87 des Staatsgrundgesetzes von 1906 verlieh ihm zudem das Recht, Gesetze zu erlassen, wenn die Duma nicht tagte. Doch die Artikel 69 bis 83 regelten „Rechte und Pflichten des russischen Bürgers“ – und dort findet sich eine lückenlose Auflistung aller damals im gesamteuropäischen Kontext relevanten Grundrechte, von der Unverletzlichkeit der Person, des Hauses und des Eigentums, über die Freiheit der Orts- und Berufswahl, der Vereins- und Parteigründung, bis hin zur Meinungs- und Presse-, Religions- und Versammlungsfreiheit71. Selbstverständlich war das alles noch kein endgültiger Sieg des parlamentarischen Prinzips über die autokratischen Allüren des letzten Zaren, der im Übrigen alles andere als ein führungsstarker oder gar durchsetzungsfähiger Selbstherrscher gewesen ist72. Zwischen Verfassungstext und staatlicher Wirklichkeit klaffte, wie so häufig, eine erhebliche Distanz. Die Minister waren generell nicht der Duma, sondern dem Zaren gegenüber einzeln verantwortlich, und Nikolaus II. hat seine Minister im letzten Jahrzehnt seiner Herrschaft auf eine geradezu inflationäre Weise verschlissen. Im Juni 1907 verfügte die kaiserliche Regierung zudem eine Wahlrechtsänderung, die den Adel und den städtischen Besitz massiv begünstigte73. Doch ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass ein vergleichbarer Wahlmodus in der sischen Kritik und Korrektur solcher Positionen vgl. bereits Anton Palme, Die Russische Verfassung, Berlin 1910. 71  Edition und umfassende Interpretation des Verfassungstextes bei Marc Szeftel, The Russian Constitution of April 23, 1906. Political Institutions of the Duma Monarchy, Brüssel 1976. 72  Als Fallstudie zu seiner hilflosen Politik während der Bewährungsprobe des Jahres 1905 diesbezüglich sehr aufschlussreich Andrew M. Verner, The Crisis of Russian Autocracy. Nicholas II and the 1905 Revolution, Princeton 1990. 73  Dazu Marc Szeftel, The reform of the Electoral Law to the State Duma on June  3, 1907. A New Basis for the Formation of the Russian Parliament, in: Liber Memorialis Georges de Lagarde. Études Présentées à la commission internationale pour l’histoire des assemblées d’états, Louvain / Paris 1970, 319–367; zu den umfäng-

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Vorweltkriegszeit auch in vielen anderen europäischen Ländern üblich war. Zensuswahlrechte gab es in Schweden bis 1911, in Italien bis 1912, in Dänemark bis 1915, in den Niederlanden bis 1917, in Großbritannien bis 1918 und in Belgien bis 191974. Auf jeden Fall bot die russische Duma seit 1906 das Forum für politische Meinungsäußerungen und für anspruchsvolle Debatten über alle wichtigen Probleme im Land. Sie ermöglichte darüber hinaus den sich rasch etablierenden politischen Parteien erhebliche Entfaltungsper­ spektiven75, und sie eröffnete einer parlamentarischen Opposition Raum zu weitgehend unbeschränkter Artikulation. Wie effektiv in der Vorweltkriegsduma entscheidende Probleme der inneren Staatsgestaltung diskutiert und durch Gesetzesvorlagen in wenigen Jahren einer zumeist an „westlichen“ Modellen orientierten Lösung nähergebracht wurden, zeigen die von der Forschung erst in allerjüngster Zeit rekonstruierten Reformdebatten zur Ar­ grarfrage, zur Arbeiter- und Arbeitslosenversicherung und zur Todesstrafe76. Mit alledem schuf das Staatsgrundgesetz von 1906 die Voraussetzung für die machtvoll einsetzende Herausbildung einer „bürgerlichen“, vielfach „westlich“ orientierten Öffentlichkeit77 – und dies umso mehr, als nun eine Vielzahl von Presseorganen, Vereinen und Klubs aus dem Boden wuchs, in deren Einzugsfeld sich erste Keime dessen zu regen begannen, was man später mit dem Begriff „Zivilgesellschaft“ bezeichnet hat78. Das Ausmaß der lichen Aktivitäten der letzten Vorweltkriegs-Duma Alfred Levin, The Third Duma. Elections and Profile, Hamden 1973. 74  Zur Problematik allgemein Markus Mattmüller, Die Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts als gesamteuropäischer Vorgang, in: Beta Junker / Peter Gilg / Richard Reich (Hrsg.), Geschichte und politische Wissenschaft. Festschrift für Erich Gruner zum 60. Geburtstag, Bern 1975, 213–236. 75  Zu der damit verbundenen Problematik Terence Emmons, The Formation of Polit­ ical Parties and the First National Elections in Russia, Cambridge 1983, bes. 206 ff. 76  Dazu jetzt vorzüglich Benjamin Beuerle, Russlands Westen. Westorientierung und Reformgesetzgebung im ausgehenden Zarenreich, 1905–1917, Wiesbaden 2016, bes. 29 ff., 327 ff. 77  Dazu bereits Manfred Hagen, Die Entfaltung politischer Öffentlichkeit in Russland 1906–1914, Wiesbaden 1982. 78  Zu diesem Themenfeld, dessen intensive Erforschung jahrzehntelang weithin tabuisiert war und überhaupt erst seit dem Niederbruch des Bolschewismus in den 1990er Jahren in großem Umfang möglich geworden ist, vgl. vor allem die vorzüglichen Studien von Joseph Bradley, Voluntary Associations, Civic Culture, and „Obshchestvennost“ in Moscow, in: Edith W. Clowes / Samuel D. Kasow / James L. West (Hrsg.), Between Tsar and People. Educated Society and the Quest for Public Identity in Late Imperial Russia, Princeton 1991, 131–148; ders., Russia’s Parliament of Public Opinion. Association, Assembly, and the Autocracy, 1906–1914, in: Theodore Taranovski (Hrsg.), Reform in Modern Russian History. Progress or Cycle?, Cambridge 1995, 212–236; ders., Subjects into Citizens. Societies, Civil Society, and the State in Tsarist Russia, in: AHR 107 (2002), 1094–1123, sowie zuletzt umfassend ders., Associations in Tsarist Russia. Science, Patriotism, and Civil Society, Cambridge 2009.



Zwischen Autokratie und Konstitutionalismus

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gegebenen Möglichkeiten wird sichtbar durch die Tatsache, dass zwischen 1906 und 1914 allein über 3000 Publikationen eindeutig marxistischen Inhalts im zarischen Russland legal erscheinen und ungehindert vertrieben werden konnten79. Andererseits aktivierte der nun auch im Zarenreich mit voller Macht einsetzende Prozess der Fundamentalpolitisierung und Massenmobilisierung80 mancherlei trübe Begleiterscheinung – so etwa den „von den lokalen Behörden meist geduldeten, gelegentlich sogar geschürten“ Antisemitismus81, der sich, nicht zuletzt, in zahlreichen Pogromen gegen die jüdische Minorität als vermeintliche Vorreiterin des „westlich-kapitalistischen Systems“ artikulierte82. Niemand vermag zu sagen, wie lange Zeit das seit 1906 konstitutionell verfasste kaiserliche Russland benötigt hätte, um diese hoffnungsfrohen Ansätze zur vollen Entfaltung zu bringen – wenn sie nicht durch den Einbruch der Katastrophe vom August 1914 verschüttet worden wären. Marc Szeftel, der bis heute noch immer beste Kenner der russischen Verfassung von 1906, hat die Frage nach den parlamentarischen Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten der Duma-Monarchie in zahlreichen fundierten Veröffentlichungen eindeutig positiv beantwortet und dem hinhaltenden Widerstand der zarischen Autokratie keine dauernde Durchhaltekraft zugesprochen83. Andere Interpre79  Zahlenangaben nach Günther Stökl, Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 4., erw. Aufl. Stuttgart 1983, 619; zum Ganzen auch Caspar Ferenczi, Freedom of the Press under the Old Regime, 1905–1914, in: Olga Crisp / Linda Edmondson (Hrsg.), Civil Rights in Imperial Russia, Oxford 1989, 191–214. 80  Darüber zuletzt in gesamteuropäischer Vergleichsperspektive Frank-Lothar Kroll, Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg, Berlin 2013, 39 f., 50. 81  Eindrucksvoll nachgewiesen bei Heinz-Dietrich Löwe, Antisemitismus und reaktionäre Utopie. Russischer Konservatismus im Kampf gegen den Wandel von Staat und Gesellschaft, 1890–1917, Hamburg 1978, bes. 75–105, 199–207, Zitat 202. 82  Vgl. speziell Heinz-Dietrich Löwe, Antisemitismus in der ausgehenden Zarenzeit, in: Bernd Martin / Ernst Schulin (Hrsg.), Die Juden als Minderheit in der Geschichte, 3. Aufl. München 1985, 184–208; zur wachsenden Dynamik kollektiver Gewalt in den Jahren nach 1905 neuerdings Stefan Wiese, Pogrome im Zarenreich. Dynamiken kollektiver Gewalt, Hamburg 2016, bes. 259 ff. 83  Vgl. Marc Szeftel, Le règlement d’ordre intérieur de la Douma russe et sa portée constitutionnelle dans le domaine législatif, in: PER 3 (1983), 57–61; ders., Extension des privilèges constitutionnels de la Douma russe dans les „interstices de la procédure“ 1906–1917, in: PER 4 (1984), 67–74; ders., Publicity of Parliamentary Business and Debates of the Russian Chambers, in: Studies presented to the International Commission for the History of Representative and Parliamentary Institutions, Bd. 67, Perugia / Rimini 1983, 707–711; ders., Parliamentary Immunity in Imperial Russia, 1900–1917, in: PER 5 (1985), 79–82; zuletzt ders., The Problem of Russian Constitutional Development in the Light of Recent Views, in: ebd., 109–118; dort auch eine Auseinandersetzung mit den wichtigsten Vertretern der entgegenstehenden Forschungsmeinung.

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ten begegneten der russischen Verfassungswirklichkeit zwischen 1906 / 07 und 1914 / 17 mit größerer Skepsis84. Unstrittig ist, jenseits aller interpretatorischen Divergenzen, das hohe Maß an Eigendynamik, deren immanente Entwicklungslogik den Begriff der Autokratie seit 1906 zu „einer leeren Formel machte“ und das Staatsgrundgesetz „als Einrichtung und Vertrauensträger so tiefe Wurzeln [schlagen ließ], dass niemand mehr daran denken konnte, es abzuschaffen“85. Es waren, allen voran, prominente Vertreter der zarischen Autokratie, die solche Optionen dennoch erwogen. Der von ihnen zuletzt leichtfertig mit heraufbeschworene Krieg und die an dessen Ende stehende totalitäre Machtusurpation und nachfolgende Monsterherrschaft der Bolschewisten haben Russland schließlich in jenen Abgrund geführt, aus dessen Untiefen es sich erst in unseren Tagen mühsam wieder herauszuarbeiten beginnt.

84  So z. B. Geoffrey A. Hosking, The Russian Constitutional Experiment. Government and Duma, 1907–1914, Cambridge 1973; dazu direkt Marc Szeftel, Two Negative Appraisals of Russian Pre-Revolutionary Development, in: Canadian and American Slavic Studies 1980, 74–87. 85  Manfred Hildermeier, Liberalismus in Russland, in: Rüdiger Hohls / Iris Schröder / Hannes Siegerist (Hrsg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Wiesbaden / Stuttgart 2005, 307–314, hier 313.

Die Habsburger – eine alteuropäische Dynastie im Spannungsfeld von Konstitutionalismus und Nationalismus Von Matthias Stickler, Würzburg I. Grundsätzliches Schon der Name „Habsburgermonarchie“ für die Königreiche und Länder, die vom Haus Habsburg regiert wurden1, verweist auf die eminente Bedeu1  Zur Entstehung des nicht zeitgenössischen, aber gleichwohl gut geeigneten Begriffes „Habsburgermonarchie“ vgl. Matthias Stickler, „Die Habsburgermonarchie 1848–1918“  – Ein Jahrhundertwerk auf der Zielgeraden, in: Historische Zeitschrift 295 / 3 (2012), 690–719, hier v. a. 707 f. Zur Geschichte der Habsburgermonarchie bzw. zur Thematik dieses Beitrags vgl. v. a. folgende Werke: Harm-Hinrich Brandt, Parlamentarismus als staatliches Integrationsproblem. Die Habsburger-Monarchie, in: Deutscher und Britischer Parlamentarismus / British and German Parliamentarism, hrsg. v. Adolf M. Birke / Kurt Kluxen (Prinz-Albert-Studien, 3), München / New York / Paris 1985, 69–106; Wilhelm Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, 2. Aufl. Wien 1980; ders., Die Habsburgermonarchie als zusammengesetzter Staat, in: Zusammengesetzte Staatlichkeit in der Europäischen Verfassungsgeschichte (Beihefte zu „Der Staat“, 16), hrsg. v. Hans-Jürgen Becker, Berlin 2006, 197–236; Hugo Hantsch, Die Geschichte Österreichs. Bde. 1 u. 2, 4. bzw. 5. Aufl. Graz / Köln 1969 /  1968; Robert A. Kann, Geschichte des Habsburgerreiches 1526–1918 (Forschungen zur Geschichte des Donauraumes, 4), 2. Aufl. Wien 1982; Helmut Rumpler, 1804– 1914. Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie, Wien 1997; Alan Sked, Der Fall des Hauses Habsburg. Der unzeitige Tod eines Kaiserreichs, Berlin 1993 (englische Originalausgabe 1989, 2. Aufl. London 2001); Matthias Stickler, Dynastie, Armee, Parlament – Probleme staatlicher Integrationspolitik im 19. Jahrhundert am Beispiel Österreichs und Sachsens, in: Zwischen Tradition und Modernität. König Johann von Sachsen 1801–1873, hrsg. v. Winfried Müller / Martina Schattkowsky, Leipzig 2004, 109–140; ders., Reichsvorstellungen in Preußen-Deutschland und der Habsburgermonarchie in der Bismarckzeit, in: Imperium / Empire / Reich. Ein Konzept politischer Herrschaft im deutsch-britischen Vergleich (Prinz-Albert-Studien, 16), hrsg. v. Franz Bosbach / Hermann Hiery, München 1999, 133–154; ders., Staatsorganisation und Nationalitätenfrage in der Habsburgermonarchie 1804–1918, in: Europas verlorene und wiedergewonnene Mitte. Das Ende des Alten Reiches und die Entstehung des Nationalitätenproblems im östlichen Mitteleuropa (Chemnitzer Europastudien, 11), hrsg. v. Frank-Lothar Kroll / Hendrik Thoß, Berlin 2011, 47–76; Adam Wandruszka [ab Bd. VII Helmut Rumpler] / Peter Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie

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tung der Dynastie für Entstehung und Zusammenhalt dieses Reichsgebildes. Vor dem Hintergrund vergleichbarer Staatsbildungsprozesse im Europa der Frühen Neuzeit – man denke etwa an Brandenburg-Preußen, das Kurfürstentum bzw. Königreich Sachsen oder Bayern – stellt der dynastische Charakter der habsburgischen Herrschaftsbildung keineswegs ein ungewöhnliches Phänomen dar. Gleichwohl betrieb das Haus Habsburg seit den Tagen Kaiser Maximilians I. (reg. 1493–1519) eine besonders weit ausgreifende dynastische Politik, die durch die Ehe dieses Kaisers mit Maria von Burgund, der Erbtochter Herzog Karls des Kühnen (1433–1477), zunächst ins westliche Mitteleuropa und als Folge der spanischen Ehe von Marias Sohn Philipp dem Schönen (1478–1506) nach Südeuropa und in die Überseebesitzungen Spaniens, kurzzeitig auch Portugals, ausgriff. Zusammenhalten ließ sich dieses weltumspannende Imperium freilich dauerhaft nicht: Nachdem bereits Kaiser Karl V. (reg. 1519–1556) 1556 die habsburgischen Länder in einen spanischen und einen österreichisch-deutschen Komplex aufgeteilt hatte, gingen nach dem Aussterben der spanischen Habsburger im Jahr 1700 deren Besitzungen als Folge des Spanischen Erbfolgekriegs (1701–1714) dem Gesamthaus mehrheitlich verloren. Behauptet werden konnten lediglich der Rest des burgundischen Erbes sowie einige Besitzungen in Italien. Auffällig im Vergleich zu anderen Herrschaftsbildungen ist, dass die Dynastie für die Wahrung des Zusammenhalts der Habsburgermonarchie bis zu deren Untergang 1918 ein unverzichtbares konstitutives Element blieb. Man könnte etwas überspitzt formulieren, dass, anders als in anderen europäischen Staaten, eine „Verstaatlichung“ des Hauses Habsburg bzw. eine saubere juristische Trennung von Dynastie und Staat bis 1918 nicht gelang. Die Ursachen hierfür liegen in der Tatsache begründet, dass sich seit dem 17. Jahrhundert die Vereinigung aller Erbländer zu einem Staat als unmöglich erwies – v. a. aufgrund der überkommenen Sonderstellung Ungarns. Entsprechend verwundbar war die Habsburgermonarchie im langen 19. Jahrhundert auch angesichts der Herausforderungen des modernen Konstitutionalismus und des ethnisch begründeten Nationalismus, da beides geeignet war, angesichts größer werdender zentrifugaler Tendenzen, nicht systemstabilisierend, sondern desintegrativ zu wirken – anders als etwa in Bayern und Württemberg, wo die Verfassungen von 1818 bzw. 1819 halfen, die neu erworbenen Landesteile in die jungen Königreiche zu integrieren2. 1848–1918. Bisher erschienen die Bde. I, II, III.1 u. III.2, IV, V, VI.1 u. VI.2, VII.1 u. VII.2, VIII.1 u. VIII.2, IX.1.1, IX.1.2 u. IX.2 sowie XI.1 u. XI.2, Wien 1973–2016. 2  Vgl. hierzu Matthias Stickler, Monarchischer Konstitutionalismus als Modernisierungsprogramm? Das Beispiel Bayern und Württemberg (1803 bis 1918), in: Inszenierung oder Legitimation? / Monarchy and the Art of Representation. Die Monarchie in Europa im 19. und 20. Jahrhundert. Ein deutsch-englischer Vergleich (PrinzAlbert-Studien, 31), hrsg. v. Frank-Lothar Kroll und Dieter J. Weiß, Berlin 2015, 47–65.



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Wie zentral, gleichzeitig aber auch umstritten, die Rolle der regierenden Dynastie3 in der Habsburgermonarchie war, zeigt vor allem die Tatsache, dass diese immer wieder, letztlich aber vergeblich, versuchte, ihren offiziellen Namen  – Haus Österreich (spanisch „Casa de Austria“)  – zum Namen der Gesamtheit der habsburgischen Erbländer zu machen. Streng genommen besaß die Monarchie bis zu ihrem Untergang keinen allseits anerkannten Namen. Die Frage nach einem solchen stellte sich erstmals im Kontext des Niedergangs des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, als Kaiser Franz II. (reg. 1792 / 1804–1806 / 1835) im Vorgriff auf die Erhebung Napoleon Bonapartes zum „Kaiser der Franzosen“ durch die allerhöchste Pragmatikalverordnung vom 11. August 1804 die erbliche Würde eines „Kaisers von Österreich (als den Namen Unseres Erzhauses)“ annahm4. Seither trugen die habsburgischen Erbländer den Namen „Kaiserthum Österreich“, wobei umstritten blieb, ob damit auch Ungarn gemeint war. Dennoch hatte der neue Name faktische Konsequenzen, weil die Monarchie im völkerrechtlichen Verkehr seither als konkret benennbare politische Einheit auftrat und die Untertanen in der Außenwahrnehmung nun zunächst als „Österreicher“ angesehen wurden. Im Zuge der dualistischen Umgestaltung der Habsburgermonarchie 1867 gab es dann durch das Allerhöchste Handschreiben vom 14. November 1868 einen Namenswechsel, der den geänderten Verfassungsverhältnissen Rechnung trug: Statt „Kaiserthum Österreich“ sollte die „Gesammtheit aller unter Meinem Scepter verfassungsmäßig vereinigten Königreiche und Länder“ nun als „Österreichisch-ungarische Monarchie“ oder „Österrei3  Zur Geschichte des Hauses Habsburg vgl. v. a.: Michael Erbe, Die Habsburger 1493–1918. Eine Dynastie im Reich und in Europa, Stuttgart u. a. 2000; Brigitte Hamann (Hrsg.), Die Habsburger. Ein biographisches Lexikon, 3. Aufl. Wien 1988; dies., Der Wiener Hof und die Hofgesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Hof und Hofgesellschaft in den deutschen Staaten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit, 18), hrsg. v. Karl Möckl, Boppard / Rhein 1990, 61–78; Lothar Höbelt, Die Habsburger. Aufstieg und Glanz einer europäischen Dynastie, Stuttgart 2009; Anton Schindling / Walter Ziegler (Hrsg.), Die Kaiser der Neuzeit 1519–1918. Heiliges Römisches Reich, Österreich, Deutschland, München 1990; Hannes Stekl, Der Wiener Hof in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Hof und Hofgesellschaft (wie oben), 17–60; Peter Urbanitsch, Pluralist Myth and Nationalist Realities: The Dynastic Myth oft the Habsburg Monarchy – a Futile Exercise in the Creation of Identity?, in: Austrian History Yearbook 35 (2002), 101–141; Brigitte Vacha (Hrsg.), Die Habsburger. Eine europäische Familiengeschichte. Verfasst von Walter Pohl u. Karl Vocelka, Graz / Wien / Köln 1992; Karl Vocelka / Lynne Heller, Die Lebenswelt der Habsburger. Kultur- und Mentalitätsgeschichte einer Familie, Graz / Wien / Köln 1997; Diess., Die private Welt der Habsburger. Leben und Alltag einer Familie, Graz / Wien / Köln 1998; Adam Wandruszka, Das Haus Habsburg. Die Geschichte einer europäischen Dynastie, 3. Aufl. Wien / Freiburg / Basel 1989. 4  Hervorhebung vom Verfasser, zitiert nach Joseph Ulbrich, Das österreichische Staatsrecht, Tübingen 1909, 31.

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chisch-ungarisches Reich“ bezeichnet werden5. Auch diese neue Begrifflichkeit – erstmals wurde der Name der Dynastie mit dem eines Kronlandes verbunden – hatte zunächst einmal Konsequenzen für den internationalen diplomatischen Verkehr und blieb, wie die alte, „reichsintern“ immer umstritten; vor allem die Ungarn lehnten eine ihr Königreich einschließende Gesamtstaatsbezeichnung nach wie vor ab. Ähnliche begriffliche Unschärfen zeigen sich auch in der westlichen Reichshälfte, die von 1867 bis 1915 amtlich als „Die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“, nicht aber, was in gewissem Sinne logisch gewesen wäre, „Österreich“ bezeichnet wurde. Letzteres war insbesondere gegen die Tschechen nicht durchsetzbar und widersprach auch der dynastischen Ideologie einer alle Erbländer überwölbenden österreichisch-habsburgischen Reichsidee. Als informeller Ersatz für das Wortungetüm setzte sich dann immer mehr der Name Cisleithanien (nach dem Fluss Leitha, der die Grenze zu Ungarn markierte) durch, der auch in die Forschungsterminologie Eingang fand. Der Name „Österreich“ für Cisleithanien wurde erst am 3.  November 1915 auf dem Umweg über eine Wappenordnung gleichsam offiziell, die Umschreibung blieb aber bis zum Untergang der Monarchie weiterhin gebräuchlich6. II. „Das Vaterland“ schlechthin – Das Haus Habsburg als dynastischer Gegenentwurf zum konstitutionellen Staat Auch wenn der Name Habsburgermonarchie, wie erwähnt, nicht zeitgenössisch, sondern eine mittlerweile etablierte Hilfsbezeichnung aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist, so umschreibt er doch zutreffend das, was Kaiser Franz Joseph unter der „Gesammtheit aller unter Meinem Scepter verfassungsmäßig vereinigten Königreiche und Länder“ verstand, indem er abhebt auf die zentrale Funktion der Dynastie für den Zusammenhalt dieses multiethnischen und anstaltsstaatlich nur teilweise integrierten Gebildes. Dieser basierte letztendlich auf der Pragmatischen Sanktion von 17137, welche bis 1918 das einzige alle Königreiche und Länder bindende 5  Zitiert nach Ernst Mischler / Joseph Ulbrich, Oesterreichisches Staatswörterbuch, Bd. 2.1, Wien 1896, 207. 6  Vgl. W. Brauneder, Die Habsburgermonarchie (Anm. 1), 235. Zu dieser Frage vgl. auch Gerald Stourzh, Der Dualismus 1867 bis 1918: Zur staatsrechtlichen und völkerrechtlichen Problematik der Doppelmonarchie, in: H. Rumpler / P. Urbanitsch, Die Habsburgermonarchie 1848–1918 (Anm. 1), Bd. VII.1.: Verfassung und Parlamentarismus (2000), 1177–1230. 7  Vgl. hierzu Wilhelm Brauneder, Die Pragmatische Sanktion als Grundgesetz der Monarchia Austriaca von 1713 bis 1918, in: Recht und Geschichte. Festschrift Hermann Baltl zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Helfried Valentinitsch, Graz 1988, 51–84.



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Verfassungsgesetz blieb und, vereinfacht gesagt, festschrieb, dass diese vereint bleiben sollten, so lange es Habsburger in agnatischer oder cognatischer Deszendenz gebe. Das „Reich“ wurde dadurch, wie der deutschnationale österreichische Historiker Viktor Bibl zutreffend, wenn auch mit deutlich polemischem Unterton festgestellt hat, als großer Kron-Fideikommiss konstituiert8. Die Selbständigkeit der historischen Kronländer wurde von diesem Verfassungsgesetz verfassungsrechtlich nicht berührt, weshalb v. a. die ungarischen Stände die Existenz eines Reiches überhaupt zu bestreiten pflegten. Gestützt wurde diese Argumentation in gewissem Sinne durch die Art des Zustandekommens der Pragmatischen Sanktion im Wege von Einzelvereinbarungen zwischen Kaiser Karl VI. (reg. 1711–1740) in seiner Funktion als Landesherr mit den jeweiligen Landständen der Kronländer und eben nicht mit Reichs- oder Generalständen, die es nicht gab und die zu diesem Zwecke auch nicht gebildet wurden. Da, worauf noch genauer einzugehen sein wird, bis 1918 alle Versuche misslangen, die Habsburgermonarchie zu einem wirklichen Staat umzuformen, sei es auf altständisch-föderativer, josephinisch-zentralistischer, deutschliberal-zentralistischer oder multinationalföderativer Basis, blieb die Dynastie das wichtigste Bindeglied für den Zusammenhalt des Gesamtreiches, ohne sie war es schlechterdings nicht vorstellbar. Nachdem das Haus Österreich mit Karl VI. fast ausgestorben wäre, sorgte die reiche Nachkommenschaft der Ehe Erzherzogin Maria Theresias (1717– 1780) mit Franz Stephan von Lothringen (1708–1765, seit 1745 als Franz I. Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation) dafür, dass die Dynastie, die nunmehr auch als Haus Habsburg-Lothringen bezeichnet wurde, fortexistierte. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab es sechs Familienzweige bzw. Linien, die zurückgingen auf die Söhne Kaiser Franz I. und Maria Theresias bzw. deren zweitgeborenen Sohn Kaiser Leopold II. (1747–1792, reg. 1790–1792)9: 1.  Die auf Leopold II. zurückgehende kaiserliche Hauptlinie, die fortgesetzt wurde von seinem Sohn Franz II. (I.)10, dessen Sohn Ferdinand I. („der 8  Viktor

Bibl, Die Tragödie Österreichs, Leipzig / Wien 1937, 33. älterer Bruder Joseph II. (1741–1790, reg. 1765 / 1780–1790) hatte bekanntlich keine männlichen Erben gehabt. Zu den im Folgenden genannten Habsburgern vgl., sofern nicht anders angegeben, die Kurzbiographien in: B. Hamann, Die Habsburger (Anm. 3); in diesem Werk finden sich auch übersichtliche Stammtafeln. 10  Vgl. Walter Ziegler, Franz II. / I. (1792–1835). Kaiser, Dynastiechef, Landesvater, in: „Johann und seine Brüder“. Neun Brüder und vier Schwestern  – Habsburger zwischen Aufklärung und Romantik, Konservativismus, Liberalismus und Revolution. Beiträge der Internationalen Tagung vom 4. / 5.  Juni 2009 in Graz (Veröffentlichungen der Historischen Landeskommission für Steiermark, 42), hrsg. v. Alfred Ableitinger / Marlies Raffler, Graz 2012, 59–78. 9  Dessen

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Gütige“, reg. 1835–1848), dessen Neffen Franz Joseph I. (reg. 1848–1916) und dessen Großneffen Karl I. (reg. 1916–1918). 2.  Die ebenfalls auf Leopold II. zurückgehende Linie der Großherzöge der Toskana11, welche fortgesetzt wurde durch seinen Sohn Großherzog Ferdinand III. (reg. 1792–1824, 1805–1814 Großherzog von Würzburg), dessen Sohn Großherzog Leopold II. (reg. 1824–1859) und dessen Sohn Großherzog Ferdinand IV. (reg. 1859–1860). Diese Linie genoss bis zur endgültigen Anerkennung des Königreichs Italien durch Österreich im Jahr 1866 insofern eine Sonderstellung, als sie als Sekundogenitur „mit eigener Souveränität begabt“ war, d. h. innerhalb des Gesamthauses einen autonomen Status hatte. 3.  Die auf Leopolds II. Sohn Erzherzog Carl (1771–1847) zurückgehende Linie der Herzöge von Teschen (Carl war durch Herzog Albert von SachsenTeschen, der mit Erzherzogin Maria Christina, Lieblingstochter Maria Theresias, in kinderloser Ehe verheiratet war, adoptiert worden), welche fortgesetzt wurde durch seinen Sohn Erzherzog Albrecht (1817–1895) und dessen Neffen Erzherzog Friedrich (1856–1936). 4.  Die auf Leopolds II. Sohn Erzherzog-Palatin Joseph Anton (1776–1847) zurückgehende sogenannte ungarische Linie des Hauses Habsburg, die fortgesetzt wurde durch seine Söhne, den Erzherzog-Palatin Stephan-Viktor (1817–1867, abgesetzt 1848) bzw. Erzherzog Joseph (1833–1905) und dessen Sohn Erzherzog Joseph August (1872–1962). 5.  Die auf Leopolds II. Sohn Erzherzog Rainer Joseph (1783–1853) zurückgehende sogenannte „Linie Erzherzog Rainer“, die mit dessen kinderlosem Sohn Erzherzog Rainer Ferdinand (1827–1913) ausstarb. 6.  Die auf Leopolds II. Bruder Erzherzog Ferdinand (1754–1806) zurückgehende Linie Österreich-Este. Dessen ältester Sohn Franz (IV., 1814–1846) begründete 1814 als Erbe seiner Mutter Maria Beatrix von Modena-Este die Linie der Herzöge von Modena, welche allerdings 1860 als Folge der italienischen Einigung die Herrschaft verlor und 1875 mit seinem Sohn Herzog Franz V. (1846–1860) im Mannesstamm erlosch; lediglich der Titel „Österreich-Este“ und das beträchtliche Vermögen gingen 1876 auf Erzherzog Franz Ferdinand (1863–1914) und nach diesem (1917) auf den zweitgeborenen Sohn Kaiser Karls, Erzherzog Robert (geb. 1915), über. Wie die Linie Toskana galt auch die Linie Österreich-Este bis 1866 als „mit eigener Souveränität begabt“. 11  Vgl. hierzu im Überblick: Franz Pesendorfer, Die Habsburger in der Toskana, Wien 1988. Zu Ferdinand III. vgl. zuletzt: Matthias Stickler, Großherzog Ferdinand III. von Toskana – ein Habsburger im Spannungsfeld von aufgeklärtem Spätabsolutismus und liberalkonservativer Reformpolitik, in: „Johann und seine Brüder“ (Anm. 10), 79–98.



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Das Haus Habsburg war als Familienkorporation verfasst, d. h. die Agnaten waren, was in dem allen gemeinsamen Titel „Erzherzog“ zum Ausdruck kommt, prinzipiell gleichrangig. Diese Gleichrangigkeit ergab sich aus dem kraft Geburt erworbenen eventuellen Anspruch auf die Regierungsnachfolge; Unterschiede resultierten lediglich aus der jeweiligen Nähe zum Thron bzw. besonderen Gunsterweisen des jeweils regierenden Kaisers. Dass das Haus Habsburg über die beschriebene zentrale Rolle im Gesamtgefüge der Habsburgermonarchie verfügte, wurde von seinen maßgeblichen Vertretern überwiegend nicht als Defizit empfunden, es entsprach vielmehr dem eigenen Selbstverständnis. Für Erzherzog Albrecht von Österreich (1817–1895)12, Berater und enger Vertrauter Kaiser Franz Josephs13 und in gewissem Sinne eine Art „Cheftheoretiker“ der Dynastie mit großem Einfluss bei Hofe, verkörperte sich im Haus Österreich „das Vaterland“ schlechthin, den „liberalen u. abstrakten Begriff des Staates“ lehnte er ab. „In diesem Ausdrucke [Haus Österreich] spricht sich das Wesen der Legitimität, der Unsterblichkeit der Monarchie aus.“ In diesem Nimbus erblickte er die Garantie für die Existenz von Dynastie und Reich: „Die Dynastie, das Herrscherhaus, muß durch 1 weite Kluft von allen Unterthanen getrennt seyn; keiner der letzteren darf in äusseren Ehren, u. wenn er noch so hoch gestiegen wäre, dem jüngsten Mitgliede des Hauses gleichgestellt werden.“ Dies war selbstverständlich eine Kampfansage an die egalitäre bürgerliche Leistungsethik. Doch Erzherzog Albrecht ging noch einen Schritt weiter; für ihn schlug sich die Sonderstellung der Dynastie v. a. in ihrer korporativen Verfasstheit als selbständiger Rechtsgemeinschaft nieder, die außerhalb des Untertanenverbandes stand: „Das Herrscherhaus hat seine eigenen Gesetze, in dem gemeinsam vereinbarten Familienstatute, der Kaiser ist das Oberhaupt der Familie, deren Gerichtsherr, deren Souverain, die Mitglieder müssen Ihm 12  Zu Erzherzog Albrecht vgl. Johann Christoph Allmayer-Beck, Der stumme Reiter: Erzherzog Albrecht. Der Feldherr Gesamtösterreichs, Graz u. a. 1997; Brigitte Hamann, Erzherzog Albrecht – die graue Eminenz des Habsburgerhofes, in: Politik und Gesellschaft im alten und neuen Österreich, Festschrift für Rudolf Neck zum 60.  Geburtstag, hrsg. von Isabella Ackerl u. a., Bd. 1, München 1981, 62–77; Matthias Stickler, Erzherzog Albrecht. Selbstverständnis und Politik eines konservativen Habsburgers im Zeitalter Kaiser Franz Josephs (Historische Studien, 450), Husum 1997; zum Folgenden vgl. ebd., 61–68. 13  Zu Kaiser Franz Joseph vgl.: Jean Paul Bled, Franz Joseph. „Der letzte Monarch der alten Schule“, Wien / Köln / Graz 1988; Harm-Hinrich Brandt, Franz Joseph I. von Österreich (1848–1916), in: Die Kaiser der Neuzeit 1519–1918 (Anm. 3), 341– 381; Lothar Höbelt, Franz Joseph I. Der Kaiser und sein Reich. Eine politische Geschichte, Wien 2009; Joseph Redlich, Kaiser Franz Joseph von Österreich, Berlin 1929; jetzt neu: Karl Vocelka / Michaela Vocelka, Franz Joseph I. Kaiser von Österreich und König von Ungarn 1830–1916. Eine Biographie, München 2015; Christoph Schmetterer, Kaiser Franz Joseph I., Wien 2016.

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Gehorsam, Ehrerbietung zollen, seine treuesten Diener seyn, überall den Unterthanen mit dem besten Beispiel vorangehen, selbst Unterthanen im eigentlichen Sinne des Wortes sind sie nicht, können sie nicht seyn, weil jeder von ihnen das volle Anrecht auf den Thron, in der festgesetzten Reihenfolge hat; eben diese Reihenfolge bestimmt den Rang unter den Mitgliedern, im Übrigen u. gegenüber den Unterthanen sind sie in Bezug auf die ihrer Geburt anklebenden Ehren gleich, u. nur die Majestäten stehen hoch über diesem Niveau.“14 Das Familienstatut, welches Erzherzog Albrecht hier erwähnt, war 1839 nach mehrjährigen Vorarbeiten in Kraft gesetzt worden15. Es diente der schriftlichen Fixierung der bisher gewohnheitsrechtlich geregelten Familiengesetzgebung. Der Gedanke der korporativen Verfasstheit der Dynastie war hierbei insofern beachtet worden, als die einzelnen Erzherzöge an den Verhandlungen beteiligt wurden und ein Einspruchsrecht besaßen, dem man meist Rechnung getragen hatte. Bezeichnenderweise wurden mit Ausnahme der Ungarischen Hofkanzlei keine anderen Vertreter der Kronländer an der Ausarbeitung beteiligt, wie auch das endgültige Statut bis 1918 im Prinzip geheim blieb. Neben der Regelung der Beziehungen der einzelnen Agnaten und Cognaten zum Kaiser bzw. der einzelnen Familienzweige und ihrer Mitglieder untereinander (Familiengerichtsbarkeit, Eheschließungen, Vormundschaften, Adoptionen, Volljährigkeit, Erziehung, Wohnsitz, Hofstaat, Auslandsreisen etc.) regelte das Familienstatut auch die finanzielle Ausstattung der Erzherzoginnen und Erzherzöge, die hierfür erforderlichen Mittel wurden aus dem Kammergut, den Einkünften der Krongüter sowie aus allgemeinen Staatseinnahmen gedeckt. Eine Zivilliste wurde als Konsequenz der Konstitutionalisierung erstmals 1862 eingeführt; seit dem Ausgleich mit Ungarn von 1867 gab es zwei Zivillisten, die vom cisleithanischen Reichsrat und vom ungarischen Reichstag getrennt bewilligt wurden16. Hatten die streng patriarchalischen Bestimmungen ursprünglich zum Ziel gehabt, einer möglichen Destabilisierung der Dynastie unter der Schattenherrschaft des geistesschwachen Kaisers Ferdinand I.17 vorzubeugen, so setzte Kaiser Franz Joseph 14  Alle bisherigen Zitate entstammen einem Brief Erzherzog Albrechts an den Generaldadjutanten Franz Graf Folliot de Crenneville vom 10.2.1862, welcher eigentlich für Kaiser Franz Joseph bestimmt war. Dass Albrecht hier nicht nur seine Privatmeinung wiedergab, beweist ein Begleitbrief an den Kaiser vom 12.2.1861, in welchem er als Quellen „meine[ ] Erinnerungen der Studien, der Traditionen wie des Fami­ lienstatuts“ anführte (beide Briefe im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Familienarchiv Crenneville, Karton 14). 15  Vgl. im einzelnen H. Stekl, Der Wiener Hof (Anm. 3), 31 ff. 16  Vgl. K. Vocelka / L. Heller, Die private Welt (Anm. 3), 203–220, hier 205 f. 17  Zu Kaiser Ferdinand I. vgl. Lorenz Mikoletzky, Ferdinand I. von Österreich (1835–1848), in: Die Kaiser der Neuzeit 1519–1918 (Anm. 3), 329–339.



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im Vollgefühl seines kaiserlichen Standesbewusstseins die ihm zustehenden Kompetenzen gezielt als Machtdemonstration ein. Es ist in diesem Zusammenhang auffällig, dass die Erzherzöge unter Franz Josephs Vorgängern wesentlich mehr Freiräume hatten, wie etwa das Beispiel Erzherzog Johanns (1782–1859)18 zeigt, der 1829 die Postmeisterstochter Anna Plochl heiratete. Johanns Sohn aus dieser Ehe, dem von Kaiser Ferdinand I. 1844 der Titel eines Grafen von Meran verliehen wurde, war zwar nicht erbfolgeberechtigt, ansonsten änderte sich für den Erzherzog und seine Familie aber nichts. Anders dagegen unter Kaiser Franz Joseph: Erzherzöge, die morganatische Ehen eingingen, verloren in der Regel ihren Status als Erzherzöge, mussten nicht selten das Land verlassen und waren innerhalb der Gesamtdynastie verfemt. Nennen kann man hier etwa die Erzherzöge Heinrich (alias Graf Waideck, 1828–1891)19, Johann Salvator (alias Johann Orth, 1852–?)20, Ferdinand Karl (alias Ferdinand Burg, 1868–1915)21 oder Leopold Ferdinand Salvator (alias Leopold Wölfling, 1868–1935)22. Lediglich gegenüber seinem Neffen Franz Ferdinand (1863–1914)23, der seit dem Selbstmord von Kronprinz Rudolf ja der Thronfolger war, verhielt sich Kaiser Franz Joseph, bei aller sonstigen Distanziertheit zu dem wenig geliebten Neffen, anders: Als jener darauf bestand, die nicht standesgemäße Gräfin Sophie Chotek zu heiraten, musste er – letztlich nach dem Muster des „Falls Erzherzog Johann“ – 18  Vgl.

hierzu zuletzt „Johann und seine Brüder“ (Anm. 10). Heinrich wurde 1872 aus unbekannten Gründen wieder in seine erzherzoglichen Rechte eingesetzt, dieses Entgegenkommen blieb aber eine Ausnahme; vgl. B. Hamann, Die Habsburger (Anm. 3), 162. 20  Vgl. Friedrich Weissensteiner, Ein Aussteiger aus dem Kaiserhaus. Johann Orth, Wien 1985; M. Stickler, Erzherzog Albrecht (Anm. 12), 86–108. 21  Vgl. B. Hamann, Die Habsburger (Anm. 3), 125 f. 22  Leopold Wölfling war eine der skurrilsten Gestalten unter den Aussteigern aus dem Hause Habsburg, auf den der Begriff „Renegat“ vollumfänglich zutrifft. Nach zahlreichen Skandalen verließ er 1902 das Erzhaus und verkehrte jahrelang in Zuhälterkreisen. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs versuchte er sich als Publizist und vermarktete mit großem Geschick sein Insider-Wissen als Agnat des Erzhauses, ohne sich jedoch dauerhaft eine bürgerliche Existenz aufbauen zu können. Er starb schließlich in ärmlichsten Verhältnissen in Berlin. Seine Erinnerungen, die in Buchform und in Zeitschriften erschienen, zeigen ihn als durchaus scharfsinnigen Beobachter, der die inneren Strukturen des Hauses Habsburg treffend schildert, sie kranken jedoch an seiner Vorliebe für Skurril-Antiquarisches und der Tatsache, dass ihm allzu deutlich der Hass die Feder führt. Vgl. hierzu Brigitte Hamanns Beitrag über Leopold Wölfling in: B. Hamann, Die Habsburger (Anm. 3), 262 f., sowie Wölflings Autobiographie „Als ich Erzherzog war“ (Berlin 1935). 23  Vgl. hierzu: Lucian O. Meysels, Die verhinderte Dynastie. Erzherzog Franz Ferdinand und das Haus Hohenberg, Wien 2000; Rudolf Kiszling, Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este. Leben, Pläne und Wirken am Schicksalsweg der Donaumonarchie, Graz / Köln 1953; Friedrich Weissensteiner, Franz Ferdinand. Der verhinderte Herrscher, Wien 1983. 19  Erzherzog

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im Jahre 1900 für seine Nachkommen aus dieser Ehe auf alle Thronfolgerechte verzichten. Sophie Chotek wurde zunächst zur Fürstin, dann zur Herzogin von Hohenberg – benannt nach einem schwäbischen Adelsgeschlecht, das die Habsburger im 14. Jahrhundert beerbt hatten – erhoben. Franz Ferdinand war über diese ihm aufgezwungene Regelung dennoch verbittert, v. a. auch deshalb, weil das böhmische und das ungarische Staatsrecht einer Eheschließung nicht im Wege gestanden hätten und auch das habsburgische Hausgesetz insofern nicht ganz eindeutig war, weil darin eine Liste mit erschöpfender Aufzählung der als ebenbürtig geltenden Adelsfamilien fehlte. Diese wurde erst als Konsequenz aus dem „Fall Franz Ferdinand“ nachträglich hinzugefügt. Kaiser Franz Josephs unnachgiebige familienpolitische Linie änderte sich auch nicht, als in der Monarchie in den 1860er Jahren der Konstitutionalismus Einzug hielt: Die Grundrechte der cisleithanischen Dezemberverfassung von 1867 galten nicht für die Mitglieder des Hauses Habsburg, die Dynastie blieb bis 1918 extrakonstitutionell. Vergleichbares kennen wir zwar auch von anderen konstitutionellen Monarchien24, zeitweise auch von parlamentarischen wie etwa Großbritannien, doch war die Art und Weise, wie Kaiser Franz Joseph das Familienstatut anwendete, nicht einfach nur einem gewissen patriarchalkonservativen Traditionalismus geschuldet, er verfolgte damit vielmehr ein dezidiert verfassungspolitisches Ziel: Kaiser Franz Joseph sah in der korporativen Verfasstheit der Dynastie letztendlich ein Gegengewicht zu dem von ihm im Kern abgelehnten Konstitutionalismus seiner Zeit. Wenigstens der Familienverband durfte nicht in einzelne Partikularinteressen zerfallen, er sollte nach wie vor die Einheit der Doppelmonarchie gewährleisten und durch seine Ex­ trakonstitutionalität die Grenzen des anscheinend unaufhaltsamen Prinzips der Volkssouveränität markieren. Der erwähnte erzherzogliche Renegat Leopold Wölfling hat deshalb im Rückblick nicht ganz unzutreffend von einer Familientyrannis als Absolutismusersatz gesprochen25. Wiederum finden wir in den Schriften Erzherzog Albrechts entsprechende Belege: So forderte dieser z. B. in seiner „Charwochen-Betrachtung“ des Jahres 1876 für Kronprinz Rudolf: „Unbedingte Nothwendigkeit der größten Einigkeit, des festen Zusammenhaltens in der Familie, der erprobtesten Treue und Ergebenheit gegen den Monarchen als solchen, wie als Chef des Hauses“26. 1877 schrieb er in seinen soge24  Zu den Monarchien des langen 19. Jahrhunderts im europäischen Vergleich vgl. zuletzt: F.-L. Kroll / D. J. Weiß, Inszenierung oder Legitimation? (Anm. 2); vgl. hier v. a. den Forschungsüberblick von Frank-Lothar Kroll, Modernity of the outmoded? European monarchies in the 19th and 20th centuries (11–19). 25  Die letzten Habsburger III, in: Die Stunde, 25.7.1923. 26  Wie haben sich die Prinzen einer alten, historisch mit ihren Völkern verwachsenen Dynastie heut zu Tage zu benehmen? (Abgedruckt bei B. Hamann, Erzherzog Albrecht [Anm. 12], 75–77).



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nannten Aphorismen für den Kronprinzen: „XVIII. In einem solchen Reiche, wo die Dynastie den Schlußstein und zugleich das Bindemittel für dessen heterogene Theile bildet, ist die Einheit in derselben von höchster Nothwendigkeit.“27 Dass die Erzeugung eines solchen Korpsgeists auch eine quasi Kasernierung bedeuten konnte, hatte er bereits 1861 in einem Brief an Franz Graf Folliot de Crenneville angedeutet: „Die Erzherzoge müssen so kurz als möglich gehalten werden, aber auch Alles geschehen, damit sie sich am kaiserlichen Hofe als wirklich zu Hause fühlen u. damit sie nie selbst vergessen […] welch hohe Stellung sie, mit den Vortheilen wie mit allen Unbequemlichkeiten derselben, einzunehmen verpflichtet sind.“28 Von großer Wichtigkeit war Erzherzog Albrecht darüber hinaus auch der enge Schulterschluss des Hauses Habsburg mit dem Hofadel. Am 5. Januar 1850 schrieb er seiner Gemahlin Hildegard, einer Tochter König Ludwigs I. von Bayern, aus Leitmeritz: „Daß alle mögl. Damen suchen, Euch aufzuwarten, ist mir lieb als Beweis, daß sie einsehen wie nothwendig es gerade in der jetzigen Zeit ein beiderseitiges Interesse ist, daß der Adel sich der Dynastie so enge als möglich anschliesse u. keine êgarde gegen selben ausser Acht lasse. Daß dies früher so sehr vernachlässigt wurde, hat auch viel zu unserer Revolution beigetragen.“29 Und noch 1876 heißt es in der Charwochen-Betrachtung: „Läßt sich eine Dynastie in der Länge erhalten, ohne einen ihr dienstbaren, einflußreichen Adel? Vor allem hüte man sich, ihn ohne allen Unterschied im Verkehre jedem Andern gleichzustellen: Man verletze nie sein Ehrgefühl, seinen Stolz, insofern er berechtigt ist. Kein Prinz vergesse, daß er Aristokrat in erhöhtem Maße u. edleren Sinn sein soll!“30 Untrennbar verbunden mit dem Nimbus des Hauses Habsburg war seit der Zeit der Konfessionskriege dessen demonstrative Katholizität31, das Selbstverständnis der Dynastie, zum Schutz der katholischen Kirche und des Papsttums berufen zu sein, welches unausgesprochen in der Tradition des 27  Abgedruckt

ebd. 11.2.1861 (Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien [HHStA] Wien, Fami­ lienarchiv Crenneville, Karton 14). 29  Archiv des Hauses Württemberg, Altshausen. 30  Abgedruckt bei B. Hamann, Erzherzog Albrecht (Anm. 12), 70–75. Zur Rolle des sich kastenmäßig absondernden Hofadels in der späten Habsburgermonarchie vgl. auch ausführlich B. Hamann, Der Wiener Hof (Anm. 3). 31  Zum Verhältnis Habsburgermonarchie und Katholische Kirche vgl. im Überblick M. Stickler, Reichsvorstellungen (Anm. 1), 139 f.; A. Wandruszka / P. Urbanitsch, Die Habsburgermonarchie 1848–1918 (Anm. 1), Bd. IV: Die Konfessionen (1985), insbesondere die Seiten 63–73; Friedrich Engel-Janosi, Österreich und der Vatikan, 2  Bde., Graz u. a. 1958 und 1960. Zur Entstehung der Pietas Austriaca vgl. K. Vocelka / L. Heller, Die Lebenswelt der Habsburger (Anm. 3), 13–38. Das lange 19. Jahrhundert ist hier noch bemerkenswert wenig erforscht; vgl. hierzu etwa M. Stickler, Erzherzog Albrecht von Österreich (Anm. 12), 52–58. 28  Verona,

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Heiligen Römischen Reiches wurzelt32. Die Päpste hatten denn auch nach 1806 viele traditionelle Ehrenrechte des römisch-deutschen Kaisers stillschweigend auf den Kaiser von Österreich übertragen, wovon das weitreichendste die sogenannte Exklusive, d. h. das kaiserliche Vetorecht bei einer Papstwahl war, welches 1903 zum letzten Mal durch Kaiser Franz Joseph wahrgenommen und 1904 von Papst Pius X. in der Apostolischen Konstitution „Commissum nobis“ verboten wurde. Zwar hatte es in den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhundert einige Versuche gegeben, so innenpolitisch durch den Abschluss des Konkordates (1855)33, außenpolitisch durch die Parteinahme für das Papsttum in den italienischen Einigungskriegen, die Habsburgermonarchie durchaus im konfessionell-kirchlichen Sinne als „katholische Großmacht“34 in Europa zu positionieren, doch war eine derart eindeutige Parteinahme allein schon deshalb nicht durchzuhalten, weil v. a. in Ungarn und dessen Nebenländern über 40 % der Bevölkerung nicht katholisch35 und der protestantische Adel dort traditionell habsburgfeindlich waren. Wie sensibel die konfessionelle Frage dort war, hatten nicht zuletzt die heftigen Auseinandersetzungen um das Protestantenpatent von 1859 gezeigt36. Kaiser Franz Joseph vermied nach 1867 deshalb alle Maßnahmen, die konfessionell polarisierend hätten wirken können, und schloss in diese Praxis religiöser Toleranz auch Juden und  – als Folge der Besetzung und schließlich Annexion Bosnien-Hercegovinas 1878 bzw. 1908 – Muslime ein, die der Dynastie dies mit besonderer Treue dankten. Dennoch blieb die demonstrativ zur Schau gestellte Katholizität auch weiterhin ein wichtiges Element der öffentlichen Selbstdarstellung des Hauses Habsburg37, die das Ziel verfolgte, den dynastischen Geist in der Bevölkerung zu heben und diese zu hierzu ausführlicher M. Stickler, Reichsvorstellungen (Anm. 1), 139 f. hierzu Erika Weinzierl-Fischer, Die österreichischen Konkordate von 1855 und 1933, München 1960. 34  Vgl. hierzu ausführlich Gottfried Mayer, Österreich als katholische Großmacht. Ein Traum zwischen Revolution und liberaler Ära (Studien zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie, XXIV), Wien 1989. 35  In der Gesamtmonarchie überwog der Anteil der Katholiken mit 79,17 % deutlich, in Cisleithanien betrug er sogar 93,36 %, in Ungarn dagegen nur 57,96 %; vgl. G. Mayer, Österreich als katholische Großmacht (Anm. 34), 134. 36  Vgl. hierzu Friedrich Gottas, Die Frage der Protestanten in Ungarn in der Ära des Neoabsolutismus. Das ungarische Protestantenpatent vom 1.  September 1859 (Buchreihe der Südostdeutschen Historischen Kommission, 14), München 1965. 37  Vgl. Werner Telesko / Stefan Schmiedl, Der verklärte Herrscher. Leben, Tod und Nachleben Kaiser Franz Josephs I. in seinen Repräsentationen, Wien 2016, 29 f.; Daniel Unowsky, Reasserting Empire. Habsburg Imperial Celebrations after the Revolution of 1848–49, in: Maria Bucur / Nancy Wingfield (Hrsg.), Staging the Past. The Politics of Commemoration in Habsburg Central Europe, 1848 to the present, West Lafayette 2001, 13–45; ders., The Pomp and Politics of Patriotism. Imperial Celebrations in Habsburg Austria, West Lafayette 2005. 32  Vgl. 33  Vgl.



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immunisieren gegen Nationalismus und Liberalismus. So schrieb Erzherzog Albrecht am 17.  September 1892 an Erzherzog Franz Ferdinand: „Gottlob regt sich bei uns wieder der katholische Geist, die gute Gesinnung in Cis wie in Trans. Sie, die kräftigste Stütze des Thrones u. des wahren monarchischen Gefühles, zu unterstützen, ist unser ernstes Interesse; sie ganz zu mißachten, zu froissieren, wäre einfach politischer Selbstmord!“38 Dass die einzelnen Agnaten hierbei im Sinne einer Vorbildfunktion besonders gefordert waren, war für Erzherzog Albrecht selbstverständlich. Nicht ohne Grund legte er deshalb auf die Vermittlung von Religiosität bei der Erziehung der Erzherzoge stets größten Wert39 und betonte in seinen Aphorismen aus dem Jahre 1877 die Notwendigkeit, dass das Volk den Glanz der Majestät nicht als den eines Halbgottes, sondern als den eines Gott bekennenden und sich vor Gott demütigenden Christen sehe40, womit er zweifellos auf die Fronleichnamsprozession und das Zeremoniell der Fußwaschung am Gründonnerstag anspielte. Umso härter trafen Erzherzog Albrecht deshalb auch der Selbstmord Kronprinz Rudolfs und die Flucht Johann Orths41: „Unsere Dinastie galt bisher als streng katholisch, u. darin lag unsere Stärke u. half über die ärgsten Nöthe u. Stürme hinaus. Was der arme Rudolf u. Johann in dieser Beziehung uns Allen u. unserer Stellung geschadet, läßt sich nicht beschreiben!“42 Dass die von Kaiser Franz Joseph praktizierte innerdynastische kompromisslose Linie keineswegs unumstritten war, zeigen die vielfältigen Probleme mit den erwähnten „erzherzoglichen Renegaten“ v. a. seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wodurch der Anachronismus solch hochkonservativdynastischer Politikauffassungen überdeutlich wurde. Die innere Verfasstheit des Hauses Habsburg zeigte insofern die gleichen gefahrvollen Erstarrungstendenzen, die in ganz ähnlicher Weise auch die Innenpolitik der Habsburgermonarchie bis zu ihrem Untergang kennzeichnete. Beides hing, wie noch zu zeigen sein wird, unauflöslich miteinander zusammen.

38  HHStA

Wien, Nachlass Franz Ferdinand, Karton 2. etwa Erzherzog Albrechts Brief an Franz Ferdinand vom 23.8.1893 (ebd.). 40  Abgedruckt bei B. Hamann, Erzherzog Albrecht (Anm. 12), 76. 41  Vgl. hierzu M. Stickler, Erzherzog Albrecht (Anm. 12), 86 und 107 f.; dort auch weiterführende Literatur. 42  Erzherzog Albrecht an Franz Ferdinand, 17.9.1892 (HHStA Wien, Nachlass Franz Ferdinand, Karton 2). 39  Vgl.

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III. Vom „Kron-Fideikomiss“ zur dualistischen Verfassungsstaatlichkeit 1. Der verfassungspolitische Dualismus: Die Habsburgermonarchie im Vormärz Wenn oben gesagt wurde, dass die Habsburgermonarchie nie zu einem wirklichen Staat umgeformt werden konnte und somit auf einer „unvollendeten Stufe monarchischer Integration in das europäische Zeitalter der konstitutionellen Bewegung“43 eintrat, so bedarf diese pauschale Aussage einiger Präzisierungen. Wilhelm Brauneder hat Otto Brunners generalisierende Charakterisierung der Habsburgermonarchie als einer „monarchischen Union von Ständestaaten“44 für den Zeitraum 1749 bis 1848 dahingehend präzisiert, dass er von einem „Monarchischen Staat mit differenziertem Föderalismus“ gesprochen hat45. Vereinfacht gesagt, bestand die Habsburgermonarchie verfassungstypologisch bis 1848 aus zwei Teilen: Die westliche Reichshälfte stellte ein „bürokratisch-absolutistisch überformtes Länderkonglomerat“46 dar, in dem die alten Landesverfassungen zwar formal noch in Geltung, faktisch aber stark zurückgedrängt waren, das Amt des jeweiligen Landesfürsten zu einem reinen Titel herabgesunken war. Insofern war die Annahme der Würde eines „Kaisers von Österreich“ im Jahre 1804, die die einzelnen Kronländer gleichsam überwölbte, nur konsequent. Dennoch war das politische System in der westlichen Reichshälfte nicht im eigentlichen Sinne des Wortes absolutistisch, da in den meisten Kronländern die vormodernen Landstände nach wie vor existierten und in einem beschränkten Umfang wichtige administrative und legislative Aufgaben erfüllten. In gewisser Weise fungierten sie wegen der Abwesenheit des Landesfürsten vor Ort sowie des Fehlens einer Landesherrschaft im Wortsinne als eigentliche Repräsentanten des Landes. Es ist deshalb auch kein Zufall, dass es in vielen Kronländern die Ständeversammlungen waren, aus deren Mitte sich seit dem späten 18. Jahrhundert im Zuge der Entstehung eines ethnisch-national begründeten Nationalismus 43  H.-H. Brandt, Parlamentarismus (Anm. 1), 71. Zur Gesamtproblematik vgl. das bis heute Maßstäbe setzende Werk von Josef Redlich, Das österreichische Staats- und Reichsproblem, 2 Bde., Leipzig 1920 und 1926 (Bd. 3 nie erschienen); A. Wandrusz­ka /  P. Urbanitsch, Die Habsburgermonarchie 1848–1918 (Anm. 1), Bd. II: Verwaltung und Rechtswesen (1975); A. Rumpler / P. Urbanitsch, Die Habsburgermonarchie 1848–1918 (Anm. 1), Bd. VII: Verfassung und Parlamentarismus, 2 Teilbde. (2000). 44  Vgl. Otto Brunner, Das Haus Österreich und die Donaumonarchie, in: Südostforschungen 14 (1955), 122–144. 45  Vgl. W. Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte (Anm. 1), 79 ff. 46  H.-H. Brandt, Parlamentarismus (Anm. 1), 73.



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Forderungen nach mehr Kronlandautonomie und politischer Partizipation erhoben. Dies gilt keineswegs nur für nicht deutsch-erbländische Kronländer wie Böhmen oder Galizien-Lodomerien. Bezeichnenderweise war der Auslöser für die Wiener Revolution 1848 das Zusammentreten der Landstände Niederösterreichs. Dass die Ereignisse gerade in diesem Kronland überregional ausstrahlten, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass dem „Erzherzogtum Österreich unter der Enns“, eben weil dessen Hauptstadt Wien auch die Haupt- und Residenzstadt der Gesamtmonarchie war, eine informelle Leitfunktion zukam47. Unterhalb des bürokratisch-absolutistischen Systems war der Grad der Autonomie der Kronländer unterschiedlich ausgeprägt, so verfügte etwa die Gefürstete Grafschaft Tirol über zahlreiche historisch begründete Sonderrechte, während etwa die 1815 neu erworbenen Kronländer Küstenland und Dalmatien weder über eine historische Verfassung verfügten, noch eine neue erhielten. In der östlichen Reichshälfte, also dem Königreich Ungarn mit seinen Nebenländern Siebenbürgen und Kroatien-Slawonien, war es dem Haus Österreich seit 1526 nie gelungen, die Macht der ungarischen Stände („Magyar Országgyűlés“, was man mit „Reichstag“ oder „Landtag“ übersetzen kann) nennenswert einzuschränken bzw. eine von den Ständen unabhängige königliche Verwaltung einzuführen. Ungarn war und blieb vielmehr ein „von der politischen [magyarischen] Adelsnation getragener Ständestaat mit intakten ständisch-parlamentarischen Institutionen, gestützt auf die von keiner königlichen Bürokratie berührten Selbstverwaltungsrechte der Komitate“. Die vom Kaiser ausgeübte königliche Gewalt war beschränkt auf eine „mehr oder minder eng umschriebene königliche Prärogative“48. Seit dem gescheiterten Versuch Kaiser Josephs II.49, Ungarn im Zuge der nach ihm benannten Reformen in das absolutistisch-bürokratische System des Westteils der Monarchie miteinzubeziehen und auf diese Weise die Gesamtmonarchie in einen zentralistisch und absolutistisch regierten Staat zu verwandeln, welcher Ungarn bis an den Rand einer revolutionären Erhebung gebracht hatte, achteten Dynastie und führende Staatsmänner die ungarische Selbständigkeit und un47  Vgl. hierzu William D. Godsey Jr., Herrschaft und politische Kultur im Habsburgerreich. Die niederösterreichische Erbhuldigung (ca. 1648–1848), in: Aufbrüche in die Moderne. Frühparlamentarismus zwischen altständischer Ordnung und monarchischem Konstitutionalismus, 1750–1850. Schlesien-Deutschland-Mitteleuropa, hrsg. v. Roland Gehrke (Neue Forschungen zur schlesischen Geschichte, 12), Köln /Weimar / Wien 2005, 141–177. 48  Beide Zitate: H.-H. Brandt, Parlamentarismus (Anm. 1), 73. 49  Zu Joseph II. bzw. zum Josephinismus vgl.: Peter Baumgart, Joseph II. und Maria Theresia, in: Die Kaiser der Neuzeit 1519–1918 (Anm. 3), 249–276; Ferdinand Maaß, Der Josephinismus, 5 Bde., (1760–1850), Wien 1950–1960; Eduard Winter, Der Josephinismus (1740–1848), Ost-Berlin 1962; Helmut Reinalter (Hrsg.), Josephinismus als Aufgeklärter Absolutismus, Wien / Köln / Weimar 2008.

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ternahmen keine weiteren Reformversuche mehr. Lediglich unterhalb der Ebene der formellen Statusveränderung versuchte man Fakten zu schaffen, so etwa im Zusammenhang mit der Annahme des Titels „Kaiser von Österreich“ bzw. des Staatsnamens „Kaiserthum Österreich“, die die Dynastie stillschweigend auch auf Ungarn bezog50. In Ungarn wurde dies natürlich bemerkt und es entspann sich darüber ein verbissen geführter Kleinkrieg um Titel und Formulierungen, etwa im Zusammenhang mit der Thronbesteigung Kaiser Ferdinands I. 1835: Die Ungarn setzten durch, dass neben der Zählweise des Kaisernamens die überkommene ungarische erhalten blieb, Ferdinand als ungarischer König also „Ferdinand V.“ hieß; andererseits wurde aber bei der Verkündung von ungarischen Landtagsabschieden der Kaisertitel dem Königstitel vorangestellt. In den 1830er Jahren scheiterte dann Metternichs Versuch, gleichsam durch die Hintertür über die Verabschiedung des habsburgischen Familienstatuts, Veränderungen beim staatsrechtlichen Status quo durchzusetzen51. Insofern blieb es im Vormärz bei der faktischen Zweiteilung der Monarchie in einen bürokratisch-absolutistisch überformten Westteil und einen altständisch-parlamentarisch verfassten Ostteil. Beide Reichsteile wurden lediglich zusammengehalten durch die Pragmatische Sanktion und damit durch die Dynastie, deren politische Gestaltungsmöglichkeiten höchst unterschiedlich waren. Insofern trat die Habsburgermonarchie geschwächt in das Zeitalter des Nationalismus ein, weil jede Veränderung das prekäre Gleichgewicht zwischen beiden Reichsteilen gefährden musste. 2. Zerfall versus Zentralismus – Die Habsburgermonarchie im Zeichen von Revolution, Reaktion und Modernisierung Dies zeigte sich angesichts der Herausforderungen der Revolution von 184852, die, wie bereits erwähnt, ihren Anfang in Wien nahm. Die Gewäh50  Vgl. hierzu und zum Folgenden ausführlich M. Stickler, Reichsvorstellungen (Anm. 1), 135 f. 51  Vgl. H. Stekl, Der Wiener Hof (Anm. 3), 32 f. 52  Vgl. hierzu: Manfred Botzenhart, 1848 / 49. Europa im Umbruch, Paderborn / München / Wien / Zürich 1998; Harm-Hinrich Brandt, Ungarn 1848 im europäischen Kontext: Reform – Revolution – Rebellion. Ein Korreferat, in: Revolutionen in Ostmitteleuropa 1789–1989. Schwerpunkt Ungarn (Schriftenreihe des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts, 23), hrsg. v. Karlheinz Mack, München / Wien 1995, 44–52; István Deák, Die rechtmäßige Revolution. Lajos Kossuth und die Ungarn 1848–1849, Wien / Köln / Graz 1989; Holger Fischer (Hrsg.), Die ungarische Revolution von 1848 / 49. Vergleichende Aspekte der Revolutionen in Ungarn und Deutschland. Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte, Hamburg 1999;



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rung der sogenannten Aprilverfassung für das Königreich Ungarn durch Kaiser Ferdinand I. schuf dort ein konstitutionell-parlamentarisches System nach westeuropäischem Vorbild, das perspektivisch die Möglichkeit einer vollständigen Unabhängigkeit Ungarns von der Habsburgermonarchie eröffnete, ein Ziel, das v. a. die radikale nationalistische ungarische Linke verfolgte. Faktisch war durch die Verfassungsänderung die bisherige Realunion auf eine bloße Personalunion reduziert worden, wobei allerdings die Prärogative der Krone in Bezug auf Außenpolitik und Allerhöchsten Oberbefehl über die Streitkräfte erhalten blieben, woraus sich eine gewisse Grauzone im Hinblick auf die konkreten kaiserlichen bzw. königlichen Kompetenzen ergab. Die Möglichkeit, das Gesamtreich zu einem konstitutionell regierten Staat umzuformen und damit den überkommenen verfassungspolitischen Dualismus zu beenden, war durch das einseitige Vorgehen der Ungarn verbaut worden, deshalb beschränkten sich die Wiener Reformmaßnahmen notwendigerweise auf die westliche Reichshälfte. Die Tatsache der faktischen Teilung der Monarchie in zwei Staaten wurde damit implizit anerkannt. Die sogenannte Pillersdorf’sche Verfassung vom 25. April 184853 stellte den Versuch des nach Metternichs Sturz eingesetzten gouvernementalliberalen Ministeriums dar, unter Wahrung des Monarchischen Prinzips das Heft in der Hand zu behalten und bei Wahrung der territorialen Integrität des theresianisch-josephinischen Zentralstaats diesen durch ein Oktroi in eine konstitutionelle Staatlichkeit überzuführen. Harm-Hinrich Brandt hat zu Recht darauf hingewiesen, dass diese Vorgehensweise verlaufstypisch der Verfassungspolitik der süddeutschen Staaten nach 1815 entspricht, die Verfassungsgebung als Chance begriffen, ihre heterogenen Staatsgebiete zu integrieren54. Ein maßgeblicher Unterschied lag indes darin, dass Österreich diesen Schritt nun unter dem Druck der Revolution überstürzt nachzuholen suchte und in der Tatsache, dass sich dieser Versuch von vorneherein nur auf einen Teil des Kaiserstaates bezog, da Ungarn nicht einbezogen wurde55. Rudolf Kiszling, Die Revolution im Kaisertum Österreich. 1848–1849, 2 Bde., Wien 1948; Wilhelm Brauneder, Die Verfassungsentwicklung in Österreich 1848 bis 1918, in: H. Rumpler / P. Urbanitsch: Die Habsburgermonarchie 1848–1918 (Anm. 1). Bd. VII.1 (2000), 69–237, hier 71–138; László Péter, Die Verfassungsentwicklung in Ungarn, in: ebd., 239–540, hier 262–299. 53  Benannt nach dem österreichischen Ministerpräsidenten und Innenminister Franz von Pillersdorf (1786–1862), der diese Verfassung maßgeblich geschaffen hatte. Abgedruckt in: Heinz Fischer / Gerhard Silvestri (Hrsg.), Texte zur österreichischen Verfassungsgeschichte. Von der pragmatischen Sanktion zur Bundesverfassung (1713–1966), Wien 1970, 3–12. 54  H.-H. Brandt, Parlamentarismus (Anm. 1), 76. 55  Nicht einbezogen wurde auch das im Aufstand gegen das Haus Habsburg befindliche Lombardo-Venetianische Königreich. Auf dieses spezielle Thema kann im Rahmen dieses Beitrags nicht eingegangen werden, vgl. hierzu Brigitte Mazohl-

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Es zeigte sich recht schnell, dass der Versuch, die Revolution gleichsam von oben einzuhegen, zum Scheitern verurteilt war. Die weitere Radikalisierung erzwang die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung in Gestalt eines aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen österreichischen Reichstags – die erste und einzige Konstituante in der Geschichte der Habsburgermonarchie. Damit fand die Habsburgermonarchie zwar zum einen Anschluss an die allgemeine mitteleuropäische Bewegung, andererseits erwuchs daraus die Gefahr, dass die Emanzipationsansprüche der einzelnen Nationalitäten eine Verfassungsgebung für den Vielvölkerstaat erschweren oder sogar dauerhaft unmöglich machen könnten. Bemerkenswert ist, dass, trotz der weiteren Radikalisierungsschübe, in deren Gefolge der Reichstag wegen des Wiener Oktoberaufstands am 22.  Oktober 1848 seinen Sitz ins sicherere mährische Kremsier verlegte, und der multinationalen Zusammensetzung des Parlaments das Verfassungswerk tatsächlich gelang: Der sogenannte Kremsierer Verfassungsentwurf von Anfang März 184956 war ein Kompromiss des deutschen und tschechischen Bürgertums mit den übrigen Nationalitäten, der zeigt, dass zumindest in der westlichen Reichshälfte grundsätzlich die Bereitschaft vorhanden war, die Habsburgermonarchie zu einem multinationalen, konstitutionell-liberalen monarchischen Staat umzubauen57. Dies unterscheidet das Kremsierer Verfassungswerk signifikant von der Entwicklung in Ungarn, wo die magyarischen Eliten ihre Emanzipationsansprüche zu Lasten der ethnisch-nationalen Minderheiten des Königreichs zu verwirklichen suchten – ein maßgeblicher Grund, weshalb die ungarische Revolution schließlich scheiterte. Der Kremsierer Verfassungsentwurf machte auch deutlich, dass die Einbeziehung der Teile der Habsburgermonarchie, die dem Deutschen Bund angehörten, in das von der Frankfurter Nationalversammlung projektierte Deutsche Reich, an dessen provisorischer Spitze mit Erzherzog Johann ein Habsburger als Reichsverweser stand, keineswegs alternativlos war58. In diesem Punkt deckte sich der Mehrheitswille des Wallnig, Österreichischer Verwaltungsstaat und administrative Eliten im Königreich Lombardo-Venetien 1815–1859, Mainz 1993; dies., Verfassungsfrage und Nationalitätenproblem. Das Beispiel Lombardo-Venetien, in: Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 38 (2001), 366–387. 56  Abgedruckt in: H. Fischer / G. Silvestri, Texte zur österreichischen Verfassungsgeschichte (Anm. 53), 15–46. Vgl. hierzu auch Andreas Gottsmann, Der Reichstag von Kremsier und die Regierung Schwarzenberg, Die Verfassungsdiskussion des Jahres 1848 im Spannungsfeld zwischen Reaktion und nationaler Frage, Wien 1995. 57  Auf Details muss im Rahmen dieses Beitrags leider verzichtet werden; vgl. ausführlicher H.-H. Brandt, Parlamentarismus (Anm. 1), 76–83. 58  Auf die deutschlandpolitischen Aspekte der österreichischen Verfassungsfrage kann hier im Detail nicht eingegangen werden; vgl. hierzu ausführlicher: Günter Wollstein, Das „Großdeutschland“ der Paulskirche. Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution 1848 / 49, Düsseldorf 1977; Christof Dipper, 1848 – Revolution in



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Reichstags, in dem v. a. die nicht deutschsprachigen Parlamentarier, insbesondere die Tschechen, gegen das Frankfurter Nationalstaatsprojekt waren, mit dem des Hauses Österreich. Dennoch war die im Kern erfolgreiche Arbeit des Wiener / Kremsierer Reichstags in dynastischer Perspektive aus zweierlei Gründen problematisch bzw. sogar gefährlich: Zum einen musste ein erfolgreiches Verfassungswerk die faktische Abspaltung Ungarns (und Oberitaliens) von der Gesamtmonarchie zementieren. Zum andern war das dem Kremsierer Verfassungsentwurf zugrunde liegende Prinzip der Volkssouveränität wegen seiner perspektivisch demokratisierenden Tendenz unvereinbar mit dem Monarchischen Prinzip. Für die Dynastie war die Konsolidierung ihrer Herrschaft aber untrennbar verbunden mit der Wahrung ihrer überkommenen Stellung59. Die Abdankung Kaiser Ferdinands I. am 2.  Dezember 1848 zugunsten seines erst achtzehnjährigen Neffen Franz Joseph unter Umgehung von dessen Vater Erzherzog Franz Carl, der auf seine Thronrechte verzichtete, war vor diesem Hintergrund von eminent symbolischer Bedeutung: Er demon­ strierte den unverbrüchlichen Willen des vorübergehend in die Defensive geratenen Hauses Österreich und des neuen Ministerpräsidenten Felix Fürst zu Schwarzenberg (1800–1852)60, das Gesetz des Handelns wieder an sich zu reißen. Dafür wurde auch in Kauf genommen, dass die Thronbesteigung des jungen Kaisers streng genommen das bisher unverbrüchlich hochgehaltene dynastische Prinzip ein Stück weit relativierte, indem der bisherige Kaiser und sein Bruder aus Gründen der Staatsraison faktisch beiseitegeschoben wurden. Die Namenswahl des neuen Herrschers, der von Hause aus eigentlich nur den Rufnamen Franz bzw. Franzl hatte, machte die neue Richtung demonstrativ deutlich: Grundsätzliche Anknüpfung an die konservative Politik seines Großvaters Franz I., aber unbedingte Wiederherstellung der Herrschaft der Dynastie im Geiste des josephinischen Absolutismus. Im Namenssteil Joseph schwang zudem auch der Nimbus des „Volkskaisers“ mit, als der Joseph II. vor allem beim Bürgertum firmierte, doch das war eher romantische Camouflage, die die wahren Absichten, die mit dem Thronwechsel verbunden waren, verschleiern sollte. Der Name, den so bisher kein Habsburger getragen hatte, stand letztlich für den Willen zum kraftvollen Deutschland, Frankfurt am Main / Leipzig 1998; Wilhelm Ribhegge, Das Parlament als Nation. Die Frankfurter Nationalversammlung 1848 / 49, Düsseldorf 1998. 59  Vgl. hierzu zuletzt Marion Koschier, „Aus solchen Wirren den lösenden Gang zu finden“. Herrschaftskonsolidierung in der Habsburgermonarchie zwischen äußerer Bedrohung und innerer Reform (1848–1860), in: F.-L. Kroll / D. J. Weiß, Inszenierung oder Legitimation? (Anm. 2), 95–108. 60  Vgl. hierzu v. a. Rudolf Kiszling, Fürst Felix zu Schwarzenberg. Der politische Lehrmeister Kaiser Franz Josephs, Graz / Köln 1952; Stefan Lippert, Felix Fürst zu Schwarzenberg (Historische Mitteilungen, Beiheft 21), Stuttgart 1998.

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Neubeginn aus dem Geist der dynastischen Tradition heraus, die auch in Franz Josephs Wahlspruch „viribus unitis“ zum Ausdruck kam. Was die neue Führung vor allem unter Neuanfang verstand, wurde relativ schnell deutlich, als am 4.  März 1849 der Kremsierer Verfassungsentwurf beiseitegeschoben, der Reichstag aufgelöst und, durchaus in Anknüpfung an das Vorgehen der Berliner Regierung gegenüber der preußischen Nationalversammlung im Dezember 1848, eine Gesamtstaatsverfassung für die Habsburgermonarchie unter Einschluss Lombardo-Venetiens und Ungarns, dessen Aprilverfassung für verwirkt erklärt wurde, oktroyiert wurde61. Diese knüpfte zwar in vielem an den Kremsierer Entwurf an, brachte allerdings das Monarchische Prinzip wieder klar zur Geltung. Angesichts der Tatsache, dass der Staatsstreich, denn darum handelte es sich der Sache nach, auch den konstruktiven Geist der Völkerverbrüderung – insbesondere was Deutsche und Tschechen anbelangt, negierte, kann man diese Entwicklung durchaus als eine verpasste Chance mit weitreichenden Folgen betrachten62. Bis heute ist umstritten, ob der Oktroyierung der Märzverfassung gleichsam ein konstruktives Element innewohnte in dem Sinne, eine beschränkte Mitwirkung der Völker bzw. deren Eliten anzubieten, sofern diese das Monarchische Prinzip und den Grundsatz der Reichseinheit anerkannten. Zunächst stand der Erfüllung der Märzverfassung objektiv die Rückeroberung Ungarns, die letztlich mit russischer Waffenhilfe gelang, im Wege. Es zeigte sich aber auch rasch, dass militärische Gewalt allein die bestehenden Probleme nicht lösen konnte. Vor allem bei den magyarischen Eliten überwog der Widerstand gegen die Schaffung eines Einheitsstaates und damit die Ablehnung der Märzverfassung und Obstruktion gegen alle Versuche, von oben neue Formen der Staatlichkeit in Ungarn zu implementieren. Diese Erfahrungen bestärkten Kaiser Franz Joseph und seine Regierung in ihrer vorwaltenden Überzeugung, dass die Märzverfassung schlechterdings unausführbar war und lieferten damit den Vorwand zu ihrer förmlichen Aufhebung durch das Sylvesterpatent des Jahres 185163. Dieser einseitige Akt der Wiener Führung bedeutete jedoch nicht eine Rückkehr zu vorrevolutionären Verhältnissen wie dies etwa die habsburgtreuen ungarischen Hochkonservativen anstrebten, die für eine Wiedereinführung der altständischen Verfassung Ungarns eintraten. Es war dem jungen Kaiser und seinen Räten vielmehr klar, dass es eine Rückkehr zum Status quo ante nicht geben konnte, weil erheblicher Reform61  Abgedruckt in: H. Fischer / G. Silvestri, Texte zur österreichischen Verfassungsgeschichte (Anm. 53), 47–61. 62  Vgl. Hanns Schlitter, Versäumte Gelegenheiten. Die oktroyierte Verfassung vom 4. März 1849. Ein Beitrag zu ihrer Geschichte, Zürich u. a. 1920. 63  Abgedruckt in: H. Fischer / G. Silvestri, Texte zur österreichischen Verfassungsgeschichte (Anm. 53), 62 f.



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bedarf ja tatsächlich vorhanden war. Diese Reformen sollten nun im Wege eines „dynastisch-zentralistischen Absolutismus“ (Helmut Rumpler)64 durchgesetzt werden. Dem sogenannten neoabsolutistischen System65 war eine gewisse Janusköpfigkeit zu Eigen: Zum einen waren zwar reaktionäre Tendenzen in der Innen-, Sozial- und Kulturpolitik deutlich sichtbar, zum andern aber gewann es „in strukturpolitischen Schlüsselbereichen das Aussehen einer bürokratischen Modernisierungsdiktatur, die die ständische Gesellschaft in eine mobile Eigentümer- und Erwerbsgesellschaft zu verwandeln trachtete.“66 Verfassungspolitisch versuchten der junge Kaiser und seine Regierung unter Verzicht auf jede noch so geringe Form parlamentarischer Repräsentation die Habsburgermonarchie durch absolutistisch-bürokratische und militärische Integration zu einem zentralistisch regierten Staat zu formen. Auch hier zeigt sich wieder der schon bei der Pillersdorf’schen Verfassung zu beobachtende „Time lag“, bemühte sich die Habsburgermonarchie doch, eine Integrationsstufe nachzuholen, die die übrigen deutschen Staaten mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor im aufgeklärten Absolutismus bzw. im Spätabsolutismus der Rheinbundzeit durchschritten hatten. Für auf neoständischer Grundlage gebildete Vertretungskörperschaften in den Kronländern wurden zwar Pläne entwickelt, doch kam es nicht mehr zu deren Umsetzung. Eine Schlüsselstellung nahm im neoabsolutistischen System der Kaiser selbst ein, dessen Stellung im politischen System als Selbstherrschaft im Wortsinne angesehen wurde. Erzherzog Albrecht hatte bereits im September 1849 davon gesprochen, dass es ein Glück sei, dass der Kaiser nun Herr im vollen Sinne des Wortes sei. Als maßgebliche Stützen seiner Herrschaft sah er die Armee und die kaiserlichen Räte67. Dass eine derartige Machtfülle angesichts der anstehenden Probleme im Grunde jeden Herrscher, besonders aber den jungen Franz Joseph, überfordern musste, wurde geflissentlich übersehen. Die maßgeblichen Berater bei Hofe – neben Schwarzenberg sind hier v. a. zu nennen 64  H. Rumpler,

Eine Chance für Mitteleuropa (Anm. 1), 323. immer noch grundlegend Harm-Hinrich Brandt, Der österreichische Neoabsolutismus. Staatsfinanzen und Politik 1848–1860, 2 Bde., Göttingen 1978; vgl. ferner Zsolt K. Lengyel, Österreichischer Neoabsolutismus in Ungarn. Grundlinien, Probleme und Perspektiven der historischen Forschung in der Bach-Ära, in: Südost-Forschungen 56 (1997), 213–278. Zum aktuellen Stand der wissenschaftlichen Debatte über den Neoabsolutismus vgl. zuletzt Harm-Hinrich Brandt (Hrsg.), Der österreichische Neoabsolutismus als Verfassungs- und Verwaltungsproblem. Diskussionen über einen strittigen Epochenbegriff (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, 108), Wien / Köln / Weimar 2014. 66  H.-H. Brandt, Parlamentarismus (Anm. 1), 84. 67  Vgl. hierzu M. Stickler, Erzherzog Albrecht (Anm. 12), 129–133; zur Bedeutung der Armee für das Selbstverständnis der Dynastie vgl. ders., Dynastie, Armee, Parlament (Anm. 1), 121–124. 65  Hierzu

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Franz Josephs Mutter Erzherzogin Sophie (1805–1872)68 und später die Mitglieder des bereits in der Märzverfassung vorgesehenen und 1851 tatsächlich errichteten „Reichsrats“, an dessen Spitze Karl Friedrich von Kübeck (1780–1855)69 stand – überschätzten ganz offensichtlich ihren Einfluss bei dem Jüngling, der im Überschwang des antirevolutionären Triumphs nur zu gerne an seine besondere, göttlich legitimierte Sendung glaubte70. Deshalb entmachtete Franz Joseph konsequent seine Regierung, übernahm ab 1851 persönlich den Vorsitz im Ministerrat und ernannte nach Schwarzenbergs Tod am 5. April 1852 schließlich überhaupt keinen Ministerpräsidenten mehr. Wie erschreckend naiv er die Lage beurteilte, zeigt ein Brief an Erzherzogin Sophie vom 26. August 1851, in dem er vollmundig schrieb: „Wir haben das Konstitutionelle über Bord geworfen und Österreich hat nur mehr einen Herrn. Jetzt muss aber noch fleißiger gearbeitet werden.“71 Die Kehrseite der Selbstherrschaft Kaiser Franz Josephs war, dass dieser nach außen die volle Verantwortung für die Politik Österreichs übernahm. Er verkannte anfangs völlig, dass politische Verantwortlichkeit von Ministern für den Monarchen wie für die Dynastie insgesamt auch gleichsam eine Schutzfunktion haben konnte. Ob Kaiser Franz Joseph und seine Mutter sich bewusst waren, dass der durch den Neoabsolutismus in Gang gekommene dialektische Prozess geeignet war, mittel- und langfristig die Stellung der Dynastie zu verändern, wird man getrost bezweifeln dürfen. Dies war wegen der zentralen Funktion der Dynastie im politischen System der Habsburgermonarchie jedoch eine Schlüsselfrage für die Zukunftsfähigkeit des Neoabsolutismus. Ungelöst blieb ferner das von der Wiener Führung unterschätzte Dilemma, dass ein Umbau des Gesamtstaates letztendlich nur möglich war, wenn es einen Minimalkonsens mit den Beherrschten in dem Sinne gab, dass die Legitimität der zu schaffenden Staatlichkeit und ihrer Institutionen grundsätzlich anerkannt wurde. Vor diesem Hintergrund misslangen letztlich alle Bemühungen, die Erbländer des Hauses Österreich zu einem Einheitsstaat umzuformen. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass Mitte der 68  Vgl. Brigitte Hamann, Sophie, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 24, Berlin 2010, 593; dies., Die Habsburger. Ein biographisches Lexikon (Anm. 3), 421–423. Eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Biographie dieser bedeutenden Frau ist ein Desiderat. 69  Vgl. Harm-Hinrich Brandt, Kübeck von Kübau, Carl Friedrich Freiherr, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 13, Berlin 1982, 169–171. 70  Vgl. hierzu auch ausführlich Matthias Stickler, Die Herrschaftsauffassung Kaiser Franz Josephs in den frühen Jahren seiner Regierung. Überlegungen zu Selbstverständnis und struktureller Bedeutung der Dynastie für die Habsburgermonarchie, in: H.-H. Brandt, Der österreichische Neoabsolutismus als Verfassungs- und Verwaltungsproblem (Anm. 65), 35–60. 71  Vgl. Franz Schnürer (Hrsg.), Briefe Kaiser Franz Josephs I. an seine Mutter. 1832–1872, München 1930, 166.



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1850er Jahre auch das Projekt einer Kaiserkrönung in Wien scheiterte, brachte dieses doch gleichsam durch die Hintertür das alte Problem der Repräsentation des Landes bzw. der einzelnen Kronländer, das bzw. die bei einem solchen Akt ja in irgendeiner Form vertreten sein musste(n), und damit die Verfassungsfrage auf die Tagesordnung72. Das hier zum Ausdruck kommende Grundproblem, nämlich der Boykott obrigkeitlicher Maßnahmen bzw. parlamentarischer Institutionen durch ganze Völker oder deren gewählte Repräsentanten angesichts des Fehlens eines gesamtstaatlichen Grundkonsenses, sollte die Habsburgermonarchie bis zu ihrem Untergang nie wirklich in den Griff bekommen. 3. Zwei Verfassungsstaaten mit gemeinsamer dynastischer Legitimitätsreserve – Der österreichisch-ungarische Ausgleich von 1867 und seine Folgen Die militärische Niederlage Österreichs im Krieg gegen Sardinien 1859 und die sich daran anschließende schwere kreditpolitische Erschütterung bereitete dem neoabsolutistischen Experiment schließlich ein Ende und leiteten eine sechsjährige Phase des „prozedural zähen wie sachlich eklektizistischen Kurierens an Teilen des gesamten Staats- und Reichsproblems“73 ein, das v. a. deshalb so unergiebig war, weil Kaiser Franz Joseph im Kern immer noch an seinen dynastisch-absolutistischen Illusionen festhielt. Allerdings hatte sich durch den Zusammenbruch des neoabsolutistischen Systems eines entscheidend verändert: Die Idee der Selbstherrschaft des Kaisers und damit der Nimbus der Dynastie waren angesichts des offenkundigen Scheiterns der Politik Franz Josephs, für die er persönlich verantwortlich gemacht und kritisiert wurde74, irreparabel beschädigt. Dies erzwang letztlich den Übergang zum Konstitutionalismus, wobei der Kaiser hier nicht aus wirklicher Einsicht handelte, sondern weil er sich davon eine Stabilisierung seiner Herrschaft versprach75. Zugeständnisse machte er v. a. aus taktischen Gründen, ein 72  Vgl. hierzu genauer M. Stickler, Die Herrschaftsauffassung Kaiser Franz Jo­ sephs in den frühen Jahren seiner Regierung (Anm. 70), 51–54. 73  H.-H. Brandt, Parlamentarismus (Anm. 1), 87. 74  So berichtete am 2.11.1859 der Chef der Obersten Polizeibehörde Johann Franz Kempen von Fichtenstamm (1793–1863) in seinem Tagebuch, dass in Ungarn die Abdankung des Kaisers verlangt werde; selbst in Wien scheue man sich nicht, in Gast- und Kaffeehäusern den Kaiser zu schmähen; vgl. Johann Franz Kempen von Fichtenstamm, Das Tagebuch des Polizeiministers Kempen , in: Historische Blätter 4 / 1931, 77–108, hier 88 (1. u. 2.11.1859). Vgl. auch H.-H. Brandt, Franz Joseph I. von Österreich (Anm. 13), 366 f.; J. Redlich, Kaiser Franz Joseph (Anm. 13), 256–260; J. P. Bled: Franz Joseph (Anm. 13), 194–197. 75  Vgl. M. Koschier, „Aus solchen Wirren den lösenden Gang zu finden“ (Anm. 59), 107.

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schlüssiges und zukunftsfähiges verfassungspolitisches Konzept besaß er schlicht und ergreifend nicht. Deshalb unternahm der Kaiser mit dem föderalistischen Oktoberdiplom vom 20.  Oktober 1860 zunächst einen Brückenschlag zu den Konservativen, um es dann, als sich herausstellte, dass die Zugeständnisse an die ungarischen Hochkonservativen den Widerstand der nationalliberalen maygarischen Opposition nur noch mehr anstachelten, mit den deutschliberalen Zentralisten zu versuchen. Das Februarpatent vom 26.  Februar 1861 galt zwar offiziell als Weiterentwicklung des Oktoberdiploms, stellte aber tatsächlich den Versuch dar, die Habsburgermonarchie unter Einbeziehung Ungarns auf konstitutioneller Basis zu einem Einheitsstaat umzubauen76. Als auch dies am Widerstand der Ungarn scheiterte, nahm Kaiser Franz Joseph Verhandlungen mit den ungarischen Liberalen auf und sistierte am 20.  September 1865 das Februarpatent. Er gestattete die Neuwahl des ungarischen Reichstags nach dem liberalen Wahlrecht von 1848, eröffnete diesen persönlich im Dezember 1865, gab die Verwirkungstheorie preis und signalisierte die Bereitschaft zu einem Verfassungskompromiss, der geeignet war, eine weitgehende Selbständigkeit Ungarns sicherzustellen. Endgültig durchschlagen wurde der gordische Knoten schließlich im Gefolge des Sieges Preußens und seiner Verbündeten im Deutschen Krieg von 1866. Diese abermalige militärische und politische Niederlage Kaiser Franz Josephs verbesserte nochmals die Verhandlungspositionen der Ungarn, wobei ganz entscheidend war, dass die Verhandlungsführer Franz (Ferenc) Déak (1803–1876)77 und Julius (Gyula) Graf Andrássy (1823–1890)78 deutlich machten, dass sie keine weiter gehenden Forderungen erheben würden als vor dem Krieg. Kern des historischen Kompromisses war, dass die ungarische Seite anerkannte, dass eine völlige Unabhängigkeit des Königreiches nicht ihrem Sinne sein konnte, weil die Magyaren in ihrer exponierten und isolierten Stellung des Schutzes einer Großmacht bedurften. Die Erhaltung der Habsburgermonarchie als europäische Großmacht war demnach für Ungarn von existentieller Bedeutung und dies implizierte, dass die Dynastie und die notwendigen Instrumente zur Absicherung des Großmachtanspruchs – 76  Zu Oktoberdiplom (20.10.1860) und Februarpatent (1861) vgl. H.-H. Brandt, Parlamentarismus (Anm. 1), 87–94; ausführlich v. a. W. Brauneder, Die Verfassungsentwicklung (Anm. 52), 138–169; L. Péter, Die Verfassungsentwicklung in Ungarn (Anm. 52), 299–313. Die Verfassungstexte finden sich in: H. Fischer / G. Silvestri, Texte zur österreichischen Verfassungsgeschichte (Anm. 53), 69–71 und 72–83. 77  Vgl. István Fazekas / Stefan Malfèr / Péter Tusor (Hrsg.), Széchenyi, Kossuth, Batthyány, Deák. Studien zu den ungarischen Reformpolitikern des 19. Jahrhunderts und ihren Beziehungen zu Österreich (Publikationen der ungarischen Geschichtsforschung in Wien, 3), Wien 2011. 78  Vgl. Eduard von Wertheimer, Graf Julius Andrássy. Sein Leben und seine Zeit, 3 Bde., Stuttgart 1910–1913; Rainer F. Schmidt, Graf Julius Andrássy. Vom Revolutionär zum Außenminister (Persönlichkeit und Geschichte, 148 / 149), Göttingen 1995.



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Außenpolitik, Armee und die dafür notwendigen Finanzmittel – nicht beeinträchtigt werden durften. Für Kaiser Franz Joseph war dieser Gesichtspunkt von entscheidender Bedeutung, weil Außenpolitik und Armee in seiner Perspektive zentrale monarchische Prärogative waren, die konstitutionellem und parlamentarischem Zugriff unbedingt entzogen werden mussten. Der Ausgleich eröffnete insofern für den Kaiser die Möglichkeit, die zentrale Stellung der Krone im politischen System der Habsburgermonarchie trotz Konstitutionalisierung aufrechtzuerhalten – ganz im Sinne des oben dargelegten Selbstverständnisses der Dynastie79. Diese Erkenntnis war wohl auch – neben der ihm eigenen Neigung zum bürokratischen „Fortwursteln“ – der maßgebliche Grund dafür, warum Kaiser Franz Joseph den Ausgleich bis zu seinem Tode nicht in Frage stellte. Überlegungen zu dessen Revision, woran Erzherzog Albrecht (1817–1895)80 gelegentlich dachte, oder Staatsstreichpläne lehnte er ab  – weshalb er in der ungarischen Verfassungskrise der Jahre 1905 / 06 wohl auch davor zurückschreckte, Ungarn das allgemeine Wahlrecht zu oktroyieren und dadurch die magyarischen Eliten zu entmachten81. Im sogenannten österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 wurde die Habsburgermonarchie dualistisch derart umgestaltet, dass diese bei Wahrung gemeinsamer Angelegenheiten in den Bereichen Außen-, Finanz-, und Militärpolitik und starker Stellung des gemeinsamen Monarchen in zwei autonome Staaten aufgeteilt wurde82. Die Gesamtmonarchie wurde, wie Wilhelm Brauneder bemerkt hat, „ihres staatlichen Charakters entkleidet, Ungarn samt Nebenländern als Staat wiederhergestellt, womit sich die bisherige österreichische Gesamtstaatlichkeit auf Cisleithanien zurückzog.“83 Konsequenterweise gab es denn auch kein „Reichsparlament“, der Reichsrat wurde zum Parlament der westlichen Reichshälfte. Für die Bewilligung der Finanzmittel betreffend die gemeinsamen Angelegenheiten wurden alle zehn Jahre spezielle Ausschüsse des Reichsrats und des ungarischen Reichstags gebildet, die sogenannten Delegationen84, die getrennt tagten und abstimmten. Bei dieser 79  Vgl. M. Koschier, „Aus solchen Wirren den lösenden Gang zu finden“ (Anm. 59), 96. 80  Vgl. hierzu etwa M. Stickler, Erzherzog Albrecht (Anm. 12), 119 f., 357–364, hier 425. 81  Vgl. hierzu J. P. Bled, Franz Joseph (Anm. 13), 481–487; László Révész, Der ungarische Reichstag 1848 bis 1918: Rechtliche Grundlagen und praktische Umsetzung, in: H. Rumpler / P. Urbanitsch, Die Habsburgermonarchie 1848–1918 (Anm. 1), Bd. VII., 1007–1060, hier 1040–1045. 82  Vgl. hierzu W. Brauneder, Die Verfassungsentwicklung (Anm. 52), 169–237; L. Péter, Die Verfassungsentwicklung in Ungarn (Anm. 52) 313–338. 83  W. Brauneder, Die Habsburgermonarchie (Anm. 1), 235. 84  Vgl. Éva Somogyi, Die Delegationen als Verbindungsinstitution zwischen Cisund Transleithanien, in: H. Rumpler / P. Urbanitsch, Die Habsburgermonarchie 1848– 1918 (Anm. 1). Bd. VII.1 (2000), 1107–1176.

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Konstruktion, die Österreich-Ungarn den Spottnamen „Monarchie auf Kündigung“ eintrug und die sich als Einbruchstelle für die Aushöhlung des 1867 erzielten Kompromisses erweisen sollte, trafen sich erneut die antiparlamentarischen Intentionen Kaiser Franz Josephs mit den partikularistischen der Ungarn. Ob es überhaupt noch ein Ungarn und „Die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“ überwölbendes Reichsdach gebe, war in der Folgezeit eine heftig diskutierte Frage und wurde insbesondere von den Ungarn vehement bestritten85. In dieser Situation kam der Dynastie als quasi vorbzw. überkonstitutioneller Legitimitätsreserve eine Schlüsselstellung zu, da sich in ihrer schieren Existenz und in den dem Kaiser verbliebenen monarchischen Prärogativen letztendlich so etwas wie die Reichsidee verkörperte. „Das Reich“ – so hat Harm-Hinrich Brandt sehr treffend festgestellt – „(die pragmatisch gemeinsamen Angelegenheiten) als eine Sphäre ausgeprägter monarchischer Prärogative kann also in historischer Perspektive als der Restbestand einer gestalttypisch älteren Macht- und Institutionenbildung angesehen werden, der die Fortentwicklung zum Staat versagt blieb und die sich damit der Konstitutionalisierung und Parlamentarisierung im Kern entzog, die aber die Basis wirksamer politischer Gestaltungskraft über den durch sie vereinigten Staaten blieb, solange das Prinzip der monarchischen Legitimität noch Geltungskraft besaß.“86 Diese komplizierte und im europäischen Vergleich einzigartige Konstruktion wurde von der Dynastie, wie oben bereits erwähnt, keineswegs als gravierendes Defizit empfunden, sie entsprach vielmehr der eigenen Rollenzuweisung als unverzichtbarer Garant der Reichseinheit und erlaubte zudem bei extensiver Auslegung der monarchischen Prärogative die Wahrung eines Restbestandes an monarchisch-absolutistischer Handlungsfreiheit. Hierin liegt der tiefere Sinn von Erzherzog Albrechts dynastischem Politikverständnis, das von Kaiser Franz Joseph im Wesentlichen geteilt wurde. In der weiteren Stärkung von Dynastie und Armee, den beiden einzigen Institutionen, die Revolution und Ausgleich nahezu unbeschadet überstanden hatten, sah die Dynastie die einzige Möglichkeit, den zentrifugalen Tendenzen entgegenzusteuern. Problematisch blieb indes, dass diese Strategie letztendlich auf ein retardierendes Festklammern am Status quo bzw. ein Herumdoktern an Symptomen hinauslief, die Grundprobleme aller85  Zur Rechtsqualität der Habsburgermonarchie und ihrer beiden Reichshälften nach 1867 vgl. insbesondere die zeitgenössische staatsrechtliche Literatur: Adolf Bachmann, Lehrbuch der österreichischen Reichsgeschichte. Geschichte der Staatsbildung und des öffentlichen Rechts, 2 Bde., Prag 1895 / 96; Alfons Huber, Österreichische Reichsgeschichte. Geschichte der Staatsbildung und des öffentlichen Rechts, hrsg. v. Alfons Dopsch, 2. Aufl. Wien u. a. 1901; Friedrich Tezner, Der österreichische Kaisertitel, Wien 1899; ders., Die Wandlungen der österreichisch-ungarischen Reichsidee. Ihr Inhalt und ihre politische Notwendigkeit, Wien 1905; Joseph Ulbrich, Das österreichische Staatsrecht, Tübingen 1909. 86  H.-H. Brandt, Parlamentarismus (Anm. 1), 100.



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dings ungelöst blieben. Zwar funktionierte die Ausübung der gemeinsamen Angelegenheiten bis 1918 leidlich, doch nahm die Entwicklung der Teilstaaten eine denkbar unterschiedliche Richtung: Die ungarischen Liberalen versuchten, angesichts der Tatsache, dass das magyarische Staatsvolk nur gut die Hälfte der Bevölkerung des Königreichs ausmachte, dieses mit Hilfe eines manipulativen Wahlrechts und aggressiver Magyarisierungspolitik87 gegenüber den anderen Völkern in einen modernen integralen Nationalstaat nach französischem Vorbild umzuwandeln. Teilweise waren sie damit auch erfolgreich, doch erwies sich diese nationalistische Strategie langfristig als kontraproduktiv; die ungarische Katastrophe von 1918 / 19, die Zerschlagung des Reiches der Stephanskrone und die Neukonstituierung Restungarns als ostmitteleuropäischer Kleinstaat, hat hierin ihre tieferen Ursachen. In Cisleithanien88 indes, wo keine Nationalität über eine auch nur relative Mehrheit verfügte – Deutsche und Tschechen stellten hier mit ca. 33 % bzw. 22 % die größten Volksgruppen – setzten sich die aus der Zeit von vor 1867 auf der Reichsebene bekannten Konflikte fort. Zwar gelang es dem ehemaligen sächsischen Außenminister und nunmehrigen österreichischen Außenminister, Ministerpräsidenten und „Reichskanzler“ Ferdinand von Beust (1809– 1886)89, im auf manipulativem Wege deutschliberal dominierten engeren Reichsrat die Annahme der Ausgleichsverträge sicherzustellen und im Anschluss die westliche Reichshälfte in der sogenannten Dezemberverfassung des Jahres 186790 als zentralistisch aufgebaute konstitutionelle Monarchie deutschen Typs zu konstituieren, letztlich erwies sich die Dezemberverfas87  Vgl. hierzu ausführlich v. a. Ludwig Gogolák, Ungarns Nationalitätengesetz und das Problem des magyarischen National- und Zentralstaates, in: A. Wandruszka /  P. Urbanitsch, Die Habsburgermonarchie 1848–1918 (Anm. 1). Bd. III.1: Die Völker des Reiches (1980), 1207–1303, hier 1270–1303; L. Péter, Die Verfassungsentwicklung in Ungarn (Anm. 52), 338–540; Friedrich Gottas, Ungarn im Zeitalter des Hochliberalismus. Studien zur Tisza-Ära 1875–1890 (Studien zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie, 16), Wien 1976. Lediglich Kroatien erhielt einen Sonderstatus mit eigenem Parlament und Selbstverwaltung; vgl. Mirjana Gross, Der kroatische Sabor, in: H. Rumpler / P. Urbanitsch, Die Habsburgermonarchie 1848– 1918 (Anm. 1). Bd. VII.2 (2000), 2283–2316, hier v. a. 2294 ff. 88  Vgl. hierzu H.-H. Brandt, Parlamentarismus (Anm. 1), 101 ff.; Helmut Rumpler, Parlament und Regierung Cisleithaniens 1867–1914, in: ders. / P. Urbanitsch, Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. VII.1 (Anm. 52), 667–894. 89  Vgl. Jonas Flöter, Beust, Friedrich Ferdinand Freiherr (seit 1868 Graf) von, in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V., bearb. von Martina Schattkowsky, Online-Ausgabe: http: /  / www.isgv.de / saebi /  (17.7.2016); dort auch weiter bibliographische Angaben. Den Ehrentitel „Reichskanzler“ führte Beust von 1867 bis 1871; sein Nachfolger Julius Graf Andrássy verzichtete darauf und setzte durch, dass der Titel, der das Vorhandensein eines förmlichen gemeinsamen „Reichsministeriums“ suggerierte, seither nicht mehr verliehen wurde. 90  Abgedruckt in: H. Fischer / G. Silvestri, Texte zur österreichischen Verfassungsgeschichte (Anm. 53), 86–103.

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sung aber als zu wenig weiterentwicklungsfähig. Der Hauptgrund hierfür lag in den Ausgleichsverträgen, da der föderalistische Umbau des Reiches in zwei Staaten jede weitere Föderalisierung hemmte: Erstens hatten Magyaren und Deutsche als Hauptprofiteure des Ausgleichs ein verständliches Interesse daran, den erreichten Zustand festzuschreiben. Zweitens setzten die Ausgleichsgesetze, v. a. die Bestimmungen über die Delegationen, die Existenz zweier Staaten mit je integralen Vertretungskörpern zwingend voraus. Hätte sich ein Vertragspartner in zwei oder mehrere aufgelöst, so wäre die Grundlage des Verfassungswerkes beseitigt und damit seine Gültigkeit in Frage gestellt worden. Faktisch existierte als Folge der verfassungsmäßigen Bindung beider Reichshälften aneinander ein weitgehendes effektives Vetorecht der Ungarn in cisleithanischen Verfassungsfragen, das eine Föderalisierung der westlichen Reichshälfte bis 1918 dauerhaft verhindern sollte. Theoretisch gab es natürlich auch ein analoges Vetorecht Cisleithaniens in Bezug auf Ungarn, politisch war aber nur die umgekehrte Konstellation relevant, da es, wie erwähnt, den Ungarn gelungen war, ihre Reichshälfte als Staat mit integraler, magyarisch bestimmter Willensbildung zu organisieren. V. a. an dieser prekären Gesamtkonstellation scheiterten 1871 die Bemühungen des konservativen Ministerpräsidenten Karl Sigmund Graf von Hohenwart (1824–1899), einen Ausgleich mit den Tschechen unter konservativ-föderalistischen Vorzeichen herbeizuführen91. Die Überspielung der nationalen tschechischen Partei sollte sich insofern rächen, als die ungelöste tschechische Frage langfristig die Ausbildung eines echten Parlamentarismus im Westen verhinderte92. Das manipulativ einsetzbare indirekte Kurienwahlrecht93 sowie der gezielte Boykott des Parlaments durch einzelne Volksgruppen ließ den Repräsentationsgedanken immer mehr zur reinen Fiktion verkommen. Dennoch war die Dezemberverfassung an sich kein Instrument gegen die anderen Völker. Artikel 19 garantierte vielmehr die Gleichberechtigung aller „Volksstämme des Staates“ und jedem „Volksstamm“ „ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache“94. Zu einer Germanisierungspolitik analog zu den rigiden Maßnahmen in Ungarn ist es 91  Vgl. hierzu v. a. Christian Scharf, Ausgleichspolitik und Pressekampf in der Ära Hohenwart. Die Fundamentalartikel von 1871 und der deutsch-tschechische Konflikt in Böhmen (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 82), München 1996 (zugl. Diss. Berlin 1992). 92  Auf die weitere Entwicklung in der tschechischen Frage kann im Rahmen dieses Beitrags nicht eingegangen werden; vgl. hierzu ausführlich: Jan Křen, Die Konfliktgemeinschaft – Deutsche und Tschechen 1780–1918 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 71), München 1996, 155–381. 93  Vgl. hierzu v. a. Lothar Höbelt, Wahlen aus Parlamenten, in: Wilhelm Brauneder (Hrsg.), Wahlen und Wahlrecht (Beihefte zu „Der Staat“, 14), Berlin 2001, 175–187. 94  Vgl. hierzu sowie zur weiteren Nationalitätenpolitik in Cisleithanien Gerald Stourzh, Die Gleichberechtigung der Volksstämme als Verfassungsprinzip 1848–1918,



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in der westlichen Reichshälfte denn auch nie gekommen, wie dort auch die Möglichkeiten, das Wahlrecht manipulativ zu Gunsten der Deutschen einzusetzen, letztendlich begrenzt waren. Das schließlich 1907 eingeführte allgemeine Wahlrecht begünstigte im Ergebnis den Zerfall des Abgeordnetenhauses in kompromissunwillige ethnisch homogene Fraktionen. Insofern zeigt die Krise der späten Habsburgermonarchie auch, dass Demokratisierung nicht notwendigerweise ein Heilmittel bei Nationalitätenproblemen ist, weil die aus der Ethnisierung der Politik resultierenden Fraktionsbildungen nach vorrangig ethnisch-nationalen Kategorien zu einer Erstarrung der Machtverhältnisse führen und den für die Demokratie konstitutiven Machtwechsel von Mehrheit zur Minderheit ausschließen95. Krone und Regierung reagierten auf die Krise mit einer Taktik der gezielten administrativen Konzessionen an einzelne Nationalitäten sowie einer extensiven Auslegung des Notverordnungsrechts, was letztendlich auf eine informelle Rückkehr zum bürokratischen Absolutismus hinauslief. Insofern blieb die Dynastie wegen der geringeren politischen Stabilität in der westlichen Reichshälfte dort auch innenpolitisch ein wichtiger Mitspieler im politischen Prozess. IV. Fazit Wenn die Habsburgermonarchie bis heute zumeist als altertümliches Länderkonglomerat wahrgenommen wird, so liegt dies auch daran, dass es der Dynastie trotz oder auch wegen der säkularen Herausforderungen durch Konstitutionalismus und Nationalismus gelang, eine starke und im europäischen Vergleich einzigartige Schlüsselstellung im politischen System Österreich(-Ungarn)s zu bewahren. Dies lag vor allem daran, dass die partikularen Kräfte ganz offensichtlich unfähig oder unwillig waren, einen gemeinsamen Staat zu konstituieren, der Ausgangspunkt einer „Verstaatlichung“ des Hauses Österreich hätte sein können. Dies hatte zur Folge, dass der Dynastie im 19. Jahrhundert die Funktion einer letztlich in den Bestimmungen der Pragmatischen Sanktion wurzelnden vor- und überkonstitutionellen Legitimitätsreserve zuwuchs, die über den zentrifugalen Kräften stand und damit in erheblichem Umfang faktisch extrakonstitutionelle politische Handlungsfreiheit bewahren konnte. Diese besondere Stellung entsprach durchaus dem überkommenen alteuropäischen Selbstverständnis der Dynastie, der einzige wirkliche Integrationsfaktor der habsburgischen Erbländer zu sein. Langfrisin: A. Wandruszka / P. Urbanitsch, Die Habsburgermonarchie 1848–1918 (Anm. 1), Bd. III.1: Die Völker des Reiches (1980), 975–1206, hier 1011–1206. 95  Vgl. Siegfried Weichlein, Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa, Darmstadt 2006, 273; Helmut Rumpler, Grenzen der Demokratie im Vielvölkerstaat, in: H. Rumpler / P. Urbanitsch, Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. VII.1 (Anm. 52), 1–10.

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tig erwies sich dieses Konzept, das auf retardierende Abwehr aller modernen Formen staatlicher Integration hinauslief, jedoch als problematisch, weil es im Kern destruktiv war. Die ihm zugrunde liegende, auf dem Trauma der Revolution von 1848 und der antirevolutionären Hybris von 1849 / 50 beruhende tief sitzende Überzeugung, dass die Habsburgermonarchie konstitutionell-parlamentarisch nicht zu regieren sei, wirkte insbesondere bei Kaiser Franz Joseph immunisierend gegenüber alternativen Integrationskonzepten und wurde so zunehmend zu einer self-fulfilling prophecy. Es wäre dennoch zweifellos verfehlt, wollte man den Zusammenbruch der Habsburgermonarchie 1918 eindimensional als logische Konsequenz ihrer Defizite im Hinblick auf moderne (Verfassungs-)Staatlichkeit erklären. Immerhin haben die vom Haus Habsburg regierten Länder Mitteleuropas, wenn man den Erwerb der böhmischen und ungarischen Krone 1526 / 27 als konstitutiv für eine Art Reichsbildung ansieht, trotz gewisser territorialer Veränderungen immerhin 400 Jahre zusammengehört, eine vergleichsweise lange Zeit, gerade unter den Bedingungen von Multinationalität und, was für die Frühe Neuzeit noch viel entscheidender ist, Multikonfessionalität. Man könnte also im Gegenteil die Frage stellen, warum die Habsburgermonarchie überhaupt so lange existieren konnte und damit die zentripetalen Kräfte in den Mittelpunkt der Analyse stellen96. Zu diesen Kräften gehörte zweifellos auch die Dynastie, deren Wirken sich selbstverständlich nicht auf die beschriebenen destruktiven Aspekte ihres dynastisch fundierten Staatsverständnisses im langen 19. Jahrhundert reduzieren lässt97. Der Untergang der Habsburgermonarchie im Oktober / November 1918 resultierte aus einer komplexen Verflechtung von außen- und innenpolitischen Faktoren98: Der Erste Weltkrieg wirkte zum einen als Katalysator für die ungelösten Probleme der Vorkriegszeit, zum andern erfuhr die Monarchie als Institution nach dem Tode Kaiser Franz Josephs (21. November 1916) unter seinem wohlmeinenden, aber unerfahrenen Nachfolger Kaiser Karl I. (reg. 96  Vgl. hierzu und zu den sich daraus ergebenden Forschungsdebatten ausführ­ licher M. Stickler, Staatsorganisation (Anm. 1), v. a. 47–53; ausführlich zuletzt Pieter M. Judson, The Habsburg Empire. A New History. Cambridge (Mass.) / London 2016; John Deak, Forging a Multi-National State. State Making in Imperial Austria from the Enlightenment to the First World War, Stanford, Cal. 2015. 97  Zu den Grenzen der Integrationskraft der Dynastie, insbesondere des dynastischen Mythos der Habsburger vgl. ausführlich P. Urbanitsch, Pluralist Myth (Anm. 3). 98  Vgl. hierzu Mark Cornwall, Auflösung und Niederlage. Die österreichisch-ungarische Revolution, in: ders. (Hrsg.), Die letzten Jahre der Donaumonarchie, Essen 2004 (englische Originalausgabe 2002), 174–201. Cornwall nimmt in diesem Beitrag dezidiert Stellung gegen A. Sked, Der Fall des Hauses Habsburg (Anm. 1) und Francis R. Bridge, The Habsburg Monarchy among the great powers. 1815–1918, New York / Oxford / München 1990, die v. a. außenpolitische Gründe bzw. den Weltkrieg als Ursache für den Untergang der Habsburgermonarchie benennen.



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1916–1918)99 einen erheblichen Vertrauensverlust, der ihre Legitimität untergrub – auch und gerade, wenn man etwa an die „Sixtus-Affaire“100 denkt. Kaiser Karl scheiterte an der von ihm sehr wohl erkannten, selbst gestellten Aufgabe, die Habsburgermonarchie zu reformieren, weil er „als Politiker zu schwach und vom Schicksal benachteiligt“101 war. Bemerkenswert ist, dass – obgleich die Einheit der Gesamtdynastie als Folge des Reichszerfalls nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zerbrach – das dynastische Sendungsbewusstsein Kaiser Karls und seiner Familie auch nach 1918 / 19 noch weiterwirkte, wenn man etwa an die Restaurationsversuche des entthronten Kaisers und Königs in Ungarn 1921 oder seines Sohnes und Erben Otto von Habsburg (1912–2011) in Österreich in den 1930er Jahren denkt. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte allmählich eine innere Anerkennung der 1918 / 19 geschaffenen Fakten102. Zusammenfassend wird man feststellen müssen, dass das dynastische Selbstverständnis des Hauses Österreich, obgleich diesem zweifellos integrative Absichten im Hinblick auf die Erbländer zugrunde lagen, objektiv desintegrative Wirkungen freisetzte, die zum Untergang der Habsburgermonarchie mit beitrugen. Anders als anderen europäischen Dynastien ist es den Habsburgern nicht gelungen, den Konstitutionalismus, der allzu sehr mit dem modernen Nationalismus assoziiert und damit als systemsprengend eingeschätzt wurde, in dem Sinne konstruktiv fruchtbar zu machen, dass dieser als integratives Band für die Gesamtmonarchie hätte wirken können. 99  Zu Kaiser Karl vgl. v. a.: Peter Broucek, Karl I. (IV.). Der politische Weg des letzten Herrschers der Donaumonarchie, Wien / Köln / Weimar 1997; Gordon BrookShepherd, Um Krone und Reich. Die Tragödie des letzten Habsburgerkaisers, Wien / München / Zürich 1968; Elisabeth Kovács, Untergang oder Rettung der Donaumonarchie? Die Österreichische Frage. Kaiser und König Karl I. (IV.) und die Neuordnung Mitteleuropas (1916–1922) (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs, 100 / 1), Wien / Köln / Weimar 2004; Reinhold Lorenz, Kaiser Karl und der Untergang der Donaumonarchie, Graz 1959; Heinz Rieder, Kaiser Karl. Der letzte Monarch Österreich-Ungarns 1887–1922, München 1981; Helmut Rumpler, Karl I. von Österreich (1916–1918), in: Die Kaiser der Neuzeit 1519–1918 (Anm. 3), 382–394. 100  Vgl. Robert A. Kann, Die Sixtusaffäre und die geheimen Friedensverhandlungen Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg, Wien 1966. 101  H. Rumpler, Karl I. (Anm. 99), 394. 102  Vgl. hierzu Matthias Stickler, „Éljen a Király!“?  – Die Restaurationspolitik Kaiser Karls von Österreich gegenüber Ungarn 1918–1921, in: Ungarn-Jahrbuch 27 (2004), 41–79; ders., Abgesetzte Dynastien. Strategien konservativer Beharrung und pragmatischer Anpassung ehemals regierender Häuser nach der Revolution von 1918  – Das Beispiel Habsburg, in: Deutscher Adel im 19. und 20. Jahrhundert. Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 2002 und 2003 (Deutsche Führungsschichten der Neuzeit, 26), hrsg. v. Markus A. Denzel / Günther Schulz, St. Katharinen 2004, 397–444.

Das Wittelsbacher Königtum – Entwicklung des Legitimitätsprinzips Von Dieter J. Weiß, München Kaiser Friedrich I. Barbarossa erteilte am 16. September 1180 im thüringischen Altenburg Pfalzgraf Otto von Wittelsbach die Belehnung mit dem Herzogtum Bayern1. Er und seine Nachfolger führten seitdem die Devotionsformel dei gratia – von Gottes Gnaden vor dem Titel Herzog von Bayern2. Ihre Herrschaft beruhte also einerseits auf der Belehnung durch das Reichsoberhaupt, andererseits auf dem Gottesgnadentum. König Otto IV. sicherte Herzog Ludwig dem Kelheimer 1208 die Erblichkeit des Herzogtums zu3. Seit also 1180 verkörpern die Wittelsbacher die geschichtliche Identität des Staates Bayern, sie dienten über Jahrhunderte allen sozialen Gruppen, Ständen und Klassen des Landes als Integrationspunkt4. Sie setzten die Traditionen des ins 6. Jahrhundert zurückreichenden Stammesherzogtums fort, dessen Namen sie beibehielten, schufen das hochmittelalterliche Reichsfürstentum mit Landeshoheit und wurden im 19. Jahrhundert Herrscher eines souveränen Königreiches. Mit dem Aussterben der ludovizianischen Linie der Wittelsbacher 1777 wurden in Ausführung alter Hausverträge Bayern und Pfalz unter Kurfürst Karl Theodor von Pfalz-Neuburg-Sulzbach vereinigt. Seine Nachfolge trat, ebenfalls auf Grund des Erbrechts und von Hausverträgen, 1799 der aus einer Nebenlinie stammende Pfalzgraf von Pfalz-Zweibrücken als Kurfürst Max IV. Joseph an. Er proklamierte sich am Neujahrstag 1806 in Erfüllung eines älteren Wittelsbacher Traums in der Münchner Residenz vor den versammelten Würdenträgern zum ersten König von Bayern der Neu-

1  Gabriele Schlütter-Schindler, Die Regesten der Herzöge von Bayern 1180–1231 (Regesten zur bayerischen Geschichte), München 2013, Nr. O I 1, 4 f. 2  Belegt 1193 für Herzog Ludwig I. den Kelheimer von Bayern: Michael Stephan, Die Traditionen des Klosters Scheyern (Quellen und Erörterungen zur bayerischen Geschichte, 36 / 1), München 1986, Nr. 75A, 79 f. 3  1208 November 15: G. Schlütter-Schindler, Regesten (Anm. 1), Nr. L I 149, 74 f. 4  Hans Maier, Rede bei der Festveranstaltung des Bayernbundes zum Wittelsbacher Jahr am 14. X. 1980 in der Bayer. Akademie der Wissenschaften (Ms. Geschäftsstelle des Bayernbundes, Rosenheim).

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zeit5. Im Anschluß fand die Gratulationscour durch die Anwesenden statt, eine Huldigung durch die Landstände unterblieb. Öffentlich wurde dieser Akt mit der Verkündigung einer Proklamation durch den Landesherold6: „Da durch die Vorsehung Gottes es dahin gediehen ist, daß das Ansehen und die Würde des Herrschers in Baiern seinen alten Glanz und seine vorige Höhe zur Wohlfahrt des Volkes, und zum Flor des Landes wieder erreicht, so wird der Allerdurchlauchtigste und Großmächtigste Fürst und Herr, Herr Maximilian Joseph, als König von Baiern, und allen dazu gehörigen Ländern hiemit feyerlich ausgerufen, und dieses seinen Völkern allenthalben kund und zu wissen gemacht.“7

Auch wenn die Zeitgenossen überzeugt waren, daß der Wille und der zeitgleiche Aufenthalt des französischen Kaisers Napoleon in München maßgeblich für die Proklamation Bayerns zum Königreich waren, so betont dieser Text, daß der Herrscher in „Baiern seinen alten Glanz und seine vorige Höhe wieder erreicht“ habe. Und nun gibt es ja tatsächlich Zeugnisse, die Bayern im Frühmittelalter den Rang eines regnum beilegen, dies gilt für die Zeit der Agilolfingerherrschaft wie die anschließende der Karolinger8. Auch im frühen 10. Jahrhundert scheint zeitweilig ein bayerisches Sonderkönigtum bestanden zu haben9. Viele historische Zeugnisse für das hohe Alter der bayerischen Königswürde wurden 1806 von eifrigen Zeitgenossen zusammengetragen10. Noch im Sommer 1805 hatte der Kaiser des Heiligen Römischen 5  Original Protokoll welches über die von Seiner Kurfürstlichen Durchlaucht angenommene Würde eines Königs von Baiern abgehalten worden den ersten Tag des Jahres 1806: Ferdinand Kramer, Bayerns Erhebung zum Königreich. Das offizielle Protokoll zur Annahme der Königswürde am 1. Januar 1806 (mit Edition), in: Bayerische Geschichte. Landesgeschichte in Bayern. Festgabe für Alois Schmid zum 60.  Geburtstag, hrsg. v. Konrad Ackermann / Hermann Rumschöttel (ZBLG, 68), München 2005, Teil  2, 815–834, hier Anhang, Dokument 1, 829–832.  – Ferdinand Kramer, Der Weg zur Königswürde, in: Bayerns Krone 1806. 200 Jahre Königreich Bayern, hrsg. v. Johannes Erichsen / Katharina Heinemann, München 2006, 17–23. 6  Christian Meyer, Die Erhebung Bayerns zum Königreich, München 1906; Carl Oskar Renner, 1.  Januar 1806. Als Bayern Königreich wurde, Rosenheim 1975, 6; Hans Ottomeyer, Die Kroninsignien des Königreiches Bayern (Aus bayerischen Schlössern), München 1979, 6. 7  Proklamation der Annahme der Königswürde und Anzeige der Proklamation Max Josephs als König von Baiern: F. Kramer, Bayerns Erhebung (Anm. 5), Anhang, Dokument 1a und 3, 832–834; Königlich baierische Staats-Zeitung von München, Nr. 1, 1. Jänner 1806, 1 (Faksimile: C. O. Renner, 1. Januar 1806 [Anm. 6], 7); Bayerns Krone 1806 (Anm. 5), Nr. 187, 226 f. 8  830 Oktober 6: Monumenta Germaniae Historica, Diplomata Ludowici Germanici. Die Urkunden der deutschen Karolinger 1 / 1, bearb. v. Paul Kehr, Berlin 1932, Nr. 2, 2 f. 9  Kurt Reindel, Herzog Arnulf und das Regnum Bavariae, in: ZBLG 17 (1954), 187–252. 10  [Felix A.] Freiherr von Löwenthal, Das erneuerte Königthum Baiern als Denkmahl dem allgeliebten Maximilian Joseph König in Baiern dem Retter seiner Nation



Das Wittelsbacher Königtum

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Reiches deutscher Nation, Franz II., dem Kurfürsten von Bayern die Rangerhöhung zum König angeboten11, der sich dann aber für die französische Option entschied. Da in Wien immer wieder Pläne zur Annexion Bayerns erwogen worden waren, war man in München bereit, mit französischer Unterstützung die volle Souveränität zu erringen und mit der Königswürde zu bekrönen. Im Frieden von Preßburg (26.  Dezember 1805) mußte der Kaiser nun auf Druck Napoleons Bayern die Königswürde und die Souveränität unter Verzicht auf alle Lehensrechte12 zugestehen13. König Max I. Joseph selbst hielt sich nicht mit historischen Beweisführungen auf. Bei der Proklamation des Königreiches sprach er zwar davon, daß er „den dem vormaligen Beherrscher de[s]selben angestammten Titel eines Königs von Baiern“ angenommen habe, als Begründung führte er aber den Konsens der bayerischen Untertanen an: „Durch die unerschütterliche Treue Unserer Unterthanen, und die vorzüglich bewiesene Anhänglichkeit der Baiern an Fürst und Vaterland, hat der baierische Staat sich zu seiner ursprünglichen Würde emporgehoben.“14 Die Legitimität der Königswürde gründet also in der Zustimmung und Wohlfahrt des Volkes und seiner Treue zum Fürsten15, womit hier ein Gedanke der Vertragstheorie aufgenommen wird. Das Gottesgnadentum wurde nicht zur Legitimation herangezogen, nur indirekt mit der „Uns von der Vorsehung anvertrauten Nation“ angesprochen. Im offiziellen Protokoll der Königsproklamation steht zudem noch, daß Max I. aufgestellt, München 1806 (Krone und Verfassung. König Max I. Joseph und der neue Staat [Wittelsbach und Bayern, III / 2], hrsg. v. Hubert Glaser, München / Zürich, 1992, Nr. 410, 209). – [Georg Wilhelm] Zapf, Kurzgefaste Geschichte Baierns bis zur wiederhergestellten Königwürde, Augsburg 1806 (Krone und Verfassung [w. o.], Nr. 411, 209). 11  Eberhard Weis, Die Begründung des modernen bayerischen Staates unter König Max I. (1799–1825), in: Handbuch der bayerischen Geschichte IV / 1: Das neue Bayern. Von 1800 bis zur Gegenwart, begründet v. Max Spindler, 2. Aufl. hrsg. v. Alois Schmid, München 2003, 3–126, hier 24; F. Kramer, Bayerns Erhebung (Anm. 5), 818. 12  Zur bis ins 18. Jahrhundert andauernden Bedeutung der Lehensrechte vgl. Mat­ thias Schnettger, Rang, Zeremoniell, Lehnssysteme. Hierarchische Elemente im europäischen Staatensystem der Frühen Neuzeit, in: Die frühneuzeitliche Monarchie und ihr Erbe. Festschrift für Heinz Duchardt zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Ronald G. Asch u. a., Münster 2003, 179–195, hier v. a. 188–194. 13  1805 Dezember 26 (Auszug): Die Bayerische Staatlichkeit, unter Mitwirkung v. Werner K. Blessing bearb. v. Rolf Kießling/Anton Schmid (Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft, III / 2), München 1976, Nr. 7, 36 f. – F. Kramer, Bayerns Erhebung (Anm. 5), 819. 14  Königlich-Baierisches Regierungsblatt 1806. 1. Stück, München, Mittwoch den 1. Jänner 1806, 3 (Krone und Verfassung [Anm. 10], Nr. 403, 208; F. Kramer, Bayerns Erhebung [Anm. 5], Anhang, Dokument 2, 832 f.). 15  F. Kramer, Bayerns Erhebung (Anm. 5), 824.

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Joseph selbst den Entschluß gefaßt habe, „den dem Regenten Baierns angestammten Titel eines Königs von Baiern anzunehmen“16. Die Souveränität und die Königswürde Bayerns beruhen somit nach den offiziellen Dokumenten ausschließlich auf eigener Tradition und auf eigenem Recht17. Eine Krönung fand aber trotz des Wunsches Napoleons nicht statt18. Ihm, der sich noch bis zum 17.  Januar in München aufhielt19, wurde damit keine Chance gegeben, eine zeremonielle Rolle bei der bayerischen Rangerhöhung auszuüben. Für die unterlassene Krönung gibt es viele und auch ganz profane Gründe, zunächst einfach das Fehlen einer Krone, aber auch eines geeigneten Coronators20. Das moderne Königreich Bayern wurde bald zum Verfassungsstaat, auch deshalb war die Notwendigkeit einer Krönung nicht so groß. Max I. Joseph und sein Minister Maximilian Joseph Freiherr von Montgelas gestalteten Bayern als Königreich mit einer Staatsnation, wie der König bereits am 22. Januar 1806 proklamierte: „Seit dem Antritte Unserer Regierung waren Wir unablässig beschäftigt, bey der baierischen Nation den für das Vaterland so wohltätigen Gemeinsinn anzufachen, und ihr den eigenthümlichen National-Charakter wiederzugeben, durch welchen sie sich immer ausgezeichnet hat.“21 Die Konstitution vom 25.  Mai 1808 bildete dann die Zusammenfassung der bisher durchgeführten Reformen22. Am 26. Mai 1818 erließ Max I. Joseph eine weitere Verfassung, mit der die Umwälzungen seit seinem Regierungsantritt ihren 16  Proklamation

830.

17  Ebd.,

der Annahme der Königswürde: ebd., Anhang, Dokument 1a,

824. Dezember 23 Gravenreuth an Kurfürst Max IV. Joseph, Schönbrunn: Hans Karl von Zwehl, Die bayerische Politik im Jahre 1805. Urkunden (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, 64), München 1964, 260–262.  – F. Kramer, Bayerns Erhebung (Anm. 5), 822. 19  Adalbert Prinz von Bayern, Max IV. Joseph von Bayern. Pfalzgraf, Kurfürst und König, München 1957, 505–513 (Krone und Verfassung [Anm. 10], Nr. 411, 214– 224). 20  Dieter J. Weiß, Krone ohne Krönung. Symbole und Repräsentation der bayerischen Monarchie, in: Festschrift Werner K. Blessing, hrsg. v. Clemens Wachter u. a. (JfL, 66), Stegaurach 2006, 181–194. 21  Königlich-Baierisches Regierungsblatt 1806, 4. Stück, München, Mittwoch, 22. Jänner 1806, 25. 22  Peter Wegelin, Die Bayerische Konstitution von 1808, in: Schweizer Beiträge zur Allgemeinen Geschichte 16 (1958), 142–206; Die bayerische Staatlichkeit (Anm. 13), Nr. 24, 73–79; Helmut Neuhaus, Auf dem Wege von „Unsern gesamten Staaten“ zu „Unserm Reiche“. Zur staatlichen Integration des Königreiches Bayern zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Staatliche Vereinigung: Fördernde und hemmende Elemente in der deutschen Geschichte, hrsg. v. Wilhelm Brauneder („Der Staat“, Beiheft 12), Berlin 1998, 107–135. 18  1805



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Abschluß fanden23. Die Souveränität des Königs war vor der Konstitution gegeben, wurde durch sie nur beschränkt, nicht aber begründet. In der Präambel wurden die Grundrechte der Staatsbürger formuliert. Nach dem Wegfall des Reichslehensrechts wurde in den Staaten des Deutschen Bundes die Lehre vom Monarchischen Prinzip als Legitimationsmodell entwickelt24, das den ungeteilten Besitz der Staatsgewalt durch den Fürsten und seine freiwillige Selbstbindung an eine Verfassung umschreibt25. Seine prägnante Formulierung findet sich im Titel II § 1 der bayerischen Verfassung von 181826: „Der König ist das Oberhaupt des Staats, vereinigt in sich alle Rechte der Staatsgewalt, und übt sie unter den von Ihm gegebenen in der gegenwärtigen Verfassungs-Urkunde festgesetzten Bestimmungen aus. Seine Person ist heilig und unverletzlich.“27 Als wohl bedeutendster Vertreter der dahinter stehenden Idee ist Friedrich Julius Stahl28 (1802–1861) zu nennen, der durch die von ihm entwickelte Lehre vom Monarchischen Prinzip für die Interpretation der bayerischen Verfassung wesentliche Anstöße lieferte29. Die Vertretung der Nation war in der Konstitution von 1818 in zwei Kammern organisiert. Und genau hier, bei der Eröffnung der Ständeversammlung 23  Die bayerische Staatlichkeit (Anm. 13), Nr. 26, 80–94.  – Karl Möckl, Der moderne bayerische Staat. Eine Verfassungsgeschichte vom aufgeklärten Absolutismus bis zum Ende der Reformepoche (Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern, III / 1), München 1979, hier v. a. 93–97, zur Trennung von Staat und Dynastie ebd., 98–102, zur Verfassung von 1818 ebd., 238–281. 24  Dietmar Willoweit, Methodische Probleme des deutschen Fürstenrechts, in: Subsidiarität  – Sicherheit  – Solidarität. Festgabe für Franz-Ludwig Knemeyer zum 75.  Geburtstag, hrsg. v. Eric Hilgendorf / Frank Eckert (Würzburger Rechtswissenschaftliche Schriften, 84), Würzburg 2012, 709–720, hier 718. 25  Cajetan von Aretin, Das Monarchische Prinzip in den deutschen Verfassungen des 19. Jahrhunderts. Ein Überblick, in: Wittelsbacher-Studien. Festgabe für Herzog Franz von Bayern zum 80. Geburtstag, hrsg. v. Alois Schmid / Hermann Rumschöttel (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, 166), München 2013, 663–678. 26  K. Möckl, Der moderne bayerische Staat (Anm. 23), 250–261. 27  Die bayerische Staatlichkeit (Anm. 13), Nr. 26, 80–94, hier 81. 28  Wilhelm Füßl, Professor in der Politik: Friedrich Julius Stahl (1802–1861). Das monarchische Prinzip und seine Umsetzung in die parlamentarische Praxis (Schriftenreihe der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 33), Göttingen 1988; Hans-Christof Kraus, Stahl, Friedrich Julius, in: Lexikon des Konservatismus, hrsg. v. Caspar von Schrenck-Notzing, Graz 1996, 530–533 (mit Literatur). 29  Karl Möckl, Die Prinzregentenzeit. Gesellschaft und Politik während der Ära des Prinzregenten Luitpold in Bayern, München 1972, 25–29; Heinz Gollwitzer, Ein Staatsmann des Vormärz: Karl von Abel 1788–1859. Beamtenaristokratie  – Monarchisches Prinzip – Politischer Katholizismus (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 50), Göttingen 1993, 44–51.

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respective des Landtages und eben nicht bei einer Krönung, war nun die Gelegenheit, bei der sich monarchisches Zeremoniell entfaltete. Und nur hier, bei den Akten des Staatszeremoniells, kamen Krone, Kroninsignien und Krönungswagen zum Einsatz30. Sie wurden dabei auf Präsentationskissen dem König vorangetragen oder in seiner Nähe aufgestellt. Dazu gehörten der Krönungseid und die feierliche Eröffnung des ersten Landtages in Form einer Erbhuldigung. Dabei wurden Formen traditioneller Legitimität neu geschaffen oder fortgeführt, Insignien für das Königreich angefertigt, Hofämter ausgebaut und die Vergabe von Thronlehen inauguriert. Auch König Ludwig I., der sich schon als Kronprinz für das Zustandekommen einer Konstitution eingesetzt hatte, stützte seine Herrschaft auf die Verfassung. Sein Staatsportrait von Joseph Stieler aus dem Jahr 182631 zeigt ihn im Krönungsornat, neben ihm befindet sich auf einem Tisch die Krone auf dem Repräsentationskissen. Dazwischen ist die Verfassungsurkunde mit einer mächtigen Siegelkapsel geschoben, die Krone ruht also auf der Konstitution. Zudem wird sie durch die rechte Hand des Königs in den Hintergrund gerückt, die sich auf die Verfassung stützt und zugleich in etwas nonchalanter Weise das Szepter hält. Wie kaum ein anderer bayerischer Monarch hat Ludwig I. seiner Zeit einen unverwechselbaren Stempel aufgedrückt und die religiöse Legitimation seiner Herrschaft betont32. Erst er füllte den Rahmen des von Montgelas geschaffenen bayerischen Königreichs mit Leben, er verlieh, um ein von Max Spindler geprägtes Wort zu gebrauchen, dem Körper des neuen Staates erst eine Seele. Bereits bei seiner Thronbesteigung im Oktober 1825 war er durchdrungen vom Gedanken des Gottesgnadentums, auf das sich seine Souveränität gründete33. Entsprechend war für ihn die Religion erstes Staats- und Bildungsprinzip. Sein Regierungsantritt brachte eine Neuorientierung der Kultur- und Kirchenpolitik mit sich. Dies widersprach der Aufklärung wie 30  H. Ottomeyer, Kroninsignien (Anm. 6), 31. – Darstellung des Aktes vom 4. Februar 1819: Bayerns Krone 1806 (Anm. 5), 135. 31  Bayerische Staatsgemäldesammlungen (1062): Bayerische Staatsgemäldesammlungen Neue Pinakothek / München, Gemäldekataloge 4. Spätklassizismus und Romantik, bearb. v. Thea Vignau-Wilberg, München 2003, Nr. 1062, 505–511 (mit Abb.).  – Ulrike von Hase, Joseph Stieler 1781–1858. Sein Leben und sein Werk. Kritisches Verzeichnis der Werke, München 1971, Nr. 123 und 124 (mit Abb.), 131; Johannes Erichsen, Das Staatsporträt Ludwigs I. […], in: „Vorwärts, vorwärts sollst du schauen …“. Geschichte, Politik und Kunst unter Ludwig I. Katalog zur Ausstellung, hrsg. v. dems. / Michael Henker (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur, 8 / 86), München 1986, Nr. 4, 26 und Abb. S. 82. 32  Heinz Gollwitzer, Ludwig I. von Bayern. Königtum im Vormärz. Eine politische Biographie, München 1986, hier besonders 513–536. 33  Max Spindler, Die Regierungszeit Ludwigs I. (1825–1848), in: Handbuch der bayerischen Geschichte IV / 1, hrsg. v. dems., München 1974, 87–223, hier 105–108.



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der Staatsauffassung von Montgelas diametral, aber auch den Vorstellungen der Liberalen des Vormärz. Joseph Görres hat diese Staatslehre in eine fiktive Rede gefaßt, welche Bayerns großer Kurfürst Maximilian I. König Ludwig I. zum Regierungsantritt in einer Vision hält34. Geschickt kann Görres dabei an die von Maximilian I. selbst mehrfach formulierten Regierungsgrundsätze anknüpfen35. Görres traf mit seiner romantisch geprägten Staatsanschauung die Vorstellungswelt des königlichen Adressaten. Die bayerische Verfassung sei gekennzeichnet durch ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen der von Gott legitimierten Herrschaft des Monarchen, die kein Absolutismus ist, und den ständischen Mitwirkungsrechten der Bürger. Das Monarchische Prinzip war in der Verfassungsurkunde festgeschrieben. Ludwigs Regierungsstil blieb autokratisch, er nannte sich Selbstherrscher und erstrebte ein „patriarchalisches Königtum“36. Dabei bemühte er sich, die Schranken, die ihm die Verfassung auferlegte, zu respektieren. Ludwig führte, anders als sein Vater, die Regierung wieder persönlich, ordnete sich Minister und hohe Beamtenschaft unter. Sein Ideal vom patriarchalischen Königtum mußte freilich zu Konflikten führen, sobald es mit der Realität der Verfassung und der Ständeversammlung konfrontiert wurde. Früh erkannte Ludwig I. die Chancen einer großangelegten Kunst- und Kulturpolitik, die ihm für eine eigenständige Politik blieben. Sein mäzenatisches Königtum war damals in Europa wohl einmalig37. Im Rahmen seiner Kunstförderung kümmerte er sich um alle Einzelheiten und befaßte sich auch mit Kleinigkeiten des Bauwesens. Seinen ersten großen Bau bildete die von Leo von Klenze (1784–1864) errichtete Glyptothek, bestimmt zur Aufnahme seiner antiken Plastiken. Andere im griechischen Stil errichtete Bauten vollendeten den Königsplatz. Zur Anbindung der Universität an die Münchner 34  [Joseph Görres], Der Kurfürst Maximilian der Erste an den König Ludwig von Baiern bei seiner Thronbesteigung, in: Der Katholik 18 (1825), 219–249, zugleich in 2000 Sonderabzügen, Frankfurt a. M. [1825]; Joseph Görres, Gesammelte Schriften, hrsg. im Auftrag der Görres-Gesellschaft v. Wilhelm Schellberg u. a., bislang 19 Bände, Köln 1928–2009, hier Bd. 14, 102–116. – Vgl. Heinz Gollwitzer, Vom Funktionswandel politischer Traditionen. Zum Bild Kurfürst Maximilians I. und Tillys in der bayrischen Überlieferung, in: Land und Reich. Stamm und Nation. Probleme und Perspektiven bayerischer Geschichte. Festgabe für Max Spindler zum 90. Geburtstag, hrsg. v. Andreas Kraus, Bd. 2, München 1984, 51–80, hier 63 f.; Dieter J. Weiß, Maximilian I. von Bayern, Herschererinnerung und politische Norm im dynastischen Staat des 17. Jahrhunderts, in: HJb 129 (2009), 83–100. 35  Vgl. Andreas Kraus, Das katholische Herrscherbild im Reich, dargestellt am Beispiel Kaiser Ferdinands II. und Kurfürst Maximilians I. von Bayern, in: Das Herrscherbild im 17. Jahrhundert, hrsg. v. Konrad Repgen, Münster 1991, 1–25. 36  M. Spindler, Regierungszeit Ludwigs I. (Anm. 33), 108. 37  Ebd., 118–121; H. Gollwitzer, Ludwig I. von Bayern (Anm. 32), 745–765; Hannelore Putz, Ludwig I. und die Kunst. Die Leidenschaft des Königs, München 2014.

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Altstadt ließ er die monumentale Ludwigstraße erbauen, wo die nach Florentiner Vorbild errichtete Feldherrenhalle am einen und das Siegestor am anderen Ende die Akzente setzen. Für seine Bildersammlung ließ er die Alte und die Neue Pinakothek erbauen. Mittelalterliche Vorbilder beeinflußten seine Kirchenbauten, St. Ludwig, St. Bonifaz und die Allerheiligenhofkirche, um nur die Münchner Beispiele zu nennen. Neben Religion und Kunst gehörte Geschichte zu den Bildungsmächten, die den König geformt hatten38. Als Ausgangspunkt für jeden wahren Fortschritt bezeichnete er „die Wiedererweckung und Belebung des historischen Sinnes.“39 Auch deshalb sollte im Gymnasialunterricht der bayerischen Geschichte ein eigener Bereich eingeräumt werden. Der Bewahrung der historischen Erinnerung sollten die großen Nationaldenkmäler wie die Walhalla östlich Regensburgs über der Donau, die Ruhmeshalle über der Theresienwiese in München und die Befreiungshalle bei Kelheim dienen. Zudem ließ er zahlreiche Standbilder bedeutender historischer Persönlichkeiten setzen, mit denen er auch den neubayerischen Gebieten das Bewußtsein ihrer eigenen Traditionen zurückgeben wollte. In diesen Bereich gehört die Historisierung des bayerischen Wappens40. Bislang hatte das Königreich nur einen Rautenschild, der mit einem roten Herzschild mit den Symbolen des Königtums belegt war, geführt. 1835 ließ Ludwig I. ein Wappen, das der historischen Entwicklung und der Aufgliederung Bayerns in Stämme Rechnung trägt, einführen. Auch der König selbst wollte die historisch gewachsene Vielfalt seiner Länder mit ihren ganz unterschiedlichen Traditionen in seinem Titel dokumentieren. Ebenfalls 1835 nahm er den Titel an: „Ludwig von Gottes Gnaden König von Bayern, Pfalzgraf bei Rhein, Herzog von Bayern, Franken und in Schwaben etc.“41. Durch die Inszenierung Bayerns als Stämmestaat trug er wesentlich zur Integration der Neubayern teil. Während das monarchische Zeremoniell unter König Max I. Joseph nur schwach ausgeprägt war, sorgte König Ludwig I. für eine beeindruckende Inszenierung der Monarchie. Im 1842 vollendeten Festsaalbau42 an der Hof38  M.

Spindler, Regierungszeit Ludwigs I. (Anm. 33), 130–134. nach ebd., 131. 40  Regierungsblatt für das Königreich Bayern 1835, 889.  – Wilhelm Volkert, Die Bilder in den Wappen der Wittelsbacher, in: Die Zeit der frühen Herzöge. Von Otto I. zu Ludwig dem Bayern. Beiträge zur Bayerischen Geschichte und Kunst 1180–1350 (Wittelsbach und Bayern, I / 1), hrsg. v. Hubert Glaser, München / Zürich 1980, 13–28. 41  M. Spindler, Regierungszeit Ludwigs I. (Anm. 33), 134. 42  Die königliche Residenz. Dritte Abtheilung. Der Neu- oder Festsaalbau, München [1841]; Eva-Maria Wasem, Die Münchener Residenz unter Ludwig I. Bildprogramme und Bildausstattungen in den Neubauten (Miscellanea Bavarica Monacensia, 101), München 1981, 164–220; Leo von Klenze. Architekt zwischen Kunst und Hof 1784–1864, hrsg. v. Winfried Nerdinger, München 2000, Nr. 47, 290–297. 39  Zitat



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gartenseite der Münchner Residenz wurde eine gewaltige Halle errichtet, als deren einziges Möbelstück als Abschluß der großen Enfilade an der Stirnseite unter einem Baldachin sein Thron Aufstellung fand43. Zwischen den Säulen an den Längsseiten wurden zwölf überlebensgroße, feuervergoldete Statuen bedeutender Wittelsbacher Herrscher aus der bayerischen und pfälzischen Linie von Ludwig von Schwanthaler aufgestellt44. Ganz bewußt inszenierte Ludwig I. sich als Herrscher „umgeben von den Standbildern ruhmvoller Fürsten, die mir Vorfahrer waren und Muster sein sollen in allem Guten, was sie getan.“ Seinem Selbstverständnis als Autokrat war der Rücktritt König Ludwigs I. im März 1848 geschuldet, weil er seine Vorstellung vom Monarchischen Prinzip nicht mehr durchsetzen konnte – „Ich habe 23 Jahre als wahrer König geherrscht und soll jetzt noch ein bloßer Unterschreibkönig sein, gebunden und gefesselt an beiden Händen, nein, das kann ich nicht.“45 Die Staatsform der Monarchie wurde durch diesen Thronverzicht Ludwigs I. aber nicht in Frage gestellt. Sein Sohn König Maximilian II., der den Märzforderungen zunächst nachkommen mußte und die Stellung des bayerischen Landtags stärkte, verfolgte durchaus moderne Vorstellungen etwa bei der Interpretation symbolischer Akte des monarchischen Zeremoniells. So bezeichnete er den Krönungswagen, der ausschließlich dem Gebrauch des Monarchen bei der Thronbesteigung, bei Landtagseröffnungen und den damit verbundenen Auffahrten zum Hochamt in der St. Michaels-Hofkirche oder der Frauenkirche reserviert war, anläßlich seiner Thronbesteigung am 22.  März 1848 als modernen Thron: „Der Glaswagen, allen Blicken durchsichtig, ist das Bild des modernen Thrones, keine Purpurdecken verhüllen ihn mehr der argwöhnisch forschenden Menge; mögen die ihn inne haben, dieß nie vergessen, so handeln, daß sie diesen Blick nicht zu scheuen brauchen.“46 Maximilian II. entwickelte bald eigene Strategien zur Festigung der Monarchie. Ganz bewußt bemühte er sich um die Hebung des bayerischen Nationalgefühls47. Dazu gehörte die Förderung der Volkstrachten und der Volks43  E.-M. Wasem, Münchener Residenz (Anm. 42), 198–205; Das Wittelsbacher Album. Interieurs königlicher Wohn- und Festräume 1799–1848, hrsg. v. Hans Ottomeyer, München 1979, Nr. 27, 115 f. 44  E.-M. Wasem, Münchener Residenz (Anm. 42), 338 f.; Johannes Erichsen, Die Statuen der Wittelsbacher Regenten […], in: „Vorwärts, vorwärts  …“ (Anm. 31), Nr. 250, 174–176 (hier folgendes Zitat). 45  Zum Thronverzicht H. Gollwitzer, Ludwig I. von Bayern (Anm. 32), 706–720, Zitat 717. 46  Achim Sing, Die Memoiren König Maximilians II. von Bayern 1848–1864 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, 112), München 1997, 155. 47  Manfred Hanisch, Für Fürst und Vaterland. Legitimitätsstiftung in Bayern zwischen Revolution 1848 und deutscher Einheit, München 1991.

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kultur48. An seiner Hochzeit während des Oktoberfestes 1842 hatten 35 Trachtenpaare aus ganz Bayern mit ihrem Gefolge teilgenommen, um sich ebenfalls trauen zu lassen. Das Tragen der traditionellen Kleidung war zugunsten modischer Entwicklungen schon etwas aus der Übung gekommen und wurde durch solch planmäßiges Eingreifen wieder intensiviert. 1853 erließ Maximilian II. einen Befehl zur Trachtenförderung, in dem er die Behörden nachhaltig zu ihrer Bewahrung anwies. Im Jahr 1853 unterbreitete Karl Maria von Aretin dem König den Plan, Altertümer und Kunstdenkmale zur Hebung des Nationalgefühls zu sammeln und an einem Ausstellungsort zu präsentieren, womit er den Grundgedanken für die Errichtung des Bayerischen Nationalmuseums formuliert hatte49. Maximilian II. ließ diesen Plan zunächst diskutieren und aus einem Wittelsbacher- ein Nationalmuseum gestalten. Diese Bezeichnung verwendete der König erstmals in einem Signat 1854, im folgenden Jahr beauftragte er Aretin mit der Durchführung. Die Sammlung von Denkmälern für Dynastie und Nation sollte der Herrschaftslegitimation und Staatsintegration gleichermaßen dienen50. 1859 fand die Grundsteinlegung des ersten Museumsbaus im neugotischen Stil an der Münchner Maximiliansstraße statt, gewidmet „Meinem Volk zu Ehr und Vorbild“. Das Hauptgeschoß mit 29 Sälen wurde mit 143 Fresken zu historischen Themen aus der bayerischen Geschichte unter Einschluß der fränkischen und schwäbischen ausgestattet. Maximilian II. sammelte Gelehrte aus ganz Deutschland und Standesherren um sich, mit denen er historische, politische, gesellschaftliche und wissenschaftliche Probleme erörterte51. Der König legte seinen Beratern im Hinblick auf seine Herrschaft die Frage vor: „Auf welche Klassen sich zu stützen?“52 Karl von Abel53, der Volkskundler und Kulturanthropologe Wilhelm Heinrich (von) Riehl54, Ludwig von der Pfordten und der Religionsphilosoph Friedrich 48  Walter Hartinger, „… liegt mir gleichwohl die Erhaltung der Volkstrachten sehr am Herzen.“ Maximilian II. und die Volkskultur in Bayern, in: König Maximilian II. von Bayern, hrsg. v. Haus der Bayerischen Geschichte, Rosenheim 1988, 201–210. 49  Reinhard Heydenreuter, „Meinem Volk zu Ehr und Vorbild“. König Maximilian  II. und die Gründung des Bayerischen Nationalmuseums, in: König Maximilian II. von Bayern (Anm. 48), 263–269. 50  Barbara Six, Denkmal und Dynastie. König Maximilian II. auf dem Weg zu einem Bayerischen Nationalmuseum (Miscellanea Bavarica Monacensia, 185), München 2012, hier 389. 51  Eugen Franz, König Max II. von Bayern und seine geheimen politischen Berater, in: ZBLG 5 (1932), 219–242; Hans Rall, Die Symposien Maximilians II., in: König Maximilian II. von Bayern (Anm. 48), 63–70. 52  M. Hanisch, Fürst und Vaterland (Anm. 47), 109–132. 53  H. Gollwitzer, Staatsmann des Vormärz (Anm. 29). 54  Heinz-Siegfried Strelow, Riehl, Wilhelm Heinrich von, in: Lexikon des Konservatismus (Anm. 28), 456 f.



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Rohmer entwickelten in ihren Gutachten unterschiedliche konservative Denkmodelle. Abel vertrat den streng legitimistischen Standpunkt des Vormärz, Riehl plädierte für eine konservative Sozialpolitik, von der Pfordten wollte die Herrschaft auf das Bürgertum stützen und Rohmer entwickelte eine Theorie des sozialen Volkskönigtums. Durch die Unruhen in Franken und der Pfalz und soziale Notlagen dürfte Maximilian II. Anstöße für seine Sozialpolitik empfangen haben, die man als eine weitere Maßnahme zur Stärkung der Monarchie durch Integration aller sozialen Schichten interpretieren kann55. König Maximilian II. starb dann aber zu früh, um die Ergebnisse seiner Bemühungen noch wahrnehmen zu können. Sein Nachfolger war mit König Ludwig II. ein erst neunzehnjähriger Jüngling, der während der Kriege 1864, 1866 und 1870 / 71 kaum eigenes Profil entwickeln konnte. Sein Kunstkönigtum und Mäzenatentum zielte anders als bei seinem Großvater weniger auf die Bildung der Nation als auf einen abstrakten Kunstbegriff. Sobald er aber öffentlich auftrat wie bei seiner Reise nach der Niederlage von 1866 durch Franken löste er große Begeisterungsstürme in der Öffentlichkeit aus56. König Ludwig II. zog sich nach dem Verlust seiner Souveränität aber immer stärker aus der Öffentlichkeit zurück, ohne auf die Ausübung der Regierungsrechte zu verzichten57. So litt das 700-jährige Regierungsjubiläum des Hauses Bayern 1880 unter dem Ausfall der persönlichen Präsenz des Königs, während Mitglieder der Dynastie bei vielen dezentralen Einzelfeierlichkeiten in Erscheinung traten58. Ludwig II. flüchtete sich zunehmend in die romantische Einsamkeit seiner abgelegenen Schlösser, hing dem Traum absolutistischer Königsherrschaft im Frankreich König Ludwigs XIV. nach und vermied gleichzeitig einen Grundgedanken der Königsherrschaft im Barock – die Repräsentation in der Öffentlichkeit. Die Entmündigung König Ludwigs II., die Übernahme der Regentschaft für ihn und nach seinem geheimnisvollen Tod für den unheilbar kranken König Otto durch Prinz Luitpold als des Königreichs Verweser stürzten die bayerische Monarchie in eine Krise, ohne daß die Staatsform in Frage gestellt worden wäre59. Prinz Luitpold hat sich zeitlebens mit dem Titel eines 55  Günther Müller, König Maximilian II. und die soziale Frage, München 1964; Günther Müller, König Maximilian II. und die soziale Frage, in: König Maximilian II. von Bayern (Anm. 48), 175–186. 56  Hans-Max von Aufseß, Ludwig II. Triumphzug durch Franken, Nürnberg 1980. 57  Christof Botzenhart, „Ein Schattenkönig ohne Macht will ich nicht sein“. Die Regierungstätigkeit König Ludwigs II. von Bayern (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, 142), München 2004. 58  Simone Mergen, Monarchiejubiläen im 19. Jahrhundert. Die Entdeckung des historischen Jubiläums für den monarchischen Kult in Sachsen und Bayern (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde, 13), Leipzig 2005, 279–294. 59  Prinzregent Luitpold von Bayern. Ein Wittelsbacher zwischen Tradition und Moderne, hrsg. v. Ulrike Leutheusser / Hermann Rumschöttel (edition monacensia),

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Prinzregenten zufrieden gegeben und die Annahme der Königskrone verweigert60. Dabei war klar zu erkennen, daß der legitime König Otto regierungsunfähig bleiben würde61. Nach dem Geist der einschlägigen Verfassungsbestimmungen war eine Regentschaft nicht auf Dauer gedacht, sondern nur für den Fall einer zeitweiligen Verhinderung des Monarchen62. Für diese Zeit waren Verfassungsänderungen und der Erlaß von Gesetzen mit einem solchen Charakter ausgeschlossen, Beamtenernennungen hatten nur provisorische Gültigkeit. Um jeden Anschein persönlichen Ehrgeizes zu vermeiden, ließ Prinzregent Luitpold am bestehenden Zustand nichts ändern. Faktisch freilich übte er alle königlichen Rechte aus und wurde ebenso von den anderen Höfen als Monarch anerkannt. Schließlich hat er sogar seiner Epoche einen Namen aufgeprägt, den der Prinzregentenzeit63. Dieser Begriff ist mit der Vorstellung einer kulturellen Hochblüte in München und Bayern in den Jahren vor dem Weltkrieg verbunden64. Zweifellos bildete der Ausfall eines regierungsfähigen Königs aber eine Belastung für das Monarchische Prinzip, welcher der Prinzregent mit um so intensiverer monarchischer Repräsentation begegnete. Prinzregent Luitpold hielt sich streng an den Rahmen der Verfassung und gelangte im Laufe seiner Regentschaft zu echter Volkstümlichkeit65. Er repräsentierte die Monarchie und das Königreich Bayern unermüdlich, bei den zeremoniellen Hoffesten in der Residenz, in der Öffentlichkeit wie beim jährlichen Oktoberfest oder der Fronleichnamsprozession, bei militärischen Anlässen wie den großen Paraden, bei Festveranstaltungen und Jubiläen im ganzen Land und nicht zuletzt in ganz einfacher Aufmachung bei den ganz Bayern umspannenden jährlichen Jagdaufenthalten, die ihn in unmittelbaren Kontakt mit der ländlichen Bevölkerung brachten. Wohl eher unbewußt denn in absichtlicher strategischer Planung hat er dadurch, wie Hermann Rumschöttel betont, eine in die Zukunft weisende Perspektive angestoßen und aufgezeigt: die repräsentative Monarchie66. München 2012, hier besonders Hermann Rumschöttel, „Der erste Kavalier seines Hofes“. Persönlichkeit und Politik des Prinzregenten, 12–36. 60  Zur Königsfrage: K. Möckl, Prinzregentenzeit (Anm. 29), 365–367. 61  Wolfgang Burgmair / Matthias M. Weber, „… daß er selbst mit aller Energie gegen diese Hallucinationen ankämpfen muß  …“. König Otto von Bayern und die Münchner Psychiatrie um 1900, in: Sudhoffs Archiv 86 (2002), 27–53. 62  Max von Seydel, Das Staatsrecht des Königreichs Bayern, Freiburg i. Br. / Leipzig 1884, Bd. 1, 449–507. 63  Grundlegend: K. Möckl, Prinzregentenzeit (Anm. 29). 64  Die Prinzregentenzeit. Katalog der Ausstellung im Münchner Stadtmuseum, hrsg. v. Norbert Götz / Clementine Schack-Simitzis, München 1989. 65  Katharina Weigand, „Vater Luitpold“, „Edler Fürstengreis“. Die Verehrung des Prinzregenten Luitpold, in: Prinzregent Luitpold (Anm. 59), 205–217. 66  H. Rumschöttel, „Der erste Kavalier seines Hofes“ (Anm. 59), 17.



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Mit dem Tode des Prinzregenten Luitpold am 12. Dezember 1912 ging eine Epoche zu Ende. Zu seiner Beisetzung versammelten sich die europäischen Monarchen oder ihre persönlichen Vertreter in München. Noch einmal wurde das prächtige Trauerzeremoniell entfaltet, der Trauerkondukt mit dem von acht Pferden gezogenen Leichenwagen spannte sich in weitem Bogen von der Allerheiligenhofkirche zur Theatinerkirche67. Das beherrschende politische Problem stellte die Beendigung der Regentschaft dar. Der älteste Sohn Luitpolds, Prinz Ludwig, trat die Verweserschaft über Bayern zunächst ebenfalls als Prinzregent an. Nach Bemühungen des Vorsitzenden im Ministerrat Georg Freiherrn von Hertling kam es im November 1913 doch zu einer Änderung der Thronfolgeordnung, weil das Bayerische Zentrum mittlerweile seine ablehnende Haltung aufgegeben hatte. Kommissionen beider Kammern des Landtages hatten sich bei einem Besuch in Schloß Fürstenried selbst vom tragischen Geschick König Ottos überzeugt. Darauf beschlossen sie eine Verfassungsänderung, die bei dauernder Regierungsunfähigkeit des legitimen Königs eine Beendigung der Regentschaft nach zehn Jahren vorsah. Der Thronwechsel erfolgte ohne Zustimmung des Landtags, der nur über die Gründe für die Regierungsunfähigkeit des Königs zu befinden hatte68. Mit dieser Rechtskon­ struktion sollte vermieden werden, daß der Landtag über die Person des Mo­ narchen entscheiden konnte. Nach der Annahme der Verfassungsergänzung erklärte Prinzregent Ludwig am 5. November 1913 den Thron für erledigt69. Am gleichen Tag ließ der nunmehrige König Ludwig III. dem bayerischen Volk seine Thronbesteigung mitteilen. Die Beendigung des Dauerprovisoriums fand zunächst im ganzen Land Verständnis. Die Landeshuldigung am 12. November vor dem neuen Königspaar bildete ein Bekenntnis zur Monarchie und zum Haus Bayern, das besonders von der katholischen Geistlichkeit unterstützt wurde70. Auch die Sozialdemokratie schloß sich hier nicht aus. Der oft unterschätzte Ludwig III. zeigte nicht nur als Prinz Interesse für Landwirtschaft, Verkehr und Industrie, sondern war 1871 sogar zur Kandidatur für den Reichstag bereit gewesen71. Gollwitzer weist darauf hin, daß er 67  Hannelore Putz, Das Ende einer Ära. Der Tod des Prinzregenten und die Trauerfeierlichkeiten, in: Prinzregent Luitpold (Anm. 59), 189–204. 68  Dieter Albrecht, Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (1871–1918), in: Handbuch der bayerischen Geschichte, begr. v. Max Spindler, Bd. IV / 1, hrsg. v. Alois Schmid, München 22003, 318–438, hier 410–413. 69  Verena von Arnswaldt, Die Beendigung der Regentschaft in Bayern, in: ZBLG 30 (1967), 859–893. 70  Wolfgang Zorn, Bayerns Geschichte im 20. Jahrhundert. Von der Monarchie zum Bundesland, München 1986, 76; Alfons Beckenbauer, Ludwig III. von Bayern 1845–1921. Ein König auf der Suche nach seinem Volke, Regensburg 1987, 119 f. 71  Heinz Gollwitzer, Fürst und Volk. Betrachtungen zur Selbstbehauptung des bayerischen Herrscherhauses im 19. und 20. Jahrhundert, in: ZBLG 50 (1987), 723–747, Wiederabdruck in: ders., Politik und Kultur in Bayern unter Ludwig I. Studien zur

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zur Festigung des monarchisch-dynastischen Prinzips sich neben den großbürgerlich-kapitalistischen Kreisen besonders um den Kontakt zum Landvolk bemühte. Die Zeit von der Regierungsumbildung 1912 bis zur Novemberrevolution 1918 stellt eine politische Einheit dar, die durch seine Regentschaft und Herrschaft geprägt war. In diesen Jahren gab es bereits Entwicklungslinien, die in einer Revolution münden konnten und die sich als geschichtsmächtig erweisen sollten72. Dabei dürfen aber die Chancen für die Umwandlung der bayerischen Monarchie von einer konstitutionell bestimmten zu einer stärker parlamentarisch geprägten Regierungsform nicht übersehen werden. Ludwig III. hielt sich geradezu ängstlich an die Bestimmungen der bayerischen Verfassung und vermied jede Kompetenzüberschreitung gegenüber seiner Regierung und dem Landtag. Ihm ist nur der Vorwurf zu machen, daß er die dem Monarchen zustehenden Rechte unzulänglich ausnutzte. Nach langen Vorarbeiten erfolgte am 2. November 1918 das Abkommen zwischen Regierung und Landtag mit den Schwerpunkten: Einführung des Verhältnisund Frauenwahlrechts, Erweiterung der Reichsratskammer in berufsständischem Sinne und Verzicht auf die Ernennung von erblichen Reichsräten, Beschränkung der Rechte der Reichsratskammer, Ausdehnung des Verhältniswahlrechts auf die Landrats-, Distriktsrats- und Gemeindewahlen, Überprüfung der Standes- und Geburtsvorrechte und Verantwortlichkeit der Minister und Bundesratsgesandten gegenüber der zweiten Kammer73. Der König stimmte der Parlamentarisierung zu und forderte den Vorsitzenden im Ministerrat Otto von Dandl zur Umbildung des Ministeriums in diesem Sinne auf74. Vertreter der drei großen Fraktionen einschließlich der Sozialdemokraten sollten als Minister berufen werden, doch war dies dann alles zu spät. Ohne die Katastrophe des Ersten Weltkriegs wäre die Monarchie in Bayern mit ihrem konstitutionell-parlamentarisch-repräsentativen Charakter und ihrem fortschrittlichen Wahlrecht sicher zukunftsfähig gewesen75. Stefan März hat unlängst die „Chancen zur Erneuerung und langfristigen Legitimierung der Monarchie“ zusammengestellt76. Dazu rechnet er ihre Funktion als bayerischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Hans-Christof Kraus, Regensburg 2011, 11–31, hier 26 f. 72  Karl-Ludwig Ay, Die Entstehung einer Revolution. Die Volksstimmung in Bayern während des Ersten Weltkrieges (Beiträge zu einer historischen Strukturanalyse Bayerns im Industriezeitalter, 1), Berlin 1968. 73  Willy Albrecht, Landtag und Regierung in Bayern am Vorabend der Revolution von 1918. Studien zur gesellschaftlichen und staatlichen Entwicklung Deutschlands von 1912–1918, Berlin 1968, 377–388; D. Albrecht, Reichsgründung (Anm. 68), 431–435. 74  Die bayerische Staatlichkeit (Anm. 13), Nr. 52, 146. 75  H. Rumschöttel, „Der erste Kavalier seines Hofes“ (Anm. 59), 35. 76  Stefan März, War das Ende der bayerischen Monarchie unausweichlich? Chance und Zusammenbruch der Wittelsbacher Königsherrschaft, in: König Ludwig III. und



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Integrationsfaktor und ihre Fähigzeit zur öffentlichen und medialen Inszenierung. Trotz vielfach richtiger Erkenntnisse bei Mitgliedern des Königlichen Hauses wurden die Verfassungsreformen erst unter dem Druck des Krieges und zu spät für eine stabilisierende Wirkung für die monarchische Staatsform durchgeführt. Dabei kam die Revolution nicht aus der Mitte der Bevölkerung oder aus der Mitte des Landtags, die Revolution kam von außen, aber letztlich wurde sie – in einer Zeit der Kriegsmüdigkeit und des allgemeinen Zusammenbruchs  – von der Mehrheit der Bevölkerung hingenommen. König Ludwig III. sanktionierte die Entwicklung des fortbestehenden und funktionierenden bayerischen Staates, indem er zwar nicht auf den Thron verzichtete, aber mit der Anifer Erklärung vom 13.  November 1918 den Treueid auflöste77. Kronprinz Rupprecht von Bayern protestierte zunächst gegenüber der Revolutionsregierung und betonte den revolutionären Charakter der Umwälzung, „die ohne Mitwirkung der gesetzgebenden Gewalten und der Gesamtheit der bayerischen Staatsbürger in Heer und Heimat von einer Minderheit ins Werk gesetzt wurde“78. Er forderte die Entscheidung über die Staatsform durch „eine verfassunggebende Nationalversammlung […], die aus freien und allgemeinen Wahlen hervorgeht“. Damit akzeptierte er eine demokratische Mehrheitsentscheidung als Legitimitätsgrundlage79. Rupprecht wiederholte dieses Bekenntnis 1919 gegenüber dem Landtagspräsidenten, als er den Landtag „als den derzeitigen einzigen Träger der bayerischen Staatshoheit“ anerkannte80. Dabei blieb Kronprinz Rupprecht zeitlebens davon überzeugt, daß die Erbmonarchie die beste Staatsform darstelle. Die Bedeutung des Gottesgnadentums als Legitimitätsgrundlage relativierte er allerdings: „Der Begriff des ‚Gottesgnadentums‘ war ursprünglich als Zulassung zum Herrscherberufe das Ende der Monarchie in Bayern, hrsg. v. Ulrike Leutheusser / Hermann Rumschöttel (edition monacensia), München 2014, 207–226. 77  Abschrift des von Erhard Auer aus Ehrfurcht zurückgehaltenen Originals (Angabe nach Erwein von Aretin, Krone und Ketten. Erinnerungen eines bayerischen Edelmannes, hrsg. v. Karl Buchheim / Karl Otmar von Aretin, München 1955, 216), Abb. bei A. Beckenbauer, Ludwig III. von Bayern (Anm. 70), 270; Die Regierung Eisner 1918 / 19. Ministerratsprotokolle und Dokumente, eingeleitet und bearbeitet v. Franz J. Bauer (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der Parteien, I / 10), Düsseldorf 1987, Dok. 11, 419. 78  1918 November 10: Rupprecht Kronprinz von Bayern, Mein Kriegstagebuch, hrsg. v. Eugen von Frauenholz, 3 Bde., München 1928 / 29, hier Bd. 3, 369 f. 79  Hans-Christof Kraus, Legitimität, in: Lexikon des Konservatismus (Anm. 28), 349–351. 80  1919 Juli 26: Schulthess’ Europäischer Geschichtskalender, hrsg. v. Wilhelm Stahl, N. F. 35 (1919 / I), München 1923, 374 f.; Dieter J. Weiß, Kronprinz Rupprecht von Bayern (1869–1955). Eine politische Biografie, Regensburg 2007, 174 f.

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durch die Gnade Gottes gedacht. In seiner späteren Umdeutung einer Vorherbestimmung zum Herrscherberufe wirkte er sich jedoch verhängnisvoll aus, da er den Berufenen zur Selbstüberschätzung und dem sich daraus ergebenden Gefühle der Unfehlbarkeit verleitet.“81 Seine Überlegungen für eine andere Legitimitätsgrundlage liefen noch während des Ersten Weltkriegs in Richtung eines Sozialkönigtums, wie sie zeitgenössisch – etwa von dem Historiker Friedrich Meinecke – diskutiert wurden82. Im privaten Gespräch mit dem Journalisten Victor Naumann umriß er die Stellung der Monarchen: „Wir haben nur Berechtigung, wenn wir das Volk für uns haben, wenn wir sozial empfinden und sozial handeln.“83 Kronprinz Rupprecht wurde nach dem Tode seines Vaters, König Ludwigs  III. von Bayern, am 18.  Oktober 1921 zum Thronprätendenten84. Erst jetzt konnte er selbständig politisch handeln, denn Ludwig III. hatte auch nach der Revolution eifersüchtig auf seiner Position als König und Chef des Hauses beharrt. Seine Beisetzung und die der bereits 1919 verstorbenen Königin Marie Therese, einer geborenen Erzherzogin von Österreich-Este, am 5.  November 1921 in München wurde zur bedeutendsten Kundgebung der Anhänglichkeit an das Königshaus nach 191885. Einem zu diesem Anlaß erhofften oder befürchteten Staatsstreich zur Restituierung der Monarchie hielt Rupprecht sich fern, er wollte seine Rechte nur auf legalem Weg antreten86. Nach der Beisetzung ließ er eine Erklärung mit einer Formel veröffentlichen, mit der er an seiner Thronanwartschaft festhielt, aber keine konkreten politischen Forderungen stellte: „Eingetreten in die Rechte meines Herrn Vaters“87. Er betonte dabei „die innigen Beziehungen, die seit dreiviertel Jahrtausenden das bayerische Volk mit dem aus ihm hervorgegangenen Geschlecht der Wit81  D.

J. Weiß, Kronprinz Rupprecht von Bayern (Anm. 80), 91. Friedrich Meineckes vom 18. Mai 1917 in Berlin, zitiert bei Karl Graf von Bothmer, Bayern den Bayern. Zeitgenössische Betrachtungen über die Frage: Bundesgenosse oder Vasallentum, München 1920, 35. 83  D. J. Weiß, Kronprinz Rupprecht von Bayern (Anm. 80), 91. 84  Ebd., 223 f. 85  Dieter J. Weiß, Zwischen Revolution und Restauration. Zum Tod und zu den Beisetzungsfeierlichkeiten für König Ludwig III. von Bayern, in: Vom Wiener Kongreß bis zur Wiedervereinigung Deutschlands. Betrachtungen zu Deutschland und Österreich im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Hubert Rumpel zum 75.  Geburtstag, hrsg. v. Petronilla Gietl, München 1997, 183–206. 86  Andreas Kraus, „Monarchistische Umtriebe“ in Bayern 1925. Ein Beitrag zum Selbstverständnis der Bayerischen Volkspartei, in: Staat und Parteien. Festschrift für Rudolf Morsey zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Karl Dietrich Bracher u. a., Berlin 1992, 635–655; D. J. Weiß, Kronprinz Rupprecht von Bayern (Anm. 80), 203–211. 87  Münchner Neueste Nachrichten, 74. Jg., Nr. 465, 5. / 6. November 1921; Bayerische Staatszeitung, Nr. 258, 5.  November 1921, 1; D. J. Weiß, Kronprinz Rupprecht von Bayern (Anm. 80), 223 f. 82  Vortrag



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telsbacher verbinden“. Die Formulierung des entscheidenden Satzes der in seinem Kabinett vorbereiteten Erklärung stammte von Rupprecht selbst. Er erklärte damit, nur auf verfassungsmäßigem Weg und gerufen von Regierung und Bevölkerung die Krone übernehmen zu wollen. Die spätere monarchische Bewegung entzündete sich an der Person des Kronprinzen oder, in legitimistischen Kreisen, Königs Rupprecht von Bayern. Kronprinz Rupprecht hielt sich von der Tagespolitik fern, empfing aber in der Art eines Monarchen häufig Politiker verschiedener Lager und war so stets bestens informiert. Ein Hauptanliegen war ihm die Sammlung bayerischmonarchischer und national-konservativer Gruppierungen. Unmittelbarer Einfluß des Kronprinzen auf das politische Geschehen ist kaum nachweisbar, doch äußerte er seine Vorstellungen in zahlreichen Gesprächen mit Politikern. Er wuchs in der Zwischenkriegszeit in die Rolle eines Repräsentanten Bayerns hinein, ohne eine offizielle Aufgabe wahrzunehmen. So hielt er sich den politischen Alltagsgeschäften fern, repräsentierte aber bei zahlreichen Versammlungen nicht nur von Patrioten- und Kriegervereinen in ganz Bayern wie ein Souverän. Für weite Kreise der Bevölkerung wirkte er als Identifikationsfigur, die in der schweren Not von Nachkriegszeit und Inflation Halt und Orientierung bot88. Dabei wäre er auch zur Übernahme weitreichenderer politischer Verantwortung bereit gewesen. Angesichts der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Reich und der drohenden Gleichschaltung Bayerns erklärte er sich bereit, die Krone anzunehmen und somit die staatliche Unabhängigkeit Bayerns zu retten, doch scheiterte dies letztlich an den Machtverhältnissen89. An das symbolische Kapital des Widerstands konnten Kronprinz Rupprecht, der nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus noch zehn Jahre überwiegend in Bayern leben sollte, und ab 1955 Erbprinz Albrecht, der den Titel Herzog von Bayern annahm, anknüpfen und für die besten bayerischen Traditionen stehen. Auch ihr Enkel und Sohn, Herzog Franz von Bayern, stellt sich dieser Verpflichtung. In einem Gespräch anläßlich seines 80.  Ge88  Vgl. etwa die Würdigungen von Max Spindler, Ungekrönt – und doch ein König. Kronprinz Rupprecht von Bayern, in: ders., Erbe und Verpflichtung. Aufsätze und Vorträge zur bayerischen Geschichte, hrsg. v. Andreas Kraus, München 1966, 352–361; Walter Goetz, Rupprecht Kronprinz von Bayern 1869–1955. Ein Nachruf, München 1956; Golo Mann, Gedanken zum Ende der Monarchie in Bayern, in: Krone und Verfassung. König Max I. Joseph und der neue Staat (Wittelsbach und Bayern, III / 1), hrsg. v. Hubert Glaser, München 1980, 473–478, hier 473 f. 89  Karl Otmar von Aretin, Die bayerische Regierung und die Politik der bayerischen Monarchisten in der Krise der Weimarer Republik 1930–1933, in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70.  Geburtstag, Bd. 1 (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte, 36 / 1), Göttingen 1971, 205–237; D. J. Weiß, Kronprinz Rupprecht von Bayern (Anm. 80), 263–272.

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burtstages mit Professor Albert Scharf nahm er zu Fragen der historischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts vor dem Hintergrund seines eigenen Erlebens, zur Bedeutung von Kunst, Natur- und Geisteswissenschaften wie zur Aufgabe seines Hauses in der Gegenwart Stellung: „Eines der Hauptanliegen wird immer bleiben, die Eigenart Bayerns zu bewahren: dass Bayern seine Eigenart, seine Kraft behält und auch eine Stimme in der Welt behält.“90 * Seit 1180 regierten die Wittelsbacher als Herzöge und später Kurfürsten über Bayern. Ihre Herrschaft beruhte auf der Belehnung durch das Reichsoberhaupt wie auf dem Gottesgnadentum. In Erfüllung eines älteren Wittelsbacher Traumes proklamierte sich Kurfürst Max IV. Joseph am Neujahrstag 1806 in Anwesenheit Napoleons zum ersten König von Bayern der Neuzeit. Als Max I. Joseph begründete er die Legitimität der Königswürde mit der Zustimmung und Wohlfahrt des Volkes und dessen Treue zum Fürsten. Mit der Konstitution von 1808 und der Verfassung von 1818 wurde Bayern zur konstitutionellen Monarchie, die durch das Monarchische Prinzip bestimmt wurde. König Ludwig I. stützte sich ebenfalls auf die Verfassung, war aber vom Gedanken des Gottesgnadentums durchdrungen. Dabei erkannte er als Chance für Bayern eine großangelegte Kultur- und Kunstpolitik, die er für die Festigung seiner Herrschaft nutzte. König Maximilian II. entwickelte eigene Strategien zur Festigung der Monarchie. Bewußt bemühte er sich um die Hebung des bayerischen Nationalgefühls, als neue Komponente engagierte er sich für ein Sozialkönigtum. Obwohl König Ludwig II. sich aus der Öffentlichkeit zurückzog und dem Traum absolutistischer Königsherrschaft anhing, gelangte er nach seinem Tod zu großer Popularität. Prinzregent Luitpold repräsentierte die Monarchie unermüdlich, von zeremoniellen Hoffesten über Paraden bis zu Jagdaufenthalten im ganzen Land. König Ludwig III. übernahm die Form der repräsentativen Monarchie, war aber auch offen für neue Entwicklungen bis zu einer Parlamentarisierung. Er scheiterte an den Herausforderungen des Ersten Weltkrieges. Er und sein Sohn Kronprinz Rupprecht verweigerten die Anerkennung der Revolution, anerkannten aber das Fortbestehen des Staates Bayern. Kronprinz Rupprecht wahrte seine Thronansprüche, überführte aber die Dynastie in die veränderte Zeit. Kraft seiner Persönlichkeit wirkte er als Integrationsfaktor, der die besten Traditionen Bayerns bis zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus repräsentierte. In dieser Linie steht auch der heutige Chef des königlichen Hauses, Herzog Franz von Bayern, mit seinem Eintreten für die Eigenart Bayerns. 90  Das Haus Wittelsbach in der Gegenwart. Herzog Franz von Bayern im Gespräch mit Albert Scharf, hrsg. v. Alois Schmid (Hefte zur bayerischen Landesgeschichte, 6), München 2014, 53.

Legitimationsstiftung durch Skandale: Die eigenartige Popularität der britischen Monarchie in der Moderne Von Georg Eckert, Wuppertal Skandale haben andere Monarchien in den Untergang getrieben. Die britische allerdings haben sie gerettet – indem sie die Königsherrschaft auf eine Weise populär gemacht haben, die zwar nicht unbedingt in der Absicht der skandalträchtigen Könige selbst gelegen, gleichwohl ihren Rang in der Moderne als einen kuriosen gesichert hat. Jede Neuigkeit über das Königshaus geriet gewissermaßen zu einer guten. Skandale im Königshaus schufen Volksnähe, wenngleich oftmals eher wider den Willen der Protagonisten, die wenigstens öffentlichen Aufruhr zu verhindern trachteten: Edward  VII. beispielsweise befahl, zur Verhinderung weiterer Skandalgeschichten seinen Nachlaß zu vernichten, seine verfänglichen Liebesbriefe wiederum ließ sein Nachfolger am Beginn des Ersten Weltkriegs diskret aufkaufen, nachdem der Defence of the Realm Act einträgliche Veröffentlichungsdrohungen obsolet gemacht hatte1. Die skandalisierten britischen Monarchen strebten die Verfehlung wenn schon, so eben um ihrer selbst, nicht um ihrer kritischen Konsequenzen willen an. Öffentliche Aufmerksamkeit durch Ärgernis bedeutete ein lästiges Ergebnis, kein unmittelbares Ziel ihres Handelns und Nichthandelns – anders als bei manchen Mediengestalten unserer Gegenwart, die es geradezu auf Prominenz durch Peinlichkeit abgesehen haben2. Just die vermeintlich prestigezersetzenden Folgen diverser Fehltritte jedoch hielten die Monarchen in den Medien und mithin in einem Minimum an Macht. Skandalen wohnt schließlich kein kleiner Unterhaltungswert inne3, im britischen Falle insofern umso mehr, als die diversen königlichen Skandale nicht aus politischen Vergehen im eigent1  Theo

Aronson, The King in Love. Edward VII’s Mistresses, London 1988, 264. Bergmann / Bernhard Pörksen, Einleitung. Die Macht öffentlicher Empörung, in: Skandal! Die Macht öffentlicher Empörung, hrsg. v. Jens Bergmann / Bernhard Pörksen, Köln 2009, 13–33, 18 f. 3  Wilfried von Bredow, Legitimation durch Empörung. Vorüberlegung zu einer politischen Theorie des Skandals, in: Der politische Skandal, hrsg. v.  Julius H. Schoeps, Stuttgart / Bonn 1992, 190–208, 202. 2  Jens

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lichen Sinne resultierten, sondern vielmehr „direkt die Person des Monarchen betrafen und ausschließlich in den Bereich des Persönlichen gehörten“4. Das Persönliche freilich war gerade in dieser Gestalt erst recht politisch; vulgäre Untertanen schätzten einen vulgären König, nicht erst seit dem als maßlos geltenden George  IV., sondern im Grunde bereits seit der Restauration des Jahres 1660. Die im Nachfolgenden kursorisch gestreiften Skandale des 19. und 20. Jahrhunderts bestanden aus bisweilen banalen alltäglichen Verfehlungen, waren an jene höchstpersönliche Schwächen gebunden, die am Ende paradoxerweise die Stärke der Monarchie ausmachten: weil erst das Allzumenschliche die Mitglieder des Königshauses zu Identifikationsfiguren des Volkes werden ließ, zu einem Faktor des medialen Alltags, den sich nur wenige wegdenken mochten. Ohne gelegentliche Fallstricke, in denen sich die Könige gleichermaßen zum Mißfallen wie zum Amüsement des Publikums verfingen, so ließe sich pointiert sagen, hätte die britische Monarchie wohl weder das 19. noch das 20. Jahrhundert überdauert. Massenmedien in der Massengesellschaft dulden nämlich nur gebrochene Helden. I. Präliminarien: Monarchie als Inszenierung Diese These steht nicht im Widerspruch, sondern durchaus in Ergänzung zu mannigfachen anderen Versuchen, die erstaunliche Kontinuität der Königsherrschaft ausgerechnet in jenem Staat zu erklären, der als erster eine umfassende Parlamentarisierung erfuhr. Die älteste ungebrochene europäische Demokratie ist bis heute formal Monarchie geblieben, beruft sich gerade auf die (in der Whig-Interpretation zumal verherrlichte)5 Vergangenheit einer immer enger limitierten königlichen Prärogative. Nicht zu unterschätzen ist die Dynamik, die gerade dieser Tradition selbst innewohnt; noch bei Umfragen in den 1960er Jahren glaubten immerhin dreißig Prozent der Befragten an eine göttliche Berufung der Königin6, ohne daß sich die britischen Monarchen jemals auf solche Sentimentalitäten verlassen hätten. Anderen vermeintlich Gottbegnadeten verweigerten sie den Empfang, so etwa, als sich 4  Martin Kohlrausch, Monarchische Repräsentation in der entstehenden Mediengesellschaft. Das deutsche und das englische Beispiel, in: Herrschaft und Repräsentation seit der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Jan Andres / Alexa Geisthövel / Matthias Schwengelbeck, Frankfurt am Main 2005, 93–122, 120. 5  Verherrlicht allerdings auf inakkurate, politisch motivierte Weise, wie etwa kritisiert in: Herbert Butterfield, The Whig Interpretation of History, London 1931, 34 f. 6  Andrzej Olechnowicz, ‚A jealous hatred‘. Royal popularity and social inequality, in: The Monarchy and the British Nation, 1780 to the Present, hrsg. v. Andrzej Olechnowicz, Cambridge 2007, 280–314, 291.



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der vollkommen traditionsbewußte George  V. unbarmherzig der erbetenen Aufnahme der entmachteten russischen Zarenfamilie widersetzte7. Schwerer dürfte indes wiegen, daß der britischen Krone rechtzeitig ein „Bedeutungsgewinn durch Machtverlust“ gelang – sie wirkte auf lange Frist eher integrierend als polarisierend8, notgedrungen und nur unter Schmerzen gleichwohl: Königin Victoria beispielsweise zielte ganz und gar nicht auf eine demokratisierte Monarchie ab9, mußte diese Entwicklung aber ertragen, um Autorität zu behaupten. Zu Ikonen der britischen Wehrhaftigkeit in den beiden Weltkriegen und im Falklandkrieg wurden längst nicht mehr Könige, deren Amtes es in vergangenen Zeiten gewesen wäre, den Sieg im Felde zu bewirken, sondern Premierminister(innen); in große politische Kontroversen, zuletzt etwa in die Debatte um den britischen Austritt aus der Europäischen Union, haben sich die Monarchen im 20. Jahrhundert kaum mehr verwickeln lassen. Der letzte Monarch, der eine aktive Rolle in der Politik anstrebte, war wohl Edward VIII., dessen Abdankung nicht allein zeitgenössisch wenig akzeptablen Konventionen von Heirat und Ehe geschuldet war. Es zeugt ohnehin der Aufstieg des Premierministers bereits im 18. Jahrhundert vom Abstieg der Monarchen, zumal solch eher fremder und fremdelnder Könige wie der beiden ersten Hannoveraner10; ebenso diente der immense Ausbau der Verwaltung schon unter George III. weniger der Stärkung der Macht des umso inszenierungsbedürftigeren Königs als der Macht der Minister11. Die britischen Monarchen betätigten sich jedenfalls immer weniger in unmittelbaren politischen Entscheidungsprozessen, suchten ihren geschwächten formellen Einfluß immer diskreter und informeller geltend zu machen; über die wöchentlichen Unterredungen, die noch Königin Elizabeth II. mit den theoretisch allein ihr verpflichteten Premierministern abhielt und abhält, ist viel zu wenig bekannt12, um ihre vielleicht beträchtliche Autorität zu eruieren – möglicherweise ein Mythos, an dessen Aufrechterhaltung allerdings sowohl die Königin, die so den Anschein von Macht zu konservieren vermag, als auch die Premierminister sämtlicher Couleur, die sich im öffentlich 7  John Cannon, The Survival of the British Monarchy. The Prothero Lecture, in: Transactions of the Royal Historical Society 36 (1986), 143–164, 158. 8  Dieter Langewiesche, Die Monarchie im Jahrhundert Europas. Selbstbehauptung durch Wandel im 19. Jahrhundert, Heidelberg 2013, 33. 9  J. Cannon, The Survival of the British Monarchy (Anm. 7), 156. 10  David Starkey, Crown & Country. A History of England Through the Monarchy, London 2010, 420. 11  Jonathan Parry, Whig monarchy, Whig nation. Crown, politics and representativeness 1800–2000, in: The Monarchy and the British Nation, hrsg. v. A. Olechnowicz (Anm. 6), 47–75, 53. 12  Rodney Brazier, The Monarchy, in: The British Constitution in the Twentieth Century, hrsg. v. Vernon Bogdanor, Oxford 2003, 69–95, 79 f.

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unkritischen Glanz der Monarchin zu sonnen vermochten, ein erhebliches Interesse gehegt haben dürften. Nicht linear, aber doch substantiell hat die Krone in der parlamentarisierten Monarchie ihre politische Handlungsweise verändert. Statt als Partei agierte sie zunehmend als Vermittlerin in politischen Krisen,13 zum Beispiel bei der Anbahnung des parteiübergreifenden „National Government“ im Jahre 193114, zum Beispiel bei der Auswahl neuer Premierminister. Auf der Insel gilt besonders, was sich in den europäischen Monarchien schon des 19. Jahrhunderts generell feststellen läßt: Die konstitutionelle Begrenzung der Königsherrschaft bedeutete den „Preis für die Selbstbehauptung im Prozeß der Nationalstaatsbildung“15. Nur gilt all dies auf der Insel eben früher, weil die Anfänge des britischen Nationalstaats im frühen 18. Jahrhundert liegen16 und weil bereits die Restauration des Jahres 1660 auf den Konsens einer beschränkten Monarchie begründet gewesen war17. Die britischen Monarchen, deren fremde Herkunft bis hinein in Victorias Herrschaftszeit immer wieder Kritik hervorrief18, betrieben im späten 19. Jahrhundert ihre britische Nationalisierung; schon Edward  VII. setzte ein Signal, als er anstelle seines deutsch behafteten ersten Vornamens Albert seinen englischen, zweiten Vornamen Edward zum Herrschernamen wählte19; mitten im Ersten Weltkrieg benannte sich das regierende Haus Sachsen-Coburg-Gotha plötzlich in Windsor um, angeschlossene Familien wie die zu Mountbatten umfirmierten Battenberger folgten; statt ausländischer Königskinder wurden im frühen 20. Jahrhundert eigene Untertanen zunächst zu gestatteten und sogleich zu bevorzugten Heiratspartnern der Royals20, erst adelige, am Ende gar bürgerliche. Selbst

13  Andrzej Olechnowicz, Historians and the modern British monarchy, in: The Monarchy and the British Nation, hrsg. v. A. Olechnowicz (Anm. 6), 6–44, 17. 14  John D. Fair, Walter Bagehot, Royal Mediation, and the Modern British Constitution, 1869–1931, in: The Historian 43 (1980), 36–54, 50 f. 15  D. Langewiesche, Die Monarchie im Jahrhundert Europas (Anm. 8), 19. 16  Linda Colley, Britons. Forging the Nation 1707–1837, New Haven / London 2012. 17  Carolyn A. Edie, The Popular Idea of Monarchy on the Eve of the Stuart Restoration, in: Huntington Library Quarterly 39 (1976), 343–373, 364. 18  Richard Williams, The Contentious Crown. Public Discussions of the British Monarchy in the Reign of Queen Victoria, Aldershot 1997, 169. 19  Johannes Paulmann, Eduard VII. (1901–1910), in: Englands Könige und Königinnen. Von Heinrich VII. bis Elisabeth II., hrsg. v. Peter Wende, München 1998, 287–308, 288. 20  David Cannadine, The last Hanoverian sovereign? The Victorian monarchy in historical perspective, 1688–1988, in: The First Modern Society. Essays in English History in Honour of Lawrence Stone, hrsg. v. A. L. Beier / David Cannadine / James M. Rosenheim, Cambridge 1989, 127–165, 159.



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die Zeremonien wurden unter George V. anglisiert, am Buckingham-Palast als englisch definierte Fassaden gesetzt21. Zu den besonderen Faktoren, die das Überleben  – und das war nach der Hinrichtung Charles’ I. im Jahre 1649 eben ganz und gar nicht selbstverständlich – der britischen Könige gesichert haben, gehört vor allem der schiere dynastische Zufall. Eine Fundamentaldebatte über die Zukunft des Staatsoberhaupts ist der Insel auch deshalb erspart geblieben, weil selbst frühe und unerwartete Tode, nicht zu vergessen eine plötzliche Abdankung, einer nachkommensreichen Dynastie wenig anzuhaben vermochten. Zugleich waren zahlreiche Heiraten sowohl fruchtbar als auch in anderer Hinsicht glücklich, weil sich die meist überaus duldsamen Gattinnen und Gatten mit der regelbestätigenden Ausnahme Wallis Simpsons als überaus beliebte Mitglieder der Herrscherfamilie bewährten, sich bisweilen gar als beliebter denn die Herrscher selbst erwiesen; solche Kontingenzen erstrecken sich überhaupt bis in die individuellen Eigenschaften der diversen Royals, deren Bedeutung auch keine strukturell argumentierende Geschichtsschreibung wird leugnen können. Vielleicht hat noch ein genealogischer Zufall viel zur Fortdauer der britischen Monarchie beigetragen, nämlich derjenige, daß ausgerechnet zwei Frauen  – Victoria und Elizabeth  II., nicht zu vergessen die erst in hohem Alter verstorbenen Königswitwen Mary und Elizabeth22 – jeweils mehr als sechzig Jahre lang nicht regierten, sondern gerade vielmehr als Frauen das Nicht-Regieren in besonders plausibler Weise zu verkörpern und zu moderieren wußten. So sehr auch jüngere Studien immer wieder hervorgehoben haben, inwiefern gerade Victoria ihr Amt als ein dezidiert politisches verstand und betrieb, so wenig vermögen sie zu bestreiten, daß die britischen Monarchen zwar keinen linearen, wohl aber einen insgesamt anhaltenden Abschied von unmittelbarer politischer Entscheidungsgewalt nahmen – bisweilen widerwillig, bisweilen konsequent gingen die im eigentlichen Sinne politischen Aufgaben auf die Regierung über, doch mit ihr zugleich die politische Verantwortung und Haftung gegenüber dem Wahlvolk. Zu den überlebenssichernden Zufällen rechnet auch einer, der umgekehrt das Ende der Monarchien in Deutschland und Österreich (1918), in einer gewissen Analogie auch in Frankreich (1871) und Italien (1945) erklärt: Großbritannien hat erstens keine großen Kriege verloren, zweitens hätte womöglich selbst eine Niederlage im Ersten Weltkrieg der Monarchie wenig anhaben können, da auf der Insel – ganz im Gegensatz zum zeitgenössischen Deutschland – 21  Ilse Hayden, Symbol and Privilege. The Ritual Context of British Royalty, Tucson 1987, 44. 22  Clarissa Campbell Orr, The feminization of the monarchy 1780–1910. Royal masculinity and female empowerment, in: The Monarchy and the British Nation, hrsg. v. A. Olechnowicz (Anm. 6), 76–107, 105.

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Regierung und Parlament längst als verantwortliche Entscheidungsträger galten und wirkten23. Die britische Monarchie war spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eben gerade keine Königsherrschaft mehr, weder auf der Insel selbst noch – drittens – im Empire. Elizabeth II. wurde bezeichnenderweise zur Königin im damals noch britischen Kenia, wo sie auf Reisen vom Tode ihres Vaters erfuhr. Wer die langfristige Stabilität der britischen Monarchie erforscht, wird sich ohnehin nicht auf Großbritannien beschränken dürfen; der im Jahre 1931 gegründete Commonwealth verband zunächst jene ehemaligen Kolonien mit dem Mutterland, die immerhin noch das Bekenntnis zur Krone einte; bis heute fungiert die britische Königin formal als Staatsoberhaupt unter anderem Kanadas, Australiens und Neuseelands, auch wenn ihre Funktionen de facto – und de iure  – dort längst von Generalgouverneuren ausgeübt werden. Selbst die australische Labour-Partei aber erblickte im britischen König lange den Verteidiger der Freiheiten des Volks24, mit kriegswichtiger Folgewirkung im Ersten Weltkrieg; auch hier bestätigte sich, warum so gegensätzliche politische Akteure wie Gladstone und Disraeli so sehr an der Aufrechterhaltung der Monarchie interessiert gewesen waren, von der sie sich zu Recht eine substantielle Autorität für Mutterland und Establishment erhofft hatten25. Überhaupt wäre zu erwägen, inwiefern die Monarchie den Briten nicht geradezu extern aufgezwungen wird: Von solchen außenpolitischen wäre in einer umfangreicheren Studie ebenso zu handeln wie von vielen anderen innenpolitischen Faktoren, auf die sich dieser Essay ebensowenig konzentrieren kann, darunter etwa die konkreten Interessen der Politiker und Parteien. So vermuteten nach einer republikanischen Phase in der Mitte des 19. Jahrhunderts selbst radikale Politiker auf der Linken, die Monarchie werde höchstens auf dem Wege der Evolution, nicht der Revolution zu beseitigen sein, weshalb sie sich im Jahre 1924 sogar ausdrücklich beim König für einen kundigen Rat bedanken, wo hoffähige Kleidung zu erhalten sei26, so pries ausgerechnet der Labour-Premierminister Clement Attlee den verstorbenen Monarchen George V. ausgerechnet als einen überzeugten Demokraten27, so unterstützten 23  Thomas Kroll, Die Monarchie und das Aufkommen der Massendemokratie. Deutschland und Großbritannien im Vergleich (1871–1914), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 61 (2013), 311–328, 327. 24  Neville Kirk, The Conditions of Royal Rule: Australian and British Socialist and Labour Attitudes to the Monarchy, 1901–11, in: Social History 30 (2005), 64–88, 83. 25  Karina Urbach, Die inszenierte Idylle, in: Inszenierung oder Legitimation? /  Mon­archy and the Art of Representation. Die Monarchie in Europa im 19. und 20. Jahrhundert. Ein deutsch-englischer Vergleich, hrsg. v. Frank-Lothar Kroll / Dieter J. Weiß, Berlin 2015, 23–33, 33. 26  J. A. Thompson, Labour and the British Monarchy, in: The South Atlantic Quarterly 70 (1971), 341–349, 342. 27  Philip Williamson, The monarchy and public values 1910–1915, in: The Monarchy and the British Nation, hrsg. v. A. Olechnowicz (Anm. 6), 223–257, 238.



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zahlreiche weitere Labour-Politiker die Monarchie, weil sie deren Popularität beim Wähler als nicht zu hintergehendes Faktum betrachteten28; tatsächlich erachteten in den 1970er Jahren siebenundachtzig Prozent der Tory-Wähler die Monarchie für notwendig, bei den Labour-Wählern immerhin noch eine satte Mehrheit von siebzig Prozent29, gegen die sich kein exponierter Parteipolitiker stellen mochte. Die Dauer der Monarchie verdankt sich außerdem der rastlosen Reisetätigkeit von Mitgliedern der königlichen Familie im Inland wie später auch im Ausland, begonnen ausgerechnet vom so schlecht beleumundeten George IV., der ein integratives Reisekönigtum betrieb: durch groß angelegte und vor allem groß inszenierte Besuche in Schottland und Irland30, die eben die Peripherie nach langer Vernachlässigung mit der Metropole versöhnen sollten und es dank eigens erfundener Traditionen wie dem vom König selbst getragenen Kilt auch taten, ebenso wie später Mitglieder der königlichen Familie das Empire durch regelmäßige Besuche zusammenhielten. Edward  VII., immerhin Oberhaupt der nicht sonderlich katholikenfreundlichen Anglikanischen Kirche, bekundete im Jahre 1903 sogar eine Beileidsbekundung für den verstorbenen Papst, sehr zum Wohlwollen seiner Untertanen im katholischen, damals noch zum Vereinigten Königreich gehörigen Irland31. Die ständige Präsenz von Mitgliedern der königlichen Familie macht die Monarchie bis heute sichtbar: bei nationalen (etwa am Remembrance Day) wie lokalen Feierlichkeiten, bei kleinen Besuchen wie bei großen Empfängen32, im übrigen auch in verschiedenen sozialen Destinationen. Königin Victoria wandte sich bereits gezielt den arbeitenden Unterschichten zu, indem sie Reisen in die großen Industriestädte unternahm33. Nicht zu vergessen sind umgekehrt auch Reisen zur Königin, in der Regel zum Buckingham-Palast, zum Beispiel für einen Ritterschlag: Die Auszeichnungen des Honours System wirkten selbst auf Linke attraktiv34, sogar schein- respektive hörbare Traditionsbrecher wie Paul McCartney, Elton John und Rod Stewart sind heutzutage von der Königin zu Rittern geschlagen worden, berühmte Schauspieler und Sportler nicht minder. 28  Ebd.,

236. Rose / Dennis Kavanagh, The Monarchy in Contemporary Political Culture, in: Comparative Politics 8 (1976), 548–576, 555. 30  James Loughlin, Crown, spectacle and identity. The British monarchy and Ireland under the Union 1800–1922, in: The Monarchy and the British Nation, hrsg. v. A. Olechnowicz (Anm. 6), 108–136, 119. 31  James Loughlin, The British Monarchy and Ireland. 1800 to the Present, Cambridge 2011, 261. 32  A. Olechnowicz, ‚A jealous hatred‘ (Anm. 6), 301. 33  T. Kroll, Die Monarchie und das Aufkommen der Massendemokratie (Anm. 23), 318. 34  K. Urbach, Die inszenierte Idylle (Anm. 25), 29. 29  Richard

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Bis heute sticht außerdem die intensive Wohltätigkeit der Krone hervor, die seit dem späten 18. Jahrhundert eine moderne, weil systematische und in eigenen Institutionen vollzogene Form monarchischer Gnadenerweisungen betrieb. Vor allem die Söhne Georges III. erschlossen der königlichen Familie die Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts (und vice versa), Königin Victoria agierte als Patronin von rund einhundertundfünfzig wohltätigen Einrichtungen; ihr Sohn Edward  VII. verstand es gar, die aufkommende Geld­elite zu Hofe und gleichzeitig zur Spendenkasse zu bitten, dessen Nachfolger George  V. wiederum baute das Engagement der Krone inmitten des Ersten Weltkriegs flächendeckend aus, ehe der Wohlfahrtsstaat jene karitativen Spielräume einengte, die dann die Ära Thatcher in ihrer regierungsskeptischen Neigung zur Deregulierung wieder weitete35. Große Bedeutung kommt außerdem der konkreten Inszenierung der Monarchie zu, darunter all jene scheinbar aus unvordenklicher Zeit rührende, aber in ihrer Substanz eben „erfundenen“ Traditionen, die seit dem 19. Jahrhundert den legitimitätsheischenden Schein von Kontinuität erzeugen sollten: vom „State Opening of Parliament“, einst von Victoria noch mehrfach boykottiert36, ehe Edward VIII. sich hier als großer Meister der feierlichen Inszenierung erwies37, jener ritualhaften Parlamentseröffnung im 1852 vollendeten Westminster-Palast, in deren Rahmen der Monarch jährlich die vom Premierminister geschriebene Thronrede als politisches Programm verkündet, bis hin zur „Last Night of the Proms“, in deren zweiten Teil seit dem Jahre 1951 ein verbindlicher, bald als „traditionell“ empfundener Kanon patriotisch-pompöser Lieder mit der abschließenden Nationalhymne zum Ruhme des Monarchen jährlich wiederholt wird38, von der Prinzengeburt über die Amtseinführung – die scheinbar altüberlieferte Einführung des Prinzen von Wales im Jahre 1969 bedeutete in Wirklichkeit ein neues Ritual39 – und die Hochzeit und die Krönung bis hin zur königlichen Ars moriendi, Ereignisse, die wohl auch für die weiteren Mitglieder des Königshauses vergleichend zu analysieren wären. Schließlich sind neben den politischen die weniger politischen Geschäfte der königlichen Familie zu erwähnen, ökonomische Aktivitäten, die ihren Teil zur alltäglichen Sichtbarkeit der Monarchie beisteuern und mittlerweile 35  Frank Prochaska, Royal Bounty. The Making of a Welfare Monarchy, New Haven / London 1995, 28, 35, 77, 143–147, 175, 193, 201, 226, 258 f. 36  I. Hayden, Symbol and Privilege (Anm. 21), 53. 37  David Cannadine, Die Erfindung der britischen Monarchie 1820–1994, Berlin 1994, 35. 38  David Cannadine, The ‚Last Night of the Proms‘ in historical perspective, in: Historical Research 81 (2008), 315–349, 333. Daß in der Londoner Royal Albert Hall bei diesem Ereignis mittlerweile Flaggen und Fähnchen aus aller Herren Länder zu finden sind, bedeutet schon beinahe eine De-Nationalisierung der britischen Monarchie. 39  James Thomas, Diana’s Mourning. A People’s History, Cardiff 2002, 99.



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vom Königshaus selbst gesteuert werden: Erinnerungsporzellan ist ein sub­ stantieller Geldbringer, im übrigen höchst professionell vermarktet40. Königin Elizabeth II. hat sich spätestens mit der Etablierung der „Royal Collection Enterprises“, die nach dem verheerenden Schloßbrand in Windsor im Jahre 1992 gegründet wurden und durch Einnahmen aus Eintritten und allerlei Devotionalien seither einen erheblichen Ertrag einbringen, zu einer Merchandising- und Tourismusunternehmerin gewandelt, ganz abgesehen von anderen handfesten ökonomischen Aktivitäten. Schließlich agieren die Royals als landwirtschaftliche Großgrundbesitzer (bislang folglich auch als große Empfänger von Subventionen der Europäischen Union) und als Großproduzenten  – Prinz Charles vertreibt gemeinsam mit der Supermarktkette Waitrose unter einem gemeinsamen Handelsnamen allerlei Biskuits und andere Produkte aus der sogenannten ökologischen Landwirtschaft, mehr als zweihundertunddreißig Waren werden mittlerweile in dreißig Länder vertrieben41. Zu den alltäglichen und weniger alltäglichen Legitimationsakten der britischen Monarchie wäre überhaupt die Präsenz des Königs und seiner Angehörigen zu rechnen: auf Briefmarken, Münzen und Geldscheinen, auf Porträts, Photographien und in Filmen, auf Denkmälern, Gebäuden und Straßennamen, auf allerlei Festivitäten und Veranstaltungen. Diese und viele weitere Inszenierungen verdienen ebenso Aufmerksamkeit wie die Rezipienten, mithin die Wahrnehmungen und Deutungen der Monarchie in der Hoch- und Massenkultur: in populären Reimen und Liedern etwa, in Funk und Fernsehen, in der Literatur und in der journalistischen Darstellung. Die britischen Monarchen lassen sich selbst heutzutage kaum als bloße Medienphänomene beschreiben. Aber ohne die modernen Massenmedien wären sie eben nicht mehr. Ein kleiner Auszug aus der Berichterstattung verdient dabei besondere Aufmerksamkeit, nämlich die Wahrnehmung des heikelsten Moments der Monarchie. Denn sterben muß von Natur aus jeder Monarch, also erfaßt diese Quellengattung notwendigerweise alle Herrscher. Wenn nun der König stirbt, ist in der Neuzeit keineswegs mehr gesichert, daß der König lebt – anders als in längst vergangenen Jahrhunderten, als die Lehre von den zwei Körpern des Königs diesen schwierigen Übergang moderiert hatte. Vielmehr bedeutet der Tod des Monarchen einen Einschnitt, der die Mitlebenden und mitunter Mittrauernden zu besonderer Perspektivierung einlädt, weitaus mehr als jene weiteren Lebensereignisse, die ähnlich umfangreiche Bericht- und bisweilen Gerüchterstattung in den Medien mit sich bringen: Geburten und Geburtstage, Heiraten und Scheidungen, Jubiläen und vieles mehr. Nachrufe sind unvermeidlich, ihnen vermag kein Herrscher zu entgehen. Noch eine 40  Cele C. Otnes / Pauline Maclaran, Royal Fever. The British Monarchy in Consumer Culture, Oakland 2015, 174. 41  Ebd., 177.

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Quelleneigenheit wird dabei zum Vorzug. Nachrufe weisen nämlich ebenso zurück wie nach vorne; die darin jeweils betriebene akute Sinnstiftung der Monarchie ist längerfristig orientiert, sie sucht Anschluß an die Vergangenheit der Verblichenen, sie verpflichtet auf gute Exempla der Verstorbenen und darauf, schlechten nicht zu folgen. Als Quelle dafür eignen sich – der bislang letzte britische Herrschertod fällt ins Jahr 1952, vielleicht der letzte, der sich im Printjournalismus noch hinreichend fassen läßt – insbesondere Tageszeitungen, die hier freilich nicht (und überhaupt wohl kaum jemals) in „repräsentativer“ Auswahl konsultiert werden können. Damit wäre überhaupt wenig gewonnen, weil selbst alle veröffentlichten Meinungen noch lange keine öffentliche Meinung ergeben42, jenes scheinbar transparente, in Wirklichkeit aber obskure analytische Konstrukt. Deshalb soll die Auswahl klein gehalten werden, strikt beschränkt auf die Nachrufe in der Londoner „Times“. Dieser Fokus liegt nicht darin begründet, daß die „Times“ mehr Aufmerksamkeit verdiente als die seit dem späten 19. Jahrhunderts massenhaft aufgekommenen „Tabloids“, die opulent bebilderte und sensationsgetriebene, ungleich auflagenstärkere Regenbogenpresse, der sich die „Times“ nach der Integration in Rupert Murdochs „News Corporation“ im Jahre 1981 längst angeglichen zu haben scheint. Er wäre auch nicht damit zu rechtfertigen, daß die „Times“ objektiver, wiewohl von Generationen von Autoren postuliert, berichtet und kommentiert hätte; ihre Darstellung war von subjektiven Ideen und Interessen einzelner Journalisten nicht minder, nur eben anders geprägt. Schließlich hat die „Times“ keineswegs mehr oder irgendwie relevantere Leser besessen als konkurrierende Blätter. Ihr Alleinstellungsmerkmal besteht vielmehr allein darin, daß die „Times“ seit dem Jahre 1785 lückenlos erscheint, mithin als einzige Tageszeitung längerfristige Vergleiche der Nachrufe seit George  III. gestattet, und übrigens darin auch den medialen Wandel, dem die „Times“ selbst unterlag, abzubilden vermag. Sogar die ausgesprochene Nähe der „Times“ zu politischen Entscheidungsträgern – nicht zuletzt darin symbolisiert, daß auf der Titelseite bis zum Jahre 1966 und seit dem Jahre 1981 ein königliches Wappen prangt  – läßt sich dabei eher als Vorteil denn als Nachteil verstehen: Sie bedeutete Nähe zum Establishment, nicht dauerhafte Nähe zu einzelnen Regierungen und Parteien. Die „Times“ entfaltete deshalb besondere argumentative Mühen, um die Monarchie zu rechtfertigen, nicht aber einzelne Monarchen. Deshalb hatte sie wenig Hemmungen, selbst Verstorbenen deren Skandale empört nachzuru42  Wie schnell aus einer partikularen eine vermeintlich generelle Meinung wird, legen etwa dar: Jürgen Gerhards / Friedhelm Neidhard, Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit, in: Öffentlichkeit  – Kultur  – Massenkommunikation. Beiträge zur Medien- und Kommunikationssoziologie, hrsg. v. Stefan Müller-Dohm / Klaus Naumann-Braun, Oldenburg 1991, 31–89, 40.



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fen. Zum Glück der Zeitgenossen und späterer Historiker hielt sie sich gerade nicht an eine alte Maxime: „De mortuis nil nisi bene“ hätte schließlich bedeutet, auf das zu verzichten, was den Leser (und nicht zu vergessen: den auf einträgliche Auflagen bedachten jeweiligen Eigentümer der Zeitung) besonders interessierte  – Skandale eben. Daß der Skandal, als Begriff seit dem späten 18. Jahrhundert präsent, sich von den Medien nicht trennen läßt43, macht die Berichterstattung und Kommentierung der „Times“ also zu einer aufschlußreichen Quelle für die Erklärung der Fortdauer der britischen Mo­ narchie vom späten 18. bis ins frühe 21. Jahrhundert. II. Die Wiedergeburt der Monarchie aus dem Geist der Popularität Die Entstehung der modernen Monarchie auf der Insel aus dem Geist der Popularität war eine schwere, genauer gesagt: eine Wiedergeburt. Denn das englische Unterhaus hatte am 7. Februar des Jahres 1648 befunden, „that the Office of a King in this Nation, and to have the Power thereof in any Single Person, is unnecessary, burdensome, and dangerous to the Liberty, Safety, and publick interest of the People of this Nation“, und es kurzerhand abgeschafft44 – freilich nur auf Zeit. Denn nach der Hinrichtung Charles’ I. dauerte es nur wenige Jahre, ehe ausgerechnet die engagiertesten Republikaner dem Lordprotektor des Commonwealth, Oliver Cromwell, nach der informellen auch die formelle Hoheit antrugen; königsgleich hatte seine Inszenierung ohnehin schon angemutet45, überhaupt hatte sich der Lordprotektor unbeschwert in königlichen Gemäuern eingerichtet, etwa um in der rubensprangenden Banqueting Hall seine Audienzen abzuhalten, vollzogen wiederum ganz in den von der Monarchie gewohnten Formen. Nicht die Funktion des Königs, wohl aber den Titel scheute Cromwell, als er die „Humble Petition and Advice“ des Jahres 1657 monatelang dilatorisch behandelte, um am Ende gequält die Krone abzulehnen; dagegen, daß er nach seinem Tode mit königsüblichen Pomp aufgebahrt wurde46, vermochte er sich naturgemäß nicht mehr zu wehren. 43  Frank Bösch, Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880–1914, München 2009, 31. 44  Journals of the House of Commons. From September the 2d 1648, in the Twenty-fourth Year of the Reign of King Charles the First, to August the 14th 1651. Reprinted by Order of The House of Commons, [London] 1803, 133. 45  Kevin Sharpe, „An Image Doting Rabble“. The Failure of Republican Culture in Seventeenth-Century England, in: Refiguring Revolutions. Aesthetics and Politics from the English Revolution to the Romantic Revolution, hrsg. v. Kevin Sharpe / Steven N. Zwicker, Berkeley / Los Angeles / London 1998, 25–56, 47. 46  Laura Lunger Knoppers, Constructing Cromwell. Ceremony, Portrait, and Print 1645–1661, Cambridge 2000, 147.

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Bald nach seinem Tode kehrte die Monarchie wieder, freilich in neuer Gestalt. In der Restauration nahm Charles  II. seinen Thron nicht nur problemlos, sondern obendrein euphorisch ein. Der neue König nämlich, der sich angeblich einst auf der Flucht in aller Ruhe eigenhändig eine Lammhaxe geschmackvoll anzubraten vermocht hatte47, wußte aus dem Scheitern seines Vaters populäre Lektionen zu ziehen. Er sorgte dafür, daß die Monarchie gerade nötig sei, nötig für zahlreiche Postenjäger, deren Interessen er gezielt zu bedienen wußte, daß sie gerade nicht beschwerlich würde, indem er schon in der Deklaration von Breda einer Vergeltung für die Parteinahme im Bürgerkrieg (und nicht zu vergessen: einer Rückübertragung von Eigentum) entsagt hatte, daß sie ungefährlich für Freiheit, Sicherheit und öffentliches Interesse geriete: nur zaghaft wagte der König absolutistische Ambitionen zu entfalten, die immer wieder am Parlament abprallten. Harmlos war die Politik Charles’ II. gewiß nicht, aber harmlos präsentierte er sie, indem er sich als Mann des Volkes inszenierte: als „Merry King“, als Herrscher, der eigentlich viel wichtigere Dinge im Sinne habe als dröges Regieren48. Von den sieben Todsünden ließ er kaum eine aus, mehr noch, er genoß seine Laster vor aller Augen und gänzlich ungeniert, statt sich in der Nachfolge seines Vaters als Tugendheld zu bemühen – sehr zum Ingrimm moralisierender anglikanischer und puritanischer Prediger, sehr zur Freude hingegen lebenslustiger Zeitgenossen wie Samuel Pepys, der selbst nur allzugern mit seinem Dienstmädchen poussierte und sogar nicht weniger als „die siebzehnte Hure des Königs in seiner Verbannung“ namentlich zu benennen wußte49. Charles  II. lebte den Skandal in Permanenz, zum Nutzen des Königtums. Aus der Not, daß der transzendente Anspruch der Monarchie mit der Hinrichtung seines Vaters einen guten Teil seiner Geltung eingebüßt hatte, machte der neue König eine volkstümliche Untugend: sein reichlich unmoralischer Lebenswandel verwirkte eine sakrale Legitimation, intensiver Skrofelheilung zum Trotze50 (die William III. schließlich als lächerlich verweigern sollte51). Die Ratio hinter diesem Verhalten war indes keine Irratio, keine charakterliche Schwäche, sondern eine ganz und gar politische Stärke: Der König gab sich als Mann des Volkes, so ordinär wie nur irgend möglich. 47  Thomas Blount, Boscobel. Or, the History, of His Sacred Majesties Most miraculous Preservation After the Battle of Worcester, 3. Sept. 1651, London 1660, 35. 48  Die Argumentation en détail und weitere Literatur weist auf: Georg Eckert, ­Popularität als Prinzip. Die Neuerfindung der englischen Monarchie unter Karl I. und Karl II., in: Zeitschrift für Historische Forschung 42 (2015), 591–627. 49  Samuel Pepys, Die Tagebücher, hrsg. v. Gerd Hafmans / Heiko Arntz, Berlin 2010, Bd. 8, 232 (26. April 1667). 50  Robert Zaller, Breaking the Vessels. The Desacralization of Monarchy in Early Modern England, in: The Sixteenth Century Journal 29 (1998), 757–778, 775. 51  D. Starkey, Crown & Country (Anm. 10), 400.



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Hatte ehedem noch die Beseitigung von Affären aller Art dem König zur Profilierung gedient, der verruchte Höflinge vom Hof verbannte (oder deren Tod zur Reputationssteigerung nutzte wie einst Charles  I. im Falle des Herzogs von Buckingham)52, so erging sich nunmehr der König selbst im Skandal. Ließ sich Karl II. schon in seinem Krönungsporträt in wenig manierlicher Pose abbilden, so erhielten spätere Maler gar den Auftrag, ihren Herrscher als einfachen Mann darzustellen53: eine Zumutung für die Eliten, eine Mutprobe für den Herrscher, eine Ermutigung für den kleinen Mann. Wortwörtlich um gewöhnliche Bilder, die Popularität bewirken sollten, bemühte sich bereits Karl II. und schlug einen Weg ein, den die englische beziehungsweise britische Monarchie bis heute geht54. Sie war immer genau dann in höchster Gefahr, wenn seine Nachfolger diesen Weg verließen – schon manche Zeitgenossen James’  I. und Charles’  I. hatten deren mangelnde Präsenz und Popularität für den zeitweiligen Untergang der Monarchie verantwortlich gemacht55; der unpopuläre William III. war später wohl nur deshalb akzeptabel, weil seine Frau Mary eine immense Beliebtheit genoß56; wie wenig populär die ersten beiden Hannoveraner gewesen zu scheinen, allen neueren geschichtswissenschaftlichen Korrekturen an historiographischen Zerrbildern zum Trotze, läßt sich etwa an der so wirkungsmächtigen, für den verstorbenen Kronprinzen Frederick verfaßten und von George III. intensiv rezipierten „Idea of a Patriot King“ des schillernden Viscount Bolingbroke e negativo ablesen: Daß es die erste Aufgabe eines Monarchen sein sollte, „to purge his Court“57, bedeutete einen erstrangigen Vorschlag zur Skandalvermeidung. Doch der politik- und lebenserfahrene Bolingbroke wußte eben auch, daß Skandale selbst bei besten königlichen Absichten nicht zu vermeiden seien: „But as they are Men, susceptible of the same Impres­sions, liable to the same Errors, and exposed to the same Passions, so they are likewise exposed to more and stronger Temptations, than others“58. Manchen Verführungen nach52  Alastair Bellany, Mistress Turner’s Deadly Sins, Sartorial Transgression, Court Scandal, and Politics in Early Stuart England, in: Huntington Library Quarterly 58 (1995), 179–210, 208. 53  Kevin Sharpe, Rebranding Rule. The Restoration and Revolution Monarchy, 1660–1714, New Haven / London 2013, 104–106. 54  Ebd., 193. 55  R. Malcolm Smuts, Public ceremony and royal charisma. The English royal entry in London, 1485–1642, in: The First Modern Society, hrsg. v. A. L. Beier /  D. Cannadine / J. M. Rosenheim (Anm. 20), 65–93, 90. 56  D. Starkey, Crown & Country (Anm. 10), 404. 57  Henry St. John, Viscount Bolingbroke, The Idea of a Patriot King. With Respect to the Constitution of Great Britain. By a Person of Quality, London [1740], 67. 58  Henry St. John, Viscount Bolingbroke, Letter III. Of the Private Life of a Prince, in: ders., The Idea of a Patriot King (Anm. 57), 7 [Neue Paginierung mit diesem Buchteil].

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zugehen, stabilisierte indes die Monarchie; Tugend hätte sie eher destabilisiert59. Der Monarch rückte gerade mit seinen Lastern näher ans Volk, gerade sein Scheitern vermochte ihn populär zu machen – wie Joseph II. und andere zeitgenössische aufklärerische Musterherrscher stieß selbst der tugendhafte Georg III. auf weniger Sympathie im engeren Sinne des Wortes als sein Sohn Georg IV., dessen Freude am Laster dem korpulenten Herrscher unschwer anzusehen war. III. George III., George IV., William IV.: Ein Zerrbild inmitten zweier Fürstenspiegel Beim ersten Blick in die Memoria, die seinerzeit die Londoner „Times“ dem soeben Verstorbenen George III. im Jahre 1820 hat angedeihen lassen, spricht indes wenig für die These des vorliegenden Artikels, ganz im Gegenteil. Geradezu als Verkörperung des tugendhaften Briten wollte die Zeitung den dahingegangenen König erinnert wissen, der ja immerhin ein halbes Jahrhundert die Herrschaft innegehabt hatte, vom Jahre 1760 bis ins Jahr 1810. Dabei war seine Bilanz durchaus nicht eindeutig. Für zeitgenössische amerikanische Beobachter etwa gab es eher den Tod eines Tyrannen zu bejubeln als den Tod eines Tugendboldes zu beklagen, auch für jene Briten, die bei George III. nicht nur an den Begründer eines Empire dachten, sondern eben auch an denjenigen, dessen Politik ein Empire eingebüßt hatte. Schließlich hatte der König durch eine kompromißlose Politik gegenüber den dortigen Siedlern den Unabhängigkeitskrieg der Vereinigten Staaten von Amerika mitverursacht und ihn mit einer demütigenden Niederlage abgeschlossen. Die „Times“ vergaß keineswegs, seine ambivalente „obstinacy“ zu beschreiben, gab ihr indes eine günstige Wendung: „has not the same quality of the Royal character since made us ample amends?“60 Gleichwohl hatte George  III. es vermocht, der Monarchie eine populäre Anti-Aura zu verleihen, „glorious and gemütlich both“61, wie man es später zusammengefaßt hat; der König war als gewöhnlicher Mann erschienen, den James Gillrays grelle Karikaturen beispielsweise in aller frühstückseiverspeisenden Banalität zeigten62. 59  Einschlägige zeitgenössische Perzeptionen spiegelt Bernard de Mandevilles Lasterhimmel aus der „Bienenfabel“ wider, in dem es sich so viel luxuriöser leben läßt als in der Tugendhölle: „They wanted Dice, yet they had Kings;  /  And those had Guards; from whence we may  /  Justly conclude, they had some Play;“ – Bernard de Mandeville, The Fable of the Bees. Or, Private Vices, Publick Benefits, Bd. 1, hrsg. von F. B. Kaye, Oxford 1924, 18. 60  His Late Majesty, in: The Times, 31. Januar 1820, 2. 61  L. Colley, Britons (Anm. 16), 237. 62  Michael Wynn Jones, A Cartoon History of the Monarchy, London / Basingstoke 1978, 57.



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Genau auf eine solche Gewöhnlichkeit kam es der mittlerweile etablierten „Times“ an, die deren neuer Herausgeber Thomas Barnes seit dem Jahre 1817 zu einem parteiungebundenen, reform- und kommentarfreudigen Blatt mit dem inoffiziellen Ehrentitel „The Thunderer“ gemacht hatte63. Sie rühmte den verblichenen König George  III. im Jahre 1820 umgehend und ausführlich: „He was an Englishman all over – but an Englishman worthy to be at the head of a nation of English. There are none of our kings to whom, in respect of masculine force and moral excellence, he may not be advantageously compared“64. Diese Bewertung verdiente, so suggerierte der ausführliche Nachruf, schon deshalb einige Aufmerksamkeit, weil Georges  III. Vater Frederick, seinerzeit gar vom Königshof verbannt, beiläufig als denkbar schwacher Prinz geschildert wurde: „The young Prince GEORGE lost nothing, it is probable, by the demise of such a parent“65. Das schlechte Image der Hannoveraner hallte also bis weit ins 19. Jahrhundert hinein nach, es relativierte den Superlativ, mit dem George  III. als idealer Herrscher gerühmt wurde; überhaupt war das Lob des dahingegangenen Königs ein eigenartiges, ein Lob in der turbulenten internationalen Lage der nach-napoleonischen Zeit – und umso eigenartiger, als George III. als Subjekt wie Objekt des politischen Streites schon seit einigen Jahren ausgefallen war. Politisches Tagesgeschäft vermochte er spätestens seit dem Jahre 1810 nicht mehr zu verrichten, als seine Porphyrie ihn endgültig regierungsunfähig gemacht hatte; was das britische Parlament schon im Jahre 1789 diskutiert hatte, einen Regency Act zur Übernahme der königlichen Amtsfunktionen durch einen Regenten, beschloß es am Beginn des Jahres 1811 ohne Zustimmung des Königs. Seither stand der spätere George  IV., der älteste Sohn Georges  III., im Mittelpunkt der Politik und vor allem im Mittelpunkt der politischen Kritik, mitsamt seinen Brüdern, die ob ihrer lasterhaften Distanz zum untadeligen Lebensstil ihres Vaters allesamt öffentliche Bedenken auf sich zogen66. Dieser Gegensatz zwischen einem sparsamen Vater und prassenden Söhnen atmete insofern den neuen Geist der politischen Ökonomie, als solche Verschuldung für einen besonderen Beweis britischen Reichtums und wirtschaftlicher Stärke gelten durfte, wenigstens vor dem großen Abschwung des Jahres 179567. Ein politisches System wohnte ihm zugleich inne, weil der Konflikt zwischen Vater und Sohn seit George I. vertraute Routine geworden 63  The History of the Times, Bd. 1: ‚The Thunderer‘ in the Making. 1785–1841, London 1935, 187–212, 391. 64  His Late Majesty, in: The Times, 31. Januar 1820, 3. 65  Ebd., 2. 66  David M. Craig, The Crowned Republic? Monarchy and Anti-Monarchy in Brit­ain, 1760–1901, in: The Historical Journal 46 (2003), 167–185, 179. 67  Marilyn Morris, Princely Debt, Public Credit, and Commercial Values in Late Georgian Britain, in: Journal of British Studies 43 (2004), 339–365, 356.

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war68: Solange die Monarchen als politische Patrone agierten, blieben auch Kämpfe um und mit Klienten nicht aus. Gegen die königliche Partei suchte sich solange noch eine solche des künftigen Königs zu formieren; zudem waren die Könige selbst noch unmittelbar in die politische Entscheidungsfindung involviert. Charles James Fox beispielsweise hatte zu den Parteigängern des Thronfolgers gehört und diesem eine eklatant höhere Zuwendung aus der Staatskasse zu verschaffen gesucht, die George  III. gerade noch zu verhindern wusste69; mochten die Exzesse des kommenden Königs auch unpopulär sein und ihn schon als Kronprinzen in tiefe Schulden gestürzt haben70, so hatten sie eben auch ihre Nutznießer – ihrerseits wieder umstrittene, denn schon in den frühen 1790er Jahren beklagten scharfe Pamphlete den Umgang, den der Thronfolger mit Schurken und Revolutionären pflege71. Der Nachruf auf George III. freilich bedeutete vor allem eine Vorwarnung. Das überwältigende posthume Lob des alten läßt sich als vehemente Kritik am neuen, bereits ein Jahrzehnt als Regent wirkenden König lesen, dem nachmals überaus bissiger Spott zuteil wurde statt dem Mitleid, das sein Vater erhalten hatte, dank der „exemplary beauty of his private life that endeared him to the bulk of the nation. The People of England, of all classes, had a familiar knowledge for many years of his simple tastes, his useful hab­its, his temperate indulgences – his cheerful, kind, and unaffected manners – his faithful fulfillment of every social obligation, his attachment to his domestic duties as a husband and a father, his assiduous discharge of the functions of sovereignty, his unostentatious munificence to the wretched, his zeal for religion, his piety to God“72. Über den toten König wurde damit viel Gutes gesagt, über den lebenden viel Schlechtes. Für jeden auch nur halbwegs informierten Leser – etwa für einen solchen, der schon eine der zahlreichen Persiflagen der Königshymne vernommen hatte: „O George, great Prince of Wales,  /  Thy swallow never fails,  /  Voracious Prince“73 – verwies dieser Superlativ auf ein horrendes Defizit. Er meinte weniger lobend George  III. als vielmehr tadelnd George  IV.: gegen dessen „taste“ sprach etwa der vielkritisierte orientalische Märchenpalast in Brighton, gegen dessen „habits“ die Völlerei, gegen dessen „indulgence“ der brüske Umgang mit seiner Ehefrau, gegen den liebenden Familienvater der harsche Umgang mit seiner Tochter. 68  D.

Cannadine, The last Hanoverian sovereign? (Anm. 20), 135. David, Prince of Pleasure. The Prince of Wales and the Making of the Regency, London 1998, 46. 70  D. Starkey, Crown & Country (Anm. 10), 445. 71  S. David, Prince of Pleasure (Anm. 69), 132. 72  His Late Majesty, in: The Times, 31. Januar 1820, 2. 73  Percy A. Scholes, God Save the Queen! The History and Romance of the World’s First National Anthem, London / New York / Toronto 1954, 165. 69  Saul



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Das Lob des einen meinte Mängelanzeige des anderen. Je mehr der Charakter Georges  III. gewürdigt wurde, desto grotesker mußte der Charakter ­Georgs  IV. dagegen abfallen, eines Königs, der schon längst vor der Übernahme der Regentschaft moralisch diskreditiert war. „Prince of Whales“ wurde der Kronprinz ob seiner überquellenden Leibesfülle genannt, spöttische Kommentare begleiteten sein frivoles Leben und machten auch nach seinem Tode nicht Halt, ganz im Gegenteil. Über den Verstorbenen wurde im Jahre 1830 nichts außer Schlechtes gesagt, wenigstens in der „Times“. Dem Autor einer ersten Kurzbiographie schien es schon einen Kommentar wert, gerade nichts zu sagen: „We throw the veil of charity over the rest of this affecting story“74, hieß es inmitten der Ausführungen über jugendliche Eskapaden des Kronprinzen, der von Schmeichlern umgeben gewesen sei. Auch eine Zusammenfassung des hochnotpeinlichen Ehescheidungsprozesses zwischen George IV. und seiner Frau Caroline, der er die Krönung als Königin demütigenderweise verweigert hatte, ersparte die „Times“ ihren Lesern nicht. Diese Angelegenheiten formten „too prominent a feature in his life, and enter so deeply in to the question of character, to be omitted in the briefest sketch“75. Noch das Beste, was der Autor dieses Artikels über den verschiedenen George IV. festzuhalten wußte, war etwas, was mit dem König selbst nur wenig zu tun hatte: „The king’s prerogative has allied itself with the people’s freedom, and that alliance has been more studiously preserved than under any former reign“76. So wurde eine Herrschaft zusammengefaßt, aus der ansonsten vornehmlich die persönlichen Verfehlungen des Herrschers erwähnenswert schienen. Genüßlich wurden die Skandale des Königs ausgebreitet, darunter sein glänzender Lebensstil „beyond precedent“, seine enorme und enorm ansteigende Verschuldung als prassender junger Mann, präsentiert als mangelnde Haushaltungskunst (während das Parlament, so schien es, die Verschuldung per Sinking Funds zurückzuführen wußte), der desaströse Versuch des Königs, die Scheidung von seiner Ehefrau zu bewirken77. Doch das waren noch harmlose, nüchtern gehaltene Zeilen, verglichen mit dem scharfen Leitartikel desselben Tages, der sich zu einer schmerzlichen Aufgabe genötigt fühlte: nämlich derjenigen, neben dem politischen vor allem den moralischen Einfluß zu schildern, „which a Monarch seldom fails to exercise over his people“ – während man den Lastern eines gewöhnlichen Gentleman getrost Grabesruhe zukommen lassen solle, so argumentierte die „Times“, besitze ein König keinen privaten Charakter, weil sein Handeln auf alle ausstrahle: „Of a King, therefore, there is nothing sacred but his person“. 74  Biographical 75  Ebd. 76  Ebd.

77  Ebd.,

2.

Sketch, in: The Times, 28. Juni 1830, 1.

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Dieser Maxime leistete die Zeitung nun Folge und machte George IV. zur überlebensgroßen Karikatur. Zu populär, zu nahe an den Verirrungen der ungebildeten Masse erschien er ihr. Minutiös vollzog sie nach, in welchen Abgrund von moralischer Verderbtheit der spätere König schon als junger Mann geraten sei, schilderte „if not an appetite for wasting money, an habit of prodigality the most reckless, unceasing, and unbounded“, rechnete die steigenden Schulden des Prinzen vor, gedeckt von immer höheren staatlichen Pensionen, führte immer neue Liebesgeschichten an, die Zeitgenossen zur Frage nach dem jeweils „ ‚next victim of his necessities‘ “ veranlaßt hätten, beklagte schließlich des Königs Scheidung von seiner verklärten Gemahlin Caroline: „Unsated malice, vengeance, perjury, and persecution followed her; she grappled with – strangled them – and bravely perished. The heroine has now at least nothing to fear from her destroyer“. Ein Seitenhieb auf seine korrupte Entourage blieb nicht aus, der tote König erwies sich im Nachruf als übler Lüstling, seine und seiner Spießgesellen Lebensweise seien ausgeartet „into something far more gross than Epicurus would have designed to acknowledge“78. Wie heftig und wie politisch brisant diese posthumen Anklage-Texte waren, wie sehr sie den Nachfolger Georges IV. warnen sollten, legt der zeitgenössische Kontext nahe: Im Jahre 1830 stand Großbritannien inmitten einschneidender Reformen, zu deren energischem Advokaten sich die „Times“ auch im verächtlichen Nachruf auf den König machte, der die Katholikenemanzipation des vorigen Jahres nur notgedrungen bewilligt hatte. Insbesondere die gänzlich mißglückte Ehe des Königs hatte die zeitgenössischen Beobachter empört – wurde der britische König seinerzeit prinzipiell als verbürgerlichter „Garant der sozialen Ordnung“79 wahrgenommen, frustrierte George  IV.  diese Erwartung zutiefst. Manche bei Hofe und im Volk waren einst leidlich damit zufrieden gewesen, daß der Prinz mit der ihm heimlich angetrauten Mary Anne Fitzherbert immerhin eine dauerhafte Mätresse gefunden hatte80. Doch als sorgender Ehemann und Vater im Sinne bürgerlicher Moralvorstellungen vermochte sich George IV. nicht zu profilieren, sondern mußte im Gegenteil erleben, wie seine verstoßene Gattin als Frau des Volkes gefeiert, er selbst hingegen als Ausbund adeliger Immoral öffentlich ausgebuht wurde81. In der Gestalt Carolines vereinigten sich die konservative und die radikale Opposition im Jahre 182082; als der zur Ehe78  London,

Monday, June 28, 1830, in: The Times, 28. Juni 1830, 3. Wienfort, Monarchie in der bürgerlichen Gesellschaft. Deutschland und England von 1640 bis 1848, Göttingen 1993, 205. 80  Rudolf Muhs, Georg IV. (1820–1830), in: Englands Könige und Königinnen, hrsg. v. P. Wende (Anm. 19), 242–259, 246. 81  F. Bösch, Öffentliche Geheimnisse (Anm. 43), 370 f. 82  Tamara L. Hunt, Morality and Monarchy in the Queen Caroline Affair, in: Albion. A Quarterly Journal Concerned with British Studies 23 (1991), 697–722, 702. 79  Monika



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scheidung betriebene Prozeß vor dem Oberhaus geführt wurde, gelangte Caroline in einem Triumphzug nach Westminster, kurz nach ihrem Freispruch: in einer Prozession mit je fünfhundert Reitern vor und nach der in unschuldigem Weiß gekleideten, verhinderten Königin nach St. Paul’s Cathedral, unter dem Motto „The Queen’s Guard: The People“83. Je unbeliebter der König, desto beliebter die Königin – und zwar tatsächlich beim Volk84. Freilich hat es den Anschein, als ob die seinerzeit ganz auf der Seite Carolines stehende85„Times“ etwas zu verschweigen hatte: nämlich die Leistungen des Königs und seine durchaus vorhandene Beliebtheit: „The Administration of George the Fourth has, in fact, been almost an uninterrupted course of popularity and prosperity, as well as peace“86, dies immerhin konzedierte die Zeitung widerwillig. George  IV. hatte dennoch jene Erwartungshaltung nicht bedient, die gerade die „Times“ als Stimme der bürgerlichen Vernunft erhoben hatte: nämlich diejenige, daß er moralische Führung auszuüben habe87. Darauf insistierte die Zeitung, kaum daß der verstorbene König begraben war. Schärfer hätte ein Leitartikel nicht sein können, der  – nachgelegt in Reaktion auf heftige Kritik am ersten Nachruf88 – insbesondere die enormen Ausgaben als schlechtes Vorbild für die öffentlichen Finanzen kritisierte und zur Überzeugung gelangte, „there never was an individual less regretted by his fellow-creatures than this deceased King. What eye has wept for him? What heart has heaved one throb of unmercenary sorrow? […] If GEORGE IV ever had a friend – a devoted friend – in any rank of life, we protest that the name of him or her has not yet reached us“89. Hemmungslose Selbstsucht warf die „Times“ dem Verstorbenen vor, ganz entgegen so manchen Impressionen aus anderen Quellen. Der Komponist Charles Burney beispielsweise hatte sich seiner Tochter gegenüber nach einem Abendessen mit dem Prinzen im Jahre 1806 von der Gelehrsamkeit des fließend den Homer auf Griechisch zitierenden Prinzen und von dessen exzellenter Musikkritik, von dessen Humor und von dessen freundlichem WeDie Prozeßakten wurden gedruckt herausgegeben, „containing the fullest REPORT OF HER MAJESTY’s DEFENCE that can be taken“: A Full Report of the Trial of Her Majesty Caroline Amelia Elizabeth, Queen of England […]. The Whole Arranged for Dolby’s Parliamentary Register […], 2 Bde., London 1820, To the Reader. 83  Flora Fraser, The Unruly Queen. The Life of Queen Caroline, London / Basingstoke 1996, 417, 443–445, 449. 84  R. Muhs, Georg IV. (Anm. 80), 249. 85  The History of The Times, Bd. 1 (Anm. 63), 241. 86  Biographical Sketch, in: The Times, 28. Juni 1830, 1. 87  T. L. Hunt, Morality and Monarchy in the Queen Caroline Affair (Anm. 82), 718. 88  The History of The Times, Bd. 1 (Anm. 63), 268. 89  London, Friday, July 16, 1830, in: The Times, 16. Juli 1830, 2.

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sen so eingenommen geäußert, daß er zum brieflichen Fazit gekommen war: „may with truth be said to have as much wit as Charles II. with much more learning – for his merry majesty could spell no better than the bourgeois gentil-homme“90. Der Pomp, der bei den einen so viel Spott hervorrief91, beeindruckte zugleich die anderen; ob die Bauarbeiter, Handwerker und Gärtner, denen die zahlreichen Bauten Georges  IV. in London und Brighton anhaltend Lohn und Brot verschafft hatten, sich der königskritischen „Times“ sonderlich verbunden gefühlt hätten, darf getrost bezweifelt werden. Überhaupt störte sich der König, der sich von der Öffentlichkeit durchaus ungerecht behandelt fühlen durfte, an seinem schlechten Image nicht allzu sehr – und ließ eifrig jene Karikaturen sammeln, die ihn in respektloser Art verspotteten92, nicht etwa die Karikaturisten selbst. Popularität, und sei es negative, geriet also zu einem aufmerksam verfolgten Interesse des Königs. Noch die Nachrufe auf William  IV., der seinem älteren Bruder auf den Thron gefolgt war, rahmen in gewisser Weise die gezielte Entwürdigung Georges  IV. ein. Bemerkenswert an der hingegen gewogenen Berichterstattung der „Times“ aus dem Jahre 1837 ist zunächst einmal ein Trend, den man bislang vor allem in der anschließenden Regierungszeit Victorias diagnostiziert hat: der Trend, die königliche Familie als eine bürgerliche zu beschreiben. Denn bereits die ersten Artikel über den verstorbenen William IV. wandten sich vor allem der trauernden Witwe zu und führten den Beweis, „that every service which the best of wives in the middling, or even inferior classes of society, ever paid to the husband of her affection, has been paid to her dead consort by the Royal lady, whose private loss must not be forgotten in the extensive grief of the whole country“93. Intensive Berichterstattung begleitete die Trauerfeierlichkeiten und warf intime Blicke in die Sterbestube des Königs, der zuletzt nur noch auf zwei Stühlen geruht habe „to ease the agony which endured in the chest during the attacks of his cough. The Queen generally sat by his side, fomenting his hands and temples with Eau de Cologne“94. In diese bürgerliche Trauergemeinschaft fügte sich auch die in der „Times“ abgedruckte Predigt des Dekans von Windsor, „a glowing panegyric on the many excellent qualities of his late Majesty, and appeared so deeply affected during the delivery of it as to be almost unable to speak. Never did man possess a kinder, or a more charitable heart – never did a 90  Dr. Burney to Madame d’Arblay, July 12, 1805, in: Diary and Letters of Madame D’Arblay. Edited by Her Niece, Bd. 6: 1793–1812, London 1854, 286. 91  D. Cannadine, Die Erfindung der britischen Monarchie 1820–1994 (Anm. 37), 19. 92  Thomas W. Laqueur, The Queen Caroline Affair. Politics as Art in the Reign of George IV, in: The Journal of Modern History 54 (1982), 417–466, 465. 93  The Late King, William IV, in: The Times, 21. Juni 1837, 4. 94  The Late King, in: The Times, 22. Juni 1837, 3.



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king act up more strictly to all the principles of integrity and honour. Firmly attached to his friends, and most forgiving to his enemies if indeed he, whom all men loved, could be said to have an enemy“95. Inwiefern derlei Lobreden noch immer eine Negativfolie zur Erinnerung an den skandalösen George  IV. bedeuteten, machte ein weiterer Artikel aus der unterdessen auch im Umfang gewaltig expandierenden „Times“ deutlich, der die Trauer der Witwe und des Volkes mit ihr beschrieb, für den Beobachter ein echtes Kontrasterlebnis: „Then the people of Windsor were conscious that they had lost a patron – now they talk and feel as if they had lost some­ thing more than a patron  – a friend.“ Während George  IV. seinen Lebensabend „in a state of almost Oriental seclusion“ verbracht habe, sei William IV. über seine gesamte Regierungszeit hinweg bestrebt erschienen „of living in the midst of his people“; der Artikel machte diese unterschiedliche Haltung vor allem daran fest, daß William gerade jene Gärten und Wege öffnen ließ, aus denen sein Bruder das Publikum ausgeschlossen hatte; selbst für seine Ausritte hatte George sich der Beobachtung entzogen, offenkundig eine kritikwürdige, geradezu despotische „reluctance to be seen“ – Heimlichtuerei beklagte der Autor, um den maximalen Gegensatz der beiden vergangenen Herrscher zu beschreiben: „William exhibited himself to his subjects in London, in Brighton, and particularly here [in Windsor]“. Mit der Sichtbarkeit des in aller Öffentlichkeit reitenden Königs sei die Vertrautheit des Volkes mit seiner Person gestiegen, „and upon their familiarity there grew, not contempt, but much personal regard and affection“. Daß die Bevölkerung am Tode Williams  IV. aufrichtigen Anteil genommen, den Tod seiner Bruders seinerzeit nur als Vorwand für einen Ferientag benutzt habe, ging mit dieser nicht nur symbolisch gemeinten Kritik hervor: Georges IV. „system of exclusion“ wurde hier verworfen, selbst sein Baustil als geschmacklos verurteilt96. Erst der Skandal des Vorverstorbenen schuf die Popularität des Nachfolgers. Mehr wußte die „Times“ über den nun verblichenen Monarchen kaum zu berichten. Einerseits war seine Herrschaft zu unauffällig gewesen, weil sich William IV. nach einer massiven Frustration weiterer Einmischung in die Tagespolitik enthalten hatte – die Whig-Minister, die er im Jahre 1834 entlassen hatte, wurden in der bald folgenden Wahl vom Volk mit überwältigender Mehrheit wieder ins Parlament entsandt97 statt vom Volk an der Urne abgestraft zu werden, wie es George  III. es einst erfolgreich vorexerziert hatte. Andererseits war sein Leben zu auffällig gewesen, zu auffällig wenigstens für den Geschmack der „Times“: Daß William  IV. mindestens so verfängliche Affären gepflegt hatte wie sein Bruder, daß auch er sich als junger Mann hoch 95  His

Late Majesty, in: The Times, 26. Juni 1837, 5.

96  Ebd. 97  J.

Parry, Whig monarchy, Whig nation (Anm. 11), 50.

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verschuldet hatte, daß er mit seinen schlechten Seefahrer-Manieren geradezu als ein Ausbund von Vulgarität galt, dem Volke viel näher, als von den zeitungsmachenden Eliten gewünscht (keine Hemmungen hielten William IV. zum Beispiel davon ab, den gastierenden König von Württemberg höchstpersönlich in einer Kneipe abzusetzen98), verschwiegen die Nachrufe galant; sein Lebenswandel war bisweilen ausschweifend gewesen, seine Schulden exorbitant99. Doch das lohnte bei einem bloßen Übergangskönig, der auch in dieser Hinsicht im Schatten seines Bruders stand, die postmortale Kritik kaum: Die so stürmisch begonnenen 1830er Jahre liefen in den erfolgreichen Reformen friedlich aus, eher an William IV. vorbei statt gegen ihn – anders gewendet: Die Erwartungen an einen König waren nach George IV. und unter neuen konstitutionellen Rahmenbedingungen gesunken, weil der Monarch weiter an Bedeutung eingebüßt hatte und weil Skandale nach den erfolgreichen Veränderungen keine wirkungsreiche politische Ausbeutungsmasse mehr darstellten. Vor allem aber hatte William IV. anders als sein bei elitären Künstlern geachteter Bruder eine Volkstümlichkeit gewonnen, eine breite Popularität, die auch potentielle Skandale verzeihlich zu machen vermochte: indem eigentlich skandalöses Benehmen zum volkstümlichen erklärt wurde. Als Zerrbild also erwies der verstorbene George  IV. der britischen Monarchie seinen größten Dienst und verschaffte seinem Bruder erhebliche Beliebtheit. IV. Victoria I., Edward VII. und der ungekrönte Albert: Eine Monarchie zum Anfassen „The nation has just sustained the greatest loss that could possibly have fallen upon“.100 Im Dezember des Jahres 1861 erklärte die „Times“ das Staatsoberhaupt, Königin Victoria, letztlich zur Nebensache. Plötzlich verstorben war nämlich ihr Gemahl, Prinz Albert, dem Leitartikel zufolge „the very center of our social system, the pillar of our State“.101 Die Zeitung beklagte „the loss of a public man whose services to this country, though rendered neither in the field of battle nor in the arena of crowded assemblies, have yet been of inestimable value to this nation“. Hier war eine neue Quelle von Popularität gefunden; zur bürgerlichen „Times“, die sich nunmehr massiver Konkurrenz durch günstige Massenblätter zu erwehren hatte und sich vorläufig (noch beim Tode Georges VI. hatte die „Times“ keine Schlagzeilen auf der Titelseite gekannt) Anpassungen an diese neue Art von 98  D.

Starkey, Crown & Country (Anm. 10), 452. Stuchtey, Wilhelm IV. (1830–1837), in: Englands Könige und Königinnen, hrsg. v. P. Wende (Anm. 19), 260–267, 263. 100  London, Monday, December 16, 1861, in: The Times, 16. Dezember 1861, 8. 101  Ebd. 99  Benedikt



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sensationsgetriebenem Journalismus verweigerte102, paßte die Verklärung eines quasi-bürgerlichen Prinzgemahls trefflich – „a foreigner of cultivated taste and clear judgement“, der nicht britische Nabelschau betrieben, sondern Mißstände aufgedeckt habe, „which our insular pride probably had prevented us from discerning in ourselves“. Insbesondere Alberts Beitrag zur Verbesserung der Manufakturen wurde hervorgehoben, sein Engagement für die Weltausstellung des Jahres 1851, nicht minder seine Impulse für die Gestaltungskunst, „probably destined to regenerate the taste of the country, and bring our powers of decoration to a level worth our astonishing fertility of creation“. Die Leistungen des Prinzregenten wurden gerühmt, sein Wesen als ein edles gelobt. Dennoch festigte die „Times“ ganz andere Bande des Gedenkens, nämlich diejenigen des Mitgefühls: „thinking only of the beraeaved wife and the fatherless children who are mourning round the bed of untimely death, let us spray our tribute of sympathy and condolence. The expression of national sorrow is not a vain ceremony in the ease of such a man as has just departed“, überhaupt erschien das gemeinsame Leben des königlichen Paares dem Ideal irdischen Glücks zu entsprechen103: Es gab ein populäres, von keinem Skandal getrübtes Bild ab. Umso düsterer war also die Trauerstimmung, nachdem Alberts Stern stets so hell am bürgerlichen Wertehimmel geleuchtet hatte: Sein Familienidyll, von einem frühen Faible für Photographie durch entsprechende Bildabdrucke gefördert, wirkte auf die Oberschicht zwar eher abstoßend, auf die aufstrebenden Mittelschichten hingegen höchst anziehend104, auch noch im Tode – trug Victoria doch für den Rest ihres Lebens ein schlichtes schwarzes Trauergewand. Albert nun hatte ein gänzlich skandalfreies Leben hinter sich; auch auf seine Gemahlin Victoria fielen später nur kleinere posthume Schatten wie die Affäre um die todkranke, vermeintlich schwangere Hofdame Flora Hastings oder die Gerüchte um ihren Diener und vermeintlichen Liebhaber John Brown. Daß einschlägige Hinweise und Anschuldigungen im Nachruf auf die Königin in der „Times“ des Jahres 1901 ausblieben, lag auch an der enormen Dauer ihrer Regierung, die lange Zurückliegendes vergessen machte. Victorias Regierungszeit war unvergleichlich: ihrer Dauer halber und der massiven Veränderungen des Empires halber, so hob ein erster Nachruf in der „Times“ schließlich an, der einen „ruler of a new type“ beschrieb – ganz im Sinne des einstiges Nachrufes auf Albert wurde Victoria attestiert, „she lived all her life subject to the guidance of wise men. But to accept the guidance of the wise is in itself a sign of too rare wisdom“105. 102  The History of The Times, Bd. 2: The Tradition Established. 1841–1884, London 1939, 307. 103  London, Monday, December 16, 1861, in: The Times, 16. Dezember 1861, 9. 104  K. Urbach, Die inszenierte Idylle (Anm. 25), 25 f. 105  Queen Victoria. Life and Reign, in: The Times, 23. Januar 1901, 3.

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Noch im Tode wirkte nach, was Victorias politisches Leben teils erschwert, teils aber auch erleichtert hatte: ihr Geschlecht, weil die harmlose Weiblichkeit106 der Königin sie vor mancher Kritik bewahrt hatte – misogyne Abwertungen verhinderten eben auch negative Zurechnungen. Victoria hatte derlei freilich forciert, sich geradezu als Mittelklassen-Frau wahrnehmen lassen107, bis hin zu eigentlich unvorteilhaften Photographien, „to put her ordinariness on royal display for popular admiration“108. Diese Monarchie war zum Anfassen gedacht, wortwörtlich, zum Nachempfinden. Denn die oberste Repräsentantin des Empire war eine vergleichsweise kleine, schlichte und obendrein nicht sonderlich anmutige Gestalt109, eben eine Durchschnittsexistenz. Gerade auf diese Weise der vorsätzlichen Mediokrität konnte allerdings der Matrosenanzug des kleinen Prinzen von Wales seit dem Jahre 1846 zum allseits beliebten Modevorbild werden110, ein Kleidungsstück, das früheren Königskindern ganz und gar nicht geziemt hätte. Sorgfalt, Moral, Sparsamkeit und häusliches Glück hatte Victoria inszeniert111. Diese Leistungen würdigte die „Times“ dezidiert. Wie im Privatleben milde Fragen und gesichtswahrendes Schweigen ein mächtiges Kontrollmittel darstellten, unter Verzicht auf die Anmaßung absoluter Autorität, so habe Victoria Staatsmänner zu beeinflussen gewußt, gar das „level of public morality“ erhöht112. Hier erschien die Verstorbene als Moderatorin des Wandels, weniger als dessen treibende Kraft: Fortschritt und Innovation, die der folgende Überblick über ihre Regierungszeit heraushob, machte er kaum an der Königin fest, ohne ihren Beitrag zur Stabilität der britischen Institutionen zu verschweigen. Aber selbst bei dieser unnachahmlichen Königin trug eben ein kleiner Skandal ganz entschieden dazu bei, ihr Prestige zu mehren, nicht etwa, es zu schmälern; der Nachruf widmete immerhin zwei Drittel einer Spalte dem „Bedchamber Plot“, übrigens nicht weniger als dem Teilkapitel „The Queen and Public Affairs“ – und nicht unbedingt zu Gunsten der verstorbenen Königin, die als schlecht und bis zu ihrer Hochzeit obendrein als allein von Frauen beraten geschildert wurde113. Rückblickend bedauerte die „Times“ im übrigen, was 106  Margaret Homans, Royal Representations. Queen Victoria and British Culture, 1837–1876, Chicago / London 1998, 19. Darauf hatte schon der Zeitgenosse Walter Bagehot verwiesen: William M. Kuhn, Democratic Royalism. The Transformation of the British Monarchy, 1861–1914, Basingstoke 1996, 29. 107  Homans, Royal Representations (Anm. 106), 5. 108  Ebd., 46, 55. 109  D. Starkey, Crown & Country (Anm. 10), 471. 110  J. Parry, Whig monarchy, Whig nation (Anm. 11), 58. 111  J. A. Thompson / Arthur Mejia, Jr., The Modern British Monarchy, New York 1971, 10. 112  Queen Victoria. Life and Reign, in: The Times, 23. Januar 1901, 3. 113  Ebd., 4.



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schon das Bedauern der damaligen Londoner gewesen sei: „that a ceremony so fair did not take place in Westminster Abbey“114. Derlei Bemerkungen verbanden sich mit einem Lobpreis der königlichen Familie; der Nachruf hob die rastlose Sorge der Königin um die Erziehung ihrer Kinder hervor, setzte die ereignisreiche Geschichte des Staates in einen Gegensatz zum Privatleben: „the Queen’s familiy life was a most happy one“115. Schließlich hob der mehrseitige Nachruf hervor, daß mehrere Hundert Millionen Untertanen „not only the best of rulers but a personal benefactress“ verloren hätten, eine einzigartige Frau „whose small frame was permeated, so to speak, with Royal dignity, whose house life was so simple and pure, and whose intelligence, with none of the brilliancy of her eldest daughter or of her Imperial grandson, was yet formed by work and long experience into a powerful instrument of life“116. Ganz in den Ruch des Gewöhnlichen stellte die Zeitung anläßlich des Herrscherwechsels auch den Thronerben Edward, dem es offenkundig zum Kompliment gereichen sollte, daß er bei einer niedrigeren Abkunft „might have become a succesful business man or an eminent administrator, for he possesses many of the qualities which command success in such spheres of action“, weil er so fleißig und zuverlässig arbeite117, wiederabgedruckt im späteren Nachruf auf Edward118: für frühere Thronfolger hätte derlei eine wüste Beleidigung dargestellt, für Edward VII. sollte es offenkundig ein eminentes Lob bedeuten. Erneut aber diente der Nachruf vor allem der Vermahnung. Der Leitartikel der „Times“ hob die vorbildhafte Lebensführung der Königin hervor, ein demonstrativ skandalträchtiges Lob, da der Thronfolger bislang durch zahlreiche Liebesaffären aufgefallen war, ganz und gar nicht als jenes moralische Vorbild, das seine Mutter der Zeitung zufolge hinterlassen habe: „Nothing has endeared the QUEEN more to the hearts of her subjects than the strenght and warmth of her domestic affections“119. Deshalb wirkte es nachgerade galant, daß selbst der Nachruf auf Edward VII. aus dem Jahre 1910 die „episodes now brilliant, now sad“ in seiner Prinzenzeit gar nicht erst ausführte; der Thronfolger habe seine Pflichten „with unfailing tact, assiduity, and good humour“ vollbracht. Entscheidend blieb, was dieser Nachruf eben nicht aufführte: jenes glückliche Familienleben, das man bei Victoria so gerühmt hatte, wurde nicht einmal angedeutet, dafür aber ausführlich der „baccarat case“ geschildert, „in which for the second time the Prince of Wales found it 114  Ebd.,

4. 5. 116  Ebd., 8. 117  The King: A Loyal Appreciation, in: The Times, 23. Januar 1901, 10. 118  King Edward. Life and Reign, in: The Times, 07. Mai 1910, 8. 119  Court Circular and News, in: The Times, 23. Januar 1901, 11. 115  Ebd.,

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desirable to give evidence in a lawsuit. The whole Affair was extremely disagreeable to all concerned, and many sharp and not unreasonable things were said about the undesirability of an Heir-Apparent playing games of chance in the houses of the nouveaux riches“120. Die „Times“ verschwieg nicht, was den Zeitgenossen auch ohne explizite Berichterstattung bekannt war: daß Edward VII. einen notorischen Schürzenjäger abgegeben hatte, der immerhin gelegentlich seiner Frau Alexandra treu geblieben war, ganz wie Victoria als Hort der Familie dargestellt121. Tatsächlich hätte der Genußmensch wohl einen viel übleren Nachruf als seinerzeit George  IV. verdient gehabt. Wohl auch in der Wahrnehmung seiner Eltern, die einen skandalträchtigen, der Monarchie schädlichen Wiedergänger ­Georges IV. per energischer Erziehung zu verhindern gedacht hatten122, hatte sich der Kronprinz als herbe Frustration erwiesen; daß Prinz Albert ausgerechnet verstarb, nachdem er dem notorischen Schürzenjäger in Cambridge einen Ermahnungsbesuch abgestattet hatte, hatte die Enttäuschung ebenso wie jene Skandale gemehrt, die den Königssohn vor Gericht brachten – nur Spitzen ganzer Eisberge von Verfehlungen: der Bakkarat-Skandal und jener Ehescheidungs-Prozeß, in dem der Prinz zwar nur als Zeuge ausgesagt hatte, aber eben als Zeuge, dessen Unterordnung unter die gewöhnliche Rechtsprechung schon ein unmißverständliches Signal royalen Machtverlusts (oder anders gesagt: der unbedingten Rechtsstaatlichkeit) aussandte123, auch aristokratischer Liederlichkeit. Mochte Edward auch lediglich als Zeuge geladen gewesen sein: Die öffentliche Wahrnehmung war eine andere, er wurde durchaus als Ehebrecher betrachtet124. Verglichen mit anderen Skandalen der Epoche genossen diejenigen Edwards VII. freilich bis in den Tod hinein eine Sonderstellung: Seine Verfehlungen wurden gerade nicht politisch aufgeladen125. Ganz im Gegenteil dienten selbst vermeintlich schlechte Nachrichten dem guten Zweck, den Prinzen und später den König als Menschen ins Gespräch zu bringen – und je prächtiger (und mithin skandalöser, weil verschwenderischer) die Inszenierung, desto besser. Überhaupt waren monarchische Inszenierungen im späten 19. Jahrhundert forciert worden. Gladstone hatte unter anderem einen pompösen Dankgottesdienst für die Genesung des jungen Albert arrangieren lassen, als Wendung 120  King

Edward. Life and Reign, in: The Times, 07. Mai 1910, 7. A. Thompson / A. Mejia, Jr., The Modern British Monarchy (Anm. 111), 22 f. 122  D. Cannadine, The last Hanoverian sovereign? (Anm. 20), 138. 123  F. Bösch, Öffentliche Geheimnisse (Anm. 43), 373–375. 124  H. Montgomery Hyde, A Tangled Web. Sex Scandals in British Politics and Society, London 1986, 99. 125  M. Kohlrausch, Monarchische Repräsentation in der entstehenden Mediengesellschaft (Anm. 4), 116. 121  J.



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gegen einen bis dato noch aggressiven Republikanismus126, erweitert um andere Gelegenheiten, bei denen die königliche Familie durch vorbildliche Pflichtausübung die höheren Klassen, über diese die Mittelklassen, über diese wiederum die Unterklassen erreichen werde127. Doch Edward VII. gab sowohl ein normatives Vorbild als auch ein deskriptives Abbild eines amüsierten Herrschers. Es gereichte dem verstorbenen Monarchen wohl gerade zur Sympathie, daß er den heiklen Spagat zwischen Grandeur und dem Allzumenschlichen bewältigt hatte128; weil Victoria kaum Hof gehalten hatte, hatte Edward – der mit seinem Herrschaftsantritt erst den Buckingham-Palast zum Ort eines ostentativ glamourösen Königtums machen sollte129 – einen schlagzeilenträchtigen Ersatz-Hof gepflegt130, den die „Times“ noch diskret verschweigen konnte, nicht aber den Bakkarat-Skandal. Die Falschspielerei im Hochadel, bei deren Verhandlung vor Gericht der Kronprinz öffentlich hatte aussagen müssen, hatte einerseits die augenscheinliche Verantwortungslosigkeit des Thronfolgers sowie der Eliten inszeniert131 und der Presse Anlaß zu heftiger Kritik am Kartenspiel gegeben132. Andererseits aber hatte der junge Albert Edward damit die Laster des gewöhnlichen Mannes geteilt; zeitgenössische Karika­turen galten einem widerspenstigen Prinzen133, dem die gestrenge Mutter dem „Punch“ zufolge Verfehlungen wie schlechte Gesellschaft, Spielen, Schauspielerinnen, Trinken, Schulden, laxe Moral, „too, tooo, too fond of Baccarat“134 vorgehalten hatte. Derlei schadete dem Ruf des Prinzen in höchsten Kreisen, aber förderte seine Popularität, ganz im Sinne des Urteilsspruches aus dem Bakkarat-Skandal: Ein Prinz, so hatte das Gericht einst verkündet, müsse sich ebenso von harter Arbeit erholen dürfen wie der kleine Mann135. Edward VII. gelang also das Kunststück, eher wegen als trotz seiner Skandale Popularität zu genießen. Der Nachruf der „Times“ rühmte seine außen­ politischen Netzwerke, zu denen anscheinend auch laxe hochadelige Unsitten 126  W.

M. Kuhn, Democratic Royalism (Anm. 106), 47. 54. 128  J. A. Thompson / A. Mejia, Jr., The Modern British Monarchy (Anm. 111), 31. 129  Ebd., 28. 130  J. Paulmann, Eduard VII. (Anm. 19), 298. 131  J. A. Thompson / A. Mejia, Jr., The Modern British Monarchy (Anm. 111), 24 f. 132  Michael Havers / Edward Grayson / Peter Shankland, The Royal Baccarat Scandal, London 1977, 244. 133  Antony Taylor, An aristocratic monarchy and popular republicanism 1830– 1940, in: The Monarchy and the British Nation, hrsg. v. A. Olechnowicz (Anm. 6), 188–219, 207. 134  Stanley Weintraub, Edward the Caresser. The Playboy Prince Who Became Edward VII, New York 2010, 324 f. 135  F. Bösch, Öffentliche Geheimnisse (Anm. 43), 386. 127  Ebd.,

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gehörten, überhaupt seine politische Informiertheit bei unpolitischer Amtsführung. Größte Prominenz im Tode fand ein anderer Aspekt seines Lebens: „The King as a Sportsman“ handelte von den sportlichen Qualitäten des Königs, die gar nicht genug gerühmt werden könnten – keineswegs nur beim Pferderennen und beim Schießen: „Like so many of his subjects, he was smitten somewhat late in life with what may almost be called a passion for golf“, so sehr, daß in Windsor gar ein eigenes Grün angelegt worden sei; daß Edward  VII. kaum einmal die Cowes Regatta versäumt habe, „where he won several prizes“, fand ebenso Hervorhebung wie seine Begeisterung für den Reitsport. Der mehrfache Derbygewinner wußte der „Times“ zufolge, was er dem Publikum schuldig sei, als ein Pferd zu krank für ein Rennen schien: „The prince, however, like the good sportsman that he was, determined that the public should not be disappointed, and ordered that Persimmon should go“136. Selbst seine Liebe zu Hunden fand Würdigung, habe der Kronprinz doch ein einstimmiges Votum des Kennel Clubs gegen das Kupieren von Hundeohren bewirkt. Umso stärker wirkt freilich der Kontrast, daß über die Liebe des Königs zu seinen Kindern ganz und gar nichts zu lesen war; der Nachruf erwartete eine andere Trauer als um seine Mutter, nämlich die Trauer „for a Sovereign who did much for his country at a critical times, and would, as we all hoped, have done much more; the mourning for one who was essentially a man among men, and who thougt nothing human alien from himself“137. Mit solch neu-humanistischem Understatement ließen sich Skandale auch bezeichnen: Zu den Geschichten, die den verstorbenen König populär gemacht hatten, zählten eben auch und gerade die Geschichten seiner ordinären menschlichen Verfehlungen. Nicht umsonst rühmte der Leitartikel die „broad human sympathies of KING EDWARD which gave him his firm hold upon the hearts of his subjects. He was indeed a man among men, and the British people, and yet more perhaps the Irish people, instinctively love a man. Nothing struck them more and nothing pleased them better than his open and manifest joy in life. He loved it for himself, and he loved to bring in into the lives of others“, argumentierte der Artikel und erklärte Edwards VII. Beliebtheit bei den Massen: „They liked to see him taking his pleasures with a zest greater than their own“138. Auf einmal gereichte es einem verstorbenen König zur Ehre, ein bekennender Lüstling gewesen zu sein. Überhaupt schienen der „Times“ nun die Massen der Aufmerksamkeit der lesenden Eliten wert. Seit Edwards  VII. Beerdigung schilderte die Zeitung insbesondere die Reaktionen des Publikums, das sich am Palast versammelt 136  King

Edward: Life and Reign, in: The Times, 07. Mai 1910, 8. 9. 138  The Death of the King, in: The Times, 07. Mai 1910, 11. 137  Ebd.,



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hatte, damals in geziemend ruhiger Trauer: „Social distinctions were forgotten, rich and poor turned to one another for sympathy, and each in their own way gave expression to the general grief“139. Die einfache Bevölkerung mit all ihren Lastern hielt hier gnädiges Gericht über den Verstorbenen ab, nicht eine vermeintlich tugendhafte Elite; daß die „Times“ seit ihrer Übernahme durch Baron Northcliffe im Jahre 1908 eine Massenleserschaft anzusprechen suchte,140 fügt sich in dieses postmortale Lebensbildnis eines skandalträchtigen, aber nicht als skandalös empfundenen Herrschers – der König wurde in jeder Hinsicht massenkompatibel dargestellt. Der Skandal betraf den Menschen, nicht den Herrscher. V. George V. und Edward VIII.: Vom Nutzen und Nachteil der Volksnähe Zur Popularität brauchten die britischen Monarchen keineswegs zwingend Skandale, wie es die bisherigen Beispiele lehren. Doch Skandale konnten von doppeltem Nutzen sein. Was der Elite Skandal war, stiftete womöglich Identifikationspotential beim kleinen Manne – und vice versa: Wer sich wie etwa die Mitglieder der Bloomsbury Group als intellektuelle und sozialmoralische Avantgarde verstand, hätte eher viktorianische Kategorien des Skandals für skandalös gehalten als skandalisierte Verstöße gegen die viktorianischen Sitten selbst. Zudem taugte der Skandal des einen Monarchen zum Hintergrund, vor dem der nächste zu glänzen vermochte. So verhielt es sich auch bei George  V., dem Sohn Edwards  VII., der einen gänzlich im Wortsinne konventionellen und untadeligen Monarchen verkörperte141 – in einem schwierigen Zeitalter. Denn einerseits ließ das Interesse an der Monarchie in seiner Regierungszeit ob ihrer schwindenden politischen Relevanz derart frappierend nach, daß die „Times“ sich weigerte, dieses und künftige Zeitalter weiterhin nach Herrschern zu benennen: „History, which now prefers to construct its chapters in movements rather than in reigns, will nearly be able 139  The

Scene outside the Palace, in: The Times, 07. Mai 1910, 12. History of The Times, Bd. 3: The Twentieth Century Test. 1884–1912, London 1947, 580. Auch unter Senkung des Verkaufspreises gelang es im März des Jahres 1914, die Auflage binnen weniger Wochen auf mehr als einhundertundfünfzigtausend Exemplare zu verdreifachen; insbesondere im Ersten Weltkrieg empfand Northcliffe sich als Repräsentant der Massen, der nachgerade verpflichtet sei, auch die Kriegspolitik intensiv zu beeinflussen.  – John M. McEwen, The National Press during the First World War. Ownership and Circulation, in: Journal of Contemporary History 17 (1982), 459–846, 467; D. G. Boyce, Crusaders without chains. Power and the press barons 1896–1951, in: Impacts and Influences. Essays on media power in the twentieth century, hrsg. v. James Curran / Anthony Smith / Pauline Wingate, London / New York 1987, 97–112, 101. 141  D. Starkey, Crown & Country (Anm. 10), 480. 140  The

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to blend the old practice with the new when it comes to the years of KING GEORGE V.“142. Andererseits nahm das Interesse an den Monarchen und ihrem Familienleben stark zu; Geschichte aus der Royal Family füllten die breiter werdenden Spalten der um 1900 entstehenden Regenbogenpresse143. George V. und schon sein Vater Edward VII. pflegten auch in Reaktion darauf bisweilen einen landadeligen144, bisweilen aber auch einen geradezu kleinbürgerlichen Lebensstil. Dieser doppelte Gestus war gewollt; die zeitgenössischen Versuche, die Massen mit historischen Gewändern zu beeindrucken, bewirkte neben der erwünschten Loyalität allerdings auch Lächerlichkeit145. Überhaupt wandten sich die Könige nunmehr gezielt der Öffentlichkeit zu, ganz konkret etwa in Gestalt eines hauptamtlichen Pressesekretärs, der im Jahre 1918 erstmals berufen wurde146, in Gestalt des neuen Genres der offiziellen, autorisierten Königsbiographie, die in den 1950er Jahren George V., George VI. sowie Königin Mary zu Freunden der Arbeiter erklärte147, in der Platzschaffung für Inszenierungen, konkret in der zwischen den Jahren 1906 und 1913 erweiterten Londoner Mall, die nun auf das Victoria Monument und auf die neue Fassade des Buckingham-Palastes ausgerichtet war148, in der Verlegung königlicher Hochzeiten nach Westminster Abbey seit dem Jahre 1922, weil sich dort bessere Öffentlichkeits-Effekte erzielen ließen149. Anläßlich des Thronwechsels im Jahre 1910 bestand namentlich der Erzbischof von Canterbury auf der Bedeutung von Photographien, die es den Ärmeren erst möglich machten, die Ereignisse in der königlichen Familien nachzuerleben150 – im festen Vorsatz, zwischen Pomp und ruhiger Bescheidenheit die Wage zu halten151. Um sichtbar zu werden, pflegte George  V. intensive Begegnungen, etwa in Fabriken152 oder beim Besuch des FA CupFinales153. So nahm einerseits die einfache Bevölkerung am Leben des Kö142  King 143  D.

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George V., in: The Times, 21. Januar 1936, 13. Cannadine, Die Erfindung der britischen Monarchie 1820–1994 (Anm. 37),

144  A. Taylor, An aristocratic monarchy and popular republicanism 1830–1940 (Anm. 133), 193. 145  W. M. Kuhn, Democratic Royalism (Anm. 106), 137. 146  Frank Prochaska, Royal Bounty (Anm. 35), 187. 147  A. Olechnowicz, Historians and the modern British monarchy (Anm. 13), 9. 148  F. Prochaska, Royal Bounty (Anm. 35), 187; J. Parry, Whig monarchy, Whig nation (Anm. 11), 69. 149  D. Cannadine, Die Erfindung der britischen Monarchie 1820–1994 (Anm. 37), 49. 150  W. M. Kuhn, Democratic Royalism (Anm. 106), 104. 151  Ebd., 92. 152  J. A. Thompson / A. Mejia, Jr., The Modern British Monarchy (Anm. 111), 45. 153  J. Parry, Whig monarchy, Whig nation (Anm. 11), 70.



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nigshauses teil154, andererseits das Königshaus am Leben der einfachen Bevölkerung. Noch bedeutsamer als die neue Sichtbarkeit der Herrscherfamilie geriet bald ihre Hörbarkeit; die Zahl der Reden und Ansprachen wuchs, vor allem nutzte der König ein neues Medium – seit sich die erste Weihnachtsansprache im BBC-Radio im Jahre 1932 als großer Erfolg erwiesen hatte, die den späteren König George VI. als Stotterer so sehr unter therapeutischen Zugzwang setzte155, nachmals ebenso einfühlsam wie monarchiefreundlich verfilmt in „The King’s Speech“ (2010). Auch der Tod König Georges V. im Jahre 1936 fand für die „Times“ in der Öffentlichkeit statt; wie die Menge „anxious rather than impatient“ auf Neuigkeiten aus dem Palast gewartet habe, schilderte sie ausführlich.156 Ihr Leitartikel bestand auf der Ehrung eines Lebens, „that accepted and transmits the high Victorian concept of private and public duty“157, Lord Balfour zitierend „‚the King is everybody’s King‘“158. Der Monarch galt hier als Einheitsfaktor, weil sich die Nation mehr als jemals zuvor geneigt habe „to the monarchy as the focus and expression of its unity, to an institution not so much raised above it as set firmly and intelligibly in its midst“; schließlich hätten der verstorbene König und seine Frau ein „unstudied example of good citizenship at its highest and simplest“ gegeben – „the word ‚home‘ meant for them exactly what it means for the most home-loving of their subjects“. Daß der so verfassungstreue George  V. anders als Edward  VII. eben nicht als Mann des Volks erschienen sei, gereichte ihm allerdings zu posthumem Lob: „KING GEORGE’S community with the national spirit was not less intimate, but it was in the other and more serious tradition. It was the bond of homely things and homely standards prized in common by the KING and by innumerable households throughout the Empire. There was nothing cosmopolitan in his tastes. No Englishman had a firmer prejudice in favour of his own land“, führte die „Times“ aus und erwähnte, wie der König einst Rugbyund Fußballspielen beigewohnt habe159. Überhaupt geriet der Patriotismus des Königs in den Mittelpunkt, der mehr als jeder andere auf seine englische Herkunft stolz gewesen sei – die Umbenennung der Dynastie zum Hause „Windsor“ im Ersten Weltkrieg hatte also verfangen, „in nothing perhaps was he more typically at one with his subjects than in the eager interest which he took in any form of essentially manly sport, from the ascent of Mount Everest to the Cup Tie Final. His own re154  J.

A. Thompson / A. Mejia, Jr., The Modern British Monarchy (Anm. 111), 51. Williamson, The monarchy and public values 1910–1915 (Anm. 27), 226. 156  At the Palace Gates, in: The Times, 21. Januar 1936, 12. 157  King George V., in: The Times, 21. Januar 1936, 13. 158  Ebd. 159  Ebd. 155  P.

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creations were shooting and yachting. After the death of his father he took up racing, and became genuinely interested in tit – although he never attained the same success on the Turf as King Edward“, ergänzte die „Times“ und beschrieb vor allem den glücklichen Familienmenschen: „He was never so happy as in his own family circle, and he will be remembered as a model husband and father“, auf diese Weise ein „human bond between CROWN and people“160 umschreibend. Zeitgenossen suchten sich gar in diesen Zirkel einzuschleichen, namentlich Stanley Baldwin, der konservative Premierminister, der sich an die letzte Abreise für den Urlaub ins jeweilige Zuhause erinnerte, der König nach Sandringham: „we were rejoicing together, for we both love the same kind of holiday, and we were going to spend it with our own children and with our own grandchildren at our own home in the country“161. Der Banalitäten gab es noch mehr zu vermelden, nämlich das königliche Briefmarkensammeln, „a life-long hobby and one of the greatest pleasures of his life“: „Philatelists of all nations mourn the loss of the King, who was the chief patron of their cult“162. Auch vergaß die „Times“ nicht, wie „tremendous“ die Wirkung der ersten Radioansprache am Weihnachtstag des Jahres 1932 gewesen sei163. In diesem Nachruf kündigte sich schon eine Verpflichtung des Thronerben an, sei doch Georges V. Charakter immun für Kritik gewesen: „for his qualities of blunt sincerity, of devotion to duty, of determination to do that which he was doing with all his might, will be dear to the hearts of all who were his people wherever the English tongue is spoken and so long as the English name is honoured“164. Die nachgerufene Popularität Georges V. war erneut als Vorbote gemeint, als Forderung gegenüber dem neuen König. Der Gegensatz zu seinem Nachfolger Edward VIII. war erstmals auch ikonographisch greifbar, zum ersten Mal war ein Nachruf mit zahlreichen Bildern versehen: mit mehreren Seiten füllenden Photographien eines kernigen Mannes mit wuchtigem Schnurrbart, in voller Aktion als „Sailor King“, als „Sportsman“, als „Yachtsman“, an der Weltkriegsfront, aber auch in den Ferien, während der neue König mit seinen eher sanften Gesichtszügen in einem feingliedrigen Porträt abgedruckt wurde, zwar in Uniform, aber noch nicht einmal mit dem Anflug eines männlichen Bartschattens165. Derlei immerhin wies den neuen Herrscher als Herrscher einer neuen Generation aus, als erneuerungsfreudigen Monarchen: „Men, not 160  Ebd.

161  „He Served His Generation“. A King Dedicated to Duty: Mr. Baldwin’s Broadcast Tribute“, in: The Times, 22. Januar 1936, 7. 162  The Late King As Philatelist. A Lifelong Hobby, in: The Times, 22.  Januar 1936, 8. 163  King George V., in: The Times, 21. Januar 1936, 15. 164  Ebd., 16. 165  The Times, 21. Januar 1936, 16; ebd., I–IV.



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books are his library, as they were for the last KING EDWARD, and he has the same power to learn from them“ – selbst die „Times“ sehnte sich klammheimlich nach einem volksnahen Herrscher, nach einem „true participator in the modern mind“, der sich für die Luftfahrt einsetzte166. Darauf hatte auch die Labour Party gesetzt, die nicht einmal elf Monate später die Abdankung des Königs bedauerte, zitiert in der „Times“: Edward VIII. sei als Prinz „sympathetically and progressively minded“ gewesen und habe als König „great interest in the well-being of the poorer sections of his people“ gezeigt, etwa mit den Bergarbeitern167. Diesen „concern for industry, employment and unemployment“ rief die „Times“ dem zwar nicht verstorbenen, aber dennoch gewesenen König im Dezember des Jahres 1936 nach; doch letztlich stand alle Beurteilung im kurzfristigen Schatten der Abdankung, diese wiederum angetrieben von „competitive scandal-mongering“ auf der anderen Seite des Atlantiks168; immerhin hatte die „Times“ lange nicht über die delikate Hochzeitsangelegenheit berichtet.169 Als Schock für jeden Haushalt bezeichnete der Leitartikel daher den plötzlichen Thronverzicht, beklagte auch die wabernden Gerüchte – nicht ganz uneigennützig, weil der Verzicht der britischen Zeitungen auf eine entsprechende Gerüchte­ erstattung mögliche Auflagenschübe der „Times“ selbst verhindert hatte, aber mit der Gewißheit, „that the institutions are incomparably more important than the happiness of any single individual, however closely he may have become identified with them and however strong his hold on the popular affections“170. Immerhin hatte sich Edward VIII. als politischer Monarch empfunden und sich für kräftige Staatsinterventionen in die Wirtschaft zugunsten der Arbeiter stark gemacht171. Doch zählte derlei für die „Times“, solchen Konzepten aus anderen Gründen abgeneigt, weitaus weniger als die Pflichtvergessenheit des Königs und sein Anspruch, eher die britische Moral neu bestimmen als sich von ihr bestimmen lassen zu wollen. Vergleichsweise unverhohlen mahnte die „Times“ an, daß ein elitärer und ostentativ un-populärer Lebenswandel den kaum inthronisierten König um sein Amt gebracht hätten: „Above all let us have no talk of ‚romance‘ about what is indeed a drama, but a drama of the deepest tragedy“. Edward VIII. sei von einer Kamarilla schlecht beraten gewesen, der Konflikt habe nicht zwischen einem Volks- und einem 166  King

Edward VIII., in: The Times, 22. Januar 1936, 11. of King Edward VIII. Final Appeal by the Cabinet Rejected, in: The Times, 11. Dezember 1936, 7. 168  History of the Crisis. Rumour and Fact, in: The Times, 11. Dezember 1936, 10. 169  The History of The Times, Bd. 4–2: The 150th Anniversary and Beyond. 1921– 1948, London 1952, 1034. 170  King Edward’s Choice, in: The Times, 11. Dezember 1936, 17. 171  J. A. Thompson / A. Mejia, Jr., The Modern British Monarchy (Anm. 111), 75 f. 167  Abdication

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Adelskönig bestanden, sondern „between the thoughtlessness of an exotic society and the hard core of a British tradition of conduct which is common to all classes in this country“; kurzum, der König schien den Kontakt mit der Bevölkerung verloren und deshalb Popularität eingebüßt zu haben. Darin bestand der eigentliche Skandal aus Sicht der „Times“, weniger in der problematischen Ehe mit einer geschiedenen Bürgerlichen – und noch mehr in der Selbstbezogenheit des Monarchen. Kaum wollte und konnte die Tageszeitung glauben, daß der König seine Talente „to a personal preference for another way of live“ opfern würde172. Wie auch immer man zu Edwards  VIII. persönlichen, aber gerade eben nicht privaten Problemen stehen mochte: Unterhaltsam war die Affäre allemal, wie es der exzentrische Schriftsteller Evelyn Waugh in seinem Tagebuch festhielt. „The Simpson crisis has been a great delight to everyone“, notierte der libertäre Autor, um anschließend seine Neugier an frischen Ankündigungen über den Heirats-Skandal zu bekunden: „Reading the papers and even listening to announcements that there was no news on the wireless took up most of the week“173. Doch einmal mehr diente der Skandal prompt einer Neuerfindung der Monarchie. Edwards jüngerer Bruder und Nachfolger George gab zum exzentrischen, dandyhaften und abgehobenen König den maximalen Kontrast ab: pflichtbewußt, unauffällig, uneitel, familienorientiert – nicht umsonst setzte die „Times“ ein Privatidyll von George VI., seiner Frau und den beiden Töchtern Elizabeth und Margaret in die Mitte der Photoseite, die dem neuen König galt174. Edward hatte einen Konsens aufgestört, den der den Kommunisten nahestehende Glasgower Unterhausabgeordnete Campbell Stephen lustvoll attackierte: „He knew that the new Monarch was a married man, but so was Mr. Simpson, and just as it happened with others, so also it might happen here“ – intelligente Menschen könnten nun eine vernünftige Regierungsweise ersinnen, „in accordance with the needs and difficulties of to-day“175, während Neville Chamberlain unter lautem Beifall auf die Funktion des Monarchen verwies: „If the Monarchy is cloud­ed in sorrow they are the first to sympathize and their sympathy is among the most sincere. When there is occasion to rejoice, in these back streets there are no civic processions and no civic decorations; the fête is the people’s own fête in honour and affection for the wearer of the Crown“176. 172  Kings

Edward’s Choice, in: The Times, 11. Dezember 1936, 17. Diaries of Evelyn Waugh, hrsg. v. Michael Davie, London 1976, 415 (Freitag, 04. Dezember 1936 – Dienstag, 08. Dezember 1936). 174  The New King. The Duke of York Succeeds His Brother, in: The Times, 11. Dezember 1936, 20. 175  Parliament, in: The Times, 12. Dezember 1936, 7. 176  Ebd., 8. 173  The



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Der abgedankte König setzte dagegen auf Gefühle, er habe es als unmöglich empfunden, „to carry the heavy burden of responsibility and to discharge my duties without the help and support of the woman I love“177; die „Times“ reagierte mit einem Leitartikel, der insbesondere die Urteilskraft eines freien Volkes beschwor, „The nation has treated a great issue worthily, is thought moving steadily and soberly, with reluctance but without sentimentality, with searching of heart but without tumult, towards a firm conviction of the duty that might be laid upon it“178 – unter populärer Zustimmung: „They care because they are very sensible that the Monarchy is not the luxury of an aristocratic class, but the shelter and bulwark of all classes, and very specially of the poor“179. So vermittelte die „Times“ zugleich eine negative Einschätzung des abgedankten Königs und eine positive Einschätzung, was eigentlich des Königs Amte sei. Das Leben eines Snobs jedenfalls nicht, auch nicht eine aktive Einmischung in die Politik; verglichen mit seinem Vater hatte Edward  VIII. als König nachgerade autokratisch agiert180, hatte zugelassen, daß sich unter Führung Winston Churchills zum ersten Mal seit Generationen wieder eine königliche Partei formierte, hatte unwirsch auf bewährte Zeremonien reagiert und sich gelangweilt bei Veranstaltungen ablichten lassen181, hatte vor allem eine Grundregel verletzt: Skandale mußten tunlichst volksnah sein, die gewählte Gattin zumal. Darauf hatte auch Premierminister Stanley Baldwin bestanden, als er dem König die Unmöglichkeit einer Heirat mit Wallis Simpson zu erklären suchte: „ ‚Because the King is not a man but a job‘ “182, könne der König eben nicht nach Belieben heiraten  – während Edward  VIII. dem Premierminister dessen Blick auf Meinungsumfragen vorhielt, bestand dieser auf einem kuriosen Prärogativ bei einer königlichen Heirat: „ ‚the voice of the people must be heard‘ “183. Die Nachfolger hielten sich daran, ohne daß sie das vor weiteren Skandalen bewahrt hätte.

177  King Edward’s Farewell. ‚My Choice Alone‘: A Broadcast From Windsor, in: The Times, 12. Dezember 1936, 14. 178  The Abdication Act, in: The Times, 12. Dezember 1936, 15. 179  Ebd. 180  I. Hayden, Symbol and Privilege (Anm. 21), 73. 181  D. Cannadine, Die Erfindung der britischen Monarchie 1820–1994 (Anm. 37), 39 f. 182  Zit. P. Williamson, The monarchy and public values 1910–1915 (Anm. 27), 252. 183  Keith Middlemas / John Barnes, Baldwin. A Biography, London 1969, 995.

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VI. Edward VIII. und Lady Diana – George VI. und Elizabeth II.: Zwei gescheiterte Herzensmonarchen und zwei Vernunftkönige Edward starb gleich zwei Tode: den politischen Tod als abgedankter Edward VIII., den persönlichen als Herzog von Windsor, der sein weiteres Leben selbstgewählt im französischen Exil verbracht hatte. Bei seinem Tode im Jahre 1972 druckte die „Times“ den Leitartikel aus der Abdankungskrise des Jahres 1936 neuerlich ab: „it is proof of obstinacy rather than of strength that it must have reached in the face of a very human reluctance to abandon a position which afforded him so many proofs of success. For those of us who are most humbly and happily placed there is assuredly nothing but relief in being able to avoid the burdens of a Crown.“184 Der Tenor der Berichterstattung aber änderte sich, übrigens auch die Tiefe des Eindringens in königliche Gemüter: Andernorts wurde der verstorbene ehemalige König bald zum Gegenstand einer öffentlichen Psychoanalyse, die Diagnose lautete auf den unvermeidlichen Ödipus-Komplex185. Einen ganzseitigen Artikel wiederum widmete die „Times“ nun ihm, der seinen Thron der Liebe geopfert habe; sie lobte in den 1970er Jahren, in denen der „Winter of Discontent“ weniger ein Ereignis als ein ganzes Lebensgefühl meinte, einen modernen König, einen „ally of change“ – der durchaus richtig in seiner Einschätzung gelegen habe, daß neben anderen Traditionen eben auch die Tradition der Ehe nachlasse, daß die Wiederheirat von Geschiedenen durchaus im „movement of opinion“ gelegen habe, indes: „But he failed altogether to distinguish between what people will approve of in themselves and among their acquaintances and what they will approve of in their Sovereign“. Der Artikel hob Edwards  VIII. Aufgeschlossenheit hervor, auch seine Aufmerksamkeit gegenüber den Arbeitslosen in der Weltwirtschaftskrise – aber galt eben der Tragik eines Monarchen, der nicht nur Monarch sein wollte186. Ein Leitartikel griff das dramatische Thema noch am selben Tag auf, widmete sich der Tragödie, als die er das öffentliche Leben des verstorbenen Herzogs von Windsor empfand, und gestand ein, daß infolge des „change in manners“ die Ehe-Angelegenheiten des einstigen Königs kaum mehr ruchbar seien – nicht ganz, wie zwei Jahrzehnte später die Trennung von Charles und Diana beweisen sollte; Edward  VIII. sei ein „man of his times“ gewesen, höchst beliebt und ein vorzüglicher Modernisierer, aber eben daran geschei184  The Times leader, December 11, 1936. King Edward’s choice, in: The Times, 29. Mai 1972, 6. 185  Linda W. Rosenzweig, The Abdication of Edward VIII. A Psycho-Historical Explanation, in: Journal of British Studies 14 (1975), 102–119, 109. 186  Duke of Windsor. King who gave up a throne to marry the woman he loved, in: The Times, 29. Mai 1972, 9.



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tert, eine Barriere zwischen seinem privaten und seinem öffentlichen Leben zu errichten: „The public and symbolic character of the monarchy and its position at the apex of national life make unique demands on the lives of monarchs“187. Damit legte die „Times“ den wesentlichen Grund für das Überleben der Monarchie nach diesem Skandal offen: Könige, die gerade keine Barriere zwischen dem privaten und dem öffentlichen Leben errichteten.188 Das läßt sich gerade an der unmittelbaren Memoria König Georges VI. ablesen, Edwards  VIII. jüngerem Bruder: einst ein Stotterer, der lange Zeit als rede-, radio- und damit regierungsuntauglich gegolten hatte. Im Zentrum der ersten Seiten seines Angedenkens in der „Times“ des Jahres 1952 stand ein Bild, das den König mit dem jungen Prinzen Charles zeigte, links unten eine der kanonisch gewordenen Photographien, die das Königspaar inmitten der von deutschen Bombern erzielten Trümmertreffer am Buckingham-Palast zeigen189 – und so verdeutlichten, daß sich auch die königliche Familie im „People’s War“ befand190, seinerzeit oft auch im Fernsehen als Beispiele für Mut und Standhaftigkeit vorgeführt, während es dem Premierminister ­Winston Churchill oblegen hatte, statt solchen Bildern eher markige Worte zu liefern191. Die „Times“, die nach wie vor die archaische Rubrik des „Court Circular“ pflegte192 und auf diese Weise der Monarchie zu Prominenz im Blatte verhalf, evozierte also die einstige Bunkergemeinschaft. Doch ihr Leitartikel war eher furchtsam gehalten, passend zu den sinkenden Auflagen- und Gewinnzahlen der Zeitung,193 fürchtete um die Einheit des volatilen Commonwealth und des gerade zerfallenden Empire; George  VI. erschien ihm „not only a good and dutiful king, but a good and wise man“, der in die geschundene Zeit paßte – „He brought to all his royal tasks the determiniation and perseverance that enabled him, in his personal life, to overcome disability 187  The

Duke of Windsor, in: The Times, 29. Mai 1972, 7. politische Skandale einzig liberalen Demokratien wesenseigen seien, weil sie aus einer mißglückten Trennung zwischen Öffentlichem und Privatem resultierten, stellen als These auf: Andrei S. Markovits / Mark Silverstein, Macht und Verfahren. Die Geburt des politischen Skandals aus der Widersprüchlichkeit liberaler Demo­ kratien, in: Anatomien des politischen Skandals, hrsg. v. Rolf Ebbighausen / Sighard ­Neckel, Frankfurt am Main 1989, 144–169, 159. 189  Memorable Events in the Life of King George VI, in: The Times, 07. Februar 1952, 5. 190  P. Williamson, The monarchy and public values 1910–1915 (Anm. 27), 241. 191  Jeffrey Richards, The monarchy and film 1900–2006, in: The Monarchy and the British Nation, hrsg. v. A. Olechnowicz (Anm. 6), 258–279, 265. 192  John Grigg, The History of The Times, Bd. 6: The Thomson Years. 1966–1981, London 1993, 234. 193  Iverach McDonald, The History of The Times, Bd. 5: Struggles in War and Peace. 1939–1966, London 1984, 196. 188  Daß

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and affliction. These were the qualities that earned him the admiration and affection of his subjects and swiftly won their trust“194. Das Problem der Monarchie lokalisierte der Autor darin, daß der König „constitutionally“ nichts Falsches tun könne, „but, as a fallible human being, he is surrounded by innumerable pitfalls“, die George  VI. indes zuverlässig umgangen habe; er bewunderte die glückliche Heirat, „which delighted the nation and enabled him completely to fulfil himself“. Der Monarch hatte, anders als der unverheiratete, kinderlose Edward VIII., wieder fröhliches Familienleben an den Hof gebracht195. Darin lag auch die Summe eines Nachrufes, in der zugleich noch einmal das Defizit des überlebenden, abgedankten Bruders anklang: „The KING was in all things a devoted son, husband, and father, and in his own home, by precept and example, he has ensured the continuity of his own ideals“196, ganz das Gegenteil also des enttäuschenden Edward  VIII. und ganz eine Erwartung an die Nachfolgerin. Denn im selben Duktus war die Begrüßung Elizabeths II. gestaltet, nicht als Thronfolgerin geboren, ganz wie einst der Vater, und deshalb im Kontakt mit Kindern aus anderen Umständen aufgewachsen, ganz und gar nicht unter dem Druck einer „bookish education“, sondern vielmehr in einer breiten und empfindsamen Erziehung, die „above all her heart simple and open to human things“ habe werden lassen; gerühmt wurde, wie Elizabeth im Zweiten Weltkrieg vorbildhaft, gar gegen den Willen ihres Vaters in die Uniform des Women’s Auxiliary Territorial Service geschlüpft war197. Der Skandal um die Abdankung Edwards VIII. wies neuer Popularität die Richtung. Nun war die Reihe an Elizabeth, die der „Times“ als „representative of the younger generation“ galt198, eine Vernunftherrscherin wie ihr Vater. Daß sie länger regieren würde als einst Victoria, war damals nicht abzusehen. Also ist nur Raum für ein Zwischenfazit, das sich etwa mit dem vom Hofe unterstützten „Burke’s Guide to the British Monarchy“ ziehen läßt, erschienen im Jahre 1977 zum silbernen Thronjubiläum der Königin, die im reich bebilderten Buch als „truly remarkable person“ erscheint. Das wirkt insofern aufschlußreich, als der vom Palast unterstützte Führer dasselbe Thema in den Vordergrund rückte wie einst der Nachruf auf George VI. in der „Times“. Er betonte nämlich die „familiy unit“, nicht weniger als die „basis of civilization; and the united family life of The Queen and the Royal Family exemplifies the nation’s morality“ – nicht allein normativ, sondern 194  King

George VI, in: The Times, 07. Februar 1952, 7. A. Thompson / A. Mejia, Jr., The Modern British Monarchy (Anm. 111), 87; K. Middlemas / J. Barnes, Baldwin (Anm. 183), 995. 196  King George VI, in: The Times, 07. Februar 1952, 7. 197  God Save the Queen, in: The Times, 07. Februar 1952, 7. 198  The New Queen. An Outstanding Representative of Her Generation, in: The Times, 07. Februar 1952, 9. 195  J.



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auch deskriptiv, verheimlichte das Buch die Trennung von Elizabeths jüngerer Schwester Margaret, bis dato mit dem Photographen Lord Snowdon verheiratet, doch keineswegs, sondern schilderte sie vielmehr ausdrücklich mit Sympathie: „Almost every family has its tragedies“199. Genau daran appellierte Königin Elizabeth  II., als die Monarchie genau zwanzig Jahre später in eine womöglich existenzbedrohende Lage gelangt war – nicht die Scheidung des Thronfolgers hatte zum Skandal gereicht, wohl aber die Reaktion des Königshauses auf den Unfalltod Prinzessin Dianas im Jahre 1997, genauer seine Nicht-Reaktion: Die protokollarisch korrekte, aber als hartherzig wahrgenommene Weigerung der Königin, den Union Jack auf dem Buckingham-Palast auf Halbmast zu setzen, setzte der Monarchie plötzlich existentiell zu, ebenso wie der Versuch Tony Blairs200, die verhinderte Herzenskönigin Diana zur „people’s princess“ zu erklären. Nach Lady Dianas Tod zeigten sich in Umfragen auf einmal nur noch neunundzwanzig Prozent der Befragten davon überzeugt, die Monarchie werde in fünf Jahren noch bestehen201. Doch täuschte die monolithische Darstellung in den Medien darüber hinweg, daß keineswegs einhellige Trauer bestand, daß sich so manche an einer allzu verwöhnten, vermögenden jungen Frau gestört hatten202. Was in den Zeitungen zu lesen, im Fernsehen zu sehen und im Radio zu hören war, bedeutete freilich ein verheerendes Echo auf das Verhalten insbesondere der Königin selbst; ohnehin war die Vernunftmonarchin Elizabeth II. längst als weitaus weniger herzlich wahrgenommen worden als ihre eigene Mutter203, die als betagte Queen Mum geradezu Kultstatus genoß und bereits ihren spröden Gemahl George  VI. bisweilen mit Herzenswärme überstrahlt hatte. Im letzten Moment wandte sich Elizabeth  II. mit einer  – dem Inhalt 199  Hugh Montgomery-Massingberd, Introduction, in: Burke’s Guide to the British Monarchy, hrsg. v. Hugh Montgomery-Massingberd, London 1977, 9–15, 10. 200  Ansprache des Premierministers, Trimdon, 31.  August 1997, abgedruckt in: Tony Blair, A Journey, London 2010, 140. Daß selbst der kühl kalkulierende Premierminister schockiert gewesen sei, hat sein nicht minder kühl kalkulierender „Spin-Doctor“ in seinen Aufzeichnungen notiert: Alastair Campbell, The Blair Years. Extracts from the Alastair Campbell Diaries, London 2007, 232. 201  A. Olechnowicz, ‚A jealous hatred‘ (Anm. 6), 292. Wie volatil solche Stimmungen sind, belegen Umfragen aus den 2010er Jahren, die neunzigprozentige Zustimmungsraten zur Königin ausweisen: Satisfaction with the Queen at record high. Prince Charles had a good Jubilee, Prince William more popular than his father, via: https: /  / www.ipsos-mori.com / researchpublications / researcharchive / 2977 / Satisfac tion-with-the-Queen-at-record-high.aspx bzw. High satisfaction levels with Royal Fam­ily as the Queen turns 90, via: https: /  / www.ipsos-mori.com / researchpublica tions / researcharchive / 3737 / High-satisfaction-levels-with-Royal-Family-as-theQueen-turns-90.aspx (letzter Zugriff: 14. Juli 2016). 202  J. Thomas, Diana’s Mourning (Anm. 39), 15, 50. 203  Michael Billig, Talking of the Royal Family, London / New York 1992, 101.

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wie dem Anlaß nach, weil die Königin sich abgesehen vom Beginn des Golfkrieges ansonsten stets auf ritualisierte, regelmäßige Redegelegenheiten wie Weihnachten beschränkt hatte – außergewöhnlichen, der ungeliebten ehemaligen Schwiegertochter gegenüber höchst versöhnlichen Fernsehansprache an das Volk, die sie bezeichnenderweise mit den folgenden Worten einleitete: „So what I say to you now, as your Queen and as a grandmother, I say from my heart“, um am Ende an die „British nation united in grief and respect“ zu appellieren204. Kein Herz zu haben, war hier zum Skandal geworden: zu einem existenzbedrohenden einerseits, zu einem existenzsichernden andererseits, weil die königliche Pressepolitik fortan gezielt darauf geachtet zu haben scheint, die Royals als volksnahe Herzensmenschen zu inszenieren (bis hin zum jüngsten Nachwuchs, wurde die im Jahre 2015 geborene Tochter von Prinz William, Herzog von Cambridge, doch auf den Vornamen Charlotte Elizabeth Diana getauft). Dabei scheint es dem Königshaus insgesamt geglückt zu sein, später und trotz allem auch zuvor die heikle Balance zwischen zwei Extremen zu halten, die wichtige Ratgeber der Königin in den 1970er Jahren empfohlen hatten: zwischen einer abgehobenen Existenz und zu großer Gewöhnlichkeit205. Die königliche Familie muß in der Moderne wohl als Familie erscheinen, um Legitimität zu erheischen, aber eben zugleich als „ordinary and extraordinary“206, als „at once like us, and not like us“207: Diana hatte diesen Spagat geradezu virtuos bewältigt, indem sie einerseits erkennbar teure Garderobe getragen, andererseits witzige Bemerkungen über langwieriges Sitzen bei zähen Festlichkeiten gemacht hatte208. Ihr Sohn William trug dieses Erbe weiter, indem er seiner – bürgerlichen – Verlobten den Verlobungsring seiner Mutter übergab; seine Hochzeit, perfekt choreographiert, bot neben einem Staatsakt eben zugleich eine „intimate, personal story“209. Selbst sprachlich läßt sich dieser Spagat aufzeigen, hat doch die Queen ihr einstiges Oberschichten-Englisch zwar noch nicht vulgär werden lassen, doch ihre Aussprache in Richtung des „Standard Southern British“ verändert, wie man einer genauen Analyse der Weihnachtsansprachen aus den Jahren von 1952 bis 1988 entnehmen kann210. Auch in solchen Erscheinungen, wie beabsichtigt sie im einzelnen auch sein mögen, zeigt sich die Monarchie als Marke, 204  Queen Broadcasts Live to Nation, via: http: /  / www.bbc.co.uk / news / special / politics97 / diana / queen.html (letzter Zugriff: 07.07.2016). 205  J. A. Thompson / A. Mejia, Jr., The Modern British Monarchy (Anm. 111), 101. 206  I. Hayden, Symbol and Privilege (Anm. 21), 61. 207  Judith Williamson, Consuming Passions. The Dynamics of Popular Culture, London 1986, 75. 208  Ebd., 65. 209  Roland Flamini, Royal Pain. The British Republicans’ Waiting Game, in: World Affairs 174 (2011), 86–91, 90.



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deren Fortdauer von populärer Unterstützung wesentlich abhängig ist, wie es selbst in Hofkreisen lautet211, deren Überleben freilich einer heiklen Abwägung „between under- and over-exposure of the royal family“212 bedarf. Am Beginn des 21. Jahrhunderts läßt sich geradezu eine Pflicht der königlichen Familie zur Öffentlichkeit annehmen, „wollen sie sich nicht überflüssig machen“213; diesem Befund entspricht die Intensivierung der Öffentlichkeitsarbeit durch den Palast in der Regierungszeit Elizabeths II., begonnen mit der Krönung, die als erste große Staatsaktion von der BBC live im Fernsehen übertragen wurde214, schon ob des Farbfilms der Beginn einer neuen Ära215, erweitert zur systematischen Nutzung des Mediums etwa durch den ebenfalls von der BBC produzierten Dokumentarfilm „Royal Family“, der Prinz Philipp beim Grillen und die Königin selbst beim Spülen ablichtete, initiiert vom damaligen Pressesekretär William Heseltine216, seither anscheinend wegen übermäßiger Gewöhnlichkeit nicht mehr gezeigt, später eingebettet in eine einheitlich angelegte PR-Strategie, die etwa den jungen Prinz Charles gezielt mit eigenen Interviews etc. in die Öffentlichkeit einführen sollte217, bis hin zum schmutzigen Scheidungskampf zwischen Charles und Diana in den 1990er Jahren, bei dem die Prinzessin schon ob einer professionellen PR-Kampagne rund um ein Enthüllungsbuch dem Thronfolger einen derart üblen Ruf anzuhängen vermochte218, daß dieser sich zu einer autorisierten Biographie und zu exklusiven Interviews gezwungen sah – in denen er gar seinen Ehebruch eingestand219, selbst also auf der publizistischen Welle des Skandals ritt. Erstmals lancierte der Palast damals selbst Intimes, trug es aktiv in die Öffentlichkeit. Daß aus dieser Schlammschlacht zum Beispiel eine australi210  Jonathan Harrington / Sallyanne Palethorpe / Catherine Watson, Monophthongal vowel changes in Received Pronunciation. An acoustic analysis of the Queen’s Christmas broadcasts, in: Journal of the International Phonetic Association 30 (2000), 63–78, 76. 211  John M. T. Balmer, Scrutinising the British Monarchy. The corporate brand that was shaken, stirred and survived, in: Management Decision 47 (2009), 639–675, 655. 212  John Cannon / Ralph Griffiths, The Oxford Illustrated History of the British Monarchy, Oxford / New York 1988, 634. 213  Ulrike Grunewald, Manipulation oder Kooperation? Die Pressepolitik der Roy­al Family zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Ein Erfahrungsbericht, in: Inszenierung oder Legitimation?, hrsg. v. F.-L. Kroll / D. J. Weiß (Anm. 25), 185–194, 185. 214  D. Cannadine, The ‚Last Night of the Proms‘ in historical perspective (Anm. 38), 330. 215  J. Richards, The monarchy and film 1900–2006 (Anm. 191), 269. 216  U. Grunewald, Manipulation oder Kooperation? (Anm. 213), 190. 217  David Cannadine, Pleasures of the Past, New York / London 1991, 4. 218  U. Grunewald, Manipulation oder Kooperation? (Anm. 213), 191. 219  D. Starkey, Crown & Country (Anm. 10), 493 f.

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sche Tampon-Werbung resultierte, die im Jahre 2005 zur Hochzeit des Thronfolgers mit seiner jahrzehntelangen Geliebten Camilla Parker-Bowles in Anspielung auf ein schlüpfriges Telefonat mit dem deutlich unter der Gürtellinie angesiedelten Satz „Well done Charles, you’re finally in“, gratulierte220, wird die königliche Familie zutiefst mißbilligt haben. Aber auch solche Rezeptionen sind Indizien dafür, daß die britische Monarchie in der Massenkultur angelangt ist, es zur einer Art Seifenoper221 aus dem realen Leben gebracht hat, die in Wohnzimmern und auf Teetischen präsent ist: Findige Hersteller produzierten nicht nur Fanartikel für die schönen, sondern eben sogar solche für die tragischen Momente im Leben des Königshauses, etwa Souvenirgeschirr zur Scheidung von Charles und Diana222. Sogar zur wortwörtlichen Aneignung von Königsgut ist es gekommen, gleichsam Fanartikel, die bei der Versteigerung des Erbes von Prinzessin Margaret im Jahre 2006 unter zahlungskräftiges Volk gelangten223. Ausgerechnet die Verschärfung des medialen Wettbewerbs durch die schlagzeilenfreudige MurdochPresse, vom Königshaus einst beklagt, hat der britischen Monarchie wohl einen unfreiwilligen Legitimationsdienst erwiesen: Die hohen persönlichen Kosten, die den Royals für ihren glanzvollen Beruf entstehen, schufen nämlich einen gewissen Opferstatus224, indem auch und gerade nach Dianas Tod im Jahre 1997 das Verhalten der Paparazzi selbst zum Skandal wurde. Wie hoch die Nachfrage nach entsprechenden Berichten war, zeigt im übrigen ein Hochglanz-Sonderheft, das die altehrwürdige „Times“ unter ihrem neuen profitorientierten Eigentümer, dem australischen, eher republikanisch orientierten Medienunternehmer Rupert Murdoch, einst zur Vermählung von Diana und Prinz Charles hatte erscheinen lassen225. Diese Seifenoper des Königshauses wird national und international gerne betrachtet – und lebt gleich anderen seriellen Unterhaltungsformaten von einer konfliktreichen Besetzung: ein harmonisches Kronprinzenpaar mit kleinen Kindern, ein etwas linkischer Eigenbrötler als Thronfolger, dessen Mutter einfach nicht abtreten mag und der erst nach langen Irrungen und Wirrungen die Liebe seines Lebens heiraten darf, eine etwas steife, aber mit dem Geländewagen über ihre Landgüter rasende und hundeliebende Matriarchin in bonbonfarbenen Kostümen, im Jahre 2016 gar unter eigener Zustimmung im Lebensalter von neunzig Jahren noch mit als privat inszenierten Aufnahmen 220  C.

C. Otnes / P. Maclaran, Royal Fever (Anm. 40), 191. Johnson, Tom Nairn and Monarchy, in: ders., Heroes and Villains. Selected Essays, New York 1990, 147–156, 156. 222  C. C. Otnes / P. Maclaran, Royal Fever (Anm. 40), 27. 223  Ebd., 182. 224  A. Olechnowicz, ‚A jealous hatred‘ (Anm. 6), 309 f. 225  Graham Stewart, The History of The Times, Bd. 7: The Murdoch Years. 1981– 2002, London 2005, 61 f. 221  Richard



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der amerikanischen Starphotographin Annie Leibowitz unter dem Titel „Her Inner Majesty“ zum Covergirl der „Vanity Fair“ geworden, dazu ein Gemahl, dessen konsequent skandalträchtige Distanz zur politischen Korrektheit ihn zum „Duke of Hazard“226 gemacht hat. Solche Gestalten geben reichlich Stoff für weitere Folgen mit unterhaltsamen Skandalen: Hätte ein Drehbuchschreiber die britische Monarchie erfinden und besetzen sollen, hätte er solche Wendungen wohl als gänzlich überdreht verwerfen müssen; da vermag selbst die Satire kaum mitzuhalten, die eigentlich nur eine erfolgreiche populäre Überspitzung – den Film „King Ralph“ (1991), der einen vulgären amerikanischen Komiker zum britischen König werden läßt – hervorgebracht hat. Insofern ist es geradezu ingeniös, welche Aufgabenteilung die nächste bzw. wohl übernächste Königsgeneration entwickelt hat: Während Prinz William den schüchternen, seriösen Familienvater gibt, wirkte sein jüngerer Bruder Harry über Jahre hinweg ausgesprochen skandalträchtig: wechselnde Frauenbekanntschaften, Nacktaufnahmen vom Stripbillard, ein Faschingsauftritt in einer Uniform des deutschen Afrikakorps und dergleichen mehr. So dient der Skandal bis heute der Popularität der britischen Monarchie, auch wenn sich derlei mittlerweile in andere Vokabeln fassen läßt: in die „human-brand dimension“ nämlich, in der Fiasko auf einmal einen wichtigen Geschäftsfaktor bedeutet, der die Marke der Monarchie pflegt – persönliche Verfehlungen erzeugen Aufmerksamkeit und Empathie, „as ordinary people can relate to the consequences incurred after lapses in judgment“, lassen beim Allzumenschlichen eben gerade keine Distanz zu227. Anders gesagt: So entsteht Identifikation durch Massenmedien228, die ihrerseits ein erhebliches Interesse an kommerziell lukrativen Skandalen hegen. VII. Fazit und Ausblick Popularität garantierte die britische Monarchie. Skandale aber garantierten Popularität, Popularität als schiere ebenso wie als positive Aufmerksamkeit – so schwer sie auch zu messen ist: Noch die exakteste Demoskopie hat ihre Lücken und Tücken. Das gilt auch für die hier konsultierten Quellen, Zeitungsartikel, deren Autoren (samt deren konkreten Karriere- und anderen Interessen) überwiegend nicht namentlich bekannt sind, Zeitungsartikel, die zudem nichts über zustimmende oder ablehnende Reaktionen der Leser besagen, schon gar nicht derjenigen aus dem Königshaus selbst. Dennoch gewähren die diversen Nachrufe aus der „Times“ einen Einblick in Kontinuität und 226  Nebst weiteren Titeln wäre zu nennen: Phil Dampier / Ashley Walton: The Duke of Hazard. The wit and wisdom of Prince Philip, Brighton 2006. 227  C. C. Otnes / P. Maclaran, Royal Fever (Anm. 40), 34 f. 228  J. Richards, The monarchy and film 1900–2006 (Anm. 191), 279.

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Wandel der britischen Monarchie, in den Wandel der Berichterstattung zuvörderst: Nicht jeder Ehebruch beispielsweise wurde zum Gegenstand der Darstellung, nicht jeder Ehebruch geriet zum Skandal, und schon gar nicht in der Wahrnehmung aller Briten. Als Skandal brauchte der erst im bürgerlichen Zeitalter heikle Ehebruch keineswegs das Ansehen der Monarchie zu gefährden, er versprach vielmehr sogar einen Vorzug: Abweichungen von der Norm konnten Sympathien stiften, wenn die Normen selbst umstritten waren, sie machten die Royals menschlich und waren vielleicht ausgerechnet in der Demokratie nötig, „partly in order to sell newspapers, but also as a contrast, in order to define and publicize public-spirited behaviour by others – royals and non-royals“229. Skandale gefährdeten das Prestige mancher Herrscher, stärkten gleichwohl das Prestige anderer Herrscher, die sich von skandalösen Vorgängern abzuheben vermochten. Nachrufe in der „Times“ bedeuteten vielmehr eben getarnte Vorsätze, der Weg zur Popularität führte so oder so über Laster; kritische Nachrufe stellten ein vielversprechendes Korrektiv für die nächste Herrschergeneration dar. Ein skandalöses Königtum konnte überhaupt nur deshalb gelingen, weil die persönlichen Skandale keine politischen Folgen zu zeitigen drohten; der Sonderfall Edwards  VIII., dessen politische Interventionslust das abrupte Ende seiner Herrschaft mit herbeiführte, bestätigt die Regel – die Schauspiele, die das Königshaus bot, kannten unter der Bevölkerung schlichtweg keine Verlierer mehr, zu marginal gerieten die vergleichsweise bescheidenen Beträge auf der Zivilliste230. Dieser Effekt trug ebenso zum Überleben bei wie der Wunsch, eine problematische Verfassungsänderung zu vermeiden231: Das Königtum signalisierte Stabilität. Vor allem gelang ihm das Kunststück, nach dem Verlust der Potestas – den Zeitgenossen wie Gladstone als einen Tausch gegen moralischen und sozialen Einfluß deuteten232 – auch schadlos moralische Auctoritas preiszugeben. Zur Erklärung der erstaunlichen Stabilität der britischen Monarchie seit dem späten 18. Jahrhundert ist eine kanonische These aus dem 19. Jahrhundert wohl zu modifizieren. Walter Bagehot, Schöpfer eines „demokratischen Royalismus“ schlechthin233, hat den besonderen Charme der Mon229  J.

Parry, Whig monarchy, Whig nation (Anm. 11), 66. noch sanft glomm diese Debatte auf, als die königliche Jacht „Britannia“ im November des Jahres 1997 außer Dienst gestellt wurde. Die von Tony Blair geführte Labour-Opposition attackierte die Ankündigung einer Erneuerung des Schiffes durch die Regierung unter John Major im Wahljahr 1997 scharf, so daß die schon zuvor in dieser Angelegenheit zögerlichen Tories nur halbherzigen Widerstand gegen die Abschaffung der royalen Jacht leisteten  – Richard Johnstone-Bryden, The Royal Yacht Britannia. The Official History, London 2003, 266–276. 231  J. Parry, Whig monarchy, Whig nation (Anm. 11), 66. 232  William M. Kuhn, Ceremony and Politics. The British Monarchy, 1871–1872, in: Journal of British Studies 26 (1987), 133–162, 157. 230  Nur



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archie damals darin erblickt, Regierung wahrnehmbar zu machen234 und einen Schleier über politische Brüche zu werfen: „It acts as a disguise. It enables our real rulers to change without heedless people knowing it. The masses of Englishmen are not fit for an elective gov­ern­ment“235. Diese Diagnose hallt bis ins unsere Gegenwart nach in vielen gedankenreichen Autoren, die in der Monarchie ein Grundgefühl von Gewißheit inmitten beschleunigten Wandels vermuten236, die auf die mannigfachen symbolischen, diplomatischen, philanthropischen, kulturellen Aktivitäten und das moralische Vorbild verweisen, das Königin Elizabeth  II. zu geben bemüht ist237. Doch entscheidend scheint eine andere Entwicklung: daß die Verhüllung zum eigentlichen Produkt geworden ist, daß die britische Monarchie ein permanentes Schauspiel gibt, zu dessen Beliebtheit die Tugendhelden ebenso beitragen wie die moralischen Schurken. Die Legitimation der königlichen Familie kommt heutzutage aus einer Quelle, von der gottbegnadete Herrscher nicht einmal zu träumen gewagt hätten: aus ihr selbst heraus. Zur Seifenoper, zum Schauspiel – und überhaupt zu einer Ikone der Popkultur: Andy Warhols trivialisierende Porträts Elizabeths II. sind mittlerweile gar vom Royal Col­ lection Trust angekauft worden – geworden zu sein, hat die britische Monarchie über die Zeit gerettet. Enthüllungen aus dem Privaten haben sie poten­ tiell für die Politik bewahrt. Schließlich kann diese vergleichsweise einfache, günstige und zudem unterhaltsame konstitutionelle Reserve gegebenenfalls sofort aktiviert werden, wenn außergewöhnliche Umstände eintreten.

233  W.

M. Kuhn, Democratic Royalism (Anm. 106), 30. best reason why monarchy is a strong government is, that it is an intelligible government. The mass of mankind understand it, and they hardly anywhere in the world understand any other“ – Walter Bagehot, The English Constitution, hrsg. v. Paul Smith, Cambridge 2001, 34. 235  Ebd., 46 [Hervorhebung im Original]. 236  J. Cannon, The Survival of the British Monarchy (Anm. 7), 161. 237  C. C. Otnes / P. Maclaran, Royal Fever (Anm. 40), 11–13. 234  „The

III. Begründungsstrategien monarchischer Herrschaft

Monarchie und Volk – Idee und Problem der ‚Volksmonarchie‘ in Deutschland Eine Skizze Von Hans-Christof Kraus, Passau I. Max Weber soll einmal gesagt haben, ein Volk, das „niemals seinem Monarchen den Kopf vor die Füße gelegt hat“, sei kein Kulturvolk1. Diese Bemerkung formuliert – mit Anspielung auf zwei wohlbekannte zentrale Ereignisse der englischen und der französischen Geschichte – wohl die extremste Variante des Verhältnisses zwischen Monarch und Volk. Und sie deutet wenigstens an, dass das Verhältnis zwischen Herrscher und Volk, in langfristiger historischer Perspektive betrachtet, im Grunde niemals konfliktfrei gewesen ist, auch wenn die extremste Form der Auseinandersetzung, die Weber hier thematisierte, meistens ausgeblieben ist. Konflikte zwischen Herrscher und Beherrschten, Königen und Untertanen, blieben im Mittelalter und noch in der frühen Neuzeit bis zum 18. Jahrhundert so gut wie immer auf die politischen Eliten beschränkt. Es genügt, auf zwei der bekanntesten Ereignisse der Geschichte der Monarchie Englands hinzuweisen: den Konflikt König Johanns mit seinen Baronen, der 1215 zum Erlass der Magna Charta führte, und die Hinrichtung König Karls I. nach dem Ende des Bürgerkriegs im Jahr 1649. Nicht „das Volk“ trotzte im frühen 13. Jahrhundert dem Herrscher jene heute als Beginn der freiheitlichen Entwicklung Großbritanniens geltende Urkunde ab, und es war ebenfalls nicht „das Volk“, von dem oder in dessen Namen der unglückliche zweite Stuartkönig zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Beide Male handelte es sich um einen Machtkampf zwischen den politischen Eliten des Landes, und es lassen sich ebenfalls genügend Beispiele anführen – es genügt, auf die Tudorzeit zu verweisen –, in denen wiederum die Monarchen obsiegten. Erst seit der Glorreichen Revolution am Ende des 17. Jahrhunderts wurde die 1  Überliefert von Paul Honigsheim, Max Weber in Heidelberg, in: René König / Johannes Winckelmann (Hrsg.), Max Weber zum Gedächtnis. Materialien und Dokumente zur Bewertung von Werk und Persönlichkeit (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 7), Köln / Opladen 1963, 161–271, hier 172.

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politische Machtstellung der Krone auf dem Inselreich derart beschnitten, dass diese altehrwürdige Monarchie die folgenden drei Jahrhunderte bis in die Gegenwart hinein überleben konnte; ein Machtkampf mit eventueller Todesfolge der Trägers der Krone war damit überflüssig geworden. Ganz anders hingegen auf dem Kontinent, vor allem in Frankreich und Deutschland, wo die Monarchie schließlich nach mannigfachen inneren wie äußeren Veränderungen und politischen Formwandlungen tatsächlich einem Machtkampf zwischen dem ‚Volk‘ und den jeweiligen letzten Trägern der Krone im 19. und frühen 20. Jahrhundert zum Opfer fallen sollte. Ein Verfassungskompromiss, der  – wie auf den britischen Inseln  – das Überleben der Monarchie gesichert hätte, wurde hier letzten Endes nicht erreicht; auch ein friedlicher Übergang von der konstitutionellen zu einer Form der demokratischen oder parlamentarischen Monarchie, die vielleicht eine Volksmonarchie hätte sein können, gelang den Deutschen und den Franzosen am Ende nicht, während die Briten jene „vordemokratische Institution“ erfolgreich in ihre moderne Demokratie zu integrieren vermochten2. Wann begann die Entwicklung, an deren Ende der Übergang von der Monarchie zur Republik stand – jeweils in der Folge eines verlorenen Krieges und hieran sich anschließender revolutionärer Unruhen, zuerst in Frankreich 1870, später in Deutschland 1918? Blickt man zurück auf die Wandlungen der europäischen Monarchie zwischen dem Ende des Mittelalters und der Frühmoderne, dann lassen sich die wirklich fundamentalen Veränderungen in der Auffassung und Deutung dieser zentralen politischen Institution im 18. Jahrhundert, am Ende der frühen Neuzeit, festmachen; sie vollzogen sich durchaus nicht zufällig im Zeichen von Aufklärung und Revolution. Die erste dieser Veränderungen kann als Übergang von einer überlieferten traditionalen zu einer modernen funktionalen Bestimmung und damit auch einer rationalen, d. h. letztlich nicht mehr nur religiösen Legitimation der Monarchie beschrieben werden. So war es denn nicht zufällig einer der wenigen sich als entschiedener und überzeugter Aufklärer verstehenden Herrscher des 18. Jahrhunderts, Friedrich der Große, der diesen Vorgang in der Neudefinition des eigenen Amtsverständnisses als moderner und zeitgemäßer, also eben aufgeklärter Monarch formulierte, indem er sich selbst als „le prémier serviteur de l’Ètat“, also als der erste Diener, der erste Beamte des 2  Vgl. Heinz Gollwitzer, Funktion der Monarchie in der Demokratie, in: ders., Weltpolitik und deutsche Geschichte. Gesammelte Studien, hrsg. v. Hans-Christof Kraus (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 77), Göttingen 2008, 527–538, hier 538: „Zu den konservativen Bestandteilen der Gesellschaft von heute zählen die vordemokratischen Institutionen. Monarchien können als Beweis dienen, daß die Stabilität einer Demokratie sich nicht zuletzt in der Integration vordemokratischer Institutionen bewährt“.



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Staates bezeichnete3. Damit war in gewisser Weise eine doppelte Neubestimmung der Monarchie verbunden: einerseits die rationale Definition der Funktion des Monarchen als ein Amt im Staat – als eines unter anderen, wenn auch das höchste – und zum anderen eine konsequente Entmythologisierung und Säkularisierung der Monarchie, gipfelnd in der Verneinung der überkommenen Vorstellung des Gottesgnadentums, damit also der konsequenten Ablehnung der religiösen Legitimation dieser Institution4. Die zweite fundamentale Veränderung im Verständnis der Monarchie wurde durch die Französische Revolution bewirkt, deren erste radikale Phase in der Abschaffung der Monarchie und endlich, Anfang 1793, in der Hinrichtung des Königspaares gipfelte. Die höfisch-autokratische (gelegentlich auch noch als ‚absolutistisch‘ bezeichnete) Monarchie traditionellen Stils, die den König als ideell abgehobene und zumeist auch als Person räumlich von seinen Untertanen isolierte, durch einen immens kostspieligen und aufwendig inszenierten Hofstaat – in diesem Fall in Versailles, bewusst abseits der Hauptstadt Paris – von der politischen und sozialen Wirklichkeit des Landes zumeist sorgsam abgeschirmte Persönlichkeit an der Staatsspitze auffasste, – diese Form der Monarchie also konnte nach dem fundamentalen politischen, geistigen und sozialen Umbruch in Frankreich als mehr oder weniger gescheitert gelten, zumal im Verlauf der Revolution zuerst in Frankreich, etwas später auch in Deutschland und anderen Ländern, die Kirche als machtvolle institutionelle Stütze der alten Monarchie infolge der Säkularisationen weitgehend fortgefallen war5. Eine dritte fundamentale Wandlung, in deren Folge das Verhältnis zwischen Herrscher und Volk grundlegend neu bestimmt wurde, resultierte aus dem durch die Träger der Revolution erhobenen Anspruch auf Gleichheit und Freiheit aller Angehörigen einer Nation. Der durch die Revolution allgemein verkündete – wenngleich zuerst allenfalls partiell umgesetzte – Anspruch auf 3  Diese Formulierung findet sich mehrfach in Friedrichs Texten; siehe hierzu die Zusammenstellung aller entsprechenden Stellen aus den Schriften des Königs bei Ernst Walder, Aufgeklärter Absolutismus und Staat – Zum Staatsbegriff der aufgeklärten Despoten, in: Karl Otmar von Aretin (Hrsg.), Der Aufgeklärte Absolutismus, Köln 1974, 123–136, hier 128. 4  In diesem Zusammenhang gilt es daran zu erinnern, dass – immerhin noch bis zum frühen 18. Jahrhundert  – die englischen und die französischen Könige als „heilige“ Monarchen galten, versehen mit der durch die Gnade Gottes verliehenen Fähigkeit zur Heilung bestimmter Krankheiten durch Handauflegung; die immer noch klassische Darstellung zu diesem Thema stammt von Marc Bloch, Les rois thaumaturges. Étude sur le caractère surnaturel attribué à la puissance royale particulièrement en France et en Angleterre, Paris 1924 (dt.: Die wundertätigen Könige, München 1998). 5  Diesen Aspekt arbeitet treffend heraus René Rémond, Religion und Gesellschaft in Europa. Von 1789 bis zur Gegenwart, München 2000, hier bes. 48 ff.

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Freiheit und Gleichheit trug zugleich einen stark universellen Charakter; es ging fortan, wie kein anderer als Hegel erkannte und etwas später auch auf den Begriff brachte, nicht mehr nur um den Menschen als Angehörigen eines Standes (als Adliger, als Würdenträger der Kirche, als Stadtbürger oder „Mitbewohner“, als Angehöriger einer sozialen Korporation oder auch als Leibeigener), sondern eben um den Menschen als Menschen, d. h. als prinzipiell gleichwertiges Individuum und Rechtssubjekt. Das „Ich“ müsse, wie Hegel an einer berühmten Stelle seiner „Rechtsphilosophie“ sagt, „als allgemeine Person aufgefaßt werden, worin Alle identisch sind. Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener u. s. f. ist“. Dieser Gedanke, fügt Hegel noch hinzu, könne nur dann als „mangelhaft“ gelten, wenn er sich „als Kosmopolitismus […] dazu fixiert, dem konkreten Staatsleben gegenüberzustehen“6. Das Gleichheitsprinzip gilt also, wenn „kosmopolitische“ Aspirationen ausgeschlossen sind, zuerst und vor allem für das Staatsvolk, das als Einheit der Gleichen (im Sinne von politisch Gleichberechtigten) aufgefasst wird – und damit nicht mehr, wie zuvor, als ständisch gegliederte societas civilis. Um es aus anderer Perspektive zu formulieren: Dem Monarchen standen jetzt nicht mehr die in Stände, d. h. prinzipiell ungleiche Rechts- und Sozialkorporationen gegliederten ‚Untertanen‘ gegenüber, sondern, wenigstens dem Anspruch nach, das ‚Volk‘ als die politische Gemeinschaft der Freien und Gleichen, oder, wie im Frankreich der Jahre nach 1789, die aus dem vormaligen Dritten Stand herausgewachsene, nunmehr alle Menschen im gemeinschaftlichen Staatswesen umfassende ‚Nation‘7. Diese drei Vorgänge also – erstens eine rational-funktionale Neubestimmung der Monarchie als Staatsamt, zweitens der ebenfalls im 18. Jahrhundert einsetzende Niedergang des alten, höfisch-autokratisch geprägten, damit traditionalen Herrschaftsverständnisses und drittens die Neubestimmung des Volks als (nicht mehr ‚ständisch‘ organisiertes) Staatsvolk der wenigstens 6  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. v. Johannes Hoffmeister, Hamburg 1955, 180 (§ 209); zum geistesgeschichtlichen Hintergrund und zur politischen Bedeutung immer noch grundlegend die Ausführungen bei Joachim Ritter, Hegel und die französische Revolution (1956), in: ders., Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt a. M. 1969, 183–233, hier 196 ff. 7  Die Bedeutung und die Resonanz der frühen politischen Schriften von Sieyès liegt darin, dass er am Beginn der Revolution eben diesen Aspekt in besonders prägnanter Weise auf den Begriff brachte, indem er den ‚Dritten Stand‘ als „vollständige Nation“ definierte, damit den Ersten und den Zweiten Stand für überflüssig erklärte, jedoch ebenfalls deren Angehörige konsequenterweise aufforderte, sich zur Nation zu bekennen, indem sie Teil  des Drittens Standes wurden; siehe Emmanuel Sieyès, Abhandlungen über die Privilegien  – Was ist der dritte Stand?, hrsg. v. Rolf Hellmut Foerster, Frankfurt a. M. 1968, 55–143.



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prinzipiell Gleichen, damit auch der politisch Gleichberechtigten – führten um und nach 1800, und zwar innerhalb der verschiedensten politischen Lager und Denkschulen, zu diversen Versuchen einer Neubestimmung der Monarchie unter den Bedingungen der ökonomischen, sozialen und politischen Moderne in Europa. Es ist wenig verwunderlich, dass im Zuge dieser Neureflexion über Wesen, Legitimation, Aufgabe und Funktion der Monarchie das Verhältnis zwischen dem Monarchen und seinen nunmehr als ‚Volk‘ verstandenen ‚Untertanen‘ sehr bald schon in den Vordergrund zu treten begann – dies entsprach sowohl einem modern-rationalen Verständnis der Monarchie als auch der Erfahrung des weithin empfundenen ideellen wie politischen Bankrotts der traditionellen monarchischen Ordnungsbilder des Ancien Régime8. Überblickt man die sehr unterschiedlichen Versuche dieser Neubestimmung einer nach damaliger Auffassung „zeitgemäßen“ monarchischen Ordnung, die während des folgenden ‚langen‘ 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs unternommen wurden und die man im Kern als Versuche einer fundamentalen Neuformulierung des Verhältnisses zwischen Monarch und Volk – in diesem Sinne also auch um Begründung einer ‚Volksmonarchie‘ – wird bezeichnen können, dann lassen sich im Rahmen einer vorläufigen Differenzierung vier Grundformen unterscheiden, die zugleich in eine wenigstens ungefähre zeitliche Reihenfolge zu bringen sind – wenngleich unter Einschluss von Überlappungen und Gleichzeitigkeiten. Es handelt sich dabei erstens um die Volksmonarchie als patriarchalische Monarchie, zweitens als soziale Monarchie, drittens als konstitutionell-parlamentarische Monarchie und viertens endlich als demokratisch-nationale Monarchie mit staats- und volksintegrativer Funktion. Dies soll im Folgenden knapp umrissen werden. II. Selbstverständlich darf man sich den Übergang zu einem modern-rationalen Monarchieverständnis weder als bruchlosen und geradlinigen, noch als politiktheoretisch folgerichtigen Vorgang vorstellen, sondern als vielschichtigen Wandlungsprozess, der von mannigfachen Gegenbewegungen beeinflusst und auch abgebremst worden ist. Und ebenfalls hat die spezifisch religiöse Legitimation der Monarchie, hier also aufgefasst als ein durch die besondere 8  Einen guten Überblick über das Problem liefert Heinz Dollinger, Das Leitbild des Bürgerkönigtums in der europäischen Monarchie des 19. Jahrhunderts, in: Karl Ferdinand Werner (Hrsg.), Hof, Kultur und Politik im 19. Jahrhundert. Akten des 18. Deutsch-französischen Historikerkolloquiums Darmstadt vom 27.–30. September 1982, Bonn 1985, 325–362.

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Gnade Gottes verliehenes Amt, wenigstens partiell noch sehr lange, bis ins 20. Jahrhundert hinein, überdauert9. Als ein wichtiger Beleg für das Überleben religiöser Monarchiekonzepte auch nach der Revolution können sozialpatriarchalische, christlich-konservative Deutungen der Monarchie bereits vor, vor allem aber nach 1815 angesehen werden, die versuchten, an vorgeblich ältere, ‚vorabsolutistische‘ Auffassungen von monarchischer Herrschaft und herrscherlichem Selbstverständnis anzuknüpfen, um im Rückgang auf Früheres nach eigenem Anspruch gewissermaßen noch einmal die historische Weggabelung zu erreichen, die am Ende zur – jetzt als Fehlentwicklung angesehen – höfisch-autokratischen Monarchie des Ancien Régime geführt hatte. Hieraus entstand die retrospektive – an ein stark idealisiertes Mittelalterbild anknüpfende10, letztlich jedoch vollkommen unhistorische – Idealvorstellung einer patriarchalischen Monarchie, in der die Beziehung zwischen König und Volk als ein von Harmonie und gegenseitigem Einklang geprägtes politisches Verhältnis gezeichnet wurde: Der Monarch erscheint hier primär als Patriarch, gewissermaßen als pater familias im Großen, damit als ‚Vater‘ seines Volkes, der zwar mit Strenge, aber ebenfalls mit Verständnis und prinzipiell auch mit Zuneigung über seine ‚Landeskinder‘ herrscht, die für ihn mehr sind als bloße Untertanen oder nur Staatsbürger, sondern mit denen ihn auch ein emotionales Verhältnis verbindet. Nach dieser Auffassung ist die Monarchie eine von Gott gestiftete Grundordnung der politischen Welt, die sich gewissermaßen als reales, partikulares Abbild der universalen göttlichen Herrschaft über die Welt realisiert und damit zugleich ebenfalls legitimiert: Der so verstandene ‚patriarchalische‘ König herrscht über sein Volk, an dessen Spitze er von Gott berufen wurde, ebenso wie Gott über die Menschheit, oder auch, auf der unteren Ebene sozialer Existenz, wie ein Familienoberhaupt über sein ‚Haus‘11. Nicht immer ist von denjenigen, die sich um eine religiös fundierte Neudefinition und Neulegitimation des Königtums im frühen 19. Jahrhundert bemühten, dieses politisch-theologische Denkmodell bis in alle seine speziellen Details durchdacht und ausformuliert worden, doch in seinen Grundzügen 9  Dazu vgl. u. a. Karl Loewenstein, Die Monarchie im modernen Staat, Frankfurt a. M. 1952, 72 ff., der jedoch zugleich, gerade im Hinblick auch auf diesen Aspekt, vom unverkennbaren „Substanzschwund der Monarchie“ (ebd., 149) gesprochen hat. 10  Hierzu noch immer die ältere, geistesgeschichtlich weit ausgreifende und weiterhin anregende Studie von Gottfried Salomon, Das Mittelalter als Ideal der Romantik, München 1922, bes. 52–78, 93–110. 11  Die vormoderne Sozialform des „Ganzen Hauses“ ist in klassischer Weise umrissen und analysiert worden von Otto Brunner, Das ‚Ganze Haus‘ und die alteuropäi­ sche ‚Ökonomik‘, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 3. Aufl. Göttingen 1980, 103–127.



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einer harmonisierenden politischen Weltdeutung taucht es in verschiedenen Formen um und nach 1800 immer wieder auf. Erinnert sei in diesem Zusammenhang etwa an den früh verstorbenen Romantiker Friedrich von Hardenberg, der sich Novalis nannte und der in seinen 1798 veröffentlichten politischen Fragmenten mit dem Titel „Glauben und Liebe oder der König und die Königin“12 eben dieses Bild einer idealen Monarchie zeichnete, das er dem realen revolutionären Zeitgeist konsequent und entschieden entgegenzusetzen versuchte. Der König sei, wendet er gegen das aufgeklärte Herrscherverständnis (mit einer indirekt, aber in der Sache recht deutlich formulierten Kritik an Friedrich dem Großen) ein, eben „kein Staatsbürger, mithin auch kein Staatsbeamter“. Das „Unterscheidende der Monarchie“ bestehe vielmehr darin, „daß sie auf dem Glauben an einen höhergebornen Menschen, auf der freiwilligen Annahme eines Idealmenschen, beruht“13, der auch nicht einfach wählbar sei, sondern seine Autorität kraft religiöser Legitimation und historisch verbürgter Tradition ausübe14, indem er sich – jeweils „entsprossen aus einem uralten Königsstamm“ – allmählich „die Masse seiner Unterthanen“ assimiliere15. Entscheidend hierfür ist nun aus der Sicht des Novalis, dass der Monarch als vorbildlicher Familienvater zusammen mit der Königin an der Spitze des Gemeinwesens steht – denn „der Hof ist eigentlich das große Muster einer Haushaltung“16 – und gerade auch aus dieser Eigenschaft seine spezifische politische Legitimation zieht, die nicht zuletzt eine religiöse ist: Verwandele „sich ein Hof in eine Familie“, dann vollziehe sich zugleich eine weitere Metamorphose: nämlich die des Thrones in ein „Heiligtum“17. Nach 1815 wiederum hat der führende konservative Theoretiker der Restaurationszeit, der Schweizer Carl Ludwig von Haller, dieses Konzept einer genuin patriarchalischen, von ihm als „patrimonial“ bezeichneten Monarchie in ein umfassendes politisches System gebracht. Im zweiten Band  seines staatsphilosophischen Hauptwerks, der ‚Restauration der Staats-Wissenschaft‘ (in 2. Aufl. 1820 erschienen), zeichnet Haller das Idealbild des Patrimonial12  [Friedrich von Hardenberg], Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hrsg. v. Hans-Joachim Mähl / Richard Samuel, Bde. I–III, Darmstadt 1999, hier Bd. II, 290–304. 13  Ebd., 294. 14  Vgl. die Bemerkungen ebd.: „Unter meines Gleichen kann ich mir keinen Obern wählen; auf Einen, der mit mir in der gleichen Frage befangen ist, nichts übertragen. Die Monarchie ist deswegen ächtes System, weil sie an einen absoluten Mittelpunct geknüpft ist; an ein Wesen, was zur Menschheit, aber nicht zum Staate gehört“. 15  Die Zitate ebd., 294 f. 16  Ebd., 298; es heißt hier ebenfalls: „Der Hof soll das klassische Privatleben im Großen sein“. 17  Ebd., 304.

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fürsten, der kraft seiner ihm von Gott verliehenen Eigenschaft als oberster Hausvater des Landes seine Untertanen als Patriarch regiert, dem, wie Haller sagt, „gleich anderen Menschen nicht nur das Gesez [sic] der Gerechtigkeit, sondern auch das der Liebe und des thätigen Wohlwollens gegeben“ ist, denn gerade dies gehöre zu den klar zu definierenden „moralischen Pflichten der Fürsten“18. Auch hier also wird die Monarchie als Patrimonium, als eine Form ‚väterlicher‘ Herrschaft aufgefasst – sozusagen in retrospektiver Verklärung der Vormoderne nach deren Ende. In dieser Form mag der ultrakonservative Partiarchalismus gewissermaßen als eine (im Ergebnis vergebliche) Strategie zur Verteidigung der traditionellen Monarchie durch Rückgang auf deren imaginäre Urform, auf die allerersten Ursprünge dieser Institution erscheinen. In ähnlicher Weise hat einer der politischen Schüler Hallers, der preußische Konservative Ernst Ludwig von Gerlach, noch in den 1860er Jahren das ‚Königtum von Gottes Gnaden‘ als eine der Urformen gottgewollter und damit religiös legitimierter Herrschaft bestimmen wollen. Königsherrschaft als „landesväterliche“ Herrschaft sei im Prinzip der gleichen Art wie die „hausväterliche“ Herrschaft über das – wiederum in einzelne Familien gegliederte  – Volk. Grundlage der monarchischen Herrschaft sei zugleich das Recht, also die wiederum von Gott geschaffene und durch ihn verbürgte Rechtsgemeinschaft, denn die „Gemeinschaft des Rechts, in welcher die Könige mit der gesamten Menschheit stehen, diese Gleichartigkeit ihrer Rechte mit unseren Rechten, diese Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten, diese wesentliche Einheit von Recht und Freiheit, diese edle Verbindung von Autorität, Treue und Gehorsam ist keineswegs eine Entweihung, sie ist vielmehr die rechte Weihe des Königtums und seine rechte Befestigung. Denn das Königtum ist dadurch auf die unerschütterliche Basis der uranfänglichen Schöpfungen Gottes und unter den Schutz seines ewigen Willens und Gesetzes gestellt“. Nicht diese wahre, weil letztlich ursprüngliche, dem direkten Willen Gottes entspringende Monarchie, sondern nur ihre degenerierte, in der Folge menschlicher Sündhaftigkeit entstandene Form, „die absolutistischgötzenhafte Gestalt des Königtums provozierte […] den Widerwillen, ja am Ende den wütenden Haß der Revolutionärs“19. Auch hier also der gleiche gedankliche Kunstgriff: Eine imaginäre, vermeintlich ‚wahre‘ Monarchie, die Herrscher und Beherrschte in eine Rechtsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit 18  Carl Ludwig von Haller, Restauration der Staats-Wissenschaft oder Theorie des natürlich-geselli­gen Zustands der Chimäre des künstlich-bürgerlichen entgegengesezt (sic), Bd. II, Winterthur 1820, 355. 19  Die Zitate: Ernst Ludwig von Gerlach, Christentum und Königtum von Gottes Gnaden im Verhältnis zu den Fortschritten des Jahrhunderts (1863), in: ders., Gottesgnadentum und Freiheit. Ausgewählte politische Schriften aus den Jahren 1863 bis 1866, hrsg. v. Hans-Christof Kraus, Wien / Leipzig 2011, 7–43, hier 29.



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einbindet, wird – eben als die eigentliche und ideale Form des Verhältnisses zwischen König und Volk – dem zeitgenössischen revolutionären Zerrbild der Monarchie entgegengestellt. III. Das Konzept der Volksmonarchie als einer ‚sozialen Monarchie‘ lässt sich allerdings nicht so klar politisch verorten wie die eindeutig konservative patriarchalische Monarchie, denn jenes verfügt über einen mehrdeutigen Hintergrund, den man, je nach Blickwinkel, als sozialkonservativ, sozial-romantisch, aber auch bereits als demokratisch-sozial bezeichnen kann. In einen eher sozialkonservativen Zusammenhang gehört jedenfalls das wohl erste in Deutschland formulierte, theoretisch durchdachte und historisch reflektierte Konzept einer sozialen Monarchie20, das kurz nach 1848 der damals noch junge Staatswissenschaftler Lorenz von Stein nach dem Scheitern der – die Interessen der wohlhabenden Schichten bekanntlich besonders begünstigenden – französischen Julimonarchie formulierte. Die Erfahrung der politischen Entwicklung in Europa zwischen 1815 und 1848 habe gelehrt, so die Ausgangsthese Steins, dass eine Monarchie, der es an einem politisch-sozialen Reformkonzept mangele und die es damit versäume, eine enge Verbindung mit dem Volk – gerade auch mit den unteren Schichten – zu suchen, zum Scheitern verurteilt sei. Insofern kommt er zu dem (um 1850 noch durchaus ungewohnten und damals Aufsehen erregenden) Schluss, das „wahre, mächtigste, dauerndste und geliebteste Königtum“ werde künftig zuerst und vor allem ein „Königtum der gesellschaftlichen Reform“ sein müssen, eben weil es „als Träger der reinen Staatsidee […] über den Klassen der Gesellschaft und ihren Gegensätzen“ stehe. Der Kernsatz dieser Überlegungen lautet denn auch folgerichtig: „Alles Königtum wird fortan entweder ein leerer Schatten, oder eine Despotie werden, oder untergehen in Republik, wenn es nicht den hohen sittlichen Mut hat, ein Königtum der sozialen Reform zu werden“21. Dies liege letztlich auch im Interesse der höheren Klassen, denn indem dem Königtum, wie Stein ausführt, „eine volkstümliche Richtung“ gegeben werde, gewinne es „eben dadurch außer seiner rein staatlichen Gewalt zugleich eine unendlich 20  Grundlegend zum ‚sozialen Königtum‘ neuerdings Frank-Lothar Kroll, Die Idee eines sozialen Königtums im 19. Jahrhundert, in: ders. / Dieter J. Weiß (Hrsg.), Inszenierung oder Legitimation? – Monarchy and the Art of Representation. Die Monarchie in Europa im 19. und 20. Jahrhundert. Ein deutsch-britischer Vergleich (Prinz-Albert-Studien, 31), Berlin 2015, 111–140, zu Stein bes. 114–116. 21  Die Zitate: Lorenz von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, hrsg. v. Gottfried Salomon, Bd. III, München 1921, 40 f.

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große soziale Macht. Es ist eine entschiedene Tatsache, daß niemals das Königtum mächtiger ist als dann, wenn es das Volk im engern Sinne des Wortes für sich hat“22. Während Stein hier wesentlich macht- und interessenpolitisch argumentierte, auf der Grundlage einer tiefdringenden Analyse der sozialen Bewegungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, trug die Schriftstellerin Bettina von Arnim in ihren an König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen gerichteten, kurz vor und wenige Jahre nach der Achtundvierziger Revolution erschienenen Schriften „Dies Buch gehört dem König“ (1843) und „Gespräche mit Dämonen“ (1852) ihre sozialmonarchischen Ideen vor dem Hintergrund einer letztlich spätromantisch-sozialpaternalistischen Ideenwelt vor23. Auch sie verwendete bereits den Begriff des „Volkskönigtums“, den sie freilich dadurch zu definieren versuchte, dass sie mit einer bezeichnenden Metapher den Zusammenhang von Herrscher und Volk als eine geradezu symbiotische Gemeinschaft von „Eisen und Magnet“ beschrieb24. Im Grunde überrascht es nicht, dass spätere Versuche der politisch-theoretischen Begründung einer sozialen Volksmonarchie weniger auf Arnim, sondern vielmehr auf Lorenz von Stein zurückgriffen und bestrebt waren, dessen Konzept eines sozialen Königtums inhaltlich klarer auszugestalten und im Rahmen einer bestehenden konkreten Lage politisch zuzuspitzen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang vor allem an den sozialkonservativen Theoretiker, politischen Publizisten und Politiker Hermann Wagener25, der über Jahrzehnte hinweg unter ausdrücklicher Berufung auf die Ideen Steins das Konzept einer sozialen Volksmonarchie propagierte und auf dieser Grundlage umfassende sozialreformerische Ideen entwickelte26, die wiederum bedeutenden Einfluss auf Bismarck ausübten und somit in den wenigstens mittelbaren Zusammenhang der Vorgeschichte der deutschen Sozialpolitik der 1880er Jahre gehören. 22  Ebd.,

39 f. neu abgedruckt in: Bettina von Arnim, Werke und Briefe, hrsg. v. Gustav Konrad, Bde. III–IV, Frechen 1962 / 63. 24  Ebd., Bd. IV, 360. 25  Knapper Überblick über Wageners Ideen zum ‚sozialen Königtum‘ bei HansChristof Kraus, Hermann Wagener (1815–1889), in: Politische Theorien des 19. Jahrhunderts. Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus, hrsg. v. Bernd Heidenreich, 2. völlig neu bearb. Aufl., Berlin 2002, 537–586, bes. 545 ff.; eine umfassende politische Biographie Wageners wird demnächst Christopher Peter vorlegen. 26  Schon in einem im Jahr 1855 verfassten politischen Programmentwurf für die preußische Konservative Partei zitierte Wagener ausdrücklich Lorenz von Steins berühmte Formulierungen über das „Königthum der socialen Reform“, siehe Hermann Wagener, Die kleine aber mächtige Partei. Nachtrag zu „Erlebtes“, Berlin 1885, 5–14, hier 9. 23  Beide



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Natürlich stand, was nicht unterschätzt werden darf, hinter diesen Konzepten das zentrale Motiv der Revolutionsprophylaxe ebenso wie eine genuin antiliberale, d. h. gegen den bedeutenden sozialen und politischen Einfluss des damaligen Wirtschaftsbürgertums gerichtete politische Grundüberzeugung: Der von den Theoretikern der sozialen Monarchie geforderte enge Zusammenschluss von König und ‚Volk‘ – mit dem hier vor allem die mittleren und unteren Schichten, Kleinbürgertum und Arbeiterschaft gemeint waren – reagierte unmittelbar sowohl auf die Revolutionserfahrungen der Epoche wie auf die zeitgenössischen Verwerfungen der sozialen Frage und des damals so genannten ‚Pauperismus‘, die in der Folge der Wirkungen der Gewerbefreiheit und besonders der in Deutschland um 1850 massiv einsetzenden Frühindustrialisierung entstanden waren. IV. Die verschiedenen Konzepte einer modernen konstitutionellen und einer liberal-parlamentarischen Monarchie, die ebenfalls spätestens seit dem Beginn der Restaurationszeit nach 1815 propagiert wurden, haben den Begriff einer ‚Volksmonarchie‘ an sich zwar kaum verwendet, doch in der Sache ging es genau hierum: um die konzeptionelle, damit auch politisch-institutionell neu geregelte, auf rechtsstaatlichen Boden gestellte Neuaustarierung des Verhältnisses zwischen König und ‚Volk‘ – den Begriff hier im staatsrechtlichen Sinne verstanden. Was diesen Aspekt anbetrifft, reagierten die liberalkonstitutionellen Theoretiker ohne Frage zuerst auf die seit 1789 gemachten Erfahrungen; sie nahmen endgültig Abschied vom früheren ständischen, aber auch höfisch-autokratischen Monarchieverständnis des Ancien Régime und entwickelten, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Diktaturerfahrung unter der Herrschaft Napoleons, den Begriff des konstitutionellen Monarchen, der nach der bekannten Theorie Benjamin Constants als „neutrale Macht“ („pouvoir neutre“) „herrscht, aber nicht regiert“, d. h. an der Spitze des Staates steht, das politische Tagesgeschäft jedoch weitestgehend der von ihm ernannten Regierung und der zu deren Kontrolle berufenen Volksvertretung überlässt27. Damit zeigt er sich jedenfalls in dem Sinne als ‚Volkskönig‘, dass er sich nicht mehr als Spitze einer ständisch gegliederten, also auf dem Prinzip der Ungleichheit beruhenden politischen Ordnung versteht, sondern, indem 27  Seine Theorie einer konstitutionellen Monarchie als Königtum eines ‚neutralen‘ Herrschers über den Verfassungsinstitutionen Regierung und Parlament entwickelt Constant in seinem Hauptwerk „Principes de Politique Applicables à tous les Gouvernements“ (1810), dt. in: Benjamin Constant, Werke in vier Bänden, Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1972, hier Bd. IV, 31–48; siehe hierzu auch Lothar Gall, Benjamin Constant. Seine politische Ideenwelt und der deutsche Vormärz (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 30), Wiesbaden 1963, 198–205.

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er über allen steht, auch allen Angehörigen seines ‚Volkes‘ in gleicher Weise verbunden ist. In der politischen Praxis des deutschen Vor- und Nachmärz setzte sich jedoch zumeist eine konservative Version des Konzepts der konstitutionellen Monarchie durch, die der Jurist und Staatsphilosoph Friedrich Julius Stahl 1845 in seiner Schrift „Das monarchische Princip“ formuliert hatte28. Der Kerngedanke dieses bald zum festen Bestandteil der deutschen staats- und verfassungsrechtlichen Begrifflichkeit gehörenden monarchischen Prinzips bestand in einer postulierten Machtteilung zwischen dem Monarchen und dem (durch ‚Landstände‘ oder Parlament repräsentierten) Volk29, die freilich ihre Begrenzung dadurch erhalten sollte, dass im Konfliktfall zwischen beiden Verfassungsfaktoren dem Monarchen als dem Souverän eines Landes das politische Letztentscheidungsrecht zustand, d. h. dass er gegebenenfalls, allerdings nur im Rahmen eines solchen Ausnahmezustands, auch ohne oder gar gegen das Parlament regieren konnte – auch wenn dies nur als absolute Ausnahme, als Notstandsrecht gewissermaßen, von Stahl postuliert worden war30. Die Grenzen einer ‚Volksmonarchie‘, die als solche eben auch einen Konflikt zwischen König und Volksrepräsentanten nicht ausschloss, wurden hier in konservativer Deutung des ‚monarchischen Prinzips‘ klar erkennbar; die politische Anwendung dieser Theorie sollte nur wenig später im preußischen Verfassungskonflikt der 1860er Jahre erfolgen. Die im Allgemeinen sehr einflussreichen und vor allem öffentlichkeitswirksam agierenden liberalen Staatsdenker haben dieses Konzept, das in ihren Augen eine bewusst vorgenommene Marginalisierung der politischen Mitbeteiligung des Volkes in einer konstitutionellen Monarchie darstellte, immer wieder einer scharfen Kritik unterzogen. In einer kurz nach 1848 verfassten, von der Revolutionserfahrung erkennbar direkt beeinflussten Abhandlung über die diversen „Machtelemente der Monarchien“31 musste der führende südwestdeut28  Friedrich Julius Stahl, Das Monarchische Princip. Eine staatsrechtlich-politische Abhandlung, Heidelberg 1845. 29  Zum Problem der ‚Landstände‘ und zur Kontroverse um die ‚landständische‘ Repräsentation in Deutschland vor der Revolution von 1848 / 49 siehe immer noch grundlegend Hartwig Brandt, Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz. Politisches Denken im Einflußfeld des monarchischen Prinzips (Politica, 31), Neuwied / Berlin 1968. 30  Vgl. F. J. Stahl, Das Monarchische Princip (Anm. 28), 31: „Irgendwo muß die letzte Entscheidung sein […]. Da ist keine Mitte möglich zwischen monarchischem und parlamentarischem Princip. Entweder die Stände können ihr Urtheil über die Gränze der Befugnisse durchsetzen durch fortgesetzte, stets weiter greifende Verweigerung und durch Ministeranklage, oder der Fürst kann es durch letzte souveräne Entscheidung“. 31  Robert von Mohl, Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, Bd. II, Tübingen 1862, ND Graz 1962, 39–54.



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sche Liberale Robert von Mohl freilich anerkennen, dass die deutschen Herrscher ihre Macht immer noch auf eine ausgeprägte, wie er es nannte, „Anhänglichkeit des Volkes an die Monarchie als staatliche Einrichtung“ zu stützen vermochten, – eine Anhänglichkeit, die durch eine „beliebte Persönlichkeit“ zwar noch erhöht werden könne, die jedoch ebenfalls zu finden sei „ohne diesen Glücksfall und sogar trotz des Gegentheiles“32. Tatsächlich brachte Mohl mit diesen Formulierungen bemerkenswerterweise ein Faktum auf den Begriff, das von den Liberalen und mehr noch von den Radikalen jener Zeit allgemein zu wenig beachtet wurde: die Tatsache der immer noch bestehenden bedeutenden Popularität der Monarchie als Institution gerade bei Teilen des ‚einfachen Volks‘, was sich etwa während der Jahre 1848 / 49 in den (von der späteren liberalen Geschichtsschreibung gerne verschwiegenen) sogenannten „Thron- und Altar-Unruhen“ in Preußen gezeigt hatte33. Insofern hielt Mohl einen Sturz der monarchischen Staatsform durch eine erneute deutsche Volksrevolution letztlich für wenig wahrscheinlich. In der 1872 veröffentlichten zweiten Auflage seiner „Encyclopädie der Staatswissenschaften“, in der er die Monarchie ausführlich abhandelte, plädierte er daher nachdrücklich (über das Stahlsche Konzept also wiederum deutlich hinausgehend) für eine „Einherrschaft mit Volksvertretung“, in der, auf klarer rechtsstaatlicher und verfassungmäßiger Grundlage stehend, „die Berechtigung des ganzen Volkes in seiner Einheit gegenüber […] der Regierung“34 zur Mitwirkung an der politischen Entscheidungsfindung unantastbar garantiert sein müsse. Damit war letzten Endes nichts anderes als die parlamentarische Monarchie gemeint, die Mohl selbst zwar nicht explizit als ‚Volksmonarchie‘ bezeichnete, die jedoch als solche das Konzept einer konstitutiven Neubestimmung des Verhältnisses zwischen König und Volk in die politische Wirklichkeit umsetzen sollte. Noch gut ein Jahrzehnt vor Ende des Kaiserreichs wies der damals sehr bekannte Berliner Philosoph und Pädagoge Friedrich Paulsen in den politischen Erörterungen über die moderne Monarchie, die er im zweiten Band seines 32  Die

Zitate: ebd., 40 f. und zu Hintergründen sowie zur Bedeutung einer öffentlich artikulierten „plebejischen Gewalt“ für die Monarchie siehe Manfred Gailus, Straße und Brot. Sozialer Protest in den deutschen Staaten unter besonderer Berücksichtigung Preußens 1847–1849 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 96), Göttingen 1990, 435–494; über vergleichbare Tendenzen und Formen des Unterschichtenmonarchismus in Großbritannien siehe neuerdings Jörg Neuheiser, Krone, Kirche und Verfassung. Konservatismus in den englischen Unterschichten 1815–1867 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 192), Göttingen 2010, bes. 51 ff., 100 ff. u. passim. 34  Robert von Mohl, Encyklopädie der Staatswissenschaften, 2. umgearb. Aufl. Tübingen 1872, 359 f. 33  Hierzu

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„Systems der Ethik“ vorlegte35, darauf hin, dass in einem zeitgemäßen monarchisch verfassten Staat, also einer modernen konstitutionellen Monarchie, „die Volksvertretung […] dem Königtum“ letzten Endes auch „als Schutz gegen die Entartung in ein dem Volk und seinem Leben entfremdetes Hofkönigtum“36 zu dienen und damit eine zentrale, im Grunde sogar für die Institution der Monarchie systemerhaltende Funktion zu erfüllen habe – da es nun einmal, wie er ebenfalls sagt, „niemandem weniger frei[stehe] als dem Fürsten, seine persönlichen Anschauungen und Empfindungen zum Maß der Dinge zu machen. Diese Gefahren zu verringern ist die erste Aufgabe der Volksvertretung“37, die auf diese Weise im gegebenen Fall gar zu einem vermittelnden, einheitsstiftenden Element zwischen Monarch und ‚Volk‘ zu werden vermag. V. Der älteren liberalen Idee einer konstitutionellen oder parlamentarischen Monarchie wurde in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg unter dem Eindruck des in sehr starkem Maße öffentlich präsenten und agierenden, auf diese Weise ‚deutsche Weltpolitik‘ betreibenden Kaisers Wilhelm II. ein anderes Konzept gegenübergestellt, verstanden von den einen als Ergänzung, von den anderen jedoch durchaus als Gegenidee zur bestehenden politischen Ordnung der Bismarckschen Reichsverfassung. Gemeint ist die Idee einer demokratisch-nationalen Monarchie, deren Vertreter noch einmal auf die bereits früher vorgedachte Konzeption einer Einheit von Monarch und Volk bzw. Herrscher und Volkswillen zurückgriffen. Nach dieser Auffassung sollte sich in der Person und im aktiven Handeln des Monarchen, jenseits aller Klassenunterschiede, parlamentarischer Kontroversen und sozialer Interessengruppen, der eigentliche nationale Wille Deutschlands manifestieren und kraftvoll zum Ausdruck bringen. In ihrer wohl bekanntesten und seinerzeit einflussreichsten, weil intensiv rezipierten Ausformulierung ist diese Idee von Friedrich Naumann in seiner im Jahr 1900 erstmals veröffentlichten, später mehrfach wieder aufgelegten Schrift „Demokratie und Kaisertum“ vertreten worden38. Gerade angesichts der inneren politischen Fraktionierung sowie ebenfalls der stark ausgeprägten sozialen Zersplitterung und der konfessionellen Teilung innerhalb des Deutschen Reichs sei das Kaisertum gefordert, in besonderer Weise als integrati35  Friedrich Paulsen, System der Ethik mit einem Umriß der Staats- und Gesellschaftslehre, Bd. II, 11. / 12. Aufl. Stuttgart / Berlin 1921, 591–609. 36  Ebd., 608. 37  Ebd., 608 f. 38  Neuabdruck in: Friedrich Naumann, Werke, Bd. II: Schriften zur Verfassungspolitik, hrsg. v. Theodor Schieder, Köln / Opladen 1964, 1–351.



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ves Element zu wirken und auf diese Weise den eigentlichen nationalen Volkswillen zum Ausdruck zu bringen39. Genau dies tue der Kaiser vor allem durch sein öffentliches Auftreten: Wilhelm II., so Naumann, „spricht sich über jede öffentliche Frage aus. Es gibt keine Angelegenheit, in der der Volksgeist nicht mit ihm gleichsam debattiert. Nie spricht er allen aus der Seele, aber stets spricht er zu allen, und das Gesamtergebnis ist, daß alle eine Art modernes Personalverhältnis zur kaiserlichen Zentralperson bekommen. Wilhelm I. war in der Verwendung dieses modernen Herrschaftsmittels viel weniger eifrig als sein Enkel. Dieser ist in seiner ganzen Methode des Regierens moderner. Diese moderne Methode sammelt Macht“40 – und zwar gerade dadurch, dass der Monarch sich prinzipiell „allen“ zuwendet, eben nicht nur den Vertretern der „drei Aristokratien“ oder den Angehörigen des Staatsund Regierungsapparats. Insofern sei der Kaiser, folgert Naumann, in einer „Zeit aufsteigender Volksentwicklung mit wachsender Macht ein Führer eines modernen großen Volkes geworden“41.  – An diesem Grundkonzept hat Naumann tatsächlich bis zum Ende des Kaiserreichs festgehalten, und noch 1917 postulierte er in einer kleinen Schrift „Der Kaiser im Volksstaat“42 die Möglichkeit einer grundlegenden Erneuerung der deutschen Monarchie in der Form eines nunmehr wahrhaft demokratisch-nationalen Volkskaisertums, in dem „sich Kaiser und Masse verstehen“ und auf einer neuen, höheren Ebene miteinander für den künftigen Neuaufbau Deutschlands nach dem Krieg zusammenwirken können; eben in dieser für die nächste Zukunft sich abzeichnenden Möglichkeit eines Volkskaisertums meinte Naumann noch ein Jahr vor Kriegsende tatsächlich eine besondere „höhere geschichtliche Einsicht und praktische Vernunft“43 des deutschen Volkes erkennen zu können. Im vorletzten Kriegsjahr mussten diese Ausführungen, obwohl sie noch einmal breite Resonanz (aber wohl nicht den vom Autor eigentlich erhofften kaiserlichen Leser!) fanden, wirkungslos bleiben44. 39  Naumann polemisiert in diesem Zusammenhang vor allem gegen die, wie er sagt, „drei Aristokratien“, die durch ihr Agieren den inneren Zusammenhalt der deutschen Nation gefährdeten: die agrarische Aristokratie des großen grundbesitzenden Adels, sodann die industrielle Aristokratie des Großunternehmertums, das sich soeben anschicke, eine „neue Herrenklasse“ zu werden, und endlich die klerikale Aristokratie der katholischen Kirche und der ihr zuzurechnenden Zentrumspartei; vgl. ebd., 4, bes. auch 147–208. 40  Ebd., 263. 41  Ebd., 296. 42  Abdruck ebd., Bd. II, 461–521. 43  Ebd., 521. 44  Das betont auch Naumanns wichtigster Schüler und Biograph Theodor Heuss, Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, 2. Aufl. Stuttgart / Tübingen 1949, 361 f.

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Wenn Friedrich Naumann die Popularität und Volksnähe, gerade auch die starke öffentliche Präsenz Kaiser Wilhelms II. ausdrücklich lobend hervorhob45, übten Vertreter der radikalen nationalistischen Rechten hingegen kaum verhüllte Kritik am Auftreten des Monarchen. Der langjährige Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes, der Jurist Heinrich Claß, veröffentlichte 1912 unter dem Pseudonym Daniel Frymann ein vielgelesenes Buch mit dem sprechenden Titel „Wenn ich der Kaiser wärʼ“, in dem er Naumann entschieden widersprach46: Der Deutsche Kaiser werde, so Claß, „zwar von seinen Verehrern ein moderner Herrscher genannt, aber ich fürchte, dies modern darf nicht so aufgefaßt werden, daß er die echten Forderungen der Zeit versteht, sondern daß er sich ihren Schwächen angepaßt hat“. Es sei, ganz im Gegenteil, „ein starker Führer nötig, der den Schritt zur Genesung, zur inneren und äußeren Festigung erzwingt, der die Entwicklung zum Verfall hindert“47. Gerade weil  – so die Quintessenz der Ausführungen von Claß  – „wir alle“ das „Volk im politischen Sinne“ seien, „vom Kaiser herunter bis zum geringsten Manne, und die Volksgemeinschaft […] ihre Grenzen erst gegenüber Fremdvölkischen“ finde, solle „ein Herrscher […] sich in Übereinstimmung befinden mit den Besten seines Volkes […] und Frieden nicht halten, wo er Verderben bedeutet“48. Die von Claß in seinem Buch anschließend skizzierte Version eines von ihm erhofften prononciert nationalen deutschen Volkskaisertums der Zukunft fällt in der Sache jedoch erstaunlich unscharf und wenig präzise aus: Der Kaiser dürfe, heißt es hierzu an zentraler Stelle, „nicht der Herrscher“ sein, „der unnahbar thront und sich als Herr fühlt und seine Gnaden verschenkt, an wen er mag, sondern der Erste im Volke, der unter ihm lebt und mit ihm und als der Erste verpflichtet ist, ihm am treuesten und selbstlosesten zu dienen“49. Das auf spätere ungute Entwicklungen in Deutschland vorausdeutende Modell eines Monarchen als Volksführer, der, wie Claß wörtlich sagt, verpflichtet sei, für „des deutschen Volkes Ewigkeit […] zu leben und zu sterben“50, dürfte zweifellos den Tiefpunkt der deutschen Idee einer „Volksmonarchie“ darstellen.

F. Naumann, Werke, Bd. II (Anm. 38), 429 u. a. Frymann [Heinrich Claß], Wenn ich der Kaiser wärʼ – Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten, 2. Aufl. Leipzig 1912; zu Bedeutung und Rezeption dieses umstrittenen, gleichwohl sehr erfolgreichen kaiserkritischen Pamphlets siehe neuerdings auch Johannes Leicht, Heinrich Claß 1868–1953. Die politische Biographie eines Alldeutschen, Paderborn 2012, 151–164. 47  Die Zitate: D. Frymann, Wenn ich der Kaiser wärʼ (Anm. 46), VIII. 48  Alle Zitate ebd., 230. 49  Ebd., 134. 50  Ebd., 233. 45  Vgl.

46  Daniel



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VI. Diejenigen, die während des gesamten 19. Jahrhunderts über historische und gegenwärtige Bedeutung sowie über Stellung und Funktion der Monarchie im modernen Staat nachgedacht haben, waren sich im Allgemeinen der einen Tatsache stets bewusst: Eine Monarchie, die auf Volksnähe nicht achtet, begibt sich auf einen gefährlichen Weg. Schon im Jahr 1889 formulierte Gustav Freytag dies in einer Gedenkschrift auf den soeben verstorbenen Kaiser Friedrich III. mit den folgenden Worten: „Wird einmal durch große Unfälle und ein Mißregiment im Volke die Unzufriedenheit verbreitet, dann drohen auch den altheimischen regierenden Familien größere Gefahren. Schon jetzt sind unsere Fürsten in der Lage, gleich Schauspielern auf der Bühne zwischen Blumensträußen und lautem Beifallsklatschen […] herumzuwandeln, während in der Versenkung die vernichtenden Dämonen lauern“51. Das waren prophetische Formulierungen, die letzten Endes bereits auf den November 1918 und den Untergang der deutschen Monarchien vorausdeuten; drei Jahrzehnte vorher wurden sie von vielen Lesern jedoch eher mit Unwillen aufgenommen52. Und kurz nach dem Untergang des Kaiserreichs hat sich Friedrich Meinecke im Jahr 1922 Gedanken über die Gründe für den nunmehr wohl dauerhaften Verlust der Monarchie und für die Unmöglichkeit einer monarchischen Restauration in Deutschland gemacht53, die ähnlich erhellend sind: Die Monarchie im Kaiserreich habe sich zwar – das sei fraglos als besondere Leistung Wilhelms I. und Bismarcks anzusehen  – „zur volkstümlichen Nationalmonarchie umgestaltet“, aber genau diese an sich schon positiv anzusehende Wandlung habe am Ende dennoch nicht ausgereicht, um jene neue Form der Monarchie auch in der großen Krise des verlorenen Weltkriegs im Rahmen eines nun neu entstehenden deutschen „Volksstaats“ auf Dauer stellen zu können. Und eine von manchen noch immer erhoffte Wiederherstellung des deutschen Kaisertums sei bereits aus dem Grund kaum möglich, dass eine eventuell neu etablierte Monarchie in allzu starkem Maße als „künstlich“ und ausschließlich zweckbedingt angesehen würde: „Es fehlt ihr etwas von jenem 51  Gustav Freytag, Der Kronprinz und die deutsche Kaiserkrone (1889), neu abgedruckt in: ders., Vermischte Aufsätze aus dem Jahren 1848 bis 1894, hrsg. v. Ernst Elster, Bd. II, Leipzig 1903, 348–421, hier 364. 52  Dazu Hans-Christof Kraus, Gustav Freytag und die „Kronprinzenpartei“ im Kaiserreich, in: Hans-Werner Hahn / Dirk Oschmann (Hrsg.), Gustav Freytag (1816– 1895). Literat–Publizist–Historiker (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe, 48), Köln / Weimar / Wien 2016, 67–83. 53  Friedrich Meinecke, Das Ende der monarchischen Welt (1922), in: ders., Werke, Bd. II: Politische Schriften und Reden, hrsg. v. Georg Kotowski, Darmstadt 1958, 344–350.

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Mysterium, von jener historischen Weihe der alten Monarchie, auf der ihre innere Autorität so wesentlich beruht, die auch den untüchtigen Monarchen lange tragen kann“54. Mit diesen bemerkenswerten Formulierungen wies der Historiker auf etwas hin, das – wenn man es im Rückblick betrachtet – die meisten Vertreter der Idee eines Volkskönigtums (oder später Volkskaisertums) im Grunde stets unterschätzt hatten: nämlich darauf, dass letztlich jede Form der Monarchie, die jenseits aller rationalen Staatskonzepte und politischen Modelle als legitim gelten möchte, ein irrationales, von Meinecke hier als „Mysterium“ bezeichnetes Element besitzt und wohl auch besitzen muss, das nicht nach Bedarf erzeugt werden kann, sondern als solches letztlich unverfügbar ist: Geht es einmal, auf welche Weise auch immer, verloren, kehrt es niemals wieder zurück – Geschichte ist nicht umkehrbar.

54  Alle

Zitate: ebd., 347.

Die Nationalisierung der Monarchie Von Volker Sellin, Heidelberg Im Ancien régime beruhte die Legitimität der Monarchie auf dem Glauben an ihre göttliche Einsetzung und auf ihrem unvordenklichen Alter. Zweifel am Gottesgnadentum und am Recht des Herkommens regten sich zuerst in der Epoche der Aufklärung, als Staatsdenker politische Herrschaft aus dem Vertrag ableiteten. Im Jahre 1789 gründete die französische Nationalversammlung die Legitimität der Monarchie auf den allgemeinen Willen. Artikel  3 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 übertrug die oberste Gewalt im Staate vom Monarchen auf die Nation und damit auf die Gesamtheit aller Untertanen des Königs von Frankreich. Im Namen der Nation verabschiedete die Nationalversammlung im September 1791 die erste moderne Verfassung Frankreichs. Die Verfassung legte die Verfahren fest, nach denen die Nation ihren Willen in politische Entscheidungen umsetzen konnte. Sie machte den König zum obersten Beamten des Staates und übertrug ihm die ausführende Gewalt. Seine Macht beruhte nicht länger auf historischem Recht, sondern auf der Bestellung durch die Nation und auf den Vollmachten, die mit dieser Bestellung verbunden waren. Durch den in der Verfassung vorgeschriebenen Amtseid erkannte der König diese Grundlagen an. Aus der ständischen Monarchie des Ancien régime wurde eine nationale Monarchie, in der die Nation sich selbst das Gesetz gab, und aus den Untertanen des Königs wurden Staatsbürger. Allerdings war die revolutionäre Neuschöpfung nicht von Dauer. Schon nach weniger als einem Jahr verlor die Nation das Vertrauen in ihren obersten Beamten. Im September 1792 wurde die Monarchie abgeschafft und an ihrer Stelle die Republik proklamiert. Gescheitert war damit der Versuch, die Monarchie unter einer demokratischen Verfassung zu nationalisieren1. Im Jahre 1804 wurde mit dem napoleonischen Kaiserreich eine nationale Monarchie neuen Typs ins Leben gerufen, die sich durch Plebiszite demokratische Bestätigung und durch große Politik und Eroberungskriege nationale Legitimation zu verschaffen suchte. Auf historisch gewachsenes Recht konnte sie sich nicht berufen. Ihre Chance auf Dauerhaftigkeit hing vom Erfolg ab. 1  Zum Sturz der Monarchie in Frankreich vgl. Munro Price, The Fall of the French Monarchy. Louis XVI, Marie Antoinette and the Baron de Breteuil, London 2002.

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„Meine Herrschaft überdauert den Tag nicht, an dem ich aufgehört habe, stark und folglich gefürchtet zu sein“, soll Napoleon Metternich am 26. Juni 1813 in Dresden erklärt haben2. Tatsächlich bedrohte der Rückgang des Kriegsglücks seit dem Scheitern des Feldzugs nach Rußland im Jahre 1812 die Legitimationsgrundlage des Kaiserreichs. Da Napoleon sich weigerte, die Friedensbedingungen der gegen ihn gerichteten Koalition zu akzeptieren, mündete der Krieg am 31. März 1814 in die Besetzung der französischen Hauptstadt. Im Schutze der Besatzer setzte der napoleonische Senat den Kaiser am 2. April ab. Vier Tage später verabschiedete er im Namen der Nation eine neue Verfassung3. Gemäß Artikel 2 dieser Verfassung berief das französische Volk den Grafen von Provence, den jüngeren Bruder Ludwigs XVI., auf den Thron. Artikel 29 bestimmte, daß der Graf, sobald er die Verfassung beschworen hätte, nach dem Muster der Verfassung von 1791 zum König der Franzosen proklamiert werde. Die Verfassung selbst sollte zu gegebener Zeit einem Referendum unterworfen werden. Die Aktion des Senats war ein neuer Versuch, auf demokratischer Grundlage eine nationale Monarchie zu schaffen. Die Wahl des Monarchen war allerdings riskant, denn im Unterschied zu Ludwig  XVI. hatte der Graf von Provence die Revolution und den Sturz der Monarchie niemals anerkannt. Seit dem Tod des Dauphins im Jahre 1795 betrachtete er sich kraft monarchischen Erbrechts als König von Frankreich und nannte sich Ludwig XVIII. Sich von einem Organ der Revolution zu einem König der Franzosen berufen zu lassen, lehnte er ab. Er sah jedoch ein, daß er den Absolutismus des Ancien régime nicht wieder herstellen und ohne Verfassung regieren könne. Daher berief er nach seiner Rückkehr aus Vertretern des Senats und des Corps législatif eine Kommission mit dem Auftrag, die Verfassung des Senats zu überarbeiten. Durch die Überarbeitung entstand aus der demokratischen Senatsverfassung eine Verfassung nach dem monarchischen Prinzip4. Eine Bestätigung durch die Nation war nicht vorgesehen. Vielmehr oktroyierte der König die Verfassung unter dem Namen einer Charte constitutionnelle am 4. Juni 1814 aus eigener Machtvollkommenheit5. 2  Wenzel Clemens Fürst von Metternich, Autobiographische Denkschrift, in: ders., Nachgelassene Papiere, Teil 1, Bd. 1, Wien 1880, 7–219, hier 151; zur Glaubwürdigkeit von Metternichs Bericht vgl. Volker Sellin, Die geraubte Revolution. Der Sturz Napoleons und die Restauration in Europa, Göttingen 2001, 62–64. 3  Text der Verfassung des Senats in: Le Moniteur universel, 8.4.2014, und in: Wilhelm Altmann (Hrsg.), Ausgewählte Urkunden zur außerdeutschen Verfassungsgeschichte seit 1776, Berlin 1897, 201–204. Zur Entstehungsgeschichte der Verfassung vgl. V. Sellin, Revolution (Anm. 2), 155–163. 4  Über die Arbeit der Verfassungskommission vgl. V. Sellin, Revolution (Anm. 2), 225–275. 5  Text der Charte constitutionnelle von 1814, in W. Altmann, Urkunden (Anm. 3), 204–210, und in: Jacques Godechot (Hrsg.), Les constitutions de la France depuis 1789, Paris 1970, 217–224.



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Mit dem Oktroi riß der König zwischen Monarchie und Nation eine Kluft auf. Die Nation war seit einem Vierteljahrhundert im unangefochtenen Besitz der verfassunggebenden Gewalt gewesen, wie es die französische Nationalversammlung erstmalig am 26. August 1789 in Artikel 3 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte festgestellt hatte. Über diesen Grundsatz ging Ludwig XVIII. mit dem Oktroi der Charte hinweg. Die Kluft zwischen Nation und restaurierter Monarchie wurde offenbar, als Napoleon im März 1815 aus seinem Exil auf der Insel Elba entwich und die Macht in kurzer Frist zurückeroberte. Die am 22. und 23.  April 1815 durch Plebiszit ausgesprochene Zustimmung der Nation zur Erneuerung des Kaiserreichs war ein klares Votum gegen die Restauration der Monarchie unter dem Hause Bourbon. Die Verbündeten, die noch in Wien auf dem Kongreß weilten, waren allerdings nicht bereit, sich mit der Rückkehr Napoleons auf den Thron Frankreichs und mit einer Erneuerung der nationalen Monarchie unter dem Hause Bonaparte abzufinden. Daher stellten sie von neuem eine Armee ins Feld. Im Juni 1815 wurde Napoleon bei Waterloo endgültig geschlagen. Zwei Monate später wurde er mit einer britischen Fregatte auf die Insel Sankt Helena im Südatlantik verbracht6. Die Leichtigkeit, mit der Napoleon nach dem Ausbruch aus seiner Internierung auf Elba die Zustimmung der Nation und damit die Macht in Frankreich zurückgewann, war ein schwerer Rückschlag für die Restauration der Bourbonen. Angesichts dessen hätte man erwarten dürfen, daß die Regierung Ludwigs XVIII. nunmehr ihre ganze Kraft darauf wandte, die restaurierte Monarchie in der Nation zu verankern. Doch der Prozeß kam nicht voran. Noch im Dezember 1817 nannte es Innenminister Elie Decazes in der Deputiertenkammer die vordringliche Aufgabe der Regierung, „die Nation monarchisch und die Monarchie national zu machen“ (royaliser la nation, nationaliser le royalisme)7. Mit diesem Appell legte Decazes den Finger auf den Geburtsfehler der Restauration. Da Ludwig XVIII. die Verfassung des Senats verworfen hatte, fehlte ihm die Rückbindung an den Willen der Nation. In der Charte constitutionnelle waren zwar zahlreiche Errungenschaften der Revolution und des Kaiserreichs festgeschrieben worden; sie war jedoch ohne Beteiligung der Nation zustandegekommen und räumte den Kammern keinen Einfluß auf die Zusammensetzung und den Kurs der Regierung ein. Das erschwerte die nachträgliche Nationalisierung der Monarchie, schloß sie jedoch, wie der Appell von Elie Decazes zeigt, nicht geradezu aus. 6  Volker Sellin, Der Tod Napoleons, in: ders., Politik und Gesellschaft. Abhandlungen zur europäischen Geschichte, hrsg. v. Frank-Lothar Kroll, München 2015, 197– 206. 7  Archives parlementaires, Serie 2, Bd. 19, Paris 1870, 785; vgl. Volker Sellin, Gewalt und Legitimität. Die europäische Monarchie im Zeitalter der Revolutionen, München 2011, 219.

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Angesichts der Zurückweisung seiner Verfassung durch den Grafen von Provence könnte man sich fragen, warum der Senat einen Mann auf den Thron berief, von dem bekannt war, daß er die Revolution niemals akzeptiert hatte. Eine Antwort auf diese Frage findet sich in den Memoiren Talleyrands. Im Laufe der Beratungen mit Zar Alexander  I. am 31.  März 1814 über die Frage, wer Napoleon nach dessen Absetzung auf dem Thron Frankreichs nachfolgen könnte, sprach Talleyrand sich mit dem Argument für die Restauration des Hauses Bourbon aus, daß man die Zustimmung des Landes für einen Wechsel der Dynastie nur gewinne, wenn man nach einem Prinzip verfahre: „Mit einem Prinzip sind wir stark; mit einem Prinzip werden wir auf keinen Widerstand stoßen; auf jeden Fall werden die Kritiker in kurzer Zeit verstummen; und an Prinzipien gibt es nur ein einziges: Ludwig XVIII. ist ein Prinzip; er ist der legitime König von Frankreich.“8 Die Aktion des Senats war eine Revolution gegen die herrschende Verfassungsordnung. Daher konnte sie nicht aus dem geltenden Recht begründet werden. Die Zugehörigkeit zum alten Königshaus dagegen war ein außerrechtliches Kriterium, das den Grafen von Provence vor allen anderen in Betracht gezogenen Kandidaten auszeichnete. Offenbar rechnete Talleyrand damit, daß der Name Bourbon auch mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Sturz der Monarchie in der politischen Klasse Frankreichs noch immer Gewicht besaß. Hatte Ludwig XVIII. dank seiner Umsicht und Klugheit einen offenen Konflikt mit der Nation vermeiden können, so führte der Kurs seines Bruders und Nachfolgers Karl X. im Jahre 1830 zum Zusammenbruch der Restaurationsmonarchie. Die Julirevolution entkleidete die 1814 wiederhergestellte Monarchie ihres Gottesgnadentums und gründete sie stattdessen auf die Souveränität und den Willen der Nation, wie es der napoleonische Senat schon im April 1814 angestrebt hatte. Damit wurde die Monarchie der Restauration aus einer Monarchie dynastischer Selbstherrlichkeit unter dem Hause Bourbon in eine nationale Monarchie unter dem Haus Orléans umgewandelt. Die politische Wende von 1830 wurde durch symbolische Akte bekräftigt. Nach der Vertreibung Karls X. wurde das Lilienbanner der alten Monarchie von der Säule der Großen Armee auf der Place Vendôme entfernt und durch die Trikolore der Revolution ersetzt9. 1833 wurde das von Emile Seurre angefertigte Standbild Napoleons, das ihn als Soldat und nicht als Kaiser zeigt, auf die Säule gestellt10. Im Jahre 1840 schließlich wurden die Gebeine Napoleons feierlich von Sankt Helena nach Paris überführt und im 8  Charles Maurice de Talleyrand, Mémoires, hrsg. von duc de Broglie, Bd. 2, ­ aris 1891, 165; zu den Beratungen vom 31.  März 1814 im Hause Talleyrands vgl. P V. Sellin, Revolution (Anm. 2), 132–140. 9  Volker Sellin, Napoleon auf der Säule der Großen Armee. Metamorphosen eines Pariser Denkmals, in: ders., Politik und Gesellschaft (Anm. 6), 207–36, hier 216. 10  Ebd., 222.



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Invalidendom zur letzten Ruhe gebettet. Mit diesen symbolischen Akten stellte sich die Julimonarchie offen in die Tradition der Revolution und des Kaiserreichs. Außerhalb Frankreichs wurde der Oktroi der Charte constitutionnelle im 19. Jahrhundert zum Vorbild für alle Monarchien, die sich durch die Stiftung von Verfassungen zeitgemäß zu legitimieren suchten, ohne den Anspruch auf ihr eigenständiges Herrschaftsrecht preiszugeben. Mit dem Oktroi der Charte hatte Ludwig XVIII. vorgeführt, wie Gottesgnadentum und Verfassungsstaat miteinander in Einklang gebracht werden konnten. Der Verfassungsoktroi als Methode zur Gewinnung von Legitimität war jedoch nicht seine Erfindung gewesen. Vor ihm hatte Napoleon diese Methode systematisch praktiziert. Allerdings hatte Napoleon die drei Verfassungen, die seinen Aufstieg zum Ersten Konsul und zum Kaiser der Franzosen kodifizierten, durch Plebiszite bestätigen lassen11. Auch der von Benjamin Constant ausgearbeitete Acte additionnel aux constitutions de l’Empire, mit dem Napoleon nach seiner Rückkehr von Elba die Charte Ludwigs XVIII. an Liberalität zu übertreffen und die noch in Wien versammelten Staatsmänner zu versöhnen hoffte, wurde durch Plebiszit sanktioniert12. In den von ihm eroberten Nachbarstaaten hatte Napoleon seine Herrschaft und die Herrschaft seiner Familienangehörigen ebenfalls regelmäßig durch den Oktroi von Verfassungen zu legitimieren gesucht. Auf Plebiszite hatte er dort allerdings verzichtet. Über die Motive dieser Politik äußerte er sich in einem Brief, mit dem er seinem Bruder Jérôme am 15. November 1807 eine Verfassung für das Königreich Westphalen übermittelte, das er zuvor aus Territorien ganz unterschiedlicher Herkunft willkürlich zusammengesetzt hatte. In dem Brief ermahnte er Jérôme, sich sorgfältig an die Verfassung zu halten, denn sie schaffe ein solches Maß an Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit, daß seine Untertanen sich niemals mehr unter ihre vormaligen Herren zurücksehnen würden13. Durch Konstitutionalisierung von oben wollte Napoleon in die Bürger der unhistorischen Staatsschöpfung Loyalität gegenüber ihrem neuen Herrn und ein nationales Bewußtsein einpflanzen. Diese Politik entsprach dem in der Revolution in Frankreich zum Durchbruch gelangten nominalistischen Nationsverständnis. Danach waren Nationen nicht allein durch Natur und Geschichte vorgegeben, sondern auch Ergebnis eines politischen Willensakts. In Napoleons Augen ließ sich jede durch ein Staatsgebiet definierte Gruppe von Menschen durch die Stiftung einer Verfassung zu einer Nation formen. Dementsprechend suchte er seine Herrschaft über weite Teile des Kontinents dadurch zu befestigen, daß er ein 11  V.

Sellin, Gewalt und Legitimität (Anm. 7), 177 f. 179. 13  Napoléon Ier, Correspondance, Bd. 16, Paris 1864, Nr. 13361, 166 f. 12  Ebd.,

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System von Nationalstaaten schuf, deren Bestand mit Hilfe von Verfassungen im politischen Willen der Bürger verankert wurde. Im selben Jahr, in dem das Königreich Westphalen entstand, formte Napoleon aus den Gebieten der alten polnischen Adelsrepublik, die Preußen in den Teilungen von 1793 und 1795 erworben hatte, das Herzogtum, später das Großherzogtum Warschau. Um dessen Bewohner zu einer Nation zusammenzuschließen, gab er auch ihnen eine Verfassung, den Statut constitutionnel du duché de Varsovie14. Nach dem Scheitern Napoleons in Rußland 1812 besetzten russische Truppen das Großherzogtum. Zar Alexander bildete daraus ein polnisches Erbkönigreich und verband es in Personalunion mit dem Russischen Reich. In Nachahmung der napoleonischen Methode gab er ihm am 27. November 1815 ebenfalls eine moderne Repräsentativverfassung. Sie war der französischen Charte constitutionnelle nachgebildet und beruhte wie diese auf dem monarchischen Prinzip15. Das russische Reich selbst erhielt keine Verfassung. Allerdings erhoben sich auch in Rußland Stimmen, die aus Sorge um den Zusammenhalt des Vielvölkerstaats auf die Entwicklung eines gesamtrußländischen Bewußtseins und eines einheitlichen Nationalcharakters drängten. Sergej Uvarov, von 1833 bis 1849 Erziehungsminister unter Zar Nikolaus I., wollte den Bewohnern des Reiches zum Bewußtsein bringen, ein Volk zu sein, und sie durch politische Erziehung zu einer gesamtrussischen Nation formen. Gegen Ende des Jahrhunderts prägte der Literaturwissenschaftler Aleksandr Pypin für die Leitvorstellung der von Uvarov entwickelten Grundsätze nationalpolitischer Erziehung den Begriff „offizielle Nationalität“ (narodnost’ oficial’naja)16. Der Begriff umschreibt durchaus treffend auch das Ziel der napoleonischen Nationalisierungspolitik. Hatten die Rheinbundfürsten ihre neugewonnene Staatlichkeit durch Verfassungspolitik vor dem Auseinanderbrechen schützen und nationalpolitisch untermauern wollen, so ging es Uvarov um die Integration der im Zuge der polnischen Teilungen gewonnenen westlichen Gubernien in das Russische Reich. Für das napoleonische Deutschland ist die Geschichte des Königreichs Westphalen exemplarisch. Seit dem Reichsdeputationshauptschluß von 1803 hatten auf dem Gebiet des Alten Reiches mehrfach umfassende Territorial14  Text der Verfassung in: Comte d’Angeberg [Pseudonym für Leonard Jakob Borejko Chod’zko] (Hrsg.), Recueil des Traités, Conventions et Actes Diplomatiques concernant la Pologne 1762–1862, Paris 1862, 470–481; die polnischsprachige Fassung in: Marceli Handelsman (Hrsg.), Konstytucje Polskie, 1791–1821, Warszawa 1922, 27–39. 15  Charte constitutionnelle du royaume de Pologne de 1815, in: Comte d’Angeberg, Recueil (Anm. 14), 707–724; Ustawa konstytucyjna Królestwa Polskiego z dn 27 listopada 1815 r., in: M. Handelsman, Konstytucje Polskie (Anm. 14), 47–65; vgl. Volker Sellin, Das Jahrhundert der Restaurationen 1814–1906, München 2014, 49 f. 16  V. Sellin, Gewalt und Legitimität (Anm. 7), 231–235.



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verschiebungen stattgefunden mit der Folge, daß Untertanen in großer Zahl neuen Herrschern unterworfen wurden. Die nicht selten wiederholte Entfremdung der Bürger von ihrer Obrigkeit gefährdete die Autorität von Obrigkeit überhaupt. Auf diese Gefahr wies in drastischer Form der ehemalige Jakobiner Johann Andreas Georg Friedrich Rebmann am 4. September 1815 in einem Brief aus Kaiserslautern hin, als über die Zukunft der rheinischen Pfalz, die 20 Jahre lang zu Frankreich gehört hatte, noch immer nicht entschieden war: „Übrigens wissen die Götter, wenn und wann unsre Seelen hier zu Lande gebadet, gedarmt, gepreußt oder geösterreichert werden. Wenn wir nur beisammen bleiben und keinem Oktav- oder gar Duodezherrscher zufallen, so mag es noch gehen, aber leider scheint es nur zu wahrscheinlich, daß auf dem Donnersberge nicht Adler, sondern Krähen und Elstern nisten und unsre Seelen als Jetons zum Ausgleichen und Ausfüllen verwandt werden möchten. […] Seit 14 Tagen schon heißt es, der Friede sei lang geschlossen, und alle Tage bestimmt man diesen Ländern neue Herren.“17 In einer Epoche fortgesetzter Umbrüche waren sich die Monarchen der Gefahr des Legitimitätsverlusts mit der zwangsläufigen Folge politischer Destabilisierung nur allzu bewußt. Daher wurde auf dem Wiener Kongreß in Artikel 13 der Deutschen Bundesakte eine Bestimmung aufgenommen, die allen Mitgliedstaaten die Einführung einer Verfassung vorschrieb. Durch Konstitutionalisierung sollten aus den heterogenen Untertanen der neu geschaffenen Monarchien Nationen geformt werden. Diese Entscheidung stand unverkennbar in der Tradition der napoleonischen Reichsbildung. Einer der ersten Monarchen, die den Weg der Konstitutionalisierung beschritten, um ihr stark erweitertes Herrschaftsgebiet national zu integrieren, war Maximilian I. Joseph von Bayern. Am 26. Mai 1818 gab er seinem Königreich eine moderne Repräsentativverfassung. Über die Wirkung dieses Schritts urteilte der Kriminalist Anselm von Feuerbach, damals Erster Präsident des Appellationsgerichts im ehemals preußischen, seit 1815 bayerischen Ansbach im März 1819: „Es ist in sehr vieler Beziehung jetzt eine große Freude, Bayern anzugehören. […] Erst mit dieser Verfassung hat sich unser König Ansbach und Bayreuth, Würzburg, Bamberg und so weiter erobert. Jetzt sollte man einmal kommen und uns zumuten, eine andere Farbe als blau und weiß zu tragen! Die Freiheit macht groß und stark!“18 Im Oktroi der Verfassung erblickte Feuerbach somit nicht nur die Gewährung von Rechtsgarantien und 17  Rebmann an Hermes, Kaiserslautern, 4.9.1815, in: Günther Volz (Hrsg.), Briefe Andreas Georg Friedrich Rebmanns an Johann Peter Job Hermes aus den Jahren 1815 und 1816, in: MHVPf 57 (1959), 178. 18  Anselm Ritter von Feuerbach an Tiedge und Elise von der Recke, Ansbach, 27. März 1819, in: Ludwig Feuerbach (Hrsg.), Anselm Ritter von Feuerbach’s Leben und Wirken aus seinen ungedruckten Briefen und Tagebüchern, Vorträgen und Denkschriften, Bd. 2, Leipzig 1852, 112 f.

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Mitwirkungsmöglichkeiten, sondern auch ein Verfahren, um die ursprünglich aus ganz unterschiedlichen Territorien stammenden Untertanen des Königs von Bayern zu einer bayerischen Nation zusammenzuschließen. Durch die Verfassung hoffte der König seine alten und neuen Untertanen unter der Krone Bayerns zu nationalisieren. Zu den Untertanen zählte auch der ehemals reichsunmittelbare Adel, die sogenannten Mediatisierten oder Standesherren, die durch den Reichsdeputationshauptschluß von 1803 ihre Reichsstandschaft verloren hatten. Für ihre Nationalisierung und ihre Transformation in Bürger des Königreichs Bayern wurden sie dadurch entschädigt, daß die Verfassung den Häuptern der standesherrlichen Familien Sitz und Stimme in der Ersten Kammer einräumte. Mit der von Leo von Klenze entworfenen Konstitutionssäule setzte einer von ihnen, Franz Erwein Graf von SchönbornWiesentheid der bayerischen Verfassung in Gaibach im Jahre 1828 ein Denkmal, das bis heute dort steht19. Nicht wenige Zeitgenossen bezweifelten, daß der Oktroi von Verfassungen allein genüge, um aus Untertanen unterschiedlicher Herkunft Nationen zu formen und Monarchien dauerhaft zu legitimieren. Der bayerische Historiker und Hofbibliothekar Johann Christoph Freiherr von Aretin hatte schon 1810 geschrieben, daß eine bayerische Staatsnation nur auf der Grundlage eines bayerischen „National-Charakters“ entstehen könne. „Nur dann, wenn wir machen können, daß der Baier nie Bürger eines anderen Staates als des bayerischen werden kann, haben wir die Selbständigkeit von Bayern fest gegründet“. Im Besitz eines solchen „National-Charakters“ werde kein Bayer mehr das Bedürfnis verspüren, einem anderen Staate anzugehören als dem bayerischen20. Um aber einen bayerischen Nationalcharakter auszubilden, empfahl Aretin eine ganze Palette von nationalpolitischen Erziehungsmaßnahmen. Dazu gehörte unter anderem die Herausgabe von „teutschen Spielkarten für das bayrische Volk“, auf denen Szenen aus der glorreichen Geschichte des Hauses Wittelsbach dargestellt waren21. Aretins Motiv liegt auf der Hand. Auch wenn der Reichsdeputationshauptschluß die Form eines Reichsgesetzes erhalten hatte, blieb ungewiß, ob die Untertanen ihre jeweiligen neuen, von Reichs wegen zugewiesenen Herren ohne weiteres als ihre legitime Obrigkeit anerkennen und sich nicht bei nächster Gelegenheit ebenso bereitwillig wieder einer anderen Herrschaft unterordnen würden. Dieser Gefahr sollte die bayerische Verfassung dadurch entgegenwirken, daß sie die willkürlich zusammengewürfelten Untertanen zu einer Nation vereinigte und als solche in den Grenzen ihrer politischen 19  V.

Sellin, Gewalt und Legitimität (Anm. 7), 212–214. Sellin, Nationalbewußtsein und Partikularismus in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: ders., Politik und Gesellschaft (Anm. 6), 287–304, hier 296 f. 21  Ebd., 298. 20  Volker



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Rechte zu Mitregenten machte. Da jedoch auch die Nachbarstaaten Verfassungen erhielten, genügte die Gewährung von politischen Mitwirkungsrechten allein nicht, um die neu gewonnenen Bürger von den Vorteilen der bayerischen Staatsbürgerschaft zu überzeugen. Dazu bedurfte es vielmehr einer nationalbayerischen Propaganda, in der Bayern über die Nachbarstaaten hinausgehoben wurde. In dieselbe Richtung sollten auch der triumphale Ausbau der Stadt München und insbesondere die prachtvolle Anlage der Ludwigstraße mit dem Siegestor wirken. Der Gedanke, daß ein Monarch aus seinen Untertanen eine Nation bilden könne, kam für einen Zeitgenossen der Französischen Revolution nicht überraschend. Als die Nationalversammlung in Versailles im Juni 1789 die Souveränität der Nation proklamierte, war den Abgeordneten bewußt, daß es eines gewaltigen Erziehungsprozesses bedurfte, um die Bürger überall im Lande für die neue Staatsordnung zu gewinnen und ihnen das Bewußtsein zu vermitteln, eine Nation zu bilden. Zum Zwecke der politischen Erziehung wurden durch die Verfassung von 1791 Nationalfeste eingeführt. Wie es dort heißt, sollten diese Feste die Erinnerung an die Französische Revolution bewahren, die Brüderlichkeit zwischen den Bürgern aufrechterhalten und sie an die Verfassung, an das Vaterland und an die Gesetze binden22. Eine ähnliche Vorschrift wurde 1795 auch in die Direktorialverfassung aufgenommen. Anläßlich des ersten großen Fests der Revolution, des Fests der Fédération im Jahre 1790, schrieb der Architekt Bernard Poyet, die großen öffentlichen Feiern übten eine elektrisierende Wirkung auf die Teilnehmer aus, so daß sie zuletzt alle von denselben Gefühlen erfüllt würden23. Tatsächlich waren die Feste ein Instrument der Propaganda für die demokratische Monarchie. Nach dem Sturz der Monarchie im Sommer 1792 dienten die Nationalfeste stattdessen der Einübung republikanischer Tugenden. La Revellière-Lépeaux meinte 1796, die Nationalfeste müßten eine solche Hingabe an die Nation hervorrufen, daß kein Bürger zögere, sein Leben „unter Verachtung des Todes und unter Erduldung von Schmerzen dem Glück und dem Ruhm der Republik zu weihen“24. An diese Tradition knüpfte auch das Kaiserreich an. 22  Constitution française 1791 Titre I. Dispositions fondamentales garanties par la Constitution, in: W. Altmann, Urkunden (Anm. 3), 61: „Il sera établi des fêtes nationales pour conserver le souvenir de la révolution française, entretenir la fraternité entre les citoyens et les attacher à la Constitution, à la patrie et aux lois“; Constitution de la république française 1795, Artikel 301, ebd., 122: „Il sera établi des fêtes nationales, pour entretenir la fraternité entre les citoyens et les attacher à la constitution, à la patrie et aux lois“. 23  Volker Sellin, Der napoleonische Staatskult, in: ders., Politik und Gesellschaft (Anm. 6), 145–168, hier 148. 24  Louis-Marie de La Revellière-Lépeaux, Réflexions sur le culte, sur les cérémonies civiles et sur les fêtes nationales, lues dans la séance du 12 floréal an VI de la

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Die Feste der Revolution fanden ihre Fortsetzung im napoleonischen Staatskult. Im Unterschied zu den republikanischen Festen handelte es sich nunmehr allerdings um staatlich angeordnete Feste, um fêtes octroyées, wie Mona Ozouf formulierte25. So ordnete der Präfekt des Départements Donnersberg, Jeanbon St. André, im August 1807 im Hinblick auf die bevorstehenden Feiern zum Geburtstag des Kaisers per Erlaß an, „die öffentliche Freude“ überall zur Geltung zu bringen: La joie publique doit se manifester partout26. Nur mit Einschränkung glich der Oktroi der bayerischen Verfassung von 1818 dem Oktroi der Charte constitutionnelle in Frankreich. Der Oktroi der Charte war die Antwort des Königs auf die demokratische Verfassung vom 6.  April 1814 gewesen, die der napoleonische Senat nach der Absetzung Napoleons verabschiedet hatte. Ludwig XVIII. hatte mit dem Oktroi auf einen revolutionären Akt reagiert mit dem Ziel, seine monarchische Prärogative zu behaupten. Er war sich darüber im klaren, daß er nur als konstitutioneller König akzeptiert würde, aber zugleich suchte er den Erwartungen der Nation auf eine Weise nachzukommen, die seinen monarchischen Ansprüchen nicht zuwiderlief. Er suchte die monarchische Legitimität im Angesicht der Revolution zu bewahren27. In Bayern dagegen hatte keine Revolution stattgefunden, und keine Körperschaft hatte König Maximilian I. Joseph im Namen der Nation eine demokratische Verfassung zur Annahme vorgelegt. Das gilt auch für alle übrigen deutschen Staaten, in denen bis zur Revolution von 1848 Verfassungen oktroyiert wurden. Dagegen entsprach die Geschichte der Verfassungsschöpfung in Preußen und Österreich im Laufe der Revolution weit eher dem Vorbild, das Frankreich 1814 gegeben hatte. König Friedrich Wilhelm IV. oktroyierte am 5.  Dezember 1848 eine Verfassung, weil sich die preußische Nationalversammlung, mit der eine Verfassung hätte vereinbart werden sollen, im Laufe des Sommers in einem Maße radikalisiert hatte, daß er jede Hoffnung auf Verständigung verlor28. Mit dem Oktroi ging er über die Rechtsansprüche der Versammlung ebenso hinweg, wie Ludwig XVIII. über die Verfassung des napoleonischen Senats hinweggegangen war. Immerhin blieb die oktroyierte preußische Verfassung nach ihrer Revision im Jahre 1850 bis zum Ende der Monarchie in Kraft, während die im classe des sciences morales et politiques de l’Institut national, in: ders., Mémoires, Band 3, Paris 1895, 7–27, hier 22. 25  Mona Ozouf, La fête révolutionnaire 1789–1799, Paris 1976, 23. 26  Der Präfekt des Département Donnersberg, Jeanbon St. André, an die Unterpräfekten und an die Bürgermeister von Mainz und Bingen, 6. August 1807, Landesarchiv Speyer, G6 / 456, fol. 114r. 27  Zur Entstehung der Charte constitutionnelle vgl. V. Sellin, Revolution (Anm. 2), 225–273. 28  Ebd., 316–318.



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Verlauf der Revolution oktroyierte österreichische Verfassung schon 1851 wieder aufgehoben wurde. Die Frankfurter Nationalversammlung schickte sich in der Revolution von 1848 an, Deutschland unter einer nationalen und demokratischen Monarchie zu einigen. Zum Staatsoberhaupt wählte sie im März 1849 den König von Preußen und damit einen Fürsten, der nur wenige Wochen zuvor die preußische Nationalversammlung aufgelöst und eine Verfassung nach dem monarchischen Prinzip oktroyiert hatte. Im Unterschied zur oktroyierten preußischen Verfassung beruhte die deutsche Reichsverfassung der Paulskirche auf der Souveränität der Nation. Es ist schwer vorstellbar, wie ein durch göttliche Einsetzung legitimierter König von Preußen in einer Person zugleich ein demokratisch legitimierter Kaiser der Deutschen hätte werden können. Insofern war es nur konsequent, daß Friedrich Wilhelm IV. die Kaiserkrone und damit die demokratische Nationalisierung der Hohenzollernmonarchie ablehnte. Von den am Vorabend der Revolution in den italienischen Staaten oktroyierten Verfassungen überstand nur der Statuto albertino des Königreichs Sardinien die Reaktion, die auf das Scheitern der Revolution folgte. Alle anderen Monarchien kehrten zum Absolutismus zurück. Die Folge war, daß sich ihre Untertanen im Zuge der nationalen Einigung überall von ihren historischen Dynastien abwandten und das Haus Savoyen als nationale Dynastie Italiens akzeptierten. Die nationale Monarchie entstand durch Ausweitung des Geltungsbereichs des Statuto albertino von Piemont auf ganz Italien. Durch Plebiszite bestätigten die Bürger diesen Prozeß. Die Monarchie des Hauses Savoyen wurde in doppeltem Sinne nationalisiert. Ihre Herrschaftsbefugnis wurde auf ganz Italien ausgeweitet, und diese Ausweitung erfolgte aufgrund des expliziten Votums der Nation. Allerdings war die Mitwirkung der Nation an der politischen Willensbildung zunächst durch das Wahlrecht eingeschränkt. Im Prozeß der Nationalisierung der Monarchie in Europa bildete das zweite französische Kaiserreich eine wichtige Etappe. Durch Plebiszit demokratisch begründet, demonstrierte es zugleich den prekären Charakter dieser Form von Legitimation in einer Monarchie. Zwar fanden im Kaiserreich nur wenige formelle Plebiszite statt, dafür aber wirkte schon jede Wahl zum Corps législatif wie ein Plebiszit über das Regime. Das lag wesentlich an den offiziellen Kandidaturen, mit denen die Regierung sich unter massiver Wahlbeeinflussung ein gefügiges Parlament zu sichern hoffte. Der Erfolg oder Mißerfolg der offiziellen Kandidaten war ein unübersehbarer Indikator für die Akzeptanz des Systems und damit für das Maß der Zustimmung, das die Nation dem Regime entgegenbrachte. Vergleicht man die Entstehung monarchischer Verfassungsstaaten seit der Französischen Revolution, so zeigt sich, daß nicht die Verfassungsschöpfung

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durch verfassunggebende Versammlungen nach dem Vorbild der Assemblée nationale von 1789, sondern der Verfassungsoktroi nach dem Muster der Charte constitutionnelle von 1814 die Verfassungsentwicklung in den Monarchien des Kontinents bestimmte. In der Tat ist der Siegeszug des modernen Verfassungsstaats im Europa des 19. Jahrhunderts weit weniger der Revolution selbst als vielmehr den zahlreichen Restaurationen zu verdanken, die zur Vermeidung oder zur Überwindung von Revolutionen ins Werk gesetzt wurden. Durch die Bismarcksche Reichsgründung wurde auch Deutschland zu einer nationalen Monarchie. Auch wenn sie sich nicht auf die Souveränität der Nation stützte, beruhte ihre Legitimität doch wesentlich darauf, daß die nationale Bewegung damit ihr Ziel erreicht hatte, Deutschland zu einigen. Allerdings blieb auch hier wie im Frankreich der Restaurationsepoche zwischen Monarchie und Nation eine Kluft. Weil die Vertreter der Nation die Regierung nicht wie in einem parlamentarischen System abberufen konnten, nannte Hugo Preuss das politische System des Kaiserreichs in einer Schrift von 1915 im Unterschied zu den parlamentarischen „Volksstaaten“ Westeuropas einen „Obrigkeitsstaat“29. Den Begriff hatte Otto von Gierke im Jahre 1868 für den Fürstenstaat der frühen Neuzeit geprägt, in dem die Untertanen von der Teilnahme an der Regierung ausgeschlossen waren30. Staatsrechtlich war das Bismarckreich ein Bund der deutschen Fürsten unter dem Vorsitz des Königs von Preußen. Politisch jedoch entwickelte es sich zu einer nationalen Monarchie unter der Dynastie der Hohenzollern, der gegenüber die übrigen Fürsten je länger je mehr in den Hintergrund traten. Schon deshalb war in der Krise der Monarchie am 9. November 1918 der Gedanke des Grafen von der Schulenburg verfehlt, Wilhelm möge die Kaiserkrone niederlegen, die preußische Krone jedoch behalten31. Die Nationalisierung der preußischen Monarchie zum deutschen Kaisertum war längst unumkehrbar geworden, und die Berufung des Königs von Preußen zum deutschen Kaiser war kein Auftrag, den Wilhelm II. hätte nach Belieben zurückgeben können. Einen teilweise bis heute sichtbaren Ausdruck fand die Nationalisierung der Monarchie in den nationalen Denkmalskirchen und den Heldendenkmälern des 19. Jahrhunderts. Nach dem Sieg über Napoleon beauftragte Alexander I. den Architekten Aleksandr Vitberg mit der Planung einer nicht weniger 29  Hugo

Preuß, Das deutsche Volk und die Politik, Jena 1915, passim. von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 1, Berlin 1868, 642; Volker Sellin, Art. Regierung, Regime, Obrigkeit, in: Otto Brunner / Werner Conze /  Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart 1984, 413–416. 31  Kuno Graf Westarp, Das Ende der Monarchie am 9. November 1918, hrsg. von Werner Conze, Berlin 1952, 74, 88 f. 30  Otto



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als 170 Meter hohen Denkmalskirche auf den Sperlingsbergen außerhalb Moskaus, der Christ-Erlöser-Kathedrale (Chram Christa Spasitelja). Sie hätte das größte Gebäude der Welt werden sollen, konnte jedoch nicht gebaut werden, weil sich der Untergrund als ungeeignet erwies, um ein Bauwerk dieser Größe zu tragen. Daher ließ Nikolaus I. durch den Architekten Konstantin Ton einen Bau in kleineren Dimensionen in der Nähe des Kreml errichten. Eingeweiht wurde die Kirche bei der Krönung Zar Alexanders III. im Jahre 188332. Die Italiener verewigten den Gründer des Königreichs Italien, Viktor Emanuel II., an der Nordseite des antiken Kapitols im sogenannten Vittoriano, das mit seinem weißen Marmor die Stadt überragt. Vor der Kulisse des Denkmals steht das Reiterstandbild des Gründerkönigs, des Padre della Patria, als den ihn Ministerpräsident Agostino Depretis bei der Grundsteinlegung am 22. März 1885 pries33. Die nationale Legitimation des Königs sollte durch die Säulenarchitektur, die dynastische Legitimation durch das Reiterstandbild zum Ausdruck gelangen. Für Kaiser Wilhelm I. war in Berlin ein vergleichbares Denkmal geplant, in dem die Größe der Nation durch die Architektur und die Leistung der Dynastie durch ein Reiterstandbild dargestellt werden sollten. Die Pläne scheiterten an der Intervention Wilhelms II. So blieb es bei dem von Reinhold Begas geschaffenen Reiterstandbild auf der Schloßfreiheit zwischen dem Berliner Stadtschloß und der Spree34. Die nationalen Heldendenkmäler in Rom und Berlin stellen den König von Preußen und den König von Sardinien als Vorkämpfer nationaler Einheit dar. In Wirklichkeit war die nationale Einigung in beiden Ländern eine Forderung der revolutionären Bewegung gewesen. Ohne den Druck, der von dieser Bewegung ausging, hätten weder Cavour noch Bismarck ihr Einigungswerk durchgeführt, und die Monarchien in Preußen und Piemont-Sardinien hätten keinen Anlaß gehabt, den Weg der Nationalisierung zu beschreiten.

32  Richard S. Wortman, Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy, Bd. 1, Princeton 1995, 236–238; Bd. 2, Princeton 2000, 232 f. 33  Zit. nach Kathryn Mayer, Mythos und Monument. Die Sprache der Denkmäler im Gründungsmythos des italienischen Nationalstaates 1870–1915, Köln 2004, 106 f.; vgl. V. Sellin, Gewalt und Legitimität (Anm. 7), 287–289. 34  V. Sellin, Gewalt und Legitimität (Anm. 7), 289–291.

Vom „magischen Kitt“ der Monarchie Ein Essai über die longue durée und das allmähliche Verblassen religiöser Herrschaftsbezüge Von Franz-Reiner Erkens, Passau Man kann es drehen und wenden wie man will: Über Jahrtausende hinweg durchdrangen sich Religion und Herrschaft auf symbiotische Weise, waren Herrschaft ohne religiöse Verankerung und Ausübung des Kults ohne herrscherlichen Schirm, ohne herrscherliche Förderung kaum denkbar. Erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts scheint dieser Konnex, wenn auch nach einer langen Vorgeschichte zunehmender Trennung, im europäisch-abendländischen Kulturkreis weitgehend aufgelöst1. Angesichts dieser langen Dauer religiöser Herrschaftsbezüge und des nur langsamen Verblassens der sakralen Dimension von Herrschaft2 ist es vielleicht gar nicht so überraschend, wenn auch immer noch ungewöhnlich, daß der Beitrag eines Mediävisten eine Tagung über Monarchien in der Moderne beschließt, wenn also nicht in chronologischer Ordnung das mediävistische Fundament für die Erörterung moderner Phänomene ausgebreitet, sondern eine zeitenüberwölbende Zusammenschau geboten werden soll. Vom Ende aus ist daher über Jahrhunderte zurückzublicken und aufzuzeigen, was sich trotz Änderungen im Einzelnen über lange Zeiträume hinweg an Vorstellungen über das Königtum 1  Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, in: ders., Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert (Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Themen, 86), München 2007, 11–41, und Martin Rhonheimer, Christentum und säkularer Staat. Geschichte – Gegenwart – Zukunft. Mit einem Vorwort von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Freiburg / Basel / Wien 2012, 134–191. 2  Vgl. dazu Franz-Reiner Erkens, Herrschersakralität im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Investiturstreit, Stuttgart 2006, bes. 222–225; ders., Konvergenz und Divergenz politischer und religiöser Herrschaft, in: Weltdeutungen und Weltreligionen. 600 bis 1500, hrsg. von Johannes Fried und Ernst-Dieter Hehl, Darmstadt 2010, 279–305; ders., Sakral legitimierte Herrschaft im Wechsel der Zeiten und Räume. Versuch eines Überblicks, in: Die Sakralität von Herrschaft. Herrschaftslegitimierung im Wechsel der Zeiten und Räume. Fünfzehn interdisziplinäre Beiträge zu einem weltweiten und epochenübergreifenden Phänomen, hrsg. von Franz-Reiner Erkens, Berlin 2002, 7–32, bes. 7–11 und 16–20.

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erhalten hat3, was mithin zum Traditionskern der monarchischen Legitimation gehörte. Die Abenddämmerung monarchischer Herrschaft gilt es gleichsam mit der Morgenröte der Monarchie zu verknüpfen und dabei weniger die immer wieder greifbaren und zukunftsträchtigen Neuerungen, die es natürlich gab, sondern die sich ausdünnenden Traditionen und deren Windungen zu erfassen. Der weite Bogen, der dabei gespannt werden muß, läßt natürlich keine detailgesättigte Darstellung zu und verlangt nach Konzentration – nach Konzentration auf die Grundzüge der Entwicklung und auf besondere Aspekte des Themas. Daher geht es vorrangig um die religiösen Bezüge, in die Mo­ narch und Monarchie verwoben erscheinen, und weniger um die Herrschaft selbst, um das System und die Praxis der Herrschaftsausübung oder um den Staat, der im eigentlichen Sinne ohnehin ein Produkt erst der Neuzeit gewesen ist4, dessen Werden jedoch nachhaltig einwirkte auf das Verschwinden der sakral-religiösen Dimension des Herrschertums. Denn: Der christliche Herrscher galt als Gottes Erwählter und Sachwalter auf Erden und besaß eine allgemeine seelsorgerische Verantwortung5, insofern er die irdischen Verhältnisse so zu ordnen hatte, daß die Untertanen ein gottgefälliges und seelenheilsicherndes Leben führen konnten. Da der Herrscher also eine eminent religiöse Aufgabe zu erfüllen hatte, konnte das Herrschaftssystem nicht religionsneutral sein. Der neuzeitliche Staat jedoch, seine Kontur gewinnend angesichts der verheerenden Konfessionskriege, die sich nach der Spaltung der abendländischen Christenheit nicht zuletzt entwickelten wegen des Absolutheitsanspruchs der Religionen und Konfessionen, das nun Gestalt annehmende Staatswesen der Neuzeit suchte, und zwar zunehmend erfolgreich, den Religionskonflikt aus dem staatlichen Bereich zu verbannen, indem es sich für neutral erklärte gegenüber Fragen der religiösen Wahrheit sowie ge3  Vgl. dazu für das Mittelalter Franz-Reiner Erkens, Herrscher und Herrschaftsidee nach herrschaftstheoretischen Äußerungen des 14. Jahrhunderts, in: Ludwig der Bayer (1314–1347). Reich und Herrschaft im Wandel, hrsg. von Hubertus Seibert, Regensburg 2014, 29–61, bes. 38–53; ders., Thronfolge und Herrschersakralität in England, Frankreich und im Reich während des späteren Mittelalters: Aspekte einer Korrelation, in: Die mittelalterliche Thronfolge im europäischen Vergleich (Vorträge und Forschungen, 84), hrsg. von Matthias Becher, Ostfildern 2017, 359–448 sowie für die Neuzeit ders., Sakral legitimierte Herrschaft (Anm. 2), 16 ff., und ders., Herrschersakralität. Ein Essai, in: Sakralität und Sakralisierung. Perspektiven des Heiligen (Beiträge zur Hagiographie, 13), hrsg. von Andrea Beck und Andreas Berndt, Stuttgart 2013, 15–32, bes. 28–31. 4  Vgl. Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 22000, etwa 16. 5  Vgl. dazu F.-R. Erkens, Herrschersakralität (Anm. 2), 27–33, und ders., Herrschersakralität. Ein Essai (Anm. 3), 18.



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genüber den verschiedenen Glaubensrichtungen und dabei Glauben wie Glaubensangelegenheiten allein in die Verantwortung des Individuums (und natürlich der Glaubensgemeinschaften) verwies. In diesem Sinne ist, wenn auch nicht ausschließlich, der moderne Staat das Ergebnis einer in der frühen Neuzeit einsetzenden Säkularisierung6, eines Herauslösens der Herrschaftsordnung aus den traditionell alles Menschliche fundierenden und prägenden religiösen Bezügen. Von diesem Prozeß konnte die religiöse Legitimierung der Herrschaft nicht unberührt bleiben, auch wenn die Schwächung der religiösen Legitimation nicht in gleichem Maße Fortschritte machte wie die Säkularisierung des Staatswesens und daher festzuhalten ist: Während der neuzeitliche Staat seit der Mitte des 17. Jahrhunderts immer stärker säkularisiert erscheint und religionsneutral wird, herrscht der König weiterhin dei gratia: aus der Gnade Gottes. Daneben ist an eine weitere Entwicklung zu erinnern, die sich schwächend auf die religiöse Legitimation von Herrschaft auswirken mußte: an die schleichende Entchristlichung Europas seit dem siècle de lumière. Das ist ein vielschichtiger, nicht leicht zu fassender und keinesfalls ohne retardierende Phasen verlaufender Prozeß, der bis heute anhält und keinesfalls in einem puren Atheismus enden muß. Vielmehr entwickelten sich in seinem Verlauf verschiedene religiöse Spielarten, Bewegungen quasireligiösen Charakters, esoterische Sekten, Formen privater Frömmigkeit, aber auch die Sakralisierung der Nation, die Entstehung sog. politischer Religionen, die Entfaltung zivilreligiöser Tendenzen. Diese Strömungen schließen sich nicht unbedingt aus – ein die Heiligkeit der Nation feiernder Bürger konnte dies durchaus mit seinem christlichen Glauben verbinden7 – und dürften daher gelegentlich auch stabilisierend auf die Vorstellungswelt religiöser Herrschaftslegitimierung eingewirkt haben, aber auf Dauer und in der Summe erweisen sie sich 6  Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Der säkularisierte Staat (Anm. 1), 43–72 [erstmals 1967, in: Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien. Ernst Forsthoff zum 65.  Geburtstag, Stuttgart, 75–94; nachgedruckt in: E.-W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt 2006, 92–114]. 7  Vgl. etwa die von dem Ersten Weltkrieg befeuerten, nach zwei (verlorenen) Weltkriegen und den Greueltaten des nationalsozialistischen Regimes und der Überwindung einer nationalen Hybris mehr als abstrus wirkenden Thesen von Friedrich Andersen / Adolf Bartels / Ernst Katzer / Paul Freiherr von Wolzogen, Deutschchristentum auf rein=evangelischer Grundlage. 95 Leitsätze zum Reformationsfest 1917, Leipzig 1917, wo auf S. 5 als Ziel die „Verdeutschung des Christentums“ (§ 3; vgl. § 4) formuliert wird, auf S. 6 mit spürbarem antijüdischen Affekt von einer „innigere[n] Verbindung zwischen Deutschtum und Christentum“ (§ 7) die Rede ist und es auf S. 27 heißt: „…, daß dieses Christentum des Heilandes unserem inneren Deutschtum grundverwandt ist,  …“ (§ 73, vgl. § 74), und wo Luther natürlich als „der kerndeutsche Mann“ (S. 3) apostrophiert wird.

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doch als destruktiv für einen ohnehin verblassenden Ideenkosmos. Zugleich verdeutlichen sie aber auch, wie sehr sich Politisches und Religiöses durchdringen können und über Jahrhunderte hinweg durchdrungen haben8, denn die Sakralisierung der Nation weist ebenso traditionelle religiöse Elemente und Strukturen auf9 wie die vor allem im 20. Jahrhundert virulenten politi8  Vgl. etwa den Überblick von Armin Adam, Politische Theologie. Eine kleine Geschichte (Theophil, 12), Zürich 2006, in dem vor allem das Spannungsverhältnis zwischen weltlicher Herrschaft und religiös-kirchlicher Sphäre behandelt wird. Zu dem Begriff der Politischen Theologie und der mit ihm verbundenen Problematik vgl. Henning Ottmann, Politische Theologie, in: Religion und Politik. Zu Theorie und Praxis des theologisch-politischen Komplexes (Schriftenreihe der Sektion Politische Theorien und Ideengeschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, 5), hrsg. von Manfred Walther, Baden-Baden 2004, 73–83, der zu Recht auf die herrschaftsrelativierende Bedeutung der sog. Politischen Theologie hinweist (deren affirmative Funktion daher nicht absolut gesetzt werden darf). 9  Vgl. allg. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 bis 1918, Bd. I: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1998 [erstmals 1990], 486–495 und 517 f., sowie im Speziellen Peter Walkenhorst, Nationalismus als „politische Religion“? Zur religiösen Dimension nationalistischer Ideologie im Kaiserreich, in: Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen (Religiöse Kulturen der Moderne, 2), hrsg. von Olaf Blaschke und Frank-Michael Kuhlemann, Gütersloh 1996, 503–529, der sich (etwa auf S. 528) wohl zu Recht gegen die Charakterisierung des Nationalismus als ‚politische Religion‘ (zu diesem Begriff vgl. die folgende Anm.) wendet, wohl aber dessen ‚religiöse Dimension‘, hervorgegangen aus einem mehrdimensionalen Prozeß (vgl. S. 527), betont und dabei die „transzendente“ (S. 503) und „religiöse Qualität“ (S. 516) hervorhebt, aber auch auf die vornehmlich protestantische Prägung des „offiziellen Nationalismus“ (S. 517) hinweist. Freilich entwickelten auch die Katholiken ein „Nationalbewußtsein“, das sich jedoch vom „Nationalismus im protestantischen Deutschland“ unterschied, da die Vorstellung von „der Kirche als Mittlerin zwischen Gott und Welt“ eine „religiöse Überhöhung der Nation“ behinderte, wie Wolfgang Altgeld, Katholizismus, Protestantismus, Judentum. Über religiös begründete Gegensätze und nationalreligiöse Ideen in der Geschichte des deutschen Nationalismus (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, 59), Mainz 1992, 162, betont. Jedoch konnte sich auch in katholischen Regionen das Nationalgefühl zu religiösem Patriotismus steigern, wie zu Beginn des Ersten Weltkriegs geschehen (vgl. Winfried Becker, Religiöse und nationale Orientierung im Widerstreit? Deutsche Militärseelsorge im Ersten Weltkrieg, in: Pass. Jb. 56 [2014] 259–280) oder wie das Beispiel Frankreichs als katholischer, in weiten Teilen aber auch laizistischer Nation lehrt (vgl. ebd., 274). Die ‚Sakralisierung der Nation‘, bei der die „exklusive Nähe zu Gott“ eine Rolle spielte, die Nation zu einem loyalitätsfordernden „Letztwert“, zu einem „höchsten Wert“ aufgewertet wurde, die aber zu keiner Ablösung der herkömmlichen Religion führte (vgl. dazu Friedrich Wilhelm Graf, Die Nation – von Gott „erfunden“? Kritische Randnotizen zum Theologiebedarf der historischen Nationalismusforschung, in: „Gott mit uns“. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert [Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 162], hrsg. von Gerd Krumeich und Hartmut Lehmann, Göttingen 2000, 285–317, bes. 308 f. und 312 f.), setzte in den Befreiungskriegen ein und durchzog das ganze 19. Jahrhundert (vgl. dazu schon Friedrich Meinecke, Die deutschen Erhebungen von 1813, 1848, 1870 und 1914, in: ders., Die deutsche Erhebung von 1914. Vorträge und



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schen Religionen10 des Kommunismus11 und Nationalsozialismus12. Traditionelle, aus den kirchlichen Glaubensgemeinschaften bekannte Ausdrucksformen und Symbole13, aber auch Einstellungen und Haltungen ließen sich von solchen politischen Bewegungen vereinnahmen und zur Festigung der eigenen Gemeinschaft verwenden. Selbst die in jüngerer Zeit so häufig beachtete Aufsätze, Stuttgart / Berlin 1914, 9–38, aber auch Hans-Christof Kraus, Heiliger Befreiungskampf? Sakralisierende Kriegsdeutungen 1813–1815, in: HJb 134 [2014] 44–60, bes. 59 f.) und führte am Ende sogar zur Nationalisierung und Eindeutschung Gottes (vgl. dazu Robert Hepp, Politische Theologie und theologische Politik. Studien zur Säkularisierung des Protestantismus im Weltkrieg und in der Weimarer Republik, Diss. [masch.] Erlangen-Nürnberg 1967, 9 ff., sowie Max Lenz, Der deutsche Gott, in: Süddeutsche Monatshefte, Sept. 1914, 821–823 [der freilich nicht Gott zum Deutschen macht, sondern die Deutschen in ein besonderes Verhältnis zu Gott setzt], und Klaus Schiller, Politische Religiosität, in: Die Nation vor Gott. Zur Botschaft der Kirche im Dritten Reich, hrsg. von Walter Künneth und Helmuth Schreiner, Berlin 1933, 422–440, bes. 427 ff.). 10  Zu Begriff und Sache vgl. Eric Voegelin, Die politischen Religionen, München 1993 [erstmals Wien 1938, und dazu Hans-Christof Kraus, Eric Voegelin redivivus? Politische Wissenschaft als Politische Theologie, in: Der Nationalsozialismus als politische Religion (Studien zur Geistesgeschichte, 20), hrsg. von Michael Ley und Julius H. Schoeps, Bodenheim b.  Mainz 1997, 74–88, bes. 78 ff.]; Raymond Aron, L’avenir des religions séculières, in: Commentaire 8 (1985) 369–383 [erstmals 1944]; Hans Maier, „Politische Religionen“. Ein Konzept des Diktaturvergleichs, in: Heilserwartung und Terror. Politische Religionen des 20. Jahrhunderts (Schriften der Kath. Akad. in Bayern, 152), hrsg. von Hermann Lübbe, Düsseldorf 1995, 94–122; ders., Konzepte des Diktaturvergleichs: „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“, in: ‚Totalitarismus‘ und ‚Politische Religionen‘. Konzepte des Diktaturvergleichs (Politik- und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, 16), hrsg. von Hans Maier, Paderborn 1996, 233–250; Dietmar Herz, Der Begriff der „politischen Religionen“ im Denken Eric Voegelins, in: ebd., 191–209; Markus Huttner, Totalitarismus und säkulare Religionen. Zur Frühgeschichte totalitarismuskritischer Begriffs- und Theoriebildung in Goßbritannien (Schriftenreihe Extremismus & Demokratie, 14), Bonn 1999, sowie Claus-Ekkehard Bärsch, Der Topos der Politischen Religion aus der Perspektive der Religionspolitologie, in: Politische Religion? Politik, Religion und Anthropologie im Werk von Eric Voeglin, hrsg. von Michael Ley u. a., Paderborn 2003, 175–197, bes. 180–186; F. W. Graf, Die Nation (Anm. 9), 305–308. 11  Vgl. Michael Rohrwasser, Religions- und kirchenähnliche Strukturen im Kommunismus und Nationalsozialismus und die Rolle des Schriftstellers, in: ‚Totalitarismus‘ und ‚Politische Religionen‘. Konzepte des Diktaturvergleichs (Politik- und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, 16), hrsg. von Hans Maier, Paderborn 1996, 383–400. 12  Vgl. Claus-Ekkehard Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiösen Dimensionen der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler, München 22002, sowie die entsprechende, in Anm. 10 angeführte Literatur. 13  Vgl. F. W. Graf, Die Nation (Anm. 9), 305, 311, und P. Walkenhorst, Nationalismus (Anm. 9), 503, 516.

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Zivilreligion14, vielgestaltig und sogar gegensätzlich in ihren konkreten Erscheinungsformen, kann offenbar nur schwer auf eine Adaptation bekannter Äußerungsformen und Verhaltensweisen der traditionellen Religion verzichten. Für Rousseaus „religion civile“, voraufklärerisch in ihrem vom Bürger erzwungenen Bekenntnis sowie alle traditionellen Tugenden des Christentums für das Staatswesen einfordernd und zugleich die Kirche ausschließend15, gilt dies ebenso wie für die amerikanische „civil religion“, die bei strikter Trennung von Religion und Politik „In God we trust“ auf die Geldscheine drucken läßt und offenbar spielend die religiöse Überhöhung der Nation und eine entsprechende Hingabe vieler Bürger ermöglicht16, während in Europa wenig Einmütigkeit darüber besteht, was unter Zivilreligion genau zu verstehen ist und es hier wegen unterschiedlicher nationaler Traditionen offenkundig schwer fällt, einen einheitlichen Begriff von dem oft bemühten Schlagwort zu gewinnen17. 14  Vgl. zu dieser den 1986 erstmals erschienenen und 2004 in erweiterter Fassung vorgelegten Sammelband von Heinz Kleger / Alois Müller (Hrsg.), Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa (Soziologie, 14), Münster 2004 (darin neben dem Vorwort der Herausgeber zur 2. Aufl. „Von der atlantischen Zivilreligion zur Krise des Westens“, I–XLVII, und deren Einleitung „Bürgerliche Religion, Religion des Bürgers, politische Religion, Zivilreligion, Staatsreligion, Kulturreligion“, 7–15, bes. Hermann Lübbe, Staat und Zivilreligion. Ein Aspekt politischer Legitimität, 195–229 [erstmals in: Norbert Achterberg / Werner Krawietz (Hrsg.), Legitimation des modernen Staates (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 15), Wiesbaden 1981, 40–64]; Hermann Lübbe, Religion der Aufklärung, Graz 1986, 306–327 („Exkurs über ‚Zivilreligion‘ “). 15  J.-J. Rousseau, Du Contrat social ou Principes du Droit Politique (Bibliothèque française, 40), Berlin 1922, 143–156 (IV 8), bes. 148, 150 f. und 155 f.; dt. Ausgabe: Der Gesellschaftsvertrag oder Die Grundsätze des Staatsrechts, in der verbesserten Übersetzung von H. Denhardt, hrsg. und eingeleitet von Heinrich Weinstock, Stuttgart 1969, 181–195, bes. 186, 188 f. und 194 f. Vgl. dazu E.-W. Böckenförde, Der säkularisierte Staat (Anm. 1), 28 f.; Rolf Schieder, Civil Religion. Die religiöse Dimension der politischen Kultur, Gütersloh 1987, 51 f.; H. Lübbe, Staat und Zivilreligion (Anm. 14), 42 f.; A. Adam, Politische Theologie (Anm. 8), 137 f., sowie Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens III: Die Neuzeit 1. Von Machiavelli bis zu den großen Revolutionen, Stuttgart 2006, 490 ff. 16  Vgl. Robert N. Bellah, Zivilreligion in Amerika, in: Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa (Soziologie, 14), hrsg. von Heinz Kleger und Alois Müller, Münster 2004, 19–41 [engl. 1967], sowie H. Lübbe, Staat und Zivilreligion (Anm. 14), 45 und 55; R. Schieder, Civil Religion (Anm. 15), 55–82, und allg. Detlef Junker, Power and Mission. Was Amerika antreibt, Freiburg i. Br. 2003, etwa 18; Manfred Henningen, Politische Religion versus Zivilgesellschaft, in: Politische Religion? Politik, Religion und Anthropologie im Werk von Eric Voeglin, hrsg. von Michael Ley u. a., Paderborn 2003, 101–113, bes. 108 ff.; Marcia Pally, In God we trust, in: FAZ Nr. 253 vom 30. Oktober 2010, 8. 17  Vgl. dazu etwa Herbert Scheit, „Zivilreligion“ – Liberalitätsgarant des Staates? Eine Auseinandersetzung mit Hermann Lübbe, in: Polit. Vierteljahresschrift 25 (1984), 339–348; Walter Seitter, Brauchen wir eine Zivilreligion?, in: Politische Religion?



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Vor dem Hintergrund des bis in das 20. Jahrhundert hinein unverkennbaren Zusammenhangs von (gelegentlich säkularisierter) Religion und Politik, der sich etwa auch darin spiegelt, daß „Seine Kaiserliche und Königliche Apo­ stolische Majestät“ Franz Josef „von Gottes Gnaden Kaiser von Österreich, König von Ungarn und Böhmen“ noch 1903 Einfluß auf die Wahl des Pap­ stes ausüben und einen ihm nicht genehmen Kandidaten von dieser ausschließen lassen konnte18, daß katholischen wie evangelischen Herrschern in Konkordaten oder anderen Dokumenten des 19. Jahrhunderts ein spürbarer Einfluß auf die Personalentscheidung bei den Erhebungen katholischer Bischöfe eingeräumt worden ist19, daß der englische Monarch das Oberhaupt der anglikanischen Kirche war (und ist), evangelische Fürsten eine vergleichbare Position in ihren Landeskirchen innehatten, der evangelische Landesherr Politik, Religion und Anthropologie im Werk von Eric Voeglin, hrsg. von Michael Ley u. a., Paderborn 2003, 115–134, bes. 121–127; Heinz Kleger / Alois Müller, Mehrheitskonsens als Zivilreligion? Zur politischen Religionsphilosophie innerhalb liberalkonservativer Staatstheorie, in: Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa (Soziologie, 14), hrsg. von Heinz Kleger und Alois Müller, Münster 2004, 221–262, etwa 240, oder auch Leo Layendecker, Zivilreligion in den Niederlanden, ebd., 64–84, bes. 68, und die Definitionsbemühungen von Jean-Paul Willaime, Zivilreligion nach französischem Muster, ebd., 147–174, bes. 158 f. („Sprechen wir also von Zivilreligion, so meinen wir damit die Art und Weise, wie eine Gesellschaft ihr Zusammen-Sein zelebriert, insbesondere die gemeinschaftlichen Riten, die sie sich gibt, und das Imaginäre, das sie dabei ins Spiel bringt.“) und die ergänzende Erläuterung auf S. 166 („Die französische Zivilreligion ist zwar eine laizistische, aber dennoch ist es ihr nicht gelungen, jeden religiösen Bezug von dem von ihr in Anspruch genommenen Imaginären auszutilgen.“); Niklas Luhmann, Grundwerte als Zivilreligion. Zur wissenschaftlichen Karriere eines Themas, ebd., 175–194 [erstmals 1981, in: Archivio di Filosofia 2, 51–71], bes. 175 („Der in den letzten Jahren aus den Vereinigten Staaten rückimportierte Begriff der ‚Zivilreligion‘ soll Mindestelemente eines religiösen oder quasireligiösen Glaubens bezeichnen, für den man bei allen Mitgliedern der Gesellschaft Konsens unterstellen kann. Hierzu gehört die Anerkennung dessen, was man in der deutschen politischen Diskussion gegenwärtig ‚Grundwerte‘ nennt, also die Anerkennung der in der Verfassung kodifizierten Wertideen.“), und H. Lübbe, Staat und Zivilreligion (Anm. 14), 57 („Zivilreligion ist das Ensemble derjenigen Bestände religiöser Kultur, die in das politische System faktisch oder sogar förmlich-institutionell […] integriert sind, die somit auch den Religionsgemeinschaften nicht als ihre eigene interne Angelegenheit überlassen sind, […]“). 18  Vgl. Norbert Miko, Das Konklave vom Jahre 1903 und das österreichisch-ungarische Veto, in: Theol.-Prakt. Quartalsschrift 101 (1953) 285–302, und Franz-Reiner Erkens, Die Bischofswahl im Spannungsfeld zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt. Ein tour d’horizon, in: Die früh- und hochmittelalterliche Bischofserhebung im europäischen Vergleich (Beihefte zum AKG, 48), hrsg. von Franz-Reiner Erkens, Köln 1998, 1–32, bes. 1 f.  – Zum Titel des Kaisers vgl. Michaela und Karl Vocelka, Franz Joseph I. Kaiser von Österreich und König von Ungarn. 1830–1916. Eine Biographie, München 2015, 75. 19  Vgl. F.-R. Erkens, Die Bischofswahl (Anm. 18), 3–7, bes. 5 f. (und die dort angeführten Belege).

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zum summus episcopus avanciert war20 und daher gelegentlich sogar wie der preußische König – freilich nicht ohne Widerspruch21, aber doch auch mit Zustimmung22 – Einfluß auf die Liturgiegestaltung nehmen wollte23, vor diesem Hintergrund sowie vor dem Hintergrund der beiden skizzierten Entwicklungen allgemeiner Phänomene, der Säkularisierung des Staatswesens und der zunehmenden Entchristlichung der Gesellschaft, ist die Entwicklung der religiösen Herrschaftsidee zu betrachten, der Vorstellung von einer besonderen Gottesnähe der Monarchen. Dazu sollen zunächst Philosophen und Dichter zu Wort kommen.

* „Im allgemeinen“, so erklärte Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen zwischen 1821 und 1831 gehaltenen „Vorlesungen über die Philosophie der Religion“24, ist die Religion und die Grundlage des Staates eines und dasselbe; sie sind an und für sich identisch“; und vergaß dabei nicht zu betonen, daß „die Gesetze, die Obrigkeit, die Staatsverfassung“ nach Ansicht der Menschen von Gott her abgeleitet und dadurch „autorisiert“ würden25. Griffiger als der zum preußischen Staatsphilosophen stilisierte Schwabe beschrieb etwa ein halbes Jahrhundert später der ins Alemannische gezogene und dort staatenlos gewordene Preuße Friedrich Nietzsche diese Zusammen20  Vgl. Wilhelm Maurer, Die Entstehung des Landeskirchentums in der Reformation, in: ders., Die Kirche und ihr Recht. Gesammelte Aufsätze zum evangelischen Kirchenrecht, hrsg. von Gerhard Müller und Gottfried Seebass, Tübingen 1976, 135–144 [erstmals 1966, in: Walter Peter Fuchs (Hrsg.), Staat und Kirche im Wandel der Jahrhunderte, 69–78], und Johannes Heckel, Die Entstehung des brandenburgischpreußischen Summepiskopats, in: ders., Das blinde, undeutliche Wort ‚Kirche‘. Gesammelte Aufsätze., hrsg. von Siegfried Grundmann, Köln 1964, 371–386 [erstmals 1924, in: ZRG KA 13, 266–283], sowie T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866– 1918, Bd. I (Anm. 9), 480–485, und Hans-Christof Kraus, Staat und Kirche in Brandenburg-Preußen unter den ersten beiden Königen, in: Daniel Ernst Jablonski. Religion, Wissenschaft und Politik um 1700 (Jabloniana, 1), hrsg. von Joachim Bahlcke und Alexander Schunka, Wiesbaden 2008, 47–85. 21  Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Ueber das liturgische Recht evangelischer Landesfürsten. Ein theologisches Bedenken von Pacificus Sincerus [Göttingen 1824], in: ders., Kirchenpolitische Schriften, hrsg. von Günter Meckenstock unter Mitwirkung von Hans-Friedrich Traulsen (F. D. E. Schleiermacher. Kritische Gesamtausgabe, Erste Abt.: Schriften und Entwürfe, 9), Berlin / New York 2000, 211–269 (zu dieser Schrift vgl. ebd., LXXI–LXXXI). 22  Vgl. ebd., LXXI. 23  Zum historischen Hintergrund des Konflikts vgl. Thomas Stamm-Kuhlmann, Friedrich Wilhelm III. (1797–1840), in: Preußens Herrscher. Von den ersten Hohenzollern bis Wilhelm II., hrsg. von Frank-Lothar Kroll, München 22009, 197–218, etwa 201, 203. 24  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke 16 (stw, 616), Frankfurt / M. 1995, 236. 25  Vgl. ebd., 237.



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hänge, als er, der große Unzeitgemäße, in der „Geburt der Tragödie“ verkündete26: „[…] der Staat kennt keine mächtigeren ungeschriebenen Gesetze als das mythische Fundament, das seinen Zusammenhang mit der Religion, sein Herauswachsen aus mythischen Vorstellungen verbürgt“, und in „Menschliches Allzumenschliches“ „für freie Geister“ weiter ausführte27: „Der Glaube an eine göttliche Ordnung der politischen Dinge, an ein Mysterium in der Existenz des Staates ist religiösen Ursprungs: schwindet die Religion, so wird der Staat unvermeidlich seinen alten Isisschleier verlieren und keine Ehrfurcht mehr erwecken“. Wiederum etwa ein halbes Jahrhundert später erläuterte der ehrfürchtige Trinker Joseph Roth, dessen Analysefähigkeit jedoch nicht durch den hohen Alkoholkonsum beeinträchtigt wurde, einen Grund für den in sehnsüchtiger Wehmut empfundenen Untergang des habsburgischen Vielvölkerreiches und ließ in seinem 1932 erschienenen „Radetzkymarsch“ den polnischen Grafen Chojnicki kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs über das absehbare Ende der K. u. K. Monarchie räsonieren28: „Die Monarchie, unsere Monarchie, ist begründet auf der Frömmigkeit: auf dem Glauben, daß Gott die Habsburger erwählt hat, über soundso viel christliche Völker zu regieren. Unser Kaiser ist ein weltlicher Bruder des Papstes, es ist seine K. u. K. Apostolische Majestät in Europa, keine andere wie er apostolisch, keine andere Majestät in Europa so abhängig von der Gnade Gottes und vom Glauben der Völker an die Gnade Gottes. Der deutsche Kaiser regiert, wenn Gott ihn verläßt, immer noch, eventuell von der Gnade der Nation. Der Kaiser von Österreich-Ungarn darf nicht von Gott verlassen werden. Nun aber hat ihn Gott verlassen“. Nicht nur den Zusammenhang von Politik und Religion lassen diese, um eine einschlägige, freilich aus dem tiefen Brunnen der Vergangenheit herauftönende Stimme aus Thomas Manns „Joseph und seine Brüder“29 vermehrbaren Zitate erkennen, sondern vor allem auch, daß man im 19. und frühen 26  Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgo Colli und Mazzino Montinari, 1), München 21988 [erstmals 1872], 9–156, hier: 145 (cap. 23). 27  Friedrich Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches. Ein Buch für freie Gei­ ster (Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke in Einzelbänden), Stuttgart 81978 [erstmals 1878], Bd. I, 300 (Aphorismus 472: „Religion und Regierung“). 28  Zitiert nach der 1998 erschienenen 16. Auflage der Taschenbuchausgabe des Verlags Kiepenheuer & Witsch: S. 198. Zu Josef Roth und seiner prekären Situation in den Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts vgl. die eindrucksvolle Schilderung von Volker Weidermann, Ostende 1936 – Sommer der Freundschaft, Köln 2014. 29  Bd. IV: Joseph, der Ernährer, Frankfurt / Main (Fischer-Taschenbuch) 1996, 107: „Es heißt die Einheit der Welt verkennen, wenn man Religion und Politik für grundverschiedene Dinge hält, die nichts miteinander zu schaffen hätten noch haben dürften, so daß das eine entwertet und als weniger unecht bloßgestellt wäre, wenn ihm ein Anschlag vom anderen nachgewiesen würde“.

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20. Jahrhundert um ihn wußte. Gerade das letzte Zitat verdeutlicht zudem, und darauf soll im folgenden vermehrt das Augenmerk gelegt werden, wie sehr dabei noch nach 1900 die weit ins Altertum zurückreichende Vorstellung vom Nahverhältnis des Monarchen zu Gott eine Rolle spielte30. Zwar hatte diese Vorstellung, wie Nietzsche in seinen Aphorismen über „Menschliches Allzumenschliches“ hervorhebt, im Laufe der Zeit deutlich an Allgemeinverbindlichkeit verloren, aber vorhanden war sie noch immer und begründete nicht zuletzt die Ehrfurcht vor dem Fürsten – denn, so der sprachmächtige Diagnostiker seiner Zeit31: „Die Menschen verkehren mit ihren Fürsten vielfach in ähnlicher Weise wie mit ihrem Gotte, wie ja vielfach auch der Fürst der Repräsentant des Gottes, mindestens sein Oberpriester war. Diese fast unheimliche Stimmung von Verehrung und Angst und Scham war und ist viel schwächer geworden, aber mitunter lodert sie auf und heftet sich an mächtige Personen überhaupt“. Und selbst Immanuel Kant vermochte 1795 in seinen Gedanken „Zum ewigen Frieden“ dem vikarialen Gottesgnadentum der Monarchen Positives abzugewinnen32, als er im Sinne eines kritischen Rationalismus mit pädagogischer Attitüde ausführte33: „Man hat die hohen Benennungen, die einem Beherrscher oft beigelegt werden (die eines göttlichen Gesalbten, eines Verwesers des göttlichen Willens auf Erden und Stellvertreter desselben), als grobe schwindligmachende Schmeicheleien oft getadelt; aber mich dünkt, ohne Grund. – Weit gefehlt, daß sie den Landesherrn sollten hochmütig machen, so müssen sie ihn vielmehr in seiner Seele demütigen, wenn er Verstand hat (welchen man doch voraussetzen muß), und es bedenkt, daß er ein Amt übernommen habe, was für einen Menschen zu groß ist, nämlich das Heiligste, was Gott auf Erden hat, das Recht der Menschen zu verwalten, und diesem Augapfel Gottes irgend worin zu nahe getreten zu sein jederzeit in Besorgnis stehen muß“. Die von Kant angeführte Vorstellung vom Herrscher als einem „Verweser des göttlichen Willens auf Erden“ und damit als irdischem Stellvertreter Gottes ordnet sich in einen uralten Ideenhorizont ein, der sich über die gesamte Welt wölbte und bis weit in die Frühzeit der Menschheit zurückreicht34. In 30  Vgl. dazu Franz-Reiner Erkens, Sakralkönigtum und sakrales Königtum. Anmerkungen und Hinweise, in: Das frühmittelalterliche Königtum. Ideelle und reli­ giöse Grundlagen (Ergänzungsbde. zum RGA, 49), hrsg. von Franz Reiner Erkens, Berlin / New York 2005, 1–8, bes. 1 f. 31  F. Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches (Anm. 27), 292 f. (Aphorismus 461: „Fürst und Gott“). 32  Vgl. F.-R. Erkens, Sakral legitimierte Herrschaft (Anm. 1), 18. 33  Immanuel Kant, Werkausgabe, hrsg. von Wilhelm Weischedel, VI, Frankfurt / M. 1964 = 1977, 207. 34  Vgl. dazu wie zum folgenden F.-R. Erkens, Herrschersakralität (Anm. 2), Kap. II, sowie ders., Herrscher- und Herrschaftsidee (Anm. 3), und ders., Thronfolge



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der Spätantike nahm sie im Imperium Romanum, hellenistische, aus dem alten Orient und dem alten Ägypten heraufreichende Traditionen mit alttestamentlich-christlichem Gedankengut verknüpfend, eine besondere Gestalt an und strahlte, nicht zuletzt kirchlich vermittelt, auf alle in Europa entstehenden Königreiche aus. Die Idee der Gottesnähe, der besonderen Beauftragung und Verantwortung des christlichen Herrschers vor der Himmelsmacht, ging fortan über mehr als ein Jahrtausend nicht unter. Sie unterlag zwar Wandlungen und erfuhr Ausdifferenzierungen, ihr Kern jedoch blieb unverändert. In groben Zügen lassen sich dabei mehrere Hauptphasen der Entwicklung unterscheiden: Auch wenn es Stimmen gab, die zurückhaltend und distanziert, ja gelegentlich auch ablehnend gegenüber dieser Ansicht blieben, so galt sie doch weitgehend unbestritten und räumte dem Herrscher zunächst ohne differenzierende Diskussion die Stellung als Gottesvikar ein. Erst der als Investiturstreit bezeichnete Konflikt zwischen den Saliern und den Reformpäpsten führte nach der ersten Jahrtausendwende zu einer verstärkten Diskussion des Problems auf theoretischer Ebene und zu einer deutlicheren Scheidung von weltlicher und geistlicher Sphäre. Zugleich behaupteten die Herrscher das Christusvikariat, allerdings nur im weltlichen Bereich und bezogen auf ihren Herrschaftsraum – auch wenn die Kaiser in der Theorie an ihrer universalen Stellung festhielten. Entscheidend war für die Monarchen vor allem, die Gottunmittelbarkeit ihrer Würde, das Gottesgnadentum, zu bewahren, um nicht in eine untergeordnete Position gegenüber Geistlichkeit und Papsttum zu geraten, die ansonsten natürlich in der um 750 aufgekommenen Königssalbung einen Ansatzpunkt besaßen, die königliche Gewalt als kirchlich vermittelt und deshalb nicht direkt von Gott stammend zu deuten. Besondere Ausgestaltungen der herrscherlichen Sakralität lassen sich schließlich seit dem 12. Jahrhundert feststellen. Während die Kaiser ihre sakrale Dimension weiterhin aus der imperialen Tradition heraus begriffen, entwickelte sich in England und vor allem in Frankreich das Thaumaturgentum der Herrscher, die Vorstellung, die Könige seien aufgrund von Salbung und Geblüt befähigt, an Skrofeln Erkrankte zu heilen. Die nächsten Zäsuren werden zweifellos markiert durch die reformatorischen Bewegungen des 16. und danach durch die ‚Aufklärung‘ des 18. Jahrhunderts. Überraschend ist freilich, wie wenig die Reformationszeit an dem Grundphänomen der religiösen Herrschaftslegitimierung änderte. Das Festhalten an gewohnten Vorstellungen im katholischen Lager verwundert dabei weniger als das konservative Verhalten auf evangelischer Seite. Ansonsten auf Distanz gehend zu alten Formen der Liturgie und zu überkommenen und Herrschersakralität (Anm. 3), aber auch  – besonders auf die Gegenstimmen zur herrscherlichen Sakralität verweisend – Almut Höfert, Kaisertum und Kalifat. Der imperiale Monotheismus im Früh- und Hochmittelalter, Frankfurt / M. 2015, Kap. IV.

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Weihebräuchen, verzichtete man in den neugläubig gewordenen Königreichen auf die Salbung des Monarchen während der Thronerhebungsfeier lange nicht35. In England ist die Salbungstradition bis heute nicht unterbrochen worden36; und selbst in Preußen, als dort 1701 der erste König erhoben wurde und Friedrich I. sich die Krone selbst aufs Haupt setzte, wollte man ausdrücklich nicht auf die Salbung durch Bischöfe verzichten, weil der neue Monarch dadurch zu einer Sacra Regia Majestas wurde37. Natürlich bedeutete die Konfessionalisierung der abendländischen Christenheit einen tiefen Einschnitt in der Geschichte Europas, aber die irdische Sachwalterschaft der Fürsten wurde von ihm kaum berührt. Weiterhin glaubten die „Untertanen“, wie Golo Mann mit knappen Worten sprachmächtig skizziert38, „an die Heiligkeit des Amtes und des Amtsträgers. Der Glaube gehörte dazu; ohne ihn, diesen magischen Kitt, und nur kraft Interesses, und nur kraft versteckter oder offener Gewalt hätte die ganze Anordnung nicht gehalten. Herrscher zu sein von Gottes Gnaden, gesalbt und gekrönt, das war etwas. […] Ein Monarch, der an sein heiliges Recht selber nicht glaubte, wäre verloren gewesen; wir finden in dieser Zeit [des Dreißigjährigen Krieges] keinen“. Das gibt Anlaß zur Suche nach zeitgenössischen Belegen für dieses Herrschaftsverständnis. Dei imago eminentissima est princeps – „der Fürst ist das herausragendste Bild Gottes“, ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, Repräsentant der ungeheuren Majestät des Göttlichen und durch seine Gottesstellvertreter35  Vgl. Franz-Reiner Erkens, Der Erzbischof von Köln und die deutsche Königswahl. Studien zur Kölner Kirchengeschichte, zum Krönungsrecht und zur Verfassung des Reiches (Mitte 12. Jahrhundert bis 1806) (Studien zur Kölner Kirchengeschichte, 21), Siegburg 1987, 103 f.; Sebastian Olden-Jørgensen, Zeremonielle Innovation: Die erste dänische absolutistische Königssalbung (1671) und die erste preußische Königssalbung (1701) im Vergleich, in: Die preußische Rangerhöhung und Königskrönung 1701 in deutscher und europäischer Sicht, hrsg. von Heide Barmeyer, Frankfurt / M. 2002, 185­–196. 36  Vgl. Franz-Reiner Erkens, Vicarius Christi – sacratissimus legislator – sacra majestas. Religiöse Herrschaftslegitimierung im Mittelalter, in: ZRG KA 79 (2003) 1–55, bes. 1 f. 37  Vgl. Iselin Gundermann, „Ob die Salbung einem Könige nothwendig sey“, in: Dreihundert Jahre preußische Königskrönung. Eine Tagungsdokumentation (Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte NF Beihefte, 6), hrsg. von Johannes Kunisch, Berlin 2002, 115–133, bes. 120–128.  – Zum Verständnis der Salbung als eines auf die Persönlichkeit einwirkenden Geschehens vgl. Esther-Beate Körber, Das Beziehungsgefüge der Monarchie in Predigten Daniel Ernst Jablonskis, in: Daniel Ernst Jablonski. Religion, Wissenschaft und Politik um 1700 (Jabloniana, 1), hrsg. von Joachim Bahlcke und Alexander Schunka, Wiesbaden 2008, 109–122, bes. 112 f., sowie zum Verlauf der Krönung Frank Göse, Friedrich I. (1657–1713). Ein König in Preußen, Regensburg 2012, 237 f. 38  Wallenstein. Sein Leben erzählt von Golo Mann, Frankfurt a. M. 1971, 41 f.



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schaft erhöht, weswegen er auch ‚Gott‘ genannt werden könne, erklärte 1620 Adam Contzen, der mit seiner Staatslehre nachwirkende Jesuit und spätere Beichtvater des bayerischen Herzogs Maximilian39; 1711 wurde, ebenfalls in Bayern, erklärt40: „Der Allmechtige Erschaffer der Erde, welcher von sich selbsten und durch seine ainzige Handt nach seinem gefallen kunte die Welt regieren, hat iedoch solche gewalt denen fürsten mitgethaillet, so er gleichsam als Verweser seiner Macht und Herrlichkeit aufgestelet […]“. Auf evangelischer Seite stand man keinesfalls zurück bei solchen Äußerungen. Martin Luther selbst hatte in seiner Auslegung des 82. Psalms über die Fürsten erklärt41, Gott „will sie lassen Götter sein über menschen“; und noch 1775 wurde auf Luthers Lehre verwiesen, die da lautet42: „Ein frommer Regent soll mit Ehren die drey göttliche Amt und Nahmen haben, daß er hilffet, nehret und rettet, und darum ein Heyland, Vater, Retter heissen“. 1701 ist schließlich wie bereits 1584 verkündet worden43: „Bonus Princeps est Minister et Vicarius Dei in terris“. Ähnliche Ansichten finden sich in Gebeten formuliert, die während jeder Krönung des Erwählten Kaisers, und d. h. letztmals 1792, gesprochen wurden44. Aber auch bei den Staatsdenkern der Zeit sind sie anzutreffen. Mögen diese Theoretiker der monarchischen Herrschaft seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert auch noch so sehr das Gemeinwohl durch eine Verdrängung 39  Adam Contzen, SJ, Politicorum libri decem, Köln 21629 (11620), 1 (Epistola dedicatoria: … Dei imago eminentissima est Princeps, qui immensam numinis maiestatem, media quadam, inter Deum et homines maiestate repręsentat; quocirca Dei vicariatu sublimis est, et sacrosanctus); vgl. F.-R. Erkens, Sakral legitimierte Herrschaft (Anm. 2), 16, und Ernst-Albert Seils, Die Staatslehre des Jesuiten Adam Contzen, Beichtvater Kurfürst Maximilian I. von Bayern (Hist. Studien, 405), Lübeck / Hamburg 1968, 1–17 (zum Leben Contzens), 179 f. (zu seinem Herrscherverständnis) und 192–228 (zum Nachwirken). 40  Mundus christiano bavaro politicus, zit. nach Eberhard Straub, Zum Herrscher­ ideal im 17. Jahrhundert, vornehmlich nach dem „Mundus Christiano Bavaro Politicus“, in: ZBLG 32 (1969), 193–221, hier: 196. 41  Der 82. Psalm ausgelegt, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe 31, 1, Weimar 1913, 182–218, hier: 191. 42  Johannes Gerhard, Loci theologici, tom. 13, Tübingen 1775, 239 (Sternchenfußnote zu § XXIII). 43  Johannes Schuwardt, Regententaffel darinnen wolgegründeter christlicher Bericht von der Obrigkeit Standt  /  Namen  /  Ampt  /  Glück  /  Tugenden  /  Lastern  /  Nutz  / Schaden  /  Belohnung und Straffen, Leipzig 1584, 28, und Jablonski in seiner Predigt von 1701, in der es auf deutsch heißt, man soll den König ehren „als einen Diener und Stadthalter [!] Gottes“ (zit. nach E.-B. Körber, Das Beziehungsgefüge [Anm. 37], 118). 44  Vgl. Franz-Reiner Erkens, Königskrönung und Krönungsordnung im späten Mittelalter, in: ZAGV 110 (2008), 27–64, hier: 51–64 (ders. / Andreas Fohrer, Der Kölner Ordo von wahrscheinlich 1309) und bes. 57–60.

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der religiösen Wahrheit aus der Zuständigkeit des Staates zu sichern versucht haben: der Herrscher blieb auch für sie eine von Gott installierte Größe45. Dies gilt für den Anwalt am Pariser Parlament Jean Bodin im 16. Jahrhundert ebenso wie hundert Jahre später für den beliebten Kanzelprediger, Prinzenerzieher, académien und Bischof von Meaux Jacques Bénigne Bossuet46, dem der König als Inkarnation einer höheren Vernunft allein Gott als rechenschaftspflichtig galt. Für einen Praktiker des Absolutismus wie Richelieu, der die Politik allein an den Maßstäben der Vernunft ausgerichtet wissen wollte, gab es ebenfalls keinen Zweifel daran, daß hauptsächlich die Regierung Gottes (le règne de Dieu) die Grundlage für das Wohl­ ergehen eines Staates bilde und die Könige wahre Ebenbilder des Höchsten auf Erden seien47. Jenseits des Ärmelkanals sah man die Dinge keinesfalls anders. 1609 erklärte hier James I. von England und Schottland, zugleich gelehrter Theoretiker und umsichtiger Pragmatiker der Macht, vor dem Par45  Vgl. E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates (Anm. 6), 53, und allg. auch zum folgenden Heinz Duchhardt, Barock und Aufklärung (Oldenbourg Grundriss der Geschichte, 11), München (4., neu bearbeitete und erweiterte Auflage des Bandes „Das Zeitalter des Absolutismus“) 2007, 41 f. 46  Vgl. Jean Bodin, Les six livres de la république, Lyon 1593 [erstmals 1576] [ND des 1. Buches im Corpus des Œuvres de Philosophie en Langue française: Fayard 1986], 295 (I 10: Puis qu’il n’y a rien plus grand en terre apres Dieu, que les Princes souverains, et qu’ils sont establis de lui comme ses lieutenants, pour commander aux autres hommes, il est besoin de prendre garde à leur qualité, afin de respecter et reverer leur majesté en toute obeissance, sentir et parler d’eux en tout honneur: car qui mesprise son Prince souverain, il mesprise Dieu, duquel il est l’image en terre.), und: Jacques Bénigne Bossuet, Politique tirée des propres paroles de l’Écriture-Sainte, Bruxelles 1710, 73 f. (Livre III, Art. II 1: Nous avons déja vu que toute puissance vient de Dieu. … Les princes agissent donc comme ministres de Dieu & ses lieutenants sur la terre. … C’est pour cela que nous avons vû que le trône Roïal n’est pas le trône d’un homme, mais le trône de Dieu même.); vgl. dazu M. Rhonheimer, Christentum (Anm. 1), 118 f. und 121, sowie H. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens III 1 (Anm. 15), 213–230, bes. 219. 47  Cardinal de Richelieu. Testament politique, publ. par Louis André, Paris 1947, 21 (Seconde partie, chap. 1er: Le règne de Dieu est le principe du gouvernement des États, et, en effet, c’est une chose si absolument nécessaire que, sans ce fondement, il n’y a point de prince qui puisse bien régner ni d’État qui puisse être heureux et suffisant.) = dt.: Richelieu. Politisches Testament und Kleinere Schriften, eingeleitet und ausgewählt von Wilhelm Mommsen (Klassiker der Politik, 14), Berlin 1926, 164 f. (2. Teil, Kap. I: „Die Regierung Gottes ist das Prinzip der Staatsverwaltung, sie ist in der Tat so absolut nötig, daß es ohne diese Grundlage keinen Fürsten gibt, der wohl regieren, keinen Staat, der glücklich sei könnte.“); Lettres, instructions diplomatiques et papiers d’état du Cardinal de Richelieu, recueillis et publiés par M. Avenel, Tome III. (1628–1630), Paris 1858, 179–213 (Nr. 105, 1629 Jan. 13: Advis donné au roy après la prise de La Rochelle), hier 196 (Les roys estant les vrais images de Dieu); vgl. dazu E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates (Anm. 6), 60 f., und Carl J. Burckhardt, Richelieu, 4 Bde. München 1935–1967, hier Bd. II: Behauptung der Macht und kalter Krieg, 1966, 12.



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lament in Whitehall höchstselbst, Könige seien nicht nur Gottes Statthalter auf Erden (Gods Lieutenants) und säßen auf Gottes Thron, sondern sie seien außerdem von keiner irdischen Instanz zu richten und nur Gott allein Rechenschaft schuldig48. Weitere gleichlautende oder ähnliche Ansichten ließen sich anführen – etwa von Luis de Molina, dem aus der Neuen Welt gebürtigen, aber in Spanien wirkenden Jesuiten49, oder von Althusius50, dem zum calvinistischen Lager gehörenden und mit seiner Souveränitätslehre als Gegenpol zu Bodin erscheinenden Berater des Bruders von Wilhelm von Oranien, der seinerseits als Gegenspieler Philipps II. von Spanien die Niederlande aus der habsburgischen Herrschaft herauslöste, aber keinen Zweifel daran hatte, daß ein Fürst 48  A Speech to the Lords and Commons of the Parliament at White-Hall, on Wednes­day the XXI. of March 1609, in: King James VI and I. Political Writings, ed. by Johann P. Sommerville, Cambridge / New York 1994, 179–203, hier: 181 (The State of Monarchie is the supremest thing vpon earth: For Kings are not onely Gods Lieutenants vpon earth, and sit vpon Gods throne, but euen by God himselfe they are called Gods.); vgl. dazu M. Rhonheimer, Christentum (Anm. 1), 121 f., und allg. ­Ronald G. Asch, Jakob I. (1566–1625), König von England und Schottland. Herrscher des Friedens im Zeitalter der Religionskriege, Stuttgart 2005, Kap. VI. („Rex doctus: Jakob I. als gelehrter Polemiker und Verteidiger des Gottesgnadentums“), sowie F.-R. Erkens, Thronfolge (Anm. 3), 359. 49  Lodovici Molinae,  …, de justitia et jure Tomus Primus, ed.  Mainz 1614, 115 (Tract. II disp. XXII: Quare dicendum est, Rempublicam non habere suam potestatem autoritate partium ex quibus coalescit, sed autoritate divina, a Deoque immediate, tamquam autore naturae.) und 126 f. (Tract. II disp. XXVII: Ex quibus constat, seculares potestates a Deo esse, & ut Dei ministros Deum ipsum referre. Preterea, dum illis obedimus, Deo nos obedire, eiusque praeceptum & voluntatem servare.); vgl. dazu wie zum folgenden Luigi Giancola, L’origine del potere nel pensiero politico di F. Suarez, in: Sophia 20 (1952) 104–112.  – Zur göttlichen Mitwirkung bei der Begründung weltlicher Herrschaft nach der Lehre des Francisco Suàrez und der dabei wirksamen Konkurs-Theorie vgl. Gerald Hartung, Die politische Theologie des Francisco Suàrez: Zum Verhältnis von Religion und Politik in der Spätscholastik, in: Religion und Politik. Zu Theorie und Praxis des theologisch-politischen Komplexes (Schriftenreihe der Sektion Politische Theorien und Ideengeschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, 5), hrsg. von Manfred Walther, 113–126, bes. 119–123, und Robert Schnepf, Concursus – theoretische Hintergründe der Auslegung Rm. 13.1 bei Francisco Suàrez. Kommentar zu Gerald Hartung, ebd., 127–139, bes. 134. 50  Johannes Althusius, Politica methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrate, Herborn 1603 [ND Aalen 1981], 361 (XIX 67) und 580 f. (XXVIII 20) = Johannes Althusius. Politik, übers. von Heinrich Janssen, in Auswahl hrsg., überarb. und eingeleitet von Dieter Wydukel, Berlin 2003, 208 (XIX § 67) und 283 f. (XXVIII § 20). Zu Althusius vgl. ebd., VIII–XIV sowie Ernst Reibstein, Johannes Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca. Untersuchungen zur Ideengeschichte des Rechtsstaates und zur altprotestantischen Naturrechtslehre (Freiburger Rechts- und Staatswissenschaftliche Abhandlungen, 5), Karlsruhe 1955, 209–235, bes. 213, und allg. H. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens III 1 (Anm. 15), 93–98.

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von Gott als Beschützer über seine Untertanen gesetzt werde51. Ohne Abstriche ist daher dem Urteil von Niklas Luhmann beizupflichten52: „Noch um 1600 […] herrscht in Europa ein religiös fundiertes Legitimitätsverständnis. […] Alle Legitimität ist von Gott, und Gott verleiht direkt (immediate) direkte potestas im jeweiligen Ordnungsbereich. […] Politische Herrschaft ist gottgewollte Ordnung […]“. Im Grunde gilt diese Feststellung für das gesamte 17. Jahrhundert, wie selbst der Leviathan des Thomas Hobbes belegt53. In Sorge wegen der von religiös gefärbten Bürgerkriegen ausgehenden Gefahren und zum Schutz von Frieden und Sicherheit trieb Hobbes in der Mitte des Jahrhunderts die Säku51  Zur Begründung der Loslösung von Spanien vgl.: Plakkaat van Verlatinge 1581. Facsimile-Uitgave van de originele druk, hrsg. von M. E. H. N. Mout, ‘s-Gravenhage 1979 (und dort in der Einleitung S. 20, 26 und 53 zur Herkunft der Herrschergewalt von Gott), und zu der Vorstellung des Oraniers die: Apologie ofte Verantwoordinge van den Prince van Orangien, uitgegeven door M. Mees-Verwey, Santport 21942 = The Apologie of Prince William of Orange against the Proclamation of the King of Spain, edited after the English edition of 1581 by H. Wansink (Textus minores, 40), Leiden 1969 (in der häufig auf Gottes Hilfe und Gnade hingewiesen wird, etwa aus S. 47 f. und 52, in der sich Wilhelm von Oranien aber auch als gottergebenes [S. 132: what can they condemne in me, except it be my constancie and fidelitie, towards God and the countrey, which I have preferred before all the goods in the world?] Werkzeug Gottes stilisiert [S. 59 f.]: …, the more wil I reioyce herein, that it hath pleased God, to shewe me this grace, to be an ryder to cutt of the course, of this unmeasurable tyrannie, and by that meanes also to have bin an assitaunt, to the manifestation and opening of the true Religion.“), sowie Olaf Mörke, Wilhelm von Oranien (1533– 1584). Fürst und „Vater“ der Republik, Stuttgart 2007, 235. 52  Niklas Luhmann, Selbstlegitimation des Staates, in: Legitimation des modernen Staates (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 15), hrsg. von Norbert Achterberg und Werner Krawietz, Wiesbaden 1981, 65–83, bes. 66. Zur zeitgenössischen, durchaus differenzierten theoretischen Erörterung der religiös legitimierten Stellung des Monarchen im Gefüge der Herrschaft vom 16. bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert vgl. Horst Dreitzel, Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft. Semantik und Theorie der Einherrschaft in Deutschland von der Reformation bis zum Vormärz, Bd. II: Theorie der Monarchie, Köln / Weimar / Wien 1991, 484–523 (und die dort angeführten Beispiele). 53  Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hrsg. und eingeleitet von Iring Fetscher, Frankfurt / M. o. J. [1984, erstmals 1966]; ed. by Richard Tuck, Revised Student Edition (Cambridge Texts in the History of Political Thought), Cambridge 1996; vgl. dazu wie zum folgenden E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates (Anm. 6), 61 ff.; A. Adam, Politische Theologie (Anm. 8), 125 f.; C.-E. Bärsch, Die politische Religion des ­Nationalsozialismus (Anm. 12), 23; H. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens III 1 (Anm. 15), 265–321, bes. 276–300 und hier insbesondere 298 ff.; Michael Großheim, Religion und Politik. Die Teile III und IV des Leviathan, in: Thomas Hobbes. Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates (Klassiker Auslegen, 5), hrsg. von Wolfgang Kersting, Berlin 22008, 233– 255, bes. 247 ff.



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larisierung des Staatswesens54 voran, indem er dessen friedenstiftende Funktion nicht aus christlichem Gedankengut ableitete. Er betonte dabei die Notwendigkeit staatlicher Machtfülle, andererseits jedoch blieb für ihn der sub Deo eingesetzte55 Souverän Gottes höchster Statthalter auf Erden (Gods Supreme Lieutenant)56, der seine Gewalt, auch wenn sie durch die Übereinstimmung des versammelten Volkes übertragen wurde, von Gott empfängt57 und allein Gott verantwortlich ist58. Die eminent christliche Prägung von Hobbes Gedankenwelt ist mithin allenthalben greifbar, zumal die Gesetze der Natur, aus denen die hobbessche Staatslehre abgeleitet wird, ausdrücklich als Gottes Gesetze begriffen werden59 und jeder Mensch als der Gewalt Gottes unmit54  Vgl.

Anm. 6. Hobbes, De Cive, ed. by Howard Warrender, The Clarendon Edition of the Philosophical Works of Thomas Hobbes), Oxford 1983, 215 (XIV 19: Punitur enim Atheus siue à Deo immediatè, siue à Regibus sub Deo constitutis, …). 56  T. Hobbes, Leviathan (Anm. 53), c. 37, 339 („[…], daß wir niemanden für einen Propheten halten sollen, der eine andere Religion als diejenige lehrt, die Gottes Statthalter […] eingeführt hatte, […] Deshalb […] ist der souveräne Herrscher des Gottesvolkes unmittelbar unter Gott selbst, das heißt das Haupt der Kirche, zu allen Zeiten zu befragen, welche Lehre sie eingeführt haben, bevor man einem angeblichen Wunder oder Propheten Glauben schenkt.“); vgl. Revised Student Edition (Anm. 53), 305 f. (und dort vor allem die Charakterisierung des Monarchen als Gods Lieutenant, Vicar or Lieutenant, Gods Supreme Lieutenant, Lieutenant of God).  – Ein eigener Aspekt dieser irdischen Statthalterschaft bildet die Stellung des Königs als oberster Priester: Vgl. ebd. c. 42 (S. 414: „[…] der König und jeder andere Souverän übt das Amt eines obersten Priesters auf Grund unmittelbarer göttlicher Autorität aus, das heißt kraft göttlichen Rechts oder iure divino. Und deshalb kann niemand außer den Königen in seinem Titel zum Zeichen dafür, daß er allein Gott unter sei, Dei gratia rex, usw., aufnehmen.“ – vgl. auch 412 f., 418 und 434 bzw. Rivised Student Edition, 374, 372 f., 377 f. und 391). 57  Vgl. ebd. c. 23 und 42 (S. 186: „[…] niemand außer dem Souverän empfängt seine Gewalt schlechthin Dei gratia, das heißt, durch die Gnade keines geringeren als Gott.“ – S. 434: „Denn die christlichen Könige haben ihre bürgerliche Gewalt unmittelbar von Gott, […] Alle rechtmäßige Gewalt ist von Gott, unmittelbar beim ober­ sten Herrscher, […]“); vgl. dazu ebd. c. 18 (S. 136: „Von dieser Einsetzung eines Staates werden alle Rechte und Befugnisse dessen oder derer abgeleitet, denen die höchste Gewalt durch die Übereinstimmung des versammelten Volkes übertragen worden ist.“). 58  Vgl. ebd. c. 30 (S. 255: „Die Aufgabe des Souveräns, ob Monarch oder Versammlung, ergibt sich aus dem Zweck, zu dem er mit der souveränen Gewalt betraut wurde, nämlich der Sorge für die Sicherheit des Volkes. Hierzu ist er kraft natürlichen Gesetzes verpflichtet sowie zur Rechenschaft vor Gott, dem Schöpfer dieses Gesetzes, und nur vor ihm“). 59  Vgl. ebd. c. 43 (S. 458: „die Gesetze Gottes [denn das sind die Gesetze der Natur]“) sowie c. 32 (S. 285: „Ich habe bisher die Rechte der souveränen Gewalt und die Pflichten der Untertanen nur aus den Grundsätzen der Natur abgeleitet, […]. Da ich aber nunmehr von der Natur und den Rechten eines christlichen Staates handeln werde, wobei viel von den übernatürlichen Offenbarungen des göttlichen Willens 55  Thomas

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telbar unterworfen erscheint60. Gott, der den handelnden Menschen mit Vernunft begabt hat61, lugt dabei gleichsam als causa remota62 hinter vielen Äußerungen des englischen Staatsdenkers hervor. Die Verhaftung in der Tradition des Gottesgnadentums, die sich bei Hobbes findet und die im 17. Jahrhundert noch stark an der etwa auch bei Shakespeare anzutreffenden63 sowie von den Stuarts als eifrige Thaumaturgen praktizierten64 Vorstellung vom sakralen König orientiert war und die selbst Oliver Cromwell nicht völlig negieren konnte65, diese Verhaftung im Herkömmlichen ist aber nur das eine, das sich im Leviathan spiegelt, das andere, das Zukunftweisende, ist das allmähliche Erodieren dieser Vorstellungswelt. Diese brauchte noch lange, bis sie völlig verschwunden war, aber im 18. Jahrhundert war ihr Fundament schon deutlich im Schwinden66. Auch wenn es keine statistischen Angaben darüber geben kann, wieviel Zustimmung oder Ablehnung sie erfuhr, so mehrten sich doch die kritischen Stimmen, die freilich nicht völlig neu waren67, aber nun an Intensität gewannen und durch die Gesellschafts- und Religionskritik der Aufklärung verstärkt wurden. Nicht abhängt, muß Grundlage meiner Abhandlung nicht nur das natürliche Wort Gottes, sondern auch das prophetische sein.“). 60  Vgl. ebd. c. 31 (S. 271: „Ob die Menschen wollen oder nicht, sie unterstehen immer der göttlichen Gewalt.“). 61  Vgl. ebd. c. 32 (S. 285: „[…] unsere natürliche Vernunft, die das unbezweifelbare Wort Gottes ist, […]“). 62  Vgl. dazu F.-R. Erkens, Herrscher- und Herrschaftsidee (Anm. 3), 43 ff. (und die dort verzeichnete Literatur). 63  Vgl. H. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens III 1 (Anm. 15), 250 und 252; Wolfgang Clemen, Shakespeare und das Königtum, in: Shakespeare-Jb. 68 (1932), 56–79, bes. 65 f., sowie Shakespeares Dramen Macbeth (IV 3: Schilderung des Thaumaturgentums der englischen Könige), Richard II. (III 2: Bedeutung der Salbung), Heinrich IV. (1. Teil IV 3 und 2. Teil Prolog: Hinweis auf das Gesalbtsein des Königs), Heinrich V. (I 2: Heiligkeit des Throns) und Richard III. (I 2: Heiligkeit des toten Königs). 64  Vgl. F.-R. Erkens, Thronfolge (Anm. 3), 412. 65  Vgl. zu Oliver Cromwell und dessen Bewußtsein, mit seinem Handeln den Willen Gottes zu vollziehen und ein Werkzeug Gottes zu sein, Michael Maurer, Kleine Geschichte Englands, Stuttgart 1997 = 2002, 202–206; Christopher Hill, God’s Englishman. Oliver Cromwell and the English Revolution, London 1970, 219–250; Barry Coward, Oliver Cromwell, London / New York 1991, etwa 152, und HansChristoph Schröder, Oliver Cromwell  – das Werkzeug Gottes, in: Virtuosen der Macht. Herrschaft und Charisma von Perikles bis Mao, hrsg. von Wilfried Nippel, München 2000, 101–120, bes. 107, 110 f. und 118. 66  Zur allgemeinen Entwicklung vgl. etwa H. Dreitzel, Monarchiebegriffe II (Anm. 52), 510–523, und Andreas Kosuch, Abbild und Stellvertreter Gottes. Der König in herrschaftstheoretischen Schriften des späten Mittelalters (Passauer Hist. Forschungen, 17), Köln 2011, 302–325, bes. 306–311. 67  Vgl. dazu die in Anm. 34 angeführte Literatur.



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nur gab es sich vermehrende Gegenpositionen zu den angeführten Anschauungen68, sondern die Herrscher begannen selbst, die religiöse Aura, die sie umgab, zu schwächen, verzichteten die englischen Monarchen69 doch seit 1714 auf die im 17. Jahrhundert noch fleißig geübte Praxis der Krankenheilung70, die in Frankreich – trotz auch hier in manchen Schichten spürbar werdender Distanz71 – bis zum Ende des Ancien Régime geübt und 1825 sogar noch einmal fortgesetzt worden ist72, entwickelten die preußischen Könige nach 1701 keine Krönungstradition und legte Friedrich der Große großen Wert darauf, vorrangig als erster Diener des Staates zu erscheinen, ohne die Herrschaft als göttliche Einrichtung zu begreifen, aber freilich auch ohne den Hinweis auf Gottes Gnade fallenzulassen73. So sehr der Alte Fritz dem preußischen Königtum einen eigenen Nimbus verschaffte74, so sehr wirkte er ebenso wie sein gelehriger Verehrer in Österreich Josef II. durch eine (wohl nur vermeintliche) Verringerung der Distanz zum Untertanen an 68  Vgl. M. Rhonheimer, Christentum (Anm. 1), 120 f., und allg. H. Dreitzel, Monarchiebegriffe II (Anm. 52), etwa 510–515. 69  Vgl. F.-R. Erkens, Herrschersakralität (Anm. 2), 23. 70  Vgl. Anm. 64. 71  Vgl. Anton Haueter, Die Krönungen der französischen Könige im Zeitalter des Absolutismus und in der Restauration, Zürich 1975, 112, 254–257 und 339–342, und allg. auch Jens Ivo Engels, Königsbilder. Sprechen, Singen und Schreiben über den französischen König in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts (Pariser Studien, 52), Bonn 2000. 72  Vgl. F.-R. Erkens, Herrschersakralität (Anm. 2), 13–15 und 22 f. 73  Vgl. Friedrichs Essai sur les formes de gouvernement et sur les devoirs des souverains (1777), in: Œuvre de Frédéric le Grand 9, hrsg. von Johann D. E. Preuss (Œuvres philosophiques de Frédéric II, roi de Prusse, 2), Berlin 1848, 223–240 (= Gustav Berthold Volz [Hrsg.], Die Werke Friedrichs des Großen in deutscher Übersetzung VII: Antimachiavell und Testamente, Berlin 1912, 225–237), etwa 225, 229, 238, sowie dazu Theodor Schieder, Friedrich der Große. Ein Königtum der Widersprüche, Frankfurt / M. 1983, 285 ff.; Johannes Kunisch, Friedrich der Große. Der König und seine Zeit, München 2004, 534 ff.; ders., Friedrich der Große und die preußische Königskrönung von 1701, in: ders., Friedrich der Große in seiner Zeit. Essays, München 2008, 176–198 und 251–259, bes. 177 [erstmals 2002: NordrheinWestfälische Akad. d. Wissenschaften  – Vorträge 381]; Ernst Walder, Aufgeklärter Absolutismus und Staat. Zum Staatsbegriff der aufgeklärten Despoten, in: Der Aufgeklärte Absolutismus (Neue Wissenschaftliche Bibliothek, 67), hrsg. von Karl Otmar Freiherr von Aretin, Köln 1974, 103–122 [erstmals 1957, in: Schweizer Beiträge zur Allgemeinen Geschichte 15, 134–156], bes. 108 f.; Emile Lousse, Absolutismus, Gottesgnadentum, Aufgeklärter Despotismus, ebd., 89–102, bes. 99 ff., sowie Karl Otmar von Aretin, Der Aufgeklärte Absolutismus als europäisches Problem, ebd., 11–51, bes. 14 ff. (und zur religiösen Entwicklung 31 f.); H. Dreitzel, Monarchiebegriffe (Anm. 52), 520. Zur dei-gratia-Formel vgl. Jack Autrey Dabbs, Dei gratia in Royal Titels (Studies in European History, 22), Den Haag / Paris 1971. 74  Vgl. Peter-Michael Hahn, Friedrich II. von Preußen. Feldherr, Autokrat und Selbstdarsteller, Stuttgart 2013 (bes. Kap 4).

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einer Entzauberung der Monarchie mit75. Zugleich wurde, und zwar nicht allein durch Kant76, die ebenfalls nicht neue paränetische Dimension des herrscherlichen Gottesgnadentums verstärkt hervorgehoben77 und erlitt die Religion einen Bedeutungsschwund für die Herrschaftsbegründung – auch dies in Intensivierung einer älteren Tradition, bildete sie doch bereits für Machiavelli nur noch ein Mittel der Politik78 und für Montesquieu lediglich den Gegenstand einer funktionalistischen Betrachtung79. Im Reich spiegelte sich diese Entwicklung nicht zuletzt in der Kritik wider, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Zeremonien der Königskrönung hervorriefen und die einherging mit der zunehmenden Ablehnung vermeintlich sinnentleerten Pomps barocker Opulenz80. Am bekanntesten ist 75  Vgl. etwa das Urteil Goethes in einer Notiz zu ‚Dichtung und Wahrheit‘ (Goethes Werke – Sophien-Ausgabe – I 53, Weimar 1914, 384: „Joseph wirft die äußeren Formen weg […] Maxime, der Regent sey [!] nur der erste Staatsdiener. Die Königin von Franckreich [!] entzieht sich der Etikette. Diese Sinnesart geht immer weiter bis der König von Frankreich sich selbst für einen Misbrauch [!] hält.“), und dazu Manfred Beetz, Überlebtes Welttheater. Goethes autobiographische Darstellung der Wahl und Krönung Josephs II. in Frankfurt / M. 1764, in: Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Frühe Neuzeit, 25), hrsg. von Jörg Jochen Berns und Thomas Rahn, Tübingen 1995, 572–599, bes. 590; Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, München / Berlin 31929, 421; Fritz Hartung, Der Aufgeklärte Absolutismus, in: Der Aufgeklärte Absolutismus (Neue Wissenschaftliche Bibliothek, 67), hrsg. von Karl Otmar Freiherr von Aretin, Köln 1974, 54–76 [erstmals 1955, in: HZ 180, 15–42], bes. 73. 76  Vgl. oben Anm. 33. 77  Vgl. A. Kosuch, Abbild (Anm. 66), 300 f. und 317–322. 78  In Machiavellis ‚Il Principe‘ von 1513 spielt die Religion überhaupt keine Rolle, in den nahezu zeitgleich entstandenen ‚Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio‘ (hrsg. von Francesco Bausi, Opere di Niccolò Machiavelli, Sezione I: Opere politiche II 1 / 2, Roma 2001, 76–99 [I 11–15]; dt. von Rudolf Zorn, Stuttgart 21977, 43–56 [I 11–15]) wird sie allein als Mittel der Politik vorgestellt; vgl. H. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens III 1 (Anm. 15), 11–62, bes. 35. Zu Machiavelli vgl. die jüngere Darstellung von Volker Reinhardt, Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie, München 2012, sowie René König, Niccolo Machiavelli. Zur Krisenanalyse einer Zeitenwende, München / Wien 1979 [erstmals Zürich 1941], 228–262 (zu den ‚Discorsi‘). 79  Vgl. Charles de Montesquieu, L’esprit des lois (Amsterdam und Leipsick [!] 1748), hrsg. von André Masson, Œuvres complètes de Montesquieu I / II, Paris 1950, II, 80–125; ausgewählt und übersetzt von Kurt Wiegand, Stuttgart 2003, Buch XXIV und XXV, und dazu H. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens III 1 (Anm. 15), 454 f. 80  Vgl. dazu etwa A. Haueter, Die Krönungen (Anm. 71), 339 ff.; Jörg Jochen Berns / Thomas Rahn, Zeremoniell und Ästhetik, in: Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Frühe Neuzeit, 25), hrsg. von Jörg Jochen Berns und Thomas Rahn, Tübingen 1995, 650–665, bes. 661–664; Günter Oesterle, Die Kaiserkrönung Napoleons. Eine ästhetische und ideologische Instrumentalisie-



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wohl die erst posthum erschienene satirische Beschreibung der vorletzten Herrscherweihe im Jahre 1790 durch den Augenzeugen Karl Heinrich (seit 1808) Ritter von Lang81, der in der liturgischen Weihehandlung nichts anderes mehr erblicken mochte als ein Fastnachtsspiel in prangenden Fetzen. Auch die von einer ironischen Sympathie getragene Darstellung der Krönungsfeierlichkeiten Josefs II. im Jahre 1764, die Goethe nahezu ein halbes Jahrhundert später in seinen Lebenserinnerungen als „Dichtung und Wahrheit“ verwoben mit der Schilderung seiner ersten, fast in einer Katastrophe endenden zarten Zuneigung für ‚Gretchen‘, ein Kind aus dem Volk, gibt82 und die Burleskes neben Erhabenes stellt, kann man als Kritik lesen am ‚überlebten Welttheater‘83 der traditionellen Krönungsfeier. Doch ist dabei nicht nur zu berücksichtigen, daß sich das Abgelebte des Geschehens von 1764 erst dem aus dem Jahre 1811, also ein halbes Jahrzehnt nach dem Ende des Alten Reiches, zurückblickenden Geheimrat erschloß84, sondern vor allem auch, daß Goethe in seiner Erzählung lediglich den farbigen Abglanz des Krönungsgeschehens, die seit dem ausgehenden Mittelalter entwickelten Formen der äußeren Feierlichkeiten, die Einzüge, öffentlichen Darbietungen und Festivitäten zur Anschauung bringt, nicht jedoch das Wesentrung, in: ebd., 632–649, bes. 640, und vor allem die Kritik Friedrichs des Großen an seinem Großvater Friedrich I. wegen dessen angeblicher Verschwendungssucht im Zeremoniellen: J. Kunisch, Friedrich der Große und die preußische Königskrönung (Anm. 73), 178 ff. 81  Die Memoiren des Karl Heinrich Ritters von Lang. Faksimile der Ausgabe 1842 mit einem Nachwort von Heinrich von Mosch (Bibliotheca Franconica, 10), Erlangen 1984, 209–212 (bes. 212: „das Fastnachtsspiel einer solchen in ihren zerrissenen Fetzen prangenden Kaiserkrönung“); vgl. dazu F.-R. Erkens, Der Erzbischof von Köln (Anm. 35), 128; Rolf Haaser, Das Zeremoniell der beiden letzten deutsch-römischen Kaiserkrönungen in Frankfurt am Main und seine Rezeption zwischen Spätaufklärung und Frühromantik, in: Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Frühe Neuzeit, 25), hrsg. von Jörg Jochen Berns und Thomas Rahn, Tübingen 1995, 600–631, bes. 601, sowie Adam Wandruszka, Leopold II. Erzherzog von Österreich, Großherzog von Toskana, König von Ungarn und Böhmen, Römischer Kaiser, Bd. II: 1780–1792, Wien 1965, 306 f. 82  Johann Wolfgang Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (ArtemisGedenkausgabe. Sämtliche Werke 10, hrsg. von Ernst Beutler), Zürich 1948, ND München 1977, 199–229 (I 5). Zur Niederschrift des ersten Buches der Lebenserinnerung vgl. ebd., 888, sowie Karl Otto Conrady, Goethe. Leben und Werk II: Summe des Lebens, Königstein / Ts. 1985 [= Sonderausgabe: Frankfurt / M. 1987], 382 f. Zum Geschehen von 1764 und zur ‚Gretchen‘-Episode vgl. Nicolas Boyle, Goethe. Der Dichter in seiner Zeit I: 1749–1790, München 1995, 77 (wo eine gewisse Skepsis gegenüber den Details der Gretchengeschichte artikuliert wird), und Rüdiger Safranski, Goethe. Kunstwerk des Lebens, München 2013, 34 f. (der die ausführlichsten Informationen bietet). 83  Vgl. M. Beetz, Überlebtes Welttheater (Anm. 75), etwa 583, 585, 588, 596 ff. 84  Vgl. R. Haaser, Das Zeremoniell (Anm. 81), 600.

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liche: die Weihe und Krönung im Kirchenraum. Dieser blieb dem jungen Goethe verschlossen, und er konnte ihn auch nicht mit einem Trick betreten (wie er ihn angeblich – vielleicht aber auch nur als Erzählkniff – anwandte, um das Krönungsmahl betrachten zu können85). Daher begnügt er sich mit dem lakonischen Hinweis86: „Was in dem Dome vorgegangen, die unendlichen Zeremonien, welche die Salbung, die Krönung, den Ritterschlag vorbereiten und begleiten, alles dieses ließen wir uns in der Folge gar gern von denen erzählen, die manches andere aufgeopfert hatten, um in der Kirche gegenwärtig zu sein.“ Was jedoch, weil ungesehen, nicht zur Darstellung gelangt, kann auch nicht kritisiert werden. Ohne zeitgenössische Kritik ist das Krönungsgeschehen im Reich des späten 18. Jahrhunderts aber keinesfalls geblieben87, und Parallelen dazu gab es in Frankreich88. Doch stieß es vor allem auf ein breites Interesse der Öffentlichkeit, was einen regelrechten „Krönungsjournalismus“ beflügelte89. Aber der sich hier regende Boulevard scheint doch eher die exotische Neugier seines Publikums befriedigt zu haben, auch wenn es durchaus zu ernsten Erörterungen von Verfassungsfragen kam90; die religiöse Herrschaftslegitimierung allerdings scheint dabei keine Rolle gespielt zu haben. Aus dem unverkennbaren Publikumsinteresse am Frankfurter Krönungsgeschehen lassen sich daher keine Rückschlüsse ziehen auf eine breite Akzeptanz des herrscherlichen Gottesgnadentums, und die gelegentlichen Hinweise darauf, Krönungsfeierlichkeiten seien Schauspiele für das Volk91, mahnen dabei zu besonderer Vorsicht, denn wenn sie zutreffen, bezeugen sie eine naive oder 85  J.

W. Goethe, Dichtung und Wahrheit (Anm. 82), 226 f.

86  Ebd., 221. – Zur Krönung selbst vgl. Bernhard A. Macek, Die Krönung Jo­sephs II.

zum Römischen König in Frankfurt am Main. Logistisches Meisterwerk, zeremonielle Glanzleistung und Kulturgüter für die Ewigkeit, Frankfurt / M. 2010, 81–93. 87  Vgl. R. Haaser, Das Zeremoniell (Anm. 81), 602 mit Anm. 7 und 8.  – Zum Verlauf der letzten Krönung im Jahre 1792 vgl. allg. Christian Hattenhauer, Wahl und Krönung Franz II. AD 1792. Das Heilige Reich krönt seinen letzten Kaiser  – Das Tagebuch des Reichsquartiermeisters Hieronymus Gottfried von Müller und Anlagen (Rechtshistorische Reihe, 130), Frankfurt / M. 1995, bes. 162–196 und Anlage XXIII („Der Krönungsakt vom 14. Juli 1792“). 88  Vgl. Anm. 71. 89  Vgl. R. Haaser, Das Zeremoniell (Anm. 81), 603–611. 90  Vgl. ebd., 607 f. 91  Vgl. ebd., 605 f., sowie Johann Christian Lünig, Theatrum Ceremoniale Historico-Politicum, 2 Bde., Leipzig 1719 / 1720, hier: Bd. I, 5 (wo ganz allgemein Aussagen getroffen werden über die das Volk beeindruckende Bedeutung des Zeremoniells für die „Statthalter[.. Gottes] auf Erden“), und zum Vorstellungshintergrund solcher Meinungen Andreas Gestrich, Höfisches Zeremoniell und sinnliches Volk. Die Rechtfertigung des Hofzeremoniells im 17. und frühen 18. Jahrhundert, in: Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Frühe Neuzeit, 25), hrsg. von Jörg Jochen Berns und Thomas Rahn, Tübingen 1995, 57–73.



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derbe Festfreude, nicht jedoch ein eigenes Verständnis für die religiöse Dimension der Herrscherweihe, ja, sie lassen bei dem, der sie äußert, sogar eher eine Distanz zu einer sakralen Deutung vermuten.

* Aufklärung und Französische Revolution brachten zweifellos die entscheidende Erschütterung für den Glauben an ein Nahverhältnis der Herrscher zu Gott. Sie erst gaben den endgültigen Anstoß zum Verschwinden religiöser Herrschaftsbegründungen. Doch dauerte deren tatsächlicher Untergang lange und lieferte ein zähes Rückzugsgefecht im Zeichen des Legitimismus. Im Staatsrecht ist – unabhängig davon, was in den Köpfen vieler Menschen immer noch herumspukte – die Legitimierung der Staatsgewalt durch Gottes Gnade praktisch erledigt gewesen, im Verlauf des 18. Jahrhunderts war sie weitgehend verdrängt und ersetzt worden durch die naturrechtliche Vertragstheorie92. Carl Gottlieb Svarez merkte daher 1791 / 92 in seinen Kronprinzenvorträgen gegenüber dem Thronfolger und späteren König Friedrich Wilhelm III. an, man könne „die unmittelbare göttliche Stiftung der Regierungen aus der Geschichte so gar nicht dokumentieren“93. Nahezu zeitgleich, nämlich 1793, erklärte August Ludwig Schlözer94 „‚origo majestatis a Deo‘“ sei eine „gefärliche [!] scholastische Grille“, nachdem im Jahr zuvor Friedrich Carl von Moser95, zweifellos kein Freund eines göttlich umglänzten Absolutismus, aus Sorge vor den menschengefährdenden Auswüchsen der Französischen ­Revolution in der Herleitung der „Obrigkeit“ von Gott einen Schutz erblickt hatte gegen die „hohe Volks=Majestät mit Laternen=Pfählen“ und gegen die „Volksjustiz mit Metzgermessern“. Das in den Ohren vieler Menschen nachklingende ‚Ça ira‘ der Revolution, das in den Köpfen umgehende ‚Les aristocrates à la laterne‘ des revolutionären Gassenhauers, die Furcht vor der aufgebrachten Menge und ihrer Agitation mit „Laternenpfählen“ und „Metzgermessern“ trug offenkundig zur Daseinsverlängerung des Gottesgnadentums bei – natürlich nicht alleine: Ökonomische und soziale Besitzstandswahrung spielten dabei ebenso eine Rolle wie religiöse Bindungen. 92  Vgl. dazu wie zum folgenden H. Dreitzel, Monarchiebegriffe (Anm. 52), 520–523.

93  Vorträge über Recht und Staat von Carl Gottlieb Svarez, hrsg. von Hermann Conrad und Gerd Kleinheyer (Wissenschaftliche Abhandlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes NRW), Köln und Opladen 1960, 462 (Grundsätze des Natur- und Allgemeinen Staatsrechts, 453–468); vgl. auch ebd., 6 f. 94  August Ludwig Schlözer, Allgemeines StatsRecht (!) und Statsverfassungslere (!), Göttingen 1793, 96 f. (vgl. auch ebd. den Anhang „Allgemeines StatsRecht [!], nach Grundsätzen des „großen deutschen Manns“, 173–202, der eine Auseinandersetzung mit der in der folgenden Anm. belegten Position des Friedrich Carl von Moser darstellt). 95  Friedrich Carl von Moser, in: Neues patriotisches Archiv für Deutschland 1 (1792), 539 ff. (das Zitat steht auf S. 539).

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Der Glaube an eine göttliche Installierung der weltlichen Herrschaft fand dabei freilich, wenn wohl auch mit Schwankungen96, nicht nur immer weniger Anhänger, sondern er mutierte auch zu einer Parteimeinung und nahm immer mehr den Charakter einer Propagandaphrase an. Natürlich bleibt unbekannt, ob und wie sehr in früheren Jahrhunderten wirklich an den sakralen Charakter der Herrscher geglaubt worden ist; aber die Vermutung liegt nahe, daß die Betonung der religiösen Dimension der Monarchie nicht allein legitimatorische Zwecke erfüllte, sondern ebenfalls Teil einer geglaubten Wirklichkeit gewesen ist97. Aber die Zahl der Gläubigen dürfte permanent, wenn auch, über Jahrhunderte hinweg betrachtet, nur langsam zurückgegangen sein, ohne daß quantitative Einzelheiten dieser Entwicklung greifbar sind. Wann genau die überzeugten Anhänger des Gottesgnadentums in die Minderheit gerieten, muß zwar offen bleiben, im 19. Jahrhundert jedoch sind sie es wohl gewesen. Offenkundig speiste sich ihre Anhängerschar nun überwiegend aus hofnahen oder konservativen Kreisen. Wie sehr die Zurschaustellung religiöser Herrschaftsbezüge mittlerweile utilitaristischen Erwägungen entsprang, zeigte am 2. Dezember 1804 in schöner Deutlichkeit die Kaiserkrönung des Kindes, Erben und Überwinders der Französischen Revolution, Napoleon Bonapartes. Dieses Ereignis98, das der hegemonialen Stellung des kleinen Korsen einen angemessenen Ausdruck verlieh, stand natürlich im Widerspruch zu den Prinzipien der Revolution und barg vor allem die Gefahr in sich, zu deutlich an die beseitigte Monarchie der Bourbonen zu erinnern. Diese Gefahr sollte gebannt werden, indem Napoleon mit identifikatorischer Attitüde an Karl den Großen99 und die imperiale Tradition anknüpfte und durch die Selbstkrönung jeglichen Eindruck einer Abhängigkeit von der geistlichen Gewalt des eigens zur Krönung geladenen Papstes vermied. Allerdings wurde dieser nicht nur als Dekoration 96  In diesem Zusammenhang ist wohl in einem besonderen Maße die Entwicklung der Religiosität im 19. Jahrhundert zu berücksichtigen, vgl. dazu die in Anm. 9 angeführte Literatur sowie Hans Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“. 1815–1845 / 49, München 1987, 459–477, und Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. 1849–1914, München 41996, 1171–1191. 97  Vgl. dazu F.-R. Erkens, Herrschersakralität (Anm. 2), 218–222; ders., Herrschersakralität. Ein Essai (Anm. 3), 20 f. 98  Vgl. dazu G. Oesterle, Die Kaiserkrönung Napoleons (Anm. 80), passim, zur Salbung vor allem 646. 99  Vgl. ebd., 644, und Sabine Tanz, Aspekte der Karlsrezeption im Frankreich des 19. Jahrhunderts, in: Karl der Große in Renaissance und Moderne. Zur Rezeptionsgeschichte und Instrumentalisierung eines Herrscherbildes (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung, 4 / 2), hrsg. von Franz-Reiner Erkens, Berlin 1999, 55–64, bes. 56 ff.



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gebraucht, sondern vor allem dazu benötigt, den angehenden Kaiser der Franzosen zu salben. Auf diesen geistlichen Akt wollte man offenkundig nicht verzichten, auch wenn er dem aufgeklärt-republikanischen Geist am meisten zuwider gewesen sein muß. Von nun an konnte Hegels „Weltseele zu Pferde“100, die ihre erstaunliche Karriere völlig aus eigener Leistung heraus gestaltet hatte, auf die Gnade Gottes als Hintergrund ihres Handelns und vor allem auf die sakrale Legitimierung des neuen Erbkaisertums verweisen. Der Schein des Gottesgnadentums ruhte nun auf dem Usurpator, der Napoleon für den europäischen Hochadel wohl auch nach dem Krönungsakt von Paris blieb. Den vermeintlichen Glanz des Gottesgnadentums erstrebte auch der zweite Bourbonenkönig der Restaurationszeit, Karl X., der sich, anders als sein Bruder und Vorgänger, bei der Thronbesteigung nach altem Ritus und mit angeblich aus dem Himmel stammenden Salböl weihen ließ und, obwohl selbst voller Bedenken, gedrängt von seinen hochkonservativen Beratern 1825 noch einmal das Wunder versuchte: die Heilung von Skrofulösen durch Handauflegen101. Wenn damals auch Victor Hugo und Alphonse Marie Louis de Lamartine, beide frisch gebackene Chevaliers de la Légion d’honneur, Gedichte auf diesen ‚sacre‘ schrieben, so war doch die Reaktion der breiten Öffentlichkeit eher zurückhaltend und ablehnend, ja, sogar spöttisch. Sicherlich, einige vom Zeitgeist Unerschütterte, wie es sie noch im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in Gestalt des Marquis de la Franquerie und seines Glaubens an die quasitrinitäre Liebe der Franzosen zu Gott, Frankreich und dem König (dem aus einem ‚heiligen‘ Hause stammenden König!) gab102, mögen damals gemeint haben, der 1793 durchtrennte Faden der thaumaturgen Königstradition könne aufgegriffen und verlängert werden. In Wirklichkeit machte die Resonanz auf das Reimser Geschehen von 1825 aber wohl nur die Unmöglichkeit einer Fortsetzung der französischen Königstradition deutlich. Als Karl X. 1830 abdankte und ihm der Bürgerkönig Louis Philippe folgte, verzichtete man nicht nur auf einen geistlichen Erhebungsakt – nicht 100  Vgl. Hegels Brief vom 13. Okt. 1806 an Friedrich Immanuel Niethammer, in: Briefe von und an Hegel I: 1785–1812 (Philosophische Bibliothek, 235), hrsg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 31969, 119–121 (Nr. 74), hier: 120 („den Kaiser  – diese Weltseele – sah ich durch die Stadt zum Rekognoszieren hinausreiten“). 101  Vgl. dazu F.-R. Erkens, Herrschersakralität (Anm. 2), 13–16, und ders., Sakral legitimierte Herrschaft (Anm. 2), 7 ff., sowie A. Haueter, Die Krönungen (Anm. 71), 157 f., 257 ff., 343–350 und 354–359. 102  Vgl. Franz-Reiner Erkens, Einleitung, in: Die Sakralität von Herrschaft. Herrschaftslegitimierung im Wechsel der Zeiten und Räume. Fünfzehn interdisziplinäre Beiträge zu einem weltweiten und epochenübergreifenden Phänomen, hrsg. von Franz-Reiner Erkens, Berlin 2002, 3–6, hier: 3 und die dort in Anm. 1 und 2 verzeichneten Arbeiten des Marquis de la Franquerie, vor allem dessen Werk Le caractère sacré et divin de la royauté en France, Vouillé 1978.

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zuletzt, weil man Kritik und Spott der Öffentlichkeit fürchtete103 –, sondern auf jede religiöse Legitimierung104. Die lange und lang erfolgreiche Geschichte der sich in einem besonderen Bunde mit Gott präsentierenden und wundersame Kräfte besitzenden allerchristlichsten Könige Frankreichs, das eine eigene religion royale entfaltende Gottesgnadentum der französischen Monarchie war damit endgültig erledigt. Im übrigen Europa entwickelten sich die Verhältnisse hingegen differenzierter. In England, wo das Königtum ebenfalls in einer das Wunder über ein halbes Jahrtausend hinweg bemühenden Tradition stand, man aber pragmatisch und flexibel auf Entwicklungen zu reagieren wußte und alte Bräuche gehegt, manchmal geändert oder – wenn nötig – sogar erst erfunden105 werden, auf der britischen Insel haben sich, gestützt auf die besondere Ausgestaltung der anglikanischen Kirche, Reste des Gottesgnadentums bis heute erhalten, wobei freilich bereits im 19. Jahrhundert klar war, daß der königliche Gottesbezug in der parlamentarisch bestimmten Alltagspraxis der Politik keine Rolle spielte106. Dagegen hielt sich in den zaristischen Kreisen Rußlands der Glaube an die gottgewollte Autokratie bis zum bitteren Ende107. Die russischen Kaiser, herrschend über ein multiethnisches Imperium, in dem Kirche und Staat als vereint begriffen wurden, traten als Schützer der orthodoxen Christenheit auch jenseits der Reichsgrenzen auf108, galten als gottähnlich109 und selbst noch der letzte Zar konnte sich allein gegenüber Gott verantwortlich fühlen sowie dessen Eingebung erhoffen110. Im 1804 geschaffenen Kaisertum Österreich, in dem sich natürlicherweise manche Tradition aus dem 1806 untergegangenen Heiligen Römischen Reich deutscher Nation bewahrte, verzichtete man zwar bei der Herrscherinauguration auf besondere geistliche Akte, doch wurde bei der Krönung des Kaisers zum A. Haueter, Krönung (Anm. 71), 158. H. Dreitzel, Monarchiebegriffe (Anm. 52), 524. 105  Vgl. David Cannadine, Die Erfindung der britischen Monarchie 1820–1994, Berlin 1994 [engl. 1983]. 106  Vgl. dazu etwa F. W. Maitland, The Constitutional History of England, Cambridge 1908 (Period V.), und Julius Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte bis zum Regierungsantritt der Königin Victoria, München / Berlin 1913, §§ 43, sowie allg. Alexander Gauland, Gemeine und Lords. Porträt einer politischen Klasse, Frankfurt a. M. 1989. 107  Vgl. Andreas Frings, Religion und Politik im späten Rußländischen Reich, in: HZ 289 (2009) 669–702, bes. 674–679 und hier vor allem 677 f. 108  Vgl. Orlando Figes, Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug, Berlin 2011 [engl. 2010], bes. Kap. 1 und 2. 109  Vgl. ders., Nataschas Tanz. Eine Kulturgeschichte Russlands, Berlin 2013 [engl. 2002], 324; Michael Cherniavsky, Tsar and People. Studies in Russian Myths, New Haven and London 1961, 44–95. 110  Matthias Stadelmann, Die Romanovs, Stuttgart 2008, 214 f. 103  Vgl. 104  Vgl.



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König von Ungarn die Salbung weiterhin vollzogen111; im Habsburgerreich, das trotz wirtschaftlichen Fortschritts und mancher Modernisierung112 stark in vormodernen Traditionen wurzelte und in einem besonderen Maße von der Person des Kaisers zusammengehalten wurde, lebte die religiöse Legitimation mithin einfach weiter. Der Kaiser war, wie bereits erwähnt113, von Gottes Gnaden eine apostolische Majestät, besaß kirchliche Eingriffsrechte und führte seine Stellung auf Gottes Willen zurück. Regierte ein solcher Herrscher lange genug wie Kaiser Franz Josef, dann wurde er selbst zum Symbol und Zusammenhalt des Reiches und genoß eine ehrfürchtige Verehrung114. In Deutschland waren die Verhältnisse komplizierter. Das 1871 neugegründete Reich konnte sich zwar in die Tradition des 1806 untergegangenen Alten Reiches stellen und vor allem an das Vorbild der vermeintlichen Kaiserherrlichkeit des Mittelalters erinnern115, aber es war, abgesehen vom sich zunehmend religiös aufladenden Nationalismus116, als Fürstenbund ohne eine eigene religiöse Dimension, auch wenn sich der ‚Deutsche Kaiser‘ von Gottes 111  Vgl. etwa Edmund Bernatzik (Hrsg.), Die österreichischen Verfassungsgesetze mit Erläuterungen (Studienausgabe Österreichischer Gesetze III: Die Verfassungsgesetze), Wien 21911, 49 Nr. 13 (bes. S. 51 § 4), 113 Nr. 38, S. 311, 320 Nr. 109, S. 1087; Wilhelm Brauneder, Kaiserwürde durch Verwaltungsakt: Der österreichische Kaisertitel von 1804, in: Wahl und Krönung in Zeiten des Umbruchs (Mainzer Studien zur Neueren Geschichte, 20), hrsg. von Ludolf Pelizaeus, Frankfurt / M. 2008, 199–213, bes. 202, 204 f., 208 f., und zur Inauguration von Franz Joseph I. Egon Cäsar Conte Corti / Hans Sokol, Franz Joseph, Graz 1960, 167 f., und M. u. K. Vocelka, Franz Joseph  I. (Anm. 18), 70–73 und 195, sowie Anton von Virozsil, Das Staats-Recht des Königreichs Ungarn, vom Standpunkt der Geschichte, und der vom Beginn des Reiches bis zum Jahre 1848 bestandenen Landes-Verfassung, Pest 1865, 315–326 [§ 33]; Heinrich Marczali, Ungarisches Verfassungsrecht (Das öffentliche Recht der Gegenwart, 15), Tübingen 1911, 55 ff., bes. 57; Vocelka, a. a. O., 195–205, bes. 202 (Salbung Franz Josephs I. 1867) sowie 77 (Krönung Ferdinands I. 1830, der sich 1836 auch in Böhmen und 1838 sogar in Mailand hat krönen lassen); Otto de Habsbourg (Habsburg), Le couronnement du roi Charles IV de Hongrie à Budapest le 30 décembre 1916, in: Le sacre des rois. Actes du Colloque international d’histoire sur les sacres et couronnements royaux (Reims 1975), Paris 1985, 305–311, bes. 308 f. 112  Vgl. Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 32013, Kap. 2: Das Reich ohne Eigenschaften (bes. 104–116); Helmut Rumpler, Österreichische Geschichte 1804–1914: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie, Wien 1997, aber auch Manfried Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien 2013, 44–48. 113  Vgl. Anm. 18 und 28. 114  Vgl. etwa M. Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg (Anm. 112), 638–644, sowie M. u. K. Vocelka, Franz Joseph I. (Anm. 18), 9 u. ö. 115  Vgl. etwa Klaus Schreiner, Die Staufer in Sage, Legende und Prophetie, in: Die Zeit der Staufer. Geschichte  – Kunst  – Kultur. Katalog der Ausstellung Stuttgart 1977, Bd. III: Aufsätze, Stuttgart 1977, 249–262 bes. 261 f. 116  Vgl. oben Anm. 9.

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Gnaden nannte. Dies war jedoch ein deutbarer Ausdruck, der Legitimation ebenso wie Demut anklingen lassen konnte oder gar nur als mehr oder weniger hohl gewordene Phrase aus Gründen der Tradition benutzt wurde117. Bezeichnenderweise hatte man 1871 bei der Konstituierung des Deutschen Kaisertums, obwohl darüber diskutiert worden ist und etwa der als liberal geltende Kronprinz selbst entsprechende Vorschläge gemacht hatte118, auf ein Anknüpfen an zeremonielle Praktiken des Mittelalters und auf eine Krönung verzichtet. Ganz anders dagegen war der nur widerwillig zum Deutschen Kaiser erhöhte Wilhelm I. ein Jahrzehnt früher bei seiner Erhebung zum preußischen König verfahren, als er sich in Anspielung auf die erste (und bislang einzige) Krönung eines preußischen Herrschers im Jahre 1701 selbst die Krone aufs Haupt setzte und damit die zweite (und letzte) preußische Krönung vollzog119. Das war ein bemerkenswertes Ereignis, auf das noch einmal zurückzukommen sein wird – nicht zuletzt auch deshalb, weil der häufig bramarbasierende Enkel des ersten deutschen Kaisers eine Anmerkung zu diesem Thema zu machen beliebte120. Hier jedoch zeigt es zunächst nur an, daß sich das Gottesgnadentum im Deutschland des 19. Jahrhunderts allein in den souveränen Fürstenhäusern fortsetzen konnte. Dieses war nach dem Sturz Napoleons verknüpft worden mit dem Begriff der Legitimität, der offenbar erstmals 1791 politisch zum Einsatz kam und dann durch Talleyrand und den Wiener Kongreß zum Allgemeingut der europäischen Verfassungsdiskussion wurde121. Im Kern meint die Legitimität der Monarchen nichts anderes als ein seit Urzeiten bestehendes, durch Erbgang tradiertes, unverbrüchliches und nicht entziehbares Besitzrecht der HerrH. Dreitzel, Monarchiebegriffe (Anm. 52), 515 f. Theodor Schieder, Das deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat (Wiss. Abh. d Arbeitsgemeinschaft f. Forschung des Landes NRW, 20), Köln 1961, 154–158, und Hans-Christof Kraus, Friedrich III. (12. März 1888–18. Juni 1888), in: Preußens Herrscher. Von den ersten Hohenzollern bis Wilhelm II., hrsg. von FrankLothar Kroll, München 22009, 265–289, bes. 279. 119  Vgl. Jürgen Angelow, Wilhelm I. (1861–1888), in: ebd., 242–264, bes. 254 f., und Jan Andres, „Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet“. Huldigungsrituale und Gelegenheitslyrik im 19. Jahrhundert (Historische Politikforschung, 4), Frankfurt / New York 2005, 60–66 (bes. 62 und 66 die Hinweise Wilhelms I. auf das Gottesgnadentum: „Die Herrscher Preußens empfangen ihre Krone von Gott.“ bzw.: „Von Gottes Gnaden tragen Preußens Könige […] die Krone.“); zur Krönung von 1701 vgl. oben Anm. 37. 120  Vgl. dazu unten Anm. 142. 121  Vgl. dazu wie zum folgenden H. Dreitzel, Monarchiebegriffe (Anm. 52), 523; Otto Brunner, Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip. Der Weg der europäischen Monarchie seit dem hohen Mittelalter, in: Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen (Vorträge und Forschungen, 3), hrsg. von Theodor Mayer, Sigmaringen 1956, 279–305, bes. 300, und Steffen Schlinker / Dietmar Willoweit, Gottesgnadentum, in: LThK 4 (31995) 917 ff., bes. 919. 117  Vgl. 118  Vgl.



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scherdynastien. Eine Rückführung dieses Rechtes auf eine göttliche Übertragung war nicht unbedingt nötig122 und ist im weiteren Verlauf der Verfassungsdebatte auch zunehmend verneint worden123. Aber es ließ sich eine Verknüpfung herstellen, und genau dies ist auch geschehen. Es waren Christian Maaßlieb124 und vor allem der Rechtsphilosoph und Staatsrechtler, spätere Mitbegründer der Conservativen Partei Preußens und engagierte Mitarbeiter der erzkonservativen Kreuzzeitung Friedrich Julius Stahl125, die Gottesgnadentum und Legitimitätsprinzip wirkmächtig zusammenbrachten und schließlich auch von katholischer Seite Zustimmung erhielten126. Sie wollten dadurch aber keinesfalls einer unbeschränkten Monarchie das Wort reden127, wohl aber einem von Gott gestifteten, sich in einem konstitutionellen Rahmen bewegenden Königtum, aus dem der Monarch nicht ohne weiteres entfernt werden kann. „[…] eben das“, erklärte daher Maaßlieb128, „wird Jeder als etwas im Wesen der Legitimitaet Liegendes anerkennen, daß der König nicht durch Menschen hingestellt wird, sondern als ein von Gott selbst Erwählter erscheint.“ Und Stahl differenzierte und präzisierte diesen Gedanken, indem er die Stiftung des Staates als Institution und die Einsetzung des einzelnen Herrschers als Erbmonarch unterschied, beide Handlungen aber auf Gott zurückführte129. „Das göttliche Recht (Vollmacht) und die Legitimität“, so lehrte er daher130, „sind […] verschiedene, aber zu122  Vgl. Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Die Staatswissenschaften unserer Zeit 1, Leipzig 1827, 459 Anm. *: „Folgt man der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs der Legitimität, so kann in demselben keine unmittelbare Ableitung der Regentengewalt von Gott, sondern bloß die rechtliche Thronfolge in einer Erbmonarchie gefunden werden, und dies scheint in rechtlicher und politischer Hinsicht auszureichen.“ 123  Vgl. H. Dreitzel, Monarchiebegriffe (Anm. 52), 526 ff. 124  Christian Maasslieb, Von Gottes Gnaden: Ein Beitrag zur naeheren Bestimmung der Legitimitaet, Jena 1831. 125  Friedrich Julius Stahl, Die Philosophie des Rechts 2: Rechts= und Staatslehre auf der Grundlage christlicher Weltanschauung, Tübingen und Leipzig 41878 [erstmals 1830–1837 unter dem Titel: Die Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht]. 126  Vgl. Peter Hake, Die christliche Idee des Königthums, Paderborn 1864, 5: „Das Christenthum knüpft aber die Idee des Königthums nach seinem Ursprung, wie nach seinem Beruf an eine höhere und allgemeinere Weltordnung und stellt zwischen den Thron und das Volk ein über beide erhabenes Gesetz, wodurch sowohl die unverletzliche Würde und Heiligkeit der Königlichen Gewalt, als auch die allgemeine Wohlfahrt ihre Wahrung, und der mit dem Verhältnis der Ueber= und Unterordnung gegebene Gegensatz in höchst möglicher Annäherung seine Ausgleichung und Versöhnung findet.“ Vgl. auch ebd., 12, 14 und 22. 127  Vgl. H. Dreitzel, Monarchiebegriffe (Anm. 52), 525. 128  C. Maaslieb, Von Gottes Gnaden (Anm. 124), 11. 129  Vgl. F. J. Stahl, Philosophie (Anm. 125) 176 ff. und 250 ff. 130  Ebd., 251.

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sammenhängende Begriffe; jenes bedeutet, daß die Autorität, kraft der der König herrscht, diese, daß seine Thronerlangung von Gott ist. Sie sind das christliche Prinzip des Staates.“ Letztlich diente dieses „christliche Prinzip“ dazu, den Souverän – sofern er sich im Rahmen der Gesetze bewegte, nicht herrschaftsunfähig wurde oder zum Tyrannen entwickelte – unantastbar zu machen und ihm die „staatsrechtliche Unverantwortlichkeit“, das Nichtverantwortlichsein vor weltlichen Instanzen zu garantieren sowie die nicht durch die Wahl des Volkes begründete Erbherrschaft zu legitimieren131. Erfolgreich war diese christliche Lehre am Ende freilich nicht. Vielmehr setzte sich schließlich die liberale Tradition durch, die in doppelter Hinsicht Distanz schuf zwischen dem Königtum und der Religion132: Einmal mediatisierte sie die monarchische Gewalt, indem sie dem Staat anstelle des Herrschers eine eigene Souveränität verlieh und das herrscherliche Recht auf Besitz und Erbe der Königswürde als ein an den Staat gebundenes Verfassungsrecht begriff; zum anderen wurde der Monarch als „Organ des Staates“ aufgefaßt133, der seine Legitimation nicht von Gott, sondern von dem Staatswesen erhielt, das er repräsentierte. Otto Hintze, in seiner preußischen Gesinnung sicherlich unverdächtig, konnte daher 1911 feststellen134: „Das monarchische Prinzip wird am besten gewahrt, wenn der Staat, in dem es gilt, als etwas rein Weltliches und Menschliches betrachtet wird.“ Damit war der „magische Kitt“ der Monarchie zerbröselt. Er besaß keine oder besser: kaummehr Bindungskraft – kaummehr, denn natürlich gab es auch an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert immer noch Verfechter einer  – wenn auch nur noch rudimentären und keinesfalls religiöse Dimensionen begründenden – Ableitung der monarchischen Gewalt von einer überirdischen Instanz, wird doch etwa im 1888 erschienenen „Preußischen Staatsrecht“ Conrad Bornhaks mit Blick auf den juridischen Kern des Gottesgnadentums weiterhin gesprochen von einer „Nichtableitbarkeit von jeder höheren irdischen Gewalt“135. Darüber hinaus führten natürlich die Päpste weiterhin jegliche Herrschaftsgewalt auf Gott zurück, wie etwa in der Enzyklika ‚Quas H. Dreitzel, Monarchiebegriffe (Anm. 52), 525. ebd., 526 f. 133  Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, Berlin 3. Auflage (unter Verwertung des handschriftlichen Nachlasses durchgesehen und ergänzt von Dr. Walter Jellinek) 1914 [erste Aufl.: 1900], 679. In der zweiten, 1905 erschienenen Auflage des Werkes heißt es etwa auf S. 676: „Nicht der Monarch erbt die Krone, sondern die Krone den Monarchen; die bleibende staatliche Institution nimmt beim Thronwechsel einen neuen Organträger auf.“ 134  Otto Hintze, Das monarchische Prinzip und die konstitutionelle Verfassung, in: ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte I, Göttingen 31970, 359–389 [erstmals 1911], hier: 388. 135  Conrad Bornhak, Preußisches Staatsrecht I, Freiburg i. B. 1888, 148 Anm. 2 (wo aber auch gegen Stahl ausdrücklich festgehalten wird, daß das „göttliche[] 131  Vgl. 132  Vgl.



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primas‘ von 1925 nachzulesen ist136. Und vor allem spukten ungehindert  – sowie mit weniger juristischer Präzision als in den Hand- und Lehrbüchern – eigene Vorstellungen vom Gottesgnadentum in manchen konservativen oder traditionsbewußten Köpfen und nicht zuletzt in den Häuptern der Herrscher und ihrer Entourage. Die Idee vom christlichen Staat, von einer auf „christlichen Prinzipien“ aufgebauten Staatsordnung war ja nicht nur ein Teil der staatsrechtlichen Diskussion, sondern sie war eingebettet in die Gedankenwelt des politischen Konservatismus, der sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert als europäisches Phänomen und antirevolutionäre Bewegung formiert hatte137. An ihr hatten, auch wenn sie letztlich erfolglos blieb, viele teil: bedeutende Ideengeber138 ebenso wie fürstliche Nutznießer. Auch wenn in der praktischen Politik der Legitimismus diskreditiert werden konnte wie etwa durch die territoriale Expansion Preußens im Norden Deutschlands und die damit einhergehende Verdrängung angestammter, also: legitimer Herrscherhäuser oder als Mittel zur Konservierung politischer und sozialer Verhältnisse139: Das Gedankengut wurde bei den Fürsten und in ihrem Umfeld gehegt und gepflegt. Daher konnten noch zu Zeiten, in denen sich die Vorstellung von religiös legitimierter Herrschaft in der staatsrechtlichen Diskussion bereits auf dem Rückzug befand, Zeichen eines eigenen Verständnisses gesetzt und sogar zustimmend Recht[] des Königtums“ juristischen und nicht religiösen Inhalts sei und eben nur „die Nichtableitbarkeit von jeder höheren irdischen Gewalt“ bedeute). 136  Vgl. Franz-Reiner Erkens, Christkönig. Anmerkungen zur Patroziniumswahl der Kirche des Bergfrieds in Passau, in: Passauer Jb. 49 (2007), 185–199, bes. 190 f., und allg. A. Kosuch, Abbild (Anm. 66), 311–316. 137  Vgl. Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens III. Neuzeit 3: Die politischen Strömungen im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2008, 1 f. 138  Zu diesen vgl. etwa Adam Müller, Von der Notwendigkeit einer theologischen Grundlage der gesamten Staatswissenschaften und der Staatswirtschaft insbesondere, in: ders., Schriften zur Staatsphilosophie, ausgewählt und hrsg. von Rudolf Kohler, München o. J. [1923], 177–246, bes. etwa 195 f., 221, 244; Louis Gabriel Ambroise de Bonald, Théorie du pouvoir politique et réligieux I–III (1796), in: Œuvres com­ plètes 12–15, Paris 1843 [ND Genf / Paris 1982], etwa I (Livre I, chap. V und VI) und II, 452 (Livre VI, Conclusion: „Telle est en peu de mots la marche et l’analyse de mes preuves de la nécessité, ou ce qui est la même chose, de la divinité de la religion chrétienne, et de la nécessité, oserois-je dire, de la divinité du gouvernement monarchique.“); Joseph de Maistre, Von der Souveränität. Ein Anti-Gesellschaftsvertrag, Berlin 2000, bes. II 2 [Étude sur la souveraineté, in: Œuvres complètes de J. de Maistre I, Lyon 1884, 309–559]; Juan Donoso Cortés, Rede über die allgemeine Lage Europas (30.  Januar 1850), in: ders., Über die Diktatur. Drei Reden aus den Jahren 1849 / 50, hrsg. von Günter Maschke, Wien / Leipzig 1996, 53–76, bes. 62–65. 139  Vgl. S. Schlinker / D. Willoweit, Gottesgnadentum (Anm. 121), 919; Brunner, Vom Gottesgnadentum (wie Anm. 121), 300, und E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates (Anm. 6), 66.

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aufgenommen werden. Ernst Ludwig von Gerlach etwa, Mitbegründer der Kreuzzeitung und der konservativen Partei Preußens, hielt 1863 einen später veröffentlichten Vortrag vor dem Evangelischen Verein in Berlin über „Chri­ stentum und Königtum von Gottes Gnaden“, in dem er – freilich keinem Gottesgnadentum ohne Rechtsbindung das Wort redend – die Gottesebenbildlichkeit des Königs als „Substanz“ und „Wesenheit der Majestät“ in Erinnerung rief, mithin die Analogie zwischen König und Gott betonte und im Gottesgnadentum die entscheidende Legitimation für die Ausübung jeglicher, keinesfalls nur der monarchischen Herrschaft erblickte140. Bereits zwei Jahre zuvor setzte sich Wilhelm I. als neuer preußischer König selbst die Krone aufs Haupt, um damit zum Mißfallen seiner liberal gesinnten Untertanen Gottesgnadentum und Gottunmittelbarkeit seiner Würde zu veranschaulichen141; und sein redseliger Enkel hat dies ein knappes halbes Jahrhundert später am 25. August 1910 auch so interpretiert, als er, nicht ohne Kritik zu provozieren und seine Äußerung kurze Zeit später abzumildern, feststellte142, sein Großvater habe mit der Selbstkrönung deutlich hervorgehoben, daß die Krone „von Gottes Gnaden allein ihm verliehen sei und nicht von Parlamenten, Volksversammlungen und Volksbeschlüssen, und daß er sich als auserwähltes Instrument des Himmels ansehe und als solches seine Regenten- und Herrscherpflichten versehe“. Angesichts dieser klaren Worte waren damals die Befürchtungen wohl nicht völlig unbegründet, der zweite Wilhelm habe mit ihnen auch sein eigenes Herrschaftsverständnis artikuliert, denn zweifellos begriff er sich selbst ebenfalls als ein ‚Instrument des Herrn‘. Mit Wilhelm II., dem letzten, als Person und Herrscherpersönlichkeit heftig umstrittenen Kaiser143, begann das letzte Kapitel des monarchischen 140  Ernst Ludwig von Gerlach, Christentum und Königtum von Gottes Gnaden im Verhältnis zu den Fortschritten des Jahrhunderts [1863], in: Ernst Ludwig von Gerlach. Gottesgnadentum und Freiheit. Ausgewählte politische Schriften aus den Jahren 1863 bis 1866, hrsg. von Hans-Christof Kraus, Wien 2011, 7–43 (die Zitate stehen auf S. 33). Zu Gerlach vgl. ebd., 127–141, bes. 128, 130, 136 und 137 ff. 141  Vgl. Anm. 119. 142  Zur Sache vgl. Benjamin Hasselhorn, Politische Theologie Wilhelms II. (Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 44), Berlin 2012, 63 ff., das Zitat aus Wilhelms Rede (zu deren Überlieferung vgl. ebd., 64 Anm. 5 und 7) findet sich auf S. 63, sowie allg.  – zugleich auch für das folgende  – Hans Wilderotter, „Als Instrument des Herrn mich betrachtend“. Zum historischen und politischen Selbstverständnis, in: Der letzte Kaiser Wilhelm II. im Exil, hrsg. von Hans Wilderotter und Klaus-D. Pohl, Gütersloh / München 1991, 307 ff., bes. 307. 143  Zum Meinungsstreit um Wilhelm II. vgl. John C. G. Röhl, Kaiser Wilhelm II. „Eine Studie über Cäsarenwahnsinn“ (Schriften des Historischen Kollegs. Vorträge, 19), München 1989 (zur „ ‚nichtnormale[n] Geistesverfassung‘ “ des Hohenzollern und ihren Ursachen 29–36); ders., Kaiser Wilhelm II. Bd. I: Die Jugend des Kaisers 1859–1888, Bd. II: Der Aufbau der Persönlichen Monarchie 1888–1900, Bd. III: Der Weg in den Abgrund 1900–1941, München 1993, 2001, 2008; Nicolaus Sombart,



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Gottesgnadentums in Deutschland. In diesem konnte es, nachdem das die Herrschaft religiös fundierende Gottesgnadentum staatsrechtlich bereits im Sinne eines verfassungsrechtlichen Legitimismus entkernt worden war144, letztlich nur noch um das Selbstverständnis des Monarchen von Gottes Gnaden und um die Auswirkungen der Äußerungen dieses Selbstverständnisses gehen. Dabei ist freilich daran zu erinnern, daß der Deutsche Kaiser von Haus aus kaum über eine religiöse Legitimation verfügte145; was ihm auf diesem Feld zuwuchs, das stammte hauptsächlich aus der preußischen Tradition und konnte allenfalls im Bewußtsein der kaiserlichen Würde gesteigert werden. Andererseits muß das Selbstverständnis, das man von sich besaß, nicht unbedingt der Wirklichkeit entsprochen haben. So hatte Wilhelm der Welt mit vollmundigen Sprüchen sein persönliches Regiment verkündet und den Eindruck erwecken wollen, nur er sei Herr im Reich, während die Realität doch erheblich anders aussah146. Die Faszination, die die vielfach wohl romantisch verklärten Vorstellungen vom mittelalterlichen Gottesgnadentum auf Monarchen des 19. Jahrhunderts Wilhelm II. Sündenbock und Herr der Mitte, Berlin 1996 (dessen auf S. 94–98 entfalteter Begriff vom sakralen Königtum die christliche, und das meint für das 19. Jahrhundert doch wohl: die wirkmächtigste Tradition zu wenig berücksichtigt); Christopher Clark, Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers, München 2008 [engl. 2000]; Frank-Lothar Kroll, Wilhelm II. (1888–1918), in: Preußens Herrscher. Von den ersten Hohenzollern bis Wilhelm II., hrsg. von Frank-Lothar Kroll, München 2 2009, 290–310, und ders., Zur Beurteilung Wilhelms II., in: Das Historisch-Politische Buch 40 (1992) 355–358, bes. 355, sowie Marc von Knorring, Die Wilhelminische Zeit in der Diskussion. Autobiographische Epochencharakterisierungen 1918– 1939 und ihr zeitgenössischer Kontext (Historische Mitteilungen, Beiheft 88), Stuttgart 2014, 51–68 sowie 219 ff., und auch die 1908 publizierte, von Harry Graf Kessler kritisch bespöttelte ebenso merk- wie denkwürdige Verteidigungsschrift von Rudolf Borchardt, Der Kaiser, in: ders., Gesammelte Werke in Einzelbänden, Prosa V: Reden und Schriften zur Politik, hrsg. von Marie Luise Borchardt und Ulrich Ott, Stuttgart 1979, 86–110 (und dazu Patrick Bahners, Der dämonische Mann. Wilhelm II. in Rudolf Borchardts poetisch-politischer Theologie, in: Wilhelm II. und die Religion. Facetten einer Persönlichkeit und des Umfelds [Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte NF Beiheft 5], hrsg. von Stefan Samerski, Berlin 2001, 13–57 [zu Graf Kesslers ironischer Kritik S. 21]). 144  Vgl. dazu oben Anm. 132–134. 145  Dies spiegelt sich etwa bei der Abdankung Wilhelms II. wieder, als dieser meinte, auf die Kaiserwürde verzichten und die preußische Königswürde, da er diese von Gottes Gnaden besitze, behalten zu können: Vgl. dazu Franz Herre, Wilhelm II. Monarch zwischen den Zeiten, Köln 1993, 339; C. Clark, Wilhelm II. (Anm. 143), 319. 146  Vgl. dazu etwa F.-L. Kroll, Wilhelm II. (Anm. 143), 297–301, sowie Werner Tschacher, Königtum als lokale Praxis. Aachen als Feld der kulturellen Realisierung von Herrschaft. Eine Verfassungsgeschichte (ca. 800–1918) (Historische Mitteilungen d. Ranke Gesellschaft, Beiheft 80), Stuttgart 2010, 317–321; Michael A. Obst, „Einer nur ist Herr im Reiche“. Kaiser Wilhelm II. als politischer Redner (Otto-von-Bismarck-Stiftung, Wiss. Reihe, 14), München 2010, 131 ff.

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ausüben konnten, spiegelt sich augenfällig in manchen Bauwerken dieser Souveräne. Wilhelm II. etwa zeigte sich äußerst beeindruckt von den normannischen Kirchen auf Sizilien und besonders von den Bildern, auf denen der Herrscher in greifbarer Gottesnähe erscheint: von dem berühmten Krönungsmosaik in Monreale, auf dem Gott eigenhändig dem Normannenkönig (es ist, zusätzliche Beziehungen stiftend, auch noch ein Wilhelm II.) die Krone aufs Haupt setzt, sowie von dem Thron unter einem wandfüllenden Pantokratorgemälde in der Capella Regia in Palermo. In der auf Wilhelms Geheiß gebauten, aber nicht erhaltenen Schloßkapelle der Kaiserresidenz von Posen gab es offenkundig deutliche Bezüge zu diesen normannischen Vorbildern, indem hier etwa der Thron wie in Palermo in ein entsprechendes Verhältnis zu einer Pantokratordarstellung gerückt erscheint und es dadurch zu einer „Visualisierung des Dei-Gratia-Gedanken“ kam147. Ludwigs II. von Bayern Thron unter der Darstellung Christi und im Kreis der Bilder von sechs heiligen Königen im Thronsaal der Gralsburg Neuschwanstein148, der geplante, aber nie wirklich in Angriff genommene byzantinische Palast149, Herrenchiemsee als Reminiszenz an das absolute Königtum des bewunderten Herrscherkollegen und Namensvetters Ludwig XIV.150 können Wilhelms Schloßkapelle wohl ohne weiteres an die Seite gestellt werden. Wenn Lud147  Vgl. dazu Jürgen Krüger, Wilhelms II. Sakralitätsverständnis im Spiegel seiner Kirchenbauten, in: Wilhelm II. und die Religion. Facetten einer Persönlichkeit und des Umfelds (Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte NF Beiheft 5), hrsg. von Stefan Samerski, Berlin 2001, 235–264, bes. 249 ff. (zu den normannischen Bauten als Vorbilder für wilhelminische Projekte) und 251 f. (zur Schloßkapelle von Posen, wo sich auf S. 252 auch das angeführte Zitat befindet). Zum Krönungsmosaik von Monreale vgl. Thomas Dittelbach, Rex Imago Christi. Der Dom zu Monreale. Bildsprachen und Zeremoniell in Mosaikkunst und Architektur (Spätantike  – Frühes Mittelalter  – Byzanz. Kunst im ersten Jahrtausend, Reihe B: Studien und Perspektiven, 12), Wiesbaden 2003, Farbtafel 42 (Farbabb. 50), und zum sakralen Verständnis der Normannenkönige im Süditalien des 12. Jahrhunderts FranzReiner Erkens, Der pia Dei ordinatione rex und die Krise sakral legitimierter Königsherrschaft in spätsalisch-frühstaufischer Zeit, in: Vom Umbruch zur Erneuerung? Das 11. und beginnende 12. Jahrhundert  – Positionen der Forschung (MittelalterStudien, 13), hrsg. von Jörg Jarnut und Matthias Wemhoff, München 2006, 71–101 bes. 95 f. 148  Vgl. Peter Wolff u. a. (Hrsg.), Götterdämmerung. König Ludwig II. und seine Zeit. Katalog zur Bayerischen Landesausstellung 2011 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur, 60), Augsburg 2011, 110; Christine Tauber, Flucht nach Utopia, in: FAZ Nr. 135 vom 11.  Juni 2011, Z3, und dies., Ludwig II. Das phantastische Leben des Königs von Bayern, München 2013, 137–163, bes. 157. 149  Vgl. P. Wolff u. a. (Hrsg.), Götterdämmerung. Katalog (Anm. 148), 118. 150  Vgl. ebd., 119–152, bes. 119, sowie Bernhard Löffler, Wie funktioniert das Königreich Bayern? Zur politisch-sozialen Verfassung Bayerns in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Götterdämmerung. König Ludwig und seine Zeit. Aufsätze zur Bayerischen Landesausstellung 2001 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur, 59), hrsg. von Peter Wolf, Augsburg 2011, 22–32, bes. 25 f.



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wig II. aber auch völlig von seinem Gottesgnadentum durchdrungen war151, so zeigte dieses in Anbetracht der Abgeschiedenheit und der Nacht, die der Wittelsbacher zunehmend suchte, doch keine politische Wirkung. Bei Wilhelm II. hingegen war dies anders – und daran dürfte nicht nur sein extrovertierter Mitteilungsdrang schuld gewesen sein. Vielmehr scheint dazu ein imaginiert-ideelles Majestätsbewußtsein beigetragen haben, das nicht immer ein Gegenlager in der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit besaß. Bereits 1887 – noch zu Lebzeiten des kaiserlichen Großvaters und dessen Thronfolgers, also des eigenen Vaters – hatte der junge Wilhelm, wissend um die Schwäche der religiösen Dimension der Kaiserwürde, das Gottesgnadentum gegenüber den Fürsten des Reiches als Argument einsetzen wollen, um seine Nachfolge auf dem Kaiserthron zu sichern, auf Anraten Bismarcks jedoch davon abgelassen152. Noch bei seiner Abdankung im November 1918 versuchte der letzte Hohenzollernherrscher unter Hinweis auf seine Stellung als preußischer König von Gottes Gnaden das Königtum zu behaupten und allein auf die Kaiserwürde (als eben nicht von Gott, sondern von den Fürsten übertragene) Aufgabe zu verzichten153, was bekanntlich mißlang. Weder am Ende noch am Anfang von Wilhelms dreißigjähriger Regierungszeit ließ sich mithin das Gottesgnadentum erfolgreich als politisches Argument einsetzen, aber im Bewußtsein des Monarchen besaß es offenkundig eine teils virulente, teils latente Bedeutung und konnte immerhin zur Ansehensfestigung oder -steigerung dienen. Wilhelm empfand sich „‚als auserwähltes Rüstzeug des Herrn‘“ und daher auch in einer besonderen Verantwortung vor Gott154. An dieser Auffassung hielt er auch noch im Exil fest155, nicht jedoch ohne die schon früher geäußerte Ansicht besonders hervorzuheben und sich damit selbst rechtfertigend, Gottesgnadentum bedeute nicht Absolutismus, sondern Verantwortung – so, wie jeder Mensch an seinem Platz auf Gottes Gnade angewiesen sei. Gottesgnadentum wurde damit zu einer Gottgebundenheit, die vor Rechtsbruch und Machtmißbrauch schützt. 151  Vgl. B. Löffler, Wie funktioniert (Anm. 150), sowie Franz Merta, „Und dieser König stirbt in Wahrheit nicht“ – Das Herrscherethos König Ludwigs II., in: Götterdämmerung. König Ludwig II. und seine Zeit. Katalog zur Bayerischen Landesausstellung 2011 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur, 60), hrsg. von Peter Wolff u. a., Augsburg 2011, 179–183, bes. 179. 152  Vgl. B. Hasselhorn, Politische Theologie (Anm. 142), 68. 153  Vgl. Anm. 145. 154  Vgl. B. Hasselhorn, Politische Theologie (Anm. 142), 71 f. (das Zitat aus einem Trinkspruch des Kaisers vom 31. Aug. 1897 steht auf S. 71), sowie die Rede, die Wilhelm II. am 3. Feb. 1899 vor dem Brandenburgischen Provinziallandtag gehalten hat, ed. Gisela Brude-Firnau, Preussische Predigt. Die Reden Wilhelms II., in: The Turn of the Century 5 (1983), 149–170, hier: 154 f. (bes. 154). 155  Vgl. B. Hasselhorn, Politische Theologie (Anm. 142), 73–77, 86 und 119.

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Wie sehr Wilhelm das Problem von Gottesgnadentum und herrscherlicher Gottesnähe faszinierte, zeigt sich auch an seinem wissenschaftlichen Bemühen um dieses Phänomen, über das er 1938 sogar die Broschüre „Das Königtum im alten Mesopotamien“ herausbrachte156. In dieser ging es um die Theokratie im alten Babylonien und im assyrischen Reich und um die Rezeption der Vorstellungen vom Gottkönigtum durch Perser, Makedonen, Römer und schließlich die mittelalterlichen Kaiser157 – schließlich aber auch um die dynastische und eigene Rechtfertigung, erklärte der gewesene Monarch doch158: „Der Gedanke eines ‚Gottkönigtums‘ lag“ den Vorfahren „fern; durchdrungen von der christlichen Mahnung: gebt dem Kaiser was des Kaisers ist, und Gott was Gottes ist – fühlten sie sich lediglich als Diener Gottes, […] An die Stelle des Anspruches auf Gott-Ähnlichkeit war das christliche Ethos getreten […]“. Herrscherlegitimation und -demut gehen hier ineinander über (was im übrigen keinesfalls etwas Neues war, zumal die christlichen Herrscher seit der Spätantike zwar eine spürbare Gottesnähe suchten, Diener und Amtleute Gottes wie später die Hohenzollern, aber keine Gottkönige waren159). Die deutliche Betonung des christlichen Ethos der hohenzollernschen Fürsten jedoch dient offenkundig der Selbstexkulpation, ohne daß dies eine völlige Haltungsänderung des Kaisers bedeuten muß: Er dürfte immer die Verantwortung vor Gott verspürt haben, nur muß diese Verantwortung während der dreißigjährigen Herrschaft nicht allein das Selbstverständnis als Herrscher von Gottes Gnaden ausgemacht haben. Manche Äußerungen legen immerhin ein selbstbewußtes, zwar rechtlich nicht ungebundenes, aber letztlich doch allein Gott und keiner irdischen Instanz verantwortliches Selbstverständnis nahe. Daher überrascht es auch nicht, wenn die liberale Öffentlichkeit absolutistische Neigungen bei dem Kaiser ausmachte160 und der Mediävist und Herausgeber spätmittelalterlicher Reichstagsakten, künftige Friedensnobelpreisträger und Flüchtling vor dem nationalsozialistischen Terror Ludwig Quidde das Reichsoberhaupt in einer, seine wissenschaftliche Karriere beendenden Studie über Caligula verdeckt, aber für jeden Kundigen deutlich erkennbar des „Cäsarenwahnsinns“ zieh161. Manche der Kriterien, die Quidde als Beleg 156  Wilhelm II., Das Königtum im alten Mesopotamien, Berlin 1938; vgl. dazu Oswald Gschliesser, Das wissenschaftliche Œuvre des ehemaligen Kaisers Wilhelm II., in: AKG 54 (1972) 385–392, bes. 389. 157  Vgl. Wilhelm II., Das Königtum im alten Mesopotamien (Anm. 156), 41. 158  Ebd., 42. 159  Vgl. F.-R. Erkens, Herrschersakralität (Anm. 2), passim, sowie ders., Vicarius Christi (Anm. 36), 26 f. 160  Vgl. B. Hasselhorn, Politische Theologie (Anm. 142), 120; C. Clark, Wilhelm II. (Anm. 143), 240. 161  Ludwig Quidde, Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn (Leipzig 1894), in: ders., Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn. 31. Auf-



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für diesen Wahnsinn nennt, die Vorstellung vom herrscherlichen Nahverhältnis zu Gott und das Bewußtsein des Auserwähltseins162, zählen freilich zu Jahrtausende alten Grundmustern der Herrscherlegitimation163 und können kaum als Beleg für eine cäsarische Abnormität des Hohenzollern dienen. Ihre Erwähnung zeigt jedoch, wie groß mittlerweile die Distanz zu diesem Aspekt des Gottesgnadentums geworden war, zu dem sich Wilhelm klar bekannte164. Allerdings gab es nicht nur Ablehnung, sondern auch noch Zustimmung zu dieser Vorstellungwelt – zumeist von konservativen, hofnahen oder herrschaftsorientierten Kreisen. Schon Wilhelm I. war bei seinem 90. Geburtstag von und vor der Öffentlichkeit betont als auserwähltes „Werkzeug Gottes“ bezeichnet worden165, seinem Enkel auf dem Thron wurde dann hauptsächlich von der protestantischen Mittelschicht eine breite Zustimmung für die Hervorhebung seiner religiösen Legitimation entgegengebracht166. Wie in anderen Bereichen auch, befand sich der Kaiser also mit der Betonung des Gottesgnadentums zumindest zeitweilig in Übereinstimmung mit einem großen Teil seiner Untertanen, auch wenn die liberale Presse und linke wie bürgerliche Intellektuelle Kritik lage, ergänzt durch Erinnerungen des Verfassers: Im Kampf gegen Cäsarismus und Byzantinismus, Berlin 1926, 3–20 (ebenfalls in: ders., Caligula. Schriften über Militarismus und Pazifismus. Mit einer Einleitung hrsg. von Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt / M. 1977, 61–80). – J. Röhl, Kaiser Wilhelm II. „Eine Studie über Cäsarenwahnsinn“ (Anm. 143), sowie ders., Kaiser Wilhelm II., Bd. I (Anm. 143), 24–36, bes. 35 f., untermauert die Ausführungen Quiddes aus einem anderen Blickwinkel und erblickt in dem Kaiser keinen am Cäsarenwahn leidenden, aber einen aufgrund der schweren, die Physis dauerhaft schädigenden Geburt geistig abnormen Menschen. 162  Vgl. L. Quidde, Caligula (Anm. 161), 7 und 15, und dazu J. Röhl, Wilhelm II. „Eine Studie über Cäsarenwahnsinn“ (Anm. 143), 10. 163  Vgl. F.-R. Erkens, Herrschersakralität (Anm. 2), 29 f. und Kap. II; ders., Sakral legitimierte Herrschaft (Anm. 1), 17. 164  Vgl. F.-L. Kroll, Wilhelm II. (Anm. 143), 290; C. Clark, Wilhelm II. (Anm. 143), 87. 165  Vgl. Oskar Meding, Neunzig Jahre in Glaube, Kampf und Sieg. Ein Menschenund Heldenbild unseres deutschen Kaisers, Stuttgart und Leipzig 1887, III („Unser Kaiser Wilhelm steht hoch unter den Werkzeugen Gottes da, welche erwählt, gerüstet und gesegnet wurden, des deutschen Volks gelähmte und zersplitterte Kraft zu stählen, zu sammeln und zu führen, […]“) und VI (Wilhelm I. als „auserwählte[s] Werkzeug[] seines [= Gottes] Willen“), und dazu Jakob Vogel, Zwischen protestantischem Herrscherideal und Mittelaltermystik. Wilhelm I. und die „Mythomotorik“ des Deutschen Kaiserreichs, in: „Gott mit uns“. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 162), hrsg. von Gerd Krumeich und Hartmut Lehmann, Göttingen 2000, 213–230, bes. 219–222 und hier vor allem 221. 166  Vgl., auch zum folgenden, C. Clark, Wilhelm II. (Anm. 143), 240, und Thomas Hartmut Benner, Die Strahlen der Krone. Die religiöse Dimension des Kaisertums unter Wilhelm II. vor dem Hintergrund der Orientreise 1898, Marburg 2001, 363.

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an der Herausstreichung des göttlichen Amtsauftrags durch den Kaiser übten. Inwieweit für die Zustimmung der evangelischen Reichsbewohner die Stellung des Kaisers als evangelischer summus episcopus in Preußen167 eine Rolle spielte, läßt sich freilich kaum sagen. Daß Wilhelm während seiner sommerlichen Nordlandfahrten bei den sonntäglichen Gottesdiensten an Bord seiner Yacht die Predigt hielt und damit, wie Fürst Eulenburg meint: „seines priesterlichen Amtes“ waltete168 (und dies später auch gelegentlich im Exil machte169), dürfte einer breiteren Öffentlichkeit verborgen geblieben sein und kann schon allein deshalb nicht zur Stärkung der religiösen Dimension des Herrscheramtes beigetragen haben. Auch ist es keinesfalls sicher, ob Wilhelm im Summepiskopat, der trotz mancher Einschränkungen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer noch einen großen Spielraum für Personalpolitik bot170, die Grundlage seiner Predigttätigkeit gesehen hat171. 167  Die von G. Brude-Firnau, Preussische Predigt (Anm. 154), 151 f., vorgetragene Behauptung, Wilhelm sei für „65 % aller Deutschen, das sind 38 Millionen Protestanten“ „nicht nur oberster Landesherr, sondern als summus episcopus auch oberste In­ stanz in allen Glaubensfragen“ gewesen, trifft in mehrfacher Hinsicht nicht zu: „Landesherr“ war der Kaiser nicht in Deutschland, sondern nur in Preußen (und zwar als König), und ebenfalls nur in Preußen hatte er den evangelischen (aber für keine weitere Religion geltenden) Summepiskopat inne, der ihn aber nicht für „Glaubensfragen“ zuständig machte. 168  Vgl. T. H. Benner, Die Strahlen der Krone (Anm. 166), 108–113, und B. Hasselhorn, Politische Theologie (Anm. 142), 134 f., sowie Maximilian Richter, Die Stimme des Herrn auf den Wassern. Schiffspredigten für die Nordlandreisen Seiner Majestät des Kaisers und Königs 1890 und 1891, Berlin 1891, und Fürst Philipp zu Eulenburg, Mit dem Kaiser als Staatsmann und Freund auf Nordlandreisen I, Dresden 1931, 59, der berichtet, wie der Kaiser am Sonntag, dem 21.  Juli 1889, um 10 Uhr, auf dem Vorderdeck seiner Yacht ‚Hohenzollern‘, geschmückt mit dem Stern des Schwarzen Adler-Ordens, eine Predigt hielt, deren Inhalt nicht erwähnt wird: „Nach Verlesung des Evangeliums und der Epistel las der Kaiser eine kurze Predigt und schloß den Gottesdienst mit dem ‚Vater unser‘ und dem Segen. Der Tag war hell und klar. Wir fuhren zwischen herrlichen Felseninseln hin, während der geliebte Kaiser in seiner schlichten, geraden Art uns Gottes Wort vortrug. Welcher deutsche Kaiser hat wohl je in solcher Form und Umgebung seines priesterlichen Amtes gewaltet?“. Auf S. 104 erwähnt Fürst Eulenburg einen weiteren kaiserlichen Gottesdienst mit nur dürren und wenig aussagekräftigen Worten: „Den 20.  Juli [scil. 1890], Sonntag, […], hielt Seine Majestät den Gottesdienst. Der Kaiser las eine schöne Predigt vom Feldpropst Richter, in der derselbe über den Psalm 104 spricht. Es war wieder ein herr­ licher Eindruck, den ich damit für mein Leben gewann.“ 169  Vgl. B. Hasselhorn, Politische Theologie (Anm. 142), 270–294. 170  Vgl. ebd., 170 f. 171  Dies behaupten ohne nähere Begründung T. H. Benner, Die Strahlen der Krone (Anm. 166), 108 („Als Summus Episcopus nahm sich Wilhelm II. das Recht, in Abwesenheit des Pfarrers den Gottesdienst zu leiten.“), und G. Brude-Firnau, Preussische Predigt (Anm. 154), 166 („Nicht zuletzt pflegte er [Wilhelm II.] an Bord der Hohenzollern selber zu predigen als oberstes bischöfliches Exempel.“). Vgl. dagegen B. Hasselhorn, Politische Theologie (Anm. 142), 135, und vor allem M. Richter, Die



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Sicher ist allein, daß er niemals als summus episcopus öffentlich predigend auftrat, ihm aber die traditionelle Funktion des obersten Bischofs wichtig gewesen ist, unterzeichnete er doch noch 1930 im Exil einen Brief als „Oberster Bischof“172. Auch nutze er sie wahrscheinlich sogar einmal für sich persönlich, als er – sich deutlich von dem bewunderten Vorfahren Friedrich dem Großen unterscheidend, der nach schwerer Niederlage im Siebenjährigen Krieg an Selbstmord dachte173 – das am Ende des Weltkrieges an ihn herangetragene Ansinnen ablehnte, den Schlachtentod zu suchen, denn u. a. begründete er diese Haltung wohl mit einem Hinweis „auf seine Stellung als Oberhaupt der protestantischen Kirche in Preußen“174. Wilhelms II. Vorstellung von seinem Gottesgnadentum und der mit diesem verknüpften religiösen Dimension ist sicherlich heterogen und ambivalent gewesen. Von beeindruckender Klarheit jedoch war sie nicht175. Ihre verschiedenen Elemente – die Auserwähltheit durch Gott, die besondere Verantwortung vor Gott, das Instrumentsein für Gott – ließen sich zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich gewichten. Im Exil stand die exkulpatorische Deutung Stimme (Anm. 168), 37, sowie Wilhelm Hüffmeier, Gott, „die Große Hemmung“? Kaiser Wilhelm als Prediger, in: Kirche im Profanen. Studien zum Verhältnis von Profanität und Kirche im 20. Jahrhundert. Festschrift für Martin Onnasch zum 65.  Geb. (Greifswalder theologische Forschungen, 18), hrsg. von Irmfried Garbe, Frankfurt / M. 2009, 39–55, bes. 43 f. 172  Vgl. Hans Bernd Gisevius, Der Anfang vom Ende. Wie es mit Wilhelm II. begann, Zürich 1971, 357, und G. Brude-Firnau, Preussische Predigt (Anm. 154), 152. 173  Vgl. etwa Hans Rothfels, Friedrich der Große in den Krisen des Siebenjährigen Krieges, in: ders., Bismarck, der Osten und das Reich, Darmstadt 1960, 129–148, bes. 141 f. [erstmals 1926, in: HZ 134, 14–30]. 174  So Herfried Münkler, Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918, Berlin 2013, 750, wo als Beleg auf P. Herre, Kaiser Wilhelm II. (Anm. 145), 339, verwiesen wird, von dem die verschiedenen Erwägungen um das Ende von Wilhelms Herrschaft vorgestellt werden, der aber keinen Beleg für das angeführte Zitat liefert. Auch J. Röhl, Wilhelm II., Bd. 3 (Anm. 143), erwähnt von dieser Argumentation nichts und berichtet allein auf S. 1244 von Wilhelms Erwägung, nur als Kaiser abzudanken. Eine Anfrage nach dem Quellenbeleg bei H. Münkler vom 13.  Juli 2015 blieb leider ohne Antwort. Doch ist die zitierte Aussage so speziell, daß sie kaum frei erfunden sein kann und eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sie spricht. Vielleicht läßt sich der entsprechende Beleg künftig (wieder-)finden. In seiner eigenen nachträglichen Rechtfertigung für sein Handeln im November 1918 verwies der Kaiser zwar nicht auf sein Bischofsamt, aber doch auf seine christliche Gesinnung: „Wieder Andere meinen: Der Kaiser hätte sich selbst den Tod geben sollen. – Das war schon durch meinen festen christlichen Standpunkt ausgeschlossen. Und würde man dann nicht gesagt haben: Wie feige! Jetzt entzieht er sich aller Verantwortung durch den Selbstmord.“ (Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878–1918, Leipzig und Berlin 1922, 245–246). 175  Vgl. dazu H. Wilderotter, „Als Instrument des Herrn mich betrachtend“ (Anm. 142), 307.

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im Vordergrund, die Gottesgnadentum als Unabhängigkeit von weltlichen Gewalten und göttliche Verpflichtung zum sozialen Ausgleich betonte, zuvor dürfte der legitimatorische Charakter wichtiger gewesen sein, die Unverantwortlichkeit vor irdischen Instanzen, die Unangreifbarkeit, vielleicht sogar die Unfehlbarkeit des eigenen Tun und Sagens. Immer aber wird es darum gegangen sein, der eigenen Majestät eine eigentümliche, eine herausragende Dignität zu verschaffen. Mit diesem Anliegen und den Vorstellungen des Gottesgnadentums stand der letzte deutsche Kaiser in einer uralten, bis in die Anfänge der Menschheit zurückreichenden, allerdings seit dem 18. Jahrhundert immer schwächer werdenden Tradition, die nun ihr Ende fand. Wenig überraschend ist es dabei, wenn ein Monarch sich in diese Tradition stellte; bemerkenswerter hingegen erscheint die Zustimmung, auf die er dabei in manchen Kreisen noch an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert stieß. Das durch liberale Strömungen und eine sich beschleunigende Entchristlichung der Gesellschaft176 allgemein geförderte Schwinden der Akzeptanz von Vorstellungen eines Gottesgnadentums wurde dabei vielleicht zeitweilig ausgeglichen durch die religiöse Verbrämung der Nation177, an deren Spitze der Kaiser stand und die er repräsentierte, und zwar mit einer Zustimmung, die angesichts der rhetorischen Entgleisungen des Monarchen überrascht, die aber offenkundig von einer Konvergenz der Empfindungen und Ziele getragen worden ist178. Die Katastrophe des Weltkriegs und das Versagen der herrschenden Eliten mit dem Kaiser an der Spitze bewirkten dann aber das unwiderrufliche Ende des ohnehin untergehenden Gottesgnadentums der Monarchen. Dessen Auflösung in den Stahlgewittern der Zeit bedeutete freilich noch nicht das völlige Ende religiöser Herrschaftslegitimierung, dieses ließ in Europa noch etwa eine Generation auf sich warten und fand in den politischen Religionen des 20. Jahrhunderts179 zuvor noch einen eigenen Ausdruck.

176  Zur Entchristlichung vgl. T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. I (Anm. 9), 507–528, sowie Frank Simon-Ritz, Kulturelle Modernisierung und Krise des religiösen Bewußtseins. Freireligiöse, Freidenker und Monisten im Kaiserreich, in: Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen (Religiöse Kulturen der Moderne, 2), hrsg. von Olaf Blaschke und Frank-Michael Kuhlemann, Gütersloh 1996, 457–473, sowie Norbert Schlossmacher, Entkirchlichung, Antiultramontanismus und „nationalreligiöse Orientierungen“ im Liberalismus der Kulturkampfära. Der Deutsche Verein für die Rheinprovinz, in: ebd., 474–502. 177  Vgl. Anm. 9. 178  Vgl. Anm. 166 und F.-L. Kroll, Wilhelm II. (Anm. 143), 303 f. 179  Vgl. Anm. 10–12.

Autorenverzeichnis Dr. phil. Georg Eckert ist Privatdozent für Neuere Geschichte an der Bergischen Universität Wuppertal. Er lehrt und forscht u. a. zur Geschichte des Reformzeitalters um 1800, zur europäischen Ideengeschichte, zur Geschichte des ökonomischen Denkens und zur britischen Geschichte. Zu seinen jüngsten Publikationen gehören: Zeitgeist auf Ordnungssuche. Die Begründung des Königreiches Württemberg 1797–1819 (2016); Populismus. Varianten von Volksherrschaft in Geschichte und Gegenwart (2017, hrsg. mit Thorsten Beigel). Prof. Dr. Franz-Reiner Erkens ist Inhaber des Lehrstuhls für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Passau. Seine Forschungsfelder liegen auf dem Gebiet der bayerisch-österreichischen und der rheinischen Landesgeschichte sowie der Ideen-, Sozial- und Verfassungsgeschichte des Mittelalters. Seine wichtigsten Veröffentlichungen zum Thema dieses Bandes sind die Monographie Herrschersakralität im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Investiturstreit (2006) und der Band gesammelter Schriften Sachwalter Gottes. Der Herrscher als ‚christus domini‘, ‚vicarius Christi‘ und ‚sacra majestas‘ (2017). Dr. theol., Dr. phil. Benjamin Hasselhorn ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt. Er forscht zur Religions-, Kulturund Politikgeschichte der europäischen Neuzeit mit Schwerpunkten im 19. und 20. Jahrhundert. Seine wichtigsten Veröffentlichungen sind: Politische Theologie Wilhelms II. (2012); Johannes Haller (1865–1947). Eine politische Gelehrtenbiographie (2015); Das Ende des Luthertums? (2017). PD Dr. Marc von Knorring, geb. 1971, Akad. Oberrat a. Z. am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Passau. 2006 Veröffentlichung der Dissertation Die Hochstiftspolitik des Passauer Bischofs Wolfgang von Salm (1541–1555), 2014 der Habilitationsschrift Die Wilhelminische Zeit in der Diskussion. Autobiographische Epochencharakterisierungen 1918–1939 und ihr zeitgenössischer Kontext. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Monarchie-, Gesellschafts-, Medien- und (politische) Kulturgeschichte (19. / 20. Jahrhundert). Wichtige Beiträge zur Monarchiegeschichte: Konservatives Staatsdenken zwischen Beharrung und Wandel. Das „Monarchische Prinzip“ bei Carl Ernst Jarcke und Friedrich Julius Stahl, in: F.-L. Kroll /  D. J. Weiß (Hrsg.): Inszenierung oder Legitimation? / Monarchy and the Art of Representation (2015); Ungleiche Brüder? Prinz Albert und Herzog Ernst II. von SachsenCoburg und Gotha als Förderer von Kunst, Bildung und Wissenschaft, in: F.-L. Kroll / M. Munke (Hrsg.): Hannover – Coburg-Gotha – Windsor (2015). Prof. Dr. phil. Hans-Christof Kraus, geb. 1958, Lehrstuhlinhaber für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Passau. – Arbeitsschwerpunkte: Deutsche und englische Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts; Politische Geschichte; Geschichte der politischen Parteien und Ideen; Verfassungs- und Rechtsgeschichte; Wissenschaftsgeschichte.  – Wichtigste Publikationen: Ernst Ludwig von Gerlach, 2 Bde.

296 Autorenverzeichnis (1994); Englische Verfassung und politisches Denken im Ancien Régime 1689–1789 (2006); Versailles und die Folgen. Außenpolitik zwischen Revisionismus und Verständigung 1919–1933 (2013); Bismarck (2015); Herausgeber bzw. Mitherausgeber von 11 Sammelbänden. – Mitglied u. a. der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, der Preußischen Historischen Kommission, der Historischen Kommission zu Berlin.  – Herausgeber / Mitherausgeber u. a.: Neue Deutsche Biographie; Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts; Politisches Denken – Jahrbuch; Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte (ZNR). Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll ist Inhaber der Professur für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Technischen Universität Chemnitz. Er ist Vorsitzender der Prinz-Albert-Gesellschaft und Vorsitzender der Preußischen Historischen Kommission. Zu seinen wichtigsten Buchveröffentlichungen zählen: Friedrich Wilhelm IV. und das Staatsdenken der deutschen Romantik (1990); Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich (2. Aufl. 1999); Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates (2001); Kultur, Bildung und Wissenschaft im 20. Jahrhundert (2003); Die Hohenzollern (2008); Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg (2013); Geschichte Sachsens (2014); Totalitäre Profile. Zur Ideologie des Nationalsozialismus und zum Widerstandspotenzial seiner Gegner (2017). PhD, cand. mag. Jes Fabricius Møller ist Lektor (associate professor) an der Universität in Kopenhagen und Gastprofessor an der theologischen Fakultät, Universität Oslo, sowie am Grundtvig Research Centre, Universität Aarhus. Schwerpunkte seiner Forschung sind Kirchen- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Über Monarchiegeschichte liegen auf Englisch u. a. vor: Dynasty and Nation. The Schleswig question and the house of Glücksborg, in: Bregnsbo and Jensen (eds.): Schleswig Holstein – contested region(s) through history, University Press of Southern Denmark (2016); Domesticating a German Heir to the Danish Throne, in: F. L. Müller & H. Merkens (eds.): Sons and Heirs. Sucession and Political Culture in Nineteenth Century Europe (2016). Prof. Dr. Josef Johannes Schmid, Jg. 1966, nach Studien u. a. der Geschichte, Theologie, Musikwissenschaften, Kunstgeschichte und politischen Wissenschaften 1990 M. A., 1995 Dr. phil.; seit 1997 Dozent für Neuere Geschichte an der JohannesGutenberg-Universität Mainz, 2003 Habil., 2006 Lehrpreis des Landes RheinlandPfalz, 2010 apl. Prof. an der JGU Mainz; mehrere Lehraufträge und Gastdozenturen u. a. in Passau und Dijon; 2015 Gastprofessor an der Université de Bourgogne, Dijon. Zahlr. Publikationen zur Kultur-, Zeremonial-, Diplomatie-, Militär- / Marine- und Musikgeschichte Europas sowie Nord- und Lateinamerikas. Prof. em. Dr. Dres. h. c. Volker Sellin lehrte bis 2004 Neuere Geschichte an der Universität Heidelberg und ist ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Er war Gastprofessor in Catania und Pavia und ist Ehrendoktor der Universitäten Catania und Montpellier III. Schwerpunkte seiner Forschungen sind die Geschichte Europas seit dem 17. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte Frankreichs und Italiens sowie Begriffs- und Mentalitätsgeschichte. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: Einführung in die Geschichtswissenschaft (1995, 2005); Die geraubte Revolution. Der Sturz Napoleons und die Restauration in Euro-



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pa (2001); Gewalt und Legitimität. Die europäische Monarchie im Zeitalter der Revolutionen (2011); Das Jahrhundert der Restaurationen 1814–1906 (2014; englische Ausgabe 2017). Prof. Dr. phil. habil. Matthias Stickler ist apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Würzburg und Wissenschaftlicher Leiter des dortigen Instituts für Hochschulkunde. Er forscht zur Geschichte der Habsburgermonarchie, Universitäts- und Studentengeschichte und zur historischen Migrationsforschung. Wichtige Veröffentlichungen: „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“ – Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949–1972 (2004); „Die Habsburgermonarchie 1848–1918“ – Ein Jahrhundertwerk auf der Zielgeraden (HZ, 2012); Jenseits von Aufrechnung und Verdrängung. Neue Forschungen zu Flucht, Vertreibung und Vertriebenenintegration (2014); Die Herrschaftsauffassung Kaiser Franz Josephs in den frühen Jahren seiner Regierung (Der österreichische Neoabsolutismus als Verfassungs- und Verwaltungsproblem, 2014); Jüdische Studentenverbindungen. Anmerkungen zu einem zu wenig beachteten Thema der Universitäts- und Studentengeschichte (Einst und Jetzt, 2016). Dr. habil. Eberhard Straub arbeitete als Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Stuttgarter Zeitung und der Zeitung Die Welt. Er lebt in Berlin als freier Journalist und Buchautor. Er beschäftigte sich mehrmals mit der Monarchie im neunzehnten Jahrhundert in: Die Wittelsbacher (1994), Drei letzte Kaiser. Der Untergang der großen europäischen Dynastien (1998), oder Kaiser Wilhelm II. in der Politik seiner Zeit (2008). Eine Biographie über Wilhelm I. wird von ihm vorbereitet. Dr. phil., Dr. phil. habil., o. Univ. Prof. Dieter J. Weiß ist Inhaber des Lehrstuhls für Bayerische und Vergleichende Landesgeschichte mit besonderer Berücksichtigung des Mittelalters an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er forscht zur bayerischen und fränkischen Landesgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit. Seine wichtigsten Veröffentlichungen sind: Die Geschichte der Deutschordensballei Franken im Mittelalter (1991); Das exemte Bistum Bamberg 3 / 4. Die Bischofsreihe von 1522 bis 1693 / 1693–1802 (Germania Sacra) (2000 / 2016); Katholische Reform und Gegenreformation (2005); Kronprinz Rupprecht von Bayern (1869–1955) (2007).