Vierzehn Tugenden für vorsitzende Richter [1 ed.] 9783428453344, 9783428053346

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Vierzehn Tugenden für vorsitzende Richter [1 ed.]
 9783428453344, 9783428053346

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WILHELM SCHEUERLE

Vierzehn Tugenden für vorsitzende Richter

Schriften zum Prozessrecht

Band 78

Vierzehn Tugenden für vorsitzende Richter

Von

Wilhelm Scheuerle

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Scheuerle, Wilhelm: Vierzehn Tugenden für vorsitzende Richter / von Wilhelm Scheuerle. - Berlin : Duncker und Humblot, 1983. (Schriften zum Prozessrecht ; Bd. 78) ISBN 3-428-05334-6 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten

© 1983 Duncker & Humblot, Berlin 41

Gedruckt 1983 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3 428 05334 6

Wilhelm Scheuerle haben in seinen letzten Lebensjahren manche gewichtige Krisensymptome in Staat und Gesellschaft tief bewegt. Dem dabei diagnostizierten Niedergang der staatlichen Autorität, den die Studie über die Tugenden des vorsitzenden Richters an einer Fülle von sorgsam gesammelten Vorfällen aus Gerichtssitzungen der vergangenen Jahre exemplarisch beleuchtet, gilt die Therapie einer Rückbesinnung auf vorgegebene, aber oft vergessene Werte einer guten Ordnung des Gemeinwesens. Der Staatskrise im Gerichtssaal werden die Tugenden des verfahrensleitenden Richters entgegengestellt. Ihm obliegt nach § 176 GVG die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung. Diese Ordnung versteht Wilhelm Scheuerle als eine staatliche, richterliche und richter-ethische (Festschrift für Fritz Baur, 1981, S.613), deren Zweck dann durch eine Konkretisierung des gesetzlichen Blankettbegriffs "Ordnung in der Sitzung" mit Hilfe eines Katalogs von Richtertugenden entsprochen werden kann. Der Tugendkatalog ist nicht nur auf Verhaltensweisen ausgerichtet, deren Verletzung rechtliche Sanktionen (Richterablehnung, Aufhebung der gerichtlichen Entscheidung ete.) bewirken kann. Die Tugendpostulate an den vorsitzenden Richter sind umfassender und anspruchsvoller. Auf diese Weise entsteht nicht nur eine "Tugendkonforme Auslegung des § 176 GVG" (a. a. 0., S. 595), sondern eine (ergänzungsfähige) Ethik des richterlichen Verhaltens; freilich eine, die als Rezept gegen Krisenerscheinungen gedacht ist und deshalb den "Teufel im Detail" nicht scheut. Wilhelm Scheuerle hat die Studie als mehrfach überarbeitetes Manuskript hinterlassen, das (nur in formalen Details korrigiert) nahezu unverändert gedruckt worden ist. Es war nach Inhalt und Stil druckreif. Aber es ist nicht sicher, ob es so und überhaupt veröffentlicht werden sollte. Die Publikation bedarf daher neben der Anregung durch die Erbin einer zusätzlichen Rechtfertigung. Sie liegt im sachlichen Substrat der Arbeit und in der Person des Autors. Die Arbeit vereint in seltener Weise die Erfahrung des langjährigen juristischen Praktikers, die Sensibilität des kritischen politischen Betrachters, die Geduld des Materialsammlers, die Kompetenz und umfassende Bildung des Autors in außerjuristischen Sparten und die Eigenständigkeit des Urteils. Die Fakten und die Wertungen sind und bleiben aktuell. Mögen au eh manche der angeführten Vorkommnisse in den Gerichtssälen bereits ein Stück Justizgeschichte sein, so sind die aufgelisteten Tugendbeispiele doch überzeitlich; vor allem die Gruppe des

Geleitwort

6

Tugendkatalogs, die den Richter davor bewahren soll, selbst die Ordnung der Sitzung zu verletzen. Vielleicht erscheint manchem auch diese oder jene Wertung als nicht "zeitgemäß". Sie sollte dann aber zugleich zum Nachdenken über den "Zeitgeist" anregen. Die Lektüre wird in dieser Weise dem Richter, dessen verantwortungsvollem Amt die Schrift bei aller Einzelkritik an richterlichem Verhalten mit viel verständnisvoller Sympathie gewidmet ist, und jedem an Recht, Gericht und Staat Interessierten Gewinn bringen. Das Buch spiegelt zugleich die ungewöhnliche Kombination von plastischer Lebensnähe und geistiger Tiefgründigkeit, die den Wissenschaftler Wilhelm Scheuerle ausgezeichnet hat. Die Veröffentlichung kann daher mehr als andere erwogene Vorhaben seinem ehrenden Gedenken dienen. Mainz, im Januar 1983

Horst Konzen

Vorwort Diese Schrift ist den Richtern und ihrem verantwortungsvollen Amt gewidmet, zugleich als bescheidene Einladung, über sich selber nachzudenken. Dabei verwendete Beispiele von Tugenden und Lastern sind der Tagespresse entnommen; oft auch die dazu gehörige Kritik, die das Interesse der allgemeinen Moral an der richterlichen bekundet. Andere stammen aus richterlicher oder publizistischer Feder, zum Beispiel aus den "souveränen Berichten von Gerhard Mauz". Ob die verwendeten Beispielsfälle sich so oder gen au so abgespielt haben, ist unerheblich. Sie haben im gegenwärtigen Zusammenhang keine andere Bedeutung als die der Konkretisierung einer Generalklausel (des § 176 GVG). Ein "Vorwurf" gegenüber einem konkreten Richter, der vielleicht in einem von der Presse verfolgten Prozeß seine Tugend~n verfehlt hat, ist natürlich nicht beabsichtigt. Daher ist es auch unerheblich, aus welchem Presseorgan sie entnommen sind und ob sie genau so passiert sind, wie sie berichtet wurden. Sie haben, wie gesagt, nur die Funktion von Beispielen (Richter Seibert in JZ 1968, 348). Wer den Richtern anhand von Fällen aus der Praxis Tugenden vorhält, muß freilich Kritik üben und Laster beim Namen nennen. Das läßt sich nicht ändern, denn das Laster ist die causa virtutis. Es gilt aber: "Man kritisiert einen Richter ungern, die Bürde des Amtes ist offenbar" (Mauz, Die Gerechten, S. 261). Man soll es nur tun in der Hoffnung, ihm damit einen, und sei es auch bescheidenen, Rat geben zu können. Dieses "Prinzip Hoffnung" liegt den gegenwärtigen Gedanken zugrunde. Das Manuskript hat meine langjährige Sekretärin, Frau Ruth Freckmann, kundig betreut und, wie viele seiner Vorgänger, aus der Handschrift "interpretiert". Denn ein Diktator (des Diktiergeräts) ist der Autor nie gewesen. Verachtet er die Bescheidenheit (B XII), wenn er meint, auch das habe mit Tugenden zu tun?

Inhaltsverzeichnis A. Allgemeines I. Der vorsitzende Richter in der Krise ...................... . .

11

II. Sitzungskritik und Urteilsschelte ........................ . ..

17

111. Die Aporie des vorsitzenden Richters und die Tugenden ..... IV. Tugend und Tugendwirklichkeit ............................ V. Tugendkataloge ............................................

18 20 27

VI. Einzige Tugend und Tugendzusammenhänge ................

33

VII. Die "Entdeckung" der Tugenden ............................

34

VIII. Tugendwerte ............................................... IX. Tugendpflichten, Richtergewissen und Tugendenergie ........ X. Tugendkonforme Auslegung ................................

35 37 39

XI. Laster .............................................. . .... . .. XII. Wandelbarkeit der Tugenden ....................... . .......

40 41

XIII. Tugendkonkurrenzen .................................... . .. XIV. Tugendbegriffe als Standardbegriffe ........................

44 47

XV. Tugendhaftes und anderes Denken........... . . . ...... . .....

48

XVI. Tugendlehre ............................................... .

51

XVII. Tugendvergleiche ................................ . ..........

61 65

XVIII. Tugendsanktionen

B. Einzelne Tugenden I. Staatstugend II. Gerechtigkeit ............................................... III. Fairness IV. Ordnung V. Weisheit VI. Klugheit VII. Besonnenheit ...............................................

68 73 87 92

116

128 144

VIII. Tapferkeit ....................................... . ..........

151

IX. Umgangsformen ............................................

162

X. Selbstbeherrschung ......................................... XI. Gelassenheit .................... . ...... . .... . . . .... . ...... . .

171 175

XII. Bescheidenheit .......................................... . ...

178

10 XIII. XIV. XV. XVI.

Inhaltsverzeichnis 188

Distanz Maß ........................................................ Andere Tugenden, Eigenschaften und Sammelnamen......... Humor, Witz, Ironie, Sarkasmus, Schlagfertigkeit.. . . . . . . . . . .

200 205 218

XVII. Tugenden und geltendes Recht .............................. XVIII. Tugendausblick .............................................

240 246

Scbrifttumsverzeicbnis ...... . . . .. . ...... . . . .... . ....................

249

A. Allgemeines I. Der vorsitzende Richter in der Krise 1. a) Die gegenwärtigen Gedanken über die Tugenden des vorsitzenden Richters sind als Beitrag zum Verständnis des inhaltsschweren § 176 GVG gedacht: "Die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung obliegt dem Vorsitzenden"'.

Damit der Vorsitzende das gesetzliche Gebot erfüllen kann, bedarf er, das ist die erste These dieser Gedanken, besonderer Tugenden, der "Tugenden des Vorsitzenden". In unserer Zeit der Krise, so lautet die zweite These, sind nicht oder nicht mehr alle vor,sitzenden Richter im Besitz solcher Tugenden. Wenn sie aber wollen, und das ist die dritte These, können sie sie (wieder) gewinnen. Besitzen die vorsitzenden Richter diesen Willen nicht, dann bleiben diese Überlegungen utopisch. Auch Utopien haben, die Geschichte zeigt es, ihre Berechtigung. b) Gedanken über die Tugenden der Menschen oder einer Menschengruppe, zum Beispiel der Richter oder der vorsitzenden Richter, sind stets aktuell: Tugenden sind nicht, wie Nietzsche2 meinte, eine ehrwürdige Form der Dummheit, sondern ein unentbehrlicher Bestandteil jeder Ordnungl, auch der des § 176 GVG. c) Besonders aktuell sind Gedanken über die Tugenden allerdings in einer Krise des Staates. Mit ihr haben wir es zu tun, wenn Sitzungen der Gerichte, nicht nur manchmal, sondern "immer wieder" durch Vorgänge betroffen sind, wie sie ein Bericht der Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes vom Jahre 1974 beschreibt': Beleidigung von Mitgliedern des Gerichts und Staatsanwälten sowie von Zeugen und Sachverständigen; Tätlichkeiten gegenüber Richtern, Staatsanwälten und Justizwachtmeistern sowie Polizeibeamten; Bewerfen des Gerichts mit Kot, Obst, Eiern, Schuhen u. a.; Unterhaltung mit Zeugen, Niederschreien anderer Verfahrensbeteiligter, fortwährendes Reden, Absingen politischer Kampflieder, Zerstörung von Mobiliar; Rauchen, Essen, Alkoholgenuß, Ent, Die Bezeichnungen Vorsitzender und vorsitzender Richter haben in dieser Schrift die gleiche Bedeutung: dazu auch Abschnitt A III. 2 Nietzsche, S. 395. 3 Behrendt, S. 46. 4 Strafrechtskommission, S.3; weitere Sachverhalte einSchlägiger Art bei Stürner, S. 161 ff. und, fast jeden Tag, in den Massenmedien.

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A. Allgemeines

kleiden während der Verhandlung; Abgabe nicht zur Sache gehöriger politischer Erklärungen; unsachliche Befragung von Zeugen, offensichtlich unbegründete Ablehnungsanträge; Verlangen, unmittelbar ins Protokoll diktieren zu dürfen; Versuche, durch Hungerstreik die Verhandlungsunfähigkeit herbeizuführen; Tätlichkeiten und Beleidigungen gegenüber Pflichtverteidigern, die den Angeklagten nicht genehm sind; Anträge, Richter oder Staatsanwälte auf ihre Zurechnungsfähigkeit zu untersuchen. Der zurückhaltende Bericht schildert die allgemeine Lage. Besondere Sensationsfälle, häufig genug, sind bevorzugte Gegenstände der Massenmedien. Ein französisches BlatP sagt über einen deutschen Prozeß: Noch nie wurde die Justiz eines mächtigen Landes so mit Füßen getreten, noch nie stand sie so lächerlich allein da mit ihren Richtern, Staatsanwälten und Polizisten, konfrontiert mit einer Lehre der gewaltsamen und absoluten Infragestellung durch eine Handvoll Desperados ... mißachtet und bespuckt ... während draußen Geiselnahmen und Attentate, die Angst einflößen, weitergehen. In dem gleichen Verfahren hatte sich der Angeklagte nach Abschluß seiner Vernehmung auf den vorsitzenden Richter gestürzt und ihn von seinem Stuhl herunter zu Boden gerissen. Mit Hilfe der Beisitzer und der Justizwachtmeister konnte sich der Angegriffene befreien, worauf der Angreifer überwältigt und gefesselt aus dem Sitzungssaal getragen wurde6• Wenn die Staatskrise genügend fortgeschritten ist, kann man auch einen ganzen Gerichtssaal stürmen und besetzen7 • Dann können sich die Verteidiger schützend vor die (freigesprochenen) Angeklagten stellen, damit diese fluchtartig den Saal verlassen können. Das mag, wenn zur furchtbaren Materie des Holocaust gehörig, psychologisch verständlich sein. Jedoch: wie die Toleranz gerade (oder nur) dort gefordert wird, wo ihr Gegenstand unerträglich (intolerabel) ist, so die Ordnung des § 176 GVG in den Fällen des unerträglichen Urteils, der Urteilsschelte (A 11). Mitunter waren die Fakten der Krise so neu, daß sie neue Terminologien erforderten: für das Exkrementieren eines Angeklagten8 vor dem Richtertisch und das Benutzen der Gerichtsakten als Klosettpapier standen kaum Ausdrucksweisen zur Verfügung. L'Aurore vom 28.4. 1977, zitiert in FAZ vom 30. 4. 1977. FAZvom 19. 7.1976. 7 FAZ vom 20. 4. 1979 (Freispruche im Majdanek-Prozeß wegen Mangels an Beweisen). 8 Student K. H. Pawla am 6. 9. 1968 vor dem Schöffengericht Berlin, berichtet von allen Massenmedien am 7. 9. 1968, jeweils im Kampf mit den rechten Ausdrücken. 5

6

I.

Der vorsitzende Richter in der Krise

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d) Die krisenhafte Notlage der vorsitzenden Richter kommt nicht nur von äußeren Ursachen der beschriebenen Art. Wichtiger sind ihre inneren Ursachen. Gerade sie zeigen den Bedarf an Tugenden; insofern sind die gegenwärtigen Gedanken nicht an die äußere Krise gebunden, sondern betreffen auch die innere, die ernstere. Ein hoher Richter9 "hat Richter gesehen, die in öffentlicher Strafverhandlung ostentativ Zeitung lasen; die Akten bearbeiteten; die frühstückten; die sich unterhielten; die zu spät kamen und sich nicht entschuldigten; die nachlässig angezogen waren; deren Formen gegenüber anderen Beteiligten zu wünschen übrig ließen; die den Angeklagten zur Zielscheibe ihrer Ironie und recht billiger Witze machten ..." Die Beispiele des folgenden Textes werden die zitierte Lasterliste ergänzen. Wo Tugenden verfehlt werden, stellen sich Laster ein, mögen ihre Ursachen von außen oder von innen kommen. e) Das sog. tägliche Chaos der Gerichtssitzungen, wie es von Presse, Funk und Fernsehen berichtet wird, ist mittlerweile ein Gegenstand der Gewöhnung geworden, wie es in dauerhaften Krisen mit negativen Erscheinungen im Staate zu sein pflegt. Es wird daher nicht mehr besonders beachtet, so wenig wie die üblichen Morde, Raubüberfälle, Geiselnahmen und anderen Delikte und Skandale. Geändert haben könnte sich allerdings der Stil der Berichterstattung über die Ereignisse der Krise. Anfangs beherrschte eine saloppe und pfiffige Rhetorik das Feld, die den Ernst der Lage kaum widerspiegelte. So stand ein Report über den sog. Hamburger Strip-Tease-Fall, als sich einige Studentinnen während der Gerichtssitzung plötzlich entkleideten, unter der Schlagzeile: "Barbusig vor der Barriere. Weibliche Wunderwaffen besiegen einen Hamburger Richter". Auch der dann folgende Text ließ an Spott zu staatlichen Lasten wenig zu wünschen übrig; sogar die Zwillingsfigur mit Stabreim "Brecht und Brust" 10 wurde untergebrachtlI. Heute, "nachdem der TeufeJl2 den Gerichten das Lachen ausgetrieben hat", sind die Berichte etwas ruhiger geworden; die allgemeine Betroffenheit hat ihren Stil gedämpft. Auch wenn eine Theaterposse zur älteren Gattung der fidelen Justitia gehört, dürfen wir zwar noch lachen, aber nur "wenn's niemand sieht."13 Sarstedt, JZ 1969, 153. Die barbusigen Studentinnen hatten eine "Ballade von den asexuellen Richtern" frei nach Brecht (vier Strophen) abgesungen. 11 Näheres über den genannten Fall bei der Erörterung der einzelnen Tugenden in Teil B. U Gemeint ist (ursprünglich) ein Angeklagter dieses Namens. 13 Diehl in FAZ vom 6.11. 1976 über "Hokuspokus" von Curt Goetz. 9

10

A. Allgemeines

14

üblich ist andt!rerseits die Satire geworden, in welcher die Krise von den Richtern selber zur Kenntnis genommen wird, ein Zeichen für eine eingespielte "gesellschaftliche" Erscheinung. Willms 14 kommentiert einen Fall von "Rabatz im Gerichtssaal", dessen Darstellung er ironisch eine fröhlich-ernste Bilderfolge nennt, um freilich traurig-ernste Erwägungen daran zu knüpfen. Er sagt: Unter der überschrift >Ein fairer Prozeß< sah man vor einiger Zeit in einer vielgelesenen Tageszeitung die Karikatur eines Richters bei der Verhandlung gegen einen langhaarigen und bärtigen Angeklagten mit ausgesprochen schlechten Manieren. In einer Folge von acht Bildchen war gezeigt, wie der Richter jeden Insult mit freundlichem Entgegenkommen und wohlmeinenden Kommentaren beantwortet. Als ihm schließlich sogar Tomaten und faule Eier aus dem Zuhörerraum an den Kopf fliegen, gerät er immer noch nicht in Rage. Während ihm der Dotterseim von der Stirn trieft, bemerkt er zu der johlenden Meute: "Ich finde es verdienstvoll, daß Sie die landwirtschaftliche überproduktion bewältigen helfen." Als ihm schließlich der Angeklagte den Rücken kehrt und das Weite sucht, läßt er ihn verwundert, aber bereitwillig ziehen und fügt sogar die Zusicherung an, in das Urteil werde jedwede Revisionsmöglichkeit eingebaut werden. 2. a) In kennzeichnender Weise hat Friesenhahn 15 bereits 1969 die Lage beschrieben. Er sprach von der Aporie des Richters unserer Zeit, für welche nicht mehr eine vorgegebene, auf unbezweifelte Werte gegründete gute Ordnung des Gemeinwesens als communis opinio gilt. Solche Werte (A VIII), die bezweifelt sein können oder nicht, sind auch die Tugenden des vorsitzenden Richters. Wo sie fehlen, wankt die "gute Ordnung" der Sitzung (des § 176 GVG) als wichtige Teil-Ordnung des Gemeinwesens. Es herrscht Aporie, das heißt Weglosigkeit und Ausweglosigkeit. Man könnte sie zum Gegenstand einer Wissenschaft, der richterlichen Aporetik, machen, die zugleich eine "staatliche" Aporetik wäre. Die Tugenden würden in ihr eine Rolle spielen, vielleicht eine zentrale. b) Wo Weglosigkeit und Ausweglosigkeit herrschen, ist auch die Hilf-

losigkeit zur Stelle. Ein vorsitzender Richter 16 sagt, es könne leider nicht

geleugnet werden, daß die Macht- und Hilflosigkeit der Gerichte in einigen 17 Verfahren in beklagenswertem Maße offenbar geworden sei. Daß die Hilflosigkeit hier mit der Machtlosigkeit in einem Zuge genannt wird, ist ein guter Gedanke. Sie ist die Hilflosigkeit des Staates, der, wenn machtlos, der Staatsgewalt entbehrt und kein Staat mehr ist.

DRiZ 1974, 51. DRiZ 1969, 169 ff. 16 Geus, S. 2. 17 über das sogenannte quantitative Argument siehe unten in diesem Abschnitt. 14 15

1. Der vorsitzende Richter in der Krise

15

Fromme 18 beschreibt die damit gegebene Krise so: "Die Meinung findet sich beim Mann auf der Straße wie bei führenden Politikern höchst unterschiedlicher Parteien ... , daß sich der Staat hier eigentlich so hilflos zeige, wie ein Dinosaurier I9". c) Wer hilflos ist, hat auch Angst. Die Richterangst als Staatsangst zeigte sich zum Beispiel bei Beginn eines Sensationsprozesses, obwohl Sicherheitsrnaßnahmen von kaum begreiflichen Ausmaßen die Welt in ungläubiges Staunen versetzt hatten. Es hieß darüberZ°: "Die Justiz war auf das Schlimmste gefaßt und deshalb konnte man die Erleichterung des Gerichts beinahe körperlich spüren, als am Mittwochvormittag der Prozeß so vergleichsweise friedlich begann". Daher ist auch die Zeit gekommen, da der Staat von seinen Richtern eine Tapferkeit (B VIII) fordert, wie sie sonst nur von Soldaten verlangt wird. d) Erinnert man sich der Volksweisheit, die besagt, daß Angst dumm macht, dann erkennt man das Ausmaß der Krise in seinem ganzen Umfang. Es könnte sich um Staatsdummheit (stupor politicus) handeln. 3. a) Wie sich die richterliche Aporie unserer Tage weiterentwickelt, wissen wir nicht (B XVIII). Vielleicht treten den derzeitigen Weglosigkeiten in Zukunft andere zur Seite. Neue Erscheinungen in den Psychen der Menschen sprechen dafür: gezüchtete Abenteuerlust, steigendes Geltungsbedürfnis, wachsende Unwissenheit, zunehmende Dogmatisierung durch erfahrungslose Pseudowissenschaften, vermehrte Aggressionen bei schwindenden Chancen für ihren Abbau usw. Sie können den vorsitzenden Richtern der kommenden Zeit Menschen zuführen, die auf (wiederum) neue Art reagieren und auf Appelle alter Art, sich "ordnungsgemäß" (im Sinne von § 176 GVG) zu verhalten, nicht mehr ansprechen oder anders als bisher. Die Richter selber können an den erwähnten Erscheinungen leiden, sie sind Menschen ihrer Zeit. Auch kann sich ergeben, daß die Aporie, die bisher vornehmlich das Strafverfahren betraf, sich auf alle Verfahren ausdehnt. Daher könnte die zur Debatte gestellte richterliche Aporetik nicht so unrealistisch sein, wie sie auf den ersten Blick aussieht. Sie müßte zunächst die Gründe der Aporie erforschen: ein Philosoph hat gesagt, wer den Knoten nicht kennt, kann ihn auch nicht lösen. Bei der Umschau nach Heilmitteln könnte sie sich auch der Tugenden erinnern. Bis dahin können sich die vorsitzenden Richter in vergeßlicher Zeit die Schlagworte ins Gedächtnis zurückrufen, die 1967 in einem SensaF AZ vom 30. 5. 1975. Bis zu 50 Tonnen schwere Landbewohner des Mezozoikums; im Sumpf, den sie schätzten, untergegangen. 20 Süddeutsche Zeitung vom 22. 5. 1975. 18 19

16

A. Allgemeines

tionsverfahren gebraucht, oft nachgedruckt wurden und noch heute Geltung haben. Sie lauten21 : Die Justiz ist ein Papiertiger! Laßt tausend Prozesse blühen! Wenn die Justiz uns bekämpft, ist das gut und nicht schlecht! Laßt tausend Gerichte untereinander wetteifern! Arbeiten heißt, am Tod der Justiz arbeiten! Speziell für die öffentliche Sitzung war der Reim gedacht: Jeder weiß jetzt, wer hier spinnt. Vorhang auf, das Stück beginnt! Auch die sog. existentielle Seite des vorsitzenden Richters als Mensch ist damals in prophetischen Worten angesprochen worden. Es hieß dort: Er war sehr verkrampft und angespannt, und seine Gesundheit ist nicht besser geworden. Nach dem letzten Prozeß mußte er Urlaub nehmen. Er fiel häufig aus der Rolle und brüllte. Man mußte öfter zurückbrüllen, das half auch, das hilft immer bei solchen Leuten! b) Wenige Funktionäre des Staates haben dessen Zustand erkannt, die anderen verdrängen ihn. Sie beschäftigen sich lieber mit einigen seiner Symptome, die sie durch gesetzgeberische Maßnahmen (B XVII) zu bekämpfen suchen. Damit verwalten sie die Krise, anstatt sie zu beheben. Sie sollten sich lieber mit den staatlichen Werten und den ihnen entsprechenden Tugenden befassen. Sonst müssen sie sich den BedenkSatz vorhalten lassen: Wer die Misere nicht wahrhaben will, macht es sich unnötig leicht22 • c) Andere Funktionäre, auf die Krise angesprochen, bedienen sich des quantitativen Arguments im Jargon der Berufspolitiker. Tausend Gerichtssitzungen, so sagen sie, "gehen glatt über die Bühne"23. Vor der "Dramatisierung"23 der übrigen "warnen sie eindringlich"23. Wer sie "hochspiele"23, argumentiere "emotional"23 und "leiste dem Rechtsstaat einen schlechten Dienst"23. Sie verkennen die ansteckende Wirkung des Negativen. Will man die heutige Wirklichkeit des quantitativen Arguments feststellen, dann wird freilich von den Richtern, auch von ihrer Aporie mit Hilflosigkeit und Angst, noch gelten, was Dahs24 im Jahre 1959 sagte: "Es gibt gute und schlechte Richter, erfahrene und unerfahrene, schnelle und langsame, eifrige' und phlegmatische, bescheidene und selbstbewußte, kluge und weniger kluge. Es gibt auch eingebildete und dünkelhafte Richter". Er hätte auch sagen können: es gibt tugendhafte 21 Langhans (ohne Seitenzahlen); Sarstedt, JZ 1969, 152, hat die Dokumentation als lehrreich empfohlen. 22 Bedenk-Sätze von H. Lamprecht in FAZ vom 27. 12. 1975. 23 Aus dem Arsenal der Sprachregelungen, wenn berufliche Funktionäre über den Staat reden, aber ihren Posten nicht missen wollen. 24 Dahs, AnwBl 1959, 10.

11. Sitzungskritik und Urteilsschelte

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und lasterhafte Richter, ein Bild, wie es wohl zu allen Zeiten für alle Berufsgruppen gilt. Ebenso wahr ist allerdings, daß jeder Richter der Staat ist und, als Kranker, in der Krise die Gesunden ansteckt. Zum quantitativen Topos gehört freilich auch der Gedanke einer Richterhypertrophie, einer Schwester der Gesetzeshypertrophie, der wir entgegensehen. Wir sind nämlich "möglicherweise auf dem Weg in eine Gesellschaft, die überrannt wird von Horden von Rechtsanwälten und von Brigaden von Richtern, in Zahlen und Größenordnungen, an die man früher niemals gedacht hat." 24a Die apokalyptische Vision der anstürmenden Horden und Brigaden läßt an die unvermeidlichen Laster (B XI) denken, die mit solchen Katastrophen verbunden zu sein pflegen, denn sie sind menschlich. Man darf hoffen, denn auch das ist glücklicherweise menschlich, daß die Tugenden, nach denen die vom Ansturm überrannten schreien werden, nicht ausbleiben. 11. Sitzungskritik und Urteilsschelte Ein hoher Richter mit großer Erfahrung hat in einem Gespräch gemeint, ein guter Vorsitz und ein schlechtes Urteil seien besser, als ein schlechter Vorsitz und ein gutes Urteil. Das ist überspitzt ausgedrückt: der Staat und seine Bürger wünschen sich freilich eine gute Verhandlung mit einem guten Vorsitz und einem guten Urteil. Aber es ist doch des Nachdenkens wert. Daß ein Urteil unrichtig, falsch oder "schlecht" ist, läßt sich in aller Regel erst nach Anhören und Bedenken seiner Gründe, auch der schriftlichen, erkennen. Wenn dagegen die Ordnung der Sitzung (§ 176 GVG) zur Unordnung wird, ist die Wirkung eine unmittelbare und augenfällige, allen Bürgern nachhaltig ins Bewußtsein tretende. Sie betrifft sowohl den Einzelfall, weil die Ordnung des § 176 GVG dessen unverzichtbare Wahrheits-Ordnung (B IV) ist, als auch den Staat als Ganzes. Jeder Akt der Verhandlungsführung, jede Handlung oder Unterlassung des vorsitzenden Richters, jede Geste und jedes Wort, jede Hast und Unbesonnenheit, jede Klugheit und Torheit, alles das ist der Staat in seiner Unmittelbarkeit und alles wird von seinen Bürgern so gewürdigt. Ist der vorsitzende Richter "verunsichert", so wankt sein Staat mit ihm. Bleibt er unerschüttert, seiner Tugenden bewußt, so 24a Benda, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, in einer Ansprache aus Anlaß des hundertjährigen Bestehens der Rechtsanwaltskammer Karlsruhe am 9. Dezember 1979; FAZ vom 10. 12. 1979.

2 Scheuerle

A. Allgemeines

18

zeigt der Staat, daß seine Bezeichnung mit stare zu tun hat: stehen und nicht fallen. So gesehen, enthält die überspitzte Meinung jenes Richters einen richtigen Kern. Man kann seinen Gedanken auch so ausdrücken, daß man sagt: Recht muß auch wie Recht aussehen. Damit ist keine falsche Etikettierung des Unrechts gemeint, sondern der Gedanke, daß jede Gerichtssitzung mit ihrem Recht eine öffentliche Veranstaltung ist; sie ist für das Staatsvolk bestimmt, ihr Recht muß auch für jedermann als solches erkennbar sein. Recht aber ist Ordnung, "Rechtsordnung", nicht Unordnung. So mag also ein vorsitzender Richter, in dessen Sitzung keine Ordnung herrscht, elf Tage nach Schluß der Verhandlung ein annehmbares Urteil verkünden (§ 268 II 2 StPO) oder fünf Wochen nach der Verkündung zu den Akten bringen (§ 275 I 2 StPO), seine Leistung ist im Bewußtsein der Bürger geschmälert. Die ordnungslose Sitzung hat sich ihrer Erinnerung eingeprägt, durch ein späteres "ordentliches" Urteil kann sie nicht gelöscht werden. Das ist der Grund, warum die gegenwärtige Krise weniger durch "schlechte" Urteile in der Sache gekennzeichnet wird, als durch Mängel in der Aufrechterhaltung der Ordnung der Sitzung (§ 176 GVG). Die damit gegebene Unterscheidung zwischen Verhandlung und Spruch entspricht nach den Erfahrungen eines Strafverteidigers25 auch der Meinung des Angeklagten, von dem man sie weniger erwartet: . "Merkwürdigerweise spielt die sachliche Gründlichkeit und überlegenheit des Richters in den Augen des Angeklagten nicht die entscheidende Rolle. Entscheidend für die positive oder negative Einstellung des Angeklagten zum Richter ist dessen äußere Haltung, die Form, die Art und Weise, in der er dem Angeklagten gegenübertritt und seines Amtes als Richter waltet". III. Die Aporie des vorsitzenden Richters und die Tugenden 1. Als Friesenhahn (A I) die Aporie des Richters unserer Zeit beschrieb, meinte er den Richter schlechthin. Im gegenwärtigen Zusammenhang kommt es auf die Aporie des vorsitzenden Richters an. Wie läßt sie sich kennzeichnen? Vorsitzender Richter im Sinne dieser überlegungen ist, wer tatsächlich Vorsitzender ist; Träger der entsprechenden Amtsbezeichnung (§ 19a DRiG) muß er nicht sein. Entscheidend ist allein, daß er überhaupt, ob gut oder schlecht, eine Sitzung nach § 176 GVG leitet. Dann ist er der "Vorsitzende" im Sinne dieser überlegungen. 25

Ackermann, DRiZ 1958, 331 (Hervorhebungen von mir).

IH. Die Aporie des vorsitzenden Richters und die Tugenden

19

2. Richten ist Auslegen und Anwenden geltenden Rechts. Wenn der vorsitzende Richter die Sitzung leitet, wendet er das Recht der Sitzungspolizei26 an27 , wie es im Vierzehnten Titel des GVG enthalten ist. Mit ihm berühren sich mitunter die Vorschriften der sog. materiellen Sachleitung, zum Beispiel der §§ 136 ff. ZPO, 231 ff. StPO. Die gegenwärtigen Betrachtungen beschränken sich auf das Gebiet der Sitzungspolizei28 • Die hier interessierende Aporie des einer Verhandlung vorsitzenden Richters betrifft also die Rechtsnormen der Sitzungspolizei. Worin besteht sie? Im Recht der Sitzungspolizei spielen Kann-Vorschriften eine Rolle: §§ 171, 171a, 172,173,174,175,177,178 GVG. Die Träger des Könnens, der Vorsitzende und das Gericht (§§ 177 Satz 2,17811 GVG), sind Inhaber staatlicher Gewalt, die sie ausüben "können". Dabei sind sie nicht frei, sondern sie handeln nach pflichtgemäßem Ermessen; sie lassen sich von vorgegebenen Werten, den "Pflichten" des Ermessens, leiten. Wenn diese nicht mehr gegenwärtig, sondern vergessen, verschüttet oder (und) bezweifelt sind, herrscht Aporie. Durch die Besinnung auf die richterlichen Tugenden mit ihren Werten (A VIII) und Pflichten (A IX) oder durch die Entdeckung (A VII) neuer Tugenden (mit neuen Werten und Pflichten) läßt sich nach einer These (A I) der gegenwärtigen überlegungen die Aporie beheben. 3. Wie durch ihre Kann-Vollmachten, so werden die Rechtsnormen der Sitzungspolizei durch unbestimmte und Ermessensbegriffe29 , Wertbegriffe 3O, Ordnungs- und Phänomenbegriffe30 und Generalklauseln31 gesteuert: Gefährdung, Staatssicherheit, öffentliche Ordnung, Sittlichkeit, schutz würdige Interessen (§ 172 GVG); angemessen, erhebliche 26 Der schlechte Ausdruck kommt von seinem französischen Vorbild. Das Gesetz verwendet ihn nur in der überschrift des Vierzehnten Titels des GVG. In Lehre und Rechtsprechung ist er eingebürgert und sollte beibehalten werden. 27 Auf die Frage, ob der vorsitzende Richter die Norm des § 176 GVG im rechtslogischen Sinne "anwendet", wenn er, ohne an sie zu denken, einfach Ordnung hält, gehe ich hier nicht ein. Dazu Engisch, Spiel, S. 46; Scheuerle, Rechtsanwendung, S. 21. 28 Fragen der Abgrenzung von Sitzungspolizei und Sachleitung können in der Staatskrise Aktualität gewinnen; dazu die (unzutreffende) Polemik in Spiegel vom 31. 1. 1977, S. 65 über eine Tonbandbenutzung. Sie sind für die gegenwärtigen überlegungen ebensowenig von Bedeutung, wie die (wichtige) Frage, ob der Vorsitzende des Strafprozesses oder der Innenminister für Kontrollen im Untersuchungsgefängnis zuständig ist; dazu ("Kontrollen in Stammheim eingehend F AZ vom 18. 1. 1978. 29 Engisch, Die Gerechten, S. 108 ff. 30 H. Coing, S. 271 ff. 31 Engisch, Die Gerechten, S. 118 f. U

)

20

A.

Allgemeines

Störung, Ordnung (§ 173 GVG); Würde des Gerichts (§ 175 GVG); Aufrechterhaltung, Ordnung (§ 176 GVG); zu bestimmende Zeit (§ 177 GVG); Ungebühr, "bis zu" zweitausend Deutsche Mark (§ 178 GVG). Alle genannten Begriffe verweisen wiederum auf Werte, weshalb es für den gegenwärtigen Zusammenhang ohne Bedeutung ist, welchen der genannten Begriffsarten sie unterfallen. Alle werden sie auch wiederum durch pflichtgemäßes Ermessen und damit durch Verwirklichung der ihnen vorgegebenen Werte und ihrer Pflichten angewendet. Wiederum bedarf der vorsitzende Richter bestimmter Tugenden, wenn er den rechten Weg beschreiten und keiner Weglosigkeit, Aporie, verfallen will. Von besonderem Gewicht und erheblicher Problematik sind dabei die Begriffe der Aufrechterhaltung der Ordnung (§ 176 GVG), der Würde des Gerichts (§ 175) und der (Un-)Gebühr (§ 178). Alle haben sie eine Rechtsprechung hervorgebracht, die die Aporie der Krise widerspiegelt. Die beiden letzteren Begriffe erweisen sich bei näherem Zusehen als rhetorische Varianten des ersteren (B IV). Dieser allerdings, der Begriff der (Aufrechterhaltung der) Ordnung (in der Sitzung) ist der zentrale Punkt der Sitzungspolizei. Von ihm sind daher die gegenwärtigen Gedanken ausgegangen (A I); an ihm orientieren sie sich in der Folge. Kommt es also bei der Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung

(§ 176 GVG) nach der hier vertretenen These auf die Tugenden des

Vorsitzenden an, so kann ihn, um ein Beispiel zu nennen, die Tugend der (höflichen) Umgangsformen (B IX) daran hindern, daß er selber durch schlechtes Betragen jene Ordnung stört. Die Tugend der Gerechtigkeit (B II) kann ihn davon abhalten, der Anklage Befugnisse zu geben, zum Beispiel der Mikrophonbenutzung, die er der Verteidigung versagt: die Ordnung des § 176 GVG ist nicht nur eine höfliche, sondern auch eine gerechte Ordnung. Die Staatstugend (B I) kann ihm befehlen, einzugreifen, auch wenn ihn ein Fall der Unordnung persönlich nicht "stört", die Tugend der Selbstbeherrschung (B X) ihm nahelegen, nicht aus der Fassung zu geraten, auch wenn plötzlich schwere Angriffe gegen die Ordnung gerichtet werden usw.

IV. Tugend und Tugendwirklichkeit Wort und Gegenstand der Tugend sind in unseren Tagen fast unbekannt, die Jüngeren haben davon kaum gehört; Verwunderung, Lächeln oder Lachen32 mag sie überkommen, wenn davon die Rede ist. 32

Dazu schon Hartmann, S.418.

IV. Tugend und Tugendwirklichkeit

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Man muß daher den Bürgern der Krise die Tugenden vorstellen, wie wenn es sich um Neuigkeiten handelte. Auch die Richter sind Menschen dieser Zeit, viele daher in einer ähnlichen Lage. Sie mögen verzeihen, wenn man ihnen von Tugenden berichtet, noch dazu von ihren eigenen. 1. Richterliche Tugenden sind Gruppentugenden. Bevor man sich mit ihnen befaßt, sollte man die Tugenden schlechthin betrachten, die allgemeinen oder Bürgertugenden. Auch die Richter sind Bürger und, so darf der Staat hoffen, nicht die schlechtesten. Zwischen ihren Gruppentugenden und den Bürgertugenden besteht, wie die Besprechung der einzelnen Tugenden zeigen wird, ein Zusammenhang.

2. Tugend kommt von taugen und tüchtig und meint ursprünglich eine Eigenschaft, durch die eine Person oder Sache33 zu etwas nutze34 ist. Eine Redeweise in Theologie, Philosophie und Alltag hat das Wort dem sittlichen Verhalten zugeordnet und zur Übersetzung der griechischen arete und der lateinischen virtus verwandt. So wird es wenn je, auch heute noch verstanden. 3. Was ist, genauer, die Tugend, wie man sie dem (vorsitzenden) Richter empfehlen kann?35 Die Tugenden sind Vorzüge sittlicher Art, Kräfte, die, wie gesagt, zu etwas taugen, in unserem Falle zur Aufrechterhaltung einer Ordnung.

Welche sittlichen Vorzüge und Kräfte die Tugenden gewähren, ersieht man aus den einzelnen Tugenden der Tugendkataloge (A V), zum Beispiel der Staatstugend (B I), der Besonnenheit (B VII), den Umgangsformen (B IX) usw. Die Tugenden meinen eine gewisse Beständigkeit im Verhalten der Menschen; Aristoteles bezeichnet sie als Hexis, die Scholastiker als Habitus. Sie prägen den Stil, das Leitbild (A XV), dem der einzelne folgt, seinen Charakter. Wer freilich Tugenden empfiehlt, spricht nicht nur vom Generellen des Leitbildes. Er befaßt sich mit Einzelakten, zum Beispiel denen des vorsitzenden Richters. An ihnen zeigt er die (vielleicht verfehlten) Tugenden und rät zu jener Beständigkeit, die die Tugend ausmacht. Daß nicht alle Tugenden die gleiche Beständigkeit fordern, ergibt sich, wenn man ihre Veranlassungen vergleicht. So wird die Tapferkeit, jene wichtige Tugend des Richters der Staatskrise (B VIII), nicht "beständig" geübt, sondern nur, wenn ein Angriff ihrer bedarf. Die Bescheidenheit 33 Wagner (Götterdämmerung, 2. Aufzug) über den Tarnhelm: "Durch des Geschmeides Tugend wünscht' ich mich schnell hierher"; im Französischen über den Schlüssel: la vertu aperitive d'une elef. 34 Nützlichkeit durch Können meint der Begriff des Virtuosen (von virtus), der nicht auf die Musik beschränkt ist: in Mainzer Allgemeine Zeitung vom 11. 8. 1976 wird ein Rechtslehrer als Virtuose des Rechts gefeiert. 3S Zum folgenden Trillhaas, S. 165 ff.

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A. Allgemeines

(B XII), die Distanz (B XIII), die Umgangsformen (B IX) hingegen werden erst dann recht zur Geltung kommen, wenn sie "in Permanenz" wirken. Vermöge ihrer Richtung auf eine Beständigkeit, die auch der Tapferkeit nicht fehlt, sind die Tugenden der Boden, aus dem die einzelnen Akte des menschlichen Verhaltens wachsen! Daraus ergibt sich jene Zuverlässigkeit, auf die jemand vertrauen darf, der, wie der Bauer, einen Boden pflegt: die Hoffnung auf konstantes Wachsen beruht auf solcher "Kultur". So wird die Tugend zur Basis sittlicher Handlungen. Als solche hat sie etwas Naturhaftes an sich. Der Tugendhafte handelt "gleichsam spielend"; denn er spielt seinen Stil, lebt seinen Charakter. Das muß keinen Dispens von einer sittlichen Entscheidung im Einzelfalle bedeuten. Sie wird aber gleichsam eine Stufe zurückverlegt, in das Innere der Person, in das Grundsätzliche, Allgemeine, aus dem das Besondere des Einzelfalles geschöpft werden kann. Der Vergleich mit den Rechtsgrundsätzen und Rechtsnormen und ihrer Anwendung drängt sich auf (A XIV). Im Bereich der .sittlichen Entscheidung des Vorsitzenden sind die Tugendkonkurrenzen (A XIII) zu beachten, denen er sich gegenüber sehen kann. Die Hilfe, die ihm seine Tugenden gewähren, bleibt gleichwohl groß; gegenüber dem Tugendlosen ist er ein König der hohen Werte! Die Natur der Tugend als Habitus verbietet ihre prononcierte Zurschaustellung. Wer sie übt und damit ihres Stiles teilhaftig geworden ist, kann sie als solche vergessen. Darum wird ein tugendhafter Vorsitzender seine Tugenden in der Sitzung nicht bereden, sie nicht einmal als solche hervorkehren. Er wird sie vielmehr schlicht üben. Die dazu im Einzelfall vielleicht nötige sittliche Entscheidung wird er in seinem Innern austragen. Freilich, bekennen wird er seine Tugenden. Bekennermut verlangen auch Tugenden intimer Natur: die Besonnenheit (B VII), die Gelassenheit (B XI), die Bescheidenheit (B XII), die Distanz (A XIII) des Vorsitzenden kann man sehen, wenn man den rechten Blick dafür hat. Die aufzuwendende Tugendenergie (A IX) schreibt ihm vor, wie groß sein Bekennertum im einzelnen Fall zu sein hat. 4. Die heutige (allgemeine) Tugendwirklichkeit sieht düster aus. Von klassischen Lobpreisungen36 ist nichts mehr zu spüren. Das Wort Tugend ist fast außer Gebrauch, der Gegenstand Tugend wenig gefragt. 36 Zum Beispiel die berühmte des Alkuin: Animi habitus, naturae decus, vitae ratio, morum pietas, cultus divinitatis, honor hominis, aeternae beati-

IV. Tugend und Tugendwirklichkeit

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Die Kirche, durch ihre Geschichte als Tugendlehrerin ausgewiesen, ist dem Verfall nicht entgegengetreten. So "verschwindet auf dem Felde der evangelischen Ethik die Tugendlehre seit der Jahrhundertwende so radikal, daß in neueren Hand- und Lehrbüchern nicht einmal der Begriff, oder der Begriff nur noch, um abgewehrt zu werden, auftaucht,m. über das Schicksal des Wortes Tugend im außerkirchlichen Felde hat Valery38 im Jahre 1934 in seiner berühmten Rede vor der Französischen Akademie berichtet. Das Wort Tugend (vertu), so sagte er, sei tot oder im Sterben. Es gebe auch keine Zeitung, die es zu drucken wage, ohne sich darüber lustig zu machen, allenfalls im ironischen Sinne werde es verwendet. Das zeigt auch der sonstige philosophische Sprachgebrauch39 , zu dessen altem Bestand Begriff und Wort gehören. Ein Autor'"l setzt "den verstaubt klingenden Begriff" in Anführungszeichen. Ein anderer41 hält zwar die Sache (der Tugend) für "etwas Lebendiges und Schönes", wünscht sich dafür aber ein anderes Wort, wenn unsere Sprache es hätte; denn es berührt uns "fremd, vielleicht sogar unsympathisch", es klingt "leicht altmodisch" und "moraHsch". Auch zum Lächerlichen besteht eine nicht mehr neue Beziehung. Im Jahre 1952 hatte der Bundesgerichtshof die Frage zu entscheiden, ob das Abschneiden der Kopfhaare eine legale Maßnahme der Erziehung sei: Eltern hatten ihrer sechzehnjährigen Tochter "das Haar gewaltsam und bewußt scheußlich geschnitten, um sie lächerlich zu machen und dadurch auf den Pfad der Tugend zurückzuführen"42. Jene Eltern konnten sich, was die Lächerlichkeit betrifft, auf vielgelesene Literatur berufen. In Karl Ettlingers Roman mit dem Titel "Fräulein Tugendschön, die edle Gouvernante" wird die HeIdin schon durch zwei eindrucksvolle Namen gekennzeichnet: Amalie Kniebelbein einerseits und Fräulein Tugendschön andererseits. Von ihrer Erscheinung heißt es: "Sie war nicht eigentlich schön; sie hatte einen Buckel und schielte. Andererseits tudinis meritum (Alkuin, De virtutibus et vitiis, Liber ad Widonem comitem, XXXX, bei Migne, Patrologiae Cursus Completus, 1863). Man hört Plotin heraus, der die Tugend als Verähnlichung (homoiosis) mit Gott gepriesen hatte (Enneaden I 2). 37 Trillhaas, S. 161 mit eindrucksvollen Belegen. 38 P. Valery, Variete IV (Gallimard) 1938, S. 157 ff. 39 Zur (französischen) Situation nach dem Zweiten Weltkrieg zum Beispiel Lalande, Vocabulaire de la Philosophie 1956 (vertu): wenn man von Tugend redet, sagt man ce qu'on appelle vertu, und gebraucht damit eine Formel rappellant cette demidesuetude. 40 Behrendt, Futurum 1968, 23 f. 41 Guardini, S. 12. 42 Gerhardt in FAZ vom 13. 11. 1976 in Erinnerung an BGH NJW 1952,1440.

A. Allgemeines

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hinkte sie. Aber ihr Herz hatte keinen von diesen Fehlern". Das kommt von der "Tugendschönheit", die der körperlichen Schönheit nicht gewogen ist, wenigstens nicht nach jenem Roman. Die Abwertung der Tugend hat auch mit ihrer Beanspruchung für die Sexualmoral zu tun. Zusammen mit dieser ist sie untergegangen. Den Untergang erkennt man am Theater, jener ursprünglich "moralischen" Anstalt. Hier herrscht "in peinlicher übertreibung das Obszöne und Perverse"43. Die Erscheinung wird viel besprochen, man redet vom sog. kranken Theater44 , dessen schwindende Besucherzahlen eine gewisse Hoffnung bedeuten. Wiederum ist die Lage, wie in Krisen üblich, bereits verfestigt. Über "euphorisierenden Massenstriptease" , "heterosexuelle Bauchtanzparade" und Ähnliches herrschen "Jubel und große Begeisterung" in einem Opernhaus. Die Presse ist gleicher Meinung. 45 In ähnlicher Lage ist das Fernsehen, das jeden Haushalt mit der Krankheit versorgt.46 Hin und wieder gibt es einen "Wächterruf gegen sittlichen Dammbruch"47, der im Strudel der Kloake untergeht. 5. Wenn das verpönte Wort Tugend doch einmal gebraucht wird, muß man prüfen, wie es gemeint ist. So kann die Rede sein von der "Politiker-Tugend, sein Licht um keinen Preis unter den Scheffel zu stellen"48; im ethischen Reich bewegt man sich damit nicht. Ebensowenig, wenn sich eine GmbH "auf dem Tugendpfad des Erfolgs befindet"49. Daß die Narren am liebsten von der Weisheit reden und die Schurken von der TugendSO, ist in manchen Zusammenhängen zu bedenken.

Plötzlich aber, man glaubt es kaum, erlaubt der Zeitgeist Ausnahmen, die Rede nämlich von richtigen Tugenden, sogar von richterlichen, inspiriert von der Angst der Aporie CA 111). So kann ein Blatt sagen51 : "Schon der erste Tag des spektakulären Prozesses hat gezeigt, wie schmal der Grat ist, auf dem die Richter eines Rechtsstaates bei dessen Verteidigung zu balancieren haben. Kaltblütigkeit52 gehört zu solchen Tat vom 27. 10. 1976, dazu FAZ vom 28. 10. 1976. FAZ vom 11. 12. 1979 (unter Bezug auf andere Blätter). 45 F AZ vom 19. 12. 1979. 46 Humbert Frick in FAZ vom 14. 8. 1979 ("Skandal im Club 2" des ORF); Süddeutsche Zeitung vom 24.1.1980 über die Jugendsendung "Radiothek"; desgl. Welt vom 24. 1. 1980 und F AZ vom 25. 1. 1980. 47 FAZ vom 22.10.1979 über eine Verlautbarung der Konferenz der bekennenden evangelischen Gemeinschaften. 48 Fromme in FAZ vom 27.2. 1976. 49 FAZ vom 4. 3.1977. so Paul Ernst, S. 71. 51 Süddeutsche Zeitung vom 22. 5. 1975. 52 Das könnte die Selbstbeherrschung (B X) oder die Gelassenheit (B XI) sein. 43

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IV. Tugend und Tugendwirklichkeit

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Gratwanderungen, Weitsicht 53 , auch der unbedingte Vorsatz54 , kurzfristiger Vorteile wegen nun nicht selbst diese Spielregeln55 außer Acht zu lassen. Aber es wird ja noch genug Zeit sein, diese Tugenden zu demonstrieren" . 6. Eine gute Charakteristik der Lage der Tugenden liefert ihre Ehrung dort, wo sie seit Menschengedenken bei allen Völkern eine zentrale Rolle spielen, in der Verteidigung des Staates. Für die Richter ist ein Blick dorthin lehrreich, denn auch sie sind der Staat. Wie die Dinge zur Zeit liegen, erfährt man vom Fachmann56 : "Es wird wieder über die Innere Führung der Bundeswehr diskutiert. Innere Führung, was ist das? Der Begriff ist unglücklich. Doch er wird seit einem Vierteljahrhundert im militärischen Fachjargon verwendet. Zeitweilig auch geistige Rüstung genannt oder als inneres Gefüge bezeichnet, meint man damit das, was Clausewitz als die moralischen Größen der Armee deutete. Man kann auch von den Tugenden sprechen, die einen Truppenkörper bewegen sollten, Kameradschaft, Partnerschaft, Selbstzucht, Gehorsam und Opferbereitschaft, das alles soll mit erzieherischen Mitteln die Innere Führung wecken, fördern, bewirken." Man ersieht daraus mehrerlei. Das Wort Tugend ist der inneren Führung, der geistigen Rüstung und dem inneren Gefüge gewichen; der Staat wagt es nicht auszusprechen. Gleichwohl ist die Sache notwendig. Ein richtiger Tugendkatalog (A V), liegt nahe und redet, kaum glaublich, von richtigen Tugenden. Man weiß sogar, welche alten Tugenden dazu gehören. Gibt es eine derart ketzerische 57 Wiedergeburt (A VII) auch für richterliche Tugenden, eine "innere Führung" der Richterschaft? 7. Das Sterben des Wortes Tugend ist natürlich keine gute Vorbedeutung für die Sache. Wohl gibt es jeden Tag unzählbare Gesinnungen und Handlungen, die als tugendhafte, auch im besten Sinne, gelten können; das ist nicht erstaunlich, die Tugenden sind ja unentbehrliche Bestandteile jeder Ordnung58 • Allein, es fehlt an ihrer Pflege (A XVI), daher sind sie im Schwinden begriffen. So kommt es, daß die Kriminalität schnell ansteigp9; sie ist ja das statistisch faßbare Laster, das Gegenteil der Tugend (A XI). Die Autoren von Kriminalgeschichten haben daraus die moralischen Konsequenzen gezogen: pflegten sie früher die Vielleicht ist hier die (Sitzungs-)Klugheit (B VI) gemeint. Dieser wichtige und interessante Vorsatz könnte in die Bezirke der (seltenen) Weisheit (B V) vorstoßen. 55 "Spielregel" ist ein beliebter Ersatz für das Wort Tugend. 56 A. Weinstein in FAZ vom 15. 8. 1979. 57 Der Titel Weinsteins lautet: Ketzerisches über die Innere Führung. 58 Behrendt, Futurum 1968, 46. 59 über einige Steigerungsraten nach amtlicher Statistik zum Beispiel F AZ vom 24. 10. 1977; noch drastischer vom 19. 9. 1978. 53

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A. Allgemeines

Tugenden hochzuhalten und der Moral den Sieg zu gewähren, so "scheint sich nun so etwas wie eine neue Moral herauszubilden, die dem Gangster immer öfter sein happyend gönnt und dabei durchaus auf die Wirklichkeit verweisen kann"60. Die Typologie der Idole und Helden betritt damit ein Gelände, in welchem die Tugend (nach Wort und Sache) selten wird. 8. Die "Lage der Nation" ist daher, was ihr Ethos angeht, ungünstig. Die Presse61 spricht von den Deutschen als von einem Volk von Dieben: "Prominente, Playboys, Penner; Greise, Kinder, Frauen, Männer"62 geben sich dem Ladendiebstahl hin. Wie wird es sich dort verhalten, wo die Objekte lohnender, die Dunkelziffern steigender (und die "Erfolgsstatistiken" der Verbrechensbekämpfer "ungünstiger") sind? Auch ein Volk von Gangstern sind die Deutschen geworden, da immer mehr Fahrer nach einem von ihnen verursachten Unfall die Flucht ergreifen63 . Im Reiche der Gewaltkriminalität, dem Lieblingsthema des Fernsehens und seiner Zuschauer, sind die Amerikaner mit ständig steigenden "Verbrechensraten" führend 64 • Ein ahnungsloser Sprecher des FBI findet dafür "keine klaren Gründe als Erklärung"; daher macht er, wohl bestärkt durch die erfahrungslosen PseudowissenschaftIer der Krise65 , allen Ernstes "die Wetterbedingungen der ersten drei Monate dieses Jahres" verantwortlich. Die Deutschen werden hier in sicherlich noch tiefer schürfenden "Analysen" folgen. Sie täten besser daran, sich der nötigen Tugenden zu erinnern. 9. Allerlei Stimmen sprechen freilich, wie in Krisen üblich, von einer "Umkehr" oder "Erneuerung". Man registriert einen Tugendbedarf der Jugend mit Fasten, Askese und totalem Gehorsam gegenüber "Tugendmeistern"66. Die Erfahrung rät zum Abwarten, solange ein Parteivorsitzender die Wahl verliert, weil er seinem Wählervolk "recht hausbackene und traditionelle Argumente" geboten hat, aus Zeiten nämlich, "wo die Untertanen bieder, fromm und brav ihr Leben auf dem Pfade der Tugend führten"67. Mag er es das nächste Mal mit dem Pfade des Lasters versuchen, also zeitgemäßer argumentieren und die Wahl gewinnen68 !

60 J. Schmidt in FAZ vom 28. 6. 1977 ("Unrecht gedeiht, Verbrechen zahlt sich aus"). 61 F. Wassner in FAZ vom 13.11. 1979. 62 So sagt ein Gedicht (der Dichter und Denker). 63 Dpa vom 9. 1. 1980 in F AZ vom 10. 1. 1980. 64 AP vom 11. 7. 1979 in FAZ vom 12. 7. 1979. 65 Die amerikanische und die deutsche Krise sind wesensgleich (dazu AXVII). 66 Mainzer Allgemeine Zeitung vom 8. 6. 1976; siehe auch Bergedorfer Gesprächskreis 1979, Protokoll Nr. 63; FAZ (Tugendpfad) vom 13.9.1979. 67 Stolp in FAZ vom 2. 11. 1976. 68 Eine Kennzeichnung der "westlichen" Lage insgesamt gibt A. J. Solsche-

v.

Tugendkataloge

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10. Die richterliche Tugendwirklichkeit ergibt sich aus den aktuellen Beispielen, von denen die gegenwärtigen Gedanken jeweils ausgehen. Das sog. quantitative Argument (A I) ist dabei zu berücksichtigen und zu bedenken, daß es wenig gegen die Krise besagt. V. Tugendkataloge

1. Da die Gegenstände der Tugenden spezielle sittliche Werte sind, erhält man von jenen die rechte Vorstellung erst, wenn man diese kennt. Dann vergegenwärtigt man sich (oder: definiert man) die Tugend durch Beispiele69 , etwa: (eine) Tugend ist zum Beispiel die Gerechtigkeit.

Tugenden pflegen in den geschichtlich aufweisbaren "Moralen" weniger als einzelne oder einzige (A VI) aufzutreten, denn zu mehreren, als Tugendkataloge. In ihnen werden (allgemeine oder) BÜ7·gertugenden aufgezählt, wie sie für alle Menschen gelten wollen. Sie empfehlen aber auch (spezielle oder) Gruppen tugenden, die für eine Gruppe von Menschen gedacht sind, für eine Klasse, einen Stand, ein Lebensalter usw. Zu den letzteren gehören zum Beispiel die der Christen, Mönche, Priester, Fürsten, Bischöfe10 , Ritterli, Offiziere, Lehrer, Kaufleute. Als solche können sie in das geltende Recht (als Rechtsnormen) übernommen werden, zum Beispiel als "Leitbild" des ordentlichen Kaufmanns in § 347 HGB mit daraus abgeleiteten rechtlichen (Sorgfalts-)Pflichten. Gruppentugenden sind auch die der Richter und, spezieller, der vorsitzenden Richter. Die Bürgertugenden und die Gruppentugenden stehen zueinander in mehr oder weniger engen Beziehungen; diese können aus jenen gespeist, jene von diesen beeinflußt werden. Wer über die Gruppentugenden der (vorsitzenden) Richter nachdenkt, sollte daher die Bürgertugendkataloge im Auge behalten. 2. Die genannten Beziehungen zwischen Bürgertugenden und Gruppentugenden werden bewußt, wenn man den vorsitzenden Richtern folgenden Katalog von vierzehn Tugenden vorschlägt: Staatstugend, nizyn in seiner Rede in der Harvard-Universität zur Schicksals frage, ob sich die Freiheit zur Seite des Bösen neigt, abgedruckt in FAZ vom 14. 7. 1978. 69 Es handelt sich um Fälle der exemplifizierenden Definition (bzw. Interpretation), dazu Scheuerle, AcP 157 (1958), 52 ff. 10 Dazu den Aufruf katholischer Theologen an die Kardinäle vor der Papstwahl; ein Tugendkatalog für "den Papst, den wir brauchen" in F AZ vom 15.8. 1978. 11 Diese sind ein aktueller Forschungs- und Streitgegenstand der Germanistik; dazu G. Eifler (Hrsg.), Ritterliches Tugendsystem, 1971, mit 20 Beiträgen namhafter Gelehrter.

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A. Allgemeines

Gerechtigkeit, Fairness, Ordnung, Weisheit, Klugheit, Besonnenheit, Tapferkeit, Umgangsformen, Selbstbeherrschung, Gelassenheit, Bescheidenheit, Distanz, Maß. Sie sind, wie auf den ersten Blick erkennbar, auch Bürgertugenden. Als Gruppentugenden der Richter empfehlen sie sich diesen in besonderem Maße. Sie sind gefragt, wo Bürger als Richter handeln und ihrer bedürfen. Der Katalog von vierzehn Tugenden ist ein Vorschlag, mit dem sich die (vorsitzenden) Richter als Gruppe, wenn sie wollen, befassen können. Gruppentugenden werden nämlich in den Gruppen und von ihnen "entdeckt" (A VII). Das gilt auch dann, wenn die entdeckten Gruppentugenden dem allgemeinen Ethos der Bürgertugenden entstammen; dann werden sie als Gruppentugenden von (den Mitgliedern) der Gruppe und für diese entdeckt. Da der Katalog nur ein Vorschlag ist, will er nicht erschöpfend sein. Das schöne Wort eines Dichters vom schimmernden Reichtum der Tugendwelt gilt auch für die Gruppentugenden. Ihr Dorado setzt der Entdeckerlust keine Grenzen. Die Zahl hat keinen geheimen Bezug zu den Vierzehn Nothelfern, obwohl die empfohlenen Tugenden wohl als Helfer in der Not geschätzt sein können. Auch ein zahlenmetaphysischer Gesichtspunkt - die sog. glückliche Sieben doppelt genommen - hat bei der Aufstellung jenes Kataloges keine Rolle gespielt. Er verdankt sein Zustandekommen ausschließlich einer Umschau in den Fakten der Krise und der überlegung, wie man sie steuern könnte. Ohne Bedeutung ist auch die Reihenfolge der vorgeschlagenen Tugenden innerhalb des Kataloges; ein Rang, eine Wertung, soll damit nicht ausgedruckt sein. Die geschichtlich überkommenen Tugendlisten zeigen die Schwierigkeiten der Frage72 • Die sog. Enge des Wertblickes73 setzt nicht nur der Gesamtauswahl Grenzen, sondern auch der Rangbestimmung innerhalb der jeweiligen Kataloge. So mögen ein Richter oder seine Gruppe der Gerechtigkeit (B II) oder, nach ihrem Wertgefühl, der Bescheidenheit (B XII), vielleicht auch der Demut (B XII), oder einer anderen Tugend den ersten Platz zuerkennen. Andere mögen dem scholastischen Beispiel folgen, der Klugheit den ersten Rang gewähren, ihr alle anderen Tugenden unter- und nachordnen.74 72 Bollnow, Wesen und Wandel, S.27 hält "das Reich der Tugenden für grundsätzlich unabsehbar und unsystematisierbar". Speziell für die obersten rechtlichen Werte und die auf ihre Verwirklichung gerichteten Tugenden ist Radbruch lehrreich, der seine Meinung über ihre Rangfolge dreimal ausgesprochen bzw. geändert hat, 1914, 1932 und 1946. Dazu Scheuerle, Rechtsanwendung, S. 115. 73 Hartmann, S. 158 ff. 74 Pieper, passim.

V. Tugendkataloge

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Anders kann der zeitliche Rang des Auftritts der Tugenden im einzelnen (sitzungspolizeilichen) Rechtsanwendungsakt zu beurteilen sein. Hier kann es Tugenden geben, denen (zeitliche) Prioritäten zukommen. So kann angesichts einer überraschenden Gewaltaktion gegen den vorsitzenden Richter vielleicht seine Gelassenheit (B XI) den ersten, seine Selbstbeherrschung (B XII) den zweiten, seine Besonnenheit (B VII) den dritten Platz usw. einnehmen, so daß Klugheit (B VI), Gerechtigkeit (B 11) usw. erst später rangieren. 3. Ist also der vorgeschlagene Katalog nur ein Vorschlag und schöpft die ethische Gruppenautonomie der (vorsitzenden) Richter aus Listen (allgemeiner) Bürgertugenden, dann mögen sich die Richter der klassischen, aber auch neuerer Bürgertugenden erinnern, bevor sie die (eigenen) Gruppenangebote prüfen.

Klassische Tugendkataloge sind, um einige Beispiele zu nennen, mit dem Namen Plat075 , Aristoteles76 , Konfuzius 77 , oder mit der Stoa78 und dem Christentum79 verbunden. Auch die Ethik unserer Zeit bietet Tugendkataloge an. Nicolai HartmannsO erkennt die sittlichen Grundwerte des Guten, des Edlen, der Fülle und der Reinheit. Auf ihnen ruhen die besonderen Tugendwerte: Gerechtigkeit; Weisheit; Tapferkeit; Beherrschung; Nächstenliebe; Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit; Zuverlässigkeit und Treue; Vertrauen und Glaube; Bescheidenheit, Demut und Distanz; Werte des äußeren Umgangs; Fernstenliebe; Schenkende Tugend; Persönlichkeit; persönliche Liebe. Christliche Ethiker der Gegenwart wollen die Krise durch Tugendangebote von wachsender Spezialität bewältigen. Buchmans Moralische Aufrüstungs!, seit dem Zweiten Weltkrieg eine viel genannte BewegungS2 , an der sich namhafte Staatsmänner beteiligten, hat die sogenannten Vier Absoluten zu Richtschnuren für die Rettung des Menschen in schwerer Zeit erhoben; Ehrlichkeit, Reinheit, Selbstlosigkeit, Nächstenliebe. Klomps83 kennt VerantSelbstbeherrschung, Weisheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit. Wohlberatenheit, Verständigkeit, Anteilnahme, sittliche Scham, alle als Ergänzungen des Katalogs der Kardinaltugenden seines Lehrers gedacht. 77 Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Observanzen (Ritual), Klugheit, Aufrichtigkeit. 7S Gerechtigkeit, Tapferkeit, Selbstbeherrschung, Menschlichkeit. 79 Glaube, Hoffnung, Liebe als die drei göttlichen Tugenden; Freude, Frieden, Geduld; Freundlichkeit, Treue; dazu Abschnitt A XVII über das Hirtenschreiben der Deutschen Bischöfe vom 22. 9. 1977: Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß. 80 Hartmann, S. 369 ff. SI H. Seiler in Herder Staatslexikon, 6. Aufl., 1960 (Moralische Aufrüstung). 82 P. Howard, Die Kunst, die Menschen zu ändern, 1954; G. Marcei, Hoffnung und Wandel, 1960. 83 Klomps, passim. 75 76

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A. Allgemeines

wortungsbewußtsein, Toleranz, Friedensliebe, Sachlichkeit, Aufgeschlossenheit, Vorurteilslosigkeit, Ehrfurcht, Tapferkeit, Kollegialität, Geselligkeit, Diskretion, Wiedergutmachung, Mitfreude, Freundlichkeit, Gelassenheit, Dankbarkeit, Zuverlässigkeit, Selbstbeherrschung, Geduld, Demut. Guardini84 empfiehlt Wahrhaftigkeit, Annahme, Geduld, Gerechtigkeit, Ehrfurcht, Treue, Absichtslosigkeit, Askese, Mut, Güte, Verstehen, Höflichkeit, Dankbarkeit, Selbstlosigkeit, Sammlung, Schweigen. "Völlig neue Tugenden" (Behrendt)85 kommen ins Gespräch, weil die völlig neue Zeit sie fordert. So verlangt "die El1stmaligkeit der heutigen menschheitsweiten Lebenssituation ... neue Grundtugenden, die schon als solche keinerlei Vorbilder in der Vergangenheit haben und auch gar nicht haben können": Wachsamkeit, zeitgeschichtliches Verständnis, Bereitschaft zur futurologischen Voraussicht, zur globalen Demokratie. Von ihnen werden "neue Spezialtugenden" abgeleitet: Bereitschaft zur ständigen Information, zum lebenslänglichen Lernen, zur ständigen Diskussion über Alternativen, zur Einfühlung in das Denken anderer usw. Daß neue Lagen neue Tugenden fordern, ist nicht neu. Auch nicht, daß solche neuen Tugenden selber nicht neu sind, sondern nur in Erinnerung gerufen werden. So appeliert ein Pölitiker angesichts der Herausforderung durch den sog. Terrorismus an die Tugenden der Pflichterfüllung, Opferbereitschaft, Treue und Sparsamkeit; auch ein anderer "wartet mit einem Tugendkatalog auf: Hinwendung zum anderen, Verantwortung für die Mitmenschen, Redlichkeit des Denkens, Tapferkeit des Herzens, Wille zur Gerechtigkeit, Treue zur Sache, Bereitschaft zu Leistung und Verzicht" 86. Von einem Tugendkatalog handelte auch der XI. Deutsche Kongreß für Philosophie 1975. Obwohl es klassische Tugenden sind, aus denen er besteht, mag er als Beispiel der Tugenderinnerung in der Krise erwähnt werden. Lorenzen87 stellt die alte Frage nach der Begründung praktischen Wissens. Eine Analyse der Sinnrationalität der menschlichen Handlung gibt ihm die Antwort. Es bedarf hiernach der Tugend der Besonnenheit vor dem Tun, damit man nicht nur "emotional" reagiere. Nach dem (besonnenen) Denken kommt es sodann auf die Tugend der Tatkraft an, damit man nach dem besonnen gestalteten Willensinhalt auch handle. Um aber vernünftig zu handeln, "braucht man Guardini, passim. Behrendt, Futurum 1968, 46 ff.; auch Bollnow, Wesen und Wandel, S. 13 ff. 86 FAZ vom 24.10.1977. 87 P. Lorenzen, Das Begründungsproblem praktischen Wissens, in Akten des XI. Deutschen Kongresses für Philosophie 1975. 84

85

V. Tugendkataloge

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die intellektuellen Tugenden der Klugheit und Gerechtigkeit". Von den damit postulierten vier Tugenden gilt: "Diese sollten die Wissenschaften lehren" und "ein sog. Begründungsproblem sollte uns nicht hindern, es zu tun." Die Betrachtung der Tugendzusammenhänge (A VI), der Tugendkonkurrenzen (A XIII) und der einzelnen Tugenden wird die Richtigkeit der Darlegungen von Lorenzen erweisen. Tugendkataloge von großer Sorgfalt bieten die sozialistischen Staaten an, die, anders als die westlichen, ihren Moralkodizes und Tugenden höchste politische Bedeutung beimessen (A XVII). 4. Die in den Katalogen der Bürgertugenden gebotene Auswahl erweist sich somit als groß. Die Gruppenethik der (vorsitzenden) Richter kann sich ihrer in reichem Maße für Kataloge von Richtertugenden bedienen. Die oben vorgeschlagene Liste von vierzehn Tugenden des vorsitzenden Richters zeigt, wie gesagt, die Beziehungen beider Tugendgruppen: alle dort empfohlenen Richtertugenden sind auch (allgemeine) Bürgertugenden, manche gleichwohl geradezu richterliche Berufstugenden, zum Beispiel Gerechtigkeit (B 11), Weisheit (B V), Maß (B XIV). Nun gibt es aber Tugendkataloge, die von Richtern in richterlicher Gruppenautonomie den richterlichen Kollegen vorgeschlagen werden. Nach Schorn88 sind die "Voraussetzungen für das Leitbild, das dem Richter eigen sein muß: Gerechtigkeit und Rechtssinn, Bescheidenheit und Demut, Menschlichkeit und Verantwortungsbewußtsein" . War damit der Richter schlechthin gemeint, so beschreibt Steinbrenner89 das Leitbild des vorsitzenden Richters mit den Eigenschaften "Persönlichkeit9O , Nervenstärke, Schlagfertigkeit, Einfühlungs- und Durchsetzungsvermögen, Humor." Arndt91 zeichnet den vernehmenden Richter, für den folgende Eigenschaften wichtig sind: Selbständigkeit, Charakterstärke, Mut, Selbstbeherrschung, Ruhe, Geduld, Gelassenheit, Klugheit, Geistesgegenwart, Ausdauer, Menschenfreundlichkeit, vor allem ein unerschütterlicher Sinn für Wahrheit und Gerechtigkeit. 5. Es sind nicht nur richterliche Federn, denen richterliche Tugenden entfließen. Die schriftstellerische und journalistische Sorge gilt in zunehmendem Maße einer Beobachtung, Darstellung und Kritik der Justiz, nicht nur ihren Urteilen, sondern auch ihren Sitzungen. Die Richter sind gut beraten, wenn sie solchen Publikationen Aufmerksamkeit schenken. So sind die Werke von Mauz 92 von ihnen offenbar dank88 89

90 91 92

Schorn, S. 1. Steinbrenner, S. 235. Hartmann, S. 509 ff. Arndt, S. 4. Mauz, Die Gerechten; ders., Spiel, passim.

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A. Allgemeines

bar begrüßt worden93 • Inwiefern die Presse sich der Ordnung der Gerichtssitzungen mit ihren Tugenden und Lastern annimmt, ergeben die in den gegenwärtigen Gedanken zitierten Beispiele. 6. Ein richterlicher Tugendkatalog kann sich auch aus der Rechtsprechung ergeben, wo diese sich mit Tugendsanktionen (A XVIII) befaßt. So kann ein Urteil nach § 338 Ziffer 6 StPO (Verletzung der Öffentlichkeit) aufgehoben werden, wenn ein Vorsitzender aus Mangel an Besonnenheit (B VII) oder Gelassenheit (B XI) einen Polizeibeamten aus der Sitzung weist und damit den genannten Grundsatz verletzt. Richterliche Dienstgerichte (§ 26 111 DRiG) können Tugendkataloge ausprägen, die die ordnungsmäßige Ausführung der richterlichen Ausführung der Amtsgeschäfte (§ 2611 DRiG) konkretisieren und zum Beispiel einen Richter maßregeln, der die Tugend der Umgangsformen (B IX) ignoriert. Wo der Begriff des vorsitzenden Richters ein Rechtsbegriff ist, wie zum Beispiel in § 115 GVG, kann sich die Rechtsprechung zu dessen Tugenden äußern und ihn damit definieren. Entsprechend verfährt der Große Senat für Zivilsachen94 und fordert vom Vorsitzenden besondere Gesetzestreue und zusätzliche Gewähr für die Güte und Stetigkeit der Rechtsprechung sowie größere Sachkunde, reifere Erfahrung und bessere Menschenkenntnis, als sie den übrigen Mitgliedern zukommen. Man sieht aus dem Gebrauch der Komparative, daß Tugendstufen, sozusagen Tugendnoten, der richterlichen Tugendautonomie nicht fremd sind. Die täglich fließende Quelle der richterlichen gruppenautonomen Tugendlehre ist aber, soweit die Ordnung der Sitzung in Rede steht, das Recht der Sitzungspolizei. Das gilt vor allem für die sitzungspolizeilichen Akte, die jeder Richter in seiner eigenen Sitzung vollbringt: stets leistet er einen Beitrag zu seinem "Selbstverständnis", entfaltet er eigene Tugenden, enthüllt er eigene Laster und interpretiert damit, gewollt oder ungewollt, richtig oder falsch, die Norm des § 176 GVG. 7. Richterliche Tugenden sind nicht nur der Stoff, aus dem die Rechtsprechung den "ordentlichen" Richter gestaltet, wie sie den ordentlichen Kaufmann nach § 347 HGB formt, sie sind auch eine Materie der Rechtslehre, Rechtsphilosophie, Rechtsethik. So befaßt sich zum Beispiel Schwinge95 mit den "intellektuellen und charakterlichen Voraussetzungen" des Richterberufes, die, wie nicht anders zu erwarten, zu einem eindrucksvollen Tugendkatalog geraten. Man hört von Fähigkeiten zur 93 94

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Seibert, JZ 1970, 543. BGHZ 37,210. Schwinge, Der Jurist, passim.

VI. Einzige Tugend und Tugendzusammenhänge

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Analyse, Beobachtungsgabe, Menschenkenntnis und Einfühlungsvermögen als intellektuellen Tugenden. Ein reicher Katalog von Charaktereigenschaften nennt Mannesmut und Zivilcourage, Selbstdisziplin, natürliche Würde, Entschlußkraft, Mäßigung, vornehme Zurückhaltung, Fehlen von Eitelkeit und Geltungsbedürfnis usw.

VI. Einzige Tugend und Tugendzusammenhänge Soll man den Vorsitzenden, statt eines Tugendkataloges, eine einzige, oberste, beste, eine Schlüssel- oder Haupttugend empfehlen oder besonders empfehlen? Die Griechen haben ihre Tugenden in Katalogen geboten. Plato hat ihre Mehrheit vorausgesetzt, weil er sie verschiedenen Seelenkräften, Seelenteilen und sogar Körperteilen zuordnete. Die Stoa hat gemeint, es bestehe ein stringenter Tugendzusammenhang: wo eine sei, fehlten die anderen nicht; wo eine fehle, gebe es keine anderen. Die christliche Ethik96 nennt unter Hinweis auf Matthaeus 22, 37,40 die Liebe den Inbegriff aller Tugenden und den Glauben ihr Fundament. Der Tugendrnonismus hat den Reiz des Einfachen und Lapidaren. Dichtern steht er aber besser an als Richtern. Poetische Wertung, nicht ethische verlangt daher der Satz von Jouhandeau: "Es gibt nur eine Tugend, die Inbrunst, und eine zweite Tugend, die Diskretion"97. Tugendzusammenhänge sind auch unter dem Gesichtspunkt von Tugendabstammungen besprochen worden. Nach Thomas9B ist die Klugheit eine genetrix virtutum, da es ohne sie weder Gerechtigkeit noch Tapferkeit gibt. Nach Malebranche99 ist die Ordnungsliebe nicht nur die erste (la principale) der Tugenden, sondern auch die grundlegende Muttertugend (vertu-me re fondamentale), die allein die Verhaltensweisen oder Anlagen der Geister (I es habitudes ou les dispositions des esprits) zu tugendhaften macht. Ähnliches hatte Geulincx loo von einer Tugend ausgesagt, die von der Klugheit (Thomas) und Ordnungsliebe (Malebranche) sehr verschieden ist, von der Demut als der inspectio et despectio sui. In unserer Zeit spricht NatorplOl vom "unauflöslichen Zusammenhang sämtlicher Grundtugenden, demzufolge keine ohne die Gründel bei Klomps, S.91. Dazu K. Krolow in FAZ vom 28.7. 1978. 9B Commentum in IV !ibros sententiarius, 3. Buch, Distinctio 33, Quaestio 2, Artikel 5; dazu Pieper, S.40. 99 Oeuvres XI, Traite de Morale II 1, S.28 (Paris 1966). 100 Ethik (Schmitz) 1948, S. 25. 101 Natorp, S. 134. 96

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3 Scheuerle

A. Allgemeines

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andere bestehen kann, jede, je nachdem man es ansieht, jede der anderen zur Voraussetzung hat". Was ist, mit dem Blick auf den vorsitzenden Richter, von solchen Tugendzusammenhängen zu halten? Die Antwort gibt die Dominantenlehre, wie sie zum Beispiel Jankelevitch102 vorgetragen hat. Obwohl in allen Tugenden alle Seelenkräfte vertreten sind, unterscheiden sie sich durch ihre Dominanten, ihre Eigenständigk€it (specificite) und unzurückführbare Verschiedenheit (heterogeneite irreductible) der seelischen Haltungen. Solche Dominanten kennzeichnen andererseits, die forensische Erfahrung zeigt es, die sog. Persönlichkeit (B XV) des einzelnen vorsitzenden Richters und den Stil (B XV) seiner Sitzungsleitung. Er kann sich den besonderen Tugendruhm der Gelassenheit (B XI) erwerben, oder den der Besonnenheit (B VII), der Höflichkeit (B IX) usw. Deshalb fehlen ihm die anderen Tugenden nicht: nur daß eben eine als die vorherrschende (dominante) ihrem Träger das Gepräge gibt. Die damit beschriebene Tugenddominanz ist die Voraussetzung für die Annahme der Tugendmehrheit, wie sie den Tugendkatalogen zugrunde liegt. Sie sollte auch aus anderen Gründen gerade für den forensischen Bereich nicht aufgegeben werden. Die Tugendbegriffe, zum Beispiel der Gerechtigkeit (B 11), der Bescheidenheit (B XII), sind Standardbegriffe und Generalklauseln (A XIV). Es wäre einer Tugendpädagogik (A XVII) abträglich, die ohnehin schwierige Konkretisierung der einzelnen Tugenden noch zu vergrößern. VII. Die "Entdeckung" der Tugenden Wenn es, wie die Tugendkataloge behaupten, Tugenden "gibt", erhebt sich die Frage, wie sie gefunden oder "entdeckt" werden. Da Tugenden auf die Verwirklichung von Werten (A VIII) gerichtet sind, fällt die Frage, jedenfalls weitgehend, mit jener nach der Wertentdeckung zusammen. Das primäre Entdecken der Werte (und damit ihrer Tugenden) geschieht "im sittlichen Leben selbst"103. Es folgt den Strukturen vom "Ideenträger und der Menge", ist also ein massenpsychologisches Phänomen. Der Anteil des Einzelnen, in unserem Zusammenhang des einzelnen Richters, wird erheblich sein. Dieser wird, ohne deshalb eine Figur von politischem Rang oder eine Person der Zeitgeschichte zu sein, zum "ethischen Führer", vielleicht zum namenlosen. 102 Jankelevitch, S. 311. 103 Hartmann, S. 48.

VIII. Tugendwerte

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Die Werte und Tugenden, die er entdeckt, müssen keine völlig neuen lO4 sein. Auch die Wiederentdeckung von Altem kann einem (ethischen) Wunder gleichkommen. Dann ist das Entdeckte relativ neu. Die Schöpferkraft des (Wieder-) Entdeckens besteht damit in der Anwendung von Erinnertem auf neue Konflikte. So kann ein Richter als Ideenträger angesichts der Krise alte Tugenden derart aufleben lassen, daß die "Menge" (der übrigen, oder vieler lO5 , vielleicht auch wenigerlO5 ) ihm folgt. Das meist sekundäre Entdecken leistet die philosophische Ethik. Ihr Beitrag wird nur dann eine originale Leistung sein lO6 , wenn der Philosoph selber Ideenträger und ethischer Führer ist. Sonst wird ihm die Aufgabe der Klärung der Begriffe, ihre Systematisierung und ihr wissenschaftliches Bearbeiten obliegen. Für das Reich der richterlichen Tugenden kommt dieses Amt der Rechtsphilosophie zu. Die Richter selber werden sich hier in ähnlicher Weise auszeichnen können, wie sie es in der juristischen Dogmatik zu tun pflegen. Sie könnten sich vielleicht sogar noch stärker hervortun, weil es dabei um nicht weniger als ihre eigenen Tugenden geht, ihr "Leitbild" (B XV) und ihr Selbstverständnis. Sieht man die Dinge in der dargestellten Weise, als Zusammenwirken primärer und sekundärer Entdeckerleistungen bzw. Hilfen dazu, dann versteht man, wenn vom sittlichen Leben und moralischen Bewußtsein gesagt wird lO7 , daß unter der scheinbar ruhigen Oberfläche die beständige Revolution des Ethos am Werke ist. Jeder Konflikt stellt ihm neue Aufgaben und ruft, mit mehr oder weniger Erfolg, die zu seiner Bewältigung erforderlichen Werte und Tugenden auf den Plan. Man darf hoffen, daß es sich auch in der gegenwärtigen Krise so verhalten wird (B XVIII). VIII. Tugendwerte Welche Werte gewinnt die Rechtsordnung, wenn ihre Richter sich mit Tugenden der vorgeschlagenen Art oder anderen befreunden? Es ist ein mehrfacher Wertaspekt, der sich hier zeigt. 1. Einmal verwirklichen die Tugenden Werte in den tugendgemäßen Handlungen der einzelnen Richter. Die Werte erscheinen dann "auf 104 über die .. völlig neuen Tugenden", die eine völlig neue Zeit fordern kann (Behrendt), siehe Absschnitt A V. 105 Dieses Quantitätsproblem spielt hier keine Rolle. 106 Hartmann, S. 52 ff. 107 Hartmann, S. 48.

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A.

Allgemeines

dem Rücken der tugendhaften Akte"I08. So kommt das Bescheidene als Substrat, als "Materie" und Wert der Tugend der Bescheidenheit CB XII) zum Vorschein, wenn der bescheidene Richter in dieser Sitzung deren Ordnung mit seiner Bescheidenheit gewährleistet. Sein konkretes Handeln ist damit wertgeschätzt. 2. Eben darum ist es auch die Tugend selber als Verhaltensweise, Hexis, Habitus. Man spricht dann vom Wert der Tugend als solcher, zum Beispiel der Bescheidenheit, als des allgemein auf bestimmte Verhältnisse bezogenen Guten lO9 • Solche Werte sind in erster Linie gemeint, wenn man von Tugendwerten redet. An ihnen orientieren und gliedern sich dann auch die gegenwärtigen überlegungen, wie schon ihr Titel zeigt. Tugendwerte dieser Art bereichern die Rechtsordnung in sichtbarer Weise. Ihr beständiges CA IV) Wirken ist ein Teil des unentwegten Einflusses des Ethos auf das Recht, wie er sich in der Redeweise kundgibt, das Recht sei ein ethisches Minimum: zwar noch ein Minimum, aber doch etwas Ethisches. Wie solche Tugendwerte interpretando CA X) in den rechtlichen Ordnungsbegriff der Ordnung des § 176 GVG eingegangen sind, so können sie ihm wieder entnommen werden, wenn es sich in einem konkreten Falle fragt, wie der Richter hier handeln mußte. Die Antwort lautet dann: nach den Tugendwerten, mit denen die Gruppe der Richter, ethisch autonom wie sie ist, jenen Ordnungsbegriff ausgefüllt hat. Hat also, um ein Beispiel anzuführen, der konkrete Richter möglicherweise gegen die Tugend der Umgangsformen CB IX) gefehlt und dadurch die Ordnung seiner eigenen Sitzung gestört, dann muß er sich an dem Tugendwert der Umgangsformen messen lassen, der in den Ordnungsbegriff des § 176 GVG eingegangen ist. Auch an jenen Tugendwerten freilich, die ständig neu in ihn eingehen, denn "die beständige Revolution des Ethos ist am Werk" CHartmann) CA VII): was gestern tugendhaft war, muß es heute nicht mehr sein und umgekehrt CA XII). 3. Die Tugendwerte sind damit aber nicht erschöpft. Das eigentlich moralisch Wertvolle der Tugendphänomene, ihr sittlicher Wertakzent, liegt nämlich nicht in den objektiven Sachverhalten, wie sie bisher besprochen wurden, sondern in den subjektiven, den sittlichen Haltungen der Personen, in unserem Falle der vorsitzenden Richter 11o• 108 Hartmann, S. 376. 109 Hartmann, S. 417. 110 Hartmann, S. 423 f.; auch zum Folgenden.

IX. Tugendpflichten, Richtergewissen und Tugendenergie

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Dieser Wertakzent betrifft, unabhängig vom Erfolg einer Tugend im Einzelfalle, die bloße Gesinnung des Handelnden. Damit übersteigt der sittliche Wert der nur intendierten Handlung den des intendierten Wertes selber. Das festzuhalten, ist nicht überflüssig. Wo die bloße Gesinnung so hoch geschätzt ist, führt das Tugendversagen im Einzelfalle weder zur Wertverneinung noch zur Entmutigung des tugendhaft Gesinnten. Das Modephänomen des "Versagens" ist im Tugendreich unbekannt, wenn nur die rechte Gesinnung herrscht. Der vom Mißerfolg Geschlagene kann dann den seinem Wertgefühl zugehörigen Habitus beibehalten und hoffen, daß ihm bei nächster Tugendgelegenheit das Glück hold sein möge. Damit ist eine Richtermoral mit ihren Gesinnungen der zentrale Wert eines geübten Tugendkataloges. An sie, nicht an Einzelfälle und Einzelpersonen, sollte man in erster Linie denken, wenn von richterlichen Tugenden die Rede ist. IX. Tugendpflichten, Richtergewissen und Tugendenergie 1. Werte, die in den Tugenden verwirklicht werden sollen, sind (auch) sog. Prinzipien der ethisch aktualen Sphäre l11 , die in die fluktuierende Welt der ethischen Akte eingreifen. Sie sind bestimmend für alles moralische Werturteil, alle Zurechnung, für Verantwortungsgefühl und Schuldbewußtsein, daher auch für das Phänomen des Gewissens. Das Sollen, in den Werten als Prinzipien enthalten1l2, bekundet sich in Gesinnung, Wille, Absicht, Vorsatz und Zweck mit ihren Wertbestimmungen.

Sind aber die Werte Prinzipien der gekennzeichneten Art und wollen die ihnen zugeordneten Tugenden Werte verwirklichen, so läßt sich sagen: Tugend ist die Ausübung einer Pflicht als bleibende Eigenschaft 113 , eine Tugenddefinition, die von der Wirkung (des Wertes) auf die Ursache zurückgeht. Hier zeigt sich der (sokratische) Zusammenhang vom Wissen (der Werte) und Handeln (nach deren Prinzipien), der in der Etymologie des Ge-Wissens deutlich wird. Ursprünglich ein Bestand an (Wert-) Wissen, wird das Gewissen im Gewissensbiß aktiv und aggressiv, wenn dem Wertprinzip, dem Sollen, nicht Genüge getan wird.

2. Richterliche Tugendwerte machen, wo sie als Prinzipien wirken, das Richtergewissen aus. Soweit der Vorsitzende in seiner Ordnung 111

112 113

Hartmann, S. 160 ff. Hartmann, S. 170 ff. Wundt, S. 148.

A. Allgemeines

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nach § 176 GVG betroffen ist, kann man, wenn das hiermit neu gebildete Wort erlaubt ist, von seinem Sitzungsgewissen reden. Gering achten darf man es nicht, wenn man über die Beziehungen von Verhandlungskritik und Urteilskritik (A 11) nachgedacht hat. Sein Vorrat an Werten und Prinzipien, durch die Sitzungstugenden aktiviert, erlaubt dem vorsitzenden Richter, die Ordnung in seiner Sitzung "gewissenhaft" aufrecht zu erhalten, gewissenhaft im Sinne von tugendhaft. 3. Sind also Tugendwerte Prinzipien, so doch "nur" solche der ethischen nicht der ontischen Sphäre. Der "Grundunterschied"1l4 besteht darin, daß sie nicht, wie diese, zum Beispiel das Kausalprinzip, absolut herrschende Mächte sind. Determinanten gegensätzlicher Art treten ihnen entgegen, Wertverwirklichung und damit Tugendübung können an den Widrigkeiten dieser Welt oder der Schwäche seiner handelnden Menschen scheitern (A VIII). So kann die Tugend der Klugheit (B VI) dem Vorsitzenden wohl den Rat geben, für die Sicherheit nicht nur des Sitzungssaales, sondern des ganzen Gerichtsgebäudes (und damit, rückwirkend, seiner Sitzung) zu sorgen. Sein Tugendstreben kann aber daran scheitern, daß sein Gerichtspräsident als Hausherr darüber anders denkt oder daß die erforderlichen Sicherungskräfte fehlen. Dann bleibt allein der Wert der Tugendgesinnung, auf den der Vorsitzende verweisen kann, wenn die Unordnung an die Stelle der Ordnung (§ 176 GVG) getreten ist (A VIII).

4. In solchen Fällen kann man sich fragen, welches Maß an Tugendenergie von der betroffenen oder von einer anderen (konkurrierenden, A XIII) Tugend auferlegt wird. Die einzelnen Tugenden scheinen hier verschiedene Anforderungen zu stellen. Die Tugend der Umgangsformen (B IX) wird durch keine wie auch immer geartete Gegenkraft davon abzubringen sein, ihre Werte zu verwirklichen. Sie ist eine stets zu übende Tugend, Ausflüchte gibt es nicht; ihr "formaler" Charakter stößt sich an keinem "materialen" Inhalt. Die Tugenden der Gelassenheit (B XI) oder der Bescheidenheit (B XII) werden vielleicht erst dann in vollem Glanz erstrahlen, wenn ihre Träger, angegriffen und verhöhnt, ihre Werte nicht aus dem Sinn verlieren. Die Tugend der Gerechtigkeit (B 11) kann hohe und höchste Opfer fordern, auch Widerstände, selbst staatlicher Herkunft, zu überwinden haben. Im tausendfach zitierten Fall des Müllers Arnold1l5 haben sich Hartmann, S. 165. Der Fall betrifft die Gerechtigkeit des Urteils (im Sinne der Unterscheidung in Abschnitt A II), stellt aber ein gutes Beispiel von Richtergewissen und Tugendenergie dar; dazu Abschnitt B VIII. 114 115

X. Tugendkonforme Auslegung

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die Richter des Kriminalsenats des Kammergerichts durch königlichen Machtspruch zu Absetzung, Festungshaft und Schadensersatz verurteilen lassen, weil sie nicht contra legern dem Willen des Königs gehorchen wollten116• Die Tugend der Tapferkeit (B VIII) als Exekutivgewalt der Befehle anderer Tugenden, zum Beispiel eben der Gerechtigkeit, hat ihr weites und verantwortungs reiches Feld. Ist das Maß an Energie, das die betroffene oder eine andere Tugend als Prinzip und Tugendpflicht befiehlt, aufgewendet, ohne daß der Tugenderfolg eingetreten wäre, bleibt es also bei der bloßen Tugendgesinnung (A VIII), so erlaubt das Richtergewissen doch andererseits kaum Verzichtbarkeit oder Abdingbarkeit117 von Tugendwerten. So kann die vielfach gehörte Meinung, sog. politische Täter oder sog. Terroristen wünschten keinen "fairen" Prozeß, sondern ein Forum von Turbulenz und Sensation, den Vorsitzenden, selbst wenn er es aus Mangel an Klugheit (B VI) wollte, nicht von der Übung der Tugend der Fairness (B III) entbinden. Ebensowenig könnte sich ein Vorsitzender, der sich leutselig oder gemütlich oder volksnah oder progressiv oder "schlau" dünkt, mit den Prozeßbeteiligten, stillschweigend oder ausdrücklich, auf eine Suspendierung der Tugend der Umgangsformen (B IX) oder gar der Staatstugend (B I) oder auch nur der Distanz (B XIII) einigen. Der Pflichtenaspekt der Tugenden tritt damit in ein helles Licht, das Tugendgewissen stellt seine Forderungen.

x. Tugendkonforme Auslegung Wenn Tugenden in Erfüllung der Tugendpflichten (A IX) "aktiv" werden, interpretiert der tugendhafte Richter das geltende Recht, der vorsitzende Richter die Kann-Bestimmungen, die unbestimmten und Ermessensbegriffe, die Wertbegriffe, Phänomenbegriffe, Ordnungsbegriffe und Generalklauseln des Rechts der Sitzungspolizei (A 111) tugendgemäß. Er tut es mit dem Zweck, die jeweiligen Tugendwerte im Auslegungsakt zu verwirklichen. Dabei folgt er der dreifachen Bindung des Finalnexus118, nämlich a) der Vorsetzung des Zweckes, eine Tugend zur Geltung zu bringen, b) der rückläufigen, finalen Bestimmung der Mittel, des zur Zweckerreichung geeigneten hermeneutischen Aktes, und c) der Feststellung der Zweckerreichung selber durch rückschauende Betrachtung des (nunmehrigen) Kausalnexus zwischen Mittel (unter b) und Zweck (unter a). Was für die Interpretation gilt, hat auch Weitere Beispiele bei Schwinge, Der Jurist, S. 48 ff. Unverzichtbarkeit und Unabdingbarkeit haben nichts mit der Wandelbarkeit der Tugenden (A XII) zu tun. Diese betrifft den Tugendinhalt selber. 118 Hartmann, S. 194. 116

117

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A. Allgemeines

für die Rechtsanwendung (schlechthin)119 Geltung, also dort, wo eine "Auslegung" als solche nicht ins Bewußtsein tritt, sondern sog. glatte Fällel20 der Rechtsanwendung vorliegen. Steht also ein Vorsitzender zum Beispiel im Banne der Tugend des Maßes (B XIV), ignoriert er also Leichtes, belegt aber Schweres mit schwerer Sanktion, dann lassen sich seine (sitzungspolizeilichen) Rechtsanwendungsakte (nach den §§ 176, 177, 178 GVG) aus der Sicht jener tugendgemäßen, "maßvollen" Interpretationen bzw. (Nicht-) Subsumtionen als finale Aktel2l charakterisieren. Auch von befohlenen Aktenl22 kann man sprechen, sofern die Tugend (als Prinzip) ihren Zweck befiehlt (A IX). Da solche Akte den Tugenden "konform" sind, kann man sie auch tugend konforme Interpretationen (bzw. Rechtsanwendungen) heißen: wie die Verfassung verfassungskonforme Auslegungen befiehlt, so die Tugend tugendkonforme. Die Steuerungsfunktion "der Tugenden, die die Welt verändern", kann kaum klarer bewußt werden, als durch die beschriebene Finalität. Sie ist von der Rechtsordnung vorausgesetzt, nicht anders, als wenn eine Rechtsnorm von sittenwidrigen Rechtsgeschäften redet und dabei stillschweigend unterstellt, die Richter (und auch die übrigen Bürger) wüßten, was sittengemäße und sittenwidrige Geschäfte sind. So will jede Rechtsnorm vom tugendhaften Richter tugendfinal angewendet sein; die Sonderstellung der Sitzungspolizei besteht allein darin, daß hier die Krise als mangelnde Tugendfinalität sichtbar wird (A 11). Das will vielleicht auch der Spruch sagen, den der Richter Albrecht Wagner seinem Buch über den Richter vorangestellt hat: "Ein frommer und bescheidener Richter ist besser als ein gut Gesetze, denn er das Recht allemal nach Bewandtnis der Sache zu mäßigen weiß; wo aber ein boshafter und ungerechter Richter vorhanden, da helfen die guten Gesetze nichts, maßen er dieselben verdrehet und damit nach eigenem Gutdünken Unrecht tut". Das "Mäßigen" meint die Gesamtheit der richterlichen Tugenden, auf die kein Recht verzichten kann: der Richter als "Moderator" der Rechtsordnung.

XI. Laster Das Gegenteil der Tugend ist das Laster, das Böse, wenn es zur Gewohnheit geworden ist oder zu werden droht. 119 über das Verhältnis von Auslegung und Anwendung einer Norm Scheuerle, AcP 157 (958), 52 ff. 120 Scheuerle, Rechtsanwendung, S. 169. 121 Scheuerle, AcP 167 (967), 305 ff. (mit Beispielen). 122 Scheuerle, Rechtsanwendung, S. 102 ff.

XII. Wandelbarkeit der Tugenden

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Den Tugendkatalogen treten seit je Lasterlisten gegenüber. Sie wollen das Schlechte bewußt machen, die Bösen bekehren und auf den Tugendpfad führen. Ein berühmtes Beispiel ist der Brief des Apostels Paulus an die Römer123 ; ein anderes sind die den kirchlichen Sittenlehren bekannten sog. Sieben Vitia Capitalia des Cassian: Hoffart, Neid, Unkeuschheit, Geiz, Unmäßigkeit, Zorn und Trägheit. Richterliche Lasterlisten stammen von Richtern (A I) oder von Nichtrichtern l24 • Wer die Beispielsfälle für das Wirken der einzelnen Tugenden (B I ff.) liest, kann solche Listen selber anfertigen. Die "Feststellung" richterlicher Laster ist Richterkritik. Von ihr gilt der bereits zitierte Satz von Mauz 125 : "Man kritisiert einen Richter ungern, die Bürde des Amtes ist offenbar". Nun sind aber die Lasterhaften das "Krankengut" der Moralisten. Wie die Medizin vom Patienten "lernt und lebt", so die Moral vom Unmorali:schen. Richterkritik mit dem Blick auf die Bekämpfung des Lasters durch die Tugend gehört darum zum Wesen einer Lehre von den richterlichen Tugenden. Sie ist als Heilung gedacht: libera nos a malo! Laster ist, wie gesagt, das zur Gewohnheit gewordene Untugendhafte. Es gibt Vorsitzende, die für ihren tugendlosen Vorsitz gerichtsbekannt und Gegenstand kollegialer Witze und Stammtischepisoden sind; sie sind in des Begriffes voller Bedeutung lasterhaft. Sodann aber sind jene Vorsitzenden zu verzeichnen, denen der "Hang" des richterlichen Gewohnheitstäters noch fehlt, die die Kategorie der nur einmal Gefallenen ausmachen, der Zufallstäter. Auch ihre Taten sind in die gegenwärtigen Überlegungen unter dem Signum des Lasters einbezogen. Sie mögen verzeihen und bedenken, daß ihre Verhaltensmodelle in unserem Zusammenhang nur als Beispiele gedacht sind, jedoch, wenn sie zum Habitus würden, auch Laster im Sinne der Ethik werden könnten. XII. Wandelbarkeit der Tugenden 1. Von den Tugenden gilt, was sich von den Werten sagen läßt, daß unter der scheinbar ruhigen Oberfläche die beständige Revolution des Ethos am Werk ist (A VII): alles ist im Fluß. Wer die Werte als an sich seiende Wesenheiten versteht, sieht die damit beschriebene Wandelbarkeit als eine solche des bloßen Erfassens jener Wesen im Werterkennen mit seiner Enge des Wertbewußtseins l26 • Wer die Werte als 123 Das Corpus Paulinum enthält nicht weniger als 11 Lasterkataloge; dazu Trillhaas, S. 164. 124 Zum Beispiel Hamburger Untersuchung (passim); Mauz, Die Gerechten; ders., Spiel, passim. 125 Mauz, Die Gerechten, S. 261; dazu auch das Vorwort. 126 Hartmann, S. 158 ff.

A. Allgemeines

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bloße massenpsychologische Phänomene der (wertenden) Gesellschaft begreift, kann von der Veränderung der Welt durch Veränderung der Massenpsyche sprechen; die Umwertung aller Werte, die der Wertidealist als ein (bloßes) Wandern des Wertblickes versteht, meint er "wörtlich". Ob sich das Bestehende ändert oder nur sein Erfassen, stets werden die Tugenden, in denen sich Werte verwirklichen, "gesellschaftlich"1Z7 geschaffen und zerstört, ein Wandel des Menschseins bringt einen Wandel der Tugenden mit sich l28 . "Das Verständnis alter, lange überlieferter Tugenden geht verloren; die Tugenden, an denen vergangene Generationen ihr Leben geformt hatten, haben ihre Überzeugungskraft eingebüßt"I29. Die massenpsychologische Natur der Tugend als eines habitus läßt sich nicht verleugnen. Bei aller Wandelbarkeit der Tugenden kann es aber sein, daß "die geprägten Begriffe . .. darüber wohl täuschen; sie sind dauerhafter als die wirklichen Grenzen jeweiliger Wertschau"130. So kann eine Generation fortfahren, von der Tugend des Gesetzesgehorsams (B I) zu reden, auch wenn es damit in Wirklichkeit "so weit nicht mehr her ist"l3l. Mit dem Gegenstand zusammen kann auch das Wort verschwinden. So ging es "dem deutschen Fleiß, Jahl'hunderte gerühmt in aller Welt"132, man spricht nicht einmal mehr von ihm133 • So ging es aber auch der Tugend überhaupt (A IV). Eine Wandlung kann auch soweit gehen, daß ein (bisheriger) Tugendwert nun zum Unwert erklärt wird. Die Demut, als christliche Tugend und Ausdruck wirklicher Freiheit gefeiert, kann zum Ausbund der Sklavenmoral gestempelt und von den Trägern einer (neuen) Herrenmoral zum Laster erklärt und herabgewürdigt werden. Der Staat der sog. offenen Gesellschaft zieht aus der Wandelbarkeit der Werte und Tugenden die Konsequenz. Er verordnet seiner Jugend Unterricht über die "allgemein anerkannten Grundsätze des natürlichen Sittengesetzes" (zum Beispiel Art. 35 der Verfassung von Rheinland-Pfalz) und meint damit die jeweils von einer (quantitativ) herrschenden Meinung anerkannten Werte mit ihren Tugenden. Absolut 1Z7 128 129 130 131 132

Behrendt, Futurum 1968, 27. Klomps, S. 9. Bollnow, S. 1l. Hartmann, S. 48. Reissmüller in FAZ vom 22. 7. 1975. Reissmüller in FAZ vom 22. 7. 1975. 133 Weitere Beispiele bei Bollnow, S. 13 (Demut); S. 91 (Besonnenheit, Gelassenheit); S. 105 (Weisheit).

XII. Wandelbarkeit der Tugenden

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und ewig geltende Werte, wie sie noch der Bundesgerichtshofl34 gekannt hatte, sind ihm nicht geläufig. Seine Tugendlehre (A XVI) macht er sich damit schwer. 2. Auch die richterlichen Tugenden nehmen an der Wandelbarkeit der Werte Teil. Mit ihnen ändert sich das "Richterideal" (B XV). So kann in einer Epoche das Leitbild (B XV) des starken Mannes mit Durchsetzungsvermögen und Ehrgeiz auch für den Richter gefordert, der bescheidene, besonnene Vorsitzende hingegen als Schwächling gebrandmarkt werden. Nach reichlicher Erfahrung mit dem Starken kann sich alles wieder ändern, die verschütteten Tugenden können neu entdeckt (A VII) werden. Ein Vorsitzender kann auch eine einzelne Tugend, zum Beispiel die

Tugend der Ordnung (B IV) als solche noch pflegen, darunter aber

etwas anderes verstehen, als seine Väter. Dann interpretiert er den

Rechtsbegriff der Ordnung (B IV) des § 176 GVG mit Hilfe seines ver-

änderten Tugendbegriffes der Ordnung anders. Es kann dann heißen: "Nach heutigen Vorstellungen braucht eine Kleidung, die für den Alltag ausreicht, nicht durch einen besonderen Aufzug vor Gericht ersetzt zu werden. überholt sind die noch in den 30er Jahren vertretenen Auffassungen, es sei Ungebühr13s, wenn der Angeklagte in langer Hose und weißem Sporthemd ohne Jacke oder, wenn ein >Angehöriger gebildeter Stände< ohne Kragen erscheint"I.16. Die Terminologie (des "besonderen Aufzuges") zeigt hier die Wandlung deutlich an. Der Inhalt der Tugend der Gerechtigkeit, die auch für das Verfahren und für die Sitzung gilt (B 11), kann sich, entgegen dem Geist der Zeit, vorteilhaft ändern. Das geschieht, wenn sie das Opfer des Täters als im Verfahren (sichtbar oder unsichtbar) gegenwärtig erkennt. Die Folgen der Erkenntnis sind erheblich (B 11). 3. Nun könnte aber der Beruf des Richters, als einer der Urberufe der Menschheit, einen Fundus unwandelbarer Tugenden sein eigen nennen. Dann wäre er, nach Art des Berufs eiwa des Arztes, mit Eigenschaften ausgestattet, die ihm wesensgemäß sind. Ohne sie wäre er kein Richter, allenfalls ein anderes Staatsorgan, vielleicht auch der Scherge eines Justizterrors; die Wandelbarkeit der richterlichen Tugenden hätte hier ein Ende. Daß es diesen "apriorischen" Richter gibt, hat Friesenhahn137 wohl stillschweigend bejaht, als er sagte: das Bild des Richters 134 BGHSt (Großer Senat) 6, 47 (52, 53) über die absolute Geltung der sittlichen Gebote zur Frage des Geschlechtsverkehrs unter Verlobten. 13S über den Zusammenhang von Ordnung und Ungebühr, Abschnitt B IV. 1.16 Rüping, ZZP 88 (1975), 231. 137 Friesenhahn, DRiZ 1969, 175.

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A. Allgemeines

in dieser Zeit sei die Projektion des Urbildes des Richters auf die gegenwärtige Gesellschafts- und Kulturordnung. Diese, so ist es wohl gemeint, nährt sich von jenem Fundus, den es darum sorgfältig zu betrachten und zu bewahren gilt. Richter und Rechtsphilosophen sollten über diesen "Wesensbegriff"138 des (vorsitzenden) Richters nachdenken. XIII. Tugendkonkurrenzen

Verwirft man das Tugendmonopol (einer einzigen Tugend) zugunsten der Vorstellung einer Tugenddominanz (A VI), dann können sich Fragen von Tugendkonkurrenzen erheben. Sie erinnern an die Strukturbilder von Ideal-, Real-, Gesetzes- und Anspruchskonkurrenz, auch an "Normketten" und Wertungswidersprüche 139 • 1. Ein VOl"sitzender hat, aus wohl erwogenen Gründen der Wahrheitsfindung, die vor ihm sitzenden Angeklagten gebeten, sich in anderer Reihenfolge und (oder) in größeren Abständen zu setzen. Sie antworten: "Wie wir sitzen, sitzen wir; es ist verfassungswidrig, uns wie Nummern herumzuschieben" . - Die Reaktion der Angeklagten hat den Vorsitzenden überrascht: die Überraschung ist eine besonders tugehdbedürftige Situation. Er kann, je nach seinem "Stil" (B XV) oder nach seiner "Persönlichkeit" (B XV), erstens der Tugend der Gelassenheit (B XI) oder Selbstbeherrschung (B X) bedürfen, um nicht selber die Ordnung seiner Sitzung (§ 176 GVG) zu stören. Sodann kann ihm, zweitens, die Tugend der Besonnenheit (B VII) nahelegen, er möge in einer unvorhergesehenen Lage nicht ohne "Besinnen" handeln, sondern eine Beratung einschalten; er wird daher, auch als Einzelrichter, der mit sich selber zu Rate geht, sich nicht scheuen, das Beratungszimmer (B VII) aufzusuchen. Hier können ihm (und dem Gericht, § 177 Satz 2 GVG) drittens die Rechtsklugheit (B VI), viertens die sog. Sitzungsklugheit (B VI), fünftens die Staatstugend (B I) und, sechstens, die Tugend der Ordnung (B IV), vielleicht gar, siebentens, die der Weisheit (B V) zur Seite stehen. Sollen, als Ergebnis der Beratung, die Angeklagten sitzen bleiben, "wie sie sitzen", dann wird er die Verhandlung fortsetzen. Die Tugend der Sitzungsklugheit (B VI) wird ihn, achtens, davor bewahren, eine "Begründung" seines Verhaltens, gar eine langatmige, vorzutragen. Die Tugend der Distanz (B XIII) wird ihn vielmehr, neuntens, befähigen, mit seiner Sitzung fortzufahren, als sei nichts geschehen. 138 Er ist ein soziologischer Wesensbegriff. Den Bedenken, die gegen juristische Wesensbegriffe bestehen, ist er nicht ausgesetzt (Scheuerle, AcP 163 [1964], 429 ff.). Auch einen Typus mag er verkörpern (Scheuerle, AcP 163 [1964], 440 ff.; Larenz, S. 423 ff.). 139 Die einschlägigen Parallelen verfolge ich hier nicht, so interessant sie sein mögen.

XIII. Tugendkonkurrenzen

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Wenn ihm freilich Staatstugend (B I), Sitzungsklugheit (B VI) und die dann etwa nötige Tugend der Tapferkeit (B VIII) nahelegen, die Angeklagten "umzusetzen", dann wird die sich anschließende Vollstreckung der Umsetzung neue Tugendketten in Aktion treten lassen!40.

Welche der "in Frage kommenden" Tugenden der Vorsitzende wirklich "anwendet", wird ihm selber möglicherweise nicht viel bedeuten, wenn er nur "richtig", sozusagen "im Ergebnis richtig", gehandelt hat. Die Reflexion des Ethikers und Tugendlehrers (A XVI) wird aber Genaueres wissen wollen; ihm kann es darauf ankommen, zu wissen, welche Tugenden er in Fällen dieser Art in erster Linie, dominant (A XIII), empfehlen soll. Überlegungen zur Konkurrenz mögen daher ihre Berechtigung haben. 2. Hat im erzählten Fall ein einziger Sachverhalt mehrere Tugenden aufgerufen, so liegen die Dinge andern, wenn Sachverhaltsmehrheiten dem Vorsitzenden zu schaffen machen. Wo es, wie in den Sensationsfällen der Krise, turbulent zugeht, sind zur Bewältigung unentwegt neuer Szenen immer neue Tugenden oder "Anwendungen" der gleichen Tugend gefragt. Solche Modelle interessieren den Tugendtheoretiker weniger, weil sie nur eine Häufung von Fällen darstellen. Dem Vorsitzenden als Tugendpraktiker können sie aber gleichwohl schwierige Aufgaben stellen. Er muß den Abnutzungseffekt bedenken, der sich einstellt, wenn wiederholte und hartnäckige Aktionen schwieriger Prozeßteilnehmer eine chaotische Atmosphäre schaffen wollen. Dann bedarf er, neben den primär gefragten, weiterer Tugenden: etwa der Weisheit (B V), die jede Eile verachtet und die Sitzung unterbricht; der Gelassenheit (B XI), die den Vorsitzenden!4! unverwundbar macht; der Tapferkeit (B VIII), die ohne Revisionsangst und sonstige Angst ihre Maßnahmen trifft; des Maßes (B XIV), die das richtige Verhältnis zwischen Aktionen und ReAktionen aufrechterhält; der Bescheidenheit (B XII), die den Vorsitzenden hindert, seine Person (und ihre Verletzbarkeit) hervortreten zu lassen, freilich auch der Staatstugend (B I), die Gesetzesverletzungen nicht deshalb zuläßt, weil sie gehäuft vorkommen und eine "Abnutzung" des geltenden Rechts kaum kennt!42. 3. In eine andere Welt führt die Tugendantinomie. Sie beruht auf dem ethischen Phänomen der Gegensätzlichkeit der Werte mit dem dadurch gegebenen moralischen Konflikt. In solchen Fällen stehen Wert gegen Wert und Tugend gegen Tugend. Der Tugendhafte muß wählen, !40 Darauf gehe ich hier nicht ein. !4! Als Menschen, nicht als Staatsorgan: hier ist die Staatstugend (B I) aufgerufen. 142 Die Frage möglicher Grenzfälle verfolge ich hier nicht.

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A. Allgemeines

"da gibt es einen schuldlosen Ausgang nicht"143. Hier liegen seit je die erregenden Stoffe der Dichter: eine Königstochter muß sich entscheiden zwischen dem Gottesgebot der Bestattung (des Bruders) und dem (väterlichen) Königsgebot der Nichtbestattung (des Bruders als Staatsfeind). Entsprechende Konflikte verzeichnet die juristische Methodenlehre unter der Bezeichnung Wertungswidersprüche l44. Einer Tugendantinomie (oder mehreren) kann sich der Vorsitzende gegenübersehen, wenn sich in der Sitzung mehrere Frauen plötzlich entkleiden und mit nackten Brüsten einen Song "frei nach Brecht" anstimmenl45 . Befehlen die Staatstugend (B I) und die Tugend der Ordnung (B IV), die Frauen sofort zu entfernen? Gebieten Gelassenheit (E XI), Selbstbeherrschung (B X) und Besonnenheit (B VII), nichts "sofort" zu unternehmen? Will es die sog. Sitzungsklugheit (als Taktik) (B VI), nicht zu früh einzugreifen, um es dann desto entscheidender tun zu können? Geben vielleicht die gleiche Klugheit (B VI) oder gar die (seltene) Weisheit (B V) den "strategischen"l46 Rat 147 : die Publizität jener Frauen geradezu zu fördern, da sie (ohne Büstenhalter) keine gute Figur l48 machten? 4. Wieder anders liegen die Fälle der Tugendjundierung 149 , in denen die Werte (der Tugenden) aufeinander gegründet sind. So ist zum Beispiel "die Gerechtigkeit das erste Wort der Klugheit, die Tapferkeit das zweite"ISO. Denn es gilt: "Die Klugheit informiert die Tapferkeit sozusagen durch die Gerechtigkeit hindurch"lso, der Tapfere muß, bevor er tapfer ist, schon klug und gerecht sein. Die Tugendfundierung rührt an die Grundlagen des tugendhaften HandeIns. Wer tapfer zu sein glaubt, aber seine Tapferkeit nicht zur Verwirklichung der Gerechtigkeit (und der Klugheit) gebraucht, handelt nicht tugendhaft, sondern ist eine Gefahr für sich und andere. Als vorsitzender Richter ist er auch eine Gefahr für die Justiz. Er stört die Ordnung seiner eigenen Sitzung und damit die des Staates.

143 Hartmann, S. 295. 144 Engisch, Einführung, S. 160 ff. 145 Sog. Hamburger Strip-Tease, in Abschnitt B mehrfach erörtert. 146 über den Unterschied zwischen Strategie und Taktik siehe Scheuerle, AcP 152 (1953), 351 ff. 147 Diese "progressive" Variante verdanke ich einer Diskussion mit Studenten. 148 Das haben die kundigen Diskussionsteilnehmer aus Pressephotos erkannt. 149 Hartmann, S. 251 ff. ISO Pieper, S.46; dazu auch Abschnitt B VIII.

XIV. Tugendbegriffe als Standardbegriffe

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XIV. Tugendbegriffe als Standardbegriffe Man kann die Begriffe, in denen Tugenden gedacht werden, mit rechtsmethodischen Augen betrachten (A XV). Ungereimt ist das nicht, zumal manche Tugendbegriffe, zum Beispiel der der Gerechtigkeit (B II) oder der Ordnung (B IV), auch Rechtsbegriffe sindl5l • In den Tugendbegriffen werden sog. Standards vorgestellt, wie sie die Rechtsordnung kennt, etwa den des ordentlichen Kaufmanns, des lauteren Wettbewerbers, des loyalen Arbeitnehmers l52 usw. Ebenso verhält es sich mit den Begriffen des Klugen, Tapferen, Bescheidenen, bzw. der Klugheit, Tapferkeit, Bescheidenheit usw. Mit den rechtlichen Standardbegriffen haben solche Tugendbegriffe den Charakter der Generalklausel gemein, da ihre Grenzen unscharf sind. Wer sie "anwenden" will (A XV), bedarf der (ethischen) Urteilskraft l53 und Erfahrung. Die dabei auftauchenden Schwierigkeiten ähneln wiederum denen der Anwendung rechtlicher Generalklauseln. Es gibt sog. glatte Fälle, die mühelos zu bewältigen sind; daß der Vorsitzende die Tugend der Umgangsformen verletzt, wenn er den Angeklagten beleidigt (B IX), läßt sich mit geringster Urteilskraft einsehen. Glücklicherweise ist das große und unbestrittene Reich der Tugenden das der täglichen Millionen glatter Fälle; hier herrschen sie in des Wortes wahrer Bedeutungl54 • Wenn aber die Frage auftaucht, was wahre und was falsche Gelassenheit (B XI) ist; ob die Nächstenliebe der Gerechtigkeit widerstreitet (B II); ob Witz und Humor (B XVI) Tugenden oder Laster des vorsitzenden Richters sind; wie die Tapferkeit (B VIII), weil auf Klugheit und Gerechtigkeit fundiert (A XIII), auszusehen hat; welches rechte Maß (B XIV) im konkreten Falle gefordert wird usw., dann ist eine Urteilskraft gefordert, welche die der glatten Fälle übersteigt. Dann zeigt sich die schwierige begriffliche Natur der Tugenden. Wer sie recht beherrschen, "anwenden" will, muß nicht nur "in abstracto einsehen, ob ein Fall in concreto darunter gehöre", sondern auch "durch Beispiele und wirkliche Geschäfte zu diesem Urteile abgerichtet werden" ISS.

§§ 38 I DRiG bzw. 176 GVG. J. Esser, S. 97. 153 über Wesen und Funktion der Urteilskraft, siehe Scheuerle, ZgesStWiss. 109,691-717. 154 Das gilt noch heute, da Wort und Begriff der Tugend "tot" sind (A IV). 155 Kant, Kritik der reinen Vernunft, Ausgabe 1781, Reclam, S.140; dazu Scheuerle, ZGesStWiss. 109, 691-717 und Abschnitt A XVII. 151

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A. Allgemeines

xv.

Tugendhaftes und anderes Denken

Ein vorsitzender Richter, der Tugenden "anwendet", denkt "tugendhaft"I56. Er denkt nicht "situationsgemäß"I57, weil er sich nicht von den konkreten Situationen als solchen leiten läßt. Auch anderen Leitlinien folgt er nicht, etwa denen des "fortschrittlichen" Denkens l58 , sondern eben seinen Tugenden. 1. Auch das tugendhafte, dieses "etwas altmodische, treuherzige, verschnörkelte Denken" (Emge)159, diese sancta simplicitas und wackere Bauerneinfalt (Nietzsche)I60, geht freilich von einer "Situation" aus, von dem Sachverhalt nämlich, an dem es sich vollzieht. Dabei drängt sich der wiederholt angesprochene Vergleich mit der Rechtsanwendung auf: "Die Begriffe der Tugenden werden hier in ähnlich funktioneller Bedeutung aufgefaßt wie die Rechtsbegriffe, ... sie dienen als Mittel, um hierdurch das wirklich Belangvolle im Einzelfalle feststellen zu können"161. An einem Beispiel des Vorsitzenden erläutert: die Tugend der (Verfahrens- oder Sitzungs-) Gerechtigkeit (B 11) mit ihrer absoluten Gleichheit der Prozeßbeteiligten veranlaßt ihn, auch das Unscheinbare festzustellen und, etwa bei der Begrüßung der Beteiligten oder bei der Mikrophonbenutzung, jede Ungleichheit auszuschließen l62 . Die relevanten ("tugendrelevanten") Fakten, also jene unscheinbaren Kleinigkeiten der genannten Beispiele, erschließen sich ihm vom Tugendbegriff der (Verfahrens-) Gerechtigkeit aus, dessen Gebot (A IX) der absoluten Gleichheit sein Augenmerk auch auf Geringes lenkt. Sie sind seine "Situation". Die Situation aber ist für den Tugendhaften nur insofern von Bedeutung, als sie die Tugend (im gegebenen Beispiel die der Gerechtigkeit mit ihrer absoluten Gleichheit) reproduziert und, in Wechselwirkung, von ihr beherrscht, "gewürdigt", unter sie "subsumiert" wird. Die Situation als solche, im Beispiel die absolut gleiche Begrüßung der Verfahrensteilnehmer oder deren Mikrophonbenutzung, ist ihm daher lediglich das Material, "an" welchem (tugendhaft) gehandelt wird; als moralische causa agendi im ethischen Sinn bedeutet sie weiter nichts.

156 Im Sinne von Emge, S. 458 ff. IS7 Emge, S. 489 ff. IS8 Emge, S. 467 ff. IS9 Emge, S. 457. 160 Nietzsche, S. 395. 161 Emge, S.460; über die "induzierende" Wirkung der Rechtsbegriffe auf die "relevanten Fakten" Scheuerle, Rechtsanwendung, S. 186 ff. 162 Näheres in Abschnitt B 11.

XV. Tugendhaftes und anderes Denken

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2. Anders das situationsgemäße Denken im Sinne von Emge l63 . Ein Vorsitzender, der sich ihm verschreibt, folgt dann zum Beispiel Fontane l64 , der von einem Zeitgenossen sagt, er "habe sich wieder Starkes an Verschraubtheiten und Eigensinnigkeiten geleistet, die sich Recht oder Prinzip l65 oder Konsequenz nennen. Wie niedrig stehen alle diese Dinge! Und wie himmelhoch steht daneben die heitere Freiheit, die heute dies tut und morgen das, bloß immer das Richtige". Die heitere Freiheit, von der der Dichter spricht, ist zurzeit ein Thema der Moraltheologie; als Situationsethik hat sie eine größere Literatur hervorgebracht l66 . Feste Maßstäbe, Gebote, Regeln, Lehren und Meinungen lehnt sie ab. Der Mensch, mündig wie er sei, möge stattdessen die jeweilige Situation nach ihren Umständen bewerten und so zu einer Entscheidung kommen. An die Stelle der Verbindlichkeit von Geboten tritt damit die "Je-mein-igkeit" der RegeP67. Die Kritik l68 verwirft die "neue Moral" als gottlos, gesetzlos, kraftlos, geistlos und horizontlos; man könnte sie, kürzer, als tugendlos (und daher prinzipienlos) bezeichnen. Auch einem psychologischen Irrtum ist sie verfallen, da jeder (gesunde) Mensch seine Entscheidungen nicht "regellos" trifft, sondern nach Obersätzen, die freilich nicht in jedem Falle voll bewußt werden. Auch der Situationsethiker entscheidet nach Prämissen, nur eben nicht nach denen der überkommenen Moral mit ihren "Einzelgöttern der Tugenden"169. Man muß ihm wünschen, daß er "blos immer das Richtige" (Fontane) tut. Dann hat sich die "heitere Freiheit" (Fontane) bewährt, sonst kann er sie zu bedauern haben. Dieses "Richtige" muß sich, gar wenn es um das Handeln eines Vorsitzenden geht, der Kritik stellen. In folgendem Fall 170 könnte man von einem Vorsitzenden vielleicht sagen, er habe situations gemäß (nach Emge) gehandelt. Da sich die ("mordverdächtigen") Angeklagten aufzustehen weigerten, als der Vorsitzende des Schwurgerichts zwei Schöffen vereidigen wollte, befahl er den Wachtmeistern: "Bringen Sie die Leute zum Stehen"! "Die Justiz163 Emge, S. 489 ff. 164 Brief vom 7. April 1880 an seine Frau. 165 Damit sind auch die Tugenden als Prinzipien (A IX) gemeint, die hier als "Verschraubtheiten und Eigensinnigkeiten" vorgestellt werden. 166 Zum Beispiel J. A. T. Robinson, Honest to God, London 1963; J. Fletcher, Moral Responsibility Situations Ethics at Work, London 1967; Bockmühl, passim. 167 Bockmühl, S. 10. 168 Bockmühl, passim. 169 Emge, S. 492. 170 Spiegel vom 13.10.1975, S. 85; dazu auch Abschnitt B VI. 4 Scheuerle

A. Allgemeines

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diener drückten darauf den Angeklagten von hinten auf die Ohren und schraubten ihnen die Daumen in die bekannt schmerzempfindlichen Stellen zwischen Kiefer und Gehörgang". Als aber Tumult ausbrach hinter der Barriere, winkte der Vorsitzende ab: "Dann sollen sie halt sitzen bleiben". Dieser "verpuffte Kraftakt" war weniger von Tugenden gesteuert, als von zwei situationsbedingten Strebungen. Die erste war auf sofortige Verwirklichung eines Zweckes, noch dazu mit falschen Mitteln, bedacht, die zweite, angesichts der neuen Situation des Tumultes hinter der Barriere, auf sofortige und völlige Kapitulation. Beides geschah vielleicht in heiterer!7! Freiheit (Fontane), beides war aber gleich schlecht. Mit tugendhaftem Denken (B VI) wäre der Vorsitzende besser gefahren. 3. Nach Obersätzen, richtigen oder falschen, richtet sich auch das fortschrittliche Denken, das mit dem tugendhaften und dem situationsgemäßen Denken ein Trilemma der praktischen Vernunft (Emge) bildet.

Ein derart fortschrittlich denkender Vorsitzender nimmt sich zum Beispiel den französischen König Heinrich den Vierten zum Vorbild 172 , der gesagt hat, Paris sei eine Messe wert. Hier werden ein (auch nach der Meinung jenes Königs) göttlicher Wert, nämlich die hugenottische Ablehnung der Messe, und eine "profane Situation" (Emge), die französische Krone, als Tauschobjekte gleichgesetzt. Das Beispiel zeigt, was vor einem Dutzend Generationen (in Frankreich) als fortschrittlich galt, wenigstens bei einem König. Fortschrittlich in diesem Sinne denkt wohl der Vorsitzende in dem von Willms (A I) berichteten "Rabatz im Gerichtssaal". Er will die Störung "unterlaufen", den Störern "die Schau stehlen" und, vor allem, sich selber nicht exponieren: geradezu progressive (fortschrittliche) Gedanken. Indem er zu diesem Zweck Humor (B XVI), auch etwas Ironie (B XVI) und viel falsche Gelassenheit (B XI) einsetzt, tauscht er die Ordnung gegen das Chaos ein und ignoriert richterliche Tugenden, die ihn besser geleitet hätten. Fortschrittlich in diesem Sinne würde auch ein Vorsitzender denken, der Störungen seiner Ordnung hinnimmt, wenn nur der Prozeß "zügig vorankommt", weil er ja "Geld kostet". Die Tugenden, zum Beispiel die Staatstugend (B I) oder die der Ordnung (B IV) oder der Weisheit (B V), belehren ihn eines anderen173 • 4. überblickt man hiernach das Trilemma der praktischen Vernunft aus der Sicht des vorsitzenden Richters, dann kann man ihm die sancta Der Begriff der Heiterkeit ist hier nicht wörtlich genommen I Emge, S. 469. !73 Eingehender daher Abschnitt B V.

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XVI. Tugendlehre

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simplicitas, die wackere Bauerneinfalt und das altmodische, treuherzige, verschnörkelte Denken des tugendhaften HandeIns mehr empfehlen als die anderen, progressiven Methoden, die, zusammen genommen, ein rechtes "Dilemma" bilden, freilich in des Wortes anderer Bedeutung. 5. Man kann sich aber fragen, ob es neben dem Trilemma (im Sinne von ElOge) noch andere Denkweisen geben könnte, die an die Stelle der tugendhaften treten könnten. Eine solche Weise könnte die "rein juristische" sein, die sich ausschließlich an Rechtssätze und Rechtsbegriffe hielte. Sie kann aber die den vorsitzenden Richter bedrängenden Fragen nicht lösen. Die Ordnung des § 176 GVG ist zwar ein Rechtsbegriff, als Wertbegriff weist sie aber über das Rechtsbegriffliche hinaus in das Reich der Werte und Tugenden (A 111). Hier regiert letztlich das tugendhafte Denken. XVI. Tugendlehre Wenn man (vorsitzenden) Richtern Tugenden vorstellt, will man sie ihnen als Prinzipien (A IX) empfehlen und ihr Richtergewissen (A IX) prägen. Dabei setzt man die Lehrbarkeit der Tugenden voraus. Die damit verbundene Problematik174 ist alt. Man kann die Frage der Lehrbarkeit mit der herrschenden Meinung, die den Zusammenhang von Ethik und Pädagogik nicht verkennt, bejahen, wenigstens für viele Tugenden. Ob man tugendhaftes Verhalten gar durch "besondere Hormone und andere chemische Agentien" bewirken kann, darf man dabei der Zukunft überlassen17S • Der Tugendschüler wird freilich eine Veranlagung mitbringen müssen, um Lernerfolg zu haben: Was soll dem Narren Geld in die Hand, Weisheit 176 zu kaufen, so er doch ein Narr ist?177 So könnte es sein, daß nicht jeder die Tugenden des Richters erwerben kann; der Staat täte gut daran, sich über einen Bewerber Klarheit zu verschaffen, bevor er ihn zum Richter ernennt. 178 Hartmann, S. 22 ff. G. Rattray Taylor, The Biological Time Bomb, 1969, S. 135; dazu Pierre Spoerri, Gesucht der neue Mensch, 1975, S. 16 ff. 176 Weisheit hier als Inbegriff aller Tugenden (B V). 177 Altes Testament, Sprüche 17, 16; in neuerer übersetzung (Hamp): Wozu denn Geld in eines Toren Hand? Um Weisheit gar zu kaufen, obgleich ihm Einsicht fehlt! 178 In einer Diskussion mit Kollegen sprach ein Spaßmacher von der Notwendigkeit einer "Regelanfrage beim (einzurichtenden) Tugendamt"; lapidarer hätte die krisenhafte Unfähigkeit des Staates bei der Personenbeurteilung kaum dargestellt werden können. 174

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A. Allgemeines

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1. Wie nun steht es in der Krise um die Tugendlehre? Wegen der Beziehungen zwischen allgemeinen und (richterlichen) Gruppentugenden (A V) sollte man zunächst die Lage der ersteren betrachten.

Sie ist schlecht genug: das eben ist die Krise. Ihre Wirklichkeit "ist einer Sachlage gemäß, in der Falschparken und Rauchen in Gesellschaft von Nichtrauchern weit anstößiger scheint, als die Verletzung der Zehn Gebote" 179. Die damit beschriebene "neue Weltmoral" hängt mit der Tugendlehre zusammen: die Verbote des Falschparkens usw. werden geZehrt und darum (hinreichend) gewußt und beachtet, die Zehn Gebote sind vergessen. Was von den Tugenden gilt, die die Zehn Gebote voraussetzen, läßt sich noch mehr von anderen Tugenden sagen: wo werden die Tugenden der Tugendkataloge (A V) gelehrt und geübt?

2. Für die derzeitige ethische Unterweisung der Erwachsenen, deren Mehrzahl den Kontakt mit den Zehn Geboten aufgegeben hat, kommen Literatur, Theater, Film, Presse, Funk und Fernsehen in Frage, seiner Reichweite wegen vor allem das letztere. Frauen sitzen werktags im Durchschnitt 98 Minuten vor dem Schirm, Männer einige Minuten weniger l80 • Sie erhalten hier die ethische Information, die sie früher in Religionsunterricht und Predigt bekamen; ihre heutige Fernsehzeit ist ein Vielfaches des damaligen ethischen Zeitaufwandes der Kirche. Was sie im Fernsehen erfahren, geben sie an die Kinder weiter. Was bieten die Fernsehprogramme an Tugendlehre? Einschlägige Fragen werden dort zwar aufgeworfen, aber kaum Antworten gegeben für praktisches Handeln. Fernsehfilme und Kriminalstücke stiften eher Verwirrung, als daß sie moralische Klarheit brächten. Nicht selten müssen sie sich vorwerfen lassen, sie schilderten das gut verkäufliche Böse und Furchtbare unter dem Vorwand, die Menschen bessern zu wollen. Wenn ethische Fragen als solche "diskutiert" werden, zeigt das Gespräch wohl den Pluralismus der Meinungen, aber nicht, wie man handeln soll. Werte und ihre Tugenden sind zwar (in der Zeit) wandelbar (A XII), doch erfordert die (jeweilige) Gegenwart hinreichend klare Normen. Sie müssen einfach und verständlich sein, nicht nur für Kinder, auch für Erwachsene. Die Kenntnis des klaren Verbotes des Tötens ist wichtiger als die verwirrende "Diskussion" um Ausnahmen vom Verbot oder gar die tausendfache Darstellung seiner Verletzung durch Krieg und Verbrechen.

3. Kinder im Alter von 8 bis 13 Jahren sitzen werktags 11/2 Stunden vor dem Fernseher, an Samstagen und Sonntagen 21/2 Stunden, Kin179

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Johannes Gross in FAZ vom 13.12.1975. ZDF-Medienforschung in Mainzer Allgemeine Zeitung vom 29. 11. 1977.

XVI. Tugendlehre

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der im Alter von 3 bis 7 Jahren werktags 1 Stunde, an Wochenenden 11/2 Stunden; selbst die Jüngsten bringen es damit auf 400 Stunden jährlichl8l • Sie bevorzugen Sendungen mit Spannung und Nervenkitzel, viele von ihnen jeden Abend bis tief in die Nacht. Noch immer ist angeblich ungeklärt, welche Wirkung die Darstellung von Gewalt und Mord im Fernsehen haben. Sicher ist hingegen die große Anziehungskraft von sex und crime auf alle jungen Fernseher: "Verbrechen sind interessanter als gute Taten"182. Das Interessante hat die größere Chance, "gelehrt" zu werden, haften zu bleiben. Die Folgen sind bekannt. Kaltblütige Schreckenstaten jugendlicher Täter füllen die Spalten der Presse. Ein Sechzehnjähriger sagt dem Psychiaterl83 : "Auch wenn einer umgebracht wird oder so, das ist mir schnurzegal, ich fühle nichts dabei". Das kommt vom Ersatz der Tugendlehre durch eine televisionäre l84 Lasterlehre. Besorgte Stimmen verhallen ungehört l85 . Eine Ministerin empfiehlt zu allem hin, Drei- bis Siebenjährige nicht länger als durchschnittlich 45 Minuten täglich fernsehen zu lassen l85 ; das genügt vollauf, um sie dem Guten zu entfremden. Auch vom derzeitigen Ethikunterricht in den Schulen hat eine Tugendlehre wenig zu erwarten. Er soll Schülern, die den Religionsunterricht meiden, die sog. anerkannten Grundsätze des natürlichen Sittengesetzes vermitteln. Die Ministerien liefern dazu Lehrpläne mit umfangreichen Materialienl86. Einem Zuge der Zeit entsprechend, stellen sie das sog. kritische Denken in den Vordergrund: die Rede vom Analysieren, überprüfen, Durchschauen, Hinterfragen usw. der Normen der Moral beherrscht das Feld. Schulkinder, auch ältere, müßten statt dessen erfahren, wie man in Grundsituationen handeln soll. Die ministeriellen Absichten gleichen dem (progressiven) Lehrplan einer Fremdsprache, der Stil- und Sprachkritik mit Schülern betreiben will, die keine Grammatik beherrschen. 4. Betrifft die allgemeine Tugendlehre, wie ersichtlich, zunächst die moralischen Werte, wie sie seit alters in den Zehn Geboten zum Ausdruck kommen, so steht es um die Tugenden unseres Tugendkataloges (A V) nicht besser. 181 ZDF-Medienforschung in Mainzer Allgemeine Zeitung vom 29. 11. 1977. 182 Doris Blum in FAZ vom 29.7.1976. 183 FAZ vom 22. 1. 1976. 184 Der Mißbrauch der alten Sprachen ist grotesk: mit Weitsicht hat das Phänomen nichts zu tun. 185 Dpa-Bericht über Aktion Jugendschutz in FAZ vom 25. 11. 1977. 186 Zum Beispiel für Rheinland-Pfalz die Materialien über den Ethikunterricht gern. Art. 35 der Landesverfassung vom 15. 11. 1977; für Bayern Roswin Finkenzeller in FAZ vom 25. 11. 1977.

A. Allgemeines

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Wie hier die Dinge liegen, zeigt eine Parallele zu den staatsmännischen Tugenden, die die Bürger ihren Politikern zusprechen. Eine demoskopische Umfrage 187 befaßte sich mit den Spitzeneigenschaftenl88 des Bundeskanzlers, die ihm wie folgt zugemessen wurden: Energie und fester Wille (66 0f0)189, Ehrgeiz (59 Q /o), glänzende Rednergabe (54%), Verstand und klare Linien (53 Ofo), Härte gegen seine politischen Gegner (53 Ufo), soziale Einstellung (42 %), Entschlußfreude (41 Q/o), Mut (40 %); schließlich ist er vertrauenserweckend (39 %), bedächtig und abwägend (17 Ufo), eher konservativ (12 %) und endlich christlich und fromm (5 %). Aus dem Reich der staatsmännischen und richterlichen Tugenden unseres Kataloges stammen wenige "Eigenschaften", vielleicht Klugheit l90 , Tapferkeit 191 und Besonnenheit l92 • Ihr Rang ist ungünstig. Ehrgeiz und Rednergabe sowie Härte gegen politische Gegner mögen im Wahlkampf hilfreich sein, für den Staat (als Ganzes) bedeuten sie wenig: ob eine Waffe (Ehrgeiz, Rhetorik, Härte) gut oder schlecht ist, weiß man erst, wenn man erfährt, auf welche Tugenden sie fundiert (X III) ist, in welchen (guten oder bösen) Lagen sie (gegen wen) gebraucht wird. Große, unverzichtbare Tugenden fehlen. Bürger, die ihren Kanzler hochschätzen, hätten ihm in erster Linie Klugheit, Gerechtigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit und Maß zusprechen müssen. Besser (im Sinne einer Tugendlehre) beurteilen die Chinesen ihren Vorsitzenden Hua Kuo Feng, dem die folgenden Eigenschaften nachgesagt werden: "selbstlos; offen und ehrlich; bescheiden und überlegt; demokratisch in seinem Arbeitsstil; zugänglich und bereit, mit anderen zusammenzuarbeiten"193. Mag es sich um eine "Standardsprachregelung" handeln, die tagtäglich in der Presse verbreitet wird l93 , mag jener Vorsitzende jene Eigenschaften wirklich besitzen oder nicht: daß von ihnen gesprochen wird, ist ein Stück Tugendlehre. 5. In die öffentliche Diskussion um die Gründe der Krise hat die Kirche, seit alters für die Tugendlehre zuständig, in charakteristischer Weise eingegriffen. Die deutschen katholischen Bischöfe haben am 22.9.1977 ein Hirtenschreiben mit dem Titel "Grundwerte verlangen Grundhaltungen" veröffentlicht. Darin werden die klassischen Tugenden l94 der Klugheit, der Gerechtigkeit, der Tapferkeit und des Maßes F AZ vom 4. 8. 1975. Das Wort Tugend wurde nicht gebraucht, dazu A IV. 189 Das ist der Prozentsatz der Befragten, die dem Bundeskanzler diese Eigenschaften (in erster Linie) zusprechen. 190 Durch "Verstand und klare Linien" nicht ganz getroffen, aber (hoffentlich) gemeint. 191 über "Mut" und Tapferkeit siehe Abschnitt B VIII. 192 "bedächtig und abwägend". 193 H. Hamm in F AZ vom 18. 12. 1976. 194 Das Hirtenschreiben, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn, spricht von "Grundhaltungen" und von Tugenden. 187 188

XVI. Tugendlehre

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vorgestellt. Beispiele der Anwendung erläutern ihre Funktion. Ein Blatt hat dazu gesagt: die Bischöfe entdecken die Tugenden. In der Tat handelt es sich, so alt jene Tugenden sind, um eine (Wieder-) Entdeckung l95 (A VII). Sie wird bestenfalls die ohnehin ethisch interessierten Angehörigen der Kirche berühren; sie sind nicht zahlreich. Tugenden bedürfen aber unentwegter Lehre im ganzen Volk. 6. So ergibt sich das Fazit, daß die richterliche Tugendlehre aus der allgemeinen wenig erhoffen kann. Ihre Lehre liegt darnieder, ihre Praxis ist in einem Zustand der Erschöpfung. Sie befindet sich in einer Krise. 7. Nun bleibt freilich die Hoffnung, daß die richterliche Gruppenmoral sich in einer besseren Verfassung befindet. Richter haben ja von Amts wegen mit Werten und Tugenden der Rechtsgenossen zu tun. Als Schüler des Rechts haben sie zum Beispiel gelernt, warum Knebelungsverträge (und andere Geschäfte) sittenwidrig nach § 138 BGB sind; daß sog. gegensätzliches Verhalten gegen Treu und Glauben nach § 242 BGB verstößt; wie das Gruppenethos des "ordentlichen" Kaufmanns nach § 347 HGB beschaffen ist und wann es verletzt wird; wann die Beweggründe eines Täters "niedrig" nach § 211 11 StGB sind usw. Das Gelernte üben sie in ihrem Beruf an immer neuen Fällen, die ihnen stets neue ethische Probleme aufgeben. Die Richter sind damit, mag es ihnen auch nicht bewußt sein, Fachleute der Ethik. Deren Gebote müssen sie nicht nur, wie ethische Lehren, in abstracto einsehen, sie werden vielmehr "durch Beispiele und wirkliche Geschäfte" (Kant) in der Ethik geübt und bilden damit, wie kein anderer Beruf, ihre moralische Urteilskraft (A XIV). Man darf daher hoffen, daß die Richter, da sie über fremde (Werte und) Tugenden zu Gericht sitzen, auch über die eigenen nachdenken und eine autonome richterliche Tugendlehre schaffen können. Die Materie solchen Nachdenkens wäre das richterliche Gruppenethos, seine äußere Form ein richterlicher Tugendkatalog, nach Art des in dieser Untersuchung vorgestellten (A V). Ist die ausgesprochene Hoffnung begründet? Ist es selbstverständlich, daß, wer fremdes Ethos diszipliniert, über das eigene wenigstens nachdenkt, als autonome Gruppe nachdenkt? Nachdenken in der Gruppe geht, wie alles Schöpferische in der Welt, vom Einzelnen aus. Er ist hier, wie im allgemeinen sittlichen Bewußtsein der ethische Führer (A VII), das heißt "der Wertsichtige, der sa195 Jene Tugenden sind klassisches Lehrgut der Kirche seit Thomas, in der Krise jedoch, die auch eine der Kirche ist, wie vieles andere vergessen und verloren, daher als Fundsache Gegenstand von Entdeckungen.

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A.

Allgemeines

piens im ersten Wortsinn, der Schmeckende"196. Beispiele solcher Führerschaft im Gruppenethos hat die Richterschaft aufzuweisen. Eine stattliche Reihe von Richtern hat über die Tugenden gerade des vorsitzenden Richters nachgedacht und ihre Überlegungen zur Diskussion gestellt (A V): Schorn, Sarstedt, Steinbrenner, Hennke, Arndt und andere. Führungsqualität im ethischen Sinn hat auch jeder Richter, der seine Gedanken über die Tugenden des Vorsitzenden in die Rechtsprechung eingehen läßt (A XVIII). Die Judikatur zur Sitzungspolizei legt davon Zeugnis ab. 8. Solche Bemühungen ließen sich verstärken durch Befragen der allgemeinen wissenschaftlichen Ethik, die "den Erzieher zu erziehen hat" 197. Viele ihrer Gedanken sind geradezu für die Bewältigung von Krisen gedacht und stehen auf Abruf bereit.

Mehr noch als die allgemeine Ethik ist die Rechtsphilosophie, als juristische und richterliche Ethik, eingeladen, dem richterlichen Gruppenethos an die Hand zu gehen. Es gehört zu ihren Aufgaben, die richterlichen Tugenden zu behandeln, wie es die allgemeine Ethik mit den bürgerlichen Tugenden tut (A VII). Die Richter selber sind berufen, sich hier in ähnlicher Weise wissenschaftlich zu Wort zu melden, wie sie es in anderen juristischen Zweigen, in der Didaktik, Dogmatik und Kommentatorik mit hervorragenden Arbeiten getan haben (A VII). Das hat Friesenhahn in seinem Vortrag vor dem internationalen Richterkongreß 1969 gemeint, als er sagte l98 : "Sie haben in das Programm ihrer Tagung eine Sektion eingebaut: - Die Berufung des Richters in das Richteramt -, wobei Berufung wohl den formalen Akt der Einweisung in das Amt meint. Wäre es nicht sinnvoll gewesen, auch eine Sektion vorzusehen, die nach der Berufung des Richters für den Richterberuf fragt, die charakterlichen und intellektuellen Voraussetzungen zu klären versucht, nach der für die Richter in dieser Zeit nötigen Ausbildung und Fortbildung forscht, damit wirklich nur Berufene berufen werden?" Daß mit den charakterlichen und intellektuellen Voraussetzungen die ("dianoetischen" und "ethischen") Tugenden gemeint sind, ist nicht zweifelhaft. Der Redner selber Rechtslehrer und hoher Richter, hat, zwar mit Skepsis, aber immerhin den Wunsch geäußert, "es möge vielleicht doch möglich sein, auch heute noch für den Richterstand ein besonderes Berufsethos zu entwickeln" .

196 Hartmann, S. 7 (Sapientia kommt von sapere, schmecken, dazu B V). 197 Hartmann, S. 32. 198 Friesenhahn, DRiZ 1969, 176.

XVI. Tugendlehre

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9. Der Staat mit seinen Berufspolitikern, nach dem sonst in der Krise allenthalben gerufen wird, kann seinen Richtern kaum helfen: einen Patienten, gar einen ansteckenden, ruft man nicht ans Krankenbett. Er selber muß hoffen, (unter anderem) an einem richterlichen Gruppenethos zu gesunden l99 . Dann könnte sich zeigen, daß auch die Richter der Staat sind 200 • Vielleicht kann er ein gewisses Instrumentarium beisteuern, das er vielen (pluralistischen) Zwecken gewährt, ohne sich über deren materiale Inhalte Gedanken zu machen: Geld, Tagungen, Seminare, Lehrstühle201 . Dem Staat wird eine tugendkundige Richterschaft klarmachen können, daß Tugend auch Wissen ist. Einem Zuge der Zeit entsprechend, wird Wissen in Prüfungen abgefragt, es muß in Prüfungsordnungen vorkommen. Platz genug für ein Fach der juristischen und richterlichen Berufsethik ist vorhanden; andere, überflüssige, Materien können gestrichen werden.

10. Tugenden, auch die der Richter, sind nicht nur Wissen, sondern auch Obung. Das gehört zu ihrem Begriff als habitus und hexis. Von ihnen gilt, mehr noch als von den Rechtssätzen202 , daß man ihre vis ac potestas beherrschen müsse. Die Rechtsfakultäten können sich ethische Verdienste erwerben, wenn sie ihren Studierenden übungen in einer juristischen Moral anbieten, wozu auch die Lösung von "Fällen" aus dem Reich der Tugenden des Vorsitzenden gehören könnte. Da sie in Standardbegriffen generalklauselartiger Struktur gedacht werden (A XIV), ist ihre Anwendung schwierig. So genügt es nicht, wenn ein vorsitzender Richter weiß, daß die von ihm in § 38 I DRiG beschworene Tugend der Gerechtigkeit nicht nur für das Urteilen in der Sache gilt, sondern auch für das Verfahren selber, die Sitzung. Er muß durch übende Beispiele die Feinheiten der absoluten Gleichheit und ihre Verästelungen im unscheinbaren Geäder der Prozedur kennenlernen. Etwa: schon das "Differenzieren" durch das "Duzen des kleinen Tunichtgut"203 oder das freundliche Zunicken der 199 Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte, daß ein Gruppenethos den Staat rettete. 200 Auf den damit gegebenen "Zirkel", der in Wahrheit eine gegenseitige Abhängigkeit ("Interdependenz") ist, gehe ich nicht ein. 201 In der Staatskrise muß man sich freilich auch auf "Tugendreferenten" und "Tugendcenter" , auch auf die von krisenhaften Staatskünstlern zu empfehlenden "steuerlichen Anreize" gefaßt machen: Fahrten in die Karibische See zum Besuch von Tugend-Intensivkursen, als Werbungskosten absetzbar. 202 Celsus, Dig. I 3, 17: Seire leges non hoc est, verba earum tenere, sed vim ae potestatem. 203 Hennke, Schleswig-Holsteinische Anzeigen 1968, 277; dazu Abschnitte B 11, B IX und B XIII.

A. Allgemeines

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vorsitzenden Richterin204 gegenüber einem Prozeßbevollmächtigten, während es gegenüber dem andern "ganz anders" war, ruft unsere Tugend auf den Plan. Oder: es ist unzureichend, wenn der (richterliche) Tugendschüler so etwas wie eine Definition der wichtigen und verkannten richterlichen Tugend der Distanz (B XIII) hersagen kann. Er muß wissen, daß er sie in concreto verletzt, wenn er in der Urteilsbegründung den Verteidigern dankt, den Staatsanwalt lobt, den Eltern des Mordopfers kondoliert, von seinem eigenen Gericht aber zu rühmen weiß, es sei nach dem Prinzip der gerechten Vergeltung verfahren und wolle seinen Spruch auch als Abschreckungsmittel verstanden wissen205 • 11. Wenn die Richter selber ihr gruppeneigenes Ethos an die Jüngeren weitergeben wollen, wie sie es mit dem geltenden Recht und seiner Anwendung gegenüber den Referendaren tun, brauchen sie nicht nur eine Tugendlehre, sondern auch Tugendlehrer. Als solche können sie nebenbei wirken, wenn sie aus gegebenem Anlaß den Kollegen tugendliche Hinweise geben. Es sind aber auch, wie für andere Spezialitäten, besondere Tugendlehrer denkbar und bestellbar. Leicht wird man sie nicht finden. Die Tugenden, die sie lehren, sollten sie selber üben206 • Worte belehren zwar, aber Beispiele reißen mit. Diese Weisheit, geradezu für die Tugenden gedacht, denn ihr Weg ist steil, ist, wie andere Weisheiten, zur Zeit verschüttet. Die Hamburger UntersuchungM beginnt mit dem vielsagenden Satz: "Im Bereich der Erziehung setzt sich in Untersuchungen die Erkenntnis durch, daß Lehrer durch die Art ihres sozialen Verhaltens Schüler entscheidend beeinflussen". Das ist freilich eine alte Wahrheit, die keiner "Untersuchungen" bedurfte; durch "Wissenschaft" kann sie eher verdunkelt werden208 , wie viele andere "Erkenntnisse" auch. Die alte Erfahrung vom Effekt des Beispiels gilt also auch für die Richter unter sich. Das geübte Tugendexempel hat seine alten Vorbilder in Familie, Zunft, Kirche, Partei, Staat. Es wirkt im Kontakt der Generationen, baut die Gesellschaft auf und hält sie zusammen. Montesquieu hat von seiner Staatstugend (H I) (vertu politique) gesagt209 : OVG Lüneburg, AnwBl 1974, 132; dazu Abschnitte A XVIII und B 11. Mainzer Allgemeine Zeitung vom 22. 6. 1975, dazu B VI und B XIII. 206 Ein großer Ethiker, der mitunter gegen sein eigenes Ethos verstieß, soll gesagt haben, ein Wegweiser gehe den Weg, den er weise, selber nicht. Für Richter, Männer des Staates und der Praxis, hat diese Meinung keine Geltung. 2f1I Hamburger Untersuchung, S. 284. 208 Die Verdienste der Hamburger Untersuchung selber sind der Verdunkelungsgefahr nicht erlegen; dazu unter 12 in diesem Abschnitt. 209 De l'esprit des lois IV, 5. 204

205

XVI. Tugendlehre

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"Pourque les enfants puissent l'avoir, il y a un moyen sur, c'est que les peres l'aient eux-memes". Ein schlechtes Beispiel210 gab ein Vorsitzender, der sich während der Schluß ausführungen des Verteidigers etwa fünf Minuten lang mit einem beisitzenden Assessor über einen Brief unterhielt. Den zweiten Beisitzer ließ er während der gleichen Schluß ausführungen fünfzehn Minuten lang insgesamt sieben Briefe von Untersuchungsgefangenen zensieren. Vorgelebte Tugendexempel waren das nicht; auch das sog. Generationenproblem war zu Lasten der Älteren betroffen, wenn der Vorsitzende nicht nur der dienstlich Ältere war. 12. Einen verdienstvollen Beitrag zur Theorie und Praxis einer Tugendlehre hat die mehrfach zitierte Hamburger Untersuchung2l1 geliefert. Sie betrifft die Tugend der Umgangsformen (B IX), deren Lehrbarkeit kaum je fraglich, deren praktische Bedeutung aber ebenso ungewöhnlich wie oft vernachlässigt ist. Die Untersuchung hat die Möglichkeiten eines "Selbst-Trainings" mit seinen "Trainingseffekten" im sozialen Verhalten von Richtern gegenüber Angeklagten untersucht. Es kam darauf an, festzustellen, wie tugendwidriges Verhalten durch jenes Selbst-Training geändert werden könnte, ein ausgesprochen tugend-pädagogisches Anliegen. Versuchspersonen waren 33 Gerichtsreferendare. Sie erhielten zum Beispiel die Aufgabe: Was sagen Sie zu dem Angeklagten, wenn dieser wiederholt Ihre Zeugenvernehmung unterbricht? Die Gruppe "trainierte sich selbst" anhand einer Trainingsskala, in welcher Grade der Wertschätzung bzw. Geringschätzung genannt waren. Das Training geschah, ohne Hilfe eines Leiters, während eines wöchentlich stattfindenden Seminars. Vor dem Training lautete zum Beispiel eine Lösung der Aufgabe: "Im Moment ist der Zeuge dran!" Nach dem Training: "Sie können den Zeugen gleich fragen, lassen Sie mich aber bitte bis dahin den Zeugen vernehmen!" Ein anderes Antwortenpaar betraf den zu leise sprechenden Angeklagten. Vorher: "Wenn Sie nicht lauter sprechen, kann ich Sie nicht verstehen. Mein Urteil wird dann vielleicht für Sie ungünstiger ausfallen. Also bitte sprechen Sie lauter!" Nachher: "Bitte denken Sie daran, etwas lauter zu sprechen, wir können Sie sonst nicht verstehen!" Die Hamburger Untersuchung findet, daß sich, zusammen mit der erhöhten Wahrnehmungssensitivität, bei den Gerichtsreferendaren "eine Verminderung gefühlsmäßig unangemessener Äußerungen in projektiven Gerichtssituationen ergab". Sie ist eine empfehlenswerte Tugendschule, die man nicht nur den Gerichtsreferendaren, sondern auch den Richtern, diesen wiederum nicht nur für die Tugend der Umgangs210 211

BGH NJW 1962, 2212, dazu Abschnitt B IV. Hamburger Untersuchung (passim).

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A. Allgemeines

formen, empfehlen kann. Je nach der Werthöhe und Schwierigkeit der zu übenden Tugenden wird die Programmierung eines "Trainings" großer Sachkenntnis und eingehenden Nachdenkens bedürfen. Die in der Rechtsprechung und Literatur verfügbaren "Fälle" können als wertvolle Materialien dienen. 13. Einen vergleichbaren Gedanken hat ein Mann der forensischen Praxis geäußert212 • Er fordert eine "gezielte Schulung von Strafrichtern und Staatsanwälten in prozeßtaktischen Fragen", damit sie Prozeßstörungen und -sabotagen gewachsen sind. Die Justizminister sollten Fortbildungstagungen veranstalten, die sich mit Fragen der Prozeßsabotage befassen. Damit ist für eine einzige Frage ausgesprochen, was in den gegenwärtigen überlegungen für viele einschlägige vertreten wird. Die "Taktik" des Richters ist eine Variante der Sitzungsklugheit (B VI), die sich (auch) mit der Behandlung querulatorischer Ablehnungsanträge 213 befaßt. Sie gehört zu den Fragen, für deren Lösung (auch) unsere Tugenden, zum Beispiel eben die der Klugheit (B VI), zuständig sind. Freilich ist sie nur eine von vielen. 14. Da richterliche Tugenden in richterlichen Seelen vorkommen, sind sie auch Gegenstände einer Richterpsychologie. Hennke beruft sich auf Bendix, der "eine wissenschaftlich genaue Psychoanalytik des Berufsrichters" gefordert hat, um danach dessen Ausbildung formen zu können. Es ist freilich ein etwas schweres Geschütz, das hier gegen den Richter in Stellung gebracht wird: die Psychoanalytik sollte man ihm ersparen, schon gar die "wissenschaftlich genaue" . Allerdings ist etwas Richtiges an der zitierten Meinung. Eine schlichte Experimentaluntersuchung der rechtsanwendenden Akte 214 könnte lehrreich sein. Man könnte daraus erfahren, welche Denkstrukturen215 in der Psyche des Richters entstehen, wenn er Recht anwendet, in unserem Falle das des § 176 GVG mit seinen Tugenden. Auch sitzungspolizeiliche Akte ließen sich nämlich auf diese Weise beschreiben. Die Methoden der Analyse würden denen der Denkpsychologie entsprechen. Das "laute Denken" des Befragten (Was machen Sie, wenn ... ?) wäre eine der Möglichkeiten. Die nachträgliche Reflexion des Vorsitzenden auf seine soeben in der (wirklichen) Sitzung getroffene Entscheidung anhand von Fragen wäre eine andere. Von Bedeutung für unseren Zusammenhang wäre natürlich das Auftauchen (oder Fehlen) von Tugenden in solchen Situationen. 212

213 214 215

H. H. Günter (Oberstaatsanwalt), DRiZ 1977, 242. Das ist die von Günter in DRiZ 1977, 242 untersuchte Frage. Scheuerle, Rechtsanwendung, S. 18 f. Mögliche Strukturen sind bei Scheuerle, a. a. 0., passim, beschrieben.

XVII. Tugendvergleiche

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Spannend würde eine zweite Reihe von denkpsychologischen Experimenten mit den gleichen Richtern sein. Sie hätte stattzufinden, nachdem jene Richter ihre Tugenden oder wenigstens die (denkpsychologisch aufweisbare) Frage nach Tugenden "gelernt" hätten. Eine solche Frage wäre den Strukturen vergleichbar, die entstehen, wenn eine Versuchsperson zwar die konkrete Lösungsmöglichkeit (zum Beispiel eine Rechtsnorm) nicht kennt, aber doch weiß, daß man sie (zum Beispiel die "in Frage kommende" Rechtsnorm) finden kann, wenn man sie auf die richtige Art 216 sucht. Solche Strukturen könnten sich bezüglich der "Anwendung" von Tugenden oder ihrer "Auffindung" als sog. Lösungsmethoden ergeben. Methoden dieser Art ließen sich denen der Hamburger Untersuchung (A XVI) an die Seite stellen, die die Möglichkeiten einer Verhaltensänderung durch "Training" prüfen wollte. Betraf jene Untersuchung die relativ leicht erkennbare Materie der Umgangsformen, so könnten die vorgeschlagenen Methoden sich mit schwierigeren anderen Tugenden befassen. Durch solche Bestandsaufnahmen und Versuche könnte man über die "Tugendwirklichkeit" einige Gewißheit gewinnen. Auch die Veränderbarkeit durch "gelernte" Tugenden ließe sich zeigen. Kenntnisse dieser Art könnten einer Tugendlehre, wenn die Richter und ihr Staat sich überhaupt mit ihr befreunden wollen, die Wege ebnen. XVII. Tugendvergleiche Wenn man in der Krise über Tugenden nachdenkt, die ja unentbehrliche Bestandteile "jeder Ordnung"217 sind, sollte man alle Möglichkeiten ausnutzen, die Kenntnis von ihnen zu vermehren. Solche Möglichkeiten können auch Tugendvergleiche sein, d. h. die Betrachtung anderer Ordnungen mit ihren Tugenden und Lastern. Dem Rechtskundigen ist diese Weise der Kenntnismehrung vertraut; er weiß, welche Nutzung die Rechtsvergleichung dem Gesetzgeber und Richter bringen kann. 1. Tugendvergleiche solcher Art sind auf eine doppelte Weise möglich. Einmal kann man sich fragen, wie es um die Tugenden der Vorsitzenden anderer Ordnungen steht; etwa des Lehrers in der Schule, des Pfarrers in der Kirche, des Schiedsrichters im Sport, des Parlamentspräsidenten, des Führers einer militärischen Einheit usw.

216 "Aufgabenstrukturen"; dazu Scheuerle, a. a. 0., S. 178 ff. 217 Behrendt, Futurum 1968, 46.

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A. Allgemeines

Sodann kann man zu erforschen trachten, was ausländische Gerichtsvorsitzende von den Tugenden ihrer Gruppe halten und, vor allem, wie sie sie in fora praktizieren. 2. Für die erste Gruppe von Tugendvergleichen ist der Lehrer im Klassenzimmer charakteristisch. Einmal ist er seit alters Gegenstand von Lob und Tadel, von Witzen und Schulgeschichten, von Lebenserinnerungen großer Männer 18 und von Anekdoten bei Klassentreffen. Sodann aber ist er in der Krise ein Problem ernster Natur: viele Lehrer haben es aufgegeben, die "Ordnung" in der Sitzung der Klasse aufrechtzuerhalten, weil sie dabei weder von ihren Vorgesetzten und Ministern noch von den Massenmedien unterstützt werden. So müssen sie die Klasse flehentlich, mitunter vergeblich, um die nötige Ordnung bitten219 • Viele resignieren oder verzweifeln am Sinn ihrer Arbeit. Mitunter kann eine Schule den ganzen Staat beschäftigen. So kann die Presse berichten220 : "Vor einem Untersuchungsausschuß des Hessischen Landtags rollt in diesen Tagen noch einmal das Drama des Frankfurter Abendgymnasiums ab, dessen Skandale seit Jahren Öffentlichkeit, Behörden und Publizistik beschäftigen. Und dabei zeigt sich: der Fall ist keineswegs ausgestanden, sondern geht weiter." Der Skandal betraf nicht die Lehre als solche, sondern die Ordnung in Klasse und Schule. So wurde zum Beispiel eine "Prüfung" für das "Abitur" abgenommen, "obwohl sich die Prüflinge teilweise als Clowns bis zur Unkenntlichkeit geschminkt und maskiert hatten." Die Direktorin wurde von einem Schüler tätlich angegriffen. Vom Staat sagte ein Lehrer: "Er hat uns der Lynchjustiz in der Schule überlassen." Die pädagogische Literatur hat sich seit Jahren allgemein des Themas angenommen221 und bietet "Skills" des Lehrerverhaltens an, deren Isolierung "das Lehrerverhalten trainierbar macht"222. Ob man damit ein Gegengewicht gegen die (dogmatisierte) "Freiheit" der Schüler schaffen kann, ist ungewiß. Der Unterschied zur gerichtlichen Sitzung ist im übrigen evident: diese ist eine "Wahrheits-Ordnung" (B IV), die der Schule eine Arbeits-Ordnung, die Arbeit (zur Zeit) weniger hochgehalten, als (zur Zeit noch) die Wahrheit. Mag jenen "Skills" ein Erfolg beschieden sein oder nicht, richterliche Tugendlehrer müssen die Entwicklung ver218 Zum Beispiel von Brecht, Döblin, Hesse und vielen anderen in der instruktiven Sammlung "Unterbrochene Schulstunde", Suhrkamp Taschenbuch 48. 219 Bitten, gar flehentliches, ist kein "Aufrechterhalten der Ordnung", wenn die Adressaten eine andere "Ordnung" vorziehen. 220 F. U. Fack in F AZ vom 18. 1. 1980. 221 Zum Beispiel Grell, passim. 222 Grell, S. 191.

XVII. Tugendvergleiche

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folgen: Schüler von heute sind Rechtssuchende und Deliquenten von morgen. 3. Daß die Tugenden der Richter ein internationaler Sachverhalt, die nationalen Tugenden also vergleichbar sind, ist gewiß. Friesenhahn223 hat, als er von der Aporie des Richters in unserer Zeit sprach, gesagt, sie sei "nicht nur ein deutsches Problem". Der Beruf des Richters ist ein Urberuf der Menschheit. Er kann Eigenschaften besitzen, die ihm wesensgemäß sind, ohne die ein Staatsfunktionär kein Richter ist (A XVI). Er wird darum auch wesensgemäße Tugenden zeigen. Doch werden sich, wie in anderen Bereichen des menschlichen Lebens, nationale Unterschiede ergeben, aus denen man lernen kann. Es wäre eine Aufgabe von großen Verdiensten, hier Erfahrungen zu sammeln. Sie bedürfte reicher Kenntnis fremder Sprachen, Rechte und Volkscharaktere, wenn Mißverständnisse vermieden werden sollen. 4. Was bisher zur Verfügung steht, ist nur ein Anfang. So hat Roesen224 den deutschen Strafrichter wegen seiner Kenntnisse, seiner Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit gelobt, aber seine Umgangsformen gerügt; in seiner großen Strafverteidigerpraxis hat er nie beobachtet, daß ein angelsächsischer Richter einen Angeklagten oder einen Zeugen beschimpft hätte22S • Ein amerikanischer Autor hat dem sowjetrussischen Richter ein Buch226 gewidmet, das in vielfacher Hinsicht lehrreich ist; in einem unzeremoniellen Verfahren können sich die Beteiligten ungerügt Manches leisten, doch "haftet ihm jene Würde und Feierlichkeit an, die für einen Gerichtssaal wesentlich ist"227. Das kommt u. a. von den Polizeikräften, die (wie auch in Italien und Frankreich) die Sitzung sichern, sowie von der Härte im Urteilsspruch. Dem amerikanischen Vorsitzenden hat Schwinge228 seine Aufmerksamkeit gewidmet, freilich nur in Sensationsfällen, die nicht nachahmenswert sind229 • Lateinische Richter (aus Frankreich und Italien) sind für Tugendvergleiche besonders zu empfehlen, da sie eine große Bereitschaft zeigen, den ausländischen Kollegen zu informieren und ihm auch die Akten zugänglich zu machen. Der deutsche Richter-Urlauber kann seine italieniFriesenhahn, DRiZ 1969, 183. Bei Schorn, S. 225. 225 Es war eine sensationelle Ausnahme, als ein britischer Richter einen Zeugen als "Lügner, Betrüger, Abstauber, Heuler und Parasiten" bezeichnete, freilich in einem sensationellen Fall, der das ganze Land in Aufruhr brachte und für Publizität sorgte (Grudinski in FAZ vom 23.7.1979). 226 Feifer, passim. 227 über einen Fall vor dem Gericht eines anderen sozialistischen Staates, in Radom (Polen), der den unsrigen ähnelt, siehe Spiegel vom 17. 1. 1977, S. 78. 228 Schwinge, Die politische Meinung 1975, 36--40. 229 Siehe auch die Beispielsfälle unten in Abschnitt B. 223

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A. Allgemeines

sehen und französischen Kollegen230 kennenlernen als Vorsitzende mit elastischer Aufmerksamkeit und vorbildlicher Distanz; mit Besonnenheit, aber raschem Zugriff; mit Fairness, aber maßvoller Härte; mit Kürze, aber ohne Hast; mit einer natürlichen Würde, die, vermöge traditioneller Sitzungs-Klugheit (B VI), der Staat durch ein stets präsentes, erhebliches Polizeiaufgebot sichert. In Berichten über Sensationsprozesse vor niederländischen Gerichten sind die Weisheit (B V)231, die Sitzungsklugheit (B VI) und der "moderate Ton" der holländischen Richter gelobt worden. Das Geheimnis der holländischen Richtertugenden hat unsere Presse zu dem neidvollen Satz veranlaßt232 : "Es gibt keine fixe Antwort dafür, warum das in Holland so und in der Bundesrepublik ganz anders ist. Aber der Versuch würde sich lohnen, dahinterzukommen, um entsprechende Schlüsse ziehen zu können" . Freilich gibt es die vermißte "fixe Antwort" doch; sie lautet: die Tugenden der holländischen Richter fehlen ihren deutschen Kollegen. Voll ähnlicher Bewunderung war die deutsche Presse über den schweizerischen Sensationsprozeß in Pruntrut gegen deutsche Angeklagte, weil er nicht "bis zum Makabren und Komischen getrieben zu werden brauchte"233; damit war ein Vergleich mit ähnlichen Verfahren bei uns gemeint. 5. Wenn die richterlichen Tugenden in Beziehungen zu den allgemeinen Tugenden stehen und aus ihnen ganz oder teilweise hervorgehen (A V), könnten richterliche Tugendlehrer (A XVI) ihren vergleichenden Blick auch auf auswärtige staatliche Tugendkataloge richten. Hier könnten, bei allen Verschiedenheiten, die Moralkodices der sozialistischen Staaten, zum Beispiel der UdSSR, von Interesse sein234 • Ihre Tugenden finden sich im Statut der Kommunistischen Partei, Titel 59, zuletzt beschlossen 1971. Da die Partei nach Art. 126 der Verfassung den steuernden Kern des Staates bildet und dieser ihre Werte übernimmt, kommt dem sowjetischen Moralkodex235 Verfassungsrang zu. Es gibt politische Tugenden (Liebe zum sozialistischen Vaterland, seinem Vermögen und

230 über eine "imponierende Richtererscheinung" in Frankreich berichtet Seibert, JZ 1970, 543. 231 Sie betraf die Steuerung der Monsterverfahren gegen die Süd-Molukker; dazu die Abschnitte B II und B V. 232 Frankfurter Rundschau vom 8. 12. 1977. 233 FAZ vom 7.7.1978. 234 Zur geschichtlichen Entwicklung der sozialistischen (kommunistischen) Tugenden siehe Herder-Enzyklopädie, Sowjetsystem Band 2, S. 319 ff.; als neueres Beispiel der reichen sowjetrussischen Literatur siehe L. J. Ruvinskij, Problemy nravstvennovo vospitanija, Moskva 1977. 235 Die sowjetische Ausdrucksweise spricht von moraljnyi kodeks.

XVIII. Tugendsanktionen

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seiner Arbeit), Familientugenden (gegenseitige Liebe in der Familie, Sorge für die Kinder und ihre Erziehung) und allgemeine Bürgertugenden (Ehrlichkeit, Rechtschaffenheit, sittliche Reinheit, Einfachheit, Bescheidenheit), sowie einen Lasterkatalog (Ungerechtigkeit, Schmarotzertum, Unehrlichkeit, Karrieredenken, Erwerbssucht). Bemerkenswert sind die tugendpolizeilichen (A XVIII) Gebote; zu ihnen gehört die Unduldsamkeit (neterpimostj) gegenüber Tugendverletzungen. Die Untersuchung der Tugendwirklichkeit ist, hier wie anderswo, ein Feld der soziologischen Forschung. Daß von den Tugenden in derart hervortretender Form geredet (A IV) wird, ist zu vermerken. Eine Moral mit dem gleichen Inhalt wie die sowjetische gilt nach der Präambel zum Arbeitsgesetzbuch der DDR vom 1. Januar 1978 als Rechtsnorm. Dem Arbeitsrecht wird die Aufgabe zugewiesen, "die Beziehungen der Werktätigen im Arbeitsprozeß entsprechend dem sozialistischen Charakter der Arbeit und den von den Anschauungen der Arbeiterklasse bestimmten Prinzipien der Moral zu gestalten". Mit den Prinzipien der Moral sind die Tugenden und ihre Werte gemeint. Auch hier bedarf die Tugendwirklichkeit (A IV) der Beobachtung. Wiederum gilt: schon daß von den Tugenden (Prinzipien) geredet wird, könnte der Westen von dort lernen. Einen Sittenkatalog, der auch vertont werden soll, haben Ende 1979 die chinesischen Schulkinder erhalten236 • Sie sollen hiernach ihr Heimatland, die Menschen und die Physiklaboratorien lieben, angestrengt lernen, die Gesetze beachten, ihre Lehrer respektieren, mit den anderen Schülern zusammenarbeiten, höflich sein, nicht fluchen und streiten, die öffentliche Ruhe verteidigen, bescheiden und ehrlich sein, und schließlich, die Fehler anderer korrigieren. Auch wenn keine der vorgeschriebenen Tugenden dort wirklich geübt werden sollte, könnten sich unsere Minister den Katalog durch den Kopf gehen lassen; die Staatskrise läßt es geraten sein. XVIII. Tugendsanktionen

Damit Tugenden nicht außer Übung kommen, bedarf es der Moralpolizei, der Tugendpolizei, der Tugendsanktionen237 • Das ist die soziale und emotionale Komponente, die allen Tugendsystemen eigen ist, wenn sie Bestand haben. So sagt der 174 Jahre alte Ehren- und Tugendkodex der amerikanischen Militärakademie West Point nicht nur, daß ein Kadett nicht lügt, betrügt oder stiehlt, sondern er fügt auch hinzu: Reuter vom 7. 9. 1979 in FAZ vom 8.9. 1979. Die (alte) Frage des Zusammenhanges (Widerspruch) zwischen Freiheit (Gruppenautonomie) und Zwang (Sanktionen) bespreche ich hier nicht. 236

237

5 Scheuerle

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A. Allgemeines

" ... und duldet dies auch nicht bei seinen Kameraden"238. Ein anderer Moralkodex, der des sowjetrussischen Parteistatus, statuiert nicht nur Tugenden, sondern sanktioniert ihre Praxis durch das wiederholte Gebot der Unduldsamkeit und Unversöhnlichkeit gegenüber Moralverstößen (A XVII). 1. Tugendsanktionen, die im gegenwärtigen Zusammenhang interessieren, können rechtlicher und außerrechtlicher Art sein.

a) Wenn der Gesetzgeber richterliche Tugenden mit Sanktionen bewehren will, kann er diese in die Wertbegriffe seines Richtergesetzes einbeziehen, etwa: Befähigung (§§ 5, 9 Ziffer 3 DRiG); unwürdig (§ 19 Ziffer 4); dienstunfähig (§ 21 II Ziffer 5); nicht geeignet (§ 22 II Ziffer 1) usw. Auch sie sind, wie der Begriff der Ordnung des § 176 GVG tugendkonform (A X) zu interpretieren. Ist also ein Richter auf Probe zu entlassen, weil er ständig die Tugend des Umgangs (B IX) verletzt und daher nach § 22 II Ziffer 1 DRiG für das Richteramt nicht geeignet ist, so wird die genannte Tugend im gegebenen Fall durch die gesetzliche Sanktion gesichert. Schwächer ist die Sanktion, wenn ein Richter nach § 26 II DRiG zur ordnungsgemäßen Erledigung der Amtsgeschäfte nur ermahnt wird, weil er die gleiche Tugend verachtet hat. Ebenso kann die Tugend der Gerechtigkeiit (B II) nach § 21 II Ziffer 1 DRiG gesichert werden, wenn ein Richter entlassen wird, der sich weigert, den Richtereid zu leisten; denn dieser umfaßt auch die genannte Tugend (§ 38 I DRiG). Die Staatstugend (B I) (§ 38 I: "getreu dem Grundgesetz") genießt den gleichen Schutz. Rechtliche Tugendsanktionen sind auch jene des Rechts der Sitzungspolizei, etwa der §§ 177 Satz 2, 178 II, 181 GVG. Allen ist gemeinsam, daß die in den genannten Rechtssätzen berufenen Instanzen (Gericht, Beschwerdeinstanz) eine Anordnung des Vorsitzenden (nach § 176 GVG) disziplinieren können. Versagen sie einer tugendlosen Maßnahme die Vollstreckung, so halten sie die Tugend hoch; diskreditieren sie einen tugendgemäßen Akt, so befördern sie die Untugend; honorieren sie hingegen den letzteren durch Vollstreckung, so erweisen sie sich wiederum als Tugendhüter. b) Eine im Rahmen des § 176 GVG begangene Tugendverachtung kann auch zur Aufhebung der Entscheidung in der Sache führen, eine schwere Sanktion. Ein Vorsitzender ist zum Beispiel239 "einer schwierigen, spannungsgeladenen Hauptverhandlung" nicht gewachsen, weil ihm die Tugenden 238 Mainzer Allgemeine Zeitung vom 28. 8. 1976. 239 BGH NJW 1962, 1260; dazu Abschnitt B X.

XVIII. Tugendsanktionen

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der Besonnenheit (B VII), der Gelassenheit (B XI) und der Selbstbeherrschung (B X) fehlen: er weist einen Zuhörer grundlos aus dem Saal. Mit dieser "von Unmut beeinflußten Maßnahme hält er sich nicht mehr innerhalb der ihm von § 176 GVG verliehenen Befugnisse". Sein Urteil verletzt nach Meinung des BGH (dazu B X) § 338 Ziffer 5 StPO, es wird aufgehoben. Die Aufhebung in der Sache ist die Sanktion der Untugend in der Sitzung. Ein ähnlicher Fall kann darin bestehen, daß ein Richter, durch freundliches Mienenspiel gegenüber einer Partei, deren Bevorzugung erkennen läßf4O • Er verachtet die der Tugend der Gerechtigkeit eigene, absolute Gleichbehandlung der Beteiligten in der Sitzung (B 11). Er ist befangen, sein Spruch wird (nach §§ 551 Ziffer 3 ZPO bzw. 338 Ziffer 3 StPO) aufgehoben. 2. Wichtiger als die rechtlichen sind die außerrechtlichen Tugendsanktionen. Tugendpolizei und Moralpolizei greifen dort ein, wo das schwerfälligere Gesetz nicht (mehr) wirkt. Indem sie vor allem das (sozialpsychologische) Kleinklima menschlichen Verhaltens bewachen, sind sie unentbehrliche Instrumente aller Moralen und Tugendsysteme. Ihr Hauptwerkzeug ist die Verachtung des Tugendlosen. So sollte ein Richter der Verachtung verfallen, der durch unwürdige Umgangsformen (B IX) nicht nur einen Prozeßbeteiligten, sondern ebendadurch den Staat und alle seine Richter beleidigt. Seine Kollegen sollten ihn als unkollegialen Kollegen meiden, an statt seine Tugendverletzungen mit Vergnügen zu zitieren. In ähnlicher Weise könnte ein vorsitzender Richter zu behandeln sein, dem die Tugend der Tapferkeit (B VIII) fremd ist, weshalb er die zur Aufrechterhaltung der Ordnung nötigen Maßnahmen unterläßt und seine Sitzung zu einem sogenannten Happening (B IV) herabwürdigt. Auch er stört nicht nur selber seine Sitzung, anstatt ihre Ordnung aufrechtzuerhalten, sondern er bringt alle Kollegen und seinen Staat in Mißkredit.

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OVG Lüneburg, AnwBl 1974, 132.

B. Einzelne Tugenden Obwohl, wie die Stoa meint, alle Tugenden in einem unauflöslichen Zusammenhang stehen, unterscheiden sie sich doch durch ihre Eigenständigkeiten und Verschiedenheiten, ihre Dominanten (A VI). Will man also den tugendhaften Vorsitzenden kennenlernen, dann muß man seine einzelnen Tugenden ins Auge fassen.

I. Staatstugend 1. Jeder Staat muß, wenn er nicht untergehen will, seinen Bürgern die Staatstugend wünschen, wie sie Montesquieu als vertu politique beschrieben hat: on peut definir cette vertu l'amour des lois et de la patrie 241 •

a) Die Liebe zum Gesetz als Stoff einer Tugend hervorzuheben, ist in der Krise nicht überflüssig. Denn hier gilt, daß es mit dem sprichwörtlichen deutschen Gesetzesgehorsam "nicht mehr so weit her ist" 242. Das Wort Lenins von den deutschen Revolutionären, die einen Bahnhof erst stürmten, wenn sie vorher Bahnsteigkarten gekauft hatten, ist nicht mehr wahr243 • Der Tugendappell des Staatsphilosophen wendet sich an alle Bürger. Die Richter dürfen sich besonders betroffen fühlen: ihr Dienstherr läßt sie schwören, ihr Amt getreu dem Grundgesetz und244 getreu dem Gesetz auszuüben (§ 38 I DRiG). Auch Richter sind gegen die Verachtung des Gesetzes nicht gefeit. Eine "Ignorierung des Rechts" und "vorsätzliche Verfahrensverstöße" , den neuen § 348 ZPO betreffend, wirft ein Richter 245 seinen Kollegen vor, die das neue Recht mißachten und "wie bisher" verfahren. Die Rechtsbeugung ist zudem ein klassisches Delikt. b) Zur Staatstugend, wie sie Montesquieu versteht, gehört auch die Vaterlandsliebe. Das Wort ist bei uns fast außer Gebrauch, auf die Montesquieu, Oe l'Esprit des lais, IV 5. Reissmüller in FAZ vom 22. 7. 1975 (Was gilt uns das Gesetz?). Oie Bahnsteigkarten sind daher abgeschafft, aber das Wort ist noch verständlich. 244 Ein gesetzgeberischer Pleonasmus; das Grundgesetz könnte fortbleiben. 245 Schneider, MOR 1976, 617 ff. 241

242 243

I. Staatstugend

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Sache kann kein Staat der Welt 246 verzichten. Die Antwort auf die Frage, ob ein Richter ohne Vaterlandsliebe sein Amt "getreu dem Grundgesetz" (§ 38 DRiG) ausüben kann, scheint aber nicht selbstverständlich zu sein. Friesenhahn247 mußte 1969 die bedeutungsvollen Sätze aussprechen: "Die Richter sind Staatsdiener. Daran ist nichts zu drehen und zu deuteln". Mit der Staatsdienerschaft ist, entgegen den Drehern und Deutlern, auch die Vaterlandsliebe gemeint, selbst wenn das furchtsame 248 Gesetz nur von getreuer Ausübung des Richteramtes redet. c) Montesquieu hat die Staatstugend für eine Muttertugend (A VI) gehalten: cet amour, demandant une preference continuelle de l'interet public au sien propre, donne toutes les vertus particulieres; eIl es ne sont que cette preference249 • Das große Wort ist eine Übertreibung. Alle "besonderen" Tugenden hat die Staatstugend kaum hervorgebracht, aber manche. Auch ist sie auf andere Tugenden, etwa die der Gerechtigkeit, fundiert (A XIII): wer als Richter staatstugendhaft handeln will, muß (bereits) der Gerechtigkeit (B 11) gehorchen. Eine sog. Staatsraison, die, jenseits von Gut und Böse, Recht und Sittlichkeit zugunsten eines übergeordneten Staatswohles verachtet, mag hier und dort geübt werden, richterlich ist sie nicht. Im Ethos des Richters hat das individualethische Moment den Vorrang, auch im Reiche der Staatstugend. So wenig er daher den politischen Mord gutheißt, ne capiat detrimentri res publica, so sehr hütet er sich, ein vorsitzender Politiker oder gar Scherge zu sein. Er ist auch kein "Büttel" oder "bloßer" Vollstrecker staatlichen Willens, wie es der Ehrgeiz des früheren Juristen gewesen sein SOU25O. 2. Was sagt die Staatstugend im übrigen dem vorsitzenden Richter für die besonderen Zusammenhänge der gegenwärtigen Überlegungen? a) Einen "positivistischen" Auftrag gibt sie ihm so wenig wie die Verfassung (Art. 97 I GG) oder das Richtergesetz (§ 38 I DRiG). Die Liebe zum "Gesetz", die sie betreut, meint Gesetz und Recht, Recht und Sittlichkeit, Recht und Gerechtigkeit, Recht und Rechtsidee, mit den zahlreichen Fragen, die diese Zweiheiten aufwerfen251 • Freilich gebietet die Staatstugend dem (vorsitzenden) Richter, die Grundwertungen seines Staates zu achten. Das scheint nicht selbstver246 über die Vaterlandsliebe im Moralkodex der UdSSR, der dort die bekannte Bedeutung zugemessen wird, siehe A XVII. 247 Friesenhahn, DRiZ 1969, 171. 248 Dazu Abschnitt B XVII. 249 De I'Esprit des lois, IV 5. 250 Wassermann, Recht und Politik 1969, 9l. 251 Die Fragen werden hier nicht entfaltet. Dazu Engisch, Gerechtigkeit, S. 82 ff., 141 ff., 186 ff.

B. Einzelne Tugenden

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ständlich zu sein. Friesenhahn mußte mahnen252 : "Die kriminalpolitischen Grundlagen der Strafrechtsreform etwa muß der Strafrichter akzeptieren und danach judizieren, auch wenn er theoretisch auf anderem Boden steht." Ein Systemveränderer ist er also nicht, weder nach dieser noch nach jener Richtung. Speziell der Vorsitzende muß zum Beispiel die Grundwertung hinnehmen, daß er seit 1921 253 gegen Rechtsanwälte, die seinen Anweisungen (§ 176 GVG) nicht gehorchen, keine Maßnahmen (§§ 177, 178 GVG) ergreifen kann. Auch hier ist er aber kein "bloßer" Vollstrecker staatlichen Willens. Zwar wird er, wenn ein Rechtsanwalt die Ordnung des § 176 GVG verletzt, in Gelassenheit (B XI), Selbstbeherrschung (B X) und Besonnenheit (B VII) zunächst die Sitzung unterbrechen und, wenn nötig, eine Bestrafung nach Strafrecht und Ehrenrecht in die Wege leiten. Im "Extremfall" wiederholter und außergewöhnlicher Störung wird er aber auch außergewöhnliche Maßnahmen ergreifen (B XVII), diese freilich wiederum nach der Tugend des Maßes (B XIV). Alles das gebietet ihm die Staatstugend als Prinzip (A IX). b) Wenn der vorsitzende Richter in Beachtung des geltenden Rechts die Ordnung der Sitzung aufrechtzuerhalten hat, kommt es nicht darauf an, ob ihn eine Störung der Ordnung persönlich betrifft. Stets betrifft die Störung den Staat (oder sie ist keine Störung im Sinne von § 176 GVG). Es ist daher nicht überflüssig, auf die Selbstverständlichkeit hinzuweisen, daß ein vorsitzender Richter nicht nach persönlichem Gefallen254 , sondern nach pflichtgemäßem Ermessen handelt. Auch wer der Meinung ist, Maßnahmen gegen Verletzungen der Ordnung folgten dem Opportunitätsprinzip255, kann nicht anders verfahren: das genannte Prinzip ist kein persönliches Gefallen oder Mißfallen, sondern Rechtsanwendung nach pflichtgemäßem Ermessen, also generalisierungsfähige Betrachtung. Hiernach beurteilt sich der folgende Fall256 • In einer Hauptverhandlung gegen mehrere Angeklagte wegen Brandstiftung in einer Bank wollten die Zuhörer nicht aufstehen, als die (Belastungs-) Zeugen vereidigt wurden. Die vorsitzende Richterin sagte auf Intervention des Staatsanwalts, das Verhalten der Zuhörer störe sie nicht; die Zuhörer blieben sitzen. Wenn das Aufstehen durch Gewohnheitsrecht geboten war (B IV), durfte die Vorsitzende das Sitzenbleiben nicht gestatten; darauf, ob es sie "störte", kam es nicht an. Freilich mochten die AngeFriesenhahn, DRiZ 1969, 174. Näheres bei Rüping, ZZP 85 (1975), 233, Note 92. 254 Dazu aber B IV über die möglicherweise persönliche Note des pflichtgemäßen Ermessens. 255 Dazu Rüping, ZZP 88 (1975), 223 (mit Literatur). 256 JZ 1974, 139; dazu auch Abschnitt B VIII. 252 253

I. Staatstugend

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klagten und ihre zuhörenden Freunde Leute sein, vor denen jeder Richter Angst haben mußte, gar in der Krise. Dann war die Tugend der Tapferkeit (B VIII) aufgerufen. Der Staatsphilosoph hat diesen Gedanken mitgedacht: seine Staatstugend ist nicht nur ein renoncement a soimeme, sondern auch toujours une chose tres penible257 • Tugendgemäß verhielt sich dagegen ein Vorsitzender, dessen Seelenlage von einem kritischen Beurteiler258 wie folgt beschrieben wird: "Sicher wäre es Herrn Schwerdtner persönlich gleichgültig, wie sich die jungen Leute benehmen. Doch hat er die Würde259 des Gerichts zu wahren, und die, darauf besteht er ersichtlich, darf ihm nicht gleichgültig sein". c) Der Vorsitzende muß die Ordnung der Sitzung auch gegenüber den anderen Organen der Rechtspflege aufrechterhalten; das fordert auch die Tugend der Ordnung (B IV). Die Staatstugend gebietet, dabei zu beachten, daß er den Staat in Gestalt seiner Organe rügt. Das sollte er zwar gründlich, aber in einer Weise tun, wie man mit seinem Staat umgeht. Einen unhöflichen Ausdruck des Staatsanwalts beanstandet er entschieden, aber ruhig. Einen eingeschlafenen Beisitzer (B IV) weckt er nicht nach Kasernenart; er wird vielmehr die Sitzung unterbrechen und den schlafenden Störer, den die Unterbrechung wiedererweckt hat, im Beratungszimmer über die Ordnung als Rechtsbegriff (§ 176 GVG) und als Tugend (B IV) belehren. Das gleiche staatstugendhafte Prinzip muß auch gegenüber einem Kollegen gelten, der als Zuhörer im Saal sitzt. Ein Vorsitzender hatte einen Staatsanwalt gerügt260 und aus dem Sitzungszimmer gewiesen, der in Hemd und Krawatte, aber ohne Jacke, auf einem für Pressevertreter oder Sachverständige vorgesehenen Sitzplatz saß, um zu warten, bis der von ihm zu vertretende Fall aufgerufen würde. Das Revisionsgericht, wohin die Sache wegen § 338 Nr. 6 StPO und § 169 GVG gelangte, sagte, es hätte sich für die Beanstandung eine mildere, mehr kollegiale Form finden lassen, zum Beispiel etwa durch eine über den Wachtmeister an den Staatsanwalt unauffällig übermittelte Bitte261 • Ein schö257

258 259

BIV.

De l'Esprit des lois, IV 5. Mauz, Die Gerechten, S. 287. über deren Verhältnis zum geltenden Recht und zur Ordnung siehe

DRiZ 1976, 283; dazu Abschnitt B VI. Der Bundestagspräsident (Stücklen) hat nach einer Rundfunkmeldung vom 17.1.1980 einem fortschrittlichen Abgeordneten, der im offenen Hemdkragen die Regierungserklärung des Bundeskanzlers anhörte, durch einen Angestellten eine Krawatte überreichen lassen, noch dazu "aus eigenen Beständen". 260 261

B. Einzelne Tugenden

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ner Fall von Tugendkonkurrenz (A XIII); beteiligt sind die Tugenden der Ordnung (B IV), der Klugheit (B VI), des Umgangs (B IX) und die Staatstugend; betroffen war nämlich weniger der "Kollege" als der Staat. d) Zur Wertschätzung des Gesetzes, wie sie die Staatstugend vorsieht, gehört es auch, daß der Vorsitzende in der Urteilsbegründung nicht seine oder des Gerichts eigene Entscheidung bedauert, denn sie ist das "Gesetz des Einzelfalles". Das geschieht aber in den nicht seltenen262 Fällen, in denen dem Angeklagten strafmildernde Umstände "leider"263 versagt werden mußten. Hoffentlich standen sie ihm nach geltendem Recht und richtigem Ermessen nicht zu, sonst hätte er sie erhalten müssen. Andere Tugenden konkurrieren (A XIII), zum Beispiel die der Distanz (B XIII). Ebensowenig sollte der Vorsitzende das Gesetz in Frage stellen, an das er gebunden ist. Zwei Mörder im Alter von 28 bzw. 19 Jahren hatten zwei Kinder unter schrecklichen Umständen getötet. Der Ältere wurde zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt, der Jüngere zu zehn Jahren Jugendstrafe; damit erhielten beide die vom Gesetz vorgesehenen Höchststrafen. Der Vorsitzende sagte dazu, man habe zwar die Diskrepanz zwischen den beiden Strafen als schwer tragbar empfunden, sei jedoch an das Gesetz gebunden und habe deshalb auf die Jugend des Angeklagten S. Rücksicht nehmen müssen264 . Damit ist der Grundgedanke des Jugendstrafrechts in Frage gestellt und die Selbstverständlichkeit ausgesprochen, das Gericht habe auf die Jugend des einen Täters Rücksicht nehmen müssen. Die Staatstugend widerspricht, die Klugheit (B VI) und die Distanz (B XIII) konkurrieren (A XIII). Nach einer dpa-Meldung aus Los Angeles vom 23.10.1979 sagte ein Vorsitzender zu dem Angeklagten, der zu fünfmal lebenslänglichem Freiheitsentzug verurteilt worden war: "Ich wollte, ich hätte die Macht, Sie die einzelnen Strafen nacheinander verbüßen zu lassen." Das hätte er nicht sagen sollen. Mag er, angesichts der schrecklichen Taten des Delinquenten, mit lebenslänglichem Zuchthaus unzufrieden gewesen sein. Das staatliche Gesetz (und gar die menschliche Lebenszeit) sollte er bestehen lassen. Das riet ihm die Staatstugend. Andere Tugenden, zum Beispiel die der Klugheit (B VI) oder der Distanz (B XIII), auch der Bescheidenheit (B XII) konkurrieren (A XIII). Dazu auch Seibert, JZ 1970, 543. Der gleiche peinliche Eindruck entsteht, wenn der Vorsitzende einer Prüfung dem durchgefallenen Kandidaten eröffnet, er habe "leider nicht bestanden". Man muß hoffen, er sei nach geltendem Recht durchgefallen, also weder "Gott sei Dank!" noch "leider", sondern eben "von Rechts wegen". 264 FAZ vom 11. 3. 1978. 262 263

I!. Gerechtigkeit

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3. In der Krise der pluralistischen Gesellschaft hat es die Staatstugend schwer, wenn es um ihr Bekennen geht. Ein Vorsitzender, schon wenn er von seiner Staatstreue oder gar von seiner Vaterlandsliebe spricht, muß damit rechnen, daß er in mächtigen Blättern Schlagzeilen macht, die ihm nicht gefallen. Die Staatstugend muß sich, wo sie existiert, verbergen: das eben ist die Krise. Anders im singularistischen Staat mit staatlichem Moralkodex, zum Beispiel in der UdSSR (A XVII). Dort kann ein Vorsitzender zu einem (nicht vorbestraften) Angeklagten, der wegen Diebstahls von einem Paar (gebrauchter) Gummistiefel zu einem Jahr Arbeitslager verurteilt und sofort dorthin abgeführt wird, sagen265 : "Vier Monate ohne Arbeitsplatz! Nichts tun und von dem Geld der anderen leben! Ein Schmarotzer! So erfüllen Sie Ihre Pflichten als Sowjetbürger"! Hier geht die Staatstugend in die Argumentatorik des Richters ein, der damit in foro zum Tugendlehrer wird.

11. Gerechtigkeit Die "heiße Flamme der Gerechtigkeit" (Radbruch)166 ist nicht nur das principium iuris267 und daher "der höchste Wert der Kulturwissenschaft"268, sondern, noch allgemeiner, das sprichwörtliche fundamenturn regnorum. Daher läßt der Staat seine Richter schwören, der Gerechtigkeit zu dienen (§ 38 I DRiG), und macht diese damit zum Rechtsbegriff. Seit Plato gilt die Gerechtigkeit (dikaiosyne) als die höchste der Kardinaltugenden, als Krönung von Selbstbeherrschung, Tapferkeit und W eishei t 269 • 1. Die ethische Gerechtigkeit, der Gegenstand unserer Tugend, sieht sich der rechtsbegrifflichen Gerechtigkeit des § 38 I DRiG (und anderer Rechtssätze, zum Beispiel des Art. 1 11 GG) gegenüber. Wie verhalten sich beide zueinander?

a) Der Rechtsbegriff der Gerechtigkeit ist ein Wertbegriff270 , wie zum Beispiel der Begriff der guten Sitten des § 138 BGB. Wie dieser enthält Feifer, S. 45. G. Radbruch, Des Reichsjustizministeriums Ruhm und Ende, 1948; dazu Bundesjustizminister Vogel in Bulletin Nr. 7, S. 70 vom 27. 1. 1977. 267 H. J. Wolf, Festschrift für Sauer, 1949, S. 103 ff. 268 J. Baumann, S. 3. 269 Auf die mit der Frage nach jenem Rang verbundenen Probleme gehe ich nicht ein, auch nicht auf den biblischen Begriff des Gerechten; dazu Bollnow, Wesen und Wandel, S. 185 ff.; Hartmann, S. 421 ff.; Engisch, Gerechtigkeit, S. 147 ff. 270 Coing, S. 271; dazu auch A III. 265

266

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B. Einzelne Tugenden

er eine Verweisung auf einen ethischen Wert: die rechtsbegriffliche Gerechtigkeit verweist auf die ethische, (rechts-) philosophische. b) Deren Inhalt ist bestritten271 • Die Frage lautet: Was gewährt die Gerechtigkeit dem einzelnen, was ist das suum cuique? Die Antworten können lauten, sie gebe jedem entweder a) das Gleiche oder b) nach seinen Verdiensten oder c) nach seinen Werken oder d) nach seinen Bedürfnissen oder e) nach seinem Rang oder f) nach gesetzlicher Zuteilung272 • c) Mit solchen Möglichkeiten hat es also die Tugend der Gerechtigkeit zu tun, auf welche der Rechtsbegriff gleichen Namens in § 38 I DRiG verweist. Dabei ist zu bedenken, daß "auch das Verfahren, nicht nur das Ergebnis, gerecht sein muß"273. Daß damit die sitzungspolizeilichen Akte des vorsitzenden Richters von unserer Tugend beherrscht werden, bedarf keiner weiteren Begründung. d) Von welcher der genannten Varianten der ethischen Gerechtigkeit läßt sich der vorsitzende Richter in seinem sitzungspolizeilichen Handeln leiten? Die Antwort kann nur lauten: von der der Gleichheit in einem absoluten Sinne. Wenn nämlich der Staat im rechtlich geordneten Verfahren dem Bürger zu Rechtsschutz verpflichtet ist, gilt: "Soweit die Gemeinschaft etwas schuldet im Blick auf die personalen Werte des einzelnen, im Blick auf seinen Status als Mensch, ist es jedermann in gleicher Weise geschuldet, ist also eine Differenzierung ausgeschlossen, ist die Gleichheit absolut radikal ... "7:14. Damit ist dem einzelnen "gleicher Rechts- und Gerichtsschutz"274 in diesem absoluten und radikalen Sinne zuzuerkennen. Ein solches Verständnis der Sitzungs- oder (Verfahrens-) Gerechtigkeit275 im Sinne absoluter und radikaler Gleichheit kann sich ausdrücklich auf die Ethik berufen: "Das Wesenhafte an ihr (sc. der ethischen Gerechtigkeit) ist von vornherein die Idee der Gleichheit: gleiches Recht und gleiche Pflicht mit Anderen, sowohl dem Einzelnen gegenüber, als auch dem Ganzen der gegebenen Gemeinschaft gegenüber, aus dem Verständnis der gemeinsamen Situation heraus, daß dieses die Grundlegung gemeinsamen Lebens überhaupt ist"276. Gerade im Verfahren, in der Verhandlung, erinnert die absolute Gleichheit daran, daß das griechische Wort dike ursprünglich Weisung 271

272 273 274 275 276

Engisch, Gerechtigkeit, S. 147 ff.

eh. Perelman, S. 22 ff.

Hennke, Schleswig-Holsteinische Anzeigen 1968, 275. W. Geiger in Staatslexikon Herder, 6. Auf!., 1959 (Gerechtigkeit). Im Gegensatz zur Gerechtigkeit der Entscheidung in der Sache. Hartmann, S. 419.

11. Gerechtigkeit

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und Ordnung bedeutet. Die Gleichheit der Gerechtigkeit ist eine Ordnung, womit sich Berührungen zur Tugend der Ordnung (B IV) ergeben. Verfahrens-Ordnung ist Wahrheits-Ordnung: damit die Wahrheit gedeihe, der zu dienen der Richter (in § 38 I DRiG) eidlich verspricht, bedarf es der absoluten Gleichheit aller Beteiligten im Verfahren: die Wahrheit ist weder teilbar noch verteilbar. e) Die absolute Gleichheit, die nun also dem vorsitzenden Richter nach Recht (§ 38 I DRiG) und Tugend (im Rahmen des § 176 GVG) aufgegeben ist, könnte auf den ersten Blick als ein triviales Ding erscheinen, das keiner Tugend bedarf. Rechts- und Tugendwirklichkeit sprechen aber eine andere Sprache. Sie zeigen, daß die stetig wirkende (A IV) Tugend als habitus immer neu auf den Plan gerufen ist. Ihr Amt ist nie zu Ende, unablässig füllt sie den Rechtsbegriff des § 38 I DRiG und den der Ordnung des § 176 GVG mit ihrem Wertfühlen aus. Die folgenden Beispiele machen es deutlich. 2. a) Der vorsitzende Richter bedarf der Tugend der Gerechtigkeit zunächst in einem sehr übergreifenden Sinne.

In der Krise wird, wenn von der Ernennung der Richter die Rede ist, vor einer "parteipolitisch motivierten Personalpolitik"277 gewarnt. Wenn zwischen einem Justizministerium und einem Gerichtspräsidenten "parteipolitischer Einklang besteht", kann deren Einfluß auf die Personalpolitik "und damit auf die Rechtsprechung"278 beträchtlich sein. Das ist nicht nur eine Frage der richterlichen Unabhängigkeit im Sinne von Art. 97 I GG und § 26 I DRiG, sondern auch der Tugend der Richter: mögen sie sich in täglicher Gewissenserforschung die absolute und radikale Gleichheit aller Bürger vergegenwärtigen, wie die Tugend der Gerechtigkeit, in Konkurrenz mit anderen Tugenden279 , es will. Das gilt auch für die vorsitzenden Richter bei der Leitung der Sitzung. Für sie vielleicht ganz besonders, denn jede Nuance ihres HandeIns kann in das Licht der Öffentlichkeit treten, um hier registriert zu werden (A 11). Das Phänomen der damit angesprochenen finalen Rechtsanwendung280 ist alt und nicht auf die (partei-) politische Finalität beschränkt. Die Angriffe rechts- und tugend fremder Finalismen auf den Richter kommen aus vielen Feldern und Materien. Die Tugend der Gerechtigkeit ist daher nicht immer, wie im klassischen Fall der Phryne2B I , mit verbundenen Augen recht ausgestattet. Sie sollte sie lieber weit offen halten. 277 FAZ vom 8.12.1976. 278 FAZ vom 22. 6. 1976. 279 Zum Beispiel der Staatstugend (B I), der Tapferkeit (B VIII). 280 Eingehend Scheuerle, AcP 167 (1967), 305 ff. mit vielen Beispielen, vor allem S. 318 f. 281 Die Hetäre Phryne, Modell von Apelles und Praxiteles, war wegen

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B. Einzelne Tugenden

b) Regiert somit die Tugend der Gerechtigkeit den ganzen Vorsitzenden, so beherrscht sie auch sein ganzes Verfahren, seine Verhandlung als Ganzes. Von einer Gerichtssitzung heißt es 282 : "Diese Verhandlung in der Kongreßhalle . .. ist eine unüberbietbare Demonstration". Was sagt dazu die Tugend der Sitzungsgerechtigkeit? Eine Gerichtssitzung hat die Rechte aller Beteiligten in absolut gleicher Weise zu wahren, im Kleinen wie im Großen. Das geschieht unter begleitender Hilfe der Tugenden der Bescheidenheit (B XII), des Maßes (B XIV), der Weisheit (B V) und nicht zuletzt, der (Sitzungs-) Gerechtigkeit. Anders gedeiht die Wahrheit nicht. Eine Demonstration ist ihr feindlich gesinnt, schon gar eine unüberbietbare, erst recht in einer Kongreßhalle (dazu anschließend). Auch widerstreitet ein Sensations- oder Monsterprozeß283, in monströsen, eigens dafür gemieteten oder gar gebauten Räumen, unserer Tugend. Alle Beteiligten, alle Bürger, haben Anspruch auf den gleichen Sitzungssaal, nämlich den üblichen. Wahrheitssuche und Wahrheitsbekenntnis, Darlegung eigener Schuld und Unschuld (des Täters) und angetanen Unrechts (des Opfers) leiden Not, wenn sie vor einer monströsen Weltöffentlichkeit geschehen müssen. Es sind nicht die schutzwürdigsten Bürger, die sich gerade hier sicher fühlen. Der Justizgewährungsanspruch der anderen wird verletzt, wenn sie einer ihnen fremden Publizität ausgeliefert werden. Der übliche, daher gleiche, Sitzungssaal ist auch nie zu klein; von ihm gilt: "Wenn er voll ist, ist er voll" 284. Er ist auch nie zu unsicher; die Sicherheit gewährleistet der Staat, solange er noch besteht. Für ihn ist es lehrreich, sich seines Endes bewußt zu werden, wenn er die Flucht aus dem eigenen Gerichtsgebäude2B5 angetreten hat. Daß es auch anders geht, hat die niederländische Justiz im Prozeß gegen die süd-molukkischen Angeklagten gezeigt, deren Taten Land und Regierung lange in Angst und Schrecken gehalten hatten; sie ließ das Verfahren "in einem winzigen Gerichtsgebäude"286 stattfinden, nämlich dem des Tatortes, Asebie angeklagt. Sie wurde freigesprochen, nachdem ihr Verteidiger Hypereides vor Gericht ihren Busen enthüllt hatte: ihrer Schönheit konnte niemand widerstehen. Anders war es im sog. Hamburger Striptease (A XIII und B IV).

282 Mauz, Spiel, S. 56. 283 Dazu Abschnitt B V. 284 Schmidt-Leichner in ZDF-Diskussion vom 16. 7. 1975. 285 Man wird an die Flucht der Universität aus der Universität erinnert, wenn bankrotte Rektoren und Minister die Vorlesungen aus den Hörsälen in Bunker verlegen: um der "Sicherheit" willen. 286 F AZ vom 11. 3. 1976.

Ir. Gerechtigkeit

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dem zuständigen, üblichen, "gleichen" und daher "gerechten". Mit starken Kräften sorgte sie für seine Sicherheit, wie es Pflicht des Staates war. Die beschriebene Leistung der Tugend könnte sich zu geltendem Recht entwickeln, wenn das Gesetz, ähnlich wie in § 169 Satz 2 GVG, der die Massenmedien aus der Sitzung sperrt, auch verböte, daß "das Gericht selbst sich in die Massenöffentlichkeit hinausbegibt" oder "durch Aufsperren der Saaltüren die Erstreckung der Öffentlichkeit auf Flure und Treppen"287 bewirkt. Das wäre ein schönes Beispiel der Funktion der Tugendwerte (A VIII) und ihres Hineinwachsens in das geltende Recht. Wie sehr dieses ihrer bedarf, zeigt Seibert288 , der für ein Verfahren "ein zu erwartendes riesiges Publikum" unterbringen will und zu diesem Zweck eine Stadt- oder Kongreßhalle empfiehlt. Seine Begründung - "Das Gesetz verbietet das nirgends" - lehrt, wie sehr die Tugend der (Verfahrens-) Gerechtigkeit immer wieder benötigt wird, soll nicht "die Hauptverhandlung zum Spektakel"289 und dabei die Wahrheit verfehlt werden, wie es eben im Spektakel geschieht. Die Verwirklichung des Gebotes unserer Tugend bedarf der Tugendenergie (A IX) des Vorsitzenden. Die Sitzung, die er leitet, ist weder eine unüberbietbare Demonstration (Mauz) noch ein Spektakel (Roxin), sondern eine Ordnung (§ 176 GVG), die er aufrechterhält. Er wird sich daher weigern, in einer Stadt- oder Kongreßhalle für ein riesiges Publikum (Seibert) aufzutreten und zu "demonstrieren". Seine Tugendenergie kann freilich am törichten Widerstand anderer, unfähiger, Staatsorgane scheitern. Dann bleibt die Tugendgesinnung seines Tugendgewissens (A IX) übrig. Sie zu bekunden, sollte er nicht versäumen. Das sollte allerdings seine einzige "Demonstration" bleiben. Um ihretwillen könnte es ihm ausnahmsweise290 erlaubt sein, durch eine Erklärung vor der Öffentlichkeit ein "riesiges Publikum" anzusprechen; denn hier geht es um Recht und Staat und Tugend in einem allgemeinen und schützenswerten Sinne. Die Tugend der Weisheit (B V) wird konkurrieren (A XIII): wo das Dimensionale zum überdimensionalen entartet und das Quantum das Quale verändert, ist sie so nötig, wie nirgends sonst. e) Die Feinfühligkeit unserer Tugend betreut auch den Mikrokosmos der Sitzung, ihn vielleicht besonders gern. Sie reicht damit in Bezirke, die man auf den ersten Blick in die Zuständigkeit der Tugend der Umgangsformen (B IX) verweisen könnte. 287

Roxin, Festschrift für Peters, 1974, S.404.

288 NJW 1970, 1536. 289 Roxin, Festschrift für Peters, 1974, S.401. 290 Dazu unten B XII, B XIII.

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B. Einzelne Tugenden

Schorn291 berichtet von der "schönen Sitte, wenn das Gericht beim Betreten des Sitzungssaales durch Lüften des Baretts292 den Staatsanwalt und den Verteidiger begrüßte". Freilich lauert die Gefahr der "... einseitigen Begrüßung des Staatsanwalts, da solchenfalls der mißtrauische Angeklagte, wenn auch unberechtigt, Zweifel in die Objektivität des Gerichts setzt, auch kritische Zuhörer zu vorurteilsvollen Bemerkungen schreiten". Ebendarum soll der Staatsanwalt auch nicht vor Beginn der Sitzung das Beratungszimmer aufsuchen und gemeinsam mit dem Gericht den Sitzungssaal betreten293 • Die geschilderten Vorgänge sind nicht so belanglos, wie es auf den ersten Blick scheinen mag; sie bedürfen des Nachdenkens. Die Tugend der Sitzungs-Gerechtigkeit ist im Begrüßungsfalle in einem Punkte betroffen, der als sichtbare Bekundung294 einer Haltung hervortritt. Daher ist es nicht nur der "mißtrauische" Angeklagte (der selber, wer weiß warum, nicht begrüßt wird), dem "unberechtigte" Zweifel in die Objektivität des Gerichts kommen. Vielmehr darf jeder Bürger die grüßenden Richter bitten, sie möchten, der absoluten Gleichheit wegen, alle Beteiligten gleich grüßen: Angeklagte, Verteidiger, Zeugen, Opfer 295, Sachverständige, Zuhörer, Staatsanwälte, Protokollführer, Justizwachtmeister. Da freilich eine solche Massenabfertigung selber die Ordnung stören und das Gericht lächerlich machen könnte, muß man dem Vorsitzenden empfehlen, die Begrüßung, so schön sie sonstwo 296 ist, hier zu unterlassen. Die "schöne Sitte" wird damit kaum verkümmern. Andererseits aber werden sogar die "kritischen Zuhörer" der Notwendigkeit enthoben sein, zu nicht nur "vorurteilsvollen" , sondern berechtigten Bemerkungen zu "schreiten". Das wäre ein schöner Tugenderfolg. Die Tugend der Distanz (B XIII) könnte konkurrieren (A XIII). d) Nicht mehr ganz zum mikrokosmischen Kleinklima der Sitzung gehört die "Differenzierung" der Beteiligten durch das "Duzen des kleinen Tunichtgut"297; hier sind die Maße größer. Unsere Tugend ist bereits angesprochen, wenn "kleine" und andere "Tunichtgute" unterschieden werden: in der Sitzung läßt sich die UnSchorn, S. 211. Der Fall ist auch heute nicht veraltet, da der ahnungslose Staat die Justizkrise durch Abschaffung der Barette (unter Beibehaltung der Talare) glaubte lösen zu können: Begrüßungen gibt es auch ohne Lüftungen. 293 So auch RiStBV Ziffer 119 11. 294 Abschnitt All: Recht muß auch wie Recht aussehen. 295 Dazu unten in diesem Abschnitt. 296 Zum Beispiel beim Betreten des Gerichtsgebäudes in morgendlicher Frische; an Stammtischen; bei Betriebsausflügen usw. 297 Hennke, Schleswig-Holsteinische Anzeigen 1968, 277, der die Differenzierung selber in Anführungszeichen setzt. 291

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11. Gerechtigkeit

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terscheidung nicht treffen, im Urteil nur, wo das geltende Recht es fordert. Sodann kann ein Duzen dieser Art eine törichte, kumpelhafte Verbundenheit298 ausdrücken. Die Verfahrensgerechtigkeit mißbilligt sie; was immer man psychologisch von ihr halten mag, die absolute Gleichheit der Beteiligten ist mißachtet: was soll etwa das Opfer299 von ihr halten, was der "große" Tunichtgut? Was dem kleinen Tunichtgut recht ist, ist dem großen billig! Das Duzen kann auch als überhebliche Respektlosigkeit gemeint sein oder als solche verstanden werden. Dann haben wir es mit einem Laster zu tun, gegen das viele konkurrierende (A XIII) Tugenden aufstehen: Klugheit (B VI), Umgang (B IX), Bescheidenheit (B XII) und andere. e) Tiefer als das (mehr äußerliche) Duzen kann das (mehr innerliche) Mienenspiel gehen, vor allem, wenn den Vorsitz eine Dame führt. Ein Sachverhalt300 erzählt, eine vorsitzende Richterin habe sich dem einen Prozeßbevollmächtigten mit freundlichem Zunicken zugewandt und sich ihm erwartungsvoll zugeneigt, während es gegenüber dem anderen "ganz anders" gewesen sei. Das Berufungsgericht hat "das freundliche und unfreundliche Mienenspiel" als Befangenheit gewertet. Es gab damit zu erkennen, daß Nicken und Neigen nur dann "gerecht" ist, wenn es auch dem "anderen" (oder keinem) gewährt wird, ein schweres Los, das die Tugend damit allen Vorsitzenden, nicht nur den Damen, beschwert. Mögen sie alle ihre Minen außerhalb der Sitzung springen lassen; innerhalb der Verhandlung konkurrieren wiederum Distanz (B XIII), Klugheit (B VI) und Umgang (B IX). f) Das Spiel wird noch untugendhafter, wenn, statt mit Mienen, mit Worten in Gestalt ungleicher Rügen gespielt wird. Von einem Verfahren heißt es30I : "Der Oberstaatsanwalt ... kann ruppig werden wie ein wahrer Kraft-Erpel, doch gerügt wird der Verteidiger ... , wenn er das nicht hinnimmt". g) Daß die Tugend der Verfahrens-Gerechtigkeit den gleichen Anteil aller Berechtigten schützt, wird deutlich, wenn ein Vorsitzender in einer Sitzungspause mit nur einer Partei verhandelt. Es wird berichtet302 : "Der vorsitzende Richter deutet außerhalb der Sitzung gegenüber der Verteidigerin an, man könne immerhin eine Strafe bis zu zwei Jahren zur Bewährung aussetzen, wenn man die Sache schnell vom Tisch 298 Ähnlich die neuere Unsitte des Duzens von Patienten durch das Personal von Kliniken "unter dem Deckmantel einer mißverstandenen, sozial-psychiatrisch signierten Kommunikationsduselei" (F AZ vom 18. 12. 1975). 299 Dazu unten in diesem Abschnitt. 300 OVG Lüneburg, AnwBl1974, 132. 301 Spiegel vom 2. 2. 1976, S. 30. 302 Mauz, Spiel, S. 17.

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B. Einzelne Tugenden

brächte". Hier hat der Vorsitzende den Ankläger, den Angeklagten und sein Opfer ausgeschaltet; das ist selbst dann verwerflich, wenn sie alle die Sache "schnell vom Tisch" haben wollten: außerhalb der Sitzung findet keine "Sitzung" im Sinne des § 176 GVG statt. h) Harte Schläge gegen unsere Tugend führt ein Fall, den die Deutsche Richterzeitung303 der Tagespresse entnimmt und milde als "auffallende Verhandlungsführung" bezeichnet304 • Der Angeklagte hatte zum Jubiläum einer Stadt eine Festschrift verfaßt und darin die Stadtväter als Ratten bezeichnet, denen es wichtiger sei, Geld für Feiern auszugeben anstatt für Obdachlose. Er wurde freigesprochen, weil das Gericht die Schrift als erlaubte Satire ansah. Dagegen war nichts einzuwenden; jedoch: "Richterin und Staatsanwalt fanden die "Festschrift" so gelungen, daß beide um ein Exemplar mit Autogramm ... baten. Weniger erfreut waren die Zeugen, Oberbürgermeister, Stadtdirektor und Beigeordneter. Nach einer zweistündigen vergeblichen Wartezeit durften sie ungehört wieder gehen". Ein Richter schreibt dazu, das Taktgefühl den Beleidigten gegenüber hätte es geboten, die Belustigung auf ihre Kosten nicht zur Schau zu tragen. Hier hat die für den Angeklagten in der Sympathie das Urteil, auch wenn es richtig macht (A 11). Sie hat das Gerechtigkeitsgebot mißachtet und die Opfe~5 vergessen: Ratten nannt, ob in erlaubter Satire oder nicht.

Verhandlung bekundete war, unglaubwürdig geder absoluten Gleichheit waren sie immerhin ge-

Des Nachdenkens würdig ist auch das Urteil über jene Verhandlungsführung, wonach es das Taktgefühl den Beleidigten gegenüber geboten hätte, die Belustigung auf ihre Kosten nicht "zur Schau zu tragen". Das Taktgefühl ist ein Anliegen der Tugend der Umgangsformen (B IX), die nicht gering zu schätzen ist. Die Tugend der Gerechtigkeit könnte hier allerdings höher einzustufen306 sein. Auch die Hervorhebung des bloßen Zur-Schau-Tragens will nicht recht gefallen: schon die (innere) Gesinnung hätte einer Verurteilung bedurft. i) Im Zeitalter der Technik ist unsere Tugend auch technisch veranlagt; sie will den Fortschritt gerecht verteilen. Busche307 : "Das beginnt bei Einfachem. Wenn nicht nur der Gerichtsvorsitzende, sondern auch die Bundesanwälte bei der Mikrofonanlage über eigene Schaltungen verfügen, mit Hilfe deren sie sich jederzeit vollständig in das Geschehen einschalten können, so ist das schon merkDRiZ 1975, 52 f. Dazu auch Abschnitt B XVI. 305 Dazu unten in diesem Abschnitt. 306 über den Rang der Tugenden siehe A V. 3m FAZvom 7.7.1975. 303

304

11. Gerechtigkeit

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würdig, es verletzt den Grundsatz der Waffengleichheit308 , könnte aber ein Versehen bei der Installierung sein". Der Vorsitzende hat einige Tage später "mit einer wenig überzeugenden Erklärung des Mißgeschicks mitgeteilt, daß der Fehler nun behoben sei". Noch besser wäre er beraten gewesen, wenn er aZZe Mikrophone ersatzlos gestrichen hätte: die Tugend der Ordnung (B IV) hätte es ihm nahegelegt, die Klugheit (B VI) hätte dabei mitgewirkt. 3. Die Lehre von den Tugenden wird auf eine Probe gestellt, wenn man sie nach dem Verhältnis der Gerechtigkeit zur Nächstenliebe befragt. Kann der Vorsitzende als solche209 beide Tugenden nebeneinander üben, sind sie vereinbar oder stehen sie in Tugendantinomie (A XIII) zueinander? a) Die Schwierigkeit der Frage erkennt man, wenn man hört31O : "Wo an sich Wert und Wert nicht widerstreiten, bringen es doch die konkreten Situationen mit, daß nur einem genügt werden kann und ein anderer verletzt werden muß. Die Werte sind dann doch in der Praxis widerstreitend. Wer etwa Nachsicht vor Recht gehen läßt, gibt der Liebe den Vorzug und verletzt die Gerechtigkeit, während an sich Gerechtigkeit und Liebe sich gar nicht ausschließen. Der Konflikt entsteht hier erst im Zusammenhang von Situation und Wertgegensatz. Auch die Situation ist ein konstitutiver Faktor des Konflikts". b) Richter, die verantwortungsbewußt über die Tugenden ihres Standes nachgedacht haben, bejahen die Vereinbarkeit. Hennke3l1 fordert "eine Verhandlungspraxis, die Hilfsbereitschaft, Toleranz und Güte erkennen läßt"; mit Hilfsbereitschaft und Güte ist wohl die (Nächsten-) Liebe gemeint312• Schorn313 beschreibt sein (sympathisches) Richterbild so: "Demut, Bescheidenheit, Geduld, Menschenkenntnis und Nächstenliebe, Würde und Wärme müssen von seinem Auftreten ausstrahlen und alle Anwesenden in seinen Bann ziehen"; hier wird die Nächstenliebe ausdrücklich genannt und durch die Wärme unterstrichen, die der Vorsitzende ausstrahlt. Daß ihm auch die Gerechtigkeit nicht fehlt, ist wohl selbstverständlich: sie zu üben, hat er geschworen (§ 38 I DRiG). Ob beide sich vertragen, das ist die Frage. Die Tugend der Nächstenliebe werden wohl allgemein jene Richter für sich in Anspruch nehmen, die sich als soziale Richter verstehen. Der hier verwendete Begriff der Waffengleichheit meint unsere Tugend. Vom Urteilen in der Sache ist hier so wenig die Rede, wie sonst in dieser Untersuchung. 310 Hartmann, S. 296. 311 Hennke, Schleswig-Holsteinische Anzeigen 1968, 277. 312 über die Toleranz siehe Abschnitt B XV. 313 Schorn, S. 224. 308

309

6 Scheuerle

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B. Einzelne Tugenden

Eine solche Qualifikation will sicherlich nicht nur für das Urteilen in der Sache gelten, sondern auch für die Ordnungsgewalt in der Sitzung: gerade hier wird das Soziale "sichtbar" (A II). Eine gewisse Berühmtheit als sozialer Richter hat der französische Präsident Magnod des Gerichts von Chäteau-Thierry erlangt: unter dem Namen le bon juge ist er in die Literatur eingegangen. Er hatte es sich zur Regel314 gemacht, stets dem sozial Schwächeren zu helfen. Das konnte er wohl auch bei der Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung tun; auch hier werden Rechtsanwendungsakte gedacht (A X). c) Wie sieht die Nächstenliebe aus und wie verhält sie sich zur Gerechtigkeit? Die Nächstenliebe (agape) ist "für die Allheit ebenso konstitutiv wie die Gerechtigkeit"315: beide Tugenden fordern ein bestimmtes Verhalten zum Mitmenschen. Die Gerechtigkeit gewährt ihm (nur) das Gleiche, die Nächstenliebe beschenkt ihn als den Bedürftigen, weil er des Gebens bedarf, daher als "die Person selbst". Insofern ist sie, im Gegensatz zur Gerechtigkeit, "im Grunde etwas höchst Wunderbares ... , ein rätselhaftes Beteiligtsein des Ich am Erleben, Fühlen, ja am sittlichen Sein des fremden Ich ... ". Ein Ersatz für die Gerechtigkeit, die sie verdrängen könnte, ist sie ebendarum nicht. Im Ganzen der Gemeinschaft bedarf es nämlich weniger des rätselhaften Beteiligtseins des eigenen Ich am fremden Ich, als vielmehr der erkennbaren und durchschaubaren Gleichheit. Vor ihr muß die Nächstenliebe, wie ungewöhnlich sonst ihre Werthöhe sein mag, zurücktreten; auch dann, wenn die harte Charakterisierung gilt, die besagt: "Die Gerechtigkeit ist kalt, die Nächstenliebe ist warm"316. Anders ausgedrückt: der rätselhaft Beteiligte ist befangen, der Gerechte steht über Personen und Sachverhalten und vermag daher der Wahrheits-Ordnung (B IV) dienen. Das gilt auf jeden Fall für die Verhandlung. Hier kennt der Vorsitzende die Fakten noch nicht; er versucht erst, sie kennenzulernen. Hier herrscht darum die Gerechtigkeit, in Tugendantinomie (A XIII) zur Nächstenliebe. Als Urteilender in der Sache mag er diese hochhalten, wo immer geltendes Recht und rechtsfreier Raum es gebieten oder erlauben. d) Die Betrachtung der forensischen Wirklichkeit bestätigt diese Meinung. 314 über den Einfluß dieser "Regel" auf die logische Struktur des Rechtsanwendungsaktes siehe Scheuerle, Rechtsanwendung, S. 110 f. 315 Hartmann, S. 451 ff.; auch zum Folgenden. 316 Bollnow, Wesen und Wandel, S. 188.

II. Gerechtigkeit

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In Strafsachen hat es der Vorsitzende nicht nur mit dem Ankläger und dem Angeklagten zu tun, sondern auch mit dessen Opfer. Die Zweiheit von Täter und Opfer beherrscht das Verfahren tiefer, als jene von Ankläger und Täter. Sie gilt auch im Zivilprozeß, ja in allen Verfahren, wenn man den Begriff Opfer nicht wörtlich nimmt; sogar ein Streit um die Verfassungsmäßigkeit einer Norm hat, so gesehen, sein "Opfer", weil er stets zugunsten oder zu Lasten eines Subjekts, das auch der Staat selber sein kann, geht317 • Opfer sind im Verfahren stets gegenwärtig und insofern Beteiligte der Ordnung des § 176 GVG. Das gilt auch, wenn sie getötet oder, weil schwer verletzt, nicht körperlich anwesend sind. Ihre Präsenz ist dann, als geistige, vielleicht sogar eine verstärkte, wenn sie die Vorstellungskraft der Beteiligten wachhält. Eine Verletzung der Gleichheit durch das "rätselhafte Beteiligtsein" am Schicksal von Täter ode,,-318 Opfer lenkt die Aufmerksamkeit unserer Tugend auf sich. Im Strafprozeß, der typischen Szene von Täter und Opfer, wird die Gleichheit unserer Tugend durch eine Erscheinung beeinträchtigt, die man Täterkult und Opferverachtung heißen kann. Der Täter, gar der Sensationstäter, der sog. Triebtäter und Gewaltverbrecher, ist die Lieblingsfigur von Presse, Funk und Fernsehen319 , eine Person der Zeitgeschichte mit teuer verkäuflichen Memoiren und Kunstschöpfungen320 , gepflegt und beschrieben von dogmatisierten Wissenschaften und betreut von erfahrungslosen Gesetzgebern. In eigenartiger Verwechslung der Fronten gilt der Gewaltverbrecher selber als Opfer (der Gesellschaft), dem Nächstenliebe gebühre, nicht Gerechtigkeit. Ebendiese wird damit den blutigen Opfern seines HandeIns verweigert. Wer jene Opfer durch lebenslanges Zuchthaus vor ihm bewahrt, weil er ihn nicht erneut delinquieren lassen will, zerstört seine "Persönlichkeit". Nach dem stillen Leiden der Opfer des Mörders, der Witwen und Waisen, fragt niemand; es darf ein durchaus stilles Leiden bleiben"32J. Dem gleichen Zeitgeist huldigen die Richtlinien für das Strafverfahren322 , die Täterkult 317 Fromme in FAZ vom 25.3. 1977: "Bei der Normenkontrolle gibt es keine Prozeßparteien; einsam steht die Norm vor Gericht." Freilich gibt es Opfer, auch im angesprochenen Falle, wo es um die Verfassungsmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe ging. Opfer ist dort entweder der Lebenslange selber oder seine (neuen) Opfer, wenn man ihn freiläßt. 318 Gleiches Beteiligtsein ginge in die Gerechtigkeit über, soweit es, angesichts seiner Rätselhaftigkeit, psychologisch möglich ist. 319 Dazu J. Behr, Der Sensationsprozeß, Mainzer Diss. 1968, passim. 320 Dpa vom 15. 2. 1977 (in F AZ vom gleichen Tage) berichtet, daß ein von Richard Spak, Mörder von acht Krankenschwestern, gemaltes Bild 10000 Dollar erbrachte. Seinen "wirklichen Wert" schätzte die Chicago Tribune "auf vermutlich 2,79 Dollar". 321 Fromme in F AZ vom 25. 3. 1977. 322 RiStBV Ziffer 119 I 3.

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B. Einzelne Tugenden

und Opferverachtung betreiben, soweit die Verhandlung und ihre Ordnung betroffen ist. Hier erfährt man: "Richter und Staatsanwalt sollen durch ihr Verhalten zu erkennen geben, daß die Erforschung der Wahrheit und die gerechte Behandlung des Angeklagten ihr vornehmstes Bestreben ist". Dem Opfer gilt das "vornehmste Bestreben" nicht. Weniger dogmatisiert und dafür erfahrungsbezogener will neuestens die Viktimologie3 23 , daß "in einer Zeit, in der sehr viel über die Behandlung des Rechtsbrechers, ja zuviel und vielfach Unbrauchbares diskutiert wird, auch einmal von der Behandlung des Opfers die Rede sein darf". Denn diese ist bisher "vergessen und unerörtert", sogar "in unglaublicher Weise vernachlässigt". Das Opfer blieb "eine Ursache, ein Grund für das Strafverfahren, also ein bloßes Objekt". Das ist nicht erstaunlich: das Opfer ist kein gängiger Geschäftsartikel für Schreiber aller Arten; der "Triebtäter" hebt den Umsatz und stärkt den inneren Markt. Neuestens hat ein Minister324 den Gedanken an die Opfer aufgegriffen und gesagt, der freiheitliche Rechtsstaat sei nur glaubwürdig, wenn er die Freiheit aller im Auge habe, "nicht nur das Wohlergehen der Täter, das manchen mehr zu interessieren scheint als das der Opfer". Es müßte nun eine Viktimologie der Sitzung geben, deren Magna Charta die absolute Gleichbehandlung von Täter und Opfer in der Verhandlung wäre. Mit ihr könnten auch die Vertreter des Täterkultes einverstanden sein; oft läßt sich schwer feststellen, wer Täter war und wer Opfer3 25 , das ergibt erst die Verhandlung. Der beschriebene Täterkult ist allerdings eine internationale Erscheinung. Er beherrscht verständlicherweise in erster Linie das Urteilen in der Sache und kann hier Formen annehmen, die nicht erst aus Richterpsychen deduziert, sondern offen bekannt werden: so stark wirkt die zugrundeliegende Dogmatisierung. In einem amerikanischen Verfahren von Sensationsformat "brachen einige der Juroren in Tränen aus. Sie hätten, so bekannten alle in privaten Gesprächen nach dem Urteil, der Angeklagten gern geglaubt ... Denn jeder hatte Sympathien für die Angeklagte, sie sei, sagten mehrere, eine so liebe, so rührende Person"326. Die "Juroren" hatten die Gleichheit unserer Tugend vergessen. Da sie der Nächstenliebe anhingen, oder was sie dafür hielten, vergaßen sie die blutigen Opfer. 323 H. J. Schneider, Vorwort, sowie S. 20, 22, 26, 154, 184. 324 Rötger Gross in FAZ vom 9. 3. 1978 (bei J. G. Reissmüller, Neues vom Stand des Rechtsstaates). 325 H. J. Schneider, S. 26. 326 FAZ vom 24. 5. 1976.

II. Gerechtigkeit

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e) über die Wirkung des Täterkultes bei vorsitzenden Richtern im eigenen Lande hat die Hamburger Untersuchung327 wichtige Erhebungen getroffen. Es heißt da: "... jüngere Richter verhielten sich eher wertschätzend, zuwendend und ermutigend gegenüber Angeklagten, und es waren eher die Angeklagten mit schweren Delikten, denen gegenüber die Richter dieses Verhalten zeigten". Das ist ein ungewöhnliches Ergebnis, das den Täterkult in seiner massenpsychologischen Wirkung zeigt: je schwerer die Verbrechen und je erbarmungsloser daher die Opfer getroffen, um so größer die Wertschätzung (I) durch die (jüngeren) Richter. Die Gerechtigkeit ist in der Tat keine veraltete Tugend! Die Wertschätzungen, Zuwendungen und Ermutigungen, die jene Richter gerade der schweren Kriminalität zukommen ließen, sind Erscheinungen der Nächstenliebe; jedenfalls muß man sie (zugunsten der Richter) so verstehen. Will man ihre Rolle in der Verhandlung328 würdigen, dann muß man sich erinnern, daß "... das Liebesgebot ... der Ergänzung durch das Prinzip der austeilenden Gerechtigkeit oder Gleichheit bedarf"329. Die Nächstenliebe jener Richter müßte also, auf jeden Fall im gerichtlichen Verfahren, eine gleich verteilte sein, Täter und Opfer gleich gespendet werden. Ein gleiches Maß von Wertschätzung, Zuwendung und Ermutigung würde aber menschliche Fähigkeiten übersteigen. Die Nächstenliebe ist ein "rätselhaftes Beteiligtsein" am fremden Ich. Ein Vorsitzender mag zwar Rechte und Pflichten den Beteiligten gleich zuteilen. Die Liebe aber, die auch ihn, so gewiß er ein Mensch ist, in rätselhafter Weise überkommt, kann er nicht in gleicher Weise steuern. Am Schicksal nur des einen soll er aber nicht "beteiligt" sein, auch nicht auf rätselhafte Weise: das wäre die Befangenheit, die richterlichem Handeln verboten ist, die Ungerechtigkeit. Bei dieser Lage muß man dem Vorsitzenden vorschlagen, in der Verhandlung die Gerechtigkeit, mag sie "kalt" sein, der Nächstenliebe vorzuziehen. Dann gewährt er dem Ankläger, dem Täter und seinem Opfer die gleichen Chancen, zur Wahrheitsfindung beizutragen. Steht die Wahrheit fest, mag er, wie gesagt, im Urteil Liebe walten lassen, wo es das geltende Recht erlaubt oder fordert. Das ist der Sinn der alten Erfahrung, die sich den beispielhaften Vorsitzenden als einen Richter "mit aufmerksamen, kalten Augen"330 denkt; aufmerksam, damit er alles in gleichem Maße bemerke, kalt, weil gerecht. Mit dieser Haltung wird er 327 Hamburger Untersuchung, S. 287. Sie befaßt sich, dem Zeitgeist entsprechend, mit dem "sozialen Verhalten von Richtern gegenüber Angeklagten", von ihren Opfern ist nicht die Rede. 328 Vom Urteilen in der Sache ist hier wiederum nicht die Rede. 329 Frankena, S. 74. 330 Fromme in F AZ vom 26. 2. 1976 über einen hohen Richter.

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B. Einzelne Tugenden

zugleich den Justizterror brandmarken, der freilich kalt ist, aber nicht gerecht. f) Auch die "Kälte" der Gerechtigkeit untersteht, wie alles auf dieser Welt, der Tugend des Maßes (B XIV). Eine eisige Kälte ist sie nicht. Den Unterschied sieht man an Grenzfällen. Ein 82-jähriger Angeklagter, der lange Zeit im Gefängnis zugebracht hat, steht im Wiederaufnahmeverfahren vor Gericht, nachdem ein anderer das Verbrechen gestanden hat. Soll sich der Vorsitzende ihm zuwenden und ihn teilnehmend fragen: "Wie geht's Ihnen?", sich auch erkundigen, ob ihn die Verhandlung "anstrengt"?331. Zwar gilt: noch kennt der Vorsitzende das (freilich wahrscheinliche332) Urteil nicht. Jedoch: die Umstände, das Alter des Angeklagten, könnten eine Zuwendung erlauben. Daß sie nötig sei, ist freilich zu verneinen: auch das Opfer des Justizirrtums wird glaubwürdiger rehabilitiert, wenn die Wiedergutmachung früheren Unrechts zurückhaltend geschieht, nicht zuwendend, eher kalt als warm. Das stärkt die Evidenz des Spruches (A II).

Klarer im Sinne einer Verneinung ist die Frage zu beantworten, ob der Vorsitzende den Angeklagten in der Verhandlung einen "armen Menschen" nennen soll, wenn damit eine Zuwendung im Sinne von Mitleid und Liebe gemeint ist. Er soll es auch dann nicht tun, wenn das (medizinische) Schicksal des Angeklagten333 rätselhaft oder furchtbar ist. Erst das Urteil, das der Vorsitzende weder allein spricht noch bereits kennt, enthält die Qualifikation des Täters: wenn es ihn zu lebenslanger Freiheitsstrafe333 verurteilt, will es ihm vermutlich keine Nächstenliebe zubilligen. Liebe und Mitleid hätten auch seine Opfer verdient, denn sie sind "schrecklich gestorben"333. In (mindestens) gleicher Weise sind sie "arme Menschen" gewesen. Niemand hat es ihnen gesagt. g) Sieht man die Dinge auf die dargestellte Weise, dann kann man den Vorschlag von Hennke334 dem vorsitzenden Richter nicht empfehlen. Hilfsbereitschaft, Toleranz und Güte sind hohe allgemeine Tugenden. Als Verfahrens-Tugenden des Vorsitzenden verhalten sie sich antinomisch (A XIII) zur Gerechtigkeit. Gleiches gilt von dem Richterbild, das Schorn335 entworfen hat, soweit Nächstenliebe und Wärme dort als beispielhafte Eigenschaften genannt sind. 331 Mauz, Die Gerechten, S. 54. 332 Auch späte Geständnisse des "wirklichen" Täters können unrichtig sein. Der 82jährige war früher wegen seines damaligen Geständnisses verurteilt worden. 333 Spiegel vom 2. 8. 1976. 334 Siehe oben in diesem Abschnitt. 335 Siehe oben in diesem Abschnitt.

IH. Fairness

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4. Die Ordnung des § 176 GVG ist daher, wie könnte es anders sein, (auch) eine solche der absoluten Gleichheit der Gerechtigkeit. Damit ihr Genüge getan werde, verweist sie die Tugend der Nächstenliebe, wie hoch ihr Wert auch sonst sein mag, aus dem Reich des Verfahrens in das des Urteilens in der Sache.

III. Fairness Nicht alle richterlichen Tugenden kommen aus einer so großen Vergangenheit wie die Gerechtigkeit. Es gibt neuere Tugenden (A V, A VII), zum Beispiel die der Fairness336 • 1. Über den Sport aus dem Englischen in andere Sprachen eingedrungen, wird das Wort337 zur Kennzeichnung vorbildlicher Beziehungen verwendet, die sich aus dem geregelten Zusammenspiel gleichberechtigter Partner ergeben. Es meint die "ritterliche" Gesinnung, die einen zufälligen Vorteil nicht ausnützt, sondern dem anderen die gleiche Chance gewährt. So ist "aus dem sportlichen Spiel ein in Regeln kaum faßbares, ungenaues, aber fein reagierendes Kriterium menschlichen Verhaltens geworden"338, das zum höchsten ethischen Charaktermerkmal des Engländers339 emporgestiegen ist. In den großen Zeiten des britischen Parlaments hat es als "Pairing" dessen Verfahren beherrscht; so verzichtete, wenn ein Abgeordneter wegen Krankheit an einer Abstimmung nicht teilnehmen konnte, ein Abgeordneter der Opposition gleichfalls auf die Teilnahme. a) Faires und unfaires Verhalten gibt es in allen Feldern menschlicher Kontakte, auch in allen Verfahren. Im Sport beherrscht es nicht nur das Handeln der Parteien eines Wettkampfes, sondern auch des Schiedsrichters, der die Parteien die Fairness lehrt. Insofern ist die schiedsrichterliche Tugend, wie jedes Fußballspiel zeigt, eine gute Parallele (A XVII) zu der des Vorsitzenden: beide halten ihre Ordnung aufrecht, die des Spieles und die der Sitzung. Folgerichtig hat sich auch für das gerichtliche Verfahren und damit für das Handeln des Vorsitzenden gegenüber den Beteiligten die Bezeichnung der Fairness eingebürgert. Man spricht, wie im englischen Sprachkreis von einem fair trial, so bei uns von einem fairen Prozeß. Bundespräsident Scheel hat in seiner Weihnachts ansprache 1977 die Terroristen aufgefordert, sich den Behörden zu stellen; dort erwarte sie ein fairer Prozeß. Bollnow, Wesen und Wandel, S. 14; dazu Indorf, passim. 337 Es kommt vom Altenglischen faeger mit der allgemeinen Bedeutung "schön". Im Mittelenglischen bedeutet es free from bias, fraud, injustice; equitable; legitimate. Die Zusammensetzung mit play ist jünger (Indorf, S. 26). 338 Bollnow, Wesen und Wandel, S. 14. 339 Indorf, S. 38. 336

B. Einzelne Tugenden

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b) Entsprechend einer im Vordringen begriffenen amerikanischen Verwendung wird der Begriff des fairen Prozesses auch bei uns für den ohne Beeinflussung durch die Publizität und, sogar, durch andere Staatsorgane stattfindenden Prozeß gebrauchf4°. In einem Sensationsprozeß341 sagte der Vorsitzende, daß "nicht immer richtige Presseberichte" sowie "amtliche Verlautbarungen" die Sorge um einen fairen Prozeß verständlich erscheinen ließen. Doch hätten die Richter nach neuerlicher "kritischer Selbstprüfung" keine derartige Beeinflussung bei sich festgestellt. Der Vorsitzende hat sich damit in eine moderne Diskussion um die törichte Geschwätzigkeit der Massenmedien, einen "fairen Prozeß" und richterlichen Glauben an die eigene Unvoreingenommenheit eingelassen. Er hätte besser auf die Beteuerung der letzteren, erst recht auf die der "kritischen Selbstprüfung" verzichtet. Gegenüber publizistischer Beeinflussung bedurften er und sein Gericht der Tugend der Tapferkeit (B VIII), aber ohne vieles Reden342 • Sie ist auf die Gerechtigkeit (B 11) fundiert (A XIII). Die Fairness ist nicht betroffen. c) Ein Vorsitzender hingegen, der wirkliche Fairness übt, gewinnt damit ein gutes Gegengewicht, einen schönen Ausgleich gegenüber der ihm durch das Gesetz gegebenen Machtfülle. Wenn es richtig ist, daß alle Tugenden den Vorsitzenden als Person dekorieren, dann könnte die Fairness zu denen gehören, die diese Wirkung besonders augenfällig entfalten. Wenn von einem Vorsitzenden gesagt wird343 , er344 walte seines Amtes gelassen, freundlich, überaus sachkundig, kollegial und fair, dann sind, wie ersichtlich, mancherlei große Tugenden aufgezählt. Mit der Fairness erklimmt ihr Katalog indessen einen sympathischen Gipfel. d) Die Tugend der Fairness des Verfahrens ist, geschichtlich erklärbar, ursprünglich als Wohltat für den Angeklagten im Strafverfahren gedacht. In unseren Tagen des Täterkultes und der Opferverachtung (B 11) muß sie sich hüten, ihre Güter zu Lasten anderer, vor allem des Opfers, zu gewähren. Die Tugend der Gerechtigkeit (B 11) würde dagegen Stellung nehmen: zwischen ihr und der der Fairness besteht Dazu die amerikanischen Beispiele in Abschnitt B V. F AZ vom 21. 1. 1978. 342 Dazu FAZ vom 7.6.1978, wonach zwar "die Anklage die breite öffentliche Behandlung des (Spionage-)Falles in den Medien und im Bundestag . .. für weder wünschenswert noch dienlich" hält, das Gericht jedoch sich "in der Beurteilung des angeklagten Sachverhalts völlig frei fühlt". 343 FAZ vom 24.11. 1977. 344 Im zitierten Fall handelte es sich um eine Senatspräsidentin am Bundesverwal tungsgerich t. 340

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IH. Fairness

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Tugendantinomie (A XIII). Daher ist es auch unzutreffend, die Gerechtigkeit auf die Fairness zurückzuführen345 : beide sind eigenständige Werte. Das zeigt sich, wenn die Fairness für Gedanken beansprucht wird, die in die Zuständigkeit der Gerechtigkeit gehören. Der nachdenkliche Verfahrenskritiker Dahs346 kennt "viele Prozeßvorgänge, die unter dem Gesichtspunkt der Fairness nicht vorkommen dürften", so etwa "die Frage des Vorsitzenden an den Verteidiger zu Beginn der Rechtsmittelverhandlung, ob er die Berufung nicht lieber zurücknehme". Eine Frage dieser Art kann sicherlich nach Erörterung des Falles in angemessener Form ausgesprochen werden. Wenn dagegen schon zu Beginn der Rechtsmittelverhandlung die Gewichte so ungleich verteilt werden, ist die Tugend der Gerechtigkeit (B 11) mit ihrer absoluten Gleichheitsforderung nicht beachtet. Im ZiviIprozeß besteht im Rahmen des § 139 ZPO geradezu eine Pflicht des Vorsitzenden, auf rechtliche Bedenken hinzuweisen, freilich gegenüber beiden Parteien und nach Erörterung der Sache. 2. Trotz der Schranke der Gerechtigkeit, oder gerade ihretwegen, bleibt für die übung der Fairness in der Gerichtsverhandlung genug Raum, für ihre Mißachtung gibt es andererseits genug Beispiele. a) Auf der Tagesordnung eines höheren Gerichts steht ein einziger, nicht umfangreicher Fall347 • Da bei Aufruf der Anfechtungskläger und sein Anwalt nicht anwesend sind, erklärt der Vertreter der beklagten Behörde, er wisse, daß beide kommen wollten, der starke Nebel im Donautal, wovon die Frühmeldungen berichteten, habe wohl ihre Anreise verzögert, man könnte vielleicht eine halbe Stunde zuwarten. Der Vorsitzende erklärt, der Fall sei für 9 Uhr angesetzt, mit Nebel müsse man rechnen. Hierauf beginnt er die Verhandlung der für den Anfechtungskläger schicksalhaften (Personal-) Sache. Da hier weder rechtliche Erwägungen noch, weil der Gegner einverstanden war und das Zuwarten selber anregte, die Schranke der Gerechtigkeit mit ihrer absoluten Gleichheit entgegenstanden, konnte der Vorsitzende der Tugend der Fairness eine Türe öffnen. Der negative Eindruck, den seine Unzugänglichkeit machte, war von dem der Befangenheit nicht weit entfernt. Nach der Entscheidung eines Oberlandesgerichts348 sind die Gerichte "wegen ihrer Fürsorgepflicht und des Gebots eines fairen Verfahrens gehalten, bei der Eröffnung der Sitzung bis zu einer Viertelstunde auf 345 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975, dazu Raiser in F AZ vom 16. 12. 1976. 346 Dahs, AnwB11959, 188. 347 Den Fall berichte ich aus eigener Erfahrung. 348 OLG Frankfurt 1 WS (B) 147/77 OWiG - in FAZ vom 27.7.1977.

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B. Einzelne Tugenden

den Verteidiger zu warten". Damit werde den großstädtischen Verkehrsverhältnissen entsprochen, die häufig zu unvermeidbaren Verzögerungen führten. Würde sich diese Rechtsprechung verfestigen, so wäre die Tugend der Fairness in die Rechtsnormen eingedrungen, ein schöner Tugenderfolg. Gleichwohl würde man sie aber dort immer noch weiter benötigen. Die angemessenen fünfzehn Minuten und der "großstädtische" Verkehr sind zu gen aue Normbegrenzungen349 • Wie steht es bei Nebel und einer halbstündigen Verspätung? Hier ist wiederum die Tugend gefragt. b) Die Tugend der Fairness kann vom Vorsitzenden größere Leistungen fordern als ein kurzes Warten auf einen Prozeßbeteiligten. Wenn ihm als Einzelrichter gemeldet wird, der querschnittgelähmte Angeklagte sitze vor dem Gerichtsgebäude in seinem Rollstuhl35O und könne ohne fremde Hilfe nicht in den Sitzungssaal kommen, dann darf er, das sagt ihm die Tugend der Fairness, den Angeklagten nicht einfach als "nicht erschienen" behandeln. Er verletzt die Gerechtigkeit mit ihrer absoluten Gleichheit von Täter, Ankläger und Opfer nicht, wenn er hier einem von ihnen, dem Hilflosen351, hilft. Vielmehr stellt er gerade damit die Gleichheit her. c) Ganz allgemein bedarf der Sitzungskalender mit seiner Terminitis (B V) der Tugend der Fairness. Ein jüdischer Angeklagter will am nächsten Tag wegen eines jüdischen Feiertages nicht verhandeln. Der Vorsitzende erwidert, morgen sei kein gesetzlicher Feiertag und lehnt ab. Die Tugend der Fairness hätte geboten, dem Antrag stattzugeben. Da der Prozeß352 viele Monate dauerte, fielen die Interessen der Opfer und des Staates an der Beschleunigung nicht ins Gewicht. Verfahrensunterbrechung an Feiertagen353 , sei es auch an denen einer Minorität, ist auch kein Akt der einseitigen Nächstenliebe, den die Gerechtigkeit als Verletzung der absoluten Gleichheit mißbilligen könnte (B 11). d) Die Tugend der Fairness braucht nicht um Hilfe angegangen zu werden, wo lediglich richtige Rechtsanwendung begehrt wird. Wird gefordert, der Vorsitzende möge dem (neu) gewählten Verteidi·· ger "in einer fairen Abwägung"354 eine angemessene Vorbereitungszeit 349 Die Zahl fünfzehn ist eine schöne Arithmetisierung des Daseins. Die Anwälte können sie in ihren Terminkalendern immer gleich dazuzählen. 350 Spiegel vom 20.7.1974, S. 48. 351 Dazu RiStBV Ziffer 121 II 3. 352 Das Verfahren hat einige Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Öffentlichkeit beschäftigt. 353 Dazu RiStBV Ziffer 111 II. 354 Süddeutsche Zeitung vom 14.3. 1975.

UI. Fairness

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gewähren, dann ist der in § 145 111 StPO für den (neu) bestellten Verteidiger ausgesprochene Gedanke in analoger Anwendung, zusammen mit § 265 IV StPO, gemeint. Das pflichtgemäße Ermessen des Vorsitzenden als Einzelrichter, sonst des Gerichts, bedarf hier keiner Fairness, allenfalls der Tugend des Maßes (B XIV). Ähnlich könnte die vom Bundesverfassungsgericht gemeinte Fairness zu verstehen sein, das die sofortige Erteilung des Zuschlags weit unter Wert in einer Zwangsversteigerung als Verletzung von Art. 14 GG beanstandet355• Die Eigentumsgarantie der Verfassung schließe eine faire Gestaltung des Verfahrens ein, die Entscheidung über den Zuschlag hätte daher nicht im Versteigerungstermin getroffen, sondern auf einen späteren Termin vertagt werden müssen. Dem Schuldner mußte damit Gelegenheit gegeben werden, angesichts der Verschleuderung seines Eigentums um Vollstreckungsschutz zu bitten. Eine moderne "Verrechtlichung" kennt auch die obengenannte Erscheinung des Pairing. In einem bund es deutschen Landesparlament galt ein Pairing-Abkommen: wenn ein Mitglied der einen Partei aus einem für das Land wichtigen Grund fehlte, "verließ nach vorheriger Absprache von Fall zu Fall vor der Abstimmung gegebenenfalls auch ein Abgeordneter der anderen Partei stillschweigend das Plenum"356. Die Schwäche der rechtlichen Bindung gegenüber der moralischen (der Tugend der Fairness) erwies sich "angesichts des allmählich beginnenden Landtagswahlkampfes" , als es "Schwierigkeiten mit dem Pairing"356 gab: das Abkommen ließ sich "aufkündigen"356. Moralische Prinzipien (A IX) hingegen mögen zwar wandelbar (A XII) sein, kündigen lassen sie sich nicht. e) Wirrnis und Chaos bringt unsere (recht verstandene) Tugend natürlich nicht hervor. Wenn der von Willms (A I) zitierte Bericht über einen "Rabatz im Gerichtssaal" den Titel trägt: "Ein fairer Prozeß", dann ist er nicht ernst gemeint. Viele Tugenden erheben sich gegen jenen "fairen" Vorsitzenden: Staatstugend (B I), Gerechtigkeit (B 11), Ordnung (B IV), Klugheit (B VI), Distanz (B XIII) usw. Selbst die Fairness könnte gegen ihn stehen, denn seine Fairness war die falsche Fairness, also keine Tugend, eher ein Laster. Auch die ernst gemeinte Fairness eines verantwortungsvollen Richters kann freilich zur falschen Fairness werden. Von einem Vorsitzenden heißt es357, er sei "um ein sauberes Verfahren bemüht, doch er läßt die beiden angeklagten Frauen uferlos reden. Das sieht sich liberal an, 355 In der Rechtssache 1 BvR 734/77; dazu FAZ vom 28. 12. 1977. 356 F AZ vom 24. 8. 1978. 357 Spiegel vom 20. 8. 1974, S. 55.

B. Einzelne Tugenden

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das wirkt fair, doch das ist weder liberal noch fair". Die falsche Fairness dieses Vorsitzenden wird von der Tugend der Ordnung (B IV) und anderen mißbilligt. 3. Wo hingegen die richtige Fairness, unsere Tugend also, dem Vorsitzenden zur Seite steht, interpretiert (A X) sie, wie andere Tugenden, den Rechtsbegriff der Ordnung des § 176 GVG. Diese ist damit (auch) eine in Fairness aufrechterhaltene, eine faire Ordnung.

IV. Ordnung Die Tugend der Ordnung darf man mit dem Rechtsbegriff gleichen Namens (in § 176 GVG) nicht verwechseln. Wie ihre Schwestern, wird sie in einem Standardbegriff (A XIV) gedacht, der vielleicht schwieriger zu fassen ist als andere. Die Frage, um welche Ordnung es sich handle, wie ihr Inhalt aussehe, wird daher häufig gestellt, wo von ihr die Rede ist. Der Rechtsbegriff der Ordnung des § 176 GVG ist derjenige, um den sich, als den Kern der Sitzungspolizei, alle Tugenden des Vorsitzenden kümmern. Eben deshalb kann er, wie die Beispiele zeigen werden, auf die Tugend der Ordnung nicht verzichten. Immer wieder inspiriert sie, als die Seele sitzungspolizeilichen HandeIns, die rechtsbegriffliche Ordnung. 1. Daß er an den Rechtsbegriff der Ordnung des § 176 GVG gebunden ist, hat der Richter nach § 38 I DRiG beschworen, auch sagt es ihm die Staatstugend. Von ihm ist daher auszugehen.

a) Der Rechtsbegriff der Ordnung des § 176 GVG ist ein Wertbegriff (A 111), der auf das Reich der Werte und ihrer Tugenden verweist. Er läßt sich zwar durch Beispiele umschreiben358 , aber kaum definieren. Auch durch soziologische Erklärungen, zum Beispiel mit Hilfe der Vorstellungen von Rolle und Rollenerwartung359 , erfährt man nicht, welche Rolleninhalte einem Vorsitzenden, wenn er die Ordnung einer Sitzung aufrechterhalten soll, von Rechts wegen zukommen. In einem Zusammenhang mit dem Wertbegriff der Ordnung des § 176 GVG ist der Wertbegriff der Würde des § 175 GVG zu sehen. Es ist eine rhetorische Variante des Rechtsbegriffs der Ordnung. Auf das sprachliche Normalmaß zurückgeführt, meint § 175 GVG, der Zutritt zu öffentlichen Verhandlungen könne Personen versagt werden, die ... in einer der Ordnung des Gerichts (im Sinne des § 176 GVG) nicht entsprechen358 359

Scheuerle, AcP 157 (1958), 65 ff.; Schneider, MDR 1975, 622 f. Schneider, MDR 1975,623.

IV. Ordnung

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den Weise erscheinen360 • Die Rhetorik des Gesetzgebers, sein Gebrauch des gefühlsbetonten Wortes Würde, war der Boden für abwegige Phantasien361 über seine Bedeutung. Weit, aber typisch für den Gefühlsgehalt von Wort und Begriff, versteht ihn der Bundespräsident362 , wenn er meint, "früher sei kein Rechtsanwalt der Versuchung erlegen, durch unentwegtes Jonglieren mit der Prozeßordnung das Gericht auszutricksen. Die Würde des Richters 363 habe es verboten, ein Gericht hereinzulegen, selbst dann, wenn das Gesetz dazu die Möglichkeit bot." Wird der Begriff der Würde hingegen enger aufgefaßt, dann ist er keineswegs im Sinne einer besonderen Feierlichkeit und ritualisierter Formen mißzuverstehen364 , sondern als eine der Erforschung der Wahrheit dienende Ordnung, eine Wahrheits-Ordnung. Er wird dann ähnlich verstanden, wie ihn das Genfer Ärztegelöbnis (1948) des Weltärztebundes meint, wonach der Arzt verpflichtet ist, seinen Beruf "mit Gewissenhaftigkeit und Würde" auszuüben. Hier ist kein Ritual gemeint und kein Gehabe, sondern (sozusagen) eine Gesundheits-Ordnung. Ähnlich verhält es sich mit der Rückseite der Würde, dem Wertbegriff der Ungebühr des § 178 GVG. Sein Sinn ist: wird die Ordnung (des § 176 GVG) in besonders schwerer Weise gestört, so können, über § 177 GVG hinaus, bestimmte "Ordnungsmittel" , "Ordnungsgeld" und "Ordnungshaft" angewendet werden. Das Rätselraten um Gebühr und Ungebühr hat hier eine überreiche Literatur hervorgebracht, als ob das Gebührende (und die Würde) etwas anderes wäre, als eine bestimmte Ordnung, eben die Wahrheits-Ordnung des § 176 GVG. b) Der Begriff Ordnung365 des § 176 GVG kann durch den Gesetzgeber konkretisiert werden. Er kann vorschreiben, daß die Richter in der Verhandlung eine Amtstracht zu tragen haben und wie sie aussieht. Er kann bestimmen366 , daß die Sitzung im Sitzungssaal des Gerichts und nicht im Amtszimmer des Richters stattfindet; wann die Beteiligten aufstehen und wann sie sitzen bleiben; daß der Vorsitzende bei der 360 OLG Karlsruhe, JR 1977, 392, redet vom "Schutze der Würde des Gerichts oder der Ordnung in der Sitzung" und spricht darum für eine Gleichsetzung beider. Kommissionsbericht S. 160 schlägt dem Gesetzgeber vor, künftig nur von Mißachtung des Gerichts zu sprechen. 361 An der Türe des WC im Amtsgericht einer kleinen Stadt hängt (nach Mainzer Wochenblatt vom 26. 1. 1978) folgendes Schild: "Um die Würde der Amtstracht zu wahren, werden die Herren Richter und Anwälte gebeten, diesen Ort nicht in Amtstracht zu benützen." 362 F AZ vom 28. 9. 1977. 363 Gemeint ist wohl das Gericht, nicht der (einzelne) Richter, wie der anschließende Wortlaut ("Gericht") zeigt. 364 Kern / Wolf, S. 174. 365 Würde und Gebühr (als Gegenteil der Ungebühr) sind stets mitgemeint. 366 RiStBV Ziffer 119 ff.; über die Normqualität jener Vorschriften siehe deren Einführung.

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E. Einzelne Tugenden

Aufrechterhaltung der Ordnung, soweit erforderlich, durch einen (!) Justizwachtmeister367 unterstützt wird; wo der Angeklagte sitzt usw. Die gleiche Legalinterpretation steht dem Gewohnheitsrecht zu. Hiernach können die Beteiligten, über die Sollvorschrift von RiStBV Ziffer 120 hinaus, verpflichtet sein, sich bei bestimmten Anlässen zu erheben; Rechtsanwälte können verpflichtet sein, vor Gericht im Talar, mit oder ohne Barett, aufzutreten368 usw. c) Wenn Legalinterpretation und Gewohnheitsrecht schweigen, kommt die Auslegung durch den Richter zu ihrem Recht, der dafür die Methode wählt. Für die Wahl gilt: "Welche Auslegung jemand wählt, hängt davon ab, welche Rechtsphilosophie er hat" (Zippelius)369. Rechtsphilosophie in diesem Sinne ist auch die Ethik, die dem Hermeneuten die Tugenden liefert. Die Tugend der Ordnung kann dem Richter nahelegen, sich der Wortmetaphysik von Ordnung, Würde und Ungebühr zu enthalten und als Zweck des § 176 GVG (und seiner Nebenbegriffe Würde und Ungebühr) das Streben zu erkennen, der Wahrheit zu dienen. Die Ordnung der Sitzung ist damit eine Wahrheits-Ordnung: die Wahrheit (allein) ist das Telos der Ordnung.

d) Die Wahrheit (selber) ist der Gegenstand der Tugend der Wahrhaftigkeit, die zu üben der Richter in § 38 I DRiG beschworen hat. Sie dem Vorsitzenden unserer Tage ausdrücklich zu empfehlen, geben die Ereignisse der Krise zur Zeit keine Veranlassung. Als Komplementärwert370 der (Wahrheits-) Ordnung fällt die Wahrheit überdies dem Vorsitzenden automatisch zu, wenn ihm die Tugend der Ordnung geläufig ist. e) Es bedarf also, das werden die Beispiele371 zeigen, damit die rechtsbegriffliche Ordnung des § 176 GVG recht verstanden werden kann, (neben anderen Tugenden) der Tugend der Ordnung. Wie sieht sie aus? Ursprünglich ist die Ordnung "eine sehr schlichte Tugend. Sie bedeutet, daß der Mensch weiß, wo eine Sache hingehört und wann es für ein Tun Zeit ist; welches Maß jeweils gilt und in welchem Verhältnis die verschiedenen Dinge des Lebens zueinander stehen. Sie bedeutet den Sinn für die Regel und Wiederkehr und das Gefühl dafür, was sein muß, damit ein Zustand oder eine Einrichtung Dauer haben"372. Unsere 367 RiStBV Ziffer 124 III; dazu B VI. 368 BVerfG JZ 1970, 320; BayVGH BayVBl 1972, 337 ff.; OLG Karlsruhe, NJW 1977, 309 ff. 369 Zippelius, JZ 1976, 153. 370 über Komplementärwerte (zum Beispiel den des Vertrauens) Scheuerle in Festschrift für Hermann Eichler, 1977, S. 567 ff. 371 Dazu unten in diesem Abschnitt. 372 Guardini, S. 13 ff.

IV. Ordnung

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Tugend mag schlicht sein, ihre Gegenstände umfassen die ganze Welt. Sie beginnt in Haus und Hof und ergreift Dorf, Stadt, Staat und Gesellschaft. Alles hat seine Ordnung mit Teil- und Unter-Ordnungen. Es gibt eine Ordnung der Familie, der Ehe373 , der Schule, des Marktes, des Betriebes374, der Armee, der Kirche375 , des Hospitals, des Theaters, der Rechtsprechung. Deren Ordnung ist eine innere (des Urteilens) und eine äußere (des VerhandeIns). Die letztere beherrscht die Sitzung des Gerichts. Die Tugend der Ordnung entfaltet ihre Wirkungen, seit es die ihr vorgegebenen Tatsachen "gibt". Trotzdem ist sie keine klassische Tugend. "Entdeckt" (A VII) wurde sie als sog. bürgerliche Tugend im 18. Jahrhundert376 • Das aufkommende Bürgertum hat sich ihrer (und der Tugenden des Fleißes und der Sparsamkeit) bedient, um den Adel, der jene Tugenden nicht (mehr) besaß, wirtschaftlich und politisch zu entmachten. Die neue Schicht verdankte ihnen die Führung in Gesellschaft und Staat, die Pädagogen jener und der folgenden Zeit haben ihre Werte gelehrt (A XVII). Die Tugend der Ordnung war damit entdeckt und wurde, nunmehr bewußt, geübt. In wirren Zeiten ist es nicht überflüssig zu sagen, daß die staatliche Ordnung mit ihren Teil- und Unter-Ordnungen ein Wesensmerkmal aller3n Regime der Welt ist. Wer sie bekämpft, wendet sich nicht gegen die Ordnung schlechthin, sondern gegen die bestehende, an deren Stelle er die seinige setzen will. Seinem Rigor als Kämpfer kann es entsprechen, daß er die seinige als die strengere will. Der Satz, die Anarchie funktioniere nur, wenn ein drakonischer Anarch sie in Ordnung halte, ist weder paradox noch lustig: auch die Anarchie ist eine Ordnung und keine bequeme378 • 373 Sie ist nach § 87 I Ziffer 1 BetrVG ein Gegenstand, dessen Ordnungsprobleme sich denen der Sitzung vergleichen lassen: Torkontrolle, Rauchverbot, Kleidervorschriften, Bußordnung usw. 374 Neuestens Chr. Greiff, Die Ordnung der Ehe, Eine rechtsphilosophische Studie, 1977. 375 Mit der inneren Ordnung der Kirche wankt in der Krise auch die äußere, der Ordnung des § 176 GVG vergleichbare. Daher muß bei einem Kirchentag in der Kirche "eine ältere Frau von jungem Mann zu jungem Mann laufen" und sagen: "In der Kirche ißt man nicht. In der Kirche trinkt man nicht. In der Kirche raucht man nicht." Der Reporter fügt hinzu, wenn sie um die nächste Säule (der Egidienkirche zu Nürnberg) herumgegangen wäre, hätte sie hinzufügen können: "In der Kirche küßt man nicht." Die ältere Frau, die jungen Leute demonstrierten die Wandelbarkeit der Ordnung (A XII) in "sozialexperimenteller" Weise. 376 Bollnow, Wesen und Wandel, S. 32 ff. m über die sog. Große Ordnung und eiserne Disziplin im neuen Statut der Kommunistischen Partei Chinas siehe FAZ vom 26. 8. 1977. 378 Zu erfahren, wie sie in concreto aussieht, kann schwierig sein: das eben ist das Wesen des Anarchischen. Wer aber in concreto dagegen verstößt, hat nichts zu lachen: in Anarchien stirbt man schnell.

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B. Einzelne Tugenden

Die beschriebene elementare Bedeutung des "Prinzips Ordnung" macht es verständlich, daß ihre Wertschätzung und übung den Rang einer Tugend hat. Sie ist auch der Grund, warum sie als Muttertugend379 gepriesen wird. In der Tat, wer den Vorsitzenden entscheidend schlagen will, muß seine Ordnung (§ 176 GVG) und deren Betreuerin, die gleichnamige Tugend, treffen. Der Geschlagene hat es schwer, andere Tugenden zu üben. Das spricht für die Meinung, die Ordnung sei eine genetrix virtutum. f) Wie andere Tugenden, so kann auch die der Ordnung übertrieben werden. Dann fehlt ihr die sie fundierende (A XIII) Tugend des Maßes (B XIV), die insofern zu ihrem Begriff380 gehört; sie wird zur falschen Ordnung, vielleicht zur Unordnung. Daher ist schon der aufklärerischen Ordnung die romantische entgegengetreten, die die Gefahren der unentwegt weiterschreitenden rationalen Ordnung erkannte381 . Die Polarität (mindestens) zweier Ordnungsvorstellungen gehört also offenbar zum Wesen der Ordnung. Ihre heutige Wirkung läßt sich an ihrer Funktion in den Streitkräften beobachten, deren Ordnungsbedarf (in allen Zeiten und bei allen Völkern) be~onders groß ist. Nach einer Agenturmeldung382 ist den kanadischen Soldaten befohlen, "bei Paraden nicht in schlampiger83 Weise umzukippen. Auch derjenige, dem es schwarz vor den Augen wird, soll die Disziplin384 wahren. Zuwiderhandlungen werden bestraft". Das ist eine rationale Ordnung, keine romantische: Soldaten müssen stets "einsatzbereit" sein, auch bei Paraden. Daß das Wort von der Ordnung des Kadavergehorsams (hier in seiner fast wörtlichen Bedeutung) fallen wird, steht zu erwarten. Allerdings gibt es seit je auch eine "Ordnung des Sterbens", des "würdigen" Todes385 • Mit ihr verglichen ist die "Ordnung des Umkippens" eine geringfügige Sache. Das alles betrifft die Polarität der Ordnungen und die Frage nach der "richtigen" Ordnung. Die gleiche, alte Diskussion um die richtige und falsche Ordnung regiert, mit viel vermeintlichem Geist, die Auseinandersetzungen um die äußere gerichtliche Ordnung des § 176 GVG. Ein Beispiel386 für viele: 379 Bollnow, Wesen und Wandel, S. 33 f.; bereits A VI. 380 Guardini, S. 13: "welches Maß jeweils gilt". 381 Bollnow, Wesen und Wandel, S. 38 f. 382 Dpa vom 6. 7. 1976 in FAZ vom 7. 7. 1976. 383 Gemeint ist: gegen die (vorausgesetzte) Ordnung verstoßend. 384 Gemeint ist wieder die Ordnung, deren spezielle Ausprägung die "Disziplin" ist. 385 Man liest davon auch in Todesanzeigen der Tagespresse. 386 Spiegel vom 27.9.1976 und vom 11. 10. 1976, dazu unten in diesem Abschnitt.

IV. Ordnung

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darf ein Vorsitzender, wenn es heiß ist, "in Hemdsärmeln" die Sitzung leiten: Marscherleichterung? g) Jede Ordnung bedarf eines Hüters: eine hüterlose Welt strebt zum Chaos. Der Hüter der Ordnung der gerichtlichen Sitzung ist der Vorsitzende, nach § 176 GVG obliegt ihm die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung. Da sein Hüteramt nie zu Ende ist, sondern wie die Krise zeigt, immer neue Fragen stellt, bedarf es eben der Wachsamkeit unserer Tugend: sie bewacht den Wächter, hütet den Hüter. Da sie ihm aber weniger feste Regeln gibt, als "ein Gefühl dafür, was sein muß"387, hat er dieses Gefühl an immer neuen Beispielen zu bilden. Dabei wird er irren können und sich korrigieren müssen. Auch das gehört zum steilen Pfad der Tugend. 2. Wie sehen nun einige Sachverhalte aus, an denen man erkennen kann, wie der Rechtsbegriff der Ordnung durch die Tugend der Ordnung getroffen oder verfehlt, mit dem "Gefühl für das, was sein muß" interpretiert wird? a) Ein Vorsitzender ist gut beraten, wenn er seine eigene Person und die seiner Beisitzer durch die Tugend der Ordnung beurteilen läßt. Dabei kann er mit dem sog. Äußeren beginnen, etwa mit der Kleidung, die in der Krise unversehens zum Problem wurde. Die Richtlinien388 sagen dazu: "Mängel der äußeren Form schaden dem Ansehen der Straf justiz" , und sie meinen damit, recht verstanden, die Bürger erwarteten von der Justiz eine Ordnung (der Wahrheit) und verachteten sie, wenn sie an die Stelle dieser Ordnung eine Unordnung setze. Dann würden sie in ihrer Verpflichtung geschwächt, selber zur Erforschung der Wahrheit beizutragen. Daß das Äußere des Menschen einen Schluß auf sein Inneres zuläßt, ist altes Erfahrungsgut389 : ein großer Teil der Menschenkenntnis beruht auf dieser Relation. Die Menschen enthüllen, oft ungewollt, ihr Inneres durch Äußeres und geben sich damit, mögen sie sich noch so schlau und überlegen dünken, erfahrenen Beobachtern preis. So läßt sich auch ihre berufliche Qualität beurteilen. Ein unordentlich auftretender Arzt läßt unordentliche Behandlung des Patienten erwarten, lebensgefährliche Unsauberkeit und überhaupt Mangel an ärztlichen Tugenden. Wer mit schlampig auftretenden Piloten fliegt, geht tödliche Risiken ein390 . 387 Guardini, S. 16, dazu oben in diesem Abschnitt. 388 RiStBV Ziffer 119 14. 389 Man muß sich wegen der Ausbreitung dieser Selbstverständlichkeit entschuldigen; ihre Veranlassung ist die Abschaffung der Erfahrung durch die Errungenschaften der Krise. 390 Der Chef der British Airways, selber erfahrener Pilot, kennt einen Zusammenhang zwischen der "allzu saloppen Kleidung der Piloten und der geminderten Flugdisziplin und Flugsicherheit" , FAZ vom 10. 8. 1976. 7 Scheuerle

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B. Einzelne Tugenden

Ähnliches gilt auch vom (vorsitzenden) Richter und seinem Gericht. Die nachlässige Kleidung mancher Richter gehört zur Lasterliste, die ein hoher Richter über manche Kollegen angefertigt hat391 . Hier ist die Richterschaft als Ganzes betroffen. Die Minister selber müssen ihre Sessel verlassen und Nachschau halten. Die "ordnungsgemäße Erledigung der Amtsgeschäfte" (§ 26 II 2 DRiG) ist in Gefahr: schlampig auftretende Richter halten eine schlampige Ordnung der Sitzung aufrecht (§ 176 GVG) und judizieren schlampig. Ein Vorsitzender, der von sich sagt392 , daß er an heißen Tagen393 "roben- und krawattenlos, also in Hemdsärmeln" Sitzungen leitet, stellt sich den Beteiligten als Beamter vor, der es sich bequem macht. Sie ziehen daraus den Schluß - ob zu recht oder nicht394 - , daß auch sie es sich bequem machen dürfen. Das wirkt sich auf die Wahrheitsfindung ungünstig aus. Das hemdsärmelige Auftreten des Vorsitzenden ist daher keine Wahrheits-Ordnung. Daß, wo eine Amtstracht durch geltendes Recht vorgeschrieben ist, auch die Staatstugend (B I) betroffen ist, muß nicht betont werden. Auch die Bescheidenheit (B XII) könnte angesprochen sein. Wer aus dem Rahmen fallen, Aufsehen erregen, Schlagzeilen machen, Publizität erringen will, muß sich den Vorwurf der Eitelkeit gefallen lassen. Dem schweren Dienst an Wahrheit und Recht steht die Bescheidenheit besser an. Hat also unsere Tugend in der plötzlich und künstlich zum Problem emporgehobenen Kleiderfrage ein wichtiges Amt, so bietet sie wiederum keine festen Regeln für seine Lösung, wohl aber "ein Gefühl dafür, was sein muß", ein Wittern des Richtigen. Die Wandelbarkeit der Werte (A XII) bringt sich dabei in Erinnerung. Zur Zeit kennt unser Ordnungsgefühl weder die "Nabelschau"395 noch die Perücke396 . Hingegen stehen viele Möglichkeiten zur Auswahl, die der Wahrheit und ihrer Ordnung dienen, weil sie die Verfahrensbeteiligten, mit deren Urteil der Vorsitzende rechnen muß, zur Mithilfe anregen und nicht davon abhalten. Wo immer Ordnungen herrschen, zum Beispiel im Parlament, gibt es vergleichbare Lagen. "Es gehört zu den ungeschriebenen Gesetzen des 391 Sarstedt, JZ 1969, 153; dazu A I. 392 Spiegel vom 11. 10. 1976, S. 105. 393 Vor der Krise waren heiße Tage so unbekannt, wie viele andere Unterdrückungen, es fehlte dafür am "rechten Bewußtsein". 394 Auch mit falschen Schlüssen muß der Richter rechnen, er ist nicht nur für die richtigen Denker da. 395 Spiegel vom 11. 10. 1976, S. 105. 396 Anders die harte Ordnung der jüngeren Perückenträger: kein Gymnasiast "kann es sich leisten", kurze, bequeme und saubere Haare zu tragen. Die Perücke der komplizierten Frisur ist eiserne Disziplin (Zeit vom 11. 3. 1973).

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Bundestages, daß die Abgeordneten Krawatten tragen, allenfalls der Rollkragenpullover unter der Jacke wird toleriert"397. Daher schickte der Bundestagspräsident einem Abgeordneten, der mit offenem Hemdkragen die Regierungserklärung des Bundeskanzlers und die Erwiderung des Oppositionsführers hörte, mit der Hauspost eine seiner Krawatten "zur gefälligen Bedienung". Ein Abgeordneter der betroffenen Fraktion billigte die Maßnahme. Jener Kollege habe "nicht nur die Kleiderordnung des Bundestages verletzt, sondern auch sozialdemokratische Tradition". Schon August Bebel habe großen Wert darauf gelegt, daß die SPD-Abgeordneten des Reichstages auch durch die Kleidung ihre Hochschätzung des Parlaments kundgeben. b) Anderer Art sind die Fälle, in denen die Tugend der Ordnung die richterliche Aufmerksamkeit unmittelbar und ausdrücklich betreut. Hier hat sie ein weites Feld, bis in die Revisionsgerichte hinauf. Eine Revision rügte398 , daß der Vorsitzende der Hauptverhandlung und seine zwei Beisitzer es in zweifacher Hinsicht an der gebotenen Aufmerksamkeit fehlen ließen. Er unterhielt sich während der Schlußausführungen des Verteidigers etwa fünf Minuten lang angeregt mit einem beisitzenden Assessor über einen Brief. Der zweite Beisitzer zensierte während der gleichen Schlußausführungen fünfzehn Minuten lang insgesamt sieben Briefe von Untersuchungsgefangenen. Das Revisionsgericht folgte unserer Tugend nicht. Zum ersten Verstoß hatten die Unterhalter erklärt, vom Plädoyer des Verteidigers sei ihnen nichts entgangen. Was hätten sie sonst erklären sollen? Seltsamerweise meint aber das Revisionsgericht, das sei ihnen "nach der Erfahrung nicht zu widerlegen", ein Verfahrensfehler sei also "nicht mit Sicherheit festzustellen". Auch die viertelstündige Vertiefung des dritten Mannes in seine Gefangenenpost weckte weder eine tatrichterliche noch eine oberstrichterliche Tugend auf. Aus eigener Erfahrung weiß das Revisionsgericht das Erstaunliche, "daß das Zensieren von Gefangenenbriefen regelmäßig keine besonderen Anforderungen an die Verstandestätigkeit (!) und die Aufmerksamkeit eines Richters stellt". Die Erfahrung stammt freilich aus dem Jahre 1962; wenig später haben blutige Attentate auf Richter, die in jenen Gefangenenbriefen geplant sein konnten, die Aufmerksamkeit und hoffentlich auch die "Verstandestätigkeit" der Kollegen verändert. Die Tugend der Ordnung des Vorsitzenden hat, recht besehen, in zwei Instanzen je zweimal versagt. Einmal war seine eigene Haltung ein Tugendverstoß; er mußte den Mund hal-

3'11 F AZ vom 18. 1. 1980. 398 BGH NJW 1962, 2212.

7'

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B. Einzelne Tugenden

ten und aufpassen. Sodann schrieb ihm die gleiche Tugend vor, für die rechte Haltung seiner Beisitzer zu sorgen399 • Das gehört zur Aufrechterhaltung der Ordnung nach § 176 GVG, geleitet von der homonymen Tugend. Tugendbewußter hatte sich ein anderes Revisionsgericht 400 gezeigt, als ein Beisitzer "zeitweilig den Sitzungssaal verließ, um ein Ferngespräch zu erledigen". Freilich war hier nicht nur die Sitzungsordnung des § 176 GVG verletzt, sondern alle Rechtsnormen, die die Anwesenheit des Richters vorschreiben401 • Erstaunlich war, daß es zu dieser Erkenntnis des Bundesgerichts bedurfte. Der zitierte Fall erteilt unserer Ordnung im übrigen eine zusätzliche doppelte Lehre. Einmal zeigt er, daß eine Verletzung spezieller Rechtssätze auch eine Verletzung der Ordnung sein kann und daher nicht nur der Staatstugend (B I) untersteht, sondern auch der Tugend der Ordnung; beide konkurrieren (A XIII). Sodann macht er klar, daß Richter, die sich unterhalten oder Briefe zensieren, in schwererem Maße gegen unsere Tugend verfehlen, als jener Fernsprecher: sie haben die Unordnung allen Beteiligten im Saale vorgeführt, während jener immerhin seine "Erledigung" auswärts vornahm. Das Verfahren der Unterhalter und Zensoren war daher weniger tugendhaft als das des Telefonisten. Die Tugend der Ordnung haben sie mehr402 verfehlt als jener andere, trotz seiner Verachtung des Präsenzgebotes. c) Ein Übel, das die Tugend der Ordnung nicht nur verletzt, sondern in empörender Weise verachtet, ist der während der Sitzung schlafende Richter. Daß es ihn gibt, zeigen Rechtsprechung und Literatur403 • Ein Revisionsgericht404 findet den Sitzungsschlaf nicht schlimm; es judiziert, ein Gericht sei nur dann nach § 338 Ziffer 1 StPO nicht vorschriftsmäßig besetzt, wenn der Schläfer vom Schlafe so übermannt sei, daß er wesentlichen Vorgängen während einer ins Gewicht fallenden Zeitspanne nicht mehr folgen könne. Diese, im Gewande des Maßes, aber des falschen, auftretende Meinung des gesunden Schlafes verkennt die Tugend der Ordnung. Schon der schläfrig gähnende Richter "besetzt" sein Gericht nicht "vorschriftsmäßig" (§ 338 Ziffer 1 StPO), sondern vorschrifts- und ordnungswidrig. Gähnen und Müdesein stecken an, die Ansteckung schafft ein wahrheitsfeindliches Milieu. Zieht man Wie das geschieht, dazu B I. BAG NJW 1958, 924. 401 §§ 35 II ArbGG, 128, 309, 551 I Ziffer 1 ZPO. 402 Daß Tugendverstöße verschieden schwer sein und daher auch verschieden "benotet" werden können, verfolge ich nicht weiter. 403 Etwa: Rosenberg / Schwab, S.763; Baumbach / Kleinknecht, S.787 usw. 404 BGHSt 2, 14. 399

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Vergleiche, so darf man fragen: müssen der operierende Arzt und der steuernde Pilot den vom Revisionsgericht berechneten Übermannungsgrad erreichen, um funktionsuntüchtig zu werden? Ist der über Schuld und Unschuld, Haben und Nichthaben, Ehre und Schmach, Tod und Leben urteilende Richter ein geringfügigeres Ding als Arzt und Pilot? d) In die Zuständigkeit unserer Tugend gehört die alte Frage, ob ein Richter die Urteilsformel schon während der Schlußvorträge niederschreiben darf oder gar noch vorher405 • Natürlich darf er es nicht. Auch die Schlußvorträge gehören zu dem komplizierten Vorgang der "Erforschung" der Wahrheit (§ 244 11 StPO). Ob der Vorsitzende dabei Sachdienliches hört, erfährt er erst, nachdem er es gehört und bedacht hat. Er muß daher zunächst auch den Plädoyers seine ungeteilte Aufmerksamkeit widmen, um sich so dann die nötigen Gedanken über die "Erforschung" zu machen. Schon daß die "Rechtsfrage" überhaupt entstehen konnte, gibt dem Bürger zu denken. Der Kundige allerdings weiß, daß viele Richter, eilig und geschäftig, statt besonnen und aufmerksam, jene Unordnung praktizieren. Durch die kauzige Bezeichnung "Tenorpinseln" suchen sie das Laster herunterzuspielen. Verwunderlich ist das nicht, denn auch der Bundesgerichtshof406 hält vom Wahrheitsdienst der Ordnung durch ungeteilte Aufmerksamkeit nicht viel. Man hört das alte Lamento von der überbesetzung der Termine: Zeitnot, Zeitersparnis und Zeitdilemma beherrschen die Argumentation. Alles das rechtfertigt den Verstoß gegen die Wahrheitsordnung nicht. Der ordentliche Vorsitzende terminiert in einer Weise, die Justizgewährung verspricht, nicht Justizverweigerung. Kein Minister kann ihn zur Kränkung des Vortragenden407 zwingen, dem das "Zeitdilemma" des Richters zu verstehen gibt, er rede in den Wind: der eilige Tenorschreiber ist nicht nur unhöflich, sondern auch unrichterlich. Die Sitzung des § 176 GVG ist nicht die eines Standgerichts, das, angesichts des nahenden Feindes, unter Zeitdruck Erschießungen beschließt. Sie ist nicht mit einer traurigen Veranstaltung für eilige ärztliche Versorgungen zu vergleichen, wie sie bei Katastrophen oder im Kriege auf Hauptverbandsplätzen üblich sind. Sie ist eine gewöhnliche, friedliche Gerichtssitzung, die in manchen Sprachen audience heißt, was vom (aufmerksamen) Hören kommt. Die geschilderte Praxis des Vor-Urteils kann das Ansehen nicht nur des einzelnen Richters, sondern der Justiz insgesamt empfindlich beein405 406

407

Dazu auch unten Abschnitt B VII. BGHSt 11,74. Lienen, NJW 1960, 136.

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B. Einzelne Tugenden

trächtigen, vor allem, wenn sie mit unfreiwilligem Humor (B XVI) zu Lasten des Gerichts verbunden ist. Die Presse408 berichtet, daß während einer Sitzungspause der Staatsanwalt das Fenster öffnet und ein Windstoß Blätter und Akten auf dem Richtertisch durcheinander wirbelt, wobei dem Angeklagten sein Urteil409 vor die Füße fällt, in der Handschrift des Vorsitzenden. Im Antrag der Verteidigung auf Ablehnung des Vorsitzenden wegen Befangenheit hieß es, der Urteilstenor sei offensichtlich bereits vor der Einlassung des Angeklagten, vor Abschluß der Beweisaufnahme, vor den Plädoyers und vor dem letzten Wort des Angeklagten geschrieben, ein klassischer Fall der Befangenheit. Der Vorsitzende meinte, er habe nur einen Entwurf gefertigt mit der schwierig zu erstellenden Kette der anzuwendenden Paragraphen. Die Kammer gab dem Ablehnungsantrag statt. Die Tugend der Ordnung hatte gesiegt. Die Sitzungsklugheit (B VI) hätte dem Vorsitzenden zusätzlich geraten, vorzeitig geschriebene Urteile und Entwürfe in den Sitzungspausen nicht herumliegen zu lassen, wenigstens nicht unbeschwert: auch bei Gericht weht der Wind, wo er will. Bislang hatte er allenfalls, wenn man alten Fallsammlungen glauben darf, Wertpapiere ungewollt unter die Leute gebracht und für die entsprechende Theorie (des zurechenbaren Rechtsscheines) gesorgt. Von Urteilsentwürfen war Ähnliches noch nicht bekannt. 3. Die zentrale Frage der Ordnung betrifft, wegen der Häufigkeit ihrer Fälle und deren großer Publizität in Presse, Funk und Fernsehen, das Verhalten der nichtrichterlithen Beteiligten, der Angeklagten, Zeugen, Zuhörer, auch der Rechtsanwälte. a) Hierher gehören die bekannten Gewaltakte, körperliche Angriffe, Werfen mit Schuhen und anderen Gegenständen, Bespritzen mit Farbe, Exkrementieren, obszöne Handlungen410 , Wegnahme und Zerstörung von Akten usw. Ihre Wirkung greift über die Staatsgrenzen hinaus und zeigt einen Nationalcharakter, der Abscheu und Verachtung hervorruft; vielleicht ist sie als solche gewollt. Vorkommnisse der beschriebenen Art sind natürlich gegen die Erforschung der Wahrheit gerichtet, sie fordern die Tugend der Ordnung und andere Tugenden heraus. Wegen ihrer Eindeutigkeit stellen sie Spiegel vom 24.7. 1978, S. 51 f. Das Strafmaß war offengelassen. 410 Liegt eine solche Handlung vor, wenn "ein Verteidiger vor Gericht seine Hose öffnet und seine Schuhe auszieht" (FAZ vom 31. 3. 1978), oder ist der Täter im Gegenteil ein Moralist, weil er "lediglich demonstrieren wollte, wie er bei den Durchsuchungen vor Betreten des Gerichtssaals behandelt werde"? Immerhin wurde sein Verhalten "vom Gerichte zwar scharf kritisiert", blieb aber "vorerst ohne Folgen". Was mit Hose und Schuhen weiter geschah, wird nicht berichtet (Stuttgart-Stammheim, Verfahren gegen Sonnenberg). 408

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IV. Ordnung

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keine schwierigen Aufgaben: dem Vorsitzenden bleibt nichts anderes übrig, als der angreifenden Gewalt eine abwehrende entgegenzusetzen. Anders freilich, wenn es um ihre vorbeugende Verhinderung geht; dann ist die Tugend der Vor-Sicht, Prudenz, a\lfgerufen (B VI). b) Gewaltakte minderer Art sind Beifallskundgebungen und Zwischenrufe, woher sie auch kommen mögen. Ihre Gewalt ist die akustische, die man nicht geringschätzen darf. Auch sie sind Akte gegen die Wahrheit und ihre Ordnung: nicht durch Applaudieren und Protestieren wird Wahrheit errungen, sondern durch Hören und Wägen. In Ruhe und Aufmerksamkeit wird sie "erforscht" (§ 244 11 StPO), nicht belobigt oder getadelt, instrumentiert und inszeniert, wie theatralische Auftritte. Man fragt sich daher, ob eine Gerichtssitzung beschrieben wird, wenn man den folgenden Bericht hört411 • Die Zuhörer "rufen ,Aufhängen!' in der Sitzung. Der Vorsitzende rügt diese Bürger nicht. Er fordert vielmehr den Verteidiger auf, seinen Ton zu mäßigen, und die Bürger danken ihm dafür ungerügt mit Händeklatschen und Bravo-Rufen". Ein Fall von Terrorismus (im üblichen Wortgebrauch) ist das freilich nicht, eher sein Gegenteil. Er zeigt aber, daß die Tugend der Ordnung "unteilbar" ist: was dort gilt, hat auch hier Geltung. c) Das Gesagte gilt, jedenfalls quantitativ, noch mehr vom Reden ohne Worterteilung.

Von einer Sitzung heißt es412 : "Der vorsitzende Richter zeigte während der Ausführungen des B. sehr viel Geduld; B. trug seine Einwände in wüster Tonart vor und redete, wann er wollte." Hier ist die Unordnung eine doppelte: Zeit und Ton, diese beiden Ordnungselemente, sind geschwunden. Die "Geduld" des Vorsitzenden, sonst als Gelassenheit (B XI) oder Selbstbeherrschung (B X) eine Tugend, ist hier die falsche Geduld. Wer das Wort an sich reißt, will den Schwachen und Bescheidenen einschüchtern und dessen Beitrag zur Wahrheit mindern. Gerade dieser aber, das sagt die Erfahrung, ist meist gewichtiger als der des Aufdringlichen und Rechthaberischen. d) Die Tugend der Ordnung muß sich auch das äußere Erscheinungsbild der Beteiligten413 anschauen. Entsprechen "Berufskleidung" oder saloppe, schlampige, dreckige Kleidung, Beatle-Frisuren usw. usw. der Ordnung des § 176 GVG und der dazugehörigen Tugend? Das Argument der Äußerlichkeit, das die fortschrittlichen Freunde der Unordnung vorzubringen pflegen, bedarf hier genauer Prüfung im 411 412 413

Mauz, Die Gerechten, S. 262. F AZ vom 12. 6. 1975. über das der Richter siehe oben in diesem Abschnitt.

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Einzelfall. Wenn das ordnungswidrige Erscheinen den Sinn hat, zu beweisen, was sich der Erscheinende leisten kann, dann will er damit zu seinen Gunsten und zu Lasten seines Opfers die Wahrheit treffen: er will bekunden, daß er dem Ger~cht und seinen (möglichen) Opfern nichts schuldig ist, vor allem keine Wahrheit. Die Wandelbarkeit der Werte (A XII) tritt hier allerdings, wie kaum sonst, in Erscheinung414 • Sie ist allenthalben in der Welt zu beobachten, vom Auftreten der Kandidaten in Prüfungen bis zu dem der Minister bei Staatsakten. So kann es zur Zeit ein Vorsitzender als ordnungsgemäß empfinden, wenn "der Politc1own vergangener Zeiten (gemeint ist ein in A I zitierter, häufiger Angeklagter namens Teufel) einen blauen Arbeitsanzug trägt und ein rotes Band um die Stirn"415. Besser wäre er beraten, wenn er die Farbenpracht über die §§ 177 Satz 1 und 2 GVG sowie 231 b StPO verhinderte416 • Daß die Tugend der Ordnung mit der des Maßes zu konkurrieren pflegt, auf sie fundiert ist (A XIII) oder gar zu ihrem Begriff (B XIV) gehört, zeigt sich bei der Entscheidung der Fragen des äußeren Erscheinungsbildes. So wird ein Jugendlicher in Jeans die Ordnung nicht stören wollen, wenn er nichts anderes kennt. Damit gewinnt die subjektive Komponente eine Bedeutung für die Ordnung. Umgekehrt kann, wer als betrunkener Kraftfahrer einen Menschen verletzt hat, nicht schon deshalb im Arbeitskittel vor Gericht erscheinen, "weil ein vorheriger Kleiderwechsel einen unverhältnismäßigen Zeit- und Arbeitsausfall zur Folge gehabt hätte"417. Der Verletzte darf erwarten, daß der Delinquent der Hauptverhandlung eine gewisse Bedeutung, auch die des Umziehens, beimißt. Diese Bedeutung, dieses Gewicht der Sitzung, steht im Dienste der Wahrheit: sie wird unter vollem Einsatz der Person erforscht und gewogen, nicht nebenbei erledigt. Ein erheblich vorbestrafter Angeklagter, der sich wegen wiederholter Trunkenheit am Steuer zu verantworten hatte, erhielt vom Amtsrichter eine Ordnungsstrafe (§ 178 GVG), über deren Rechtmäßigkeit das Oberlandesgericht418 im Beschwerdeverfahren (§ 181 GVG) zu entscheiden hatte. Der angefochtene Beschluß lautete: "Gegen den in unziemlicher Kleidung vor Gericht erschienenen Angeklagten wird eine Ordnungsstrafe von 50 DM, ersatzweise zwei Tage Haft, verhängt, weil er, obwohl dies möglich gewesen wäre, nicht in üblicher Kleidung, sondern in Ar414 Dazu bereits Scheuerle in AcP (146) 1947, 75: Ein Universitätsprofessor erscheint als medizinischer Sachverständiger in Lederhose und Trachtenjacke vor einer Münchener Strafkammer und sagt auf Rüge, dieses Gewand sei für ihn ein Feiertagsgewand, das sich bei jedem Anlaß sehen lassen könne. 415 F AZ vom 12. 4. 1978. 416 Dazu unten Abschnitt B XVII. 417 Dazu Rüping, ZZP 88 (1975), 231 (mit Literatur). 418 OLG Hamm, NJW 1969, 1919 f.

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beitskleidung vor Gericht erschienen ist". Der Angeklagte sagte bei seiner Anhörung vor Erlaß des Beschlusses, er komme von der Arbeit und habe es nicht anders einrichten können. Ein späterer Vermerk des Richters besagte, der Angeklagte habe "in grinsender Weise erklärt, er sei nicht verpflichtet, in angemessener Weise zu erscheinen". Das Beschwerdegericht entfaltet nun viel Kasuistik, die nicht rechtserheblich ist. Nach langer Lektüre erfährt man, der Beschluß sei aufzuheben, weil er durch die nach § 182 GVG im Protokoll festzuhaltende Sachdarstellung nicht voll gedeckt sei. Der (zu bedauernde!) Amtsrichter habe darlegen müssen, ob der Angeklagte etwa von zu Hause in ordentlicher bürgerlicher Kleidung abgefahren sei oder hätte abfahren können; ob es ihm möglich gewesen wäre, sich umzukleiden; ob er dringende Terminarbeiten zu verrichten hatte usw. Alles das stand nicht im Protokoll, allerdings steht auch nichts Einschlägiges in § 182 GVG. Tugendgemäß wäre es gewesen, etwa folgendes in Kürze (B VI) zu sagen. Dieser für uns alle gefährliche Trunkenheitsdelinquent hatte an jenem Tage keinen wichtigeren Termin als den der Wahrheit. Mit ihr mußte er es innerlich genau nehmen. Ob er das tat, zeigte er nach alter Erfahrung durch sein äußeres Auftreten. Den genauen Umgang mit der Wahrheit war er seinen Opfern (B 11) schuldig; zu ihnen gehörte auch der Staat als Ganzes, der unter den blutigen Hekatomben seiner trunkenen Verkehrsteilnehmer leidet. Damit wäre nicht nur viel Zeit und Papier gespart, sondern auch ein zusätzlicher Aspekt der Krise vermieden worden: daß nämlich geplagte Richter, an der Hauptkampflinie gegen überladene Tagesordnungen kämpfend, künftig lieber alles hinnehmen, als sich solchen Zensuren der Rechtsmittelinstanz auszusetzen. e) Ein wohldurchdachter Angriff auf die Wahrheit und ihre Ordnung ist gegeben, wenn sich ein Angeklagter oder sonstiger Beteiligter in interessanter Weise kostümiert. Er will nicht nur "das Tribunal auf diese Weise zur Szene machen", also zum Theater, sondern ihm damit auch "seine Funktion absprechen"419. Gemeint ist die Funktion der Erforschung der Wahrheit, von welcher der Kostümierte zu seinen Gunsten und zu Lasten seiner Opfer ablenken will: iustitia disordinata, sive degenerata, sive denegata. f) Das Bemühen um die Wahrheit und ihre Ordnung wird auch durchkreuzt, wenn jemand versucht, die Sitzung durch pfiffigen Scherz, durch Ironie und Satire in ein lustiges Theater zu verwandeln. Ein Angeklagter420 antwortete auf Fragen zur Person, er heiße "Mensch" und sei ,,10 000 Jahre alt". Die Antwort ist nicht darum eine 419

420

Rüping, ZZP 88 (1975),232. Dpa vom 27.9.1973.

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Ordnungsstörung, weil sie "das Verfahren aus sachfremden Motiven hinauszögert"421. Ihre Motive sind vielmehr sehr sachbezogen, sie betreffen die Wahrheit. Der Angeklagte wollte eine Stimmung des Kabarettistischen und Lächerlichen schaffen und damit dem Gericht die Voraussetzungen der Wahrheitserforschung nehmen, den "WahrheitsErnst" , zu seinen eigenen Gunsten und zu Lasten seiner Opfer. Die Tugend der Ordnung erkennt den Spaß als blutigen Ernst und kann sich ihm nicht anschließen422 . Hierher gehören auch Geburtstagsgratulationen mit Blumen CB XVI), "Richterküßaktionen"423, Entkleidungsszenen CB IV, B X), Gesangsdarbietungen CA XIII), Maskerade mit Talar und Barett CB IV) und ähnlichen Vorstellungen, wie sie die künstlerische Schöpferkraft unserer Zeit ersonnen hat und weiter zu ersinnen verspricht. Ihr Zweck ist stets die Verkümmerung der Wahrheitserforschung durch ablenkende Veranstaltungen. Das ist der Sinn der Meinung424 , daß es dem Gesetz auf den Ernst des Richters CB XV) ankommt; nicht auf den sentimentalen Ernst im Gefühlsüberschwang einer Würde, sondern auf die zurückhaltende und aufmerksame Bescheidenheit des Erforschens der Wahrheit. Auf die Dauer können auch fortschrittliche Spaßvögel für diese Art von Ernst dankbar sein: der Spaß hat eine aktive und eine passive Seite, die im Lauf der Geschichte ihre Täter und Opfer wechseln. g) Viel abwegiges Gedankengut widmet die Krise der sog. Sitz- und Stehordnung: Wann müssen die Beteiligten aufstehen, wann dürfen sie sitzen bleiben? Die Frage wurde aufgerührt, als ein Angeklagter, vom Vorsitzenden zum Aufstehen aufgefordert, erklärte, er stehe gerne auf, "wenn es der Rechtsfindung dient"425 und "erhob sich langsam"426. Die Medien der Krise waren begeistert und machten die (einfache) Frage zum Problem427 • aal Die einschlägigen "Probleme" sind fast ganz durch Gesetzes- und Gewohnheitsrecht gelöst. Die Lage wird durch die Richtlinien428 beschrieben429 : "Beim Eintritt des Gerichts zu Beginn der Sitzung, bei der Vereidigung von Zeugen 421 Rüping, ZZP 88 (1975), 229, Note 73. 422 über Humor, Witz und Ironie des Vorsitzenden siehe Abschnitt A XVI. 423 F AZ vom 20. 12. 1968. 424 Baur, JZ 1970,247 f. 425 Der Spruch wird auch zitiert: "Wenn es der Wahrheitsfindung dient." So ist er gemeint. 426 Die Zeit vom 15. 4. 1968. 427 Schneider, MDR 1975, 622 mit Nachweisen. 428 RiStBV Ziffer 120 II 2 und 3. 429 Inwieweit die Richtlinien hier gesetzgeberische Normsetzung oder Be-

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und Sachverständigen und bei der Verkündung der Urteilsformel erheben sich sämtliche Anwesende von ihren Plätzen. Im übrigen soll es allen am Prozeß Beteiligten freistehen, ob sie bei der Abgabe von Erklärungen und bei Vernehmungen sitzen bleiben oder aufstehen". Vergessen ist die Vereidigung von Schöffen: daß sich hier die Anwesenden erheben, ist Gewohnheitsrecht und ergibt sich ad maius. Der Vorsitzende muß daher, so will es die Staatstugend (B I), die Sitzenbleiber "zum Stehen bringen"43O. bb) Eine Sollvorschrift431 bindet den Vorsitzenden nicht, sondern verweist ihn zurück auf die Generalklausel des § 176 GVG und die ihn interpretierenden Tugenden. Die Auslegung des Rechtsbegriffs der Ordnung gestattet ihm, innerhalb pflichtgemäßen Ermessens und unter der Fahne der Tugend der Ordnung, eine persönliche Ordnung walten zu lassen. So ist es nicht nur legal, sondern, als Beitrag gegen die sog. öde Uniformierung der Welt, sogar wünschenswert, daß der eine Vorsitzende den zu vernehmenden Angeklagten sitzenbleiben läßt, während der andere ihn im Stehen vernimmt. Eine höfliche, aber entschiedene Bitte wird ihn veranlassen, sich zu erheben. Bei Verweigerung ist die Durchsetzung ebenso unentbehrlich, wie im Falle gesetzlicher Ordnungsvorschriften. Was der Vorsitzende in solchen Fällen unternimmt, muß er sich überlegen, bevor er die Bitte ausspricht, sonst schädigt er seine und des Staates Glaubwürdigkeit. Die persönliche Ordnung ist auch darum unentbehrlich, weil ein Vorsitzender aufgrund seiner Erfahrung die Meinung vertreten darf, daß, wer bequem sitzt, bequem lügt. Dann wird er die Sollvorschrift der Richtlinien entsprechend interpretieren. Jenem Angeklagten, der siebengescheit nur aufstehen wollte, "wenn es der Rechtsfindung diente", wird er antworten: "Es dient ihr in der Tat", und wird ihn aufstehen lassen. ce) Innerhalb dieser persönlichen Ordnung spielt die Tugend des Maßes (B XIV) ihre wichtige Rolle: keine Ordnung ohne Maß. Die Presse432 berichtet von einem Vorsitzenden, der einen Angeklagten fast drei Stunden im Stehen aussagen ließ und ihm verbot, ein Erfrischungsbonbon ("Sport-Fresh") zu lutschen. Sein Verbot begründete er, selber sitzend, damit, daß "er auch nichts nehme". Unser Vorsitzender hat seinem, übrigens erst dreißigjährigen, Steher nicht gerade schreiendes Unrecht zugefügt. Vielleicht hat er ihn sogar wahrheitsbeschreibung geltenden Gewohnheitsrechts sind, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. 430 Dazu unten in diesem Abschnitt. 431 RiStBV Ziffer 120 11 3 (Text siehe oben). 432 Spiegel vom 26. 1. 1970, S. 80.

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wußter433 gemacht. Das Sport-Fresh hätte er ihm freilich geben sollen: die Tugend ist sport- und erfrischungsfreundlich. h) Bereits in den bisher genannten Fällen waren Beleidigungen des Vorsitzenden oder des Gerichts enthalten. Sie sind einer gesonderten Betrachtung würdig, wo sie reine sog. Verbalinjurien sind. Bei ihnen geht es wiederum um die Wahrheits-Ordnung, nicht um eine falsch verstandene Ehrfurcht vor der Obrigkeit oder vor der Würde des Gerichts. Dem Vorsitzenden ist es verwehrt, zu denken: "Wer sich provoziert fühlt, ist meistens selber schuld" 434. Er muß vielmehr, das gebieten ihm die Tugend der Ordnung und die Staatstugend (B I), einschreiten. Die Aufmerksamkeit der Beteiligten und ihr Sinn für Wahrheit werden geschmälert, wenn sie einen Vorsitzenden erleben, der sich und seinen Staat gegen Rechtsverletzungen, seien sie auch "bloße" Wortbeleidigungen, nicht schützen kann. Wie sollen sie vor einem gedemütigten Richter für sich selber Recht erwarten können? Wie sollen sie den Mut zur Wahrheit vor einem Richter aufbringen können, dem die Tugend der Tapferkeit in eigener Sache (B VIII) fehlt? Die Tugend des Maßes (B XIV) regiert allerdings auch dort, wo der Vorsitzende angegriffen wird. Meint ein Beklagter gegenüber einem Vergleichsvorschlag des Vorsitzenden, er lasse sich nicht erpressen, so darf dieser lächelnd sagen: "Nun, ein Richter erpreßt doch nicht." Ähnlich kann es sich mit einem Zeugen verhalten, der meint, "das Gericht wolle ihn mit seinen Fragen fangen". Auch ein Disziplinarverfahren wird man einem Vorsitzenden in der Sitzung androhen dürfen, wenn die Drohung in sachliche Worte gekleidet ist. Anders wird es sich bei der Bezeichnung des Richters als schikanös, betrügerisch, kriminell verhalten. Die Tugend des Maßes kann dabei so weit gehen, daß sie einen Ordnungsverstoß ganz übersieht oder überhört: die verächtliche Geste des verurteilten Angeklagten "sieht" der Vorsitzende nicht, die zugeschlagene Tür, mit der er den Saal verläßt, "hört" er nicht. Das rechte Maß kann nicht nur ein Höchstmaß sein, sondern auch ein "Nullmaß" . i) Die Tugend der Ordnung diszipliniert auch die Publizität der Justiz mit ihren Attraktionen, die ungewöhnliche Ausmaße angenommen hat. Im Jahr 1959 hat Dahs435 aus reicher Erfahrung einen der Aspekte in einer Weise beschrieben, die der wörtlichen Wiedergabe würdig ist: "Schon vor dem Eintritt des Gerichts in den Saal sind Angeklagte, Zeugen und Verteidiger einem knallenden Beschuß von Fotoreportern ausgeliefert. 433 434

435

Siehe oben: wer bequem sitzt, lügt bequem. Spiegel vom 11. 10. 1976, S. 105. Dahs, AnwBl1959, 181.

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Diese wilde Schießerei steigert sich bis zur Unerträglichkeit, wenn das Gericht erscheint und die Verhandlung beginnen will. Minutenlang umlagern die Pressefotografen und die Bildreporter Richter und Angeklagte, die das Kreuzfeuer der Blitze über sich ergehen lassen müssen. Ist der Saal durch Zuschauer und Presse zudem noch stark gefüllt, so entsteht vor, neben und sogar hinter dem Richtertisch eine drangvoll fürchterliche Enge, so daß die Richter kaum den Weg zu ihrem Sessel finden können. Die Kameras richten sich auf alle Gesichter, besonders der Angeklagten, bei denen jede Regung festgehalten und dann in die ganze Welt hineinverbreitet wird. Mit besonderer Lust wird die Reaktion in den Mienen der Betroffenen registriert, wenn das Urteil verkündet wird, so wie bei Hunden, ehe oder während ihnen ihre Prügel verabreicht werden. Die Angeklagten stehen an einem technischen Pranger, der schlimmer ist als der Pranger auf dem Markt im Mittelalter." Aus journalistischer Feder4.16, sechs Jahre später, wird die Lage so dargestellt: "Kameraleute und Photo graphen besteigen sogar den Richtertisch, um von ihm herab zu filmen und zu schießen, nachdem die bei den Angeklagten vor Eröffnung der Hauptverhandlung Platz genommen haben. Es geht zu, als würden einer Hundertschaft von seit Monaten hungernden Katzen zwei Mäuse vorgeführt. Das Publikum drängt derart in den Saal, daß mancher den Einlaß mit Schäden an seiner Kleidung bezahlt und einige darum bitten müssen, im Handgemenge verlorengegangene Handschuhe, Schals und Taschen nachzureichen ... " Hier ist die Wahrheits-Ordnung zerstört: Angeklagte, auf die beschriebene Art vorbehandelt, sind in der Wahrnehmung ihrer (Wahrheits-) Rechte gehemmt. Auch die Zeugen der Tat, hier auch Zeugen des staatlichen Chaos, werden von dem Tribunal nicht viel halten. Ihr Sinn für die Wahrheit ist geschwächt437 . Am stärksten betroffen, aber kaum als Betroffene gewürdigt (B II), sind die Opfer. k) Wenn von Ordnung und Unordnung in den Sitzungen der Gerichte gesprochen wird, muß das Phänomen des Happening erörtert werden, das seit einer Reihe von Jahren zur gesellschaftlichen Wirklichkeit der Krise gehört. Happening, zu deutsch "Ereignis", bedeutet seit etwa 1962 eine Kunstrichtung, die den Menschen in ein Ereignis einbeziehen und ihm ein schockierendes Erlebnis durch eine Überraschungsveranstaltung vermitteln so1l438. In der Folge hat sich das Happening mit fortschreitender Krise vieler Bezirke, auch außerhalb der "Kunst", bemächtigt. Seit 1968 sind Gerichtsverhandlungen als Schauplätze von solchen "Überraschungsveranstaltungen" üblich geworden. Ein Journalist hat gesagt: der Staat als Happening. 436 Mauz, Spiel, S. 103l. 437 Dazu RiStBV Ziffer 121 I Satz 2. 438 Brockhaus-Enzyklopädie, 17. Aufl., 1969 (Happening).

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Klassisch ist der vielfach erörterte und hier in verschiedenen Zusammenhängen genannte Hamburger Strip-Tease-FaIl439 im Verfahren gegen eine Studentin. "Aufreizend saß die Philologiestudentin Ursula vor Gericht. In durchsichtiger schwarzer Rüschenbluse, ohne BH und mit viel Charme lehnte sie ... den Vorsitzenden als befangen ab. Richter Schneider schüttelte den Kopf und gab mit seinem Nein das Strip-tease-Stichwort. ,Was, Sie sind nicht befangen?' rief Ursula enttäuscht, ,das wollen wir doch sehen!' Sprach's und sprang behend über die Barriere in den Zuhörerraum, wo die Apo-Amazonen der Projektgruppe Frauenemanzipation sie bereits erwartet hatten. Ruckzuck und etwas nervös zerrten sie alle ihre Blusen und Pullis vom Leibe und schleuderten, oben-ohne und im kollektiven Sprechgesang, dem Hohen Gericht ihre Ballade von den asexuellen Richtern frei nach Brecht entgegen." Jener Vorsitzende rief mehrere Tugenden (A XIII) zu Hilfe, darunter die der Ordnung. "Trotz Brecht und Brust fühlte sich Richter Schneider nicht verfremdet noch verschoben, sondern hörte sich vier Strophen lang alles genau an." Dann diktierte er den Vorfall ins Protokoll und ließ die Frauen entfernen. Unser Vorsitzender sah sich einer oder mehreren Tugendantinomien (A XIII) gegenüber, die seine Tugendkenntnis und -praxis auf eine Probe stellten. Die Probe hat er im gegebenen Falle, wie vielfältig die Lösungsmöglichkeiten auch waren, bestanden. 1) Ein Happening kann auch der Vorsitzende allein veranstalten. Ein extremer Fall wird aus den USA berichtet440 • Könnte er auch bei uns vorkommen? "Eine Richterin ganz besonderer Art" hat nämlich in ihrem rosafarbenen Gerichtssaal einen mechanischen Kanarienvogel aufgestellt, der während der Verhandlung quietscht; gleichzeitig tätschelt sie ihren Zwerghund, der auf ihrem Schoß sitzt. Die Erforschung der Wahrheit wird hier keine guten Bedingungen vorfinden. Eine Ordnung in der Sitzung (§ 176 GVG) ist zu vermissen, noch weniger wird sie "aufrecht erhalten". m) Ordnung im Sinne unserer Tugend ist verwirklichte Ordnung. Wer befiehlt44 l, aber nicht durchsetzt, macht sich und sein Justizmonopol lächerlich und wird damit selber zu einem Stück Unordnung. Wer nicht sicher ist442 , ob er die Durchführung seines Befehls erzwingen kann, soll lieber nicht befehlen. Die Tugend der Ordnung wird damit zu einer Zeit vom 20. 12. 1968. F AZ vom 13. 7. 1975. 441 Der Gesetzgeber hat im Jahre 1974 das alte Wort "Befehle" des § 177 GVG durch das ängstliche Wort "Anordnungen" ersetzt: kein Tugendvorbild, dazu B VIII. 442 Bevor der Vorsitzende nach § 176 GVG befiehlt, muß er sich nach § 177 Satz 2 der Mitwirkung des Gerichts vergewissern (B VI). 439

440

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Betreuerin der Konsequenz, deren Bedeutung in der Pädagogik eine große Rolle spielt443 . aal Wenn ein Vorsitzender den Angeklagten auffordert, er möge mit dem Zeitungslesen aufhören, muß er bereits entschlossen sein, sie ihm notfalls mit unmittelbarer Gewalt wegnehmen zu lassen444 • Andernfalls ergeht es ihm wie einem (sonst bedeutenden) Rechtsprofessor44s , der angesichts eines zeitungslesenden Studenten sagte, er fange nicht mit seinem Vortrag an, bevor jener die Zeitung nicht weggelegt habe. Da sich der Student nicht stören ließ, drohte der Professor, den Saal zu verlassen. Der Student las weiter, der Professor ging. Der Student konnte von sich sagen: sonst "liest" der Professor, heute lese ich. Er hatte gesiegt. Der Professor hätte tugendhaft (B VI) gehandelt, wenn er seinen "Hörer" (auch) als "Leser" in Frieden gelassen hätte. Wer liest, randaliert nicht. Lesende "Hörer" gehören seit je zur Universität und waren dort nie ein Ordnungsproblem. In der Sitzung des Gerichts kann der Vorsitzende "lesen lassen" oder nicht: persönliche Ordnung (siehe oben). Entscheidet er sich für die zweite Möglichkeit, muß er sie allerdings durchsetzen. bb) Verweigert der Vorsitzende, um ein weiteres Beispiel anzuführen, dem Angeklagten die Abgabe einer (zusätzlichen) Erklärung über die Befangenheit eines Sachverständigen, dann darf er ihn nicht trotzdem über diesen Punkt reden lassen, nicht nur keine "halbe Stunde"446, sondern überhaupt nicht. n) Die Tugend der Ordnung betreut auch die Frage, "in welchem Verhältnis die verschiedenen Dinge des Lebens zueinander stehen"447. Damit ist in einem elementaren Sinne das organisatorische Moment gemeint, das alle Subjekte, Objekte und Relationen dieser Welt in eine Ordnung bringt. Diese "organisatorische Ordnung" steuert auch die Gerichtssitzung, wenn sie eine Wahrheits-Ordnung sein soll. So müssen "Justizwachtmeister ... den Angeklagten, die Zeugen und Sachverständigen bereitstellen und für Ruhe und Ordnung sorgen" 448. Einer solchen organisierenden Arbeitsteilung bedarf es nicht deshalb, weil "es sich nicht mit 443 Die Schulkrise hat dem Lehrer die Zwangsmittel genommen: daher die Krise. 444 Daß die Zwangsmittel in den §§ 177, 178 GVG abschließend geregelt sind, ist nicht anzunehmen. Die Wegnahme von Fotoapparaten, Waffen, Zeitungen usw. folgt aus § 176 GVG. 445 Den Fall berichte ich aus eigener Erfahrung, er mag den Vergleich zwischen Richter und Lehrer illustrieren (A XVII). 446 Jauch in ZDF vorn 9.5. 1975. 447 Guardini, S. 13; dazu oben in diesem Abschnitt. 448 Schorn, S. 207.

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der Würde des Gerichts verträgt, wenn erst der Vorsitzende für die äußere Ordnung sorgen muß"449, sondern weil dieser (nach deutschem Verfahrens recht) so viele Aufgaben hat, daß es "unmenschlich, menschenunmöglich ist ... , was von ihm erwartet wird"45O. Wie der operierende Arzt erwarten darf, daß ihm das Hospital den gebrauchsfertigen Operationssaal mit den nötigen Hilfsmitteln zur Verfügung stellt, also die medizinische Ordnung gewährleistet, so kann der Vorsitzende von seinem Staat den zum Aufruf der Sache gebrauchsfertigen Saal fordern. Sonst kann er sich der Wahrheit nicht mit der nötigen Aufmerksamkeit widmen. 0) Die "organisatorische" Ordnung ist auch eine akustische Ordnung. Der Vorsitzende spricht mit normaler, verständlicher Stimme. Er schreit nicht: Recht wird gesprochen, nicht geschrieen. Damit das Rechtsgespräch nicht leide, bedarf es unserer Tugend mehr als auf den ersten Blick erkennbar. Der Vorsitzende darf, auch in schwierigen Lagen, nicht zu schreien anfangen: die akustische Ordnung, einmal verloren, gewinnt sich schwer zurück, Geschrei wird leicht zur Gewohnheit. "Durchsetzungsvermögen" (B XV) mit Stimmaufwand ist wahrheitsfeindlich. Wer als Vorsitzender heiser wird, wie ein politischer Schreihals im Wahlkampf oder im Parlament, muß an die Tugend der (akustischen) Ordnung erinnert werden. Um sprechen zu können und nicht schreien zu müssen, hält der Vorsitzende die nötige Ruhe aufrecht, notfalls nach § 172 Ziffer 1 GVG: die akustische Ordnung ist öffentliche Ordnung als Wahrheits-Ordnung; ihre Gefährdung ist zu besorgen, wenn die normale Rede der Beteiligten nicht mühelos versteh bar ist.

Der Vorsitzende sorgt auch für die richtige Abstands- und Sitzordnung der Beteiligten451 • Den von der Tugend der Distanz (B XIII), hier

in des Wortes ursprünglicher Bedeutung, geforderten Abstand verkürzt er nicht, doch muß er seine Gesprächspartner nahe genug zu sich heranholen. Die Ordnung der Wahrheit verlangt, daß sie ihm Auge in Auge gegenüberstehen oder gegenübersitzen. Die Tugend der (akustischen) Ordnung ist keine Tugend des Mikrophons. Das gilt nicht darum, weil "unsere Väter" ohne diese Hilfe die

Wahrheit erforschten. Entscheidend ist, daß es das Gespräch zerstört: man sieht (und hört) es am Geschrei politischer Funktionäre, die keine Wahrheit erforschen (§ 244 I StPO), sondern (bereits) in ihrem (alleinigen) Besitze sind. Das Mikrophon kann zudem die Menschenwürde des Angeklagten oder seines Opfers zerstören. Ein Geständnis der Schuld 449 RiStBV Ziffer 121 I 2. 450 Mauz, Die Gerechten, S. 256. 451 Dazu den kargen Hinweis auf die Belange allein des Angeklagten in RiStBV Ziffer 121 II 1.

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oder eine Beteuerung der Unschuld wird nicht mit technischen Verstärkern in die Welt geplärrt, sondern mit Menschenstimme gesprochen, vielleicht sogar mit leiser und gebrochener Stimme. Ein Opfer, geschlagen genug, soll seine Aussagen nicht aus Maschinen widerhallen hören. Es gilt der Grundsatz: wo das menschliche Sprechen aufhört, endet auch die Sprache der (Ordnung der) Sitzung, die "Rechtssprache" . Abwegig wäre die Meinung, die Zuhörer müßten nach Maßgabe der technischen Möglichkeiten bedient werden. Das ist nicht der Sinn der Öffentlichkeit der Sitzung. Sie ist kein Kriminalstück, dessen Publikum Anspruch auf alle Einzelheiten des "Ganges der Handlung" hat. Die Belange des Täters und seines Opfers, ihre Bereitschaft, in Menschenwürde zur Erforschung der Wahrheit beizutragen, haben Vorrang. Eine akustische Nicht-Ordnung, die einige der hier gemeinten negativen Elemente enthält, beschreibt ein Pressebericht452 • "Der Vorsitzende ... und der Verteidiger ... führen ein Rechtsgespräch miteinander. Das bedeutet, ... daß sie auf offener Szene gegeneinander anschreien". Der Vorsitzende ist dabei "technisch im Vorteil". Denn er kann dem Verteidiger "das Mikrophon abstellen lassen". Der Verteidiger "gleicht den Nachteil durch baritonale Stimmkraft aus". Szenen dieser Art widerstreiten dem Gedanken der ordnungsgemäßen Erledigung der Amtsgeschäfte nach § 26 11 DRiG. Die Dienstaufsicht hat sich ihrer anzunehmen. p) Die Tugend der Ordnung mag eine Feindin der Mikrophone sein, eine Feindin der Technik (überhaupt) ist sie nicht. Viele Ordnungsprobleme der Sitzung ließen sich zum Beispiel durch das Kabelfernsehen lösen. Angeklagte, die in der Sitzung nicht anwesend sein wollen (B XVII), können in ihrer Zelle bleiben und von dort, wenn sie wollen, der Verhandlung folgen und Fragen stellen. In gleicher Weise kann mit Angeklagten verfahren werden, die die Sitzung laufend stören. In beiden Fällen sind sie, obwohl körperlich abwesend, in der Sitzung anwesend (im Sinne der StPO), ohne sie zu stören. Der Vorsitzende und die anderen Beteiligten sprechen mit ihnen, soweit sie die Ordnung nicht stören, wie wenn sie zugegen wären. q) Unsere Tugend fängt schon vor Beginn der Sitzung zu wirken an, wie man an folgendem Beispiel453 erkennen kann. "An der Spitze des Gerichts stürmte er mit dem Schlachtruf ,Aufhören, sofort aufhören!' in den Saal und ,raus, raus' schrie er auch ..." Der Vorsitzende, von dem die Rede ist, "meinte die Photographen und Kameraleute, 452 453

Spiegel vom 19. 1. 1976, S. 42. Mauz, Die Gerechten, S. 286.

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von denen gut ein Dutzend tätig waren, als das Gericht einzog. Niemand hatte sie rechtzeitig aufgefordert abzutreten." Der Vorsitzende hat hier die Ordnung der Wahrheit verkannt: in dieser Szenerie gedeiht sie schlecht. Ihr Eindruck setzt sich in die Verhandlung hinein fort. r) Auch die Pausen sind dem Regime unserer Tugend unterworfen. Vom Verfahren gegen die Hare-Krischna-Mönche wird berichtet: "In einer der vielen Gerichtspausen ergriff einer der Mönche das Wort und begann mit den zahlreichen Zuhörern zu diskutieren, während ein anderer vor dem Richtertisch in rhythmische Bewegungen verfiel und halblaut betete"454. Sie waren bereits "tanzend" in den großen Schwurgerichtssaal gezogen und zeigten, was Angeklagte sonst vermissen lassen: "Die kleinen Zöpfe auf den sonst glattrasierten Schädeln hüpften heiter mit."455 Die Tugend der Ordnung als Wahrheits-Ordnung ist von dem Auftritt nicht erbaut. Gegen Angeklagte, die in den Pausen mit den Zuhörern diskutieren, ist nichts einzuwenden, auch nicht gegen betende Angeklagte: es könnte sein, daß viele zu wenig beten. Die rhythmischen Bewegungen hingegen vor dem Richtertisch, mit halblautem Beten ebendort verbunden, haben den Charakter von Demonstrationen, die in neuartig schöpferischer Weise gegen die Erforschung der Wahrheit gerichtet sind. Der Vorsitzende ist es den Opfern (B 11) schuldig, die rationale Wahrheitsforschung zu erhalten: er hat aufzuklären, ob, wie die Anklage meint, die Angeklagten ihre Spender betrogen, Jugendliche vor ihren Eltern versteckt und Mitglieder dar an gehindert haben, aus der Sekte auszutreten. Solche Vorwürfe mögen die Angeklagten im Tempel des Ordens durch rhythmische Bewegungen und halblaute Gebete behandeln, im Tempel des Rechts jedoch nicht. Für den hier herrschenden Rhythmus sorgt der Vorsitzende. Sinnliches und übersinnliches, Logisches und Paralogisches muß er auseinanderhalten. Das muß er auch tun, wenn die Sitzung unterbrochen ist. Die "vielen Gerichtspausen" gehören zur Sitzung und ihrer Ordnung; sie wirken mit ihren rhythmischen Bewegungen in die Verhandlung hinein, deren Atmosphäre sie mitprägen. Er muß daher den Saal und notfalls das Gebäude (B VI), auch für die Zeit der "vielen Gerichtspausen" , räumen lassen456. Seine tugendgerechte Entscheidung wird eine nicht alltägliche sein, aber auch der Anlaß dazu ist nicht alltäglich. Kritik wird laut werden und, ihr gegenüber, Tapferkeit (B VIII) gefragt sein. 454 FAZ vom 10. 12. 1977. 455 FAZ vom 29. 4. 1978. 456 § 177 Satz 2 GVG kann die Lage komplizieren; dazu B VI und XVII.

IV. Ordnung

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4. Zur Ordnung der Sitzung gehört natürlich auch das weite Feld der Umgangsformen. Ihnen ist eine besondere Tugend vorbehalten (B IX). Tugendkonkurrenzen (A XIII), auch mit anderen Tugenden, sind häufig: die weitgespannte Herrschaft der Tugend der Ordnung begünstigt Rivalitäten. 5. Unter den vielfältigen Aspekten, die die Tugend der Ordnung gezeigt hat, ist einer, der angesichts neuerer Erfahrung besonderer Betrachtung bedarf: nach § 176 GVG obliegt die Aufrechterhaltung der Ordnung dem Vorsitzenden und niemand anderem. Ein Prozeßbericht sagt'57: "Der Strafverteidiger ... zeigte sich konziliant und vermittelnd, auch was anfängliche Auseinandersetzungen zwischen dem Gericht und den meist jugendlichen Zuhörern angeht." Der Verteidiger blieb aber nicht nur die vermittelnde Ordnungsrnacht. Seine "Bitte um Ruhe im Interesse des Angeklagten hatte schließlich Erfolg" . Hier ist der eigenartige Fall gegeben, daß ein Unzuständiger, der Verteidiger, sich um die Ordnung kümmerte. Er tat es "im Interesse des Angeklagten" und meinte, vielleicht bona fide, die Wahrheits-Ordnung. Als Verteidiger durfte er vergessen, was im Interesse der Opfer nötig gewesen wäre. Der Vorsitzende aber mußte alle Interessen wahren, daher seine Ordnung aufrechterhalten. Wenn er es unterließ, demonstrierte er einen Staat, dessen Bürger sich der Ordnung annehmen: eine Art Bürgerwehr zur Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung. Das Problem ist nicht nur ein sitzungspolizeiliches, sondern, in der Krise, ein staatliches überhaupt. Der Bundesinnenminister hat sich gegen den Ausbau der sog. Privatpolizei gewandt, deren sich private Unternehmen und Bürger zum Selbstschutz bedienen458 • Er will darüber wachen, daß nicht private Firmen Privatarmeen halten, die staatliche Ordnungsaufgaben übernehmen. Der Minister sollte sich statt dessen lieber um die staatliche Ordnung kümmern. Das Phänomen ist alt; eine sizilianische Mafia459 , eine neapolitanische Camorra459 und andere Privatarmeen gedeihen nur in "ordnungsfreien" Räumen. 6. Wo nun aber die Ordnungsgewalt des § 176 GVG funktioniert, ergibt sich, daß eine Ordnung durch eine andere Ordnung aufrechterhalten wird: die "rechtliche" des Gesetzes durch die moralische der Tugend.

FAZ vom 19. 1. 1978. AP vom 23. 9. 1979 in FAZ vom 24. 9. 1979. 459 Daß sie vor und nach dem Faschismus blühten, darf man zur Zeit nicht laut sagen. Das kommt daher, daß der wirkliche Staat (ohne Faschismus) in der Krise abhanden gekommen ist. 457

458

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B. Einzelne Tugenden

V. Weisheit Theologen schließen aus Genesis 3, 5, 22 und anderen Bibelstellen, daß Gott allein weise ist. Irdischer ist die Philosophie, meint aber doch, der Weise sei ein seltenes Gewächs, wie der Phoenix, der nur alle fünfhundert Jahre einmal zur Welt kommt460 • Daher die Frage: Kann eine Richterschaft von fünfzehntausend Mitgliedern im Besitz des seltenen Gewächses der Weisheit sein, gar in unserer unweisen Zeit? Immerhin, gefordert wird sie, auch von Richtern für Richter. So hat der Präsident eines Bundesgerichts einem Manne, der Bundesrichter werden wollte, empfohlen, "noch eine Zeitlang ... auf breiterer Basis Erfahrungen zu sammeln ... , seine Rechtskenntnisse weiter zu vertiefen und an Lebensweisheit461 , Reife und Abrundung seiner Gesamtpersönlichkeit zu gewinnen" 462. Auch gilt die Weisheit nach unausrottbarer Meinung nicht nur als richterliche Berufstugend, sondern als mit dem Recht und seiner Kenntnis geradezu verbunden. Wer anderer Auffassung ist, spricht von dem "alten Aberglauben, daß ein juristisches Studium die Weisheit aller Weisheiten verleihe"463. Dem Aberglauben liegt freilich ein Wunsch der Menschen zugrunde, ein weiser Richter möge über sie und ihre Fehler urteilen. Von ihm erwarten sie noch heute: "Seine Weisheit und sein Wissen sollen von göttlicher Fülle und Vollendung sein"464. Was ist also diese Weisheit? Man kann ihr näherkommen, wenn man sie der Klugheit (B VI) gegenüberstellt465 , mit der sie oft verwechselt wird. Beide, Weisheit und Klugheit, sind im eigentlichen Sinne die Tugenden der Vernunft; wo sie verfehlt werden, haben Torheit und Dummheit freie Bahn466 • Die Klugheit, die phronesis467 der Griechen, gewährt Verständnis, Einsicht, Umsicht und Vorsicht; nach Thomas beurteilt sie das Künftige im Blick auf Vergangenes und Gegenwärtiges. Damit tritt ihr lebensprakHirschberger, S. 270. Zwischen Weisheit und Lebensweisheit wird in den gegenwärtigen überlegungen nicht unterschieden; dazu Bollnow, Wesen und Wandel, 460 461

S. 105 ff.

F AZ vom 29. 3. 1975. H. Geyer, S. 245. 464 Mauz, Die Gerechten, S. 256. 465 Bollnow, Wesen und Wandel, S. 99 ff.; Biser, passim. 466 Ob sie damit bereits herrschen, müßte man untersuchen. 467 Sie hat der Göttin Athene, der großen Besonnenen, den Beinamen gegeben. 462

463

V. Weisheit

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tischer Charakter hervor, sie sammelt Erfahrungen, um sie vorausschauend zu verwerten. Ihr egoistischer Zug im Sinne einer (bloßen) Lebensklugheit ließ Zweifel aufkommen, ob sie überhaupt ethisches Profil oder "durchaus keinen Gesinnungswert"468 habe. Die Zweifel sind unberechtigt. Wer die Fülle dieser Welt "klug" ergreift, handelt tugendhaft. Der (wahrhaft) Kluge muß nämlich das Gesollte kennen und als solches verwirklichen; ein (lediglich) verschlagener Schlauberger ist er nicht, auch kein tüchtiger Gauner. Daher ist sie die ihrer Norm ansichtige und als solche dem informativen Gewissensakt entspringende Tugend (Biser). Anders geartet ist die Weisheit. 1. Bei Plato ist die Weisheit (sophia) die Tugend des obersten Seelenteiles (logistikon), die Stoa versteht unter dem Ideal des Weisen den ganzen Inhalt der Ethik und macht die Weisheit damit zum Inbegriff aller Tugend. Was die Ethik unserer Zeit, zum Beispiel Nicolai Hartmann469, von ihr hält, ist auch nicht wenig. Noch heute kann man nämlich vom Terminus ausgehen, mit dem die Lateiner die griechische sophia wiedergeben: sapientia. Darin klingt das indoeuropäische sapere durch: (richtig) schmekken470 • Sapiens est, cui sapiunt omnia, prout sunt471 • Die sapientia ist danach das ethische Schmecken, das nach Hartmann eine Fühlung mit allem bedeutet, was wertvoll ist. Sie ist eine ethische Geistigkeit, die das ganze Leben, das eigene wie das fremde, beherrschende Stellung des Ethos als des geistigen Grundfaktors des Menschentums. Diese umfassende totale Sicht der Dinge geht über bloße Hinsicht, Einsicht und über bloßes Wissen hinaus, die sie als dienende Werte hinter sich zurückläßt. Insofern unterscheidet sie sich von der bloßen Providenz, der prudentia (B VI) des praktischen Bewußtseins, die, verglichen mit der (Lebens-) Weisheit, eine (Lebens-) Klugheit472 ist. Wegen der hohen Ansprüche, die sie stellt, ist die Weisheit als Verneinerin bekannt, ihr Rat ist oft der des NichthandeIns. Von einem Kaiser kann die (chinesische) Weisheit sagen: groß und weise ist unser Herrscher, denn er handelt durch Nichthandeln und herrscht durch Nichtherrschen. Dieser negatorische Zug mit seiner kassatorischen Wirkung bringt es mit sich, daß die Weisheit, wenn sie verneint, keine so468

Hartmann, S. 428.

469 Hartmann, S. 427 ff.

470 Das gilt natürlich auch vom griechischen Wort sophia, das vom gleichen indoeuropäischen Wortstamm herkommt. 471 Bernhard von Clairvaux, Sermones de diversis, 18, 1 (bei Migne, Patrologia Latina, S. 587). 472 Hartmann (S.428) spricht ihr den Gesinnungswert und damit den Charakter der Tugend ab (dazu B VI).

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B. Einzelne Tugenden

genannte Alternative anbieten muß und doch weise bleibt. Gegen ihre Werthöhe besagt das nichts: ein unweiser Krieg wird nicht weise, wenn auch ohne ihn der Staat Schaden leidet. Auf den vorsitzenden Richter angewendet: ein unweiser Monsterprozeß473 wird nicht weise, wenn nichts anderes übrig bleibt (A IX) als seine Durchführung. 2. Ist also die Weisheit eine hohe und schwierige Tugend, so muß man zurückkehren zur Frage: Kommt sie für unseren vorsitzenden Richter als Tugend in Frage? Für jenen Vorsitzenden, der nach § 21e GVG für den schwierigen, Weisheit erfordernden Prozeß schon bestellt wird, bevor dieser auch nur in Sicht ist? Man wird bescheiden sein und sagen müssen: es ist schon viel, wenn man den Richtern und ihrer Aporie (A I), zusammen mit anderen Tugenden, auch die der Weisheit ins Gedächtnis ruft. Schon das Wort Weisheit kann, wenn es der Vergessenheit entrissen wird, ein Gewinn sein. Denn es ist wie das Wort Tugend (A IV), "fast im Aussterben begriffen", so daß "kaum einer mehr weise zu sein wagt"474. Könnte es auf irgendeine Art, vielleicht anhand des Nachdenkens über "Beispiele", wieder in das Bewußtsein gehoben werden? Gemeint ist freilich die wirkliche Weisheit, deren Bezeichnung im Aussterben begriffen ist. Eine Inflation an Weisheitsbenennungen, der übliche Etikettenmißbrauch der Krise gehört in unsere Zeit. Ein Rat der Weisen, der seine Regierung über Zinsfüße und Konjunkturspritzen berät, wäre als Rat der Klugen hoch genug eingestuft475. Wenn gar eine Kommission von drei Weisen prüfen soll, ob der Prinz von Holland vor 15 Jahren Schmiergelder angenommen hat476 , verdient jeder Polizist sein Gehalt mit Weisheit. a) Jener Präsident eines Bundesgerichtsm hat verständlich zu machen versucht, was zur richterlichen Weisheit in unserer Zeit gehören könnte: Erfahrungen, in der Zeit gesammelt, könnten auf dem Weg über die Rechtskenntnis zur (sozusagen) krönenden Lebensweisheit und damit zu einer "Gesamtpersönlichkeit" (B XV) führen. Erfahrungen sind also zu sammeln, sogar "auf breiterer Basis". Das ist verständlich, weil anders die Fühlung "mit allem, was wertvoll ist" (Hartmann), ausbleibt. 473 Siehe unten in diesem Abschnitt. 474 Bollnow, Wesen und Wandel, S. 105. 475 Mainzer Allgemeine Zeitung vom 8. 1. 1976 wünscht dem Vorsitzenden jenes Rates "schöpferische Weisheit". Vielleicht ist damit die wirkliche Weisheit gemeint, allerdings nur eine gewünschte. 476 FAZ vom 25. 2. 1976. Nicht nur die letztere, sondern wirkliche "wirkliche Weisheit" hatte wohl der Bundespräsident im Sinn, als er (am 12. 12. 1979) sagte, die Bundesrepublik habe aus der Weisheit und dem geistigen Reichtum von Carlo Schmid geschöpft. 4n Siehe oben in diesem Abschnitt.

V. Weisheit

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Das Wertvolle aber bedarf der Witterung, des "Schmeckens". Für alles das, auf breiterer Basis zu Leistende, braucht es Zeit, Lebenszeit. Eine alte Menschheitserfahrung, in der Krise zum Problem geworden, bringt darum die Weisheit mit einem höheren Lebensalter in Verbindung. Die richterliche Weisheit verlangt auch Rechtskenntnisse, sogar "vertiefte", denn die Rechtsklugheit (B VI) ist ihre Dienerin. Es ist gut, wenn dieses Wort in der Krise ausgesprochen wird. Der weise Richter kennt daher seine Fachgebiete, deren Stoffe er sich ehrlich, vielleicht mühevoll angeeignet hat. Den sog. unmittelbaren Zugang zur richterlichen Weisheit, den sich der Ignorant zutraut, gibt es nicht; der Weg zu ihr hinauf ist steil und steinig. Wenn nun Lebenserfahrung (in zeitlicher Erstreckung) und Rechtskenntnisse gegeben sind, so meint es wohl jener Präsident, dann kann sich eine Reife und Abrundung der Gesamtpersönlichkeit einstellen, die (auch) Lebensweisheit sein kann. Dann wächst vielleicht totale Sicht ein, und eben sie ist das "seltene Gewächs". b) Ist also schon der Weg zur Weisheit steil, will er über reiches Lernen mühsam erklommen sein, gibt sie sich keinem direkten Zugriff des Untüchtigen, dann versteht man, warum sie selten geworden ist. Die Zeit fehlt, die Hast regiert, breite Erfahrung ist lästig, der Eilige spricht sich selber verfrüht mündig und bevorzugt Rezepte, Dogmen, Ideologien, Intensivkurse und Schnellseminare. Es entsteht der "moderne Mensch"478, der Blasierte, der hinter der (dogmatisierten) Pose des Darüberstehens sein inneres Leerausgehen verbirgt. Den Tugenden und ihren Werten ist er verschlossen, der Weisheit, schon dem Gedanken an sie oder ihre Namensnennung, ist er nicht gewogen, die ruhige Schau der totalen Sicht ist ihm fremd. Wie schwer es gerade der vorsitzende Richter mit der ruhigen Schau hat, die ihm eine umfassende Sicht der Dinge schenken könnte, zeigt eine kritische Betrachtung seiner Rechtsstellung479 • Er hat nämlich, so will es das geltende Recht, wenig Gelegenheit zu hören und zu beobachten; er ist pausenlos aufgefordert, die Themen, die Reihenfolge der Fragen, das Tempo des Verfahrens zu bestimmen, kurz: er führt nicht nur die (äußere) Regie, sondern ist auch für das (innere) Richten verantwortlich. Von ihm wird Unmenschliches, Menschenunmögliches gefordert. Den großen überblick, den die Weisheit voraussetzt, muß er sich, wenn er ihn je erstrebt, mühevoll erkämpfen. 3. Wenn man bei dieser Lage von richterlicher Weisheit unseres Vorsitzenden redet, gewissermaßen (in aller Bescheidenheit) nur redet, dann kann es wiederum nicht in abstracto geschehen. Man könnte vielmehr, in aller Zurückhaltung, die das schwierige Thema auferlegt, der 478 Dazu die berühmte Beschreibung bei Hartmann, S. 16 f. (B XVIII). 479 Mauz, Die Gerechten, S. 255 f.

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B. Einzelne Tugenden

richterlichen Gruppenautonomie einige Beispiele möglicher Weisheit zeigen. Lagen also, in denen sich unsere Tugend in der Krise bewähren könnte. a) Ein aktuelles Anliegen der Weisheit könnte das Quantitätsproblem der Monsterprozesse sein, das auch die Gerechtigkeit beschäftigt (B 11). aal Ein Prozeß mag tüchtig vorbereitet und sogar klug geführt sein, wenn er aber 170 Bände Akten mit 50000 Blättern, eine Anklageschrift von 374 Seiten, 1000 Zeugen, 80 Sachverständige, 30 bis 60 Millionen DM an Kosten und 4 Jahre Dauer erfordert480 , verwirft die Tugend der Weisheit seine Quanten. Sie betrachtet weniger, wie es die Klugheit (B VI) tut, das Verfahren als solches, sondern versucht, die Dinge in umfassender Sicht zu beurteilen. Sie stellt auch nicht, wie die Gerechtigkeit (B 11), auf den Angeklagten und sein Opfer ab, sondern auf die Person des Vorsitzenden selber und den von ihm vertretenen Staat in seiner Totalität. Das ist eine umfassendere Sicht, eine Sicht auf die causa altissima des Ganzen. Unsere Tugend verurteilt das Monströse, weil es unmenschlich ist. Ein Verfahren, das die Quanten eines humanen Maßes überschreitet, ist als unmenschlich auch unlogisch, es entbehrt der Widerspruchslosigkeit. Was in den ersten Wochen und Monaten und Jahren verhandelt wird, bildet mit dem Prozeßstoff der folgenden Wochen, Monate und Jahre keine gedankliche Einheit mehr: gibt es einen mehrjährigen "Inbegriff der Verhandlung" (§ 261 StPO), aus dem eine "freie überzeugung" von jahrelanger Dauer "geschöpft" wird? Das monströse Verfahren ist auch darum unmenschlich, weil es physisch nicht zu meistern ist. Der gesetzliche Richter ist ein Durchschnittsmensch; selten ist er eine athletische Natur von ungewöhnlicher Gesundheit, denn er wird nach § 21e GVG im voraus bestimmt. Angeklagte und Opfer haben auch keinen Anspruch auf einen übermenschen: ein Durchschnittsbürger, wie sie (vermutlich) selber es sind, soll über sie richten. Der nicht ad hoc, sondern allgemein und im voraus bestimmte Vorsitzende ist auch psychisch nicht für den Monsterprozeß geeignet. Ein Koloß mit solchen Quanten mag als Krieg oder als Olympiade seine ebendafür ernannten Meister finden, in der Rechtsprechung ist er ein Fremdkörper, er ist nicht "justizförmig". Ohne Schaden an seiner Gesundheit kann ihn der legale (durchschnittliche) Richter nicht bewältigen. Ein Schauspiel, das die Öffentlichkeit wegen seiner Monströsität mit Verwunderung und Ablehnung begleitet, ist kein richterliches Handeln. Es diskreditiert Justiz und Staat. Die Richter selber erkennen diese Zusammenhänge. Ein Vorsitzender schreibt unter Bezug auf einen Monsterprozeß an einen Generalbundes480

Schwinge in FAZ vom 28. 5. 1975 über einen bekannten Prozeß.

V. Weisheit

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anwalt481 : "Das hier anhängige Verfahren reicht ... schon an die Grenze dessen, was gerade noch sachgerecht zu bewältigen ist." Ein Richter spricht482 , unter ähnlichem Bezug, von dem "Einmaligen und Ungeheuerlichen, das diesem Vorsitzenden psychisch und physisch zugemutet wird". Von einem anderen Verfahren wird gesagt, schon nach 49 Verhandlungstagen seien "alle Beteiligten so ziemlich am Ende ihrer Kräfte"483. In solchen Fällen stellt sich, vom Standpunkt der Täter und Opfer, auch die Frage der Rechtsstaatlichkeit. Darf ein Chirurg, von Katastrophenhilfen abgesehen, bis an die Grenze dessen operieren, was er gerade noch sachgerecht bewältigen kann? Darf er Einmaliges und Ungeheuerliches an Operationen übernehmen? Darf er schneiden, bis er und seine Helfer so ziemlich am Ende ihrer Kräfte sind? Solche überlegungen betreffen zunächst die Interessen der Patienten oder, was dasselbe ist, der Angeklagten und ihrer Opfer. Dem Vorsitzenden hingegen bringt, was ihn selber betrifft, die Tugend der Weisheit die totale Sicht des Humanen in Erinnerung, die causa altissima. Wer als Vorsitzender den Verlust der Mitte, des Menschen, zu beklagen hat, sieht sich ihrer negatorischen Funktion484 gegenüber. bb) Die überlegungen zur unweisen Quantität betreffen keinen Einzelfall und sind daher nicht "rein akademischer Natur". Man hat Gerichtsverhandlungen nicht nur in besonders dafür gebaute Festungen gelegt, sondern auch in Kongreßhallen485 • Weitere Monsterverfahren sind zu erwarten. ce) Wie verhält sich der weise Richter angesichts solcher Aussichten? Die Weisheit (selber) bietet ihm keine "Alternativen"; sie verweist auf ihre negatorische Funktion. Ob er dabei die nötige Mitwirkung anderer Organe des Staates erreichen kann, ist eine Frage seines Tugendgewissens und seiner Tugendenergie (A IX). Der Tugendzweck ist nicht verfehlt, wenn es bei der bloßen Tugendgesinnung bleibt: nicht selten hat sie in dieser Welt letztlich doch Verwirklichungen zustande gebracht. b) Nicht nur das Verfahren als Ganzes, auch seine Elemente werden von der Tugend der Weisheit betreut, wenn sie die "Verfremdung des Humanen" bekämpft. Lehrreiche Fälle werden aus den USA berichtet. Sie können, wenn die Krise fortschreitet, auch bei uns vorkommen. aal Im Prozeß gegen die sog. Sieben von Chicago war der Verteidiger des sog. Black-Panther-Führers Seale erkrankt. Der Richter lehnte ab, 481 482 483 484

485

Spiegel vom 1. 9. 1975, S. 36. ScheId in FAZ vom 26. 7. 1976. FAZ vom 2. 4. 1976. Dazu oben in diesem Abschnitt. Dazu Mauz, Spiel, S. 56; FAZ vom 1. 4. 1976.

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B. Einzelne Tugenden

bis zu seiner Gesundung zu vertagen, desgleichen, dem Angeklagten selber die Verteidigung zu gestatten. Hierauf erzwang sich dieser das Wort. Der Richter ließ nun "den wütenden Seale an einen Stuhl fesseln und ihm den Mund verkleben"486. Wegen Mißachtung des Gerichts verurteilte er ihn zu vier Jahren Gefängnis, die er sofort antreten mußte. Hier haben ein unverständliches Anwesenheitsdogma487 (B XVII) und die Verletzung der Tugenden der Fairness (B 111) und des Maßes (B XIV) bei der Ablehnung der Vertagung eine außergewöhnliche Lage geschaffen. Die Fesselung des Angeklagten an einen Stuhl und das Verkleben488 seines Mundes aber beseitigen das Element des Menschlichen, ohne das kein Verfahren ein rechtliches Verfahren ist. Das Gleiche gilt, wenn ein Vorsitzender den störenden Angeklagten "im Gerichtssaal knebeln und durch eine Binde um den Mund mundtot machen läßt"489. Die negatorische Natur der Weisheit zeigt sich hier in klarem Licht: auch wenn keine "Alternative" blieb, kein Staatsnotstand die Durchbrechung eines absurden Präsenzzwanges gestattete, mußten die Maßnahmen des Richters unterbleiben. Die Kapitulation der Justiz durch Einstellung des Verfahrens und Freilassung des Angeklagten wäre das geringere Übel gewesen490 . Es hätte den Gesetzgeber veranlassen können, törichte Rechtssätze zu beseitigen und damit letztlich einen (Tugend-) Erfolg erringen. bb) Einen "Verlust der Mitte", des Menschen, bedeuten auch die Maßnahmen amerikanischer Vorsitzender gegen ihre Schöffen, um sie gegen Einflüsse der Massenmedien auf das Verfahren zu schützen. So hielt ein Vorsitzender491 während eines monatelangen Verfahrens seine Schöffen in Klausur und ließ sie zu jeder Sitzung in einem Autobus mit geschwärzten Scheiben zum Gericht schaffen. In einem anderen Fa1l492 standen die Geschworenen "im Hotelzimmer ohne Telefon und Fernsehen unter strenger Bewachung. Aus Zeitungen und Magazinen, die sie lesen wollten, mußten alle Hinweise auf den Prozeß entfernt werden". Solche Mitglieder eines Gerichts kommen aus einer anderen Welt, ein surrealistischer Gedanke. Daß Menschen von Menschen gerichtet wer486 F AZ vom 20. 7. 1970. 487 Zur amerikanischen Rechtslage vgl. Adam, JZ 1970, 542. 488

Klebstoff und Klebtechnik erregen Bewunderung.

489 Adam, JZ 1970, 542 unter Bezug auf die einschlägige Entscheidung des

(amerikanischen) Appeal Court. 490 Dazu Schwinge, Die politische Meinung 1968, 39 f. über das endgültige "Platzen" eines Sensationsprozesses in USA nach dem "Zusammenbruch" des Richters. 491 Welt vom 23. 5. 1973. 492 F AZ vom 29. 1. 1976.

V. Weisheit

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den, hat hier kaum mehr Geltung. Die Einflußnahmen dunkler Mächte und Medien auf einen Prozeß mögen groß sein, sie gehören zu unserer Welt; mit ihnen müssen alle leben, Täter und Opfer und Richter. Mag der Staat jene Mächte außer Gefecht setzen oder erklären, er sei dazu nicht imstande und daher kein Staat mehr! Was die Vorsitzenden in ihrer Not getan und gemeint haben mögen, entbehrte der totalen, menschlichen, Sicht der Dinge. Die Weisheit stand ihnen nicht bei. Eine Gerichtssitzung, welchen Falles auch immer, ist keine Papstwahl, deren Teilnehmer gegen die Welt abgeschirmt und in die Sixtinische Kapelle eingesperrt werden. c) Die Weisheit richtet das Okular ihrer humanen und totalen Sicht nicht nur auf ein bestimmtes Verfahren mit seinen Einzelheiten, sondern auch auf eine (ganze) Tagesordnung. Die Presse493 berichtet von einem "Amtsrichter, der für einen einzigen Vormittag 17 Verhandlungen mit 80 Zeugen ansetzte und dann, streßgeplagt, Angeklagte und Verteidiger anschrie: "Halten Sie den Mund, dafür haben wir keine Zeit!" Diese Tagesordnung läßt sich mehr mit einem Hauptverbandsplatz vergleichen, wo die Opfer der tobenden Schlacht fürs erste versorgt werden, als mit einer Klinik, die (endgültige) ärztliche Hilfe bietet. Nur die letztere aber kann man, mit ihrer "Ordnung", der Gerichtsverhandlung mit Fug an die Seite stellen. Die Tugend der Weisheit, um ihre Meinung befragt, hätte die "Tagesordnung" abgelehnt. Denn sie ließ die totale und menschliche Sicht der Dinge vermissen, sie war unmenschlich, wahrheits feindlich und daher unrichterlich, auch wenn jener Richter ein Vorbild an Pflichterfüllung zu sein glaubte. Die Frage der Tugendenergie (A IX) erhebt sich, wie stets in solchen Lagen: auch wenn der "streßgeplagte" Richter, seinem unweisen Staate bis zum Zusammenbruch ausgeliefert, keine "Alternative" weiß, wird seine Tagesordnung nicht weise. Ob man ihm in seiner Tretmühle die Verletzung der Tugend der Höflichkeit (B IX) vorwerfen kann, wenn er die Beteiligten anschreit, mag die autonome Gruppenmoral seiner Kollegen entscheiden. Wenn nicht, wird die Weisheit um so nachhaltiger verletzt: ein Milieu, das eine Diskreditierung der Umgangsformen "verständlich" erscheinen läßt, mag viele menschliche Entschuldigungen, Mitleid und Erbarmen, für sich haben, richterlich ist es nicht und daher, ex cognitione altissimarum causarum, unweise. Jener Richter hat, trotz allen Stresses, keine Ordnung des § 176 GVG aufrechterhalten. d) Den Fällen der unweisen Tagesordnung ähnlich sind die der sog. Terminitis, deren sich die Tugend der Weisheit annimmt. Sie betreffen 493

Stern vom 23. 5. 1973.

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B. Einzelne Tugenden

eine so intensive Bindung an den "Terminkalender", daß darunter das geltende Recht und die Tugenden des Vorsitzenden leiden. Die causa proxima dieses Termins verstellt die Sicht auf die causa altissima höherer Werte, die damit jenem "Termin" zum Opfer dargebracht werden. Was soll man, um ein Beispiel zu betrachten, mit einem Zeugen anfangen, der in unangemessener Bekleidung erscheint? Soll man ihn heimschicken, damit er sich umzieht? "Das kann natürlich ein zweischneidiges Schwert darstellen. Man weiß nämlich dann nicht, ob dieser Zeuge überhaupt wieder erscheint. Die pünktliche und ordentliche Durchführung der Tagesordnung eines Amtsrichters kann dadurch leicht durcheinander kommen; auch steht nicht fest, ob bei Unterbrechung auf einen anderen Tag ein Sitzungssaal zur Verfügung steht"494. Hier ist die Tugendlage einfach, übrigens auch die Rechtslage. Die Tugend der Ordnung (B IV) berät den Amtsrichter, ob die Kleidung jenes Zeugen angemessen ist oder nicht. Ist sie nicht angemessen, dann sagt ihm die Staatstugend (B I), daß er den Zeugen so nicht auftreten lassen kann. Die Weisheit belehrt ihn, daß die "ordentliche" Ordnung der Sitzung (§ 176 GVG) in totaler Sicht hoch über der "ordentlichen" Durchführung dieser Tagesordnung steht. Neuer Termin wird an nächstoffener Stelle bestimmt, der Zeuge, der "überhaupt" nicht wieder erscheint, vorgeführt. Die verbrauchte Tugendenergie (A IX) ist gering und nicht der Rede wert. e) Zur Zuständigkeit der Weisheit gehört auch das Laster der Revisionsangst, das unweise Maßnahmen (auch) sitzungspolizeilicher Art hervorbringt. Seine Verbreitung ist groß, man spricht von dem richterlichen Alptraum495 , ein Urteil könnte aufgehoben werden. Dann, das ist die Meinung, seien viele Mühen "umsonst" gewesen, was unter allen Umständen vermieden werden müsse usw. Solche Haltungen entbehren wiederum der totalen Sicht unserer Tugend. Sie vergessen, daß es in dieser Welt keine absolute Revisionssicherheit gibt; daß die Idee der Revision als anerkannter Rechtswert von den Gesetzesverletzungen in ähnlicher Weise "lebt", wie die ärztliche Kunst vom "Krankengut" ; daß gerade das überängstliche Streben nach Revisionssicherheit Revisionsgründe schaffen kann usw. Natürlich will die damit angerufene Weisheit keine Rechtsverletzungen ermuntern; das sagt wiederum die gleiche Tugend. Sie will es so wenig, wie die Todesweisheit der Philosophen die Selbstzerstörung rechtfertigen will. 494 Steinbrenner, Die Justiz 1968, 237. 495 Süddeutsche Zeitung vom 9. 7. 1975.

V. Weisheit

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Wie die Dinge in der Praxis liegen können, zeigt der folgende Fall496 • Der Vorsitzende einer Strafkammer wies "am siebenten Tage" der Hauptverhandlung eine Angestellte des Verteidigers aus dem Saal, die auf dessen Weisung Aufzeichnungen in Kurzschrift über die Vorgänge in der Sitzung machte. Einer Vollstreckung bedurfte es nicht, die Angestellte ging freiwillig. Nach seiner dienstlichen Stellungnahme hatte der Vorsitzende befürchtet, jene Frau mache auch Aufzeichnungen über seine Äußerungen, der Verteidiger werde diese zur Rechtfertigung von Revisionsrügen in einem Zeitpunkt verwenden, in dem die Mitglieder des Gerichts kaum noch würden feststellen können, ob die Aufzeichnungen wahr seien. Der BGH hob das Urteil wegen Verstoßes gegen die Vorschriften über die Öffentlichkeit (§ 338 Ziffer 6 StPO) auf. Hier könnte man fast sagen, ein "Revisionsgrund" der weisheitslosen Revisionsangst habe der Revision zum Erfolg verholfen. Zunächst hat die Angst den Vorsitzenden um die Tugend der Klugheit (als Rechtsklugheit, B VI) gebracht: ein Verteidiger kann sich selber Notizen machen, er kann sie auch machen lassen. Ein Vorsitzender andererseits kann seine "Äußerungen" in der Sitzung so einrichten, daß er davon nichts zu "befürchten" hat: das ist ein Gebot sog. Sitzungsklugheit (B VI). Sodann war die Weisheit aufgerufen. Unser Vorsitzender machte sich über den Bestand des Urteils unweise Zukunftssorgen von erschütternder Tiefe. Sie gingen sozusagen "über den Tod hinaus", für sie war er gar nicht mehr zuständig. Er konnte sie vermeiden, wenn er innerhalb seiner Zuständigkeit in der Sitzung rechtsklug, sitzungsklug und weise handelte. f) Der Weisheitsmangel der Revisionsangst kann einer Aufhebung der Ordnung durch den Vorsitzenden gleichkommen. Ein Vorsitzender497 hat es mit Angeklagten zu tun, die mit allen Mitteln erreichen wollen, aus dem Sitzungszimmer entfernt zu werden. Aus Angst, das törichte Gesetz498 zu verletzen, weist er immer wieder darauf hin, der Ausschluß sei ein schwerwiegender Eingriff, den es zu vermeiden gelte. Die Angeklagten ergehen sich in immer ungewöhnlicheren Herausforderungen, um die Entfernung zu erzwingen. Schließlich bleibt dem Vorsitzenden nichts anderes übrig, als ihre Entfernung in die Wege zu leiten499 • Die Weisheit hingegen empfahl ihm eine umfassende Sicht der Dinge. Er mußte den Blick, anstatt auf die causa proxima eines unweisen Paragraphen (B XVII), auf die causa altissima seines (ganzen) BGH NJW 1963, 159. Spiegel vom 1. 9. 1975, S. 40 f.; dazu auch Mauz, Die Gerechten, S.290, in Abschnitt B VI. 498 Der ängstliche Präsenzgedanke der §§ 231 ff. StPO ist töricht; dazu Abschnitt B XVII. 499 Gemäß § 177 Satz 2 GVG entschied das Gericht. 496

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B. Einzelne Tugenden

Staates richten. Dann verlor er die Revisionsangst. In zwar besonnener (B VII), aber alsbaldiger Erkenntnis der Lage verhandelte er gemäß § 231 b StPO in Abwesenheit der Angeklagten, ließ diese also zu ihrem "Recht" kommen, und blieb davor bewahrt, seine eigene Sitzung zu einer Unordnung zu machensoo . 4. Der negatorische Zug, den die Weisheit an sich hat, ist für Verzichte verantwortlich, die sie ihrem Träger diktieren kann. Er tritt in seiner ganzen Schärfe hervor, wenn er hohe Werte negiert, um höhere zu gewinnen. Dann versteht man, daß, wie die Geschichte zeigt, der Weise und der Asket miteinander verwandt sind.

Humor und Witz und Schlagfertigkeit sind Werte, die allgemeine Verehrung genießen. Auch dem vorsitzenden Richter werden sie nicht selten gewünscht. Namhafte Praktiker fordern sie zur Überwindung der Krise (B XVI). Die Weisheit gebietet Zurückhaltung. Die totale Sicht der Dinge fordert Verzichte zugunsten anderer Tugenden: Distanz (B XIII), Bescheidenheit (B XII), Besonnenheit (B VII), Gerechtigkeit (B 11). Das gilt - man muß es betonen - für unseren Vorsitzenden in der Sitzung. Weise daher jener Richter, der, mit Humor und Witz gesegnet, sie den Gegenständen seiner "Freizeitgestaltung" zugesellt, um sie im trauten Familienkreise oder in froher Kollegenrunde leuchten zu lassen. Gewiß verurteilt die Weisheit überhaupt unweise Präferenzen, zum Beispiel zwischen (wirklichen) Werten und "Kosten", etwa die Hinnahme einer gestörten Sitzung, wenn sie nur schnell abgewickelt wird, da der längere Prozeß "Geld kostet". Hier tritt der zeitgemäße Gedanke in den Vordergrund, ein Ding möge, gleichgültig wie, "über die Bühne gehen". Er entbehrt der totalen Sicht, die die Weisheit fordert. Überhaupt gehört er nicht zum "tugendhaften", sondern zum "fortschrittlichen" Denken im Sinne von Emge (A XV). In einem Interviewsol zu der Frage "Wieviel Hohn verträgt die Justiz?" sagt ein Staatsanwalt: "Die können uns gar nicht beleidigen. Unser Hauptziel ist es, den Prozeß zum Abschluß zu bringen. Von diesem Ziel lassen wir uns auch nicht durch Beleidigungen, die nur das Ziel haben, den Prozeß platzen zu lassen, abbringen. Ich würde es genauso machen, wie die Berliner Richter502 : nur nicht aus der Ruhe bringen lassen. Es besteht ein öffentliches Interesse, daß der Prozeß zu Ende geht, denn er kostet den Steuerzahler viel Geld". Hier ist die Staats500 Die unkluge (B XVII) Komplikation durch die Notwendigkeit der Mitwirkung des Gerichts behandle ich hier nicht; dazu die Abschnitte A XVIII und B VI. SOl Bild (Thema des Tages) vom 6. 2. 1973. 502 Zum Beispiel nichts zu unternehmen, wenn ein Zeuge auf eine Frage des Vorsitzenden antwortet: "Ich habe nicht die Absicht, fetten Ratten zu antworten."

V. Weisheit

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tugend (B I) verfehlt, denn der Vorsitzende muß die Ordnung der Sitzung aufrechterhalten (§ 176 GVG). Das "Platzen" des Prozesses, obwohl von den Medien lüstern genossen, muß er notfalls hinnehmen, es gibt Schlimmeres. Seine "Ruhe" ist angesichts der Störungen die falsche Gelassenheit (B XI) oder die falsche Selbstbeherrschung (B X). Die angesprochene Relation zwischen Chaos und Eile und Geld ist so unweise, wie wenn ein Chirurg auf Ordnung und Hygiene im Operationssaal verzichtet, weil er damit Zeit und Geld spart. 5. Die Weisheit spricht, wie sich ergeben hat, zu manchen Einzelfragen der Sitzung ihr Wort. Sie äußert sich auch, vielleicht erst recht, zu Lagen, in welchen es um das (staatliche) Richten überhaupt geht. In einem Sensationsprozeß503 lassen sich "die Mitglieder des Gerichts ebenso wie die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung vor Betreten des Prozeßgebäudes nach gleichen Grundsätzen durchsuchen . .. , um jeden Anschein einer Diskriminierung zu vermeiden". Der Staatsanwalt "bezeichnet die Bereitschaft des Gerichts, sich durchsuchen zu lassen, als einen einmaligen Vorgang in der deutschen und internationalen Rechtsgeschichte". Er fordert das Gericht auf, die Entscheidung zu überdenken, "da sonst die Würde des Gerichts als Institution zutiefst verletzt würde" . Hier haben die Richter jene Fühlung mit allem, was wertvoll ist (Hartmann), verloren, die umfassende, totale Sicht der Weisheit. Sie haben vergessen, daß die "Diskriminierung" zwischen Richter und zu Richtendem nicht zu "vermeiden" ist, sondern zum Wesen des Richtens gehört. Der durchsuchte Richter ist kein Richter mehr; das ihm anvertraute alte 504 und hohe Amt hat er (freiwillig) aufgegeben. 6. Hat also, so läßt sich das über unsere Tugend Gesagte zusammenfassen, der Vorsitzende das Glück, daß ihm die Tugend der Weisheit beisteht, dann ist die Ordnung seiner Sitzung nicht nur eine Ordnung einzelner Werte und Tugenden. Sie ist eine "Fühlung mit allem, was wertvoll ist". In dieser umfassenden Sicht kann sie sich über die (bloße) Klugheit (B VI) erheben, von der sie oft nicht genügend geschieden wird505 • Ob sie in unserer unweisen Zeit eine "unrealistische" (bloße) Forderung bleibt, oder, wenigstens in bescheidenen Ansätzen, (weise) Wirklichkeit werden kann, bestimmen die Vorsitzenden in autonomer Gruppenmoral mit der sie tragenden Tugendenergie (A IX). Dpa in Mainzer Allgemeine Zeitung vom 10. 3. 1978. Der Hinweis des Staatsanwalts auf die Rechtsgeschichte ist berechtigt. 505 Ein gewisser Lerneneu, Eishockeyexperte aus Kanada, hat die sowjetrussische Eishockeymannschaft nach ihrem Sieg von 6 : 0 über sein Land als "ein Gedicht von Intelligenz und Weisheit" (FAZ vom 25. 4. 1974) bezeichnet. Sind hier beide Tugenden (Intelligenz im Sinne von Klugheit) im Zusammenwirken gemeint? Oder ist, abgesehen von etwas Taktik (B VI), nichts Tugendhaftes vorgefallen? 503 504

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B. Einzelne Tugenden

VI. Klugheit 1. Ist die Weisheit eine seltene Tugend, so die Klugheit eher das tägliche (Tugend-) Brot des rationalen Menschen unserer Zeit. Eine "leichte" Tugend ist sie deshalb nicht: wachsende Weltentfremdung und steigende Hörigkeit des modernen Menschen in allen Bezirken stellen ihr schwierige Aufgaben. Die Unklugheit, sich selber als Mündigkeit und Sachkunde einstufend, ist im Vordringen. Gleichwohl ist die Klugheit eine Tugend von großer Macht und Geschichte. Die Welt unserer Tage, mit ihren Licht- und Schattenseiten, ist ihr Werk.

a) Auch die Klugheit (prudentia) wird als juristische Berufstugend angesprochen: die Disziplin der iuris prudentia trägt ihren Namen. Zwischen ius und prudentia gibt es eine Beziehung: das Recht, ratio scripta, ist nach einem alten Wort "für die Vorsichtigen gemacht". Vorsicht und Klugheit sind aber sprachlich verwandt, wenn nicht identisch: prudentia kommt von providentia. Was die Sprache dokumentiert, hat eine zumindest wahrscheinliche Richtigkeit für sich. b) Aristoteles hat die Klugheit (phronesis) als dianoetische oder Verstandes tugend bestimmt, Thomas von Aquin hat sie, ähnlich seinem Meister, intellektualistisch gedeutet als die zur konkreten Wegweisung des HandeIns gewandelte praktische Vernunft, die dem Handelnden Verständnis, Umsicht, Vorsicht und Voraussicht schenkt. Sie ist also, wie gesagt, die Tugend des rational handelnden Menschen, dem sie zum (Auffinden und) Lösen von Problemen vorausschauendes und einsichtsvolles Tun beschert. Die Ikonographie der Drei Gesichte zur Veranschaulichung des (aquinatischen) Wortes zeigt, wie sie das Künftige im Blick auf Vergangenes und Gegenwärtiges einschätzt. c) Obwohl die Klugheit somit ständig gefragt ist, kommen die Klugen nicht in Menge vor. Das war wohl auch in früheren Zeiten nicht der Fall: das deutsche Wort klug bedeutet soviel wie gebildet, tüchtig und edel506 , und meint damit eine Minorität. Wie andere Tugenden, so will auch die Klugheit für die Minorität der Richter "entdeckt" sein (A VII). d) Die dianoetische oder Verstandestugend der Klugheit ist auf die ethischen oder Charakter-Tugenden fundiert (A XIII); der Kluge muß das GesolZte kennen, bevor er es klug verwirklicht. Wer Unwahres, Ungerechtes, Unbescheidenes mit Klugheit zu realisieren strebt, huldigt einer Unmoral, auch soweit die Klugheit in Rede steht: sie ist eine Tugend, kein Erfolgsrezept für Lasterhafte. So kann man, umgekehrt, von einer Person überspitzt sagen, da es ihr nur auf die Wahrheit ankam, 506

Kluge, Etymologisches Wörterbuch, 20. Auf!., 1967 (klug).

VI. Klugheit

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habe sie die Klugheit verachtet507 • Im Grunde hat sie die Wahrheit über die Klugheit gestellt. e) Andere Tugenden sind ihrerseits auf die Klugheit fundiert. So ist die unkluge Tapferkeit (B VIII) keine Tugend, sondern ein Laster, die maßlose und daher auch unkluge Ordnung (B IV) eine Krankheit. Solche Fundierungsketten, zum Beispiel von der Gerechtigkeit über die Klugheit zur Tapferkeit, können, vermöge ihrer inneren Verbindungen, den Gedanken einer einzigen Tugend (A VI) aufkommen lassen. f) Gibt die Klugheit Verständnis, Umsicht, Verzicht und Voraussicht, so erreicht sie doch die Gesamtschau, die totale Sicht der Weisheit, noch nicht. Sie ist aber deren Dienerin: wie könnte der Weise ohne Beherrschung des nächsten Dinges, der causa proxima, zur Erkenntnis des entlegenen Dinges, der causa altissima50B , aufsteigen? Die Weisheit andererseits kann ein Gebäude der Klugheit negieren und aufheben509 • Ein Kulturphilosoph kann sagen: ein Kluger erfindet die Atomspaltung51O , ein Weiser hindert ihn dar an. 2. Wo unsere Tugend unsere "menschlichen" Anliegen betreut, ist sie Lebensklugheit. In Sprüchen und Dichtungen aller Völker geben die Klugheitsregeln davon Zeugnis. Wo die Klugheit vom Privaten zum Öffentlichen fortschreitet, wird sie zur StaatsklugheitSll und schlägt sich auch hier in Regeln nieder, zum Beispiel in denen der Fürstenspiegel. Von Johannes von SalisburyS12 über Thomas von Aquin513 zu Erasmus von Rotterdam514 , Machiave1l 515 , Antimachiave1l 516 und vielen anderen haben die größten Geister über Normen und Regeln nachgedacht, die sie ihren Herrschern zur Beachtung empfahlen. In unseren Tagen besteht ein Bedarf nach Politiker-, Minister-, Richter- und manchen anderen Spiegeln, in denen sich die jeweiligen Gruppen betrachten können: speculandi in speculis causa. 507 Joachim Fest in FAZ vom 12. 3. 1977 (Literaturbeilage) über Hannah Arendt. 508 Ich gebrauche den Begriff hier nicht im scholastischen Sinne. 509 Das hat im Sinn, wer die Deutschen als "tüchtig und dumm" bezeichnet: ihre (militärische) Klugheit siegt sich zu Tode, wenn die totale Sicht der Weisheit fehlt, die Dummheit, ihr Gegenteil, regiert. 510 Das gilt auch für künftige wissenschaftliche Klugheiten, ist daher nicht veraltet, seit das Atom gespalten ist. sn Sie wird mit Vorliebe Staatsweisheit genannt, ist es aber selten. über den Benennungsmißbrauch Abschnitt B V. 512 Policraticus 1159. 513 De regimine principum 1265. 514 Institutio principis christiani 1516. 515 Il principe 1532. 516 Friedrich d. Gr., Antimachiavell, 1739.

8 Scheuerle

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B. Einzelne Tugenden

Klugheitsregeln sind es auch, die sich zu Rechtsregeln verdichten oder sich an ihnen beteiligen, wenigstens gilt das von einem klugen Recht. Seine Normen sind das Ergebnis besonnenen Nachdenkens über Werte unter der Fahne der Klugheit. Wer sie beherrscht und richtig anwendet, hat Rechtsklugheit. a) Mit der richtigen Anwendung klugen Rechts ist der Bedarf des vorsitzenden Richters an Klugheit nicht gedeckt. Wenn er, von Angeklagten, Verteidigern, Zeugen, Zuhörern und Massenmedien bekämpft, die Ordnung seiner Sitzung aufrechterhalten will, braucht er, außer Normkenntnis und Normanwendung, die Tugend der Klugheit des Vorsitzenden. Sie ist Lebens- und Staats- und Rechtsklugheit und noch etwas mehr. Man kann sie Sitzungsklugheit heißen. b) Keine Variante dieser Sitzungsklugheit ist die Schlauheit, noch weniger die Verschlagenheit: beide sind ihre entarteten Gegenbilder517 • Der Schlauberger und der Listenreiche nutzen fremde Eitelkeit und Dummheit; unversehens sind sie selber die Dummen. Der Vorsitzende ist weder schlau noch verschlagen; die Schlauheit überläßt er den Rechtsanwälten und Staatsanwälten, denen sie von 79 % der Befragten einer Infas-Umfrage zugesprochen wird 518 • Als Richter ist er rechtsklug, weil ihn das geltende Recht, der Staatsklugheit verbunden, leitet. Die Sitzungsklugheit aber versieht ihn immer wieder, nach seinem Bedarf, mit Umsicht, Vorsicht und Voraussicht. Auf weitere Hilfe, die der Schlau- und Verschlagenheit, kann er verzichten. Daher wird er davon Abstand nehmen, einen verständlichen und erfüllbaren Wunsch der Verteidigung zuerst abzulehnen, diese damit zu veranlassen, ihren Wunsch als Antrag vorzubringen, den Antrag als unzulässig zurückzuweisen und anschließend zu gewähren, was er soeben versagt hatte 519 • Anders hingegen, wenn sich der Vorsitzende zur besseren Einsicht allmählich durchgerungen, in Bescheidenheit (B XII) und Uneitelkeit den Irrtum bekannt und die Wendung zum Guten freimütig vollzogen hätte. Versagt man ihm also Schläue und Verschlagenheit, dann muß man sich auf die Frage gefaßt machen, ob er denn so etwas wie ein Biedermann sein soll. Der Frager mag sich schlau vorkommen, die Antwort ist klar. Der Biedermann ist ein braver und wackerer Mensch520 , kein spießiger Biedermeier521 • Wenn unser Vorsitzender seine Tugenden übt, mag 517 518 519 520 521

Bollnow, Wesen und Wandel, S. 101. Reumann in FAZ vom 20.5. 1977. Spiegel vom 31. 1. 1977, S. 63. Kluge, Etymologisches Wörterbuch, 20. Aufl., 1967. Brockhaus-Enzyklopädie, 17. Auf!., 1967.

VI. Klugheit

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er getrost ein rechter Biedermann sein; kein verschlagener Angreifer wird an ihm seine Freude haben. c) Bei allem Verzicht auf Schlauheit und Verschlagenheit darf der biedere Vorsitzende allerdings kluge Taktik 522 betreiben, wenn es um die Erforschung der Wahrheit geht. So mag er der Empfehlung folgen523 , alle Bräute eines Heiratsschwindlers zusammenkommen zu lassen, weil man den Täter damit leichter überführt. Das ist weder Schläue, noch gar Verschlagenheit, sondern Sitzungsklugheit als Taktik, freilich noch keine Weisheit (B V). Was man von der Taktik sagen kann, gilt sicher auch, vielleicht noch mehr, von der Strategie 524 des Vorsitzenden. d) Schon die Rechtsklugheit kann der Gefahr der Oberspitzung erliegen; dann wird sie siebengescheit und lebensfremd, es kommt zu Entartungen525 • Das vermeidet sie durch Lebenserfahrung und Urteilskraft. Ihrer bedarf auch der Vorsitzende für seine Sitzungsklugheit. Das wird nicht immer klar erkannt. Auf einem Deutschen Anwaltstag wollte ein hoher Richter die strafrichterliche Tätigkeit jungen Juristen anvertrauen. In der Diskussion526 wurde hingegen gefordert, sie gereiften Richtern mit großer Erfahrung, klarem Blick für die Wirklichkeiten im Leben des Volkes und reicher Menschenkenntnis anzuvertrauen. Das ist eine Forderung, die vor allem für den Vorsitzenden gilt. Bei der Leitung der Sitzung richtet die Weltfremdheit vielleicht noch größere Schäden an, als beim Urteilen in der Sache (A 11). Auch im Zivilprozeß ist es natürlich nicht überflüssig, von der Erfahrung des Richters zu reden. Die Praxis berichtet in eigener Sache527 , seit eh und je werde der junge Assessor, der soeben seinen Dienst angetreten habe, als Einzelrichter528 nach dem Motto "Vogel friß' oder stirb!" in die Beweisaufnahme geschickt, den schwierigsten Fall des Prozesses, ohne daß ihm zuvor im Kollegium Übung und Erfahrung vermittelt worden sei. 3. Die sensationellen Vorgänge, die den MassenmiIIionen in ihren Massenmedien aus den Gerichtssälen der Krise berichtet werden, legen der Sitzungsklugheit, meist in Konkurrenz mit anderen Tugenden, stets 522 Scheuerle, AcP 152 (1953), 351 ff. (353); wozu auch die richterliche Taktik gehört. 523 Lindemann, Deutsche Justiz 1942, 696. 524 über deren Verhältnis zur Taktik Scheuerle, AcP 152 (1953), 351. 525 Scheuerle, AcP 167 (1967), 338 f.: Schleichwege, Verbrämungen, Tricks, "wunderliche Hilfskonstruktionen" usw. usw. 526 Schorn, S. 2. 527 Schneider, MDR 1976, 618. 528 Die Beobachtung ist auch nach der Reform des § 348 ZPO lehrreich.



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B. Einzelne Tugenden

neue Fragen vor. Sitzungsklug sein heißt dann nicht, auf jede neue Frage eine bereite oder gar eindeutige Antwort zu wissen; das Bekenntnis der Unwissenheit kann mitunter die noch größere Leistung unserer Tugend sein. a) Manche Richter haben, um gerade im Felde der Sitzungsklugheit ihre eigene Erfahrung den Kollegen dienstbar zu machen, Sitzungsklugheitsregeln formuliert, die sie zum Gebrauch empfehlen. Solche Regeln, in Beispielsform dargeboten, gibt zum Beispiel Steinbrenners529 Verzeichnis von Maßnahmen der typischen prudentia providens, eine Tugendkasuistik, die jedem Vorsitzenden nützlich sein kann. Steinbrenner empfiehlt: rechtzeitige Bereitstellung von Polizeikräften zum Schutz der Verhandlung, telefonische Verbindung zu ihnen; klare Aufträge an die Verantwortlichen; Vorbereitung einer "Verwahrungsmöglichkeit" (nach § 177 GVG); Durchsuchung der Zuhörer nach Waffen; Einbehaltung der Ausweise der Zuhörer (um Störern die Anonymität zu nehmen); Ausgabe von Einlaßkarten; Versagen von Stehplätzen usw. b) Die Klugheit solcher Regeln ist nie zu Ende. Sie werden, das ist die Aufgabe der Tugend, unentwegt weiterentwickelt, eingeschränkt oder verworfen, da auch in ihnen die beständige Evolution des Ethos (A XII) am Werke ist. So muß der Vorsitzende Vorsorge treffen, daß schon vor Eintritt des Gerichts die Pressephotographen das Feld räumen. Sonst kann ihn ein Beobachter in folgender Lage 530 sehen: "An der Spitze des Gerichts stürmte er mit dem Schlachtruf ,Aufhören, sofort aufhören!' in den Saal, und ,raus, raus!' schrie er auch." Er meinte "die Pressephotographen und Kameraleute, von denen gut drei Dutzend tätig waren, als das Gericht einzog. Niemand hatte sie rechtzeitig aufgefordert, abzutreten". Der Vorsitzende aber hatte selber die Ordnung531 seiner Sitzung gestört. Die Sitzungsklugheit blieb auf der Strecke. So hat Schorn532 an das Einlassen und Hinauslassen der Zuhörer zu bestimmten Zeiten und an das Verschließen der Türen außerhalb dieser Zeiten gedacht. Seibert533 hat daran erinnert, es müsse gewährleistet sein, daß, trotz Räumung des Zuhörerraums, neu Hinzukommende Einlaß finden. "Meist Steinbrenner, Die Justiz 1968, 235 ff. Mauz, Die Gerechten, S. 286; die Szene ist bereits bei Abschnitt B IV im Wortlaut zitiert. 531 RiStBV Ziffer 121 I 2 spricht in diesem Zusammenhang von der Würde des Gerichts, dazu Abschnitt B IV. 532 Schorn, S. 208. 533 NJW 1973, 128. 529 530

VI. Klugheit

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werden dann allerdings die gerade entfernten Ruhestörer, durch die andere Tür sozusagen, wieder hereinschlüpfen. Solche Räumungsmaßnahmen ... erweisen sich als Schlag ins Wasser" . Ein solcher Schlag ist auch einer gegen die Sitzungsklugheit. Was soll sie dem Vorsitzenden raten? Vielleicht wird er es mit den Schlüpfern noch einmal versuchen. Mißlingt der Versuch, wird er, ohne Revisionsangst (B V, B VIII), die Öffentlichkeit wegen Besorgnis der Gefährdung der öffentlichen Ordnung (§ 172 Ziffer 1 GVG) ausschließen, um sie freilich, auf Vorschlag der Tugend des Maßes (B XIV), nach angemessener Frist wieder herzustellen. Schläge ins Wasser werden auch hörbar, wenn eine sitzungspolizeiliche Lage wie folgt beschrieben wird534 : "Die Angeklagten handeln sich an zwei Sitzungstagen dreimal 24 Stunden Gefängnis wegen Ungebühr vor Gericht ein und tun das voll Wonne, so wie ... der Vorsitzende ein Bier am Abend eines heißen Sommertages trinken mag." Hier mußte der Vorsitzende die souveräne Werteskala seiner Angeklagten rechtzeitig erkennen. Da das Entzücken der Betroffenen die öffentliche Ordnung nicht nur gefährdete, sondern zerstörte, mußte er die Öffentlichkeit ausschließen. Wenn den Angeklagten das Publikum fehlte, war mit einer Veränderung der Lage zu rechnen. Wenn nicht, mußte er sie aus dem Saal entfernen lassen und nach § 231b StPO ohne sie verhandeln. c) Trotz verfügbarer "Regeln" und ihrer Weiterbildung bleibt die Materie der Sitzungsklugheit ein Experimentierjeld. Ein Vorsitzender kann, mit Einverständnis der Angeklagten, gestatten, daß "zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik mitten in der Sitzung ungehemmt photographiert wird"535. Dabei kann sich zeigen, daß man "eine solche Entscheidung wirklich nicht den Angeklagten überlassen darf", weil sich "auf jede Regung der Angeklagten, auf jeden Gesichtsausdruck sofort zehn, zwanzig Kameras richteten". Der Vorsitzende mußte einsehen: "Ein Gericht hat die Pflicht, auch dann vernünftig zu sein, wenn die Angeklagten unvernünftig sind".536 4. Die Sitzungsklugheit hat, das ist bereits deutlich geworden, als Tugend eine Art Allzuständigkeit für sich. Wie läßt sie sich weiter "konkretisieren" ? a) Die Tugend der Sitzungsklugheit empfiehlt ihrem Träger allgemeine Grundhaltungen, Ideale, mit den (möglicherweise) dazugehörigen Tugenden; von Lastern rät sie ab. Sie wird damit, wie auch ihre große 534 Mauz, Die Gerechten, S. 290; dazu unten Abschnitt B V. 535 Spiegel vom 26. 8. 1974, S. 54. 536 Spiegel vom 26. 8. 1974, S. 54.

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B. Einzelne Tugenden

Schwester, die Klugheit überhaupt, zu einer Ratgeberin für Verhaltensweisen im Großen. Diese Ratgeberin kann man zum Beispiel fragen: soll der Vorsitzende dem Ideal des sog. starken Mannes nachstreben, der die Szene beherrscht, oder soll er lieber bescheiden, einfach und zurückhaltend sein? Die Antwort heißt: er braucht weder ein starker Mann zu sein, noch soll er danach streben oder gar soll er ihn spielen, aber er soll die Tugenden des Vorsitzenden üben. Das empfiehlt die Voraussicht der (Sitzungs-) Klugheit. Der starke Mann ist nämlich den Gefahren sowohl der übersteigerung als auch der Abnützung ausgesetzt. Beide zerstören den Boden für das Gedeihen der Tugenden und damit die Ordnung der Sitzung. Das gleiche gilt für den Typus der (falsch verstandenen 537 ) Herren, des (falsch verstandenen) Richterkönigs oder der (falsch verstandenen) sogenannten Persönlichkeit (B XV). Die recht verstandenen genannten Herren, Richterkönige und Persönlichkeiten sind Sammelnamen für Tugenden und daher keiner besonderen Empfehlung bedürftig, die falsch verstandenen hingegen der Tugendübung abträglich, vielleicht gar Laster. Klug beraten war daher ein Amtsrichter538, den die Justizwachtmeister, an starke Männer gewöhnt, bei seinem ersten Auftreten als Schwächling einstuften; sie sagten ihm nichts Gutes voraus. Ohne seine Stimme zu erheben - sie war so unansehnlich wie sein Wuchs - sagte er gleich dem ersten Angeklagten höflich, er könne nur reden, wenn er das Wort habe und verhängte beim nächsten Verstoß (maßvolle) Maßnahmen nach § 177 GVG, die er mit Maß vollstreckte. Er schuf, weil sich seine Methode ("Man sieht es ihm nicht an") schnell herumsprach, in seiner Sitzung eine Ordnung, ohne sie besonders "aufrechterhalten" zu müssen. Ein starker Mann war er nicht, doch kannte und übte er die richterlichen Tugenden. b) Eine verwandte Frage nach einem Ideal kann jene sein, ob der Vorsitzende Rhetorik entfalten und die Szene wortgewandt und wortreich beherrschen soll. Eine Umfrage, auch bei Richtern, könnte bejahend ausfallen, weil die Vorliebe für gewandtes Reden allenthalben539 groß ist. Auch könnte der Hinweis auf die Redegewalt der Advokaten, die ein Gegengewicht erfordere, die Meinungen beeinflussen. Die richterliche Tugendlehre muß indessen die Frage verneinen. 537 Nach Schwinge (S.98) ist der Richter immer noch "wahrhaft ein Herrenberuf - einer der letzten, die es noch gibt", freilich des recht verstandenen Herren, des tugendhaften. 538 Bericht aus eigener Erfahrung; dazu eingehender unten Abschnitt B XV. 539 Dazu die demoskopische Umfrage über Politikertugenden in Abschnitt AXVII.

VI. Klugheit

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aal Der Vorsitzende soll zunächst kein Wort zuviel sagen. Gegen diesen Klugheitsrat verstoßen viele Richter, trotz ihrer dienstlichen Überlastung. Wenn ein Vorsitzender befürchtet, ein nach langem Verfahren Freigesprochener werde vor Freude über den Freispruch dessen Gründe gar nicht mit der nötigen Aufmerksamkeit anhören, kann er philosophieren54O : "Das ist doch oft bei Angeklagten wie bei Kindern am Heiligen Abend. Sie sehen doch nur das Geschenk." Diese, mehr dichterische als richterliche, Überlegung hätte er nicht anstellen sollen. Der Vergleich war zudem schief: der Richter ist kein Weihnachtsmann, der Geschenke verteilt; auf den Freispruch besteht ein Anspruch. Überdies ist kein (Verurteilter oder) Freigesprochener verpflichtet, sich die Urteilsgründe anzuhören. Noch unerfreulicher sind richterliche Worte, wenn sie in einem ursprünglichen Sinne abwegig sind und nicht zur Sache gehören. So sollte, auch wenn ein Einbruch in einen weltberühmten Dom die Gemüter stark erregt hat, der Vorsitzende nicht sagen, es sei wohl kein Zufall, daß Ausländer die Tat begangen hätten: "Wir sind uns sicher, daß man keinen noch so hartgesottenen Kölner Ganoven dafür bekommen hätte."541 Hier ist übersehen, daß der Richter zwar "sein Vaterland liebt" (B I), aber kein Lokalpatriot ist, der zwischen Einheimischen und Auswärtigen, Inländern und Ausländern, unterscheidet, es sei denn, das Gesetz stelle auf die Unterscheidung ab. Der Vorsitzende hat die Tugend der Gerechtigkeit des Verfahrens (B 11) verachtet und zudem die der Sitzungsklugheit. Seine Bemerkung könnte überdies falsch sein: er muß hoffen, daß ihn die weitere Entwicklung der Kriminalität in unserem Lande, auch der Kölner Ganoven, nicht bald eines Besseren belehrt. Auch ein Conferencier des Schaugeschäfts ist der Vorsitzende nicht, die Sitzungsklugheit steht dawider. Als solcher geriert er sich indessen, wenn es von ihm heißt542 : "Das Urteil leierte er herunter, wie's die Würde des Gerichts vermutlich fordert, doch vor der Verlesung und noch später ging er elegant auf nicht-juristische Aspekte der Affäre ein. Er unterhielt an diesem Tag des Schaugeschäfts ein interessantes Publikum mit weltmännischem Witz. Und er verneigte sich auch vor dem Zeitgeist, der ihm so viel interessantes Publikum beschert hatte. Wohl möglich, so der Vorsitzende, daß die bewunderungswürdig engagierten Damen in nur wenigen Jahrzehnten mit der gleichen Klage durchgekommen wären." Hier konkurrieren (A XIII) manche anderen Tugen540 Mauz, Spiel, S. 189. 541 F AZ vom 17. 12. 1976. 542 FAZ vom 27. 7.1978.

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B. Einzelne Tugenden

den: Staatstugend (B I), Ordnung (B IV), Bescheidenheit (B XII), Distanz (B XIII). Zuviel kann man auch reden, wenn man es auf Lateinisch sagt. Dann muß man, weil die Gerichtssprache deutsch (§ 184 GVG) ist, übersetzen, bald auch für viele Kollegen 543 , und macht damit die Dinge nicht besser. Ein Vorsitzender54" sprach sich in der Urteilsbegründung darüber aus, ob die Strafen den Tätern wohl eine Lehre sein würden. Er meinte dazu: spero contra spem. Als einer der Verurteilten naseweis fragte: "Was heißt das denn?", übersetzte der humanistische Vorsitzende: "Ich hoffe gegen jede Hoffnung", fügte aber hinzu: "Außerdem können Sie sich solche Kommentare sparen". Das überflüssige Zitat des lateinischen Quasi-Paradoxons hat wahrscheinlich einen Denkfehler bei der Anwendung des § 46 12 StGB enthüllt: das Hoffen gegen "jede" Hoffnung ist kein "Erwarten" (der Strafwirkung für das künftige Leben des Täters). überflüssiges Latein ist verräterisch. überflüssig, unhöflich und falsch war auch sein Kommentar zum Kommentar des Angeklagten. Denn dessen Frage war berechtigt: § 184 GVG. Es ist eine alte Erfahrung, daß ein Vorsitzender, wenn er unklug zu reden anfängt, schwer aufhören kann: Redseligkeit ist beständig. Die Sitzungsklugheit ist dagegen. bb) Soll also der Vorsitzende kein Wort zuviel sagen, so soll er andererseits, innerhalb des zu sagenden Wenigen, nach dem rechten Wort suchen. So soll er, wenn die Täterschaft noch gar nicht feststeht, den Gutachter nicht fragen, "ob der Angeklagte heute noch gefährlich ist, ob er als Bäcker vielleicht Zyankali ins Brot oder als Kellner E 605 in den Kaffee geben könnte"S45. Auch ist es unklug, angesichts einer Kindesentführung zu sagen546 , in einem Fall wie diesem komme der Verteidigung der Rechtsordnung erhebliche Bedeutung zu und: "Hier muß ein Zeichen gesetzt werden!" In Wirklichkeit fordert die Gerechtigkeit, einen Fall wie den anderen zu behandeln, freilich jeden nach den Maßstäben des geltenden Rechts. Die Sitzungsklugheit rät, sich bei dem letzteren zu bescheiden und darüber hinaus keine "Zeichen zu setzen". Andere Tugenden konkurrieren (A XIII). cc) Unkluge Gesprächigkeit des Vorsitzenden kann schlechterdings enthüllenden Charakter annehmen. Wer "dem Publikum im Gerichtssaal ein vorbildliches Verhalten während aller 34 Verhandlungstage 543 Die Bildungsreform trägt auch in fora reiche Frucht; Reformstudenten rücken in die Planstellen ein. 544 Spiegel vom 27.9. 1976. 545 F AZ vom 5. 8. 1978. 546 F AZ vom 6. 7. 1978.

VI. Klugheit

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bescheinigt mit dem Hinweis darauf, daß es auch außerhalb des Gerichtssaals keinerlei Pogrom stimmung gegen den Angeklagten gegeben habe"547, beschreibt eine (zu lobende) Ausnahme und läßt ahnen, wie (nach seiner Meinung) die Regel aussieht. Als Berichterstatter über seine eigene Krise (A I) brauchte er hier nicht aufzutreten. Dafür gibt es andere Gelegenheiten. dd) Eine Frage, deren Beantwortung in die Zuständigkeit der Sitzungsklugheit gehört, könnte jene sein, wie es der Vorsitzende (allgemein) mit der Begründung seiner Maßnahmen halten soll. Soll er durch reiche Gedankenführung zu überzeugen suchen? Soll er seine Anordnung im Gespräch mit den Beteiligten "erarbeiten"? Der Bezug zur Ordnung der Sitzung ist evident: je nach der Antwort ändert diese ihr Gesicht. Zunächst beanstandet die Sitzungsklugheit, daß fast alle Entscheidungsgründe unserer forensischen Praxis zu lang sind, oft um ein Vielfaches. Das gilt auch für die sitzungspolizeilichen Akte. Die oberstrichterliche Judikatur geht nicht mit gutem Beispiel voran. Das läßt sich an einem sitzungspolizeilichen Urteil zeigen, das viel beachtet wurde 548 • Zu der (einfachen) Frage, ob ein Vorsitzender einen Staatsanwalt aus dem Saal weisen durfte, der "zwar" ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte, aber keine Jacke anhatte und auf seinen (nächstfolgenden) Fall wartete, spricht das Gericht nach einer langen Einleitung seinen zentralen Gedanken aus und sagt: "Der Strafkammervorsitzende war selbstverständlich berechtigt und verpflichtet, das Verhalten des Staatsanwaltes zu beanstanden (§ 176 GVG). Es ist von Rechts wegen geboten und zu begrüßen, daß angesichts des Sittenverfalls auch in deutschen Gerichtssälen ein Gerichtsvorsitzender auf die Wahrung der äußeren Formen (Nr. 119 Abs.l RiStBV) mit Strenge achtet, insbesondere gegenüber Amtspersonen, die sich vorbildlich korrekt verhalten sollten". Schon in diesem kurzen Absatz waren folgende Gedanken überflüssig: a) der Hinweis auf die "Berechtigung", da es sich um eine Pflicht in Ausübung des pflichtgemäß anzuwendenden § 176 GVG handelte; b) die "selbstverständliche" Berechtigung, weil ein glatter Fall der Anwendung der genannten Rechtsnorm vorlag und ein zusätzliches Evidenzargument549 nicht nötig, eher verwirrend war; c) das "Gebotensein" , weil es bereits gesagt ist; d) das "von Rechts wegen" Gebotensein, weil es ein anderes (hier) nicht gibt; e) das "Begrußen" , weil man Gebotenes nicht (rhetorisch) begrüßen muß; f) den "Sittenverfall" , weil hier ein 547 F AZ vom 13. 5. 1978. 548 OLG Karlsruhe, DRiZ 1976, 823. 549 über Evidenzargumente eingehend Scheuerle, ZZP 84 (1971), 241 ff.

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B. Einzelne Tugenden

einfacher Fall von Rechtsanwendung vorlag, dessen Vorfeld nicht zur Debatte stand; g) die "Strenge", weil sie unrichtig ist; § 176 GVG ist nicht streng, sondern nach pflichtgemäßem Ermessen anzuwenden; h) die Hervorhebung der "Amtsperson", weil das Gesetz nicht zwischen Bürgern und Amtspersonen unterscheidet und jener Staatsanwalt durch seine (stillschweigende) Behandlung als Bürger (im Sinne der Wertungen des OLG) klarer und zurückhaltender charakterisiert worden wäre. Der Widerspruch gegen solche Entscheidungen pflegt sich gerade am überflüssigen Text zu entzünden550 • Im übrigen ist die forensische Geschwätzigkeit ein älteres Thema der Richterethik551 • ee) überhaupt soll der Vorsitzende, wenn er sitzungsklug handeln will, eine Begründung seiner Maßnahmen nur geben, wo sie vom Gesetz gefordert wird. Verlangen zum Beispiel die Angeklagten eine andere Sitzordnung, so soll er dem Wunsch nach Möglichkeit entsprechen, denn ein Ablehnungsautomat ist er nicht. Will er aber ablehnen, so soll er es zwar höflich, aber ohne Begründung tun. Wer aus wohldurchdachter Taktik anders sitzen will, ist ohnehin nicht durch "Argumente" zu überzeugen, "Diskussionen" erregen dann mehr Animositäten als höfliche Zurückweisungen. Wird beantragt, die Hauptverhandlung wörtlich zu protokollieren, so erklärt der Vorsitzende höflich, er werde nach geltendem Recht verfahren. Schon die Nennung des § 273 StPO ist überflüssig, weil das Gesetz sie nicht verlangt. Die Hinzufügung, es könnten (nach § 273 III StPO) Anträge auf die vollständige Niederschrift des Wortlauts einer bestimmten Aussage gestellt werden, mag zwar (nach Meinung des Vorsitzenden) seine stets parate Rechtskenntnis bekunden, nötig ist sie so wenig wie klug. Beantragt ein Anwalt seine Entbindung von der Pflichtverteidigung, da seine Sicherheit durch die Schußwaffen der anwesenden Polizeibeamten gefährdet sei, so kann der Vorsitzende ablehnen mit dem höflich gesprochenen Satz, die Sicherheit sei nicht bedroht, ein wichtiger Grund für die Entbindung liege nicht vor; §§ 49, 48 II BRAO braucht er nicht zu zitieren. Wenn ihm die Bemerkung auf der Zunge liegt, die Sicherheit sei im Gegenteil erhöht, so sollte er sie als überflüssig und unklug nicht aussprechen. Die Versicherung, der Antragsteller möge beruhigt sein, da seine (des Vorsitzenden) Sicherheit nicht mehr oder weniger bedroht sei, als die des Verteidigers, würde zwar vielleicht als "schlagfertig" (B XVI) gelobt, wäre aber töricht: für einen Vergleich solcher 550

551

Für den zitierten Beispielsfall siehe Spiegel vom 10. 11. 1976, S. 105. Dazu Schwinge, S. 100.

VI. Klugheit

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Sicherheiten gibt das geltende Recht keine Anhaltspunkte, die Klugheit noch weniger. ff) Die Sitzungsklugheit empfiehlt nicht nur höfliche (und oft begründungslose) Ablehnungen, sondern auch höfliche (bloße) Hinnahmen von Wünschen: nicht alles muß dem prozessualen Schematismus von Antrag und Entscheidung folgen. Es gibt Anliegen, die sich ein Angeklagter (oder sein Anwalt) von der Seele reden will, ohne eine Entscheidung ernstlich erwarten zu können. So können die Dinge liegen, wenn verlangt wird, der Vorsitzende möge zu einem (falschen) Pressebericht eine Gegendarstellung geben. Verlautbarungen dieser Art verbietet die Tugend der Distanz (B XIII): das Gericht spricht in gesetzlich vorgehenen Formen, wozu Presseerklärungen nicht gehören. Es wäre aber nicht klug, das einem Antragsteller zu erklären, gar unter Berufung auf eine Tugend, die (zur Zeit) als Witz oder Ironie aufgefaßt würde. Die höfliche Hinnahme gibt dem Antragenden, was er erwarten konnte und schließt den Fall ab: Presseberichte sind schnell vergessen. Ähnlich kann der Vorsitzende verfahren, wenn der Angeklagte oder sein Verteidiger eine detaillierte Aufstellung über die durch die Sicherung der Hauptverhandlung entstandenen Kosten verlangt. Hier hat ein freundlicher Vorsitzender gemeint, er möchte selber schon lange wissen, was das alles koste. Damit war der Fall "geklärt". c) Wie soll es der Vorsitzende allgemein mit Zugeständnissen halten? Soll er Langmut und Duldsamkeit walten lassen, weil energisches Durchgreifen feindliche Reaktionen auslösen und die Störer stärken könnte?552 Unklug wäre es jedenfalls, "das Verfahren mit Zugeständnissen in Gang zu bringen"553, wenn die Verteidigung eine Änderung der Sitzordnung (von Angeklagten und Verteidigern) fordert. "In Gang bringen" wird der Vorsitzende das Verfahren nach geltendem Recht und nach nichts anderem. Wenn die Sitzordnung als "Wahrheits-Ordnung"554 überlegt ist, wird der Vorsitzende höflich, aber ohne Begründung ablehnen. Andernfalls entspricht er der Bitte, nach Möglichkeit nicht sofort, damit nicht der Eindruck entstehe, er wolle damit "das Verfahren in Gang bringen". Die Problematik ist alt: jeder Lehrer (A XVII) kennt sie, der eine neue Klasse übernimmt und das Schuljahr "in Gang bringt", aber nicht mit "Zugeständnissen". Auch jedem Fußballschiedsrichter (A XVII) ist sie geläufig, der ein schwieriges Spiel zwischen 552 Schwind, JR 1973, 133.

Süddeutsche Zeitung vom 3. 9. 1975. Abschnitt B IV; der Begriff wird hier (sozusagen) im geographischen Sinne gebraucht. 553 554

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B. Einzelne Tugenden

schwierigen Mannschaften besser mit je einem Platzverweis oder Elfmeter in Gang bringt, als mit Zugeständnissen. d) Wie der Vorsitzende selber Taktik (als Variante der Sitzungsklugheit) betreiben darf, so muß er andererseits die etwaige Taktik der Verfahrensbeteiligten kennen. Daß Klugheit mit Erfahrung und Kenntnis dieser Welt zu tun hat, zeigt sich auch hier. Zum Beispiel wird ein taktisches Zusammenwirken von Angeklagten und Zuhörern durch Beifallklatschen, Aufstehen, Singen usw., den klugen Vorsitzenden interessieren. Einschlägige Broschüren oder Flugblätter, in denen die taktischen Regeln jener Gruppe gelehrt werden, wird er kennen. Seine Kenntnis wird er kaum zum Gesprächsstoff in der Sitzung machen, um damit zu glänzens55 , sie vielmehr besonnen (B VII), bescheiden (B XII) und maßvoll (B XIV) anwenden, zum Beispiel rechtzeitig, aber vielleicht nur für kurze Zeit, die Öffentlichkeit nach § 172 Ziffer 1 GVG ausschließen und in Vollmacht des Gerichtspräsidenten als Hausherrn auch das Gebäude räumen lassen. Die hier angesprochene Sitzungsklugheit fehlt, wenn man von einem Vorsitzenden sagen kann, er sei "auf die Spielart des Nichtmitspielens nicht eingerichtet, die der Zeuge wählt"556. Gemeint ist ein Zeuge, der sich, auf die Frage nach seinem Beruf, "als einfachen Soldaten der Weltrevolution versteht", aber auf den Vorsitzenden "verlangsamt" wirkt und daher gefragt wird: "Verstehen Sie mich richtig, sind Sie krank, ist Ihnen nicht wohl?" Faktisch hat wohl der Zeuge den Vorsitzenden besser verstanden als dieser jenen. Das könnte von der mangelnden Erfahrung mit dem Gegenspieler gekommen sein. e) Die Sitzungsklugheit kann, vermöge der in ihr verarbeiteten Erfahrung, eine Art Meteorologie der Sitzung zustandebringen, die Kunde vom Wetter ihrer einzelnen Phasen. So liegt nach den Beobachtungen erfahrener Richter das schwerste Wetter zwischen dem Beginn der Verhandlung und der Eröffnung der Beweisaufnahme. Hier toben die meisten Stürme. Angeklagte und Verteidiger und (sympathisierende) Zuhörer wollen von dem in dieser Spanne lebhaftesten Interesse der Presse profitieren, um Publizität zu gewinnen. Ein rechtzeitiger Ausschluß der Öffentlichkeit nach § 172 Ziffer 1 GVG kann hier als Wetterschutz wirken. f) Auch die Konsequenz im richterlichen Verhalten ist ein Klugheitsgebot. Die Tugend der Ordnung konkurriert (B IV). 555 So oder ähnlich verfahren törichte Polizeipräsidenten, wenn sie ihre schlechte Aufklärungsquote bemänteln wollen. 556 Spiegel vom 13. 12. 1976, S. 68.

VI. Klugheit

141

Gibt der Vorsitzende den Polizeibeamten den Befehl, die Angeklagten, die sich bei der Vereidigung von Schöffen nicht erheben wollen, "zum Stehen zu bringen"557, läßt er aber bei "Tumult hinter der Barriere" wieder davon ab, dann hat er einen "verpufften Kraftakt" vorgeführt, der die Ordnung der Sitzung stört und für ihren weiteren Verlauf nichts Gutes verspricht. Da das Aufstehen bei Vereidigungen auf Gewohnheitsrecht beruht, mußte er die Sitzenbleiber entfernen lassen (B I). Nach seiner Methode haben sie aber einen doppelten Sieg errungen: sie blieben sitzen und im Saal, obwohl der Vorsitzende gezeigt hatte, daß er das nicht wollte. Konsequenz ist nicht nur in spektakulären Fällen (von der Art des vorstehend berichteten) anzuraten, sondern auch im Kleinen. Niemandem sollte der Vorsitzende das Reden verbieten, wenn es sich der Adressat anschließend erzwingen kann558 . Ungerügtes Durcheinanderreden wäre, obwohl von der Tugend der Ordnung (B IV) bekämpft, fast noch besser. g) Keine Empfehlung der Sitzungsklugheit ist, für sich genommen, das "energische Durchgreifen". Noch viel weniger ist es selber eine Tugend. Freilich kann es unter dem Gesichtspunkt des konsequenten HandeIns in das tugendhafte Handeln eingehen. Hier könnte der (Tugend-) Ort sein, an welchem die Handhabung der sofortigen Vollstreckung (§§ 177, 17811 GVG) zu besprechen ist. Es handelt sich um Kannbestimmungen, die nach pflichtgemäßem Ermessen anzuwenden sind. Die Tugend der Sitzungsklugheit kann dem Vorsitzenden sagen, daß erfahrungsgemäß eine sofortige Vollstreckung in den Reihen der Teilnehmer organisierter Störungen Verwirrung stiften und damit die Ordnung der Sitzung aufrechterhalten kann. Ein festes Rezept gibt unsere Tugend freilich so wenig wie andere Tugenden. Sie kann, je nach Lage, auch zur entgegengesetzten Entscheidung anregen: die Synderesis des Richtergewissens (A IX) hat das letzte Wort. 5. Als Erfolg der Sitzungs-Klugheit, vielleicht in ihrer taktischen Variante, wird eine Entscheidung gepriesen, die im Jargon der Massenmedien die Bezeichnung führt: den Provokateuren die Schau stehlen. Sie beruht auf dem Umstand, daß in der Krise nur das Äußerliche, die Schau, gilt; daher: Schau gestohlen, alles gestohlen.

Für den vorsitzenden Richter wird das Phänomen wie folgt beschrieben559 : "Selbst gewollten Provokationen, kleineren Unverschämtheiten, die an Flegelei zu grenzen scheinen, läßt sich die Spitze nehmen, indem Spiegel vom 13. 10. 1975, S. 85; dazu bereits Abschnitt A XV. 558 Süddeutsche Zeitung vom 29. 6. 1975, S. 8. 559 Marx, Recht und Politik 1969, 101.

557

142

B. Einzelne Tugenden

man sie gelassen übergeht oder belächelt und so", wie SarstedtS60 treffend bemerkt, "den Provokateuren die Schau stiehlt." Der Vorschlag ist mit dem geltenden Recht nicht vereinbar: gewollte Provokationen und Unverschämtheiten, auch "kleinere" (im Grenzbereich der "Flegelei"), muß der Vorsitzende nach § 176 GVG beanstanden. Das sagen ihm die Staatstugend (B I) und die Tugend der Ordnung (als Wahrheits-Ordnung) (B IV). Seine Gelassenheit ist die falsche Gelassenheit (B XI), sein Belächeln will den Mangel an Tapferkeit (H VIII) verdecken. Einer Waffe, so lehrt die Klugheit, kann man nicht "die Spitze nehmen", indem man ihr die Brust hinhält. Klug sind hier die "Provokateure", denen niemand etwas gestohlen hat, auch keine Schau. Sie können den Staat nicht nur "belächeln", sondern dürfen über seinen Richter herzhaft lachen. Alles das weiß jeder Schüler aus seiner Erfahrung mit Lehrern, die ihrer rumorenden Klasse auf ähnliche Art die Schau stehlen wollten (A XVII). 6. Klugheitsempfehlungen kommen nicht nur von der gleichnamigen Tugend, sondern auch vom Staate in seiner Krise: man sieht es ihnen an. Über die Sicherheit der Sitzung, eine Klugheitsmaterie obersten Ranges, sagen die Richtlinien56 !: "Der Vorsitzende wird, soweit erforderlich, bei der Aufrechterhaltung der Ordnung in der Hauptverhandlung durch einen Justizwachtmeister unterstützt. Dieser ist für die Dauer der Sitzung möglichst von jedem anderen Dienst freizustellen. Er hat dem Vorsitzenden jede Ungebühr im Sitzungssaal mitzuteilen und bei drohender Gefahr sofort selbständig einzugreifen." Die Tugend der Sitzungsklugheit schlägt statt dessen folgenden Text vor: "Die Sicherheit der Gerichtsgebäude und der Gerichtssitzung wird durch ein Polizeiaufgebot der erforderlichen Stärke geschützt, so daß Störungen keine Aussicht auf Erfolg haben" (B XVII). Dieses Prinzip der Präsenz der Staatsgewalt entspricht der übung, wie sie in allen Staaten in Ost und West festzustellen ist. Die Mitteilungspflicht des einsamen Justizwachtmeisters, beschränkt auf Ungebühr, kann unterbleiben. Sein Recht, selber einzugreifen, mag bei Notstand berechtigt sein, im übrigen widerspricht es der gesetzlichen Verteilung der Gewalten in der Sitzung (zwischen dem Vorsitzenden und dem Gericht). 7. Es sind nicht nur die üblichen Elemente des Verfahrensablaufes, die der Voraussicht unserer Tugend unterstehen. Es gibt Vorkommnisse von Ausnahmecharakter, die ihrer Fürsorge bedürfen. Wenn einer von mehreren Angeklagten durch Selbstmord stirbt und der Vorwurf vorauszusehen oder bereits erhoben ist, er sei als "Opfer 560

56!

Sarstedt, JZ 1969, 153. RiStBV Ziffer 124 III; die Hervorhebungen sind von mir.

VI. Klugheit

143

der Justiz"562 umgekommen, könnte es klug sein, eine angemessene Unterbrechung der Hauptverhandlung von Amts wegen und ohne Begründung anzuordnen. Auf diese Weise wird dem Tode die ihm überall geschuldete Achtung gezollt und die Peinlichkeit vermieden, einen Unterbrechungsantrag der (übrigen) Angeklagten, "um ihren Gefühlen nach dem Todesfall Rechnung zu tragen"562, ablehnen zu müssen. Mit der Frage der Todesart, die noch gar nicht feststeht, hat das Ganze nichts zu tun. 8. Einen besonders wertvollen Rat, mit Schmunzeln zu quittieren, erteilt unsere Tugend den Vorsitzenden, wenn sie ihnen durch einen hohen Kollegen nahelegt, vor einer komplizierten Verhandlung die sitzungspolizeilichen Vorschriften noch einmal durchzulesen563 • Man kann ein Stück weitergehen und sagen: nicht nur die sitzungspolizeilichen Vorschriften und nicht nur vor einer komplizierten Verhandlung. Es gilt ja: iura novit curia, und was eine komplizierte Verhandlung ist, weiß man oft erst nachher. Man sieht aber an der zitierten Mahnung, welche Sorgen gerade die Sitzungspolizei als richterliche Aporie (A I) den Vorsitzenden bereitet, auch den geübten. 9. Das Laster des richterlichen Strebens nach Publizität564 rügen mehrere Tugenden, die der Ordnung (B IV), der Bescheidenheit (B XII), der Distanz (B XIII) und vielleicht noch andere in Tugendkonkurrenz (A XIII). Es gehört aber auch zur Kompetenz der Klugheit, das "Daherreden" der "dem süßen Gift der Öffentlichkeit erliegenden, redseligen Justizpersonen"565 zu untersagen. Recht wird nicht dahergeredet, sondern gesprochen. Wer diese Maxime verachtet, untergräbt das ungewöhnliche Privileg seines (ganzen) Standes, sich in Formen zu äußern, die ihm eine alte (Rechts-) Klugheit vorbehalten hat. Wer als Richter Auftritte vor Journalisten zur Kundgabe seiner Rechtsmeinungen wählt, handelt daher (auch) unklug. Streben nach Publizität gibt es im großen und im kleinen Maßstab. Schon wenn der Vorsitzende nach der Anhörung eines (sensationellen) Zeugen zu Journalisten sagt566, damit sei der Prozeß "gelaufen", verläßt er die Sitzungsklugheit und setzt sich der Ablehnung wegen Befangenheit aus. 10. Die Ordnung der Sitzung (§ 176 GVG) wird somit (auch) durch die Tugend der Sitzungsklugheit aufrechterhalten. Ihr Herrschaftsbereich 562 Mainzer Allgemeine vom 12. 5. 1976. 563 Seibert, NJW 1973, 127. 564 Dazu auch unten Abschnitt B VIII. 565 F AZ vom 19. 6. 1976. 566 FAZ vom 28.7.1976.

144

B. Einzelne Tugenden

ist weit. Sie stellt Regeln zur Verfügung, empfiehlt andere Tugenden und Eigenschaften und nimmt eine Art Allzuständigkeit in Anspruch. Ihre Verbindung mit der (Lebens-) Erfahrung ist eine enge, vielleicht enger als die der anderen Tugenden. Ihre Lehrbarkeit (A XVI) könnte leichter zu bejahen sein, als die mancher ihrer Schwestern. Eine Veranlagung des Schülers ist aber auch hier unerläßlich. Mancher Vorsitzende, pflichtbewußter Richter und tüchtiger Kenner des Rechts, lernt sie schwer oder nie. Er gleicht einem fachtüchtigen Lehrer, der dem Ulk der Klasse nicht gewachsen ist und immer wieder auf ihn hereinfällt (A XVII). VII. Besonnenheit 1. Das Verständnis der Besonnenheit als einer klassischen Tugend ist durch die Frage nach ihrem griechischen, sprachlichen Äquivalent567 erschwert worden. Als Tugend, wie sie dem Vorsitzenden empfohlen werden kann, hat sie darunter aber nicht zu leiden. Man kann sich an den Sprachgebrauch und seine Bedeutung halten, wie er seit langemS68 bei uns beglaubigt ist.

a) Was ist also ihr Sinn? Die Besonnenheit ist die Geistesverfassung, in der wir "bei Sinnen" sind. Sie erlaubt richtiges Urteilen und Handeln, indem sie Gemütsbewegungen, Affekte und Verblendung ausschließt, dagegen die klare Beobachtung bei ruhiger Aufmerksamkeit werthält. So ist sie, salopp gesagt, das Gegenteil der Unbesonnenheit, deren (negativer) Gehalt auf den ersten Blick verstehbar ist und einen Rückschluß auf die Bedeutung unserer Tugend erlaubt. Die Besonnenheit ist nicht mit der Klugheit (B VI) zu verwechseln. Der Besonnene kann unklug handeln, der Unbesonnene, wenn das Glück ihm beisteht, klug. Die Klugheit ist (überwiegend) materialer Natur, sie bestimmt den richtigen Inhalt des HandeIns, zumindest seine richtige Durchführung. Die Besonnenheit ist formal, sie lenkt das Verfahren des Besinnens (auf Inhalt und Verwirklichung). Daher kommt es zu Fundierungsketten (A XIII). Die Besonnenheit kann die Besinnung auf die ethischen569 Tugenden bewirken, zum Beispiel die der Gerechtigkeit (B 11). Das gerechte Resultat verwirklicht dann die Klugheit (B VI), die wiederum, um Erfolg zu haben, der Tapferkeit (B VIII) bedürfen kann. So muß, in umgekehrter Reihenfolge betrachtet, der Tapfere, wenn er (auch) klug handelt, wissen, was gerecht ist; das Gerechte aber hat ihn die Besinnung der Besonnenheit gelehrt. Damit handelt der Tapfere, 567 568 569

Sophrosyne, enkrateia; sophia, andreia; dazu Hartmann, S. 435 f. Zum Beispiel Meyers Konversationslexikon, 5. Aufl., 1896 (Besonnenheit). Im Gegensatz zu den dianoetischen Tugenden, Abschnitt B VI.

VII. Besonnenheit

145

durch die Hilfe der Klugheit und Besonnenheit, "im Angesicht" der Gerechtigkeit. b) Die Griechen haben die Besonnenheit, wie das Wort sophrosyne aussagt, der Triebschicht, der Sinnlichkeit, zugerechnet. Sie meinten damit deren gutes Maß, das Vermögen also, die Begierden des Wollens zwar nicht zu unterdrücken, aber in den rechten Grenzen zu halten. Diesen Gedanken haben die Lateiner unterstrichen, indem sie das griechische Wort mit temperantia übersetzten. So gesehen, fordert die Besonnenheit einen Zustand der Seele in ihrem gemessenen Gleichgewicht und damit in ihrer Freiheit570 ; in dieser Verfassung prüft sie das Für und Wider. Nur so kann der Besonnene zu seinem Vorhaben auch Nein sagen, also das Nichthandeln als Weise des HandeIns erringen. Die kassatorische Funktion, die der Besonnenheit damit eignet, stellt sie der Weisheit (B V) als virtus negatrix an die Seite. Scheler hat den Besonnenen daher den Asketen des HandeIns genannt. e) Wie alles Asketische, so steht unsere Tugend zur Zeit nicht hoch im Kurs. Ihre Wertungen, den Griechen teuer, sind uns fremd geworden571 • Schon das Wort Besonnenheit klingt "altmodisch". Wo die Hast uns beherrscht; wo Zuwachsraten und andere übel ihr Wesen treiben; wo die Zeit, soweit sie nicht ohnehin Geld ist, "gegen uns" steht, hört man seinen Klang nicht gerne: Besonnenheit braucht Zeit, die Krise ist unbesonnen, sie hastet kopflos weiter. Ein Kritiker572 sagt über "Staats"Männer: "Es wird gereist und geredet, doch wann wird gedacht? Mobilität und Aktivität ersetzen Besonnenheit." Die Besonnenheit ist, wie die Geschichte zeigt, keine Nationaltugend der Deutschen. Das gilt auch für die unmittelbare Gegenwart. Eine mehrfach genannte demoskopische Umfrage573 betraf die Eigenschaften, die die Bürger (über 16 Jahre) dem Bundeskanzler und seinem Gegner zuschrieben. Unter 24 zur Wahl gestellten Eigenschaften nahm die Besonnenheit574 beim Kanzler den 21. und beim Oppositionsführer den 7. Platz ein. Die ersten 3 Plätze sind beim Regierungschef mit Dingen wie Energie, Ehrgeiz und Rhetorik besetzt, alle drei der Besonnenheit kaum geneigt, wohl auch keine Tugenden, der Ehrgeiz eher ein Laster (B XV). Ihm ist auch sein Gegner ausgeliefert, der Ehrgeiz hält bei ihm den 3. Platz, um der Klugheit575 und einem Sympathiegefühl576 den Vor570 571 572 573 574 575 576

Bollnow, Wesen und Wandel, S.97. Bollnow, Wesen und Wandel, S.92. H. F. Neubauer im Bayerischen Rundfunk (Marginalien) vom 9. 9. 1975. FAZ vom 4.8.1975. "Vorsichtig, bedächtig, abwägend". "Verstand und klare Linie". "Vertrauen erweckend".

10 Scheuerle

146

B. Einzelne Tugenden

tritt zu lassen. Bei Adenauer hatte die Besonnenheit in drei Umfragen (1956, 1958, 1959) unter 17 Eigenschaften den jeweils 12. Platz erhalten. Es ist unerheblich, ob jene Gefragten mit der Beurteilung ihrer Staatsmänner recht hatten oder nicht. Sie haben sie, als jeweilige Regierung und Opposition, mit ihren Tugenden gewählt. Viel Besonnenheit haben sie nicht gewählt und wohl auch nicht vorausgesetzt. Denn sie steht, wie gesagt, nicht hoch im Kurs. d) Die Tugend der Besonnenheit ist eine ausgesprochene Tugend des Verfahrens. Sie will den Raum der Besinnung schaffen, in welchem die anderen Tugenden des Richters gedeihen können. Dabei kommt ihr das geltende Recht mit Fristen und Formen als alten Besonnenheitswerkzeugen zu Hilfe. Das Verfahrensrecht mit seinen oft gescholtenen Formalismen ist geradezu ein Kind der Göttin der Besonnenheit, das vor "schlagfertigem" (B XVI) Handeln bewahren und zu überlegten Urteilen führen will. Bei solcher Sicht der Dinge läßt sich von einem Tugendinterlokut der Besonnenheit sprechen, das seine Zwischenmarken setzt und damit Ordnung in den Handlungsablauf bringt. e) Obwohl sonst wenig geschätzt, ist die Besonnenheit doch, mit anderen, eine richterliche Berufstugend. Sie zeigt sich bereits, und das unterscheidet sie von anderen Tugenden des Richters, im Strukturbild der Rechtsanwendungsakte. Diese Akte sind Willensakte, in welche die sogenannte Phase des rechtlichen Könnens eingeschaltet ist. In dieser Phase regieren Besinnen und Besonnenheit: es wird geprüft, ob das Gewollte rechtlich zu verwirklichen istS71 • Wo sie fehlt, liegen Triebhandlungen vor, die auf unsere Tugend verzichten und keine richterlichen Akte sind578 • Gerade für die Sitzungspolizei, die es mit Überraschungen zu tun hat und für sofortiges, daher auch unbesonnenes Handeln, prädestiniert ist, hat ein kundiger Gesetzgeber, allerdings vor einem Jahrhundert, solche Triebhandlungen in Rechnung gestellt. Im Kommissionsbericht zum Gerichtsverfassungsgesetz579 heißt es, es sei nicht richtig, einem Richter zu gestatten, eine vielleicht in der Aufregung getroffene Verfügung sofort in Vollzug zu setzen, einer Beschwerde sei daher aufschiebende Wirkung zu geben. Hier sind zwei unbesonnene Akte gesehen, die in der "Aufregung" getroffene Verfügung und der "sofortige" Vollzug. Beide können "richtig" sein, besonnen sind sie nicht. Der Gesetzgeber wollte der Tugend die Ehre geben. f) Der tugendhafte Richter, der besonnen handelt, kann sich in tugendloser Zeit dem Vorwurf des Zauderers oder gar des Schwächlings aus577 578 579

Scheuerle, Rechtsanwendung, S. 95 ff. Dazu das Beispiel bei Scheuerle, Rechtsanwendung, S. 95. Hahn, Materialien II 976 (1879).

VII. Besonnenheit

147

setzen. Die Tugend der Tapferkeit (B VIII) erlaubt ihm, die Kritik zu ertragen. Sie ist zudem unbegründet: nicht der starke Mann, nicht der jederzeit "Schlagfertige", sondern der Besonnene ist der "Richterkönig" in des Wortes wahrer Bedeutung. 2. Wie kann man die Besonnenheit in ihrer Wirkung für die Ordnung der Sitzung genauer kennenlernen, durch Beispiele beschreiben?

a) Es bedarf immer wieder des Hinweises, daß die Justizminister Sorge tragen müssen, ihre Richter von der Eile, der Erzfeindin des Richtens und der Besonnenheit, zu befreien. Die Justiz "kann zwar Zügigkeit der Verhandlung verlangen; sie darf aber den arbeitsfreudigen und gewissenhaften Strafrichter nicht überfordern und so die Strafrechtspflege der Gefahr übereilter und damit vielleicht ungerechter Urteile aussetzen"580. Das gilt nicht nur für den Strafrichter. Der Staat, in anderen Bereichen mit Personal nicht geizig, hat seine Aufgabe noch nicht verstanden. Die "fatale Lage der Justiz", daß nämlich "die Richter und die Staatsanwälte vor kaum lösbaren Aufgaben stehen", weil sie überlastet sind581 , ist ein Merkmal der Krise. b) Das Laster der Eile und damit der Unbesonnenheit sitzt daher tief in den Psychen der Richter. Als sich ein Richte~2 gegen eine Kollegin ausgesprochen hatte, die nichts dabei fand, daß sich Zuhörer weigerten, bei Zeugen vereidigungen aufzustehen (B IV), nahm ein anderer Richte~3 die Angegriffene in Schutz. Er tat es, indem er sich auf die nötige Eile berief: Bei "notwendigerweise schnellem Handeln und zügiger Prozeßführung" sei es geboten, so zu verfahren. Hier wird der Begriff des schnellen HandeIns eingeführt, der im geltenden Recht und in den richterlichen Tugenden keine Stütze hat. Wenn das Aufstehen bei Vereidigungen Gewohnheitsoder Gesetzesrecht ist (B IV), kann es nicht durch eine "nötige Eile" außer Kraft gesetzt werden. c) Die unbesonnene Eile zerstört auch die "Würde" des Gerichts, was immer man von ihr halten mag (B IV). Sie tut es von innen her, und mehr als alle Angriffe von außen. Schorn584 muß Rechtsprechung zitieren, um folgende Selbstverständlichkeit festzustellen, die den Zusammenhang von Besonnenheit, Zeit und "Würde" dartut: "Die Sitzung umfaßt auch die Zeitspanne, deren das Gericht bedarf, um in einer 580 581 582 583 584 10·

Schorn, S. 3. Schleswig-Holsteinischer Richterverband in FAZ vom 16. 3. 1976.

JZ 1974, 139. JZ 1974,300. Schorn, S. 209.

148

B. Einzelne Tugenden

seiner Würde angemessenen Weise ohne Hast ... und in Ruhe den Gerichtssaal zu verlassen." Daß die angerufene "Würde" nur eine Variante der Ordnung (§ 176 GVG), nämlich einer Wahrheits-Ordnung, ist (B IV), diese aber (zur Erforschung der Wahrheit) Zeit braucht, zeigt sich hier in eindringlicher Weise. d) Das äußere Zeichen der Besonnenheit ist das Beratungszimmer. Wenn sich das Gericht dorthin "zurückzieht" 585, gewinnt es den heilsamen Abstand von den Dingen, der Unsere Tugend (auch räumlich) kennzeichnet. Besonders eindrucksvoll ist dieser Zurückzug beim Einzelrichter, der, besser als das Kollegium586, auch im Sitzungssaal Besonnenheit üben könnte: die räumliche und zeitliche Distanz und die Standortveränderung bewirken ein neues Tugendmilieu, das der Besonnenheit. Die Krise hat nUn bei manchen Richtern die Meinung verbreitet, ein Zug zum Beratungszimmer könnte den Störern die Genugtuung verschaffen, sie hätten sie wieder einmal von ihren Plätzen vertrieben. Die Meinung gedeiht nur dort, wo die Eile höher steht als die Besonnenheit, sie ist ein Schluß aus falscher Prämisse. Durch den Trost, ein beratener Gerichtsbeschluß brauche nicht unbedingt eine umständliche und "zeitraubende" Sache zu sein587 , wird sie nicht besser. Die Beratung im dafür vorgesehenen Raum muß sich Zeit lassen. Wer in das Beratungszimmer eilt und schnell wieder herausstürmt, hat dort wenig Besonnenheit geübt. In einer österreichischen Rechtssache 588 hat ein Anwalt die Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil u. a. darauf gestützt, "daß sich die Geschworenen innerhalb von fünf Minuten über die Schuld des Angeklagten einig gewesen seien". Das ist nicht so dumm, wie es sich anhört: Besonnenheit braucht Zeit, und: Recht muß auch wie Recht aussehen (A 11). e) Der horror temperantiae, die Abneigung gegen die Besonnenheit und ihr Symbol, das Beratungszimmer, ist auch bei höchsten Richtern nicht gering. Nach dem BGH589 genügt es in Fällen grober Störung, daß "auf einfachem Wege" ein Gerichtsbeschluß nach § 177 GVG590 herbeigeführt wird. Gemeint ist591 eine kurze, gegenseitige Verständigung des Gerichts

590

Es sollte ein Ziehen sein, kein Hasten und Stolpern. Darüber unten in diesem Abschnitt. Willms, JZ 1972,653. F AZ vom 5. 2. 1977. NJW 1972, 1144. Nach der Neufassung besteht wegen § 177 Satz 2 GVG die Problematik

591

Seibert, NJW 1973, 127.

585 586 587 588 589

fort.

VII. Besonnenheit

149

"unter Verbleiben im Saal". Das ist erstaunlich, denn gerade bei groben Störungen ist das Beratungszimmer der geeignete Ort, mit Besonnenheit, Klugheit (B VI) und (vielleicht sogar) Weisheit (B V) und Tapferkeit (B VIII) die ganze Lage zu überdenken. Schon Jahre früher hatte der BGH592 von dem "schwerfälligen Apparat der Beschlußfassung durch das gesamte Gericht" gesprochen, der (nach § 177 GVG) "erst in Gang zu setzen ist". Im zitierten Fall hatte der Vorsitzende allein entschieden, der BGH das Urteil des Schwurgerichts wegen § 338 Ziffer 6 StPO aufgehoben. Mehr Schwerfälligkeit hätte Arbeit und "Zeit" gespart. Es wäre verfehlt, aus der Charakteristik der Besonnenheit als eines "schwerfälligen Apparates" den Schluß zu ziehen, ebendeshalb dem Vorsitzenden das sitzungspolizeiliche Alleinentscheidungsrecht zu geben. Sicherlich soll es ihm zustehen, aber aus anderen Gründen (B XVII). f) Im Schutz der Tugend der Besonnenheit braucht der Vorsitzende eine Erscheinung nicht zu fürchten, die unter dem Modewort der Eskalation ein Wesensmerkmal der Krise ist. Nach der Erfahrung eines Richters593 "kann es leicht vorkommen, daß der Vorsitzende durch planmäßige Aktionen dazu gebracht wird, einzelne Störer kraft seiner Sitzungspolizei aus dem Saal zu weisen, und daß diese dann, da sie dem Befehl zum Hinausgehen nur mit um so lauterem Randalieren begegnen, kurzerhand von Ordnungskräften herausgeführt werden, ohne daß es zuvor zu dem durch § 177 GVG594 vorgeschriebenen Gerichtsbeschluß gekommen ist. Neue Zwischenfälle können dann die Aufmerksamkeit anderweitig beanspruchen und von der noch möglichen Heilung des Mangels ablenken." Dann wäre der Grundsatz der Öffentlichkeit verletzt und der absolute Revisionsgrund des § 338 Ziffer 6 StPO gegeben. Hier fällt der Vorsitzende auf die Ablenkung595 der Aufmerksamkeit herein, die die psychologische Grundlage auch anderer Kunststücke bildet. Der klassische Zauberkünstler nimmt seit je seinem Gegner mit (einem Teil) der Aufmerksamkeit auch die Besonnenheit; das gelingt ihm durch Schnelligkeit und Eile596 . Unser Vorsitzender darf den Kampf um die Zeit des Besinnens nicht verlieren. Notfalls muß er den Saal (und das Gerichtsgebäude) räumen lassen oder die Öffentlichkeit (wegen BGH NJW 1962, 1260. 593 Willms, JZ 1972, 653. 594 Seit der Neufassung ist die Problematik auf § 177 Satz 2 GVG beschränkt; der lehrreiche Fall der Tugendlehre ist nach wie vor instruktiv. 595 Es ist unerheblich, ob sie geplant war oder durch den Gang der Ereignisse automatisch eingetreten ist. 596 Es heißt darum zu Recht prestidigitateur. 592

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B. Einzelne Tugenden

§ 172 Ziffer 1 GVG) ausschließen oder die Hauptverhandlung unterbrechen. g) Es gibt Richter, die das Fehlen der Besonnenheit in einer vielbesprochenen Weise sichtbar machen, öffentlich zur Schau stellen. Damit ignorieren sie die Tugend der Ordnung (B IV).

Eberhard Schmidt597 bespricht "den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung merkwürdig oft erörterten Fall, daß der Vorsitzende - den Prozeßbeteiligten deutlich erkennbar - die Urteilsformel zu Papier bringt598 , während noch Staatsanwalt und Verteidiger ihre Schlußvorträge halten und bevor noch der Angeklagte das ihm durch § 258 StPO gestattete letzte Wort gesprochen hat". Während einige Oberlandesgerichte solche Urteile nach § 338 Ziffer 2 StPO aufgehoben haben, sah der BGW99 keine Gesetzesverletzung, da die innerliche Bereitschaft gegeben sei, einen derartigen bloßen Entwurf im Beratungszimmer umzustoßen. Die psychologisch falsche Meinung hat über die Bedeutung unserer Tugend nicht nachgedacht. h) Wie man das Beratungszimmer als Ort der Besonnenheit bezeichnen kann, so das rechtliche Gehör als ihr Institut. Die Schwierigkeiten, die es in anderen Rechtsgebieten hatte, sind weitgehend überwunden. Die Sitzungspolizei hat aber noch unter Mangelerscheinungen zu leiden. Ihre Maßnahmen, so sagt ein hoher Richter600 , müßten aus dem Erfordernis des Augenblicks getroffen werden, ihre Vorbereitung dürfe den Verlauf des Verfahrens nicht wesentlich beeinträchtigen, die Ahndung eines Verstoßes müsse auf dem Fuße folgen. Eine Anhörung der Beteiligten und ein Rechtsgespräch mit ihnen erscheine oft irrtümlich, weil das Mindestmaß an Bereitschaft nicht selten zu vermissen sei, eine Erörterung nach groben Verstößen dem Ansehen des Gerichts Abbruch tue, ja sogar zu weiteren Verletzungen herausfordern könnte. Hier sieht man, wie bedeutsam unsere Tugend ist. Einfach ist die Rechtslage. Rechtliches Gehör ist dem Betroffenen zu gewähren, bevor Maßnahmen nach den §§ 177, 178 GVG ergriffen werden. Die Gewährung kann verwirkt sein, wenn sie zusätzliche Störungen besorgen läßt. Sie kann unterbleiben, wenn der Betroffene zu erkennen gegeben hat, daß er darauf verzichtet. Die Tugendlage ist interessanter; die zitierte Meinung wird ihr nicht gerecht. "Aus den Erfordernissen des Augenblicks" mag manches im Krieg oder in einem Kriminalstück geschehen, aber nicht in einer Gerichtssitzung. Hier braucht alles seine Besonnen597

598 599

600

E. Schmidt, S. 19. Dazu bereits Abschnitt B IV. BGHSt 11, 74. NJW 1959,866 f.

VIII. Tapferkeit

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heit, schon gar die Zwangsmaßnahmen der §§ 177,178 GVG. Daher muß auch nie eine Ahndung dem Verstoß "auf dem Fuße" folgen, sondern nach besonnener, kluger und maßvoller überlegung. Sie allein gewährleistet das "Ansehen des Gerichts". 3. Der Vorsitzende im Sinne des § 176 GVG wird also die Ordnung der Sitzung nicht nur, wie das Gesetz lapidar sagt, aufrechterhalten; er wird sie (auch) besonnen aufrechterhalten. In vielen Fällen wird die Besonnenheit die zeitlich erste (A V) Tugend sein, die ihm für Erinnerung und Anwendung anderer Tugenden, etwa der Klugheit (B VI), Gerechtigkeit (B 11), Ordnung (B IV) usw. den (zeitlichen) Raum schafft. Wer als Vorsitzender die Besonnenheit übt, darf hohen Lobes sicher sein, auch wenn das Lob zeitlich eingeschränkt ist. Er kann sich daher bereits glücklich schätzen, wenn es von ihm heißt60l : "Es darf nicht übersehen werden, daß der Vorsitzende des Schwurgerichts ... die Sitzung zeitweise auch besonnen leitete." VIII. Tapferkeit In der Krise sieht man, daß es eine Tugend der Tapferkeit als richterliche Standestugend geben muß. Der gesunde Staat vermißt sie so wenig, wie er im Frieden die soldatische Tapferkeit vermißt; er nimmt daher auch keine Notiz von ihr. Der kranke Staat aber entdeckt sie: wenn die anderen Gewalten schwach oder töricht sind und damit die Krise fördern, soll die richterliche tapfer sein und den Staat retten. 1. a) Bei Plato ist die Tugend der Tapferkeit (andreia) eine der Kardinaltugenden. Sie gehört der schwer übersetzbaren Schicht des thymos an, die im Deutschen mit Leben, Gemüt, Mut, Zorn, Gesinnung wiedergegeben wird. Bei Aristoteles ist sie die erste der ethischen oder Charaktertugenden602 • An ihr zeigt er das Tugendphänomen der Mitte (mesotes): Tapferkeit ist die Mitte zwischen Tollkühnheit (thrasytes) und Feigheit (deilia). An ihr erkennt man darum den Sinn des Maßes, das alle Axiologie der Sitten beherrscht.

b) Fragt man, was die "Substanz" der Tapferkeit ausmacht, dann läßt sich etwa sagen: sie ist die Selbst behauptung der Person gegenüber Schwierigkeiten, Gefahren, übeln, Widerständen, Angriffen. Als Starkmut wird sie daher in Gegensatz gesetzt zu Furchtsamkeit, Zaghaftigkeit, Selbstunsicherheit. Mauz, Die Gerechten, S. 257. Sie stehen den dianoetischen oder Verstandestugenden gegenüber: Wissenschaft, Kunst, Klugheit, Weisheit, Wohlberatenheit, Verständigkeit. 601

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B. Einzelne Tugenden

Ihre Wertschätzung erkennt man an dem lateinischen Wort virtus, das sowohl für Tapferkeit, als auch für Tugend überhaupt gebraucht wird. Entsprechend sagt ein zeitgenössischer Philosoph603 : "Toute vertu est courage; c'est pourquoi le mot läche est la plus grave des injures." Das kann man der Krise mit ihrer Aporie (A I) ins Stammbuch schreiben: wer Tugend üben will, braucht Courage. c) Da die Tapferkeit eine Selbstbehauptung der Person mit ihren Werten ist, erweist sie sich als eine Tugend der ausführenden Instanz 604 , wie sich Weisheit, Klugheit, Gerechtigkeit und andere als Tugenden der führenden Instanz darstellen. Daraus erkennt man, daß sie vorgängiger Werte bedarf, die sie verwirklicht, daß diese aber (im Konfliktsfall) ohne sie nicht auskommen. Man kann es so ausdrücken604 : "Der weiseste Wertblick ist moralisch ohnmächtig, wenn ihm nicht Tatkraft zur Seite steht, die es mit Widerständen aufnimmt - auch da, wo die eigene Person mit ihrem Leben, Wohlsein, Glück auf dem Spiele steht." Man wird dabei an das Verhältnis von gesetzgebender und ausführender Gewalt erinnert. d) Das Verhältnis zwischen der führenden und der ausführenden Instanz kennzeichnet die Tapferkeit als etwas Nachgeordnetes60S , womit ihre Fundierung (A XIII) auf andere Werte (mit ihren Tugenden) gemeint ist. Das bedeutet, daß "die Klugkeit die Tapferkeit sozusagen durch die Gerechtigkeit hindurch informiert" 606. Denn die Tapferkeit darf - und das ist altes ethisches Gedankengut - sich selber nicht trauen (non seipsam sibi committat607). Ohne die ihr vorgeordnete Gerechtigkeit ist sie eine iniquitatis materia, ein Hebel des Bösen608 • Je stärker sie ist, um so mehr neigt sie zur Unterdrückung des Schwächeren (quo enim validior est, eo promptior, ut inferiorem opprimat607). Auch der Klugheit (B VI) ist unsere Tugend nach alter Lehre nachgeordnet, denn sie wirkt non qualitercumque, sed secundum rationem (Thomas)609. Die beschriebene Nachordnung unserer Tugend beleuchtet das berühmte Wort des Perikles in seiner Leichenrede610 , das sich nicht nur alle Heerführer und Staatenlenker, sondern auch alle vorsitzenden 603 Alain (E. Chartier), Les 101 propos d'Alain, 1920, 3m e serie, 111; dazu auch oben Abschnitt A VI. 604 Hartmann, S. 433. 605 Pieper, S. 40. 606 Pieper, S. 46. 607 Ambrosius, De officiis I 35 (Migne). 608 In der übersetzung von Niederhuber, Des Heiligen Kirchenlehrers Ambrosius von Mailand Pflichtenlehre, Bibliothek der Kirchenväter XVII, 95 (1917). 609 Summa II 2, quaestio 123, art. 12. 610 Thukydides, Peloponnesischer Krieg, 11. Buch.

VIII. Tapferkeit

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Richter merken sollten: "Es ist unsere Art, da am freiesten zu wagen, wo wir am besten überlegt haben. Bei anderen aber erzeugt nur die Unkenntnis Tapferkeit, die überlegung Zagen." Man ersieht daraus mehrerlei. Die Tugend der Tapferkeit, die der Redner meint, hat mit der Freiheit zu tun; befohlene Tapferkeit mag Wunder wirken, eine Tugend ist sie nicht. Die "beste überlegung" des Perikles meint die Klugheit (B VI), geleitet von der Besonnenheit (B VII). Die kenntnislose, d. h. (möglicherweise)611 unkluge Tapferkeit ist das (möglicherweise)611 tragische Schicksal des Soldaten, der bis zum Opfertode kämpft, aber nicht "denkt". Er ist staatstreu (B I) oder mutig (dazu unten), aber tapfer im Tugendsinne ist er nicht. Für unseren vorsitzenden Richter ergibt sich daraus, daß es auch in seinem Tugendreich eine Tapferkeit an sich nicht gibt, nur eine den anderen Tugenden nachgeordnete. Denn ein Draufgänger, dem die vorgeordneten Werte fehlen, ist er nicht; auch kein Haudegen, der um des Soldes willen tapfer ist. Wer als Richter die Güter riskiert, die die Tapferkeit kosten kann, tut es besonnen (B VII), klug (B VI), vielleicht sogar weise (B V) und gerecht (B II). Damit ist unsere Tapferkeit über die anderen Werte nur scheinbar erhaben (velut excelsior ceteris612 ), in Wahrheit aber eine von den letzteren stets geleitete Tugend (numquam incomitata virtus612). e) Die Tapferkeit wird oft als Mut bezeichnet, doch sollte man beide unterscheiden. Der Mut hat etwas mehr Aktives, Ausgreifendes, Unbeschwertes und Unkompliziertes613 • Die Tapferkeit bewährt sich auch oder eher im Passiven, im Nichtnachgeben und Erdulden, ihr actus principaIior ist das Standhalten, nicht der Angriff (Thomas614). Als richterliche Tapferkeit verkörpert sie das statische Moment eines jeden Staates61S, das freilich auch den Stoff anderer Tugenden ausmacht.

2. a) Die Tapferkeit ist wohl ursprünglich eine soldatische Tugend; sie bewährt sich im Kampf, soweit sie hier nicht als Mut zu qualifizieren ist. Nicht geringer zu achten ist sie als bürgerliche Tapferkeit, die für ihre überzeugung steht, vor allem gegen einen Mächtigeren. b) Die Tapferkeit des Vorsitzenden ist an sich die bürgerliche, in der Krise aber auch die soldatische. Wie der Ritter mit seinen Knechten 611 Daß die Fakten im Einzelfall anders sein können, ist für die Tugendlehre nicht erheblich. 612 Ambrosius, De officiis I 35. 613 BOllnow, Wesen und Wandel, S.80. Ob sich der Mut der mit "Unkenntnis" (Perikles, siehe oben) verbundenen Tapferkeit annähert, müßte man untersuchen. 614 Summa II 2, quaestio 124, art. 3. 615 Stare, Staat und statisch sind der gleiche Wortstamm.

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B. Einzelne Tugenden

Burg und Leben verteidigte, so der Vorsitzende mit seinen Beisitzern sich und seinen Richtertisch616 . Ritterliche und richterliche Tapferkeit kommen sich hier näher. c) Die Tugend der Tapferkeit, sei sie die bürgerliche oder die soldatische, kann an ihren Träger hohe Anforderungen stellen. Sie ist "im Grunde die Bereitschaft zu fallen, im Kampf zu sterben"617. Diese Erkenntnis, mit dem Amt des Richters in Verbindung gebracht, hätte noch vor wenigen Jahren Unverständnis oder Lachen hervorgerufen. Die Krise setzt andere Akzente. Sie berichtet618 , in das Haus eines vorsitzenden Richters sei auf Staatskosten für 80 000,- DM eine "Sicherheit" eingebaut worden. Die Richter eines gefährlichen Verfahrens hätten eine Schieß ausbildung erhalten und trügen Pistolen. Auch ihre Ehefrauen würden auf Staatskosten bewaffnet. Daß Richterkinder unter Polizeischutz spielten, ging mehrmals durch die Presse. Der Staat fordert also bereits619 richterliche Tapferkeit in einem sehr soldatischen Sinn: "... die Einsicht muß wachsen, daß Mut620 , Zivilcourage und rechtsstaatliches Augenmaß für Richter in solchen621 Verfahren unerläßliche Voraussetzungen sind." Diese Voraussetzungen sind allerdings "Haltungen, die gesetzlich nichterzwingbar sind"619. Die Richter haben die neue Lage erkannt. Ein hoher Richter622 sagt: "... wir Richter haben jetzt zu unseren mancherlei Privilegien ein Berufsrisiko, das dem eines Seiltänzers oder Rennfahrers fast gleichkommt." Die Vergleichsberufe der Seiltänzer und Rennfahrer übernehmen jenes Risiko allerdings um des Risikos willen, sie wollen damit Geschäfte machen. Den Richtern ist es durch die Krise aufgezwungen worden. Auch von der richterlichen Angst, dem "Gegenstand" der Tapferkeit, wird daher offen gesprochen. Sie ist, von den Politikern freilich nicht erkannt, ein Staatsproblem ersten Ranges geworden und ergreift die gesamte Justiz. Deshalb war es nicht leicht, für einen ermordeten Generalbundesanwalt einen Nachfolger zu finden623 ; auch machte es Schwierigkeiten, für das Stammheimer Gefängnis Wachpersonal anzustellen623 . 616 Dazu den Fall in Abschnitt A I (nach dem Bericht FAZ vom 19.7.1976). 617 Pieper, S. 29. 618 F AZ vom 20. 5. 1975; auch die echt deutsche Frage kommt auf, warum der Vizepräsident eines Gerichts als SPD-Mitglied "eine von Staats wegen gesicherte Dienstvilla" erhielt und nicht der Präsident; FAZ vom 19. 3. 1977. 619 Rheinischer Merkur vom 19. 9. 1975; Tapferkeit wächst in Freiheit (siehe oben); die Frage der Tugendsanktion (A XVIII) wird brisant. 620 Das ist wohl die Militärcourage im Gegensatz zur Zivilcourage. 621 Gemeint sind die bekannten Sensationsprozesse. 622 DRiZ 1975, 21 ("Terror"). 623 FAZ vom 28. 10. 1977.

VIII. Tapferkeit

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Sogar die räumliche Nähe der Justizgebäude, sonst die höchste Sicherheitsgarantie, wird gemieden: aus ihren Nachbargebäuden, wo vordem Mieter um ihr Wohnrecht kämpften, "zieht man jetzt leise und eilig aus"623. Ähnliche Symptome zeigen sich in der Sitzung: " ... Zeugen wollten in Düsseldorf624 vor Gericht nicht einmal mehr ihren Wohnsitz bekanntgeben."625 3. a) Angriffe auf Leib und Leben des vorsitzenden (und jedes anderen) Richters sind im gesunden Staat nicht üblich626 . Im Staat der Krise, der sich selber (in der Person seiner Richter) nicht schützen kann, gehören sie zur kriminologischen Wirklichkeit des Tages und fordern ebendarum die richterliche Tugend der Tapferkeit heraus. In der Zeit von Mai 1972 bis April 1977 haben 15 schwere Angriffe627 gegen das Leben von Personen der Justiz und gegen ihre Einrichtungen stattgefunden; auch Rechtsanwälte628 waren betroffen. Die richterliche Fachpresse berichtet laufend von Attentaten, Bombenanschlägen und sonstigen Angriffen auf (vorsitzende) Richter. Die Ermordung eines Gerichtspräsidenten beschäftigte die Massenmedien längere Zeit und ermüdete die Öffentlichkeit, da das Delikt nicht aufgeklärt wurde. Die schwere Verletzung der Ehefrau eines hohen Richters - der Anschlag galt dem letzteren - ging im Chaos der Krise unter und wurde wenig beachtet. Als ein Angeklagter in einem Sensationsprozeß629 sich auf den Vorsitzenden stürzte, ihn zu Boden riß, von den Mitgliedern des Kollegiums und den Justizwachtmeistern überwältigt und schließlich gefesselt aus dem Saal getragen wurde, gehörte der Vorgang bereits zum üblichen Geschehen der "Ordnung" der Sitzung (§ 176 GVG) und wurde kaum mehr gewürdigt. Noch weniger beachtet werden die weniger lebensgefährlichen Angriffe, wie sie dem Erfahrungsbericht des Richterbundes (A I) entsprechen. b) Tapferkeit muß man dem Vorsitzenden auch wünschen gegenüber anderen Akten der Demütigunif30: Beleidigung, Niederschreien, Zerstörung von Mobiliar, Singen, Essen, Trinken, Schlafen, Entkleiden, Anträge auf Untersuchung seiner Zurechnungsfähigkeit usw. Denn die Ansprüche an die Ordnung der Sitzung (§ 176 GVG) sind gering geworden. 624 Im sog. Stockholm-Prozeß. 625 FAZ vom 10.1. 1977. 626 Scheuerle, ZZP 68 (1955), 330 f. im Zusammenhang mit der Erörterung der Frage, ob das Beratungsgeheimnis (auch) den Zweck habe, den Richter vor Racheakten zu schützen, speziell bei Entscheidungen politischen Inhalts. 627 Siehe den Katalog in FAZ vom 27. 8. 1977. 628 Sie sind (unabhängige) Organe der Rechtspflege (§ 1 BRAO). 629 FAZ vom 29.7.1976. 630 Geus, S. 4 f.

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B. Einzelne Tugenden

Ein Vorsitzender, vom Angeklagten als "Schwein" bezeichnet, fragt den Täter, ob er eine Beleidigungsabsicht gehabt habe631 • Seit die "Sexualkunde" auch bei Pastoren ausgebrochen ist, kann einer von ihnen632 einen Richter und eine Staatsanwältin als Sexualneurotiker bezeichnen. Daher schätzen sich viele Richter glücklich, wenn sie, einem Slogan entsprechend, ihre Fälle "über die Runden" bringen. Das allgemeine Problem, das in ihnen allen enthalten ist, wird kaum gesehen. Die Ordnung der Sitzung (§ 176 GVG) wird damit in einer Weise "fortentwickelt", die der Gesetzgeber nicht vorausahnen konnte: von ihr ist sozusagen kein Stein auf dem anderen geblieben633 • c) Es gibt auch Kräfte von Verfassungsrang, die dem Vorsitzenden Tapferkeit abverlangen, ein untrügliches Krisenzeichen. "Unter dem Motto der freien Meinungsäußerung werden die Gerichte weit über den Rahmen rein sachlicher Kritik hinaus angefallen. Der Rechtsstaat glaubt, diese Freiheit, die sich vielfach bis zur Frechheit steigert, jedem Bürger garantieren zu müssen. Die Richter brauchen Kraft und Stärke634 , um durch solche Angriffe nicht angefochten zu werden ... "635 d) Zu den richterlichen Erscheinungen, die Tapferkeit erfordern, gehört die Krankheit der sog. Publicity. Das amerikanische Wort erinnert an ihr Ursprungsland, wo die Krise nicht minder schwer ist. Der folgende Fall könnte auch bei uns vorkommen. Die sog. Schwarze Judith, die Negerin Joan Little636 , hat in ihrer Gefängniszelle einen weißen Wärter getötet, der sie vergewaltigen wollte. Daß sie freigesprochen werden mußte, war so klar, daß es darüber kein Wort zu verlieren gab. Jedoch: "National bekannte Figuren aus Politik, Jurisprudenz und Unterhaltungsindustrie erließen Aufrufe zur Unterstützung von Joan Little, richteten einen Verteidigungs-Fonds ein und gaben Stippvisiten in Raleigh637 während des Prozesses. Joan Little ist, wo sie geht und steht, von Leibwächtern umgeben." Hier wird einem einfachen Fall ungewöhnliche Beeinflussung zugewandt. Daß auch "Figuren aus der Jurisprudenz", in unmittelbare Nachbarschaft der Unterhaltungsindustrie gestellt, beteiligt sind, verleiht der Sache ihr "rechtliches" Ansehen. Wie wird sich eine derart erprobte Maschinerie in wirklich problematischen Fällen auswirken! Rheinischer Merkur vom 19. 9. 1975. Spiegel vom 5. 4. 1976. 633 über das sog. quantitative Argument siehe Abschnitt AI. 634 Mit Kraft und Stärke ist die Tugend der Tapferkeit gemeint. 635 Dahs, AnwBI 1959, 179; ähnlich E. Schmidt, S. 25; neuestens Stürner, JZ 1978, 161 ff. mit vielen Beispielen. 636 F AZ vom 18. 8. 1975. 637 Hier fand der Prozeß statt. 631

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VIII. Tapferkeit

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Dem geschilderten Phänomen ist der sogenannte richterliche Personenkult verwandt, die aus dem Amerikanischen übernommene Mode, einen Richter nach Art eines Sporthelden oder Politikers vorzustellen, etwa: den Vorsitz führt Richter Franz Hofmann, 48, verheiratet, 3 Kinder, parteilos, Hauptmann der Reserve, Sportangler und Klavierspieler, Mozart. Sein Zweck ist, den Richter zu einer sensationellen Person zu stempeln, die er nach Tradition und Gesetz nicht ist: als Angehöriger einer Berufsgruppe von 15 000 Menschen ist er weder eine Figur von besonderer Farbe noch ein Politiker, der Publizität sucht. An das Gesetz gebunden und von Tugenden geleitet, vertritt er den Staat. Wenn er in einem sensationellen Prozeß tätig wird, entspricht es dem Zufall des Geschäftsverteilungsplanes des § 21 e GVG. Gegen persönliche Kritik kann er sich, im Gegensatz zum politischen Funktionär, nicht verteidigen. Wenn er es doch tut, handelt er unrichterlich. Auch hier muß man ihm daher Tapferkeit im Ertragen seiner Lage wünschen. Das gleiche System, an sich der Berichterstattung über laufende Verfahren entstammend, kann auch auf die Urteilskritiken angewendet werden. Dann ist sein Effekt ebenso negativ. Dahs638 : "Der Richter wird in den Urteilskritiken persönlich mit Namen genannt. Von Ausnahmen abgesehen, müßte das unmöglich sein. Der Richter trifft besonders im Kollegialgericht eine anonyme Entscheidung. Es ist doch geradezu schamlos, wie gleichwohl die Richter manchmal unter Nennung ihres Namens angegriffen werden, nur weil sie das Glück oder Unglück hatten, ein Urteil verkünden zu müssen, bei dem sie möglicherweise überstimmt639 worden sind. Sie werden öffentlich diffamiert. Der Richter kann sich nicht wehren. Er wird persönlich in gleichem Maße geschunden, wie die Rechtspflege dabei Schaden leidet." e) Die gleiche Publicity kann sich, umgekehrt, um den Richter bemühen, und ist dann ein noch dankbareres Objekt unserer Tugend: Tapferkeit gegenüber dem widerlichen Schmeichler. Es gilt nämlich, daß "das Lob, was den Richtern gespendet wird, noch viel schlimmer ist, als der Tadel. Das Lob dringt nach oben, die Gloriole wird für alle sichtbar. Neuerdings dringt das Fernsehen auch bis in die Privatwohnungen der Richter ein und nimmt Familienbilder auf, die eine Viertelstunde lang der Öffentlichkeit abends VOr Augen geführt werden. Das verhilft natürlich zu weltweiter Popularität. Ob es aber auch der Gerechtigkeit dient, ist eine andere Frage."64O

638 639 640

Dahs, AnwBl 1959, 183. Dazu Scheuerle, ZZP 68 (1955), 317 ff. (329 f.). Dahs, AnwBl 1959, 183; dazu auch oben Abschnitt B VI.

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B. Einzelne Tugenden

f) Eine andere Tapferkeit ist jene, deren der Richter gegenüber seinen Kollegen bedarf: die tapfere Verteidigung der eigenen Meinung ist ein altes Anliegen, kein Phänomen der Krise. aal Die Erscheinung ist unter der Bezeichnung der Beisitzerevidenz641 bekannt geworden. Sie betrifft die Frage, wie "evident" das Urteil eines Beisitzers ist, "wenn der Vorsitzende als sog. Persönlichkeit in Kammer oder Senat den Ton angibt und als Freund der Einstimmigkeit gilt". Dann kann es "für den jungen Assessor etwas bedenklich sein, sich gegen die Meinung seines Kammervorsitzenden zu stellen, weil er ja weiß, der wird ihn einmal beurteilen und davon hängt seine weitere Entwicklung innerhalb der Justiz ab"642. Man erkennt, daß es sich bei der Gewinnung der Beisitzerevidenz ursprünglich um eine Beisitzertapferkeit handelt, ihr Objekt ist der Vorsitzende. Die Krise könnte aber die Akzente verschieben, wenn der Zeitgeist die Stellung des "jungen Assessors" stärkt. Da der Vorsitzende bei Abstimmungen "zuletzt stimmt" (§ 197 Satz 4 GVG), sind Lagen denkbar, in denen nur dieser, wie in der Krise ein Lehrer gegenüber Schülern oder Studenten, "seine weitere Entwicklung" bedenkt und die Vorsitzendenevidenz vermissen läßt. Dann beugt er sich der "Basis", die ihm die richtige Abstimmung vormacht. bb) Mangelnde Tapferkeit gegenüber Kollegen kann zur Mitwirkung am Justizterror führen. Der Vorsitzende eines vieldiskutierten Verfahrens wegen Rassenschande im Dritten Reich sagte: "Von 100 Vorsitzenden hätten 99 nicht den Mut gehabt, den Mann zu verurteilen; aber ich habe den Mut gehabt."643 Entsprechend sagte einer seiner Beisitzer von sich, er habe nur unter dem Druck seines despotischen Vorsitzenden an diesem Justizmord mitgewirkt643 . Hier führen der Mut644 des Vorsitzenden und die mangelnde Tapferkeit des Beisitzers zu Folgen von gleicher Tragik. ce) So ist also die Tapferkeit der eigenen Meinung ein hohes Gut. Zu Recht wünscht sich daher Bruns645 , "daß für alle Befähigungszeugnisse die Tapferkeit in der Behauptung des eigenen wohlbegründeten Standpunkts als eine der höchsten Richtertugenden gewertet wird, weil Unabhängigkeit des Sinnes inmitten der Vielfalt der gesellschaftlichen Verstrickungen verbürgend". Ein Vorsitzender freilich, der ein solches Zeugnis ausstellt, muß selber ein tapferer Mann sein, sonst schätzt er diese Tugend nicht. Er muß vielleicht sogar weise. (B V) sein, sonst 641 Scheuerle, ZZP 84 (1971), 285 f.; dazu auch unten Abschnitt B XV. 642 Drees, Landgerichtspräsident, Vorsitzender des Deutschen Richterbundes, in Spiegel vom 29.7.1968, S.36. 643 FAZ vom 16. 1. 1973. 644 Weniger die Tapferkeit, dazu oben in diesem Abschnitt. 645 Bruns, S. 42.

VIII. Tapferkeit

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schätzt er sie nicht bei anderen. Tugenden erfordern ein Tugendklima, in dem sie gedeihen: wie am Nordpol keine Kakteen wachsen, so im Milieu der Feigheit keine Tapferkeiten. dd) Ist die Tapferkeit, weil sie sich selber nicht trauen darf und daher auf andere Werte fundiert ist646 , eine Tapferkeit zum Guten (jener fundierenden Werte), so kann man ausnahmsweise dem Vorsitzenden eine Courage zur Untugend wünschen. Die Hamburger Untersuchung647 findet, daß Richter als Einzelrichter weniger höflich sind denn als Vorsitzende in Kollegialgerichten. "Vermutlich werden Richter durch anwesende sog. Offizielle ... eher veranlaßt, gewisse wünschenswerte Verhaltensmerkmale zu verwirklichen: sie zeigen stärkere positive Zuwendungen zum Angeklagten, sagen zu ihm häufiger ,bitte' ... " Das könnte ein schöner Fall von Tugendantinomie (A XIII) sein. Die Tugendpolizei (A XVIII) der "anwesenden Offiziellen" bringt unserem Vorsitzenden die Tugend des höflichen Umgangs (B IX) bei. Man möchte ihm wünschen: wenn ihm schon der freiheitliche Drang fehlt, "bitte" zu sagen, sollte er es auch bleiben lassen, wenn er unter moralpolizeilicher Bewachung gewöhnlicher Beisitzer steht. Die Höflichkeit (B IX) ist eine schöne Tugend, die höfliche Feigheit aber nicht. Courage zur Untugend könnte hier auflockernd wirken und zum Nachdenken über Wertwidersprüche (A XIII) anregen. g) Tapferkeit muß man dem Vorsitzenden auch wünschen, wenn es um die Verwirklichung und Sanktionierung seiner eigenen sitzungspolizeilichen Befugnisse geht. Die Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes hat sich 1974 dafür eingesetzt, Straftaten, die in der Sitzung begangen werden, mit größerer Entschiedenheit zu verfolgen; die Verfolgung sollte unmittelbar nach der Tat eingeleitet und beschleunigt betrieben werden. Das ist weniger ein Appell an die Klugheit (B VI), als an die Tapferkeit. Von einem strafrechtlichen Nachspiel zu einer schweren Störung der Sitzung und Verächtlichmachung des Gerichts wird nämlich gesagf'48: "Die Richter haben die Strafbefehle ... nicht gerade leichten Herzens unterschrieben. Man rechnet mit Einsprüchen und dann muß verhandelt werden." Ein Richter sagte: "Man sollte die Sache nicht unnötig wieder hochspielen." Unsere Tugend meint: freilich muß der Richter jede Straftat "hochspielen", dann muß sie auch "verhandelt" werden. Das kann Tapferkeit erfordern: auch der Landpfleger Pontius Pilatus649 ist an seinen Rechtsfall "nicht gerade leichten Herzens" herangegangen. 646 647 648

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Siehe oben in diesem Abschnitt. Hamburger Untersuchung, S. 283. Hamburger Morgenpost vom 31. 7. 1969. Dazu unten in diesem Abschnitt.

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B. Einzelne Tugenden

4. a) Mutig muß ein Mensch wohl von Natur aus sein, die Tapferkeit als sittliche Haltung wird er, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, lernen können, um sie dann in Freiheit zu üben. Daß es dazu, wie zu allem Gelernten, einer Anlage bedarf, muß man kaum hervorheben. b) Die Tugend der Tapferkeit wird den Richtern tugendpädagogisch (A XVI) einerseits durch Vorbilder und Helden, andererseits durch warnende Gegenbeispiele nahegebracht. Vorbilder und Helden sind die Richter im Prozeß des Grafen Schmettau gegen den Müller Arnold. Dieser, Erbpächter einer Mühle des Grafen, war im Streit um die Zahlung des Pachtzinses in allen Instanzen unterlegen und hatte die Mühle durch Zwangsversteigerung verloren. Friedrich der Große glaubte zu Unrecht, die Richter hätten sich einer Rechtsbeugung zugunsten ihres adeligen Standesgenossen schuldig gemacht und fühlte sich zum Schutz des armen Müllers verpflichtet. Er hob das Urteil auf und ließ die Richter gefangensetzen und anklagen. Trotz der königlichen Machtentfaltung sprach der Kriminalsenat des Kammergerichts die Zivilrichter, die stets bei ihrer Meinung geblieben waren, frei. Hierauf griff der König selber ein, setzte die Richter ab und verurteilte sie zur Festungshaft und Schadensersatz. Nach dem Tod des Königs wurde das gegen sie ergangene Urteil aufgehoben. Das warnende Gegenbeispiel ist der römische Prokurator von Judäa, Pontius Pilatus. Obwohl von der Unschuld "dieses Gerechten" überzeugt, "ließ er ihn geißeln und übergab ihn zur Kreuzigung" (Math. 27, 23-26). Das tat er, weil das Volk gedroht hatte: "Wenn du diesen freiläßt, bist du nicht der Freund des Kaisers" (J oh. 19, 12). Daß er auch noch seine Hände in Unschuld wusch, ist seitdem ein geflügeltes Wort für die Feigheit geworden, die die Verantwortung für ihr Handeln scheut. 5. Der Mangel an Tapferkeit mit dem Bestreben, eine Entscheidung bestimmter (gefürchteter) Art zu vermeiden, ist seit je eine gute Vorbedingung für finale Subsumtionen650• Dem Abt von St. Gallen fehlte die Tapferkeit, der Herzogin von Schwaben, die das Kloster besichtigen wollte, den Zutritt zu verwehren, obwohl nach der Regel des Ordens "kein Weib den Fuß über des Klosters Schwelle setzen darf". Daher ließ er, auf Vorschlag des Bruders Ekkehard und nach Beschluß der Ratsversammlung der Brüder, die Herzogin "über die Schwelle tragen". Im Recht der Sitzungspolizei sind solche finalen Subsumtionen häufig. Sie betreffen den Wertbegriff der Ordnung, den sie "vom Ergebnis her" interpretieren. So kann ein Vorsitzender, um eine Ordnungsstörung nicht zu "dramatisieren", erklären, das Verhalten, zum Beispiel das Sit650

Scheuerle, AcP 167 (1967), 305 ff.

VIII. Tapferkeit

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zenbleiben bei Vereidigungen, "störe ihn nicht"651. Er meint damit: es störe die Ordnung des § 176 GVG nicht. Wenn nun aber das Aufstehen durch ausdrückliche Vorschrift oder durch Gewohnheitsrecht geboten ist, muß er, das sagt ihm die Staatstugend (B I), die Norm durchsetzen. Deren Ordnung (§ 176 GVG) ist nicht auf "ihn" bezogen, sondern auf den Staat und seine Justiz. Die Durchsetzung kann nicht nur lästig sein, sondern Tapferkeit (gegenüber vielen Kräften, wozu auch die Presse gehören kann) erfordern. 6. In der Krise, da der Staat sich selber nicht mehr schützen kann, wird Tapferkeit nicht nur vom Richter gefordert, sondern auch, und das mag ihn trösten, von den übrigen Beteiligten. Ein Generalbundesanwalt, ein Justizsenator und Rechtsanwälte werden Opfer von Mord und Terro~2. Auf eine Oberstaatsanwältin soll eine Unterwelt ein "Kopfgeld" von einer Million Mark ausgesetzt haben653 ; ein Sachverständiger (Mediziner) will nicht in den Geruch kommen, von Straftätern als Polizeispitzel angesehen zu werden und bittet eine Zeitung ängstlich: "Denken Sie an meine Kinder, nennen Sie nicht meinen Namen!"654; Kriminalpolizeibeamte verschweigen vor Gericht aus Sicherheitsgründen ihre Wohnung, auf das Büro eines Pflichtverteidigers wird ein Brandanschlag verübf55 , dabei fünf Menschen zum Teil schwer verletzt und die Sekretärin getötet usw. Tapferkeit der Organe der Justiz wird nicht nur in der Bundesrepublik gefordert, sondern in allen krisenbefallenen Staaten. In Wien wird im Verfahren wegen eines Banküberfalles "der Name des prozeßführenden Richters aus Sicherheitsgründen noch geheimgehalten"656. In Italien haben nicht nur die Bürger vor der Kriminalität Angst: "Die Polizisten haben gleichfalls Angst. Zu viele von ihnen wurden bei Feuergefechten mit Verbrechern getötet. Und auch die Richter haben Angst. Zu viele von ihnen wurden, weil sie sich bei der Bekämpfung des kriminellen wie politischen Extremismus exponierten, ermordet."657 In Frankreich weigern sich alle Rechtsanwälte von Troyes, einen Gewaltverbrecher zu verteidigen658 ; das Volk ist bereit, den Delinquenten zu lynchen, und nicht nur er, so sagt ein Advokat, sondern auch seine (des Advokaten) Familie würden vor der Wut der Öffentlichkeit nicht sicher sein. 651 652 653 654 655 656 657 658

Dazu Abschnitt B I. Dazu die Liste in FAZ vom 27. 8. 1977. Mainzer Allgemeine Zeitung vom 27. 10. 1976. FAZ vom 26. 10. 1976. FAZ vom 24. 6. 1976. AP in FAZ vom 30. 12. 1976. FAZvom29. 1. 1977. FAZ vom 26. 2. 1976.

11 Scheu erle

B. Einzelne Tugenden

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7. Die Ordnung in der Sitzung, das hat sich gezeigt, wird (auch) mit Tapferkeit aufrechterhalten. Da diese auf andere Tugenden fundiert (A XIII) ist, zum Beispiel auf die Besonnenheit (B VII), die Klugheit (B VI), die Gerechtigkeit (B I1), ist die so gesicherte Tapferkeit als die "vollziehende Gewalt" der tugendbewehrten Ordnung des § 176 GVG ein hoher Wert.

IX. Umgangsformen 1. Die Tugend der Umgangsformen, des höflichen Umgangs, wird zu Unrecht geringer geachtet als manche ihrer Schwestern. Sie scheint mehr an der Oberfläche des Menschenwesens zu liegen und weniger in seine Tiefen zu reichen659 • Der Schein trügt indessen. Hohe Werte anderer Tugenden kehren in ihr unverkennbar wieder. Man sieht es an den mannigfachen Verfehlungen des höflichen Umgangs. Torheit, Feigheit, Stolz, Unbescheidenheit und manche anderen Laster drängen in ihnen nach außen und erlauben jene Schlüsse auf den inneren Tugendbestand, die der Menschenkenntnis so wertvolle Hilfe leisten. a) Ist damit die Tugend des Umgangs in mannigfacher Art über die Tugendkonkurrenz (A XIII) mit anderen Tugenden verbunden und verschränkt, so behält sie doch ihre Selbständigkeit. Sie beherrscht die "bestehenden Sitten" und überragt damit zahlenmäßig, wenn diese quantitative Betrachtung erlaubt ist, alle anderen Tugenden: jeden Augenblick gestaltet sie die Welt in wahrhaft unzähligen Verwirklichungen oder sie stört sie, wenn sie verachtet wird, durch das Laster des schlechten Umgangs. Wer ihm frönt, ist der "Verbrecher im Kleinen" mit allen Symptomen eines solchen. Er versagt anderen, was er selbst von ihnen in Anspruch nimmt. Daher unterliegt er, wie der wirkliche Verbrecher, der Verurteilung und Bestrafung, dem Gemieden- und Ausgestoßensein (A XVIII)66O. b) Der vorsitzende Richter verkörpert den Staat im Gespräch mit den Bürgern. Täter und Opfer, Kläger und Beklagter geben ihm Schicksalsfragen zu entscheiden. Das Laster der unhöflichen Umgangsformen wird darum, wenn ihm der Richter anhängt, als besonders skandalös empfunden. "Einzelfälle" sind nicht gering zu achten; sie treffen den ganzen Stand und können durch die Tugend aller andern, die als selbstverständlich hingenommen wird, nicht ausgeglichen werden. Der Stand der Richter sollte das Meiden und Ausstoßen solcher Kollegen (A XVIII) ernst nehmen. Die Besorgnis der Befangenheit (§ 24 StPO; 659 660

Hartmann, S. 479 f. Hartmann, S. 480.

IX. Umgangsformen

163

§ 42 ZPO) und die ordnungswidrige Art der Ausführung eines Amtsgeschäfts (§ 26 11 DRiG) sollten in Fällen lasterhafter Umgangsformen weit

interpretiert werden.

c) Die vielberufene Würde des Gerichts (B IV) hat eine Beziehung zu unserer Tugend. Sie ist nach dem Wort eines hohen Richters661 " ••• in erster Linie die richterliche Haltung selbst. Vom Richter allein hängt es ab, die Wohltat der Formen und des Distanzhaltens zu nutzen." Das mag etwas662 übertrieben sein, enthält aber einen richtigen Kern. d) In der Staatskrise hat es die Tugend der Umgangsformen, obwohl ihre Pflichten keine drückenden sind, so schwer wie andere Tugenden auch: die Atmosphäre ist bereits so verändert, daß das tugendfeindliche Laster kaum noch auffällt, auch dann nicht, wenn der Vorsitzende selber sein Opfer ist. Als ein Angeklagter den Vorsitzenden ein Schwein nannte, fragte dieser den Täter, ob er dabei eine Beleidigungsabsicht gehabt habe663 • 2. a) Die Wohltat der Umgangsformen bereitet den Deutschen schon aus einem formalen Grund größere Schwierigkeiten als anderen Völkern: sie verfügen nicht über die neutrale Anrede (ohne Familiennamen), wie sie andere Sprachen in Monsieur, Madame, Mademoiselle, Signore, Signora, Signorina usw. kennen. Daher ist schon die Frage, wie die Vorsitzenden ihre Angeklagten oder sonstigen Beteiligten (und wie diese die Richter) anreden, Gegenstand deutscher Zwietracht und bedarf des Rates unserer Tugend. Wenn man alle Kombinationsmöglichkeiten (Angeklagter; mein Herr (analog Monsieur); Herr Angeklagter; Herr Müller; Angeklagter Müller; Herr Angeklagter Müller usw. usw.), auch für alle Gruppen (Zeugen, Zuhörer, Anwälte usw.), darunter das besonders sensible "Fräulein"664, ausprobiert hat, sollte man sich auf die Anreden Herr Müller, Herr Angeklagter, Frau Zeugin (auch wenn sie ein nicht mehr ganz junges Fräulein ist), Herr Richter, Frau Vorsitzende, Frau Zuhörerin665 usw. einigen können. Besonders problematisch wird die Lage, wenn von einer unehelichen Mutter die Rede ist. Vor einem Schwurgericht, das wegen Kindestötung Hennke, Schleswig-Holsteinische Anzeigen 1968, 277. Vom Richter "allein" hängt es nicht ab. 663 Rheinischer Merkur vom 19. 9. 1975. 664 Früher ohne Namen für "Personal" , Bedienungen und Lehrerinnen üblich. 665 Diese etwas neuartige, aber höfliche und farblose Form habe ich aus dem Munde eines korrekten Vorsitzenden gehört; die weibliche Endung könnte, vielleicht im Gegensatz zur Frau Oberstaatsanwältin, angehen (dazu unten im Text). 661

662

11·

164

B. Einzelne Tugenden

(§ 217 StGB) verhandelt, ist von der Angeklagten als Fräulein die Rede

"und als Fräulein wird die Angeklagte vor dem Schwurgericht auch angesprochen"666. Unsere Tugend verlangte, die Täterin als "Frau Angeklagte" zu titulieren. Im gleichen Bezirk der Umgangsformen kann auch eine Oberstaatsanwältin Gegenstand tugendhaften Nachdenkens sein. "Frau Oberstaatsanwältin, wo steht das?"667, erkundigt sich zwar der Vorsitzende, und er hätte vielleicht besser die feminine Endung weggelassen. Aber dann spricht der Berichterstatter die Anklägerin mit "Fräulein Hofmann" an. b) Das Spiel um die Anrede wird mehrschichtiger, wenn ein Beteiligter einen sog. erzählenden Familiennamen hat. "Es wäre leichter, dem Gericht unbefangen zu begegnen, wenn der Vorsitzende den Zeugen Wurstmacher stets mit ,Herr' angeredet hätte. Doch er voltigierte mit dem ergiebigen Namen: ,... so, so, Herr Wurstmacher. Wurstmacher, sagen Sie mal .. .' "668. c) Im Gegensatz zu anderen Tugenden ist die des höflichen Umgangs ein guter Gegenstand des Experiments: mag einer sie lieben oder verachten, immer trägt er das Herz auf der Zunge und wird damit zur "Versuchsperson". So hat die Hamburger Untersuchung669 das Verhalten gegenüber Angeklagten bei 18 Richtern an Amts- und Landgerichten einer Großstadt im Alter von 32 bis 65 Jahren festgehalten und durch dritte Personen beurteilen lassen. Es ergab sich, daß das Verhalten teilweise als erniedrigend, verletzend und geringschätzig empfunden wurde. Presse670 und Fernsehen671 nahmen sich der Sache an. Zu den Richterworten, die die Untersuchung feststellte, gehören die folgenden: "Was glauben Sie denn, mit wem Sie reden!"; "Damit Sie Bescheid wissen!"; "Aus was für 'nem Milieu kommen Sie denn?"; "Können Sie denn irgend was?"; "Können Sie mir sagen, was Sie in der Zwischenzeit so angestellt haben, beruflich?"; "Kapieren Sie nicht?"; "Menschenskind, Herr P., reden Sie doch nicht so'n Kohl!"; "Bei Ihrer Persönlichkeit ist es nicht drin, daß Sie sich genauere Pläne machen." Das Wort "Bitte" kam in Richteräußerungen gegenüber Angeklagten während zweimal dreißig Minuten durchschnittlich höchstens einmal vor. Fünf von achtzehn Richtern sagten während dieser sechzig Minuten 666 Mauz, Spiel, S. 11. 667 Mauz, Die Gerechten, S. 220. 668 Mauz, Die Gerechten, S. 129. 669 Hamburger Untersuchung, passim. 670 DS-Aktuell vom 11. 8. 1974 (Halbgott in Schwarz); Mainzer Allgemeine Zeitung vom 2. 8. 1974 (Reden Sie doch nicht so'n Kohl!). 671 ARD (Panorama) vom 9. 11. 1974, 20.15 Uhr (Richtersprache und Angeklagter).

IX. Umgangsformen

165

zu keinem ihrer beiden Angeklagten "bitte", ein Richter alle acht bis neun Minuten. d) Haben die Beispiele der Hamburger Untersuchung die sozusagen alltägliche Verachtung unserer Tugend beschrieben, das Mittelmaß des Lasters, so gibt es andererseits Fälle, in denen ein Vorsitzender in des Wortes ursprünglicher Bedeutung ganz aus der Rolle fällt. So soll es, wird berichtet72 , einen Vorsitzenden gegeben haben, der zu einer Angeklagten sagte: "Ich lasse mich doch von Ihnen nicht verarschen!" e) Unsere Tugend diszipliniert nicht nur das richterliche Benehmen, sondern das aller Beteiligten. Wenn diese sich versündigen und der Vorsitzende vergißt, daß er nach § 176 GVG die Ordnung aufrechtzuerhalten hat, wird das Verhalten Dritter ihm zugerechnet. Ist also in einem Streit zwischen Gericht und Verteidiger aus dem Munde eines Staatsanwalts ein nicht wiederzugebendes Wort zu hören, so ist es nicht damit getan, daß jener Sprecher erklärt, "er habe damit keinen der Prozeßbeteiligten gemeint"673. Umgangsformen bestehen nämlich "an sich" und unabhängig vom "Meinen"; sie sind "formale" Formeln und Formen, das ist ihre Stärke. Auch bei Selbstgesprächen muß daher der Vorsitzende eingreifen. Bei einem Staatsanwalt muß er an sich "mit Zurückhaltung und unter möglichster Vermeidung einer Bloßstellung"674 mahnen, hier jedoch mußte er die Zurückhaltung aufgeben, die Sitzung unterbrechen, den Vorgang in das Protokoll aufnehmen, ebendadurch die Bedeutung der Sache unterstreichen und die Entsendung eines anderen Staatsanwalts anregen. Freilich gibt es auch ein "Überhören" (B IV; B XIV); wenn aber der Fall bereits Gegenstand einer Erklärung war, ist es damit vorbei. f) Die Umgangsformen, die unsere Tugend schützt, sind nicht nur die alltäglichen Üblichkeiten der Höflichkeit. Es gibt eine Sitzungshöflichkeit, deren Regime weiter greift. aal Ein Vorsitzender nennt die Angeklagten nicht eine "Bande", wenn die Mitglieder einer "Vereinigung" nach § 129 a StGB gemeint sind. Auch dort, wo eine "wirkliche" Bande in Rede steht (§ 244 I Ziffer 3 StGB), wartet er mit jener Bezeichnung, bis sie feststeht, also bis zur Verkündung des Urteils. Vorher spricht er von einem Angeklagten auch nicht als von einem Dieb. bb) Wenn der Vorsitzende zu einer Kontroverse zwischen Anklage und Verteidigung Stellung nimmt, redet er nicht von einem "Katz-und672 Spiegel vom 26. 1. 1970. 673 FAZ vom 29. 1. 1976. 674 Kleinknecht, § 176 GVG, Anm. 3.

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B. Einzelne Tugenden

Maus-Spiel"675. Das mag, milde beurteilt, als eine "etwas lockere Bemerkung"675 gelten, verletzt aber die Sitzungshöflichkeit. Wenn er sich deshalb entschuldigt676 , fällt sein Tugendansehen zwar nicht weiter, es wird aber auch nicht ganz wiederhergestellt. ce) Unhöflich und daher tugendlos sind auch sog. spitze Bemerkungen, die den Unmut des Vorsitzenden bekunden. So wird die ärgerliche Rede berichtet677 : "So ist es nicht, daß wir nach der Prozeßordnung hier zu sitzen haben und uns alles sagen zu lassen haben, was den Herren einfällt ... Soweit sind wir noch nicht ... Vielleicht gibt es ja mal eine Strafprozeßordnung". Zu einem Ausländer, Opfer eines versuchten Totschlags, sagt ein Vorsitzender: "Wir sind hier keine Ausländerbehörde!" oder auch "Wir sind hier keine Wiederkäuer!"678 Hier konkurrieren (A XIII) die Tugenden der Selbstbeherrschung (B X), der Gelassenheit (B XI), der Bescheidenheit (B XII) und vielleicht auch noch andere. dd) überhaupt verletzen rhetorische Glanzlichter in der richterlichen Rede mitunter diese besondere Sitzungshöflichkeit: der Vorsitzende ist kein Rhetor (B VI). Auf die Frage, wozu er den gestohlenen Wagen gebraucht habe, sagt der Angeklagte: "Um zur Arbeit zu fahren." Der Vorsitzende: "Mit dem schweren Alfa Romeo als Hilfsarbeiter zur Baustelle, charmant!"679 Die beschriebene Art der Verletzung der Sitzungshöflichkeit kommt in manchen Varianten vor. In einem Landesverratsprozeß68o hat der Angeklagte mit (der Zeugin) Frau X nicht nur postlagernd, sondern auch per Code korrespondiert und zur Erklärung angegeben, die Frau sei verheiratet gewesen und mußte daher vorsichtig sein. Hierauf ein Beisitzer681: "Mit einer Strassenbekanntschaft682 einen Code verabreden? Nein danke!" ee) Die besondere Note der Sitzungshöflichkeit wird unterstrichen, wenn sie sich gegen übertriebene Höflichkeit wendet. 675 Mauz, Die Gerechten, S. 202. 676 Vom reuigen und zerknirschten Vorsitzenden spreche ich in den gegenwärtigen überlegungen nicht. 677 Mauz, Die Gerechten, S. 259. 678 Mauz, Spiel, S. 136. 679 Aus eigener Beobachtung, freilich als Zuhörer vor einer Strafkammer in Paris (A XVII). 680 Mauz, Die Gerechten, S. 209. 681 Daß die Bemerkung hier nicht vom Vorsitzenden stammt, beeinträchtigt die Beispielswirkung nicht. 682 Der Angeklagte will mit Frau X auf der Straße bekannt geworden sein.

IX. Umgangsformen

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Vom Vorsitzenden eines Mordprozesses heißt es683 : "So höflich ist er, daß man annehmen könnte, er fühle sich nach Lage der Dinge bedrückend unterlegen. Das will einem nun auch wieder nicht gefallen." Hier sieht man, daß die Tugend des Maßes (B XIV) jeder Tugend zu Hilfe kommen muß, auch der Höflichkeit. Ist deren Übertreibung schon im täglichen Leben unerquicklich, so erst recht in der gerichtlichen Sitzung: sie ist in einem ursprünglichen Sinne unrichterliches Verhalten und fordert das Unbehagen aller Beteiligten und Zuhörer heraus. Die Nuancen können feiner Natur sein und tugendgemäße Urteilskraft fordern (A XV), die selber eine schwierige Tugend ist. Ein Vorsitzender68" zeigt gegenüber der prekären Lage eines Hauptzeugen ein "geradezu spürbares Wohlwollen". Er sagt: "Wenn Sie eine Pause haben wollen, bitte, gern, selbstverständlich, jederzeit. Das Gericht verkennt nicht die schwierige Situation, in die Sie als Zeuge hier gestellt sind." Hier ist auch die Tugend der Distanz (B XIII) zu kurz gekommen, vielleicht noch andere. ff) Was von dem überhöflichen Richter gilt, läßt sich auch von dem Typus des jovialen und gemütlichen Onkels sagen. Er läuft Gefahr, die Opfer zu demütigen und ist, zwar nicht ganz, aber doch in ähnlicher Weise, so unrichterlich, wie sein Gegenteil, der Exponent des Justizterrors. Von einem Vorsitzenden heißt es685, er sei "die sprudelnde Leutseligkeit in Person". Das ist nicht die rechte Umgangsform, wenn dem Angeklagten vorgeworfen wird, er habe seine Geldgeber um 27 Millionen DM geschädigt. Die Tugenden der Distanz (B XIII) und andere konkurrieren. 3. Unsere Tugend fordert vom Vorsitzenden den höflichen Umgang nach den bestehenden Sitten und den Erfordernissen der Sitzung. Dabei hat er die absolute Gleichheit der (Verfahrens-) Gerechtigkeit (B II) und die richterliche Distanz (B XIII) zu wahren. Lindemann686 zitiert einen erfahrenen Gerichtsberichterstatter, der gesagt hat: "Der eine Strafkammervorsitzende behandelt den Angeklagten wie einen Grafen, er kriegt alles heraus; der andere schnauzt ihn von Anfang an an, er erfährt nichts" . Dieser Rat mag als Taktik im Rahmen der Sitzungsklugheit (B VI) erwägenswert sein, zu empfehlen ist er nicht. Der Vorsitzende soll kei683

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Mauz, Die Gerechten, S. 264. Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt vom 8. 2. 1976. F AZ vom 26. 1. 1976. Lindemann, Deutsche Justiz 1942,696.

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B. Einzelne Tugenden

nen Teilnehmer "wie einen Grafen" behandeln, wenn damit eine besonders ausgesuchte Höflichkeit gemeint ist. Vielmehr haben alle Beteiligten Anspruch auf gleiche Behandlung, so will es die Tugend der (Verfahrens-) Gerechtigkeit (B 11). Daß der zitierte Vorsitzende "alles herauskriegt", ist keine Rechtfertigung. Er sieht den Erfolg zudem erst nach der gräflichen Behandlung; also muß er vorleisten und gewinnt nicht an Klugheit (B VI), wenn die Gegenleistung ausbleibt. Die normale, untadelige, durch die Tugend des Maßes (B XIV) gesteuerte Umgangsform ist auch hier die richtige. Daß er andererseits den Angeklagten nicht "von Anfang an" anschnauzt, bedarf keiner Betonung, er schnauzt überhaupt niemanden an. Das erlaubte unsere Tugend nicht einmal dann, wenn er ebendadurch "alles herauskriegte"687. So läßt sich sagen, daß die Tugend des guten Umgangs schlechthin Geltung hat. Von finalen Erwägungen ist sie nicht abhängig. 4. Die Pflege des rechten Tones der Tugend des Umganges ist eine verantwortungsvolle Aufgabe der oberstrichterlichen Rechtsprechung. Sie kann sich zum Beispiel damit befassen, wenn der BGH als Dienstgericht des Bundes über eine Maßnahme nach § 26 11 DRiG gegenüber einem unhöflichen Richter zu entscheiden hat. In dem vielbesprochenen Fall der sog. dummdreisten Lüge hatte der BGH jüngst688 Gelegenheit, zu unserer Tugend das Wort zu nehmen. Ein Amtsrichter qualifizierte in der mündlichen Urteils be gründung einer Bußgeldsache (wegen Haltens im eingeschränkten Halteverbot) das Verteidigungsvorbringen der Betroffenen als dummdreiste Lüge. In der schriftlichen Einspruchsbegründung hatte sie vorgebracht, sie habe vor dem Eingang ihrer Gaststätte nur zum Entladen von Waren angehalten, das aber möglicherweise nicht zügig vor sich gegangen sei. Ihren Ehemann benannte sie dafür als Zeugen. In der Hauptverhandlung aber trug sie vor, nicht sie, sondern der Ehemann habe zur Tatzeit den Wagen gefahren und abgestellt. Das hatte auch der Verteidiger kurz vor der Hauptverhandlung in einem Schriftsatz behauptet. Zur Erklärung der früheren Angaben seiner Mandantin sagte der Verteidiger, sie habe früher nur deshalb von sich selber gesprochen ("die Ichform gewählt"), weil der Bußgeldbescheid an sie gerichtet war und sie Eigentümerin des Autos und Pächterin des Lokals sei. Der als Zeuge vernommene Ehemann konnte nicht bestätigen, daß er den Wagen zur Tatzeit gefahren und im Bereich des eingeschränkten Halteverbots abgestellt hatte. Daher das Wort des Richters von der dummdreisten Lüge, womit er der Betroffenen "klarmachen wollte, was sie dem Gericht zumuten kann". Eine Entschuldigung, die der Verteidiger namens seiner Mandantin forderte, verweigerte der Richter. Der Landgerichtspräsident sah auf Dienstaufsichtsbeschwerde des Anwalts keine Veranlassung zu dienstaufsichtlichen Maßnahmen. Der Oberlandesgerichtspräsident hielt dem Richter gemäß § 26 11 DRiG vor, daß es mit der Ver687 Das kommt immerhin vor. NJW 1978,824 ff.

688

IX. Umgangsformen

169

antwortung und dem Ansehen des Richteramtes unvereinbar sei, die Betroffene ohne Not derart zu kennzeichnen, daß ihre Persönlichkeit herabgewürdigt werde. Die Äußerung "dummdreiste Lüge" könne dahin verstanden werden, daß die Betroffene dumm, dreist und eine Lügnerin sei. Weitere Maßnahmen ergriff der Präsident nicht. Den Widerspruch des Richters gegen die Vorhaltung und Ermahnung wies er zurück. Das von dem Richter angerufene Dienstgericht wies seinen Antrag auf Aufhebung des Bescheides zurück. Der Dienstgerichtshof wies auch seine Berufung zurück. Auf die Revision des Richters hob der BGH als Dienstgericht des Bundes beide Urteile auf; der Gebrauch der Bezeichnung dummdreiste Lüge sei berechtigt gewesen. Die Begründung interessiert unsere Tugend ungewöhnlich. "Gewinnt nämlich der Richter", so sagt der BGH, "anhand von Indizien die überzeugung, daß der Angeklagte (Betroffene) ihn in einer Weise belogen habe, die eine besondere Charakterisierung verdient, so muß es ihm um der aus sachlichen Gründen gebotenen differenzierenden Bewertung des Leugnens willen gestattet sein, das inhaltlich zum Ausdruck zu bringen. Erlangt der Richter auf Grund von Indizien die subjektive Gewißheit, er sei dummdreist angelogen worden, braucht er sich nicht mit einer Wertung der Einlassung zu begnügen, welche die spezielle Beschaffenheit des dummdreisten Verhaltens übergeht. Die Charakterisierung einer Einlassung als ,dummdreiste Lüge' hält sich im Rahmen der in Betracht kommenden tatsachenadäquaten Wertung prozessualen Verhaltens. Aus dem Grundsatz der freien Würdigung auch von Einlassungen (vgl. BGHSt 10, 208; BGH vom 23.8. 1977 - 1 StR 159/77) folgt, daß dem Richter nicht vorgeschrieben werden kann, welche Wertung er im Einzelfall auf Grund welcher Sachlage als tatsachenadäquat ansehen darf. Der Bereich seines Ermessens endet erst dort, wo sein Werturteil als offensichtlich abwegig erscheint. Der Antragsteller hat diesen Bereich nicht überschritten. Soweit seine Wertung eine persönlichkeitsbezogene Komponente enthält, ist sie bloßer Reflex der Würdigung des prozessualen Verhaltens der Betroffenen. In ihr kann ein formaler Exzeß nicht gefunden werden. Es kann keine Rede davon sein, daß der Antragsteller die Betroffene ,zusätzlich herabgesetzt' oder gar in ihrer Würde als Mensch angetastet hätte." Die Urteilsgründe haben sich zwar viel Mühe gemacht689 , aber das Thema verfehlt. Es kam nämlich nicht darauf an, wie es sich mit der Wertung der Einlassung der Betroffenen verhält, ob diese sozusagen tatsächlich, wirklich oder wahrhaft eine dummdreiste Lüge war690 • Erheblich war allein, ob diese Bezeichnung formal beleidigend, daher (auch) eine Verletzung unserer Tugend war und damit zugleich eine "ordnungswidrige Art der Ausführung eines Amtsgeschäfts" (§ 26 II DRiG) darstellte. Die Frage ist natürlich zu bejahen. Das Wort Lüge mag hingehen, obwohl sich der neuere forensische Gebrauch mit der "Unwahrheit", Sie sind um ein Mehrfaches zu lang, dazu B VI. Wenn, was möglich ist, ein Angeklagter wirklich ein Schwein ist, darf er ein solches genannt, darüber vielleicht Beweis erhoben werden? 689

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B. Einzelne Tugenden

vielleicht der "bewußten Unwahrheit", zufrieden gibt. Das Doppel-Epitheton "dummdreist" ist hingegen, gar in der Verbindung mit der "Lüge", eine (schwere) Beleidigung. Der Richter hatte viele sprachliche Möglichkeiten, sich anders auszudrücken. Die hier angesprochene Tugend der Umgangsformen ist damit in eigenartiger Weise verkannt. Ihr Anliegen ist "formaler Natur". Die "tatsachenadäquate" Wertung ist nicht ihre Sorge: die (formale) Briefanrede "Sehr geehrter Herr" ist auch dort gefordert, wo der Adressat (auf jeden Fall vom Schreiber) nicht "geehrt" werden soll und auch von Dritten nicht "geehrt" wird; auch wenn er alles andere als ein "Herr" ist. Das Urteil des BGH ist zu recht scharf angegriffen worden691 • Ein Rechtsanwalt92 spricht von Sprachverwilderung in der Rechtspflege: "Es kann bald dahin kommen, daß in der mündlichen Urteilsbegründung zu hören oder in der schriftlichen Urteilsbegründung zu lesen ist, das Vorbringen einer Partei sei ein ,plumper Täuschungsversuch', ein ,fauler Trick', ein ,aufgelegter Schwindel', ein ,törichtes Geschwätz', ,barer Unsinn' oder eine ,Unverschämtheit'." Auch die Auswirkungen auf die Justiz selber sieht der Kritiker, denn "die hohen Herren in Karlsruhe dürfen sich nicht wundern, wenn bei einer Urteilsschelte dann auch niemand mehr ein Blatt vor den Mund nehmen wird". Für die Tugendlehre (A XVI) ist das besprochene Urteil von großem Wert. Es zeigt, wie notwendig das richterliche Nachdenken aller Instanzen im Tugendreich ist. Das Beispiel, das hier die Revisionsinstanz gab, war ein negatives Beispiel. Möge der exempla trahunt-Satz von ihm nicht gelten! 5. Die Ordnung der Sitzung des § 176 GVG ist also (auch) eine solche der guten Umgangsformen als Sitzungshöflichkeit. Vielleicht ist das die Tugend, die, mehr als andere, die Atmosphäre (B XV) kennzeichnet, die in einer Sitzung herrscht. Die Nuancen, in denen ein Beobachter eine solche Atmosphäre beschreibt, können sensibler Art sein. So kann es von einem Sensationsprozeß heißen693 : "Die Art, in der vor dem Bezirksgericht Utrecht der Prozeß ... geführt worden ist, weckt Ahnungen, wie es auch hierzulande sein könnte, leider aber nicht ist. Der Ton im Saal war moderatauch bei den Anwälten." Moderat, eine treffende, tugendkundliche Bezeichnung! 691

692 693

Zum Beispiel M. Wolf, NJW 1978, 825 f. Schminck in F AZ vom 21. 3. 1978. Frankfurter Rundschau vom 8. 12. 1977.

X. Selbstbeherrschung

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Von einem Verfahren, in welchem ein populärer Politiker in heikler Sache als Zeuge vernommen wurde, hieß es694 : "Der Zeuge entschuldigt sich für Zwischenbemerkungen und Erläuterungen, und der Richter, man merkt es, möchte sich in dieser Zwiesprache schon gar nicht nachsagen lassen, er habe die gröberen Handschuhe an. So gehen Zeuge, Richter, Staatsanwalt und Verteidiger miteinander um, als lege man rohe Eier in den Kühlschrank und der Angeklagte ... sieht mit großen, verwunderten Augen zu" . War es die Verwunderung darüber, daß hier trotz harter Standpunkte, ausnahmsweise die Tugend des Umgangs die Regie führte? Ist der populäre Politiker die causa virtutis gewesen und ebendarum, die Gegensätze berühren sich, zur causa vitii geworden: Verkennen von Gerechtigkeit (B II), Tapferkeit (B VIII), Distanz (B XIII)?

X. Selbstbeherrschung 1. Die Selbstbeherrschung, die enkrateia der Stoiker, die continentia der Römer, ist die Tugend dessen, der sich selber in der Gewalt hat. Da sie Gefühle und Leidenschaften daran hindert, die ihnen von anderen Tugenden vorgeschriebene Grenze zu überschreiten, ist sie als modus vivendi des inneren Lebens bezeichnet worden. Sie tritt damit zum Beispiel der Gerechtigkeit gegenüber, die das äußere Leben gestaltet. Ihr Ansehen in der Ethik wohl aller Völker ist groß, es interessiert auch den vorsitzenden Richter. "Das erste Stück aller moralischen Kultur ist die Ausbildung des vernünftigen Willens zu dem die gesamte Lebensbetätigung regulierenden Prinzip. Wir nennen die Tugend oder Tüchtigkeit, die darin besteht, daß der Mensch sein Verhalten und Handeln unabhängig von den augenblicklichen Gefühlserregungen durch den vernünftigen Willen bestimmt, Selbstbeherrschung... Sie ist die Grundbedingung aller moralischen Tüchtigkeit, die Grundvoraussetzung allen menschlichen Wertes, ja die Grundform menschlichen Wesens: Tiere werden durch blinde Triebe bestimmt, der spezifische Vorzug des Menschen ist, daß er sein Leben durch seinen Willen bestimmt."695 Kaum zu überschätzen ist daher die soziale Bedeutung unserer Tugend: Aus ihr wiederum folgt ihr pädagogisches Gewicht. Es ist wahr, "daß in der Wertrichtung der Beherrschung eminent positive Erziehungsaufgaben liegen. Die Schulung der Selbstüberwindung im Kleinen, die Erlernbarkeit des Gehorsams, die Zucht, die Erstrebbarkeit und Erwerbbarkeit der inneren Lebensform, die Gewöhnung an das Dominieren fester Willensziele über die schwankende Neigung, kurz die innere Disziplin, die 694 Thomas Meyer in FAZ vom 9. 12. 1977. 695 Paulsen, S. 11.

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B. Einzelne Tugenden

schließlich in Selbstzucht, in spontane Selbstbeherrschung und Selbstleitung einmündet - alles das ist von altersher der Pädagogik wohlbekannt."696 2. Die Richterschaft hat den Rang erkannt, den die Selbstbeherrschung in foro beansprucht; weiteres Nachdenken über unsere Tugend ist freilich zu empfehlen. a) Ein hoher Richter697 mahnt seine Kollegen: "Wer aufbraust, auf den Tisch haut, schimpft usw., setzt sich selbst herab und manchmal ins Unrecht". Die Regel bleibt daher: "Rege Dich nicht auf, ärgere Dich nicht und beschimpfe nicht!" Nur ausnahmsweise muß man "ein hartes Wort gebrauchen und sogar strafen" . So gut der Rat gemeint ist, richtig ist er nur teilweise. Aufbrausen, Auf-den-Tisch-hauen und Schimpfen setzen nicht nur "sich selbst" herab, sondern Richterschaft und Staat. Solche Akte setzen ihren Akteur nicht "manchmal" ins Unrecht, sondern stets: immer widersprechen sie der Ordnung des § 176 GVG. Ein "hartes Wort" gebraucht der Vorsitzende auch nicht "ausnahmsweise" (wenn, wie zu vermuten, der harte Ton gemeint sein sollte); er spricht vielmehr stets sein rechtliches, höfliches Wort, das freilich in der Sache härter sein mag als manches, das in hartem Ton einherkommt. b) Der Mangel an richterlicher Selbstbeherrschung hinterläßt, wo immer er vorkommt, nachhaltige Eindrücke: der Rechtsunterworfene stellt sich seinen Richter beherrscht vor. Daher bedürfen die Richter immer wieder kollegialer Ermahnung; so warnen 1947 und 1961 zwei hohe Richter698 : "Alle seine Leidenschaften, die immer wieder das Zustandekommen eines kühl und besonnen wägenden Urteils ... stören wollen, muß der Richter bezähmen. Ein jähzorniger Richter paßt nicht für das Strafverfahren." Er paßt natürlich für kein Verfahren. Zur gleichen Zeit hebt Eberhard Schmidt699 die Tugenden von "mäze und Bescheidenheit" hervor. "Mäze" ist die auf strenger Selbstzucht beruhende sittliche Mäßigung, die den Richter zur Beherrschung seiner Leidenschaften und menschlichen Schwächen befähigt. e) Das Laster des Verstoßes gegen unsere Tugend ist seit je ein beliebter Gegenstand der Gerichtsberichtserstattung. "Zusammenstöße" nicht nur zwischen Staatsanwalt und Verteidiger, sondern auch zwischen dem Vorsitzenden und den Beteiligten finden ihr Publikum. Eine kritische Presse freilich stellt die Dinge kritisch dar. "Mag man verstehen, wieso Hartmann, S. 438. 697 Lindemann, Deutsche Justiz 1942, 696. 698 Scharn, S. 224 unter Bezug auf (Landgerichtspräsident) Schmidt (Der Richter, in: Die Sammlung 1946, S. 247). 699 E. Schmidt, S. 90 (Anm. 31). 696

X. Selbstbeherrschung

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sich Staatsanwalt und Gerichtsvorsitzender zu zornigen Ausdrücken hinreißen lassen, so bleibt es doch zu tadeln."7°O. Und weiter, nach Art der Besorgnis anständiger Eltern über das Benehmen verdorbener Kinder: "Man fragt sich, woher dieser Ton kommt." Damit ist die Lehrbarkeit der Tugend (A XVI) angesprochen; Richterschaft und Staat können sich darüber Gedanken machen. d) Verletzungen der Tugend der Selbstbeherrschung sind Effekte des Augenblicks, sie flammen auf und verlöschen. Mitunter gelangen sie in die Revision und bleiben der Nachwelt erhalten. So kann man wieder einmal erfahren, wie hohe Richter ihre Rolle als Tugendwächter sehen. In einem vielzitierten Fa1l701 hatte ein Kriminalkommissar in der Sitzung dem Vorsitzenden des Schwurgerichts einen Zettel auf den Richtertisch gelegt, in welchem er aus eigener Sachkenntnis das Versagen der Nerven einer Zeugin erklärte. Der Vorsitzende verbat sich diese Einmischung in seine Verhandlungsführung und forderte den Kommissar auf, den Saal zu verlassen. Er fügte hinzu, er möchte keine Polizeibeamten im Saale sehen, die hier nichts zu suchen hätten. Hierauf ging der Beamte. Der BGH hob das Urteil wegen Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens nach § 338 Ziffer 6 StPO auf. Er sagte, die Maßnahme habe sich, wie die abschließende erregte Äußerung über die Polizei im allgemeinen erkennen lasse, nicht so sehr gegen den Kommissar gerichtet, sondern den Sinn gehabt, allen Angehörigen der Kriminalpolizei den Zutritt zur Verhandlung zu verwehren. "Die Reaktion des Vorsitzenden im Verlauf einer schwierigen, spannungsgeladenen Hauptverhandlung mag menschlich noch so sehr verständlich sein. Jedenfalls hielt er sich mit seiner von Unmut beeinflußten Maßnahme nicht mehr innerhalb der ihm durch § 176 GVG verliehenen Befugnisse ... " Die Aufhebung des Urteils war unrichtig; § 169 Satz 1 GVG schützt die staatsbürgerliche Öffentlichkeit zum Zwecke der Kontrolle der Justiz und ihrer Verbindung mit dem Volke. Die Anwesenheit der Berufsgruppe der Polizeibeamten will die Vorschrift nicht gewährleisten. Wenn freilich der BGH das Urteil aufheben wollte, bedurfte es keiner obiter dicta über Psychologie und Tugenden des Vorsitzenden. Wollte er aber darauf nicht verzichten, so konnten sie anders aussehen und etwa die folgenden Gedanken enthalten. Eine Verhandlung mag "schwierig" sein. Wenn sie "spannungsgeladen" ist, spricht dies nicht für den Vorsitzenden. Die Spannung ist der Wahrheit abträglich, vor allem, wenn dabei dem Vorsitzenden selber 700 F AZ vom 28. 1. 1961 (Mätzchen vor Gericht). 701 NJW 1962, 1260; dazu bereits Abschnitt A XVIII.

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B. Einzelne Tugenden

eine "von Unmut beeinflußte Maßnahme" zur Last fällt. Nun mag es schlimmeren Unmut geben als den jenes Vorsitzenden und es mag auch alles "menschlich noch so sehr verständlich"702 gewesen sein. Der Vorsitzende hat es aber an Selbstbeherrschung und anderen Tugenden (Distanz [B XIII], Klugheit [B VI], Gelassenheit [B XI]) fehlen lassen. Die Selbstbeherrschung zumal, bei gemütlichem Zusammensein kein Kunststück, ist gerade für die Bewältigung einer "spannungsgeladenen Verhandlung" geschaffen. Das hätten die Revisionsrichter, wenn sie schon überflüssiges obiter aussprechen wollten (B VI), ihrem tatrichterlichen Kollegen sagen können. Ob sie das Urteil bestehen ließen oder nicht, spielte für eine (tugendhafte) Gesprächigkeit solcher Art keine Rolle. e) Selbstbeherrschung kann man andererseits (wahrscheinlich) dem Vorsitzenden im bekannten Hamburger Strip-Tease-Fall (B IV) bescheinigen. "... die Oben-ohne-Schau verpuffte. Amtsgerichtsdirektor Dr. Schneider sagte kein einziges Wort, sondern gab dem Wachtmeister nur einen kleinen Wink und Polizeibeamte beförderten die Jung-Stripperinnen aus dem Saal. Einige der singenden APO-Damen verlangten kreischend nach weiblicher Kriminalpolizei und sträubten sich, den Hütern der Ordnung brav zu folgen. Die Widerständlerinnen mußten mit sanfter Gewalt über die Barriere gezogen werden."703 Ein schöner Fall tugendhaften Verhaltens war auch zu verzeichnen, als ein Zeuge den Vorsitzenden eines viel genannten Sensationsprozesses zu Boden riß und auf ihn einschlug, bis er von den übrigen Richtern, den Bundesanwälten und 15 Justizbeamten überwältigt und gefesselt aus dem Saal getragen wurde. Der Vorsitzende äußerte nach dem Angriff mit erregter Stimme: "Ich sage zu diesem Vorfall jetzt nichts." Nach einer Pause setzte er die Verhandlung fort. Die "erregte Stimme" ließ zwar erkennen, daß der Vorsitzende der Gelassenheit (B XI) entbehrte. Seine Haltung war hingegen ein guter Beweis für die richterliche Selbstbeherrschung. 3. Die Selbstbeherrschung wird in einer richterlichen Tugendlehre (A XVI) einen wichtigen Platz einnehmen. Daß der Vorsitzende die Ordnung seiner Sitzung in Selbstbeherrschung aufrechterhält (§ 176 GVG), ist eine grundlegende Forderung der Rechtsordnung an ihre Richter. Der unbeherrschte Richter ist ein schlimmerer Störer als sein randalierender Angeklagter.

702 Dieser schöne Trost unter Kollegen für eine (überflüssige) Kassation mag selber "menschlich noch so sehr verständlich" sein, die Tugenden der Distanz (B XIII) und der Klugheit (B VI) sehen ihn nicht gerne. 703 Hamburger Morgenpost vom 31. 7. 1969.

XI. Gelassenheit

175

XI. Gelassenheit Weniger aktiv als die Selbstbeherrschung, aber der Weisheit ein Stück näher, ist die Tugend der Gelassenheit. Ob die eine oder andere in concreto vorliegt, kann psychologischer Analyse bedürfen. Der Beherrschte kann aussehen, als sei er gelassen, und doch "nur" beherrscht sein. Mag er ergriffen, erschüttert, erzürnt oder angewidert sein, er zeigt es nicht, die innere Disziplin diktiert seine äußere Haltung. Der Gelassene hingegen bedarf keiner "Haltung", das Widrige trifft ihn nicht. Er kann Gleichmut bewahren, da er dem Schicksal keinen Widerstand leisten muß. Die Sicherheit dessen, der sich seiner selbstbeherrschenden und beherrschten Kraft bewußt ist, hat er freilich nicht. Seine überlegenheit ist aber von der Art, daß sie mit der Haltung des Heiligen verglichen wird. Sie paßt darum in die christliche Mystik: wer sich in einer tieferen Schicht verwurzelt fühlt, kann Äußeres gelassen hinnehmen: es berührt ihn nur äußerlich704 • Meister Eckehart hat daher für sie geworben. Die Epikureer hatten sie als Unerschütterlichkeit (ataraxia), einige Stoiker als Leidenschaftslosigkeit (apathia) bezeichnet. Zeno hat sie als die Verwunderungslosigkeit (athaumasia) empfohlen, die Horaz in einer Epistel70s verewigt hat. 1. Als allgemeine Tugend ist die Gelassenheit vergessen. Für die Haltung ruhiger Bereitschaft, das Schicksal, auch das schwere, zu tragen, fehlt es in wirren Zeiten an vielem.

a) Als richterliche Tugend ist sie aber zu fordern. Nach Eberhard Schmidt106 hat die Intention auf Gerechtigkeit als Signum des richterlichen Wirkens zur Voraussetzung, daß der Richter in völliger innerer Gelassenheit, Ausgewogenheit und Selbstverantwortung die Anwendung des Rechts vollziehen kann. In der Tat ist ein Vorsitzender, dem die Gelassenheit gegeben ist, ein Richter von hohen Gnaden. Man kann ihn mit dem guten Arzt vergleichen, den die Fakten seiner medizinischen Urteile nicht erzürnen, nicht einmal dann, wenn der Patient selber seiner Hilfe Widerstand leistet. Unberührt und ohne inneren Kampf verrichtet auch der mit Gelassenheit begabte Vorsitzende sein Amt. Energien, die andere der Selbstbeherrschung zuwenden, verbraucht er nicht; er kann sie anderen Tugenden, zum Beispiel der Besonnenheit (B VII), der Gerechtigkeit (B 11), des Maßes (B XIV), widmen. Er ist der wirklich überlegene und setzt sich als solcher durch; auf das ihm mit704 70S 706

Bollnow, Wesen und Wandel, S. 120 ff. Horaz, Episteln I 6 (Nil admirari).

E. Schmidt, S. 17.

176

B. Einzelne Tugenden

unter empfohlene "Durchsetzungsvermögen" (B XV) kann er verzichten. Aus dieser "rationalen" Sicht könnten vielleicht manche Richter unserer Zeit die Empfehlung einer Tugend, die man mit der Haltung des Heiligen verglichen hat, nicht als Zumutung empfinden. b) Bleibt dem gelassenen Vorsitzenden der Zorn erspart, den sein (nur) beherrschter Kollege (erst noch) beherrschen muß, dann ist er andererseits auch des sog. heiligen Zornes enthoben, den manche Bürger angesichts der ungewöhnlichen Delinquenz unserer Zeit den Richtern wünschen mögen. Er hat gelernt, ihn in die Tugenden der Gerechtigkeit (B I1), der Fairness (B 111), der Distanz (B XIII) usw. umzusetzen. Die mögliche Härte der Gerechtigkeit, unter dem Regime der Tugend des Maßes (B XIV) erwogen, kann wieder an den Arzt erinnern, der, wo es not tut, auch hart durchgreifen muß. 2. Unsere Tugend muß sich davor hüten, zur falschen Gelassenheit zu werden, dem Laster des Unschlüssigen, Faulen, Feigen, Schwachen. Die rechte und die falsche Gelassenheit muß man überhaupt gut auseinanderhalten. In der Debatte vom 15. 6. 1978 des Deutschen Bundestages sagte ein Abgeordneter der Opposition, er bewundere die Gelassenheit, mit welcher der Bundeskanzler die innere Sicherheit behandle. Der Bundeskanzler antwortete, er wünschte, er besäße nicht nur bezüglich der inneren Sicherheit Voraussicht, Energie, Zielstrebigkeit und auch Gelassenheit. "Denn ich halte sie für eine Tugend." Natürlich hatte die Opposition die falsche Gelassenheit gemeint, der Bundeskanzler aber die richtige: versteckter Dissens im Tugendreich! Ein Vorsitzender mit falscher Gelassenheit erinnert daran, daß die Skeptiker seit Demokrit die Apathie an die Enthaltsamkeit im Urteilen geknüpft haben. Des Urteilens aber darf sich der Richter nicht enthalten, zU ihm ist er berufen, es ist sein Handeln. Das gilt auch für die Sitzungspolizei. Falsche Gelassenheit läßt sich daher beobachten, wenn der Vorsitzende contra legern vergißt, daß er eine Ordnung aufrechterhalten muß. Dann läßt er die Ordnung zu Boden drücken, an statt sie "aufrecht" zu erhalten. Dabei mag er Gelassenheit zeigen, aber es ist nicht die der Tugend. Hierher gehören alle Fälle, in denen der Vorsitzende vor dem Chaos das Haupt neigt, die Segel streicht und den Dingen ihren Lauf läßt, ohne sich der Staatstugend (B I) und der Tugend der Ordnung (B IV) zU erinnern. Willms (A I) hat über diese falsche Gelassenheit in satirischer Form berichtet. Manchmal kann die richtige Gelassenheit in die falsche übergehen. Der Antrag eines Angeklagten wird abgelehnt, worauf dieser zum Vor-

XI. Gelassenheit

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sitzenden sagt707 : "Es gibt keine andere Möglichkeit, sich mit Ihnen in Beziehung zu setzen, als an einer Ecke mit einem Gewehr auf Sie zu warten." Hierauf "fragt der Richter nur: Wollen Sie einen Antrag stellen?" Was der Richter getan hat, zeugt zwar zunächst von Gelassenheit (oder Selbstbeherrschung [B Xl). Er10B mußte aber ohne den Angeklagten weiter verhandeln. Statt dessen "verlassen Vertrauens anwälte und Angeklagte den Saal und erklären, erst eine Woche später wiederzukommen". Die Staatstugend (B I) stand ihm nicht zur Seite, die der Ordnung (B IV) auch nicht, seine Gelassenheit war die falsche. 3. Die Tugend der Gelassenheit ist niemandem verpflichtet; das macht ihre Nähe zur Weisheit (B V) aus. Wo sie sich in Dienst nehmen läßt, ist sie falsche Gelassenheit. Eberhard Schmidt709 hat Fälle beobachtet, in denen das Gericht allen Anträgen und Fragen der Staatsanwaltschaft "mit entgegenkommender Gelassenheit" begegnete, während die Anliegen des Verteidigers sichtbare Ungeduld auslösten und offensichtlich als lästige Störungen des gerichtlichen Programms aufgenommen wurden. Hier ist ein altes Laster, eine Verletzung der Tugend der Verfahrensgerechtigkeit (B II), beschrieben. Die Gelassenheit, wenn man das Verhalten überhaupt so nennen will, ist eine falsche. 4. Wo die Gelassenheit des Vorsitzenden mangelt, schleichen sich ausgesprochen unrichterliche Eigenschaften ein, zum Beispiel das Mißtrauen, das zur "Spannungsgeladenheit" führen kann. "Das Mißtrauen scheint sich bei jedem Antrag der Verteidigung zu fragen: Welche böse Absicht steht dahinter, wie können wir das durchkreuzen?"710 Der gelassene Richter hingegen weiß, daß "Anträge" das Verfahren sind. Wenn ihn die Gelassenheit nicht sogar daran hinderte, ließe sich sagen: er freut sich über jeden Antrag. Mit sog. mißbräuchlichen Anträgen, ebenso ständigen Wiederholungen, verfährt er gelassen wie der Arzt, dem die gleichen Symptome unentwegt gegenübertreten. Soweit sie abgelehnt werden müssen, geschieht es, unter der Herrschaft der Klugheit (B VI), ohne jedes überflüssige Wort. Wenn sie sich bis zum Notstand steigern, ergreift der gelassene Vorsitzende Notstandsmaßnahmen (B XVII); er tut es nicht nur sine ira, sondern auch ohne Revisionsangst (B VIII). Das sog. Platzen eines Verfahrens bringt seine Tugend nicht aus dem Takt; ein Prozeß ohne aufrechterhaltene Ordnung muß schnell Stern vom 20. 5. 1976, S. 74. Bzw. das Gericht, §§ 177 Satz 2, 178 II GVG, 231 b StPO; daß alle Voraussetzungen dieser Vorschriften erfüllt sind, ist bei angedrohter Ermordung des Vorsitzenden selbstverständlich. 709 E. Schmidt, S. 21. 710 J. Busche in FAZ vom 7. 7. 1975 (Ein Gericht setzt sich Zweifeln aus). 707 708

12 Scheuerle

B. Einzelne Tugenden

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beendet werden, einen Schrecken ohne Ende gibt es nach § 176 GVG nicht. 5. Die Gelassenheit des Vorsitzenden pflegt in der Öffentlichkeit besonders gelobt zu werden, ein Zeichen für ihren Seltenheitswert. Im oft erwähnten Hamburger Strip-Tease71! wurde dem Richter bescheinigt: "Er ließ sich nicht beeindrucken. Er sagte kein einziges Wort, sondern gab einem Justizwachtmeister nur einen Wink." Darauf wurden die Frauen aus dem Saal entfernt, nicht ohne sich "unzüchtig" berührt zu fühlen712 • Von einer auch sonst sehr gelobten Kartell-Richterin heißt es ausdrücklich713 : "Auch wenn sie, ausnahmsweise, wie im Ärzte-Prozeß, mit Befangenheitsanträgen konfrontiert wird, bleibt sie gelassen ... " Angesichts solcher Bekundungen kann man über die bescheidenen Ansprüche nachdenken, die wir an die Gelassenheit stellen: schon die (in jenem Prozeß nicht mißbräuchlichen) Befangenheitsanträge bedürfen unserer Tugend, deren Dienst des Lobes würdig ist. 6. So ergibt sich, daß der Vorsitzende die Ordnung des § 176 GVG nicht nur aufrechterhält, sondern gelassen aufrechterhält. Vor der falschen Gelassenheit muß er sich hüten. 7. Mit der Lehrbarkeit unserer Tugend steht es schlecht. Mag die Selbstbeherrschung als Erziehungsprodukt eine Tradition haben, die Gelassenheit ist eher ein Naturprodukt. Richter, die sich nach ihr sehnen sollten, müssen hoffen, sie sei ihnen angeboren, ihr physei paragenomenon. Dann bleibt ihnen immer noch die Mühe, sie (aus der Tiefe des Apriorischen) heraufzuholen (analambanein).

XII. Bescheidenheit Dem Richter, in sichtbarer Form (A 11) dem Vorsitzenden des § 176 GVG, ist die Fülle der Macht des Rechtes gegeben, er befindet über Haben und Nichthaben, Dürfen und Sollen, Glück und Unglück, Leben und Sterben der Rechtsunterworfenen. Als Gegengewicht solcher Fülle bedarf er der Tugend der Bescheidenheit. Er muß sich das Wort von Eberhard Schmidt1 14 merken: "Die Gerichte sind nicht um der Richter, 711

BIV.

Süddeutsche Zeitung vom 4. 1. 1969 (Gert Kistenmacher); dazu Abschnitt

712 Der Verteidiger erstattete gegen den Vorsitzenden Strafanzeige wegen "Nötigung zur Unzucht in mittelbarer Täterschaft"; Süddeutsche Zeitung vom

4.1. 1969. 713 714

FAZ vom 11. 12. 1976. E. Schmidt, S. 92.

XII. Bescheidenheit

179

sondern um des Rechtes willen mit solcher Macht ausgestattet." Das Recht (im Sinne dieses Wortes) wirkt durch sich selber. Daher kann der Richter "auf jede Art von Machtdemonstration verzichten"715 und statt dessen Bescheidenheit üben. Wer anders handelt, demonstriert mit der Macht seine eigene Person und verfehlt unsere Tugend, vielleicht716 auch das Recht. 1. Die Bescheidenheit ist die Tugend des aufschauenden Blickes7l7 • Sie übt ihr Ethos nicht nur gegenüber dem überlegenen, sondern gegen jedermann. Auch vor dem Geringeren, etwa dem randalierenden Angeklagten, erhebt der Bescheidene sein Haupt nicht höher, als er es überhaupt zu tun sich gestattet. Denn er mißt sich nicht an ihm, wohl aber am sittlich Besseren. Was ist es, das über dem bescheidenen Vorsitzenden steht, wozu kann er aufschauen? Zu den Menschen schaut er auf, denn er schuldet ihnen Recht und Gerechtigkeit. Zum Recht schaut er auf, denn er ist sein Diener. Zur Ordnung (des § 176 GVG) schaut er auf, denn sie muß er "aufrechterhalten". Zu den richterlichen Tugenden schaut er auf, denn sie leiten ihn dabei. Blickt er zu den Tugenden empor, dann auch zur Tugend der Bescheidenheit: sie ist die sokratische Urtugend des Wissens um das eigene Nichtwissen, daher "der Weisheit wahrer Anfang". So betrachtet, rechtfertigt die Bescheidenheit ihren deutschen Namen, der die Erkenntnis von Gut und Böse ausdrückt7l8 • Wer bedürfte ihrer mehr als der Richter, erst recht der Vorsitzende? Sie ist eine richterliche Kardinaltugend; freilich eine, deren Rang kaum erkannt ist. 2. Wer die Bescheidenheit empfiehlt, nennt sie gelegentlich in einem Atem mit der Demut. Friesenhahn719 zitiert beifällig einen anderen hohen Richter, der von der Bescheidenheit und Demut gesprochen hat, die den Richter beherrschen müssen. Schorn720 rechnet Bescheidenheit und Demut zu den Eigenschaften, die das Leitbild des Richters formen. Die Zusammenschau ist berechtigt. Wie die Bescheidenheit nach außen wirkt, so die Demut nach innen. Sie mißt das eigene Sein und Handeln an hohen Idealen und erkennt dabei ihr "unendliches ZurückbleiHennke, Schleswig-Holsteinische Anzeigen 1968, 277. Das Recht des § 176 GVG verfehlt er mit Sicherheit. 717 Hartmann, S. 475 f. 718 Kluge, Etymologisches Wörterbuch, 20. Aufl., 1967; Luther hat Bescheidenheit für Erkenntnis (gnosis) gesetzt. Freidanks Bescheidenheit meint die ethische Erkenntnis. 719 Friesenhahn, DRiZ 1969, 174. 720 Schorn, S. 1. 715

716

12'

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B. Einzelne Tugenden

ben"721. Darum ist sie, mit Geulincx, nicht nur inspectio, sondern auch despectio sui. Nicht vor den Menschen freilich übt der Demütige die Haltung seiner Tugend, das wäre die falsche Demut, der sklavische Sinn. Der demütige Richter ist klein vor dem Recht und seinen Tugenden; nicht klein, wohl aber bescheiden, ist er vor den Menschen, den "Beteiligten" (§ 174 GVG) und "bei der Verhandlung nicht beteiligten Personen" (§ 177 GVG), deren "Ordnung in der Sitzung" (§ 176 GVG) er in Bescheidenheit aufrechterhält. a) Bescheidenheit und rechte Demut widersprechen dem alten Desiderat des Richterkönigs nicht. Der tugendhaft Bescheidene und Demütige ist kein serviler Knecht, der herrschen will, aber sich doch verbeugen muß und durch viele Verbeugungen unterwürfig wird. Schon die Demut, noch mehr die Bescheidenheit ist "eine Tugend der geborenen Herren und besteht im Nichtherankommenlassen der ihnen selbstverständlichen irdischen Werte, der Ehren, des Ruhmes, der Lobpreisungen ihrer Diener, an das Zentrum der Seele" (Scheler)722. Das müssen sich die Richter zu Herzen nehmen, die sich zum Beispiel den Mächten der Publicity verbinden, um deren Früchte zu genießen723 . b) Auch dem Ruf der Staatskrise nach Richterpersönlichkeiten tritt die Bescheidenheit nicht entgegen. Persönlichkeiten sind nichts anderes als Träger von Tugenden (B XV), zu denen auch die Bescheidenheit gehört. Die Staatskrise wäre freilich besser beraten, wenn sie, anstatt nach Richterpersönlichkeiten, nach Tugenden riefe; das wäre näherliegend und daher "logisch". c) Werden die Ideale von Richterkönig und Richterpersönlichkeit von unserer Tugend bejaht, so könnte es sich mit der Vorstellung vom sog. starken Mann anders verhalten. Sie hat, so wie sie meist verstanden wird, einen schlechten Beigeschmack. Recht verstanden, ist die Stärke jenes starken Mannes die Stärke seiner Tugenden (B XV), zu denen auch die Bescheidenheit gehört. Vielleicht ist sie ihre Dominante (A VI), wenn sie, wie keine, die Versuchung des falsch verstandenen starken Mannes bekämpft. d) Wie Bescheidenheit und Demut dem Richterkönig und der Richterpersönlichkeit nichts zuleide tun, so auch nicht dem (rechten) Stolz des Richters. Der Richter darf stolz sein, er spricht für Volk und Staat, beiden spricht er das Recht. Anselm von Feuerbach hat in seiner Rede724, Hartmann, S. 476. 722 Scheler, S. 25. 723 Dazu unten in diesem Abschnitt. 724 Friesenhahn, DRiZ 1969, 169 hat sie in Erinnerung gerufen. 721

XII. Bescheidenheit

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mit der er das Amt des Präsidenten des Appellationsgerichts in Ansbach antrat, von dem edlen, durch den Gedanken an die Größe und Heiligkeit des Berufs emporgetragenen Selbstbewußtsein in dem Gemüt des Richters gesprochen. Was im Jahre 1817 galt, gilt noch heute und muß in jedem (gesunden) Staat gelten. Das Selbstbewußtsein im Sinne Feuerbachs, der Stolz, ziert aber nur den bescheidenen Richter. Stolz ohne Bescheidenheit ist, ebenso wie Stolz ohne Demut "immer auf der Kippe nach Hochmut und Eitelkeit zu" 725, Bescheidenheit und Demut ohne Stolz hingegen neigen zu Selbsterniedrigung, Würdelosigkeit oder Heuchelei. e) Die Tugend der Bescheidenheit ist der des Maßes (B XIV) verwandt, mit ihr mitunter in Tugendkonkurrenz (A XIII) stehend. Darum heißt sie auch modestia oder moderati0726 . In einer Zeit der Maßlosigkeit und des Erfolgsdenkens ist sie wenig geschätzt. Der Sprachgebrauch727 zeigt es: ein bescheidenes Einkommen reicht kaum hin, bescheidene Kenntnisse des Kandidaten sind nicht viel wert. Der zeitgemäße Mensch, der der verstaubten Moral nicht auf den Leim geht, zitiert den alten Satz: Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr. In manchen Bezirken der TugendwirkZichkeit mag er stimmen, als Prinzip (A IX) für den Richter ist seine zweite Satzhälfte falsch. Stellt man sie richtig, dann wird, ex toto, auch die erste Satzhälfte richtig: sie verliert ihre Ironie und wird "ernst". f) Der Vorsitzende wäre falsch beraten, wenn er sich von der landläufigen Geringschätzung der Bescheidenheit beirren ließe. Die Klugheit (B VI), auf welche die Bescheidenheit fundiert (A XIII) ist, belehrt ihn anders. Der bescheidene Vorsitzende spart Kräfte, die der überhebliche nutzlos aufwendet. Keine Eitelkeit zwingt ihn, der mühsamen Aufrechterhaltung eines "Prinzips"728 Energien zu widmen. Was er als falsch erkennt, nimmt er in Bescheidenheit zurück. Ein (falsches) "Prestige" hat er nicht zu verlieren, auch kein (falsches) "Image". Damit verläßt ihn die Sicherheit selten; wenn je, gewinnt er sie schnell zurück: die natürliche Sicherheit des (problemlos) neuen Anfangs. Auf diese Weise hält er keine Irrtümer aufrecht, denen er als irrender Mensch verfallen darf, wohl aber die Ordnung des § 176 GVG. Sie ist bei ihm in guten Händen. Es ist daher verständlich, daß er, der Bescheidene, "den An725 Hartmann, S. 477. 726 Im Französischen heißt sie moderation, auch discretion, weil sie das rechte Maß "unterscheidet". m Seine Wurzeln gehen freilich in das klassische Latein zurück: modestia hiemis. 728 Das ist hier nicht im Sinne von Abschnitt A IX gemeint.

B. Einzelne Tugenden

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maßenden zur Verzweiflung bringt"729. Ein Vorsitzender, den die Tugend der Klugheit (B VI) bewegt, wird darum auch die der Bescheidenheit, vielleicht sogar die der Demut des geborenen Herrn (Scheler) zu der seinigen machen. Ein Provokateur, wie er die Staatskrise kennzeichnet, kann sich keinen solchen Richter wünschen. g) Die Klugheitsbasis der Bescheidenheit erkennt man an den Fällen, in denen der Unbescheidene zurückstecken muß und damit an Ansehen verliert. Von einem Vorsitzenden heißt es730 , "er sei im Verlauf des Prozesses immer höflicher und kleinlauter geworden", auch habe er "zusehends an Selbstsicherheit verloren und schien in erster Linie bestrebt zu sein, dem offenbar mit allen Wassern der Strafprozeßordnung gewaschenen Anwalt keine Blöße zu bieten". Hier kommt das Kleinlautwerden und der Verlust an Selbstsicherheit vom vorgängigen Gegenteil dieser Eigenschaften: sie könnten vom Mangel an Bescheidenheit herrühren. 3. Wie sieht die Tugendwirklichkeit der Bescheidenheit des Vorsitzenden aus? Welche Beispiele lassen sich beisteuern, um dem Vorsitzenden die Wirkung unserer Tugend zu zeigen, ihm ihre Übung zur Auslegung des § 176 GVG zu empfehlen? Da Tugenden anhand von Lastern verdeutlicht (A XI) werden: welche Laster rufen die Tugend der Bescheidenheit auf den Plan?

a) Es gibt ein Laster des unbescheidenen Auftretens des Vorsitzenden, des Auftretens in einem sehr allgemeinen Sinne. Ein hoher Richter731 fühlt sich verpflichtet, seine Kollegen "dringend zu warnen; denn Selbstsucht, Geltungsbedürfnis und Selbstgefälligkeit beeinträchtigen die Unbefangenheit des Richters und hemmen die Wahrheitsforschung; das Gericht darf nicht zur Bühne werden". Hier ist in einem Satz vieles gesagt, was den Tugendlehrer interessiert. Zunächst sind Selbstsucht, Geltungsbedürfnis und Selbstgefälligkeit sicherlich Laster, die unsere Tugend verneinen. Sodann ist etwas erkannt, was man als den rationalen Aspekt (B VI) unserer Tugend bezeichnen könnte: die genannten Laster hemmen die Wahrheitsforschung. Die Ordnung des § 176 GVG aber ist eine Wahrheits-Ordnung (B IV): alle Tugenden, die sie fordert, stehen letztlich im Dienste der Wahrheit. Der selbstsüchtige, selbstgefällige und geltungsbedürftige Vorsitzende stört diese Ordnung: vor lauter Selbstdarstellung kommt die Wahrheit zu kurz. Damit verstößt er automatisch auch gegen seine eigene "Würde" (B IV) und die des Gerichts: wer als Vorsitzender seine 729 Hartmann, S. 476. 730 F AZ vom 23. 4. 1976. 731

Schorn, S. 205.

XII. Bescheidenheit

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Person in der beschriebenen Weise hervorkehrt, ist würdelos. Auch der Gedanke an die Bühne, die jenem hohen Richter in den Sinn kam, ist lehrreich. Er meint weniger den Schauprozeß, als den Schauspielerprozeß, das Gerichtstheater, in welchem der Vorsitzende als Akteur seine "Rolle"732 spielt. Im Theater wird keine Wahrheit erforscht, sie steht schon fest, wenn das Stück beginnt. Daher hält ein so beschriebener Vorsitzender nicht nur keine (Wahrheits-) Ordnung (§ 176 GVG) aufrecht, er stört sie selber. Die Tugend der Bescheidenheit tadelt ihn. b) Die Bescheidenheit diktiert nicht nur das allgemeine Auftreten des Vorsitzenden, sondern auch, spezieller, den Ton der Verhandlung, die Art also, wie er mit den Staatsbürgern umgeht. Sie tritt damit in Konkurrenz (A XIII) zu der Tugend des Umgangs (B IX), die ihrerseits nicht nur Sünden gegen die Bescheidenheit verurteilt, und anderen Tugenden. Die Bescheidenheit ist betroffen, wenn es um die Sprechweise der sog. Halbgötter in Schwarz733 geht. Unbescheiden ist zum Beispiel der burschikose Ton, wie er sich bei Exkursen in die Gebiete von Witz und Ironie findet, die gesonderter Betrachtung (B XVI) würdig sind. Die Bescheidenheit kritisiert aber auch den apodiktischen Stil. Wenn mit scharfer Betonung der Satz fällt: "Ich weise darauf hin, daß hier in erster und letzter Instanz entschieden wird!"734, ist zwar eine prozeßrechtliche Wahrheit ausgesprochen. Der Ton macht freilich die Musik, sie könnte bescheidener aufspielen. Verletzt wird unsere Tugend auch, wenn der Vorsitzende Vergleiche zwischen seiner eigenen Person und der des Angeklagten anstellt, den er für den Niedrigeren hält. Dann kann es zu folgenden Redensarten735 kommen: "Als ich so alt war wie Sie, hätte ich ..."; "Wenn ich soviel Geld für Zigaretten hätte ..."; "Meine Ehre würde geboten haben ...". Hier erhebt der Vorsitzende sein Haupt über den (nach seiner Meinung) Schlechteren. Der Bescheidene vergleicht sich statt dessen mit dem (nach seiner Meinung) Besseren. Als Vorsitzender kann man sich auch ohne (ausgesprochenen) Vergleich herausstreichen und damit die Bescheidenheit verachten. Wenn man aus richterlichem Munde hört: "Der Vorsitzende muß zur Aufklärung von Kapitalverbrechen mit der nötigen Energie und entsprechendem Ernst beitragen"736, dann erfährt man zwar wiederum Richtiges, 732 Das Scheinargument der "Rolle", mit dem manche Schreiber die "Gesellschaft" zu demaskieren vorgeben, ist hier am Platze. 733 Seit OS-Aktuell vom 11. 8. 1974 gebräuchlich. 734 Hennke, Schleswig-Holsteinische Anzeigen 1968, 278. 735 Lindemann, Deutsche Justiz 1942, 697. 736 Mauz, Die Gerechten, S. 268.

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B. Einzelne Tugenden

sogar Selbstverständliches, allerdings nur eine halbe Wahrheit737 ; das Gesagte gilt (ganz selbstverständlich) für alle Verbrechen. Indem er es aber sagt und auf sich selber bezieht, streicht er seine Person heraus und hätte besser geschwiegen. Es gibt auch so etwas wie eine rechtsanwendende Unbescheidenheit, die Überzeugung von der eigenen juristischen Unfehlbarkeit. Dahs738 lobt Schorn739, weil er "den Richtern schonungslos vor Augen geführt hat", daß derjenige "der schlechteste Vorsitzende ist, der glaubt, den Prozeßstoff allein tatbestandlich feststellen zu können und unfehlbar zu sein ...", sich damit in die Rolle einer Partei versetzt und nur seiner Eigenliebe frönt. Daher "vergibt sich der Vorsitzende durchaus nichts, wenn er bei Zweifeln über seine Sachleitungsanordnung die Entscheidung des Gerichts (§ 242 StPO) einholt ...". Das gebietet ihm auch die Sitzungsklugheit (B VI). Besonders deutlich tritt das geschilderte Laster auf, wenn es von einem Vorsitzenden heißt: "Zwar würde ein Beschluß des Gerichts nicht anders lauten als die Entscheidung des Vorsitzenden. Doch indem er allein entscheidet, macht er deutlich, wozu er, anders als andere, fähig iSt."74O Wiederum gibt auch die Tugend der Klugheit (B VI) dem Vorsitzenden den Rat, die Bescheidenheit nicht zu verachten. Bei einschneidenden oder problematischen Anordnungen (§ 177 Satz 1 GVG) ist er klug beraten, wenn er sein Gericht befragt, bevor er sie trifft741 • Sonst riskiert er, daß sein Kollegium die Sanktion verweigert (§ 177 Satz 2 GVG), wenn die Adressaten den Anordnungen nicht gehorchen. Seine Ordnungsgewalt (§ 176 GVG) kann damit in einer Weise geschädigt werden, die nicht gutzumachen ist. Daß es sich dabei nicht um eine Tugenderkenntnis handelt, die nur für den vorsitzenden Richter, sondern für alle staatlichen (oder sonstigen) Organe (A XVII) gilt, kann man am Rande bemerken: die (aristotelische) Tugend der Wohlberatenheit (eubouleia) empfiehlt den guten Rat vor dem Handeln, nicht hinterher. Diktatoren pflegen daran zugrunde zu gehen, daß sie, aus Mangel an Bescheidenheit, darauf verzichten zu können glauben. Wohlberatenheit ist auf Bescheidenheit fundiert (A XIII). Das Kollegialgericht muß, weil auf Beratung (§ 194 GVG) gegründet, beide Tugenden üben. m Zu der Erkenntnis, daß die halbe Wahrheit falscher sein kann als gar keine, vgl. Scheuerle, AcP 172 (1972), 448 (bei der Erörterung der Frage nach der Wahrheit von sog. Formalismusargumenten). 738 Dahs, AnwBI 1959, 186. 739 Schorn, S. 200. 740 Spiegel vom 31. 1. 1977, S. 65. 741 Nach §§ 176, 177 Satz 1 GVG trifft der Vorsitzende die Anordnungen, mit denen er die Ordnung aufrechterhält. Nach § 177 Satz 2 GVG beschließt über Maßnahmen bei Nichtbefolgen in bestimmten Fällen das Gericht.

XII. Bescheidenheit

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Es ist nicht überflüssig, das hervorzuheben. Ein hoher Richter142 verurteilt "den rein egoistisch bestimmten Ehrgeiz des Richters", mit seiner Meinung zu "siegen". Das gilt auch für den Vorsitzenden in der Beratung (B VIII) oder dort, wo er sie umgehen und allein entscheiden will. e) Die aufgeführten Aspekte unserer Tugend lassen an den Richter denken, der böse wird, wenn er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt wird. Es gibt Vorsitzende, die sich für grundsätzlich unbefangen halten. Das kommt vom Laster der Eitelkeit. Jeden von ihnen mahnt ein hoher Richter143 : "Er darf sich nicht verletzt fühlen, wenn er in Verbindung mit einer Beanstandung wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt wird; ein überempfindlicher Vorsitzender ist fehl am Platze; er muß über solchen Antrag jede Erregung unterdrücken." Dazu ist manches zu sagen. Wer sich angesichts eines "solchen Antrags" verletzt fühlt, entbehrt schon der Tugend der Rechtsklugheit (B VI). Nach geltendem Recht kommt es allein auf die Besorgnis der Befangenheit an. Sie ist zwar justitiabel, aber doch ein fremdpsychisches Faktum, das man zunächst dem Antragsteller überlassen kann: der eine ist besorgt, der andere nicht. Ein Vorsitzender, der sich durch diese (richtige oder falsche, ebendarum justitiable) Besorgnis "verletzt fühlt", verdankt die Verletzung dem Laster der Eitelkeit, dem Mangel an Bescheidenheit. Etwas überspitzt kann man sagen: damit erweist er sich als wirklich befangen, die Besorgnis war zutreffend. Nun kann ihm zwar die Tugend der Selbstbeherrschung (B X) helfen, die "Erregung zu unterdrücken", also die Eitelkeit zu bewältigen; die (über der Selbstbeherrschung stehende) Tugend der Gelassenheit (B XI) hatte ihm freilich die Unterdrückung erspart. Bedarf er nun aber dieser "Unterdrückung", dann macht sie ihn noch befangener: wer solche Energien verbraucht, ihren Aufwand wohl gar unbewußt zeigt, ist in der Tat wiederum "Besorgnissen" ausgesetzt. Die Dramatik der ganzen "Erregung" und ihrer "Unterdrückung" hätte die Gegenwart der Tugend der Bescheidenheit vermeiden können. Weniger schwer zu lernen (A XI) als die konkurrierenden (A XIII) Tugenden der Selbstbeherrschung (B X) und der Gelassenheit (B XI), erweist sie sich als unverzichtbares Element der Ordnung der Sitzung des § 176 GVG: der "überempfindliche" Vorsitzende, der sich aus Eitelkeit "verletzt fühlt", "erregt" wird und die Erregung "unterdrücken" muß, stört seine eigene Sitzung und ist mit ziemlicher Sicherheit befangen. d) Eine mächtige Herausforderung der Bescheidenheit und anderer Tugenden ist die wegen ihrer vielfachen Tugendbezüge mehrfach ge742 743

Hennke, Schleswig-Halsteinische Anzeigen 1968, 277. Scharn, S. 200.

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B. Einzelne Tugenden

nannte Zeitkrankheit der Publicity. Seitdem sie die Justiz ergriffen hat, werden hier das Laster der Eitelkeit und andere Untugenden gezüchtet. Alle Organe der Justiz mögen sich gesagt sein lassen, was ein Blatt744 einem hohen Funktionär zu bedenken gab: "Zum Volke sprechen, will gelernt sein. Wer darin ungeübt ist, dem kann es ergehen, wie dem Generalstaatsanwalt ... " Dieser hatte über die "Zulieferung eines Flüchtlings" an die DDR gegensätzliche Erklärungen abgegeben. Daher: "Dem redefreudigen ,General' sei ein bißchen Zurückhaltung empfohlen, was das Fernsehen angeht." Das gilt natürlich für alle sog. Medien: "Auftreten" sollten Richter dort nicht. Wenn sie sich an ihre Tugenden halten, haben sie von ihnen andererseits auch nichts zu befürchten. Die Tugendwirklichkeit sieht auch sonst ungünstig aus. Hart, aber treffend, ist darum das Urteil von Dahs745 : "Das Schielen nach der Presse ist die schlimmste richterliche Sünde nach der Bestechlichkeit ... Dabei ist nach meiner Meinung das Lob, was den Richtern gespendet wird, noch viel schlimmer als der Tadel. Das Lob dringt nach oben, die Gloriole wird für alle sichtbar ... Das verhilft natürlich zu weltweiter Popularität. Ob es aber auch der Gerechtigkeit dient, ist eine andere Frage." Der Unfug beginnt mit der Vorstellung der Person des Vorsitzenden, der damit, nach dem Vorbild von Funktionären anderen Typs, zu einer Person der Zeitgeschichte gemacht wird746 • Das beschriebene Verfahren ist in mehrfacher Hinsicht (B VIII) tugenderheblich. Der Tugend der Bescheidenheit mißfällt es, weil es den Richter für etwas anderes nimmt, als er nach Recht und Tugend ist: er ist weder (irgend-) ein Jahrgang noch (irgend-) ein Schicksalsbetroffener, sondern einer von vielen Dienern des Rechts, der nach der Geschäftsverteilung des § 21 e I Satz 2 GVG im voraus bestimmt wurde, aber nicht für diesen bestimmten Fall. Die "richtersoziologische" Erwähnung des "background" kann ihn dazu verleiten, sich weniger als Richter denn als der gekennzeichnete Typus zu fühlen747 • Wenn sich das Bedürfnis nach Publizität eingespielt hat, gibt es kein Halten mehr. Dann kann ein Richter schon vor Beginn der Sitzung die Presse empfangen748 , sich in einer Funksendung telefonisch über seinen Prozeß äußern749 , in der Presse dazu Stellung nehmen749 oder eine EntFAZ vom 18. 6. 1976 (Redseliger "General"). Dahs, AnwBl1959, 183. 746 F AZ vom 19. 6. 1976; dazu oben Abschnitt B VIII. 747 Siehe dazu den Fall der "Schlagfertigkeit" eines "kriegsgefangenen" Vorsitzenden in B XVI. 748 Mauz, Die Gerechten, S.269. 749 Mainzer Allgemeine Zeitung vom 6. 8. 1975. 744 745

XII. Bescheidenheit

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scheidung, an der er mitwirkte, öffentlich kommentieren75O. Stets gilt: "Das Medium des Richters ist das Urteil, nicht das öffentliche Palaver."751 Die Bescheidenheit gebietet die Zurückhaltung der Person hinter der Sache, da jeder (zuständige) Richter soviel wert ist wie sein (zuständiger) Kollege. Wenn gar ein Vorsitzender in einer Pressekonferenz seine Urteilsgründe "erläutert", geriert er sich als Exponent der vollziehenden Gewalt, als politischer Funktionär, der gewählt oder wiedergewählt werden will. Die Stellung der Betroffenen, zum Beispiel des verurteilten Angeklagten, des abgewiesenen Klägers, verkennt er: ihre "Betroffenheit" wird im Urteil (zum Beispiel nach § 268 II StPO) dargelegt. Wenn sie vor eine Weltöffentlichkeit gezerrt wird, sind die Betroffenen in einem mehrfachen Sinne "betroffen". § 169 Satz 2 GVG beschreibt ein hohes Rechtsgut von allgemeiner Bedeutung. Zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen des Bundesverwaltungsgerichts hat der Bundesjustizminister sich mit dem alten Vorwurf befaßt, die rechtsprechende Gewalt überschreite die ihr gezogenen Grenzen752 • In richtiger Einschätzung der Tugend der Bescheidenheit, und vielleicht konkurrierender (A XIII) Tugenden753 , ließ er sich von der Kritik nicht beeindrucken; er bezeichnete sie als eine der Ungereimtheiten, die auch das Bundesverwaltungsgericht zu ertragen habe, "nach guter Richtertradition754 zumeist schweigend". Das war ein schöner ministerieller Tugendappell, zugleich eine Ermahnung in genereller Form, aber im Geiste des § 26 II DRiG. Selten ereignet es sich in der Krise, daß Minister die Tugend loben! e) Wer sich in Bescheidenheit abseits der sog. Medien hält, braucht sich auch nicht zu ihrem Zensor aufschwingen. Nach einem Pressebericht155 hat ein Vorsitzender in einer "Vorbemerkung" zu den Urteilsgründen mehreren Presseorganen vorgeworfen, der Justiz während des Prozesses ein "In-die-Knie-gehen vor König Fußball" bescheinigt zu haben. Auch die Bekundungen eines Fußballvereinsvorstandes zum Prozeßverlauf gegenüber der Presse "ließ er nicht ungerügt". Mehrere Tugenden rebellieren. Die Bescheidenheit riet ihm, zu bleiben, was er sein soll: Richter über Geschehenes. Die Distanz (B XIII) schrieb ihm den nötigen Abstand vom Fußball geschäft vor. Die Sit750 751 752 753 754 755

FAZ vom 2. 8. 1976. FAZ vom 10. 9. 1976. FAZ vom 9. 9. 1978. Der Minister nannte leider keine beim Namen. Das ist der tugendliche topos, der zugleich das alte Herkommen preist. Mainzer Allgemeine Zeitung vom 5. 2. 1976.

188

B. Einzelne Tugenden

zungsklugheit (B VI) wandte sich zunächst gegen überflüssiges Reden. Sodann widerriet sie unkluges Reden: da die (tugendhafte) Justiz vor keinem König in die Knie geht, schon gar nicht vor dem König "Fußball", steht dieser Sachverhalt außerhalb der Diskussion durch den Vorsitzenden, er ist kein Thema, er "steht nicht auf der Tagesordnung". Ein zweites Mal war die Bescheidenheit gefragt: wenn alles das außerhalb der Kompetenz des Vorsitzenden lag, konnte er auch niemandem etwas "vorwerfen", die Angeklagten ausgenommen. Daß gar ein "Fußballvereinsvorstand"756 "nicht ungerügt blieb", ist geheimnisvoll und macht die Staatsbürger nachdenklich. 4. Die in unserer Tugendwelt so verkannte Bescheidenheit ist, das mag für deutsche Erfolgsmenschen757 wiederholt werden, nicht nur eine Haltung, sondern, zumal für den Vorsitzenden, auch eine Taktik. Der Bescheidene spart Kräfte, die der Eitle vergeudet; er kann sie anderen Tugenden zuwenden. Der Bescheidene kann die Machenschaften des Eingebildeten durch die bloße Vergleichs möglichkeit bloßstellen. Er kann, weil der hohe Wert seiner Tugend auch in der Krise offenbar wird, den Hochmütigen "unterlaufen", ihn vielleicht gar, ohne ein Wort darüber zu verlieren, der Lächerlichkeit preisgeben. überhaupt ist unsere Tugend auch ein komplementierender Wert, dem manche Komplementärwerte automatisch zufallen: Gerechtigkeit (B 11), Fairness (B 111) und andere. 5. So lautet also § 176 GVG in tugend finaler Auslegung (A X): Die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung obliegt dem bescheidenen Vorsitzenden, oder: dem Vorsitzenden in Bescheidenheit.

XIII. Distanz Verwandt mit der Tugend der Bescheidenheit ist die Tugend der Distanz758, die auch als Zurückhaltung bezeichnet wird. Daher gibt es zwischen beiden manche Konkurrenzen (A XIII). Wegen ihrer Natur als schwieriger Standardbegriff (A XIV) ist die Distanz eine schwierige Tugend. Ebendarum kann sie Interesse beanspruchen. Weil sie oft verkannt wird, bedarf sie besonderer Empfehlung. Die Distanz verkörpert ein Ethos der Zurückhaltung gegenüber anderen Menschen und gibt damit eine Wertsynthese von Stolz und Bescheidenheit. Wer Distanz hält, schafft um sich eine Sphäre, die nicht nur den Zudringlichen abwehrt, sondern auch den anderen, den vielleicht Unge756 Was ist denn das? 757 Dazu oben in diesem Abschnitt: "... doch weiter kommt man ohne ihr." 758 Hartmann, S. 478 ff.

XIII. Distanz

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schützten und Wehrlosen, vor der Preisgabe bewahrt. Indem sie damit die gleiche Forderung für sich wie für den anderen stellt, folgt sie einer Gerechtigkeit (Gleichheit) der Gefühlsbeziehungen, die an keine "Klasse" gebunden ist. Die Distanz des sog. einfachen Mannes gehört zu den tiefsten Eindrücken, die die Moral hervorbringt. 1. Die Distanz des Vorsitzenden richtet ihren Wertblick auf mehrere Gegenstände, die freilich ineinander übergehen759 •

Zunächst kümmert sie sich um die Person des Vorsitzenden selber, seine abwehrende und bewahrende Zurückhaltung gegenüber Personen und Gegenständen. Sodann hebt sie die Person der Prozeßbeteiligten besonders hervor, da eben sie "Schutzobjekte" unserer Tugend sind. Ihr Anliegen ist schließlich die distanzierende Zurückhaltung vom Prozeßgegenstand, also der Sache. Die allzu persönliche Annäherung bekommt ihr nicht; wer ihre Wahrheit erforschen will, bedarf der Zurückhaltung des Rechts mit seiner Objektivität und Neutralität. Endlich könnte es eine Variante der Distanz des Vorsitzenden geben, die man mit einem blassen Ausdruck als politische Distanz bezeichnen könnte. Sie ist die Distanz der rechtsprechenden Gewalt gegenüber anderen Mächten, womit der besondere Abstand unterstrichen wird, den sie hier einhalten muß. Die Distanz des Richters von der Sache und ihren Personen wird seit alters auch als Rechtsproblem gesehen, als das der Ausschließung und Ablehnung wegen Befangenheit. Die Ausschließungs- und Befangenheitsgründe zum Beispiel der §§ 22 ff. StPO sind geradezu "Konkretisierungen" des Standardsbegriffs (A XIV) der Distanz (und anderen Tugenden) mit seiner generalklauselartigen Natur. Darum muß sich der Vorsitzende immer wieder unserer Tugend erinnern, um nicht befangen zu werden. Von ihm gilt16O : "Gefordert ist ein ständiges Ringen um Distanz." Das ständige Ringen ist eine schöne Beschreibung des steilen Weges der Tugend, den auch beschreiten muß, wer Distanz halten will. Auch in anderer Hinsicht tritt unsere Tugend, ohne mit Namen genannt zu werden, seit je als Bedingung der Wahrheits-Ordnung (B IV) und als genetrix iuris auf: das geltende Recht stellt seinen Richtern Formen und Formalitäten als Form-Formalismus761 zur Verfügung, in denen alle genannten Varianten der Distanz gedeihen können. So sagt ein hohes Gericht762 , daß "gerade der Formenzwang des Verfahrens ein 759 760 761 762

Eine "Gliederung" ist daher schwierig. Gerhardt in FAZ vom 26. 1. 1976. Scheuerle, AcP 172 (1972), 397 ff. (437 rr.), passim. OLG Hamm, Beschluß vom 4. 2. 1975 - 5 Ws 14/75.

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B. Einzelne Tugenden

Hilfsmittel ist für die persönliche Distanz der Beteiligten, namentlich des oder der beteiligten Richter, für diese zugleich äußeres Symbol der Unparteilichkeit, zu der sie das Gesetz verpflichtet". 2. Welche besonderen Ratschläge kann unsere Tugend dem vorsitzenden Richter der Krise geben? a) Die Tugend der Distanz nimmt Stellung in der bekannten Diskussion um Richterstuhl und Anklagebank. Der Richter muß Distanz halten, er darf den Angeklagten (und den Parteien im Zivilprozeß) in des Wortes räumlicher Bedeutung nicht zu nahe treten. Sonst verletzt er ihre Personensphäre; darunter leidet die Wahrheit. Wahrheit fordert einen Abstand von Personen und Sachen. Wer ihn aufgibt, ist "befangen". Wenn also ein Vorsitzender mit seinen Prozeßbeteiligten an einem "runden Tisch" sitzen will, mag er sich für fortschrittlich halten, aber er sitzt falsch: die Tafel-"Runde" verneint den Abstand und fördert die Kumpanei. Distanzmomente sind auch Talar und Barett: sie "unterscheiden"763 den Richter auch äußerlich von anderen Beteiligten; das geschieht um der Wahrheit willen. Die Wahrheit ist kein Produkt der genannten Kumpanei, sondern des Abstandes von ihren Fakten und den sie tragenden Personen. Ein hoher Richter764 rät daher seinen Kollegen "eine Distanz, die sich aus der Rollenverteilung (B IV) im Prozeß ergibt", die aber freilich eine "Vermenschlichung des Verfahrens nicht ausschließt". Der Vermenschlichungsvorbehalt ist eine Selbstverständlichkeit. Gerade durch die rechte Distanz wird er gewahrt und von der Nächstenliebe abgegrenzt, die sich zur Gerechtigkeit (B II) antinomisch (A XIII) verhält. Die Distanz läßt dem Angeklagten765 den unantastbaren Bereich, dessen er als Person bedarf. b) Es gibt nicht nur eine räumliche Distanz und eine Distanz der Kleidung, auch eine mimische Distanz kennen wir. "Freundliches Zunicken", "erwartungsvolles Zuneigen" und "zustimmendes Mienenspiel" gegenüber der einen Partei, während es gegenüber der anderen Partei "ganz anders" war, führt mit Recht zur Ablehnung einer vorsitzenden Richterin wegen Befangenheit766. In der Tat gehört jenes Nicken und Neigen nicht in den Bereich des Rechts, sondern in den anderer Gefühle. Dem Auserwählten tritt es zu nahe, den Verschmähten behandelt es ungleich (B II). 763 Ein wohlüberlegter Fall von "Diskriminierung". 764 Wassermann, Recht und Politik 1969, 94. 765 Gerade an ihn hat Wassermann, Recht und Politik 1969, 94 gedacht; er hätte auch noch an sein Opfer (B 11) denken können. 766 OVG Lüneburg, Beschluß vom 4. 1. 1974 - IV OVG B 8/73.

XIII. Distanz

J91

c) Zu nahe kann man den ProzeßbeteiIigten auch durch Lautstärke kommen; das verbietet die akustische Distanz. Ein Vorsitzender, der in der Sitzung jemanden anschreit (B IX), verletzt (auch) dessen Intimsphäre, in des Wortes innerster Bedeutung. Im wirtschaftlichen Betrieb, dessen Menschenführung sich mit dem Amt des vorsitzenden Richters vergleichen (A XVII) läßt767 , gehört dabei der Stimmaufwand zum sog. Katalog des Mißvergnügens768 • Die akustische Distanz leidet auch unter der Mikrophonbenutzung, die in der Gerichtssitzung nichts zu suchen hat (B IV, B VI). Die menschliche Stimme mit ihren Grenzen ist das natürliche Distanzorgan dieser Welt. Diktatoren und andere Unterdrücker haben es durch Mikrophone (und anderen Unsinn) geschädigt. Man müßte lernen, über Mikrophonbenutzer zu lachen und ihnen allenfalls zu glauben, nachdem sie ihre Verstärker abgelegt und ihr Geplärr voce humana wiederholt haben. Viele Probleme der Staatskrise ließen sich damit lösen. d) Peinlich kann der Distanzverlust des Vorsitzenden werden, wenn er, gar in einem Falle schweren Verbrechens, dem Angeklagten "menschlich" nahezukommen versucht und alle Distanzvarianten769 verfehlt. In einem Falle, in welchem es um Mord ging770 , heißt es vom Vorsitzenden, er "bemüht sich herzlich" um den (afrikanischen) Angeklagten. Da von dem letzteren bekannt war, daß er "Hunde sehr liebt", meinte der Vorsitzende zum Dolmetscher: "Sagen Sie ihm, auch der Vorsitzende liebt Hunde. Da hätten wir also gemeinsame Interessen." Hier nun "bricht der Vorsitzende ab, erschrocken, und ergänzt, Kontaktbemühung und Takt zugleich ruinierend: insoweit". Der Effekt war: "Im Saal wird gelacht." Hier hätte der redselige (B VI) Distanzverlust den Vorsitzenden fast zum Komplizen des Angeklagten gemacht: Hundeliebhaber unter sich. Sein Versuch, die verspielte Tugend zurückzuholen, erntete zu Recht Gelächter. Der Hinweis auf die Hundeliebe hatte mit der Sache nichts zu tun. Er verletzte die Person des Angeklagten: als Afrikaner stellte er möglicherweise höhere Ansprüche an die Bewahrung seiner Sphäre, als der Vorsitzende ahnte771 . Auch die Person des (unsichtbar gegenwärtigen) Opfers (B 11) verletzte er, dessen Sterben mit dem Hobby des Richters in keine Beziehung gebracht werden durfte. Damit hat er, allgemein, die Distanz verschmäht, die er als Richter der Sache des Rechts Hennke, Schleswig-Holsteinische Anzeigen 1968, 273 ff. Hennke, Schleswig-Holsteinische Anzeigen 1968, 277. 769 Siehe oben in diesem Abschnitt. 770 Mauz, Die Gerechten, S. 271. m .. Unterentwickelte" sind in ethischer Hinsicht meist Höherentwickelte, eine für uns traurige Wahrheit. 767 768

B. Einzelne Tugenden

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schuldig war. Andere Tugenden konkurrierten (AXIlI), darunter sicherlich die der Bescheidenheit, sofern er seine Hundeliebe in ein überflüssiges Licht rückte. e) Das kumpelhafte Anbiedern eines Vorsitzenden an das (falsch verstandene) "Volk" und seine Redeweise kann dem Distanzverlust feine Nuancen geben. So ist ein Vorsitzender distanzlos und gleichzeitig befangen, wenn er in einem Leserbrief an eine Zeitschrift für Angeklagte, die Mitangeklagte belasten, das volksnahe Verbum "singen" verwendet. Er hat "nicht mehr die gebotene Distanz und Objektivität obwalten lassen, die für eine unparteiische Prozeßführung unabdingbar ist"772. Der Distanzverlust begann schon mit dem "Leserbrief", den die Formen773 nicht vorsehen. Wiederum konkurrieren (A XIII) andere Tugenden. Ähnlich distanzlos verhielt sich ein Vorsitzender774 , der einem Angehörigen eines Angeklagten auf dessen (offenbar besorgte) Frage nach seinem (des Richters) Gesundheitszustand erklärte, entgegen anderslautenden Meldungen sei er gesund und fühle sich "pudelwohl". Hier stellt man sich vor, wie sich jener Gesunde, im Vollbesitz seiner Kraft, auf den Angeklagten stürzen würde. Er wurde zu Recht wegen Befangenheit abgelehnt775 • Wie man sieht, ist die Distanz auch mit der Ausdrucksweise, dem sog. rechten Wort des Vorsitzenden, verbunden. Insofern konkurriert (A XIII) sie mit der Tugend der Sitzungsklugheit (B VI). So verliert ein Vorsitzender die Tugend und wird befangen, wenn er dem klägerischen Anwalt erklärt, dieser habe im Arrestverfahren einen Fehler gemacht, sonst hätte er den Beklagten schon weichgekocht776 • Der schöne Ausdruck, dem Küchenbetrieb entlehnt, ist nicht justizförmig: die Formen der Zurückhaltung sind andere. Auch die Tugenden der Umgangsformen (B IX) und der Bescheidenheit (B XII) können betroffen sein, die letztere, weil sich der Vorsitzende spritziger Ausdrucksweise befleißigt, die anderen Berufen vorbehalten ist. f) Distanz schuldet der Vorsitzende nicht nur den Angeklagten, Opfern, Zeugen und Zuhörern. Sie beherrscht auch sein Verhältnis zu Beisitzern, Staatsanwälten und Verteidigern. aal Das gilt in einem doppelten Sinne. Wenn er Tadel ausspricht, geschieht es nach geltendem Recht und mit Zurückhaltung. Daher kann 772 773 774 775 776

FAZ vom 16. 9.1977.

Siehe oben in diesem Abschnitt. Das Beispiel aus der Praxis verdanke ich einem Richter. Nach dem Bericht meines Gewährsmannes. KG NJW 1975, 1842.

XIII. Distanz

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er nicht außerhalb der Hauptverhandlung einem Pflichtverteidiger Vorhaltungen über einen Befangenheitsantrag machenm. Damit verletzt er unsere Tugend: wenn er ihm außerhalb der Sitzung nahetritt, tritt er ihm stets zu nahe. Er wird nun befangen, wenn er es nicht schon vorher war. bb) Die Distanz kann der Vorsitzende auch aufgeben, wenn er seinen Mitarbeitern Lob spendet. Das ist insofern eine "politische" Distanzverletzung778 , als sie gesetzlich geschuldete Leistungen herausstreicht. Gute Noten solcher Art sind justizfremd, sie gehören allenfalls in die Personalakten des Betroffenen, aber nicht in die (Ordnung der) Sitzung. Bei einer Urteilsverkündung779 "lobte der Richter die schnellen und vorbildlichen Ermittlungen und das leidenschaftslose, faire Plädoyer des Anklägers. Dagegen seien die Angriffe der Verteidiger auf den Staatsanwalt nicht gerechtfertigt gewesen". Der psychiatrische Sachverständige bestand mit der Note "hervorragend". Hier mag sich zunächst der Staatsanwalt für die dienstliche Beurteilung durch einen unzuständigen Kollegen bedanken. Alle Staatsanwälte mögen sich freilich sagen, daß eine, in feierlicher Form hervorgehobene, Ausnahme eben eine Ausnahme ist. Das alles mag Gegenstand einer Dienstbesprechung sein, in der Sitzung (Urteilsverkündung) hat es nichts zu suchen78O • Bei aller lobenden Treuherzigkeit weiß man zudem nicht, ob die guten Noten "rechtskräftig" werden. Im Gutachten des Sachverständigen und Musterschülers ("hervorragend") könnte die Revisionsinstanz sog. Verstöße gegen die Denkgesetze entdecken und, es wäre nicht das erste Mal, das darauf beruhende Urteil (mitsamt den "vorbildlichen Ermittlungen" der Anklage) aufheben. Wie immer man es betrachten mag, distanzloses Handeln bleibt tugendlos. Freilich, mißgünstig ist unsere Tugend, die ja nur für die Sitzung gilt, nicht: beim Betriebsausflug des Personalrats mögen sich die Kollegen, soweit sie sich nicht beschimpfen, mit Lob bedenken. ce) Eine Häufung von Distanzverletzungen berichtet die Presse78! in einem Fall von Mord und Millionenraub. Danach "wählte der Vorsitzende als Einleitung seiner Urteilsbegründung eine in Deutschlands Gerichtssälen wohl nicht alltägliche Geste. Er dankte den Verteidigern dafür, daß sie alle legalen Rechtsmittel im Interesse ihres Mandanten ausgeschöpft hätten, lobte den Staatsanwalt für dessen unnachgiebigen 777 778

779 780 78!

FAZ vom 21. 1. 1977. Darüber unten in diesem Abschnitt. FAZ vom 15. 9. 1975. § 260 StPO, geschwätzig genug, enthält nichts Einschlägiges. Mainzer Allgemeine Zeitung vom 22. 6. 1975.

13 Scheu erle

B. Einzelne Tugenden

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Einsatz und drückte den Mordopfern sein Mitgefühl aus. Dann ließ er keinen Zweifel daran, daß das Tribunal nach dem Prinzip der gerechten Vergeltung verfahren sei und seinen Spruch als Abschreckungsmittel verstanden wissen wollte." Hier ist, das kann unsere Tugend ohne übertreibungen sagen, eigentlich alles zu beanstanden; man muß hoffen, die "Geste" bleibe eine "nicht alltägliche". Die Kondolenz sollte sich der Vorsitzende nicht einmal privat gestatten. Das herausgehobene Prinzip der gerechten Vergeltung war ein Selbstlob, dazu ein triviales. Der Hinweis auf die Abschreckung war unverständlich, weil ein sog. glatter Fall vorlag: der Angeklagte hatte "skrupellos und eiskalt gemordet" und überdies 1,8 Millionen DM geraubt, um "seinen elitären Lebensstil bestreiten zu können"; die gesetzliche Höchststrafe stand sozusagen im Gesetz; ob sie abschreckend wirken sollte und konnte, blieb dem Gesetz mit seiner Weisheit überlassen. Zur Belobigung der Staats- und Rechtsanwälte galt das bereits oben Gesagte. g) Was oben mit der wenig charakteristischen Bezeichnung der politischen Distanz versehen wurde, zeigt mehrere Aspekte. aal Ein Vorsitzender kann vergessen, daß vor seinem Gericht stets alle Menschen gleich sind. Wenn er diese Selbstverständlichkeit hervorhebt, erweckt er den Eindruck, es handele sich um eine besondere Leistung. Damit verletzt er die Distanz gegenüber Volk und Staat und, da er selber der Staat ist, auch gegenüber seinem Richteramt. Daher mahnt Schorn782 : "Es ist auch verfehlt und ein Zeichen der Schwäche und schadet dem Ansehen der Justiz, wenn in Prozessen gegen Repräsentanten des politischen Lebens oder gegen hochstehende Persönlichkeiten das Gericht glaubt, seine strenge Objektivität und Unabhängigkeit noch besonders betonen zu müssen. Die Pflicht des Gerichts zur Objektivität ist eine Selbstverständlichkeit und folgt aus dem Grundsatz der Gleichheit aller vor dem Gesetz." "Wenn ein Senatsdirektor die Pistole zieht"7B3, sollte der Vorsitzende des nachfolgenden Strafverfahrens in der Urteilsbegründung nicht erklären, "im Prinzip sei es darauf angekommen, daß der Angeklagte (der Senatsdirektor) vor der Öffentlichkeit nicht besser, vor dem Gericht aber nicht schlechter als jeder andere zu behandeln sei". Die Erklärung erschien um so ungereimter, als gerade dieser Punkt Zweifeln ausgesetzt war. Ob es zutraf, daß "der vorsitzende Richter zum Beispiel die Zeugen in einer Weise befragte, daß der Eindruck entstehen mußte, nicht ... (der angeklagte Senatsdirektor) müsse sich verantworten, son782

783

Sehorn, S. 224. FAZ vom 11. 2. 1978.

XIII. Distanz

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dern die anderen", war zwar unerheblich, solche "Eindrücke" können täuschen. Die Distanz jedoch meint, das Ganze sei für den Vorsitzenden kein Thema gewesen, schon gar keines einer Beteuerung. In einem oft zitierten Meineidsverfahren gegen acht Fußballer hatte der Vorsitzende die Angeklagten als "Personen der Zeitgeschichte" und "Publikumslieblinge" gewürdigt. Zur Begründung dafür, daß nur Geldstrafen verteilt wurden, sagte er784 : "Dies ist nichts Besonderes und kein spezielles Recht für Fußballer." Zur Höhe der Geldstrafen meinte er: "Auch ein mehrfacher Millionär hätte nicht höher betraft werden können." Distanzverlust gegenüber den Fußballern, dem rechtsprechenden Staat und, wer weiß, auch gegenüber den mehrfachen Millionären. In der Krise sind auch Mitglieder von "Banden" Personen der Zeitgeschichte, da sie dazu gemacht werden. Auch hier sind die Richter versucht, die Distanz zu verlieren. Sie weisen alle Beteiligten und die Öffentlichkeit auf die "Brisanz" des Falles hin und bekunden ihre Entschlossenheit, das Verfahren "unbeeinflußt von Provokationen" zu führen785 • Damit treten sie den Angeklagten und dem Staat zu nahe, da der verhandelte Fall von Rechts wegen ein Fall ist wie jeder andere auch. Kein Angeklagter, auch kein brisanter, muß mit besonderer richterlicher "Entschlossenheit" rechnen, sondern mit dem pflichtgemäß angewendeten Gesetz. Das muß der Richter in zurückhaltender Distanz bedenken. Die Tugend der Gerechtigkeit (B 11) konkurriert (A XIII), vielleicht noch andere. bb) Ein altes Übel unserer Vorsitzenden, von der Tugend der Distanz verurteilt, besteht in dem Bedürfnis, über die Rechtssache hinaus allgemeine Ratschläge zu geben. So wird berichtet786 : "An den Schluß seiner dreistündigen Urteilsbegründung setzte der Vorsitzende den eindringlichen Appell an alle für die Alten- und Krankenpflege Verantwortlichen, mit solchen Mißständen aufzuräumen, die das Mordwerk des Angeklagten erleichtert hatten." Hier trat der Vorsitzende als Weltverbesserer auf. Er verletzte die Distanz zur gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt und verkannte, daß er als Richter mit Fakten der Vergangenheit zu tun hatte. Er war mehr als genug beschäftigt - dreistündige Urteilsbegründung (B VI) -, wenn er diese recht bewältigte. Die Tugend der Bescheidenheit (B XII) mag konkurrieren (A XIII). Ein Distanzverlust kann auch darin bestehen, daß ein Vorsitzender sein Urteil interpretiert, weil er sich "darüber klar sei, daß das Straf784

785 786

13·

FAZ vom 10. 1. 1976. Süddeutsche Zeitung vom 12. 2. 1977. Mainzer Allgemeine Zeitung vom 3. 8. 1976.

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B. Einzelne Tugenden

maß wie die Bestrafung der drei Angeklagten an sich in der Öffentlichkeit auf Kritik und Ablehnung stoße"787 und die eigenartige Bemerkung anfügt, "das Gericht wolle den Angeklagten nicht einen Denkzettel verpassen oder sie fertigmachen" . Es scheint schwierig zu sein, die Tatsachen und das Gesetz sprechen zu lassen und sonst nichts. Die Sprechweise der politischen Funktionäre, die durch rhetorische Stützung ihrer Taten Sympathien und Posten und Macht und Geld gewinnen wollen, dient hier, wohl unbewußt, dem Richter zum Vorbild. Damit nimmt er mit der Publizität Fühlung (B XII), anstatt von ihr Distanz zu halten. Der schreckliche Ausdruck des "Fertigmachens", von dem sich unser Vorsitzender absetzen zu müssen glaubt, gibt seinen Worten eine besondere Note; richterlich ist sie nicht. Noch mehr Distanz wird in den Fällen verletzt, in welchen ein Richter Urteilsschelte des eigenen788 Spruches durch öffentliche Diskussion seiner (eigenen) dissenting opinion betreibt. Dann bedient er sich eines Verfahrens, das "dem Parlamentarier ziemt, sich aber für einen Richter nicht schickt" 789. Damit ist der Vorwurf der Verachtung unserer Tugend gemeint. Mit der Verkündung des Spruches, seiner Existenz, ist der Richter daran "gebunden" (zum Beispiel § 318 ZPO): er steht ihm nun in Distanz gegenüber. Nicht nur diese Distanz hat er verletzt: sein Verhalten hat "praktisch eine Aufforderung ergehen lassen, doch zu klagen, damit sich der Senat abermals äußern könne". Hier ist wiederum allgemein die politische Distanz verkannt und ein Hang zur Weltverbesserung erkennbar, der dem Politiker ziemt, aber (in dieser Form) nicht dem Richter: er spricht durch seinen Spruch. Die Distanzverletzung ist einer Steigerung fähig, wenn ein Vorsitzender bei der Urteilsverkündung sagt: "Das Schwurgericht bedauert, den Angeklagten nicht verurteilen zu können."790 Hier handelt es sich nicht nur um "sentiments oder ressentiments"790, sondern um eine Verachtung unserer Tugend. Daß das Bedauern wegen "lückenhafter Beweisergebnisse"790 bzw. wegen eingetretener Verjährung790 ausgesprochen wurde, milderte das Laster nicht: auch die Sätze des in dubio pro reo und der Verjährung sind geltendes Recht und kein geringwertiges. Noch übler stand jener Vorsitzende da, wenn seine Bemerkung "für die Presse bestimmt war"790. cc) Kenntnis und übung der Tugend der Distanz lassen auch auf der höchsten Ebene zu wünschen übrig. Hier ist die Wirkung besonders zu 787 F AZ vom 14. 4. 1976. 788 Er hat ihn unterschrieben, §§ 275 11 StPO, 315 ZPO, dazu Scheuerle in ZZP 68 (1955), 328 ff. 789 F AZ vom 2. 8. 1976. 790 Seibert, JZ 1970,543.

XIII. Distanz

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bedauern, weil richterliche Tugenden Gegenstand einer Tugendlehre sind, in welcher das Beispiel, wie in jeder Pädagogik, den obersten Rang einnimmt (A XVI). Nachdem "in mehreren aufsehenerregenden Fällen ... durch Indiskretionen Beratungsergebnisse des Bundesverfassungsgerichts in die Öffentlichkeit gelangt und von Rundfunk und Presse publiziert worden waren"791, entschloß sich ein Präsident zu einem "ungewöhnlichen Schritt". Er bat den Deutschen Presserat, im Sinne einer Selbstbindung der Presse einer Veröffentlichung von Entscheidungen vor deren Verkündung entgegenzuwirken. Hier ist die Tugend der Distanz in mehrfacher Hinsicht verletzt. Zunächst ist das "Problem der richterlichen Diskretion" angesprochen, da von "einigen Mitgliedern des Gerichts anscheinend jenes Maß an richterlicher Selbstdisziplin nicht mehr zu erwarten ist, das jedem Instanzrichter abverlangt wird". Selbstdisziplin in diesem Sinne ist die Distanz. Jene "Mitglieder des Gerichts" beachten die Formen nicht, in denen sie rechtsprechen. Sie verlassen deren wohltätiges Reich und steigen hinab in eine Publizität, die den Politfunktionären vorbehalten ist. Sodann aber ist der Präsident aus der Distanz seines ganzen Hauses herausgetreten. Sein Hilferuf, der die Zeitungsschreiber um Schonung bittet, hat den hohen Gerichtshof der Presse überantwortet. Wenn er "des Problems an seinem eigentlichen Sitz, nämlich im Gericht selbst, nicht mehr Herr wurde", mußte er zurücktreten und ebendadurch die Distanz des Hauses wahren. Die aufzuwendende Tugendenergie (A IX) ließ keinen anderen Ausweg792 . 3. Distanzmängel können, das hat sich gezeigt, mit Verletzungen der Tugend des Umgangs (B IX) konkurrieren (A XIII). Auch für diese gilt, daß der Richter "die Wohltat der Formen und des Distanzhaltens" nutzen soll.793 Schon wenn er "den kleinen Tunichtgut duzt"794, tritt er ihm zu nahe. Das gilt auch dann, wenn der naive Adressat die richterliche Anbiederung als erwünschte Vertraulichkeit schätzen sollte: die Leistungen unserer Tugend sind weder abdingbar noch verzichtbar.

4. Es ist eine Eigenart der Distanz, daß sie, einmal aufgegeben, schwer wiederzugewinnen ist. Wer als Vorsitzender gesprächig geworden ist, kann den Boden der Zurückhaltung ganz verlieren. a) In dem bereits mehrfach zitierten (B XII) Verfahren, in welchem sich acht Angeklagte wegen Meineides zu verantworten hatten, sagte 791 Rupp, DÖV 1976, 694. 792 Zurücktreten muß bereits ein Kultusminister, der es nicht wagen kann, in seiner Universität zu sprechen. 793 Hennke, Schleswig-Holsteinische Anzeigen 1968, 277. 794 Hennke, Schleswig-Holsteinische Anzeigen 1968, 277.

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B. Einzelne Tugenden

der Vorsitzende im Laufe der fast einstündigen Urteilsbegründung795 zunächst über die Angeklagten: "Sie haben sich die Suppe selbst eingebrockt, an der sie heute löffeln. Ob sie allerdings so heiß gekocht werden mußte, steht auf einem anderen Blatt." Sodann meinte er, zu den Angeklagten gewandt und auf das zur Tatzeit geltende Recht anspielend: "Auch ein mehrfacher Millionär hätte nicht höher bestraft werden können. Sie haben Glück gehabt, wenn man so will. Aber warum soll ein Angeklagter nicht auch einmal Glück haben?" über sein Urteil sagte er: "Es war das Bestreben des Gerichts, daß Fußba1l7%, die herrlichste Nebensache der Welt, auch Nebensache blieb, aber hier saßen Personen der Zeitgeschichte auf der Anklagebank, Publikumslieblinge zumal." Die Urteilsbegründung schloß er mit einem Appell an die Adresse des Fußballbundes: "Es sollte erwogen werden, darauf zu verzichten, nun erneut gegen die Angeklagten vorzugehen. " die Spieler haben ihre Schuld eingesehen und sie müssen nun mit dem Makel der Schuld leben ... " Da die Angeklagten "Publikumslieblinge" waren und ihr Vorstand den Vorsitzenden nach der Urteilsbegründung als "einen der großartigsten Menschen" bezeichnete, den er je kennengelernt habe797 , wird eine Kritik des Distanzmangels auf wenig Verständnis in der Öffentlichkeit stoßen. Die Kritik kann kurz sein. Es wurden Meineide geschworen. Die Rechtsordnung ist auf richtige Eide angewiesen. Die ernste Angelegenheit bedurfte ernster Zurückhaltung. Die in der Presse veröffentlichten Äußerungen haben sie vermissen lassen. Daß sie von Fußballern freundlich aufgenommen wurden, ist eher bedenklich als unerheblich. Distanz wäre aus vielen Gründen798 ratsam gewesen. b) überblickt man die Verletzungen unserer Tugend, dann kann man den Vorsitzenden, was ihre Gesprächigkeit betrifft, einen allgemeinen Rat199 geben: Mögen sie jedes überflüssige Wort ungesagt lassen! überflüssig in diesem Sinne ist ein Wort, das vom geltenden Recht nicht gefordert wird, mag es noch so "richtig" sein. Sagt ein Vorsitzender zum Verteidiger8OO : "Wenn Ihnen meine Verhandlungs führung nicht paßt, dann können Sie das ja später in der Revision rügen!", dann war der richtige aber unerbetene Rat ohne Distanz. Das Urteil wurde aufgehoben; ob aus Gründen jener Verhandlungs führung, ergibt der PressebeFAZ vom 10. 1. 1976. Die Strafsache betraf eine "für 40000,- Mark verkaufte Bundesligabegegnung vom 17. April 1971" (FAZ vom 10. 1. 1976). 797 F AZ vom 10. 1. 1976. 798 Sie ergeben sich aus den vorhergehenden Beispielen und brauchen hier nicht besprochen zu werden. 799 Er ist auch eine "Klugheitsregel" , Abschnitt B VI, insofern Tugendkonkurrenz (A XVII). 800 Spiegel vom 16. 10. 1975, S. 106. 795

796

XIII. Distanz

199

richt nicht. Der Tugendverstoß durch Distanzverachtung ist weniger zweifelhaft. 5. Wie es eine falsche Gelassenheit (B XI) gibt, so kann es auch eine falsche Distanz geben: der moralische Konflikt mit anderen Tugenden führt zur Tugendantinomie (A XV). Vor einer Strafkammer waren zwei Studenten angeklagt. Sie erschienen in schwarzseidenen Talaren, der Amtstracht der Staatsanwälte. Die Strafkammer bestrafte sie mit je 24 Stunden Haft, ein Wachtmeister führte sie gefesselt ab. Nach einer Zeitungsmeinung801 sind die Richter dabei auf verquere Köpenickiade hereingefallen. Sie hätten die Harlekiniade belächeln oder keine Notiz davon nehmen sollen. Amtskleider, die der eigenen Würde dienen, könnten diese Würde auf fremden Schultern nicht verletzen. Nun haben aber die Studenten besser als die Zeitung gewußt, was "gemeint" war: facti interpretatio plerumque et prudentissimos fallit. Der unversehens in den Text geflossene Begriff der "Köpenickiade" gibt die Lösung. Wer zum Spaß in Paris oder London oder Moskau oder Peking in Polizeiuniform auftritt, kann sich über die Logik des Satzes ins Bild setzen lassen, daß Amtskleider auf allen Schultern die gleiche Würde haben. In Bonn oder Marburg oder Heidelberg mag es anders sein, aber das kommt von der Staatskrise. Die Richter haben der von der Zeitung empfohlenen Distanz nicht gehuldigt. "Belächeln" wäre nämlich die falsche Distanz gewesen. Indem sie die Talarträger entfernen ließen, schufen sie zu ihnen die räumliche Distanz, die von unserer Tugend mitgemeint ist. 6. Bei soviel Distanzmangel wird es als wohltuend empfunden, wenn von Fällen berichtet wird, in denen unsere Tugend ihre Wohltaten spendet. Ein solcher Fall war zu verzeichnen, als das Bundesverfassungsgericht das sog. Wehrdienst-Urteil verkündete802 • Das Gericht betrat "nach der herkömmlich dürren Ankündigung eines Justizbeamten" den Sitzungssaal. Selbstverständlich ist schon diese Dürre nicht, denn es handelt sich immerhin um den feierlichen Introitus eines Hofes in roten Roben, der Gesetze zunichte machen kann, aber sie gehört zu unserer Tugend der Distanz. Sodann verlas der Vorsitzende "mit unbewegter Stimme die Entscheidung, die ... die Bundesregierung empfindlich treffen muß". "Das inhaltsschwere Wort - nichtig! - sagte er unbewegt." Artige Entschuldigungen für die Abwesenheit der betroffenen Politiker wurden von 801 802

FAZ vom 20.3.1969. Fromme in F AZ vom 14. 4. 1978.

200

B. Einzelne Tugenden

ihm "ebenso artig quittiert". Die Namen untergeordneter Beamter, die an ihrer statt zum Verkündungstermin entsandt worden waren, in das Protokoll zu bringen, "bereitet dem Vorsitzenden eine vielleicht nicht ganz absichtslose Mühe". Auch die "Lesestunde" des Vortrags der Urteilsgründe machte der Vorsitzende "vorbildlich". Einige wenige Versprecher deuteten das einer guten Darstellung angemessene Maß von Improvisation an: zu glatt ist auch nicht schön. "Nirgends war eine emotionale Beteiligung des Vorlesers zu erkennen, auch nicht da, wo er, ein Wort wiederholend, die Absicht des Senats besonders deutlich machte." Auch die anderen Mitglieder des Gerichts lösten "die nicht ganz leichte Aufgabe, eindrucksvolle Miene zu einem Spiel zu machen, das nun einmal Sache des Vorsitzenden ist". Vielleicht ist, wie das bundesverfassungsgerichtliche Beispiel zeigen könnte, die Distanz eine Zier der älteren Generation gewesen. Von einem Gerichtspräsidenten, geboren 1913, wird nämlich gesagj;803, er sei "ein Richter der alten Schule und der Tugend der Zurückhaltung". Die Zweiheit von alter Schule und hoher Tugend, fast ein Hendiadyoin, könnte den Umkehrschluß nahelegen, daß es mit der "neuen Schule" anders bestellt ist. Umsomehr sollte sie sich um die Tugenden kümmern, damit sie die rechte Schule werde. 7. Die Betrachtung der Beispiele, der guten und der schlechten, hat ergeben, daß die Ordnung des § 176 GVG (auch) eine Ordnung der Distanz ist, die Ordnung des zurückhaltenden Vorsitzenden. Es könnte sein, daß ein solcher Vorsitzender (auch) damit die sogenannte Würde gewinnt, was immer mit dem (überflüssigen) Begriff gemeint sein mag (B IV).

XIV. Maß 1. Seit Aristoteles weiß man, daß manche Tugenden als solche eine Mitte (mesotes) verkörpern: so hat die Tapferkeit (B VIII) zwischen Tollkühnheit und Feigheit ihren Tugendplatz. Die Mitte, der sie sich verschrieben hat, läßt sich als ein (rechtes) Maß begreifen. Wo es fehlt, ist keine Tugend. 2. Ein anderes Maß ist jenes, das die Übung (fast) aller Tugenden, auszeichnet: der Tugendhafte muß sich vor "Übertreibung" seiner Tugenden hüten. Gehört somit das Maß (in diesem Sinne) zur Übung anderer Tugenden, so kann man von einer Tugend des Maßes reden. Sie erinnert dar803

Fromme in F AZ vom 5. 9. 1978.

XIV. Maß

201

an, daß jede Tugend auf ein Etwas bezogen ist, ihre Materie, ihren Inhalt. Ihm gegenüber ist eine Skala von Verhaltensweisen möglich; eben diese steuert die Tugend des Maßes. Sie folgt dem Weltprinzip des modus in rebus, das sich in allen Dingen (rebus) findet, nicht nur in den Tugenden und in ihrer übung. a) Maß im hier gemeinten Sinne bedeutet nicht, daß der Ernst der Tugend in der Trivialität der Mittelmäßigkeit aufgeht, das wäre nämlich "gar zu lächerlich"804. Das von der Tugend betreute Maß ist vielmehr das rechte Maß, das auch ein Höchstmaß sein kann. So wird der Vorsitzende (als Einzelrichter, sonst das Gericht), wenn eine Aktion des Angeklagten als "Schau" für die Öffentlichkeit gedacht ist, ebendiese nach § 172 Ziffer 1 GVG wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung ausschließen80s . Da das Maß mit dem Angemessenen zu tun hat, schreibt unsere Tugend dem Vorsitzenden allerdings, wie überall, so auch hier, die Angemessenheit des Ausschlusses vor. Der Vorsitzende806 wird daher die Öffentlichkeit nicht, wie es in Dauerprozessen vorkommt, "für den heutigen Verhandlungstag" oder gar "für diese Woche" ausschließen. Er wird sie vielmehr alsbald wiederherstellen, wenn es "angemessen" erscheint, zum Beispiel sehr bald. Wenn der Versuch fehlschlägt, wird er sie wieder ausschließen. Daß sie bei mehreren Fehlschlägen endgültig ausgeschlossen bleiben kann, entspricht freilich dem rechten Maß. b) Die Tugend des Maßes erfordert richterliche Urteilskraft (A XIV). Sie erlaubt es dem Vorsitzenden, das Kleinklima der Tugend der Ordnung als solches zu erkennen und "angemessen" zu steuern. Wenn ein Verfahrensbeteiligter offensichtlich nicht weiß, was zum guten Ton gehört, er hat zum Beispiel die Hände in der Tasche, "vollendet man ohne Schärfe die Erziehung" 807. Wenn ein Angeklagter das Hochdeutsch nicht beherrscht, "soll er ruhig in der Mundart reden, der Richter muß sie sich aneignen"808. c) Das zum Ermessen (auch sprachlich) gehörende Angemessene setzt ein Messen nach Maß im Einzelfall voraus. Eben dieses leistet die obengenannte (ethische) Urteilskraft. Da sich nicht alle Dinge mit der gleichen Elle messen lassen, gehört auch das persönliche Messen des (jeweiligen) Vorsitzenden zu den Gedanken unserer Tugend. Daß er, bei allem 804 Hartmann, S. 440. 805 Zur Frage des Verständnisses von § 172 Ziffer 1 GVG siehe Abschnitt

B XVII.

Als Einzelrichter, sonst das Gericht. 807 Lindemann, Deutsche Justiz 1942, 696. 808 Lindemann, Deutsche Justiz 1942, 696.

806

202

B. Einzelne Tugenden

Er-"messen", das "rechte" Maß nicht ver-"messen" darf, das eben ist ihre Sorge. Sie tut es über den Standardbegriff (A XIV) des Maßes, der die zum Anmessen nötigen Spielräume läßt. Ein Amtsrichter809 läßt den Angeklagten, einen 31jährigen Magister, fast drei Stunden lang im Stehen aussagen. Ein Erfrischungsbonbon verbietet er ihm. Sitzend sagt er: Ich nehme auch nichts. Ein anderer Richter läßt seinen Angeklagten sitzen und erlaubt ihm das "Bonbon". Im ersteren Falle ist, trotz Pressekritik, kein Maß überschritten. Unser Magister, ein noch junger Mann, hat die Vernehmung gut überstanden. Vielleicht hat er, einer psychologischen Erfahrung entsprechend, im Stehen wahrer ausgesagt, als er es bei bequemem Sitzen getan hätte. Sollte der Amtsrichter diesen Effekt gar gewollt und auch erreicht haben, dann wäre sein Maß ein vollendetes gewesen und zudem eine Kategorie der Sitzungsklugheit (B VI). Die Bezugnahme auf sein eigenes, sei es auch sitzendes, Vorbild ("Ich nehme auch nichts") brauchte er dazu nicht. Sie verletzte die Tugenden der Bescheidenheit (B XII) und der Distanz (B XIII). d) Das von der Tugend des Maßes regierte Kleinklima der Sitzung reizt immer wieder die Presse. Wenn ein Zuhörer in der Sitzung "in die Zeitung guckt"81O, sei es auch in den Spiegel811 , und dafür 800,- DM nach § 178 GVG zahlen muß, ist unsere Tugend angesprochen. Sie beantwortet dann die Frage, "ob es eine besondere Heidelberger812 Ungebühr gibt", weil in Heidelberg "die Maßstäbe anders sind". Sagt sie ja, dann schafft sie einen (konkretisierbaren) Heidelberger Standardbegriff des Maßes 813 . Der betroffene Vorsitzende darf, wie jeder handelnde Mensch, auf sein Gewissen verweisen, seinem "Sitzungsgewissen" (A IX) folgen. e) Eine (mittelbar) sitzungspolizeiliche Frage, über die nicht jeder Richter gerne redet, ist die nach dem Zusammenhang von "Betragen" und Strafmaß. Die Tugend des Maßes ist beteiligt. Tucholsky hat gesagt, daß ein Angeklagter oft ein hartes Urteil nur wegen seiner "Frechheit" in der Verhandlung erhalte. Aus der Sicht der Praxis814 : "Provokatives Benehmen, rotzige Antworten oder sonstige Attacken drohen, wenn der Richter in der Sitzung keine genügenden Mittel der GegenSpiegel vom 26. 1. 1970, S. 80. 810 Spiegel vom 13. 9. 1976, S. 98. 811 Gemeint ist hier das gleichnamige Nachrichtenmagazin. 812 Der Fall war in Heidelberg passiert, wo man "wegen der besonderen Verhältnisse nicht zimperlich ist". 813 Zu dem zitierten Fall siehe OLG Karlsruhe, JR 1977, 392, wo das Heidelberger Maß (ohne Abmahnung) mißbilligt wird. 814 Müller-Meiningen jr. in Süddeutsche Zeitung vom 9. 2. 1971. 809

XIV. Maß

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wehr mehr zu besitzen glaubt, möglicherweise in die Härte des Urteils einzugehen. " Die Rechtslage ist einfach: wenn das Verhalten in der Sitzung ein "Verhalten nach der Tat" (§ 46 II StGB) ist, geht es in die Strafzumessung ein. Die Tugend des Maßes bestimmt das Zumessen. Sie zieht dabei viele Gesichtspunkte des Messens in Betracht, zum Beispiel den Zusammenhang zwischen Tatverhalten und "Sitzungsverhalten" ; die Erheblichkeit des letzteren usw. Dabei kommt ihr eine steuernde Funktion hohen Ranges zu. Die Versuchung des geplagten Vorsitzenden, ohne Rücksicht auf den genannten Zusammenhang die Ordnungsverstöße in der Sitzung nach StGB, anstatt nach GVG, zu strafen, kann groß sein. Dann handelt er ähnlich wie der gepeinigte Lehrer in der Schule, der schlechte Fachnoten austeilt, weil ein unkluger Gesetzgeber oder Minister die "Betragensnoten" und andere "Ordnungsmittel" (als grundgesetzwidrig usw.) abgeschafft hat. Unsere Tugend mahnt ihn, das rechte Maß nicht zu verfehlen. Keine Sorge der Tugend des Maßes sind natürlich jene Fälle, in denen die Disjunktion von Schuldig oder Unschuldig, von Verurteilung oder Freispruch, vom Betragen abhängt. Das sind finale Subsumtionen815 , die vielen (anderen) Tugenden dort widerstreiten, wo das in zahlreichen Urteilsgründen vorkommende "Verhalten des Angeklagten in der Hauptverhandlung" keine ausreichende logische Grundlage für die Verurteilung abgibt. f) Die Tugend des Maßes konkurriert mit anderen Tugenden, zum Beispiel mit der Klugheit (B VI), oder sie ist auf sie fundiert (A XIII). Eine geringfügige Störung kann hiernach eine nicht geringfügige Maßnahme erfordern, wenn dadurch weitere Störungen vermieden werden. Die der Klugheit eigene Menschenkenntnis bestimmt das rechte Maß, das auch ein Höchstmaß sein kann. Schiedsrichter im Fußball sind hier lehrreiche Vorbilder (A XVII)816. Daß auch die entgegengesetzte Wirkung eintreten und weitere, schärfere Aggressionen hervorrufen kann, ist bekannt. Ebendarum wird das jeweils rechte Maß unserer Tugend durch die andere Tugend der Klugheit inspiriert, auf sie fundiert. 3. Die Tugend des Maßes gehört zu jenen, die das geltende Recht nicht nur auslegen, sondern auch seine Normen formulieren. Im Recht der Sitzungspolizei ist das Maß unserer Tugend, zum Beispiel in den gestuften Sanktionen der §§ 175 I, 177 Satz 1, 178 I, 183 und 815 Im Sinne von Scheuerle, AcP 167 (1967), 305 ff. 816 Der Vergleich mag Kritik hervorrufen. Wenn man bedenkt, daß das In-

teresse der Gesellschaft am Fußball größer ist, als das Interesse an der Rechtsprechung, mag er hingenommen werden.

204

B. Einzelne Tugenden

in der Beschränkung des Rechtsmittels auf die Fälle der Ungebühr (§§ 181, 178) und des § 180 GVG erkennbar. Positiviertes Maß ist auch jenes, das in der Strafzumessung (§ 46 StGB), der Angemessenheit einer Frist (§ 326 BGB), der Verhältnismäßigkeit administrativen HandeIns usw. zum Ausdruck kommt. Schon sprachlich beherrscht der Wortsinn des Maßes die Terminologie. 4. Hinter aller übung rechtlichen Maßes steht aber die Tugend des Maßes, von welcher das rechtliche Messen herkommt. Sie wird immer wieder neu benötigt, weil stets neue Fragen rechtlichen Maßes auftauchen. So wird auch sie zu einer Tugend der Auslegung und Anwendung geltenden Rechts, deren Arbeit nie zu Ende ist. Die Ordnung des § 176 GVG ist auf diese Weise eine Ordnung des tugendhaften Maßes. Die Kunst der Rechtsanwendung des erfahrenen Richters, auch und gerade des Vorsitzenden, ist damit weitgehend eine Kunst des geübten Maßes. Derart tugendhaftes Handeln ist von höchster staatlicher und politischer Bedeutung und eine richterliche Berufseigenschaft von kaum zu überschätzender Kraft. Eine derart tugendhafte Richterschaft müßte den Wunsch haben, der Gesetzgeber möge die "Positivierung" des Maßes durch Sparsamkeit in der Normsetzung möglichst gering halten. Sie würde sich damit, wenn der Vergleich erlaubt ist, der Weisheit des Philosophen nähern, der auch die Tugend des Maßes beherrscht und damit seinen Staat ohne Gesetze lenkt. Zur Zeit sind unsere vorsitzenden Richter noch nicht mit genügend tugendhaftem Selbstvertrauen ausgestattet. So fordern sie zum Beispiel, § 177 GVG dahin zu ergänzen, für welche Dauer ein Beschuldigter aus dem Sitzungszimmer entfernt werden kann (B XVII). Besser wären sie beraten, wenn sie dem Gesetzgeber eine (einzige) sitzungspolizeiliche Generalklausel (B XVII) nahelegen würden. Damit würden sie der Tugend des Maßes ein weites Feld der Anwendung und übung in der sitzungspolizeilichen Krise eröffnen. 5. Die Tugend des Maßes ist keine Nationaltugend der Deutschen. Der Maßlosigkeit verdanken sie ihr nationales Unglück. Staat und Volk sollten ihr mehr Aufmerksamkeit schenken als bisher. Es verschlägt nichts, wenn es vorerst in Witzblättern geschieht. Wenn nämlich in einem oft besprochenen Strafverfahren wegen Meineides "großverdienende Fußballprofis mit Geldstrafen von etwas über 9000 Mark davongekommen"817 sind, taucht die Frage des rechten Maßes auf. "Ein beliebiger Blick in die Witzspalten deutscher Magazine beweist, daß es dem Gericht jedenfalls nicht gelungen ist, seine Strafzumessungserwägungen der Öffentlichkeit plausibel zu machen."817 817 Schroeder in FAZ vom 12. 4. 1976.

XV. Andere Tugenden, Eigenschaften und Sammelnamen

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Es ist schon etwas, wenn sich wenigstens der Witz des rechten Maßes annimmt.

XV. Andere Tugenden, Eigenschaften und Sammelnamen In der juristischen Literatur und auch in anderen Publikationen werden mitunter Eigenschaften des Vorsitzenden gepriesen, die im vorgeschlagenen Tugendkatalog nicht vorkommen. Was ist von ihnen zu halten? 1. a) Eine erste Gruppe solcher Eigenschaften läßt sich einer oder mehreren unserer Tugenden zuordnen. Daß Tugenden in Standardbegriffen (A XIV) mit der ihnen eigenen Unschärfe gedacht werden, zeigt sich dabei deutlich. Zu dieser ersten Gruppe gehören Charakteristiken wie Rechtskenntnis818 , Menschenkenntnis819 , Durchblick820 , Weitsicht821 , Einfühlungsvermögen822 , Reife823 • Sie mögen der Klugheit (B VI), vielleicht sogar der Weisheit (B V) zuzurechnen sein. Zur gleichen Gruppe gehören: Ruhe 824, Sicherheit825 , Kaltblütigkeit826 , Gefaßtsein auf Überraschungen827, Geduld828 , Nervenstärke829 • Man kann sie den Tugenden der Besonnenheit (B VII), der Selbstbeherrschung (B X), der Gelassenheit (B XI), der Tapferkeit (B VIII) zuzählen; vielleicht auch der Bescheidenheit (B XII), weil sie Ruhe und Sicherheit beschert. b) Eine zweite Gruppe enthält Qualitäten des Vorsitzenden, die Tugenden oder hohe Werte sind, ohne daß man sie dem vorsitzenden Richter wünschen sollte: sie stehen antinomisch (A XV) zu seinen Tugenden. Solche Merkmale sind zum Beispiel die Nächstenliebe830 oder die "Wärme" 830. Die Tugendantinomie zwischen Gerechtigkeit und Nächstenliebe ist richterlichen Nachdenkens wert (B 11). Was für die Näch818 819 820 821 822

823 824

825 826 827 828

829 830

FAZ vom 29. 3. 1975. Schorn, S. 224. FAZ vom 6. 6. 1975. Süddeutsche Zeitung vom 22. 5. 1975. Steinbrenner, Die Justiz 1968, 236. FAZ vom 29. 3. 1975. Hennke, Schleswig-Holsteinische Anzeigen 1968, 275. Süddeutsche Zeitung vom 22. 5. 1975. Lindemann, Deutsche Justiz 1942, 697. Schorn, S. 224. Steinbrenner, Die Justiz 1968, 236. Süddeutsche Zeitung vom 9. 7. 1971. Schorn, S. 224.

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B. Einzelne Tugenden

stenliebe gilt, wird sich auch von der Wärme sagen lassen. Die absolute Gleichheit der (Verfahrens-) Gerechtigkeit beherrscht die Sitzung und verneint das "rätselhafte Beteiligtsein des Ich am Erleben des anderen", das Nächstenliebe und Wärme auszeichnet (B 11). Der vorsitzende Richter ist nicht "beteiligt", er ist gerecht. Als Beteiligter wäre er befangen. e) Andere Eigenschaften lassen sich weniger leicht gruppieren. Ein Richter von großem Verantwortungsgefühl für das Ethos seines Standes831 fordert vom Vorsitzenden Hilfsbereitschaft, Güte und Toleranz, die er unter Verzicht auf jede Machtdemonstration üben möge. Was Hilfsbereitschaft und Güte betrifft, so kann man wohl auf die Ausführungen zu Nächstenliebe und Wärme verweisen. Sie sind hohe Werte, die aus den dargelegten Gründen der Gerechtigkeit weichen, zu der sie sich antinomisch verhalten. Unproblematisch ist der Verzicht auf jede Machtdemonstration. Sie widerspricht vielen Tugenden, wahrscheinlich aUen. Das geltende Recht und die Tugenden seines Gebrauchs sind selber eine Macht. Eine andere Macht zu demonstrieren, ist lasterhaft. Der Vorsitzende "demonstriert" statt dessen Bescheidenheit (B XII), Selbstbeherrschung (B X), Distanz (B XIII), Höflichkeit (B IX). Einfach ist auch die Frage nach der Toleranz zu beantworten. Soweit sie ein Rechtsgebot, gar von Verfassungsrang, ist, untersteht sie der Staatstugend (B I). Soweit sie den Sinn hat, der Vorsitzende möge gegen unerhebliche Verstöße milde, nachsichtig, großzügig, "tolerant" sein, erreichen manche Tugenden des vorgeschlagenen Kataloges den gleichen Zweck: Fairness (B 111), Maß (B XIV), Gelassenheit (B XI). Der Gedanke an die falsche Gelassenheit (B XI) wird unseren Vorsitzenden vor den Mißgriffen der falschen Toleranz bewahren. So ist die (richtige und die falsche) Toleranz in guter Hut anderer Tugenden. Als eigene Tugend muß man sie dem Vorsitzenden (zur Zeit) nicht empfehlen. d) Besondere Eigenschaften werden für den Vorsitzenden von Monsterprozessen gefordert. Sie treten mit dem Anspruch auf Tugendqualität auf. So fragt ein Pressebericht832 , ob ein Vorsitzender solcher Prozesse Durchsetzungsvermögen und erkennbaren Ehrgeiz brauche. Der Ehrgeiz ist ein dem Erfolgsdenken aller833 Gesellschaften unserer Zeit willkommener Wert, der mit großem Aufwand gezüchtet wird. Die Hennke, Schleswig-Holsteinische Anzeigen 1968,277. FAZ vom 6. 6. 1975. 833 In den sozialistischen Gesellschaften wird er durch ein System von Auszeichnungen, Wettbewerben, Orden und Medaillen gefördert; ihre Funktionäre sind ordensübersät. 831

832

xv. Andere Tugenden, Eigenschaften und Sammelnamen

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Ethik ist zurückhaltender: "Daß Ehrgeiz ein axiologisch schillernder Begriff ist, in dem ein Wert und zugleich ein Unwert steckt, ist eine triviale Wahrheit."834 Eine Tugend des Vorsitzenden ist er nicht. Es gibt zwei Arten von Ehrgeiz. Die eine ist das normale Streben nach Anerkennung einer Leistung, die andere die Begierde nach Ehre und Macht. Die erste ziert den Vorsitzenden, wenn seine Leistung eine (anderweit) tugendgerechte Leistung ist. Dann dominieren jene Tugenden, der Ehrgeiz ist kaum "erkennbar". Die zweite gerät mit vielen Tugenden in Konflikt. Bescheidenheit (B XII), Distanz (B XIII), Maß (B XIV), Selbstbeherrschung (B X) und andere leiden Not. Der auf solche Art "erkennbar" Ehrgeizige verbraucht Energien, die der erkennbar Be.:. scheidene der Sache zuwendet. Seinen Widersachern macht er die Aggressionen leicht. Die Klugheit (B VI) rät daher vom Ehrgeiz ab und empfiehlt an seiner Statt die Tugenden. Das Durchsetzungsvermögen ist ähnlicher Hochschätzung in der Leistungsgesellschaft gewiß wie der Ehrgeiz. Die Stellenangebote in der Tagespresse sprechen es aus, daß es vom "Chef" und ähnlichen Leuten erwartet wird. Es gilt als Merkmal der sog. Persönlichkeit83s . Der Vorsitzende kann darauf verzichten. Das geltende Recht, angewendet unter der Schirmherrschaft der Tugenden, setzt sich selbsttätig durch. Ein zusätzliches Durchsetzenwollen gefährdet die Übung der Tugenden der Klugheit (B VI), der Besonnenheit (B VII), der Gelassenheit (B XI) und Selbstbeherrschung (B X), der Fairness (B 111) und des höflichen Umgangs (B IX). Der Vorsitzende will also kein "starker Mann" sein, er ist es durch tugendgemäße Rechtsanwendung. Maßnahmen, die Gesetz und Staatstugend (B I) fordern, ergreift er besonnen, aber rechtzeitig, maßvoll, aber (ebendarum) notfalls hart (B XIV). e) Wo über die Eigenschaften eines vorsitzenden Richters gesprochen wird, hört man auch von Würde 836 , Autorität (Souveränität)837 oder PersönlichkeitB38 reden. Diese Bezeichnungen sind Sammelnamen für Qualitäten, zu denen auch Tugenden gehören können. aal Es gibt eine Würde des Gerichts und eine Würde des Richters. Die Würde des Gerichts ist ein Rechtsbegriff nach § 175 GVG, auch als Schutzgut des § 178 GVG wird sie angesprochen 839. Der Rechtsbegriff 834 83S 836 837 838 839

Hartmann, S. 445. Dazu unten in diesem Abschnitt. Zum Beispiel Schorn, S. 224. Zum Beispiel Süddeutsche Zeitung vom 9. 1. 1971. Zum Beispiel FAZ vom 29. 3. 1975. Kern / Wolf, S. 173 f.

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B. Einzelne Tugenden

der Würde hat viele schwer verständliche Auslegungsversuche hervorgebracht84O • Recht verstanden ist sie eine rhetorische Variante des Begriffs der Ordnung des § 176 GVG. Sie meint die im Gericht (als Institution) und damit in der gerichtlichen Sitzung herrschende Ordnung (B IV). Nicht zu verwechseln mit der Würde des Gerichts als Ordnung ist die Würde des Richters als Person84l • Schorn842 zählt eine Reihe von Eigenschaften auf, darunter die Würde, die der vorbildliche Vorsitzende ausstrahlt, um dadurch alle Anwesenden, auch den Angeklagten, in seinen Bann zu ziehen. Sarstedt843 andererseits begründet seine Meinung, die Würde des Gerichts könne nur durch die Richter verletzt werden, mit einem Katalog richterlicher Laster, die jene Würde zunichtemachen. Daraus darf man schließen, daß er die Würde des Richters als Person meint. Wenn nun Laster diese Würde zerstören, kann sie durch Tugenden erhalten oder errungen werden: die Würde des Richters als Person ist ein Sammelname für Tugenden. Die Tugenden, die das Wort Würde bezeichnet, sind vielleicht vornehmlich solche, die man sehen kann, wenn man den rechten Blick hat: Bescheidenheit (B XII), Gelassenheit (B XI), Höflichkeit (B IX), Distanz (B XIII), auch Besonnenheit (B VII). bb) Nicht zur Tugendsammlung unseres Namens gehört die Würde als Gehabe, als "würdevolle" Manier, als eitler Auftritt. Szenen solcher Art mögen die Massen beeindrucken, richterlich sind sie so wenig, wie sie die Ordnung des § 176 GVG interpretieren. ce) Die so gesehene "tugendhafte" Würde des Vorsitzenden kann man als solche nicht lernen; tugendloses Gehabe hingegen kann man nachäffen. Will man jener teilhaftig werden, so muß man den steilen Pfad ihrer einzelnen Tugenden beschreiten. Mit ihnen kommt sie von selber, freilich geht sie mit ihnen auch fort.

Ist also die recht verstandene Würde des Gerichts (als Würde des Richters) an die Person des jeweiligen Vorsitzenden gebunden, dann wird die Meinung844 verständlich, daß "die Würde des Gerichts in erster 840 Sarstedt, JZ 1969, 153 spricht von "diesem mißverständlichen und mißverstandenen Begriff". Der Bericht der Kommission für Gerichtsverfassungsrecht und Rechtspflegerrecht des Bundesministeriums der Justiz, 1975, 159 will ihn durch den der Mißachtung des Gerichts ersetzen. Die Amerikanisierung des Wortes Würde durch die übersetzung des contempt-of-court ändert in der Sache nichts. 841 Mit dem Rechtsbegriff der Würde des Menschen nach Art. 1 GG hat diese Würde der Person andererseits nichts zu tun: das bedarf keiner Begründung. 842 Schorn, S. 224. 843 Sarstedt, JZ 1969, 153. 844 E. Schmidt, S. 21.

XV. Andere Tugenden, Eigenschaften und Sammelnamen

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Linie die richterliche Haltung selbst" ist. Daher gilt845 : "Der Vorsitzende selbst gibt der Sitzung eine Würde, der sich niemand entziehen kann. Er ist still, auf Genauigkeit, aber auch auf Eile846 bedacht. Er entzieht sich der Sentimentalität, erspart den Opfern, dem Verbrecher, dem Täter das Unangemessene ... " f) Auch die forensische Autorität kann, wie die Würde, eine institutionelle oder personelle sein. Hier interessiert nur die letztere, die des Vorsitzenden als Person. Wenn alle Richter eine persönliche (wirkliche847) Autorität haben, kann man freilich sagen, das (ganze) Gericht besitze diese (persönliche) Autorität; das wird hier nicht weiter verfolgt. Daß ein vorsitzender Richter der Autorität ebenso bedarf, wie der Lehrer in der Schule, die Eltern in der Familie, der Staatsmann im Staate, bedarf keiner Begründung. Die Autorität ist ein universales Prinzip, das nirgends entbehrlich ist, am wenigsten in einer antiautoritären Epoche; daß das Porträt des Nachfolgers von Mao schon zu Beginn seiner Regierung überall an die Stelle des seines Vorgängers getreten ist848 oder daß Breschnew den Titel Führer erhalten hat und zum Marschall der Sowjetunion ernannt worden ist849 , hat mit dem ewigen Bedarf an Autorität im Staate zu tun. Die "Anti au tori täten" wollen sie nicht abschaffen, sondern andere Autoritäten an die Stelle der bisherigen setzen. In unserer Gesellschaft ist die Autorität des Richters in Verruf geraten. Die Nachfrage der Gesellschaft nach Autorität wird durch andere Erscheinungen gedeckt, zum Beispiel durch das verwandte Phänomen des Schiedsrichters im Fußball. Ihm steht ein "Unfehlbarkeitsdogma"850 zur Seite; er darf nicht nur, sondern muß von sich sagen: "Ich irre mich nie!"850 Denn "er hat kein leichtes Amt"850. Vom Vorsitzenden des Strafprozesses andererseits sagt ein sonst harter Kritiker851 : "Unmenschlich, menschenunmöglich ist, was von ihm erwartet wird: seine Weisheit und sein Wissen sollen von göttlicher Fülle und Vollendung sein." Er mag sich mit seinen Kollegen vom Fußball vergleichen und erkennen, was es heißt: Autorität zubilligen oder versagen. Denn versagt wird sie, wo man sie "in Frage stellt". Das geschieht im Staat der Krise. 845 Mauz, Die Gerechten, S. 47. 846 Ich bezweifle, daß die Eile zur Würde oder zu den Tugenden des Vorsitzenden gehört; gemeint ist wohl eine besonnene (B VII) und maßvolle (B XIV) Eile. 847 Siehe unten in diesem Abschnitt. 848 Hamm in F AZ vom 18. 12. 1976. 849 Levy in FAZ vom 18. 12. 1976. 850 FAZ vom 10. 12. 1975. 851 Mauz, Die Gerechten, S. 256. 14 Scheuerle

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B. Einzelne Tugenden

aa) Was ist nun die vielberedete Autorität? Eine Autorität kann man sein, zum Beispiel als Gelehrter. Sie ist nicht gemeint, wenn man an die des vorsitzenden Richters denkt. Er mag im Einzelfall ein Rechtskundiger von hohen und höchsten Graden sein, der Staat und seine Justiz fordern solche Fähigkeiten nicht, nicht einmal auf einem Spezialgebiet. bb) Autorität kann man auch haben. Sie kann in Befugnissen bestehen, die dem Vorsitzenden vom Gesetz gegeben sind, zum Beispiel denen der §§ 177, 178 GVG. Sie sind nicht gemeint, wenn man von der Autorität spricht, die ein Vorsitzender hat. cc) Autorität der im gegenwärtigen Zusammenhang interessierenden Art beschreibt ein Richter von Erfahrung S0852: "Die ausgeglichene, abgeklärte Richterpersönlichkeit hat eben Autorität und braucht sie nicht sich und anderen gegenüber besonders geltend zu machen. Nur der unausgeglichene, von Minder- und Überwertigkeitsgefühlen erfüllte Richter wird versuchen, in der Überbetonung der eigenen Autorität den Ausgleich zu finden." Glanzvoller wird das gleiche Phänomen wie folgt geschildert, denn hier ist ihr Gegenstand kein allgemeiner Vorsitzender, sondern eine konkrete Dame853 : "Als Vorsitzende führt sie die Verhandlungen souverän und virtuos, mit gewachsener, nie aufgesetzter Autorität ... ist stets glänzend vorbereitet, ihre Aktenkenntnis ist phänomenal. Sie bleibt zuvorkommend, kann aber auch einmal drängend und deutlich werden. Auch wenn sie ... mit Befangenheitsanträgen konfrontiert wird, bleibt sie gelassen ... " Beide Charakteristiken, die al1gemeine und die konkrete, sind recht betrachtet, reiche Gemälde eindrucksvol1er Tugendkataloge. Die Ausgeglichenheit und Abgeklärtheit könnten, bei al1er Vorsicht im Gebrauch des großen Begriffs, eine richterliche Weisheit (B V) sein, die nach antiker Meinung auch andere Tugenden in sich enthält. Etwas spezieller verstanden, könnten sie die Gelassenheit (B XI) oder Selbstbeherrschung (B X) im Sinne haben. Die Abstandnahme von der Überbetonung der eigenen Autorität könnte die Tugenden der Bescheidenheit (B XII) oder der Distanz (B XIII) bedeuten. dd) Besonders treffend ist die Beobachtung der "gewachsenen, nie aufgesetzten" Autorität. Wo Tugenden herrschen, "wächst" die Autorität von selber, der Tugendhafte braucht sie sich nicht "aufzusetzen", wie er sein Barett aufsetzt. Im Beispielsfal1 ist die Gewachsenheit verständlich; der Tugendboden, auf dem sie gedeiht, ist fruchtbar. Die Souveränität, die jener Vorsitzenden auch bescheinigt wird, meint (mindestens) die Sitzungsklugheit (B VI) mit ihren Regeln, die glänzende Vor852 853

Hennke, Schleswig-Holsteinische Anzeigen 1968, 277. F AZ vom 11. 12. 1976.

XV. Andere Tugenden, Eigenschaften und Sammelnamen

211

bereitung und phänomenale Aktenkenntnis können es mit der Rechtsklugheit (B VI) und der (Wahrheits-) Ordnung (B IV) zu tun haben, die Gelassenheit (B XI) gegenüber Befangenheitsanträgen ist (beim deutschen Richter) fast eine rühmliche Ausnahme. Es ist kein Wunder, daß, wenn die Sitzung nicht nur souverän, sondern "virtuos" geleitet wird, eine Atmosphäre entsteht, die der Etymologie des Wortes gemäß ist (A IV). g) Will man einen Vorsitzenden als vorbildlich loben, dann bezeichnet man ihn mitunter als Persönlichkeit. So meint ein hoher RichterB54 , der Vorsitzende müsse durch seine Persönlichkeit eine Vertrauensatmosphäre im Gerichtssaal herstellen. aal Die Ethik855 schätzt an der Persönlichkeit den Wert, den jeder Mensch durch sein menschliches Eigensein hat, wie es außer ihm nicht wiederkehrt. Der damit erkannte Wert ist also kein allgemeiner, er zeichnet eine jeweils einzige Person aus. Diese (ethische) Persönlichkeit ist nicht gemeint, wenn von der Persönlichkeit eines Vorsitzenden gesprochen wird. Wer von ihr redet, will Allgemeines oder fast Allgemeines, Allgemeingültiges, aussagen. Zu fordern, jeder Vorsitzende solle als Persönlichkeit von allen anderen verschieden sein, wäre ungereimt; die Minister wüßten nicht, woher sie die vielen "Persönlichkeiten" nehmen sollten. bb) Die Psychologie hat sich in zahlreichen Arbeiten mit der Persönlichkeit befaßt. Auch sie geht davon aus, daß die Persönlichkeit einzig856 ist. Dann aber sucht sie ihre Züge (traits) und Modalitäten auf: attitudes, temperament, aptitudes, morphology, needs, interests857 . Damit gibt sie eine allgemeine Lehre, nicht die Beschreibung eines (unwiederhol baren) Individuums. Daß zu den Zügen und Modalitäten auch die Tugenden gehören, bedarf keiner Betonung. Bestimmte Tugenden, Gruppentugenden, können eine "Gruppenpersönlichkeit" ausmachen, das Persönlichkeitsbild einer Gruppe, zum Beispiel der vorsitzenden Richter. cc) Wie es aussieht, d. h. aussehen so1l858, erfragt man am besten in der Gruppe (A V). Hennke 859 fordert vom Richter, "aus seiner Persönlichkeit heraus das Vertrauen zu vermitteln, das den VerfahrensbeteiIigten die Grundlage für ihr Prozeßverhalten geben kann". 854 Wassermann, S. 94. 855 Hartmann, S. 509. 856 Zum Beispiel J. P. Guilford, S. 5: every personality is unique. 857 Guilford, S. 7. 858 Es geht um Tugenden, die gefordert sind, nicht um bloße Beschreibung. 859 Hennke, Schleswig-Holsteinische Anzeigen 1968, 275. 14'

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B. Einzelne Tugenden

Wie aber geschieht das? "Dafür gibt es keine allgemeinen Rezepte", meint der erfahrene Vorsitzende859 • Unversehens gibt es nun aber doch ein Rezept. "Der eine strahlt schon durch die Art, wie er sich gibt, Ruhe, Gelassenheit, Sicherheit und auch Menschlichkeit aus. Der andere tut es mehr durch die Umsicht seiner aufklärenden Hinweise an den Rechtsunkundigen." Man sieht, der Autor löst seine Persönlichkeiten in "Züge" auf, in wünschenswerte richterliche Eigenschaften. Sie sind als Tugenden gemeint, mag man seinen Katalog billigen oder nicht. Vom Standpunkt unseres Tugendkataloges (A V) ließe sich sagen: wer seine Tugenden (oder einige von ihnen) übt, ist eine Persönlichkeit, etwa: klug, bescheiden, höflich, besonnen. Nach der Dominanz (A VI) bestimmter Tugenden in einer bestimmten Person ("Persönlichkeit") ergeben sich die (Persönlichkeits-) Typen, wie sie die Praxis kennt. Nach einem solchen Katalog von Tugenden war auch jener Richter (B V) zu beurteilen, der zwei Jahre beim Bundesarbeitsgericht als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter beschäftigt war und nun Bundesrichter werden wollte. Das Bundesarbeitsgericht hatte ihm empfohlen, sich vorher noch der Abrundung seiner "Gesamtpersönlichkeit" zu widmen. Das könnte, so meinte das Gericht, durch zusätzliche Erfahrung, vertiefte Rechtskenntnisse, mehr Lebensweisheit und größere Reife geschehen. Die Gruppenmoral der (Bundes-) Richter könnte damit ein Tugendbild als empfehlenswerte Vorbedingung für den Eintritt in die Gruppe aufgestellt haben. So ist es also mit der Persönlichkeit des Vorsitzenden, wie mit der Würde oder der Autorität. Sie ist ein Sammelname für eine Mehrheit von Tugenden, aber selber keine solche. dd) Der Begriff der Persönlichkeit wird allerdings manchmal für einen Menschen, auch für einen Richter verwendet, der weiter nichts ist als ein sog. starker Mann mit "Durchsetzungsvermögen"860. Er ist gemeint, wenn man sich fragt, ob es bei der Abstimmung über eine Entscheidung (§ 196 GVG) eine sog. Beisitzerevidenz gibt, eine vom Vorsitzenden den Beisitzern aufgezwungene "überzeugung". Von ihr kann man sagen861 : "Sie kann zum Problem werden, wenn der Vorsitzende als sogenannte Persönlichkeit in Kammer oder Senat den Ton angibt und als Freund der Einstimmigkeit gilt. In solchen Fällen kann es zu Rechtsverbeugungen schwacher Beisitzer vor Seiner Evidenz dem Herrn Vorsitzenden kommen."862 860 Dazu bereits oben in diesem Abschnitt. 861 Scheuerle, ZZP 84 (1971), S. 285; Abschnitt B VIII. 862 Siehe dazu die Stellungnahme des Vorsitzenden des Deutschen Richterbundes in Spiegel vom 29.7. 1968, S.36.

XV. Andere Tugenden, Eigenschaften und Sammelnamen

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Diese Persönlichkeit ist in der Tat, wie der zitierte Text sagt, eine "sogenannte" Persönlichkeit. Wer sie schlicht Persönlichkeit nennt, weiß nicht, was eine wirkliche Persönlichkeit ist. Er verwechselt sie mit dem sog. starken Mann.

ee) Die Persönlichkeit wird auch mit der bloßen Person verwechselt. Das passiert sogar dem Gesetzgeber. In § 2178 BGB meint er: Ist der Bedachte eines Vermächtnisses zur Zeit des Erbfalls noch nicht erzeugt oder wird seine Persönlichkeit durch ein erst nach dem Erbfall eintretendes Ereignis bestimmt, so erfolgt der Anfall des Vermächtnisses im ersteren Falle mit der Geburt, im letzteren Falle mit dem Eintritte des Ereignisses. Das ist gesetzgeberische Rhetorik von fast unfreiwilligem Humor. Die Persönlichkeit, womit allenfalls die Person gemeint ist, würde besser durch das Personalpronomen (er) ersetzt. Ähnlich verhält es sich mit der freien Entfaltung der Persönlichkeit des Art. 2 GG. Gemeint ist: jede Person darf ihre guten Eigenschaften entfalten. Bei dieser bescheidenen Formulierung könnten die Einschränkungen des Art. 2 GG fortbleiben, weil gute Eigenschaften weder "die Rechte anderer verletzen" noch "gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstoßen". Oder wissen weder der Gesetzgeber noch seine Adressaten, was gute Eigenschaften sind? Es könnten Tugenden sein. ff) Führt man also die Persönlichkeit auf Tugenden zurück, dann liegt die Frage nahe, ob nicht vielleicht noch ein Zusätzliches dazu gehört, etwas Nichtausdrückbares? Die Frage ist zu bejahen. Nichts Menschliches läßt sich begrifflich, auch nicht durch (noch so unscharfe) Tugendbegriffe, vollständig darstellen. Es bleibt ein Rest, der im einfachsten Fall einer dominierenden (A VI) Tugend oder einer besonders glücklichen Verbindung von Tugenden nahekommen kann. In anderen Fällen kann er rätselhaft bleiben. Dann kann ein Bundeskanzler von einem andern863 sagen, "auf Grund seiner Persönlichkeit habe dieser große Mann Macht ausgeübt, ohne daß er die Verfassung verletzt habe". Unser Vorsitzender wird seine Tugenden üben, ohne auf den rätselhaften Rest zu warten. Dieser kann sich, wenn ihm das Tugendglück864 beisteht, eines Tages von selber einstellen. Andernfalls bleibt es bei den (bloßen) Tugenden, die schon als solche, recht geübt, einen Vorsitzenden ergeben, wie ihn sich ein gesunder Staat wünschen kann. gg) Ist also die Persönlichkeit des Vorsitzenden ein Sammelname für Tugenden, so kann man diese zwar lehren und lernen, soweit sie überhaupt lehr- und lernbar sind (A XVI), aber nicht jene. Für eine Schmidt über Adenauer in F AZ vom 26. 8. 1978 (Walter Henkels). Daß Tugenden (auch) ein Glück, also Glücksache, und eine Gnade sind, wird nicht näher ausgeführt, aber hingenommen. 863

864

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B. Einzelne Tugenden

Broschüre mit dem Titel "Wie werde ich eine Persönlichkeit?" soll auch der Vorsitzende nur dann Geld ausgeben, wenn ihm darin eine Tugendlehre geboten wird. Der "Rest", das Unwägbare, ist ohnehin völlig unlernbar. Eine Lehrbarkeit der "Persönlichkeit" meint wohl auch Wassermann865 nicht, wenn er für eine "Emanzipation der Richterpersönlichkeit" eintritt und zu diesem Zweck einen "Lernprozeß" mit "Ausbildungs reform" fordert. Nähere Betrachtung ergibt, daß er dem künftigen Richter Tugenden (und andere Eigenschaften) empfiehlt, etwa Tapferkeit gegenüber politischen Einflüssen866 , eine neue867 Staatstugend (B I), richterliche Bescheidenheit868 (B XII) usw. h) Man kann einen vorsitzenden Richter auch dadurch beurteilen, daß man sich über seinen Verhandlungsstil äußert. aa) So soll der "Stil" des richterlichen Verhaltens "den Geist des fair trial spürbar machen"869. Ein "zeitgemäßer" Verhandlungsstil870 soll Unvoreingenommenheit, Gründlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Distanz gewährleisten. Man sieht, daß sich der beschriebene Stil auf Tugenden zurückführen läßt: Fairness (B 111), Gerechtigkeit (B 11), (Wahrheits-) Ordnung (B IV), Distanz (B XIII). bb) Der Bezug zu den Tugenden ist aber nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Wird vom Vorsitzenden eines Sensationsprozesses gesagt871 , "der Stil dieser Hauptverhandlung sei kleinlich und engstirnig und entspreche der rechts staatlichen Bedeutung des Verfahrens nicht", so wird man nach den "Gründen" fragen. Man erfährt dann zum Beispiel, daß die "für die Bundesanwaltschaft vorzugsweise bedienbare Mikrophonanlage" ... dafür "ein blamables Indiz" gewesen sei. Gemeint ist die Tugend der Verfahrensgerechtigkeit, die eine absolute Gleichheit der (Sitzungs-) Gerechtigkeit fordert (B 11) und keine "vorzugsweise" Bedienbarkeit, zu wessen Gunsten auch immer, gestattet. cc) Andererseits kann sich ein unverwechselbarer Stil ergeben, vor allem dann, wenn seine dauernde übung geradezu sein Hauptmerkmal ist. 865 Wassermann, Recht und Politik 1969, 88 ff. 866 Gemeint sind die vom Autor abgelehnten Einflüsse; zum Problem Abschnitt B VIII. 867 Gemeint ist die alte Staatstugend (B I) mit dem vom Autor empfohlenen (neuen) Inhalten. 868 Kein "barocker" Titelpomp ... 869 Hennke, Schleswig-Holsteinische Anzeigen 1968, 278. 870 Wassermann, Recht und Politik 1969, 94. 871 Süddeutsche Zeitung vom 7. 7. 1975.

XV. Andere Tugenden, Eigenschaften und Sammelnamen

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Ein Strafreferat, zu dessen Geschäften die beschleunigten Verfahren nach den §§ 212 ff. StPO gehörten, war nacheinander mit zwei sehr verschiedenen Richtern 872 besetzt. Die großstädtischen Angeklagten, Zeugen und Zuhörer, darunter gerichtsbekannte Personen mit reicher forensischer Erfahrung, machten dem Einzelrichter die Sitzungspolizei nicht leicht. Dem ersten Richter, einem Manne mit hervorragenden Rechtskenntnissen, war die Tugend der Sitzungs-Klugheit mit ihren "Regeln" (B VI) nicht geläufig; auch andere Tugenden fehlten ihm. In wortreichen Gesprächen ließ er sich auf den noch größeren Wortreichtum der Angeklagten und ihrer Helfer ein. Es gab zwar viel zu lachen, aber meist zu Lasten des Richters; seine "Schlagfertigkeit" (B XVI) litt Not, weil die Gegner im Schlagen noch fertiger waren. Alles das, dazu die Terminitis (B V), beeinträchtigte die Besonnenheit (B VII) und das Maß (B XIV) und begünstigte Maßnahmen, die besser unterblieben wären. Stimmaufwand und ausfällige Ermahnungen gaben die Begleitmusik. Es war ein Stil, den man als unerquicklich bezeichnen mußte. Der zweite Richter, der später das gleiche Referat übernahm, war anders. Seine Rechtskenntnisse waren spärlicher, seine Tugenden aber zahlreicher. Es fiel weder ein lautes, noch ein unhöfliches Wort. Da er von Anfang an seine sitzungspolizeilichen Befugnisse undramatisch, gelassen, maßvoll (und daher notfalls hart, B XIV) und höflich handhabte, geriet er weder in Tugendnot noch in Zeitnot und konnte sich der Besonnenheit (B VII) widmen. Schon nach der ersten Sitzung wußte die Kundschaft, daß ein neuer Stil ausgebrochen war und stellte sich darauf ein. Die Gerichtswachtmeister sorgten für schnelle Verbreitung dieser Kunde. Die Urteilsgründe waren nun nicht mehr "vollbefriedigend" , sondern eher "ausreichend", aber die Sprüche waren milder. Der neue Mann war nicht darauf angewiesen, das Betragen der Angeklagten im Strafmaß oder gar im Schuldspruch auszudrücken (B XIV). Für den Gedanken, ein guter Vorsitz und ein schlechtes Urteil (wegen der nur "ausreichenden" Gründe) seien besser als das umgekehrte Verhältnis (A 11), war er ein schönes Beispiel. Der Staat und seine Justiz (einschließlich der Angeklagten) waren bei ihm besser aufgehoben, als bei seinem zwar normenstärkeren, aber tugendschwächeren Vorgänger. Man konnte von ihm auch sagen, er habe Autorität873 , obwohl er alles andere als "autoritär" war. Auch die Würde fehlte ihm nicht, obwohl er nichts "Würdevolles" an sich hatte: es war die natürliche Würde der 872 Den "Stil" bei der habe ich längere Zeit beobachten können; dazu bereits oben Abschnitt B VI. 873 Siehe oben in diesem Abschnitt.

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B. Einzelne Tugenden

Richtertugenden873 • Ebendarum war er auch eine Persänlichkeit873 • Der Zusammenhang zwischen Autorität, Würde, Persönlichkeit und Verhandlungsstil, den die Tugenden des Vorsitzenden herstellen, zeigte sich bei ihm in lehrreicher Weise. dd) Verhandlungsstile kann man klassifizieren, also Stilarten erkennen, wie in der Kunsttheorie. Fordert man zum Beispiel, der (vorsitzende) Richter müsse sich als Arzt fühlen, dann geht man von der Annahme aus, beide, Arzt und Richter, dieser jedenfalls als Strafrichter, hätten mit kranken Menschen zu tun und bedürften gleicher oder ähnlicher Tugenden. Ein hoher Richter 874 fordert darum von seinem Kollegen Demut, Bescheidenheit, Nächstenliebe und Mitempfinden. Ihnen stellt er als Laster gegenüber: überheblichkeit, Selbstsucht, Eigendünkel, frostigen Hochmut. Ein derart beschriebener "ärztlicher Verhandlungsstil" ist, wie man sieht, ein Katalog von Tugenden, das Wort vom "Richter als Arzt" ein Sammelname für ebendiese. Wenn man die empfohlenen Tugenden anwendet, muß man allerdings prüfen, ob sie wirklich richterliche sind87S • Anstatt den (vorsitzenden) Richter als Arzt zu sehen, kann man ihn als Lehrer oder gar als Priester ohne Weihe 876 verstehen. Stets empfiehlt man damit bestimmte Tugenden, deren Tugendwert (A VIII) der Gruppenautonomie der (vorsitzenden) Richter anheimgegeben ist. i) Die bisher genannten Sammelnamen für Tugenden haben, recht verstanden, "Bilder" von vorsitzenden Richtern entworfen; bei denen des Arztes und des Priesters ist ihr Gegenstand sozusagen mit Händen zu greifen. Von Bildern kann nun auch ausdrücklich gesprochen werden, wenn Tugenden gemeint sind: es gibt ein "Richterbild" , ein Leitbild und Idealbild des Vorsitzenden. SchornBn beschreibt das "Leitbild des Strafrichters" und bezeichnet als dessen Voraussetzungen Gerechtigkeit und Rechtssinn, Bescheidenheit und Demut, Menschlichkeit und Verantwortungsbewußtsein. Das ist ein Katalog von Tugenden, die, zusammen mit anderen Tugenden oder Eigenschaften, den Richter ausmachen. Insofern sind sie Leit-Tugenden und das Leitbild dafür ein Sammelname. Hennke 878 zeichnet "das Idealbild eines ruhigen, innerlich gelassenen, unvoreingenommenen, mit Skepsis gegenüber sich selbst erfüllten und in völlig ungestörter Selbstverantwortung wirkenden Richters". Schorn, S. 224 f. Dazu B II (über die Antinomie von Gerechtigkeit und Nächstenliebe). 876 Schorn, S. 2. sn Schorn, S. 1. S78 Hennke, Schleswig-Holsteinische Anzeigen 1968,277. 874 875

XV. Andere Tugenden, Eigenschaften und Sammelnamen

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Tugenden, die unter den Namen Richterbild zusammengefaßt werden, können, je nach ihrem Tugendgehalt, verschiedene, als gegensätzlich gedachte, Richterbilder ergeben. Wassermann879 untersucht das alte und das moderne "Richterbild" . Jenes charakterisiert er unter Verwendung älterer Terminologie durch einen Lasterkatalog politischen Gebrauches: Dunkel der Anonymität, Sprachrohr fremder Autorität, preußischer Obrigkeitsstaat, apolitische Bildungsideale im Sinne deutscher Innerlichkeit; Leitbild des "General Dr. von Staat" usw. Wassermanns "Bild" ist ein Sammelname für mögliche Inhalte einer einzigen (A VI) Tugend, der Staatstugend (B I), deren Gegenteile (Laster) der Autor mit Ironie und Sarkasmus anprangert880 • Der "Richter alten Zuschnitts" wird aber auch, was seine Tugenden betrifft, genau beschrieben. Er ist "korrekt, fleißig, gründlich, unbestechlich, angepaßt und genügsam", wobei die Angepaßtheit auf die Staatstugend zurückverweist880 • Anders sieht der Autor den "neuen Richtertyp" . Er nennt ihn "weniger Idealtypus, als vielmehr Realtypus" , weil, getreu den Postulaten moderner soziologischer Begriffsbildung, vom Empirischen auszugehen und darin wirkende Tendenzen zu einem Bild zu vereinen seien. Nun sind aber sowohl die in den Tugenden zu verwirklichenden Werte (stets neu) begehrte Gegenstände, die (stets neu zu verwirklichende) Ideale erstreben, die Tugendideale (als Tugendwerte). Ein Realtypus ist des Autors Richter erst dann, wenn die Ideale verwirklicht sind. Soziologie, auch solche mit moderner Begriffsbildung, die Postulate aufstellt, ist Ethik und empfiehlt Tugenden zu künftigem Gebrauch. Auch dem neuen Richterbild teilt daher Wassermann Tugenden zu. Was sollte er auch anderes tun? Zunächst bedarf sein Richter der Staatstugend (B I), ohne die kein Staat existieren kann. Ihr Inhalt ist freilich verändert. Man sieht es an dem Satz881 : "Wir brauchen882 den Richter, der vor den Mächtigen nicht die Knie beugt, sondern zum Widerspruch bereit ist." Speziell für den vorsitzenden Richter postuliert Wassermann Tugenden, die den "zeitgemäßen Wassermann, Recht und Politik 1969, 88 ff. Nicht ganz verständlich ist daher, wenn Wassermann (Recht und Politik 1969, 89) von seiner eigenen Kritik sagt, er hüte sich vor jeder moralisierenden Wertung. "Nur dümmliche Arroganz zieht Institutionen, die dem Denken ihrer Zeit faßbaren Ausdruck verliehen haben, vor den Richterstuhl der Gegenwart." Für diese Gegenwart und ihren Richterstuhl sind die Ausführungen allerdings gedacht. 881 Wassermann, Recht und Politik 1969, 92. 882 Das Brauchen meint den (künftigen) Idealtypus mit seinen Tugenden, dessen Realität freilich wünschenswert sein mag, aber ebendarum (noch) keinen Realtypus darstellt. 879

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B. Einzelne Tugenden

Verhandlungsstil"883 ausmachen. Dieser fordert 884 : Distanz, Vermenschlichung des Verfahrens, Herstellung von Vertrauen (auch des Angeklagten), demokratische Form der Verhandlung, Unvoreingenommenheit, Gründlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit. Viele Kollegen des Autors werden darauf verweisen, daß diese Tugenden schon dem alten Richtertyp geläufig waren.

XVI. Humor, Witz, Ironie, Sarkasmus, Schlagfertigkeit 1. Richterliche Kollegen empfehlen dem Vorsitzenden unserer Tage, sich zur Überwindung der Aporie (A I) mit Humor und Witz zu rüsten. Auch Schlagfertigkeit wird ihnen angeraten, Ironie und Sarkasmus können mit Beifall rechnen.

Wie sehen solche Empfehlungen aus und was ist von ihnen zu halten? Werden damit Tugenden oder Untugenden oder tugendneutrale Eigenschaften angepriesen? a) Steinbrenner885 meint, die Ordnung der Sitzung werde viel von der Gelassenheit, Nervenstärke, Schlagfertigkeit, dem Einfühlungs- und Durchsetzungsvermögen, auch dem Humor des Vorsitzenden abhängen. Sarstedt886 zeigt, "wie man einen Wichtikus bändigt, der nicht aufstehen will: indem man ihn schlagfertig und ironisch einlädt: "Nehmen Sie doch Platz!"887 Wassermann888 antwortet auf die Frage, ob er als Vorsitzender eine Ordnungsstrafe verhängen würde, wenn ihm der Angeklagte plötzlich zum Geburtstag gratulierte: "Das wäre ganz verfehlt. Zwar gehören Bemerkungen aus der privaten Sphäre nicht vor den Richtertisch. Andererseits soll der Richter solche Situationen auffangen können. Es ist selbstverständlich, daß man eine Gratulation als ungehörig zurückweist, aber in einer Form, die die Lacher auf die Seite des Vorsitzenden bringt." Denn "in einer solchen Situation darf im Gerichtssaal gelacht werden"889. Wassermann, Recht und Politik 1969,94. Das Fordern liegt dem Brauchen analog, einen Realtypus meint es nicht. 885 Steinbrenner, Die Justiz 1968, 236. 886 JZ 1969, 153. 887 Dazu unten in diesem Abschnitt. 888 Stern-Interview vom 10. 11. 1968. 889 Tugendvergleiche (A XVII) zeigen, daß der Humor auch in den höchsten Etagen des Vorsitzes, zum Beispiel bei Ministerpräsidenten, geschätzt ist. So kommt es, "daß der Prototyp des emsigen Schwaben, Spaeth, den Alemannen (in Freiburg im Breisgau) weniger liegt als der mit hinreichend Humor und Bedächtigkeit ausgestattete Schwabe Rommel" (F AZ vom 15. 8. 1978). Freilich ist der Humor hier mit Bedächtigkeit, d. h. Besonnenheit (B VII) gekoppelt, eine gute Idee! 883

884

XVI. Humor, Witz, Ironie, Sarkasmus, Schlagfertigkeit

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Steinbrenner und Wassermann sprechen vom Humor bzw. vom Lachen; beides hängt zusammen. Schlagfertigkeit, Ironie und Sarkasmus kommen ohne Lachen aus; vielleicht wollen sie, daß es dem andern vergeht. b) Das Lachen, die menschliche "Grenzreaktion" , von einer Gemütsbewegung her in das Körperliche hineinwirkend, gilt als hoher Wert unseres Zusammenlebens, freilich nur das gute Lachen. Unter seiner freundlichen Begleitung werden sympathische Stimmungen erzeugt, schwierige Lagen gemeistert und unbequeme Wahrheiten gesagt. Es ist ein befreiendes Lachen. Das böse Lachen ist blasiert, obszön, zynisch, brutal, dumm. Weil wir lachen können, sind wir des Humors fähig. Der gute Humor geht mit dem guten Lachen einher, er kommt aus der unbeschwerten Heiterkeit des Gemütes, gleicht Gegensätze aus und stiftet Frieden. Nach Curt Goetz ist er nicht erlernbar: neben Geist und Witz setzt er Herzensgüte, Geduld, Nachsicht und Menschenliebe voraus. Wenn der gute Humor sogar über sich selber lachen kann, wird er von hohen Tugenden gespeist, zum Beispiel von der Demut (B XII)890. Der böse Humor kann sich von bösem Lachen begleiten lassen, er kann in Ironie und Sarkasmus übergehen oder überhaupt von ihnen diktiert sein. Als schwarzer Humor treibt er Scherz mit Furcht und Schrecken, als Galgenhumor mit dem eigenen Unglück. e) Der böse Humor widerstreitet allen Tugenden: Ordnung (als Wahrheits-Ordnung, B IV), Gerechtigkeit, Fairness, Weisheit, Klugheit, Besonnenheit, Selbstbeherrschung, Distanz, Umgangsformen. Sein Gebrauch in foro ist indiskutabel. Der Justizterror bedient sich seiner nach dem Spruch: wenn ich lache, lacht der Teufel. Mit dem Galgenhumor einer Angeklagten hatte es der Vorsitzende im Prozeß gegen die Rote Kapelle zu tun891 . Jene, später hingerichtet, unterbrach die Verhandlung durch Zwischenrufe und Gelächter derart, daß der Vorsitzende sie ermahnte: "Mir ist die Sache zum Lachen zu ernst, auch Ihnen wird noch einmal das Lachen vergehen!" Darauf schrie die Angeklagte durch den Saal: "Und auf dem Schafott werde ich Ihnen noch ins Gesicht lachen!"892 Vom Galgenhumor nicht des Angeklagten, sondern des Vorsitzenden selber, erzählt die von Willms893 wiedergegebene (irreale) Geschichte 890 F. Borggrewe (Wort in den Tag) in SW-Funk vom 10.8.1978. 891 H. Höhne, Kennwort Direktor, Die Geschichte der Roten Kapelle, 1970,

S.226.

892 Heutige Leser werden die zivilisierte Sprache bewundern, die in solchen Lagen bei uns abgeschafft ist. 893 DRiZ 1974, 51; dazu Abschnitt AI.

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B. Einzelne Tugenden

"Rabatz im Gerichtssaal". Daß ein wirklicher Vorsitzender, wiewohl vom Schicksal der Aporie geschlagen, über sein Unglück (in der Sitzung) gelacht hätte, ist noch nicht berichtet worden. d) Dem Vorsitzenden bietet sich damit allenfalls der gute Humor an, freilich nur, wenn er ihn "hat"; erlernbar ist er, wie gesagt, kaum. Die Frage ist aber, ob unsere Tugenden auch dem guten Humor Grenzen setzen. Man kann sie anhand des lehrreichen Gratulationsfalles894 beantworten, den Wassermann in den Mittelpunkt seiner Gedanken gestellt hat. Der Fall ist aktuell und der Autor der Überlegungen ein hoher Richter mit großer Praxis. Wassermanns Vorsitzender weist die Gratulation als ungehörig zurück, aber nicht durch die übliche "Anordnung" nach den §§ 176, 177 GVG, sondern in einer Form, die die Lacher auf die Seite des Vorsitzenden bringt. Nun sagt aber Wassermann nicht, wie das geschieht. Das wäre nötig gewesen: in allgemeinen Gedanken philosophiert es sich gemütlich, der Teufel steckt im Detail. Darum fragt Wassermanns (journalistischer) Gesprächspartner, ob die Herren Vorsitzenden dem vielfachen Ulk in 800 Verfahren gegen Studenten895 gewachsen seien. Wassermann antwortet: "Wünschenswert wäre, daß unsere Richter menschlich und intellektuell jeder Provokation gewachsen sind." Wassermanns Rat ist keine Regel der (Sitzungs-) Klugheit (B VI). Dazu fehlt es ihr an der nötigen Allgemeingültigkeit. Es mag Vorsitzende geben, die, wenn ihnen die Umstände gnädig sind, einen (zu ihren Lasten gedachten) "vielfachen Ulk" in Lachen (zu ihren Gunsten) verwandeln können. Es ist aber weder eine Kritik an der Richterschaft noch gar eine Schande, wenn man sagt: sie sind so selten, wie entsprechende Lebens- und Kontaktkünstler in anderen Berufsgruppen, zum Beispiel bei Professoren. Vorsitzende Richter werden ja nach § 21 e GVG für das kommende Geschäftsjahr bestimmt, aber nicht nach ihren humoristischen Fähigkeiten in schwierigen Fällen; zumindest die letzteren sind zur Zeit der Bestimmung noch gar nicht bekannt. Auch gibt es zwar viele Klugheitsregeln (B VI), aber wohl keine für Humor in der Sitzung (im Sinne von Wassermann). Hingegen gibt die (Sitzungs-) Klugheit dem Vorsitzenden den (freilich traurigen) Rat, in der Sitzung auf Humor zu verzichten. Das Lachen ist eine sensible Reaktion, die von kundiger Hand gesteuert werden kann. Der Vorsitzende kann nicht sicher sein, daß er dabei anderen Steuermännern überlegen ist: es könnte auf seine Kosten Siehe oben in diesem Abschnitt. Diese waren damals (1968) anhängig, das Nachdenken über die Sitzungspolizei und ihre Tugenden hatte begonnen. 894

895

XVI. Humor, Witz, Ironie, Sarkasmus, Schlagfertigkeit

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gelacht werden. Das hat jener Journalist gemeint, als er fragte, ob die Herren Vorsitzenden dem vielfachen studentischen Ulk gewachsen seien; der Praktiker Wassermann konnte die Frage nicht bejahen. Daher rät die Klugheit den Vorsitzenden zur Zurückhaltung; mögen sie ihre Späße außerhalb der Sitzung betreiben. Wassermanns Rat will die Lacher auf die Seite des Vorsitzenden bringen. Er geht offenbar davon aus, daß es bereits Lacher gegeben hat: das war der Effekt der Gratulation, ein Erfolg der Gratulanten. Hier hat die Tugend der (Verfahrens-) Gerechtigkeit (B II) mit ihrer absoluten Gleichheit von Kläger und Beklagtem, Täter und Opfer, Bedenken anzumelden. Unser Gratulationsfall nennt Tat und Opfer nicht. Das ist auch nicht nötig, denn der gegebene Rat will ja allgemein gelten. Zudem ist der Staat selber stets das Opfer einer als ungehörig (Wassermann) zu qualifizierenden Aktion; als solches ist er unsichtbar gegenwärtig, nicht anders als ein getötetes Tatopfer. Die Tugend der Gerechtigkeit verlangt nun, daß alle Beteiligten, Kläger und Beklagter, Täter und Opfer, das forensische Lachen in gleicher Weise als befreiendes, gutes Lachen wertschätzen. Anders ausgedrückt: auch guter Humor und gutes Lachen müssen "gerecht" sein. Diese (absolut) gleiche Wertung wird selten erreichbar sein. Die (vielleicht schwer) Verletzten werden für jene Gratulation kaum Sinn haben, auch nicht die Hinterbliebenen der Gemordeten. Noch weniger werden sie den Vorsitzenden verstehen, der den Spaß dadurch würdigt, daß er ihn fortsetzt und "die Lacher auf seine Seite bringt". Sie verlangen vielmehr eine (Wahrheits-) Ordnung (B IV), in welcher, aufmerksam und ernst, festgestellt wird, wie es zu den Verletzungen des Rechtes kam. Diese Ordnung beruht auf der (Verfahrens-) Gerechtigkeit (B II): Humor auf Kosten des einen erlaubt sie nicht. e) Ein Vorsitzender, der nicht in dem dargelegten Sinne verfahrensgerecht ist, kann makabre Szenen heraufbeschwören, ohne daß sie von Akteuren inszeniert sein müßten. In einem Sensationsprozeß, der furchtbare Verbrechen zum Gegenstand hat, findet ein auswärtiger Lokaltermin mit 20 Teilnehmern statt. Von der Reise zum Tatort heißt es896 : "In der Caravelle, die ... gen Wien startet, Gelächter. Aus den Lautsprechern wirbeln Wiener Walzer ... Fröhlich ertönt der Ruf: Halt, wo ist denn unser Angeklagter?" Hier sieht man dreierlei: daß der Lokaltermin zur Sitzung und damit zum Wirkungsbereich ihrer Tugenden gehört; daß das Amt des Vorsitzenden von kaum zu bewältigender Schwere ist; daß die Verfahrensgerechtigkeit mit ihren Gedanken an die Opfer unversehens verspielt ist. 896

Mauz, Die Gerechten, S. 234 ff.

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B. Einzelne Tugenden

f) Kehrt man zurück zu den Akten gesteuerten Gelächters von der Art der Gratulation, dann steuert die Sitzungsklugheit (B VI) noch folgende überlegungen bei. Ein humoristisches Modell mag, wenn dem Vorsitzenden das Glück hold ist, zur Bereinigung einer Gratulation taugen. Wie verhält er sich aber bei "Richterküßaktionen", Gesangsdarbietungen, Entkleidungsszenen, die, wie jene Gratulation, ihre Lacher unter den Zuhörern für sich haben mögen? Sollten auch hier die Lacher auf die Seite des Vorsitzenden gezogen werden? Ist nun aber eine (absolut) gleiche Wertschätzung auch des guten Lachens in der Gerichtssitzung selten erreichbar, weil es stets um gegensätzliche Interessen geht, dann fordert die Klugheit als Providenz und Vor-Sicht, vorsorglich den Ernst dem Humor vorzuziehen. Dem durchschnittlichen Vorsitzenden bekommt dieser Rat besser als die Empfehlung Wassermanns, die dem Ratgeber selber897 angemessen sein mag. Besser könnte er beraten sein, wenn er den Pfad seiner Tugenden beschritte. Er ist steil und steinig, wie eben Tugendpfade zu sein pflegen. Wie sehen seine Stationen aus? Könnte vielleicht ausnahmsweise 898 die Bescheidenheit (B XII) den Reigen eröffnen und dem Vorsitzenden raten, die wackere Einfalt der Tugend in glanzloser Bauernstube dem eleganteren Parkett des Humors vorzuziehen? Wenn ja, könnten die übrigen Tugenden ihres Amtes walten. Die Tugend der Gelassenheit (in ihrer Erscheinungsform der Athaumasie, B XI) erlaubt ihm, sich über die Gratulation (oder andere vergleichbare Akte) nicht einmal zu wundern. Die Tugend der Selbstbeherrschung (B X) gewährt ihm das gleiche hohe Gut, wenn ihm die Gelassenheit versagt sein sollte. Die Tugend der Besonnenheit (B VII) schenkt ihm die Zeit der nötigen Besinnung, die er sich notfalls durch Unterbrechung der Sitzung nimmt. Die Tugend der Ordnung (als Wahrheits-Ordnung, B IV) belehrt ihn darüber, daß jene Gratulation von der Erforschung der Wahrheit (der Tat) ablenken soll. Die Staatstugend (B I) sagt ihm, daß er wegen § 176 GVG einschreiten muß. Die Tugend des Maßes (B XIV) inspiriert ihn zu folgender überlegung. Der Versuch, über die Gratulation zur Tagesordnung überzugehen, ist wohl keine falsche Gelassenheit (B XI). Wenn die Gratulanten den Hauch des Maßes verstehen, ist die Ordnung wiedergewonnen, sogar ohne Zurückweisung der Glückwünsche "als ungehörig" (Wassermann). Wenn nicht, liegt eine gewöhnliche Störung vor, deren Beseitigung freilich wiederum unsere Tugenden herausfordert: 897 Ungeübte Bergsteiger, das ist eine alpine Erfahrung, sollten sich nicht von großen Könnern über die Schwierigkeiten von Touren beraten lassen; der Rat kann tödlich sein. 898 Sonst regieren die Tugenden der Gelassenheit, Selbstbeherrschung und Besonnenheit gerne als die zeitlich ersten (A V).

XVI. Humor, Witz, Ironie, Sarkasmus, Schlagfertigkeit

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Selbstbeherrschung, Besonnenheit, Gerechtigkeit, Maß usw., ohne daß sich Probleme ergäben. Damit wäre die wichtigste Phase der Gratulationsgeschichte in die überlegung einbezogen, die des jehlgeschlagenen Humors. über sie äußert sich das berichtete humoristische Modell Wassermanns nicht. g) Wer als Richter der Tugend folgen und das Lachen für die Zeit nach der Sitzung aufsparen will, hat es nicht immer leicht. Das Lachen ist eine Naturgewalt, sogar eine wertgeschätzte. Man muß es "sich verbeißen", wenn man ihm nicht unterliegen will. Die Tugend der Selbstbeherrschung (B X) muß zu Hilfe kommen: sie tritt auch gegen Naturgewalten an, gerade gegen diese. Wenn in einer Sitzung der sog. Sexualkram auftaucht, kann trotz aller Entmythologisierung der Ernst schwinden. Dann gilt: "Es gibt viel zu lachen, wo die Justiz sich mit dem Umgang befaßt, dem Adam und Eva obliegen."s99 In einem Mordprozeß9OO kommt ein Liebesbrief des Angeklagten an seine mitangeklagte (ehemalige) Freundin zur Sprache. "Als der Vorsitzende den Brief verliest, lächeln die Richter und die Sachverständigen, ... weil Liebesbriefe auf Dritte meistens komisch wirken, zumal, wenn sie so geschraubt klingen." Hier wird vom Lächeln gesprochen, es ist wohl Lachen gemeint90l , da von komischer Wirkung die Rede ist. Im Verfahren ist die Ehefrau des Briefeschreibers unsichtbar gegenwärtig, die nach der Anklage auf Anstiftung des Schreibers von jener Freundin mit dem Gürtel eines Bademantels erdrosselt wurde. Der Brief ist eine Urkunde von tödlichem Ernst. Es war angebracht, daß sich die Richter ihren Inhalt unbewegt anhörten, Selbstbeherrschung war nötig; damit waren die Richter auch dann nicht überfordert (A IX), wenn sie jene lächerliche Urkunde noch nicht aus den Gerichtsakten gekannt haben sollten902 • h) Wer als Vorsitzender Lachen und Humor zugunsten höherer Werte vermeiden will, braucht die (Sitzungs-) Klugheit des rechten Wortes (B VI). Der Ernst der Wahrheit ist schnell verspielt, das Gaudium bemächtigt sich eilig der Szene. In einem Verfahren, in welchem vier ermordete Opfer unsichtbar gegenwärtig sind, will der Vorsitzende von einem der Angeklagten wissen, warum dessen mitangeklagter Freund ihn zu Unrecht belaste. Er fragt ihn entsprechend und fügt hinzu: "Sie kennen ja sonst wohl ihren Freund von innen und außen." Auf diese Bemerkung des Vorsitzenden 899

900

Mauz, Die Gerechten, S. 105.

F AZ vom 23.4. 1976.

Auf den Unterschied gehe ich nicht ein. Auf den entgegengesetzten Fall gehe ich nicht ein: zahlreiche Laster waren dann offensichtlich. 901

902

224

B. Einzelne Tugenden

"wird nun in der Schwurgerichtssitzung gelacht, in der es um vierfachen Mord geht". Der Vorsitzende hatte nämlich nicht bedacht, daß zwischen den "Freunden" ein homosexuelles Verhältnis bestanden hatte. Seine farbige Diktion Lvon innen und außen") war nicht das rechte Wort. i) Die Klugheit des rechten Wortes erfordert eine ständige Anpassung des Vorsitzenden, damit er die mehrfache Interpretierbarkeit seiner Äußerungen erkenne. Vor einem Bundesgericht903 sagte ein rechtskundiger hoher Beamter als Zeuge aus. Seine Bekundungen waren von "Distanz", "Frostigkeit" und "peinlicher, provozierender Genauigkeit bei Dienstgraden und ähnlichen Details der Beamtenhierarchie" gekennzeichnet. Der Vorsitzende beendete die Vernehmung mit der Feststellung, "daß der Zeuge außerordentlich vorsichtig ausgesagt hat". Er meinte das ernst; "Juristen, er schließt sich selbst ein, seien als Zeugen unsicherer als jeder andere". Diese Meinungsäußerung quittierten die Anwesenden mit "Gelächter, das der Präsident scharf rügt" . Hier verletzte die durch den Vorsitzenden gegebene vorweggenommene Beweiswürdigung904 das geltende Recht und die Tugenden der Distanz (B XIII) und der Klugheit (B VI). Die Sitzungsklugheit des rechten Wortes kam zu kurz, weil er nicht bedachte, daß die deutsche Öffentlichkeit von einem "Juristen", der (in eigener Sache) so zurückhaltend aussagt, eine andere Meinung hat, als die von ihm selber formulierte: als treuherziges Richterwort löste es Gelächter aus. Daß dieses "scharf gerügt" wurde, war allerdings (vom Standpunkt des Vorsitzenden, der alles ernst meinte) "logisch". Besser wurde die Lage dadurch nicht. k) Wassermanns Gratulationsfall bedient sich des defensiven Humors: der Vorsitzende soll mit seiner Hilfe den Glückwunsch "als ungehörig zurückweisen", also die Ordnung des § 176 GVG verteidigen. Ihm steht der offensive Humor gegenüber: der unprovozierte Vorsitzende spielt sich als Spaßmacher auf, um, eben zum Spaß, die Lacher auf seiner Seite zu haben. Ein Amtsrichter in Zivilsachen905 pflegte die Zeugen auf eine besondere Art nach § 395 ZPO zur Wahrheit zu ermahnen. Er begann mit geheimnisvollen Fragen: ob dem Zeugen am Saale, an der Saaldecke oder gar an einem Deckenbalken etwas auffalle? Die Zeugen reagierten, je nach Charakter verwundert, ängstlich oder belustigt. Dann stellte der Richter, nach derart dramatischer Vorbereitung, die Kardinalfrage, was es wohl mit einem (etwas krummen) Balken in der Saaldecke auf sich 903

904 905

Mauz, Die Gerechten, S. 198. Scheuerle, ZZP 66 (1953), 306 ff. Den Fall berichte ich aus eigener Erfahrung.

XVI. Humor, Witz, Ironie, Sarkasmus, Schlagfertigkeit

225

habe. Wenn der Zeuge, wie meist, nicht antwortete, sagte der Richter, schelmische überlegenheit und Freude am eigenen Spaß in den Augen: "Hier wird nämlich gelogen, daß sich die Balken biegen!" Nun schloß er seine Belehrung nach § 385 ZPO an. Mitunter konnte ein Zeuge, durch einen Anwalt vorbereitet, die (gerichtsbekannte) erwünschte Antwort geben. Dann war die Freude umso größer, wenigstens auf Seiten des Richters, der sich auch hier als rechter Spaßvogel bewährte. Nicht selten erntete er allgemeines Lachen. Man konnte die Meinung hören, er sei aufgelockert, volksnah, kein trockener Jurist usw. Sein Verfahren wandte er auch gegenüber Parteien an, wenn er sie nach §§ 451, 395 ZPO ermahnte. Unser Balkenfall ist von einer (relativen) Einmaligkeit. Weder seine Gegner noch seine Sympathisanten müssen befürchten, er wachse sich zu einem übel aus. Allerdings enthält er die (allgemeine) Tendenz wider den sog. tierischen Ernst, in der Staatskrise als willkommener Ausweg aus Ausweglosigkeiten vielfach geschätzt. Insofern wohnt dem Fall ein allgemeines Prinzip inne, das eine allgemeine Stellungnahme ermöglicht. Auch hier kommt es auf den allgemeinen (durchschnittlichen) Vorsitzenden an, nicht auf den (seltenen) Meister, dem Ausgefallenes gelingt. Jener Vorsitzende hat die Tugend der Bescheidenheit (B XII) vergessen, er spielt Theater, als dessen Held er selber auftritt. Auch die Tugend der Distanz (B XIII) ist ihm fremd; er läßt sich mit Parteien und Zeugen in ein Gespräch ein, das der Zurückhaltung entbehrt. Die Tugend der Gerechtigkeit (B 11) hätte ihm gesagt, daß der Zeuge in der Regel der Zeuge einer Partei ist; wenn er mit ihm lustige (oder als lustig gedachte) Gespräche führt, mag die andere Partei das Vertrauen in die Objektivität verlieren. Auch die Tugend der Ordnung (B IV) konnte ihm einen Rat geben. Wenn es um Wahrheit und Eid geht, weiß jeder, was gemeint ist; man muß ihm keinen Unterricht mit psychologischen Taktiken geben. An die Tugend des Umgangs (B IX) hätte unser Richter denken müssen, wenn ihm ein unfreiwilliger Mitspieler gesagt hätte: "Herr Richter, ich bin nicht schwer von Begriff und bedarf keiner Verständnisbrücke; walten Sie Ihres Amtes nach dem Gesetz und lassen Sie die Einführungsmethoden, wie sie bei Unmündigen angebracht sein mögen!" Dieser Rat voller Tugenden ruft freilich manchen zum Streit, dem schon das Wort Tugend mißfällt (A IV). Anderen behagen die einzelnen Tugenden nicht, die den Balkenfall leiten könnten. Sie verweisen auf (noch) Allgemeineres: Souveränität, Persönlichkeit usw. (B XV). Einige sind aber vielleicht bereit, den .Balken auch im eigenen Auge zu sehen und nachzudenken. Für sie ist der Balkenfall gedacht, auch wenn sie jenen Amtsrichter nachahmenswert finden. 15 Scheuerle

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B. Einzelne Tugenden

1) Muß man die allgemeinen Züge des Balkenfalles wegen seiner (relativen) Einmaligkeit besonders hervorheben, so hat man es leichter mit Vorsitzenden, die ohne Nebengedanken (von der Art des § 395 ZPO) einfach Humor veranstalten, um sich als Conferencier hervorzutun. So sagt ein Vorsitzender in der Urteilsbegründung906 über eine Zeugin, sie sei eine Frau, und Frauen hätten nun einmal ein nicht ganz überzeugendes Schätzungsvermögen, man erlebe das ja in seinem privaten Bereich. "Quiekende Fröhlichkeit ob dieser Behauptung in der ersten Reihe des Sitzungssaals - bei den Damen des Richters ... " Verfahrensrechtlich erinnert die Beweiswürdigung an alte Schulfälle über den sog. Verstoß gegen Erfahrungssätze907 in Verfahrensvorlesungen. Daß zahlreiche Tugenden den Spaßmacher kritisieren, muß nicht im einzelnen ausgeführt werden. 2. Der Witz ist aus dem forensischen Diskurs nicht wegzudenken. Als Anekdote, Wortwitz oder Situationswitz mit überraschenden Pointen stellt er fremde Meinungen in Frage und ist darum seit je eine geschätzte Waffe der Anwälte, deren Rhetorik er bereichert. Da er auch Spannungen zu lösen vermag, könnte er sich dem vorsitzenden Richter als eines der Mittel zur Aufrechterhaltung der Ordnung der Sitzung und ihres die Sache (der Wahrheit) fördernden Ablaufs anbieten. Seine sprachliche Abstammung von Wissen und Weisheit ("Mutterwitz") ist ein Anzeichen für einen gesicherten Platz in der Werteskala, die Tugend der Klugheit wird sich seiner dankbar bedienen. Ob ihn auch die Sitzungsklugheit (B VI) des Vorsitzenden brauchen kann, ist zu prüfen. a) Zunächst wird dem Vorsitzenden nur der gutartige908 Witz erlaubt sein. Die Probe auf die Gutartigkeit ist positiv, wenn Kläger und Beklagter, Täter und Opfer, einen Witz als gutartig empfinden und gemeinsam darüber herzlich lachen können. Das ist nicht der Fall, wo Richter (nach einer Beobachtung von Sarstedt909) "über den Angeklagten billige Witze machen". Diese billigen Witze sind keine "gerechten" Witze. überhaupt wird eine von allen empfundene Gutartigkeit nicht häufig sein. Jedem Verfahren sind die gegensätzlichen Interessen wesensgemäß. Witze beziehen ihren Stoff aus eben diesem Gegensatz Mauz, Spiel, S. 189. Etwa: der Zeuge ist Kellner; da Kellner immer lügen, war ihm nicht zu glauben. 908 Er ist nicht mit dem "guten" Witz zu verwechseln, der bösartig sein kann. 909 JZ 1969, 153. 906

907

XVI. Humor, Witz, Ironie, Sarkasmus, Schlagfertigkeit

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und interpretieren meist einen seiner Aspekte. Die Betonung eines Witzes als gutartig oder "gerecht" verlangt ein sensibles Urteil. Was auf den ersten Blick harmlos aussieht, kann sich auf den zweiten Blick als bedenklich erweisen. Als ein unbeholfener Zeuge von einem Veteranen sprach und damit den Veterinär meinte, nahm sich ein sonst eiliger Amtsrichter910 Zeit für den genüßlichen Vortrag folgender Geschichte. Eine Dame erzählte einer anderen, ihr neuer Freund sei Veterinär. Da fragte die Angesprochene enttäuscht, ob das denn so ein alter Krieger aus dem ersten Weltkrieg sei. Die Erzählerin aber klärte auf: ein Veterinär sei doch einer, der kein Fleisch esse. Der Zeuge selber lachte nicht, weil er den Geistesblitzen nicht gewachsen war. Wohl aber lachten viele andere, die einen früher, die anderen später, man konnte den Intelligenzquotienten und die sog. lange Leitung am Werke sehen. Die Solo-Nummer des Amtsrichters mochte ein Stück Beweiswürdigung sein, in die Sitzung gehörte sie nicht. Der Zeuge war, wie meist, Zeuge einer Partei. Ihn zur Bezugsperson eines Witzes zu machen, in welchem er keine intelligente Rolle spielte, verletzte die Tugend der Verfahrens-Gerechtigkeit (B II) mit ihrem absoluten Gleichbehandlungsgebot. Unser Amtsrichter hat einen Grund geschaffen, der geeignet war, Mißtrauen in seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen (§ 42 II ZPO). Der richterliche Auftritt widersprach auch der Tugend der Ordnung, die eine Wahrheits-Ordnung (B IV) ist. Die Forschung nach der Wahrheit ist "nie zu Ende". Lustige Einlagen sind ihr selten zuträglich. Daher sollten sie im Zweifel unterbleiben. Die Tugend der Distanz (B XIII) hätte ihm verboten, mit einem Witz zu Lasten eines Zeugen dessen Beweiswert ins Lachhafte zu ziehen und damit seine Intimsphäre zu verletzen, anstatt in zwei Worten (in den Urteilsgründen) zu sagen, was der Zeuge meinte und was für Schlüsse man vielleicht aus dem Umgang des Zeugen mit Fremdworten ziehen mußte. Die Tugend des höflichen Umgangs (B IX) hätte den Richter hindern sollen, die allgemeine Erfahrung, daß Fremdwörter Glückssache sind, in einem Theaterstücklein aufzuwärmen, um den Zeugen vor aller Augen und Ohren als Dummkopf hinzustellen. Ein Vorsitzender, dem die Tugend der Bescheidenheit (B XII) vertraut war, versagte es sich, seine Person in der Erwartung in Szene zu setzen, er werde dafür Beifall und Heiterkeit ernten. So mußte er sich die Geschichte, obwohl sie gut in den Zusammenhang paßte, verkneifen. In einer Fachzeitschrift mochte sie

910

15°

Die Geschichte berichte ich aus eigener Erfahrung.

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B. Einzelne Tugenden

besser aufgehoben sein und zudem eine noch größere Publizität911 gewinnen. b) Vorsitzende, die ihren witzigen Geist leuchten lassen wollen, sind in der Wahl der Anlässe und Stoffe oft nicht kleinlich. In einem Prozeß912 wegen Feststellung der Vaterschaft war ein sechzehnjähriger Bursch verklagt. Der Richter fragte ihn, ob er allein erschienen sei. Der Beklagte sagte, sein Vater sitze im Zuhörerraum. Der Richter, im ganzen Bezirk für ähnliche Scherze bekannt, rief in den vollen Saal hinein: "Großpapa, treten Sie vor!" Ein hoher Richter sagte über die frühe Geburt der Tochter eines Angeklagten: "Das war also eine Thusnelda, die war zu schnell da!"913 Hat sich jener Vorsitzende damit als des Reimens kundiger Richter erwiesen (und bestätigt, daß er einem Volke nicht nur der "Denker", sondern auch der "Dichter" entstammt), so kann sich ein Kollege des Wortwitzes mit Esprit bemächtigen. In einem Verfahren wegen Bankraubes, in welchem das Gericht von einem italienischen Angeklagten mit kaum nachvollziehbaren "Einlassungen" bedient wurde, sagte der Vorsitzende914 : "Das kommt mir alles sehr spanisch vor, um nicht zu sagen italienisch." Seine Bemerkung mag als "gar nicht schlecht" beurteilt werden, weil eine humorlose Gesellschaft für alles dankbar sein muß. Trotzdem hätte er sie sich sparen sollen. Daß die deutschen Angeklagten weniger "spanisch" oder gar "italienisch" lügen, ist nicht sehr wahrscheinlich. Auch intelligenter lügen sie sicherlich andererseits noch nicht, das Gegenteil ist näherliegend. Viele Tugenden erheben sich gegen den Sitzungs-Esprit unseres Vorsitzenden. Als Freizeit-Esprit wird er sich mancher Wertschätzung erfreuen. Ein willkommener Anlaß für Humor scheint auch bei Vorsitzenden eine Zeitlang der Umstand gewesen zu sein, daß Fußballer für Meineide nur Geldstrafen erhalten hatten. Denn "es gilt derzeit in der Bundesrepublik als originell, wenn ein Richter bei der Zeugenbelehrung aktuell ist. So ließ beispielsweise der Richter ... einen Zeugen wissen, er habe mit einer Freiheitsstrafe zu rechnen, so er falsch Zeugnis ablege -, es sei denn, Sie seien ein bekannter Fußballer, dann bekommen Sie nur eine Geldstrafe"915. 911 Diese Art Richterpublizität mißbilligt keine Tugend; im übrigen siehe Abschnitt B XII. 912 Den Fall habe ich erlebt. 913 Spiegel vom 26. 1. 1970, S. 84. 914 Mainzer Allgemeine Zeitung vom 9. 3. 1978 ("Mit der Pizza in der Hand zum Bankraub"). 915 Spiegel vom 9. 2. 1976, S. 65.

XVI. Humor, Witz, Ironie, Sarkasmus, Schlagfertigkeit

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In solchen Fällen hat es der Tugendrichter leicht, das Neinsagen fällt ihm nicht schwer. c) Das Schicksal richterlichen Witzes kann sich an Ort und Stelle entscheiden, wenn der Angeklagte darin dem Vorsitzenden überlegen ist. Ein Angeklagter, der wiederholt dem gleichen Vorsitzenden gegenübergestanden hatte, will sich über ihn lustig machen und sagt zu Beginn der Sitzung: "Herr Vorsitzender, Sie kommen mir so bekannt vor!" Der letztere antwortet: "Sie sind ein Witzbold." Darauf der Angeklagte: "Wieso ich?"916 Hier hätte die Tugend der Sitzungsklugheit (B VI) den Vorsitzenden von seiner als witzig (oder schlagfertig) gedachten Reaktion abhalten sollen. Der Angeklagte hatte den längeren Atem, er konnte das Gespräch beliebig lang fortsetzen. Die Tugend der Ordnung als Wahrheitsordnung (B IV) verbot ihm das Gespräch, das mit der Feststellung der Wahrheit einer schweren Anklage nichts zu tun hatte. Die Tugend der Distanz (B XIII) riet ihm, auf die kumpelhafte Annäherung nicht einzugehen. Sollte er gehofft haben, "die Lacher auf seine Seite zu ziehen", so sah er sich getäuscht. Er mußte sich verhalten, wie der Vorsitzende des Gratulationsfalles917, dem der gegenwärtige ähnlich ist. Es gilt der Satz: wer sich mit einem anderen auf etwas einläßt, riskiert um so mehr, je weniger der andere riskiert. Im konkreten Falle riskierte dieser nichts, jener aber (zwar keine "Würde", aber mindestens) die (Wahrheits-) Ordnung (B IV) der Sitzung. Unser Vorsitzender ist in mehrfacher Hinsicht hereingefallen. 3. Die bisherigen Beispiele betrafen Fälle, in denen Lachen, Humor und Witz nur einzelne Szenen der Sitzungen ausmachten, sozusagen den Auftritt des Bajazzo in der Tragödie. Nun gibt es aber auch Verhandlungen, die als ganze unter ihrem Leitmotiv stehen. Die Presse berichtet918 : "Fröhliche Stimmung herrschte gestern im Landgericht Düsseldorf bei der Verhandlung gegen Jürgen Grass. Die heiteren Mienen von Richterin und Staatsanwalt ließen das Urteil fast schon beim Beginn der Verhandlung ahnen; Freispruch für den Angeklagten." Dieser hatte in einer "Festschrift" zur 600-Jahr-Feier von Krefeld die Stadtväter als Ratten bezeichnet, denen es wichtiger sei, Geld für Feiern als für Obdachlose auszugeben. Er wurde wegen Wahrnehmung berechtigter Interessen freigesprochen 919 . Der Pressebericht 916 Langhans (ohne Seitenzahl). 917 Siehe oben in diesem Abschnitt. 918 Westdeutsche Zeitung vom 27. 11. 1974 in DRiZ 1975, S. 52 f. 919 Der Angeklagte war zunächst in Krefeld verurteilt worden; das Revisionsgericht hatte das Urteil aufgehoben und an ein Gericht in Düsseldorf zur erneuten Verhandlung verwiesen.

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B. Einzelne Tugenden

fährt fort: "Richterin und Staatsanwalt fanden die ,Festschrift' so gelungen, daß beide um ein Exemplar mit Autogramm baten. Weniger erfreut waren die Zeugen, Oberbürgermeister, Stadtdirektor und Beigeordneter. Nach einer zweistündigen vergeblichen Wartezeit durften sie ungehört wieder gehen." Ein Richter920 meint dazu: "Die Betroffenen haben sich zu Recht gekränkt gefühlt. Staatsanwalt und Richter mögen den Vorfall als lächerlich empfunden haben. Das Taktgefühl den Beleidigten gegenüber hätte es geboten, die Belustigung auf ihre Kosten nicht zur Schau zu tragen. Unvereinbar mit richterlicher Würde ist vollends, wenn Richter sich mit dem Angeklagten gemein machen und sich Autogramme auf ein Pamphlet geben lassen. Solches Verhalten muß das Ansehen der Richter in der Öffentlichkeit mindern." Ein zweiter Richter 921 ist anderer Meinung. Der Pressebericht wäre ihm "nicht aufgefallen", hätte ihn nicht die Stellungnahme eines Kollegen so tief getroffen. Er (der zweite Richter) hat nämlich "sogar schon mit Leuten gelacht, die er danach nicht freisprechen durfte" . Der erzählte Fall zeigt den Gegensatz von Täter und Opfer mit geradezu räumlicher Deutlichkeit: im Saale herrscht fröhliche Stimmung zugunsten des (etwaigen922) Täters, draußen wartet die (etwaige922) geschädigte Stadt in Gestalt ihrer Organe, die (möglicherweise922) auch persönlich geopfert werden. Die Fröhlichkeit ist eine einseitige, die Tugend der Gerechtigkeit (B 11) verbietet sie. Warum Staatsanwalt und Richter den Fall als "lächerlich" empfunden haben mögen, ist schwer einzusehen. Wenn es zutrifft, erheben sich grundlegende Fragen: Wie muß ein Fall aussehen, um "lächerlich" zu sein? Sind "Ratten" lächerlich? 1st die Lächerlichkeit rechtserheblich, wenn ja, inwiefern? usw. Mehrere Tugenden923 sind betroffen, betroffen in des Wortes doppelter Bedeutung. 4. Wenn der Humor seine unbeschwerte Leichtigkeit und durchsichtige Helle verliert, kann er in die Ironie übergehen. Sie kann in der Werteskala einen achtbaren Platz einnehmen, wenn sie zeigt, wo die wirklichen Qualitäten liegen und wie die seinsollende Ordnung der Welt aussieht. Das kann sie tun, wenn sie unberechtigte Wertansprüche durch spöttische übertreibung scheinbar bejaht und damit die Dinge in das rechte Licht rückt. Auf diese Art hat Sokrates angemaßt es Wissen durch Spott (eironeia) bloßgestellt und kann seit Ciceros Bericht924 als DRiZ 1975, S. 53. DRiZ 1975, S. 115. 922 Da Tat und Schädigung erst festgestellt werden müssen, ist der (schließliche) Freispruch unerheblich. 923 Dazu bereits oben Abschnitt B Ir. 924 Socrates ... ita cum aliud diceret quam sentiret, libenter uti solitus est ea dissimulatione, quam Graeci eironeian vocant (Akad. Bücher II 15). 920

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XVI. Humor, Witz, Ironie, Sarkasmus, Schlagfertigkeit

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Klassiker der Ironie gelten. Namhaften Schriftstellern (Kierkegaard, Musil, Th. Mann) war sie vertraut, die Bibel hat sie nicht verachtet925 . Im Unterschied zum (gutartigen) Humor und Witz ist die Ironie nicht versöhnlich, sondern aggressiv, daher eine beliebte Waffe der Anwälte926. Auch die Angeklagten, in der Staatskrise gutgestimmt, bedienen sich ihrer. Auf die Frage nach seinem Alter erwidert ein Angeklagter: "Alt genug." Als Beruf gibt er unter Gelächter der übrigen Angeklagten an: "Bankräuber."927 Auf die Frage: "Herr Lugmeier928 , wo sind die zwei Millionen?", antwortet dieser: "Hier in meiner Tasche" und schlug sich dabei mit der Hand auf den Oberschenkel. a) Ist die Ironie auch etwas für den Vorsitzenden? Hennke929 , der sitzungspolizeiliche Fragen mit denen der Menschenführung im Wirtschafts betrieb vergleicht, kennt einen Katalog des Mißvergnügens (im Betriebsklima), wozu außer der Nichtbeachtung auch der Stimmaufwand und die Ironie gehören. Das muß auch der Vorsitzende beachten, der sich der Ironie verschreibt. Zu den Vorwürfen, die Sarstedt930 gegen manche seiner Kollegen erhebt, gehört auch, daß sie "den Angeklagten zur Zielscheibe ihrer Ironie ... machten". Als Beispiel zitiert er die ironische Frage: "Sie sind wohl mit den Brüdern Grimm verwandt?" und meint, das verletze die Würde des Gerichts. Nun gibt es freilich eine liebenswürdige Ironie. Ihre "Abgrenzung zum beißenden Sarkasmus ist aber nicht immer leicht zu finden und wird im Eifer des Gefechts leicht verfehlt"931. Dahs931 warnt daher seine Anwaltskollegen vor ihrem Gebrauch. Die Warnung gilt noch mehr für den Vorsitzenden, weil er alle Beteiligten in gleicher Weise behandeln muß, sein Risiko daher mit dem des ironischen Anwalts nicht zu vergleichen ist. aal Da der ironische Vorsitzende angreift, riskiert er die Gegenwehr des Angegriffenen und kann dabei leicht der Unterlegene sein: Ironie ist Glückssache. Als der Angeklagte eines Sensationsprozesses wissen wollte, warum das Gericht (im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Brandstiftung) 925 R. Voeltzel, Das Lachen des Herrn. über die Ironie in der Bibel, 1961. 926 Dahs, AnwBl 1959, 21 gibt schöne Beispiele aus Plädoyers von Strafverteidigern. 927 FAZ vom 20. 3. 1976. 928 Mainzer Allgemeine Zeitung vom 24.10.1975. Der Angeklagte war des Raubes von 2 Millionen DM aus einem Geldtransporter der Dresdner Bank angeklagt. 929 Hennke, Schleswig-Holsteinische Anzeigen 1968, 277. 930 JZ 1969, 153. 931 Dahs, AnwBl 1959, 21.

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B. Einzelne Tugenden

die Versendung von Rauchpulver an Sachverständige angeordnet habe, antwortete der Vorsitzende932 : "Das machen wir doch nur, weil es uns Spaß macht." Angeklagter: "Bitte das zu protokollieren!" Vorsitzender: "Das war doch Satire, Sie sind doch Spezialist dafür." Angeklagter: "Das ist mir neu, daß Sie davon was verstehen. Das wäre ja das erste Mal, daß Sie was von uns gelernt haben." Vorsitzender: "Ins Protokoll. Der Angeklagte sagt, der Vorsitzende habe das erste Mal was gelernt." Die "Satire", womit die Ironie gemeint war933 , war dem Vorsitzenden nicht zu empfehlen. Die Tugend der Distanz (B XIII) mußte ihm raten, sich in kein Gespräch einzulassen, das nichts mit der Sache zu tun hatte. Die Tugend der Klugheit (B VI) konnte ihm voraussagen, er würde diesem Angeklagten (den er kannte) nicht gewachsen sein. Die Tugend der Ordnung (B IV) verbot ihm, in der Sitzung einen Dialog unrichterlicher Art zu Lasten des staatlichen Ansehens zu führen. Die Tugend des Umgangs (B IX) mußte ihn befürchten lassen, der Angeklagte werde sich die "Satire" verbitten und dafür eine normale Antwort fordern. Die Tugend der Bescheidenheit (B XII) beschwor ihn, nicht mit Geist (oder was er dafür hielt) zu glänzen, sondern die Sache zu verhandeln. bb) Ein Vorsitzender verbietet den Verteidigern, die Angeklagten in der Verhandlungspause mit Kaffee und Kuchen zu versorgen. Eine bei der Versorgung tätige Rechtsanwältin "tituliert er als Ordonanz"934. Die vom Vorsitzenden wohl unterstellte Befehlsunterworfenheit jener Frau unter ihre Herren und ihre Verbindung mit dem für Verteidiger ungewöhnlichen Verpflichtungsvorgang mag ihn zu der ironischen Titulatur beflügelt haben. Es wäre ratsamer gewesen, er hätte seinen Einfall nach der Sitzung zum besten gegeben, als Geistesblitz des privaten Vorsitzenden. Als Gedankengut des amtierenden Vorsitzenden hatte er manche Tugenden gegen sich. cc) Für den Ironiker gilt, was für den Spaßmacher Geltung hat: die Tugend der Klugheit (B VI) muß ihm beistehen, die Lage zu durchschauen und die Wirkungen seines Tuns abzuschätzen. Sonst erreicht er vielleicht nichts oder gar das Gegenteil des erhofften Erfolges. Willms935 beschreibt die Karrikatur936 eines Richters, dem Tomaten und faule Eier aus dem Zuschauerraum an den Kopf fliegen, ohne daß 932 Langhans (ohne Seitenzahlen). 933 Satire ist eine Literaturgattung, die sich allerdings der Ironie bedient. 934 F AZ vom 13. 6. 1975. Ordonnanz war (oder ist) die Bezeichnung für das militärische Bedienungspersonal in Offizierskasinos. 935 DRiZ 1974, 51; dazu A I. 936 Der Fall könnte ein wirklicher Fall sein, ohne daß man mit dieser Unterstellung der Richterschaft zu nahe tritt; auch (Hochschul-) Lehrern kann er unterlaufen.

XVI. Humor, Witz, Ironie, Sarkasmus, Schlagfertigkeit

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er in Rage gerät. Während ihm der Dotterseim von der Stirn trieft, bemerkt er zu der johlenden Meute: "Ich finde es verdienstvoll, daß Sie die landwirtschaftliche Überproduktion bewältigen helfen." Das war ironisch gemeint, jedoch kennt unser Vorsitzender seine "johlende Meute" schlecht. Die landwirtschaftliche Überproduktion kommt in ihrer Staatslehre nicht vor und ist ihr daher nicht bekannt. Die Ironie "kommt nicht an" und kann darum auc."IJ. nichts richtigstelIen: wer mit der "Meute" recht umgehen will, muß deren Psychologie kennen. Es ist daher folgerichtig, wenn der Angeklagte dem Vorsitzenden "den Rücken kehrt und das Weite sucht" 937. Gegen unseren Richter und seine Sitzungsklugheit spricht es, ist aber ebenfalls folgerichtig, daß er ihn "verwundert" ziehen läßt. b) Betrachtet man die Ironie und ihre Verwendbarkeit in der gerichtlichen Sitzung, dann muß man dem Vorsitzenden von ihrem Gebrauch abraten. Viele Tugenden stehen gegen sie. Die Ordnung des § 176 GVG wird tugendgemäß aufrechterhalten, aber nicht ironisch. 5. Was sich von der Ironie sagen läßt, gilt noch mehr vom Sarkasmus, der in der Praxis mitunter geübt wird. Das Zerfleischen (sarkazein) eines Prozeßbevollmächtigten durch Spott und Hohn ist kein Werkzeug des vorsitzenden Richters, auch nicht in höchster Bedrängnis. Die Warnung "Vorsicht, bissiger Mund!" sollte gegenüber keinem Richter berechtigt sein. Er mag daher den Sarkasmus den Parteien, Angeklagten, Zeugen und Anwälten überlassen und daraus wichtige Erkenntnisse für die Beweiswürdigung gewinnen. Soweit sarkastische Akte die Ordnung des § 176 GVG (wirklich) verletzen, muß er freilich einschreiten. Sarkasmen des Vorsitzenden sind nicht nur tugendlos, sondern auch überflüssig: man kann sie ersatzlos streichen. Ein Vorsitzender sagt938 zum Ehemann einer Angeklagten: "Daß Sie als gehörnter Ehemann hier im Saal erscheinen, ist Ihre Sache." Ein anderer Vorsitzender sagt939 zu einem Dieb, der bei einem Fluchtversuch von einem Polizeibeamten angeschossen wurde: "Da haben Sie ja noch Glück gehabt. Andere Polizisten schießen besser." In beiden Fällen stehen mehrere Tugenden gegen die überflüssigen Bemerkungen. Ähnlich verhält es sich mit dem Fall des Urlaubsheimkehrers. Einer der Angeklagten eines Sensationsprozesses war während des Verfahrens mit Gewalt befreit worden. Er wurde in einem schönen ausländischen Urlaubsort festgenommen und zurückgeliefert. Als er in der 937 938 939

Dazu die vollständige Wiedergabe des (fiktiven) Falles in Abschnitt AI. Spiegel vom 26. 1. 1970, S. 84. Mauz, Spiel, S. 191.

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B. Einzelne Tugenden

Sitzung wieder erschien, "wandte sich der Vorsitzende an ihn mit den Worten: Na, Herr Mayer, aus dem Urlaub zurück?"940 Das wäre in einem anderen Milieu eine annehmbare humorige Bewältigung mit sarkastischem Einschlag 941 der Heimkehr eines Auswanderers gewesen. In der Sitzung des § 176 GVG war sie zu widerraten, schon aus Gründen der Sitzungs-Klugheit (B VI). Unser Vorsitzender mußte nämlich damit rechnen, daß bei den ihm bekannten Mängeln des Vollzugs der Untersuchungshaft jener Angeklagte alsbald wieder in Urlaub fuhr und zwar endgültig. Dann mußte der Sarkast froh sein, wenn die Journalisten nicht an seinen früheren Frohsinn erinnerten. Er konnte sonst mit einem Propagandaminister verglichen werden, der den Gegner mit sarkastischem Humor bedachte, allerdings nur in den ersten Kriegsjahren. Auch die Tugend der Bescheidenheit (B XII) war über die lustige Leistung nicht erfreut: die gewaltsame Befreiung hätte nachwirken und den Vorsitzenden über sich und seine Staatskrise zum Nachdenken anregen können. Andere Tugenden konkurrieren. 6. Man kann aus dem Gesagten ein Fazit ziehen. Ironie und Sarkasmus des Vorsitzenden sind keine Bestandteile der Ordnung der Sitzung des § 176 GVG. Lachen und Humor und Witz, obwohl hohe Werte menschlichen Kontaktes, gehören nur dann in dIe Verhandlung, wenn alle Beteiligten das Lachen als befreiendes Lachen empfinden können. Sonst wird zu Lasten eines Beteiligten gelacht, das Lachen ist "ungerecht" und auch sonst tugendwidrig. "Gerechtes" Lachen ist selten. In einem (auswärtigen) Sensationsprozeß942 lösten sich die Schilderungen der lebens bedrohenden Lage des Opfers "in befreiendes Lachen auf: der Polizist, der die Tonbandaufnahme der Forderungen der Entführer vorspielen sollte, ließ aus Versehen Schlagermusik hören". Hier könnten ausnahmsweise Tät·er und Opfer und Zuhörer "gleich" gelacht haben: keiner auf Kosten des anderen. Völlig gewiß ist es freilich auch hier nicht. So bleibt es also bei der traurigen Erkenntnis: Lachen in der Sitzung ist nicht zu empfehlen. 7. Soll sich nun der Vorsitzende dem Ernst verschreiben und wie sieht der richtige Ernst aus? Was ist von Gürsters943 Wort zu halten, daß der Humorlose der eigentlich Dumme ist? Was von Talleyrands bekanntem Spruch, nur Dummköpfe und Fanatiker hätten keinen Humor? Eine schmerzliche Wert antinomie tut sich auf, eine Tugendantinomie (A XIII) für alle, die den Humor für eine Tugend halten. Mainzer Allgemeine Zeitung vom 28. 6. 1978. 941 Ob Ironie oder Sarkasmus (oder beides) vorliegen, untersuche ich nicht. 942 FAZ vom 2.3. 1976. 943 Eugen Gürster, S. 12, auch S. 273 ff. 940

XVI. Humor, Witz, Ironie, Sarkasmus, Schlagfertigkeit

235

a) Wir müssen die Tugend des Maßes (B XIV) zu Hilfe rufen, die unserem Vorsitzenden den richtigen Ernst zeigt944 • Der falsche Ernst ist die Verkrampfung, die das lebendige Leben erstarren läßt. Er ist die Haltung der Pedanten, die alles Unwichtige gleichmäßig wichtig nehmen. Der wahre Ernst ist aus der situationsgebundenen Anspannung hervorgegangen, bleibt in ihr verwurzelt und sinkt nicht zur Dauerverfassung des Daseins herab. Es kann auch einen heiligen Ernst geben. Er ist "die letzte Haltung und der Prüfstein des Menschen, wo es um sein Letztes geht"94s. Den falschen Ernst wünschen wir dem Vorsitzenden nicht, ohne den wahren Ernst aber ist er kein Vorsitzender. Wenn es um Schicksale von Leben und Tod geht, können ihm alle Betroffenen, Täter und Opfer, Staat und Bürger, auch wenn sie von Heiligkeit nicht gerne reden, für heiligen Ernst dankbar sein. Baur946 stellt allgemein die Frage nach dem Ernst des Richtens. In seinem Beispielsfall geht der Mangel an Ernst nicht vom Richter, sondern vom Angeklagten aus. Dieser, des Mordes an 12000 Juden und Zigeunern angeklagt, erschien "mit einem Karnevalsorden auf der rechten Brustseite vor dem Gericht in Mainz". Baur wendet § 178 GVG an und meint, Ungebühr (nach § 178 GVG) sei die bewußte Mißachtung der dem Gericht gestellten Rechtspflegeaufgabe, vor allem des mit der Erfüllung dieser Aufgabe notwendig verbundenen Ernstes. Er hätte auch sagen können: wo 12 000 blutige Opfer unsichtbar gegenwärtig sind, regiert der Ernst, nicht der Humor. Er ist die Ordnung des § 176 GVG947. Dieser Ernst ist der wahre Ernst der situationsgebundenen Anspannung (Bollnow), nicht der falsche Ernst des Pedanten. Vielleicht ist es sogar der heilige Ernst, um den auch "Anarchisten" und "Terroristen" froh sein können, wenn es um Massengräber geht, in die ihre Leute geworfen wurden. b) Ein solcher Ernst ist das Substrat der Begriffe Würde (§ 178 GVG), Ordnung (§ 176 GVG) und (Un-) Gebühr (§ 178 GVG), um deren Auslegung viel abwegige Metaphysik getrieben wird. In den Richtlinien948 werden Würde und Ernst in einem Atem gebraucht: "Der Würde und dem Ernst, mit denen Richter und Staatsanwalt ihr verantwortungsvolles Amt ausüben, muß der äußere Rahmen der Hauptverhandlung entsprechen." Gemeint ist letztlich auch hier die Ordnung der Sitzung, aufrechterhalten durch die Tugenden des Vorsitzenden. Zum folgenden Bollnow, Einfache Sittlichkeit, S. 76 f. 94S Bollnow, Einfache Sittlichkeit, S. 77.

944 946

JZ 1970, 247 f.

947 Zur Beziehung zwischen Ungebühr GVG) siehe Abschnitt B IV. 948 RiStBV Ziffer 119 I.

(§ 178

GVG) und Ordnung

(§ 176

236

B. Einzelne Tugenden

8. Wenn man über die Meinung der richterlichen Tugenden über Humor und Witz nachdenkt, kann man auch die Schlagfertigkeit in die Betrachtung einbeziehen. Zum einen kann sie auch humorvoll und witzig sein, zum anderen gilt sie, ähnlich wie jene, als anspruchsvolle und elegante Weise forensischen HandeIns. Hier interessiert freilich nur die Schlagfertigkeit, deren sich der Vorsitzende zur Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung bedient. Andere Schlagfertigkeiten, etwa die prompte Gegenwart der Rechtskenntnisse (promptitudo iuris) bei der Besprechung der Rechtslage mit den Parteien oder des Sachverhalts (promptitudo facti) bei der Aufklärung von Widersprüchen in der Beweisaufnahme bleiben außer Betracht. Daß sie Richtertugenden hohen und höchsten Ranges sind, bedarf keiner Betonung. a) Die Schlagfertigkeit (promptitudo) gilt ganz allgemein als hoher Wert. Daß dem angreifenden Schlag ein (schon) "fertiger" Gegenschlag folgen kann, zeugt von Elastizität, vielleicht auch von Geist und Witz. Auch vor Gericht ist die Schlagfertigkeit seit je hochgeschätzt. Nach überkommener Meinung muß der Advokat nicht nur "reden", sondern auch schlagfertig antworten können. b) Auch dem Vorsitzenden wird sie von sachkundiger Seite gewünscht. Sarstedt949 empfiehlt "zur hinlänglichen Vorbereitung auf verschiedene Schlagfertigkeitsproben, die dem Richter abverlangt werden können", das Studium der "StPO der Kommune 1"950. Er gibt auch anhand eines konkreten Falles ein Beispiel, "wie man einen Wichtikus bändigt, der nicht aufstehen will", indem man nämlich zu ihm sagt: "Nehmen Sie doch Platz." Der Rat kommt von einem hohen Richter mit großer Erfahrung, er betrifft eine Frage von praktischer Bedeutung. Daher hat er Anspruch auf genauere Betrachtung vom Blickpunkt der richterlichen Tugenden, die die Ordnung des § 176 GVG interpretieren. Einer Entscheidung des OLG Nürnberg951 lag folgender Sachverhalt zugrunde. Ein Angeklagter weigerte sich aufzustehen, als das Gericht den Saal betrat und als er zur Person vernommen werden sollte. Trotz Ermahnung blieb er sitzen. Bei späterer Fortsetzung der Hauptverhandlung blieb er trotz wiederholter Aufforderung bei seiner Einvernahme wiederum sitzen. Der Amtsrichter verurteilte ihn deshalb (und auch noch wegen anderer Dinge) nach § 178 GVG am ersten Sitzungstag zu einem Tag Haft und am weiteren Sitzungstag zu drei Tagen Haft und ließ die Strafen sofort vollstrecken. Das OLG verwarf das Rechts949

950 951

JZ 1969, 153. Sarstedt meint Langhans, (ohne Seitenzahlen) passim. JZ 1969, 150 ff. mit Anmerkung Sarstedt.

XVI. Humor, Witz, Ironie, Sarkasmus, Schlagfertigkeit

237

mittel. Sarstedt wandte sich in einer sehr ausführlichen Anmerkung gegen das OLG. Sarstedt geht davon aus, daß in einer Sitzung nicht nur einmal, sondern oft aufzustehen ist. Der Richter steht daher vor dem Dilemma, entweder inkonsequent (B VI) zu werden oder die Waffe (der Strafe) "völlig stumpf und schartig zu schlagen". Sarstedt sucht daher nach einem Ausweg und findet ihn in der Schlagfertigkeit: In G. B. Shaws Apple Cart (Der Kaiser von Amerika, Akt I) kann man nämlich studieren, wie man einen Wichtikus bändigt, der nicht aufstehen will. Man sagt zu ihm: "Nehmen Sie doch Platz!" Nach Sarstedt "ist es herkömmlich, daß man vor Gericht bei den vom OLG erwähnten Gelegenheiten aufsteht". Das spricht für ein Gewohnheitsrecht, wahrscheinlich für ein sehr altes. Dann steht der Vorsitzende vor keinem "Dilemma", ist vielmehr gebunden. Die Staatstugend (B I) gibt ihm den entsprechenden Rat. Bei mehrmaliger Verletzung ergibt sich keine Besonderheit. Sie ist nicht anders zu beurteilen, als wenn jemand den Vorsitzenden wiederholt tätlich angreift: die Waffe (der Sanktion) kann nicht stumpf und schartig werden, so lange die Norm gilt. Eine Inkonsequenz gegenüber der beharrlichen Verletzung ist daher nicht denkbar, sie würde den Sieg der Konsequenz des Angreifers und die Niederlage des Staates bedeuten. Ein Rat für Störer würde alsdann lauten: wenn ihr verletzt, dann nicht nur einmal. Allerdings hätte der amtsrichterliche Vorsitzende, und hier hat Sarstedt recht, den Angeklagten "seines Publikums berauben können", indem er nach § 172 Ziffer 1 GVG die Öffentlichkeit ausschloß, weil eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung zu besorgen war. Hierbei ist Sarstedt sehr großzügig: "Die darin liegende Prognose braucht nicht zuzutreffen, ,besorgen' kann man alles. Von Rechtsmitteln ist nichts zu befürchten; noch niemals ist ein Urteil aufgehoben worden, weil die Besorgnis unbegründet gewesen sei." Richtig ist an dieser Meinung, daß eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung nicht von der Zuhörerschaft ausgehen muß 952. Unzutreffend ist andererseits, daß man "alles besorgen kann". Der Rechtsbegriff des Besorgens wird durch die Tugend des Maßes (B XIV) interpretiert: nur maßvolles Besorgen ist richtiges Besorgen. Das angemessene Maß zu bestimmen ist Aufgabe der Revisionsinstanz: der maßlos ängstliche Vorsitzende kann nicht nur hinter verschlossenen Türen verhandeln. Wollte der Vorsitzende die Öffentlichkeit nicht ausschließen, dann konnte er den Angeklagten nach § 177 GVG aus dem Sitzungssaal ent952

So aber für das alte Recht Kleinknecht, S. 1176 mit weiteren Nachweisen.

238

B. EinzelneTugenden

fernen oder zur Haft abführen lassen und nach § 231 b StPO in seiner Abwesenheit verhandeln. Daß die wiederholte Zuwiderhandlung eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Hauptverhandlung (§ 231 b StPO) darstellte, ist unzweifelhaft. Auch hier verlangte die Klugheit (B VI), daß der Vorsitzende nicht "inkonsequent" war: "sitzen lassen" (entgegen einer Anordnung nach § 176 GVG) durfte er den Angeklagten nicht. Wenn kein Gewohnheitsrecht das Aufstehen gebietet, steht dem Vorsitzenden die Tugend der Ordnung (B IV) zur Seite. Sie erlaubt ihm, geleitet von der Tugend des Maßes (E XIV), eine persönliche Ordnung (B IV): er kann aufstehen lassen oder nicht. Auf diese Weise können sich mehrere Vorsitzende voneinander unterscheiden, wie mehrere Lehrer in der Schule durch ihre v·erschiedene "Strenge", wenn nur das "maßvolle Maß" erhalten bleibt. Für die Verwirklichung dieser Ordnung gilt nichts Besonderes: "inkonsequent" darf der Vorsitzende aber nicht werden, das verbietet ihm die Klugheit. Was ist nun angesichts dieser "Tugendlage" von der empfohlenen Schlagfertigkeit zu halten? Soweit Gewohnheitsrecht nach Verwirklichung ruft, steht die Staatstugend (B I) dem schlagfertigen Vorschlag, wenn er den Angeklagten zum Aufstehen veranlassen sollte, entgegen. Die Klugheit (BVI) geht das Risiko der Schlagfertigkeitslösung nicht ein. Der Vorsitzende kann nicht darauf vertrauen, daß der Angeklagte seine schlagfertige Bemerkung versteht. Diese ist ironisch gemeint: nehmen Sie doch Platz! IronIe ist nichts für Vorsitzende953 • Auch im Stück von Shaw, das sich Sarstedt zum Vorbild nimmt, hat der Adressat die schlagfertige Ironie nicht verstanden. Bei Shaw macht der neu ernannte Handelsminister dem König seinen Antrittsbesuch, um ihm "Dinge zu sagen, die noch nie einem König gesagt worden sind". Er sitzt bereits im Empfangsraum, als der König eintritt. Dieser begrüßt den Neuen freundlich durch HandscPlag, ohne daß der Minister sich erhöbe. Nun der König: "Herr Boanerges, wollen Sie sich nicht setzen?" Der Minister: "Ich sitze schon." Der König: "Sie erlauben doch, daß ich mich setze?" Der Minister: "Setzen Sie sich nur, Mann, setzen Sie sich! Sie sind hier zuhause. Förmlichkeiten sind mir gleichgültig (Ceremony cuts no ice with me)." Der König: "Besten Dank." Hierauf beginnt die Unterredung. Der Minister ist sitzen geblieben. Später sagt er nach Art des erfolgreichen Emporkömmlings über die Szene: "Der König ist kein Narr, man muß ihn nur zu behandeln verstehen."

953

Dazu oben in diesem Abschnitt.

XVI. Humor, Witz, Ironie, Sarkasmus, Schlagfertigkeit

239

Hier hat, wie man sieht, der Wichtikus gesiegt954 • Der König hätte besser daran getan, wortlos den konstitutionellen Monarchen zu spielen, an statt sich mit einer Schlagfertigkeit zu versuchen, die der andere besaß. Er war es, der dem König "die Schau gestohlen" hat, vielleicht unwillkürlich und mit der Veranlagung eines Mannes, der über (die) Leichen (von Tugenden) geht. c) Auch im Mikrokosmos der Sitzung, bei Rede und Gegenrede, sollte der Vorsitzende die Tugenden der Besonnenheit (B VII), Bescheidenheit (B XII) und Distanz (B XIII) der Schlagfertigkeit vorziehen. Ein Angeklagter955 weist darauf hin, er sei drei Jahre im Konzentrationslager gewesen. Der Vorsitzende "kontert schlagfertig": "Und ich war vier Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft." Hier haben viele Tugenden Not gelitten: Klugheit (B VI), Bescheidenheit (B XII), Distanz (B XIII) und andere. d) Wenn man dem Vorsitzenden einen Rat erteilt, wie er sich in einer bestimmten Lage verhalten soll, muß es in Gestalt einer (allgemeinen) Regel geschehen, die für künftige ähnliche Fälle gilt. Eine solche Regel läßt sich für die Schlagfertigkeit nicht aufstellen. Ein meisterlicher Vorsitzender mag sich ihrer bedienen, wenn ihm die Stunde günstig ist und er davor bewahrt bleibt, auf einen noch schlagfertigeren Replikanten zu treffen und seine Tugenden zu verfehlen. e) Die Schlagfertigkeit ist nicht lernbar, man muß sie "haben". Anders die Fachkunde, mit der sie manchmal verwechselt wird: wenn der kundige Historiker dem unkundigen Gesprächspartner auf der Stelle die richtigen Fakten entgegenhält, ist er sachkundig, (noch) nicht schlagfertig. Der Vorsitzende hingegen hat mit ständig wechselnden, neuen Lagen zu tun; wenn er je Schlagfertigkeit besitzt, ist sie eine schöpferische, ursprüngliche, keine mit erlernten Inhalten. Kann man sie nicht zum Gegenstand einer Lehre oder Regel machen, so ist sie ein Risiko und bleibt nur wenigen vorbehalten. Die ihr eigenen Komponenten von Esprit und Eleganz sind keine Durchschnittsware. Die Tugend hingegen, mag ihr Pfad steil und steinig sein, ist doch dem Durchschnitt erschwinglich. Das zeigt die Geschichte der Völker. 9. So mag also die Sitzung des Durchschnittsvorsitzenden mit ihrer Ordnung des § 176 GVG in der Regel ohne Humor und Witz auskommen, eine in der Tat traurige Aussicht, denn der Sinn für Humor ist 954 Das gilt auf jeden Fall für die "Sitzung" (mit dem König); ob dem Gemütsmenschen später das Tugendgewissen geschlagen hat, wird nicht berichtet und ist unerheblich. 955 Den Fall berichte ich aus persönlicher Erfahrung.

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B. Einzelne Tugenden

"die vierte theologische Tugend"956, immerhin eine Tugend, wenn auch eine theologische. Große Könner unter den vorsitzenden Richtern mit einer glücklichen Hand für das Einmalige mögen als Ausnahme die Regel bestätigen. Der Tugendlehrer, darüber hocherfreut, wünscht ihnen, ihrem Minister und seiner Justiz, dazu alles Glück. Ironie, Sarkasmus und wohl auch die Schlagfertigkeit (in dem oben beschriebenen Sinne) sollten alle Vorsitzenden bleiben lassen, alle und immer.

XVII. Tugenden und geltendes Recht Wenn man über die Tugenden des Vorsitzenden nachdenkt, kann man auch nach ihrem Zusammenhang mit dem geltenden Recht fragen. Was kann der Gesetzgeber, von Tugendsanktionen (A XVIII) abgesehen, für ihre Förderung tun? Wie hindert er sie? 1. Es gibt Rechtsnormen und Rechtswirklichkeiten, die besonderen Nachdenkens bedürfen, wenn VOn Tugenden die Rede ist.

a) Man hört die vielfache Klage957 , daß "Justitia krank und die Gerichte überlastet sind, die Aktenberge wachsen, die Verhandlungsfristen immer länger werden und der rechtssuchende Bürger auf der Strecke bleibt" oder daß "ein Hamburger Amtsrichter für einen einzigen Vormittag 17 Verhandlungen mit 30 Zeugen ansetzt und dann, streßgeplagt, Angeklagte und Verteidiger anschreit: "Halten Sie den Mund, dafür haben wir keine Zeit." Situationen solcher Art sind einerseits Tugendursachen, wie eben die Not, die beten lehrt. Sie können aber auch die Tugendenergien (A IX), die füglich verlangt werden können, überfordern. Der Staat ist aufgerufen, darüber nachzudenken. Wenn er will, kann er abhelfen. b) Tugendenergien sind auch betroffen, wenn vom deutschen Polizeitrauma die Rede ist. Die geschichtlich verständliche Angst vor der Wiederkehr des Polizeistaates veranlaßt die Gesetzgeber, von der Polizeipräsenz Abstand zu nehmen, wie sie in anderen Staaten selbstverständlich ist. Hinzu kommt der Irrtum, die (technische) Alarmierbarkeit der Polizei könnte ihre Gegenwart ersetzen. In Wahrheit muß, so traurig die Feststellung ist, die Polizei im Staate so gegenwärtig sein, wie der Lehrer in der Klasse. Wenn sie es nicht ist, bleibt die Aufklärungsquote der Delinquenz gering und sinkt weiter ab. Die Folge ist die Misere der Indizienbeweise in Monsterverfahren. Sie verbraucht ungewöhnliche richterliche Kräfte und stellt ihre Tugenden auf Proben, die das Zumutbare übersteigen. 956 Nach Most in FAZ vom 8. 9.1978 stammt das Wort von Chesterton, nachgeprüft habe ich es nicht. 957 Zum Beispiel Stern vom 20. 5. 1976, S. 94.

XVII. Tugenden und geltendes Recht

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c) Mit dem allgemeinen Polizei trauma hängt die mangelnde Polizeipräsenz in der Sitzung zusammen. Ein Vergleich mit ausländischen Gerichten ergibt, daß unser Staat Angst vor seiner eigenen Polizei hat. Damit macht er seinen Richtern die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung schwer; er degradiert sie zu Polizeifunktionären und lenkt sie von der Wahrheitsfindung ab. Zahllose Erscheinungen der Krise in Gerichtsverhandlungen hängen damit zusammen. Tugenden sind dann zwar gefordert, aber auch überfordert (A IX). d) Monsterprozesse werden in Monstersälen geführt, weil die Sitzungssäle der Gerichtsgebäude unsicher, zum Beispiel aus umliegenden Häusern "einsehbar und einschießbar" sind. Hier zeigt der Staat seine krisenhafte Unfähigkeit in besonderem Maße. Andere Staaten mag er sich zum Vorbild nehmen958 • Wenn gar die törichte Meinung herrschend sein sollte, Monsterprozesse müßten auch ein monströses Publikum haben, müssen Staat und Volk über die Grundlagen staatlichen Lebens nachdenken. e) Zahlreiche Tugendlagen hängen mit Rechtsnormen zusammen, über die sich der Gesetzgeber Gedanken machen sollte. Soweit er sich ihrer bereits in der Hektik der Krise angenommen hat, müßte er sich, durch Erfahrung belehrt, die richtigen Gedanken machen. Entsprechend der Natur der Krise handelt es sich meist um strafverfahrensrechtliche und sitzungspolizeiliche Fragen. aal Das Präsenzdogma (§§ 230 ff. StPO) ist töricht. Wenn der Angeklagte schweigen und fernbleiben will, sollte man ihm beides gestatten. Hält das Gericht seine Anwesenheit für nötig, kann man die Vorführung seinem pflichtgemäßen Ermessen überlassen; solche Fälle können zum Beispiel gegeben sein, wenn die Richter die Reaktion des Delinquenten bei der Erörterung seiner Schreckenstaten durch Vorweisung seiner Opfer beobachten wollen. Die kompliziert geregelte Anwesenheitspflicht aber zu Lasten eines Menschen, der weiß, was er tut und sich mit phantastischen Mitteln gegen seine Präsenz wehrt, stellt die richterliche Tugendenergie auf harte Proben. Man würde sie besser anderweit beanspruchen. bb) Widersprüchlich ist § 231 b StPO, wenn man ihn mit § 176 GVG vergleicht. Nach § 176 GVG ist der Vorsitzende schlechthin zur Aufrechterhaltung der Ordnung verpflichtet. Nach § 231 b StPO darf nur dann in Abwesenheit des wegen Ordnungsstörung nach § 177 GVG entfernten Angeklagten verhandelt werden, wenn seine Anwesenheit den Ablauf der Verhandlung in schwerwiegender Weise beeinträchtigen würde. Will sich also der Vorsitzende die Durchführung des Verfahrens 958

Siehe das holländische Beispiel in Abschnitt A XVII.

16 Scheuerle

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B. Einzelne Tugenden

nicht vom Angeklagten diktieren lassen, so muß er notfalls bei "mäßiger Beeinträchtigung" verhandeln; das widerspricht § 176 GVG, einer klassischen Norm, die ihre Entstehung nicht der hektischen Novellierungskunst des § 231 b StPO verdankt. In dem damit geschaffenen Freiraum sind richterliche Tugenden gefordert, haben aber oft einen schweren Stand. Will man das Präsenzdogma als solches bestehen lassen, dann sollte man den Sachverhalt des § 231 b StPO dem (bloßen) pflichtgemäßen Ermessen des Vorsitzenden anheimgeben und sagen, daß die Durchführung der Hauptverhandlung in der Ordnung des § 176 GVG das oberste Rechtsgut ist. Der Angeklagte kann anwesend sein, wenn er will und nicht stört. Den gleichen Effekt kann ein Vorsitzender ohne Revisionsangst (B VIII) schon heute erreichen, wenn er die "schwerwiegende" Beeinträchtigung auch auf das hohe Rechtsgut der übung der Tugenden, etwa der Tugend der Ordnung (B IV), bezieht und den Begriff der Ordnung des § 176 GVG entsprechend interpretiert. Daß es dann eine "unerläßliche" Anwesenheit (§ 231 b StPO) des Angeklagten, in welchem Falle auch immer, geben kann, ist nicht anzunehmen. Unerläßlich ist allein die "Anwesenheit" der richterlichen Tugenden; sie betreffen den Staat als Ganzes, nicht den einzelnen Fall. ce) Form-Formalismus959 ohne Sinn enthält § 243 StPO. Danach wird der Angeklagte erstens zur Person vernommen; hiernach wird, zweitens, der Anklagesatz verlesen, worauf der Angeklagte, drittens, zur Sache vernommen wird, wenn er nicht lieber schweigen will. Diese Rangfolge führt erfahrungsgemäß zu Schwierigkeiten, wenn mehrere störungswillige Angeklagte vor dem Richter stehen. Dann sind richterliche Tugenden gefordert. Man könnte sie besseren Zwecken vorbehalten, wenn man dem Vorsitzenden die Reihenfolge der Verhandlungsabschnitte überließe. dd) Eine Ursache von Vorkommnissen, die die Tugenden des Vorsitzenden herausfordern, ist der törichte und verfassungswidrige Verteidiger-Oktroi der §§ 140 ff. StPO. Einem geschäftsfähigen Bürger kann man einen Verteidiger so wenig aufdrängen, wie man ihm, ohne seine Grundrechte zu verletzen, einen Arzt aufnötigen kann. Es ist daher verständlich, wenn sich der Genötigte zur Wehr setzt. Das Institut des Pflichtverteidigers für prozeßfähige Angeklagte mag für Analphabeten dereinst seinen Sinn gehabt haben, heute sollte man es abschaffen. Die Wertungen des bürgerlichen Rechts für Vertretung, Vormundschaft und Pflegschaft können auch für die Verteidigerbestellung gelten. ee) Bedenkt man die Schwierigkeiten der vorsitzenden Richter mit Advokaten, dann muß man über das Organ-Dogma (§ 1 BRAO) für 959

Dazu Scheuerle, AcP 172 (1972), 396 ff. (427 ff.).

XVII. Tugenden und geltendes Recht

243

Rechtsanwälte nachdenken. Nach richtiger Ansicht bedarf der Beruf des Rechtsanwalts "keines schmückenden, die Freiheit einschränkenden Titels" (als "Organ der Rechtspflege")960. Dann könnte der Anwalt als Verteidiger die seinem Wesen entsprechende Stellung eines privaten Gehilfen erhalten und auch sitzungspolizeilich als solcher behandelt werden. Des Tugendaufwandes, den seine Zwitterstellung verbraucht, bedarf es dann nicht. ff) Ungereimt ist die Lage, daß der Vorsitzende in der Sitzung gegen störende Beisitzer und Staatsanwälte besser gerüstet ist, als gegen Rechtsanwälte. Jene werden, wenn sie die Ordnung stören, auf Ersuchen des Vorsitzenden von ihrem Dienstvorgesetzten mit Sicherheit961 gemaßregelt oder ersetzt. Diese hingegen werfen die bekannten Fragen der Hilflosigkeit des Vorsitzenden gegenüber störenden Rechtsanwälten auf, die (erst) seit 1921962 geltendem Recht entspricht. Viele Versuche, richterliche Tugenden aufzurufen, waren die Folge, freilich erfolglos. Man sollte den alten Zustand (aus der Zeit bis 1921) wiederherstellen.

gg) Kein guter Boden für richterliche Tugenden ist das KollegiumsDogma der §§ 177 Satz 2 und 178 II GVG: über Zwangsmaßnahmen zur Aufrechterhaltung der Ordnung entscheidet gegenüber Personen, die bei der Verhandlung nicht beteiligt sind, der Vorsitzende, sonst das Kollegium des Gerichts. Angemessen wäre es, dem Vorsitzenden, weil er die Last der Verantwortung der Ordnung der Sitzung (§ 176 GVG) trägt, auch die Mittel zu ihrer Verwirklichung zu geben. Er ist dazu ebenso befähigt, wie der Einzelrichter. Daß das Kollegium den Befehl des Vorsitzenden nicht sanktionierte (A XVIII), wäre dann unmöglich. Die Tugend der Besonnenheit (B VII) würde ihm beistehen, die Tugenden der Sitzungs-Klugheit (B VI) und der Tapferkeit (B VIII) würden gestärkt. Vor allem die letztere beanstandet, daß sich die Richter mit der Zuhörer-Kompetenz zufrieden geben963 • Haben sie Angst vor den eigenen Befugnissen eines wirklichen Vorsitzenden?964 hh) Eine richterliche Tugendlehre kritisiert ganz allgemein die gesetzgeberische Perfektionssucht, die die Gesetze und ihre einzelnen Paragraphen immer länger werden läßt. Merkwürdigerweise hängen ihr auch die Richter an. So regen sie an965 , § 177 GVG so zu ergänzen, 960 W. Napp, S. 141. 961 Mit Sicherheit, solange die Dientsvorgesetzten die Staatstugend üben und der Staat noch besteht. 962 Siehe die Nachweise bei Rüping, ZZP 88 (1975), 233 Note 92. 963 Strafrechtskommission, S. 7,10,24. 964 Dazu Strafrechtskommission, S. 15 über die ähnliche Haltung zu § 238 II StPO. 965 Strafrechtskommission, S. 25. 16*

244

B. Einzelne Tugenden

daß der Vorsitzende zwar einen Störer aus dem Saale weisen und (bis zur Entscheidung des Gerichts über ein Ordnungsmittel) festhalten lassen kann, aber für höchstens sechs Stunden. Eine tugendbewußte Richterschaft wäre weniger kleinmütig; sie würde sich, wenn der Gesetzgeber so wenig Vertrauen in seine Richter zeigte, dagegen wehren. ii) Wenig Vertrauen in die eigenen Tugenden zeigen die Richter auch bezüglich der Frage, ob Störungen, die zugleich einen Straftatbestand erfüllen, sofort zu bestrafen seien. Sie halten die unmittelbare Ahndung durch das erkennende Gericht "nicht für vertretbar"966, meinen aber doch, daß derartige Straftaten "jeweils mit größerer Entschiedenheit verfolgt werden sollten". Bei richtiger Einschätzung der Dinge erfordern die Tugenden der (Sitzungs-) Klugheit (B VI) und der Tapferkeit (B VIII), daß der Vorsitzende (bzw. das Gericht), ohne die Tugend der Besonnenheit (B VII) zu vernachlässigen, sofort straft und, unter dem wachsamen Auge der Tugend des Maßes (B XIV), auch sofort vollstreckt.

kk) Die Reformitis des Gesetzgebers hat, ein Zeichen der Krise, auch rein terminologisch eine unglückliche Hand. So sprach § 177 GVG ursprünglich von den zur Aufrechterhaltung der Ordnung erlassenen Befehlen, denen jemand nicht gehorcht. Der törichte Gesetzgeber ließ nun jene Tapferkeit vermissen, die der Staat von seinen Richtern fordert. Vor der überkommenen Terminologie bekam er Angst und ersetzte die erlassenen Befehle durch getroffene Anordnungen und das Nichtgehorchen durch Nichtfolgeleisten. Die Minister und ihre Abgeordneten meinen dazu, das sei "rein terminolologisch" zu verstehen967 . Unzeitgemäßes sei durch Zeitgemäßes ersetzt worden. Das ist enthüllender, als sie selber merken: zeitgemäß ist die Reform allerdings. Eine mit Tugenden ausgestattete Richterschaft müßte sich für eine Generalklausel der sitzungspolizeilichen Befugnisse aussprechen. Sie könnte lauten: "Der Vorsitzende hält die Ordnung der Sitzung aufrecht und ergreift die dazu erforderlichen Maßnahmen nach pflichtgemäßem Ermessen." Es ist leicht einzusehen, daß ein mit den vorgeschlagenen Tugenden bewehrter Richter seine Aufgabe klug (B VI)968, bescheiden (B XII)969, besonnen (B VII), tapfer (B VIII) und maßvoll (B XIV) erfüllen könnte. Die Rechtsordnung kennt Generalklauseln von großer Trag966 Strafrechtskommission, S. 11. 967 Der Bericht der Kommission für Gerichtsverfassungsrecht und Rechtspflegerrecht des Bundesministeriums der Justiz, 1975, 159 spricht von sprachlichen Korrekturen und verdeckt damit ihren wirklichen Charakter. 968 Vielleicht sogar weise (B V). 969 Vielleicht sogar demütig (B XII).

XVII. Tugenden und geltendes Recht

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weite, deren Ausfüllung seit je den Richtern anheimgegeben ist. Die Stellung des Vorsitzenden wäre keine andere, als die anderer Vorsitzender, auch des Lehrers in der Klasse, des Bürgermeisters im Gemeinderat usw. (A XVII), die ihre Aufgaben auf der Grundlage einer unausgesprochenen, gewohnheits rechtlichen, "betriebsüblichen" Generalklausel gut erfüllen. Kein Grund gegen die Einführung einer Generalklausel sind die Untugenden, die die heutige gesetzgeberische Lage zu verzeichnen hat. Wie jede andere Generalklausel würde sie durch die sie begleitende Rechtsprechung gesteuert. Wie die deutschen Richter ein Gespür für Treu und Glauben (§ 242 BGB), sittenwidrige Geschäfte (§ 138 BGB) oder wichtige Gründe (§ 615 BGB) entwickelt haben, so würde es ihnen auch für die Inhalte einer "angemessenen, aufrechterhaltenen und durchgesetzten Ordnung" zuwachsen, Hand in Hand mit richterlichen Tugenden. Der deutsche Richter zieht zu Unrecht abschreckende Vergleiche mit dem anglo-amerikanischen Contempt-of-Court970 und kritisiert, daß "nicht einmal Standardwerke des englischen Rechts es wagen, eine feststehende Definition für das Wesen des Contempt of Court aufzustellen"970. Hier macht sich die deutsche Perfektionssucht bemerkbar, eine "feststehende" Definition zu fordern, da doch gerade die Generalklausel dem Wandel der Werte und ihrer Tugenden (A XII) entgegenkommt. Auch hier zeigt die deutsche Richterschaft eine Angst vor eigenen Befugnissen, die der Tugend der Tapferkeit nicht entspricht971 • 3. Zum geltenden Recht, freilich zum ungeschriebenen, gehört auch die Frage nach den Voraussetzungen des Notstandes bei der Aufrechterhaltung der Ordnung der Sitzung. Wenn ein Beteiligter den Fortgang der Verhandlung unmöglich macht, ist ein Notstand gegeben, den der Vorsitzende nach pflichtgemäßem Ermessen beseitigen darf und muß. Die Ausprägung des ungeschriebenen Notstandsrechts ist Aufgabe der Rechtsprechung, die damit einen Beitrag auch zur Übung richterlicher Tugenden leisten kann. Einer neuesten Entscheidung des BGH972 lag folgender Sachverhalt zugrunde. Ein Anwalt hatte in einer Zivilsache den Vorsitzenden als Richter abgelehnt. Dieser wies darauf hin, erst müsse die bisherige Erörterung in zeitlicher Reihenfolge protokolliert werden, dann erhalte der Anwalt Gelegenheit, den entsprechenden Antrag zur Niederschrift zu stellen. Als der Richter darauf mit dem Protokolldiktat begann, 970 Dazu die Dissertation (München) des Richters Horst Gmelch, Ungebühr vor Gericht, 1975, 100 ff. 971 Eine sorgfältige Analyse des Contempt-of-Court mit zahlreichen lehrreichen Beispielen gibt neuestens stürner, JZ 1978, 161 ff. 972 BGH NJW 1977,437 ff.

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B. Einzelne Tugenden

unterbrach ihn der Anwalt immer wieder. Schließlich entzog der Richter ihm förmlich das Wort. Da der Anwalt mit der Störung fortfuhr, ordneten zunächst der Vorsitzende und sodann die Kammer durch Beschluß seine Entfernung aus dem Saal an. Zugleich wurde ihm mitgeteilt, daß er nach Weiterführung des Protokolls zur Stellung seines Antrags wieder vorgelassen werde. Anschließend wurde er auf Weisung des Vorsitzenden von zwei Gerichtswachtmeistern aus dem Saal geführt. Der BGH meint, der unzweideutige Wortlaut der §§ 177, 178 GVG lasse es nicht zu, die zwangsweise Entfernung eines Anwalts in Situationen anzuordnen, die nicht so außergewöhnlich seien, daß angenommen werden könnte, der Gesetzgeber habe sie nicht in seine überlegungen einbezogen. "Der Disput zwischen dem Vorsitzenden und dem ihn immer wieder unterbrechenden Prozeßbevollmächtigten aus Anlaß und im Hinblick auf die Abfassung des Protokolls war von einem Extremfall - dessen unaufschiebbare Bewältigung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die zwangsweise Entfernung eines Störers in Anwaltsrobe als nicht ausgeschlossen erscheinen läßt - weit entfernt." Das war nach BGH "offensichtlich". Die Entscheidung beruht auf der richtigen Meinung, daß in einem Extremfall außergewöhnliche Maßnahmen, auch contra legern scriptarn, ergriffen werden können. Unzutreffend ist freilich die Auffassung, das Verhalten des Rechtsanwalts sei von einem Extremfall "weit entfernt" gewesen, noch dazu "offensichtlich". Der Vorsitzende hatte es mit einer fortgesetzten Störung von eigenartiger Hartnäckigkeit zu tun. Er war es der anderen Partei (B II) schuldig, entweder die Sitzung zu beenden oder den Anwalt entfernen zu lassen. Im ersteren Fall hätte er sich von dem Anwalt den Gang des Verfahrens vorschreiben lassen. Entschied er sich für die zweite Möglichkeit, so machte er von einem Notstandsrecht Gebrauch, das er seiner Justiz schuldig war. Die oberstrichterliche Rechtsprechung hätte Gelegenheit gehabt, hier einen Beitrag zur Staatstugend (B I), zur (Sitzungs-) Gerechtigkeit (B II), zu den Tugenden der Ordnung (B IV) und des Maßes (B XIV) zu leisten, die den Sitzungs-Notstand regieren. Die Krise könnte in Zukunft dazu Veranlassung geben.

XVIII. Tugendausblick Was ist von den Aussichten auf Verwirklichung zu halten, die unsere Tugenden heute973 haben könnten? 973

Am Beginn der Achtzigerjahre.

XVIII. Tugendausblick

247

Die Antwort hängt davon ab, was man dem Menschen unserer Tage zutraut. Denn er ist das "Substrat" der Tugenden. Vor einem halben Jahrhundert stand Nicolai Hartmann, als er seine Ethik schrieb, vor der gleichen Frage. Er hat sie in einer Charakteristik des "modernen Menschen" beantwortet, die, so präluminarisch und skizzenhaft sie ist, zu den Höhepunkten des Meisterwerkes gehört974 • Vieles von dem, was er sagt, gilt heute mehr als damals (1925); es ist aber auch, und das könnte ein Lichtblick sein, bewußter geworden. Der moderne Mensch ist kein ethischer Mensch. Sein Leben entbehrt der Vertiefung, der Ruhe und der Kontemplation. Es ist ein Leben der Rastlosigkeit und des Hastens. Eindrücke, Erlebnisse und Sensationen jagen sich975 • Immer schauen wir nach dem Neuesten aus, das jedesmal Letzte beherrscht uns und das Vorletzte ist vergessen, ehe es auch nur recht gesehen, geschweige denn begriffen ist. Unser Wertgefühl stumpft sich ab im Haschen nach dem Sensationellen. Der moderne Mensch ist nicht nur der rastlos Hastende, er ist auch der Abgestumpfte, Blasierte, den nichts mehr erhebt, ergreift, zuinnerst packt. Das nil admirari (B XI), die falsche Gelassenheit wird zur Unfähigkeit für Begeisterung und Ehrfurcht. Sie erhebt er zum Habitus. So gefällt er sich in der Pose des Darüberstehens, die sein inneres Leerausgehen verbirgt. Eine Haltung dieser Art gibt es heute nicht zum erstenmal in der Geschichte. Sie pflegt ein Symptom der Schwäche und des Niederganges zu sein, des inneren Versagens und des allgemeinen Lebenspessimismus. Der ethische Mensch andererseits ist das Gegenteil des Hastenden und Stumpfen. Er ist der Weitsichtige, der sapiens im ersten Wertsinn, der Schmeckendem;. Er ist es, der das Organ hat für die Wertfülle des Lebens. Auch die Richter, obwohl sie von Amts wegen mit Moral zu tun haben (A XVI), sind von alledem nicht verschont. Auch sie sind Menschen ihrer Zeit und deren allgemeinem Ethos unterworfen. Aus ihm das Gruppenethos (A V) zu gewinnen, fällt nicht mehr leicht. Ethische Führer (A VII) einer richterlichen Moral zu werden, mag sie schwerer ankommen als in "Zeiten der Tugend" . Hartmann, S. 16 ff. Als der Philosoph das schrieb, war der Rundfunk in seinen ersten Anfängen; das Fernsehen, die Crux der Gegenwart, gab es noch nicht; VideoRecorder waren unbekannt, hastige "Urlaubsreisen" durch die ganze Welt unüblich, der Unfug der "Kongresse" eine Ausnahmeerscheinung. 976 sapientia kommt von sapere (schmecken): sapiens est, cui sapiunt omnia, prout sunt (Bernhard von Clairvaux) (B V). 974 975

248

B. Einzelne Tugenden

Die Rechtsphilosophie als sekundäre Entdeckerin (A VII) von Werten und Tugenden mag Altes lehren (A XVI). Das Neue oder relativ (A VII) Neue, dessen eine "neue Zeit" bedarf, leistet sie nur, wenn ihre Männer zugleich (A VII) Ideenträger sind, denen die "Menge" folgt. So ist der Tugendausblick zur Zeit trübe. Das allgemeine Ethos muß sich erneuern, wenn sich das richterliche ändern soll. Die dritte These der gegenwärtigen Gedanken hat gelautet, die Richter könnten ihre richterlichen Tugenden, wenn sie wollten, (wieder) gewinnen (A I); es kommt damit auf den Willen an: Werte und Tugenden sind Gegenstände des Wollens und damit des volitiven Denkens977 • Das gilt für das allgemeine und das richterliche Ethos. Auf das Wollen kommt es an. Von der "Moral der Krise" darf nicht viel übrig bleiben.

977

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