Volkskraft, Familie und Heimstätte [Reprint 2021 ed.] 9783112450000, 9783112449998

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Volkskraft, Familie und Heimstätte [Reprint 2021 ed.]
 9783112450000, 9783112449998

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Volkskraft

Familie und ßeimftätte von

C. P. keil.

Vortrag

beim zweiten kehrgang des ellah-lothringikhen ßeimafdienites am 24. Mai 1918.

Verlag Karl J. Trübner, Strafeburg i. L. 1918.

Voll Sehnsucht, aber auch voll Arbeitslust richtet sich der blick des deutschen Volkes schon lange über die Gegenwart hinaus auf den Zeitpunkt, wo der Lärm des Krieges ver­ stummt und wo die Völker beginnen können, wieder aufzu­ bauen und auszubauen, was. der Krieg zerstörte. Riesengroß steht die Aufgabe des sozialwirtschaftlichen Wiederaufbaus und Neubaus vor uns, wenn wir sie betrachten in ihrer Beziehung auf den deutschen Volksstaat und die deutsche Volkswirtschaft im Ganzen. Einen ganz besonderen Klang aber gewinnen die Worte Neubau und Wiederaufbau noch hier, in unserer uoni Kriege schwerer als ein anderes deutsches Land heimgesuchten Heimat Glsaß-Lothringen. Da gilt es, so groß auch die Not der Gegenwart sein, so sehr sie alle Kräfte in Anspruch nehmen möge, bei Zeiten den Willen zur Zukunft, zum neuen Aufstieg zu wecken und diesen Appell an den Willen hinauszutragen bis zur letzten Hütte unsres Landes, in der noch Menschen sind, die nicht im Leid der Gegenwart für immer untergehen wollen. Wie ein Feuerbrand rings um sich her stets neue Flammen weckt, so muß herz um herz ergreifen der Gedanke an Heimat und Vaterland und an die Wiederherstellung ihrer früheren Blüte.

Deshalb ist zweierlei vonnöten: erstens zu erkennen, was ist, und dann zu überlegen, was werden soll, soweit Menschen­ wille die Zukunft zu gestalten vermag. Mit klarem Plan und festem Willen nur kann die Zukunft so gebaut werden, daß sie uns ersprießlich ist. Festigkeit und Zielklarheit aber können nur wachsen auf der Grundlage voller Erkenntnis der Tat­ sachen, wie der Krieg sie geschaffen, der heutigen Lage, wie er

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sie gestaltet hat. Venn wir können nicht über den Krieg hinweg zurückspringen zu den früheren Verhältnissen, nicht nach diesen schmerzenvollen Jahren dort wieder ansangen, wo wir am I. August 1914 so jäh unterbrochen wurden. Aus der Gegen­ wart mutz die Zukunft erwachsen, von den Tatsachen von heute aus müssen wir unsere wünsche und Pläne für morgen und übermorgen gestalten, wenn sie nicht ins wesenlose greisen und Unmögliches verlangen sollen. Vie erste Tatsache ist die der ungeheuren Gipser an Menschen und Gütern, die der Krieg dem deutschen Volke abgefordert hat und noch abfordert jeden Tag. Über das, was er unserer engern Heimat kostete, kann man heute noch keine Zahlen sagen. Es tritt auch in Heimsuchung und Ausgleich als Teil mit in die Reihe der Leistungen des Ganzen. Auch für das Ganze wissen wir keine genauen Zahlen, wieviele unserer deutschen Volksgenossen auf den Schlachtfeldern in (bst und West ihr Leben lassen mußten, wie vieler noch Lebenden Arbeitskraft für die Güterproduktion der Zukunft ganz oder teilweise als vernichtet gelten mutz, für wie viele wir nach wie vor Leistungsfähigen werden mit einstehen müssen,, anstatt daß sie ihr Teil dazu beitragen könnten, das Gesamteinkommen des deutschen Volkes zu mehren, das wissen wir nicht und es ist vielleicht gut so Das aber wissen wir, daß der Krieg unsere bevölkerungspolitische Lage im ganzen aufs Tiefste beeinflußt und von Grund aus verändert hat.

(Es war einmal ein deutsches Volk, dessen Bevölkerung wuchs von Jahr zu Jahr. Immer emsiger ergab es sich der intensivsten industriellen Arbeit als der einzigen Möglichkeit, um auf des Vaterlandes engem Boden den nachwachsenden Millionen Brot zu schaffen. So konnte es immer weiter wachsen und immer erfolgreicher arbeiten. Um rund 800 000 Menschen wuchs es jedes Jahr, wenn sich auch in bedenklicher Entwick­ lung der Geburten- und Aufwuchsziffer in den letzten Jahren vor dem Ausbruch des Krieges ein Nachlassen der Wachstums­ kraft immer deutlicher ausprägte — noch war das deutsche Volk am Steigen, noch wuchs es fortgesetzt an Zahl und Kraft, als der Krieg es überfiel.

5 Das war einmal. Dieses wachsende, um 800 000 Menschen im Jahre zunehmende deutsche Dolk gehört der Dergangenheit an. Das ist die erste Tatsache von ernstester, einschneidendster Bedeutung, die der Krieg geschaffen hat und der es fest ins kluge zu schauen gilt. 3m Jahre 1913 waren wir um 850 000 Menschen gewachsen: im Jahre 1914 hatten wir noch einen Zuwachs von 584 000 Menschen zu verzeichnen. Über im Jahre 1915 trat zum ersten Male eine Minderung der Bevölkerungs­ ziffer ein, die sich auf 37 000 Menschen belief. 3m Jahre 1916 war der Rückgang noch mehr gewachsen. Weiter hinaus sind mir die genauen Zahlen der Reichsstatistik noch nicht zu Gesicht gekommen. (Es sind nun durchaus nicht die unmittelbaren Kriegsverluste allein, die uns diesen Rückgang unserer deutschen Bevölkerungsziffer gebracht haben. In welchem Derhältnis sie beteiligt sind, läßt sich heute noch nicht sagen. Erst einige Jahre nach dem Kriege werden wir wissen, wie vielen Kriegern ein durch Wunden oder Krankheit empfangenes Siechtum ein längeres Leben nicht verstatten konnte. Erft dann werden die Menschenverluste durch den Krieg völlig abge­ schlossen sein. Ruf alle Fälle aber bilden diese unmittelbaren Kriegsverluste an Menschenleben nur einen Bruchteil des Gesamtverlusts, nur einen der Faktoren, die zu dem Rückgang der Bevölkerung geführt haben, den wir beklagen. (Ein min­ destens ebenso nachhaltig wirkender Faktor ist der überaus starke Rückgang der Geburtenziffer, den der Krieg hervor­ gerufen hat und in dem sich die vor dem Kriege schon zu beobochtenden bedenklichen Entwicklungstendenzen unserer Vevölkerungsziffer vollends entfalteten. Weil so viele Kinder jetzt weniger als in den Friedensjahren zur Welt gekommen sind, ist der (Duell unseres Wachstums versiegt, sind wir zu einem Dolke mit abnehmender Zahl geworden. Was diese schmerzliche Tatsache für unsere Zukunft be­ deutet, das sieht jeder, der sich vergegenwärtigt, was in Deutsch­ lands Entwicklung vor dem Kriege alles bedingt war von der Tatsache unsres Vevölkerungswachstums, dem nutzer Rußland kein anderer Staat Europas ein gleich starkes Wachstum an die Seite zu setzen hatte. Weil wir wuchsen, darum brauchten wir immerfort neue Häuser, und in den Städten neue Strotzen,

6 Stadterweiterungen, öffentliche Gebäude, neue Eisenbahnen und Verkehrsunternehmungen. Darum konnten wir neue Fabriken begründen und Werkstätten bauen, konnten wir in unserm Reiche selbst ein Wirtschaftsleben entfalten von immer steigender Intensität und in zunehmendem Umfang zugleich uns hinausrecken mit unserer Arbeit und Wirtschaftskraft über die engen Grenzen des Reiches. Und so breit das Volk oben sich dehnte, so weit es sich ausbreitete, aus der Tiefe quoll es nach ohne Ende, ein unwiderstehlicher, unerschöpflicher Strom. Das alles gehört heute der Vergangenheit an. Das alles ist in sein Gegenteil verwandelt, wenn die jetzigen, an Zahl so schwachen Iahresklassen zur Schule gehen werden, wird z. B. Berlin etwa achtzig Schulklassen leerstehen haben. Noch hoffen wir, daß es nicht für immer so bleiben, daß dieser Rückgang der Beoölkerungsziffer und der Volkskraft nur eine Kriegs­ erscheinung ist und mit dem Kriege wieder verschwindet, um neuem Aufschwung, neuem Wachstum Platz zu machen, wie die Pflanze an warmen Sonnentagen um so kräftiger wächst, nachdem Tage des trüben und kalten Wetters sie in ihrem Wachstum hatten stocken lassen. Aber die Tatsache bleibt be­ stehen: jetzt sind wir ein zurückgehendes Volk. Die Kräfte des Wachstums schlummern und kommen von selbst nicht wieder. Es wird unseres Willens bedürfen, wenn sie wieder geweckt werden sollen. 3ii den Opfern an Menschen kommen die Opfer an Gütern. Der Krieg hat die Schulden des Reiches, die wir mit unfern Steuern werden verzinsen und abbezahlen müssen Jahrzehnte lang, gesteigert von 5 Milliarden auf 100 und mehr, hundert Milliarden! wir haben uns in dieser Zeit, wo wir vor der Gluthitze des Krieges die einzelnen Milliarden binnen kürzester Zeit dahinschmelzen sehen, gewöhnt, mit den unheimlich großen Zahleneinheiten zu rechnen und sie alle Tage im Munde zu führen. Aber es ist nicht gut, wenn wir das Gefühl für ihre riesenhafte Größe und Wucht verlieren, wäre eine Gruppe von Menschen imstande, in einem Jahre 5000 Mark Ersparnis megzulegen und würde von ihrem Schatze der selbsttätig sich einstellende Zuwachs an Zinsen ferngehalten, so müßten 200 000 Menschen, mehr als ein Zehntel der Bevölkerung, die

7 Elsaß-Lothringen zuletzt im Frieden hatte, sich zu dieser Truppe vereinigen, und sie müßten ein ganzes Jahr lang sparen, uni nur eine einzige Milliarde zusammenzubringen. Unseres Reiches Kriegsschuld aber beträgt 100 Milliarden, und noch sind wir nicht am Ende. Sie ist auch nicht einmal der einzige Posten. 3um Riesengeldbedarf des Reiches kommt der nicht geringere der Bundesstaaten und Gemeinden, der jedes Jahr auch gedeckt sein muß. Die Schätzung, daß das deutsche Volk für Reich, Staat und Gemeinde werde nach dem Kriege 14 Mil­ liarden im Jahre aufbringen müssen, ist heute schon überholt. Die Rufgabe der Aufbringung dieser gewaltigen Summen werden wir dazu noch lösen müssen in einer Seit, in der unsere Arbeitskraft gelähmt, unsere Produktionsfähigkeit empfind­ lich herabgesetzt sein wird durch die Rohstosfnot auf allen Gebieten, wir haben verbraucht, was unser handel und Gewerbe aus ihren Lagern hatten. Rohstoffe, die nur die Fremde bieten kann, sind uns unerreichbar geworden, und selbst von denen, die der eigene Boden uns spendet, können wir jetzt keine neuen Dorräte häufen, weil es an Arbeitskräften fehlt, weil der Krieg die ganze Kraft des Dolkes braucht, wir können nicht sammeln, damit der wiederkehrende Friede finde, woran er seinen Drang zur schaffenden Arbeit betätigen könnte, womit er den vielen, dann wieder verfügbaren Arbeitskräften Broterwerb und Gelegenheit zum wirken geben könnte. Der weg, auf dem wir vor dem Kriege unser Dolkseinkommen erzielten, der weg der Warenerzeugung und Warenausfuhr für alle Welt, er wird uns nach dem Kriege durch übermächtige Derhältnifse, die nur langsam und allmäh­ lich sich ändern werden, versperrt und verstopft sein. Das ist die Lage, die uns erwartet. Das sind die Tatsachen, denen wir ins Auge sehen müssen, wenn unsere Pläne nicht vage Luftschlösser sein, unsere Absichten und Dorsätze nicht an der harten Wirklichkeit zerschellen sollen, wie das Schiff im unbekannten Fahrwasser, wie sollen wir da fertig werden mit diesen Derhältnissen, wie die schmerzlichen Einbußen ver­ winden, wie die Aufgaben meistern? Reuaufbau wird die Losung heißen müssen, Reuaufbau vom untersten Grunde herauf. Unsere ganze Auffassung vom

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Wirtschaften mutz auf eine neue Grundlage gestellt werden, vor dem Krieg galt der Satz: Wirtschaften ist Zachgüter erzeugen. Damit hatte die Theorie selbst jenen materiali­ stischen, den arbeitenden Menschen mitzachtenden, nur nach dem sächlichen Arbeitsprodukt fragenden 3ug in die Wirtschaft hineingebracht, den man auch in der Zeit vor dem Kriege schon so vielfach beklagt, aber doch nicht zu beseitigen vermocht hat. Solange man in der Herbeischaffung und Herstellung von Sach­ gütern Wesen und Aufgabe der wirtschaft erblickt, solange werden in ihr nur materielle Werte anerkannt, wird auch der wirtschaftende Mensch nur als ein Mittel der Gütererzeugung wie das Werkzeug und die Maschine, nie aber als Zweck des Wirtschaftens betrachtet werden können. Vas war der Geist der von England ausgegangenen Wirtschaftslehre, der zu allen tieferen Bedürfnissen der Ethik in Widerspruch stand; der Geist von Adam Smith und David Ricardo, von diesem Geiste einer überlebten Zeit, einer überholten Wirtschastsepoche müssen wir uns loslösen und bewutzt die Wirtschaft beim Menschen be­ ginnen lassen, der ihr Urheber ist und ihr Uutznietzer sein soll, und nicht bei den Sachgütern und ihrer Erzeugung. Nicht Warenökonomie wie vorher, sondern Menschen­ ökonomie wird die Losung heitzen müssen. Menschenökonomie, das war der Inhalt unserer Sozialpolitik von Anfang an, und dort hat sie sich erwiesen als den grötzten Gewinn für die Volkswirtschaft. Sie hat bewirkt, datz sich gegenüber dem Jahrzehnt 1870—1880 die durchschnittliche Lebensdauer in den leistungsfähigen Ültersschichten um drei Jahre erhöht hat. Infolge dieser sozialen Lebenskräftigung haben etwa 20 Mil­ lionen erwerbstätiger Deutscher, auf ein Zeitgeschlecht berechnet, auch ungefähr drei Jahre an Tätigkeitsdauer ge­ wonnen. Auf die Iahreseinheit des dreitzigjährigen Zeit­ geschlechts berechnet, bedeutet das einen zahlenmätzigen Zu­ wachs an Arbeitsleistung von 600 Millionen Arbeitstagen oder, das Tagewerk zu durchschnittlich 3 Mark gerechnet, eine Vermehrung des Iahresarbeitsgewinns von 1,8 Milliarden Mark. In diesen Zahlen ist die wirtschaftliche Nutzwirkung der gesteigerten Arbeitsleistung, die durch bessere Ernährung und Schulung der Arbeitskräfte bedingt wird, noch nicht einmal in

9 betracht gezogen, aber sie zeigen doch, wie soziale Kultur, wie eine Abstellung der Volkswirtschaft auf den Menschen statt aus die Sachwerte ein Volk kräftiger und reicher macht. Sie zeigen, daß uns auch nach dem Kriege die Lösung der großen sozial­ wirtschaftlichen Ausgaben gelingen wird, wenn wir nur den Geist der englischen Wirtschaftslehre zu beseitigen wissen, der lange genug auch bei uns den Ton angegeben hat. Das ist nicht eine der im Kriege Mode gewordenen Ver­ dammungen Englands und des englischen Geistes, die ver­ ständlich, aber doch meistens so sehr ernst nicht zu nehmen sind. (Es ist vielmehr eine von der Rot der Seit geforderte Besinnung darauf, daß gerade die bedeutendsten Führer der deutschen Auffassung vom Wirtschaften sich in diesem Gegensatz zur eng­ lischen, materialistischen Auffassung von jeher befunden haben: es ist eine Besinnung auf die Lehre des größten Volkswirts, den Deutschland gehabt hat, des hinreißenden Propheten seiner heute zur Blüte entfalteten wirtschaftlichen Kraft und Größe, aus die Lehre Friedrich Lists. Im Jahre 1841 erschien zum ersten Wale sein -„nationales System der politischen Hkonomie", aufgebaut auf dem Grundsatz, daß nicht die Sachgüter den Reichtum der Nationen entscheiden, sondern die im Menschen tätigen Energien. „Die Prosperität einer Nation," sagt Fr. List einmal, „ist nicht um so größer, je mehr sie Reichtümer, d. h. Tauschwerte aufgehäuft, sondern je mehr sie ihre produk­ tiven Kräfte entwickelt hat." Und er fordert: „Die Nation muß materielle Güter aufopfern und entbehren, um geistige oder gesellschaftliche Kräfte zu erwerben, sie muß gegenwärtige Vorteile aufopfern, um sich zukünftige zu sichern." 3u dieser Auffassung müssen wir zurückkehren, in ihrer Art müssen wir den Menschen mit seiner Kraft und seinem wollen, mit der Ausrüstung seines Körpers und dem Drang und Streben seines Geistes zum Ausgangspunkte und zugleich zum Sielpunkte des wirtschaftens machen. Eine wirtschaftliche und doch auch tief ethische Aufgabe zugleich! Die Arbeitsfähig­ keit des Dolkes, die nationale Arbeitskraft gilt es zu erhalten und neu aufzubauen. Kann sie stark sich betätigen und frei sich entfalten, dann kann es, wird es gelingen, die Einbußen aus­ zugleichen, die unser Volkstum im Kriege erlitt, wieder muß

10 über dem wirken des deutschen Volkes der idealistische Wahl­ spruch stehen, der vor hundert Vahren den Aufstieg Preußens aus noch größerer Schwäche geleitet hat und seinem Hamen trotz allem auch heute noch seinen Glanz gibt, daß das Aufgebot der sittlichen Kräfte den Ersatz schaffen muß für die materiellen, die durch den Krieg verloren sind. Darum ist die wichtigste Aufgabe, die unentbehrliche soziologische Grundlage alles andern Tuns und Bauens nach dem Krieg der Heuaufbau der deutschen Familie. was hat nun aber mit dieser so ganz und gar idealistischen, ganz und gar sittlichen Aufgabe die Wohnungsfrage zu tun? Leitet ihre Erwähnung den Blick nicht weg vom Innerlichen zum Äußerlichen, vom Wesen zu seinem Zubehör und Kleid? Hur für den ersten, oberflächlichen Blick ist das der Fall. Die Wohnung ist die Heimstätte des gegenwärtigen und die Brut­ stätte des kommenden Geschlechts. Es gibt keine Familien­ kultur ohne Wohnung, ohne heim. Das ist es, was die Wohnungsfrage mit jener geistigen Aufgabe untrennbar zu­ sammenbindet. Die Wohnungsfrage umfaßt also bei weitem nicht das Ganze der Aufgabe, die uns gesetzt ist; der Heubau, dessen Pläne und Aufrisse wir entwerfen, reicht weiter hinaus und höher hinauf. Aber alles, was geplant und getan wird zum Heuaufbau der deutschen Familie, das steht in der Luft, wenn wir nicht anfangen mit der Wohnungsfrage. Es muß im sozial­ wirtschaftlichen Wiederaufbau vieles geschehen außer der Arbeit an der Wohnungsfrage, aber es kann nichts Ersprieß­ liches, Bleibendes geschehen ohne sie. Und die Wohnungsfrage, das ist die Frage der Kleinwohnungen, des ausreichenden, menschenwürdigen, gesunden und billigen Wohnraums für die Masse. Für die Wohnungsversorgung der höheren Stände brauchen wir uns den Kopf nicht so sehr zu zerbrechen, obwohl es auch z. B. für die mittleren und höheren Beamten und ihre bevölkerungspolitische Leistung durchaus nicht gleichgültig ist, ob sie in teuren Mietwohnungen Hausen müssen oder im Klein­ hause für eine oder zwei Familien sitzen können. Aber ihren Eharakter erhält die Wohnungsfrage als soziales Problem nicht vom Bedürfnis dieser Schichten, sondern von jenem der breiten Masse, von dem Bedürfnis der Kleinwohnungen. Denn

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ein Fachmann von der Geltung Hermann Muthestus' hat be­ rechnet, daß schon vor dem Kriege über 80 bis 85 Prozent sämtlicher bestehenden Wohnungen solche kleinsten Umfanges (zwei 3immer und Küche) sein mußten. In Berlin machte bei der Wohnungszählung vom wai 1916 der Vorrat an Wohnungen mit zwei Zimmern 36 Prozent des ganzen Wohnungsbestandes aus. Über zwei Drittel aller Berliner Wohnungen umfassen nur zwei heizbare Zimmer oder gar nur eines. Und wir wissen aus den Erfahrungen in allen Teilen des Reiches, daß doch immer noch eine Knappheit, eine vom Vorrat kaum gedeckte Nachfrage gerade nach diesen kleinsten Wohnungen bestanden hat. Die Wohnungsfrage, das war und ist die Frage nach der ausreichenden Herstellung dieser Klein­ wohnungen. Bisher sind in allen unsern großen deutschen Wittel­ punkten des industriellen und gewerblichen Lebens die Klein­ wohnungen ihrer übergroßen wehrheit nach so gebaut worden, daß man ihrer viele vereinigte in den Stockwerken eines ein­ zigen großen Hauses. Das wassenmiethaus war die herrschende Form des deutschen Wohnhauses überhaupt, auch des Hauses für Kleinwohnungen. 3n solchen Mietkasernen zwei, drei, oft genug nur eine Stube neben der Küche, das war die typische Wohnung des deutschen Volkes vor dem Kriege. Sie lag bald im Vorderhause, bald im hinterhause; bald im Erdgeschoß und bald im vierten Stockwerk. Aber immer ging ihr Bereich nicht hinaus über die Flurtür oder Stubentür. Immer war die Folge, daß die in diese wassenmiethäuser einziehenden Familien losgelöst wurden von der natürlichen Grundlage alles Lebens und alles wirtschaftens, losgelöst wurden vom Boden. Sie hatten kein Fleckchen Erde, das ihnen gehörte, und konnten hei ns haben. Sie waren deshalb hineingezwungen in die reine, ausschließliche Geldwirtschaft, sie mußten auf die Geldsumme, die ihnen als meist spärlicher Arbeitsverdienst in zahlreichen kleinen Zahltagsbeträgen zufloß, ihre ganze Existenz be­ gründen. Das aber bedeutet die unabänderliche Unterjochung unter die rücksichtslose, schrankenlose Herrschaft des Markt­ preises für alle unentbehrlichen Bedürfnisse. Der Krieg mußte kommen, um uns die ganze Unabänderlichkeit und Wucht

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dieses Zwangsverhältnisses zum Bewußtsein zu bringen. Er mußte den Unterschied zwischen Nominallohn und Neallohn, zwischen dem Nennwert des Arbeitseinkommens und seiner Kaufkraft gegenüber den Gegenständen des täglichen Bedarfs zu breiter Kluft auseinanderreißen, ehe es uns allen und ganz zum Bewußtsein kam, daß hier ein schweres und entscheidendes, ja vielleicht das grundlegende soziale Problem vor uns liegt. Ja nicht einmal die Arbeiterschaft selbst hatte dieses Problem vor dem Kriege in seiner ganzen Bedeutung erkannt. Sonst hätte sie nicht ihre gewerkschaftliche Standespolitik so aus­ schließlich, wie es geschehen ist, auf die Lohnfrage, auf die Steigerung des Nominallohnes, abstellen können. Jetzt aber hat der Krieg uns seine Erfahrungen beigebracht, und das ganze Volk empfindet diese Dinge so nachhaltig, daß wir diese Erfahrungen wohl niemals mehr vergessen. Losgelöst, ausgesperrt sein vom Boden bedeutet die Aus­ sperrung von jeder Möglichkeit, selbst etwas zu säen und zu pflanzen, durch eigene Arbeit einen Teil wenigstens des Be­ darfs für den Familientisch unmittelbar zu erzeugen. Es ist aber ein Unterschied, von allen ethischen und idealen Gesichts­ punkten abgesehen schon rein rechnerisch und wirtschaftlich ein Unterschied, ob eine Arbeiterfamilie sich Gemüse und Kar­ toffeln selber ziehen kann oder sie auf dem Markte kaufen muß. Die Marktpreise ändern sich und steigen, bald langsam, bald schneller, jetzt im Kriege mit Mesensprüngen zu immer größerer höhe. Dadurch wird die ganze Existenz dieser Millionen von auf die Marktware angewiesenen Familien auf eine fort­ gesetzt nach oben gleitende Basis gestellt. Immer wieder kommt es soweit, daß trotz gleichbleibender Arbeitsleistung, trotz gleichbleibender Sparsamkeit und Ordentlichkeit das Ein­ kommen heute nicht mehr reicht zur Befriedigung des Maßes von Bedürfnissen, wofür es gestern noch gereicht hatte. Ähnlich wirkt die Mohnungsversorgung auf dem Wege der Miete auf die Kaufkraft des Arbeitseinkommens: eine Steigerung der monatlichen Miete nur um wenige Mark, und das Gleich­ gewicht zwischen dem jährlichen Einkommen und der Bedarfs­ befriedigung auch in engen Grenzen ist empfindlich gestört. Trat dieser Zeitpunkt ein, dann begannen wohl die Lohn-

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Kämpfe mit ihren heftigen Erschütterungen des Wirtschafts­ lebens, die wir alle kennen und die auch bei einem für die Arbeiter günstigen Ausgange doch nur eine vorübergehende Erleichterung der Notlage bringen konnten, weil sich bei Ver­ schiebungen des Preisniveaus rasch das ganze Preissystem auf der neuen, höheren Höhenlage neu ordnet und so den früheren Druck auf den Nichts-als-Konsumenten wiederkehren läßt. Lolche Erschütterungen des Wirtschaftslebens stehen uns in einem gegen früher noch vielfach gesteigerten Umfange aller Voraussicht nach bevor, wenn nach Beendigung des Krieges die Preise des Lebensbedarfs hoch bleiben, die Löhne aber niedriger und die Arbeitsgelegenheiten infolge des Aufhörens der Kriegslieferungen und der Knappheit an Rohstoffen für die Friedensproduktion seltener werden. Diese Wirtschaftslage mit hohen Preisen und sinkenden Löhnen treibt die Spannung in der Existenz des vom Lohne lebenden Städters auf den Höhe­ punkt und schafft den Nährboden für die größten sozialen und politischen Gefahren. Sie können wesentlich gemildert werden, wenn man die Familie befreit aus der Zwangslage, kaufen zu müssen um jeden Preis bei Strafe des Hungers, wenn man ihr den Zutritt zum Boden wieder eröffnet, ihr an der Stelle der Mietwohnung ein eigenes heim erreichbar macht und im dazu gehörigen eigenen Garten für die Möglichkeit gibt, durch eigene Arbeit anstatt kaufweise für Geld einen Teil wenigstens ihres Lebensbedarfs zu beschaffen. Wo eigene Erzeugung den Tisch versorgen kann, da braucht der Produzent nicht zu fragen nach dem Gleiten der Marktpreise auf immer größere höhe; da wirtschaftet er mit Gestehungskosten seines Kohls und seiner Kartoffeln, die in jedem Fahre wesentlich dieselben sind. Auch die Kosten der eigenen Wohnung sind in jedem Fahre dieselben; einen die Miete steigernden Hausherrn gibt es in ihr nicht. Und sofern eine Familie ihren Nahrungsbedarf und Wohnungs­ bedarf aus eigener Produktion zu decken vermag, sofern steht ihre wirtschaftliche Existenz auf einer Grundlage von blei­ bender, unerschütterlicher Festigkeit. „Mein Haus — meine Burg," das Wort bewährt sich auch hier, wenn auch das Haus nur ein kleines Eigenheim mit wenigen Zimmern ist, das bescheidenen Ansprüchen eben genügt.

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Über so unzweifelhaft richtig das ist und so fest wir es als 3iel unserer Wohnungsreformarbeit im Dienste des Neuauf­ baues der deutschen Familie im Äuge behalten müssen, — wir können es nicht gleich nach dem Kriege in die Wirklichkeit übersetzen in dem Maße, in dem es erwünscht und nötig wäre. Denn wir haben die Wohnungen nicht und können sie nicht gleich bauen. Das ist die letzte große Kriegsnot, die wir werden ertragen müssen, wie wir jetzt die Not der Nahrungsknappheit, des Kohlenmangels und der fehlenden Dorräte an Kleidern und Schuhen ertragen. Sie kommt ebenso unvermeidlich, wie diese andern Nöte kamen. Sie kommt gleich ihnen, gerufen durch den Krieg, sie aber doch nicht aus Kriegsgründen allein. Denn in den letzten Jahren vor dem Kriege schon war die Neubautätig­ keit für privat- und insbesondere Kleinwohnungen in stei­ gendem Umfange hinter dem bedarf zurückgeblieben, und als der Krieg kam, hörte sie mit einem Schlage so gut wie voll­ ständig auf. heute ist die Lage so, daß ein allgemeines Bau­ verbot mit Rücksicht auf die dringenden Bedürfnisse der Kriegs­ wirtschaft und Kriegsmittelherstellung die Errichtung von Neubauten überhaupt unterdrückt. Nun brauchen wir für unfern Zuwachs an neugegrllndeten Familien im deutschen Reiche vorerst noch jährlich rund 200 000 neue Wohnungen. Diese haben wir vier Jahre lang nicht mehr bekommen. Cs fehlen uns also mindestens 750 000 Kleinwohnungen, der Wohnungsoorrat für rund 3,5 Millionen Menschen. Das sind 5 Prozent eines Dolkes von 70 Millionen, das wir aber heute nicht mehr sind. Dieses so weitgehende Stocken des Baugewerbes hat naturgemäß seine Wirkung auf den Wohnungsmarkt aus­ geübt! der Dorrat an leeren Wohnungen, der unter gesunden Derhältnissen zwischen 3 und 4 Prozent betragen soll, ist in allen größeren Gemeinden stark zurückgegangen, in einigen Städten fast vollständig aufgebraucht worden. Dabei beschreiben diese Ziffern, so bedenklich sie auch sind, noch nicht einmal die ganze Not unserer Wohnungsversorgung nach dem Kriege. Der Mangel wird verschärft durch die Tat­ sache, daß wir auch nach dem Kriege neue und hinreichend billige Wohnungen nicht gleich werden bauen können wegen des Mangels an Baustoffen und an Baugeld, wir haben die Not

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vor fingen, sehen sie immer näher kommen und können doch zu ihrer fibwehr im Augenblick nichts tun. fin Ziegeleien hatten wir in Deutschland, abgesehen von etwa 8000 kleinen ländlichen Gfen, die nur einen beschränkten örtlichen bedarf befriedigten, etwa 10 000 Unternehmungen, von diesen sind heute etwa 93 Prozent stillgelegt, weil sie nicht mit Kohle ver­ sorgt werden können, weil die Kriegswirtschaft den be­ schränkten Vorrat geförderter Brennstoffe an andern Stellen nötiger braucht. Vorräte an Siegeln und Backsteinen sind aber auch nicht rn^hr vorhanden. Ebenso ist der Vorrat an Bau­ hölzern ausgeräumt und in Uebengewerben zur Beschaffung von Baustoffen, z. B. von Kalk und Zement, ist die Lage nicht anders. Dabei ist es wegen des unstillbaren Kriegsbedarfs nicht möglich, hier jetzt Abhilfe zu schaffen. Wir müssen alle unste Kraft zusammennehmen, um den kriegerischen Augenblicks­ ansprüchen an Deutschlands Produktionskraft genügen zu können und können nicht Vorrat schaffen zur Befriedigung der Ansprüche der künftigen Friedenszeit. Wohl hat sich in jüngster Zeit auch der technische Stab des Kriegsamtes entschlossen, mit Rücksicht auf die lange Dauer des Krieges neue Vorschriften über die Regelung der Bautätig­ keit zu erlassen. Danach soll in erster Linie bei landwirtschaft­ lichen Betriebsgebäuden der Bau nach Möglichkeit gefördert und die Baustoffe freigegeben werden. Auch Umbauten der vorhandenen großen Wohnungen in kleine, Ausbauten von Ver­ kaufsläden für Wohnzwecke sollen genehmigt werden. Die Er­ richtung von Uotstandsbauten oder Baracken empfiehlt das Kriegsamt nur dann, wenn die Uotwendigkeit schnellster Beseitigung vorhandener Wohnungsnot unbedingt dazu drängt. Die Fertigstellung angefangener, aber vorläufig ftillgelegter Wohnungsbauten soll genehmigt werden, wenn die Anfor­ derungen an die beschlagnahmten Baustoffe gering sind. Die Kleinwohnungsbauten, Arbeitersiedelungen u. dergl. sollen mit allen Kräften gefördert werden. Aber daneben gilt immer noch der Grundsatz in unbeschränkter Herrschaft, daß vor allem die Leistungsfähigkeit der Rüstungsindustrie auf der höhe erhalten werden muß, und so werden sich diese guten Absichten allesamt nur sehr teilweise verwirklichen lassen,

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solange der Krieg alle Kräfte in der bisherigen Weise für fick beansprucht. wir werden also, wenn der Friede kommt, erst anfanger inüssen, die nötigen Vorräte an Baustoffen herzustellen, ehe roh an den Wohnungsbau selber denken können, was das für eint Arbeit darstellt, möge mit den Zahlen erläutert werden, die der preußische Baurat höpfner in Tassel in einem vortrage „Vie Wohnungsfrage und die Aufgaben der Übergangswirtschaft" im November 1917 berechnet hat. Er schätzt unter Ausschluß aller öffentlichen und Industriebauten sowie der Luxusbauten für Privatzwecke den Iahresbedarf an Mauersteinen auf 5562 Mil­ lionen, an Vachsteinen auf 1000 Millionen Stück, an Zement aus 287 000 Tonnen, an Kalk auf 2,50 Millionen Kubikmeter, an geschnittenem Bauholz auf 1,75 Millionen Kubikmeter usw. Das ist die Baustoffnot, der wir nach dem Kriege gegenüber­ stehen werden.

Aber wir könnten auch ohne diese Kriegsnot nicht so billig bauen, wie es unbedingt nötig ist, wenn die Wohnungen und Heimstätten einen für die breiten Schichten erschwinglichen Preis behalten sollen, wir könnten es nicht wegen der im Kriege vollzogenen Steigerung der preise für Baustoffe und Arbeitskraft, vor allem aber — und auf diesen Punkt wird in der Regel mit viel zu wenig Nachdruck hingewiefen — wegen der starken Verschuldung des deutschen Bodens, die die unver­ meidliche Folge ist des Grundbesitz- und Hypothekenrechts, wie es sich im Laufe des 19. Jahrhunderts mit seinen zwei Kern­ sätzen, daß das Haus Bestandteil des Bodens sei und daß die zeitliche Reihenfolge der Eintragungen dauernd über den Rang der Hypotheken entscheide, in Deutschland ausgebildet hat. Denn erst dieses Recht ermöglichte den Verkauf von Grund­ stücken gegen ganz geringe Anzahlung und verleitete dazu unter Eintragung des Restkaufgeldes als erste Hypothek, die dann durch eine spätere Bebauung des Grundstücks immer besser und sicherer wird. So erst konnte die schrankenlose Spe­ kulation mit Grund und Boden zustandekommen, die diese Grundlage der nationalen und privaten Existenz im voraus mit Zukunstswerten belastet und die preise auf eine höhe

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treibt, auf welcher eine Benutzung solchen überzahlten Geländes zu billigen Wohnungen eben nicht mehr möglich ist. Es ist hier nicht der Grt, um diese Frage näher zu erörtern. Es muß genügen, eine Vorstellung zu geben von der Größe dieser gewaltigen Schuldenlast, die durch dieses Boden- und hypothekenrecht dem deutschen Boden aufgeladen worden ist. Vie genaue Ziffer ist nun leider nicht bekannt; eine Statistik darüber, was der deutsche Boden wert ist und wieviel von diesem Werte seinen nominellen Eigentümern, wieviel aber dem mobilen Kapital gehört, gibt es nicht. Die Schätzungen bewegen sich nach der neuesten Angabe (F. Schulte, die Hypo­ thekenbanken; Bö. 154, II der Schriften des Vereins für Sozialpolitik, München 1918) in der höhe von rund 60 Mil­ liarden Mark, von denen rund 17—18 Milliarden Hypotheken der Bodenkreditanstalten sind, also zur Deckung von Pfand­ briefen dienen, die den Boden vollends umwandeln in eine Ware von unbeschränkter Fungibilität, sodaß sie an jeder Börse und jedem Bankschalter gehandelt werden kann. Zum vergleich halte man daneben, daß im Fahre 1915 die sämtlichen Reichs-, Staats- und Gemeindeschulden in Deutschland zusammen die höhe von 26,520 Milliarden Mark erreichten, daß vier Fahre des schwersten und opferreichsten Krieges, den die Geschichte kennt, noch nicht das Doppelte jener Last als Reichsschuldenlast dem deutschen Volke aufgeladen haben, die es durch verhängnisvolle Rechtsordnungen im Frieden sich als Bodenschuld hatte aufladen lassen, die es in Gestalt gesteigerter Preise, Wohnungsbau­ kosten und Mieten ohne Rücksicht aus Teuerung und Kriegsnot fortgesetzt vorweg verzinsen mutz und die den Preis des Bodens selbst, auf dem unsere Wohnungen stehen sollen, so verteuert, daß das Anlage und Beschäftigung suchende Kapital sich vom Baumarkte mehr und mehr zurückgezogen und der Privatwirt­ schaft die Herstellung neuer Wohnungen in dem vom volkszuwachs geforderten Umfange unmöglich gemacht hat. So werden wir um eine Wohnungsnot nach dem Kriege leider-nicht herumkommen können. Die Ursachen liegen zeitlich zu weit zurück, liegen sachlich zu tief in unserer Rechtsordnung begründet, als daß sie nun samt ihren Folgen in kurzer Frist beseitigt werden könnten. Deshalb regen sich nun auch die

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Regierungen und alle in der Wohnungsfürsorge irgend verant­ wortlichen Behörden und bereiten Notmatznahmen vor. Kellerunö Dachgeschoße, die bisher als ungesund und unzulänglich der dauernden Bewohnung nicht freigegeben waren, fallen als Wohnungen herhalten, wirtfchäftsfäle, Schulen, Turnhallen, leere Läden sollen den Vorrat verfügbarer Wohnungen strecken helfen. Rasch errichtete Baracken sollen einstweilen die Stelle fester Wohnhäuser vertreten. Trotze Summen werden in den Stadtparlamenten unter dem Druck der jetzt schon vorhandenen Wohnungsnot bewilligt und müssen ausgegeben werden, obwohl man sich dessen bewutzt ist, datz man nichts Dauerndes damit schafft, datz das Geld im Grunde unproduktiv verwendet wird, und obwohl man sich an manchem (Drte daran erinnern mutz, wie man in den Jahren vor dem Kriege für Baugenossen­ schaften, deren damalige Unterstützung die jetzige Wohnungsnot hätte hintanhalten oder wenigstens erheblich einschränken können, geringere Beträge als die jetzt bewilligten nicht auf­ wenden zu können erklärte. Aber wenn auch jetzt keine andere Wahl bleibt, als vorerst mit Notstandsmatznahmen der dringendsten Not zu wehren, so darf man darüber doch die organische, planmäßige Reform nicht vergessen. Solche Erfahrungen wie die jetzigen darf auch ein starkes und trotz des Krieges noch gesundes Volk wie das deutsche nur einmal machen, wenn ihm nicht dauernder Schaden daraus erwachsen soll, wir dürfen uns nicht vor der Tatsache ver­ schließen, daß schwere soziale und politische Folgen gerade aus Wohnungsnöten sich ergeben können, datz nichts aufreizender wirkt als sie. Eine Mahnung ist, trotz der Unvergleichbarkeit der Verhältnisse in den Einzelheiten, die Tatsache, daß nach 1871 Wohnungsnöte es waren, die zu den letzten blutigen Barrikadenkämpfen in der Hauptstadt des damals unter so großem Glanze neu erstandenen Deutschen Reiches geführt haben, wir dürfen uns der Gefahr nicht aussetzen, daß solche Vorgänge sich wiederholen in unserer Seit, wo durch die fort­ geschrittene Industrialisierung die Verhältnisse so ganz andere geworden sind und der Feuerzunder nicht nur in den Straßen Berlins, sondern in den Gassen aller unserer Großstädte in ganz anderm Umfange gehäuft ist als damals. Bei der Wurzel mutz

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die Reform beginnen; mit dem bloßen Häuferbauen allein ist es nicht getan. Damit steuert man wohl der augenblicklichen Rot, aber nicht einer neuen, in derselben Richtung wie die bisherige laufenden, an Schädlichkeit ihr gleichen Entwicklung. Damit treibt man wohl einige, in ihrem Werte unantastbare Wohl­ fahrtspflege, aber keine auf Dauer berechnete, am notwendigen Neuaufbau zielbewußt mitwirkende Sozialpolitik.

Dem Lodenrecht, das uns die deutsche Erde zur Handels­ ware für Spekulanten gemacht hat, muß ein yeimftättenrecht entgegentreten, das die Heimat wieder zu dem macht, wozu sie berufen ist, zur Werkstätte und Wohnstätte für ein gesundes, fleißiges, vorwärts strebendes Volk, das feiner Arbeit und feines Fleißes auch froh wird unverkürzt. Ein solches heim­ stättenrecht hat der hauptausfchuß für Kriegerheimftätten ausgearbeitet und den gesetzgebenden Körperschaften unter­ breitet. Wer es kennen lernen will — und jeder muß es kennen lernen, der diese Fragen wirklich durchzudenken strebt — der erhält es auf Wunsch kostenlos zugefandt (Geschäftsstelle Berlin N. W. 23, Lefstngstr. 11). Was nun nötig ist, das ist, daß dieses heimstättenrecht vom Willen breitester Schichten getragen werde; dann wird es feine gesetzgeberische Verwirk­ lichung finden und das sichere Fundament schaffen, auf dem das große Werk des Neuaufbaus der deutschen Familie mit Aus­ sicht auf Erfolg begonnen werden kann

Was soll nun aber das alles gerade hier auf dem Loden Elfaß-Lothringens? Was soll es überhaupt auf dem Loden von Gauen, die nicht INittelpunkte des regen, ruhelosen Industrie­ lebens find? Liegen da nicht die Verhältnisse ganz anders? haben solche Landstriche nicht ganz andere, in ihrer Tendenz den hier besprochenen mitunter geradezu entgegengesetzte Sorgen? — Die Tatsachen, die wir betrachtet haben, berühren doch auch unser Heimatland sehr nahe und näher, als es auf den ersten Blick erscheint. Wir haben auch in unserm Lande die Grundlagen zu starker industrieller Entwicklung, die aus diesem Lande zwischen Rhein und Vogesen ebenso einen Wittel­ punkt neuzeitlichen großgewerblichen Lebens machen kann — und nach dem Kriege zweifellos auch machen wird —, wie es

20 das Land an der Mosel lange schon tatsächlich geworden ist. 3u den Schätzen, die in unserm Boden ruhen, gehört nicht nur die viel gerühmte Fruchtbarkeit der Scholle, die das Land zum schönen Garten macht, sondern auch das Erz Lothringens, das Kali des Gberelsaß, das Petroleum des Unterlandes und nicht zuletzt die unerschöpfliche Wasserkraft des Rheins, die zur Kraftquelle für vielfältigste Leistung der Technik gemacht werden wird, zweifellos schon deswegen, weil es in einer nicht dem Kriegszwange unterworfenen Wirtschaft einfach nicht ver­ antwortet werden könnte, z. B. den deutschen Luftstickstosf mit einem Riesenaufwande der sonst so nötigen und im produktionsprozeß endgültig verloren gehenden Kohlen in Dampf­ kraftwerken herzustellen, während die Rheinwasserkräfte zur Erzeugung nicht nur dieses Stickstoffes, sondern auch des ganzen Rluminiumbeüarfs ausreichen könnten, ohne je der Gefahr des versiegens ausgesetzt zu sein. Im voraussehen solcher Dinge besteht nicht nur die Kunst des Regierens, sondern überhaupt die Kunst einer zukunftsreichen sozialen .und Wirtschaftspolitik. Und neben diesen neuen Industrieen wird hoffentlich auch wieder der alte Stolz des Landes, seine Textilindustrie, aus der Erstarrung der Kriegszeit zu neuem Leben erwachen. Und haben wir nicht in recht erheblichem Umfange auch hierzulande den 3ug nach der Stadt? wo blieb denn vor dem Kriege der Bevölkerungszuwachs unserer Dörfer? warum lagen unsere kleinen alten Städte so still und vergessen? weil auch sie ihre Menschen abgaben an die großen Mittelpunkte, weil auch unter uns die Wurzellosigkeit, die Loslösung vom heimatlichen Boden, die äußere zunächst und dann auch die innere, selische, mehr und mehr zunahm. Das sind ganz dieselben sozialen Erscheinungen, wie sie anderwärts das Fundament der Familie bedrohen, vielleicht weniger weit fortgeschritten, aber im Wesen durchaus nicht anders. Und der Unterschied zwischen unserm Lande und andern Gegenden ist nur der, daß wir, weil unsere Bevölkerung sich in geringerem Umfange und lang­ samerem Tempo vermehrt, diese Krankheitserscheinungen schwerer ertragen, langsamer überwinden können, wir können es uns deshalb nicht leisten, die Dinge gehen zu lassen, bis sie

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eine unmittelbar bedrohliche Größe gewonnen haben. Wir müssen gegen die Anfänge schon uns wehren. Und wir sehen es ja an den Hauptsitzen des deutschen Industrielebens, wie schwer solche Schäden zu beseitigen sind, wenn man sie hat alt werden und sich einwurzeln lassen. Gerade weil man heute noch mit einem Schein des Rechtes fragen kann, ob uns in GlfaßLothringen diese Fragen schon berühren, gerade deshalb ist es jetzt noch Seit, die nötigen Vorkehrungen zu treffen, daß sie uns niemals heißer auf den Fingernägeln brennen können, als es heute der Fall ist. Ist das vermögen erst vertan, so ist es nicht mehr zu retten. So muß auch der Schutz des vermögens unseres Volkes an Seßhaftigkeit und Bodenständigkeit beginnen, ehe sich diese Grundlagen der gesunden, den Staat wie nichts anderes kräftigenden Familie in Wurzellosigkeit und proleta­ risches Nomadentum gewandelt haben. Wie weit die Rriegszeit diese Gefahren gesteigert hat, das zeigt die auch unter anderm Gesichtspunkte noch höchst wichtige Lebhaftigkeit des Besitzwechsels von Höfen und fiebern auf dem Lande. So sehr man auch der Landwirtschaft die wirtschaftliche Erstarkung, die sich in dieser gesteigerten Nachfrage nach Grundbesitz äußert, gönnen mag, so bedenklich ist ihre Befrie­ digung für die Allgemeinheit. Denn was jetzt in andere Hände übergeht, das wird zu Kriegspreifen verkauft, auf der Grund­ lage der Rentabilität, die sich jetzt, wo alle Lebensrnittel Rlonopolwert haben, erzielen läßt. Wer aber zu diesen Preisen einen Ücker erwirbt, der kann aus ihm die erforderliche Rente nicht herauswirtschaften, wenn die Preise wieder sinken. Gr hilft mit dazu, daß das doch dringend nötige Bestreben, so bald als möglich die Lebensmittelpreise wieder zu senken, sofort Widerspruch Hervorrufen muß, weil dann die Landwirtschaft notleidend wird. Jeder neue Grundftücksverkauf auf dem Lande bedeutet längere Fortsetzung der Teuerung, zwingt zur Steigerung der Löhne und Gehälter und zur Übernahme un­ produktiver Lasten durch den Staat, der die Beamten, und durch das Gewerbe, das die Arbeiter auskömmlich besolden muß. Die Folge ist eine Schwächung der Steuerkraft und Wirtschafts­ kraft, eine Schwächung unseres ganzen kleinen Staates, die verhängnisvoll werden kann.

22 Darum müssen wir auf diesem Gebiete tätig fein; im Boöen steckt die Wurzel auch dieser Probleme, im Boden und seinen Rechtsverhältnissen, wir müssen vorsorgen für die Zukunft, solange es noch Zeit ist. Und hier ist es noch Zeit. Unsere Heimat ist noch nicht hineingeraten in die furchtbare (Enge des Lebensspielraumes, wie sie etwa das Berliner Indu­ striegebiet oder Gberschlesien kennt, wag dort auch vieles eine Gestalt gewonnen haben, die die Derhältnisse als nicht mehr verbesserungsfähig erscheinen läßt — hier sind wir noch nicht so weit. Deshalb Schutz der Heimat und der Bodenständigkeit ihrer Bevölkerung! Sie ist zu schön und uns zu gut, als daß sie in dieselbe (Enge des Lebensspielraumes versinken dürfte. Außerdem aber und vor allem: Unser Land ist nichts für sich selber und für sich allein, wir sind ein Stück der Gesamtheit des deutschen Dolkes, auf Gedeih und Derderb mit ihm ver­ bunden. Dem ganzen deutschen Dolke gilt diese Aufgabe des Neuaufbaues der Familie. Deshalb müssen wir zu ihrer Lösung das Unsrige beitragen, deshalb einer Reform des Wohnungs­ wesens auch hier die Bahn freimachen in der Richtung, die weg­ führt von der Wietwohnung und hinführt zum eigenen heim, zur unentziehbaren, unverschuldbaren Heimstätte für Rinder und Rindeskinder. Zunächst handelt es sich um eine Frage der Zahl. Wan darf dabei nicht nur an die Rriegsverluste denken, man muß auch den Rückgang der Geburtenziffer mit in Betracht ziehen, der schon vor dem Rriege immer stärker zu beobachten gewesen war. Den Ernst der Lage zeigt die Statistik, während von 1851 bis 1860 die Ziffer der Lebendgeburten auf das Einwohner­ tausend 35,3, im Jahrzehnt 1861 bis 1870 37,2 betrug und im Jahre 1876 mit 40,9 ihren Höchstpunkt erreichte,, war sie von jener höhe im Jahre 1880 auf 37,6, im Jahre 1890 auf 35,7, im Jahre 1900 auf 35,6 und von dort an in beispiellosem Absturz auf 34,0 im Jahre 1905, auf 29,8 im Jahre 1910 und auf 28,2 im letzten Friedensjahre gesunken, haben auch andere Staaten recht niedrige, zum Teil noch geringere Geburtenziffern, so weist doch keiner einen so rasch verlaufenden Sturz der Ziffern auf wie Deutschland. Am ausgeprägtesten zeigt sich diese Bewegung in den Städten. In Berlin ist ein Diertel der Ehen kinderlos.

23 Der Zeugungswille ist in stetem Rückgang begriffen. ZJn den Jahren 1890 bis 1910 haben nach Feststellungen Dr. Christians in Berlin die Erstgeburten um 20 Prozent, die Zweitgeburten um 42 Prozent, die Drittgeburten um 63 Prozent, die Diertund folgenden Geburten um 70 Prozent abgenommen. Dabei sagt uns die Statistik, daß wir 3,5 Rinder im Durchschnitt auf die fruchtbare Ehe brauchen, wenn die Bevölkerung eben auf der jetzigen höhe erhalten bleiben soll. Geht die Geburtenkurve in absteigender Richtung wie bisher weiter, so kommen wir dank der günstigen Gestaltung der Sterblichkeitsziffer, falls diese so bleibt wie in den letzten dreißig Jahren, in wenigen Jahrzehnten auf den Höhepunkt der deutschen Dolkszahl, und von der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts ab beginnt dann der endgültige, bedingungslose Abstieg. Die Leistung des deutschen Geistes für die Kultur der Welt aber bleibt un­ vollendet. Natürlich ist es nicht die Frage der Wohnung allein, die zu solchen umwälzenden Wirkungen im Vevölkerungsaufbau führt. Die Ursachen dieser Erscheinung erschöpfend aufzählen, hieße die leitenden Gedanken und herrschenden Stimmungen, die wirtschaftliche, ethische und religiöse Entwicklung der Zeit in ihrer ganzen Breite darstellen. Aber unter den zusammen­ wirkenden Faktoren ist der Wohnungsfaktor einer der ersten und wirksamsten. In den engen gemieteten Räumen sind Kinder eine Last, in der nur konsumierenden Familienexistenz bedeutet jedes Kind mehr eine merkliche Schmälerung der Anteile der übrigen. Und wo Eltern erst fragen und sich über­ legen, wo sie die wiege etwa hinstellen könnten, womit sie das Kind groß ziehen könnten, da gibt es nickt viele Kinder. Im Eigenheim aber mit seinem Garten sind Kinder eine wertvolle Hilfe von frühesten Jahren an; da können sie kommen und werden freudig begrüßt, und wenn sie kommen, dann kommen sie gesund. Gesundheit des Dolkstums, das ist der zweite Gesichts­ punkt, um den es sich handelt. Auch hier ist einer der maß­ gebenden Faktoren die Wohnung des Dolkes. Durch alle Phasen des Daseins hindurch ist ihr Einfluß zu erkennen, weitest­ gehenden Einfluß hat sie zugestandenermaßen auf die Sterblich-

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keit der Säuglinge, die in Deutschland bis in die letzte Seit vor dem Kriege immer noch eine Viertelmillion im Jahre betrug und mit 15,1 Prozent weit höher steht als in den benachbarten Staaten wie Belgien (12 Prozent), Frankreich (10,4 Prozent), England (9,5 Prozent), Schweden (7,2 Prozent). Wie wirkt ferner die Wohnung in den ganzen Kindheitsjahren auf den Körper und auf den Geist, auf ihre Entwicklung und ihr Gedeihen! Die spätere Widerstandskraft der aufwachfenden Generation ist zum großen Teil durch sie bedingt. Auch an der Verbreitung und Bekämpfung der Tuberkulose hat die Wohnung ihren bedeutsamen Anteil. Hat man doch die Seuche geradezu als Wohnungskrankheit bezeichnet, die mit einem Siechtum von mehreren Hunderttausend unserer Volks­ genossen an unserer Volkskraft zehrt, sie jährlich über hundert­ tausend Todesopfer kostet. Was hier die Mietwohnung mit ihren beschränkten, oft ungünstig für die Sonnenbestrahlung gelegenen und schwer lüftbaren Räumen an Schaden ange­ richtet hat, das kann das Eigenheim im Garten, rings um­ geben von Licht und Sonne, wieder gut machen und ein neues Geschlecht heranwachfen lassen, das auf unsere großen Jahres­ verluste durch Tuberkulose ebenso zurückblickt wie wir auf die großen Pockenepidemien, die Deutschland noch heimfuchten während und nach dem deutfch-französtfchen Kriege. Und wirtschaftlich muß das deutsche Volk nach dem Kriege leben. Keine Tugend wird es nötiger brauchen als Wirtschaft­ lichkeit und Sparsamkeit. Sie kann sich bei der Familie in der Mietwohnung nicht voll entfalten. Denn die Mietwohnung ge­ stattet keine Verwertung der Arbeitskraft als außerhalb des Hauses in der Fabrik und Werkstatt. Sie erschwert die Aus­ füllung der Freistunden mit nützlicher Tätigkeit, erschwert es vor allem der Familienmutter und den Heranwachsenden Kindern, nutzungsfähige, erwerbsfähige Seit und Kraft zu ver­ werten. Und das wiederholt sich bis zum kleinsten wirtschaft­ lichen Werte herunter: selbst für die Abfälle des Haushalts und der Küche gibt es in der Mietwohnung keine Ausnutzung, weil es keine Aufbewahrung für sie gibt als den Kehrichteimer. In der Heimstätte dagegen kann die Hausfrau ihre Seit unge­ zwungen und nach Bedürfnis teilen zwischen Haushalt und

25 Garten, können im Garten die Heranwachsenden Kinder nützlich sich betätigen, kann der Vater seine Feierabendstunden mit fördernder, gesunder Betätigung füllen. Selbstverständlich haben diese Tatsachen neben der wirtschaftlichen zugleich eine eminent sittliche Seite. Die Lohnarbeit draußen führt den Vater in die eine, die Söhne in eine andere Fabrik, die Töchter in Werkstätten oder Kontore, wiederum wo anders hin. Die Lohn­ arbeit außer dem Hause zersetzt die Familie und das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das ihre unentbehrliche Lebenslust ist. Die Arbeit im eigenen heim und seinem Garten stellt allen, die daran beteiligt sind, das gleiche Siel, führt sie zusammen zu äußerer Handreichung und vertiefter innerer Gemeinschaft. Und dann: Hausfrauenarbeit, die entsagende, unscheinbare und doch so unentbehrliche Arbeit der Mutter — sie wird an sich selten in dem wert geachtet, der ihr gebürt. Gebt ihrer Arbeit Raum, daß sie in die Breite sich entfalten kann, gebt ihr das heim und den heiligen Herd, dessen Feuer sie hüten kann, und auch die Ehrfurcht wird wiederkehren vor ihrem wirken. Und ist nicht Gartenarbeit von je her Frauenarbeit gewesen? Das wichtigste aber, worauf hier hinzuweisen ist, geht auf das Heranwachsende Geschlecht. (Es wird, herangewachsen, arbeiten müssen wie wir; es muß das Arbeiten lernen. Sehr viel aber kommt darauf an, wie es die Arbeit kennen lernt. Die IHietwohnung nun bietet dem Kinde keinen Raum zur Arbeit und Betätigung der erwachenden, nach Übung verlangenden Kräfte. (Es sind ja nur drei, zwei Stuben, nichts dahinter, nichts davor, hier lernt der Heranwachsende Mensch die Arbeit richtig kennen erst in der Fabrik. Und da erscheint sie ihm als Swang, als bitteres Muß, dem man sich nur beugt, weil man sonst hungern muß. Und als Muß im Dienste eines Fremden. Das Kind aber, das im eignen Garten aufwächst als feine schönste Blume, es schreitet ganz unvermerkt vom Spiel zur Arbeit, vom zweck­ losen zum zweckvollen Tun, dessen Gegenstand aber in beiden Fällen derselbe bleibt: die Kindergießkanne, mit der Blumen begossen, die kleine hacke, mit der Unkräuter im Wege beseitigt werden u. dgl. mehr, hier ist Arbeit Freude und Lust und wird, je mehr der Geist zur Reife sich entfaltet, empfunden als Tätig­ keit im eigenen Dienst, im Dienste der engsten sozialen

26 Gemeinschaft, der Familie. Und indem der Menjch durch seine arbeit, die er dem einen kleinen Fleckchen Erde widmet, mit der Scholle verwächst, wurzelt er fest in der Heimat, erzeugt er in sich die höchsten Werte des Gemeinschaftslebens, Boden­ ständigkeit, heimatliebe, Vaterlandsgesinnung. Sie sind nicht denkbar ohne die Familie, ohne ihre Neugründung in der eigenen Heimstätte. Wir brauchen schließlich die Familie auch für die Grund­ frage der individuellen Ethik, die der Krieg uns aufgibt, für die Frage nach der aufrechterhaltung und Vollendung der geistigen Persönlichkeit in dieser Zeit. Es ist keine Frage: es besteht eine starke Gefährdung der Persönlichkeit, der Ge­ sinnung des deutschen Idealismus durch den Krieg. Vie große Kraft der Kriegszeit ist die Eingliederung des Einzelnen ins Ganze, Konzentration und Organisation. Diese Kraft wirkt im Heer und in der Heimat, in der Kriegsarbeit und in der Wirt­ schaft. Wir kennen die alles umspannende Organisation für die Lebensrnittel- und Rohstoffversorgung, die unübersehbaren Kartellierungen und Syndizierungen, die unter Mitwirkung des Reiches durchgeführt worden find, die riesenhafte Konzen­ tration der Unternehmungen und des Kapitals. Überall sehen wir die Eingliederung der Persönlichkeit in große Organisa­ tionen und Gemeinschaften in raschem Fortschritt. Und das will so bleiben, wie es jetzt geworden ist. Der Mensch wird ent­ schlossen zum Mittel gemacht für die überpersönlichen Zwecke. Der Mensch soll aber niemals bloß Mittel sein, sondern Selbst­ zweck. hier ist edelstes deutsches Geisteserbe in Gefahr für seinen weitern Bestand; Erbe der Denker und Dichter und (Erbe des echten Liberalismus. Werte sind in Frage gestellt, die gerade das vom alten, unvergeßlichen deutschen Liberalismus und Idealismus darstellen, was nicht sterben darf, bevor der letzte Deutsche stirbt. Denn vergessen wir es nicht: dieser Individua­ lismus, dieser Selbständigkeitsdrang, sie sind nichts anderes, als Kundgebungen des mündig gewordenen, auf sich selbst ge­ stellten sittlichen Gewissens. andererseits jedoch geht es nicht ohne die volle Erreichung der überpersönlichen Zwecke. Wir müssen die Verbindung der alten Selbständigkeit finden mit der neuen abhängigkeit, die

27 der Krieg uns gelehrt hat. Mr brauchen eigenwüchsige, boden­ ständige Menschen mit sozialem Pflichtgefühl und ausgepräg­ testem Gemeinschaftsgefühl, wie aber und wo kann sich praktisch vollziehen, was im Begrifflichen immer Gegensatz bleibt? das Zusammenwachfen von Persönlichkeitsstreben und Gemeinschaftsstreben? wenn uns die Familie dieses Werk nicht leistet, wird keine andere Macht es uns leisten können. Ihre Aufgabe ist es, in ihren Gliedern das Ichbewußtsein zur Vollendung durchzubilden und zugleich ihm einzuprägen, daß sich die Persönlichkeit erst vollendet, wenn sie über sich hinausgreift ins Überindividuelle, wenn sie sich einordnet in die soziale Gemeinschaft und deren ursprünglichste Organisation, die Familie. Die Familie ist die wiege der Persönlichkeit und die Keimzelle des Staates. Nicht allein durch politische Neuordnung in Verfassung und Wahlrecht schaffen wir das neue Deutsch­ land, sondern vor allem durch sozialen Neuaufbau von unten herauf, beginnend mit dem Neuaufbau der Familie. „Nation und Staat,“ sagt Lagarde, „sind nicht Gliederungen von Indi­ viduen, sondern Gliederungen von Familien.“ Darum gibt es keine zentralere Aufgabe für die Zukunft, als diesen Neuaufbau der deutschen Familie, der nur gelingen kann auf dem Boden der Heimstätte, der dauernder Bestand gegen alle sozialwirt­ schaftliche Gefährdung gesichert ist. Darum ist dies auch eine Aufgabe, die jeden angeht, an der jeder mitzuarbeiten ver­ pflichtet ist, der seine staatsbürgerlichen Pflichten kennt. Die organische Tinheit von Ich und Gemeinschaft, von Persönlich­ keitsgefühl und Gemeinschaftsgefühl, das müssen wir haben als Baustoff für die deutsche Zukunft. Anderswo aber als in der Familie wächst das nicht. (Es muß aber wachsen, wir müssen es pflanzen. Deshalb heran an diese Aufgaben, jeder Einzelne, jeder als ein Ich, das die Gemeinschaft will!

Els.- Lochr. Druckerei, Straßburg.