Quaestiones disputatae: Über die Tugenden: De virtutibus 9783787319107, 9783787333677

Thomas von Aquin denkt eine den modernen Menschen provozierende Kohärenz von Metaphysik und Ethik, wie uns seine »theolo

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Quaestiones disputatae: Über die Tugenden: De virtutibus
 9783787319107, 9783787333677

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THOMAS VON AQUIN

Quaestiones Disputatae

Thomas von Aquin

Quaestiones Disputatae

THOMAS VON AQUIN

Quaestiones Disputatae Vollständige Ausgabe der Quaestionen in deutscher Übersetzung Herausgegeben von Rolf Schönberger Band 10

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

THOMAS VON AQUIN

Über die Tugenden De virtutibus Übersetzt von Winfried Rohr

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universitätsstiftung Lucia und Dr. Otfried Eberz, Regensburg.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7873-1910-7

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2012. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platte und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. – Satz: post scriptum, www.post-scriptum.biz. Druck: Strauss Buch, Mörlenbach. Bindung: Litges & Dopf, Heppenheim. Gedruckt auf alterungsbeständigem, säurefreiem Werkdruckpapier. Printed in Germany.

INHALT

I. Über die Tugenden im Allgemeinen 1. Artikel 2. Artikel 3. Artikel 4. Artikel 5. Artikel 6. Artikel 7. Artikel 8. Artikel 9. Artikel 10. Artikel 11. Artikel 12. Artikel 13. Artikel

Sind die Tugenden Habitus? . . . . . . . . . . . . 4 Ist die Definition, die Augustinus vorlegt, zutreffend? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Kann ein Vermögen der Seele Träger einer Tugend sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Können das zornmütige und das begehrliche Strebevermögen Träger der Tugend sein? . . . . 30 Ist der Wille Träger der Tugend? . . . . . . . . . 41 Ist die Tugend im praktischen Verstand als ihrem Träger? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Liegt im theoretischen Verstand eine Tugend? . . 54 Sind die Tugenden von Natur aus in uns? . . . . 60 Werden die Tugenden durch Handlungen erworben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Gehören zum Menschen auch Tugenden durch Eingießung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Nimmt die eingegossene Tugend an Stärke zu? . 98 Über die Unterscheidung der Tugenden . . . . . 110 Besteht die Tugend in der Mitte? . . . . . . . . . 127

II. Über die heilige Liebe 1. Artikel 2. Artikel 3. Artikel

Ist die heilige Liebe etwas Geschaffenes in der Seele oder ist sie der heilige Geist selbst? . . . . 141 Ist die heilige Liebe eine Tugend? . . . . . . . . . 154 Ist die heilige Liebe die Form der Tugenden? . . . 162

Inhalt

VI

4. Artikel 5. Artikel 6. Artikel 7. Artikel 8. Artikel 9. Artikel 10. Artikel 11. Artikel 12. Artikel 13. Artikel

Ist die heilige Liebe eine Tugend? . . . . . . . . . Ist die heilige Liebe eine besondere Tugend? . . . Kann die heilige Liebe zusammen mit der Todsünde bestehen? . . . . . . . . . . . . . . . . Ist der Gegenstand, der mit heiliger Liebe geliebt werden kann, vernünftiger Natur? . . . . . . . . Gehört die Feindesliebe zur Vollkommenheit des Rates? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gibt es in der heiligen Liebe eine Ordnung? . . . Ist es möglich, daß es in diesem Leben vollkommene heilige Liebe gibt? . . . . . . . . . Sind alle Menschen zur vollkommenen heiligen Liebe verpflichtet? . . . . . . . . . . . . . . . . . Kann die heilige Liebe, die man einmal erworben hat, verloren gehen? . . . . . . . . . . . . . . . . Kann die heilige Liebe durch einen Akt der Todsünde verloren gehen? . . . . . . . . . . . . .

170 177 182 191 200 210 219 226 235 251

III. Über die brüderliche Zurechtweisung 1. Artikel 2. Artikel

Ist die Zurechtweisung im göttlichen Gebot enthalten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Gibt es eine Ordnung der brüderlichen Zurechtweisung? . . . . . . . . . . . . . . . . . 270

IV. Über die Hoffnung 1. Artikel 2. Artikel 3. Artikel 4. Artikel

Ist die Hoffnung eine Tugend? . . . . . . . . Ist die Hoffnung im Willen als ihrem Träger? Ist die Hoffnung früher als die heilige Liebe? Gibt es die Hoffnung nur im Pilgerstand? . .

. . . .

. . . .

285 297 299 306

Inhalt

VII

V. Über die K ardinaltugenden 1. Artikel 2. Artikel 3. Artikel 4. Artikel

Sind Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maßhalten Kardinaltugenden? . . . . . . . . . . Sind die Tugenden so untereinander verbunden, daß, wer die eine besitzt, alle besitzt? . . . . . . Sind alle Tugenden im Menschen gleich? . . . . Bleiben die Kardinaltugenden in der ewigen Heimat erhalten? . . . . . . . . . . . . . . . . .

317 328 341 354

Nachwort 1. Textgestalt und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . 365 2. Historische Einordnung und die Begründung des Gesamtaufbaus von »De virtutibus« . . . . . . . . . . . . 368 3. Inhaltliche Hinführung zu den Quaestiones disputatae de virtutibus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403

THOMAS VON AQUIN

Über die Tugenden

I. ÜBER DIE TUGENDEN IM ALLGEMEINEN

Die hier behandelten Fragen lauten: 1. Sind die Tugenden Habitus? 2. Ist die Definition, die Augustinus vorlegt, zutreffend? 3. Kann ein Vermögen der Seele Träger einer Tugend sein? 4. Können das zornmütige und das begehrliche Strebevermögen Träger der Tugend sein? 5. Ist der Wille Träger der Tugend? 6. Ist die Tugend im praktischen Verstand als ihrem Träger? 7. Liegt im theoretischen Verstand eine Tugend? 8. Sind die Tugenden von Natur aus in uns? 9. Werden die Tugenden durch Handlungen erworben? 10. Gehören zum Menschen auch Tugenden durch Eingießung? 1 11. Nimmt die eingegossene Tugend an Stärke zu? 12. Über die Unterscheidung der Tugenden. 13. Besteht die Tugend in der Mitte?

1 Die Metapher der Eingießung geht auf Röm. 5, 5 zurück: »Die Hoffnung aber läßt nicht zuschanden werden, weil die Liebe Gottes in unsere Herzen ausgegossen ist durch den Heiligen Geist, der uns geschenkt wurde«. Die metaphorische Verwendung des Begriffs Eingießung besagt schon, daß es hier nicht um Tugenden geht, die der Mensch durch Übung und Gewöhnung erworben hat, sondern deren Ursprung die unmittelbare Wirkung des Heiligen Geistes ist, wodurch im Menschen die Fähigkeit zu einem übernatürlichen sittlichen Leben eingestiftet wird, das er in Freiheit entfalten kann. In dieser Eigenschaft bildet der Begriff der Eingießung das zentrale theoretische Bindeglied zwischen dem übernatürlichen und dem natürlichen sittlichen Leben des Menschen.

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1. Artik el Die erste Frage lautet: Sind die Tugenden Habitus? 2 Dies scheint nicht der Fall zu sein, sondern sie sind eher ein Akt;3 denn: 1. Augustinus sagt nämlich in den Retraktationen, daß »die Tugend der gute Gebrauch des freien Willens ist«.4 Der Gebrauch des freien Willens aber ist ein Akt. Deshalb ist die Tugend ein Akt. 2. Jemandem wird nur aufgrund eines Aktes der Lohn geschuldet. Er wird aber jedem verliehen, der Tugend besitzt; denn jeder, der in der heiligen Liebe5 stirbt, gelangt zur Glückseligkeit. Daher ist die Tugend ein Verdienst. Ein Verdienst aber ist ein Akt und daher auch die Tugend. 3. In dem Maße irgendetwas in uns Gott ähnlicher ist, um soviel ist es auch besser. Wir ähneln aber Gott am meisten, sofern wir in Tätigkeit sind, denn er ist reine Tätigkeit; darum ist der Akt das Höchste in uns. »Die Tugenden aber sind die höchsten Güter in uns«,6 2 Paralleltexte: Sent. III, d. 23 q. 1 a. 3; Sum. theol. I–II, q. 49 und q. 55; Sum. theol. I–II, q. 82 a. 1 c; In Eth. VI, l. 10, n. 4. 3 Der Begriff actus deckt in De virtutibus verschiedene Bedeutungsfelder ab, die auseinandergehalten werden müssen. Im Kontext des Hylemorphismus ist er das Begriffskorrelat zur Potenz und wird als »Akt« übersetzt. Innerhalb der thomasischen Tugendlehre übernimmt der Habitus – wie im vorliegenden Artikel thematisiert – die spezifisch ethische Bedeutung von Potenz, so daß diese Verwendung von actus als prinzipielle Bestimmung der Verwirklichung sowohl mit »Akt« als auch mit »Tätigkeit« wiedergegeben wird. Sofern Thomas die Verwirklichung des im Habitus Angelegten in seiner Konkretion benennt, wird actus sowohl allgemein mit »Tätigkeit« als auch spezifiziert auf den Menschen mit »Handlung« oder auch »Tat« übersetzt. 4 Augustinus, Retract. I, 9, 6 (CCSL, 57, 26). 5 Die Übersetzung von caritas mit »heiliger Liebe« liegt darin begründet, daß caritas dem Gegenstand nach zwar die Gottes- und Nächstenliebe meint, aber darin nicht der subjektive Vollzug dieser Liebe zum Ausdruck kommt. Die Übersetzung »heilige Liebe« ermöglicht, die Liebe Gottes selbst, das gnadenhafte Wirken Gottes und die Vereinigung von Gnade und Natur im Menschen, der dadurch Gott und den Nächsten liebt, zu bezeichnen. 6 Augustinus, De lib. arb. II, 19 (CCSL 29, 271).

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wie Augustinus im Buch Über den freien Willen sagt. Also sind die Tugenden Akte. 4. Die Form der Vollkommenheit im Pilgerstand entspricht der Vollkommenheit der ewigen Heimat. Aber die Vollkommenheit der ewigen Heimat ist Tätigkeit, nämlich das Glück, das, gemäß Aristoteles, in Tätigkeit besteht.7 Darum ist auch die Vollkommenheit im Pilgerstand, nämlich die Tugend, Tätigkeit. 5. Ein konträrer Gegensatz besteht zwischen den Gegenständen, die in derselben Gattung gesetzt werden und sich gegenseitig ausschließen. Die Tat der Sünde aber schließt die Tugend aufgrund des Gegensatzes, den sie zu ihr hat, aus. Also gehört die Tugend zur Gattung der Tätigkeit. 6. Aristoteles sagt im 1. Buch von Über den Himmel und die Welt, daß die Tugend das Äußerste eines Vermögens ist.8 Das Beste eines Vermögens aber ist die Tätigkeit. Also ist die Tugend eine Tätigkeit. 7. Der vernünftige Teil ist vornehmer und vollkommener als der sinnliche Teil. Aber die sinnliche Kraft kommt nicht durch einen Habitus oder eine vermittelnde Qualität zu ihrer Tätigkeit. Daher ist es auch für den verstandesmäßigen Teil nicht nötig, einen Habitus anzunehmen, durch dessen Vermittlung er über eine vollkommene Tätigkeit verfügt. 8. Aristoteles sagt im 7. Buch der Physik, daß die Tugend Hinordnung des Vollkommenen auf das Beste ist.9 Das Beste aber ist der Akt, und die Hinordnung gehört derselben Gattung an wie das, auf das sie hingeordnet ist. Also ist die Tugend ein Akt. 9. Augustinus sagt in Über die Sitten der Kirche, daß die Tugend die Ordnung der Liebe ist.10 Die Ordnung aber ist, wie er selbst im 19. Buch von Über den Gottesstaat sagt, die Verteilung der gleichartigen und ungleichartigen Dinge an ihren jeweiligen Ort, der 7 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. I, 6; 1098 a 16. 8 Vgl. Aristoteles, De caelo I, 12; 281 a 15. Vgl. dazu auch Aristoteles,

Eth. Nic. II, 6; 1107 a 9. 9 Vgl. Aristoteles, Phys. VII, 3; 246 a 13. 10 Vgl. Augustinus, De mor. eccl. cath. et de mor. Manich. I, 15 (PL 32, col. 1322).

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ihnen zugeteilt ist.11 Die Tugend ist daher eine Hinordnung, nicht ein Habitus. 10. Der Habitus ist eine Qualität, die schwer veränderlich ist. Die Tugend aber ist leicht veränderlich, weil sie durch einen Akt der Todsünde verloren geht. Daher ist die Tugend kein Habitus. 11. Wenn wir Habitus, die Tugenden sind, brauchen, dann entweder für natürliche Handlungen oder für Verdienste, die gewissermaßen übernatürlich sind. Für die natürlichen Handlungen brauchen wir sie nicht, denn wenn eine Natur – sowohl die sinnenhafte als auch die nicht-sinnenhafte – ihre Handlung ohne Habitus vollenden kann, vermag dies die vernünftige Natur viel besser. Ähnlich ist es auch bei den verdienstvollen Handlungen, denn bei diesen handelt Gott in uns, der in uns das Wollen und Vollbringen über den guten Willen hinaus bewirkt.12 Darum sind die Tugenden in keinem Sinne Habitus. 12. Alles, was seiner Form entsprechend tätig ist, folgt immer der Erfordernis jener Form. So ist beispielsweise das Warme immer tätig, indem es erwärmt. Wenn es also im Geist eine habituelle Form gibt, die Tugend genannt wird, muß derjenige, der Tugend besitzt, ihr entsprechend handeln. Das aber ist falsch, weil auf diese Weise jeder, der Tugend besitzt, schon in ihr gefestigt wäre. Also sind die Tugenden keine Habitus. 13. Die Habitus sind in den Vermögen, damit sie ihnen die Leichtigkeit des Handelns gewähren. Zur Verwirklichung der Tugenden bedürfen wir, wie es scheint, nicht einen, der die Leichtigkeit hervorbringt, denn sie werden prinzipiell durch Wahl und Willen konstituiert. Nichts aber ist leichter als das, was im Willen konstituiert ist. Deshalb sind die Tugenden keine Habitus. 14. Die Wirkung kann nicht edler sein als ihre Ursache. Wenn aber die Tugend ein Habitus ist, wird sie Ursache des Aktes sein, der edler als der Habitus ist. Daher scheint es nicht angemessen zu sein, daß die Tugend ein Habitus ist. 15. Die Mitte und die Extreme gehören zu einer Gattung. Die sittliche Tugend ist nun aber die Mitte zwischen den Leidenschaf11 Vgl. Augustinus, De civ. Dei XIX, 13 (CCSL 48/2, 679). 12 Phil. 2, 13.

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ten. Die Leidenschaften aber gehören zur Gattung der Akte. Also, usw. Dagegen spricht: 1. Nach Augustinus »ist die Tugend die gute Beschaffenheit des Geistes«.13 Sie kann aber in keiner Art außer der ersten, die der Habitus ist, sein. Deshalb ist die Tugend ein Habitus. 2. Aristoteles sagt im 2. Buch der Ethik, daß »die Tugend ein durch Wahl bestimmter, im Geist sich konstituierender Habitus ist«.14 3. Bei den Schlafenden gibt es Tugenden, weil sie nur durch eine Todsünde verloren gehen. Aber die Akte der Tugenden sind nicht in ihnen, weil sie den freien Willen nicht gebrauchen. Daher sind die Tugenden keine Akte. Antwort: Die Tugend bezeichnet, ihrem Namen entsprechend, die Vollendung eines Vermögens. Danach wird auch die Kraft benannt, nach der eine Sache dank der vollendeten Fähigkeit,15 die sie besitzt, ihrem Antrieb oder ihrer Bewegung folgen kann. Die Tugend zeigt nämlich, wie ihr Name sagt, die Vollkommenheit einer Fähigkeit. Daher sagt Aristoteles im 1. Buch in Über den Himmel und die Welt, daß die Tugend das Äußerste innerhalb eines Vermögens ist.16 Weil aber das Vermögen in Bezug auf den Akt benannt wird, richtet sich die Vollendung des Vermögens auf das, was der vollkommenen Handlung zugute kommt. Da aber die Handlung das Ziel des Handelnden ist, besteht jedes Ding, wie Aristoteles im 1. Buch Über den Himmel und die Welt sagt, um seiner Handlung bzw. des nächsten

13 Vgl. Anm. 31. 14 Aristoteles, Eth. Nic. II, 6; 1106 b 36–1107 a 2. 15 Mit »Fähigkeit« wird hier das lateinische potestas übersetzt, weil

das vernunftbegabte Lebewesen durch die erworbene oder eingegossene Tugend sowohl in spezifischer Weise und als auch jederzeit abrufbar über das Vermögen verfügen kann. Dadurch wird der unbestimmte Begriff der Kraft näher bestimmt. 16 Vgl. Aristoteles, De caelo I, 11; 281 a 15.

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Zieles willen;17 jedes einzelne Ding ist nämlich gut, sofern es eine vollkommene Hinordnung auf sein Ziel hin besitzt. Deshalb ist es so, daß »die Tugend den, der sie besitzt, gut macht und sein Werk gut macht«,18 wie Aristoteles im 2. Buch der Ethik sagt. So ist auch klar, was die Hinordnung des Vollkommenen auf das Beste19 meint, wie es im 7. Buch der Metaphysik heißt. Dies alles kommt mit der Tugend einer jeden Sache zu. Denn die Tugend des Pferdes macht seine Gutheit und seine Tätigkeit aus; ähnlich ist es bei der Tugend des Steines oder des Menschen oder irgendetwas anderem. Entsprechend der unterschiedlichen Bedingung der Vermögen jedoch ist auch ihre Verknüpfung verschieden. Es gibt nämlich Vermögen, die nur tätig sind, andere sind nur angetrieben oder bewegt, wieder andere aber sind tätig und angetrieben. Das Vermögen also, das nur tätig ist, bedarf für den Anfang der Tätigkeit keines Anstoßes. Daher ist die Kraft20 eines solchen Vermögens nichts anderes als das Vermögen selbst. Ein solches Vermögen aber ist das göttliche Vermögen, der tätige Verstand und die natürlichen Vermögen. Daher sind die Kräfte dieser Vermögen nicht irgendwelche Haltungen, sondern die in sich selbst vollendeten Vermögen selbst. Die Vermögen aber, die nur bewegt werden, sind dann tätig, wenn sie von anderen bewegt werden. Sie sind weder an sich tätig, noch sind sie untätig, sondern sie sind entsprechend dem Einfluß der bewegenden Kraft tätig. Von dieser Art sind die sinnlichen Kräfte für sich betrachtet. Darum heißt es im 3. Buch der Ethik, daß »der Sinn kein Prinzip des Handelns ist«.21 Diese Vermögen werden durch etAristoteles, De caelo II, 3; 286 a 8. Aristoteles, Eth. Nic. II, 5; 1106 a 17. Thomas bezieht sich vielmehr auf: Aristoteles, Met. V; 1021 b 21–30. Thomas verwendet virtus in der Doppelbedeutung von Kraft und Tugend. Der Begriff Kraft zeigt die Ausübung eines Vermögens in der Gestalt einer bestimmten Fähigkeit oder Tugend an, während der Begriff Tugend die spezifische Bestimmung dieser Ausübung bezeichnet. Mit zunehmender Präzisierung des allgemeinen Tugendbegriffs in den folgenden Artikeln wird die Unterscheidung immer klarer sichtbar. 21 Der fragliche Text findet sich vielmehr in: vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 2; 1139 a 19. 17 18 19 20

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was von außen sie Beeinflussendes zu ihren Akten vervollkommnet. Das jedoch ist in ihnen nicht im Sinne einer Form, die im Träger bleibt, sondern im Sinne des Bildes in der Pupille, nämlich auf die Weise des Erleidens. Daher sind die Kräfte dieser Vermögen keine Habitus, sondern eher selbst Vermögen, sofern sie durch das wirklich sind, was sie von den auf sie Einwirkenden erlitten haben. Jene Vermögen aber sind tätig und bewegt, die so von den auf sie Einwirkenden bewegt werden, daß sie dennoch durch sie nicht auf eine Tätigkeit festgelegt werden, sondern in ihnen ein Tätigsein ist wie bei den irgendwie vernünftigen Kräften. Diese Vermögen werden zu dem, was getan werden soll, durch einen von außen kommenden Einfluß vollendet, der in ihnen nicht nur auf die Weise des Erleidens, sondern auch auf die Weise der ruhenden und im Träger bleibenden Form ist, obgleich so, daß das Vermögen durch sie nicht zu einer Tätigkeit gezwungen wird, denn sonst wäre das Vermögen nicht Herr seiner Akte. Die Kräfte dieser Vermögen sind nicht die Vermögen selbst – weder die Leidenschaften, wie bei den sinnlichen Vermögen noch die Qualitäten bei den notwendig Tätigen, wie die Qualitäten der natürlichen Dinge. Vielmehr sind sie Habitus, dank derer jemand nach seinem Willen tätig sein kann,22 wie es Averroes im 3. Buch in Über die Seele sagt. Auch Augustinus sagt im Buch Über das Gut der Ehe, daß der Habitus das ist, durch den jemand tätig ist, wenn die Zeit dafür gekommen ist.23 So ist also klar, daß die Tugenden Habitus sind. Ebenso ist leicht zu verstehen, wie die Habitus sich sowohl von der zweiten und dritten Art der Qualität, als auch von der vierten unterscheiden, denn die Figur besagt nicht eine Hinordnung auf den Akt, sofern er in sich ist.24

22 Vgl. Averroes, In III De anima com. 6 (Aristotelis opera cum Averrois commentariis, Suppl. II, 188 E und 191 B–C). 23 Vgl. Augustinus, De bono coniugali XXI (PL 40, col. 390 f.). 24 Thomas bezieht sich auf Aristoteles, Cat. 8; 8 b 25–11 a. Dort werden vier Arten der Qualität unterschieden: 1. Habitus (z. B. Wissenschaft oder Tugend) und Disposition (vorübergehender Zustand), 2. natürliche Veranlagung (z. B. gute oder schlechte Gesundheit), 3. sinnenhafte Qualitäten (z. B. Süßigkeit), 4. Figur (äußere Form der Dinge).

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Daraus kann erschlossen werden, daß wir den Habitus der Tugenden für dreierlei benötigen: Erstens: damit es in der Handlung des Menschen eine gleichbleibende Form gibt. Was nämlich nur von einer einzigen Handlung abhängig ist, kann leicht verändert werden, wenn sie nicht durch eine habituelle Neigung gefestigt gewesen sind. Zweitens: damit man über die vollkommene Handlung mit Leichtigkeit verfügt. Wenn nämlich das vernünftige Vermögen sich in keiner Weise durch einen Habitus zu einer Tätigkeit hinneigt, wird es, wenn es zu handeln gilt, immer nötig sein, daß das Nachdenken über die Handlung vorangeht. So ist es beispielsweise bei dem offensichtlich, der nachdenken will, ohne über den Habitus der Wissenschaft zu verfügen, und auch bei dem, der zwar der Tugend entsprechend handeln will, dem aber der Habitus der Tugend fehlt. Daher sagt Aristoteles im 5. Buch der Ethik, daß vom Habitus die Reaktion auf Unvorhergesehenes kommt.25 Drittens: damit eine vollkommene Handlung in beglückender Weise vollzogen wird. Das geschieht nämlich durch den Habitus. Bringt jemand, wenn es gemäß seiner Natur geschieht, eine ihm eigentümliche, also natürliche Handlung hervor, ist er auch in der Folge von Freude erfüllt, denn die Übereinstimmung ist die Ursache der Freude. Daher sagt Aristoteles im 2. Buch der Ethik: Ein Zeichen des Habitus ist die bei der Tätigkeit bestehenden Freude.26 Zu 1. Genauso wie die Macht ist auch die Tugend in zweifachem Sinn zu verstehen: Einerseits mit Bezug auf den Inhalt, so wie wir sagen, daß das, was wir können, unser Vermögen ist, und in diesem Sinne sagt Augustinus, daß ›der gute Gebrauch des freien Willens Tugend ist‹; andererseits mit Bezug auf das Wesen und so ist weder das Vermögen noch die Tugend ein Akt. Zu 2. ›Sich verdient machen‹ ist auf zweifache Weise zu verstehen: Einerseits im eigentlichen Sinn; und so besagt es nichts anderes als eine Handlung zu vollziehen, mit der jemand sich berechtig25 Der angeführte Text bezieht sich vielmehr auf: Aristoteles, Eth. Nic. III, 11; 1117 a 22. 26 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 2; 1104 b 4 f.

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ter Weise ein Verdienst erwirbt. Andererseits im nicht eigentlichen Sinn, und so wird eine Beschaffenheit, die den Menschen irgendwie würdig macht, ein Verdienst genannt; wie wenn wir etwa sagen, daß die Gestalt des Priamus die Herrschaft verdient hat, weil er der Herrschaft würdig gewesen ist. Da mit dem Verdienst also ein Lohn geschuldet wird, gilt dies in gewisser Weise auch von der habituellen Qualität, durch die jemandem vergolten wird, der den Lohn verdient hat. So wird er den getauften Kindern geschuldet. Ebenso wird er dem in einem Akt liegenden Verdienst geschuldet, dann aber nicht der Tugend, sondern dem Akt der Tugend. Dennoch wird er auch den kleinen Kindern auf gewisse Weise nach Maßgabe des in einem Akt liegenden Verdienstes vergolten, sofern das Sakrament durch das Verdienst Christi wirksam ist, wodurch sie zum Leben neuerschaffen werden. Zu 3. Augustinus sagt, daß ›die Tugenden die größten Güter sind‹, zwar nicht einfachhin, aber innerhalb einer Gattung; so wie auch das Feuer das feinste unter den Körpern genannt wird. Daraus folgt nicht, daß nichts in uns besser als die Tugenden ist, sondern daß sie zur Zahl derer gehören, die die höchsten Güter ihrer Gattung nach sind. Zu 4. So wie es im Pilgerstand27 eine habituelle Vollkommenheit gibt, die die Tugend ist, und eine im Akt liegende Vollkommenheit, die der Akt der Tugend ist, genauso ist auch das Glück in der ewigen Heimat selbst eine im Akt liegende Vollkommenheit, die aus irgendeinem zur Vollkommenheit gelangten Habitus hervorgeht. Deshalb sagt auch Aristoteles im 1. Buch der Ethik, daß die Glückseligkeit ein Tätigsein gemäß der vollendeten Tugend ist.28 Zu 5. Die sündhafte Tat hebt die tugendhafte unmittelbar wegen des Gegensatzes auf. Sie beseitigt aber den Habitus der Tugend selbst nur akzidentell, sofern sie von der Ursache der eingegossenen Tugend, nämlich von Gott, getrennt wird. Darum heißt es in Jes. 59, 2: »Eure Frevel sind zur Scheidung geworden zwischen euch und eurem Gott«. Deswegen werden die erworbenen Tugenden durch eine sündhafte Tat nicht aufgehoben. 27 Übersetzung von vita. 28 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. I, 9; 1098 b 30 ff. und 1099 a 24.

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Zu 6. Jene Definition des Aristoteles kann auf zweifache Weise verstanden werden: Einerseits mit Bezug auf den Inhalt, sofern wir unter Tugend das verstehen, worin sie etwas kann; das ist das Beste innerhalb dessen, was ein Vermögen kann. So ist beispielsweise die Kraft dessen, der hundert Pfund tragen kann, in ihm, sofern er hundert und nicht nur sechzig Pfund tragen kann. Andererseits kann sie mit Bezug auf das Wesen verstanden werden. So wird die Tugend das Beste des Vermögens genannt, weil sie das bezeichnet, was das Vermögen erfüllt. Unabhängig davon, ob dadurch das Vermögen schon ganz erfüllt ist oder nicht, ist es etwas anderes als das Vermögen. Zu 7. Es gibt, wie gesagt, kein vergleichbares Verhältnis von Habitus und Akt zwischen den sinnenhaften und den vernünftigen Vermögen. Zu 8. Die Anlage zu etwas wird das genannt, wodurch etwas auf das, was erreicht werden soll, hinbewegt wird. Die Bewegung aber hat bisweilen ein Ziel in derselben Gattung, wie z. B. die Bewegung im Sinne der Veränderung eine Qualität ist. Daher gehört die Ausrichtung auf dieses Ziel immer zugleich mit dem Ziel zur selben Gattung. Manchmal aber hat die Bewegung ein Ziel, das zu einer anderen Gattung gehört, wenn z. B. das Ziel der Veränderung die substantielle Form ist. Deshalb richtet sich die Hinordnung nicht immer auf etwas innerhalb derselben Gattung. So trägt z. B. die Wärme die Hinordnung zur substantiellen Form des Feuers in sich. Zu 9. ›Hinordnung‹ wird in dreifachem Sinn ausgesagt: Erstens in dem Sinne, durch den die Materie auf die Aufnahme der Form hingeordnet ist; so ist beispielsweise die Wärme auf die Form des Feuers hingeordnet; zweitens in dem Sinne, durch den ein Tätiges auf das Tun hingeordnet ist, wie die Schnelligkeit auf den Lauf. Drittens bezeichnet man als Hinordnung die Ordnung selbst, durch die Dinge einander zugeordnet sind; in diesem Sinne wird Hinordnung von Augustinus verstanden. Hinordnung und Habitus aber werden im ersten Sinn unterschieden. Die Tugend selbst jedoch ist eine Hinordnung im zweiten Sinn. Zu 10. Keine Sache besitzt eine solche Festigkeit, daß sie nicht sofort von selbst vergeht, sobald ihre Ursache nicht mehr da ist. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn, nachdem die Verbindung zu

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Gott durch die Todsünde zerstört wurde, die eingegossene Tugend erlischt. Und dies widerstreitet nicht ihrer Unveränderlichkeit, die nur durch ihre bleibende Ursache verstanden werden kann. Zu 11. Wir brauchen für beide Handlungen Habitus. Für die natürlichen gelten freilich die drei oben angeführten Gründe; für die Verdienste aber gilt darüber hinaus, daß das natürliche Vermögen durch die eingegossenen Habitus zu dem erhoben wird, was über der Natur ist. Dies wird auch nicht dadurch beseitigt, daß Gott in uns handelt, denn er handelt so in uns, daß auch wir tätig sind. Daher bedürfen wir eines Habitus, durch den wir in angemessener Weise tätig sein können. Zu 12: Jede Form wird in ihrem Zugrundeliegenden gemäß der Seinsweise des Aufnehmenden aufgenommen. Die Eigenschaft des vernünftigen Vermögens aber ist es, daß es sich auf Gegensätzliches beziehen kann und Herr ihrer Tätigkeit ist. Daher wird das vernünftige Vermögen niemals durch die aufgenommene habituelle Form zu einem gleichartigen Handeln gezwungen, vielmehr kann sie tätig oder nicht tätig sein. Zu 13. Bei dem, was nur durch Wahl konstituiert ist, ist es leicht, daß es auf irgendeine Weise geschieht. Daß dies aber so geschieht, wie es sein soll, und zwar ohne Schwierigkeit, sicher und freudig, ist nicht leicht. Daher bedürfen wir dazu des Habitus der Tugenden. Zu 14. Jede Bewegung von Tier oder Mensch, die in Gang kommt, geschieht durch ein bewegendes Bewegtes und hängt von einem vorangegangenen wirklich vollzogenen Akt ab. Auf diese Weise ruft der Habitus nicht von sich aus den Akt hervor, es sei denn, er ist von einem anderen Tätigen angetrieben. Zu 15. Die Tugend ist die Mitte zwischen Leidenschaften, nicht etwa irgendeine mittlere Leidenschaft, sondern vielmehr diejenige Tätigkeit, die unter den Leidenschaften die Mitte ausmacht.

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2. Artik el Die zweite Frage lautet: Ist die Definition der Tugend, die Augustinus vorlegt, zutreffend? 29 Seine Definition ist folgende: Die Tugend ist die gute Beschaffenheit des Geistes, durch die man in rechter Weise lebt, die niemand schlecht gebraucht, und die Gott in uns ohne uns wirkt.30 Das scheint nicht richtig zu sein; denn: 1. Die Tugend ist eine Art von Gutheit. Wenn sie also selbst gut ist, dann entweder durch ihre eigene Gutheit oder durch eine andere. Wenn durch eine andere, gerät man in einen unendlichen Regreß. Wenn aber durch ihre eigene, dann ist die Tugend die erste Gutheit, weil nur die erste Gutheit durch sich selbst gut ist. 2. Das, was allen Seienden gemeinsam ist, darf nicht in die Definition eines bestimmten Seienden aufgenommen werden. Das Gute jedoch, das mit dem Seienden vertauschbar ist, ist allen Seienden gemeinsam. Darum darf es auch nicht in die Definition der Tugend aufgenommen werden. 3. Das Gute liegt im Sittlichen genauso vor wie im Natürlichen. Das Gute und das Schlechte setzen jedoch im Natürlichen jedoch keinen Unterschied der Art. Daher darf auch in der Definition der Tugend das Gute nicht aufgenommen werden als wäre es die spezifische Differenz der Tugend selbst. 4. Der Unterschied wird nicht zur Bestimmung der Gattung in die Definition aufgenommen. Das Gute aber wird, genauso wie das Seiende zur Bestimmung der Beschaffenheit in die Definition aufgenommen. Daher darf es auch nicht zur Definition der Tugend hinzugefügt werden, wie es oben heißt: ›Die Tugend ist die gute Beschaffenheit des Geistes‹, etc.

29 Paralleltexte: Sent. II, d. 27 q. 1 a. 2; Sent. III, d. 34 q. 1 a. 1 obj. 4 und ad 4; Sum. theol. I–II, q. 55 a. 4; Sum. theol. I–II, q. 63 a. 2; In De div. nom. IV, 15. 30 Diese Definition schreibt Thomas Augustinus auch in Sent. II, d. 27 q. 1 a. 2 zu. In diesem Wortlaut findet sich diese Angabe bei Augustinus nicht, wird aber spätestens seit Petrus Lombardus so angeführt und bezieht sich auf Augustinus, De lib. arb. II, 19 (CCSL 29, 271); Retract. I, 9, 4 (CCSL 57, 25) u. a.

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5. Gut und schlecht sind Gegensätze, aber das Schlechte konstituiert keine Art, denn es ist eine Beraubung. Darum gilt dasselbe auch für das Gute und daher darf dieses nicht als artbildender Unterschied in die Definition der Tugend aufgenommen werden. 6. Das Gute ist in mehr als nur in der Kategorie der Qualität. Deshalb unterscheidet sich die eine Qualität von der anderen nicht durch das Gute. Das Gute darf darum nicht in die Definition der Tugend aufgenommen werden wie der Unterschied, der die Qualität oder die Tugend bestimmt. 7. Aus zwei Akten entsteht nichts. Das Gute meint aber wie die Qualität einen Akt. Also ist es schlecht gesagt, daß ›die Tugend eine gute Qualität‹ sei. 8. Abstrakt Ausgesagtes wird nicht konkret ausgesagt, wie beispielsweise das Weißsein eine Farbe ist, jedoch kein Gefärbtes. Die Gutheit wird aber von der Tugend abstrakt ausgesagt, also nicht konkret. Daher kann man nicht gut sagen: ›Die Tugend ist eine gute Qualität.‹ 9. Keine spezifische Differenz wird abstrakt von der Art ausgesagt. Deshalb sagt Avicenna, daß der Mensch nicht Vernünftigkeit ist, sondern vernünftig.31 Die Tugend aber ist eine Gutheit. Also ist die Gutheit nicht die spezifische Differenz der Tugend. Darum kann man nicht gut sagen: ›Die Tugend ist eine gute Qualität.‹ 10. Sittliches Übel ist dasselbe wie Laster; darum ist auch das sittliche Gute dasselbe wie Tugend. Also darf das Gute nicht in die Definition der Tugend gesetzt werden, weil sonst dasselbe sich selbst definieren würde. 11. Der Geist gehört zum Verstand, die Tugend aber bezieht sich mehr auf das Gemüt. Man kann darum nur schlecht sagen, daß ›die Tugend eine gute Beschaffenheit des Geistes‹ sei. 12. Gemäß Augustinus bezeichnet der Geist den höheren Teil der Seele.32 Es gibt aber auch Tugenden in den unteren Vermögen. Also wird zu Unrecht in die Definition der Tugend ›die gute Qualität des Geistes‹ aufgenommen. 31 Vgl. Avicenna, Liber de philosophia prima sive scientia divina V, 6 (ed. Van Riet, 279). 32 Vgl. Augustinus, De trin. XII, 1, 3 (CCSL 50, 356).

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13. Der Träger der Tugend bezeichnet das Vermögen, nicht das Wesen. Der Geist aber scheint das Wesen der Seele zu bezeichnen, denn Augustinus sagt, daß im Geist der Verstand, die Erinnerung und der Wille sind.33 Daher muß der Geist nicht in die Definition der Tugend aufgenommen werden. 14. Das, was einer Art eigentümlich ist, darf nicht in die Definition der Gattung aufgenommen werden. Die rechte Gesinnung aber ist das der Gerechtigkeit Eigentümliche. Daher darf die rechte Gesinnung nicht mit den Worten in die Definition der Tugend aufgenommen werden: ›Die gute Qualität des Geistes, durch die man in rechter Weise lebt‹. 15. Bei Lebewesen besagt Leben Sein. Aber die Tugend findet ihre Vollkommenheit nicht im Sein, sondern in der Handlung. Darum heißt es zu Unrecht ›durch die man in rechter Weise lebt.‹ 16. Jeder, der auf eine Sache stolz ist, gebraucht sie in schlechter Weise. Auf die Tugenden aber ist man stolz. Also gebraucht man die Tugenden in schlechter Weise. 17. Augustinus sagt im Buch Über den freien Willen, daß einzig die größten Güter niemand schlecht gebraucht.34 Die Tugend aber gehört nicht zu den größten Gütern, denn die größten Güter werden um ihretwillen erstrebt. Das stimmt mit den Tugenden nicht überein, weil sie wegen etwas anderem erstrebt werden, nämlich wegen der Glückseligkeit. Daher ist der Passus ›die niemand schlecht gebraucht‹ zu Unrecht in die Definition aufgenommen. 18. Etwas wird vom Gleichartigen gezeugt, ernährt und vermehrt. Die Tugend aber wird durch unsere Akte ernährt und vermehrt, weil die Minderung der Begierde die Stärkung der heiligen Liebe ist. Darum wird durch unsere Akte die Tugend erzeugt, weshalb der Passus ›den Gott in uns ohne uns vollbringt‹, zu Unrecht in die Definition aufgenommen ist. 19. Das, was ein Hindernis beseitigt, ist als Bewegungsursache zu verstehen.35 Der freie Wille aber ist sozusagen das, was das Hin33 Vgl. Augustinus, De trin. XIV, 7, 9 f. (CCSL 50 A, 433 f.); XV, 7, 11 ff. (CCSL 50 A, 474–479). 34 Vgl. Augustinus, De lib. arb. II, 19 (CCSL 29, 271), Retract. I, 9, 4 (CCSL 57, 25) u. a. 35 Vgl. Aristoteles, Phys. VIII, 4; 256 a 1 f.

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dernis für die Tugend beseitigt. Darum ist er in gewisser Weise die Ursache. Also kann nicht zutreffend behauptet werden, daß ›Gott in uns ohne uns die Tugend wirkt.‹ 20. Augustinus sagt: »Wer dich ohne dich geschaffen hat, wird dich nicht ohne dich rechtfertigen«.36 Also etc. 21. Diese Definition stimmt, wie es scheint, mit der Gnade überein. Aber die Tugend und die Gnade sind nicht ein und dasselbe. Also kann durch diese Definition die Tugend nicht zutreffend definiert werden. Antwort: Diese Definition umfaßt die Definition der Tugend, auch dann, wenn man den letzten Teil wegläßt, und sie trifft auf jede menschliche Tugend zu. Wir haben nämlich schon ganz in diesem Sinne gesagt: Die Tugend vervollkommnet ein Vermögen im Verhältnis zum vollkommenen Akt.37 Der vollkommene Akt ist nun aber das Ziel des Vermögens bzw. des Handelnden und in Folge dessen macht die Tugend, wie gesagt, sowohl das Vermögen als auch den Handelnden gut. Darum wird in der Definition der Tugend sowohl etwas aufgenommen, das zur Vollkommenheit des Aktes gehört, als auch etwas, das zur Vollkommenheit des Vermögens bzw. des Handelnden gehört. Zur Vollkommenheit des Aktes gehört zweierlei: Erstens ist erforderlich, daß der Akt richtig ist, und zweitens, daß der Habitus nicht ein Prinzip des entgegengesetzten Aktes sein kann. Das, was nämlich das Prinzip des guten und des schlechten Aktes ist, kann nicht als solches das vollkommene Prinzip des guten Aktes sein, denn der Habitus ist die Vollkommenheit des Vermögens. Darum muß es das Prinzip des guten und in keiner Weise des schlechten Aktes sein. Deswegen sagt Aristoteles im 6. Buch der Ethik, daß die Meinung, die wahr und falsch sein kann, keine Tugend ist. Vielmehr ist die Tugend das Wissen, das

36 Augustinus, Serm. 169, 11 (PL 38, col. 923). 37 Vgl. De virt. q. 1 a. 1 c.

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sich nur an der Wahrheit orientiert.38 Die erste Bedingung ist durch den Ausdruck bestimmt ›wodurch man richtig lebt‹, und die zweite durch den Ausdruck ›die niemand schlecht braucht‹. Drei Punkte aber sind bei dem, was die Tugend im Träger an Gutem bewirkt, zu bedenken: Erstens der Träger selbst; dieser wird bestimmt, indem man sagt: ›des Geistes‹, denn die menschliche Tugend kann nur in dem sein, was zum Menschen gehört, sofern er Mensch ist. Zweitens ist die Vollkommenheit des Verstandes aber durch das bestimmt, was man gut nennt, denn das Gute wird entsprechend einer Ausrichtung auf das Ziel bezeichnet. Drittens ist die Weise des Innewohnens aber durch das bestimmt, was man ›Qualität‹ nennt, denn die Tugend wohnt dem Menschen, wie schon gesagt, nicht als Erleiden, sondern als Habitus inne. Dies alles stimmt sowohl mit der sittlichen als auch mit der verstandesmäßigen, der theologischen, der erworbenen und der eingegossenen Tugend überein. Das aber, was Augustinus hinzufügt, daß nämlich ›Gott in uns ohne uns handelt‹, betrifft nur die eingegossenen Tugenden. Zu 1. Wie die Akzidentien nicht Seiende genannt werden, sofern sie an sich bestehen, sondern sofern durch sie etwas ist, so wird die Tugend nicht gut genannt, sofern sie selbst gut ist, sondern weil durch sie etwas gut ist. Darum ist es nicht nötig, daß die Tugend durch eine andere Gutheit gut ist, als ob sie durch eine andere Gutheit geformt würde. Zu 2. Nicht das Gute, das mit dem Seienden vertauschbar ist, wird hier in die Definition der Tugend aufgenommen, sondern vielmehr das Gute, das den sittlichen Akt bestimmt. Zu 3. Tätigkeiten unterscheiden sich aufgrund der Form des Tätigenwerden wie das Aufwärmen und das Einfrieren. Das Gute und das Schlechte sind gewissermaßen Form und Gegenstand des Willens, weil das Tätige immer seine Form in das Erleidende und das Bewegende in das Bewegte einprägt. Deshalb werden die sittlichen Akte, deren Prinzip der Wille ist, in ihrer Art aufgrund von gut und 38 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 5; 1106 a 15–22.

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schlecht unterschieden. Das Prinzip der natürlichen Tätigkeiten aber ist nicht das Ziel, sondern die Form. Daher werden die Arten der natürlichen Tätigkeiten nicht nach gut und schlecht unterschieden; so aber ist es bei den sittlichen Handlungen. Zu 4. Die sittliche Gutheit ist nicht im Verständnis der Qualität enthalten. Darum gehört dieses Argument nicht zum Thema. Zu 5. Das Schlechte konstituiert eine Art nicht aufgrund der Beraubung, sondern aufgrund dessen, was der Beraubung zugrunde liegt, denn die Beraubung trägt39 nicht den Charakter des Guten in sich. Darum besitzt das Schlechte das, was die Art konstituiert. Zu 6. Jener Einwand geht vom natürlichen Guten aus, nicht vom sittlichen Guten, das in die Definition der Tugend aufgenommen ist. Zu 7: Die Gutheit bezeichnet keine andere Gutheit als die Tugend selbst, wie es aus dem oben Gesagten deutlich wird,40 denn die Tugend ist ihrem Wesen nach eine Qualität. Es ist darum offensichtlich, daß ›gut‹ und ›Qualität‹ nicht verschiedene Akte, sondern einen Akt besagen. Zu 8.: Dieses Argument geht bei den Tranzendentalien fehl, die sich auf jedes Seiende beziehen, denn das Wesen ist seiend, die Gutheit ist gut und die Einheit eines. In diesem Sinn kann man aber nicht sagen, das Weißsein sei weiß. Der Grund dafür ist, daß alles, was immer in den Verstand gelangt, notwendigerweise unter den Begriff des Seienden und folglich unter den des Guten und des Einen fällt. Daher können Wesenheit, Gutheit und Einheit nur unter dem Begriff des Guten, Einen und Seienden verstanden werden. Darum kann gesagt werden: Die Gutheit ist gut und die Einheit eines.

Ergänzung von Vincent de Castro Novo OP (1503): Zu 9. Die spezifische Differenz wird – genauso wie die Gattung – wesentlich und nicht abgeleiteter Weise von der Art ausgesagt. Die Art wird darum, wenn sie Selbststand hat und zusammengesetzt ist, von dieser spezifischen Differenz nicht abstrakt, sondern konkret ausgesagt. 39 Übersetzung von compatitur. 40 Vgl. De virt. q. 1 a. 1 c.

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Denn bei den zusammengesetzten Substanzen sagt man, daß die konkreten Namen, die das Zusammengesetze bezeichnen, im eigentlichen Sinne zu einer Kategorie gehören, wie Art- und Gattungsbestimmungen, z. B. Mensch oder Lebewesen. Wenn die spezifische Differenz von einer solchen Art wesentlich ausgesagt werden soll, muß sie darum konkret bezeichnet werden, denn andernfalls würde sie nicht von der ganzen Art ausgesagt werden. Wenn die Art aber eine einfache Form ist – z. B. die Akzidentien, bei denen die konkret ausgesagten Namen nicht als Kategorie, wie die Art oder die Gattung, gefaßt werden, etwa das Weiße und das Schwarze, es sei denn im abgeleiteten Sinn, sondern nur sofern sie abstrakt bezeichnet werden, wie das Weißsein, die Musik, die Gerechtigkeit und im allgemeinen Sinn die Tugend – wird von ihr entweder die Gattung oder die spezifische Differenz abstrakt ausgesagt. Deshalb ist die Tugend genauso wie sie ihrem Wesen nach Qualität ist, so auch Gutheit der Vernunft oder des Sittlichen. Zu 10. Das sittliche Gute wird von der guten Handlung, vom Habitus und dem guten Gegenstand durch die sittliche Gutheit ausgesagt. Ähnlich wird auch das sittliche Übel von der schlechten Handlung, der Sünde, dem schlechten Habitus, dem Laster ausgesagt. Darum ist es »die Tugend, die« durch die Gutheit der Sitte »den, der sie besitzt, gut macht und sein Werk gut macht«.41 Ähnlich ist es das Laster, das durch die Schlechtigkeit der Sitte den, der es besitzt schlecht macht und sein Werk schlecht macht. Sittliches Übel ist also nicht dasselbe wie Laster, weil das Laster nur einen Habitus bezeichnet, während sittliches Übel vom Habitus, von der Handlung und vom Gegenstand ausgesagt wird. Im selben Sinn ist das sittliche Gute nicht dasselbe wie die Tugend, weil das sittliche Gute auch von der Handlung ausgesagt wird. In Bezug auf die Tugend selbst können wir nämlich dreierlei betrachten: Erstens das, was das Wesen der Tugend unmittelbar mit sich bringt, nämlich eine Verfaßtheit, durch die etwas gut und in Übereinstimmung mit dem Maß seiner Natur disponiert ist. Aristoteles sagt darum im 7. Buch der Physik, daß die Tugend Hinordnung des Vollkommenen auf das Beste ist.42 Auf diese Weise ist das Laster der Tugend entgegengesetzt, weil es eine Verfaßtheit mit sich bringt, durch die etwas auf das gerichtet 41 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II; 1106 a 17. 42 Vgl. Aristoteles, Phys. VII, 3; 246 a 13.

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ist, was seiner Natur widerspricht. Augustinus sagt darum im 3. Buch von Über den freien Willen: »Wenn du siehst, daß einem Ding zur Vollkommenheit seiner Natur etwas fehlt, nenne es Mangel«.43 Der Mangel einer jeden Sache scheint daher zu rühren, daß seine Ausrichtung nicht mit seiner Natur übereinstimmt. Zweitens das, was ihrem Wesen folgt und die Tugend selbst erst durch das, was aus ihr folgt, verursacht. Auf diese Weise verursacht die Tugend eine gewisse Gutheit, ›die den gut macht, der sie besitzt‹, denn die Gutheit eines jeden Dinges besteht in dem, was sich in Überstimmung mit seiner Natur besitzt. Das bringt die Tugend hervor, wie gesagt worden ist. Auf diese Weise ist die Schlechtigkeit der Tugend entgegengesetzt. Drittens das, worauf die Tugend hingeordnet ist, nämlich die gute Tat. Die Tugend ist nämlich auf jene gute Tat hingeordnet, die eine gesollte und der Vernunft entsprechend geordnete ist. Deshalb ist die Tugend die Vollkommenheit des Vermögens in Hinordnung auf den Akt, und sie macht nicht nur den gut, der sie besitzt, sondern macht auch sein Werk gut.44 Auf diese Weise ist die Sünde, die im eigentlichen Sinn den ungeordneten Akt bezeichnet, der Tugend entgegengesetzt. Daraus erhellt, daß der lasterhafte Habitus – die Schlechtigkeit und die Sünde – das sittliche Übel genannt werden können und ebenso ist jede Tugend ein sittlich Gutes, und nicht umgekehrt. Zu 11. ›Geist‹ wird hier in dem Sinn verstanden, daß darin die vernünftigen Vermögen verstanden werden. Er umfaßt darum Verstand und Gemüt. Der Wille ist nämlich seinem Wesen nach ein vernünftiges Vermögen. Die Tugenden aber können nicht nur im Gemüt, sondern auch im Verstand sein. Die verstandesmäßigen Tugenden bewirken nämlich die Fähigkeit, gut handeln zu können, obwohl sie nicht den guten Gebrauch einer solchen Fähigkeit bewirken. Die sittlichen Tugenden und überhaupt alle anderen Tugenden, die sich auf das Gemüt als Fähigkeit gut zu handeln beziehen, verursachen ebenfalls einen guten Gebrauch, sofern sie machen, daß jemand richtig und gut eine solche Fähigkeit einsetzt. Beispielsweise bewirkt die Gerechtigkeit nicht nur, daß der Mensch geneigt ist zur Vollbringung gerechter Taten, sondern auch, daß er gerecht handelt. Die Gram43 Augustinus, De lib. arb. III, 14, 41 (CCSL 29, 300). 44 Vgl. ebd.

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matik bewirkt hingegen die Fähigkeit, richtig und angemessen zu sprechen. Dennoch bewirkt sie nicht, daß der Mensch immer angemessen spricht, denn der Grammatiker kann barbarisch reden oder grammatisch falsche Verbindungen verwenden. Daraus wird klar, daß die Tugend sich entweder auf das strebende oder auf das erkennende Vermögen, die der Geist beide in sich enthält, bezieht. Zu 12. ›Geist‹ meint jene Gattung von Vermögen, die das Prinzip jener Akte ist, über die der Mensch Herr ist und die im eigentlichen Sinn menschlich genannt werden. Derartige Vermögen sind die Vernunft und der Wille, die das erste Prinzip sind, das den Akt, über den der Mensch Herr ist, bewegt und befiehlt; sie werden ihrem Wesen nach vernünftig genannt. Das zornmütige und das begehrliche Strebevermögen sind, sofern sie an der Vernunft teilhaben, – gleichsam bewegt bewegend – das Prinzip des menschlichen Aktes. Sie werden nämlich vom höheren Strebevermögen bewegt, sofern sie ihm gehorchen. Auf diese Weise, d. h. sofern sie an der Vernunft teilhaben und sie auch geeignet sind, ihr zu gehorchen, können sie der Träger der menschlichen Tugend sein. Dadurch ist offenkundig, daß die Vernunft und der Wille das erste Prinzip des menschlichen Aktes als gleichsam bewegender und befehlender sind. Das sinnenhafte Strebevermögen aber ist das zweite Prinzip als gleichsam bewegt bewegendes. Derartige Vermögen, die der Geist in sich enthält, können Träger der Tugend sein. Ebenso enthält der Geist das vernünftige Vermögen dem Wesen oder der Teilhabe nach in sich. Deswegen können sie Träger der Tugend sein, sofern sie am Geist teilhaben. Zu 13. Der Geist bezeichnet das, was das Höchste in der Kraft der Seele ist. Wenn also gemäß dem, was das Höchste in uns ist, das göttliche Bild in uns gefunden wird, muß man sagen, das das Bild nicht zur Seele ihrem Wesen nach gehört, sondern nur dem Geist nach in dem Maße, wie er ihr höchstes Vermögen bezeichnet. Und so wie in ihr das Bild ist, bezeichnet der Geist das Vermögen der Seele und nicht das Wesen. Deshalb umfaßt der Geist jene Vermögen, die in ihren Akten von der Materie und von den Bedingungen der Materie sich loslösen. Im Geist aber sind Verstand, Wille und Gedächtnis nicht wie Akzidentien im Träger, sondern wie Teile im Ganzen. Zu 14. Die Rechtheit ist von zweifacher Art: Zum einen ist sie nämlich besonders und besteht nur in Bezug auf die äußeren Dinge, die in den Ge-

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brauch des Menschen kommen und im eigentlichen Sinn Materie der Gerechtigkeit sind; die Rechtheit dieser Art ist der Gerechtigkeit eigen und wird nicht in die Definition der Tugend aufgenommen. Zum anderen ist die rechte Gesinnung allgemein und schließt die Hinordnung auf das geschuldete Ziel und auf das göttliche Gesetz, das die Richtnorm des menschlichen Willens ist, ein. Ein solche rechte Gesinnung ist jeder Tugend gemeinsam und wird darum in die Definition der Tugend aufgenommen. Zu 15. ›Leben‹ wird in zweifacher Weise verstanden: Zum einen in Bezug auf das Sein des Lebewesens; in diesem Sinne gehört es zum Wesen der Seele, die für die Lebewesen das Prinzip des Seins ist. Deshalb sagt Aristoteles im 2. Buch von Über die Seele, daß »bei Lebewesen Leben ihr Sein ist«.45 So verstanden kann darum ›Leben‹ nicht in die Definition der Tugend aufgenommen werden. Zum anderen wird es in Bezug auf die Tätigkeit des Lebewesens verstanden, sofern Verstehen und Fühlen in gewisser Weise ›Leben‹ meint. Die Tätigkeit also, die den Menschen am meisten erfreut und der er sich besonders zuwendet, wird ›Leben‹ genannt. Deshalb sagt Aristoteles im 1. Buch der Metaphysik, daß »das Geschlecht der Menschen mit Kunstfertigkeit und Überlegungen lebt«,46 d. h. handelt. In dieser Bedeutung47 wird ›Leben‹ in der Definition der Tugend verwendet, weil der Mensch durch die Tugend richtig lebt, sofern er durch sie in rechter Weise handelt. Zu 16. Die Tugend schlecht zu gebrauchen, kann in zweifacher Weise verstanden werden: Erstens wenn sie als Gegenstand verstanden wird. In diesem Sinne kann jemand die Tugend schlecht gebrauchen, z. B. wenn er in der Tugend Schlechtes fühlt, oder sie haßt, oder in ihr stolz wird. Zweitens wenn sie als unmittelbares Prinzip eines schlechten Gebrauches verstanden wird, und zwar in der Weise, daß der schlechte Akt von der Tugend unmittelbar hervorgerufen wird. In diesem Sinn kann keiner die Tugend schlecht gebrauchen, denn die Tugend ist ein Habitus, der sich immer zum Guten hinneigt, weil jede Tugend die Fähigkeit gut zu handeln bewirkt. Einige Tugenden bringen mit den Fähigkeiten, gut zu handeln, darüber hinaus auch den guten Gebrauch hervor, sofern sie bewirken, daß 45 De an. II, 4; 415 b 13. 46 Met. I, 1; 981 b 27 f. 47 Übersetzung von hoc modo.

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jemand in rechter Weise die Fähigkeit gebraucht. Von dieser Art sind die Tugenden, die auf das strebende Vermögen bezogen sind, z. B. bewirkt die Gerechtigkeit nicht nur, daß der Mensch bereitwillig ist zum gerechten Handeln, sondern auch, daß er gerecht handelt. Zu 17. Allein die größten Güter sind es, die keiner wie Gegenstände schlecht gebraucht, denn sie sind um ihretwillen erstrebbar und können von keinem gehaßt werden. Tugenden, die nicht größte Güter sind, kann jedoch jemand, wie gesagt, wie einen Gegenstand schlecht gebrauchen. Man kann sie aber nicht wie ein unmittelbar wirkendes Prinzip schlecht gebrauchen. Das muß aber nicht heißen, daß das, was man nicht wie ein unmittelbar wirkendes Prinzip schlechten Gebrauchs schlecht gebrauchen kann, das größte Gut ist. Gemäß Augustinus an derselben Stelle48 kann man auch sagen, daß die Tugend unter die größten Güter gezählt wird, sofern der Mensch durch sie auf das höchste Gute, das Gott ist hingeordnet wird. Aus diesem Grund gebraucht keiner die Tugend schlecht. Zu 18. Genauso wie die erworbenen Tugenden durch die Akte, durch die sie verursacht auch vermehrt und genährt werden, so werden die eingegossenen Tugenden durch die Tätigkeit Gottes, durch den sie verursacht werden, vermehrt. Unsere Akte sind für die Vermehrung der heiligen Liebe und der eingegossenen Tugenden als diejenigen vorgesehen, die in Bereitschaft dazu stehen. Beispielsweise bereitet sich der Mensch, der bewirkt, was in ihm ist, auf die heilige Liebe, die er schon vom Prinzip her in sich haben muß, vor und richtet sich darauf ein, daß er von Gott die heilige Liebe empfängt. Unsere Akte können aber darüber hinaus in Bezug auf die Vermehrung der heiligen Liebe verdienstvoll sein, weil sie die heilige Liebe, die das Prinzip des Verdienstes ist, voraussetzen. Keiner kann aber Verdienste erwerben, die vom Prinzip her zur heiligen Liebe gehören, weil es das Verdienst ohne die heilige Liebe nicht geben kann. Daraus erhellt, daß die heilige Liebe und die anderen eingegossenen Tugenden nicht aktiv aus den Akten, sondern nur hinordnend und dem Verdienst nach vermehrt werden: Sie werden jedoch durch die Tätigkeit Gottes, die die heilige Liebe, die er zuvor eingießt, vervollkommnet und bewahrt. 48 Vgl. Augustinus, De lib. arb. II, 19 (CCSL 29, 271), Retract. I, 9, 4 (CCSL 57, 25) u. a.; De virt. q. 1 a. 2.

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Zu 19. Die Sünde verhindert die Tugend. Der freie Wille als solcher reicht aber ohne die Tätigkeit Gottes nicht dazu aus, sich von der Sünde zu entfernen, weil Gott allein es ist, der wirksam die Sünden vernichtet, indem er die Sünden vergibt. Jeder der heiligen Liebe vorangehende Hinordnung, Vorbereitung oder Antrieb des freien Willens kommt der heilige Geist zuvor, der den Geist des Menschen mehr oder weniger gemäß seinem Willen bewegt. Die Vergebung der Sünde geschieht nämlich nicht ohne die Gnade. Darum heißt es in Röm. 3, 24: »Geschenkweise sind sie durch seine Gnade gerechtfertigt«. Zu 20. Die eingegossene Tugend wird in uns von Gott zwar ohne den Anfang der Tätigkeit in uns,49 nicht aber ohne unsere Zustimmung verursacht. Auf diese Weise rechtfertigt Gott uns nicht ohne unsere Zustimmung, weil wir, während wir gerechtfertigt werden, durch die Bewegung des freien Willens der Gerechtigkeit Gottes zustimmen. Jene Bewegung ist jedoch nicht formal die Ursache der rechtfertigenden Gnade, sondern ihre Wirkung. Darum gehört die ganze Handlung zur Gnade und zu Gott, der durch die Rechtfertigung die Gnade wirksam eingießt. Die Taten, die aber durch uns getan werden und deren Ursache wir sind, verursacht Gott in uns nicht ohne unser Tun, denn er handelt in jedem Willen und in jeder Natur. Zu 21. Die recht verstandene Definition der Tugend kommt nicht der Gnade zu. Denn die Gnade wird auf die erste Art der Qualität zurückgeführt, obwohl sie nicht ein Habitus wie die Tugend ist, weil sie nicht unmittelbar auf die Handlung hingeordnet ist. Vielmehr ist sie im selben Sinne eine Haltung, die der Seele selbst ein Art geistliches und göttliches Sein verleiht und den eingegossenen Tugenden als deren Prinzip und Wurzel vorausgesetzt ist und sich zum Wesen der Seele wie die Gesundheit zum Körper verhält. Darum sagt Chrysostomus, daß »die Gnade die Gesundheit des Geistes ist, weder zu den Wissenschaften gezählt wird, noch zu den Tugenden, noch zu den anderen Qualitäten, die die Philosophen aufzählen, weil sie nur jene Akzidentien der Seele erkannt haben, die auf die Akte hingeordnet sind, die der menschlichen Natur entsprechen«.50

49 Übersetzung von agentibus. 50 Vgl. Johannes Chrysostomos, Hom. XXIV in ep. ad Eph. (ed. Ba-

reille IX, col. 532)

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Die Tugend ist also wesentlich Habitus, die Gnade jedoch ist nicht Habitus, sondern eine Art übernatürliche Teilhabe der menschlichen Natur, sofern wir der göttlichen Natur teilhaftig werden, wie es in 1 Petr. 2, 2 heißt, gemäß deren Annahme wir als diejenigen bezeichnet werden, die als Söhne Gottes wiedergeboren werden. Genauso wie daher das natürliche Licht der Vernunft die Wurzel und das Prinzip der erworbenen Tugend ist, so existiert auch das Licht der Gnade, das im Wesen der Seele Teilhabe an der göttlichen Natur ist, als eine Art Fähigkeit, die das Prinzip und die Wurzel der eingegossenen Tugend ist. Ebenso ist die Tugend eine ›gute Qualität,51 die den, der sie besitzt, gut macht‹,52 denn diese Gutheit, die die Tugend dem, der sie besitzt, verleiht, ist die Gutheit der Vollkommenheit in Vergleich zur Tätigkeit, von der sie das unmittelbare Prinzip ist. Die Gutheit jedoch, die die Gnade der Seele verleiht, ist die Gutheit der Vollkommenheit im Vergleich zur Handlung nicht in unmittelbarer Weise, sondern zu einer Art geistlichem und göttlichen Sein, sofern diejenigen, die sozusagen die Gnade besitzen, gottförmig verfaßt sind, weswegen sie wie Söhne ›von Gott begnadet‹ genannt werden. Deshalb wird das Gute, das in die Defi nition der Tugend aufgenommen ist, gemäß der Übereinstimmung mit einer vorher bestehenden Natur wesentlich oder teilhabend bezeichnet. Ein solches Gute wird aber der Gnade nur wie der Wurzel und dem Prinzip einer solchen Gutheit im Menschen hinzugefügt. Der Geist, der auch schon in die Definition der Tugend aufgenommen ist, bezeichnet das Vermögen der Seele, das das Subjekt der Tugend ist. In der Definition der Gnade bringt das Vermögen das Wesen der Seele mit sich, welches das Subjekt der Gnade selbst ist. Ebenso verursacht ›Leben‹, das in die Definition der Tugend aufgenommen ist, die Tätigkeit, deren unmittelbares Prinzip die Tugend selbst ist. ›Leben‹ bringt aber, sofern es zur Gnade gehört, eine Art göttliches Sein mit sich, dessen unmittelbares Prinzip es ist, und es bezeichnet nicht die Tätigkeit, auf die man nur mittels der Tugend hingeordnet ist. Desgleichen wird die Tugend eine Hinordnung des Vollkommenen auf das Höchste genannt, sofern sie das Vermögen in Hinordnung auf die Tä51 Augustinus, De lib. arb. II, 19 (CCSL 29, 271); Retract. I, 9 (CCSL 57, 25). 52 Aristoteles, Eth. Nic. II, 5; 1106 a 17.

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tigkeit, durch die die Sache ihrem Ziel folgt, vervollkommnet. Auf diese Weise ist aber die Gnade nicht Hinordnung des Vollkommenen auf das Höchste, zum einen weil sie nicht zuerst das Vermögen vervollkommnet, sondern das Wesen, und zum anderen weil sie sich nicht auf die Tätigkeit bezieht wie auf ihre nächste Wirkung, sondern etwas Göttliches zu sein vermag. Daraus erhellt, daß die Definition der Tugend nicht mit der der Gnade übereinstimmt.

[Ende der Ergänzung.]

3. Artik el Die dritte Frage lautet: Kann ein Vermögen der Seele Träger einer Tugend sein? 53 Es scheint, daß es nicht so ist; denn: 1. Nach Augustinus ist die Tugend das, ›wodurch man in rechter Weise lebt‹.54 ›Leben‹ bezieht sich aber nicht auf ein Vermögen, sondern auf das Wesen der Seele. Darum ist der Träger der Tugend nicht ein Vermögen der Seele. 2. Das Sein der Gnade ist edler als das der Natur. Das Sein der Natur aber ist durch das Wesen der Seele, das edler ist als seine Vermögen, denn es ist ja deren Prinzip. Das Sein der Gnade also, das durch die Tugenden besteht, liegt nicht im Vermögen begründet. Deshalb ist das Vermögen nicht Träger der Tugend. 3. Ein Akzidens kann nicht Träger sein. Das Vermögen der Seele gehört nun aber zur Gattung der Akzidentien. Das natürliche Vermögen und das Unvermögen gehören nämlich zur zweiten Art der Qualität.55 Ein Vermögen der Seele kann also nicht Träger der Tugend sein. 4. Wenn irgendein Vermögen der Seele der Träger der Tugend sein kann, dann auch alle, weil jedes Vermögen der Seele durch La53 Paralleltexte: Sent. II, d. 26 q. 1 a. 3; Sent. III, d. 33 q. 2 a. 4 ql. 1; Sum. theol. I–II, q. 55 a. 4 ad 3; Sum. theol. I–II, q. 56 a. 1 und 2. 54 Augustinus, De lib. arb. II, 19 (CCSL 29, 271). 55 Vgl. dazu Anm. 24.

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ster angefochten wird, denen die Tugenden entgegengestellt sind. Nicht jedes Vermögen der Seele jedoch kann Träger der Tugend sein, wie noch zu klären sein wird. Also kann kein Vermögen Träger der Tugend sein. 5. Prinzipien der Tätigkeit in den Naturen anderer Tätiger, wie Hitze und Kälte, sind keine Träger. Die Seelenvermögen aber sind gewisse Prinzipien der Tätigkeit, denn sie sind Prinzipien der Tätigkeiten der Seele. Daher können sie nicht Träger anderer Akzidentien sein. 6. Die Seele ist der Träger eines Vermögens. Wenn also ein Vermögen Träger eines anderen Akzidens ist, wird jenes Akzidens in gleicher Hinsicht auch Träger eines anderen Akzidens sein und so wird es endlos weitergehen; das aber ist absurd. Also ist das Vermögen der Seele kein Träger der Tugend. 7. Im 1. Buch der Zweiten Analytiken heißt es, daß »es die Qualität der Qualität nicht gibt«.56 Das Vermögen der Seele aber ist eine Qualität, nämlich eine der zweiten Art. Die Tugend aber gehört zur ersten Art der Qualität. Also kann das Vermögen der Seele nicht Träger der Tugend sein. Dagegen spricht: 1. Wer der Urheber der Tätigkeit ist, zu dem gehört auch das Tätigkeitsprinzip. Die Tätigkeiten der Tugenden aber gehören zu den Seelenvermögen, also auch die Tugenden selbst. 2. Aristoteles sagt im 1. Buch der Ethik, daß die verstandesmäßigen Tugenden durch ihr Wesen vernünftig sind, die sittlichen aber nur durch Teilhabe.57 Vernünftig durch das Wesen oder durch Teilhabe nennt man aber die Vermögen der Seele. Darum sind die Seelenvermögen Träger der Tugenden. Antwort: Der Träger ist in dreifacher Weise auf das Akzidens bezogen: Erstens im Sinne eines Bedingenden, denn das Akzidens besteht nicht an sich, sondern wird durch den Träger aufrechterhalten. 56 Aristoteles, Anal. post. I, 22; 83 a 36 f. 57 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. I, 13; 1103 a 3–5.

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Zweitens wie ein Vermögen zum Akt, denn der Träger ist dem Akzidens genauso unterworfen wie ein Vermögen der Tätigkeit. Deshalb wird auch das Akzidens Form genannt. Drittens wie die Ursache zur Wirkung, denn die Prinzipien, die im Träger gründen, sind an sich Prinzipien des Akzidens. Zur ersten Weise ist daher zu sagen: Das eine Akzidens kann nicht Träger des anderen sein, denn weil kein Akzidens für sich subsistiert, kann es für ein anderes kein Fundament sein, außer man sagt vielleicht, daß es ein anderes Akzidens bedingt, sofern es durch einen Träger bedingt ist. Zu den beiden anderen Weisen aber ist zu sagen: Das eine Akzidens verhält sich zum anderen nach Art des Trägers, denn das eine Akzidens ist in Potenz zum anderen, wie das Scheinen zum Licht und die Oberfläche zur Farbe. Ebenso kann das eine Akzidens die Ursache des anderen sein, wie die Feuchtigkeit für den Geschmack. Auf diese Weise sagt man, daß das eine Akzidens Träger des anderen ist, also nicht weil das eine Akzidens das andere bedingen kann, sondern weil der Träger das eine Akzidens mittels des anderen aufnimmt. Auf diese Weise sagt man, daß das Seelenvermögen der Träger des Habitus ist. Der Habitus tritt nämlich zum Seelenvermögen in ein Verhältnis wie der Akt zur Potenz, weil das Vermögen als solches unbestimmt ist und durch den Habitus zu diesem oder jenem bestimmt wird. Die erworbenen Habitus werden also auch durch die Prinzipien der Vermögen verursacht. So ist also daraus zu schließen, daß die Vermögen die Träger der Tugenden sind, weil die Tugend mittels des Vermögens in der Seele ist. Zu 1. ›Leben‹ als Teil der Definition der Tugend betrifft, wie oben gesagt,58 die Tätigkeit. Zu 2. Das geistliche Sein ist nicht durch die Tugenden, sondern durch die Gnade, denn die Gnade ist in geistlicher Weise das Seins-, die Tugend aber das Handlungsprinzip. Zu 3. Das Vermögen ist nicht an sich Träger, sondern nur insofern es durch die Seele erhalten wird.

58 Vgl. De virt. q. 1 a. 2.

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Zu 4. Wir sprechen jetzt von den menschlichen Tugenden. Deshalb können jene Vermögen keine Träger der Tugend sein, die in keiner Weise menschlich sein können, d. h., auf die sich die Herrschaft der Vernunft gar nicht erstrecken kann, wie bei den Kräften der vegetativen Seele. Jede Anfechtung, die aus diesen Kräften hervorgeht, geschieht mittels des sinnenhaften Strebevermögens, auf das sich die Herrschaft der Vernunft erstreckt, so daß sie menschlich und Träger der menschlichen Tugend genannt werden kann. Zu 5. Unter den Seelenvermögen sind nur der tätige Verstand und die Kräfte der vegetativen Seele, die nicht Träger der Habitus sind, tätig. Die anderen Seelenpotenzen aber sind passiv, doch bestehen sie als Prinzipien der Seelentätigkeiten, sofern sie von ihren tätigen Ursachen bewegt sind. Zu 6. Es ist nicht nötig, ins Unendliche weiterzugehen, weil man zu einem Akzidens gelangt, das sich nicht in Potenz zu einem anderen Akzidens befindet. Zu 7. Man sagt nicht, daß es die Qualität einer Qualität gibt, etwa so, daß die eine Qualität als solche Träger der anderen wäre. Das trifft jedoch, wie schon gesagt, bei obigem Zitat nicht zu.

4. Artik el Die vierte Frage lautet: Können das zornmütige und das begehrliche Strebevermögen Träger der Tugend sein? 59 Es scheint, daß es nicht so ist; denn: 1. Gegensätze sind so beschaffen, daß sie in Bezug auf dasselbe bestehen. Der Gegensatz zur Tugend aber ist die Todsünde, die nicht in der Sinnlichkeit, deren Teile das zornmütige und das begehrliche Strebevermögen sind, liegen kann. Daher können das zornmütige und das begehrliche Strebevermögen kein Träger der Tugend sein. 2. Der Habitus und der Akt gehören zu demselben Vermögen. Gemäß Aristoteles im Buch der Ethik ist aber der grundlegende Akt der Tugend, der nicht ein zornmütiger und begehrlicher Akt sein 59 Paralleltexte: Sent. III, d. 33 q. 2 a. 4 ql. 2 und 3; Sum. theol. I–II, q. 56 a. 4; Sum. theol. II–II, q. 58 a. 4; De malo, q. 4 a. 5.

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kann, die Wahl.60 Also können auch die Habitus der Tugenden nicht im zornmütigen und begehrlichen Strebevermögen sein. 3. Nichts Zerstörbares ist Träger von etwas Unvergänglichem. Daher beweist Augustinus, daß die Seele unvergänglich ist, weil sie Träger der Wahrheit ist, die ihrerseits unvergänglich ist.61 Das zornmütige und das begehrliche Strebevermögen jedoch überleben – genauso wie die übrigen sinnenhaften Vermögen – den Körper nicht, wie es für einige scheint.62 Die Tugenden aber bleiben, »denn die Gerechtigkeit währt ewig und ist unsterblich«, wie es in Wsh. 1, 15 heißt. Dies kann im gleichen Sinne von allen Tugenden gesagt werden, weshalb das zornmütige und das begehrliche Strebevermögen kein Träger der Tugenden sein können. 4. Das zornmütige und das begehrliche Strebevermögen haben ein körperliches Organ. Wenn also die Tugenden im zornmütigen und begehrlichen Strebevermögen sind, sind sie auch in einem körperlichen Organ. Sie können daher durch die Vorstellung oder die Phantasie ergriffen werden. Auf diese Weise sind sie nicht nur durch den Geist erfaßbar, wie es Augustinus über die Gerechtigkeit sagt: »Sie ist die Rechtheit, die allein durch den Geist erfaßbar ist«.63 5. Das zornmütige und das begehrliche Strebevermögen können Träger der Tugend sein, insofern sie in irgendeiner Weise am Verstand teilhaben. – Dagegen aber steht: Vom zornmütigen und vom begehrlichen Strebevermögen sagt man, daß sie an der Vernunft teilhaben, sofern sie von der Vernunft geordnet werden.64 Die Ordnung der Vernunft jedoch kann nicht eine Unterstützung für die Tugend sein, da sie nicht etwas ist, das in sich Bestand hat. Daher können auch das zornmütige und das begehrliche Strebevermögen, insofern sie an der Vernunft teilhaben, keine Träger der Tugend sein. 6. Genauso wie das zornmütige und das begehrliche Strebevermögen, die zum sinnlichen Strebevermögen gehören, der Vernunft Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 2; 1139 a 23–25. Vgl. Augustinus, De immortalitate animae V, 9 (PL 32, col. 1025). Vgl. Aristoteles, De an. III, 4; 429 b 4 f. Dieses Zitat stammt von Anselm von Canterbury, De veritate 12 (Schmitt, Bd. 1, 192). 64 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. III, 15; 1119 b 15–18 und ebd. IV, 11; 1125 b 35 / 1126 a 1 u. a. 60 61 62 63

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untergeordnet sind, ist es bei den erkennenden und sinnenhaften Vermögen. In keinem Erfassen der sinnlichen Vermögen jedoch kann es Tugend geben; folglich sind auch das zornmütige und begehrliche Strebevermögen ausgeschlossen. 7. Wenn die Ordnung des Verstandes vom zornmütigen und vom begehrlichen Strebevermögen partizipiert werden kann, könnte das Aufbegehren der Sinnlichkeit, zu dem diese beiden Kräfte gegenüber der Vernunft fähig sind, vermindert werden. Aber das eben erwähnte Aufbegehren ist nicht unendlich, denn die Sinnlichkeit ist eine endliche Kraft und einer endlichen Kraft kann keine unendliche Tätigkeit eigen sein. Also könnte das erwähnte Aufbegehren völlig aufgehoben werden. Denn jedes endliche Ding wird verbraucht, wenn vielfach etwas weggenommen wird,65 wie Aristoteles im 1. Buch der Physik deutlich macht. Auf diese Weise könnte die Sinnlichkeit in diesem Leben völlig geheilt werden. Dies ist aber unmöglich. 8. Gott, der die Tugend eingießt, kann das oben erwähnte Aufbegehren völlig wegnehmen, aber von uns aus kann es nicht völlig überwunden werden. – Dagegen aber steht: Der Mensch ist das, was er ist, insofern er vernünftig ist, weil daraus seine Art geformt ist. Je mehr also das, was im Menschen ist, der Vernunft unterworfen wird, desto mehr entspricht es der menschlichen Natur. Am meisten aber wären die niederen Seelenkräfte der Vernunft unterworfen, wenn das erwähnte Aufbegehren völlig weggenommen wäre. Dies entspräche also der menschlichen Natur am meisten. Deshalb gibt es von uns aus kein Hindernis, daß das erwähnte Aufbegehren völlig überwunden wird. 9. Für den Begriff der Tugend ist es nicht hinreichend, daß die Sünde gemieden wird. Denn die Vollkommenheit der Gerechtigkeit besteht in dem, was im Psalm gesagt wird: »Wende dich vom Bösen ab und tu das Gute«.66 Aber zum zornmütigen Strebevermögen gehört es, das Böse zu verabscheuen,67 wie es im Buch Über Geist und

65 Vgl. Aristoteles, Phys. I, 4; 187 b 26. 66 Ps. 33 (32), 15. 67 Vgl. Alcher (?), De spiritu et anima, 45 (PL 40, col. 813).

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Seele heißt. Also kann im zornmütigen Strebevermögen ein Mindestmaß an Tugend sein. 10. In demselben Buch wird gesagt, daß in der Vernunft eine Sehnsucht nach den Tugenden vorliegt, aber im zornmütigen Strebevermögen der Haß gegen die Laster.68 Aber in demselben Vermögen sind die Sehnsucht nach Tugend und die Tugend selbst, weil jedes Ding nach seiner eigenen Vollkommenheit strebt. Also ist jede Tugend in der Vernunft und nicht im zornmütigen und im begehrenden Strebevermögen. 11. In keinem Vermögen kann ein Habitus sein, der nur zur Tätigkeit gebracht wird und nicht selbst tätig ist. Deshalb ist dasjenige ein Habitus, wodurch jemand handelt, wenn er will,69 wie es Averroes im 3. Buch von De anima sagt. Das zornmütige und das begehrliche Strebevermögen handeln jedoch nicht, sondern sie werden angetrieben, wie im 3. Buch der Ethik gesagt wird: Die Sinne sind keines Aktes Herr.70 Also kann im zornmütigen und im begehrlichen Strebevermögen kein Habitus der Tugend sein. 12. Das Eigentümliche eines Trägers kommt mit dem Bestimmtwerden des Eigentümlichen überein. Die Tugend aber entspricht der Vernunft, nicht jedoch dem zornmütigen und dem begehrlichen Strebevermögen, die uns und den Tieren gemeinsam sind. Die Tugend gibt es wie auch die Vernunft also nur beim Menschen. Darum ist jede Tugend in der Vernunft, aber nicht im zornmütigen und im begehrlichen Strebevermögen. 13. Die Glosse zu Röm. 7 sagt: Dasjenige Gesetz ist gut, welches, indem es die Begierde einschränkt, auch alles Böse verhindert.71 Alle Laster also gehören zum begehrlichen Strebevermögen; dazu zählt auch die Begierde. Aber zu demselben Vermögen gehören Tugenden und Laster. Also haben die Tugenden weniger im begehrlichen als im zornmütigen Strebevermögen ihren Ort. 68 Vgl. Alcher, De spiritu et anima, 11 (PL 40, col. 787) und ebd. 45 (PL 40, col. 813). 69 Vgl. Averroes, In III De anima com. 6 (Aristotelis opera cum Averrois commentariis, Suppl. II, 188 E und 191 B–C). 70 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 2; 1139 a 19. 71 Vgl. Petrus Lombardus, Coll. in epist. Pauli, in Rom. 7 (PL 191, col. 1416 C und 1420 B).

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Dagegen spricht: 1. Es gilt, was Aristoteles über das Maßhalten und die Tapferkeit sagt: Sie gehören zu den nicht-vernünftigen Seelenteilen.72 Die nichtvernünftigen Seelenteile aber – das ist das sinnenhafte Strebevermögen – sind das zornmütige und das begehrliche Strebevermögen,73 wie es im 3. Buch von Über die Seele heißt. Also können im zornmütigen und im begehrlichen Strebevermögen Tugenden sein. 2. Die läßliche Sünde ist die Anlage zur Todsünde. Vollendung und Anlage aber sind in demselben. Wenn daher die läßliche Sünde im zornmütigen und im begehrlichen Strebevermögen vorliegt – der Akt der Sinnlichkeit ist nämlich die frühere Bewegung,74 wie es in der Glosse zu Röm. 8 heißt –, dann kann es dort sowohl Todsünde geben als auch Tugend, die der Todsünde entgegengesetzt ist. 3. Die Mitte und die Extreme beziehen sich auf dasselbe. Aber eine Tugend ist die Mitte zwischen entgegengesetzten Leidenschaften, so wie die Tapferkeit zwischen Furcht und Kühnheit und das Maßhalten zwischen zu viel und zu wenig beim Begehren. Wenn es daher Leidenschaften im zornmütigen und im begehrlichen Strebevermögen gibt, scheint es, daß auch die Tugend in ihm ist. Antwort: In Bezug auf diese Frage besteht teilweise Übereinstimmung aller und teilweise widersprechen sich die Meinungen. Von allen nämlich wird eingeräumt, daß es prinzipiell Tugenden im zornmütigen und im begehrlichen Strebevermögen gibt, beispielsweise das Maßhalten im begehrlichen und die Tapferkeit im zornmütigen. Im Folgenden liegt jedoch die Differenz: Manche unterscheiden nämlich, daß das zornmütige und begehrliche Strebevermögen in zweifacher Weise besteht: einerseits im höheren und andererseits im unteren Teil der Seele. Sie sagen nämlich, daß das zornmütige und das begehrliche Strebevermögen, die im oberen Teil der Seele sind, ein Träger der Tugend sein können, weil sie zur vernünftigen Natur gehören, wäh72 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. III, 13; 1117 b 24. 73 Vgl. Aristoteles, De an. III, 9; 432 b 7. 74 Vgl. Petrus Lombardus, Coll. in ep. Pauli, in Rom. 6 (PL 191, col.

1407 D), 7 (ebd., col. 1428 C) und 8 (ebd., col. 1433 D).

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rend die im unteren Teil zur sinnenhaften und tierischen Natur gehören. Dies ist aber schon in einer anderen Frage erörtert worden,75 nämlich – streng genommen –, ob im höheren Teil der Seele zwei Kräfte unterschieden werden können, deren eine das zornmütige und deren andere das begehrende Seelenvermögen ist. Was auch immer darüber gesagt wird, ist es dennoch notwendig, im zornmütigen und im begehrlichen Strebevermögen Tugenden zu behaupten, die im niederen Strebevermögen sind,76 so Aristoteles im 3. Buch der Ethik, und auch andere bestätigen. Wenn nämlich die Tugend, wie oben gesagt, eine gewisse Erfüllung des Vermögens benennt, das Vermögen aber sich auf den Akt richtet, ist es notwendig, die menschliche Tugend in jenem Vermögen anzunehmen, das das Prinzip des menschlichen Aktes ist. Ein menschlicher Akt aber wird der genannt, der nicht irgendwie im Menschen oder durch den Menschen ausgeübt wird, denn darin stimmen Pflanzen, Tiere und Menschen überein, sondern der nur dem Menschen eigen ist. Im Gegensatz zu den anderen genannten Lebewesen besitzt der Mensch eine Eigentümlichkeit in seinem Akt, nämlich daß er Herr seines Aktes ist. Jeder Akt also, über den der Mensch Herr ist, ist ein eigentümlich menschlicher Akt, nicht aber jene Akte, über die der Mensch nicht Herr ist, obwohl sie sich in ihm ereignen, wie verdauen, wachsen und anderes dieser Art. Daher kann es in dem, was das Prinzip eines solchen Aktes ist, über den der Mensch herrscht, menschliche Tugend geben. Dennoch muß man wissen, daß ein derartiger Akt ein dreifaches Prinzip hat: erstens als das erste Bewegende und Befehlende, durch das der Mensch Herr seines Aktes ist, und dies ist die Vernunft bzw. der Wille; zweitens als das bewegte Bewegende, wie das sinnenhafte Strebevermögen, das auch vom höheren Strebevermögen bewegt wird, insofern er ihm gehorcht und dann seinerseits die äußeren Gliedmaßen durch seinen Befehl bewegt; drittens aber nur als das Bewegte, nämlich als äußere Glieder. 75 Vgl. De ver. q. 25 a. 3 und Sum. theol. I, q. 82 a. 5. 76 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. III, 10; 1117 b 24.

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Wenn aber beide, d. h. die äußeren Glieder und das niedere Strebevermögen vom höheren Teil der Seele bewegt werden, geschieht dies auf jeweils unterschiedliche Weise. Denn die äußeren Glieder, wie die Hand oder der Fuß, gehorchen für ihre Bewegung von Natur aus ohne Widerstand dem höheren Befehlenden, wenn es nicht ein Hindernis gibt. Das niedere Strebevermögen hingegen besitzt von Natur aus eine eigenständige Neigung, weswegen es für seine Bewegung dem höheren Strebevermögen nicht gehorcht, ja sogar sich bisweilen widersetzt. Daher sagt Aristoteles in der Politik, daß die Seele über den Körper despotisch herrscht, wie der Herr über den Sklaven, der keine Möglichkeit des Widerstandes gegen die Herrschaft des Herrn hat. Die Vernunft aber herrscht über die niedrigen Teile der Seele königlich und politisch, d. h. wie die Könige und Fürsten der Staaten über die Freien herrschen, die ein Recht haben und die Möglichkeit sich einer Vorschrift des Königs und der Fürsten zu widersetzen.77 Daher bedarf es bei äußeren Gliedern keiner Vollkommenheit des menschlichen Aktes außer seiner natürlichen Anlage, durch die es von Natur aus dazu bestimmt ist, von der Vernunft bewegt zu werden. Im niederen Strebevermögen jedoch, das sich der Vernunft widersetzen kann, ist es notwendig, daß es irgendetwas gibt, wodurch es die Handlung, die die Vernunft befiehlt, ohne Widersetzung ausführt. Wenn nämlich das unmittelbare Prinzip der Handlung unvollkommen ist, muß die Handlung unvollkommen sein, wieviel Vollkommenheit auch immer dem höheren Prinzip eigen sein mag. Daher ist die Handlung nicht vollkommen gut, wenn das niedere Strebevermögen nicht in einer vollkommenen Ausrichtung auf den auszuführenden Befehl der Vernunft sich befindet, die dem niederen Strebevermögen als ihrem nächsten Prinzip angehört. Gäbe es nämlich einen Widerstand des sinnenhaften Strebevermögens, folgte daraus, wenn es mit einer gewissen Gewaltsamkeit von einem höheren Vermögen bewegt würde, eine gewisse Traurigkeit im niederen Strebevermögen. Genauso geschieht es bei dem, der starke Begierden hat, denen er jedoch kraft des Vernunft, die dies verhindert, nicht folgt. Wenn daher die Handlung des Menschen auf die Gegenstände 77 Vgl. Aristoteles, Pol. I, 5; 1254 b 4–7.

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des sinnenhaften Strebevermögens bezogen sein muß, ist es für die Gutheit der Handlung erforderlich, daß im sinnenhaften Strebevermögen eine gewisse Anlage oder eine Vollkommenheit ist, durch die das genannte Strebevermögen der Vernunft leicht gehorcht. Wir nennen diese eine Tugend. Gibt es darum eine Tugend, die sich eigens auf das bezieht, was zum zornmütigen Strebevermögen gehört, wie z. B. die Tapferkeit zu Furcht und Kühnheit, die Großgesinntheit zur hochgesteckten Hoffnung, und die Sanftmut zum Zorn, sagt man von solchen Tugenden, daß sie im zornmütigen Strebevermögen sind als ihrem Träger. Ist sie aber auf die Materie bezogen, die zum begehrlichen Strebevermögen gehört, sagt man, daß sie im begehrlichen Strebevermögen als ihrem Träger Träger sind, wie z. B. die Keuschheit, die sich auf die geschlechtlichen Freuden und die Nüchternheit und die Enthaltsamkeit, die sich auf die Freuden an Speise und Trank beziehen. Zu 1. Die Tugend und die Todsünde können in zweifacher Weise betrachtet werden, nämlich dem Akt und dem Habitus nach. Zwar ist die begehrliche und die zornmütige Tätigkeit, wenn sie für sich betrachtet wird, keine Todsünde, jedoch geschieht zugleich ein Akt der Todsünde, wenn sie sich unter Einfluß oder mit Übereinstimmung der Vernunft auf das ausrichten, was dem göttlichen Gesetz entgegengesetzt ist. So können deren Akte, wenn sie für sich genommen werden, keine Tugendakte sein, sondern nur, wenn sie zusammentreffen, um dem Befehl des Vernunft zu folgen. Auf diese Weise gehören also der Akt der Todsünde und der der Tugend irgendwie zum zornmütigen und begehrlichen Strebevermögen. Daher können auch die Habitus beider im zornmütigen und begehrlichen Strebevermögen sein. Das bedeutet der Sache nach aber auch, daß genauso wie der Akt der Tugend darin besteht, daß das zornmütige und das begehrliche Strebevermögen der Vernunft folgen, der Akt der Sünde aber darin, daß die Vernunft dahin gezogen wird, der Neigung des zornmütigen und begehrlichen Strebevermögen zu folgen. Darum ist es üblich, die Sünde eher der Vernunft als ihrer nächsten Ursache zuzuordnen. Durch dasselbe Argument gehört die Tugend zum zornmütigen bzw. begehrlichen Strebevermögen.

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Zu 2. Wie schon gesagt worden ist, kann der Akt der Tugend des zornmütigen oder begehrlichen Strebevermögen nicht nur ohne Vernunft sein. Dennoch gehört das, was die Wirklichkeit der Tugend ausmacht, hauptsächlich der Vernunft an, nämlich die Wahl; genauso wie auch in einer Handlung die Tätigkeit des Handelnden grundlegender ist als das Leiden des Erleidenden. Die Vernunft nämlich herrscht über das zornmütige und das begehrliche Strebevermögen. Deshalb sagt man nicht, daß die Tugend im zornmütigen oder begehrlichen Strebevermögen liegt, als würde durch diese der ganze Akt der Tugend oder der grundlegendere Teil erfüllt. Insofern aber durch den Habitus der Tugend die letzte Ergänzung zur Gutheit des Tugendaktes zustande kommt, wird begreiflich, daß das zornmütige und das begehrliche Strebevermögen ohne Schwierigkeit der Ordnung der Vernunft folgen. Zu 3. Vorausgesetzt daß das zornmütige und das begehrliche Strebevermögen nicht wirklich in der abgetrennten Seele weiterbestehen, bleiben sie dennoch in ihr als ihrer Wurzel, denn das Wesen der Seele ist die Wurzel der Vermögen. Ähnlich ist es auch bei den Tugenden, die dem zornmütigen und dem begehrlichen Strebevermögen zugeschrieben werden: Sie bleiben in der Vernunft als ihrer Wurzel. Die Vernunft nämlich ist die Wurzel aller Tugenden, wie später gezeigt wird.78 Zu 4. Bei den Formen findet sich eine Art Stufung. Es gibt ganz in die Materie eingeprägte Formen und Kräfte, bei denen jede Tätigkeit materiell ist, wie es offenbar bei den elementaren Formen der Fall ist. Der Verstand aber ist völlig frei von Materie. Daher ist ihre Tätigkeit ohne Gemeinsamkeit mit dem Körper. Das zornmütige und das begehrliche Strebevermögen hingegen verhalten sich in einer mittleren Weise. Denn daß sie ein körperliches Organ benutzen, zeigt die körperliche Veränderung, die mit ihren Akten verbunden ist. Daß sie andererseits in gewisser Weise von der Materie unabhängig sind, zeigt sich dadurch, daß sie durch Befehl bewegt werden und daß sie der Vernunft gehorchen. Auf diese Weise ist die Tugend in ihnen, d. h. sofern sie unabhängig von der Materie sind und der Vernunft gehorchen. 78 Vgl. De virt. q. 2 a. 3 c.

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Zu 5. Die Ordnung der Vernunft, an der das zornmütige und begehrliche Strebevermögen teilhaben, ist weder etwas Subsistierendes noch kann es Träger sein. Sie kann jedoch der Grund dafür sein, daß etwas ein Träger ist. Zu 6. Die Vermögen der sinnenhaften Erkenntnis gehen der Vernunft auf natürliche Weise voran, weil die Vernunft von ihnen etwas aufnimmt. Die Strebevermögen jedoch folgen ihrer Natur nach der Ordnung der Vernunft, weil das niedere Strebevermögen dem höheren gehorcht. Und daher ist es nicht vergleichbar. Zu 7. Das ganze Aufbegehren des zornmütigen und des begehrlichen Strebevermögen gegen die Vernunft kann nicht durch die Tugend aufgehoben werden, weil das zornmütige und das begehrliche Strebevermögen aus ihrer Natur selbst heraus zu dem neigen, was gut gemäß der Sinnlichkeit ist, wann immer es sich der Vernunft widersetzt. Dies kann nur durch die göttliche Tugend geschehen, die auch die Naturen verändern kann. Nichtsdestoweniger wird dennoch durch die Tugend jenes Aufbegehren vermindert, insofern die genannten Kräfte sich daran gewöhnen, der Vernunft untergeordnet zu werden; daher haben sie von außen das, was zur Tugend gehört, d. h. von der Herrschaft der Vernunft über sie. Von sich selbst aber behalten sie eigene Bewegungen bei, die manchmal der Vernunft entgegengesetzt sind. Zu 8. Es gibt zwar ein Prinzip, das die Vernunft ausmacht, aber dennoch bedarf es zur Vollständigkeit der menschlichen Natur nicht nur der Vernunft, sondern auch der niederen Seelenkräfte und des Körpers selbst. Daher geht unter der Bedingung einer sich selbst überlassenen menschlichen Natur daraus hervor, daß bei den niederen Kräften der Seele sich etwas gegen die Vernunft aufbäumt, da die niederen Kräfte der Seele eigene Bewegungen haben. Anders aber ist es im Stand der Unschuld und der Herrlichkeit, wenn die Vernunft aus der Verbindung mit Gott die Kraft erhält, die niederen Kräfte völlig zu beherrschen. Zu 9. Das Böse zu verabscheuen, insofern es als zum zornmütigen Strebevermögen gehörend bezeichnet wird, bringt nicht nur eine Abwendung vom Bösen mit sich, sondern verursacht auch eine gewisse zornmütige Bewegung zur Zerstörung des Bösen; so wie es jenem widerfährt, der nicht nur das Übel flieht, sondern durch Stra-

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fenwollen zur Entfernung des Übels bewegt wird. Das aber heißt, etwas Gutes zu tun. Obwohl jedoch so das Böse zu verabscheuen zum zornmütigen und zum begehrlichen Strebevermögen gehört, ist ihm nicht nur dieser Akt eigen. Sich dem schwer erreichbaren Gut zuzuwenden, gehört nämlich zum zornmütigen Strebevermögen, in dem nicht nur die Leidenschaft des Zornes und der Kühnheit enthalten ist, sondern auch die der Hoffnung. Zu 10. Diese Worte sind in einem abgewandelten, nicht in ihrem eigentümlichen Sinn zu verstehen. Denn in jedem Seelenvermögen ist die Sehnsucht nach dem eigenen Gut. Daher strebt das zornmütige Strebevermögen nach dem Sieg, so wie das begehrende nach dem Genuß. Aber weil das begehrliche Vermögen auf das bezogen ist, was einfach oder absolut das Gute für das ganze Lebewesen ist, daher ist ihm jede Sehnsucht nach dem Guten eigen. Zu 11. Obwohl das zornmütige und das begehrliche Strebevermögen für sich betrachtet zur Tätigkeit gebracht werden und nicht von sich aus tätig sind, sind sie im Menschen und, sofern sie in irgendeiner Weise an der Vernunft teilhaben, auch irgendwie tätig; sie werden also nicht nur angetrieben. Daher sagt auch Aristoteles in der Politik, daß die Herrschaft der Vernunft über diese Kräfte eine politische ist,79 weil derartige Kräfte da etwas von ihrer eigenen Bewegung behalten, wo sie nicht völlig der Vernunft gehorchen. Die Herrschaft der Seele über den Körper jedoch ist nicht königlich, sondern despotisch, weil die Glieder des Körpers hinsichtlich der Bewegung unmittelbar der Seele gehorchen. Zu 12. Obwohl dieselben Kräfte bei den Tieren zu finden sind, haben sie dennoch bei ihnen nicht an etwas teil, das zur Vernunft gehört. Daher können sie keine sittlichen Tugenden besitzen. Zu 13. Alles Böse gehört zur Begierde als ihrer ersten Wurzel und nicht als ihrem nächsten Prinzip, denn alle Leidenschaften entstehen aus dem zornmütigen und dem begehrlichen Vermögen, wie gezeigt worden ist, als wir von den Leidenschaften der Seele handelten.80 Die Verkehrtheit der Vernunft und des Willens kommt meistens durch die Leidenschaften zustande. Oder man kann sagen, 79 Vgl. Aristoteles, Pol. I, 5; 1254 b 5. 80 Vgl. Sum. theol. I–II q. 23, a. 1 und a. 2.

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daß unter Begierde nicht nur das verstanden wird, was der begehrlichen Kraft eigen, sondern was dem ganzen Strebevermögen gemeinsam ist. In jedem seiner Teile findet man Begierde, durch die es zur Sünde kommen kann. Es kann nur durch das Begehren oder das Streben nach etwas gesündigt werden.

5. Artik el Die fünfte Frage lautet: Ist der Wille Träger der Tugend? 81 Es scheint, daß es so ist; denn: 1. Es ist eine größere Vollkommenheit im Befehlenden dafür nötig, daß er richtig befiehlt, als im Ausführenden dafür, daß er richtig ausführt, weil vom Befehlenden der Befehl für den Ausführenden ergeht. Zum Tugendakt aber verhält sich der Wille wie ein Befehlender, das zornmütige und das begehrende Strebevermögen aber im Sinne des Gehorchenden und Ausführenden. Wenn daher im zornmütigen und begehrlichen Strebevermögen die Tugend als ihrem Träger ist, scheint es, daß sie es im Willen noch viel stärker sein muß. 2. Dagegen sagt man, daß die natürliche Neigung des Willens zum Guten für dessen Richtigkeit ausreicht, denn wir ersehnen das Ziel von Natur aus. Daher ist es nicht nötig, daß er erst durch einen hinzugefügten Tugendhabitus richtig ausgerichtet wird. – Dagegen aber steht: Der Wille ist nicht nur auf das letzte Ziel hin ausgerichtet, sondern auch auf andere Ziele. Aber beim Erstreben anderer Ziele geschieht es, daß der Wille sich in angemessener wie auch in unangemessener Weise verhält, denn die Guten setzen sich gute Ziele, die Schlechten schlechte, wie im 3. Buch der Ethik gesagt wird: »Wie jeder einzelne ist, so erscheint ihm das Ziel«.82 Deshalb ist für die Richtigkeit des Willens erforderlich, daß in ihr ein Habitus der Tugend ist, der ihn vervollkommnet.

81 Paralleltexte: Sent. IV, d. 14 q. 1 a. 3 ql. 1; Sum. theol. I–II q. 56 a. 6; Sum. theol. II–II, q. 58 a. 4 ad 3; Sum. theol. II–II, q. 155 a. 3 obj. 3 und ad 3. 82 Aristoteles, Eth. Nic. III, 7; 1114 a 32–1114 b 1.

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3. In der erkennenden Seele gibt es eine in ihrer Natur liegende Erkenntnis, nämlich die der ersten Prinzipien. Dennoch gibt es in uns in Hinblick auf diese Erkenntnis eine verstandesmäßige Tugend, d. h. der Verstand, welcher der Habitus der Prinzipien ist. Deshalb muß es auch im Willen eine Tugend geben, in Bezug auf die er sich zu etwas auf natürliche Weise neigt. 4. Genauso wie es in Hinblick auf die Leidenschaften eine sittliche Tugend gibt, wie das Maßhalten und die Tapferkeit, so auch im Hinblick auf das auf die Sachen gerichtete Handeln, wie die Gerechtigkeit. Ohne Leidenschaft zu handeln, ist aber dem Willen eigen, genauso wie aus Leidenschaft zu handeln dem zornmütigen und dem begehrlichen Strebevermögen. Genauso wie es also eine sittliche Tugend im zornmütigen und begehrlichen Strebevermögen gibt, so auch eine im Willen. 5. Aristoteles sagt im 4. Buch der Ethik, daß die sinnliche Liebe83 bzw. die Freundschaft aus der Leidenschaft kommen.84 Freundschaft aber entspringt der Wahl. Die leidenschaftslose, tugendhafte Liebe85 aber ist ein Akt des Willens. Weil daher die Freundschaft entweder eine Tugend oder zumindest nicht ohne sie ist,86 wie es im 8. Buch der Ethik heißt, scheint es, daß die Tugend im Willen wie in ihrem Träger ist. 6. Die heilige Liebe ist die mächtigste unter den Tugenden, wie der Apostel in 1 Kor. 13 darlegt. Aber der Träger der heiligen Liebe kann nur der Wille sein, denn sein Träger ist nicht das niedere begehrende Strebevermögen, das sich nur auf die sinnenhaften Güter ausrichtet. Deshalb ist der Wille der Träger der Tugend 83 Übersetzung von amor. 84 Aristoteles handelt in Eth. Nic. IV von den einzelnen Tugenden

und ihren nicht tugendhaften Extremen. Ergänzend dazu erörtert er in Eth. Nic. VII die Unbeherrschtheit. Vor diesem Hintergrund ist der thomasische Bezug auf Aristoteles zwar kein Zitat, aber eine Anknüpfung an die negative Konnotation in der aristotelischen Vorlage. Der Begriff der Freundschaft ist bei Aristoteles eindeutig nur an die Tugend gebunden und schließt das Lustbringende wohl ein, aber eine Herkunft aus den Leidenschaften aus. 85 Übersetzung von dilectio. 86 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VIII, 7; 1157 b 25–33.

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7. Nach Augustinus sind wir durch den Willen unmittelbarer mit Gott verbunden.87 Aber das, was uns mit Gott verbindet, ist die Tugend. Es scheint daher, daß die Tugend im Willen ist als ihrem Träger. 8. Nach Hugo von St. Viktor ist das Glücklichsein88 im Willen.89 Die Tugenden aber sind Anlagen zum Glücklichsein. Wenn also die Anlage und die Vollendung in demselben sind, scheint es, daß die Tugend im Willen ist wie im Träger. 9. Nach Augustinus ist es der Wille, durch den man sündigt und in rechter Weise lebt.90 Die Rechtheit des Lebens aber gehört zur Tugend. Daher sagt Augustinus, daß ›die Tugend die gute Beschaffenheit des Geistes ist, durch die man richtig lebt‹.91 Also liegt die Tugend im Willen. 10. Gegensätze sind so beschaffen, daß sie in Bezug auf dasselbe bestehen. Die Sünde aber ist der Tugend entgegengesetzt. Wenn also »jede Sünde im Willen ist«,92 wie Augustinus sagt, scheint es, daß die Tugend ebenfalls im Willen ist. 11. Die menschliche Tugend muß in jenem Teil der Seele sein, der das Spezifische des Menschen ausmacht. Der Wille aber ist genauso das Spezifische des Menschen wie der Vernunft, denn er ist der Vernunft näher als dem zornmütigen und dem begehrlichen Strebevermögen. Weil also das zornmütige und das begehrliche Strebevermögen Träger der Tugenden sind, scheint es, daß dies noch weit mehr auf den Willen zutrifft. 87 Vgl. auch Sent. III, d. 34 q. 3 a. 2 obj. 1; dort formuliert Thomas in einem Einwand das unmittelbare Hingeordnetsein der Tugend der Frömmigkeit auf Gott mit Augustinus, De civ. Dei X, 1 (CCSL 48, 273): »Pietas quoque proprie Dei cultus intellegi solet, quam graeci eusebeian vocant«. 88 felicitas wird je nach Kontext mit Glücklichsein oder Glückseligkeit übersetzt. Thomas verwendet hier nicht beatitudo, da sein Ausgangspunkt nicht ein übernatürlicher, sondern ein natürlicher ist; von Glückseligkeit kann darum nicht im eigentlichen Sinne gesprochen werden. 89 Vgl. Hugo von Sankt Viktor, De tribus diebus (CCCM 177, 55). 90 Vgl. Augustinus, Retract. I, 9, 4 (CCSL 57, 25). 91 Vgl. De lib. arb. II, 19 (CCSL 29, 271); Retract. I, 9, 4 (CCSL 57, 25); vgl. De virt. q. 1 a. 2. 92 Augustinus, De duabus animabus 10 (PL 42, col. 104).

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Dagegen spricht: 1. Jede Tugend ist entweder verstandesmäßig oder sittlich,93 wie es Aristoteles am Ende des 1. Buches der Ethik darlegt. Die sittliche Tugend ist aber nicht dem Wesen, sondern nur der Teilhabe nach im Vernünftigen als ihrem Träger. Die verstandesmäßige Tugend hingegen hat dem Wesen nach das Vernünftige zum Träger. Weil der Wille zu keinem von beiden gerechnet werden kann und weder ein Erkenntnisvermögen ist, das dem Wesen nach zum vernünftigen Teil gehört, noch zum nicht-vernünftigen Teil der Seele, der durch Teilhabe zum vernünftigen Teil gehört, scheint es, daß der Wille überhaupt kein Träger der Tugend sein kann. 2. Zum selben Akt gehören nicht mehrere Tugenden; das aber würde folgen, wenn der Wille Träger der Tugend wäre. Weil es, wie gezeigt worden ist,94 im zornmütigen und begehrlichen Strebevermögen Tugenden gibt, und weil der Wille sich zum Akt jener Tugenden auf irgendeine Weise verhält, wäre es notwendig, daß es für dieselben Akte Tugenden im Willen gäbe. Also kann man nicht sagen, daß der Wille ein Träger der Tugend ist. Antwort: Durch den Habitus der Tugend erwirbt dasjenige Vermögen, das Träger für jenen Habitus ist, hinsichtlich seines Aktes eine Vollendung. Darum muß das, worauf sich ein Vermögen aus sich selbst heraus richtet, nicht der Habitus der Tugend sein. Die Tugend aber ordnet die Vermögen auf das Gute hin, denn sie selbst ist es, die den konstituiert, der ›das Gute besitzt und dessen Werk das Gute macht‹.95 Der Wille aber besitzt das, was die Tugend in Bezug auf andere Vermögen vollbringt, aufgrund seines eigenen Vermögens, denn sein Gegenstand ist das Gute. Daher verhält sich auf diese Weise das Sich-ausrichten auf ein Gut zum Willen wie das Sich-einstellen auf etwas Erfreuliches zum begehrlichen Strebevermögen und wie das Sich-Hinordnen auf den Klang zum Hörsinn. Der Wille braucht darum keinen Tugendhabitus, der ihn zu dem Gut hinneigt, das 93 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. I, 13; 1103 a 4–6. 94 Vgl. De virt. q. 1 a. 4; Sum. theol. I–II, q. 56 a. 4. 95 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 6; 1106 a 17 f.

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ihm entspricht, weil er sich dem Begriff seines eigenen Vermögens nach darauf ausrichtet. Um sich aber dem Guten, das die Größenordnung seines Vermögens überschreitet, zuzuwenden, braucht er den Tugendhabitus. Weil aber jeder sein Streben auf das ihm eigene Gute richtet, kann ein Gutes auf zweifache Weise die Größenordnung des Willens überschreiten: entweder der Art nach oder dem Individuum nach. Aufgrund der Art, indem der Wille zu einem Gut, das die Grenzen des menschlichen Gutseins überschreitet, erhoben wird; und ich nenne menschlich das, was der Mensch aus den Kräften seiner Natur vermag. Über dem menschlichen Guten aber steht das göttliche Gute. Das, was den Willen des Menschen dazu erhebt, ist die heilige Liebe und in ähnlicher Weise die Hoffnung. Das Individuum betreffend sucht aber jemand das Gute eines anderen, ohne daß der Wille die Grenzen des menschlichen Guten überschreitet. In diesem Sinne vervollkommnet die Gerechtigkeit den Willen und alle Tugenden, die sich auf etwas anderes ausrichten, wie die Freigebigkeit und andere derartige Tugenden, denn die Gerechtigkeit ist das Gute des anderen,96 wie Aristoteles im 5. Buch der Ethik sagt. Darum gibt es zwei Tugenden, die in diesem Sinne im Willen als ihrem Träger sind, nämlich die heilige Liebe und die Gerechtigkeit. Ein Hinweis darauf ist, daß diese Tugenden, obwohl sie zum Strebevermögen gehören, trotzdem keinen Bezug zu den Leidenschaften haben wie das Maßhalten und die Tapferkeit. Daher scheint es, daß sie nicht zum sinnenhaften Strebevermögen gehören, in dem die Leidenschaften sind, sondern zum vernünftigen Strebevermögen, das der Wille ist, der die Leidenschaften nicht in sich enthält. Jede Leidenschaft nämlich ist im sinnenhaften Seelenteil,97 wie im 7. Buch der Physik nachgewiesen wird. Jene Tugenden aber, die in Beziehung zu den Leidenschaften stehen, wie die Tapferkeit zur Furcht und zur Kühnheit und das Maßhalten zu den Begierden, müssen aus demselben Grund im sinnenhaften Strebevermögen sein. Es ist auch nicht nötig, daß aufgrund dieser Leidenschaften eine Tugend 96 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. V, 1; 1130 a 4 f. 97 Vgl. Aristoteles, Phys. VII, 3; 248 a 6–8.

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im Willen ist, weil es das Gute in diesen Leidenschaften ist, das der Vernunft entspricht. Dazu verhält sich der Wille aufgrund seines eigenen Vermögens natürlich, weil das Gute der Gegenstand ist, der dem Willen eigen ist. Zu 1. Zum Befehlen genügt dem Willen das Urteil der Vernunft, denn der Wille erstrebt natürlicherweise das Gute gemäß der Vernunft, genauso wie das begehrliche Strebevermögen das Erfreuliche gemäß den Sinnen. Zu 2. Die natürliche Neigung des Willens richtet sich nicht allein auf das letzte Ziel, sondern auf das Gute, das ihm von der Vernunft gezeigt wird, denn das verstandene Gute ist der Gegenstand des Willens, zu dem der Wille auf natürliche Weise hingeordnet wird; genauso ist jedes Vermögen auf seinen Gegenstand gerichtet, sofern dieser, wie oben gesagt, das eigene Gute ist. Es kann aber jemand in dieser Hinsicht sündigen, sofern das gute Urteil der Vernunft durch die Leidenschaft verhindert wird. Zu 3. Eine Erkenntnis entsteht durch ein Erkenntnisbild; zum Erkennen genügt aber nicht das Vermögen des Verstandes an sich selbst. Vielmehr empfängt er die Erkenntnisbilder von den Sinnen. Deshalb ist es auch bei dem, was wir auf natürliche Weise erkennen, notwendig, daß es einen bestimmten Habitus gibt, der gewissermaßen auch das Prinzip den Sinnen entnimmt,98 wie es am Ende der Zweiten Analytiken heißt. Der Wille jedoch braucht zum Wollen kein Erkenntnisbild. Daher besteht keine Ähnlichkeit. Zu 4. Bezogen auf die Leidenschaften sind die Tugenden im unteren Strebevermögen. Dazu bedarf es – im Sinne des oben Gesagten99 – keiner anderen Tugend im höheren Strebevermögen. Zu 5. Die Freundschaft ist nicht eigentlich eine Tugend, aber sie folgt dieser, denn daraus, daß jemand tugendhaft ist, folgt, daß er das ihm Ähnliche liebt. Anders aber ist es bei der heiligen Liebe, die eine gewisse Freundschaft zu Gott ist;100 sie erhebt den Mensch zu 98 Vgl. Aristoteles, Anal. post. II, 19; 100 a 3–14. 99 Im Korpus des Artikels. 100 Thomas definiert damit selbst den hier verwendeten Begriff der

caritas.

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dem, was die Grenze der Natur überschreitet. Darum ist die heilige Liebe im Willen, wie wir gesagt haben.101 Zu 6./7. Aus diesem Grund ist auch die Antwort auf den sechsten und siebten Einwand klar, denn die Tugend, die den Willen mit Gott verbindet, ist die heilige Liebe. Zu 8. Zum Glücklichsein werden gewisse Anlagen wie der Akt der sittlichen Tugenden vorausgesetzt, durch die die Hindernisse zum Glücklichsein, z. B. die Unruhe des Geistes, die von den Leidenschaften und den äußeren verwirrenden Einflüssen ausgehen, überwunden werden. Es gibt aber einen Akt der Tugend, der wesentlich das Glücklichsein selbst ist, sobald er vollständig ist, nämlich der Akt des Verstandes oder der Vernunft. Das betrachtende Glücklichsein ist nichts anderes als die vollkommene Betrachtung der höchsten Wahrheit. Das tätige Glücklichsein ist aber der Akt der Klugheit, durch den der Mensch sowohl sich als auch andere leitet. Es gibt aber etwas im Glücklichsein als dessen Vervollkommnung, nämlich die Freude, die das Glücklichsein vervollkommnet wie der Schmuck die Jugend,102 wie es im 10. Buch der Ethik heißt, und diese Freude gehört zum Willen. In der Hinordnung darauf vervollkommnet die heilige Liebe den Willen, wenn wir von der himmlischen Glückseligkeit sprechen, die den Heiligen versprochen ist. Wenn wir aber von der betrachtenden Glückseligkeit sprechen, die die Philosophen behandelt haben, ist der Wille durch sein natürliches Streben auf eine solche Freude hin ausgerichtet. Daraus wird verständlich, daß nicht notwendigerweise alle Tugenden im Willen sind. Zu 9. Man lebt in rechter Weise oder sündigt durch den Willen, denn der Wille ist derjenige, der jeden Akt der Tugenden und der Laster befiehlt, nicht aber als derjenige, der auswählt. Daher muß der Wille nicht der nächste Träger jeder Tugend sein. Zu 10. Jede Sünde ist im Willen als ihrer Ursache, sofern jede Sünde aus der Zustimmung des Willens entsteht. Dennoch ist nicht jede Sünde im Willen als ihrem Träger; die Genußsucht und die 101 Im Korpus des Artikels. 102 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. X, 4; 1174 b 32 f.

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Zügellosigkeit sind nämlich im begehrlichen und der Stolz im zornmütigen Strebevermögen. Zu 11. Wegen der Nähe des Willens zur Vernunft kommt es vor, daß der Wille hinsichtlich seines eigenen Charakters als Vermögen mit der Vernunft übereinstimmt. Deshalb braucht er dazu keinen vom höheren Vermögen eingeführten Tugendhabitus, wie es bei den niedrigeren Vermögen, nämlich dem zornmütigen und dem begehrlichen Strebevermögen, der Fall ist. Erwiderung zu den Gegenargumenten: Zu 1. Heilige Liebe und Hoffnung, die im Willen sind, sind nicht in dieser Unterscheidung des Aristoteles enthalten, denn sie sind eine andere Gattung von Tugenden und werden theologische Tugenden genannt. Die Gerechtigkeit aber wird unter die sittlichen Tugenden gezählt, denn der Wille hat – genauso die anderen Strebevermögen – an der Vernunft teil, sofern er von der Vernunft gelenkt wird. Zwar gehört der Wille zur selben Natur des verstandesmäßigen Teiles, aber er gehört nicht zum Vermögen der Vernunft als solchen. Zu 2. Im Hinblick auf die Dinge, auf die die Tugend im zornmütigen und begehrlichen Strebevermögen sich bezieht, ist es – im Sinne des oben gesagten103 – mit dem oben anführten Argument nicht notwendig, daß die Tugend im Willen ist.

6. Artik el Die sechste Frage lautet: Ist die Tugend im praktischen Verstand als ihrem Träger? 104 Es scheint, daß es nicht so ist; denn: 1. Aristoteles sagt im 2. Buch der Ethik, daß, nur etwas über die Tugend zu wissen, der Tugend wenig oder gar nichts nützt.105 Er 103 Im Korpus des Artikels. 104 Paralleltexte: Sent. II, d. 27 q. 1 a. 2 ad 3; Sent. III, d. 33 q. 2 a.3 ql. 1

ad 1; Sent. IV, d. 16 q. 1 a. 1 ql. 4 sc. 2; De malo, q. 4 a. 5 c; Sum. theol. I–II, q. 55 a. 4 ad 3; Sum. theol. I–II, q. 56 a. 3; Sum. theol. I–II, q. 61 a. 2 c; Sum. theol. II–II, q. 24 a. 1 obj. 2 und ad 2. 105 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 2; 1103 b 27.

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spricht dort jedoch von der praktischen Wissenschaft. Das ist dem zu entnehmen, was er hinzufügt, daß nämlich viele nicht das tun, wovon sie ein Wissen haben, denn das Wissen, das auf die Tat hingeordnet ist, gehört zum praktischen Verstand. Deshalb kann der praktische Verstand nicht Träger der Tugend sein. 2. Ohne Tugend vermag niemand richtig zu handeln. Ohne Vollkommenheit des praktischen Verstandes jedoch kann jemand richtig handeln, denn er kann von einem anderen in dem, was er tun soll, unterwiesen werden. Deshalb ist die Tugend nicht die Vollkommenheit der praktischen Vernunft. 3. Je mehr man sündigt, desto mehr entfernt man sich von der Tugend, aber die Entfernung von der Vollkommenheit des praktischen Verstandes vermindert die Sünde, denn die Unwissenheit entschuldigt entweder nur manches oder das Ganze. Daher kann die Vollkommenheit des praktischen Verstandes keine Tugend sein. 4. Nach Cicero ist die Tugend in der Art der Natur tätig.106 Die Tätigkeitsweise der Natur ist aber der der Vernunft bzw. des praktischen Verstandes entgegengesetzt. Das wird im 2. Buch der Physik deutlich gemacht, wo das durch seine Natur Handelnde vom Handelnden durch Vorsatz unterschieden wird.107 Es scheint also, daß die Tugend nicht im praktischen Verstand ist. 5. Das Gute und das Wahre unterscheiden sich formal ihrem je eigenen Begriff entsprechend, aber die formalen Unterschiede der Gegenstände verursachen die Verschiedenheit der Habitus. Wenn daher der Gegenstand der Tugend das Gute ist, die Vollkommenheit des praktischen Verstandes aber das Wahre, obwohl er auf das Werk hingeordnet ist, scheint es, daß die Vollkommenheit des praktischen Verstandes keine Tugend ist. 6. Die Tugend ist gemäß Aristoteles im 2. Buch der Ethik ein willentlicher Habitus,108 aber die Habitus des praktischen Verstandes unterscheiden sich von den Habitus des Willens oder des sinnhaften Seelenteils. Deshalb sind die Habitus, die im praktischen Verstand

106 Vgl. Cicero, De inv. II, 53 (ed. Nüßlein, 320 f.). 107 Vgl. Aristoteles, Phys. II, 1; 193 a 28–193 b 3. 108 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 6; 1106 b 36–1107 a 1.

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sind, keine Tugenden. Darum kann der praktische Verstand kein Träger der Tugend sein. Dagegen spricht: 1. Die Klugheit wird zwar unter die vier Haupttugenden gezählt, aber dennoch ist deren Träger der praktische Verstand. Deshalb kann der praktische Verstand Träger der Tugend sein. 2. Die menschliche Tugend hat als ihren Träger das menschliche Vermögen, aber der praktische Verstand ist im höheren Grade ein menschliches Vermögen als das zornmütige und begehrliche Strebevermögen. Genauso ist das, was durch das Wesen in einer bestimmten Weise ist, mehr als das, was durch Teilhabe ist. Deshalb kann der praktische Verstand ein Träger der menschlichen Tugend sein. 3. Dasjenige, worumwillen etwas ist, ist dies in höherem Maße.109 Im sinnlichen Seelenteil aber existiert die Tugend wegen der Vernunft, denn dazu, daß die sinnliche Kraft der Vernunft gehorcht, gibt es in ihr die Tugend. Darum muß die Tugend in der praktischen Vernunft noch viel stärker sein. Antwort: Zwischen den natürlichen und den vernünftigen Kräften besteht der Unterschied, daß erstere durch den Bezug auf einen Gegenstand bestimmt sind, während sich letztere zu vielen Gegenständen verhalten. Es ist aber notwendig, daß das sinnenhafte bzw. das vernünftige Streben auf das ihm je eigene Erstrebbare ausgerichtet ist, das durch ein vorhergehendes Begreifen da ist, denn eine Hinneigung auf ein Ziel ohne vorangehende Erkenntnis gehört zum natürlichen Streben, wie das Schwere auf die Mitte ausgerichtet ist. Weil aber etwas Gutes erfaßt wird, muß es ein Gegenstand des sinnenhaften und des vernünftigen Strebevermögens sein. Wo also dieses Gute sich in gleicher Weise verhält, kann die natürliche Neigung im Strebevermögen und ein natürliches Urteil in der Erkenntniskraft sein, wie es bei den Tieren der Fall ist, denn wegen der Schwäche des aktiven 109 Vgl. dazu Aristoteles, Anal. post. I, 2; 72 a 29 f.; auch zitiert in: De virt. q. 2, a. 6 obj. 1.

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Prinzips, das sich auf weniges ausrichtet, sind sie auch nur zu wenigen Handlungen fähig. Bei allen Tieren derselben Art verhält sich nämlich das Gute in gleicher Weise. Deshalb haben sie durch das Strebevermögen eine natürliche Neigung dazu und durch die Erkenntniskraft ein natürliches Urteil über das ihnen eigentümliche Gute, das sie in gleicher Weise haben. Aus diesem natürlichen Urteil und natürlichen Streben geht das hervor, wodurch jede Schwalbe ihr Nest und jede Spinne ihr Netz in immer gleicher Weise macht; genauso ist es bei allen anderen Tieren zu verstehen. Der Mensch jedoch verfügt über viele und verschiedene Tätigkeiten wegen des hohen Ranges seines aktiven Prinzips, d. h. der Seele, deren Kraft sich gewissermaßen auf das Unendliche ausrichtet. Darum würde für den Menschen weder das natürliche Streben nach dem Guten noch das natürliche Urteil für das richtige Handeln ausreichen, wenn es nicht darüber hinaus bestimmt und vervollkommnet würde. Durch das natürliche Streben neigt zwar der Mensch zu dem ihm eigentümlichen Gut, das er zu erstreben hat, hin. Weil aber dieses in vielfältiger Weise verändert wird und in vielen Dingen das Gute für den Menschen vorliegt, kann dem Menschen kein natürliches Streben nach nur einem dieser Güter gemäß allen Bedingungen, die für das ihm spezifisch zukommende Gut erforderlich sind, inhärieren, denn es wird in vielfältiger Weise unter den verschiedenen Bedingungen der Personen, Zeiten, Orte und dergleichen verändert. Das natürliche Urteil derselben Vernunft, welches in gleicher Weise sich zum Guten verhält, reicht für das zu suchende Gute nicht aus. Daher ist es beim Menschen nötig, daß er durch die Vernunft, die Unterschiedliches vereint, das ihm eigene, nach allen Bedingungen bestimmte Gut, wie es hier und jetzt gesucht wird, findet und beurteilt. Um das zu tun, verhält sich die Vernunft ohne vervollkommnenden Habitus dieser Art genauso wie die theoretische Vernunft ohne den Habitus der Wissenschaft für die Beurteilung einer Schlußfolgerung in einer Wissenschaft; dies kann man nämlich nur unvollkommen und mit Schwierigkeit tun. Darum muß genauso die theoretische Vernunft durch den Habitus der Wissenschaft dazu vervollkommnet werden, daß er richtig über das Wissbare, das zu einer Wissenschaft gehört, urteilt. Deshalb muß die praktische Ver-

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nunft durch einen Habitus dazu vervollkommnet werden, daß er richtig über das menschliche Gute gemäß dem urteilt, was im einzelnen getan werden soll. Diese Tugend nennt man die Klugheit, deren Träger die praktische Vernunft ist. Sie ist die Vervollkommnung aller sittlichen Tugenden, die es im strebenden Seelenteil gibt. Jede einzelne von ihnen hat eine Neigung ihres Strebens zu einer Gattung des menschlichen Guten. Die Gerechtigkeit z. B. hat eine Neigung zu dem Guten, das die Gleichheit dessen ausmacht, was zur Lebensgemeinschaft gehört; das Maßhalten zu dem Guten, das die Zügelung des Begehrens betrifft; genauso ist es bei den einzelnen anderen Tugenden. Jede von ihnen wird in unterschiedlicher Weise ausgeübt und nicht alle auf dieselbe Weise. Darum forscht die Klugheit des Urteilens danach, daß die richtige Weise festgelegt wird. Von ihr kommt also die Richtigkeit und die Erfüllung durch die Gutheit in allen anderen Tugenden. Deshalb sagt Aristoteles, daß »die Mitte in der sittlichen Tugend nach Maßgabe der rechten Vernunft bestimmt wird«.110 Weil aus dieser Richtigkeit und Erfüllung durch die Gutheit alle Habitus der strebenden Tugend ihre Bestimmung erhalten, kommt es, daß die Klugheit die Ursache aller Tugenden des strebenden Teils ist, die die sittlichen genannt werden, insofern sie Tugenden sind. Deshalb sagt Gregor der Große im 22. Kapitel der Moralischen Betrachtungen zum Buch Ijob, daß die übrigen Tugenden, wenn sie nicht das, was sie suchen, klug tun, überhaupt keine Tugenden sein können.111 Zu 1. Aristoteles spricht dort zwar vom praktischen Wissen, aber die Klugheit bewirkt mehr als nur die praktische Wissenschaft, denn zur praktischen Wissenschaft gehört ein allgemeines Urteil über das, was zu tun ist, z. B. daß man nicht Unzucht treiben soll, keinen Diebstahl begehen soll und ähnliches. Dieses Wissen ist zwar vorhanden, aber das Urteil der Vernunft kann im einzelnen Akt verhindert werden, so daß sie nicht richtig urteilt. Deswegen heißt es bei Aristoteles, daß nur zu wissen der Tugend wenig nütze, denn trotz110 Aristoteles, Eth. Nic. II, 6; 1107 a 1 f. 111 Gregor der Große, Moralia II, 4 (CCSL 143, 101).

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dem dieses Wissen vorhanden ist,112 kommt es vor, daß der Mensch gegen die Tugend sündigt. Zur Klugheit aber gehört, richtig über die einzelne Handlungsbereiche, je nach dem, was jetzt zu tun ist, zu urteilen, denn das Urteil wird durch jede Sünde zerstört. Deshalb sündigt der Mensch nicht, solange die Klugheit bleibt. Sie selbst trägt darum nicht wenig, sondern viel zur Tugend bei, ja sie verursacht sogar die Tugend, wie gesagt worden ist.113 Zu 2. Ein Mensch kann von einem anderen einen allgemeinen Rat für seinen Handeln annehmen. Daß er aber in der Handlung selbst an einem Urteil gegen alle Leidenschaften in rechter Weise festhält, das allein geht aus der Rechtheit der Klugheit hervor und ohne diese ist Tugend nicht möglich. Zu 3. Die Unwissenheit, die der Klugheit entgegengesetzt ist, ist die Unwissenheit der Wahl, sofern jeder schlechte Mensch unwissend ist. Das kommt daher, daß das Urteil der Vernunft durch die Neigung des Strebens aufgehoben wird, und diese die Sünde nicht anklagt, sondern sie begeht. Die Unwissenheit aber, die dem praktischen Wissen entgegengesetzt ist, entschuldigt die Sünde oder spielt sie herunter. Zu 4. Das Wort Ciceros wird in Bezug auf die Neigung des Strebens verständlich, das sich auf ein allgemeines Gutes ausrichtet, wie beim tapferen Handeln oder derartigem. Würde sie aber nicht durch das Urteil der Vernunft gelenkt, führte eine solche Neigung häufig, je heftiger desto mehr, in den Abgrund, wie Aristoteles im 6. Buch der Ethik am Beispiel des Blinden ausführt, der sich beim Aufschlagen gegen die Wand um so mehr verletzt, je schneller er läuft.114 Zu 5. Das Gute und das Wahre sind Gegenstände zweier Seelenteile, nämlich des erkennenden und des strebenden. Diese verhalten sich auf zwei Weisen, weil beide auf den Akt des anderen hinarbeiten: Der Wille will, daß der Verstand versteht und der Verstand versteht, daß der Wille will. 112 Übersetzung von ea existente. 113 Im Korpus des Artikels. 114 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 13; 1144 b 11.

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Daher schließen sich diese beiden, das Gute und das Wahre, gegenseitig ein, denn das Gute ist ein gewisses Wahres, sofern es vom Verstand erfaßt wird, d. h. der Verstand versteht, daß der Wille das Gute will, oder auch, sofern er von etwas erfaßt, daß es gut ist. Ähnlich ist auch das Wahre selbst ein gewisses Gut des Verstandes, das auch unter den Willen fällt, sofern der Mensch das Wahre verstehen will. Dennoch ist das Wahre des praktischen Verstandes das Gute, das auch das Ziel der Handlung ist, denn das Gute bewegt nur dann das Streben, wenn es erfaßt ist. Daher hindert nichts, daß es im praktischen Verstand Tugend gibt. Zu 6. Im 2. Buch der Ethik definiert Aristoteles die sittliche Tugend115 und im 6. Buch der Ethik die verstandesmäßige Tugend.116 Die Tugend aber, die im praktischen Verstand ist, ist nicht sittlich, sondern verstandesmäßig, denn auch die Klugheit zählt Aristoteles unter die verstandesmäßigen Tugenden, wie es im 2. Buch der Ethik deutlich wird. 7. Artik el Die siebte Frage lautet: Liegt im theoretischen Verstand eine Tugend? 117 Es scheint, daß es nicht so ist, denn: 1. Jede Tugend ist auf einen Akt hingeordnet, denn die Tugend ist es, die das Werk gut macht. Der theoretische Verstand aber ist nicht auf den Akt hingeordnet, denn er sagt nichts über das Verfolgen oder Meiden aus,118 wie aus dem 3. Buch von De anima hervorgeht. Also kann die Tugend nicht in der theoretischen Verstand sein. 2. Die Tugend ist es, die bewirkt, daß der sie Besitzende gut ist,119 wie es im 2. Buch der Ethik heißt. Die Habitus des theoretischen 115 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 1–9; 1103 a 15–1109 b 25. 116 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 1–7; 1138 b 19–1141 b 23. 117 Paralleltexte: Sent. III, d. 23 q. 2 a. 3 ql. 2; Sent. IV, d. 49 q. 1 a. 1

ql. 3; De ver. q. 14 a. 4 c.; Sum. theol. I–II, q. 56 a. 3; Sum. theol. I–II, q. 4 a. 2 obj. 3 und ad 3. 118 Vgl. Aristoteles, De. an. III, 7; 431 b 9 f. 119 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 5; 1106 a 21–24.

7. Artikel

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Verstandes jedoch bewirken nicht, daß man das Gute besitzt, denn man nennt nicht deswegen jemand einen guten Menschen, weil er die Wissenschaft beherrscht. Deshalb sind die Habitus, die im theoretischen Verstand sind, keine Tugenden. 3. Der theoretische Verstand wird besonders durch den Habitus der Wissenschaft vervollkommnet. Die Wissenschaft ist aber keine Tugend. Das wird daraus ersichtlich, daß sie von den Tugenden unterschieden wird, denn man sagt, daß es in der ersten Art der Qualität Habitus und Anlage gibt.120 Vom Habitus spricht man jedoch beim Wissen und bei der Tugend. Deshalb gibt es im theoretischen Verstand keine Tugend. 4. Jede Tugend ist auf etwas hingeordnet, nämlich auf das Glücklichsein, welches das Ziel der Tugend ist. Aber der theoretische Verstand ist nicht auf etwas hingeordnet, denn die theoretischen Wissenschaften werden nicht um der Nützlichkeit, sondern um ihrer selbst willen gesucht,121 wie es im 1. Buch der Metaphysik heißt. Deshalb kann im theoretischen Verstand keine Tugend sein. 5. Der Akt der Tugend ist verdienstvoll. Das Verstehen jedoch reicht für ein Verdienst nicht aus. Im Gegenteil »sündigt derjenige, der das Gute kennt, aber nicht danach handelt«, wie es in Jak. 4, 17 heißt. Deshalb ist im theoretischen Verstand keine Tugend. Dagegen spricht: 1. Der Glaube ist im theoretischen Verstand, weil die erste Wahrheit sein Gegenstand ist. Der Glaube aber ist eine Tugend. Deshalb kann der theoretische Verstand Träger der Tugend sein. 2. Das Wahre und das Gute sind gleich edel. Sie schließen sich nämlich gegenseitig ein, denn das Wahre ist gewissermaßen ein Gutes und das Gute ist gewissermaßen ein Wahres und beide sind jedem Seienden gemeinsam. Wenn daher eine Tugend im Willen sein kann, dessen Gegenstand das Gute ist, dann auch im theoretischen Verstand, dessen Gegenstand das Wahre ist.

120 Vgl Anm. 24. 121 Vgl. Aristoteles, Met. I, 2; 982 a 14 f.

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Antwort: Bei jeder Sache wird von Tugend in Hinblick auf das Gute gesprochen, weil sie den sie Besitzenden gut macht,122 wie Aristoteles sagt. Die Tugend des Pferdes beispielsweise ist Grund dafür, daß das Pferd gut ist, gut läuft und gut den Sattel trägt; dies sind Leistungen des Pferdes. Ein Habitus hat deshalb den Charakter der Tugend, weil er auf das Gute hingeordnet ist. Das aber trifft in zweifacher Weise zu, formal und material. Formal nämlich, wenn ein Habitus auf das Gute als solches hingeordnet ist; material aber, wenn er zwar auf das, was gut ist, hingeordnet ist, aber nicht sofern es gut ist. Nur der strebende Seelenteil hat das Gute als solches zum Gegenstand, denn das Gute ist das, das alle erstreben.123 Jene Habitus, die entweder im strebenden Seelenteil sind oder in Abhängigkeit zu ihm stehen, sind daher formal auf das Gute hingeordnet; deshalb haben sie im eigentlichen Sinne den Charakter der Tugend. Jene Habitus aber, die weder im strebenden Seelenteil sind noch von ihm abhängen, können zwar material auf das hingeordnet werden, was gut ist, aber nicht formal auf das Gute als solches. Deshalb können sie auch auf irgendeine Weise Tugenden genannt werden, nicht aber in diesem eigentlichen Sinn wie die ersten Habitus. Man muß nun aber wissen, daß sowohl der theoretische wie der praktische Verstand auf zweifache Weise durch einen Habitus vervollkommnet werden kann: Zum einen absolut und für sich, sofern er dem Willen vorangeht, indem er diesen gewissermaßen bewegt; zum anderen sofern er dem Willen nachfolgt, der gewissermaßen für den Befehl seinen Akt auswählt, weil, wie gesagt, diese beiden Vermögen, d. h. der Verstand und der Wille, sich gegenseitig einschließen. Deshalb können jene Habitus, die im praktischen oder theoretischen Verstand in der ersten Bedeutung in gewisser Weise auch Tugenden genannt werden, wenn auch nicht im vollkommenen Sinne; so sind die Wissenschaft und die Weisheit des Verstandes im theoretischen, die Kunst aber im praktischen Verstand. Denn man sagt, 122 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 5; 1106 a 16 f. 123 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. I, 1; 1094 a 1 f.

7. Artikel

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jemand sei verstehend oder wissend, insofern sein Verstand vollkommen ist, um das Wahre zu verstehen; das nämlich ist das Gut des Verstandes. Obwohl dieses Wahre gewollt sein kann, sofern der Mensch das Wahre verstehen will, werden dennoch die oben genannten Habitus unter dieser Hinsicht nicht vervollkommnet, denn daraus, daß der Mensch Wissen hat, ergibt sich nicht, daß er das Wahre betrachten will, sondern nur, daß er dazu fähig ist. Die Betrachtung selbst, die sich auf das Wahre richtet, ist darum nicht das Wissen, sofern es gewollt ist, sondern sofern es sich unmittelbar auf den Gegenstand richtet. Ähnlich ist es bei der Kunst hinsichtlich des praktischen Verstandes; die Kunst vervollkommnet den Menschen nicht dadurch, daß er ihr gemäß gut handeln will, sondern allein dafür, daß er dieses Handeln kennt und es vermag. Die Habitus hingegen, die im theoretischen oder praktischen Verstand sind, haben unter der Bedingung, daß die Vernunft dem Willen folgt, eher die Beschaffenheit der Tugend, sofern der Mensch durch sie nicht nur fähig oder wissend ist, sondern so disponiert wird, daß er richtig handeln will. Dies zeigt sich nun aber im Glauben und in der Klugheit auf verschiedene Weise. Der Glaube nämlich vervollkommnet den theoretische Verstand, sofern ihm vom Willen befohlen wird, was von seinem Akt her verständlich ist, denn der Mensch gibt seine Zustimmung zu dem, was über die menschliche Vernunft hinausgeht, nicht durch den Verstand, es sei denn er will, wie Augustinus sagt, daß der Mensch nur mit dem Willen glauben kann.124 So ist auch auf ähnliche Weise der Glaube im theoretischen Verstand, sofern er dem Befehl des Willens unterworfen ist, wie das Maßhalten im begehrlichen Strebevermögen ist, sofern es dem Befehl der Vernunft unterstellt ist. Daher befiehlt beim Glauben der Wille dem Verstand nicht nur hinsichtlich des auszuübenden Aktes, sondern auch in Bezug auf die Bestimmung des Gegenstandes, denn der Verstand stimmt durch den Befehl des Willens zu einem bestimmten Glaubensinhalt zu, wie auch das begehrliche Strebevermögen durch das Maßhalten auf eine durch die Vernunft bestimmte Mitte sich ausrichtet.

124 Vgl. Augustinus, In Joh. ev. XXVI, 2 (CCSL 36, 260).

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Die Klugheit aber ist, wie gesagt,125 im Verstand oder in der praktischen Vernunft, jedoch nicht so, daß der Wille den Gegenstand der Klugheit, sondern ihr Ziel bestimmt. Den Gegenstand aber erforscht sie selbst. Die Klugheit sucht nämlich, vorausgesetzt daß der Wille auf das Ziel des Guten ausgerichtet ist, die Wege, durch die dieses Gut sowohl vervollkommnet als auch bewahrt wird. Es ist also klar, daß die Habitus, die im Verstand liegen, sich auf verschiedene Weise zum Willen verhalten, denn sie hängen einzig und allein zu deren Gebrauch von ihm ab, und das akzidentell. Ein derartiger Gebrauch der Habitus ist vom Willen in anderer Weise abhängig als von den oben genannten Habitus, wie der Wissenschaft, der Weisheit und der Kunst. Der Mensch wird nämlich durch diese Habitus nicht dahingehend vervollkommnet, daß der Mensch sie gut einsetzen will, sondern nur, daß er zu ihrem Gebrauch fähig ist. Ein Habitus des Verstandes hängt jedoch vom Willen in dem Sinne ab, daß er von ihm sein Prinzip empfängt, denn das Handlungsziel ist das Prinzip, und so verhält sich die Klugheit. Ein Habitus aber empfängt auch die Bestimmung des Gegenstandes vom Willen, wie z. B. der Glaube. Obwohl auf diese Weise alle Tugenden genannt werden können, besitzen dennoch diese letzten beiden vollkommener und noch mehr im eigentlichen Sinne den Charakter der Tugend. Man kann daraus jedoch nicht den Schluß ziehen, daß sie vornehmere oder vollkommenere Habitus sind. Zu 1. Der Habitus des theoretischen Verstandes ist auf den ihm eigenen Akt hingeordnet, der jenes Vollkommene hervorbringt, das in der Betrachtung des Wahren besteht. Er ist aber nicht auf einen äußeren Akt als seinem Ziel hingeordnet, sondern er hat das Ziel in seinem eigenen Akt. Der praktische Verstand ist jedoch auf einen anderen äußeren Akt als sein Ziel hingeordnet, denn zum praktischen Verstand gehört die Betrachtung dessen, was getan oder gemacht werden soll nur um des wirklichen Tuns und Machens willen.

125 Vgl. De virt. q. 1 a. 6.

7. Artikel

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So bringt der Habitus des theoretischen Verstandes in seinem Akt das Gute auf vornehmere Weise als der Habitus des praktischen Verstandes hervor, jener nämlich als Ziel und dieser auf ein Ziel hin, obwohl der Habitus des praktischen Verstandes, sofern er auf das Gute als solches hinordnet und dem Willen vorausgesetzt ist, noch mehr im eigentlichen Sinne dem Begriff der Tugend entspricht. Zu 2. Der Mensch wird nicht einfachhin gut genannt, sofern er teilweise gut, sondern sofern er als ganzer gut ist. Das rührt freilich von der Gutheit des Willens her, denn der Wille herrscht über die Akte aller menschlichen Vermögen. Das kommt daher, daß jeder Akt das Gute seines Vermögens ist. Darum wird nur jener Mensch einfachhin gut genannt, der einen guten Willen hat. Derjenige aber, der die Gutheit bezogen auf ein Vermögen hat, also nicht durch den vorausgesetzten guten Willen, wird gut genannt, sofern er ein gutes Sehen oder Hören hat oder gut sieht und hört. Daraus ist ersichtlich, daß, sofern ein Mensch Wissen besitzt, er nicht einfachhin gut genannt wird, sondern nur, sofern er Vernunft hat oder gut versteht. Ähnlich ist es bei der Kunst und anderen derartigen Habitus. Zu 3. Das Wissen wird von der sittlichen Tugend unterschieden, und dennoch ist es eine verstandesmäßige Tugend. Es wird aber auch von der Tugend im strengsten Sinne unterschieden, denn in diesem Sinne ist sie, wie oben gesagt,126 keine Tugend. Zu 4. Der theoretische Verstand ist nicht auf etwas außerhalb von sich hingeordnet, sondern auf den ihm eigenen Akt als seinem Ziel. Das höchste Glücklichsein aber, d. h. die Betrachtung, besteht in deren Vollzug. Deshalb stehen die Akte des theoretischen Verstandes dem höchsten Glück auf die Weise der Ähnlichkeit näher als der Habitus des praktischen Verstandes, obwohl die Habitus des praktischen Verstandes dem Glücklichsein auf die Weise der Vorbereitung oder des Verdienstes vielleicht näher steht. Zu 5. Durch wissenschaftliche Tätigkeit oder einen derartigen Habitus, kann der Mensch verdienstlich handeln, sofern sie vom Willen befohlen wird, ohne den es kein Verdienst gibt. Die Wissen126 Im Korpus des Artikels.

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schaft vervollkommnet aber, wie gesagt,127 den Verstand nicht dahingehend. Denn nicht darum, weil der Mensch die Wissenschaft besitzt, kommt es dazu, daß er mit gutem Willen überlegt, sondern nur durch seine gute Fähigkeit. Darum wird der böse Wille nicht der Wissenschaft oder der Kunst entgegengesetzt wie der Klugheit, dem Glauben oder dem Maßhalten. Es gilt daher, was Aristoteles sagt, daß jener, der willentlich in seinem Bereich des Handelns sündigt, weniger klug ist.128 Im Gegensatz dazu stehen Wissenschaft und Kunst, denn der Grammatiker, der unwillentlich einen Fehler begeht, scheint immer noch ein Grammatiker zu sein, aber einer, der weniger weiß. 8. Artik el Die achte Frage lautet: Sind die Tugenden von Natur aus in uns? 129 Es scheint, daß es so ist; denn: 1. Johannes von Damaskus sagt im 3. Buch in Über den rechten Glauben: »Die Tugenden als solche sind natürlich und in uns auch auf natürliche und angemessene Weise«.130 2. Eine Glosse sagt zu Mt. 4, 23: 131 Er lehrt natürliche Weisen der Gerechtigkeit, nämlich Keuschheit, Gerechtigkeit und Demut. Solche hat der Mensch von Natur aus. 3. In Röm. 2, 14 heißt es, daß »die Menschen, die kein Gesetz haben, von Natur aus das tun, was dem Gesetz entspricht«. Das Gesetz aber schreibt die Tugendhandlung vor. Deshalb vollzieht der Mensch von Natur aus die Tugendhandlung. So scheint es, daß es die Tugend von Natur aus gibt.

127 Ebd. 128 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 5; 1140 b 23–25. 129 Paralleltexte: Sent. III, d. 33 q. 1 a. 2 ql. 1; Sent. III, d. 36 q. 1 a. 1 c;

De ver. q. 11 a. 1 c; De malo q. 5 a. 5 c; Sum. theol. I–II, q. 51 a. 1; Sum. theol. I–II, q. 63 a. 1; Sum. theol. II–II, q. 47, a. 15. 130 Vgl. Johannes Damascenus, De fide orth. 58, 5 (ed. Buytaert, 217). 131 Mt. 4, 23: »Er durchzog Galiäa, lehrte in ihren Synagogen, verkündete die Heilsbotschaft vom Reiche und heilte jede Krankheit und jedes Gebrechen im Volke«.

8. Artikel

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4. Antonius sagt in seiner Predigt zu den Mönchen: Wenn der Wille die Natur verändert hat, herrscht Verkehrtheit. Ist die natürliche Verfassung bewahrt, gibt es auch Tugend.132 In derselben Predigt sagt er, daß dem Menschen die natürliche Ausstattung genügt.133 Dies wäre aber nicht so, wenn die Tugenden nicht natürliche wären. Die Tugenden sind deshalb natürliche. 5. Cicero sagt, daß die Hochherzigkeit134 der Seele von Natur aus zu uns gehört.135 Das aber scheint zur Großgesinntheit136 zu gehören. Deshalb ist die Großgesinntheit von Natur aus in uns, und aus demselben Grund die anderen Tugenden. 6. Um ein Werk der Tugend zu vollziehen, bedarf es nichts anderes als zum Guten fähig zu sein, es zu wollen und es erkannt zu haben. Aber die Erkenntnis des Guten ist von Natur aus in uns,137 wie Augustinus im 2. Buch von Über den freien Willen sagt. Auch das Gute zu wollen, ist von Natur aus im Menschen,138 wie wiederum Augustinus in Über den Wortlaut der Genesis sagt. Ebenso ist es von Natur aus im Menschen, zum Guten fähig zu sein, denn der Wille ist Herr seiner Akte. Deshalb genügt zur tugendhaften Handlung die menschliche Natur. Die Tugend ist darum ihrem Anfang nach dem Menschen natürlich. 7. Würde man sagen, daß die Tugend ihrem Anfang nach dem Menschen natürlich ist, aber die Vollkommenheit der Tugend nicht, dann steht jedoch dagegen, daß Johannes von Damaskus im 3. Buch von Über den rechten Glauben sagt: Bleiben wir in dem, was der Natur entspricht, leben wir in der Tugend; wenden wir uns aber davon ab, stehen wir außerhalb der Tugend. Geraten wir aber in das, was außerhalb der Natur ist, befinden wir uns in der Schlechtigkeit.139 Dadurch erhellt, daß es in der Natur liegt, sich von der Schlechtig132 133 134 135 136 137

Vgl. Athanasius, Vita S. Antonii 20 und 21 (PG 26, col. 871 B – 876 A). Vgl. ebd. Übersetzung von celsitudo. Vgl. Cicero, De inv. II, 53 (ed. Nüßlein 320–325). Übersetzung von magnanimitas. Thomas meint vielmehr: Augustinus, De trin. VIII, 3, 4 (CCSL 50,

272). 138 Vgl. Augustinus, De Gen. ad litt VII, 27 (CSEL 28/1, 224 f.). 139 Vgl. Iohannes Damascenus, De fide orth. 58, 24 (ed. Buytaert 226).

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keit abzuwenden. Dies aber gehört zur vollkommenen Tugend. Deshalb besteht die Vollkommenheit der Tugend von Natur aus. 8. Die Tugend ist, weil sie eine Form ist, etwas Einfaches und Ungeteiltes. Wenn ihr also etwas in gewisser Hinsicht von Natur aus zukommt, scheint es, daß es ihr auch als ganzer natürlich ist. 9. Der Mensch ist würdiger und vollkommener als die anderen Geschöpfe, die unvernünftig sind. Aber die anderen Geschöpfe besitzen von Natur aus das im ausreichenden Maße, was zu ihrer Vollkommenheit gehört. Wenn daher die Tugenden gewisse Vollkommenheiten des Menschen sind, scheint es, daß sie von Natur aus im Menschen sind. 10. Man könnte behaupten, daß dies nicht sein kann, weil die Vollkommenheit des Menschen aus Vielem und Verschiedenem besteht, die Natur aber auf Eines hingeordnet ist. – Dagegen aber ist zu sagen, daß die Neigung der Tugend genauso wie die Natur auch auf Eines hingeordnet ist. Cicero sagt nämlich, daß die Tugend ein »naturgemäßer Habitus ist, der mit der Vernunft übereinstimmt«.140 Deshalb hindert nichts daran zu behaupten, die Tugenden seien von Natur aus im Menschen. 11. Die Tugend besteht in der Mitte.141 Die Mitte aber ist ein bestimmtes Eines. Also hindert nichts daran, daß die Neigung der Natur sich auf das richtet, was der Tugend gehört. 12. Die Sünde ist der Mangel im Hinblick auf das Maß, die Art und die Ordnung. Aber die Sünde besteht in der Beraubung der Tugend. Daher besteht die Tugend im Maß, in der Art und in der Ordnung. Aber das Maß, die Art und die Ordnung sind für den Menschen natürlich. Also ist die Tugend für den Menschen natürlich. 13. Der strebende Teil der Seele folgt dem erkennenden Teil. Aber im erkennenden Teil gibt es einen natürlichen Habitus, nämlich die Einsicht in die Prinzipien. Also gibt es auch im strebenden und sinnlichen Seelenteil, der der Träger der Tugend ist, einen natürlichen Habitus; und so scheint es, daß es eine natürliche Tugend gibt.

140 Cicero, De inv. II, 53 (ed. Nüßlein, 320 f.). 141 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 5; 1106 a 28–32 und 1106 b 15–17.

8. Artikel

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14. Natürlich ist das, dessen Prinzip innerlich ist,142 wie z. B. das Aufsteigen dem Feuer natürlich ist, weil das Prinzip dieser Bewegung in dem ist, was bewegt wird. Nun ist aber das Prinzip der Tugend im Menschen. Also ist die Tugend dem Menschen natürlich. 15. Was von Natur aus über Samen verfügt, ist auch selbst natürlich. Der Samen der Tugend ist natürlich, denn die Glosse sagt zu Hebr. 1, daß Gott jeder Seele den Anfang der Weisheit und der Verstandes einpflanzen will.143 Also scheint es, daß die Tugenden natürlich sind. 16. Die Gegensätze gehören derselben Gattung an. Die Schlechtigkeit aber ist der Tugend entgegengesetzt. Die Schlechtigkeit jedoch ist natürlich, denn in Wsh. 12, 10 wird gesagt: »Seine Schlechtigkeit nämlich war natürlich«; und in Eph. 2, 3 heißt es: »Wir waren von Natur aus Söhne des Zornes«. Deshalb scheint es, daß die Tugend natürlich ist. 17. Es ist natürlich, daß die niederen Kräfte der Vernunft untergeordnet sind, denn Aristoteles sagt im 3. Buch von Über die Seele, daß das höhere Strebevermögen, das der Vernunft zugehört, das niedere, das zum sinnlichen Seelenteil gehört, bewegt, genauso wie die höhere Sphäre die niedere Sphäre.144 Die sittliche Tugend aber besteht darin, daß die niederen Kräfte der Vernunft untergeordnet sind. Also sind derartige Tugenden natürlich. 18. Dafür, daß eine Bewegung natürlich ist, reicht die natürliche Eignung des inneren passiven Prinzips aus, denn auf diese Weise wird die Entstehung der einfachen Körper und auch die Bewegung der himmlischen Körper natürlich genannt. Das aktive Prinzip der Himmelskörper ist nämlich nicht die Natur, sondern die Vernunft; ebenso ist das Prinzip der Entstehung der einfachen Körper äußerlich. Zur Tugend jedoch befindet sich im Menschen eine natürliche Eignung, denn Aristoteles sagt im 2. Buch der Ethik: »Das Angeborene empfangen wir zwar von der Natur, aber vollendet wird es durch die Gewöhnung«.145 142 143 144 145

Vgl. Aristoteles, Phys. II, 1; 192 b 20–23. Vgl. Petrus Lombardus, Coll. in ep. Pauli, in Hebr. 1 (PL 192, col. 404 A). Vgl. Aristoteles, De an. III, 11; 434 a 14. Aristoteles, Eth. Nic. II, 1; 1103 a 25.

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19. Natürlich ist das, was dem Menschen angeboren ist. Die Menschen scheinen aber, wie Aristoteles im 6. Buch der Ethik meint, »von Geburt an sofort tapfer, gemäßigt bzw. den anderen Tugend entsprechend disponiert zu sein«.146 In Job 31, 18 heißt es: »Von Kindheit an ist mit mir das Mitgefühl gewachsen, vom Mutterleib an ist es mit mir hervorgegangen«. Also sind die Tugenden dem Menschen natürlich. 20. »Die Natur weist beim Notwendigen keinen Mangel auf«.147 Die Tugenden aber sind dem Menschen für das Ziel, auf das er von Natur aus hingeordnet ist, d. h. auf das Glücklichsein, die der Akt der vollkommenen Tugend ist, unentbehrlich. Deshalb hat der Mensch von Natur aus Tugenden. Dagegen spricht: 1. Das Natürliche geht durch die Sünde nicht verloren. Deshalb sagt Dionysius, daß das verliehene Natürliche in den Dämonen bestehen bleibt.148 Die Tugenden jedoch gehen durch die Sünde verloren. Deshalb sind sie nicht natürlich. 2. Wir gewöhnen uns die Tugenden, die natürlicher Weise und die, die von Natur aus in uns sind, weder an noch ab. Aber das, was zur Tugend gehört, können wir uns an- oder abgewöhnen. Deshalb sind die Tugenden nicht natürlich. 3. Die Tugenden, die auf natürliche Weise in uns sind, sind allen gemeinsam. Die Tugenden aber sind nicht allen gemeinsam, denn bei einigen finden sich den Tugenden entgegengesetzte Laster. 4. Weder gewinnen noch verlieren wir Verdienste bei den natürlichen Gegebenheiten, weil sie in uns sind. Aber bei den Tugenden gewinnen wir Verdienste, so wie wir auch bei den Lastern Verdienste verlieren. Deshalb sind die Tugenden und Laster keine natürlichen Gegebenheiten.

146 Aristoteles, Eth. Nic. VI, 13; 1144 b 4 f. 147 Aristoteles, De an. III, 9; 432 b 23. 148 Vgl. Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 20 (Dion. I, 274).

8. Artikel

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Antwort: So wie es unterschiedliche Meinungen über die Hervorbringung der natürlichen Formen gibt, so auch über den Erwerb des Wissens und der Tugenden. Denn es hat einige gegeben, die behauptet haben, daß die Formen, wenn auch verborgen, ihrem Akt nach in der Materie präexistieren, und daß sie durch das natürlich Wirkende vom Verborgenen zum Sichtbaren überführt werden. Das ist die Lehrmeinung des Anaxagoras gewesen, der behauptet hat, daß alles in allem ist, so daß aus allem alles werden kann.149 Andere aber haben gesagt, daß die Formen ganz von außen kommen, entweder durch Teilhabe an den Ideen,150 wie Platon, oder durch einen tätigen Verstand,151 wie Avicenna behauptet hat, und daß die Wirkursachen in der Natur152 die Materie auf die Form nur hinordnen. Der dritte und mittlere Weg ist der des Aristoteles, der behauptet, daß die Formen in der Potenz der Materie präexistieren, aber durch einen natürlich von außen Wirkenden in den Akt überführt werden.153 Ähnlich haben auch einige Philosophen sowohl über das Wissen und die Tugenden gesagt, daß sie von Natur aus in uns sind, und durch Studium nur deren Verhinderungen überwunden werden. Das scheint Platon behauptet zu haben,154 der der Ansicht gewesen ist, daß das Wissen und die Tugenden in uns durch Teilhabe an getrennten Formen verursacht werden, die Seele aber an deren Gebrauch durch die Vereinigung mit dem Körper gehindert wird; dieses Hindernis muß durch Studium der Wissenschaften und Übung der Tugenden überwunden werden. Andere haben aber gesagt, daß die Wissenschaften und Tugenden durch den Einfluß einer tätigen Verstandes bestehen. Um deren Vgl. Aristoteles, Phys. I, 4; 187 b 22–24. Vgl. Aristoteles, Met. I, 9; 991 b 2. Vgl. Avicenna, De an. V, 5 (ed. Van Riet, 126 f.). Übersetzung von agentia naturalia. Vgl. dazu Aristoteles, Phys. VII, 7; 192 a 5 f. und Met. VII, 7; 1032 a 25. Vgl. dazu Platon, Laches 186 c–d; Symposion 205 a; Resp. II 357 b; Aristoteles, Eth. Nic. VI, 13; 1144 b 28–30. 149 150 151 152 153 154

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Einfluß aufzunehmen, wird der Mensch durch Studium und Übung vorbereitet. Die dritte Meinung ist eine mittlere, daß nämlich die Wissenschaften und Tugenden im Sinne der Begabung, aber nicht im Sinne von deren Vollkommenheit, von Natur aus in uns sind.155 Diese Meinung ist die bessere, weil sie so, wie sie der Kraft der natürlichen Wirkenden bei den natürlichen Formen nichts abspricht, sie auch bei der Aneignung der Wissenschaft und der Tugend dem Studium und der Übung ihre Wirksamkeit bewahrt. Dennoch muß man wissen, daß die Eignung zur Vollkommenheit und zur Form in einem Träger in zweifacher Weise vorliegen kann: Erstens nur im Sinne der passiven Potenz, so wie in der Materie der Luft eine Eignung zur Form des Feuers ist; zweitens im Sinne des passiven und aktiven Vermögens zugleich, z. B. wie im heilbaren Körper eine Eignung zur Heilung gibt, weil der Körper zur Gesundheit fähig ist. Auf diese Weise gibt es eine natürliche Eignung zur Tugend, teils nämlich der Natur der Art nach, wie die Eignung zur Tugend allen Menschen gemeinsam ist, und teils der Natur des Individuums nach, sofern einige mehr als andere für die Tugend geeignet sind. Um dies einzusehen, muß man wissen, daß im Menschen in dreifacher Weise ein Träger der Tugend sein kann, wie es aus dem oben Gesagten ersichtlich ist, nämlich der Verstand, der Wille und das niedere Strebevermögen, das in das begehrliche und das zornmütige Strebevermögen unterteilt wird. Bei jedem aber ist die Weise sowohl der Empfänglichkeit als auch des aktiven Prinzips der Tugend zu bedenken. Es ist nämlich klar, daß im verstandesmäßigen Seelenteil der aufnehmende Verstand ist, der in Potenz zu allem Verstehbaren sich befindet – in ihrer Erkenntnis besteht die Verstandestugend –, und der tätige Verstand, durch deren Licht die Dinge wirklich verstehbare werden.156 Einige von ihnen sind dem Menschen sofort von Anfang an von Natur aus ohne Studium und Nachforschung bekannt. Von dieser Art sind die ersten Prinzipien, nicht nur für die Betrachtung 155 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. X, 10; 1179 b 30 f. 156 Vgl. Aristoteles, De an. III, 5; 430 a 10–25.

8. Artikel

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wie ›jedes Ganze ist größer als seine Teile‹ und ähnliches, sondern auch für das Handeln, wie ›das Übel muß man fliehen‹ und derartiges. Diese Prinzipien aber sind von Natur aus bekannt, sie sind die Prinzipien der gesamten sich daran anschließenden Erkenntnis, die durch Studium erworben wird, sei es die praktische oder theoretische Erkenntnis. Ähnlich aber ist für den Willen klar, daß er ein natürliches aktives Prinzip ist, denn der Wille ist von Natur aus zum letzten Ziel hingeneigt. Das Ziel nun aber hat für das Handeln die Bedeutung eines natürlichen Prinzips. Deshalb ist die Neigung des Willens ein gewisses aktives Prinzip im Hinblick auf jede Anlage, die durch Übung im sinnlichen Seelenteil erworben wird. Es steht aber fest, daß der Wille selbst, sofern er ein Vermögen ist, das sich zu verschiedenem verhält, bei denen, die auf ein Ziel gerichtet sind, für eine habituelle Neigung zu diesem oder jenem empfänglich ist. Das zornmütige und das begehrliche Strebevermögen sind von Natur aus der Vernunft gehorsam. Daher sind sie ganz natürlich für die Tugend empfänglich, die in ihnen vervollkommnet wird, sofern sie dazu angelegt sind, dem Guten der Vernunft zu folgen. Alle soeben genannten Anfänge der Tugenden folgen aus der Natur der menschlichen Art und sie sind allen Menschen gemeinsam. Es gibt aber auch eine Grundlegung der Tugend, die in der Natur eines Einzelnen begründet liegt, sofern ein Mensch entweder durch natürliche Zusammensetzung oder durch himmlische Einprägung zu einem Akt der Tugend sich hinneigt. Diese Hinneigung ist zwar eine Grundlegung der Tugend, aber dennoch ist die Tugend nicht vollkommen, weil zur vollkommenen Tugend die Mäßigung durch die Vernunft erforderlich ist. Deshalb heißt es auch in der Definition der Tugend, daß sie »die Wahl der Mitte gemäß der rechten Vernunft ist«.157 Denn wenn jemand ohne die Unterscheidung der Vernunft der Neigung auf irgendeine Weise folgte, würde er auch häufig sündigen. Genauso wie dieser Anfang der Tugend ohne die Tätigkeit der Vernunft nicht den Charakter der vollkommenen Tugend hat, so auch nichts dem Genannten.

157 Aristoteles, Eth. Nic. II, 6; 1106 b 36–1107 a 1.

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Von den allgemeinen Prinzipien zu den besonderen gelangt man nämlich durch die Untersuchung der Vernunft. Auch durch das Geschäft der Vernunft wird der Mensch vom Erstreben des letzten Zieles zu den Gegenständen hingeführt, die mit jenem Ziel übereinstimmen. Durch den Befehl der Vernunft selbst macht sie sich das zornmütige und begehrende Strebevermögen unterworfen. Deshalb steht es fest, daß zur Vollendung der Tugend die Tätigkeit der Vernunft nötig ist, sei es, daß die Tugend im Verstand, im Willen oder im zornmütigen und begehrenden Strebevermögen ist. Die Vollendung liegt jedoch darin, daß die Grundlegung der Tugend, die im höheren Seelenteil ist, auf die Tugend im niedrigeren Teil hingeordnet ist. Für die Tugend, die im Willen ist, wird der Mensch sowohl durch den Anfangsgrund der Tugend, der im Willen ist, als auch durch den, der in der Verstand ist, geeignet gemacht Die Tugend jedoch, die im zornmütigen und im begehrlichen Strebevermögen ist, kommt durch die Grundlegung der Tugend, die in ihnen ist und durch die, die in den höheren Vermögen ist, zur Vollendung, aber nicht umgekehrt. Deshalb steht auch fest, daß die Vernunft, die das höhere Vermögen ist, bei Vollendung jeder Tugend tätig wird. Das Tätigkeitsprinzip, das die Vernunft ist, wird nun aber vom Tätigkeitsprinzip, welches die Natur ist, unterschieden,158 wie es im 2. Buch der Physik heißt denn das vernünftige Vermögen ist auf Gegensätzliches bezogen, wohingegen die Natur auf das Eine hingeordnet ist.159 Darum ist klar, daß die Vollkommenheit der Tugend nicht von Natur aus besteht, sondern durch die Vernunft. Zu 1. Die Tugenden werden in Bezug auf ihre natürlichen Anfänge im Menschen natürlich genannt, nicht in Bezug auf deren Vollkommenheit. Zu 2.–5. Ähnlich muß auf den zweiten, dritten, vierten und fünften Einwand geantwortet werden. Zu 6. Die Fähigkeit, überhaupt gut zu sein, ist von Natur aus in uns, weil die Vermögen natürlich sind. Das Wollen und das Wissen aber ist uns in gewisser Hinsicht von Natur aus eigen, und zwar in 158 Aristoteles, Phys. II, 8; 199 a 13–17. 159 Vgl. Met. IX, 2; 1046 b 4–6.

8. Artikel

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einem allgemeinen Sinn. Das genügt aber für die Tugend nicht. Für die gute Handlung nämlich, die eine Wirkung der Tugend ist, ist erforderlich, daß der Mensch das Gute in den meisten Fällen ohne zu zögern und zielsicher erreicht. Das kann niemand ohne den Habitus der Tugend leisten. Genauso ist es klar, daß jemand im allgemeinen Sinn ein Werk, das Sachkunde erfordert, hervorzubringen weiß, beispielsweise zu argumentieren, zu sägen oder derartiges zu tun. Dafür jedoch, daß er ohne zu zögern und ohne Irrtum handelt, ist erforderlich, daß er die Kunst beherrscht. In ähnlicher Weise verhält es sich bei der Tugend. Zu 7. Der Mensch trägt von Natur aus in irgendeiner Weise etwas in sich, das das Böse abwehrt. Aber dafür, daß er dies ohne zu zögern und unfehlbar tut, bedarf es des Habitus der Tugend. Zu 8. Von der Tugend wird nicht gesagt, daß sie natürlich ist, weil etwa nur ein Teil von ihr natürlich ist und der andere nicht, sondern weil sie hinsichtlich einer bestimmten Seinsweise von Natur aus unvollkommen ist, nämlich hinsichtlich ihres bloßen Möglichseins und Geeignetseins. Zu 9. Gott ist in seiner Gutheit durch sich selbst vollkommen. Deshalb bedarf er nichts, um seine Gutheit zu erlangen. Die höheren und ihm nahen Substanzen brauchen für die Erlangung der vollkommenen Gutheit wenig von ihm. Der Mensch aber, der von ihm entfernter ist, braucht vieles zum Ergreifen der vollkommenen Gutheit, weil er der Glückseligkeit nur fähig ist. Die Geschöpfe hingegen, die nicht der Glückseligkeit fähig sind, bedürfen weniger als der Mensch. Deshalb ist der Mensch würdiger als sie, obwohl er mehr bedarf, wie z. B. jener, der die vollkommene Gesundheit mit vielen Übungen erreichen kann, besser disponiert ist als jener, der sie nur ein bisschen erlangt, aber auch nur aufgrund geringerer Übungen. Zu 10. Im Hinblick auf den Gegenstand einer Tugend, kann es eine natürliche Neigung geben, aber in Hinblick auf den Gegenstand aller Tugenden kann es keine natürliche Neigung geben, denn die natürliche Anlage, welche zu einer Tugend neigt, neigt zum Gegensatz der anderen Tugend. Beispielsweise ist jemand seiner Natur nach zur Tapferkeit veranlagt, durch den das schwer erreichbare Gut erstrebt wird, und weniger zur Milde, die im Zügeln der zornmütigen Leidenschaften besteht. Daher sehen wir, daß die Lebewesen,

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die von Natur aus zum Akt einer Tugend geneigt sind, auch zu dem der anderen Tugend entgegengesetzten Laster geneigt sind, wie der Löwe, der von Natur aus kühn ist, auch grausam ist. Diese natürliche Neigung zu dieser oder jener Tugend genügt den anderen Lebewesen, die dem vollkommenen Guten gemäß einer Tugend nicht folgen können, sondern einem wie auch immer beschaffenen bestimmten Guten nachgehen. Die Menschen sind jedoch dazu geboren, zum vollkommenen Guten auf dem Wege der Tugend hinzugelangen. Da dieses nicht von Natur aus sein kann, ist es notwendig, daß es auf Grund der Vernunft in der die Samen der Tugenden liegen, erreicht wird. Zu 11. Die Mitte der Tugend ist nicht von der Natur bestimmt wie die Mitte der Welt, zu der die schweren Dinge hinstreben. Vielmehr muß die Mitte der Tugend gemäß der rechten Vernunft bestimmt werden, wie es im 2. Buch der Ethik heißt, denn was für den einen angemessen ist, ist für den anderen wenig oder viel.160 Zu 12. Das Maß, die Art und die Ordnung bestimmen jedes Gute,161 sagt Augustinus im Buch in Über die Natur des Guten sagt. Deshalb sind Maß, Art und Ordnung, aus denen das Gute der Natur besteht, auf natürliche Weise im Menschen und werden durch die Sünde nicht weggenommen. Man sagt aber, daß die Sünde die Wegnahme des Maßes, der Art und der Ordnung ist, sofern in ihnen das Gute der Tugend besteht. Zu 13. Der Wille bringt seinen Akt nicht wie der aufnehmende Verstand durch irgendwelche ihn bestimmenden Erkenntnisbilder hervor. Deshalb ist im Willen für ein natürliches Verlangen kein natürlicher Habitus erforderlich, besonders weil der Wille vom natürlichen Habitus des Verstandes bewegt wird, sofern das verstandene Gute der Gegenstand des Willens ist. Zu 14. Zwar ist das Prinzip der Tugend, nämlich die Vernunft, im Menschen, jedoch ist dieses Prinzip nicht in der Weise der Natur tätig und deshalb wird das, was durch sie Sein hat, nicht natürlich genannt. 160 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 6; 1107 a 2 und II, 8; 1108 b 17 ff. und II, 9; 1109 b 2–5. 161 Vgl. Augustinus, De natura boni 3 (PL 42, col. 553).

9. Artikel

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Zu 15. Ähnlich ist auf den fünfzehnten Einwand zu antworten. Zu 16. Die Schlechtigkeit derer war natürlich, sofern sie auf die Gewohnheit zurückgegangen war, denn die Gewohnheit ist eine zweite Natur.162 Wir aber waren von Natur aus der Söhne des Zornes wegen der Erbsünde, die die Sünde der Natur ist. Zu 17. Es ist natürlich, daß die niederen Kräfte der Vernunft unterworfen werden können, nicht aber daß sie auf Grund des Habitus unterworfen sind. Zu 18. Die Bewegung ist wegen der natürlichen Eignung des Bewegbaren natürlich, wenn der Beweger gemäß seiner Natur genauso zu einem bestimmten Ding hinbewegt, wie der Erzeuger der Elemente und der Beweger der Himmelskörper. In diesem Sinn entspricht es aber nicht der Behauptung; deshalb greift das Argument nicht. Zu 19. Jene natürliche Neigung zur Tugend, durch die manche Menschen bald nach der Geburt tapfer und gemäßigt sind, reicht jedoch, wie gesagt,163 nicht zur vollkommenen Tugend aus. Zu 20. Die Natur läßt in notwendigen Dingen für den Menschen keinen Mangel auftreten, denn, mag es auch sein, daß sie nicht alles gibt, was ihm notwendig ist, dennoch gibt sie ihm, woraus er alles Notwendige mit seiner Vernunft erwerben kann und was für ihn dienlich ist. 9. Artik el Die neunte Frage lautet: Werden die Tugenden durch Handlungen erworben? 164 Es scheint, daß es nicht so ist; denn: 1. Augustinus sagt: Die Tugend ist eine gute Beschaffenheit des Geistes, durch die man richtig lebt, durch die keiner etwas schlecht gebraucht, und die Gott in uns ohne uns vollbringt.165 Aber das, was 162 Vgl. Aristoteles, Rhet. II, 11; 1370 a 6 f. und Cicero, De fin. V, 25, 74 (ed. Moreschini, 193). 163 Im Korpus des Artikels. 164 Paralleltexte: Sent. III, d. 33 q. 1 a. 2 ql. 2 und 4; De ver q. 27 a. 6 ad 6; Sum. theol. I–II, q. 51 a. 2 und 3; Sum. theol. I–II, q. 63 a. 2 und 4. 165 Vgl. Augustinus, De lib. arb. II, 19 (CCSL 29, 271), Retract. I, 9, 4 (CCSL 57, 25) u. a.; vgl. De virt. q. 1 a. 2.

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durch unsere Akte geschieht, vollbringt nicht Gott in uns. Deshalb wird die Tugend nicht durch unsere Akte verursacht. 2. Augustinus sagt: »Das Leben aller Ungläubigen ist Sünde und nichts ist gut ohne das höchste Gute; wo die Erkenntnis der Wahrheit fehlt, ist die Tugend auch in den besten Sitten falsch«.166 Daraus ist zu schließen, daß die Tugend nicht ohne Glaube sein kann. Der Glaube aber kommt nicht aus unseren Werken, sondern aus der Gnade, wie es Eph. 2, 8 zu entnehmen ist: »Aus Gnade seid ihr gerettet worden durch den Glauben und nicht aus euch, damit keiner sich rühmt, denn es ist ein Geschenk Gottes.« Deshalb kann die Tugend nicht durch unsere Akte verursacht werden. 3. Bernhard von Clairvaux sagt, daß sich jemand vergeblich um die Tugend bemüht, wenn er sie nicht als etwas versteht, das vom Herrn zu erhoffen ist.167 Was aber erhofft wird als etwas, das man nur von Gott erhalten kann, ist nicht durch unsere Akte verursacht. Die Tugend wird also nicht durch unsere Akte verursacht. 4. Die Selbstbeherrschung ist weniger als eine Tugend,168 wie dies durch Aristoteles im 7. Buch der Ethik deutlich wird. Aber die Selbstbeherrschung ist nur durch ein göttliches Geschenk in uns. Denn in Wsh. 8, 21 wird gesagt: »Ich weiß, daß ich nicht selbstbeherrscht sein kann, wenn es nicht Gott gibt«. Wir können deshalb auch nicht die Tugenden aus unseren Akten erwerben, sondern nur durch ein Geschenk Gottes. 5. Augustinus sagt, daß der Mensch die Sünde nicht ohne die Gnade meiden kann.169 Nun wird aber durch die Tugend die Sünde gemieden, denn der Mensch kann nicht gleichzeitig lasterhaft und tugendhaft sein. Deshalb kann es die Tugend nicht ohne die Gnade geben; sie kann also nicht durch Akte erworben werden. 6. Durch die Tugend gelangt man zum Glücklichsein, »denn das Glücklichsein in der Tugend ist eine Belohnung«,170 wie Aristoteles 166 Thomas zitiert aus Prosper von Aquitanien, Lib. sent. 106 (PL 51, col. 441). 167 Vgl. Bernhard von Clairvaux, S. Cant. cant., 22, 5 (ed. Winkler V, 322 f.). 168 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VII, 1; 1144 b 35–1145 b 2. 169 Vgl. Augustinus, De gestis Pelagii 1, 3 (PL 44, col. 321). 170 Aristoteles, Eth. Nic. I, 10; 1099 b 15–17.

9. Artikel

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im 1. Buch der Ethik sagt. Wenn also die Tugend durch unsere Akte erworben wird, können wir durch unsere Akte ohne die Gnade zum ewigen Leben gelangen, welches das höchste Glück des Menschen ist. Das aber widerspricht dem Apostel in Röm 6, 23: »Die Gnade Gottes ist das ewige Leben«. 7. Die Tugend wird gemäß Augustinus in Über den freien Willen, unter die höchsten Güter gezählt, weil keiner die Tugend schlecht gebraucht.171 Aber die höchsten Güter sind nach Jak. 1, 17 von Gott: »Jede höchste Gabe und jedes vollkommene Geschenk ist von oben und steigt vom Vater der Lichter herab«. Darum scheint es, daß die Tugend nur durch ein Geschenk Gottes in uns ist. 8. Wie Augustinus in Über den freien Willen sagt, kann nichts sich selbst formen.172 Die Tugend jedoch ist eine gewisse Form der Seele. Der Mensch kann deshalb nicht in sich selbst durch seine Akte die Tugend verursachen. 9. Genauso wie der Verstand am Anfang in wesentlicher Potenz zum Wissen steht, so die sinnliche Kraft zur Tugend. Aber der Verstand, der sich in wesentlicher Potenz dazu befindet, daß er in einen Akt des Wissens überführt wird, bedarf eines äußeren Bewegers, d. h. eines Lehrers dafür, daß er das Wissen wirklich erwirbt. In ähnlicher Weise läßt sich also sagen: Dazu, daß der Mensch die Tugend erwirbt, bedarf er eines Anstoßes von außen, denn die eigenen Akte genügen dazu nicht. 10. Der Erwerb wird durch Empfangen vollzogen. Die Tätigkeit aber vollzieht sich nicht durch Empfangen, sondern eher durch Entsenden oder Ausgehen der Tätigkeit vom Handelnden. Dadurch daß wir etwas tun, wird also die Tugend in uns nicht erworben. 11. Wenn durch unseren Akt die Tugend in uns erworben wird, geschieht dies entweder durch einen oder mehrere Akte. Nicht durch einen, weil aus einem Akt noch nicht ein Studierender wird,173 wie es im 2. Buch der Ethik heißt; ebenso auch nicht aus vielen, weil viele Akte, wenn sie nicht gleichzeitig sind, auch nicht gleichzeitig eine 171 Vgl. Augustinus, De lib. arb. II, 19 (CCSL 29, 271); Retract. I, 9, 4 (CCSL 57, 25) u. a.; vgl. De virt. q. 1 a. 2. 172 Augustinus, De lib. arb. II, 17 (CCSL 29, 267). 173 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 1; 1103 b 22.

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Wirkung hervorbringen können. Daher scheint es, daß die Tugend in uns in keiner Weise durch unsere Akte verursacht wird. 12. Avicenna sagt, daß die Kraft die Fähgigkeit ist, die wesentlich den Dingen verliehen ist, um ihre Tätigkeiten auszuführen.174 Aber das, was wesentlich das Ding ausmacht, wird nicht durch seinen Akt verursacht. Deshalb wird die Tugend nicht durch den Akt dessen verursacht, der die Tugend besitzt. 13. Wenn die Tugend durch unsere Akte verursacht wird, dann entweder durch tugendhafte oder durch lasterhafte Akte. Nicht durch lasterhafte, weil jene vielmehr die Tugend zerstören; ähnlich auch nicht durch tugendhafte, weil jene die Tugend voraussetzen. Deshalb wird in keiner Weise durch unsere Akte die Tugend in uns verursacht. 14. Nun muß man sagen: Die Tugend wird durch die unvollkommenen tugendhaften Akte verursacht. – Dagegen aber spricht, daß nichts gegen seine Art tätig ist. Wenn also die der Tugend vorangehenden Akte unvollkommen sind, scheint es, daß sie die vollkommene Tugend nicht verursachen können. 15. Die Tugend ist das Äußerste des Vermögens,175 wie es im 1. Buch von Über Himmel und Erde heißt. Das Vermögen aber ist natürlich. Also ist auch die Tugend natürlich und nicht durch erworbene Handlungen. 16. Im 2. Buch der Ethik wird gesagt: »Die Tugend ist es, die den, der sie besitzt, gut macht«.176 Der Mensch aber ist gut gemäß seiner Natur. Die Tugend des Menschen gehört ihm daher von Natur aus und ist nicht durch Tätigkeiten erworben. 17. Durch die Häufigkeit eines natürlichen Aktes wird kein neuer Habitus erworben. 18. Alles hat sein Sein von seiner Form. Die Gnade aber ist die Form der Tugenden, denn ohne die Gnade – so sagt man – ist die Tu-

174 Vgl. Avicenna, Liber de philosophia prima sive scientia divina VI, 2 (ed. Van Riet, 306). 175 Übersetzung von ultimum potentiae; Vgl. Aristoteles, De caelo I, 12; 281 a 15 und Eth. Nic. II, 6; 1107 a 9. 176 Aristoteles, Eth. Nic. II, 5; 1106 a 17.

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gend ungeformt. Also bestehen die Tugenden durch die Gnade und nicht durch die Akte. 19. Gemäß dem Apostel in 2 Kor. 12, 9 wird die Tugend in der Schwachheit vervollkommnet. Aber die Schwäche ist mehr Leiden als Tätigkeit. Also wird die Tugend mehr durch Leiden als durch Akte verursacht. 20. Wenn die Tugend eine Qualität ist, scheint der Wechsel, der die Tugend betrifft, eine Veränderung zu sein, denn eine Veränderung ist eine Bewegung innerhalb einer Qualität. Aber die Veränderung ist ein Leiden nur im Teil der sinnenhaften Seele,177 wie Aristoteles im 7. Buch der Physik deutlich macht. Wenn also die Tugend durch unsere Akte mit Hilfe von Leiden und Veränderung erworben wird, folgt daraus, daß die Tugend im sinnenhaften Teil ist. Das aber steht gegen Augustinus, der sagt, daß sie eine gute Beschaffenheit des Geistes ist.178 21. Durch die Tugend besitzt jemand eine richtige Wahl des Zieles179, so heißt es im 10. Buch der Ethik. Die richtige Wahl des Zieles scheint jedoch nicht in unserer Macht zu liegen, denn »wie jeder einzelne beschaffen ist, so erscheint ihm das Ziel«,180 wie es im 3. Buch der Ethik heißt. Dies betrifft uns durch die natürliche Beschaffenheit und den Einfluß des Himmelskörpers. Deshalb steht es nicht in unserer Macht, die Tugenden zu erwerben. Sie werden also nicht durch unsere Akte verursacht. 22. Das Natürliche gewöhnen wir uns weder an noch ab. Den Menschen aber wohnen natürliche Neigungen zu Lastern sowie zu Tugenden inne. Daher können derartige Neigungen nicht durch Gewohnheit der Akte überwunden werden. Solange sie aber bleiben, können in uns keine Tugenden sein. Deshalb können die Tugenden in uns nicht durch Akte erworben werden.

177 Vgl. Aristoteles, Phys. VII, 2; 244 b 10 f. 178 Vgl. Augustinus, De lib. arb. II, 19 (CCSL 29, 271), Retract. I, 9, 4

(CCSL 57, 25); u. a.; vgl. De virt. q. 1 a. 2. 179 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 13; 1145 a 5. 180 Aristoteles, Eth. Nic. III, 7; 1114 a 32–1114 b 1.

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Dagegen spricht: 1. Dionysius sagt, daß das Gute kraftvoller als das Schlechte ist.181 Nun werden durch die schlechten Handlungen in uns die Habitus der Laster verursacht. Darum werden durch die guten Handlungen in uns die Habitus der Tugenden verursacht. 2. Gemäß Aristoteles im 2. Buch der Ethik, sind die Handlungen Ursachen dafür, daß wir strebsam sind.182 Das aber ist so durch die Tugend. Also wird die Tugend in uns durch die Akte verursacht. 3. Durch die Gegensätze kommt es zu Werden und Vergehen. Die Tugend aber wird durch die schlechten Akte zerstört und daher durch die guten Akte hervorgebracht. Antwort: Wenn die Tugend das Äußerste des Vermögens183 ist, worauf sich jegliches Vermögen erstreckt, damit es eine Tätigkeit durchführt, die darin beruht, gute Tätigkeit zu sein, dann steht fest, daß die Tugend jedes einzelnen Dinges es ist, durch die es eine gute Tätigkeit hervorbringt. Weil aber jedes Ding um seiner Tätigkeit willen existiert, jedes einzelne Ding aber in dem Maße gut ist, wie es sich gut zu seinem Ziel verhält, ist es notwendig, daß durch die eigene Tugend jede einzelne Sache gut ist und gut tätig ist. Das eigene Gute eines Dinges aber ist ein anderes im Vergleich zum eigentümlichen Guten eines anderen, denn zu den verschiedenen vervollkommenbaren Dingen gehören verschiedene Vollkommenheiten. Deshalb ist auch das Gute des Menschen ein anderes als das des Pferdes und des Steines. Auch beim Menschen selbst wird das unterschiedliche Gute auch in verschiedener Weise verstanden, denn das Gute ist nicht dasselbe, sofern er Mensch und sofern er Bürger ist. Das Gute des Menschen als solchen, besteht nämlich darin, daß die Vernunft in der Erkenntnis der Wahrheit vollkommen ist und die niederen Strebevermögen nach der Richtnorm der Vernunft ausgerichtet werden, denn der Mensch besitzt, was ihn zum Menschen macht, dadurch, daß er 181 Vgl. Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 20 (Dion. I, 244 f.). 182 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 1; 1103 a 32. 183 Vgl. dazu Aristoteles Eth. Nic. II, 6; 1107 a 9.

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vernünftig ist. Das Gute des Menschen, sofern er Bürger ist, besteht hingegen darin, daß er den staatlichen Belangen nach auf alle anderen Bürger hingeordnet ist. Deswegen sagt Aristoteles im 3. Buch der Politik, daß es nicht dieselbe Tugend des Menschen ist, sofern er gut und sofern er ein guter Bürger ist.184 Der Mensch aber ist nicht nur ein Bürger des irdischen Staates, sondern er ist Teilhaber an der Bürgerschaft des himmlischen Jerusalem, dessen Lenker der Herr ist und die Bürger die Engel und alle Heiligen sind, sei es, daß sie in der Herrlichkeit herrschen und im Vaterland ruhen, sei es, daß sie hier auf Erden pilgern, wie dies der Apostel in Eph. 2, 19 sagt: »Ihr seid Bürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes …«. Dazu aber, daß der Mensch Teilhaber dieser himmlischen Stadt ist, reicht seine Natur nicht aus, vielmehr wird er dazu durch die Gnade Gottes erhoben. Denn es ist klar, daß jene Tugenden, die dem Menschen angehören, sofern er Teilhaber dieser Bürgerschaft ist, von ihm nicht durch seine natürlichen Kräfte erworben werden können. Deshalb werden sie nicht durch unsere Akte verursacht, sondern als göttliche Gabe uns eingegossen. Die Tugenden aber, die dem Menschen, sofern er Mensch oder sofern er Teilhaber der irdischen Bürgerschaft ist, eigen sind, überschreiten nicht die Fähigkeit der menschlichen Natur. Daher kann der Mensch diese aus seinen natürlichen Kräften durch seine eigenen Akte erwerben. Dies wird folgendermaßen deutlich: Solange jemand eine natürliche Eignung zu einer gewissen Vollkommenheit hat, und diese Eignung sich nur einem passiven Prinzip verdankt, kann er sie erwerben, jedoch nicht durch den eigenen Akt, sondern durch die Tätigkeit eines äußerlichen natürlichen Wirkenden, wie die Luft das Licht von der Sonne empfängt. Wenn er aber die natürliche Eignung zu einer Vollkommenheit hat, die dem aktiven und passiven Prinzip zugleich sich verdankt, dann kann er durch einen eigenen Akt zu ihr hingelangen; so wie der Körper des kranken Menschen eine natürliche Eignung zur Gesundheit hat. Weil der Träger wegen der natürlichen aktiven Kraft, die von Natur aus für die Gesundheit empfänglich ist und dem zu Heilenden innewohnt, wird der Kranke ohne Tätigkeit eines von außen Tätigen nur manchmal gesund. 184 Vgl. Aristoteles, Pol. III, 2; 1276 b 34.

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Im vorangegangenen Artikel aber ist gezeigt worden, daß die natürliche Eignung zur Tugend, die der Mensch besitzt, sich dem aktiven und passiven Prinzip verdankt, was aus der den Vermögen eigenen Ordnung heraus klar ist. Denn im verstandesmäßigen Seelenteil ist das passive Prinzip der aufnehmende Verstand, der durch den tätigen Verstand in seine Vollkommenheit übergeführt wird. Der tätige Verstand aber bewegt den Willen, denn das Gute des Verstandes ist das Ziel, das das Strebevermögen bewegt. Der Wille aber wird von der Vernunft bewegt, und er ist dazu geschaffen, das sinnenhafte, d. h. das zornmütige und das begehrliche Strebevermögen zu bewegen, das dazu geschaffen ist, der Vernunft zu gehorchen. Darum ist auch klar, daß jede Tugend, die eine gute Tätigkeit des Menschen hervorbringt, einen eigenen Akt im Menschen hat, der durch seine Tätigkeit sie in den Akt überführen kann, sei es im Verstand, im Willen oder im zornmütigen und begehrenden Strebevermögen. Die Tugend im verstandesmäßigen Seelenteil, und die im strebenden Seelenteil werden jedoch auf verschiedene Weise in den Akt überführt. Die Tätigkeit des Verstandes und jedes erkennenden Vermögens ist in gewisser Weise ein Ähnlichwerden mit dem Erkennbaren. Deshalb entsteht die verstandesmäßige Tugend im verstandesmäßigen Seelenteil, sofern durch den tätigen Verstand die geistigen Erkenntnisbilder in ihm wirklich oder habituell entstehen. Die Tätigkeit des strebenden Vermögens aber besteht in einer gewissen Hinneigung zum Erstrebbaren. Deshalb muß dafür, daß die Tugend im strebenden Seelenteil entsteht, ihr eine Hinneigung zu etwas Bestimmtem gegeben sein. Man muß aber wissen, daß die Neigung der natürlichen Dinge der Form folgt und deshalb, wie es die Form verlangt, auf Eines gerichtet ist. Solange sie bleibt, kann eine solche Neigung weder weggenommen noch in das Gegenteil überführt werden. Aus diesem Grund gewöhnen sich die natürlichen Dinge weder etwas an noch ab, denn wie oft auch immer ein Stein hochgehoben wird, er gewöhnt sich niemals daran, sondern er neigt immer zu einer Bewegung nach unten.185 Aber die Dinge, die auf zweierlei ausgerichtet sind, haben 185 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 1; 1103 a 21–23.

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keine Form, durch die sie zu einem Bestimmten hinneigen. Sie werden jedoch durch eigene Bewegung auf das Eine durch genau das festgelegt, was sich auf sie bezieht, und sozusagen darauf hingeordnet. Wenn sie häufig zu diesem Streben gebracht werden, sind sie zu demselben durch eigene Bewegung bestimmt und die bestimmte Neigung auf jenes ist in ihnen so gefestigt, daß diese hinzugetretene Anlage gewissermaßen eine Form auf die Weise der Natur ist, die auf das Eine sich ausrichtet. Darum spricht man davon, daß die Gewöhnung eine zweite Natur186 ist. Weil also die Strebekraft sich zu zweierlei verhält, richtet sie sich nur dann auf das Eine, wenn sie von der Vernunft dazu bestimmt wird. Wenn daher die Vernunft die strebende Kraft häufig auf dieses Ziel ausrichtet, entsteht in der strebenden Kraft eine gewisse gefestigte Anlage, durch die sie zu dem Einen geneigt wird, was zur Gewohnheit wird. Diese so gefestigte Anlage ist der Habitus der Tugend. Daher ist, wenn es richtig verstanden wird, die Tugend des strebenden Seelenteils nichts anderes als eine gewisse Anlage oder Form, die von der Vernunft in die strebende Kraft versiegelt und eingeprägt wird. Deshalb kann sie, wie stark auch immer die Anlage zu etwas in der strebenden Kraft vorliegt, nicht Grund der Tugend sein, wenn dort nicht das eingeprägt ist, was von der Vernunft herrührt. Deshalb ist auch in der Definition der Tugend die Vernunft genannt, denn Aristoteles sagt im 2. Buch der Ethik, daß »die Tugend ein durch Wahl bestimmter Habitus ist, der im Geist in einer bestimmten Art besteht, wie sie auch der Weise festlegen würde«.187 Zu 1. Augustinus spricht über die Tugenden, sofern sie auf die ewige Glückseligkeit hingeordnet sind. Zu 2.–4. Genau dasselbe muß zum zweiten, dritten und vierten Einwand gesagt werden. Zu 5. Die erworbene Tugend bewirkt nicht immer, sich von der Sünde abzuwenden, aber meistens ist es so, denn auch das, was von 186 Vgl. Aristoteles, Rhet. II, 11; 1370 a 6 f. und Cicero, De fin. V, 25, 74 (ed. Moreschini, 193). 187 Aristoteles, Eth. Nic. II, 6; 1106 b 36–1107 a 3.

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Natur aus geschieht, tritt meistens ein. Es folgt daraus jedoch nicht, daß jemand zugleich tugendhaft und fehlerhaft ist, denn ein einzelner Akt eines Vermögens hebt weder den erworbenen Habitus des Lasters noch den der Tugend auf, und niemand kann sich durch die erworbene Tugend von jeder Sünde abwenden. Denn durch erworbene Tugenden meidet er weder die Sünde des Unglaubens noch die anderen Sünden, die den eingegossenen Tugenden entgegengesetzt sind. Zu 6. Durch die erworbenen Tugenden gelangt man nicht zur himmlischen Glückseligkeit, sondern zu einem gewissen Glücklichsein, für das der Mensch geboren ist, um es sich durch die eigenen natürlichen Vermögen in diesem Leben gemäß dem Akt der vollkommenen Tugend zu erwerben. Davon handelt Aristoteles im 10. Buch der Metaphysik.188 Zu 7. Die erworbene Tugend ist nicht das größte Gut überhaupt, sondern nur das größte in der Gattung der menschlichen Güter. Die eingegossene Tugend ist jedoch das größte Gut überhaupt, insofern durch dieses der Mensch auf das höchste Gut, das Gott ist, hingeordnet ist. Zu 8. Dasselbe Ding kann sich selbst nicht in derselben Hinsicht formen. Aber wenn in irgendeinem Ding189 ein aktives Prinzip und ein anderes passives Prinzip ist, kann es sich selbst teilweise formen, und zwar so, daß sein einer Teil formend ist und der andere geformt wird, wie beispielsweise sich etwas selbst bewegt, so daß sein einer Teil bewegend und der andere Teil bewegt ist,190 wie im 8. Buch der Physik gesagt wird. So aber ist es bei der Entstehung der Tugend, wie gezeigt worden ist. Zu 9. Genauso wie die Wissenschaft im Verstand nicht nur durch Erfindung, sondern auch durch Belehrung, die von einem anderen kommt, erworben wird, wird auch beim Erwerb der Tugend dem Menschen durch Berichtigung und Unterricht, die von einem anderen kommen, geholfen. Je weniger er davon braucht, desto mehr ist 188 Thomas bezieht sich vielmehr auf: Eth. Nic. I, 2–13; 1094 a 14–1103 a 10. Vgl. auch Eth. Nic. X, 6; 1177 a 2 und Eth. Nic. X, 7; 1177 a 16 f. 189 Übersetzung von aliquo uno. 190 Vgl. Aristoteles, Phys. VIII, 4; 254 b 28–35.

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er für die Tugend disponiert. Ebenso gilt: Von je scharfsichtigerem Geist jemand ist, desto weniger bedarf er der äußeren Belehrung. Zu 10. Bei der Tätigkeit des Menschen wirken die aktiven und passiven Kräfte zusammen. Obwohl von den Kräften, sofern sie aktiv sind, ein Entsenden vollzogen und in ihnen nichts empfangen wird, kommt dennoch den passiven Kräften, sofern sie passiv sind, zu, etwas durch Empfangen zu erwerben. Deshalb wird in einem Vermögen, das nur aktiv ist, wie im tätigen Verstand, durch Tätigkeit kein Habitus erworben. Zu 11. Je wirksamer die Tätigkeit des Tätigen ist, desto schneller führt sie die Form ein. Deshalb sehen wird bei rein geistigen Sachverhalten, daß durch einen schlagenden Beweis, in uns Wissen verursacht wird. Die Meinung wird in uns, obwohl sie geringer als Wissen ist, nicht durch einen dialektischen Syllogismus verursacht, sondern es werden viele Syllogismen wegen ihrer Schwäche für nötig gehalten. Genauso ist es darum auch im Bereich des Handelns, weil die Tätigkeiten der Seele nicht so wirksam sind wie Beweise, denn im Bereich des Handelns handelt es sich um Kontingentes und Wahrscheinliches. Ein Akt reicht darum nicht aus, um eine Tugend zu verursachen; vielmehr sind dafür mehrere nötig. Obwohl diese vielen Akte nicht gleichzeitig vollzogen werden, können sie dennoch den Habitus einer Tugend verursachen, denn der erste Akt bewirkt eine gewisse Anlage, und der zweite Akt, der die bisher nur disponierte Materie vorfindet, verstärkt diese Ausrichtung, der dritte Akt noch mehr, und so ist der letzte Akt in der Kraft aller vorangegangen tätig. Er vollendet die Entstehung der Tugend genauso wie viele Tropfen den Stein aushöhlen. Zu 12. Avicenna hat die Absicht, die natürliche Kraft zu definieren, die jener Form folgt, die das wesentliche Prinzip ist. Deshalb tut diese Definition nichts zur Sache. Zu 13. Die Tugend entsteht in gewisser Weise aus tugendhaften und in gewisser Weise aus nicht-tugendhaften Akten. Denn die Akte, die der Tugend vorangehen, sind zwar tugendhaft in Hinsicht auf das, was getan wird, sofern nämlich der Mensch tapfer und gerecht handelt, nicht aber in Hinblick auf die Weise des Handelns, denn bevor der Habitus der Tugend erworben ist, tut der Mensch

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nicht Werke der Tugend, wie der Tugendhafte sie vollbringt, nämlich ohne zu zögern, ohne Bedenken zu haben und freudig ohne Beschwernis. Zu 14. Die Vernunft ist edler als die im strebenden Seelenteil erzeugte Tugend, denn eine solche Tugend ist nur eine Teilhabe an der Vernunft. Der Akt, der der Tugend vorangeht, kann daher die Tugend verursachen, sofern er von der Vernunft herrührt, von dem er das hat, was die Vollkommenheit in ihm ausmacht. Seine Unvollkommenheit kommt nämlich vom strebenden Seelenvermögen, in dem jener Habitus noch nicht verursacht ist, durch den der Mensch freudig und ungehindert dem Befehl der Vernunft folgt. Zu 15. Die Tugend wird ›das Äußerste des Vermögens‹ genannt, nicht weil sie immer etwas vom Wesen des Vermögens ist, sondern weil sie zu dem sich hinneigt, wozu das Vermögen als äußerstes fähig ist. Zu 16. Der Mensch ist seiner Natur nach in bestimmter Hinsicht gut, aber nicht einfachhin. Dazu aber, daß etwas einfachhin gut ist, ist erforderlich, daß es ganz vollkommen ist. Genauso ist dazu, daß etwas einfachhin schön ist, erforderlich, daß es in keinem Teil eine Entstellung oder etwas Hässliches aufweist. Einfachhin und ganz gut aber wird jemand deswegen genannt, weil er einen guten Willen hat, denn durch den Willen gebraucht der Mensch alle anderen Vermögen. Darum macht der gute Wille den einfachhin guten Menschen aus, weil die Tugend des strebenden Seelenteils, dank der der Wille gut wird, es ist, die den einfachhin gut macht, der sie besitzt. Zu 17. Die Akte, die der Tugend vorausgehen, können zwar natürlich genannt werden, sofern sie aus der natürlichen Vernunft hervorgehen, genauso wie das Natürliche dem Erworbenen entgegengesetzt ist. Sie können aber nicht natürlich genannt werden, sofern das Natürliche dem entgegengesetzt ist, was durch die Vernunft besteht. Auf diese Weise aber wird gesagt, daß wir die natürlichen Dinge uns weder an- noch abgewöhnen, sofern die Natur der Vernunft entgegengesetzt ist. Zu 18. Die Gnade ist die Form der eingegossenen Tugend, nicht jedoch in der Weise, daß sie ihr das spezifische Sein gibt, sondern nur, sofern durch sie deren Akt in gewisser Weise hineingebildet

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wird. Deshalb ist es nicht notwendig, daß die bürgerliche Tugend durch die Eingießung der Gnade zustande kommt. Zu 19. Die Tugend wird in der Schwachheit vervollkommnet, nicht weil die Schwachheit die Tugend verursacht, sondern weil sie die Gelegenheit zu einer Tugend gibt, nämlich der Demut. Sie ist auch die Materie einer Tugend, nämlich der Geduld und auch der heiligen Liebe, sofern jemand der Schwachheit des Nächsten zu Hilfe kommt. Auch auf natürliche Weise ist sie Zeichen der Tugend, denn die Seele zeigt sich in dem Maße tugendhaft, in dem sie einen schwachen Körper zum Akt der Tugend bewegt. Zu 20. Man spricht nicht im wörtlichen Sinne davon, daß sich etwas verändert, sofern es seine eigene Vollkommenheit erlangt. Wenn die Tugend eine dem Menschen eigentümliche Vollkommenheit ist, sagt man darum nicht, daß der Mensch sich verändert, sofern er Tugend erwirbt, es sei denn vielleicht akzidentell, sofern nämlich die Veränderung des sinnenhaften Teiles der Seele, in dem die Leidenschaften sind, zur Tugend gehört. Zu 21. Der Mensch kann entweder gemäß einer Qualität, die im verstandesmäßigen Seelenteil ist, ausgesagt werden. So bezeichnet man ihn weder auf Grunde der natürlichen Beschaffenheit des Körpers noch durch den Einfluß der Himmelskörper, denn der vernünftige Seelenteil ist von jedem Körper losgelöst. Oder der Mensch als solcher kann gemäß seiner Anlage, die im sinnenhaften Seelenteil vorliegt, ausgesagt werden. Dieser kann zwar durch die natürliche Beschaffenheit des Körpers oder durch den Einfluß der Himmelskörper zustande kommen, aber weil dieser Seelenteil auf natürliche Weise der Vernunft gehorcht, können diese Einflüsse durch Gewöhnung gemindert oder völlig aufgehoben werden. Zu 22. Daraus ergibt sich die Antwort auch für diesen Einwand. Gemäß dieser Anlage, die im sinnhaften Seelenteil ist, wird davon gesprochen, daß jemand eine natürliche Neigung zum Laster oder zur Tugend hat, etc.

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10. Artik el Die zehnte Frage lautet: Gehören zum Menschen auch Tugenden durch Eingießung? 191 Es scheint, daß es nicht so ist; denn: 1. Im 7. Buch der Physik heißt es: Jedes einzelne Ding ist vollkommen, wenn es seine Bestform erreicht.192 Die spezifische Tugend von etwas ist jedoch dessen natürliche Vollkommenheit. Also reicht zur Vollkommenheit des Menschen die seiner Natur entsprechende Tugend. Diese aber ist es, die durch die in seiner Natur liegenden Prinzipien verursacht werden kann. Deshalb ist zur Vollkommenheit des Menschen nicht erforderlich, daß er eine Tugend durch Eingießung besitzt. 2. Es wurde aber eingewandt, daß der Mensch durch die Tugend nicht nur in der Ordnung zum naturgemäßen, sondern auch in der Ordnung zum übernatürlichen Ziel, welches die Glückseligkeit des ewigen Lebens ist, auf das der Mensch durch die eingegossenen Tugenden hingeordnet ist, sich vervollkommnen muß. – Dagegen aber spricht, daß der Natur nichts Notwendiges fehlt.193 Das aber, was der Mensch zur Erreichung des letzten Zieles braucht, ist ihm notwendig. Also kann er dies durch die natürlichen Prinzipien besitzen; er braucht daher dazu keine Eingießung der Tugend. 3. Der Samen ist in der Kraft dessen tätig, von dem er ausgeht, denn anders kann der Samen eines Lebewesens, weil er unvollkommen ist, nicht durch seine Tätigkeit zur vollkommenen Art führen. Aber die Samen der Tugenden sind uns von Gott eingestiftet, denn wie es in der Glosse heißt, hat Gott jeder Seele den Anfang der Vernunft und der Weisheit eingepflanzt.194 Deshalb sind derartige Samen in der Kraft Gottes tätig. Wenn also durch solche Samen eine erworbene Tugend verursacht wird, scheint es, daß die erworbene 191 Paralleltexte: Sent. III, d. 33 q. 1 a. 2 ql. 3; Sent IV, d. 14 q. 2 a. 2 ql. 3 ad 1; De ver. q. 14 a. 10 ad 10; Sum. theol. I–II, q. 51 a. 4; Sum. theol. q. 63 a. 3; Sum. theol. I–II, q. 68 a. 3. 192 Vgl. Aristoteles, Phys. VII, 3; 246 a 14 f.; vgl. zum Unterschied zwischen Kraft und Tugend Anm. 20. 193 Vgl. Aristoteles, De an. III, 9; 432 b 23. 194 Vgl. Petrus Lombardus, Coll. in ep. Pauli, in Hebr. 1 (PL 192, col. 404 A).

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Tugend zu einem Genuß Gottes führen kann, in dem die Glückseligkeit des ewigen Lebens besteht. 4. Die Tugend ordnet den Menschen auf die Glückseligkeit des ewigen Lebens hin, sofern sie ein verdienstvoller Akt ist. Aber der Akt der erworbenen Tugend kann für das ewige Leben nur verdienstvoll sein, wenn die Gnade hineingeformt worden ist. Deshalb ist es für das ewige Leben keine Notwendigkeit, die eingegossenen Tugenden zu besitzen. 5. Die Wurzel des Erwerbs von Verdiensten ist die heilige Liebe. Wenn man daher eingegossene Tugenden haben müßte, um das ewige Leben zu verdienen, scheint es, daß die heilige Liebe allein genügen würde. Darum muß man keine anderen eingegossenen Tugenden haben. 6. Die sittlichen Tugenden sind dazu notwendig, daß die niedrigen Kräfte der Vernunft unterworfen werden. Durch die erworbenen Tugenden sind sie jedoch der Vernunft genügend unterworfen. Darum besteht keine Notwendigkeit, daß es eingegossene sittliche Tugenden gibt, um die Vernunft auf ein besonderes Ziel hinzuordnen. Es reicht aber aus, daß die Vernunft des Menschen zu jenem übernatürlichen Ziel hingelenkt wird; das aber geschieht in ausreichendem Maß durch den Glauben. Deshalb ist es nicht notwendig, irgendwelche anderen eingegossenen Tugenden zu haben. 7. Was durch eine göttliche Tugend zustande kommt, unterscheidet sich der Art nach nicht von dem, was durch die Tätigkeit der Natur entsteht. Die Gesundheit, die jemand auf wunderbare Weise wiedererlangt, ist nämlich dieselbe der Art nach wie die, welche die Natur bewirkt. Wenn es also eine eingegossene Tugend gäbe, die durch Gott in uns wäre, und eine durch unsere Akte erworbene, würden sie sich deswegen nicht der Art nach unterscheiden; z. B. wenn es ein erworbenes und ein eingegossenes Maßhalten gäbe: die beiden Formen, die von derselben Art sind, können nicht zugleich in demselben Träger sein. Es ist nicht möglich, daß jener, der eine erworbenes Maßhalten hat, auch ein eingegossenes besitzt. 8. Die Art der Tugend wird aus den Akten erkannt. Die Akte des eingegossenen und des erworbenen Maßhaltens sind nun aber der Art nach dieselben, also sind es auch die Tugenden. Der Beweis des Untersatzes lautet: Was auch immer in Materie und Form überein-

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stimmt, ist von einer Art. Der Akt des eingegossenen und der des erworbenen Maßhaltens stimmen in der Materie überein, denn beide beziehen sich auf das Erfreuliche der Berührung. Sie stimmen auch in der Form überein, weil beide sich in der Mitte befinden. Deshalb sind die Akte des eingegossenen und des erworbenen Maßhaltens von derselben Art. 9. Man muß aber folgendes behaupten: Sie unterscheiden sich der Art nach, weil sie auf ein unterschiedliches Ziel hingeordnet sind, denn durch das Ziel werden die Arten der sittlichen Tugenden bestimmt. – Dagegen aber steht: Gemäß dieser Vorgabe können einige Dinge der Art nach sich von dem unterscheiden, wovon die Art des Dinges abgeleitet ist. Die Art in der Ethik wird jedoch nicht vom letzten sondern vom nächsten Ziel abgeleitet, denn sonst wären alle Tugenden von einer Art, weil alle auf die Glückseligkeit als dem letzten Ziel hingeordnet sind. Deshalb kann aus der Hinordnung auf ein letztes Ziel nicht geschlossen werden, daß von den sittlichen Tugenden irgendetwas von derselben oder von unterschiedlicher Art sei. Auf diese Weise unterscheidet sich das eingegossene Maßhalten nicht vom erworbenen in Bezug darauf, daß der Mensch auf eine höhere Glückseligkeit hingeordnet ist. 10. Kein sittlicher Habitus ergibt sich deswegen aus der Art, weil er von einem Habitus zustande gebracht wird.195 Denn es kann sein, daß ein sittlicher Habitus durch Habitus, die der Art nach verschieden sind, zustande kommt oder befohlen wird, wie z. B. der Habitus der Maßlosigkeit vom Habitus der Habgier, wenn jemand die Ehe bricht, um zu stehlen, oder vom Habitus der Grausamkeit, wenn jemand die Ehe bricht, um zu töten. Im Gegensatz dazu werden der Art nach verschiedene Habitus von demselben Habitus befohlen, wie z. B. wenn einer die Ehe bricht und ein anderer tötet, aber beide mit der Absicht zu stehlen. Das Maßhalten, die Tapferkeit oder irgendeine der anderen sittlichen Tugenden besitzen aber keinen Akt, der auf die Glückseligkeit des ewigen Lebens hingeordnet ist, wenn er nicht von einer Tugend befohlen wird, die das letzte Ziel zum Gegenstand hat. Deswegen folgt daraus nicht deren Art. So unterscheidet sich die eingegossene sittliche Tugend nicht der Art nach von der 195 Übersetzung von movetur.

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erworbenen Tugend dadurch, daß sie auf das Ziel des ewigen Lebens hingeordnet ist. 11. Die Tugend ist genauso in den Geist eingegossen als ihrem Träger, denn Augustinus sagt, daß die Tugend eine gute Beschaffenheit des Geistes ist, die Gott in uns ohne uns bewirkt.196 Die sittlichen Tugenden aber sind nicht im Geist als ihrem Träger, denn das Maßhalten und die Tapferkeit gehören zu den unvernünftigen Seelenteilen,197 wie Aristoteles im 3. Buch der Ethik sagt. Deshalb sind die sittlichen Tugenden nicht eingegossen. 12. Die Gegensätze gehören zum selben Begriff. Das Laster aber, das das Gegenteil zur Tugend ist, wird niemals eingegossen, sondern nur durch unsere Akte verursacht. Deshalb sind auch die Tugenden nicht eingegossen, sondern nur durch unsere Akte verursacht. 13. Der Mensch befindet sich vor dem Erwerb einer Tugend in der Möglichkeit zu den Tugenden. Potenz und Akt gehören aber zu einer Gattung, denn jede Gattung wird durch Potenz und Akt unterteilt,198 wie im 3. Buch der Physik deutlich wird. Wenn also die Potenz zur Tugend nicht durch Eingießung entsteht, scheint es, daß auch die Tugend nicht durch Eingießung zustande kommt. 14. Wenn die Tugenden eingegossen werden, müssen sie gleichzeitig eingegossen werden. Wenn aber dem Menschen, der in der Sünde gelebt hat, die Gnade wirklich eingegossen wird, dann nicht als Habitus der sittlichen Tugenden, denn auch nach der Reue erleidet man die Belästigung durch die Leidenschaften. Das gehört nicht zum Tugendhaften, sondern vielleicht zum Selbstbeherrschten, denn der, der sich selbst beherrscht, unterscheidet sich vom Maßvollen dadurch, daß der Selbstbeherrschte zwar leidet, aber nicht nachgibt, während der Maßvolle nicht leidet,199 wie es im 7. Buch der Ethik heißt. Deshalb scheint es, daß die Tugenden uns nicht durch Eingießung der Gnade eigen sind.

196 Vgl. De lib. arb. II, 19 (CCSL 29, 271); Augustinus, Retract. I, 9, 4 (CCSL 57, 25); u. a.; vgl. De virt. q. 1 a. 2. 197 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. III, 10; 1118 a 24 f. 198 Aristoteles, Phys. III, 1; 201 a 10. 199 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. III, 11; 1151 b 34–1152 a 1.

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15. Aristoteles sagt im 2. Buch der Ethik, daß man die Freude, die während einer Tätigkeit aufkommt, als ein Zeichen für einen erworbenen Habitus verstehen muß.200 Nach der Reue jedoch handelt man nicht sofort freudig bei den Taten der sittlichen Tugenden. Darum besitzt man auch noch nicht den Habitus der Tugenden. Die sittlichen Tugenden werden also in uns nicht durch Eingießung der Gnade verursacht. 16. Stellen wir die Behauptung auf, daß bei jemand ein lasterhafter Habitus durch viele schlechte Akte verursacht ist, so steht dennoch fest, daß ihm in einem Akt der Reue die Sünden vergeben werden und die Gnade eingegossen wird. Durch einen Akt wird aber der erworbene Habitus weder zerstört noch erzeugt. Wenn daher mit der Gnade die sittlichen Tugenden eingegossen werden, folgt daraus, daß der Habitus der sittlichen Tugend gleichzeitig mit einem Habitus des entgegengesetzten Lasters besteht. Das aber ist unmöglich. 17. Durch dasselbe wird die Tugend erzeugt und zerstört,201 wie es im 3. Buch der Ethik heißt. Wenn daher die Tugend in uns nicht durch unsere Akte verursacht wird, scheint zu folgen, daß sie auch nicht durch unsere Akte zerstört wird. So folgt daraus, daß jemand, der eine Todsünde begeht, die Tugend nicht verliert. Das aber ist widersinnig. 18. Sitte und Gewohnheit scheinen dasselbe zu sein. Deshalb ist auch die sittliche und die angewöhnte Tugend dasselbe. Aber die angewöhnte Tugend wird wegen der Gewöhnung so genannt, weil sie durch häufiges gutes Handeln verursacht wird. Deshalb wird jede sittliche Tugend durch die entsprechenden Akte verursacht und nicht durch die Eingießung der Gnade. 19. Wenn bestimmte Tugenden eingegossen sind, ist es notwendig, daß ihre Akte wirksamer sind als die Akte des Menschen, der keine Tugenden besitzt. Aber aus derartigen Akten wird ein Habitus der Tugend in uns verursacht, deshalb auch aus Akten der eingegossenen Tugenden, wenn sie solche sind. Aber wie es im 2. Buch der Ethik heißt: Wie die Habitus beschaffen sind, so werden auch die Akte und wie die Akte beschaffen sind, solche Habitus verursa200 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 2; 1104 b 4 f. 201 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 1; 1103 b 8.

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chen sie.202 Daher sind die Habitus durch die Akte der eingegossenen Tugenden verursacht; sie gehören mit den eingegossenen Tugenden derselben Art an. Daraus folgt, daß zwei Formen derselben Art und demselben Träger angehören. Das aber ist unmöglich. Daher scheint es auch unmöglich zu sein, daß es in uns irgendwelche eingegossenen Tugenden gibt. Dagegen spricht: 1. In Lk. 24, 49 heißt es: »Bleibt hier in der Stadt, bis ihr mit der Kraft von oben ausgerüstet werdet«. 2. In Wsh. 8, 7 wird über die göttliche Weisheit gesagt, daß sie »die Nüchternheit und Gerechtigkeit lehrt« etc. Der Geist der Weisheit aber lehrt die Tugend, indem er sie verursacht. Daher scheint es, daß die sittlichen Tugenden uns von Gott eingegossen werden. 3. Die Akte jeder Tugend müssen verdienstvoll dafür sein, daß wir durch sie zur Glückseligkeit geführt werden. Das Verdienst aber kann nur durch Gnade möglich sein. Deshalb scheint es, daß die Tugenden in uns durch die Eingießung der Gnade verursacht werden. Antwort: Neben der durch unsere Akte erworbenen Tugenden müssen, wie schon gesagt,203 andere von Gott im Menschen eingegossene Tugenden behauptet werden. Als Grund dafür kann angenommen werden, daß die Tugend, wie Aristoteles sagt, es ist, die bewirkt, daß sie »den, der sie besitzt und sein Werk gut macht«.204 Sofern daher das Gute im Menschen unterschieden wird, muß auch die Tugend unterschieden werden. So ist es klar, daß das Gute des Menschen, sofern er Mensch und sofern er Bürger ist, etwas anderes ist. Es steht fest, daß Tätigkeiten dem Menschen zukommen können, sofern er Mensch ist; diese würden ihm aber nicht zukommen, sofern er Bürger ist. Deswegen sagt

202 Vgl. Aristoteles, Nic. Eth. II, 1; 1103 b 1, b 21, b 31 f. und 1105 b 10. 203 Vgl. De virt. q. 1, a. 9 c. 204 Aristoteles, Eth. Nic. II, 5; 1106 a 17.

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Aristoteles im 3. Buch der Politik, daß die Tugend, die den Menschen gut macht, eine andere ist als die, die den Bürger gut macht.205 Es muß aber bedacht werden, daß das Gute des Menschen ein zweifaches ist: Das eine nämlich, daß es seiner Natur entspricht; das andere aber, daß es die Möglichkeit seiner Natur überschreitet. Der Grund dafür lautet: Weil es notwendig ist, daß ein Passives Vollkommenheiten von einem Tätigen in unterschiedlicher Weise erwirbt, nämlich dem Unterschied der Kraft des Tätigen entsprechend, sehen wir daraus, daß die Vollkommenheiten und Formen, die durch die Tätigkeit des natürlich Tätigen verursacht werden, nicht die natürliche Fähigkeit des Empfangenden überschreitet, denn die passiven natürlichen Vermögen stehen in Entsprechung zur aktiven natürlichen Kraft. Aber die Vollkommenheiten und Formen, die vom Tätigen einer übernatürlichen unbegrenzten Kraft herkommen, die Gott ist, überschreiten die Anlage der empfangenden Natur. Deshalb überschreitet die vernunftbegabte Seele, die unmittelbar von Gott verursacht ist, die Fassungskraft ihrer Materie so sehr, daß die körperliche Materie sie nicht gänzlich erfassen und einschließen kann, vielmehr bleibt eine Kraft und eine Tätigkeit ihr vorbehalten, an der die körperliche Materie nicht teilnimmt; dies trifft bei keiner der anderen Formen zu, die durch natürliche Tätige verursacht sind. So wie aber der Mensch seine erste Vollkommenheit, nämlich seine Seele, durch die Tätigkeit Gottes erhält, so hat er auch seine letzte Vollkommenheit, die das vollkommene Glücklichsein des Menschen ist, unmittelbar von Gott und ruht in ihm. Das wird freilich daraus klar, daß das natürliche Verlangen des Menschen in keinem anderen außer in Gott allein ruhen kann. Dem Menschen ist es nämlich angeboren, daß er durch Wirkungen zu einer Sehnsucht danach bewegt wird, die Ursachen zu untersuchen; diese Sehnsucht kommt nicht zur Ruhe, bis sie bei der ersten Ursache, die Gott ist, angekommen ist. Deshalb ist es notwendig, daß, genauso wie die erste Vollkommenheit des Menschen, die die vernunftbegabte Seele ist, die Fähigkeit der körperlichen Materie überschreitet, auch die letzte Vollkom205 Aristoteles, Pol. III, 4; 1277 a 1–4.

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menheit, zu der der Mensch gelangen kann – dies ist die Glückseligkeit des ewigen Lebens – die Anlage der gesamten menschlichen Natur überschreitet. Weil jedes Ding durch eine Tätigkeit auf ein Ziel hingeordnet ist, und diese Dinge sich irgendwie in Entsprechung zum Ziel befinden müssen, ist es notwendig, daß es gewisse Vollkommenheiten des Menschen gibt, durch die er auf ein übernatürliches Ziel, das die Möglichkeiten der natürlichen Prinzipien des Menschen überschreitet, hingeordnet ist. Das kann aber nur sein, wenn dem Menschen, von dem, was über den natürlichen Prinzipien steht, ein übernatürliches Handlungsprinzip von Gott eingegossen wird. Die natürlichen Handlungsprinzipien sind das Wesen der Seele und deren Vermögen, nämlich der Verstand und der Wille, welche die Handlungsprinzipien des Menschen sind. Auch das könnte nicht sein, wenn nicht der Verstand die Erkenntnis der Prinzipien hätte, durch die seine Erkenntnis zu anderen Gegenständen gelenkt wird, und der Wille nicht eine natürliche Neigung zum Guten der Natur hätte, die ihm entspricht, wie in einer vorangegangenen Frage206 gesagt worden ist. Daher ist dem Menschen, um die Handlungen zu vollbringen, die auf das Ziel des ewigen Lebens hingeordnet sind, zuerst von Gott die Gnade eingegossen, durch die die Seele gewissermaßen ein geistliches Sein hat und darauf folgend Glaube, Hoffnung und Liebe, so daß durch den Glauben der Verstand durch übernatürliche Erkenntnisse erleuchtet wird, die sich in dieser Ordnung verhalten wie die natürlich erkannten Prinzipien in der Ordnung der ihrer Natur entsprechenden Tätigkeiten. Durch die Hoffnung und die heilige Liebe erlangt der Wille eine Neigung zu jenem übernatürlichen Guten, zu dem der menschliche Wille durch die natürliche Neigung nicht genügend hingeordnet ist. Genauso wie neben diesen natürlichen Prinzipien auch der Tugendhabitus zur Vervollkommnung des Menschen in einer seiner Wesensnatur entsprechenden Weise erforderlich sind, wie oben gesagt worden ist,207 so folgt der Mensch durch göttlichen Einfluß 206 Vgl. De virt. q. 1 a. 8 c. 207 Vgl. De virt. q. 1 a. 9 c.

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über die vorgegebenen übernatürlichen Prinzipien hinaus, gewissen eingegossenen Tugenden, durch die er zu den Handlungen vervollkommnet wird, die auf das Ziel des ewigen Lebens hinzuordnen sind. Zu 1. Der Mensch ist im Hinblick auf die erste Vollkommenheit208 in zweifacher Weise vollkommen: Zum einen hinsichtlich des ernährenden und des sinnenhaften Strebevermögens, deren Vollkommenheit nämlich die Fähigkeit der körperlichen Materie nicht überschreitet; zum anderen hinsichtlich des verstandesmäßigen Seelenteiles, der das Natürliche und das Körperliche überschreitet. In dieser letzten Hinsicht ist der Mensch einfachhin vollkommen; auf die erste Weise aber nur in gewisser Hinsicht. So kann auch der Mensch in Bezug auf das Ziel in zweifacher Weise vollkommen sein: Zum einen hinsichtlich der Fähigkeit seiner Natur und zum anderen in Bezug auf eine übernatürliche Vollkommenheit. Im letzteren Sinne wird der Mensch einfachhin ein vollkommenes Sein genannt; im ersteren aber nur unter gewisser Hinsicht. Daher kommt dem Menschen die Tugend in zweifacher Weise zu: die eine, die der ersten Vollkommenheit entspricht, die keine vollständige Tugend ist, und die andere, die der letzten Vollkommenheit entspricht. Diese ist die wahre und vollkommene Tugend des Menschen. Zu 2. Die Natur stellt dem Menschen das für seine Tugend Notwendige bereit. Im Hinblick auf die Dinge, die die Fähigkeit der Natur nicht überschreiten, besitzt der Mensch von Natur aus nicht nur empfangende, sondern auch aktive Prinzipien; aber im Hinblick auf die Dinge, die die Fähigkeit der Natur überschreiten, besitzt der Mensch von Natur aus eine Eignung zum Empfangen. Zu 3. Der Samen des Menschen ist der ganzen Kraft des Menschen entsprechend tätig. Der Samen der Tugenden hingegen, der der menschlichen Seele von Natur aus eingegeben ist, ist nicht in der ganzen Kraft Gottes tätig. Daher folgt daraus nicht, daß durch ihn das verursacht werden kann, was Gott verursachen kann.

208 Gemeint ist die der Seele.

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Zu 4. Wenn es ohne heilige Liebe kein Verdienst gibt, kann der Akt der erworbenen Tugend ohne heilige Liebe nicht verdienstvoll sein. Mit der heiligen Liebe werden aber zugleich die anderen Tugenden eingegossen. Der Akt der erworbenen Tugend kann darum nur mittels der eingegossenen Tugend verdienstvoll sein. Die Tugend nämlich, die auf ein niedrigeres Ziel hingeordnet ist, bringt nicht den Akt hervor, der auf das höhere Ziel hingeordnet ist, es sei denn mittels der höheren Tugend, wie z. B. der Tapferkeit, die eine Tugend des Menschen als solchen ist und ihren Akt nur mittels der Tapferkeit, die die Tugend des Menschen ist, sofern er Bürger ist, auf das politische Gute hinordnet. Zu 5. Wenn eine Tätigkeit aus mehreren aufeinander hingeordneten Tätigen hervorgeht, kann deren Vollkommenheit und Gutheit durch die Hinderung eines der Tätigen behindert werden, auch wenn ein anderes vollkommen gewesen ist. Denn wie sehr auch der Künstler vollkommen sein mag, vollbringt er doch keine vollkommene Handlung, wenn das Instrument mangelhaft gewesen ist. Bei den Handlungen des Menschen aber, bei denen es notwendig ist, daß sie durch die Tugend gut werden, ist hier zu bedenken, daß die Tätigkeit des höheren Vermögens nicht vom niederen Vermögen, sondern die Tätigkeit des niederen Vermögens vom höheren abhängt. Darum ist dafür, daß der Akt der niederen Kräfte, d. h. des zornmütigen bzw. des begehrlichen Strebevermögen, vollkommen ist, erforderlich, daß nicht nur die Vernunft durch den Glauben und der Wille durch die heilige Liebe auf das letzte Ziel hingeordnet ist, sondern auch, daß die niederen Kräfte, d. h. das zornmütige und begehrliche Strebevermögen, dahingehend eigenständige Tätigkeiten haben, daß deren Akte gut sind und auf ein letztes Ziel hingeordnet werden können. Zu. 6. Daraus wird auch die Lösung des sechsten Einwandes ersichtlich. Zu 7. Jede Form, die durch die Natur hervorgebracht wird, kann Gott der Art nach identisch auch durch sich selbst ohne Tätigkeit der Natur hervorbringen. Dementsprechend ist die Gesundheit, die von Gott auf wunderbare Weise wiederhergestellt wird, von derselben Art wie die Gesundheit, die die Natur hervorbringt. Daraus folgt jedoch nicht, daß jede Form, die Gott machen kann, auch die Na-

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tur durch Vervollkommnung hervorbringen kann. Deshalb besteht keine Notwendigkeit, daß die eingegossene Tugend, die unmittelbar von Gott stammt, von derselben Art ist wie die erworbene Tugend. Zu 8. Das eingegossene und das erworbene Maßhalten stimmen in der Materie überein, denn zu beiden gehört das Erfreuliche der Berührung. Sie stimmen jedoch nicht in der Form der Gemütsbewegung oder des Aktes überein. Obwohl beides zwar die Mitte sucht, sucht dennoch das eingegossene Maßhalten sie unter anderer Hinsicht als das erworbene, denn das eingegossene Maßhalten sucht die Mitte entsprechend den Bestimmungen des göttlichen Gesetzes, die der Hinordnung auf das letzte Ziel entnommen werden. Das erworbene Maßhalten aber entnimmt die Mitte entsprechend den niederen Bestimmungen in Hinordnung auf das Gute im gegenwärtigen Leben. Zu 9. Das letzte Ziel verleiht im Sittlichen die Art nur dann, wenn vom nächsten Ziel ein notwendiges Verhältnis zum letzten Ziel besteht. Die Gegenstände nämlich, die auf ein Ziel hingeordnet sind, müssen auch diesem letzten Ziel entsprechen. Genau das erfordert auch die Gutheit des Rates, daß jemand – übereinstimmend mit der Mitte – das Ziel sucht, wie es Aristoteles im 6. Buch der Metaphysik darstellt.209 Zu 10. Der Akt eines Habitus, sofern er von diesem Habitus befohlen wird, empfängt freilich seine sittliche Art – formal gesprochen – vom Akt selbst. Daher ist dieser Akt, wenn jemand die Ehe bricht, um zu stehlen, material betrachtet Unbeherrschtheit, obwohl er formal betrachtet Habgier ist. Aber der Akt der Unbeherrschtheit empfängt irgendwie seine Art, sofern sie von der Habgier befohlen wird; dennoch ist die Art der Unbeherrschtheit als solche nicht dadurch bestimmt, daß der Akt von der Habgier befohlen worden ist. Dadurch also, daß die Akte des Maßhaltens oder der Tapferkeit von der Liebe befohlen werden, indem sie sie auf das letzte Ziel hinordnet, empfangen nämlich die Akte selbst formal eine Art, denn formal gesprochen, kommen Akte der heiligen Liebe zustande, obgleich daraus nicht folgt, daß das Maßhalten oder die Tapferkeit 209 Wohl gemeint: Aristoteles, Top. VI, 9; 147 a 16; Eth. Nic. III, 3; 1112

b 16.

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als solche ihre Art dadurch erhalten. Daher unterscheiden sich das eingegossene Maßhalten und die eingegossene Tapferkeit der Art nach von der erworbenen nicht darin, daß deren Akte von der heiligen Liebe befohlen werden, sondern daß deren Akte ihrem Wesen gemäß in der Mitte festgesetzt sind, sofern sie auf das letzte Ziel, das der Gegenstand der heiligen Liebe ist, hingeordnet werden können. Zu 11. Das Maßhalten ist dem zornmütigen Strebevermögen eingegossen. Das zornmütige und das begehrliche Strebevermögen aber nehmen die Bezeichnung ›Vernunft‹ oder ›Vernunftmäßiges‹ an, insofern sie irgendwie an der Vernunft teilhaben, indem sie ihr gehorchen. Jene nehmen also auf dieselbe Art und Weise die Bezeichnung ›Geist‹ an, wie sie dem Geist gehorchen. Es ist nämlich wahr, was Augustinus gesagt hat, daß die eingegossene Tugend die gute Beschaffenheit des Geistes ist.210 Zu 12. Das Laster des Menschen kommt dadurch zustande, daß er zu den niedrigen Dingen herabgezogen wird. Seine Tugend jedoch besteht darin, daß er sich zu den höheren Dingen erhebt. Deshalb kann es durch Eingießung kein Laster, sondern nur Tugend geben. Zu 13. Wenn etwas Passives dazu geschaffen ist, verschiedenen Vollkommenheiten von verschieden in einer Ordnung stehenden Tätigen gemäß der Verschiedenheit und der Ordnung der aktiven Vermögen bei diesen Tätigen zu folgen, gibt es auch eine Verschiedenheit und Ordnung der passiven Vermögen in jenem Passiven, weil auch das passive Vermögen dem aktiven entspricht. Beispielsweise ist es klar, daß Wasser oder Erde eine Kraft besitzen, der gemäß sie dazu geschaffen sind, vom Feuer, von einem Himmelskörper, und schließlich von Gott eine je andere Veränderung zu erfahren. Denn so wie aus Wasser oder Erde etwas durch die Kraft eines Himmelskörpers, aber nicht durch die Kraft des Feuers werden kann, so kann auch aus ihnen etwas durch die Kraft eines übernatürlich, aber nicht eines natürlichen Tätigen werden. Deshalb sagen wir, daß es in der gesamten Schöpfung eine Fähigkeit zum Gehorsam gibt, um in sich das aufzunehmen, was immer Gott will. 210 Vgl. Augustinus, De lib. arb. II, 19 (CCSL 29, 271); Retract. I, 9, 4 (CCSL 57, 25) u. a.; De virt. q. 1 a. 2.

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So gibt es auch in der Seele etwas der Potenz nach, das dazu geschaffen ist, um von einem Tätigen gleicher Natur in den Akt überführt zu werden; so sind die erworbenen Tugenden in ihr. Auf andere Weise gibt es in der Seele etwas der Potenz nach, das nur dazu geschaffen ist, um durch göttliche Kraft in den Akt überführt zu werden; so sind die eingegossenen Tugenden in der Seele. Zu 14. Die zum Übel neigenden Leidenschaften werden weder durch die erworbenen noch durch die eingegossenen Tugenden aufgehoben, es sei denn auf wunderbare Weise, weil immer ein Kampf des Fleisches gegen den Geist auch nach dem Erwerb oder Empfang der sittlichen Tugend zurückbleibt. Der Apostel spricht in Gal. 5, 17 davon, daß »das Fleisch gegen den Geist aufbegehrt, der Geist aber gegen das Fleisch«. Aber derartige Leidenschaften werden durch die Tugend – die erworbene wie die eingegossene – so verändert, daß der Mensch durch sie nicht zügellos bewegt wird. Aber in einer Hinsicht hat darin die erworbene Tugend den Vorrang, in anderer Hinsicht die eingegossene. Die erworbene Tugend hat den höheren Rang, sofern in Bezug auf den Gegenstand der Kampf weniger gefühlt wird. Dies hat seine Ursache, denn durch wiederholte Akte, durch die der Mensch sich die Tugend angeeignet hat, gewöhnt sich der Mensch schon ab, solchen Leidenschaften zu gehorchen, weil er sich daran gewöhnt hat, ihnen zu widerstehen. Daraus folgt, daß er deren Drängen211 weniger spürt. Die eingegossene Tugend aber hat den höheren Rang, sofern derartige Leidenschaften, obwohl sie gefühlt werden, dennoch in keiner Weise herrschen. Denn die eingegossene Tugend bewirkt, daß man in keiner Weise den Begierden der Sünde gehorcht, und während sie anwesend ist, bewirkt sie dies unfehlbar. Die erworbene Tugend aber hat darin – wenn auch in wenigen Fällen – , genauso wie auch die anderen natürlichen Neigungen, einen Mangel. Darum sagt der Apostel in Röm. 7, 5: »Als wir im Fleisch waren, wirkten die Leidenschaften der Sünden, welche durch das Gesetz geweckt waren, in unseren Gliedern, so daß sie für den Tod Frucht brachten. Jetzt aber sind wir vom Gesetz des Todes, in dem wir festgehalten wurden, befreit worden,

211 Übersetzung von molestias.

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so daß wir im neuen Wesen des Geistes dienen und nicht im alten Wesen des Buchstabens«. Zu 15. Weil die eingegossene Tugend anfangs nicht immer so wie die erworbene Tugend das Gefühl der Leidenschaften aufhebt, ist man unter ihrem Einfluß am Anfang nicht freudig tätig. Dennoch verstößt dies nicht gegen das Wesen der Tugend, weil es manchmal zur Tugend ausreicht, ohne Traurigkeit zu handeln. Es ist auch nicht erforderlich, daß man freudig handelt wegen des Drängens, das man fühlt, wie z. B. Aristoteles im 3. Buch der Ethik sagt, daß es dem Tapferen genügt, ohne Traurigkeit zu handeln.212 Zu 16. Durch einen einfachen Akt wird ein erworbener Habitus nicht zerstört. Dennoch gibt es den Akt der Reue, der kraft der Gnade den hervorgebrachten Habitus des Lasters zerstört. Deshalb bleibt bei dem, der den Habitus der Maßlosigkeit gehabt hat, wenn er bereut, nicht mit der eingegossenen Tugend des Maßhaltens der Habitus der Maßlosigkeit im Wesen des Habitus zurück, sondern auf dem Weg der Zerstörung nur eine gewisse Anlage. Die Anlage aber ist dem vollkommenen Habitus nicht entgegengesetzt. Zu 17. Obwohl die eingegossene Tugend nicht von Akten verursacht wird, können die Akte doch dazu veranlagen. Darum ist es nicht widersprüchlich, daß sie durch die Akte zerstört wird, weil durch das Ungeeignetsein der Materie die Form aufgehoben wird, genauso wie die Seele wegen der Schwäche des Körpers von diesem getrennt wird. Zu 18. Die sittliche Tugend wird nicht wegen der Sitte so genannt, d. h. sofern die Sitte nicht die Gewohnheit der strebenden Kraft bezeichnet. In diesem Sinn könnten nämlich auch die eingegossenen Tugenden sittlich genannt werden, obwohl sie nicht in der Gewöhnung begründet liegen. Zu 19. Die Akte der eingegossenen Tugend verursachen keinen Habitus; vielmehr wird durch sie der bereits bestehende Habitus verstärkt, weil auch durch die Akte der erworbenen Tugend kein Habitus erzeugt wird, sonst würden die Habitus ins Unendliche vermehrt werden.

212 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 2; 1104 b 7–9 und III, 12; 1117 a 29–32.

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11. Artik el Die elfte Frage lautet: Nimmt die eingegossene Tugend an Stärke zu? 213 Es scheint, daß es nicht so ist; denn: 1. Nur eine Quantität kann zunehmen. Die Tugend aber ist keine Quantität, sondern eine Qualität. Also nimmt sie nicht zu. 2. Die Tugend ist eine akzidentelle Form. Nun besteht aber die Form in einem unveränderlichen Wesen von höchster Einfachheit. Deshalb wird die Tugend ihrem Wesen nach weder verändert noch nimmt sie an Stärke zu. 3. Was an Stärke zunimmt, wird auch verändert. Was daher dem Wesen nach an Stärke zunimmt, wird auch dem Wesen nach verändert. Was jedoch seinem Wesen nach verändert wird, vergeht oder entsteht. Entstehen und Vergehen aber sind Veränderungen in der Substanz. Deshalb nimmt die heilige Liebe nicht durch das Wesen an Stärke zu, es sei denn sie vergeht oder entsteht. 4. Das zum Wesen Gehörige nimmt weder zu noch wird es vermindert. Es steht aber fest, daß das Wesen der Tugend wesentlich ist. Deshalb nimmt die Tugend dem Wesen nach nicht an Stärke zu. 5. Gegensätze entstehen durch ihren Bezug auf dasselbe. Vergrößerung und Verminderung sind nun aber Gegensätze. Sie entstehen also durch ihren Bezug auf denselben Träger. Die eingegossene Tugend aber wird nicht vermindert, weil sie weder durch einen Akt der Tugend gemindert wird – denn durch ihn wird sie eher verstärkt –, noch durch den Akt der läßlichen Sünde, weil sonst viele läßliche Sünden die heilige Liebe und die anderen eingegossenen Tugenden ganz vernichten würden; das aber ist unmöglich, weil sonst viele läßliche Sünden einer Todsünde gleichkämen. Sie wird aber auch nicht durch die Todsünde vermindert, weil die Todsünde die heilige Liebe und die anderen eingegossenen Tugenden aufhebt. Deshalb nimmt die eingegossene Tugend nicht an Stärke zu. 6. Ähnliches wird durch Ähnliches vergrößert,214 wie es im 2. Buch von Über die Seele heißt. Wenn also die eingegossene Tu213 Paralleltexte: Sent. I, d. 2; Sum. theol. I–II, q. 52; Sum. theol. I–II q. 61 a. 1; Sum. theol. I–II q. 62 a. 4 ad 3; Sum theol. II–II q. 24 a. 4–7. 214 Vgl. Aristoteles, De an. II, 4; 415 b 24–28.

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gend an Stärke zunimmt, ist es notwendig, daß dies durch eine Hinzufügung der Tugend geschieht. Das aber kann nicht sein, weil die Tugend einfach ist. Wenn Einfaches aber einem Einfachen hinzugefügt wird, wird es dadurch nicht mehr; genauso wie ein dem Punkt hinzugefügter Punkt die Linie nicht verlängert. Die eingegossene Tugend kann also nicht an Stärke zunehmen. 7. Im 1. Buch von Über Werden und Vergehen heißt es, daß die Vergrößerung eine Hinzufügung zu vorher bestehenden Größen ist.215 Wenn deshalb die Tugend an Stärke zunimmt, ist es notwendig, daß ihr etwas hinzugefügt wird; und so ist sie eher zusammengesetzt und dadurch entfernter von der Ähnlichkeit zu Gott; folglich ist sie weniger gut. Das aber ist widersprüchlich. Deshalb ergibt sich, daß die Tugend nicht an Stärke zunimmt. 8. Es verändert sich alles, was vergrößert wird. Alles, was verändert wird, ist ein Körper. Die Tugend ist aber kein Körper. Deshalb nimmt sie nicht zu. 9. Dasjenige, dessen Ursache unveränderlich ist, ist auch selbst unveränderlich. Die Ursache der eingegossenen Tugend, nämlich Gott, ist unveränderlich. Deshalb ist auch die eingegossene Tugend unveränderlich. Sie nimmt darum nicht mehr oder weniger auf und nimmt nicht an Stärke zu. 10. Die Tugend gehört genauso wie das Wissen zur Gattung des Habitus. Wenn also die Tugend vergrößert wird, muß sie wie die Wissenschaft vergrößert werden. Die Wissenschaft aber wird durch Vervielfältigung der Gegenstände vergrößert, sofern sie sich nämlich auf mehrere Dinge bezieht. So aber wird die Tugend, wie es scheint, in der heiligen Liebe nicht vergrößert, denn selbst die geringste heilige Liebe richtet sich auf alles, was man der heiligen Liebe gemäß lieben kann. Deshalb wird die Tugend überhaupt nicht vergrößert. 11. Wenn die Tugend an Stärke zunimmt, ist es notwendig, daß deren Zunahme auf eine bestimmte Art der Veränderung zurückgeführt wird. Sie kann aber nur auf eine Veränderung in der Qualität zurückgeführt werden.216 Die Veränderung aber gibt es nach Ari215 Vgl. Aristoteles, De gen. et corr. I, 5; 320 b 30. 216 Vgl. Aristoteles, Cat. 14; 15 b 11.

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stoteles im 7. Buch der Physik nicht in der Seele, es sei denn gemäß dem sinnenhaften Seelenteil;217 in ihm gibt es keine heilige Liebe und keine anderen eingegossenen Tugenden. Deshalb nimmt nicht jede eingegossene Tugend an Stärke zu. 12. Wenn eine eingegossene Tugend stärker wird, muß sie durch Gott, der sie verursacht, stärker werden. Wenn Gott sie aber stärker werden läßt, muß dies durch einen anderen Einfluß seinerseits auf sie geschehen. Dieser neue Einfluß kann aber nur eine neue eingegossene Tugend sein. Deshalb kann die eingegossene Tugend nur durch Hinzufügung einer neuen Tugend stärker werden. So aber kann sie gerade nicht stärker werden, wie oben gezeigt worden ist. Deshalb wird die eingegossene Tugend überhaupt nicht stärker. 13. Die Habitus werden am meisten durch die Akte stärker. Wenn also die Tugend ein Habitus ist und stärker wird, nimmt sie am meisten durch ihren Akt zu. Das aber kann nicht sein, wie es scheint, weil der Akt vom Habitus ausgeht. Nichts aber wird dadurch stärker, daß etwas von ihm ausgeht, sondern nur dadurch, daß etwas in es aufgenommen wird. Darum wird die Tugend in keiner Weise stärker. 14. Alle Akte einer Tugend gehören zum selben Begriff. Wenn daher eine Tugend durch ihren Akt an Stärke zunimmt, muß sie durch jeden Akt stärker werden. Dies scheint, wie die Erfahrung zeigt, falsch zu sein, denn wir erleben nicht, daß die Tugend in jedem Akt wächst. 15. Die Dinge, deren Wesen im Unüberbietbaren besteht, können nicht an Stärke zunehmen, denn nichts ist besser als das Beste, und nichts weißer als das Weißeste. Das Wesen der Tugend besteht aber im Unüberbietbaren, denn die Tugend ist das Äußerste des Vermögens.218 Deshalb kann die Tugend nicht stärker werden. 16. All dem, dessen Wesen in etwas Unteilbarem besteht, fehlt Steigerung und Nachlassen, wie z. B. der substantiellen Form, der Zahl und der Figur. Das Wesen der Tugend besteht nun aber in einem Unteilbaren, denn es kommt als Mitte zustande. Deshalb kommt es bei der Tugend weder zu Steigerung, noch läßt sie nach. 217 Vgl. Aristoteles, Phys. VII, 3; 245 b 3–6. 218 Vgl. Aristoteles, De caelo I, 11; 281 a 15.

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17. Nichts Unendliches kann stärker werden, weil nichts im höheren Maße sein kann als das Unendliche. Die eingegossene Tugend aber ist unendlich, weil der Mensch sich durch sie ein unendliches Gutes verdient, nämlich Gott. Deshalb kann die eingegossene Tugend nicht stärker werden. 18. Keine Sache überschreitet ihre eigene Vollkommenheit, weil die Vollkommenheit das Ziel der Sache ist. Die Tugend aber ist die Vollkommenheit dessen, der sie besitzt, denn im 7. Buch der Physik wird gesagt, daß die Tugend die Disposition des Vollkommenen auf das Beste hin ist.219 Deshalb nimmt die Tugend nicht an Stärke zu. Dagegen spricht: 1. In 1 Petr. 2, 2 heißt es: »Wie neugeborene Kinder verlangt nach der geistigen und unverfälschten Milch, damit ihr durch sie heranwachst zum Heil«. Niemand wächst jedoch auf dem Weg zum Heil, außer durch Erstarken in der Tugend, durch die nämlich der Mensch auf das Heil hingeordnet ist. Darum nimmt die Tugend an Stärke zu. 2. Augustinus sagt, daß die heilige Liebe in der Weise stärker wird, daß das Erworbene verdienstvoll ist, und wir vollendet werden.220 Antwort: Viele unterliegen hinsichtlich der Formen aus dem Grunde einem Irrtum, weil sie über diese genauso urteilen wie man über Substanzen urteilt. Das scheint wohl deshalb der Fall zu sein, weil die Formen nach der Weise der Substanzen abstrakt bezeichnet werden, wie das Weißsein oder die Tugend oder etwas derartiges. Sie folgen also der Sprechweise und urteilen über die Formen so, als wären sie Substanzen. Daraus geht sowohl der Irrtum derer hervor, die die Verborgenheit der Formen behauptet haben, als auch derer, die davon ausgegangen sind, daß die Formen durch Schöpfung sind, denn ihrer Auffassung nach gehört das Werden ebenso zu den Formen wie es zu den Substanzen gehört. Da sie nichts finden, woraus die Formen 219 Vgl. Aristoteles, Phys. VII, 2; 246 a 15–246 b 2. 220 Vgl. Augustinus, In Joh. ev. 74, 2 (CCSL 36, 513).

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entstehen, behaupten sie, daß sie entweder geschaffen werden oder in der Materie vorweg existieren, nicht darauf achtend, daß – genauso wie das Sein nicht zur Form gehört, sondern durch die Form zum Träger – auch das Werden, das auf das Sein ausgerichtet ist, nicht zur Form gehört, sondern zum Träger. Denn so wie die Form ein Seiendes genannt wird, nicht weil sie – im eigentlichen Sinn gesprochen – ist, sondern weil etwas durch sie ist, so wird auch von der Form gesagt, daß sie wird, und dies nicht weil sie selbst wird, vielmehr weil durch sie etwas wird, sofern nämlich der Träger von der Potenz in den Akt überführt wird. In diesem Sinne aber trifft es auf die Zunahme der Qualitäten zu. Davon haben einige gesprochen als wären die Qualitäten und Formen Substanzen. Von einer Zunahme der Substanz wird jedoch nur gesprochen, sofern sie der Träger der Veränderung ist, durch die man von der geringeren zur höheren Qualität gelangt; diese Veränderung wird Zunahme genannt. Sofern eine Vergrößerung der Substanz durch die Hinzufügung einer Substanz zu einer anderen geschieht, haben einige vermutet, daß auf diese Weise die heilige Liebe oder irgendeine eingegossene Tugend durch Hinzufügung der heiligen Liebe zur heiligen Liebe oder der Tugend zur Tugend oder des Weißseins zum Weißsein, vergrößert wird. Das kann jedoch in keiner Weise richtig sein. Die Hinzufügung des einen zum anderen kann nämlich nur verstanden werden, wenn man schon eine Zweiheit gedacht hat. Die Zweiheit in den Formen einer Art kann jedoch nur durch die Andersheit dem Träger gegenüber verstanden werden, denn die Formen einer Art werden nicht der Zahl nach unterschieden, sondern durch den Träger. Wenn daher die Qualität der Qualität hinzugefügt wird, muß eine von beiden existieren, entweder so, daß der Träger dem Träger hinzugefügt wird, wie zum Beispiel, daß man das eine weißes Ding zum anderen weißen Ding hinzufügt, oder so, daß etwas im Träger weiß wird, was vorher nicht weiß gewesen ist, wie einige es für die körperlichen Qualitäten behauptet haben;221 das widerlegt Aristoteles im 4. Buch der Physik. Wenn nämlich etwas stärker gekrümmt wird, wird nicht etwas gekrümmt, das 221 Vgl. Aristoteles, Phys. VIII, 8; 264 b 1–9.

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früher nicht gekrümmt gewesen ist, sondern das Ganze wird mehr gekrümmt. Hinsichtlich der geistigen Qualitäten, deren Träger die Seele oder ein Teil der Seele ist, ist es unmöglich, sich das vorzustellen. Daher haben einige andere zwar gesagt, daß die heilige Liebe und die anderen eingegossenen Tugenden nicht dem Wesen nach zunehmen, sondern nur sofern sie stärker im Träger verwurzelt, oder leidenschaftlicher bzw. intensiver tätig sind. Aber das Gesagte hätte nur Sinn, wenn die heilige Liebe eine Art Substanz wäre, das nämlich Sein durch sich hat, ohne jedoch Substanz zu sein. Darum meint auch Petrus Lombardus, daß die heilige Liebe eine Substanz ist, nämlich der heilige Geist;222 diese Weise der Zunahme behauptet zu haben, scheint nicht unvernünftig zu sein. Die anderen aber, die meinen, daß die heilige Liebe eine Qualität ist, haben völlig unvernünftig gesprochen, denn nichts anderes ist es, eine Qualität erstarken zu lassen, als daß ein Träger in höherem Maße an einer Qualität teilhat; es gibt nämlich ein Sein der Qualität nur im Träger. Dadurch aber, daß der Träger in höherem Maße an der Qualität partizipiert, ist er intensiver tätig, denn jedes einzelne Ding ist tätig, sofern es wirklich ist; darum ist das vollkommener tätig, was mehr in den Akt überführt ist. Daher zu behaupten, daß eine Qualität nicht ihrem Wesen nach an Stärke zunimmt, sondern gemäß ihrer Verwurzelung im Träger oder gemäß der Ausrichtung des Aktes, heißt zu behaupten, daß Widersprüchliches gleichzeitig besteht. Darum bleibt zu fragen, auf welche Weise man davon spricht, daß Qualitäten und Formen an Stärke zunehmen, und welche es sind, die an Stärke zunehmen können. Man muß also wissen, daß die sprachlichen Äußerungen Symbole223 für die verstandenen Gegenstände sind,224 wie im 1. Buch von Perihermeneias gesagt wird; genauso wie wir nämlich das weniger 222 Vgl. Petrus Lombardus, Sent. I, 17, 1, 2 (ed. Coll. S. Bon. 1, 142) und ebd. I, 17, 3 (ed. Coll. S. Bon. 1, 144). 223 Übersetzung von nomina sint signa in Anlehnung an Aristoteles, Peri hermeneias, übersetzt und erläutert von Hermann Weidemann, Berlin 1994, 3. 224 Vgl. Aristoteles, De interpr. 1; 16 a 3.

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Bekannte durch das Bekanntere erkennen, so benennen wir auch das weniger Bekannte nach dem Bekannten. Daher wird, weil die örtliche Bewegung die bekanntere unter allen Bewegungen ist, aus dem Gegensatz hinsichtlich eines Ortes die Bezeichnung Distanz für alle Entgegengesetzten, zwischen denen irgendeine Bewegung sein kann, abgeleitet,225 wie Aristoteles im 10. Buch der Metaphysik sagt. In ähnlicher Weise gilt: Weil die Bewegung der Substanz gemäß der Quantität sinnenfälliger ist als die Bewegung ihrer qualitativen Veränderung, folgt daraus, daß die Bezeichnungen für die Veränderung in Übereinstimmung mit der Bewegung gemäß der Quantität abgeleitet werden. Daher kommt es, daß beim Körper, der zur vollkommenen Quantität bewegt wird, vom Sich-vergrößern gesprochen wird, und die vollkommene Quantität selbst im Vergleich zur unvollkommenen ›groß‹ genannt wird. So wird das, was von einer unvollkommenen Qualität zu einer vollkommenen bewegt wird, der Qualität nach ›zunehmen‹ und die vollkommene Qualität selbst – im Vergleich zur unvollkommenen – ›stark‹ 226 genannt. Weil die Vollkommenheit jedes einzelnen Dinges dessen Gutheit ist, sagt Augustinus daher, daß »bei den Dingen, die nicht der Masse nach groß sind, größer und besser zu sein, dasselbe ist«.227 Von einer unvollkommenen Form zu einer vollkommenen hin verändert zu werden, ist nichts anderes, als daß ein Träger in höherem Maße in seinen Akt überführt wird, denn die Form ist der Akt. Daß daher ein Träger sich mehr dieser seiner Form bemächtigt, ist nichts anderes als daß er mehr in den Akt jener Form überführt wird. Genauso wie durch den Tätigen etwas von der reinen Potenz in den Akt der Form überführt wird, so wird auch etwas durch die Tätigkeit des Tätigen vom unvollkommenen in den vollkommenen Akt überführt.

225 Vgl. Aristoteles, Met. X, 1; 1052 b 18–20 und Phys. VIII, 7; 260 a

26–29. 226 Hier die Übersetzung von magnus. 227 Augustinus, De trin. VI, 8, 9 (CCSL 50, 238).

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Dies trifft aus zwei Gründen jedoch nicht für alle Formen zu: Erstens nämlich wegen des Charakters der Form: Das nämlich, was den Charakter der Form zuletzt ausmacht, ist etwas Unteilbares, z. B. die Zahl, denn die hinzugefügte Einheit bestimmt die Art. Daher werden zwei und drei nicht gemäß mehr und weniger benannt; folglich wird mehr und weniger weder bei Quantitäten gefunden, die nach den Zahlen benannt werden, wie z. B. zwei Ellen oder drei Ellen, noch bei Figuren, wie z. B. Dreieck und Quadrat, noch bei Proportionen, wie z. B. zweifach und dreifach. Zweitens wegen des Verhältnisses der Form zum Träger, weil sie ihm auf unteilbare Weise inhäriert. Deswegen nimmt die substantielle Form nicht das Stärkerwerden und das Nachlassen auf, weil sie das substantiale Sein verleiht, und zwar nur auf eine Weise, denn wo ein anderes substantiales Sein ist, ist ein anderes Ding. Darum vergleicht Aristoteles im 8. Buch der Metaphysik die Wesensbestimmungen mit Zahlen.228 Daraus ergibt sich auch, daß nichts, was vom anderen auf substantielle Weise ausgesagt wird, auch wenn es sich um die Gattung des Akzidens handelt, mehr und weniger ausgesagt wird, denn das Weißsein wird nicht mehr oder weniger eine Farbe genannt. Deshalb werden auch die Qualitäten abstrakt bezeichnet, weil sie nach der Weise der Substanz bezeichnet werden. Sie werden weder stärker noch lassen sie nach, denn nicht das Weißsein wird mehr oder weniger ausgesagt, sondern das Ding, das weiß ist. Keine dieser Ursachen gibt es in der heiligen Liebe und in den anderen eingegossenen Tugenden, weswegen sie weder stärker werden noch nachlassen. Denn deren Wesen besteht weder in der Unteilbarkeit, wie das Wesen der Zahl, noch geben sie dem Träger das substantiale Sein, wie die substantiellen Formen. Daher werden sie nur stärker und lassen nach, sofern der Träger in ihren Akt durch die Tätigkeit des sie verursachenden Tätigen überführt wird. Darum nehmen die erworbenen Tugenden genauso durch die sie verursachenden Akte zu wie die eingegossenen Tugenden durch die Tätigkeit Gottes, von der sie verursacht werden. Unsere Akte aber verhalten sich disponierend zum Erstarken der heiligen Liebe und der eingegossenen Tugenden, aber genauso auch 228 Vgl. Aristoteles, Met. VIII, 3; 1044 a 9–11.

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zu jener heiligen Liebe, die jedem von Anfang an in der Gestalt des Gewissens innewohnt. Der Mensch nämlich, der tut, was in ihm ist, macht sich dazu bereit, daß er von Gott die heilige Liebe empfängt. Darüber hinaus aber können unsere Akte im Hinblick auf die Erstarkung der heiligen Liebe verdienstvoll sein, weil sie die Liebe voraussetzen, die das Prinzip des Verdienens ist. Aber keiner kann sich verdienen, daß er von Anfang an die heilige Liebe besitzt, weil das Verdienst ohne die heilige Liebe nicht sein kann. In diesem Sinne sagen wir darum, daß die heilige Liebe durch Stärkerwerden zunimmt. Zu 1. Genauso wie man bei der heiligen Liebe und den anderen Qualitäten von Vergrößerung in analogem Sinne spricht, so auch von Quantität, wie aus dem in der Antwort Gesagten hervorgeht. Zu 2. Die Form ist unveränderlich, weil sie nicht Träger einer Veränderung ist. Dennoch kann man sie veränderlich nennen: Sofern nämlich der Träger im Hinblick auf sie verändert wird, hat sie mehr oder weniger an ihm teil. Zu 3. Die Veränderung einer Sache gemäß ihrem Wesen kann in zweifacher Weise verstanden werden. Auf die eine Weise in Hinsicht darauf, daß es ihr eigen ist, nämlich als wesentliches Sein oder als Nichtsein, und so gibt es die Veränderung dem Wesen nach nur als Veränderung gemäß dem Sein oder dem Nichtsein; darin besteht Werden und Vergehen. Auf die andere Weise kann die Veränderung dem Wesen nach verstanden werden, wenn die Veränderung eines Dinges ihrem Wesen folgt; so wie wir sagen, daß ein Körper wesentlich verändert wird, wenn er hinsichtlich des Ortes verändert wird, weil der Träger von einem Ort zu einem anderen gebracht wird. Genauso wird auch von einer Qualität ausgesagt, daß sie auf ihre Weise wesentlich verändert wird, sofern sie entweder hinsichtlich des Vollkommenen bzw. des Unvollkommenen oder eher umgekehrt der Träger ihr entsprechend verändert wird, wie es aus dem in der Antwort Gesagten klar ist. Zu 4. Das, was wesentlich von der heiligen Liebe ausgesagt wird, wird von ihr nicht im Sinne des Mehr oder Weniger ausgesagt. Man nennt sie nämlich nicht mehr oder weniger ein Tugend. Vielmehr wird die größere heilige Liebe wegen der Weise der Bezeichnung in größerem Maße eine Tugend genannt, denn sie wird wie eine Sub-

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stanz bezeichnet. Weil sie jedoch nicht wesentlich von ihrem Träger ausgesagt wird, empfängt der Träger im Hinblick auf sie ein Mehr und Weniger, wie man sagt: ein Träger hat mehr oder weniger heilige Liebe, und was mehr heilige Liebe hat, ist auch tugendhafter. Zu 5. Die heilige Liebe wird nicht vermindert, weil sie keine Ursache der Verminderung hat,229 wie Ambrosius beweist; sie hat aber eine Ursache der Zunahme ihrer Stärke, nämlich Gott. Zu 6. Die Vergrößerung, die durch Hinzufügung geschieht, ist die Vergrößerung der Substanz als einer Größe. In dieser Weise aber nimmt die heilige Liebe nicht an Stärke zu, wie in der Antwort gesagt worden ist. Zu 7. Dadurch ist auch die Lösung für den siebten Einwand klar. Zu 8. Von der heiligen Liebe wird nicht deshalb gesagt, daß sie an Stärke zunimmt oder überhaupt verändert wird, weil sie selbst der Träger der Veränderung ist, sondern weil ihr Träger im Hinblick auf sie verändert wird oder an Stärke zunimmt. Zu 9. Obwohl Gott unveränderlich ist, verändert er dennoch die Dinge, ohne sich selbst zu verändern, denn es ist nicht notwendig, daß jedes Bewegende von einem anderen bewegt wird,230 wie es im 8. Buch der Physik heißt. Dies trifft besonders auf Gott zu, weil er nicht durch die Notwendigkeit der Natur handelt, sondern durch den Willen. Zu 10. Allen Qualitäten und Formen ist der bereits genannte Begriff der Größe gemeinsam, der nämlich deren Vollkommenheit im Träger aussagt. Dennoch haben Qualitäten außer dieser Größe oder Quantität, die ihnen an sich zukommt, eine andere Größe oder Quantität, die ihnen akzidentell eigen ist, und zwar in zweifacher Weise. Auf die eine Weise hinsichtlich des Trägers, wie beispielsweise das Weißsein akzidentell quantitativ genannt wird, weil ihr Träger ausgedehnt ist. Deshalb wird durch einen vergrößerten Träger das Weißsein akzidentell vergrößert. Aber entsprechend dieser Vergrößerung wird etwas nicht als weißer ausgesagt, sondern als größeres Weißsein, oder wie man auch sagt, daß ein größerer Teil von etwas 229 Vgl. Sum. theol. II–II, q. 24 a. 1 c. 230 Vgl. Aristoteles, Phys. VIII, 5; 256 b 19 f.

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weiß ist. Die Teile nämlich, die zu dieser Vergrößerung gehören, werden nicht anders als weiß bezeichnet und aufgrund des Trägers dieses Weißseins wird von einem akzidentellen Vergrößertwerden gesprochen. Aber diese Art und Weise der Quantität und der Vergrößerung kommt den Qualitäten der Seele, d. h. den Wissenschaften und Tugenden, nicht zu. Auf die andere Weise werden Quantität und Vergrößerung einer Qualität aufgrund des Gegenstandes, mit Bezug worauf sie tätig ist, akzidentell zugeordnet, und das wird die Quantität der Tugend genannt, die wegen der Quantität oder dem Inhalt des Gegenstandes als ›mehr‹ bezeichnet wird. So wie man von einer großen Kraft spricht, die ein großes Gewicht tragen oder irgendwie ein großes Ding hervorbringen kann, sei es durch eine abgemessene Größe, durch eine Größe der Vollkommenheit oder gemäß einer gesonderten Quantität, wie man es z. B. von jemand mit großer Kraft, der viel machen kann, sagt. Auf diese Weise kann die Quantität akzidentell den Qualitäten der Seele zugeordnet werden, d. h. den Wissenschaften und den Tugenden. Dennoch aber besteht zwischen Wissenschaft und Tugend folgender Unterschied: Es gehört nicht zum Begriff einer Wissenschaft, daß er sich auf den Akt hinsichtlich aller Gegenstände bezieht, denn es ist nicht notwendig, daß der Wissende alles Wissbare erkennt. Aber zum Begriff der Tugend gehört, sich in allem tugendhaft zu verhalten. Daher kann das Wissen entweder der Zahl der Gegenstände nach oder gemäß ihrer Ausrichtung im Träger vergrößert werden; die Tugend jedoch nur auf eine Weise. Es ist aber zu bedenken, daß es derselbe Grund ist, warum die Qualität einer Sache Großes vermag, und warum sie selbst groß ist, wie es aus dem oben Gesagten hervorgeht. Deswegen kann die Größe der Vollkommenheit auch die Größe der Tugend genannt werden. Zu 11. Die Bewegung der Zunahme der heiligen Liebe wird auf eine Veränderung zurückgeführt, nicht sofern sie eine Veränderung zwischen Gegensätzen ist, wie es nur bei den sinnenhaften Dingen und im sinnenhaften Teil der Seele der Fall ist, sondern sofern man die Veränderung und das Erleiden gemäß dem Empfangen und der Vollkommenheit bezeichnet; so ist z. B. das sinnenhafte Wahrnehmen und das Verstehen in gewisser Weise ein Erleiden und ein Ver-

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ändertwerden. Auf diese Weise unterscheidet Aristoteles die Veränderung und das Erleiden231 im 2. Buch von Über die Seele. Zu 12. Gott läßt die heilige Liebe nicht durch Eingießen einer neuen heiligen Liebe stärker werden, sondern, indem er die, die vorhanden ist, vervollkommnet. Zu 13. So wie der vom Tätigen hervorgehende Akt eine erworbene Tugend durch Einwirkung der aktiven Kräfte auf die passiven verursachen kann, wie oben gesagt worden ist,232 so kann man sie auch stärker werden lassen. Zu 14. Die heilige Liebe und die anderen eingegossenen Tugenden erstarken nicht aktiv durch die Akte, sondern, wie gesagt,233 nur im Sinne der Hinordnung auf sie und dem Verdienst nach. Dennoch muß nicht jeder vollkommene Akt der vollen Kraft der Tugend entsprechen, denn es ist nicht notwendig, daß derjenige, der die heilige Liebe hat, immer der Fülle der heiligen Liebe entsprechend handeln kann, denn der Gebrauch der Habitus ist dem Willen unterworfen. Zu 15. Das Wesen der Tugend besteht nicht in einem Stärkerwerden im Verhältnis zu sich selbst, sondern im Verhältnis zu ihrem Gegenstand, weil durch die Tugend der Mensch auf das Äußerste des Vermögens hingeordnet ist, welches das gute Handeln ist. Deshalb sagt Aristoteles im 7. Buch der Physik, daß die Tugend die Hinordnung des Vollkommenen auf das Beste ist.234 Dennoch kann jemand für dieses Beste mehr oder weniger disponiert sein; deswegen empfängt er mehr oder weniger Tugend. Man kann aber auch sagen, daß das Äußerste nicht schlechthin ausgesagt wird, sondern als das Äußerste der Art nach, wie beispielsweise das Feuer der Art nach der Feinste unter den Körpern ist, und der Mensch das würdigste der Geschöpfe ist. Dennoch ist der eine Mensch würdiger als der andere. Zu 16. Das Wesen der Tugend besteht nicht darin, als solches unteilbar zu sein, sondern nur hinsichtlich seines Trägers, sofern er die Mitte sucht. Zu diesem zu Suchenden kann sich jemand in unterschiedlicher Weise verhalten, entweder schlechter oder besser. Den231 232 233 234

Vgl. Aristoteles, De an. II, 5; 417 b 2–7. Im Korpus des Artikels. Ebd. Vgl. Aristoteles, Phys. VII, 3; 246 a 15–246 b 2.

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noch ist die Mitte selbst nicht völlig unteilbar, denn sie hat einen gewissen Spielraum: 235 Es reicht nämlich für die Tugend aus, daß sie sich der Mitte nähert,236 wie im 2. Buch der Ethik gesagt wird. Deswegen wird ein Akt tugendhafter als der andere genannt. Zu 17. Die Tugend der heiligen Liebe ist von seiten Gottes oder des Zieles unendlich. Aber auf jenes Unendliche hin ist die heilige Liebe auf endliche Weise hingeordnet. Deshalb kann sie mehr oder weniger sein. Zu 18. Nicht jedes Vollkommene ist das Vollkommenste, sondern nur jenes, das sich im höchsten Grad der Wirklichkeit befindet. Daher hindert nichts daran, daß es einen in der Tugend Vollkommenen gibt, der immer noch vollkommener werden kann.

12. Artik el Die zwölfte Frage lautet: Über die Unterscheidung der Tugenden.237 Es scheint, daß Tugenden nicht zu Recht unterschieden werden; denn: 1. Das Sittliche empfängt die Artbestimmung durch das Ziel. Wenn daher Tugenden der Art nach unterschieden werden, muß dies durch das Ziel geschehen, jedoch nicht durch das nächste Ziel, weil es sonst der Art nach unendlich viele Tugenden gäbe, sondern durch das letzte Ziel. Aber das letzte Ziel der Tugenden ist nur eines, nämlich Gott bzw. die Glückseligkeit. Also gibt es nur eine Tugend. 2. Man gelangt zu dem einen Ziel nur durch eine bestimmte Tätigkeit. Eine bestimmte Tätigkeit aber stammt aus einer Form. Also ist der Mensch zu dem einen Ziel durch die eine Form hingeordnet. Das Ziel des Menschen aber ist eines, nämlich die Glückseligkeit. Also ist auch die Tugend, welche die Form ist, durch die der Mensch zur Glückseligkeit hingeordnet ist, nur eine. 235 Übersetzung von aliquam latitudinem; vgl. dazu auch De virt. q. 1 a. 13 ad 18. 236 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 5; 1106 b 28. 237 Paralleltexte: Sent. III, d. 23 q. 1 a. 4 und 5; Sent. III, d. 33 q. 1 a. 1; De malo q. 4 a. 5 ad 4; Sum. theol. I–II, qq. 52, 57–60 und 62.

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3. Die Anzahl der Formen und Akzidentien kommt entsprechend der Materie oder dem Träger zustande. Der Träger der Tugend aber ist die Seele oder ein Vermögen der Seele. Also scheint es, daß die Tugend nur eine ist, weil die Seele eine ist, oder wenigstens daß die Tugenden nicht die Anzahl der Seelenvermögen übersteigen. 4. Die Habitus werden genauso wie auch die Vermögen durch die Gegenstände unterschieden. Wenn also die Tugenden Habitus sind, scheint es, daß sie der Grund der Unterscheidung der Tugenden und der Vermögen der Seele sind. Darum übersteigen die Tugenden nicht die Anzahl der Seelenvermögen. 5. Es wurde folgendes eingewandt: Die Habitus werden durch die Akte und nicht durch die Vermögen unterschieden. – Dagegen aber steht, daß das vom Prinzip Abgeleitete gemäß dem Prinzip unterschieden wird und nicht umgekehrt, weil die Dinge Sein und Einheit vom selben Prinzip haben. Die Habitus aber sind die Prinzipien der Akte. Also werden eher Akte, die von den Habitus abgeleitet sind, unterschieden als umgekehrt. 6. Die Tugend ist dafür notwendig, daß der Mensch zu dem hingeneigt ist, was der Tugend natürlicherweise eigen ist. Die Tugend nämlich ist, wie Cicero sagt, derjenige Habitus, der natürlicherweise mit der Vernunft übereinstimmt.238 Zu dem, worauf das Vermögen selbst sich auf natürliche Weise hinneigt, bedarf der Mensch also keiner Tugend. Der Wille des Menschen jedoch ist auf natürliche Weise zum letzten Ziel hingeneigt. Darum bedarf der Mensch hinsichtlich des letzten Zieles keines Habitus der Tugend. Deswegen behaupten auch die Philosophen nicht, daß es Tugenden gibt, deren Gegenstand die Glückseligkeit ist. Also dürfen wir auch keine theologischen Tugenden annehmen, deren Gegenstand Gott als das letzte Ziel ist. 7. Die Tugend ist eine Hinordnung des Vollkommenen auf das Beste.239 Der Glaube und die Hoffnung verursachen jedoch eine gewisse Unvollkommenheit, denn der Glaube bezieht sich auf das, was man nicht sieht und die Hoffnung auf das, was man nicht besitzt.240 238 Cicero, De inv. II, 53, 159 (ed. Nüßlein, 320 f.). 239 Vgl. Aristoteles, Phys. VII, 3; 246 a 15–246 b 2. 240 Vgl. Hebr. 11, 1.

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Deswegen heißt es in 1 Kor. 13, 10: »Wenn aber das Vollendete kommt, dann wird das Stückwerk abgetan«. Glaube und Hoffnung müssen also nicht zu den Tugenden gerechnet werden. 8. Auf Gott kann jemand nur durch den Verstand und das Gemüt hingeordnet sein. Der Glaube aber ordnet den Verstand des Menschen und die heilige Liebe das Gemüt in ausreichender Weise auf Gott hin. Also muß außer dem Glauben und der heiligen Liebe nicht auch noch die Hoffnung als theologische Tugend angenommen werden. 9. Das, was allgemein für jede Tugend gilt, muß nicht auch noch als besondere Tugend angenommen werden. Die heilige Liebe jedoch scheint allen Tugenden gemeinsam zu sein, denn, wie Augustinus im Buch Über die Sitten der Kirche sagt, ist »die Tugend« nichts anderes ist als »die Ordnung der Liebe«.241 Die heilige Liebe selbst wird sogar die Form aller Tugenden genannt. Also muß sie nicht als eine besondere Tugend unter den theologischen angenommen werden. 10. In Gott wird nicht nur die Wahrheit, auf die sich der Glaube, oder die Erhabenheit, auf die die Hoffnung, oder die Güte, auf die sich die heilige Liebe bezieht, betrachtet. Vielmehr gibt es viele andere Eigenschaften, die Gott zukommen, wie die Weisheit, die Macht und anderes. Es scheint also, daß es entweder nur eine theologische Tugend gibt, weil all jene in Gott eins sind, oder weil es so viele theologische Tugenden gibt, wie Eigenschaften, die Gott zukommen. 11. Die theologische Tugend ist diejenige, deren Akt unmittelbar auf Gott hingeordnet ist. Aber viele andere Tugenden sind so beschaffen, wie die Weisheit, die Gott betrachtet, die Furcht, die vor ihm zurückschreckt, und die Frömmigkeit, die ihm die Ehre gibt. Also gibt es nicht nur drei theologische Tugenden. 12. Das Ziel ist der Grund der Dinge, die auf das Ziel gerichtet sind. Daher scheint es bei den Habitus als theologische Tugenden, durch die der Mensch in rechter Weise auf Gott hingeordnet wird, überflüssig zu sein, andere Tugenden anzunehmen. 13. Die Tugend ist auf das Gute hingeordnet, denn es ist »die Tugend, die den, der sie besitzt, gut macht und sein Werk gut macht«.242 241 Augustinus, De civ. Dei XV, 22 (CCSL 48, 488). 242 Aristoteles, Eth. Nic. II, 5; 1106 a 17.

12. Artikel

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Das Gute aber ist nur im Willen und im strebenden Teil. So scheint es, daß es keine Verstandestugenden gibt. 14. Die Klugheit ist eine Verstandestugend. Sie wird aber unter die sittlichen Tugenden gezählt. Also scheint es keinen Unterschied zwischen den sittlichen und den verstandesmäßigen Tugenden zu geben. 15. Die Wissenschaft der Ethik behandelt nur das Sittliche. Sie handelt aber von den Verstandestugenden. Also sind die Verstandestugenden ebenfalls sittliche. 16. Das, was in der Definition einer Sache gesetzt ist, ist von ihr nicht unterschieden. In der Definition der sittlichen Tugend wird aber die Klugheit gesetzt. Wie es im 2. Buch der Ethik heißt, »ist die sittliche Tugend nämlich ein durch Wahl bestimmter Habitus, der in der Mitte besteht und gemäß der rechten Vernunft bestimmt wird«.243 Wie es im 6. Buch der Ethik heißt, ist nämlich Grund der Handlungsbereiche die Klugheit.244 Darum werden die sittlichen Tugenden nicht von der Klugheit unterschieden. 17. Genauso wie die Klugheit gehört auch die Kunst zur praktischen Erkenntnis. Außer der Kunst gibt es jedoch keine Habitus im strebenden Seelenteil, die auf geschickte Ausübung hingeordnet sind. Also gibt es aus demselben Grund außer der Klugheit im Strebevermögen keine tugendhaften Habitus, die sich auf Bereiche des Handelns beziehen. So scheint es, daß es keine von der Klugheit unterschiedenen sittlichen Tugenden gibt. 18. Es wurde folgendes eingewandt: Keine Tugend im Strebevermögen entspricht der Kunst, weil das Strebevermögen auf die einzelnen Dinge gerichtet ist, die Kunst aber auf die allgemeinen. – Dagegen aber steht, was Aristoteles im 2. Buch der Ethik sagt, daß der Zorn immer auf einzelne Dinge gerichtet ist, der Haß aber auch auf Allgemeines, denn wir hassen die ganze Gattung der Räuber.245 Der Haß aber gehört zum Strebevermögen. Also bezieht sich das Strebevermögen auch auf das Allgemeine.

243 Aristoteles, Eth. Nic. II, 6; 1106 b 36–1107 a 2. 244 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 5; 1140 b 21. 245 Vgl. Aristoteles, Rhet. II, 4; 1382 a 4.

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19. Jedes Vermögen ist seiner Natur nach auf seinen Gegenstand gerichtet. Der Gegenstand des Strebevermögens jedoch ist auf das Gute ausgerichtet, sofern es erkannt wird. Also richtet sich das Strebevermögen natürlicherweise auf das Gute, sofern es erkannt ist. Die Klugheit vollendet aber uns ausreichend für das Erfassen des Guten. Es ist also für uns nicht notwendig, außer der Klugheit eine andere sittliche Tugend im Strebevermögen zu haben, weil dazu die natürliche Neigung genügt. 20. Für die Tugend ist die Erkenntnis und die Handlung hinreichend. Diese beiden besitzt man jedoch nur durch die Klugheit. Also ist es nicht notwendig außer der Klugheit andere sittliche Tugenden zu behaupten. 21. Genauso wie die Habitus des Strebevermögens werden auch die Habitus des Erkenntnisvermögens nach Maßgabe ihrer Gegenstände unterschieden. Nun gibt es von allem Sittlichen nur einen Habitus des Erkenntnisvermögens: entweder die Wissenschaft der Ethik, die sich auf alle sittlichen Gegenstände bezieht, oder die Klugheit. Also ist im Strebevermögen auch nur eine sittliche Tugend. 22. Was zu einer Art gehört, stimmt in der Form überein und unterscheidet sich nur hinsichtlich der Materie. Nun stimmen aber alle sittlichen Tugenden in dem überein, was in ihnen durch die Form bestimmt ist, weil bei allen die Mitte gemäß der richtigen Vernunft aufgefaßt wird. Sie unterscheiden sich aber nur in Bezug auf die materialen Gehalte. Deshalb unterscheiden sie sich nicht der Art, sondern nur der Zahl nach. 23. Die Gegenstände, die sich der Art nach unterscheiden, erhalten ihren Namen nicht voneinander. Die sittlichen Tugenden erhalten aber ihren Namen voneinander, denn, wie Augustinus sagt, ist es notwendig, daß die Gerechtigkeit tapfer und maßvoll ist und das Maßhalten auch gerecht und tapfer ist; ebenso ist es bei den anderen Tugenden.246 Also werden die Tugenden nicht gegenseitig unterschieden. 24. Die theologischen Tugenden und die Kardinaltugenden sind grundlegender als die sittlichen Tugenden. Aber die Verstandestugenden werden weder Kardinaltugenden noch theologische Tugen246 Vgl. Augustinus, De trin. VI, 4, 6 (CCSL 50, 233 f.).

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den genannt. Also müssen auch die sittlichen Tugenden nicht als »kardinal«, d. h. grundlegend, bezeichnet werden. 25. Es wird behauptet, daß die Seele drei Teile hat, nämlich den vernünftigen, den zornmütigen und den begehrlichen. Wenn es also grundlegende Tugenden gibt, scheint es, daß es nur drei sind. 26. Die anderen Tugenden scheinen grundlegender als diese zu sein, beispielsweise die Großgesinntheit, die »Großes in allen Tugenden«247 vollbringt, wie es in 4. Buch der Ethik heißt, und die Demut, die die Wächterin der Tugenden ist; ebenso scheint die Milde grundlegender als die Tapferkeit zu sein, denn sie ist auf den Zorn bezogen, nach dem das zornmütige Strebevermögen benannt wird. Die Freigebigkeit und die Großzügigkeit, die von dem Ihren geben, scheinen grundlegender als die Gerechtigkeit zu sein, die nur dem anderen das Geschuldete zurückgibt. Also sind nicht diese Tugenden Kardinaltugenden, sondern vielmehr andere. 27. Der Teil ist nicht von seinem Ganzen unterschieden. Cicero behauptet aber: Die anderen Tugenden sind Teile von diesen vier, nämlich von der Klugheit, der Gerechtigkeit, der Tapferkeit und dem Maßhalten.248 Also werden wenigstens die anderen sittlichen Tugenden nicht von diesen unterschieden. Die Tugenden scheinen darum nicht zu Recht unterschieden zu werden. Dagegen spricht: In 1 Kor. 13, 13 heißt es: »Jetzt aber bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe, diese drei«, und Wsh. 8, 7 lehrt die Enthaltsamkeit, die Klugheit, die Gerechtigkeit und die Tugend. Antwort: Jedes Ding wird der Art nach, d. h. gemäß dem, was formalbestimmt in ihm ist, unterschieden. Das Formale aber ist in jedem Ding das, was die Vollständigkeit seiner Definition ausmacht, denn die letzte Unterscheidung besteht in der Art. Durch sie unterscheidet sich darum das Definierte der Art nach von den anderen. Wenn sie formal entsprechend den verschiedenen Begriffen vervielfältigt 247 Aristoteles, Eth. Nic. IV, 3; 1123 b 30. 248 Vgl. Cicero, De inv. II, 53, 159–II, 54, 164 (ed. Nüßlein, 318–325).

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werden kann, wird das Definierte in verschiedene Arten gemäß ihrer Unterschiedlichkeit unterteilt. Jenes aber, das formal das Vollständige und das Letzte in der Definition der Tugend ist, ist das Gute, denn die Tugend wird, allgemein aufgefaßt, so definiert: »Die Tugend ist, die den, der sie besitzt, gut macht und sein Werk gut macht«,249 wie in der Ethik erhellt. Darum muß die Tugend des Menschen, von der wir sprechen, der Art nach unterschieden werden, sofern das Gute durch die Vernunft unterschieden wird. Da aber der Mensch Mensch ist, sofern er vernünftig ist, muß zum Guten des Menschen das gehören, was in irgendeiner Weise vernünftig ist. Der vernünftige oder verstandesmäßige Seelenteil aber umfaßt sowohl das Erkennbare als auch das Erstrebbare. Zum vernünftigen Teil gehört jedoch nicht nur das Streben, welches – der Erkenntnis des Verstandes folgend – im vernünftigen Teil selbst ist und Wille genannt wird, sondern auch das Streben, das im sinnenhaften Seelenteil des Menschen ist und in ein zornmütiges und ein begehrliches Strebevermögen unterteilt wird. Auch dieses Streben im Menschen folgt nämlich der Erkenntnis der Vernunft, sofern es ihrem Befehl gehorcht; deshalb sagt man von ihm, daß es in gewisser Weise an der Vernunft teilhat. Darum ist das Gute des Menschen sowohl das Gute des erkennenden als auch des strebenden Seelenteiles. Aber das Gute wird nicht aus demselben Grund beiden Seelenteilen zugeteilt. Das Gute des strebenden Seelenteiles wird formal zugeteilt, denn das Gute selbst ist der Gegenstand des strebenden Teiles. Dem verstandesmäßigen Seelenteil aber wird das Gute nicht formal zugeteilt, sondern nur material. Denn das Wahre zu erkennen, ist ein gewisses Gutes des erkennenden Seelenteiles, obwohl es hinsichtlich des Guten nicht zum erkennenden, sondern mehr zum strebenden Seelenteil im Verhältnis steht, denn das Erkennen des Wahren als solches ist gewissermaßen erstrebbar. Es bedarf daher eines anderen Grundes, warum es die Tugend gibt, die den erkennenden Seelenteil zu jenem Wahren vervollkommnet, das erkannt werden soll, und die den strebenden Seelenteil zu jenem 249 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 5; 1106 a 17.

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Guten vervollkommnet, das erstrebt werden soll. Deshalb unterscheidet Aristoteles im Buch der Ethik die Verstandestugenden von den sittlichen Tugenden.250 Verstandesmäßig werden die Tugenden genannt, die den verstandesmäßigen Seelenteil zu einem zu erkennenden Wahren vervollkommnen, sittlich die, die aber den strebenden Seelenteil zu dem zu erstrebenden Guten vervollkommenen. Weil das Gute mehr mit dem strebenden als mit dem erkennenden Seelenteil verbunden ist, ist die Bezeichnung ›Tugend‹ für die Tugenden des strebenden Seelenteiles viel angemessener als für die Tugenden des erkennenden Seelenteiles, obwohl die verstandesmäßigen Tugenden die vornehmeren Vollkommenheiten als die sittlichen Tugenden sind,251 wie im 6. Buch der Ethik bewiesen wird. Die Erkenntnis des Wahren bezieht sich nicht auf alle Dinge aus einem einzigen Grund, denn das notwendige und das zufällige Wahre werden aus unterschiedlichen Gründen erkannt. Ebenso wird das notwendig Wahre aus einem anderen Grund erkannt, wenn es an sich bekannt ist, wie beispielsweise die ersten Prinzipien mit dem Verstand erkannt werden, als wenn es durch anderes bekannt ist, wie beispielsweise die bekannten Schlußfolgerungen hinsichtlich der höchsten Dinge durch die Wissenschaft oder die Weisheit entstehen. Auch in diesen gibt es weitere Gründe des Erkennens, weil der Mensch durch sie zu anderem Erkennbarem gelenkt wird. Ähnlich gibt es für die kontingenten Gegenstände, die getan werden, nicht denselben Grund des Erkennens. Auf die Gegenstände ist die Klugheit bezogen, die in uns sind, Bereiche des Handelns genannt werden, sofern sie sich auf unsere Handlungen beziehen, und in Bezug auf die man sich wegen der Leidenschaften häufig irrt. Die rechte Einschätzung der Gegenstände, die außerhalb von uns sind, von uns hergestellt werden können, und in denen uns eine Kunst anleitet, zerstören die Leidenschaften der Seele nicht. Darum legt Aristoteles im 6. Buch der Ethik die verstandesmäßigen Tugenden fest, nämlich die Weisheit, die Wissenschaft, den Verstand, die Klugheit und die Kunst.252 250 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. I, 13; 1103 a 4–6. 251 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 7; 1141 a 19 f. 252 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 3; 1139 b 16.

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Ähnlich hat das Gute des strebenden Seelenteils nicht denselben Grund in allen menschlichen Belangen. Ein derartiges Gutes findet sich in einer dreigeteilten Materie, nämlich in den zornmütigen und den begehrlichen Leidenschaften und in unseren Handlungen, die auf äußere Dinge bezogen sind und die in unseren Gebrauch kommen, wie Kauf und Verkauf, Verpachten und Pachten und anderes derartiges. Das Gute des Menschen ist nämlich in den Leidenschaften, damit der Mensch in ihnen sich so verhält, daß er durch deren Antrieb vom Urteil der Vernunft nicht abweicht. Wenn es also Leidenschaften gibt, denen eigen ist, das Gute der Vernunft zu behindern, indem sie auf ihre Weise zum Tätigsein oder zur Verfolgung von etwas antreiben, besteht das Gute der Tugend besonders in einer gewissen Zügelung und Zurückhaltung, so wie es vom Maßhalten bekannt ist, das die Begierden zügelt und in Schranken hält. Wenn es jedoch der Leidenschaft eigen ist, besonders das Gute der Vernunft durch Ablenkung zu behindern, wie z. B. die Furcht, wird das Gute der Tugend in Bezug auf eine solche Leidenschaft im Nicht-sinken-lassen liegen; das vollbringt die Tapferkeit. Hinsichtlich der äußeren Dinge aber besteht das Gute der Vernunft in dem, was das geschuldete Verhältnis aufrecht erhält, dem gemäß sie zur Gemeinschaft des menschlichen Lebens gehören; dafür ist der Name der Gerechtigkeit eingesetzt, deren Aufgabe es ist, zu leiten und die Gleichheit bei derartigem zu finden. Es ist aber zu bedenken, daß das Gute sowohl des verstandesmäßigen wie auch des strebenden Seelenteils zweifach ist, nämlich das Gute, das das letzte Ziel ist, und das Gute, das um dieses Zieles willen da ist; diese beiden haben nicht dieselbe Bedeutung. Darum muß es außer den oben genannten Tugenden, nach denen der Mensch dem Guten bei jenen Gegenständen nachgeht, die auf ein Ziel hingeordnet sind, andere Tugenden geben, denen gemäß der Mensch sich in Bezug auf das letzte Ziel, das Gott ist, gut verhält. Sie werden deshalb auch theologische Tugenden genannt, weil sie Gott nicht nur als Ziel, sondern auch als Gegenstand haben. Dazu aber, daß wir in rechter Weise auf das Ziel hin bewegt werden, ist es notwendig, daß das Ziel sowohl erkannt als auch ersehnt wird. Die Sehnsucht nach dem Ziel verlangt aber zwei Dinge, näm-

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lich die Zuversicht gegenüber dem zu Erlangenden, weil kein Weiser sich zu dem bewegen läßt, was er nicht erreichen kann, und die Liebe zum Ziel, weil nur das Geliebte ersehnt wird. Deshalb gibt es drei theologische Tugenden, nämlich den Glauben, durch den wir Gott erkennen, die Hoffnung, durch die wir erhoffen, seiner teilhaftig zu werden,253 und die heilige Liebe, durch die wir ihn lieben. So ist also klar, daß es drei Gattungen von Tugenden gibt: die theologischen, die verstandesmäßigen und die sittlichen, und jede Gattung befaßt unter sich mehrere Arten. Zu 1. Das Sittliche empfängt seine Art von den nächsten Zielen her, die jedoch nicht unendlich viele sind, wenn in ihnen nur der Unterschied hinsichtlich der Form ins Auge gefaßt wird, denn das nächste Ziel jeder einzelnen Tugend ist das Gute, das – dem Begriff nach unterschieden – durch sie getan wird, wie in der Antwort gezeigt worden ist. Zu 2. Jenes Argument hat bei den Dingen Gültigkeit, die durch die Notwendigkeit der Natur tätig sind, weil sie das Ziel nur durch eine Tätigkeit und durch eine Form verfolgen. Der Mensch aber hat deshalb Vernunft, weil er notwendigerweise durch Vieles und Verschiedenes hindurch zu seinem Ziel gelangt. Darum muß er auch mehrere Tugenden besitzen. Zu 3. Die Akzidentien werden in einem Ding nicht der Anzahl nach, sondern nur der Art nach vermehrt. Darum darf die Einheit oder Vielheit in den Tugenden nicht dem Träger nach, der die Seele ist, oder seinem Vermögen nach bedacht werden, es sei denn, sofern die Verschiedenheit der Vermögen einem unterschiedlichen Grund des Guten folgt, durch den, wie gesagt,254 die Tugenden unterschieden werden. Zu 4. Es kann etwas nicht in derselben Hinsicht Gegenstand des Vermögens und des Habitus sein. ›Vermögen‹ nämlich besagt, daß wir ihm entsprechend etwas überhaupt können, wie zum Beispiel zornig werden oder vertrauen. Habitus aber besagt, daß wir ihm

253 Übersetzung von obtenturos esse. 254 Im Korpus des Artikels.

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entsprechend etwas gut oder schlecht können,255 wie in der Ethik gesagt wird. Wo also ein anderer Charakter des Guten vorliegt, ist auch eine andere Art des Gegenstandes für den Habitus, jedoch nicht für das Vermögen gegeben. Deswegen kann es sein, daß es in einem Vermögen viele Habitus gibt. Zu 5. Nichts hindert daran, die Wirkursache eines anderen zu sein, das wiederum Zielursache von jenem ist. Beispielsweise ist die Medizin die Wirkursache der Gesundheit, die das Ziel der Medizin ist,256 wie Aristoteles im 1. Buch der Ethik sagt. Die Habitus sind daher die Wirkursachen der Akte, aber die Akte sind die Ziele der Habitus. Deshalb werden die Habitus formal nach Maßgabe der Akte unterschieden. Zu 6. Dem Menschen genügt es, hinsichtlich des Zieles, das der menschlichen Natur entspricht, eine natürliche Neigung dazu zu haben, daß er über sich selbst gut verfügt. Deshalb haben die Philosophen gewisse Tugenden behauptet, deren Gegenstand das Glücklichsein ist, von dem sie handelten. Das Ziel aber, in dem wir die Glückseligkeit erhoffen, nämlich Gott, überschreitet das, was unserer Natur entspricht. Darum sind für uns über die natürliche Neigung hinaus die Tugenden notwendig, durch die wir zum letzten Ziel erhoben werden. Zu 7. Gott in einer noch so unvollkommenen Weise zu erreichen, ist vollkommener als anderes vollkommen sich zu erwerben. Deshalb sagt Aristoteles über die Eigenschaften der Lebewesen im 2. Buch von Über Himmel und Erde: Was wir von den erhabeneren Dingen wahrnehmen, ist würdiger als das Viele, das wir von anderen Dingen erkennen.257 Darum hindert nichts daran, daß sowohl der Glaube als auch die Hoffnung Tugenden sind, obwohl wir durch sie Gott nur in unvollkommener Weise erreichen. Zu 8. Das Gemüt wird sowohl durch die Hoffnung, sofern sie auf Gott vertraut, als auch durch die heilige Liebe, sofern sie ihn liebt, auf Gott hingeordnet.

255 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 4; 1105 b 27. 256 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. I, 5; 1097 a 20. 257 Vgl. Aristoteles, De part. animal. I, 5; 644 b 33 f.

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Zu 9. Die Liebe ist Prinzip und Wurzel aller Gemütsbewegungen, denn wir freuen uns nur über die Gegenwart des Guten, sofern es das Geliebte ist. In ähnlicher Weise ist es auch bei den anderen Gemütsbewegungen offenkundig. So ist also jede Tugend, die auf eine Leidenschaft hingeordnet ist, auch auf die Liebe hingeordnet. Es folgt daraus jedoch nicht, daß die heilige Liebe, die auch Liebe ist, nicht eine besondere Tugend ist. Es steht jedoch fest, daß sie das Prinzip gewissermaßen aller Tugenden ist, insofern sie alle auf ihr Ziel hin bewegt. Zu 10. Es ist nicht notwendig, daß entsprechend allen göttlichen Eigenschaften theologische Tugenden angenommen werden, sondern nur gemäß jenen, auf die unser Strebevermögen sich als Ziel hinbewegt. Genau in diesem Sinne gibt es drei theologische Tugenden, wie es im 10. Artikel dieser Frage gesagt ist. Zu 11. Die Gottesverehrung hat Gott zum Ziel, nicht aber zum Gegenstand. Ihr Gegenstand sind aber die Dinge, die man darbringt, um ihn zu verehren. Deswegen ist sie keine theologische Tugend. Ähnlich ist es auch mit der Weisheit, durch welche wir jetzt Gott betrachten. Man sieht nicht unmittelbar Gott selbst, sondern wir betrachten seine Wirkung in den gegenwärtigen Dingen. Die Gottesfurcht hat auch etwas anderes zum Gegenstand als Gott, nämlich entweder die Strafen oder die eigene Kleinheit, durch deren Betrachtung der Mensch sich ehrfurchtsvoll Gott unterwirft. Zu 12. Genauso wie es bei den theoretischen Disziplinen Prinzipien und Schlußfolgerungen gibt, so auch beim Handeln Ziele und solches, das auf ein Ziel ausgerichtet ist. So wie es also zur vollkommenen und ungehinderten Erkenntnis nicht ausreicht, daß der Mensch hinsichtlich der Prinzipien durch die Vernunft über sich verfügt, sondern darüber hinaus eine Wissenschaft des Schließens erforderlich ist, so gibt es bei dem, was das Handeln betrifft, außer den theologischen Tugenden, durch die wir uns – ausgerichtet auf das letzte Ziel – gut verhalten, notwendige andere Tugenden, durch die wir in guter Weise auf all das hingeordnet sind, was auf das Ziel ausgerichtet ist. Zu 13. Obwohl das Gute als solches der Gegenstand der Strebeund nicht der Erkenntniskraft ist, kann dennoch das, was gut ist, auch im verstandesmäßigen Seelenteil angetroffen werden. Denn

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das Wahre zu erkennen, ist gewissermaßen gut. So besitzt der Habitus, der die Vernunft zur Erkenntnis des Wahren vervollkommnet, den Charakter der Tugend. Zu 14. Die Klugheit ist ihrem Wesen nach eine verstandesmäßige Tugend, aber sie hat einen sittlichen Gehalt. Sofern sie daher unter die sittlichen Tugenden gezählt wird, befindet sie sich gewissermaßen in der Mitte zwischen den verstandesmäßigen und den sittlichen Tugenden. Zu 15. Die Verstandestugenden werden zwar von den sittlichen unterschieden, aber dennoch gehören sie zur Ethik, sofern deren Akte dem Willen untergeordnet werden, denn wir gebrauchen die Wissenschaft und die anderen Verstandestugenden, wenn wir wollen. Deswegen wird aber sittlich das genannt, was in irgendeiner Weise zum Willen in Beziehung steht. Zu 16. Die richtige Vernunft der Klugheit wird nicht sozusagen als etwas ausgesagt, wodurch ihr Wesen besteht, sondern eher im Sinne ihrer Wirkursache oder der Teilhabe. Die sittliche Tugend ist nämlich nichts anderes als die Teilhabe an der rechten Erkenntnis im strebenden Seelenteil, wie oben gesagt ist.258 Zu 17. Der Gegenstand der Kunst ist das äußerlich Herstellbare. Der Gegenstand der Klugheit aber sind die Bereiche des Handelns in uns. Wie also die Kunst eine gewisse Richtigkeit in den äußeren Dingen sucht, die es einer Form entsprechend anordnet, so forscht die Klugheit nach der rechten Ordnung in unseren Leidenschaften und Gemütsbewegungen. Deswegen sucht die Klugheit sittliche Habitus im strebenden Seelenteil, nicht aber das Kunsthandwerk. Zu 18. Wir räumen ein, daß das Streben des verstandesmäßigen Seelenteiles, das der Wille ist, ein allgemeines Gut sein kann, das durch die Vernunft erfaßt wird, nicht aber das Streben, das im sinnlichen Seelenteil ist, weil die Sinne nicht allgemein erfassen. Zu 19. Obwohl das Strebevermögen sich auf natürliche Weise zu dem erfaßten Guten hinbewegt, ist dennoch für den Gegenstand, dem die Vernunft durch die vollkommene Klugheit nachgeht, ein Habitus der Tugend im strebenden Seelenteil erforderlich, der sich leicht zu diesem Guten hinneigt. Besonders ist es die wahre Ver258 Vgl. De virt. q. 1 a. 6 c.

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nunft, die etwas Gutes abwägt und kenntlich macht, während das sich selbst überlassene259 Streben dazu neigt,260 daß es in das Gegenteil des Guten hineingezogen wird. So wird z. B. das begehrliche Strebevermögen zu etwas für die Sinne Genußvollem und das zornmütige Strebevermögen zur Vergeltung bewegt; manchmal verhindert dies die Vernunft durch ihre Überlegung. Ähnlich tendiert auch der Wille dazu, die Dinge, die in den Gebrauch des Menschen kommen, nur für sich selbst als lebensnotwendig zu erstreben; manchmal jedoch rät die abwägende Vernunft, sie mit dem anderen zu teilen. Darum muß man den Habitus der Tugenden dazu im strebenden Seelenteil annehmen, damit er der Vernunft leicht gehorcht. Zu 20. Die Erkenntnis gehört unmittelbar, aber die Tätigkeit mittels der Strebekraft zur Klugheit. Darum muß es in der Strebekraft Habitus geben, die sittliche Tugenden genannt werden. Zu 21. In allem, was zum Handeln gehört, gibt es nur einen Begriff des Wahren, denn in allen sittlichen Tugenden geht es um das nicht-notwendige Wahre, dem entsprechend Handeln wirklich werden soll. Dennoch ist in ihnen nicht der eine Begriff des Guten, der der Gegenstand der Tugend ist. Darum gibt es hinsichtlich des Sittlichen den einen Habitus des Erkenntnisvermögens, aber nicht nur die eine sittliche Tugend. Zu 22. Die Mitte liegt bei verschiedenen materialen Gehalten auf unterschiedliche Weise vor. Daher begründet die Unterschiedlichkeit der Materie bei den sittlichen Tugenden den formalen Unterschied, sofern die sittlichen Tugenden der Art nach sich unterscheiden. Zu 23. Einige besondere sittliche Tugenden, auch die hinsichtlich einer besonderen Materie bestehenden, machen sich das zu eigen, was allen Tugenden gemeinsam ist und werden danach benannt. Deswegen hat das, was allen in einer besonderen Materie gemeinsam ist, eine besondere Schwierigkeit, aber verdient auch besondere Anerkennung. Es ist nämlich offenkundig für jede Tugend ein Erfordernis, daß ihr Akt entsprechend den geschuldeten Umständen, durch die sie 259 Übersetzung von absolute. 260 Übersetzung von natus est.

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sich in der Mitte konstituiert, verändert wird, und daß er in der Ordnung auf ein Ziel oder auf irgendetwas anderes Äußeres ausgerichtet ist und wieder Festigkeit hat. Mit Beständigkeit zu handeln, ist nämlich eines der Kennzeichen der Tugenden,261 wie es im 3. Buch der Ethik klar wird. In der Todesgefahr unbeirrt durchzuhalten, ist besonders schwierig aber auch lobenswert. Darum steht der Tugend, die sich auf diese Materie bezieht, zu Recht der Name Tapferkeit zu. Sich zurückzuhalten bei der Berührung von erfreulicher Dinge, birgt besonders eine Schwierigkeit aber auch Grund zur Anerkennung in sich. Deswegen wird die Tugend, die sich auf diese Materie bezieht, Maßhalten genannt. Für den Gebrauch der äußeren Dinge wird besonders die Rechtheit verlangt und ist Grund der Anerkennung, weil derartige Güter die Menschen sich mitteilen. Das Gute der Tugend ist deshalb in ihnen, weil der Mensch sich in unmittelbarer Weise gegenüber den anderen entsprechend einer gewissen Gleichheit verhält; danach wird die Gerechtigkeit benannt. Wann immer also die Menschen über die Tugenden sprechen, gebrauchen sie den Namen der Tapferkeit, des Maßhaltens und der Gerechtigkeit nicht sofern sie in einer bestimmten Materie besondere Tugenden sind, sondern gemäß den allgemeinen Bedingungen, nach denen sie benannt werden. Deshalb sagt man, daß das Maßhalten tapfer sein, d. h. Festigkeit haben muß, die Tapferkeit maßvoll sein, d. h. einem Maß entsprechen muß; und genauso ist es bei den anderen Tugenden. Von der Klugheit aber steht fest, daß sie in gewisser Weise allgemein ist, sofern sie alle sittlichen Gegenstände zur Materie hat, und sofern sozusagen alle sittlichen Tugenden an ihr teilhaben, wie in der Antwort auf den 16. Einwand dieses Artikels gezeigt worden ist. Aus diesem Grund sagt man, daß jede sittliche Tugend klug sein muß. Zu 24. Eine Tugend wird ›kardinal‹, d. h. grundlegend, genannt, weil durch sie andere Tugenden gefestigt werden wie die Tür in der 261 Thomas bezieht sich auf Aristoteles, Eth. Nic. II, 3; 1105 a 35–1105

b 1.

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Angel.262 Weil es die Tür ist, durch die man in ein Haus eintritt, trifft der Begriff der Kardinaltugenden nicht auf die theologischen Tugenden zu, die auf das letzte Ziel bezogen sind, von dem aus es keinen Zugang oder Bewegung zu etwas Innerem gibt. Den theologischen Tugenden kommt nämlich zu, daß durch sie die anderen Tugenden wie an etwas Unbeweglichem, das sich über ihnen befindet, gefestigt werden. Deshalb wird in 1 Kor. 3, 11 der Glaube das Fundament genannt: »Niemand kann nämlich ein anderes Fundament legen, außer dem, das gelegt worden ist«; in Hebr. 6, 19 die Hoffnung ein Anker: »wie ein Anker für die Seele«; in Eph. 3, 17 die heilige Liebe die Wurzel: »In der Liebe verwurzelt und gegründet«. Ähnlich werden auch die Verstandestugenden nicht die Kardinaltugenden genannt, weil einige von ihnen nur im betrachtenden Leben vollkommen sind, wie die Weisheit, die Wissenschaft und die Vernunft. Das betrachtende Leben aber ist das Ziel; deshalb hat es nicht die Bedeutung der Tür, sondern das aktive Leben, in dem die sittlichen Tugenden vervollkommnet werden, ist wie die Tür zum betrachtenden Leben. Die Kunst aber hat nicht in sich zusammenhängende Tugenden, so daß sie ›kardinal‹ genannt werden könnte, sondern die Klugheit, die das aktive Leben lenkt, wird unter die Kardinaltugenden gezählt. Zu 25. Im vernünftigen Seelenteil gibt es zwei Kräfte, nämlich eine strebende, die Wille genannt wird und eine auffassende, die die Vernunft genannt wird. Daher gibt es im vernünftigen Seelenteil zwei Kardinaltugenden: die Klugheit, bezogen auf die Vernunft, und die Gerechtigkeit, bezogen auf den Willen. Im begehrlichen Strebevermögen aber ist das Maßhalten, und im zornmütigen die Tapferkeit. Zu 26. In jeder Materie muß es eine Kardinaltugend in Bezug auf das geben, was in jener Materie grundlegender ist. Die Tugenden aber, die auf anderes, das zu jener Materie gehört, bezogen sind, werden zweitrangig oder hinzugefügt genannt. Beispielsweise gibt es bei den Leidenschaften des begehrlichen Strebevermögens grundlegendere Begierden und Freuden, die durch Berührung zustande kommen; darauf bezieht sich das Maßhalten. 262 Übersetzung von ostium in cardine.

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Darum wird in dieser Materie das Maßhalten als Kardinaltugend verstanden. Die Gewandtheit jedoch, die im Bezug zu den Freuden, die beim Spiel aufkommen, steht, kann auch als eine zweitrangige oder hinzugefügte Tugend verstanden werden. Ähnlich ist es bei den Leidenschaften des zornmütigen Strebevermögens, besonders was die Furcht und die Kühnheit in der Todesgefahr angeht, auf die sich die Tapferkeit bezieht. Deshalb wird die Tapferkeit die Kardinaltugend im zornmütigen Strebevermögen genannt. Die Milde, die sich auf den Zorn bezieht, ist, obwohl sie nach dem Zorn benannt wird, deswegen nicht zornmütig, weil sie die letzte unter den zornmütigen Leidenschaften ist. Ebenso ist es bei der Großgesinntheit und der Demut, die gewissermaßen in einem Verhältnis zur Hoffnung oder zum sicheren Vertrauen auf etwas Großes stehen, denn Zorn und Hoffnung bewegen den Menschen nicht wie die Todesfurcht. Bei den Tätigkeiten aber, die sich auf die äußeren Dinge beziehen, die im Leben benutzt werden, ist das erste und besondere, daß jedem das Seine zugeteilt wird: das vollbringt die Gerechtigkeit. Denn zieht man das ab, nimmt weder die Freigebigkeit noch die Großzügigkeit diese Stellung ein. Deshalb ist die Gerechtigkeit eine Kardinaltugend und die anderen sind nur hinzugefügt. Bei den Akten der Vernunft ist es das Ratgeben und das Wählen dasjenige Besondere, das die Klugheit vollbringt. Darauf nämlich ist auch die Beratung, auf die die Wohlberatenheit hinlenkt, und das Urteil über die Ratschläge, in dem der Verstand bestimmend ist, hingeordnet. Daher ist die Klugheit eine Kardinaltugend, die anderen Tugenden aber sind hinzugefügt. Zu 27. Die anderen hinzugefügten oder zweitrangigen Tugenden sind weder wesentliche noch untergeordnete Teile der Kardinaltugenden, weil sie eine bestimmte Materie und einen eigenen Akt haben, sondern sie sind gewissermaßen potentielle Teile, sofern sie teilweise und nur unvollkommen an der Mitte teilhaben, die grundlegend und noch vollkommener mit einer Kardinaltugend übereinstimmt.

13. Artik el Die dreizehnte Frage lautet: Besteht die Tugend in der Mitte? 263 Es scheint, daß es nicht so ist; denn: 1. Wie im 1. Buch von Über den Himmel und die Erde gesagt wird, ist die Tugend das Äußerste eines Vermögens.264 Das Äußerste aber liegt nicht in der Mitte, sondern eher im Extrem. Also liegt die Tugend nicht in der Mitte, sondern im Extrem. 2. Die Tugend hat den Charakter des Guten. Sie ist nämlich eine gute Beschaffenheit,265 wie Augustinus sagt. Das Gute aber hat die Beschaffenheit des Zieles, welches ein Äußerstes ist und deshalb ein Extrem. Also befindet sich die Tugend mehr im Extrem als in der Mitte. 3. Das Gute ist der Gegensatz zum Übel; zwischen ihnen gibt es keine Mitte, weil sie weder gut noch schlecht wäre, wie es in den Postprädikamenten266 heißt. Also hat das Gute die Bedeutung eines Extrems. So liegt »die Tugend, die den gut macht, der sie besitzt und sein Werk gut macht«,267 wie es im 2. Buch der Ethik heißt, nicht in der Mitte, sondern im Extrem. 4. Die Tugend ist das Gute der Vernunft, denn nur das ist tugendhaft, was vernunftgemäß ist. Die Vernunft ist nicht als Mitte im Menschen, sondern als das Höchste. Also gehört der Begriff der Mitte nicht zur Tugend. 5. Jede Tugend ist entweder eine theologische, eine verstandesmäßige oder eine sittliche, wie aus dem oben Gesagten268 klar wird. Aber die theologische Tugend besteht nicht in der Mitte, denn Bernhard von Clairvaux sagt, daß die Art und Weise der heiligen 263 Sent. III, d. 33 q. 1 a. 3; De malo q. 2 a. 6 c; De malo q. 9 a. 2 c; De malo, q. 14 a. 1 ad 6; De malo q. 14 a. 2 ad 3; ebd. ad 1; Sum. theol. I–II, q. 64; In Eth. II, l. 7 n. 4 und 7; ebd. V, l. 1 n. 2; ebd. VI, l. 1 n.1. 264 Thomas bezieht sich vielmehr auf: Aristoteles, Eth. Nic. II, 6; 1107 a 9. 265 Vgl. Augustinus, De lib. arb. II, 19 (CCSL 29, 271) Retract. I, 9, 4 (CCSL 57, 25) u. a.; vgl. De virt. q. 1 a. 2. 266 Vgl. Aristoteles, Cat. 15; 15 b 17 ff. 267 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 5; 1106 a 17. 268 Vgl. De virt. q. 1 aa. 6–7 und aa. 9–10.

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Liebe nicht darin besteht, eine Art und Weise zu haben.269 Die heilige Liebe aber ist herausragend unter den anderen theologischen Tugenden, denn sie ist deren Wurzel. Ähnlich scheint auch der Begriff der Mitte nicht zu den verstandesmäßigen Tugenden zu gehören, denn die Mitte besteht zwischen Gegensätzen. Die Dinge aber sind, sofern sie im Verstand sind, nicht unverträglich270 und der Verstand wird nicht von erhabenen aber verstehbaren Gegenständen zerstört,271 wie im 3. Buch von Über die Seele gesagt wird. Ähnlich scheinen auch die sittlichen Tugenden nicht in einer Mitte zu bestehen, weil bestimmte Tugenden in einem Maximum bestehen, wie beispielsweise die Tapferkeit sich auf die größten Gefahren bezieht, nämlich die Todesgefahren, die Großgesinntheit auf das Große bei den ehrenvollen Dingen, und die Großartigkeit auf das Große in dem, was man ausgibt, die Ehrfurcht auf die größte Verehrung, die den Eltern, denen wir nichts Gleichwertiges zurückgeben können, geschuldet wird; ähnlich die Religion auf das Große hinsichtlich des göttlichen Kultes, dem wir nicht genügend dienen können. Also besteht die Tugend nicht in der Mitte 6. Wenn die Vollkommenheit der Tugend in der Mitte besteht, ist es notwendig, daß die vollkommeneren Tugenden noch mehr in der Mitte bestehen. Aber die Jungfräulichkeit und die Armut sind vollkommenere Tugenden, weil sie unter die vier evangelischen Räte fallen, die nur vom je besseren Guten handeln. Jungfräulichkeit und Armut lägen daher in der Mitte. Das aber scheint falsch zu sein, denn die Jungfräulichkeit enthält sich in Bezug auf die Materie des Geschlechtlichen von allem Sinnlichen. Auf diese Weise besitzt sie das Äußerste. Ähnlich ist es bei der Armut in Bezug auf den Besitz, denn sie verzichtet auf alles. Also scheint es nicht, daß der Begriff der Tugend in der Mitte besteht. 7. Boethius bezeichnet in der Arithmetik eine dreifache Mitte, nämlich die arithmetische, wie die sechs zwischen vier und acht, weil sie von beiden gleich weit entfernt ist; die geometrische Mitte, wie die sechs zwischen neun und vier, weil sie proportional, nämlich 269 Bernhard von Clairvaux, De diligendo Deo I, 1 (ed. Winkler I, 74–77). 270 Übersetzung von non sunt contrariae. 271 Vgl. Aristoteles, De an. III, 4; 429 b 2 f.

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anderthalbfach – d. h. also nicht gemäß derselben Quantität – von beiden Extremen Abstand hat;272 und die harmonische oder musikalische Mitte, wie z. B. drei in der Mitte zwischen sechs und zwei liegt, denn es ist eine Proportion des einen Extrems zum anderen, nämlich sechs zu zwei, dieselbe Proportion ist drei – das ist der Unterschied zwischen sechs und drei – zu eins, welches der Unterschied zwischen zwei und drei ist. Aber keine dieser Mitten findet sich bei der Tugend, denn die Mitte der Tugend darf sich weder gemäß der Quantität, noch der Proportion, der Ziele und Unterscheidungen zum Extrem verhalten. Also besteht die Tugend nicht in der Mitte. 8. Es ist nun folgendes zu sagen: Die Tugend besteht in der Mitte der Vernunft und nicht in der Mitte der Sache, wovon Boethius redet. – Dagegen aber steht gemäß Augustinus, daß die Tugend unter die größten Güter gerechnet wird, von denen keines schlecht gebraucht wird.273 Wenn also das Gute der Tugend in der Mitte besteht, muß die Mitte der Tugend am meisten dem Begriff der Mitte entsprechen. Auf die Mitte der Sache trifft aber der Begriff der Mitte vollkommener zu als auf die Mitte der Vernunft. Daher ist die Mitte der Tugend mehr eine Mitte der Sache als eine Mitte der Vernunft. 9. Die sittliche Tugend bezieht sich auf die Leidenschaften und die Handlungen der Seele, die unteilbar sind. Beim Unteilbarem aber läßt sich weder Mitte noch Extrem ansetzen. Daher besteht die Tugend nicht in der Mitte. 10. Aristoteles sagt in der Topik, daß es beim Genuß besser ist, ihn zu erleben als ihn erlebt zu haben bzw. sein Geschehen als sein Geschehensein.274 Eine Tugend jedoch ist auf die Vergnügungen bezogen, nämlich das Maßhalten. Wenn die Tugend immer nach dem Besseren verlangt, ist das Maßhalten darauf aus, Vergnügungen zu erleben. Das aber ist als ein Extrem und nicht als Mitte zu verstehen. Also besteht die sittliche Tugend nicht in der Mitte. 11. Wo ein Mehr oder Weniger zu finden ist, dort ist auch eine Mitte. Bei den Lastern ist ein Mehr oder Weniger zu finden, denn 272 Vgl. Boethius, De institutione arithmetica II, 3 (ed. Friedlein, 84 f.). 273 Vgl. Augustinus, De lib. arb. II, 19 (CCSL 29, 271); Retract. I, 9, 4

(CCSL 57, 25) u. a.; De virt. q. 1 a. 2. 274 Vgl. Aristoteles, Top. VI, 8; 146 b 16–19.

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jemand ist mehr oder weniger wollüstig bzw. gefräßig. Daher ist bei der Gefräßigkeit, der Wollüstigkeit und bei anderen Lastern eine Mitte zu finden. Wenn es also zum Charakter der Tugend gehört, in der Mitte zu sein, scheint es, daß bei den Lastern die Tugend zu finden ist. 12. Wenn die Tugend in der Mitte besteht, dann nur in der Mitte zweier Laster. Das aber trifft nicht auf jede sittliche Tugend zu, denn die Gerechtigkeit befindet sich nicht zwischen zwei Lastern, sondern sie hat nur ein Laster als ihren Gegensatz. Mehr anzunehmen als einem zusteht, ist nämlich lasterhaft. Doch wenn jemandem etwas in dem, was ihm zusteht, weggenommen wird, hat dies mit seinem Fehler nichts zu tun.275 Also besteht der Begriff der sittlichen Tugend nicht in der Mitte. 13. Die Mitte hat gleichen Abstand von den Extremen, die Tugend jedoch nicht, denn der Tapfere ist dem Kühnen näher als der Furchtsame, und der Freigiebige steht dem Verschwenderischen näher als der Beharrliche; ähnlich ist es wohl auch in anderen Fällen. Also besteht die sittliche Tugend nicht in der Mitte. 14. Von einem Extrem zum anderen kommt man nur über die Mitte. Wenn also die Tugend in der Mitte besteht, vollzieht sich der Übergang vom Gegensatz des einen Lasters zum anderen nur durch die Tugend; das ist offenkundig falsch. 15. Die Mitte und die Extreme befinden sich in derselben Gattung. Aber die Tapferkeit, die Furchtsamkeit und die Kühnheit sind nicht in derselben Gattung, denn die Tapferkeit ist in der Gattung der Tugend, die Furchtsamkeit und die Kühnheit in der Gattung des Lasters. Also ist die Tapferkeit nicht die Mitte zwischen ihnen. Ähnliches kann für die anderen Tugenden eingewandt werden. 16. Bei ausgedehnten Dingen sind die Extreme genauso wie die Mitte unteilbar, denn der Punkt ist sowohl die Mitte als auch das Ziel der Linie. Wenn also die Tugend in der Mitte besteht, ist sie ein Unteilbares. Dies scheint auch deshalb so zu sein, weil Aristoteles im 2. Buch der Ethik sagt, daß es genauso schwierig ist, tugendhaft zu sein, eine Zielscheibe zu treffen oder die Mitte in einem Kreis

275 Übersetzung von absque suo vitio est.

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zu finden.276 Wenn also die Tugend etwas Unteilbares ist, scheint es, daß die Tugend nicht stärker wird oder nachläßt, was offenkundig falsch ist. 17. Bei den unteilbaren Dingen gibt es keine Verschiedenheit. Wenn also die Tugend in der Mitte im Sinne eines Unteilbaren besteht, scheint es, daß es in der Tugend keine Verschiedenheit gibt, so daß das Tugendhafte für den einen auch tugendhaft für den anderen ist. Das aber ist offensichtlich falsch, denn jemand, der in der einen Sache gelobt wird, wird in einer anderen getadelt. 18. Was auch immer sich geringfügig vom Unteilbaren entfernt, z. B. vom Mittelpunkt, befindet sich außerhalb des Unteilbaren und außerhalb des Mittelpunktes. Wenn also die Tugend sich genauso in der Mitte befindet wie in einem Unteilbaren, scheint es, daß alles, was auch nur immer geringfügig von dem abweicht, was dabei ist, richtig zu werden, befindet sich außerhalb der Tugend. Deshalb handelt der Mensch äußerst selten tugendhaft. Die Tugend befindet sich also nicht in der Mitte. Dagegen spricht: Jede Tugend ist entweder eine sittliche, eine verstandesmäßige oder eine theologische. Die sittliche Tugend aber ist in der Mitte. Nach Aristoteles im 7. Buch der Ethik »ist die sittliche Tugend ein durch Wahl bestimmter Habitus, der in der Mitte besteht«.277 Auch die Verstandestugend scheint in der Mitte zu bestehen, wie der Apostel in Röm. 12, 3 sagt: »Niemand soll höher von sich denken als er denken darf, vielmehr soll er bescheiden von sich denken«. Ähnlich scheint auch die theologische Tugend in der Mitte zu sein, denn der Glaube befindet sich in der Mitte zwischen zwei Häresien,278 wie Boethius in Über die zwei Naturen sagt. Die Hoffnung ist auch die Mitte zwischen Vermessenheit und Verzweiflung. Also befindet sich jede Tugend in der Mitte. 276 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 9; 1109 a 25 f. 277 Thomas bezieht sich vielmehr auf Aristoteles, Eth. Nic. II, 6; 1106

b 36–1107 a 1. 278 Vgl. Boethius, Liber de persona et de duabus naturis, VII (PL 64, col. 1352 C).

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Antwort: Die sittlichen Tugenden und die Verstandestugenden sind in der Mitte, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Die theologischen Tugenden sind jedoch nicht in der Mitte, es sei denn akzidentell. Um dies zu erhellen, muß man wissen, daß das Gute eines jeden, der Richtnorm und Maß besitzt, darin besteht, sich seiner Richtnorm und seinem Maß anzugleichen. Daher sagen wir, daß jenes das Gute ist, das weder mehr noch weniger hat, als es haben muß. Es ist aber zu bedenken, daß die Leidenschaften und Handlungen des Menschen die Materie der sittlichen Tugenden sind, wie z. B. das, was gemacht werden kann, die Materie der Kunst ist. Daher besteht das Gute bei den Dingen, die durch die Kunst entstehen, darin, daß die Kunstgebilde ein Maß annehmen, das die Kunst, die die Richtnorm der Kunstgebilde ist, verlangt. So liegt das Gute in den menschlichen Leidenschaften und Handlungen, das auf die Weise des Verstandes berührt wird, der das Maß und die Richtnorm aller menschlichen Leidenschaften und Handlungen ist. Denn wenn der Mensch dadurch Mensch ist, daß er Vernunft besitzt, muß das Gute des Menschen sein, gemäß der Vernunft zu sein. Daß aber bei den menschlichen Leidenschaften und Handlungen jemand von der Maß der Vernunft abweicht oder sich davon loslöst, ist das Übel. Wenn daher das Gute des Menschen die menschliche Tugend ist, folgt, daß die sittliche Tugend in der Mitte zwischen Überfluß und Mangel besteht, sofern Überfluß, Mangel und Mitte in Bezug zur Richtnorm der Vernunft verstanden werden. Einige von den Verstandestugenden, die in der Vernunft selbst sind, sind praktisch, wie die Klugheit und die Kunst, einige betrachtend, wie die Weisheit, das Wissen und die Vernunft; einige der praktischen Tugenden haben die menschlichen Leidenschaften und Handlungen oder die Kunstgebilde selbst zur Materie. Die Materie der betrachtenden Tugenden sind die notwendigen Dinge selbst. Zu beiden hat die Vernunft ein unterschiedliches Verhältnis. In Bezug auf das nämlich, woraufhin die Vernunft tätig wird, verhält sich die Vernunft, wie schon gesagt, im Sinne von Richtnorm und Maß. Zu dem aber, was betrachtet wird, verhält sich die Vernunft wie das, was gemessen und geregelt ist, zu Richtnorm und Maß,

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denn das Gute unseres Verstandes ist das Wahre, dem eben unser Verstand folgt, wenn er sich der Sache angleicht. Genauso wie also die sittlichen Tugenden in einer durch den Verstand bestimmten Mitte bestehen, so gehört dieselbe Mitte zur Klugheit, die eine verstandesmäßige praktische und auf das Sittliche bezogene Tugend ist, sofern sie an Tätigkeiten und Leidenschaften ansetzt. Das ist durch die Definition der sittlichen Tugend klargestellt, die, wie es im 2. Buch der Ethik heißt, »ein wählbarer Habitus ist, der gemäß der Mitte besteht, wie der Weise bestimmt«.279 Dieselbe Mitte gehört also zur Klugheit und zur sittlichen Tugend, zur Klugheit jedoch wie zu einem Prägenden und zur sittlichen Tugend wie zu einem davon Geprägten. Dasselbe Verhältnis besteht zwischen der Richtigkeit der Kunst als dem richtig Ausführenden und dem Kunstgebilde als dem richtig Ausgeführten. Bei den betrachtenden, verstandesmäßigen Tugenden ist die Mitte das Wahre selbst, das in ihr betrachtet wird, sofern es ihr Maß betrifft. Das allerdings ist nicht die Mitte zwischen Gegensätzlichem, das von der Sache ausgeht, denn die Entgegengesetzten, zwischen denen die Mitte der Tugend angenommen wird, gehen nicht vom Maß aus, sondern vom Gemessenen, sofern es vom Maß abweicht oder es verfehlt. Daraus erhellt ebenso, was über die sittlichen Tugenden gesagt worden ist. Es ist daher notwendig, die Gegensätze, zwischen denen es diese Mitte der Verstandestugenden gibt, von seiten des Verstandes selbst anzunehmen. Die Gegensätze der Vernunft aber sind im Sinn von Bejahung und Verneinung entgegengesetzt,280 wie im 2. Kapitel von Perihermeneias klar wird. Zwischen den Bejahungen und den entgegengesetzten Verneinungen also wird die Mitte der betrachtenden Verstandestugenden erkannt, diese Mitte ist das Wahre. Es ist nämlich beispielsweise wahr, wenn gesagt wird, daß ist, was ist und nicht ist, was nicht ist; das Falsche aber besteht entweder in einem Zuviel,281 wie gesagt wird, daß das ist, was nicht ist oder in einem

279 Aristoteles, Eth. Nic. II, 6; 1106 b 36–1107 a 3. 280 Vgl. Aristoteles, De interpr. 2; 16 a 28–16 b 2. 281 Übersetzung von secundum excessum.

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Zuwenig,282 wenn gesagt wird, daß nicht ist, was ist. Wenn es also im Verstand keine eigene Gegensätzlichkeit neben der Gegensätzlichkeit der Dinge gäbe, wären bei den verstandesmäßigen Tugenden weder Mitte noch Extreme anzunehmen.283 Es steht aber fest, daß im Willen keine eigene Gegensätzlichkeit vorliegt, sondern nur gemäß der Ordnung zu den gewollten entgegengesetzten Dingen, denn der Verstand erkennt etwas, sofern es in ihm ist; der Wille aber wird zu einer Sache bewegt, sofern sie in sich ist. Wenn es daher eine Tugend im Willen entsprechend seinem Verhältnis zu dessen Maß und Richtnorm gibt, besteht eine solche Tugend nicht in einer Mitte, denn man kann die Extreme nicht von seiten des Maßes erfassen, sondern nur von seiten des Gemessenen, je nachdem das Maß über- oder unterschreitet.284 Die theologischen Tugenden aber werden mittels des Willens auf ihre Materie oder ihren Gegenstand hingeordnet, der Gott ist. Und was für die heilige Liebe und die Hoffnung offenkundig ist, das wird für den Glauben ähnlich gesagt, denn obwohl der Glaube im Verstand ist, ist er dennoch in ihm, sofern er vom Willen befohlen wird. Es glaubt nämlich nur der, der will. Daher ist klar, wenn Gott die Richtnorm und das Maß des menschlichen Willens ist, daß die theologischen Tugenden an sich nicht in der Mitte bestehen. Gleichwohl tritt manchmal der Fall ein, daß eine von ihnen akzidentell in der Mitte ist, wie später erklärt wird. 282 Übersetzung von secundum defectum. 283 Entscheidend für das sittlich Wahre bzw. für das der Mitte der Ver-

nunft Entsprechende ist, daß darin dem Sein in seiner sittlichen Gestalt nichts abgesprochen wird, was ihm zukommen soll. Das Falsche ist hier also eine sittliche Privation, die logisch affirmativ oder negativ ausgesagt werden kann und ihrem sittlichen Gehalt nach sich in zwei Extremen (Lastern) ausprägt. Die Bestimmung dieser sittlichen Privationen ist nur durch die Vernunft möglich, die in unterschiedlicher Weise die Richtigkeit des Guten einer zu verwirklichenden Handlung und die Übereinstimmung mit einem Ding erkennt, obgleich dieselben logischen Regeln angewendet werden. Thomas differenziert hier innerhalb des Seins eine Sphäre der sittlichen Erkenntnis und eine der Dingerkenntnis. 284 Übersetzung von excedit vel diminuitur.

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Zu 1. Das Äußerste eines Vermögens nennt man das, worauf sich das Vermögen äußerstenfalls erstreckt, und das ist das Schwierigste, weil es am schwierigsten ist, die Mitte zu finden ist, leicht aber von ihr abzuweichen.285 Genau deshalb ist die Tugend das Äußerste des Vermögens, das in der Mitte besteht. Zu 2. Das Gute hat den Charakter des Äußersten durch die Beziehung zur Bewegung des Strebens, nicht aber zur Materie, aus der etwas Gutes besteht, weil es in der Mitte der Materie sein muß, so daß es von Richtnorm und Maß, dem es verpflichtet ist, weder selber abweicht noch von einem anderen abgedrängt wird. Zu 3. Die Tugend hat in Bezug auf die Form, die sie von ihrem Maß erhält, die Bedeutung des Extrems. So ist sie dem Übel wie das Geformte dem Ungeformten und wie das Gemessene dem Nicht-Gemessenen entgegengesetzt. Hinsichtlich der Materie jedoch, in der ein solches Maß eingeprägt ist, befindet sich die Tugend in der Mitte. Zu 4. Jener Charakter besagt das Höchste und die Mitte der Ordnung der Seelenvermögen nach, nicht gemäß der Materie, in der die Art der Tugend als eine gewisse Mitte gesetzt wird. Zu 5. Bei den theologischen Tugenden gibt es, wie gesagt,286 keine Mitte. Aber bei den Verstandestugenden befindet sich die Mitte nicht zwischen den Gegensätzen der Dinge, sofern sie im Verstand sind, sondern, wie gesagt, zwischen Bejahung und Verneinung. Allen sittlichen Tugenden jedoch ist es gemeinsam, daß sie in der Mitte sind. Genau das, was sozusagen das Größte berührt, gehört bei ihnen zum Begriff der Mitte, sofern sie das Größte gemäß der Richtnorm der Vernunft erreichen, wie beispielsweise der Tapfere mit der größten Gefahr vernunftgemäß umgeht, d. h. daß er erkennt, wann, wie und weswegen er dies muß. Überfluß und Mangel aber wird nicht der Quantität der Sache nach aufgefaßt, sondern durch Vergleich mit dem Maßstab der Vernunft, wie es zum Beispiel überflüssig wäre, wenn jemand zum falschen Zeitpunkt oder ohne Grund sich in Gefahr begäbe; mangelhaft aber, wenn er sich nicht in Gefahr begeben würde, wann und wie er müßte. 285 Vgl. Eth. Nic. II, 5; 1106 b 29–33. 286 Im Korpus des Artikels.

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Zu 6. Die Jungfräulichkeit und die Armut sind, obwohl sie in der Wirklichkeit ein Extrem darstellen, dennoch in der Mitte der Vernunft, denn die Jungfrau enthält sich freudig allem Geschlechtlichen um Gottes willen, wie es ihrer Verpflichtung entspricht.287 Wenn sie sich jedoch ohne berechtigten Grund enthalten würde, z. B. weil es ihr entweder an sich oder das Kindergebären bzw. das Muttersein verhaßt wäre, verfiele sie dem Laster der Empfindungslosigkeit. Sich aber ganz wegen des Zieles, zu dem man sich verpflichtet hat, von der Geschlechtlichkeit zu enthalten, ist tugendhaft. Denn auch wer sich von derartigem enthält, wie z. B. diejenigen, die kriegerische Übungen zum Nutzen des Staates durchführen, werden für ihre politische Tugend gelobt. Zu 7. Jene Mitten, die Boethius meint, sind Mitten der Sache. Deshalb kommen sie nicht mit der Mitte der Tugend überein, die der Vernunft entspricht. Eine Ausnahme bildet die Gerechtigkeit, bei der es zugleich eine Mitte der Sache und eine Mitte der Vernunft gibt. Dem entspricht eine arithmetische Mitte der Vernunft bei den Veränderungen und eine geometrische Mitte bei den Verteilungen,288 wie es im 5. Buch der Ethik deutlich wird. Zu 8. Die Mitte kommt der Tugend nicht zu, sofern sie Mitte ist, sondern sofern sie Mitte der Vernunft ist, denn die Tugend ist das Gute des Menschen; dies bedeutet, gemäß der Vernunft zu leben. Deswegen muß nicht das, was dem Begriff der Mitte mehr entspricht auch mehr zur Tugend gehören, sondern daß es die Mitte der Vernunft ist. Zu 9. Die Leidenschaften und Handlungen der Seele sind an sich unteilbar, akzidentell aber sind sie teilbar, sofern in ihnen ein mehr oder weniger entsprechend den verschiedenen Umständen zu finden ist, und so besteht die Tugend in ihnen als eine Mitte. Zu 10. Beim Genuß ist sein Geschehen besser als sein Geschehensein.289 Unter ›besser‹ versteht man aber nicht eine Handlung des sittlichen Guten, die zur Tugend gehört, sondern eine des angenehmen Guten, das zum Genuß gehört, denn der Genuß besteht im 287 Übersetzung von propter quod debet et secundum quod debet. 288 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. V, 7; 1131 b 25–1132 a 2. 289 Vgl. Aristoteles, Top. VI, 8; 146 b 16–19.

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Geschehen. Darin liegt auch dessen Sein, denn wenn es schon geschehen ist, ist es nicht mehr. Daher besteht das Gute des Genusses mehr im Geschehen als im Geschehensein. Zu 11. Nicht irgendeine Mitte gehört zur Tugend, sondern die Mitte der Vernunft. Diese Mitte kann man natürlich nicht bei den Lastern finden, denn im eigentlichen Sinn kann es bei den Lastern keine Tugend geben. Zu 12. Die Gerechtigkeit betrifft nicht die Mitte unter den äußeren Dingen, bei denen der Mensch aus der Unordnung des Willens mehr für sich in Anspruch nimmt als ihm zusteht; deshalb ist dieses Verhalten lasterhaft. Doch wenn jemandem etwas von seinem Eigentum weggenommen wird, steht dies außerhalb seiner Gutheit. Deshalb bringt dies keine lasterhafte Unordnung in ihm mit sich. Aber die Leidenschaften der Seele, auf die sich die anderen Tugenden beziehen, sind in uns. Daher geht auch deren Übermaß und Mangel in das Laster des Menschen ein. Die anderen sittlichen Tugenden sind darum zwischen zwei Lastern, mit Ausnahme der Gerechtigkeit, die dennoch die Mitte in ihrer eigenen Materie hält; das gehört an sich zu ihr als Tugend. Zu 13. Die Mitte der Tugend ist die Mitte der Vernunft und nicht die Mitte der Sache. Darum muß sie nicht von beiden Extremen den gleichen Abstand haben, sondern sie ist die Mitte nach Maßgabe der Vernunft. Deshalb besteht dabei das Gute der Vernunft besonders in der Zügelung der Leidenschaft, und die Tugend steht der Verminderung näher als dem Überfluß; so ist es beim Maßhalten und bei der Milde klar ersichtlich. Bei den Tugenden aber, die darin bestehen, daß das Gute zu dem führt, was die Leidenschaft antreibt, ist die Tugend dem Überfluß ähnlicher, wie es offenbar bei der Tapferkeit der Fall ist. Zu 14. Aristoteles sagt im 5. Buch der Physik: Die Mitte ist das, wohin das kontinuierlich sich Verändernde sich zuerst verändert, bevor es das andere Extrem erreicht.290 Daher wird nur in der kontinuierlichen Veränderung gefunden, was von einem Extrem zum anderen nur über die Mitte kommt. Die Bewegung aber, die von einem 290 Übersetzung von in quod mutat ultimo. Vgl. Aristoteles, Phys. V, 3; 226 b 23–27.

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Laster zum anderen führt, ist keine kontinuierliche Bewegung, genauso wenig wie die Bewegung des Willens oder des Verstandes, sofern er sich auf Verschiedenes bezieht. Daher ist es nicht notwendig, daß man von einem Laster zum anderen durch die Tugend übergeht. Zu 15. Die Tugend ist, obwohl sie die Mitte in Bezug auf die Materie ist, in die sie eingeht, dennoch ihrer Form nach ein Extrem, sofern sie ihren Platz in der Gattung des Guten einnimmt,291 wie Aristoteles im 2. Buch der Ethik sagt. Zu 16. Obwohl die Mitte, in der die Tugend besteht, gewissermaßen unteilbar ist, kann dennoch die Tugend stärker werden oder nachlassen, sofern der Mensch mehr oder weniger auf das unteilbar zu Erreichende eingestellt ist; so wie auch der Bogen mehr oder weniger auf die zu durchbohrende Zielscheibe hin ausgerichtet wird. Zu 17. Die Mitte der Tugend ist, wie gesagt,292 nicht die Mitte der Sache, sondern der Vernunft. Diese Mitte besteht natürlich im Verhältnis oder im Maßstab der Dinge und der Leidenschaften zum Menschen. Diese Übereinstimmung des Maßes wird nach den verschiedenen Menschen unterschieden, denn was viel für den einen ist, ist für den anderen wenig. Daher wird das Tugendhafte nicht bei allen Menschen in derselben Weise verstanden. Zu 18. Wenn die Mitte der Tugend die Mitte der Vernunft ist, muß man die Unteilbarkeit dieser Mitte gemäß der Vernunft verstehen. Als unteilbar der Vernunft nach verstanden ist das, was einen nicht wahrnehmbaren Abstand hat und was keinen Irrtum hervorbringen kann, wie z. B. der ganze Körper der Erde als Stelle eines unteilbaren Punktes in Relation zum ganzen Himmel verstanden wird. Deshalb besitzt die Mitte der Tugend einen gewissen Spielraum.293 Erwiderung zum Gegenargument: Was aber in der Entgegnung eingewandt wurde, ist hinsichtlich der sittlichen Tugend und der Verstandestugend zuzugestehen, jedoch nicht in Bezug auf die theologischen Tugenden. Denn es kommt vor, daß der Glaube sich in der Mitte zwischen zwei Häresien be291 Aristoteles, Eth. Nic. II, 6; 1107 a 8 f. und ebd., III, 10 1115 b 13. 292 Vgl. De virt. q. 1 a. 13 ad 7 und ad 13. 293 Vgl. dazu De virt. q. 1 a. 11 ad 16.

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findet, und nicht, sofern er Tugend ist, in sich besteht. In diesem Sinne muß man über die Hoffnung sagen, daß sie zwischen zwei Extremen liegt, nicht sofern sie mit ihrem Gegenstand im Verhältnis steht, sondern hinsichtlich der Ausrichtung des Trägers auf das höchste zu Erhoffende.

II. ÜBER DIE HEILIGE LIEBE

Die hier behandelten Fragen lauten: 1. Ist die heilige Liebe etwas Geschaffenes in der Seele oder ist sie der heilige Geist selbst? 2. Ist die heilige Liebe eine Tugend? 3. Ist die heilige Liebe die Form der Tugenden? 4. Ist die heilige Liebe eine Tugend? 5. Ist die heilige Liebe eine besondere Tugend? 6. Kann die heilige Liebe zusammen mit der Todsünde bestehen? 7. Ist der Gegenstand, der mit heiliger Liebe geliebt werden kann, vernünftiger Natur? 8. Gehört die Feindesliebe zur Vollkommenheit des Rates? 9. Gibt es in der heiligen Liebe eine Ordnung? 10. Ist es möglich, daß es in diesem Leben vollkommene heilige Liebe gibt? 11. Sind alle Menschen zur vollkommenen heiligen Liebe verpflichtet? 12. Kann die heilige Liebe, die man einmal erworben hat, verloren gehen? 13. Kann die heilige Liebe durch einen Akt der Todsünde verloren gehen? 1. Artik el Die erste Frage lautet: Ist die heilige Liebe etwas Geschaffenes in der Seele oder ist sie der heilige Geist selbst? 1 Es scheint nicht der Fall zu sein, daß die heilige Liebe etwas Geschaffenes in der Seele ist; denn: 1. Augustinus sagt: So wie die Seele das Leben des Körpers ist, so ist Gott das Leben der Seele.2 Die Seele aber ist unmittelbar das 1 Paralleltexte: Sent. I, d. 17 q. 1 a.1; Sum. theol. II–II, q. 23 a. 2; Sum. theol. II–II, q. 24 a. 2 c. 2 Vgl. Augustinus, Serm. 62 (PL 38, col. 415); 66, 4 (PL 38, col. 428); 156, 6 (PL 38, col. 853); 161, 6 (PL 38, col. 881); 180, 7 (PL 38, col. 976).

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Leben des Körpers. Darum ist auch Gott unmittelbar das Leben der Seele. Wenn also das Leben der Seele darin besteht, daß sie in der heilige Liebe ist – wie es in 1 Joh. 3, 14 heißt: »Wer nicht liebt, bleibt im Tod« –, ist der Mensch nicht dadurch in der heiligen Liebe, daß etwas zwischen Gott und dem Menschen vermittelt, sondern durch Gott selbst. Die heilige Liebe ist also nicht etwas Geschaffenes in der Seele, sondern Gott selbst. 2. Es wurde aber eingewandt, daß jene Ähnlichkeit sich nur insofern darauf bezieht, als die Seele das Leben als Beweger des menschlichen Körpers ist, nicht sofern sie das Leben des Körpers als seine Form ist. – Dagegen aber steht: Je tauglicher ein Tätiges ist, desto weniger bedarf es einer Anlage zum Leiden, denn ein großes Feuer reicht aus, auch weniger trockenes Holz zu verbrennen. Gott ist jedoch ein Tätiges von unbegrenzter Kraft. Wenn er also das Leben der Seele in dem Sinne ist, daß er sie zum Lieben bewegt, scheint es, daß es keiner geschaffenen Anlage seitens der Seele selbst bedarf. 3. Zwischen identischen Dingen gibt es kein Mittleres. Die Gott liebende Seele aber ist mit Gott identisch, denn in 1 Kor. 6, 17 heißt es: »Wer Gott anhängt, ist ein Geist mit ihm.« Also gibt es zwischen der liebenden Seele und dem geliebten Gott nicht auch noch eine mittlere heilige Liebe, die geschaffen ist. 4. Die Liebe, mit der wir den Nächsten lieben, ist die heilige Liebe. Die Liebe, mit der wir den Nächsten lieben, ist aber Gott selbst, denn Augustinus sagt im 8. Buch von Über die Dreifaltigkeit: »Wer den Nächsten liebt, liebt folglich auch die Liebe selbst. Gott aber ist die Liebe«.3 Daraus folgt, daß er Gott besonders liebt. Darum ist die heilige Liebe nichts Geschaffenes, sondern Gott selbst. 5. Es wurde aber eingewandt, daß Gott die Liebe ist, mit der wir – ursächlich verstanden – den Nächsten lieben. – Dagegen aber steht, daß Augustinus an derselben Stelle mit dem Zeugnis der Worte des Johannes offen darlegt, daß die höhere Liebe selbst, durch die »wir uns gegenseitig lieben, nicht nur von Gott stammt, sondern auch Gott ist«.4 Also ist die Liebe nicht nur von Gott verursacht, sondern sie ist ihrem Wesen nach Gott. 3 Augustinus, De trin. VIII, 7, 10 (CCSL 50, 287). 4 Ebd. VIII, 8, 12 (CCSL 50, 288).

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6. Augustinus sagt im 5. Buch von Über die Dreifaltigkeit: »Wir wollen nicht behaupten, daß die besagte heilige Liebe deswegen Gott genannt wird, weil die heilige Liebe selbst eine Substanz ist, die dem Namen nach Gottes würdig ist, sondern weil sie ein Geschenk Gottes ist, wie man von ihm sagt: ›Du bist meine Geduld‹«, denn »von ihm ist sie uns geschenkt … Es heißt aber nicht: ›Herr, du bist meine heilige Liebe‹,5 sondern: ›Gott ist die heilige Liebe‹; … ebenso heißt es: ›Gott ist der Geist‹«.6 Es scheint also, daß Gott nicht nur im verursachenden Sinn, sondern auch im wesentlichen Sinne die heilige Liebe genannt wird. 7. Gott selbst wird aufgrund seiner Wirkung erkannt; deswegen wird er nicht in sich erkannt. Aber durch die Erkenntnis der höheren Liebe wird Gott selbst erkannt, denn Augustinus sagt im 8. Buch von Über die Dreifaltigkeit: »Man erkennt mehr die Liebe, durch die man liebt, als den Bruder, den man liebt. Sieh da, schon kann Gott bekannter sein als der Bruder …, indem man die Liebe erfaßt und durch die Liebe Gott«.7 Daher wird Gott nicht im brüderlichen Sinne, sondern im ursächlichen die Liebe genannt. 8. Es wurde aber eingewandt, daß man Gott in einer Ähnlichkeit mit ihm erkennt, wenn man die brüderliche Liebe erkannt hat. – Dagegen aber steht: der Mensch ist gemäß der Seelensubstanz selbst nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen.8 Dieses Gleichnis9 aber wird durch die Sünde verdunkelt. Dazu also, daß Gott in der Seele wie im Gleichnis zu ihm erkannt wird, muß nur die Sünde aufgehoben werden und es darf nichts Geschaffenes der Seele hinzugefügt werden. 9. Alles, was in der Seele ist, ist, wie es im 3. Buch der Ethik heißt, entweder ein Vermögen, eine Gemütsbewegung oder ein Habitus.10 Die heilige Liebe ist aber weder ein Vermögen der Seele, weil sie 5 Thomas faßt damit folgenden Text bei Augustinus zusammen: »›Domine caritas mea‹ aut: ›Tu es caritas mea‹«. 6 Der fragliche Text ist vielmehr: Augustinus, De trin. XV, 17, 27 (CCSL 50 A, 502). 7 Augustinus, De trin. VIII, 8, 12 (CCSL 50, 286). 8 Vgl. Gen. 1, 28. 9 Übersetzung von similitudo in Anlehnung an den biblischen Text. 10 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 4; 1105 b 20 f.

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natürlich ist, noch ist sie eine Leidenschaft, weil sie nicht im sinnlichen Strebevermögen ist, in dem alle Leidenschaften sind, noch ist sie ein Habitus, weil der Habitus schwer veränderbar ist. Die heilige Liebe geht jedoch leicht verloren, nämlich durch einen Akt der Todsünde. Also ist die heilige Liebe nicht etwas Geschaffenes in der Seele. 10. Kein Geschöpf besitzt unendliche Kraft. Die heilige Liebe hat aber unendliche Kraft, weil sie, einen unendlichen Abstand überbrückt, nämlich den zwischen der Seele und Gott, und sie verdient sich so das unendliche Gut. Darum ist die heilige Liebe nicht etwas Geschaffenes in der Seele. 11. Jedes Geschöpf ist »Leere«, wie es in Prd. 1, 2 heißt. Die Eitelkeit aber verbindet nicht mit der Wahrheit. Weil also die heilige Liebe uns mit der ersten Wahrheit verbindet, scheint es, daß die heilige Liebe nichts Geschaffenes ist. 12. Jedes Geschöpf hat, sofern es unter irgendeine der zehn Kategorien fällt, eine bestimmte Natur. Wenn daher die heilige Liebe etwas Geschaffenes in der Seele ist, scheint es, daß sie eine bestimmte Natur hat. Weil also unser Handeln durch die heilige Liebe verdienstvoll ist, folgt, wenn die heilige Liebe etwas Geschaffenes ist, daß die Natur das Prinzip des Verdienens ist. Das ist aber nach der Lehrmeinung des Pelagius ein Irrtum. 13. Der Mensch steht in Hinsicht auf das Sein der Gnade Gott näher als dem Sein der Natur nach. Gott aber hat den Menschen dem Sein der Natur nach ohne Vermittlung geschaffen. Also braucht er auch im Sein der Gnade keine Vermittlung, d. h. keine geschaffene heilige Liebe. 14. Der Tätige, der ohne Vermittlung tätig ist, ist vollkommener als der Tätige, der mit Vermittlung tätig ist. Gott aber ist der vollkommenste Tätige, weshalb er auch ohne Vermittlung tätig ist. Darum wird die Seele nicht durch die Vermittlung von etwas Geschaffenem gerechtfertigt. 15. Das vernünftige Geschöpf ist edler als die anderen Geschöpfe. Die anderen Geschöpfe folgen aber ihrem Ziel ohne weitere Hinzufügung. Daher wird das vernünftige Geschöpf eher von Gott ohne etwas Geschaffenes, das hinzugefügt ist, zu seinem Ziel hin bewegt. 16. Es wird aber eingewandt, daß das vernünftige Geschöpf nicht

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durch seine natürlichen Anlagen in einem Verhältnis zu seinem Ziel steht und deshalb einer Hinzufügung bedarf. – Dagegen aber spricht: Das Ziel des Menschen ist zwar das unendliche Gute, aber nichts Geschaffenes steht dazu in einem bestimmten, angebbaren Verhältnis zum unendlichen Guten. Das also, wodurch der Mensch auf sein Ziel hingeordnet ist, ist nicht das geschaffene Gute in der Seele. 17. Gott ist – genauso wie er das erste Licht ist – auch das höchste Gute. Das Licht, das Gott ist, ist aber der Seele gegenwärtig, weil es von ihm in Ps. 36 (35), 10 heißt: »In deinem Licht schauen wir das Licht«. Darum ist auch das höchste Gute, das Gott ist, der Seele gegenwärtig; es ist aber das Gute, worumwillen wir etwas lieben. Darum ist das, wodurch wir lieben, Gott. 18. Es wird aber eingewandt, daß das Gute, das Gott ist, nicht seiner Form nach, sondern der Wirkung nach der Seele gegenwärtig ist. – Dagegen aber steht, daß Gott reine Form ist. Ist er also überhaupt jemandem gegenwärtig, dann nur in der Weise der Form. 19. Nichts wird geliebt, wenn es nicht erkannt ist,11 wie Augustinus im 10. Buch von Über die Dreifaltigkeit sagt. Nur insofern ist also etwas liebenswert, als es auch erkennbar ist. Gott aber ist – wie das erste Prinzip des Erkennens – an sich selbst erkennbar. Darum ist er auch an sich selbst liebenswert und nicht durch irgendeine geschaffene heilige Liebe. 20. Alles ist insofern liebenswert ist als es gut ist. Nun ist aber Gott das unendliche Gute. Darum ist er unendlich liebenswert. Keine Liebe ist jedoch als unendliche geschaffen worden. Wenn daher diejenigen, die in der heiligen Liebe sind, ihn lieben, sofern er liebenswert ist, scheint es, daß die Liebe, durch die wir Gott lieben, nichts Geschaffenes ist. 21. Gott liebt alles, was ist, wie es in Wsh. 11, 24 heißt. Er liebt aber die unvernünftigen Geschöpfe nicht durch etwas, das ihnen hinzugefügt wird, also auch nicht die vernünftigen Geschöpfe. So scheint es, daß die heilige Liebe und die Gnade, deretwegen die Menschen von Gott geliebt werden, nichts Geschaffenes sind, das unserer Seele hinzugefügt ist. 11 Vgl. Augustinus, De trin. X, 1, 1 ff. (CCSL 50, 314 f.).

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22. Wenn die heilige Liebe etwas Geschaffenes ist, muß sie etwas Hinzukommendes sein. Die heilige Liebe ist jedoch nicht hinzukommend, weil kein Hinzukommendes würdiger als sein Träger ist. Die heilige Liebe aber ist würdiger als die Natur. Also ist die Liebe nichts Geschaffenes in der Seele. 23. Wie Bernhard von Clairvaux sagt, lieben wir Gott und den Nächsten durch dasselbe Gesetz, durch das der Vater und der Sohn sich lieben.12 Der Vater und der Sohn lieben sich aber durch die ungeschaffene Liebe. Deshalb lieben auch wir Gott durch die ungeschaffene Liebe. 24. Was vom Tode aufersteht, ist von unendlicher Kraft. Die heilige Liebe aber ersteht vom Tode, denn in 1 Joh. 3, 14 heißt es: »Wir wissen, daß wir vom Tode zum Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben«. Also ist die heilige Liebe von unendlicher Kraft und daher nichts Geschaffenes. Dagegen spricht: Alles, was von jemandem empfangen wird, wird von ihm nach der Weise des Empfangenden aufgenommen.13 Wenn also die heilige Liebe von Gott in uns empfangen wird, muß sie von uns auf unsere Weise, nämlich endlich, empfangen werden. Alles Endliche aber ist geschaffen. Also ist die heilige Liebe etwas Geschaffenes in uns. Antwort: Einige haben behauptet, daß die heilige Liebe, durch die wir Gott und den Nächsten lieben, in uns nichts anderes ist als der heilige Geist,14 wie dies Petrus Lombardus im 1. Buch der Sentenzen sagt. Um diese Meinung besser zu verstehen, muß man wissen, daß der Lehrer15 von ›dem Akt der Liebe, durch den wir Gott und den Nächsten lieben‹, behauptet, er sei – genauso wie auch der Akt der 12 Unbekannt. 13 Vgl. Boethius, Phil. consol. V, pr. 4, 25 (CCSL 94, 96 f.) und ebd. V,

pr. 5, 1 (CCSL 94, 100 f.). 14 Vgl. Petrus Lombardus, Sent. I, d. 17 c. 1 p. 2 (ed. Coll. S. Bon. I, 142); c. 3 (ebd., 144); c. 6 p. 1 (ebd. 148 f.). 15 Mit diesem Titel wird Petrus Lombardus in der Scholastik durchgehend bedacht.

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anderen Tugenden – gewissermaßen ein in uns geschaffener. Ebenso behauptete er jedoch einen Unterschied zwischen dem Akt der heiligen Liebe und dem Akt der anderen Tugenden, weil der heilige Geist die Seele zum Akt der anderen Tugenden mittels der schon vorhandenen Habitus, die auch Tugenden genannt werden, bewegt. Zum Akt der Liebe jedoch bewegt er den Willen unmittelbar durch sich selbst,16 d. h. ohne einen Habitus, wie es in den Sentenzen deutlich wird. Zu dieser Behauptung bewegten ihn die Vorzüglichkeit der heiligen Liebe, die im Einwand angeführten Worte des Augustinus und ähnliches. Es wäre jedoch lächerlich gewesen zu behaupten, daß der Akt der Liebe, den wir, während wir Gott und den Nächsten lieben, erfahren, der heilige Geist selbst ist. Diese Meinung aber läßt sich nicht wirklich aufrechterhalten, denn genauso wie die natürlichen Tätigkeiten und Bewegungen aus einem gewissen inneren Prinzip, welches die Natur ist, hervorgehen, so muß es auch bei den Willenstätigkeiten sein. Wie nämlich die natürliche Neigung zu den natürlichen Dingen das natürliche Streben genannt wird, so folgt die Neigung zu den vernünftigen Dingen der Erfassung durch den Verstand, denn sie ist ein Akt des Willens. Es ist aber möglich, daß die natürlichen Dinge von einem äußerlich Tätigen und nicht von einem inneren Prinzip zu etwas bewegt werden, z. B. wenn ein Stein hoch geworfen wird. Daß aber eine solche Bewegung oder Tätigkeit nicht aus einem inneren Prinzip hervorgeht, ist natürlich; dies ist nämlich völlig unmöglich, weil es in sich widersprüchlich wäre. Da also Widersprüchliches nicht zugleich sein kann, unterliegt es nicht der göttlichen Macht, denn es kann auch bei Gott nicht vorkommen, daß die Aufwärtsbewegung des Steines, die ja nicht von einem inneren Prinzip ausgeht, ihm natürlich ist. Man kann freilich dem Stein eine Kraft geben, aus der er genauso wie aus einem äußeren Prinzip auf natürliche Weise aufwärts bewegt wird, nicht aber in dem Sinne, daß ihm diese Bewegung natürlich wäre, es sei denn, man würde ihm eine andere Natur geben. Genauso kann es selbst durch göttliche Fügung nicht zustande kommen, daß eine innerliche oder äußerliche Bewegung des Men16 Vgl. Petrus Lombardus, Sent. I, d. 17 c. 6 p. 8 (ed. Coll. S. Bon. I,

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schen, die von einem äußeren Prinzip stammt, willentlich wäre. Darum werden alle Willensakte – als ihrer ersten Wurzel – auf das zurückgeführt, was der Mensch natürlicherweise will; das ist das letzte Ziel. Denn um des Zieles willen wollen wir dasjenige, was auf dieses Ziel gerichtet ist. Daher kann der Akt, der die ganze Fähigkeit der menschlichen Natur überschreitet, nicht für den Menschen willentlich sein, es sei denn der menschlichen Natur wurde etwas den inneren Willen Vervollkommnendes hinzugefügt, so daß ein solcher Akt aus dem inneren Prinzip hervorkäme. Wenn daher der Akt der heiligen Liebe im Menschen nicht aus einem inneren, dem natürlichen Vermögen hinzugefügten Habitus hervorgeht, sondern aus einer Bewegung des heiligen Geistes, folgt eine von zwei Alternativen: Entweder daß der Akt der heiligen Liebe nicht willentlich ist – das aber ist unmöglich, weil dieses Lieben selbst gewissermaßen ein Wollen ist; oder daß er die Fähigkeit der Natur nicht überschreitet, und dies ist häretisch. Dies beiseite gelassen, folgt erstens, daß der Akt der heiligen Liebe ein Akt des Willens ist und zweitens, daß dieser nicht verdienstvoll ist, gesetzt den Fall, daß der Akt des Willens als ganzer von außen herrühren kann – wie z. B. beim Akt der Hand oder des Fußes. Folglich trifft dies auch zu, wenn der Akt der heiligen Liebe von einem äußerlich bewegenden Prinzip stammt. Jedes Tätige nämlich, das nicht aufgrund der eigenen Form, sondern nur sofern es von einem anderen bewegt wird, tätig ist, ist nur ein instrumentell Tätiges, so wie das Beil in der Weise tätig ist, wie es vom Handwerker bewegt wird. Wenn also die Seele den Akt der heiligen Liebe nicht durch ihre eigene Form vollzieht, sondern nur aufgrund der Bewegung durch einen äußeren Tätigen, d. h. dem heiligen Geist, verhält sie sich zu diesem Akt folglich nur als dessen Instrument. Es liegt also nicht am Menschen, diesen Akt zu tun oder nicht zu tun; auf diese Weise kann er darum auch nicht verdienstvoll sein. Denn nur das sind Verdienste, die irgendwie in uns selbst sind. Daher ist menschliches Verdienst vollständig aufgehoben, da die Liebe die Wurzel des Verdienens ist.

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Drittens ist die erste Alternative nicht zutreffend, weil daraus folgt, daß der Mensch, der in der heiligen Liebe ist, nicht für den Akt der heiligen Liebe bereit ist, und er ihn nicht freudig vollzieht. Die Tugendakte erfreuen uns aber deshalb, weil wir dem Habitus entsprechend mit ihnen übereinstimmen und wir in Form der natürlichen Neigung zu ihnen hinneigen. Dennoch ist der Akt der heiligen Liebe für den, der in der heiligen Liebe lebt, am erfreulichsten und läßt ihn in dauernder Bereitschaft sein. Dadurch wird alles, was wir tun und leiden, zu einer Erfahrung der Freude. Es bleibt also übrig, daß in uns ein geschaffener Habitus der heiligen Liebe sein muß, der das Formprinzip des Aktes der Liebe ist. Dennoch ist dadurch nicht ausgeschlossen, daß der heilige Geist – die ungeschaffene heilige Liebe – es ist, der im Menschen, der ja schon über die geschaffene heilige Liebe verfügt, die Seele in der selben Weise zum Akt der Liebe bewegt, wie Gott alle Dinge zu ihren Tätigkeiten, zu denen sie schon durch ihre eigene Form hingeneigt sind. Darum ist es so, daß er alles liebevoll ordnet,17 weil er allen Dingen die Formen und Kräfte gibt, die zu dem hinneigen, zu was er selbst sie bewegt, so daß sie sich darauf nicht durch Zwang, sondern sozusagen spontan ausrichten. Zu 1. Gott ist als Beweger, nicht als Formprinzip das Leben der Seele. Zu 2. Obwohl die Wirksamkeit eines Bewegers keine Anlage dafür im Träger voraussetzt, zeigt er dennoch seine Wirksamkeit, wenn er eine starke Anlage in das erleidende oder bewegte Ding einprägt. Denn ein starkes Feuer verursacht nicht nur eine substantielle Form, sondern auch eine starke Anlage. Daher ist dasjenige Tätige, das so zur Tätigkeit bewegt, daß es auch die Form verursacht, durch die es tätig ist, stärker als der Beweger, der ohne eine Form zu verursachen zur Tätigkeit bewegt. Wenn daher der heilige Geist der kraftvollste Beweger ist, bewegt er so zum Gegenstand der Liebe, daß er auch den Habitus der heiligen Liebe verursacht. Zu 3. Wenn gesagt wird: »Wer Gott anhängt, ist ein Geist mit ihm«, wird nicht die Einheit der Substanz bezeichnet, sondern die 17 Vgl. Wsh. 8, 1.

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Einheit der Gemütsbewegung, die zwischen dem Liebenden und dem Geliebten besteht. In dieser Einheit verhält sich freilich der Habitus der heiligen Liebe eher im Sinne eines Prinzips des Liebens als im Sinne eines Mittleren zwischen Liebendem und Geliebtem, denn der Akt der Liebe führt unmittelbar zu Gott als dem Geliebten, nicht aber unmittelbar in den Habitus der heiligen Liebe. Zu 4. Obwohl die Liebe, durch die wir den Nächsten lieben, Gott ist, ist es dennoch nicht ausgeschlossen, daß es in uns neben dieser ungeschaffenen Liebe in uns auch eine geschaffene Liebe gibt, die, wie gesagt,18 als Form unsere Liebe bestimmt. Zu 5. Gott ist nicht nur im ursächlichen Sinne die Liebe überhaupt oder die heilige Liebe – genauso wie man ihn nur im ursächlichen Sinn Hoffnung oder Geduld nennt –, vielmehr ist er sie sogar ihrem Wesen nach. Dennoch ist nicht ausgeschlossen, daß es neben jener Liebe, die wesentlich Gott ist, in uns auch eine geschaffene Liebe gibt. Zu 6. Dadurch ist auch die Lösung zum sechsten Einwand klar. Zu 7. Jene autoritative Ansicht hat dieselbe Schwierigkeit, sei es, daß der geschaffene Habitus der heiligen Liebe in uns gesetzt ist oder nicht. Wenn nämlich Augustinus sagt, daß derjenige, der den Nächsten liebt, die Liebe, durch die er liebt, mehr erkennt als den Nächsten, den er liebt, scheint er darunter den Akt der Liebe selbst zu verstehen. Keiner behauptet, daß dieser Akt etwas Ungeschaffenes ist. Daher kann auch daraus nicht geschlossen werden, daß die Liebe selbst, die dann auf diese Weise bekannt ist, Gott ist. Vielmehr fühlen wir in uns selbst in Bezug auf das, was wir als Akt der Liebe in uns wahrnehmen, insofern eine Teilhabe an Gott, als Gott selbst die Liebe ist, und nicht etwa weil er der Akt der Liebe ist, den wir wahrnehmen. Zu 8. Sofern das Geschöpf vollkommener wird, gelangt es zu einer größeren Ähnlichkeit mit Gott. Daher gilt: Auch wenn jegliches Geschöpf Gott darin ähnlich ist, daß es ist und daß es gut ist, fügt das vernunftbegabte Geschöpf dennoch eine Hinsicht der Ähnlichkeit dadurch hinzu, daß es geistig und noch eine andere darin, daß es geschaffen ist. Darum wird Gott im Akt der heiligen Liebe 18 Im Korpus des Artikels.

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deutlicher, d. h. vergleichbar mit einer größeren Ähnlichkeit zu ihm, wahrgenommen. Zu 9. Die heilige Liebe ist ein Habitus und deshalb schwer veränderbar. Denn nicht durch das Leichte, das die heilige Liebe ausmacht, entsteht eine Neigung zur Sünde; dennoch geht sie durch die Sünde verloren. Zu 10. Die heilige Liebe verbindet nicht der Wirkung, sondern der Form nach mit dem unendlichen Gut. Daher kommt die unendliche Kraft nicht der heiligen Liebe, sondern dem Urheber der heiligen Liebe zu. Eine unendliche Kraft würde aber zur heiligen Liebe gehören, wenn der Mensch durch die heilige Liebe zum unendlichen Gut in unendlichem Maße hingeordnet wäre. Das aber ist offensichtlich falsch, denn das Maß folgt der Form der Sache. Zu 11. Das Geschöpf ist ›Leere‹, sofern es aus nichts kommt, nicht aber sofern es Ähnlichkeit mit Gott hat. Unter dieser Hinsicht stimmt, daß die geschaffene heilige Liebe mit der ersten Wahrheit verbindet. Zu 12. Zur pelagianischen Häresie gehört, daß die natürlichen Prinzipien des Menschen dazu ausreichen, sich das ewige Leben zu verdienen. Nicht häretisch jedoch ist, daß wir durch etwas Geschaffenes, das eine bestimmte Natur in einer Kategorie hat, Verdienste erwerben; es steht nämlich fest, daß wir durch Akte Verdienste erwerben. Dennoch sind die Akte, wenn sie in einem Geschaffenen sind, in nur einer Gattung und nur in einer Natur. Zu 13. Gott hat das natürliche Sein ohne eine vermittelnde Wirkursache geschaffen, nicht aber ohne vermittelnde Formursache. Denn jedem Ding hat er eine Form gegeben, durch die es ist, was es ist. Das Sein der Gnade verleiht er auf ähnliche Weise durch eine hinzugefügte Form. Dennoch ist beides nicht ganz gleich, denn, wie Augustinus in seiner Abhandlung über das Johannesevangelium sagt: »Wer dich geschaffen hat ohne dich, wird dich nicht rechtfertigen ohne dich«.19 Für die Rechtfertigung ist also eine Handlung des Rechtfertigenden erforderlich. Darum muß es dort ein formbestimmendes, aktives Prinzip geben, das freilich keinen Ort innerhalb der Schöpfung hat. 19 Augustinus, Serm. 169, 11 (PL 38, col. 923).

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Zu 14. Das durch Vermittlung Tätige ist beim Tun weniger wirksam, wenn es notwendigerweise einer Vermittlung bedarf. Gott braucht aber beim Tätigsein keine solche Vermittlung, denn er bedarf nicht der Hilfe eines Geschöpfes. Vielmehr bedient es sich tätiger Vermittler, damit die Ordnung in den Dingen bewahrt wird. Wenn wir aber von formbestimmter Vermittlung sprechen, ist klar, daß der Tätige vollkommener ist, je mehr er die Form bestimmt,20 denn das unvollkommene Tätige bestimmt nicht die Form, sondern hat nur eine Anlage. Sie ist dann so viel schwächer als das Tätige schwächer ist. Zu 15. Der Mensch und die anderen vernünftigen Geschöpfe können ein höheres Ziel als die übrigen Geschöpfe verfolgen. Darum sind sie auch vollkommener, obwohl sie für dieses zu verfolgende Ziel mehrere Dinge brauchen. Genauso ist der Mensch in einer besseren Verfassung, der die vollkommene Gesundheit durch mehrere Medikamente erlangen kann als jener, der nicht vollkommen gesund werden kann und deshalb nur wenige Medikamente braucht. Zu 16. Durch die geschaffene heilige Liebe wird die Seele über das Können der Natur erhoben, so daß sie vollkommener auf das Ziel hingeordnet ist, als es die natürliche Fähigkeit ermöglicht. Dennoch wird sie nicht so darauf hingeordnet, Gott vollkommen zu folgen, wie er sich selbst vollkommen genießt. Dies kommt daher, daß nichts Geschaffenes in einem bestimmten, angebbaren Verhältnis zu Gott steht. Zu 17. Obwohl das Gute, das Gott ist, der Seele durch sich selbst gegenwärtig ist, bedarf es dennoch einer formbestimmten Vermittlung dafür, daß die Seele von ihrer Seite aus – nicht von seiten Gottes – vollkommen auf es hingeordnet ist. Zu 18. Gott ist zwar die durch sich selbst subsistierende Form, aber nicht so, daß er irgendeinem Ding im Sinne der Form verbunden ist. Zu 19. Angenommen – dies gehört nämlich zu einer anderen Frage – Gott würde von der Seele genauso erkannt wie er sich durch sich selbst erkennt, und auf dieselbe Weise von ihr durch sich selbst geliebt, wie er sich durch sich selbst erkennt, dann würde das ›durch 20 Übersetzung von inducit; wörtlich: die Form einführt.

1. Artikel

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sich‹ bezogen auf den, der geliebt werden soll, nicht aber bezogen auf den Liebenden verstanden. Denn Gott wird von der Seele nicht um etwas anderem willen geliebt, sondern um seinetwillen, und dennoch braucht die Seele ein Formprinzip, um Gott vollkommen zu lieben. Zu 20. Gott kann von uns nicht so sehr geliebt werden, wie er liebenswert ist. Darum folgt daraus nicht, daß die Liebe im Sinne der Gottesliebe unendlich wäre, denn dies würde nicht weniger aus dem Akt als aus dem Habitus der Liebe folgen. Gleichwohl kann niemand behaupten, daß der Akt der Liebe, durch den wir Gott lieben, etwas Ungeschaffenes ist. Zu 21. Es bedarf des Habitus der heiligen Liebe in uns, sofern wir Gott lieben. Das kommt mit den anderen Geschöpfen nicht überein, obwohl umgekehrt alle Geschöpfe von Gott geliebt werden. Zu 22. Nichts, was hinzukommt, ist hinsichtlich seiner Seinsweise würdiger als sein Träger, weil die Substanz ein durch sich Seiendes ist, das Hinzukommende aber ein Seiendes in einem anderen. Sofern jedoch das Hinzukommende Akt und Form der Substanz ist, hindert nichts daran, daß das Hinzukommende würdiger als die Substanz ist, denn auf diese Weise wird es mit ihr als Akt auf das Vermögen und als Vollkommenheit auf das, was vervollkommnet werden kann, bezogen. In diesem Sinne ist die heilige Liebe würdiger als die Seele. Zu 23. Obwohl das Gesetz, durch das wir Gott und den Nächsten lieben, ungeschaffen ist, ist dennoch das, wodurch wir als Form Gott und den Nächsten lieben, etwas Geschaffenes, denn das Gesetz ist als Ungeschaffenes das erste Maß und die Richtnorm unserer Liebe. Zu 24. Die heilige Liebe erweckt die Toten im geistlichen Sinne, d. h. im Sinne einer Form-, aber nicht einer Wirkursache wieder. Darum kann sie nicht von unendlicher Kraft sein. Ebenso verhält es sich bei der Seele des Lazarus, die ihn nur formursächlich erweckt hat, sofern er durch deren Einheit mit dem Körper wiedererweckt wurde.

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2. Artik el Die zweite Frage lautet: Ist die heilige Liebe eine Tugend? 21 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Nach Aristoteles im 6. Buch der Ethik bezieht sich nämlich die Tugend auf das Schwierige.22 Die heilige Liebe bezieht sich aber nicht auf das Schwierige, im Gegenteil, wie Augustinus in Über die Worte des Herrn sagt, vollbringt die Liebe alles Schwere und Schreckliche mit großer Leichtigkeit.23 Also ist die heilige Liebe keine Tugend. 2. Es wurde aber eingewandt, daß das, was zur Tugend gehört, am Anfang schwierig, aber letztlich leicht ist. – Dagegen aber steht: Am Anfang gibt es die Tugend noch gar nicht. Wenn sie also nur am Anfang schwierig ist, ist die Tugend nicht auf das Schwierige bezogen. 3. Das Schwierige bei den Tugendhandlungen kommt von der Gegensätzlichkeit. Deshalb fällt es nämlich schwer, die Beherrschung hinsichtlich der ihr entgegengesetzten Begierden zu bewahren. Die heilige Liebe aber ist auf das höchste Gut bezogen, dem nichts entgegengesetzt ist. Also ist das, was zur heiligen Liebe gehört weder am Anfang noch am Ende schwierig. 4. Aus Hochachtung bzw. aus Neigung lieben24 ist gewissermaßen ein Wollen. Paulus aber sagt in Röm. 7, 18: »Das Gute wollen, dazu bin ich bereit«. Zu lieben ist für uns also naheliegend; folglich bedarf es auch keiner Tugend der heiligen Liebe. 5. In unserem Geist gibt es nur das Erkenntnis- und das Strebevermögen. Das Erkenntnisvermögen wird aber durch den Glauben und das Gemüt durch die Hoffnung zu Gott erhoben. Deshalb muß man nicht als dritte Tugend zur Erhebung des Geistes die heilige Liebe behaupten. 6. Es ist aber einzuwenden, daß die Hoffnung zwar erhebt, aber nicht verbindet; deshalb ist die heilige Liebe, die verbindet, notwendig. – Dagegen aber steht: Die Hoffnung bezieht sich immer auf 21 Paralleltexte: Sum. theol. II–II, q. 23 a. 3; Sent. III, d. 27 q. 2 a. 2 und

a. 3. 22 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic.; 1109 a 24 f. 23 Augustinus, Serm. 70, 3 (PL 38, col. 444). 24 Übersetzung von diligere vel amare.

2. Artikel

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etwas Entferntes, weil sie nicht verbindet. Deshalb stimmt die Hoffnung mit jenen, die durch den Genuß der Glückseligkeit mit Gott verbunden sind, nicht überein. Wenn also die heilige Liebe verbindet, kommt sie nicht im gleichen Sinne jenen zu, die noch nicht verbunden sind, d. h. denen, die sich noch auf dem Weg befinden. Die Tugend vervollkommnet uns aber auf dem Weg, denn sie ist eine Anlage des Vollkommenen zum Besten. Darum ist die heilige Liebe keine Tugend. 7. Die Gnade verbindet uns hinreichend mit Gott. Die Tugend der heiligen Liebe ist also nicht dafür erforderlich, daß wir durch sie mit Gott verbunden werden. 8. Die heilige Liebe ist gewissermaßen eine Freundschaft des Menschen zu Gott. Dennoch wird die Freundschaft eines Menschen zu einem anderen Menschen von den Philosophen nicht zu den die Gemeinschaft betreffenden25 Tugenden gerechnet. Deshalb muß die heilige Liebe zu den theologischen Tugenden gezählt werden. 9. Keine Leidenschaft ist eine Tugend. Die sinnenhafte Liebe aber ist eine Leidenschaft. Also ist sie keine Tugend. 10. Nach Aristoteles befindet sich die Tugend in der Mitte.26 Die heilige Liebe ist aber nicht in der Mitte, weil es in der Gottesliebe kein Zuviel27 geben kann. Darum ist die heilige Liebe keine Tugend. 11. Das Gemüt wird durch die Sünde mehr verletzt als der Verstand, weil die Sünde im Willen zustande kommt,28 29 wie Augustinus in Über die zwei Seelen sagt. Unser Verstand kann aber im Pilgerstand Gott nicht unmittelbar, wie er in sich selbst ist, schauen. Also kann auch nicht unser Gemüt Gott nicht unmittelbar, wie er er in sich selbst ist, schauen. Gott zu lieben, wie er in sich selbst ist, kommt aber der heiligen Liebe zu. Deshalb darf die heilige Liebe nicht unter die Tugenden, die uns auf dem irdischen Weg vervollkommnen, gezählt werden.

25 26 27 28 29

Übersetzung von virtutes politicas. Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 6; 1106 a 17. Übersetzung von superfluum. Übersetzung von est. Vgl. Augustinus, De duabus animabus 10–12 (PL 42, col. 103–108).

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12. Die Tugend ist das Äußerste des Vermögens eines Dinges,30 wie es im 1. Buch von Über den Himmel und die Welt heißt; die Freude aber ist das Äußerste dessen, was zum Gemüt gehört. Die Freude muß deshalb noch mehr eine Tugend sein als die Liebe. 13. Jede Tugend hat ihr geschuldetes Maß. Deshalb sagt Augustinus, daß die Sünde, die der Tugend entgegengesetzt ist, eine Beraubung des Maßes, der Art und der Ordnung ist.31 Die heilige Liebe aber hat kein Maß, weil es, wie Bernhard von Clairvaux sagt, das Maß der heiligen Liebe ist, ohne Maß zu lieben.32 Darum ist die heilige Liebe keine Tugend. 14. Die eine Tugend wird nicht nach der anderen benannt, weil alle Arten derselben Gattung durch Entgegensetzung unterteilt werden. Die heilige Liebe wird aber nach den anderen Tugenden benannt, denn im Ersten Korintherbrief heißt es: »Geduldig und gütig ist die Liebe«.33 Also ist die heilige Liebe keine Tugend. 15. Nach Aristoteles im 8. Buch der Ethik, besteht die Freundschaft in einer gewissen Gleichheit.34 Zwischen Gott und uns aber besteht die größte Ungleichheit und ein unendlicher Abstand. Darum kann es die Freundschaft Gottes zu uns oder von uns zu Gott nicht geben. Auf diese Weise scheint die heilige Liebe, die eine derartige Freundschaft bezeichnet, keine Tugend zu sein. 16. Die Liebe zum höchsten Gut ist uns natürlich, nun ist aber nichts Natürliches eine Tugend, weil die Tugenden nicht von Natur aus gegeben sind, wie es aus dem 2. Buch der Ethik hervorgeht. Die Liebe zum höchsten Gut – das ist die heilige Liebe – ist also keine Tugend. 17. Die Liebe ist erhabener als die Gottesfurcht. Die Gottesfurcht ist aber wegen ihrer eigenen Erhabenheit keine Tugend, sondern eine Gabe, die an sich schon erhabener ist als die Tugend. Deshalb ist auch die Liebe keine Tugend, sondern eine Gabe. 30 Vgl. Aristoteles, De caelo I, 11; 281 a 15. 31 Vgl. Augustinus, De natura boni 4 (PL 42, col. 553). 32 Vgl. Bernhard von Clairvaux, Liber de diligendo Deo I, 1 (ed. Wink-

ler I, 74 f.). 33 1 Kor. 13, 4. 34 Aristoteles, Eth. Nic. VIII, 8; 1159 b 3.

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Dagegen spricht: Die Vorschriften des Gesetzes beziehen sich auf die den Tugendakte. Der Akt der heiligen Liebe nun aber wird vom Gesetz vorgeschrieben, denn in Mt. 22, 37 heißt es, daß das erste und höchste Gebot lautet: »Liebe den Herrn, deinen Gott«. Die heilige Liebe ist deshalb eine Tugend. Antwort: Die heilige Liebe ist zweifelsohne eine Tugend. Wenn es nämlich »die Tugend ist, die den, der sie besitzt, gut macht und dessen Werk gut macht«,35 steht fest, daß der Mensch aufgrund der eigenen Tugend auf das ihm eigentümliche Gute hingeordnet ist. Das dem Menschen eigentümliche Gute ist aber auf unterschiedliche Weise zu verstehen, sofern der Mensch auf unterschiedliche Weise verstanden wird. Denn das eigentümliche Gute des Menschen ist, sofern er Mensch ist, das Gute des Verstandes, weil es dem Mensch eigentümlich ist, vernünftig zu sein. Das Gute des Menschen aber, sofern er Künstler ist, ist das Gute der Kunst, und so auch, sofern er Politiker ist, ist sein Gutes das gemeinsame Gute des Staates. Wenn also die Tugend auf das Gute hin wirksam ist, ist für die Tugend eines jeden Menschen das erforderlich, was sich so verhält, daß es zum Guten in geeigneter Weise wirksam ist, d. h. willentlich, ohne zu zögern, freudig und sicher, denn dies sind die Kennzeichen der tugendhaften Handlung, die nicht irgendeiner Handlung zukommen können, wenn der Handelnde nicht das Gute liebt, dessentwegen er handelt, weil die Liebe der Anfang aller willentlichen Gemütsbewegungen ist. Was nämlich geliebt wird, wird ersehnt, solange man es noch nicht besitzt. Die Freude kommt aber erst dann auf, wenn man es besitzt; in die Traurigkeit hingegen führt das, was verhindert, das Geliebte zu besitzen. Diejenigen, die aus Liebe handeln, werden allerdings in der Tugend sicher, handeln ohne zu zögern und freudig. Zur Tugend bedarf es darum der Liebe zu dem Guten, auf das hin die Tugend tätig ist. Das Gute aber, auf das hin die Tugend, die zum Menschen als solchem gehört, tätig ist, entspricht 35 Aristoteles, Eth. Nic. II, 5; 1106 a 16 f.

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der Natur des Menschen. Darum wohnt seinem Willen die Liebe zu diesem Guten natürlicherweise inne; das ist das Gute der Vernunft. Wenn wir aber die Tugend des Menschen gemäß einer anderen, nicht die Natur des Menschen betreffenden Betrachtungsweise auffassen, wird die Liebe zu jenem Guten, auf das eine solche Tugend hingeordnet ist, etwas dem natürlichen Willen Hinzugefügtes sein müssen. Der Sachkundige handelt nämlich nicht gut, wenn bei ihm nicht die Liebe zu dem Guten hinzukommt, das durch die Handlung des Sachkundigen angestrebt wird. Daher sagt Aristoteles im 8. Buch der Politik, daß ein guter Politiker das Gute des Staates lieben muß.36 Wenn aber der Mensch, sofern ihm Zutritt zum Guten eines Staates, an dem er teilhaben darf, gewährt wird, ein Bürger dieses Staates wird, kommen ihm die Tugenden zu, um zu tun, was dem Bürger zusteht und um das Gute des Staates zu lieben. Ähnlich ist es, wenn der Mensch durch die göttliche Gnade zur Teilhabe an der himmlischen Glückseligkeit zugelassen wird, die in der Schau und im Genuß Gottes besteht; er wird gewissermaßen Bürger und Gefährte jener seligen Gemeinschaft, die das himmlische Jerusalem genannt wird, wie es in Eph. 2, 19 heißt: »Ihr seid Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes«. Daher kommen dem Menschen – auf diese Weise den himmlischen Dingen zugehörend – gewisse umsonst gegebene Tugenden zu; diese sind die eingegossenen Tugenden. Zu deren geschuldeter Tätigkeit wird die Liebe zum gemeinsamen Guten, die das göttliche Gute und der Gegenstand der Glückseligkeit ist, in der ganzen Gemeinschaft vorausgesetzt. Das Gute eines Staates zu lieben betrifft jedoch ein Zweifaches: einerseits, damit man es besitzt und andererseits, damit man es bewahrt. Das Gute eines Staates zu lieben, damit man es festhält und besitzt, bildet aber noch nicht das die Gemeinschaft betreffende Gute, weil auf diese Weise auch ein Tyrann das Gute des Staates liebt, sofern er von ihm beherrscht wird. Das heißt, daß er sich selbst mehr liebt als den Staat, denn er begehrt sich selbst als dieses Gute, nicht 36 Vgl. Aristoteles, Pol. VIII, 1; 1337 a 15 f.

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den Staat. Das Gute des Staates jedoch zu lieben, um es zu bewahren und zu verteidigen, dies meint wahrhaft, den Staat zu lieben. Das die Gemeinschaft betreffende Gute ist nämlich nur dann verwirklicht, wenn diejenigen, die das Gute des Staates bewahren und erweitern sollen, sich dafür in Lebensgefahr begeben und das eigene Gute zurückstellen. Das Gute, an dem die Seligen schon teilhaben, so zu lieben, daß man daran festhält und es besitzt, bewirkt noch nicht, daß der Mensch sich angesichts der ewigen Glückseligkeit gut verhält, denn auch die Schlechten begehren dieses Gute. Dieses Gute aber um seiner selbst willen zu lieben, so daß es bewahrt, verbreitet und nichts dagegen getan wird, das bewirkt, daß der Mensch sich gut verhält angesichts jener Gemeinschaft der Seligen. Das ist die heilige Liebe, die Gott um seiner selbst willen und die Nächsten, die zur Glückseligkeit befähigt sind, wie sich selbst liebt, und die in sich und in anderen alles ihr Hinderliche37 bekämpft. Dies kann darum niemals in der Todsünde geschehen, die ein Hindernis der Glückseligkeit ist. So ist es also klar, daß die heilige Liebe nicht nur eine Tugend ist, sondern die mächtigste unter den Tugenden. Zu 1. Die Tugend bezieht sich auf das, was in sich schwierig, aber dennoch für den Tugendhaften leicht ist. Zu 2. Dadurch ist auch die Antwort zum zweiten Einwand klar; er ist ohne Beweiskraft. Es bleibt nämlich, an sich betrachtet, dasjenige schwierig, worauf sich die Tugend bezieht. Was jedoch durch die wachsende Tugend für den Tugendhaften leicht wird, kommt von der Vollkommenheit der Tugend. Zu 3. Die Schwierigkeit kommt nicht nur von der Gegensätzlichkeit, sondern auch von der Vorzüglichkeit des Gegenstandes. Denn wegen der überlegenen Natur des zu Verstehenden, nicht wegen einer Gegensätzlichkeit, wird etwas als für uns schwer verständlich genannt. Zu 4. Jenes Wollen, das in uns von Natur aus liegt, ist unvollkommen und schwach in Bezug auf das geistliche und gnadenhafte Leben. Darum fügt Paulus in Röm. 7, 18 hinzu: »Denn nicht das 37 Übersetzung von impedimentum.

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Gute, das ich will, tue ich«. Deshalb ist die Hilfe einer gnadenhaften Gabe erforderlich. Zu 5. Die Hoffnung erhebt das Gemüt des Menschen zum höchsten Gut als einem, das erst noch erreicht werden soll. Darüber hinaus jedoch ist es erforderlich, daß jenes Gut, wie in der Antwort gesagt, im Blick auf das Gutsein des Menschen geliebt wird. Zu 6. Hinsichtlich der heiligen Liebe bzw. der leidenschaftlichen Liebe38 verhält es sich so, daß sie dem Gemüt nach verbindet. Diese Verbindung wird nämlich in dem Sinne verstanden, daß ein Mensch den Freund gewissermaßen wie ein anderes Selbst versteht und für ihn das Gute will wie für sich selbst. Es entspricht jedoch nicht dem Wesen der heiligen Liebe, nur der Wirklichkeit nach zu verbinden; darum kann sie sich auf eine Sache beziehen, die man hat, wie auf eine, die man nicht hat. Das, was man nicht hat, ruft das Verlangen hervor; was man hingegen hat, bewirkt die Freude. Zu 7. Die Gnade verbindet uns in der Weise der Verähnlichung mit Gott. Es ist nun aber erforderlich, daß wir mit ihm durch die Tätigkeit des Verstandes und des Gemütes geeint werden; letzteres geschieht durch die heilige Liebe. Zu 8. Die Freundschaft wird nicht als Tugend verstanden. Vielmehr ist sie eine Folge der Tugend, denn gerade daraus, daß jemand die Tugend hat und das Gute der Vernunft liebt, ergibt sich aus der Neigung der Tugend selbst, so daß er die ihm Ähnlichen liebt, nämlich die Tugendhaften, in denen das Gute der Vernunft lebendig ist. Die Freundschaft zu Gott jedoch, muß, sofern er glückselig und Urheber der Glückseligkeit ist, den Tugenden vorangestellt werden, die auf jene Glückseligkeit hinordnen. Darum ist es notwendig, daß, wenn sie nicht den anderen Tugenden folgt, sondern ihnen, wie gezeigt, vorausgeht, sie in sich selbst Tugend ist. Zu 9. Die Liebe ist, sofern sie sich im sinnhaften Teil befindet, eine Leidenschaft, die selbstverständlich die sinnenhafte Liebe zum Guten ist. Eine solche Liebe ist nicht die Liebe im Sinne der heiligen Liebe. Deshalb zieht das Argument nicht. Zu 10. Was Aristoteles sagt, daß nämlich die Tugend sich in der Mitte befindet, bezieht sich nur auf die sittlichen Tugenden, trifft 38 Übersetzung von amor.

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aber nicht auf die theologischen Tugenden zu, zu denen die heilige Liebe gehört, wie in einer vorangegangenen Frage39 gezeigt wurde. Zu 11. Das erkannte Gute bewegt den Willen und darum bewegt der Verstand – obwohl er durch Vermittlung Gott als das höchste Gute erkennt – aus sich selbst den Willen. Auf diese Weise kann Gott unmittelbar geliebt werden, obwohl er durch Vermittlung erkannt wird, denn eben das, was die Erkenntnis des Verstandes bestimmt, bewegt das Gemüt. Zu 12. Die Freude schließt keine Tätigkeit ein. Vielmehr ist sie etwas, das der Tätigkeit folgt. Daher wird, wenn die Tugend ein Prinzip der Tätigkeit ist, die Freude nicht unter die Tugenden gezählt, sondern unter die Früchte, wie Gal. 5, 22 erhellt: »Die Frucht des Geistes aber ist: Liebe, Freude, Friede, Geduld«. Zu 13. Der Gegenstand der heiligen Liebe, nämlich Gott, übersteigt jede menschliche Fähigkeit. Daher kann der menschliche Wille – so sehr er sich auch anstrengt, Gott zu lieben – nicht dahin gelangen, daß er ihn liebt, wie er ihn lieben soll. Darum heißt es von der heiligen Liebe, daß sie kein Maß hat, weil es keine feste Grenze der Gottesliebe gibt, über die hinaus, wenn er geliebt wird, sie dem Wesen der Tugend widerspräche, wie es bei den sittlichen Tugenden der Fall ist, die in der Mitte bestehen. Dieses Ohne-Maß-sein selbst ist nämlich das Maß der heiligen Liebe. Darum kann daraus nicht geschlossen werden, daß die heilige Liebe keine Tugend ist, sondern nur daß sie nicht in der Mitte besteht, wie die sittlichen Tugenden. Zu 14. Die heilige Liebe wird geduldig und gütig genannt. Sie wird also gewissermaßen nach anderen Tugenden benannt, sofern sie die Akte aller Tugenden hervorbringt. Zu 15. Die heilige Liebe ist nicht eine Tugend des Menschen, sofern er Mensch ist, sondern sofern er – gemäß 1 Joh. 3, 1 – durch die Teilhabe an der Gnade Gott bzw. Kind Gottes wird: »Seht welche Liebe uns der Vater gegeben hat, daß wir Kinder Gottes genannt werden und sind«. Zu 16. Die Liebe zum höchsten Gut ist, sofern sie ein Prinzip des natürlichen Seins ist, von Natur aus in uns. Sofern sie aber Gegenstand jener Glückseligkeit ist, die die ganze Fassungskraft der 39 Vgl. De virt. q. 1 a. 13.

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geschaffenen Natur übersteigt, ist sie nicht von Natur aus in uns, sondern über unserer Natur. Zu 17. Die Gnadengaben vervollkommnen die Tugenden durch deren Erhebung über das menschliche Maß, wie z. B. die Gabe des Verstandes die Tugend des Glaubens und die Gabe der Furcht die Tugend des Maßhaltens für das Zurückweichen vor Freuden, die das menschliche Maß überschreiten. Hinsichtlich der Liebe Gottes jedoch gibt es keine Unvollkommenheit, die es nötig hätte, durch eine Gabe vervollkommnet zu werden. Daher wird von dieser heiligen Liebe nicht behauptet, eine Gabe der Tugend zu sein, obwohl sie erhabener ist als alle Gaben.

3. Artik el Die dritte Frage lautet: Ist die heilige Liebe die Form der Tugenden? 40 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Die Form verleiht einem Ding, dessen Form sie ist, das Sein und die Art. Die heilige Liebe jedoch gibt keiner Tugend Sein und Art. Darum ist die heilige Liebe nicht die Form der anderen Tugenden. 2. Für die Form gibt es keine Form. Alle Tugenden aber sind ja schon Formen, denn sie sind gewisse Vollkommenheiten. Deshalb ist die heilige Liebe nicht die Form der Tugenden. 3. Die Form gehört zur Definition jenes Dinges, dessen Form sie ist. Die heilige Liebe gehört nun aber nicht unter die Definition der Tugenden. Also ist die heilige Liebe nicht die Form der Tugenden. 4. Die Dinge, die durch einen Gegensatz geschieden sind, verhalten sich nicht so, daß das eine Ding die Form des anderen ist. Die heilige Liebe aber ist durch einen Gegensatz von den anderen Tugenden getrennt, wie es 1 Kor. 13, 13 verdeutlicht: »Jetzt aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei«. Die heilige Liebe ist also nicht die Form der Tugenden.

40 Paralleltexte: Sum. theol. II–II, q. 23 a. 8; Sent. II, d. 26 a. 4 ad 5; Sent. III, a. 1 ql. 1; Sent. III, d. 27 q. 2 a. 4 ql. 3; De ver. q. 14 a. 5; De malo q. 7 a. 2.

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5. Man muß aber darauf erwidern, daß die heilige Liebe nicht die innere, sondern die urbildliche Form41 der Tugenden ist. – Dagegen aber steht: Das Abbild erhält seine Art vom Urbild. Wenn daher die heilige Liebe die urbildliche Form aller Tugenden ist, erhalten alle Tugenden ihre Art von ihr. Darum wären alle Tugenden von einer Art, was falsch ist. 6. Die urbildliche Form ist das, zu der etwas wird. Sie ist also nur notwendig zur Entstehung eines Dinges. Wenn also die heilige Liebe die urbildliche Form der Tugenden ist, wird die heilige Liebe nur zur Hervorbringung der Tugenden notwendig sein. Für die bereits vorliegende Tugend ist es darum nicht notwendig, die heilige Liebe zu haben. Das aber ist offensichtlich falsch. 7. Das Urbild ist zwar eine Notwendigkeit für den Hersteller, nicht aber für den Benutzer von etwas schon Hergestelltem. Genauso ist das Original notwendig, um ein Buch abzuschreiben, nicht aber, um das schon geschriebene Buch zu benutzen. Wenn daher die heilige Liebe die urbildliche Form der Tugenden ist, kommt sie uns, die wir die Tugenden gebrauchen, nicht zu, sondern nur Gott, der in uns die Tugenden wirkt. 8. Das Urbild kann es ohne das Abbild geben. Wenn daher die heilige Liebe die urbildliche Form der Tugenden ist, folgt daraus, daß sie ohne die anderen Tugenden sein kann, was falsch ist. 9. Jede Tugend hat die Form von ihrem Ziel bzw. von ihrem Gegenstand. Dieser aber ist durch sich selbst geformt und muß nicht von einem anderen geformt werden. Also ist die heilige Liebe nicht die Form der Tugenden. 10. Die Natur macht immer das, was besser ist; um wieviel mehr daher Gott. Besser aber ist, daß etwas geformt ist, als daß es ungeformt ist. Wenn daher die Tugenden Gott in uns bewirkt, scheint es, daß er sie als Geformte hervorbringt. Auf diese Weise brauchen sie nicht von der heiligen Liebe geformt werden. 11. Der Glaube ist gewissermaßen ein geistliches Licht. Das Licht aber ist die Form der Dinge, die im Licht gesehen werden. Darum ist der Glaube – genauso wie das körperliche Licht die Form der Farben

41 Übersetzung von forma exemplaris.

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ist – die Form der heiligen Liebe und der anderen Tugenden, nicht jedoch die heilige Liebe. 12. Die Ordnung der Vollkommenheiten entspricht der Ordnung dessen, was vervollkommnet werden kann. Die Tugenden aber sind die Vollkommenheiten der Seelenvermögen. Die Ordnung der Vermögen entspricht deshalb der Ordnung der Tugenden. Unter den anderen Seelenvermögen jedoch steht der Verstand höher als der Wille. Darum steht auch der Glaube höher als die heilige Liebe; und so ist eher der Glaube die Form der heiligen Liebe als umgekehrt. 13. Genauso wie die sittlichen Tugenden sich zueinander verhalten, so auch die theologischen. Die Klugheit aber, die in der Erkenntniskraft ihren Sitz hat, formt die anderen Tugenden, die in der Strebekraft sind, nämlich die Gerechtigkeit, die Tapferkeit, das Maßhalten und derartiges. Deshalb formt auch der Glaube, der in der Erkenntniskraft ist, die heilige Liebe, die im Strebevermögen ist und nicht umgekehrt. 14. Die Form der Tugend ist ihr Maß. Es gehört aber zur Vernunft, dem Streben ein Maß zu geben und nicht umgekehrt. Darum ist eher der Glaube, der in der Vernunft ist, die Form der heiligen Liebe, die im strebenden Teil ist, als umgekehrt. 15. Die Glosse sagt zu Mt. 1, 2 »Abraham zeugt Isaak, Isaak zeugt Jakob«, daß der Glaube die Hoffnung und die Hoffnung die heilige Liebe zeugt.42 Alles Gezeugte empfängt jedoch seine Form vom Zeugenden. Also empfängt auch die heilige Liebe die Form von Glaube und Hoffnung und nicht umgekehrt. 16. In ein und demselben geht der Zeit nach das Vermögen dem Akt voran. Wenn daher die heilige Liebe mit anderen Tugenden wie der Akt mit der Form verglichen wird, folgt daraus, daß die anderen Tugenden der Zeit nach früher im Menschen sind als die heilige Liebe; das aber ist falsch.

42 Glossa interlin. in Mt. 1, 2 (ed. princeps, 4, 3 b –4 a); Petrus Pictavensis, Sent. III, 29 (PL 211, 1133 B). Für die wesentliche Hilfe bei der Auffindung der von Thomas zitierten Glossen bedanke ich mich aufrichtig bei Herrn Dr. Klaus Rodler, Mitarbeiter bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.

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17. Die Formgebung kommt bei den moralischen Tugenden vom Ziel her. Alle Tugenden sind aber – als ihrem letzten Ziel – auf die Schau Gottes hingeordnet, die »der ganze Lohn«43 ist, wie Augustinus sagt, und die dem Glauben folgt. Darum empfangen alle anderen Tugenden die Form vom Ziel des Glaubens. So scheint es, daß eher der Glaube die Form der heilige Liebe ist als umgekehrt. 18. Der Zahl nach fallen – gemäß Aristoteles im 2. Buch der Physik – die Wirk-, Ziel- und Formursache nicht in demselben zusammen.44 Die heilige Liebe aber ist das Ziel der Tugenden und deren Beweger. Deshalb ist sie nicht deren Form. 19. Das, von dem das Prinzip des Seins stammt, ist die Form. Das Prinzip des geistlichen Seins ist aber gemäß 1 Kor. 15, 10 die Gnade: »Durch die Gnade Gottes bin ich das, was ich bin«. Darum ist die Gnade Gottes und nicht die heilige Liebe die Form der Tugenden. Dagegen spricht: Ambrosius sagt, daß die heilige Liebe die Form und die Mutter der Tugenden ist.45 Antwort: Die heilige Liebe ist Form, Bewegungsursache und Wurzel der Tugenden. Um dies zu verstehen, muß man wissen, daß wir über einen Habitus auf Grund seiner Akte urteilen müssen. Darum ist es nötig – wenn das, was den einen Habitus ausmacht, als Form im anderen Habitus wirklich ist –, daß der eine Habitus sich zum anderen als dessen Form verhält. In allen Willensakten aber ist das, was ihr Ziel ausmacht, die Form. Das ist deshalb so, weil jeder Akt die Form und die Art entsprechend der Form des Tätigen empfängt, wie die Erwärmung aufgrund der Wärme geschieht. Die Form des Willens aber ist dessen Gegenstand, der das Gute und das Ziel ist, genauso wie das Verstehbare die Form des Verstan43 Vgl. Augustinus, De trin. I, 9, 14 (CCSL 50, 54). 44 Vgl. Aristoteles De Phys. II, 7; 198 a 25. 45 Vgl. dazu Ambrosiaster, In ep. ad 1 Cor. VIII (PL 17, col. 226 C).

Kommentar zu 1 Kor. 8, 2.

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des ist. Darum muß das, was vom Ziel herkommt, als Form im Willen wirklich sein. Der der Art nach gleiche Akt fällt darum, sofern er auf das eine Ziel hingeordnet ist, unter die Form der Tugend, und sofern er auf ein anderes Ziel hingeordnet wird, unter die Form des Lasters, wie es an demjenigen deutlich wird, der Almosen entweder um Gottes oder um eitler Anerkennung willen gibt. Der Akt des einen Lasters, durch den er auf das Ziel eines anderen Lasters hingeordnet ist, empfängt dessen Form. Wer nämlich stiehlt und hurt, ist inhaltlich betrachtet ein Dieb, der Form nach aber ein Zuchtloser.46 Es steht aber fest, daß der Akt der anderen Tugenden auf das spezifische Ziel der heiligen Liebe hingeordnet ist; dieses ist ihr Gegenstand, nämlich das höchste Gute. Bei den sittlichen Tugenden ist der Fall völlig klar: Derartige Tugenden sind nämlich auf bestimmte geschaffene Güter bezogen, die wiederum auf das ungeschaffene Gute als ihr letztes Ziel hingeordnet sind. Bei den theologischen Tugenden außer der heiligen Liebe steht aber dasselbe fest, denn das ungeschaffene Seiende ist freilich als das Wahre der Gegenstand des Glaubens, und sofern es erstrebbar ist, hat es die Natur des Guten. Auf diese Weise richtet sich der Glaube darauf, d. h. sofern es erstrebbar ist, denn keiner glaubt, wenn er nicht will. Der Gegenstand der Hoffnung hängt jedoch, obwohl er das ungeschaffene Seiende hinsichtlich seines Gutseins ist, vom Gegenstand der heiligen Liebe ab, denn das Gute ist der Gegenstand der Hoffnung, sofern es ersehnt und erstrebt werden kann. Man ersehnt nämlich etwas Gutes nur durch das zu erstreben, was man selbst liebt. Darum ist es klar, daß in den Akten aller Tugenden das der Form entspricht, was von der heiligen Liebe herkommt. Deshalb nennt man sie die Form aller Tugenden, sofern nämlich, wie gezeigt, jegliche Akte sämtlicher Tugenden auf das höchste geliebte Gute hingeordnet sind. Weil Gesetzesvorschriften sich auf die Akte der Tugenden beziehen, gilt darum, was Paulus in 1 Tim. 1, 5 sagt, daß nämlich die heilige Liebe das Ziel der Vorschrift ist. Von hier aus ist es offensichtlich: Die heilige Liebe ist gewissermaßen die Bewegungsursache aller Tugenden, sofern sie nämlich den Akt aller anderen Tugenden erweckt. Jede Tugend oder jedes höhere 46 Vgl. dazu Aristoteles, Eth. Nic. V, 10; 1134 a 16–23.

3. Artikel

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Vermögen besagt nämlich, das niedere Vermögen durch einen Befehl zu bewegen, so daß der niedere Akt auf das höhere Ziel hingeordnet ist, wie z. B. der Baumeister dem Maurer befiehlt, daß sein Akt des Maurerhandwerks auf die Form des Hauses, die das Ziel des Bauens ist, hingeordnet ist. Wenn daher alle anderen Tugenden auf das Ziel der heiligen Liebe hingeordnet sind, befiehlt sie die Akte aller Tugenden. Sie wird darum deren Bewegungsursache genannt. Weil »Mutter« diejenige genannt wird, die in sich aufnimmt und empfängt, darum wird die heilige Liebe Mutter der Tugenden genannt, denn durch die Empfängnis ihres Zieles bringt sie die Akte aller Tugenden hervor. Aus demselben Grund wird sie auch Wurzel der Tugenden genannt. Zu 1. Obwohl die heilige Liebe nicht jeder Tugend ihre eigentümliche Art verleiht, verleiht sie dennoch allen Tugenden die gemeinsame Art, durch die wir überhaupt von Tugend sprechen, sofern sie das Prinzip des Verdienens ist. Zu 2. Für die Form gibt es nicht in der Weise eine Form, daß die eine Form den Träger der anderen darstellen würde, gleichwohl hindert nichts daran, daß mehrere Formen in demselben Träger in einer Ordnung zueinander stehen. Das heißt, daß sich die eine als Form gegenüber der anderen verhält, wie etwa die Farbe gegenüber der Oberfläche. So kann die heilige Liebe die Form der anderen Tugenden sein. Zu 3. Die heilige Liebe fällt unter die Definition einer verdienstvollen Tugend, wie es durch die Definition des Augustinus deutlich wird, der sagt, daß die Tugend die gute Beschaffenheit des Geistes ist, durch die man in rechter Weise lebt.47 Denn es wird nur dadurch in rechter Weise gelebt, daß unser Leben auf Gott hingeordnet ist; das bewirkt die heilige Liebe. Zu 4. Jenes Argument geht von ein Art der der Form aus, die die Konstitution eines Dinges eingeht. Nicht in diesem Sinne aber nennt man die heilige Liebe die Form der Tugenden, sondern, wie oben gesagt,48 auf eine andere Weise. 47 Vgl. De virt. q. 1 a. 2; Anm. 31. 48 Im Korpus des Artikels.

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Zu 5. Die heilige Liebe vereinigt,49 wenn sie die gemeinsame Form der Tugenden ist, die Tugenden in einer gemeinsamen Art, nicht jedoch in einer eigenen Art, die man eine Art im engeren Sinne nennt. Zu 6. Die heilige Liebe kann die urbildliche Form der Tugenden genannt werden. Die Tugenden werden aber nicht gemäß ihrer Ähnlichkeit zu ihr gebildet, sondern sofern man gewissermaßen gemäß der Ähnlichkeit zu ihr handelt. Darum ist die heilige Liebe notwendig, solange man tugendhaft handelt. Zu 7. Obwohl es nur Gott zukommt, Tugenden zu erschaffen, ist dennoch das Handeln gemäß den Tugenden Sache des Menschen, der die Tugend besitzt. Darum braucht er die heilige Liebe. Zu 8. Die heilige Liebe besitzt hinsichtlich des Aktes nicht nur den Status der Urbildlichkeit, sondern auch eine bewegende und bewirkende Kraft. Ein wirksames Urbild gibt es aber nicht ohne das Abbild, weil es diesem Sein verleiht. Nur auf diese Weise ist die heilige Liebe nicht ohne die anderen Tugenden. Zu 9. Jede Tugend hat von ihrem eigenen Ziel bzw. Gegenstand die spezifische Form, durch die sie genau diese Tugend ist. Von der heiligen Liebe hat sie aber eine gewisse gemeinsame Form, aufgrund der sie verdienstlich für das ewige Leben ist. Zu 10. Gott bringt in uns Tugenden hervor, die durch besondere und allgemeine Formen geformt sind. Die besondere Form kommt nämlich vom Gegenstand bzw. Ziel, die allgemeine aber von der heiligen Liebe. Zu 11. Das Licht ist die Form der Farben, sofern sie durch das Licht wirklich sichtbar sind. In vergleichbarer Weise ist der Glaube die Form der Tugenden, sofern sie für uns erkennbar sind, weil wir nämlich durch den Glauben das Tugendhafte und das, was der Tugend widerspricht, erkennen. Sofern aber die Tugenden praktisch sind, werden sie durch die heilige Liebe gebildet. Zu 12. Der Verstand ist überhaupt früher als der Wille, weil das erkannte Gute der Gegenstand des Willens ist. Beim Handeln und Bewegen ist aber dennoch der Wille früher, denn der Verstand versteht und bewegt nur, sofern der Wille vorangeht. Daher bewegt der 49 Übersetzung von trahit.

3. Artikel

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Wille auch den Verstand selbst, sofern er tätig ist, denn wir gebrauchen den Verstand nur, wenn wir wollen. Daraus folgt, daß, wenn beim Glaubensakt der Verstand vom Willen bewegt wird – wir glauben nämlich etwas, weil wir wollen –, eher die heilige Liebe dem Glauben die Form gibt als umgekehrt. Zu 13. Der Akt des Willens richtet sich gemäß der Ordnung des Wollenden zu den Dingen selbst, wie sie in sich sind. Der Akt des Verstandes hingegen besteht darin, daß die erkannten Dinge im Verstehenden sind. Wenn darum die Dinge im Erkennenden sind, ist die Einsicht in jene würdiger als der Wille, sie zu besitzen, weil dann die Dinge in höherer Weise im Verstand sind als in sich selbst. Alles nämlich, was in einem anderen ist, ist in ihm auf die Weise dessen, in dem es ist.50 Wenn aber die Dinge höher stehen als der Erkennende, dann steigt auch der Wille höher als das, was der Verstand je erreichen kann. Darum ist es bei den sittlichen Tugenden, die es im Menschen gibt, so, daß die erkennende Tugend die strebende Tugend formt, wie z. B. die Klugheit die anderen sittlichen Tugenden. Bei den theologischen Tugenden aber, die auf Gott bezogen sind, formt die Tugend des Willens, d. h. die heilige Liebe, die Verstandestugend, nämlich den Glauben. Zu 14. Die Vernunftkraft gibt das Maß des Strebens bei dem, was in uns, nicht aber bei dem, was über uns ist, wie es in Artikel 1 dieser Frage und in der vorangegangenen Frage in Artikel 10 und 11 gesagt worden ist. Zu 15. Der Ordnung der Entstehung nach geht der Glaube der Hoffnung und die Hoffnung der heiligen Liebe als das Unvollkommene dem Vollkommenen voraus. In der Ordnung der Vollkommenheit aber geht die heilige Liebe sowohl dem Glauben als auch der Hoffnung voraus, und deswegen sagt man, daß sie deren Form ist, wie das Vollkommene für das Unvollkommene. Zu 16. Die heilige Liebe ist nicht die Form der Tugenden, die Wesensteil der Tugenden ist, so daß es nötig wäre, daß sie der Zeit nach den Tugenden folgt oder eine Materie der Tugenden wäre, wie z. B. bei den Formen der gezeugten Dinge. Die Form aber ist im Sinne 50 Vgl. Boethius, Phil. consol. V, pr. 4, 25 (CCSL 94, 96 f.) und ebd. V, pr. 5, 1 (CCSL 94, 100 f.).

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von formgebend zu verstehen; darum muß sie der Sache nach früher sein als die anderen Tugenden. Zu 17. Die Schau selbst ist, sofern sie als ein Gutes das Ziel ist, der Gegenstand der heiligen Liebe. Zu 18. Die innerliche Form kann nicht das Ziel einer Sache sein, obwohl sie das Ziel ihrer Entstehung ist. Die heilige Liebe ist aber, wie gesagt, nicht die innerliche Form, aber aus der Tatsache selbst, daß sie die anderen Tugenden zu ihrem Ziel führt, formt sie vielmehr die anderen Tugenden, wie aus dem Gesagten klar wird. Zu 19. Von der Gnade Gottes heißt es, daß sie die Form der Tugenden ist, sofern sie das geistliche Sein der Seele gibt, so daß sie aufnahmefähig für die Tugenden ist. Die heilige Liebe aber ist, wie in der Antwort gesagt, die Form der Tugenden, sofern sie deren Handlungen formt. 4. Artik el Die vierte Frage lautet: Ist die heilige Liebe eine Tugend? 51 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Die Habitus werden durch die Akte unterschieden und die Akte durch die Gegenstände. Die heilige Liebe aber hat zwei Gegenstände: Gott und den Nächsten. Deshalb ist sie nicht eine Tugend, sondern besteht aus zweien. 2. Es ist aber einzuwenden, daß einer der beiden Gegenstände bestimmender ist, nämlich Gott, denn die heilige Liebe liebt den Nächsten nur um Gottes willen. – Dagegen aber steht: Aristoteles sagt im 9. Buch der Ethik, daß das freundschaftliche Verhalten, das auf den anderen bezogen ist, vom freundschaftlichen Verhalten sich selbst gegenüber kommt.52 Was jedoch Prinzip und Ursache ist, ist das vorzüglichste in jeder Gattung. Darum liebt der Mensch mit heiliger Liebe sich selbst und nicht Gott als den Hauptgegenstand. 3. In 1 Joh. 4, 20 heißt es: »Wer seinen Bruder, den er sieht, nicht liebt, auf welche Weise kann er Gott lieben, den er nicht sieht?« Es scheint also, daß man mehr den Nächsten als Gott lieben soll. Der 51 Paralleltexte: Sum. theol. II–II, q. 23 a. 5; Sent. III, d. 27 q. 2 a. 4 ql. 1. 52 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. IX, 8; 1168 b 9 und ebd. IX, 4; 1166 a 1–4.

4. Artikel

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Nächste ist also liebenswerter als Gott. So scheint es, daß er der Hauptgegenstand der heiligen Liebe ist. 4. Nur das Erkannte wird geliebt,53 wie Augustinus im Buch Über die Dreifaltigkeit sagt. Der Nächste wird aber mehr erkannt als Gott; darum wird er auch mehr geliebt. So scheint es, daß die heilige Liebe nicht eine Tugend ist. 5. Jede Tugend hat ihr eigenes Maß, nach dem sie ihre Akte setzt: gerecht ist nämlich, nicht nur, wer Gerechtes hervorbringt, sondern auch auf gerechte Weise handelt. Die heilige Liebe setzt aber zwei Maßstäbe in ihren Akten, denn durch die heilige Liebe liebt jemand Gott aus ganzem Herzen, den Nächsten aber wie sich selbst. Also ist die heilige Liebe nicht eine Tugend. 6. Die Gesetzesvorschriften sind auf die Tugenden hingeordnet, weil es die Absicht der Gesetzgeber ist, die Menschen tugendhaft zu machen,54 wie es im 2. Buch der Ethik heißt. Aber mit Bezug auf die heilige Liebe werden zwei Vorschriften gegeben, und zwar: »Du sollst den Herrn deinen Gott lieben« und »Du sollst deinen Nächsten lieben«. Deshalb ist die heilige Liebe nicht eine Tugend. 7. So wie wir Gott und den Nächsten lieben, so sollen wir diese auch ehren. Wir ehren aber Gott und den Nächsten durch eine unterschiedliche Art der Ehre, denn wir ehren Gott durch Anbetung, den Nächsten aber nur durch den Dienst. Die heilige Liebe, mit der wir Gott lieben ist also eine andere als die, mit der wir den Nächsten lieben. 8. Die Tugend ist dasjenige, durch das wir in rechter Weise leben. Zur einen Lebensweise gehört es, Gott und zur anderen, den Nächsten zu lieben, denn Gott zu lieben, scheint zum kontemplativen Leben zu gehören, den Nächsten zu lieben aber zum aktiven. Deshalb ist die heilige Liebe zu Gott und zum Nächsten nicht eine Tugend. 9. Gemäß Aristoteles heißt es im 1. Buch der Physik: Das Eine wird in dreifacher Weise ausgesagt: im Sinne von »Kontinuität, Un53 Vgl. Augustinus, De trin. IX, 12, 18 (CCSL 50, 130) und ebd. X, 1, 2 (CCSL 50, 314 f.). 54 Thomas bezieht sich vielmehr auf: Aristoteles, Eth. Nic. I, 13; 1102 a 8–10.

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teilbarkeit und Bedeutungseinheit«.55 Die heilige Liebe ist aber nicht durch die Kontinuität eine, weil sie weder ein Körper noch die Form eines Körpers ist. Ebenso ist sie nicht im Sinne der Unteilbarkeit eine, weil sie auf diese Weise weder begrenzt noch unbegrenzt wäre; und sie ist auch nicht als Begriff eine, weil auf diese Weise nur die Synonyme eines sind, wie das Kleid und das Gewand. Deshalb ist die heilige Liebe nicht eine. 10. Die Dinge, die nur der Proportion nach eins sind, haben am wenigsten den Charakter des Einen: Daher sind die Dinge, die nicht der Proportion nach eins sind, weder der Art noch der Gattung noch der Zahl nach eins,56 wie es im 5. Buch der Metaphysik heißt. Die heilige Liebe ist auf das Ewige bezogen, und zwar auf Gott und den Nächsten, die nicht in Proportion zueinander stehen. Also ist die heilige Liebe keineswegs eine Tugend. 11. Gemäß Aristoteles im 8. Buch der Ethik, unterhält man die vollkommene Freundschaft nicht zu vielen Menschen.57 Die heilige Liebe aber, durch die Gott und der Nächste geliebt werden, ist die vollkommenste Freundschaft. Darum wird sie nicht auf viele bezogen und so werden Gott und der Nächste nicht mit derselben heiligen Liebe geliebt. 12. Die Tugend, bei deren Akt es ausreicht, nicht zu trauern, ist eine andere als die Tugend, die freudig handelt, wie die Tapferkeit im Vergleich zur Gerechtigkeit. Im Akt der heiligen Liebe aber genügt es, in Bezug auf gewisse Gegenstände nicht zu trauern, z. B. wenn wir die Feinde lieben. Bei einigen Gegenständen muß man sich freuen, z. B. wenn wir Gott und die Freunde lieben. Die heilige Liebe ist also nicht eine Tugend, sondern besteht aus mehreren. Dagegen spricht: 1. Alles, was in einer solchen Beziehung steht,58 daß das eine nur im anderen gedacht wird, ist eins. In der Liebe zum Nächsten aber

55 56 57 58

Aristoteles, Phys. I, 2; 185 b 9–11. Vgl. Aristoteles, Met. V, 6; 1016 b 31. Aristoteles, Eth. Nic. VIII, 3; 1156 b 25 und IX, 10; 1171 a 4. Übersetzung von ita se habet.

4. Artikel

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wird die Liebe zu Gott erkannt und umgekehrt,59 wie Augustinus im 7. Buch von Über die Dreifaltigkeit sagt. Es ist darum dieselbe heilige Liebe, mit der wir Gott und den Nächsten lieben. 2. In jeder Gattung gibt es ein erstes Bewegendes. Die heilige Liebe ist aber die Bewegungsursache aller Tugenden. Also ist sie eine. Antwort: Die heilige Liebe ist eine Tugend. Um das sich klar zu machen, muß man wissen, daß die Einheit jedes Vermögens oder Habitus vom Gegenstand her verstanden werden muß. Dies ist deshalb so, weil das Vermögen als genau das, was es ist, gemäß seiner Hinordnung auf das Mögliche, welches der Gegenstand ist, bezeichnet wird. Auf diese Weise werden Begriff und Art des Vermögens vom Gegenstand her aufgenommen. Ähnlich ist es beim Habitus, der nichts anderes ist als die Anlage des vollkommenen Vermögens für seinen Gegenstand. Im Gegenstand aber wird etwas als Form und etwas als Materie betrachtet. Das im Gegenstand als Form Betrachtete aber ist das, wodurch der Gegenstand mit dem Vermögen oder dem Habitus in Beziehung steht. Das als Materie Betrachtete aber ist das, in dem dies grundgelegt ist, wie wenn wir vom Gegenstand der Sehkraft sagen, daß ihr formaler Gegenstand die Farbe ist oder etwas derartiges. Denn in dem Maße etwas farbig ist, ist es sichtbar; das Materiale im Gegenstand ist aber der Körper, dem die Farbe gehört. Daraus erhellt, daß das Vermögen oder der Habitus sich auf den formbestimmenden Charakter des Gegenstandes an sich bezieht, aber auf das Materiale im Gegenstand akzidentell. Das Akzidentelle kann das Ding als solches nicht verändern; vielmehr vermag dies nur das, was an sich ist. Darum unterscheidet die materiale Verschiedenheit des Gegenstandes nicht zwischen Vermögen oder Habitus, sondern nur die formale. Das Eine ist nämlich die Sehkraft, durch die wir Steine, Menschen und Himmel sehen, weil dieser Unterschied der Gegenstände material ist und nicht wegen des formalen Charakters, der die Sehkraft definiert, sichtbar wird. 59 Vgl. Augustinus, De trin. VIII, 8, 12 (CCSL 50, 288).

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Das Schmecken aber unterscheidet sich vom Riechen aufgrund des Unterschiedes von Geschmack und Geruch, die beide an sich sinnenhaft sind. Das muß auch bei der heiligen Liebe bedacht werden. Es ist nämlich klar, daß wir jemand in zweifacher Weise lieben können: auf die eine Weise um seiner selbst willen und auf die andere Weise um eines anderen willen. Wir lieben jemand um seiner selbst willen, wenn wir ihn hinsichtlich seines eigenen Gutseins lieben, weil er nämlich in sich ehrwürdig oder uns angenehm oder nützlich ist. Um des anderen willen lieben wir jemand, wenn wir ihn lieben, weil er anderen gehört, die auch wir lieben. Genau deshalb nämlich, weil wir jemand um seiner selbst willen lieben, lieben wir all jene anderen, d. h. sowohl seine Familie als auch die Blutsverwandten und seine Freunde, sofern ihm an ihnen liegt. Dennoch gibt es bei ihnen allen den einen formalen Grund der Liebe, nämlich jenes Gute, das wir um seiner selbst willen und in allen anderen lieben. So muß man also sagen, daß die heilige Liebe Gott um seiner selbst willen liebt, und aus diesem Grund liebt sie alles andere, sofern es auf Gott hingeordnet ist. Darum liebt sie gewissermaßen Gott in allen Nächsten. So wird nämlich der Nächste durch die heilige Liebe geliebt, weil in ihm Gott ist oder damit in ihm Gott ist. Daraus geht hervor, daß es derselbe Habitus der heiligen Liebe ist, durch den wir Gott und den Nächsten lieben. Wenn wir aber den Nächsten um seiner selbst willen und nicht um Gottes willen lieben würden, gehörte dies zu einer anderen Liebe, z. B. zur natürlichen, zu der die Gemeinschaft betreffenden oder zu sonst einer Liebe,60 auf die Aristoteles im 8. Buch der Ethik eingeht. Zu 1. Der Nächste wird nur um Gottes willen geliebt. Formal gesprochen sind darum beide ein Gegenstand der Liebe, material jedoch zwei. Zu 2. Da die Liebe sich auf das Gute bezieht, entspricht die Unterscheidung in ihr der Unterscheidung im Guten. Es gibt aber ein eigenes Gutes des Menschen, sofern er eine einzelne Person ist. Sofern die Liebe sich auf dieses Gute bezieht, ist 60 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VIII, 3; 1156 a 11–24.

4. Artikel

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jeder sich selbst der Hauptgegenstand der Liebe. Es gibt aber ein allgemeines Gutes, das zu diesem und zu jenem gehört, sofern er Teil eines Ganzen ist, wie beispielsweise zum Soldaten, sofern er Teil des Heeres ist und zum Bürger, sofern er zum Staat gehört. Wenn die Liebe sich also auf dieses Gute bezieht, ist das der Hauptgegenstand der Liebe, in dem in bestimmender Weise jenes Gute besteht, wie z. B. das Gute des Heeres im Führer und das Gute des Staates im König. Darum gehört es zur Pflicht des guten Soldaten, daß er auch sein eigenes Wohl zurückstellt, um das Gute des Führers zu schützen, genauso wie auch der Mensch natürlicherweise den Arm hebt, um den Kopf zu schützen. Auf diese Weise bezieht sich die heilige Liebe auf das göttliche Gute als ihren Hauptgegenstand, das jedem einzelnen zukommt, sofern er der Glückseligkeit teilhaftig sein kann. Deshalb lieben wir nur diejenigen mit heiliger Liebe, die mit uns an der Glückseligkeit teilhaben können,61 wie Augustinus im Buch Über die christliche Lehre sagt. Zu 3. Johannes argumentiert nur vom Größeren aus, er verneint dabei nicht, daß der Nächste mehr geliebt werden soll, sondern daß man eher bereit ist, ihn zu lieben, denn die Menschen neigen mehr dazu, die sichtbaren Dinge als die unsichtbaren zu lieben. Zu 4. Obwohl nur das Erkannte geliebt wird, folgt daraus dennoch nicht, daß das besser Erkannte auch mehr geliebt wird, denn nicht deshalb wird etwas geliebt, weil es erkannt wird, sondern weil es gut ist. Nur aus diesem Grund ist etwas besser und liebenswerter, auch wenn es nicht besser erkannt wird, wie beispielsweise ein Mensch einen Sklaven oder auch ein Pferd, das er dauernd in Gebrauch hat, weniger liebt als einen guten Menschen, den er nur dem Hörensagen nach kennt. Zu 5. Die heilige Liebe bezieht sich auf das göttliche Gute als seinen formalen Gegenstand, wie im vorangegangenen Artikel und in der Antwort dieses Artikels schon gesagt. Denn das Gute verhält sich nämlich zu Gott selbst und zum Nächsten in verschiedener Weise. Darum ist es notwendig, daß sie einen unterschiedlichen Maßstab für den Hauptgegenstand und die untergeordneten Gegen61 Vgl. Augustinus, De doctr. christ. I, 35, 39 (CCSL 32, 29).

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stände hat. Darum hat sie hinsichtlich des Hauptgegenstandes nur einen Maßstab. Zu 6. Die Gesetzesvorschriften beziehen sich auf die Akte der Tugenden und nicht auf die Habitus. Deshalb kann nicht aus dem Unterschied der Vorschriften der Unterschied der Habitus, sondern nur der Unterschied der Akte erschlossen werden, die dennoch wegen des formalen Grundes zu einem Habitus gehören. Zu 7. Im Nächsten wird auch dessen eigenes Gutsein geehrt; darum schuldet man dem Nächsten eine andere Ehre als Gott. Zu 8. Sowohl die Liebe zum Nächsten als auch die Liebe zu Gott sind im betrachtenden Leben enthalten,62 wie Gregor der Große in seiner Predigt über den Propheten Ezechiel sagt, denn das Gebet, das am meisten zum betrachtenden Leben zu gehören scheint, richtet sich um des Nächsten willen an Gott. Das Prinzip des aktiven Lebens ist aber dennoch besonders die Liebe zu Gott wie er in sich selbst ist. Daraus folgt jedoch nicht – auch wenn die heilige Liebe das Prinzip von Verschiedenem ist –, daß die heilige Liebe deshalb nicht eine ist. Zu 9. Die heilige Liebe ist nicht eine im Sinne der Kontinuität. Vielmehr kann man behaupten: sie ist eine im Sinne der Unteilbarkeit, sofern sie eine eine und einfache Form ist. Man nennt sie nämlich nicht begrenzt oder unbegrenzt hinsichtlich einer räumlichen Quantität, sondern hinsichtlich der Quantität einer Kraft. Auf diese Weise handeln wir hier jedoch nicht über die Tugend der heiligen Liebe, sondern nur, sofern sie dem Begriff nach eine ist: Natürlich ist sie nicht eine der Zahl nach, wie Gewand und Kleid, sondern hinsichtlich der Art, wie Sokrates und Plato eins sind im Begriff des Menschen. Zu 10. Das Argument würde greifen, wenn der Gegenstand der heiligen Liebe zeitlich wäre und nicht, wie gesagt, ewig. Zu 11. Die vollkommene Freundschaft kann man nicht zu vielen in dem Sinn haben, daß man sie zu jedem um seiner selbst willen pflegt. Je vollkommener aber die Freundschaft zu jemand um seiner selbst willen ist, desto mehr kann sie sich auf viele um ihrer selbst willen ausdehnen. Auf diese Weise erweitert sich die heilige Liebe, 62 Vgl. Gregor der Große, Hom. in Ez. II, 2 (CCSL 142, 230).

5. Artikel

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weil sie die vollkommenste Freundschaft ist, auf Gott und zu allen hin, die Gott erkennen können, nicht nur zu den Freunden, sondern auch zu den Feinden. Zu 12. Die Tugend, die bezogen auf einen Hauptgegenstand freudig ausgeübt wird, kann als dieselbe bezogen auf etwas Untergeordnetes nicht freudig, sondern nur ohne Traurigkeit vollzogen werden. Auf diese Weise wird die heilige Liebe bezogen auf den Hauptgegenstand freudig ausgeübt, obwohl die Schwierigkeit in einem untergeordneten Gegenstand erlitten wird; in diesem Sinne reicht es aus, ohne Traurigkeit zu handeln.

5. Artik el Die fünfte Frage lautet: Ist die heilige Liebe eine besondere, von anderen unterschiedene Tugend? 63 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Das, was in der Definition jeder Tugend ausgesagt wird, meint nicht eine besondere Tugend, weil in der Definition jeder besonderen Tugend die allgemeine Tugend eingeschlossen ist. Die heilige Liebe wird aber in jeder Definition einer Tugend ausgesagt, denn Hieronymus sagt: So fasse ich seine allgemeine Definition der Tugend zusammen: Die Tugend ist die heilige Liebe, durch die wir Gott und den Nächsten lieben.64 Also ist die heilige Liebe nicht eine besondere, von anderen unterschiedene Tugend. 2. Die heilige Liebe, mit der wir den Nächsten lieben, ist nicht eine Tugend, die von der heiligen Liebe, mit der wir Gott lieben, unterschieden ist, weil die heilige Liebe den Nächsten um Gottes willen liebt. Jede Liebe liebt aber den Nächsten um Gottes willen. Darum unterscheidet sich keine Tugend von der heiligen Liebe. 3. Die Unterscheidungen der Habitus richten sich nach den Akten der Tugenden. Die heilige Liebe ist aber als Akt aller anderen Tugenden tätig, denn in 1 Kor. 13, 4 heißt es: »Die Liebe ist geduldig, 63 Paralleltexte: Sum. theol. II–II, q. 23 a. 4; Sent. III, d. 27 q. 2 a. 4 ql. 2; De malo q. 7 a. 2; De malo q. 9 a. 2. 64 Vgl. Hieronymus, Comm. in Is. XVI, 58, 3 (PL 24, col. 562).

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sie ist gütig«. Die heilige Liebe ist darum nicht eine Tugend, die von anderen unterschieden ist. 4. Das Gute ist der allgemeine Gegenstand aller Tugenden, denn »die Tugend ist es, die den, der sie besitzt, gut macht und sein Werk gut macht«.65 Das Gute aber ist der Gegenstand der heiligen Liebe. Die heilige Liebe hat also einen allgemeinen Gegenstand, und ist auf diese Weise eine allgemeine Tugend. 5. Eine bestimmte Vollkommenheit gehört auch nur zu einem Ding, das sie vervollkommnen kann. Die heilige Liebe ist aber die Vollkommenheit vieler, die vervollkommnet werden können, d. h. aller Tugenden. Deshalb ist sie nicht eine. 6. Derselbe Habitus kann nicht in verschiedenen Trägern sein. Die heilige Liebe ist jedoch in verschiedenen Trägern, denn uns ist geboten, Gott zu lieben mit ganzem Geist, mit ganzer Seele, mit ganzem Herzen und mit ganzer Kraft.66 Darum ist die heilige Liebe nicht eine Tugend. 7. Die Tugend ist auf die zu überwindende Sünde hingeordnet. Die heilige Liebe genügt aber, um alle Sünden zu überwinden, weil die geringste heilige Liebe jeder Versuchung zu widerstehen vermag. Also bewirkt die heilige Liebe das, was allen Tugenden zukommt. So scheint sie keine besondere Tugend zu sein. 8. Jeder besonderen Tugend ist auch eine besondere Sünde entgegengesetzt. Der heiligen Liebe aber sind alle Sünden entgegengesetzt, weil durch jede Todsünde die heilige Liebe verdorben wird. Die heilige Liebe ist darum keine besondere Tugend. 9. Jede Tugend ist nur notwendig zum rechten Handeln. Allein die heilige Liebe lenkt uns jedoch ausreichend zum rechten Handeln, denn Augustinus sagt: »Liebe und tu, was du willst!«67 Deshalb gibt es außer der heiligen Liebe keine andere Tugend; auf diese Weise ist die besondere Tugend nicht von den anderen unterschieden. 10. Die Habitus der Tugenden sind dazu notwendig, daß der Mensch ohne zu zögern und freudig handelt, denn keiner ist gerecht,

65 Aristoteles, Eth. Nic. II, 5; 1106 a 17. 66 Vgl. Dt. 6, 5. 67 Augustinus, In Ioh. ep. VII, 8, 12 (PL 35, col. 2033).

5. Artikel

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der sich nicht an einer gerechten Handlung freut,68 wie es im 1. Buch der Ethik heißt. Zu allem aber, was ohne zu zögern und freudig getan werden soll, genügt die heilige Liebe, denn Augustinus sagt im Buch Über die Worte des Herrn: Die Liebe vollbringt alles Schwere und Schreckliche mit großer Leichtigkeit.69 Außer der heiligen Liebe gibt es also nicht notwendigerweise noch eine andere Tugend. 11. Den Dingen, die untereinander verschieden sind, ist auch unterschiedliches Entstehen und Vergehen zu eigen. Die heilige Liebe und die anderen Tugenden haben jedoch kein unterschiedliches Entstehen und Vergehen, weil gleichzeitig mit der heiligen Liebe die anderen Tugenden sowohl eingegossen als auch vernichtet werden. Also ist die heilige Liebe keine besondere Tugend. Dagegen spricht: Paulus unterscheidet die Liebe in 1 Kor. 13, 13 von den anderen Tugenden, indem er sagt: »Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe, diese drei«. Antwort: Die heilige Liebe ist – unterschieden von den anderen Tugenden – eine besondere Tugend. Um dies einsichtig zu machen, ist zu bedenken: Wann immer ein Akt von mehreren untereinander geordneten Prinzipien abhängig ist, ist zur Vollkommenheit jenes Aktes erforderlich, daß jedes dieser Prinzipien vollkommen ist. Wenn nämlich eine Unvollkommenheit im ersten, in einem mittleren oder im letzten Prinzip vorliegt, folgt daraus ein unvollkommener Akt. Wenn beispielsweise ein Mangel an handwerklicher Erfahrung oder an der rechten Eignung des Handwerkzeuges vorliegt, folgt daraus ein unvollkommenes Werk. Dies kann auch bei den Seelenvermögen selbst betrachtet werden. Wenn es nämlich die rechte Vernunft ist, die der Beweger der niederen Vermögen ist, aber das begehrliche Strebevermögen nicht disponiert ist, wird zwar jemand der Vernunft gemäß handeln, aber 68 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. I, 9; 1099 a 16–20. 69 Thomas bezieht sich vielmehr auf: Augustinus, Serm. 70, 3 (PL 38,

col. 444).

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die Handlung wird unvollkommen sein, weil er im nicht disponierten und darum zum Gegenteil tendierenden begehrlichen Strebevermögen ein Hindernis haben wird, wie es z. B. am Enthaltsamen deutlich wird. Deshalb ist es neben der Klugheit, die die Vernunft vervollkommnet, notwendig – damit der Mensch sich in rechter Weise hinsichtlich der begehrenswerten Dinge verhält –, daß er das Maßhalten besitzt, um ohne zu zögern und ohne Hindernis zu handeln. Genauso ist es bei verschiedenen Vermögen, von denen das eine das andere bewegt; dasselbe gilt auch für verschiedene Gegenstände, von denen der eine auf den anderen als sein Ziel hingeordnet ist. Denn ein und dasselbe Vermögen, dem ein Ziel entspricht, bewegt nicht nur andere Vermögen, sondern auch sich selbst auf die Mittel zum Ziel. Deshalb muß jemand für die richtige Handlung nicht nur gut auf das Ziel ausgerichtet sein, sondern auch auf die Mittel 70 hierfür. Im anderen Fall erfolgt eine behinderte Handlung, wie es bei demjenigen klar ist, der zwar gut dazu disponiert ist, gesund zu werden, aber wenig Bereitschaft zeigt,71 die Mittel anzuwenden, die heilsam für ihn sind. So steht fest, daß der Mensch – wenn er durch die heilige Liebe dazu veranlagt ist, eine gute Haltung gegenüber dem letzten Ziel zu haben – notwendigerweise auch die anderen Tugenden besitzt, mit denen er gut für die Mittel disponiert ist. Die heilige Liebe ist also eine andere Tugend als die Tugenden, die auf die Mittel hingeordnet sind. Gleichwohl ist sie grundlegender und bestimmend72 für die Mittel, wie z. B. das Verhältnis von Medizin und Salbenzubereitung bzw. von Militär und Reiterei verdeutlicht. Daher steht fest, daß die heilige Liebe eine besondere Tugend sein muß, die von den anderen Tugenden unterschieden ist, aber leitend und bewegend in Bezug zu diesen steht. Zu 1. Jene Definition ist deswegen gegeben, weil alle anderen Tugenden in der heiligen Liebe begründet liegen. 70 Übersetzung von ea, quae sunt ad finem. 71 Übersetzung von male est dispositus. 72 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. I, 1; 1094 a 14.

5. Artikel

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Zu 2. Die heilige Liebe in der Gestalt der Nächstenliebe hat Gott als formalen Grund des Gegenstandes und nicht nur als letztes Ziel, wie aus dem im vorangegangenen Artikel Gesagten hervorgeht. Die anderen Tugenden haben jedoch Gott nicht als formalen Grund des Gegenstandes, sondern als letztes Ziel. Wenn darum gesagt wird, daß die heilige Liebe den Nächsten um Gottes willen liebt, bezeichnet dieses ›um … willen‹ nicht nur die materiale Ursache, sondern in gewisser Weise auch die formale. Wenn aber von den anderen Tugenden gesagt wird, daß sie um Gottes willen ausgeübt werden, bezeichnet jenes ›um … willen‹ nur die finale Ursache. Zu 3. Die heilige Liebe bringt die Akte anderer Tugenden nicht unmittelbar hervor,73 sondern nur, indem sie befiehlt. Die Tugend ruft nämlich nur jene Akte hervor, die der Vernunftbestimmung nach eigene Formen sind, wie z. B. die Gerechtigkeit das Richtige und das Maßhalten das Maßvolle. Man sagt aber, daß die heilige Liebe alle Akte befiehlt, die sie zu ihrem Ziel aufruft. Zu 4. Das gemeinsame Gute ist nicht der Gegenstand der heiligen Liebe, sondern das höchste Gute. Daraus folgt nicht, daß die heilige Liebe eine allgemeine Tugend, sondern die höchste der Tugenden ist. Zu 5. Die heilige Liebe ist, wie in Artikel 3 dieser Frage gesagt, nicht die innere, sondern die äußere Vollkommenheit der anderen Tugenden. Darum greift das Argument nicht. Zu 6. Die heilige Liebe ist nur in einem Vermögen als ihrem Träger, nämlich im Willen, der durch seinen Befehl die anderen Vermögen bewegt. Dementsprechend wird uns befohlen, Gott mit ganzem Gemüt und ganzer Seele zu lieben, so daß alle Kräfte unserer Seele zum Gehorsam der göttlichen Liebe gegenüber aufgerufen werden. Zu 7. Genauso wie die heilige Liebe die Akte der anderen Tugenden befiehlt, so schließt sie auch durch Befehl die ihnen entgegengesetzte Sünde aus und widersteht so den Versuchungen. Dennoch bedarf es der anderen Tugenden, die direkt und auf eine die gute Handlung hervorbringende Weise die Sünden ausschließen. Zu 8. Genauso wie die Akte der anderen Tugenden auf das Ziel hingeordnet sind, das Gegenstand der heiligen Liebe ist, so stehen 73 Übersetzung von caritas non producit actus aliarum virtutum elicitive.

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auch die Sünden, die den anderen Tugenden entgegengesetzt sind, im Gegensatz zum Ziel, das der Gegenstand der heiligen Liebe ist. Darum trifft es zu, daß die Gegensätze der anderen Tugenden, nämlich die Sünden, die heilige Liebe vertreiben. Zu 9. Obwohl die heilige Liebe uns in Form eines Befehls genügend in allem lenkt, was zum rechten Leben gehört, bedarf es dennoch der anderen Tugenden, die durch Wahl des Aktes den Befehl der heiligen Liebe so ausführen, daß der Mensch ohne zu zögern und ohne Hindernis handelt. Zu 10. Es kommt vor, daß etwas um eines Zieles willen ist, das als solches dennoch schwierig und schmerzlich ist, z. B. wenn jemand eine bittere Medizin wegen der Gesundheit gerne einnimmt, obwohl er beim Einnehmen sehr kämpft. Die heilige Liebe bewirkt darum, daß durch das Ziel alles erfreulich ist. Die anderen Tugenden, die bewirken, daß das Tugendhafte erfreulich ist, sind jedoch erforderlich, damit wir leichter handeln. Zu 11. Die heilige Liebe entsteht nicht deshalb gleichzeitig mit den anderen Tugenden, weil sie nicht von anderen unterschieden ist, sondern weil die Werke Gottes vollkommen sind. Daher gießt der Eingießende die heilige Liebe mit all jenen Tugenden ein, die zum Heil notwendig sind. Sie wird aber auch gleichzeitig mit allen Tugenden zerstört, weil alles, was den anderen Tugenden entgegengesetzt ist, wie gesagt, auch der heiligen Liebe entgegengesetzt ist.

6. Artik el Die sechste Frage lautet: Kann die heilige Liebe zusammen mit der Todsünde bestehen? 74 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Origenes sagt im 1. Buch von Über die Prinzipien: »Ich meine nicht, daß jemand von denen, die im höchsten und vollkommenen Grade standfest sind, plötzlich schwach wird und fällt; vielmehr kann er nur schrittweise und allmählich fallen«.75 Nur durch die ei74 Paralleltexte: Sum. theol. II–II, q. 24 a. 12; Sent. I, d. 17 q. 2 a. 1; De malo q. 7 a. 2; Quodl. IX, q. 6. 75 Vgl. Origenes, De principiis I, 3, 8 (SC 252, 164).

6. Artikel

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gene Einwilligung jedoch begeht man eine Todsünde plötzlich. Wer also durch die heilige Liebe im vollkommenen Stand ist, fällt nicht durch einen Akt der Todsünde von der heiligen Liebe ab. Auf diese Weise kann die Liebe gleichzeitig mit der Todsünde bestehen. 2. Bernhard von Clairvaux sagt, daß die heilige Liebe in Petrus, als er Christus verleugnet hat, nicht ausgelöscht, sondern nur betäubt war.76 Petrus hat aber, indem er Christus verleugnet hat, eine Todsünde begangen. Also kann die heilige Liebe auch im Zustand der Todsünde bestehen bleiben. 3. Die heilige Liebe ist stärker als der Habitus einer sittlichen Tugend. Der Habitus der Tugend wird jedoch, wenn er schon nicht durch einen Akt erzeugt wurde, erst recht nicht durch einen lasterhaften Akt aufgehoben. Die Tugend entsteht und vergeht nämlich aus denselben Taten auf entgegengesetzte Weise,77 wie es im 2. Buch der Ethik heißt. Darum wird der Habitus der heiligen Liebe durch einen Akt der Todsünde noch viel weniger aufgehoben. 4. Das eine Ding ist dem anderen einen Ding entgegengesetzt. Die heilige Liebe aber ist, wie gezeigt,78 eine besondere Tugend. Darum ist ihr auch ein besonderes Laster entgegengesetzt. Sie wird also nicht durch andere Todsünden aufgehoben. So scheint es, daß die Todsünde gleichzeitig mit der heiligen Liebe bestehen kann. 5. Die Gegensätze schließen sich nur hinsichtlich desselben Trägers aus. Sünden sind nicht gleichzeitig mit der heiligen Liebe im selben Träger, denn die heilige Liebe ist im höheren Teil der Vernunft, die zu Gott hingewandt ist. Die Todsünde kann aber auch im niedrigeren Teil der Vernunft sein,79 wie Augustinus in Über die Dreifaltigkeit sagt. Nicht jede Todsünde schließt also die heilige Liebe aus. 6. Das Stärkste kann nicht vom Schwächsten verdrängt werden. Die heilige Liebe ist aber das Stärkste, denn »die Liebe ist stark wie 76 Thomas bezieht sich auf das zu seiner Zeit Bernhard von Clairvaux zugeschriebene Werk des Wilhelm von Saint-Thierry: De natura et dignitate amoris 14 (CCSL, 88, 189). 77 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 1; 1103 b 6 f. 78 Vgl. De virt. q. 2, a. 5. 79 Vgl. Augustinus, De trin. XII, 12, 17 (CCSL 50, 371).

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der Tod«, wie es in Hld. 7, 6 heißt. Die Sünde aber ist das schwächste, weil das Übel schwach und ohnmächtig ist,80 wie Dionysius sagt. Die Todsünde verdrängt also die heilige Liebe nicht und kann auf diese Weise gleichzeitig mit ihr vorkommen. 7. Die Habitus werden an ihren Akten erkannt. Der Akt der heiligen Liebe jedoch kann mit der Todsünde gleichzeitig bestehen, denn der Sünder liebt Gott und den Nächsten. Also kann die heilige Liebe zusammen mit der Todsünde vorkommen. 8. Die heilige Liebe bewirkt vor allem, sich an der Betrachtung Gottes zu freuen. Zu der Freude jedoch, die im Betrachten liegt, gibt es keinen Gegensatz,81 wie Aristoteles im 1. Buch der Topik sagt. Für die heilige Liebe gibt es also keinen Gegensatz, und sie kann auf diese Weise nicht durch die Todsünde verdrängt werden. 9. Die allgemeine Bewegungsursache kann in dem einen beweglichen Ding behindert werden und in einem anderen nicht. Die heilige Liebe aber ist, wie in Artikel 3 dargelegt, das allgemeine Bewegende aller Tugenden. Es ist also nicht notwendig, daß sie in einer Tugend behindert wird, sofern sie andere bewegt. Darum kann die heilige Liebe in dem Maß mit der Sünde, die dem Maßhalten entgegengesetzt ist, gleichzeitig vorkommen, als sie die Bewegungsursache der anderen Tugenden ist. 10. Wie die heilige Liebe Gott zum Gegenstand hat, so auch der Glaube und die Hoffnung. Glaube und Hoffnung können aber ungeformt sein; aus demselben Grund also auch die Liebe. Auf diese Weise kann sie zusammen mit der Todsünde bestehen. 11. All das ist ungeformt, was die Vollkommenheit nicht besitzt, die seiner Natur entspricht. Die heilige Liebe aber hat hier auf dem Pilgerweg nicht die Vollkommenheit, für die sie in der ewigen Heimat geschaffen ist. Darum ist sie ungeformt und es scheint so zu sein, daß sie mit der Todsünde zusammen bestehen kann. 12. Die Habitus werden durch die Akte erkannt. Es können aber Akte derer, die die heilige Liebe haben, unvollkommen sein, denn häufig werden diejenigen, die die heilige Liebe haben, durch einen 80 Vgl. Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 20 (Dion. I, 279 und

303). 81 Vgl. Aristoteles, Top. I, 15; 106 a 38.

6. Artikel

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Akt der Ungeduld oder eitler Ehrsucht zu einer solchen Unvollkommenheit bewegt. Darum trifft es zu, daß der Habitus der heiligen Liebe unvollkommen und ungeformt ist. So scheint es, daß die Todsünde zusammen mit der heiligen Liebe bestehen kann. 13. Genauso wie der Tugend die Sünde, so ist die Unwissenheit dem Wissen entgegengesetzt. Nicht jede Unwissenheit jedoch hebt das ganze Wissen auf. Darum hebt auch nicht jede Todsünde die ganze Tugend auf. Wenn die heilige Liebe die Wurzel der Tugenden ist, scheint es darum nicht so zu sein, daß jede Todsünde die heilige Liebe aufhebt. 14. Die heilige Liebe ist die Gottesliebe. Obgleich die Liebe zu einem Gegenstand bleibt, handelt jemand aus Unenthaltsamkeit gegen sie, z. B. wenn jemand, der sich selbst liebt, durch Unenthaltsamkeit sich gegen das Gute wendet. Ähnlich handelt jemand, der eine Gemeinschaft liebt, im Eigennutz gegen sie,82 wie Aristoteles im 5. Buch der Politik sagt. Deshalb kann jemand durch das Sündigen gegen Gott handeln, während er in der heiligen Liebe bleibt. 15. Wer sich im Allgemeinen gut verhält, versagt dennoch im Einzelfall, wie z. B. der Unenthaltsame eine richtige Einsicht hinsichtlich des Allgemeinen hat, nämlich, daß das Unzuchttreiben ein Übel ist, er sich aber dennoch im Einzelfall dazu entscheidet, jetzt Unzucht zu treiben, als wäre es etwas Gutes,83 wie Aristoteles im 6. Buch der Ethik sagt. Die heilige Liebe bewirkt, daß der Mensch sich in Bezug auf das allgemeine Ziel gut verhält. Während also die heilige Liebe bleibt, kann jemand in einem konkreten Fall sündigen. Auf diese Weise kann die heilige Liebe zusammen mit der Todsünde bestehen. 16. Die konträren Gegensätze gehören zur selben Gattung. Die Sünde aber gehört zur Gattung des Aktes, denn die Sünde ist etwas, das gegen das Gesetz Gottes gesagt, getan oder begehrt wird. Die heilige Liebe aber gehört zur Gattung des Habitus. Deshalb ist die Sünde der heilige Liebe nicht entgegengesetzt und vertreibt sie nicht. Also kann sie zusammen mit ihr bestehen. 82 Vgl. Aristoteles, Pol. V, 9; 1309 b 11–13. 83 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VII, 2; 1145 b 10–14 und ebd. VII, 5; 1147

a 25 f.

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Dagegen spricht: 1. In Wsh. 1, 5 heißt es: »Der heilige Geist der Zucht flieht die Falschheit und wendet sich von törichten Gedanken ab, und er wird verscheucht, sobald Ungerechtigkeit naht.« Der heilige Geist aber ist im Menschen, solange er die heilige Liebe hat, weil durch die Liebe der Geist Gottes in uns wohnt. Daher wird die heilige Liebe von der sie überfallenden Ungerechtigkeit vertrieben. Auf diese Weise kann sie nicht gleichzeitig mit der Todsünde bestehen. 2. Jeder, der die heilige Liebe hat, ist des ewigen Lebens würdig, wie es in 2 Tim. 4, 8 heißt: »Nun liegt für mich der Siegeskranz bereit, den mir der Herr, der gerechte Richter an jenem Tag zurückgibt; nicht allein mir, sondern auch denen, die seiner Ankunft in Liebe entgegengehen«. Jeder, der aber eine Todsünde begeht, hat die ewige Strafe verdient, wie es in Röm. 6, 23 heißt: »Der Tod ist der Sünde Sold«. Niemand aber kann zugleich das ewigen Leben84 und die ewigen Strafe verdient haben. Deshalb kann man nicht gleichzeitig die heilige Liebe haben und im Stand der Todsünde sein. Antwort: Die heilige Liebe kann überhaupt nicht zusammen mit der Todsünde bestehen. Um dies zu verdeutlichen, muß zuerst bedacht werden, daß jede Todsünde der heiligen Liebe unmittelbar entgegengesetzt ist. Jeder nämlich, der etwas dem anderen vorzieht, liebt das Vorgezogene mehr. Weil darum der Mensch das eigene Leben und dessen Erhaltung mehr liebt als die sinnlichen Freuden – wie groß sie auch immer seien –, zieht der Mensch sich von ihnen zurück, wenn er sie als mit Sicherheit lebensbedrohlich einschätzt. Deshalb sagt Augustinus im Buch Über die dreiundachtzig Fragen, daß es niemanden gibt, der nicht mehr den Schmerz fürchtet als er die sinnliche Freude anstrebt, weil wir nämlich auch sehen, daß die wildesten Tiere sich der größten Lüste aus Furcht vor den Schmerzen enthalten.85 Aus diesem Grund begeht derjenige eine Todsünde, der irgendetwas dem Leben nach Gottes Willen und seiner Zugehörigkeit zu 84 Übersetzung von dignus vita. 85 Vgl. Augustinus, De div. qu. 83, 36, 1 (CCSL 44 A, 55).

6. Artikel

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ihm vorzieht. Darum steht fest, daß jeder, der eine Todsünde begeht, genau aus diesem Grunde ein anderes Gut mehr liebt als Gott. Wenn er nämlich Gott mehr lieben würde, zöge er es vor, nach dem Willen Gottes zu leben, als irgendein zeitliches Gut zu erwerben. Das aber gehört zum Wesen der heiligen Liebe, daß man Gott über alles liebt, wie aus dem oben Gesagten86 deutlich wird. Deshalb widerspricht jede Todsünde der heiligen Liebe. Die heilige Liebe wird nämlich den Menschen von Gott eingegossen. Was aber durch die göttliche Eingießung verursacht ist, bedarf nicht nur in ihrem Anfang der göttlichen Tätigkeit, damit es anfängt zu sein, sondern auch während der gesamten Dauer, damit es im Sein bewahrt wird. So wie die Helligkeit der Luft die Gegenwart der Sonne braucht, wird die Luft nicht nur am Anfang erhellt, sondern solange sie beleuchtet bleibt. Deswegen hört das Licht auf, in der Luft zu sein, wenn ein Hindernis, das den direkten Blick zur Sonne nimmt, sich dazwischen stellt. Ähnlich ist es, wenn eine Todsünde begangen wird: 87 sie nimmt den direkten Blick der Seele auf Gott. Dadurch daß etwas anderes Gott vorgezogen wird, wird der Einfluß der heilige Liebe genommen, und die heilige Liebe hört auf, im Menschen zu sein, wie es in Js. 59, 2 heißt: »Unsere Sünden stehen zwischen uns und unserem Gott«. Wenn der Geist des Menschen aber sich so besinnt, daß er wieder in rechter Weise auf Gott schaut, indem er ihn über alles liebt – das ist jedoch ohne die göttliche Gnade nicht möglich – kehrt er wiederum in den Stand der heiligen Liebe zurück. Zu 1. Das Wort des Origenes ist nicht so verstehen, daß der Mensch, der eine Todsünde begangen hat – wie vollkommen er auch sein mag – die heilige Liebe nicht plötzlich verliert. Vielmehr kommt es nämlich gar nicht leicht dazu, daß ein vollkommener Mensch mit einem Mal eine Todsünde begeht. Durch Nachlässigkeit und verschiedene läßliche Sünden jedoch disponiert er sich, daß er schließlich in die Todsünde hineinwankt.

86 Vgl. De virt. q. 2 a. 2 ad 13 und a. 5 ad 6. 87 Übersetzung von advenit.

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Zu 2. Das Wort des Bernhard von Clairvaux scheint man nur aufrecht erhalten zu können, wenn man es folgendermaßen versteht: Die heilige Liebe in Petrus ist nicht ausgelöscht gewesen, weil sie schnell wieder geweckt worden ist, denn diejenigen, die sich kaum von ihr entfernen, scheinen sich gewissermaßen gar nicht zu entfernen,88 wie es im 2. Buch der Physik heißt. Zu 3. Die sittliche Tugend, die durch Akte erworben wird, besteht in der Hinneigung des Vermögens zum Akt. Diese Hinneigung wird durch einen sündhaften Akt nicht ganz aufgehoben. Vielmehr ist der Einfluß der heiligen Liebe von seiten Gottes durch diesen einen Akt aufgehoben. Deshalb hebt der eine Akt der Sünde die heilige Liebe auf. Zu 4. Das allgemeine Gegenteil der heiligen Liebe ist der Haß, aber indirekt sind alle Sünden der heiligen Liebe entgegengesetzt, sofern sie zur Verachtung Gottes gehören, der über alles geliebt werden soll. Zu 5. Die höhere Vernunft, in der die heilige Liebe ist, bewegt die niedere. Darum schließt die Sünde, sofern sie der Bewegung der heiligen Liebe im niederen Teil entgegengesetzt ist, die heilige Liebe aus. Man kann aber auch so sagen: die Todsünde kommt nicht ohne Zustimmung zustande; diese aber steht unter der Führung des höheren Teiles der Vernunft, in dem die heilige Liebe ist Zu 6. Die Sünde verdrängt die heilige Liebe nicht aus eigener Kraft, sondern nur sofern der Mensch sich willentlich der Sünde unterwirft. Zu 7. Der Mensch, der eine Todsünde begeht, liebt Gott nicht über alles, d. h. wie man ihn mit heiliger Liebe lieben sollte. Es gibt also etwas anderes, das er der Liebe zu Gott vorzieht; deswegen verachtet er das Gebot Gottes. Zu 8: Die Freude, die man bei der Betrachtung Gottes hat, hat ihren Gegensatz nicht in derselben Gattung, d. h., daß es eine andere ihr entgegengesetzte Betrachtung gibt. Dies ist so, weil im Verstand die Arten der Gegensätze keine Gegensätze sind. Deshalb ist die Freude, die man beim Betrachten des Weißen hat, nicht der Freude, die man beim Betrachten des Schwarzen hat, entgegengesetzt. Weil 88 Vgl. Aristoteles, Phys. II, 5; 197 a 28 f.

6. Artikel

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aber der Akt des Willens in der Bewegung der Seele auf ein Ding hin besteht, sind die Bewegungen des Willens bei Dingen, die in sich selbst gegensätzlich sind, ebenfalls gegensätzlich, denn die Sehnsucht nach etwas Süßem z. B. ist der Sehnsucht nach etwas Bitterem entgegengesetzt. Dem entsprechend ist die Liebe zu Gott der Liebe zur Sünde, die von Gott ausschließt, entgegengesetzt. Die Betrachtung Gottes aber, in der es keine Gegensätzlichkeit gibt, ist nicht ein eigener Akt der heiligen Liebe, der durch sie hervorgerufen wird. Vielmehr wird er – gewissermaßen als ihre Wirkung – von ihr befohlen. Zu 9. Wenn die heilige Liebe, die die allgemeine Bewegungsursache der Tugenden ist, durch die Todsünde hinsichtlich einer einzigen Tugend behindert wird, wird sie es auch in ihrem allgemeinen Gegenstand. Deshalb wird sie im Allgemeinen und in jeder Hinsicht behindert. Es ist aber nicht so, daß das allgemein Bewegbare nur in seiner besonderen Wirkung behindert wird, ohne auch hinsichtlich der allgemeinen Tugend behindert zu werden. Zu 10. Obwohl Hoffnung und Glaube Gott zum Gegenstand haben, kommt ihnen dennoch nicht zu, daß sie die Formen anderer Tugenden sind, wie es – gemäß Artikel 3 – bei der heiligen Liebe der Fall ist. Darum gilt: Obwohl die heilige Liebe nicht ungeformt ist, können dennoch Hoffnung und Glaube ungeformt sein. Zu 11. Nicht der Mangel an Vollkommenheit macht eine Tugend ungeformt, sondern nur der Mangel, der die Hinordnung auf das höchste Ziel aufhebt. Diese Hinordnung bestimmt die heilige Liebe im Pilgerstand, obwohl die heilige Liebe im Pilgerstand nicht die Vollkommenheit der ewigen Heimat hat, die erst dem eigentlichen und vollkommenen Genuß entspricht. Zu 12. Die unvollkommenen Akte können zwar zu dem gehören, der die heilige Liebe hat, aber nicht zur heiligen Liebe selbst, denn nicht jeder Akt eines Tätigen ist der Akt einer im Tätigen bestehenden Form. Dies gilt besonders für die vernünftige Natur, die die Freiheit besitzt, den in ihr bestehenden Habitus zu gebrauchen. Zu 13. Obwohl nicht jede Unwissenheit über die besonderen Prinzipien Wissen ausschließt, hebt hingegen die Unwissenheit über die allgemeinen Prinzipien die Wissenschaft als ganze auf, denn solange man sie nicht kennt, kann man auch die Wissenschaft nicht

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kennen,89 wie es im 1. Kapitel der Sophistische Widerlegungen heißt. Das letzte Ziel aber verhält sich wie das allgemeinste Prinzip. Wenn darum jemand sich vom letzten Ziel durch die Todsünde abwendet, hebt er die heilige Liebe ganz auf. Dies gilt aber nicht für jede Abkehr, die sich auf besondere Prinzipien bezieht, wie an der läßlichen Sünde deutlich wird. Zu 14. Jeder, der durch die Zügellosigkeit gegen das Gute, das er liebt, verstößt, beurteilt das Gute nicht als völlig durch sein zügelloses Handeln verdorben. Wenn nämlich jemand, der einen Staat oder die Gesundheit des eigenen Leibes liebt, damit rechnen würde, daß er durch das, was er tut, eines von beiden verliert, würde er entweder sich ganz zurückhalten oder das, was er tut, mehr lieben als die eigene Gesundheit bzw. den Staat. Wenn daher jemand weiß, daß er durch die Todsünde Gott verliert – das heißt wissen, eine Todsünde zu begehen –, tut er dies – dessen ungeachtet – zügellos. Er ist dann überführt, mehr das, was er selbst tut, zu lieben als Gott. Zu 15. Die heilige Liebe erfordert nicht nur in einem allgemeinen Sinne, dem Gebot, daß Gott über alles geliebt werden soll, zuzustimmen, sondern auch, daß in diesem Gebot der Akt der Wahl und des Willens sich wie auf etwas anderes einzeln Wählbares ausrichtet. Diese Wahl von etwas Einzelnem wird durch die Wahl des Entgegengesetzen nämlich der von Gott ausschließenden Sünde, unmöglich gemacht.90 Zu 16. Obwohl Akte anderen Akten genauso unmittelbar entgegengesetzt sind wie auch ein Habitus einem anderen Habitus, sind dennoch die Akte auch mittelbar den Habitus entsprechend ihrer Gleichförmigkeit, die sie mit den entgegengesetzten Habitus haben, entgegengesetzt. Denn ähnliche Akte werden von ähnlichen Habitus hervorgebracht, und ähnliche Akte sind auch deren Ursache, obwohl nicht alle Habitus von Akten verursacht werden.

89 Vgl. Aristoteles, Soph. el. 11; 172 a 27. 90 Übersetzung von excluditur.

7. Artik el Die siebte Frage lautet: Ist der Gegenstand, der mit heiliger Liebe geliebt werden kann, vernünftiger Natur? 91 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Dasjenige, um dessentwillen etwas existiert, ist dieses im höheren Maße.92 Der Mensch aber wird wegen der Tugend und wegen der Glückseligkeit mit heiliger Liebe geliebt. Daher muß man Tugend und Glückseligkeit, die nicht vernünftige Geschöpfe sind, mehr mit heiliger Liebe lieben und deshalb ist das vernünftige Geschöpf nicht der eigentümliche Gegenstand der heiligen Liebe. 2. Durch die heilige Liebe werden wir Gott hinsichtlich des Liebens am meisten gleichgestaltet. Aber »Gott liebt alles, was da ist«, wie es in Wsh. 11, 24 heißt; er liebt es aus der heiligen Liebe, mit der er, der die heilige Liebe ist, sich selbst liebt. Darum muß alles und nicht nur die vernünftige Natur mit heiliger Liebe liebt werden. 3. Origenes sagt in seinem Kommentar zu Das Hohelied: eines ist es, Gott und alles Gute zu lieben.93 Gott aber wird aus heiliger Liebe geliebt. Darum soll, wenn alle Geschöpfe gut sind, auch alles und nicht nur die vernünftige Natur aus heiliger Liebe geliebt werden. 4. Allein die Liebe als heilige Liebe94 ist verdienstvoll. Wir können aber in der Liebe zu jeder Sache uns Verdienste erwerben. Also können wir jede Sache mit heiliger Liebe lieben. 5. Gott wird aus heiliger Liebe geliebt. Es muß also dasjenige mehr mit heiliger Liebe geliebt werden, das von ihm am meisten geliebt wird. Unter allen geschaffenen Dingen jedoch wird das Gute der Welt, von dem alles umfaßt wird, von Gott am meisten geliebt. Darum muß alles mit heiliger Liebe geliebt werden. 6. Das Lieben gehört mehr zur heiligen Liebe als das Glauben. Aber »die heilige Liebe glaubt alles«, wie es in 1 Kor. 13, 7 heißt. Um so mehr liebt sie also auch alles. 91 Paralleltexte: Sum. theol. II–II, q. 25 a. 3; Sent III, d. 28 a. 2. 92 Vgl. dazu Aristoteles, Anal. post. I, 2; 72 a 29 f.; auch zitiert in: De

virt. q. 1 a. 6 sc. 3. 93 Vgl. Origenes, In Cant. cant., Prol. (SC 375, 116). 94 Übersetzung von dilectio caritatis.

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7. Man findet die vernünftige Natur am vollkommensten in Gott. Wenn daher die vernünftige Natur der Gegenstand der heiligen Liebe ist, ist es notwendig, daß wir Gott mit heiliger Liebe lieben. Das aber scheint unmöglich zu sein, weil die reine Liebe95 die vollkommene Liebe ist. Wir können nämlich Gott in diesem Leben deswegen nicht vollkommen lieben, weil wir ihn nicht vollkommen erkennen. Wir erkennen nämlich von Gott nicht, was er ist, sondern nur, was er nicht ist. Die Liebe setzt aber die Erkenntnis voraus, weil nur das Erkannte geliebt wird. Darum ist die vernünftige oder verstandesmäßige Natur nicht der eigentliche Gegenstand der heiligen Liebe. 8. Gott unterscheidet sich vom Menschen viel grundlegender als jedes andere Geschöpf. Wenn wir also die Geschöpfe schon nicht mit heiliger Liebe lieben, können wir noch viel weniger Gott mit heiliger Liebe lieben. 9. Auch bei den Engeln liegt eine vernünftige Natur vor. Man kann aber, wie es scheint, die Engel nicht mit heiliger Liebe lieben. Darum ist die verstandesmäßige Natur nicht der eigentliche Gegenstand der heiligen Liebe. Beweis des Untersatzes: Die Freundschaft besteht in einer Lebensgemeinschaft, denn das Zusammenleben ist – gemäß Aristoteles in seiner Ethik – das Merkmal einer Freundschaft.96 Es scheint aber zwischen uns und den Engeln keine Lebensgemeinschaft zu geben, denn weder haben wir Gemeinschaft in diesem Leben mit der Natur der Engel, denn sie haben eine viel vorzüglichere Natur als der Mensch, noch haben wir teil am Leben der ewigen Herrlichkeit, weil das Geschenk der Gnade und der Herrlichkeit von Gott – gemäß Mt. 25, 15 – entsprechend dem Fassungsvermögen des Empfangenden geschenkt wird: »Er gab jedem nach seiner Fähigkeit«. Die Tugend des Engels ist jedoch viel größer als die des Menschen. Also haben die Engel mit den Menschen kein gemeinsames Leben. 10. Die vernünftige Natur findet sich auch in dem Menschen, der aus heiliger Liebe liebt. Wie es scheint, darf sich aber der Mensch

95 Übersetzung von amor caritatis. 96 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VIII, 15; 1162 b 14 f.

7. Artikel

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selbst nicht mit heiliger Liebe lieben. Der Gegenstand der heiligen Liebe ist deshalb nicht vernünftiger Natur. Beweis des Untersatzes: Die Gesetzesvorschriften sind für die Akte der Tugenden gegeben. Man erteilt aber keine Gesetzesvorschriften dafür, daß jemand sich selbst liebt. Diese Art des Liebens ist also kein Akt der heiligen Liebe. 11. Gregor der Große sagt in einer Predigt, daß die heilige Liebe nicht zwischen weniger als Zweien bestehen kann.97 Es kann sich also niemand selbst mit heiliger Liebe lieben. 12. Die Gerechtigkeit besteht genauso in Gemeinschaft wie die Freundschaft,98 wie Aristoteles im 4. Buch der Ethik sagt. Die Gerechtigkeit bezieht sich jedoch nicht auf den Menschen in seiner Selbstbeziehung,99 wie es im 5. Buch der Ethik heißt, also auch nicht bei der Freundschaft und bei der heiligen Liebe. 13. Nichts, was zum Laster gezählt wird, ist ein Akt der heiligen Liebe. Sich selbst zu lieben wird aber, gemäß 2 Tim. 3, 1, beim Menschen zum Laster gezählt: »Schwere Zeiten werden bevorstehen und die Menschen werden selbstsüchtig sein«. Sich selbst zu lieben ist also kein Akt der heiligen Liebe, und deshalb ist die vernünftige Natur kein eigentümlicher Gegenstand der heiligen Liebe. 14. Der menschliche Körper ist ein Teil der vernünftigen Natur, d. h. des Menschen. Der menschliche Körper scheint aber etwas zu sein, das man mit heiliger Liebe lieben muß, weil – gemäß Aristoteles im 9. Buch der Ethik – die getadelt werden, die sich selbst nur ihrer äußeren Natur nach lieben.100 Darum ist die vernünftige Natur kein Gegenstand der heiligen Liebe. 15. Keiner, der die heilige Liebe hat, flieht das, was er aus heiliger Liebe liebt. Die Heiligen, die die heilige Liebe haben, fliehen aber gemäß Röm. 7, 24 den Leib: »Wer wird mich erlösen von diesem Todesleibe?« Darum kann der Leib nicht mit heiliger Liebe geliebt werden. Daraus ergibt sich derselbe Schluß wie beim vorangegangenen Einwand. 97 Vgl. Gregor der Große, Hom. in ev. I, 17, 1 (CCSL 141, 117). 98 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VIII, 1; 1155 a 23 f. 99 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. V, 15; 1138 b 7. 100 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. IX, 8; 1168 b 15–17.

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16. Niemand ist gehalten, das zu erfüllen, was er nicht vermag. Aber keiner kann wissen, ob er die heilige Liebe hat. Also wendet sich auch keiner dem vernünftigen Geschöpf, das er lieben soll, mit heiliger Liebe zu. 17. Wenn behauptet wird, daß das vernünftige Geschöpf mit heiliger Liebe geliebt wird, bezeichnet die Präposition ›mit‹ die Beziehung auf eine Ursache. Sie kann aber weder die Beziehung einer Materialursache meinen, weil die heilige Liebe nichts Materielles ist, sondern etwas Geistiges, noch kann sie die Beziehung einer Zielursache sein, weil das Ziel des Liebens mit heiliger Liebe Gott ist, nicht aber die heilige Liebe. Ähnlich kann sie weder die Beziehung der Wirkursache bezeichnen, weil der heilige Geist es ist, der uns gemäß Röm. 5, 5 zum Lieben bewegt: »Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den heiligen Geist, der uns gegeben worden ist«; noch kann sie die Beziehung der Formalursache bezeichnen, weil die heilige Liebe weder die innere Form ist, denn sie ist nicht das Wesen der Sache, noch ist sie die äußere Form des Abbildes, weil so alles, was mit heiliger Liebe geliebt wird, in derselben Weise in die Art der heiligen Liebe gezogen würde wie die Abbilder zur Art des Urbildes. Die vernünftigen Geschöpfe können also nicht mit heiliger Liebe geliebt werden. 18. Augustinus sagt im 1. Buch aus Über die christliche Lehre, daß der Nächste jener ist, der sich für uns mit einer Wohltat einsetzt.101 Gott aber setzt sich für uns mit Wohltaten ein. Gott ist also uns der Nächste. Damit nicht übereinstimmend wird von Augustinus behauptet, daß Gott und der Nächste in unterschiedlicher Weise mit heiliger Liebe geliebt werden sollen.102 19. Wenn Christus der Mittler zwischen Gott und den Menschen ist, scheint es, daß etwas anderes als liebenswert behauptet werden muß als Gott und der Nächste. Darum gibt es in der heiligen Liebe fünf liebenswerte Dinge und nicht nur vier,103 wie Augustinus sagt.

101 Vgl. Augustinus, De doctr. christ. I, 30, 31 f. (CCSL 32, 24). 102 Vgl. ebd. I, 30.33 (CCSL 32, 24). 103 Vgl. Augustinus, De doctr. christ. I, 23, 23 (CCSL 32, 18).

7. Artikel

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Dagegen spricht: In Lev. 19, 18 heißt es: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«. Die Glosse sagt dazu: Der Nächste ist jemand nicht nur der der Blutsverwandtschaft nach, sondern auch der der Gemeinschaft nach.104 Demnach hat also etwas entsprechend der vernünftigen Natur mit uns Gemeinschaft und ist auf diese Weise mit heiliger Liebe liebenswert. Die vernünftige Natur ist also der Gegenstand der heiligen Liebe. Antwort: Wenn man das untersucht, was dem Akt eines Vermögens oder Habitus untersteht, muß man den formalen Charakter des Gegenstandes jenes Vermögens oder Habitus bestimmen. Sofern nämlich Dinge in Beziehung zu jenem Charakter stehen, tun sie das so, daß sie dem Vermögen oder dem Habitus unterworfen sind. Beispielsweise sind die sichtbaren Dinge sichtbar, sofern sie in Beziehung zum formalen Charakter stehen, und entsprechend demselben Charakter ist es ihnen eigen, daß sie an sich oder akzidentell sichtbar sind. Wenn aber der Gegenstand der allgemein verstandenen Liebe das Gute im allgemeinen Sinne ist, ist es notwendig, daß jede besondere Art der Liebe auch einen besonderen guten Gegenstand hat: Beispielsweise ist der spezifische Gegenstand der natürlichen Freundschaft, die sich auf die Blutsverwandten bezieht, das natürliche Gute, sofern es von den Eltern herstammt. In der die soziale Gemeinschaft betreffenden Freundschaft ist der Gegenstand das Gute des Staates. Darum hat auch die heilige Liebe sowohl ein besonderes Gutes als auch einen eigenen Gegenstand, wie in Artikel 4 dieser Frage gesagt, nämlich das Gute der göttlichen Glückseligkeit. Sofern also Dinge in Beziehung zu diesem Gut stehen, tun sie das, weil sie mit heiliger Liebe liebenswert sind. Man muß aber bedenken, daß, wenn Lieben bedeutet, für jemanden das Gute zu wollen, das Geliebtwerden in zweifacher Weise ausgesagt wird: entweder von demjenigen, dem wir das Gute wollen oder von dem Guten, das wir für jemanden wollen. 104 Vgl. Augustinus, Ep. 155, c. 4 n. 14 (PL 33, 672).

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Auf die erste Weise können nur jene mit heiliger Liebe geliebt werden, für die wir das Gute der ewigen Glückseligkeit wollen können. Diese aber sind es, die dazu geschaffen sind, ein derartiges Gut ihr Eigen zu nennen. Wenn darum nur die verstandesmäßige Natur dazu geschaffen ist, das Gute der ewigen Glückseligkeit zu besitzen, kann auch nur die verstandesmäßige Natur mit heiliger Liebe geliebt werden. Dies gilt, sofern man vom Geliebt-werden bei den Dingen spricht, für die wir das Gute wollen. Deswegen werden dementsprechend von Augustinus »vier verschiedene Dinge, die mit heiliger Liebe geliebt werden sollen«,105 unterschieden, sofern sie in unterschiedlicher Weise die ewige Glückseligkeit haben können. Es gibt nämlich etwas, das die ewige Glückseligkeit durch sein Wesen hat, und das ist Gott; und es gibt etwas, das sie durch Teilhabe hat und das ist das vernunftbegabte Geschöpf, ebenso sehr wie jene, die die anderen Geschöpfe, die ihm hinsichtlich der Teilhabe an der Glückseligkeit angehören, lieben. Es gibt aber auch etwas, zu dem es gehört, die ewige Glückseligkeit nur durch ein Überfließen zu haben, wie z. B. unser Körper, der durch das Überfließen der Ehre von der Seele auf ihn geehrt wird. Darum muß man Gott als die Wurzel der Glückseligkeit mit heiliger Liebe lieben. Jeder Mensch muß sich aber selbst mit heiliger Liebe lieben, damit er an der Glückseligkeit teilhat, den Nächsten aber wie einen Begleiter in der Teilhabe der Glückseligkeit, den eigenen Körper jedoch, sofern die Glückseligkeit auf ihn überfließt. In der zweiten Weise können – sofern man nämlich sagt, daß jene Güter geliebt werden, die wir für andere wollen –, alle Güter mit heiliger Liebe geliebt werden. Im Hinblick darauf, daß sie Güter derer sind, die die Glückseligkeit haben können, sind nämlich alle Geschöpfe für den Menschen ein Weg, um die Glückseligkeit zu erlangen. Ebenso sind alle Geschöpfe auf die Herrlichkeit Gottes hingeordnet, sofern in ihnen die göttliche Gutheit offenbar wird. Wir können jetzt also alles durch Hinordnen dieser auf jene, die die Glückseligkeit haben oder haben können, mit heiliger Liebe lieben.

105 Vgl. Augustinus, De doctr. christ. I, 23, 23 (CCSL 32, 18).

7. Artikel

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Man muß auch bedenken, daß diejenigen, die sich gegenseitig lieben, sich genauso verhalten wie die Güter, die deren Gegenstände sind. Wenn daher alle menschlichen Güter auf die ewige Glückseligkeit genauso wie auf das letzte Ziel hingeordnet sind, umfaßt die Liebe als heilige Liebe alle Weisen der menschlichen Liebe außer jenen, die auf die Sünde gegründet sind und nicht auf die Glückseligkeit hingeordnet werden können. Daß daher Blutsverwandte, Mitbürger, gemeinsam auf einer Wallfahrt Pilgernde106 oder derartige sich gegenseitig lieben, kann daher ein Verdienst aus Liebe sein. Daß sie sich gegenseitig wegen der Gemeinschaft beim Raub oder beim Ehebruch lieben, kann nicht verdienstvoll sein, auch nicht mit heiliger Liebe. Zu 1. Wir lieben die Tugend und die Glückseligkeit insofern mit heiliger Liebe, als wir dies für diejenigen wollen, denen es zukommt, die Glückseligkeit zu haben. Zu 2. Gott liebt alle Dinge mit heiliger Liebe nicht so, daß er für sie die Glückseligkeit will, sondern indem er sie auf sich selbst d. h. Gott und auch zu anderen, die die Glückseligkeit haben können, hinordnet. Zu 3. Alles Gute ist in Gott als dem ersten Prinzip. Auf diese Weise hat es Origenes verstanden, daß es eines ist, Gott und jegliches Gute zu lieben. Zu 4. Wir können alles verdienstvoll lieben, indem wir es auf das hinordnen, was zur Glückseligkeit fähig ist, nicht aber dadurch, daß wir für sie die Glückseligkeit wollen. Zu 5. Die vernünftige Natur, die der Glückseligkeit, auf die alle Geschöpfe hingeordnet sind, fähig ist, ist im Guten der Welt wie in seinem Prinzip enthalten. In diesem Sinne trifft es sowohl für Gott als auch für uns zu, das Gute der Welt am meisten mit heiliger Liebe zu lieben. Zu 6. Genauso wie die heilige Liebe alles glaubt, was geglaubt werden soll, liebt sie alles, sofern es mit heiliger Liebe geliebt werden soll. 106 Der Text erlaubt auch eine Übersetzung im allgemeinen Sinn: »… gemeinsam auf der Pilgerschaft des Lebens sich Befindende …«

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Zu 7. Wir können Gott hier nicht in jener Vollkommenheit lieben, in der wir ihn in der ewigen Heimat – nämlich durch sein Wesen schauend – lieben. Zu 8. In der Unterschiedenheit der Geschöpfe vom Menschen liegt nicht der Grund, warum sie nicht mit heiliger Liebe geliebt werden, sondern weil sie nicht der Glückseligkeit fähig sind. Zu 9. Die Engel haben mit uns im natürlichen Leben keine Gemeinsamkeit hinsichtlich der Art, sondern nur hinsichtlich der Gattung der vernünftigen Natur. Wir können aber mit ihnen Gemeinschaft haben im Leben der Herrlichkeit. Weil aber gesagt wird: »Er gab jedem nach seiner Fähigkeit«,107 ist das nicht nur auf die natürliche Tugend zu beziehen. Ein Irrtum ist es nämlich, zu sagen, daß das Geschenk der Gnade und der Herrlichkeit nach Maß der natürlichen Dinge gegeben wird. Man muß nämlich darunter auch die Tugend verstehen, die durch jene Gnade konstituiert ist, durch die den Menschen gegeben ist, daß sie die gleiche Herrlichkeit wie die Engel verdienen können. Zu 10. Das geschriebene Gesetz ist als Hilfe für das sittliche Naturgesetz, das durch die Sünde verdunkelt ist, gegeben worden. Es war jedoch nicht in der Weise verdunkelt, daß es zur Liebe zu sich selbst und zum eigenen Körper aufgefordert hätte; vielmehr war es dahingehend verdunkelt, daß es nicht zur Gottes- und Nächstenliebe bewegte. Darum hat man im geschriebenen Gesetz die Gebote zur Gottes- und Nächstenliebe aufnehmen müssen; dennoch ist in diesen eingeschlossen, daß jemand sich selbst liebt. Wenn wir nämlich zu Gott, den wir lieben sollen, hingezogen werden, werden wir zu Gott als den hingezogen, den wir ersehnen sollen, wodurch wir am meisten uns selbst lieben, indem wir für uns das höchste Gut wollen. Im Gebot der Nächstenliebe aber heißt es: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«; darin ist die Selbstliebe eingeschlossen. Zu 11. Obwohl man keine Freundschaft zu sich selbst im eigentlichen Sinne haben kann, hat man dennoch die Liebe zu sich selbst. Denn, wie im 9. Buch der Ethik gesagt wird, kommen das freundschaftliche Verhalten, das sich auf den anderen bezieht, vom freund107 Mt. 25, 15.

7. Artikel

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schaftlichen Verhalten sich selbst gegenüber.108 Sofern aber die heilige Liebe auch die sinnenhafte Liebe meint, kann sich jemand selbst mit heiliger Liebe lieben. Gregor der Große aber sagt über die heilige Liebe, daß sie den Charakter der Freundschaft in sich trägt.109 Zu 12. Obwohl die Freundschaft genauso wie die Gerechtigkeit in der Gemeinschaft mit einem anderen besteht, bezieht sich dennoch die sinnliche Liebe nicht notwendig auf einen anderen; das reicht für den Charakter der heiligen Liebe aus. Zu 13. Diejenigen, die sich selbst lieben, werden getadelt, sofern sie sich selbst mehr als sie sollen lieben. Das trifft nicht so sehr auf die geistlichen Güter zu, weil keiner die Tugenden zu sehr lieben kann, sondern eher kann sich jemand selbst hinsichtlich der äußeren bzw. körperlichen Güter zu sehr lieben. Zu 14. Niemand, der sich aufgrund der äußeren Natur selbst liebt, wird getadelt, sondern nur derjenige, der die äußeren Güter über das Maß der Tugend hinaus sucht; und in diesem Sinne können wir unseren Körper mit heiliger Liebe lieben. Zu 15. Die heilige Liebe flieht nicht den Körper, sondern die Hinfälligkeit des Körpers, sofern »der Körper, der hinfällig wird, die Seele lähmt«, wie es in Wsh. 9, 15 heißt. Deswegen hat Paulus dies in bezeichnender Weise über seinen Todesleib gesagt. Zu 16. Daraus, daß der Mensch nicht mit Sicherheit weiß, ob er die heilige Liebe hat, folgt nicht, daß er nicht mit heiliger Liebe lieben kann, sondern nur, daß er nicht beurteilen kann, ob er mit heiliger Liebe liebt. Darum kann von uns verlangt werden, mit heiliger Liebe zu lieben, nicht aber, daß wir beurteilen, ob wir mit heiliger Liebe lieben. Deshalb sagt Paulus in 1 Kor. 4, 3: »Auch ich selbst richte mich nicht, sondern wer mich richtet, ist der Herr«. Zu 17. Wenn jemand behauptet, den Nächsten mit heiliger Liebe zu lieben, kann110 diese Präposition ›mit‹ die Beziehung der Ziel-, Wirk- und Formursache bezeichnen. Die Zielursache nämlich meint sie, sofern die Nächstenliebe auf die Gottesliebe hingeordnet ist als ihr Ziel. Darum heißt es in 1 Tim. 1, 5, daß das Ziel des Gebotes die 108 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. IX, 8; 1168 b 9 und ebd. IX, 4; 1166 a 1–4. 109 Vgl. Augustinus, Ep. 202 A, 2, 4 (CSEL 57, 304). 110 Übersetzung von potest.

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heilige Liebe ist, weil die Gottesliebe die Beobachtung der Gebote zum Ziel hat. In der Beziehung der Wirkursache meint sie: Sofern die heilige Liebe der Habitus ist, der sich zum Lieben hinneigt, verhält sie sich zum Akt der Liebe wie die Wärme zum Wärmen. In der Beziehung der Formursache schließlich meint sie: Sofern der Akt die Art vom Habitus empfängt, wie das Wärmen von der Wärme. Zu 18. Der Wesensbegriff dessen, was ›der Nächste‹ meint, ist sowohl bei dem, der die Wohltat gibt, als auch bei dem, der sie empfängt, erfüllt. Es ist jedoch nicht so, daß jeder, der Wohltaten spendet, der Nächste ist. Zwischen denen, die sich die Nächsten sind, müssen aber Gemeinsamkeiten in irgendeiner Ordnung bestehen. Dennoch kann Gott, obwohl er Wohltaten spendet, für uns nicht ein Nächster genannt werden. Christus wird aber, sofern er ein Mensch ist, für uns ein Nächster genannt, indem er uns Wohltaten spendet. Zu 19. Die Antwort auf den letzten Einwand ergibt sich daraus.

8. Artik el Die achte Frage lautet: Gehört die Feindesliebe zur Vollkommenheit des Rates? 111 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Was unter ein Gebot fällt, gehört nicht zur Vollkommenheit des Rates. Den Feind zu lieben, fällt aber eindeutig unter folgendes Gebot: ›Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‹, denn mit dem Titel ›der Nächste‹ ist jeder Mensch gemeint,112 wie Augustinus im Buch Über die christliche Lehre sagt. Die Feindesliebe ist gehört darum nicht zur Vollkommenheit des Rates 2. Es ist aber zu erwidern, daß die Feindesliebe hinsichtlich des Zustandekommens von Freundschaft und anderer Wirkungen der heiligen Liebe zur Vollkommenheit des Rates gehört. – Dagegen aber steht, daß wir angehalten sind, jeden Nächsten mit heiliger Liebe zu lieben. Die Liebe als heilige Liebe ist jedoch nicht nur im Herzen, sondern auch im Werk. Es heißt nämlich in 1 Joh. 3, 18: 111 Paralleltexte: Sum. theol. II–II, q. 25 a. 8; Sum. theol. II–II, q. 83 a. 8; Sent. III, d. 30 a. 1; De perf. vitae spir., c. 14; Ad Rom., c. 12 l. 3. 112 Vgl. Augustinus, De doctr. christ. I, 30, 32 (CCSL 32, 25).

8. Artikel

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»Laßt uns nicht in Wort und Zunge lieben, sondern in Werk und Wahrheit.« Darum fällt auch hinsichtlich der Wirkung der heiligen Liebe die Feindesliebe unter das Gebot. 3. In Mt. 5, 44 heißt es ähnlich: »Liebt eure Feinde und tut Gutes denen, die euch hassen«. Wenn also die Feinde zu lieben unter das Gebot fällt, dann auch ihnen Gutes zu tun. Das gehört aber zur Wirkung der heiligen Liebe. 4. Was zur Vollkommenheit des Rates gehört, wurde im alten Gesetz nicht überliefert, denn es heißt in Hebr. 7, 19: »Das Gesetz hat ja nichts zur Vollendung gebracht«. Im alten Gesetz wurde jedoch überliefert, daß man zu den Feinden nicht nur das Gefühl der Liebe haben soll, sondern es auch zur praktischen Auswirkung der Liebe ihnen gegenüber kommen soll. Denn es heißt in folgenden Schriftstellen, in Ex. 23, 4: »Wenn du dem entlaufenen Ochsen oder dem verirrten Esel deines Feindes begegnest, sollst du sie ihm wieder zuführen«; in Lev. 19, 17: »Du sollst deinen Bruder in deinem Herzen nicht hassen, sondern weise ihn öffentlich zurecht, damit du nicht seinetwegen Schuld auf dich lädst«; in Ib. 31, 29 f.: »Habe ich mich über das Unglück dessen, der mich haßt, gefreut, und habe ich mich gefreut, wenn ihn ein Übel traf? Denn habe ich etwa meinen Mund zum Sündigen gebraucht?«; und in Spr. 25, 21: »Hungert dein Feind, so speise ihn mit Brot, und dürstet ihn, gib ihm Wasser zu trinken!« Darum gehört die Feindesliebe auch im Hinblick auf das Zustandekommen der Wirkungen der heiligen Liebe nicht zur Vollkommenheit des Rates. 5. Ein Auftrag ist nicht durch ein Gebot dem Gesetz entgegengesetzt. Daher verheißt der Herr, als er die Vollkommenheit des neuen Gesetzes lehrt, in Mt. 5, 17: »Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzuheben, sondern zu erfüllen«. Die Feindesliebe aber scheint dem Gebot des Gesetzes entgegengesetzt zu sein, denn es heißt in Mt. 5, 43: »Du sollst deinen Freund lieben und deinen Feind hassen«. Deshalb gehört die Feindesliebe nicht zur Vollkommenheit des Rates. 6. Die Liebe hat einen eigenen Gegenstand, zu dem sie hinneigt, weil, wie Augustinus sagt, »meine Schwere meine Liebe ist«.113 Der Feind scheint jedoch nicht der der Liebe eigene Gegenstand zu sein, 113 Augustinus, Conf. XIII, 9 (CCSL 27, 246).

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sondern eher das sich ihr Widersetzende. Es gehört also nicht zur Vollkommenheit der heiligen Liebe, wenn jemand den Feind liebt. 7. Die Vollkommenheit der Tugend ist nicht der Neigung der Natur entgegengesetzt, sondern eher wird die Neigung der Natur durch die Tugend vervollkommnet. Die Natur aber bewegt dazu, daß man den Feind haßt, denn jedes natürliche Ding weist seinen Gegensatz von sich. Deshalb gehört es nicht zur Vollkommenheit der heiligen Liebe, wenn man den Feind liebt. 8. Die Vollkommenheit der heiligen Liebe und jeder Tugend besteht in der Verähnlichung mit Gott. Gott aber liebt seine Freunde und haßt seine Feinde, wie es in Mal. 1, 2 f. heißt: »Ich habe Jakob geliebt, Esau habe ich gehaßt«. Es gehört also nicht zur Vollkommenheit der heiligen Liebe, daß jemand die Feinde liebt, sondern eher, daß er sie haßt. 9. Die Liebe als heilige Liebe sieht unmittelbar das Gute des ewigen Lebens. Unseren Feinden aber sollen wir nicht das Gute des ewigen Lebens wünschen, weil sie entweder schon in die Hölle verdammt sind, oder die jetzt Lebenden von Gott verworfen werden. Die Feinde zu lieben gehört deshalb nicht zur Vollkommenheit der heiligen Liebe. 10. Wir dürfen denjenigen, den wir mit heiliger Liebe lieben sollen, nicht erschlagen, d. h. weder dessen Tod noch sonst ein Übel wollen, denn zum Wesen der Freundschaft gehört es, daß wir Sein und Leben der Freunde wollen. Dennoch ist uns erlaubt, jemanden niederzuschlagen, denn gemäß Paulus heißt es in Röm. 13, 4: »Die weltliche Macht ist die Dienerin Gottes, … eine zornige Bestraferin für den, der schlecht handelt«. Deshalb sollen wir nicht die Feinde lieben. 11. Aristoteles lehrt im Buch der Topik, daß der Beweis bei Gegensätzen folgendermaßen zu führen ist: Wenn es gut ist, die Freunde zu lieben und ihnen Gutes zu tun, dann ist es auch schlecht, die Feinde zu lieben und ihnen Gutes zu tun.114 Kein Übel jedoch besitzt die Vollkommenheit der heiligen Liebe und fällt darum auch nicht unter den Rat. Den Feind zu lieben, gehört darum nicht zur Vollkommenheit des Rates. 114 Vgl. Aristoteles, Top. II, 3; 110 a 33 f. und ebd. II, 7 112 b 32 f.

8. Artikel

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12. Freund und Feind stehen im Widerspruch zueinander. Deshalb ist auch ›den Freund zu lieben‹ und ›den Feind zu lieben‹ ein Widerspruch. Widersprüchliches kann jedoch nicht zugleich sein. Wenn wir daher mit heiliger Liebe die Feinde lieben sollen, kann dies nicht unter den Rat fallen, daß wir die Feinde lieben sollen. 13. Ein Rat kann sich nicht auf Unmögliches beziehen. Es scheint aber, daß die Feindesliebe unmöglich ist, denn sie widerspricht der natürlichen Neigung. Daher fällt die Feindesliebe nicht unter den Rat.115 14. Es ist den Vollkommenen eigen, Ratschlägen zu entsprechen. Die Apostel waren zwar am vollkommensten, aber sie haben ihre Feinde dem Gemüt und der Praxis nach nicht geliebt. Vom heiligen Apostel Thomas wird nämlich überliefert, daß er den verflucht hat, der ihm mit der Hand eine Ohrfeige gegeben hat, so daß dessen Hand während dem Festmahl von den Hunden weggetragen wurde.116 Die Feindesliebe gehört also hinsichtlich des Gemüts und der Praxis nicht zur Vollkommenheit des Rates. 15. Böses zu wünschen, insbesondere die ewige Verdammung, widerspricht der Liebe sowohl hinsichtlich des Gemüts als auch der Praxis. Die Propheten haben aber ihren Feinden Böses gewünscht, denn es heißt in Ps. 69 (68), 29 »Ausgelöscht sollen sie sein aus dem Buch des Lebens, nicht mit den Gerechten eingeschrieben«; und in Ps. 55 (54), 16: »Der Tod komme über sie und sie fahren lebendig in die Hölle hinab«. Die Feinde zu lieben, gehört darum nicht zur Vollkommenheit der heiligen Liebe. 16. Es gehört zum Wesen der wahren Freundschaft, daß jemand um seiner selbst willen geliebt wird. Die heilige Liebe aber schließt die Freundschaft genauso ein wie das Vollkommene das weniger Vollkommene. Den Feind aber um seiner selbst willen zu lieben, widerspricht der heiligen Liebe, denn Gott allein wird um seinetwillen geliebt. Also gehört die Feindesliebe nicht zur Vollkommenheit des Rates. 17. Was zur Vollkommenheit des Rates gehört, ist besser und verdienstvoller als das, was unter die Notwendigkeit einer Vorschrift 115 Übersetzung von consilium. 116 Vgl. Jakob de Voragine, Legenda aurea (Benz, 39 f.).

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fällt. Den Feind zu lieben, ist nicht besser oder verdienstvoller als den Freund zu lieben, weil es eindeutig unter die Notwendigkeit der Vorschrift fällt, denn wenn es gut ist, ein Gut zu lieben, ist es besser und verdienstvoller zu lieben, was besser ist. Der Freund aber ist besser als der Feind. Deshalb gehört die Feindesliebe nicht zur Vollkommenheit des Rates. 18. Es ist aber zu erwidern, daß es verdienstvoller ist, den Feind zu lieben, weil es schwieriger ist. – Dagegen aber steht, daß es schwieriger ist, den Feind zu lieben als Gott. Aus demselben Grund ist es auch verdienstvoller den Feind zu lieben als Gott. 19. Aristoteles sagt im 2. Buch der Ethik: Die Freude an der Handlung ist ein Zeichen dafür, daß ein Habitus entstanden ist.117 Den Freund zu lieben aber ist angenehmer als den Feind; darum ist es tugendhafter und folglich auch verdienstvoller. Aus diesem Grund gehört die Feindesliebe nicht zur Vollkommenheit des Rates. Dagegen spricht: Augustinus sagt in Enchiridion: Es gehört zu den vollkommenen Söhnen Gottes, die Feinde zu lieben; darin soll sich nämlich jeder als treu erweisen.118 Antwort: Die Feindesliebe gehört in gewisser Weise zur Notwendigkeit des Gebotes und in gewisser Weise zur Vollkommenheit des Rates. Um dies einsichtig zu machen, muß man wissen, daß der Gegenstand der heiligen Liebe, wie in Artikel 4 dieser Frage gesagt, eigentlich und an sich Gott ist. Alles, was mit heiliger Liebe geliebt wird, wird geliebt, sofern es zu Gott gehört, z. B. lieben wir, wenn wir einen Menschen lieben, folglich alle, die zu ihm gehören, auch wenn sie uns feind sind. Es steht aber fest, daß alle Menschen zu Gott gehören, sofern sie von ihm geschaffen wurden und der Glückseligkeit fähig sind, die darin besteht, Gott zu genießen. Es ist also klar, daß dieser Grund der Liebe, auf den sich die heilige Liebe bezieht, in allen Menschen zu finden ist. 117 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 3; 1104 b 5. 118 Vgl. Augustinus, Ench. 19, 73 (CCSL 46, 89).

8. Artikel

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Darum ist bei demjenigen, der gegen uns Feindschaft hegt, ein Zweifaches zu finden: zum einen den Grund zur Liebe, weil er nämlich zu Gott gehört; und zum anderen den Grund zum Haß, weil er nämlich uns bekämpft. In allem aber, in dem man einen Grund zur Liebe bzw. zum Haß findet, steht fest – wenn wir uns, nachdem wir uns von der Liebe abgewandt haben, dem Haß zuwenden – , daß der Grund zum Haß in unserem Herzen den Grund für die Liebe überwiegt. Wenn also jemand seinen Feind haßt, überwiegt die Feindschaft in seinem Herzen seine Liebe zu Gott; er haßt also mehr seine Freundschaft mit Gott, als daß er ihn liebt. In dem Maß wir aber etwas hassen, lieben wir auch das Gute, das uns durch den Feind vorenthalten wird. Es folgt also daraus, daß jeder, der den Feind haßt, ein geschaffenes Gutes mehr liebt als Gott. Das aber widerspricht dem Gebot der heiligen Liebe. Daher widerspricht es auch der heiligen Liebe, einen Feind zu haben. Darum sind wir durch das Gebot der heiligen Liebe dazu aufgefordert, daß die Gottesliebe in uns die Liebe zu einem anderen Gegenstand und folglich den Haß gegenüber dem dazu Entgegengesetzten überwiegt. Daraus folgt, daß wir durch die Notwendigkeit des Gebotes dazu verpflichtet sind, die Feinde zu lieben. Dann muß man sich aber auch vor Augen führen, daß – wenn wir durch das Gebot der heiligen Liebe dazu aufgefordert sind, den Nächsten zu lieben – sich das Gebot nicht darauf bezieht, daß wir jeden Nächsten zuvorkommend wirklich lieben oder jedem in ausnehmender Weise Gutes tun sollen. Denn keiner vermag119 an alle Menschen zu denken, so daß er in besonderer Weise jeden einzelnen lieben könnte. Ebenso vermag keiner jedem einzelnen Gutes zu tun und zu dienen. Dennoch sind wir dazu verpflichtet, sie auch in besonderer Weise zu lieben und denen nützlich zu sein, die uns aus einem anderen Grund zur Freundschaft verbunden sind, denn alle anderen erlaubten Weisen der heiligen Liebe sind, wie oben gesagt,120 unter der heiligen Liebe zusammengefaßt. Darum sagt Augustinus: »Du kannst nicht allen nützlich sein. Für diejenigen ist aber hauptsächlich Sorge 119 Übersetzung von sufficeret. 120 Vgl. De virt. q. 2 a. 3 und 5.

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zu tragen, die hinsichtlich örtlicher und zeitlicher oder sonstiger Umstände enger mit dir – gewissermaßen schicksalhaft – verbunden sind. … Hinsichtlich des Schicksals ist nämlich zu bedenken, in welcher Weise dir jemand zeitlich näher steht«.121 Je nach dem wählst du, ihm zu geben, was besser ist. Daraus wird klar, daß wir nicht in gleicher Weise zum Gebot der heiligen Liebe verpflichtet sind, wie wir durch die Gemütsbewegung der Liebe oder die Wirkung des Liebeswerkes bewegt werden. Dies gilt besonders in Hinblick auf den, der mit uns durch keine andere engere Gemeinschaft verbunden ist als durch Raum und Zeit, wenn wir z. B. jemanden in einer schicksalhaften Lage sehen, durch die ihm ohne uns nicht geholfen werden kann. Dennoch sind wir aufgefordert durch die Gemütsbewegung und die Wirkung der heiligen Liebe, durch die wir alle lieben und für alle beten, auch jene nicht auszuschließen, die mit uns nicht durch eine besonders enge Gemeinschaft verbunden sind, wie z. B. jene, die in Indien oder Äthiopien leben. Darum bleibt in uns auch keine andere Einheit mit dem Feind außer die Einheit der heiligen Liebe. Wir sind durch die Notwendigkeit des Gebotes verpflichtet, sie im allgemeinen – d. h. der Gemütsbewegung und der Wirkung nach – und im besonderen zu lieben, wenn die Notwendigkeit im Augenblick122 drohend bevorsteht. Daß aber der Mensch eine besondere Gemütsbewegung und eine besondere Wirkung der Liebe, die er zu anderen ihm Verbundenen hat, den Feinden gegenüber um Gottes willen aufbringt, gehört zur vollkommenen heiligen Liebe und gehört zum Rat. Aus der Vollkommenheit der heiligen Liebe geht hervor, daß nur die heilige Liebe genauso zum Feind hin bewegt, wie die heilige Liebe und die besondere Liebe zum Freund. Es steht nun aber fest: Etwas geht aus der Vollkommenheit der aktiven Tugend hervor, weil die Tätigkeit des Tätigen zum Entfernteren voranschreitet. Vollkommener ist nämlich die Kraft des Feuers, durch die nicht nur Nahes, sondern auch Entferntes erwärmt wird. Genau so ist auch die heilige Liebe vollkommener, durch die man 121 Augustinus, De doctr. christ. I, 28, 29 (CCSL 32, 22). 122 Übersetzung von necessitatis articulus.

8. Artikel

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nicht nur zu den Nahestehenden, sondern auch zu den außerhalb Stehenden und letztlich zu den Feinden, nicht nur im allgemeinen, sondern auch im besonderen, sowohl durch Lieben als auch durch Gutestun bewegt wird. Zu 1. Die Feindesliebe ist, wie gesagt,123 im Gebot enthalten. Zu 2. Wir sollen, wie gesagt,124 genauso wie in der Gemütsbewegung so auch in der konkreten Wirkung der Tat die Feinde lieben. Zu 3. Dadurch ist auch die Antwort zum 3. Einwand klar. Zu 4. Jene Stellen des Alten Testamentes sprechen von dem Fall einer Notwendigkeit, wenn wir, wie in der Antwort gesagt, verpflichtet sind, gemäß dem Gebot den Feinden Gutes zu tun. Zu 5. Der Ausspruch ›du sollst deinen Feind hassen‹ ist im ganzen Alten Testament nicht zu finden, aber er stammt aus einer Tradition von Schreibern, die meinten, dies hinzufügen zu müssen, weil der Herr den Söhnen Israels geboten hat, ihre Feinde zu verfolgen. Als Alternative Antwort dazu muß man aber sagen, daß dieser Ausspruch, »›du sollst deinen Feind hassen‹, nicht als Weisung des Befehlenden an den Gerechten, sondern nur des Erlaubenden an den Schwachen zu verstehen ist«,125 wie Augustinus im Buch Über die Rede des Herrn auf dem Berg sagt. Als weitere Alternative sagt Augustinus in Gegen Faustus: Die Menschen sollen nicht die Feinde hassen, sondern nur das Laster.126 Zu 6. Der Feind als solcher ist kein Gegenstand der Liebe, sondern nur sofern er zu Gott gehört. Darum sollen wir am Feind hassen, daß er uns haßt und das Verlangen haben, daß er uns liebt. Zu 7. Der Mensch liebt von Natur aus jeden Menschen,127 wie auch Aristoteles im 8. Buch der Ethik sagt. Daß aber jemand ein Feind ist, rührt von dem her, was der Natur des Menschen hinzugefügt ist; dadurch muß aber die Neigung der Natur nicht aufgehoben werden. Deshalb vervollkommnet die heilige Liebe, solange sie zur 123 124 125 126 127

Im Korpus des Artikels. Ebd. Vgl. Augustinus, De serm. Dom. I, 21,70 (CCSL 35, 79). Vgl. Augustinus, Contra Faustum XIX, 24 (CSEL 25/1, 523 f.). Vgl. Eth. Nic. VIII, 1; 1155 a 20–23.

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Feindesliebe hinbewegt, die natürliche Neigung. Anders jedoch ist es bei denen, die von Haus aus im Gegensatz zueinander stehen, wie Feuer und Wasser oder Wolf und Lamm. Zu 8. Gott haßt nichts, was ihm in irgendeinem Gegenstand gehört, d. h. das natürliche Gute oder etwas anderes. Vielmehr haßt er nur das, was nicht zu ihm gehört, nämlich die Sünde. So müssen auch wir in den Menschen lieben, was Gott gehört und hassen, was Gott fremd ist. Dem entsprechend heißt es in Ps. 138 (137), 22: »Ich hasse sie mit glühendem Haß«. Zu 9. Wir dürfen die Vorherbestimmten und die Verdammten nicht lieben, damit sie ein ewiges Leben haben, weil sie schon durch das göttliche Urteil von ihm völlig ausgeschlossen sind. Dennoch können wir sie lieben als Werke Gottes, in denen die göttliche Gerechtigkeit sich manifestiert, denn nur auf diese Weise liebt Gott sie. Die Vorherbestimmten, d. h. die noch nicht Verdammten, sollen wir jedoch lieben, damit sie das ewige Leben haben, weil ein solches Urteil uns nicht zusteht. Das göttliche Vorherwissen über sie schließt nämlich nicht die Möglichkeit aus, daß sie zum ewigen Leben gelangen. Zu 10. Derjenige, der Straftäter erlaubterweise und pflichtgemäß bestrafen oder auch töten soll, soll diese mit heiliger Liebe lieben. Gregor der Große nämlich sagt in einer Predigt, daß »die Gerechten die Verfolgung in Gang bringen, die Liebenden aber – wenn nämlich die Anschuldigungen von außen durch die öffentliche Ordnung sich mehren – dennoch innerlich die Süßigkeit durch die heilige Liebe bewahren«.128 Wir können nämlich denen, die wir mit heiliger Liebe lieben, ein zeitliches Übel aus dreifachem Grund wünschen oder zufügen: erstens nämlich um ihrer Zurechtweisung willen; zweitens sofern der zeitliche Erfolg einiger zum Schaden vieler oder auch der ganzen Kirche führt. Darum sagt Gregor der Große in Moralische Betrachtungen zum Buch Ijob: »Meistens ist es so, daß uns – ohne Verlust der heiligen Liebe – der Sturz des Feindes erfreut und uns umgekehrt dessen Ruhm – ohne Schuld des Neides – betrübt; dies ist so, solange wir, während er stürzt, glauben, daß einige in guter Weise 128 Gregor der Große, Hom. in ev. II, 34 (CCSL 141, 5).

8. Artikel

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aufgerichtet werden, und wir uns, während jener voranschreitet, davor grausen, daß die meisten ungerecht unterdrückt werden«.129 Drittens wünschen wir es ihnen um der Bewahrung der Ordnung der göttlichen Gerechtigkeit willen, wie es in Ps. 58 (57), 11 heißt: »Der Gerechte freut sich, wenn er die Vergeltung schaut«. Zu 11. Derartige Aussagen, von denen aus Aristoteles den Beweis führt, sind an sich zu verstehen. Denn genauso wie es gut ist, den Freund, sofern er Freund ist, zu lieben, so ist es ein Übel, den Feind, weil er ein Feind ist, zu lieben. Gut aber ist es, den Feind zu lieben, sofern er zu Gott gehört. Zu 12. Den Freund zu lieben, sofern er Freund ist, und den Feind, sofern er Feind ist, wäre ein Widerspruch; aber den Freund und den Feind zu lieben, sofern beide Gott gehören, ist kein Widerspruch, genauso wie Weißes und Schwarzes zu sehen, sofern beides gefärbt ist. Zu 13. Den Feind zu lieben, sofern er Feind ist, ist schwierig bzw. unmöglich, aber ihn um etwas noch mehr Geliebten willen zu lieben, ist leicht. Auf diese Weise macht die heilige Liebe zu Gott leicht, was in sich unmöglich zu sein scheint. Zu 14. Der heilige Thomas hat die Strafe seines Angreifers nicht rachgierig eingefordert, sondern um der Offenbarung der göttlichen Gerechtigkeit und Kraft willen. Zu 15. Die Verfluchungen, die bei den Propheten gefunden werden, sind als Voraussagen zu verstehen: ›Sie werden zerstört‹ meint nämlich ›Sie werden zerstört werden‹. Sie verwenden aber eine solche Sprechweise, weil sie ihren Willen der ihnen offenbarten Gerechtigkeit Gottes gleichförmig gemacht haben. Zu 16. Jemand um seinetwillen zu lieben, kann in zweifacher Weise verstanden werden: zum einen so, daß etwas so geliebt wird als das letzte Ziel, und so ist Gott allein um seiner selbst willen zu lieben; zum anderen so, daß wir den lieben, dem wir Gutes wollen, wie es in einer ehrenhaften Freundschaft der Fall ist. Nicht aber lieben wir das Gute, das wir für uns wollen, in derselben Weise wie in einer auf das Angenehme und Nützliche ausgerichteten Freundschaft, in der wir den Freund wie unser eigenes Gut lieben. Dies tun wir nicht, weil wir Nutzen und Freude für den Freund erstreben, 129 Gregor der Große, Moralia XXII, 11 (CCSL 143, 1109).

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sondern weil wir vom Freund Nutzen und Freude für uns erstreben. Genauso lieben wir auch andere angenehme und nützliche Dinge um unseretwillen wie Essen oder Bekleidung. Wenn wir aber jemand wegen seiner Tugend lieben, wünschen wir für ihn, nicht für uns das Gute. Dies trifft besonders auf die Freundschaft zu, die auf der heiligen Liebe gründet. Zu 17. Es ist besser, den Feind zu lieben und nicht nur den Freund, weil darin, wie in der Antwort gesagt, sich die vollkommenere heilige Liebe zeigt. Wenn wir aber diese beiden losgelöst voneinander betrachten, ist es besser, den Freund als den Feind zu lieben, und es ist besser Gott als den Freund zu lieben. Denn die Schwierigkeit, die in der Feindesliebe liegt, wird nur dann zum Grund des Verdienstes, wenn dadurch die Vollkommenheit der heiligen Liebe, die diese Schwierigkeit besiegt, gezeigt wird. Wenn es daher eine so vollkommene heilige Liebe gäbe, die die ganze Schwierigkeit aufheben würde, wäre es noch verdienstvoller. Wir sprechen aber von dem, der den Freund mit einer derartig großen Liebe liebt, die sich auch auf die heilige Liebe zum Feind ausdehnt; stärker aber ist sie in der Freundesliebe wirksam. Akzidentell ist sie nur dann stark, wenn man gegen das sich Widersetzende mit um so größerem Kraftaufwand vorgeht, wie beispielsweise auch bei den natürlichen Dingen warmes Wasser mehr Energie bedarf, um zu gefrieren. Zu 18. und 19. Dadurch ist die Antwort zu den beiden folgenden Einwänden geklärt.

9. Artik el Die neunte Frage lautet: Gibt es in der heiligen Liebe eine Ordnung? 130 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Wie der Glaube im Verhältnis zu dem steht, was man glauben soll, so auch die heilige Liebe zu dem, was man lieben soll. Glaubt aber der Glaube in derselben Weise alles, was man glauben soll, liebt darum auch die heilige Liebe alles, was man lieben soll.

130 Paralleltexte: Sum. theol. II–II, q. 26 a. 1; Sent. III, d. 29 a. 1.

9. Artikel

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2. Die Ordnung gehört zur Vernunft. Die heilige Liebe aber ist nicht in der Vernunft, sondern im Willen. Deshalb gehört die Ordnung nicht zur heiligen Liebe. 3. Wo immer Rangordnung ist, dort gibt es auch Grade. Nach Bernhard von Clairvaux kennt aber die heilige Liebe keine Grade; sie schaut nicht auf das Ansehen.131 Also gibt es in der heiligen Liebe keine Ordnung. 4. Gott ist der Gegenstand der heiligen Liebe, wie Augustinus im Buch Über die christliche Lehre sagt: Im Nächsten nämlich liebt die heilige Liebe nichts anderes als Gott. Gott aber ist in sich selbst nicht größer als im Nächsten, und auch nicht größer im einen Nächsten als im anderen.132 Die heilige Liebe liebt darum Gott nicht mehr als den Nächsten oder den einen Nächsten mehr als den anderen. 5. Die Ähnlichkeit ist gemäß Sir. 13, 16 der Grund der Liebe: Jedes Lebewesen liebt etwas ihm Ähnliches. Die Ähnlichkeit des Menschen zu seinem Nächsten ist aber größer als die zu Gott. Es gibt also diese Ordnung, daß man Gott zuerst liebt,133 nicht in der heiligen Liebe, wie auch Ambrosius sagt. 6. In 1 Joh. 4, 20 heißt es: »Wer nicht seinen Bruder liebt, den er sieht; wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht?« Er führt aber den Beweis von der Nächstenliebe zur Gottesliebe durch Negieren. Das negative Argument aber wird nicht vom niedrigeren, sondern vom höheren genommen. Darum soll man den Nächsten mehr lieben als Gott. 7. Die Liebe ist eine einende Kraft,134 wie Dionysius sagt. Nichts ist jedoch mit etwas eins mehr als mit sich selbst. Darum darf der Mensch Gott nicht mehr mit heiliger Liebe lieben als sich selbst. 8. Augustinus sagt im 1. Buch aus Über die christliche Lehre, daß »alle Menschen in gleicher Weise zu lieben sind«.135 Also darf ich den einen Nächsten nicht mehr lieben als den anderen. 131 Vgl. Bernhard von Clairvaux, Serm. super Cant. Cant. 83, 3 (ed. Winkler VI, 614 f.). 132 Vgl. Augustinus, De doctr. christ. I, 27, 28 (CCSL 32, 22). 133 Vgl. Ambrosius, De excessu fratris Satyri II, 110 (CSEL 73, 312). 134 Vgl. Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 19 (Dion. I, 211 und 225). 135 Augustinus, De doctr. christ. I, 28, 29 (CCSL 32, 22).

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9. Es ist geboten, den Nächsten zu lieben wie sich selbst. Darum sollen alle Nächsten in gleicher Weise geliebt werden. 10. Wir lieben den höherem Maße, dem wir das größere Gute wünschen. Allen Nächsten wünschen wir aber mit heiliger Liebe das eine Gute, das das ewige Leben ist. Den einen Nächsten dürfen wir also nicht mehr lieben als den anderen. 11. Wenn die Rangordnung die Bedingung der heiligen Liebe ist, muß sie unter das Gebot fallen. Sie scheint aber nicht unter das Gebot zu fallen, denn, sofern wir nur den lieben, den wir lieben sollen, scheinen wir nicht zu sündigen, wenn wir jemand anderen mehr lieben. Deshalb ist die Rangordnung keine Bedingung der heiligen Liebe. 12. Die heilige Liebe auf dem Pilgerweg ahmt die heilige Liebe der ewigen Heimat nach. In der ewigen Heimat werden jedoch die Besseren mehr geliebt als die Verwandten. Daher scheint es, daß, wenn es eine Ordnung der heiligen Liebe gibt, auch auf dem Pilgerweg mehr die Besseren und nicht die Verwandten zu lieben sind. Das widerspricht aber Ambrosius, der sagt, daß als erstes Gott zu lieben ist, als zweites die Eltern, dann die Kinder, danach alle, die zur Familie gehören.136 13. Der Grund, daß man jemand mit heiliger Liebe lieben soll, ist Gott. Fremde sind aber manchmal mit Gott mehr verbunden als die Verwandten oder gar die Eltern. Also müssen sie mehr mit heiliger Liebe geliebt werden. 14. »Der Beweis der Liebe liegt in der Vollbringung des Werkes«,137 wie Gregor der Große in einer Predigt sagt. Die Wirkung der Liebe, die eine Wohltat ist, kommt aber manchmal mehr dem Fremden als dem Nächsten zu, wie es anhand der Verteilung kirchlicher Wohltaten deutlich wird. Darum scheint es nicht so zu sein, daß die Verwandten mehr mit heiliger Liebe zu lieben sind. 15. In 1 Joh. 3, 18 heißt es: »Wir lieben nicht mit Mund und Zunge, sondern mit Tat und Wahrheit«. Wir vollbringen aber manchmal eher ein Werk der Liebe für andere als für die Eltern, z. B. gehorcht 136 Vgl. Ambrosius, Expos. Ps. CXVIII, 15, 20 (CSEL 62, 341) und ders., Exameron VI, 4, 22 (CSEL 32/1, 218). 137 Gregor der Große, Hom. in ev. II, 30, 1 (CCSL 141, 256).

9. Artikel

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der Soldat mehr dem Heerführer als dem Vater, und man soll dem Wohltäter mehr als dem Vater zurückgeben, wenn er sich in gleicher Notlage befindet. Die Eltern sind deshalb nicht mehr zu lieben. 16. Gregor der Große sagt, daß das, was wir aus heiliger Quelle empfangen, von uns mehr geliebt werden soll als diejenigen, die wir aus unserem Fleisch zeugen.138 Darum sind die Fernerstehenden mehr zu lieben als die Verwandten. 17. Derjenige ist mehr zu lieben, dessen Freundschaft in verwerflicher Weise zerbrochen wird. Verwerflicher aber scheint das Zubruchgehen einer Freundschaft mit Freunden, die wir uns selbst erwählt haben, als mit Verwandten, die uns nicht durch eigene Wahl zukommen, sondern durch das Los der Natur. Also sind mehr die anderen Freunde als die Verwandten zu lieben. 18. Wenn jemand wegen größerer Nähe zu uns mehr zu lieben ist, dann sind sowohl die Gattin, die mit ihrem Ehemann ein Leib ist,139 als auch die Kinder, die zum Erzeuger gehören, näher als die Eltern, und es scheint, daß die Gattin und die Kinder mehr geliebt werden sollen als die Eltern. Die Eltern sind also nicht am meisten zu lieben. Darum scheint es also keine Ordnung in der heiligen Liebe zu geben, die uns von den Heiligen überliefert ist. Dagegen spricht: In Hld. 2, 4 heißt es: »Der König hat mich in den Weinkeller geführt, er hat in mir die Liebe geordnet«. Antwort: In jeder Lehre und jedem Satz der Schrift soll zweifelsohne diese Ordnung in der heiligen Liebe zu verstehen gegeben werden, daß nämlich Gott in Gemüt und Tat über alles zu lieben140 ist. Hinsichtlich der Nächstenliebe ist es die Meinung einiger gewesen, daß die Ordnung der heiligen Liebe sich nur auf die Tat und nicht auf die Gemütsbewegung bezieht. Dazu wurden sie durch das 138 Thomas bezieht sich vielmehr auf: Petrus Lombardus, Sent. III, d. 29 c. 2 10 (ed. Coll. S. Bon. II, 175). 139 Vgl. Gen. 2, 24. 140 Übersetzung von diligatur.

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Wort des Augustinus veranlaßt, der sagt, daß »alle Menschen in gleicher Weise zu lieben sind«.141 »Denn du kannst nicht allen nützlich sein, und sollst142 am besten auf die bedacht sein, die örtlich und zeitlich oder durch eine günstige Konstellation von Umständen gewissermaßen schicksalhaft mit dir verbunden sind.«143 Diese Position scheint aber nicht vernünftig zu sein. Gott schaut nämlich für jeden einzelnen in der Weise voraus, wie es seine Lebenssituation144 erfordert. Darum ist denen, die nach einem natürlichen Ziel streben, von Gott die Liebe und das Streben nach dem Ziel eingeprägt; demzufolge ist die Bedingung, daß er sich überhaupt auf ein Ziel ausrichtet, notwendig. Deswegen haben die Lebewesen ihrer Natur nach eine stärkere Bewegung auf ein Ziel hin, die auch eine größere Neigung dazu haben – das ist das natürliche Streben –, wie es bei den schweren und leichten Dingen der Fall ist. So wie aber das natürliche Streben bzw. die natürliche Liebe eine Neigung ist, die den natürlichen Dingen für ihre naturgemäßen Ziele eingegeben ist, so ist die Liebe als heilige Liebe eine eingegossene Neigung der vernünftigen Natur, um nach Gott zu streben. Sofern also jemand notwendigerweise nach Gott strebt, ist er dem entsprechend durch die heilige Liebe dazu geneigt. Für diejenigen, die tatsächlich sich auf Gott als ihr Ziel ausrichten wollen, ist die göttliche Hilfe das am meisten Notwendige; als zweites aber die Hilfe, die vom einzelnen selbst ausgeht und drittens die Mitwirkung, die vom Nächsten kommt; darin liegt eine Abstufung: Einige wirken nämlich nur im Allgemeinen mit, andere aber, die enger verbunden sind, im Besonderen, denn es können nicht alle mit allen im Besonderen zusammenarbeiten. Auch unser Körper und was er braucht, hilft uns nur in instrumenteller Weise mit. Darum muß durch die Liebe die Gemütsbewegung des Menschen zum Ziel hingeneigt werden, so daß jemand an erster Stelle und hauptsächlich Gott, an zweiter Stelle sich selbst, an dritter Stelle den Nächsten und unter den Nächsten mehr die liebt, die enger mit 141 142 143 144

Augustinus, De doctr. christ. I, 28, 29 (CCSL 32, 22). Übersetzung von consulendum est. Augustinus, De doctr. christ. I, 28, 29 (CCSL 32, 22). Übersetzung von conditio.

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ihm verbunden und mehr dazu geeignet sind zu helfen. Wer aber dabei mit Absicht hinderlich ist, soll gehaßt werden, wer auch immer es sei. Darum sagt der Herr in Lk. 14, 26: »Wenn jemand zu mir kommt und nicht seinen Vater und seine Mutter haßt …, kann nicht mein Jünger sein«. Schließlich sollen wir auch unsern Körper lieben. Ebenso muß auch die Ordnung in der Gemütsbewegung der Nächstenliebe entsprechend dem Akt, den die heilige Liebe hervorruft, am Ziel ausgerichtet werden. Es muß aber auch bedacht werden, daß, wie in Artikel 7 und 8 gesagt, auch andere erlaubte und ehrenhafte Arten der Liebe, die aus anderen Ursachen herrühren, auf die heilige Liebe hingeordnet werden können. Auf diese Weise kann die heilige Liebe den Akt jener Arten der Liebe befehlen und wird das, was mehr einer jener Arten der Liebe entsprechend geliebt wird, auch mehr mit der heilige Liebe des Befehlenden geliebt. Es steht aber fest, daß der natürlichen Liebe nach die Verwandten durch die Gemütsbewegung mehr geliebt, der sozialen Liebe nach mehr geeint sind, und so läßt es sich auch für die anderen Arten der Liebe durchführen. Daraus wird ersichtlich, daß schon der Gemütsbewegung nach der eine unter den Nächsten mehr geliebt werden kann als der andere, und die Akte anderer erlaubter Freundschaften mit heiliger Liebe befohlen werden. Zu 1. Der Gegenstand des Glaubens ist das Wahre. Sofern also etwas in höherem Maße das Wahre betrifft, geht es auch mehr den Glauben an. Weil aber die Wahrheit in der Übereinstimmung des Verstandes mit der Sache besteht, und wenn die Wahrheit gemäß dem Begriff der Gleichheit, bei der es kein Zuviel und Zuwenig geben kann, betrachtet wird, trifft es nicht zu, daß etwas mehr oder weniger wahr ist. Wenn man aber das Sein der Sache selbst, das der Grund der Wahrheit ist,145 betrachtet, wie es im 2. Buch der Metaphysik heißt, liegt dieselbe Anlage der Dinge hinsichtlich des Seins und der Wahrheit vor. Das, was in höherem Maße seiend ist, ist darum auch in höherem Maße wahr. Deshalb werden auch bei den beweisenden Wissenschaften die Prinzipien in höherem Maße für 145 Vgl. Aristoteles, Met. II, 1; 993 b 30.

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wahr gehalten als die Schlüsse. Dies gilt auch für die Belange des Glaubens. Paulus beweist darum in 1 Kor. 15 die zukünftige Auferstehung der Toten durch die Auferstehung Christi. Zu 2. Die Ordnung der Vernunft ist wie die eines Ordnenden, die des Willens aber wie die eines Geordneten. Auf diese Weise stimmt die Ordnung mit der heiligen Liebe überein. Zu 3. Die heilige Liebe kennt zwar keine Grade zwischen dem Liebenden und dem Geliebten, weil sie beide eint, aber sie ist nicht unwissend über den graduellen Unterschied zwischen zwei Gegenständen, die man lieben kann. Zu 4. Obwohl Gott im einen nicht größer ist als im anderen, ist er dennoch in sich selbst viel vollkommener als im Geschöpf bzw. in einem vollkommener als im anderen. Zu 5. In der heiligen Liebe, deren Hauptgegenstand der Liebende selbst ist, soll das mehr geliebt werden, was dem Liebenden ähnlich ist, wie z. B. in der natürlichen Liebe. In der Liebe als heilige Liebe ist jedoch der erste Gegenstand Gott selbst. Darum soll das in höherem Maße mit heiliger Liebe geliebt werden, was in höherem Maße mit Gott eins ist. Dies gilt für alles Übrige in gleicher Weise. Zu 6. Paulus führt den Beweis für diejenigen, die besonders an den sichtbaren Dingen hängen. Von ihnen werden die sichtbaren Dinge mehr geliebt als die Unsichtbaren. Zu 7. Der Einheit der Natur nach ist nichts mehr eins ist als wir Menschen, aber für die Einheit der Gemütsbewegung, deren Gegenstand das Gute ist, muß das höchste Gute in höherem Maße eins sein als wir. Zu 8. Man soll alle Menschen in gleicher Weise lieben, sofern wir für alle in gleicher Weise das Gute wünschen sollen, d. h. das ewige Leben. Zu 9. Jeder von uns ist aufgefordert, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, nicht jedoch sofern er sich selbst liebt. Daraus folgt keineswegs, daß alle Nächsten in gleicher Weise zu lieben sind. Zu 10. Wir lieben jemand nicht nur deshalb mehr, weil wir ihm das höhere Gute wünschen, sondern auch weil wir ihm mit tieferer Gemütsbewegung dieses Gute wünschen. Dennoch lieben wir nicht alle gleich, obwohl wir allen das eine Gute wünschen, welches das ewige Leben ist.

9. Artikel

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Zu 11. Es darf nicht sein, daß wir zwar aufgefordert sind, uns jemandem in Liebe zuzuwenden,146 wir ihm aber jemand anderen, den wir weniger lieben sollten, vorziehen. Es kann nämlich dann passieren, daß in einer ernsthaften Notlage des zweiten nur unter Vernachlässigung desjenigen, den wir mehr lieben sollten, geholfen wird. Zu 12. Diejenigen, die in der ewigen Heimat sind, sind mit dem letzten Ziel verbunden, und deshalb ist deren Liebe nur durch das Ziel selbst geordnet. Darum ist die Ordnung der heiligen Liebe in ihnen nur an der Nähe zu Gott ausgerichtet, und es werden die, die Gott näher sind, mehr geliebt. Auf dem Pilgerweg ist es aber für uns eine Notwendigkeit, uns auf das Ziel auszurichten. Darum richtet sich auch die Ordnung der Liebe nach dem Maß der Hilfe, die durch andere zur Ausrichtung auf das Ziel zustande kommt. Deshalb werden nicht immer die Besseren mehr geliebt, sondern auch der Grund für die Nähe findet Beachtung, so daß beiden gemeinsam der Grund für die größere Liebe entnommen wird. Zu 13. Daraus ist auch die Antwort zum dreizehnten Einwand klar. Zu 14. Ein Prälat kann nicht Wohltaten vollbringen, sofern er Peter oder Martin ist, sondern nur sofern er ein Lehrer der Kirche ist, und darum muß bei der Verteilung kirchlicher Wohltaten nicht die Nähe zu sich selbst, sondern die Nähe zu Gott und der Nutzen für die Kirche beachtet werden. Genauso muß der Hausverwalter eines Anwesens beachten, solange er das Eigentum seines Herrn verwaltet, daß er den Dienst für seinen Herrn tut und nicht für sich. Beim eigenen Besitz sowie bei den Erbgütern oder bei Gütern, die er durch den eigenen Fleiß als Eigentum sich erwirbt, muß beim Erweisen von Wohltaten die Ordnung der Nähe147 bei seiner Wohltat beachtet werden. Zu 15. Hinsichtlich der Dinge, die im eigentlichen Sinne eine zugehörige Person betreffen, muß man die Tat der Liebe mehr den Eltern als einem Fremden gegenüber erweisen, es sei denn vom Gut 146 Übersetzung von alicui impendamus de dilectione quod debemus. 147 Thomas meint mit der ›Ordnung der Nähe‹ wohl die Bedeutung

des Verwandtseins für die freiwillige Zuwendung aus dem Privatbesitz.

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eines Fremden hinge das allgemeine Gut ab. Das muß sich jeder selbst so auferlegen, wie wenn jemand sich selbst in Todesgefahr begeben muß, um im Krieg den Heerführer zu retten oder im Staat das Staatsoberhaupt, sofern von ihnen das Wohl der ganzen Gemeinschaft abhängt. In Bezug auf das jedoch, was im Sinne einer ergänzenden Bestimmung zu etwas gehört, wie z. B. ein Bürger oder ein Soldat, muß er dem Lenker des Staates oder dem Führer mehr gehorchen als dem Vater. Zu 16. Das klassische Wort Gregors des Großen muß in Bezug auf das verstanden werden, was zur geistlichen Wiedergeburt gehört. Dabei stehen wir für diejenigen in der Pflicht, die wir aus dem heiligen Quell empfangen. Zu 17. Jenes Argument greift hinsichtlich des sozialen Lebens, in dem die Freundschaft zu Fremden gründet. Zu 18. Gemäß jener Liebe, mit der jemand sich selbst liebt, liebt er auch mehr seine Gattin und seine Kinder als die Eltern, weil die Gattin zum Mann gehört und das Kind zum Vater. Darum ist die Liebe, die man zur Gattin und zum Kind hat, mehr in der Liebe, durch die jemand sich selbst liebt, eingeschlossen als die Liebe, die jemand zu seinem Vater hat. Das heißt aber nicht, das Kind um der Selbstliebe des Vaters148 willen zu lieben, sondern um seiner selbst willen. Der Art der Liebe nach, durch die wir jemand um seinetwillen lieben, ist jedoch der Vater mehr zu lieben als das Kind, sofern wir vom Vater eine größere Wohltat empfangen haben und sofern die Ehre des Kindes mehr von der Ehre des Vaters abhängt als umgekehrt. Darum ist der Mensch in der Ehrerbietung, im Gehorchen, in der Erfüllung seines Willen und in Ähnlichem mehr dem Vater als dem Kind verpflichtet. Bei der Hilfeleistung für die notwendigen Dinge des Lebens jedoch ist der Mensch dem Kind mehr verpfl ichtet als den Eltern, weil die Eltern Schätze für die Kinder sammeln sollen und nicht umgekehrt, wie es in 2 Kor. 12, 14149 heißt.

148 Übersetzung von eius. 149 In der Textvorlage steht: 1 Kor. 4.

10. Artik el Die zehnte Frage lautet: Ist es möglich, daß es in diesem Leben vollkommene heilige Liebe gibt? 150 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1. Gott schreibt dem Menschen nichts Unmögliches vor,151 sagt Hieronymus. Die Vollkommenheit der heiligen Liebe wird aber im Gebot vorausgesetzt, wie es in Dt. 6, 5 klar wird: »Du sollst den Herrn, deinen Gott aus ganzem Herzen lieben«. ›Ganz‹ und ›vollkommen‹ sind nämlich dasselbe. Darum ist es möglich, daß es in diesem Leben schon vollkommene heilige Liebe gibt. 2. Augustinus sagt, daß die vollkommene heilige Liebe darin besteht, die besseren Dinge mehr zu lieben.152 Dies aber ist schon in diesem Leben möglich. Deshalb kann es die heilige Liebe in diesem Leben in vollkommener Weise geben. 3. Der Begriff der Liebe besteht in einer gewissen Einheit. Die heilige Liebe aber kann in diesem Leben im höchstem Maße eins sein, denn, »wer Gott anhängt, ist ein Geist mit ihm«, wie es in 1 Kor. 6, 18 heißt. Deshalb kann die heilige Liebe in diesem Leben vollkommen sein. 4. Das ist vollkommen, was am meisten von seinem Gegenteil entfernt ist. Die heilige Liebe aber kann in diesem Leben jeder Sünde und Versuchung widerstehen. Deshalb kann die heilige Liebe in diesem Leben vollkommen sein. 5. Unsere Gemütsbewegung wird in diesem Leben durch die Liebe unmittelbar zu Gott getragen. Wenn aber der Verstand unmittelbar auf Gott bezogen wäre, würden wird ihn vollkommen und ganz erkennen. Deshalb lieben wir Gott jetzt schon vollkommen und ganz. Es gibt also in diesem Leben die vollkommene heilige Liebe. 6. Der Wille ist der Herr seines Aktes. Gott zu lieben jedoch ist ein Akt des Willens. Darum kann der menschliche Wille sich ganz und vollkommen auf Gott beziehen. 150 Paralleltexte: Sum. theol. II–II, q. 24 a. 8; Sum. theol. II–II, q. 184 a. 2; Sent. III, d. 27 q. 3 a. 4; De perf. vit. spir. c. 3 ff.; Ad Philipp. c. 3 1. 2. 151 Vgl. Hieronymus, Comm. in ev. Mt. I (PL 26, col. 41); Kommentar zu Mt. 5, 44: »Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, …« 152 Vgl. Augustinus, De vera rel. 48 (CCSL 32, 248).

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7. Der Gegenstand der Liebe ist die göttliche Gutheit, die im höchsten Maße erfreut. Im Erfreulichen aber ist es nicht schwer, dauernd und ununterbrochen auszuharren. Es scheint darum, daß man in diesem Leben leicht die Vollkommenheit der heiligen Liebe haben kann. 8. Das, was einfach und unteilbar ist, wird, wenn überhaupt, nur ganz besessen. Die Liebe als heilige Liebe aber ist – sowohl seitens der liebenden Seele als auch seitens des liebenswerten Gegenstandes, der Gott ist – einfach und unteilbar. Wenn daher jemand in diesem Leben die heilige Liebe hat, hat er sie ganz und vollkommen. 9. Die Liebe ist gemäß 1 Kor. 12, 31 die edelste unter den Tugenden: »Darüber hinaus zeige ich euch noch einen vorzüglicheren Weg«, nämlich den der heiligen Liebe. Wenn aber schon die anderen Tugenden in diesem Leben vollkommen sein können, dann auch die heilige Liebe. Dagegen spricht: 1. Wenn, wie gesagt,153 jede Sünde der heiligen Liebe widerstreitet, verlangt die Vollkommenheit der heiligen Liebe, daß der Mensch völlig ohne Sünde ist. Das aber kann gemäß 1 Joh. 1, 8 nicht in diesem Leben sein, denn »wenn wir behaupten, daß wir keine Sünde haben, dann täuschen wir uns selbst«. Darum kann man die vollkommene heilige Liebe in diesem Leben nicht haben. 2. Nur das Erkannte wird geliebt,154 wie Augustinus in Über die Dreifaltigkeit sagt. In diesem Leben aber kann gemäß 1 Kor. 13, 9 und 12 Gott nicht vollkommen erkannt werden: »Jetzt erkennen wir bruchstückhaft«. Darum kann man auch nicht vollkommen lieben. 3. Was immer fortschreiten kann, ist nicht vollkommen. Die heilige Liebe aber kann in diesem Leben immer fortschreiten, wie man zu sagen pflegt. Deshalb ist es nicht möglich, daß die heilige Liebe in diesem Leben immer vollkommen ist. 4. »Die vollendete Liebe treibt die Furcht aus«, wie es in 1 Joh. 4, 18 heißt. In diesem Leben kann der Mensch jedoch nicht ohne 153 Vgl. De. virt. q. 2 a. 6. 154 Vgl. Augustinus, De trin. IX, 12, 18 (CCSL 50, 130) und ebd. X, 1, 2

(CCSL 50, 314 f.).

10. Artikel

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Furcht sein. Deshalb kann keiner die vollkommene heilige Liebe haben. Antwort: ›Vollkommen‹ wird in dreifacher Weise ausgesagt: erstens als ›vollkommen schlechthin‹, zweitens als das ›vollkommen der Natur nach‹ und drittens ›vollkommen der Zeit nach‹. ›Vollkommen schlechthin‹ wird selbstverständlich das genannt, was in jeder Hinsicht vollkommen ist und dem keine Vollkommenheit fehlt. ›Vollkommen der Natur nach‹ wird das genannt, dem nichts von dem fehlt, was ihm von Natur aus zukommt; beispielsweise nennen wir den Verstand des Menschen vollkommen, nicht etwa weil ihm nichts vom Erkennbaren fehlt, sondern weil ihm nichts von dem fehlt, wodurch der Mensch imstande ist, zu erkennen. ›Vollkommen der Zeit nach‹ nennen wir, wenn jemandem nichts von dem fehlt, was dazu geschaffen ist, es in jener Zeit zu haben, z. B. sprechen wir von einem ›vollkommenen Knaben‹, denn er hat das, was für diesen Menschen seinem Alter entsprechend erforderlich ist. Daraus müssen wir schließen, daß Gott allein die einfachhin vollkommene heilige Liebe besitzt. Die vollkommene Liebe der Natur nach kann der Mensch zwar besitzen, aber nicht in diesem Leben. Die vollkommene Liebe der Zeit nach kann man hingegen auch in diesem Leben haben. Um das einzusehen, muß man wissen, daß – wenn der Akt bzw. der Habitus seine Art vom Gegenstand hat – daraus auch der Grund ihrer Vollkommenheit genommen werden muß. Der Gegenstand der heiligen Liebe aber ist das höchste Gute. Die heilige Liebe ist also einfachhin vollkommen, denn sie ist auf das höchste Gute bezogen, sofern es liebenswert ist. Das höchste Gute aber ist unendlich liebenswert, weil es ein unendliches Gutes ist. Daher kann keine heilige Liebe eines Geschöpfes einfachhin vollkommen sein, weil sie endlich ist. In diesem Sinne kann nur die heilige Liebe Gottes, mit der er sich selbst liebt, vollkommen genannt werden. Dann aber nennt man die heilige Liebe der vernünftigen Natur des Geschöpfes nach ein vollkommenes Sein, wenn die vernünftige Natur auf ihre Weise sich Gott zuwendet, den sie lieben soll. Der Mensch wird in diesem Leben jedoch daran gehindert, so daß sein

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Geist aus drei Gründen sich nicht ganz auf Gott hin ausrichtet: erstens nämlich wegen der entgegengesetzten Neigung des Geistes, wenn nämlich der Geist – durch die Sünde einem veränderlichen Gut als seinem Ziel zugewandt – sich vom Unveränderlichen abwendet; zweitens durch die Inbesitznahme der weltlichen Dinge, weil, wie Paulus in 1 Kor. 7, 33 f. sagt: »der Verheiratete … um die Dinge der Welt besorgt ist …, er … seiner Frau zu gefallen sucht und so … geteilt ist«, d. h., daß sein Herz sich nicht nur in Gott bewegt; und drittens aus der Schwachheit im gegenwärtigen Leben, durch dessen Notwendigkeiten der Mensch bis zu einem gewissen Grad beansprucht und abgelenkt wird, so daß der Geist sich nicht wirklich auf Gott hin ausrichtet, z. B. beim Schlafen, Essen und anderen derartigen Tätigkeiten, ohne die das gegenwärtige Leben nicht geführt werden kann. Schließlich wird durch die Schwere des Körpers selber die Seele herabgezogen, so daß sie das göttliche Licht in seinem Wesen nicht schauen kann; durch eine solche Schau würde nämlich die heilige Liebe vervollkommnet werden. Dem entsprechend sagt Paulus in 2 Kor. 5, 6: »Solange wir im Leibe sind, wohnen wir fern vom Herrn in der Fremde, denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen«. Der Mensch vermag aber in diesem Leben ohne Todsünde, die ihn von Gott abwendet, und ohne Besitz zeitlicher Güter zu leben, wie Paulus in 1 Kor. 7, 32 sagt: »Der Unverheiratete ist besorgt um die Sache des Herrn, er sucht dem Herrn zu gefallen«. Er kann jedoch von der Last des vergänglichen Fleisches in diesem Leben nicht frei sein. Darum kann die heilige Liebe, sofern die ersten beiden Hindernisse beseitigt sind, in diesem Leben vollkommen sein, nicht jedoch hinsichtlich der Beseitigung des dritten Hindernisses. Keiner kann deshalb jene Vollkommenheit der heiligen Liebe, die er nach diesem Leben haben wird, in diesem Leben schon haben, es sei denn er ist Erdenpilger und Seliger155 zugleich; das aber ist die Eigenart Christi. Zu 1. Das Wort ›Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzem Herzen‹, wird als ein Gebot verstanden, sofern das ›ganz‹ all das ausschließt, was die vollkommene Zugehörigkeit zu 155 Übersetzung von comprehensor.

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Gott verhindert. Es ist nicht ein Gebot, sondern das Ziel eines Gebotes, denn es wird uns dadurch nicht angezeigt, was wir tun sollen, sondern eher, wohin man sich ausrichten soll,156 wie Augustinus sagt. Zu 2. Die besseren Dinge zu lieben, ist in dem Maße besser, als es deren Gutheit verlangt. In der Weise vermag es der Mensch nicht, wie er auch, wie gesagt,157 die vollkommene heilige Liebe nicht haben kann. Zu 3. Gerade in dem, was den Liebenden mit dem Geliebten eint, kann man viele Stufen finden. Mit Gott aber wird unser Geist in vollkommener Weise dann eins sein, wenn er immer wirklich auf ihn ausgerichtet ist; das aber ist in diesem Leben nicht möglich. Zu 4. Eine Vollkommenheit, die mit einer Sache ihrer Art nach übereinstimmt, entspricht ihr jeder Zeit, genauso wie der Mensch zu jeder Zeit und in jedem Zeitalter ein vollkommenes vernünftiges Lebewesen ist. Darum ist die Vollkommenheit der heiligen Liebe, die es zu irgendeiner Zeit gibt, eine Vollkommenheit, die ihrer Art nach der heiligen Liebe eigen ist. Es gehört aber zum Wesen der heiligen Liebe, daß Gott über alles geliebt und nichts Geschaffenes ihm in der Liebe vorgezogen wird. Daher kommt es, daß jede Versuchung durch eine Liebe zu einem geschaffenen Gut oder aus einer Furcht vor einem entgegengesetzten Übel hervorgeht, so daß sie auch aus der Liebe abgeleitet ist. Aus ihrer Art heraus besitzt die heilige Liebe in jedem Stand das, wodurch sie jeder Versuchung widerstehen kann, d. h. daß der Mensch auf diese Weise durch sie auch nicht in die Todsünde hineingeführt wird. D. h. aber nicht, daß er in keinerlei Versuchung gerät, denn das gehört zur Vollkommenheit erst in der ewigen Heimat. Zu 5. Gott wird in der ewigen Heimat in gleicher Weise sowohl ganz geschaut als auch ganz geliebt werden, wobei das ›ganz‹ von seiten des Schauenden als auch des Liebenden zu verstehen ist, weil nämlich, um Gott zu schauen und zu lieben, das ganze Vermögen des Geschöpfes beansprucht wird. In vergleichbarer Weise kann es auch so verstanden werden, daß Gott ganz geschaut und geliebt wer156 Vgl. Augustinus, De doctr. christ. I, 32, 35 (CCSL 32, 26). 157 Im Korpus des Artikels.

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den wird, weil er selbst nicht zusammengesetzt, sondern einfach ist. Dennoch wird er nach einem anderen Verständnis nicht ganz geliebt und ganz geschaut werden, weil er nämlich nicht in dem Maße geschaut und auch nicht von einem Geschöpf in dem Maße geliebt wird, wie er geschaut und geliebt werden kann. Vielmehr kann Gott in diesem Leben weder der ersten noch der zweiten Art nach ganz geschaut oder geliebt werden, denn weder kann er selbst durch sein Wesen geschaut werden noch ist es dem in diesem Leben befindlichen Menschen möglich, daß seine Gemütsbewegung ununterbrochen wirklich auf Gott ausgerichtet ist. Dennoch wird Gott in gewisser Weise vom Menschen in diesem Leben ganz geliebt, sofern nämlich nichts in seiner Gemütsbewegung der Gottesliebe entgegengesetzt ist. Zu 6. Der Wille ist der Herr über seinen Akt zwar in Bezug auf das, was er tut, nicht aber in Bezug darauf, daß er dauernd in einem Akt ausharren kann, denn die Bedingung des Lebens erfordert, daß der Akt und der Wille sich auf vieles beziehen. Oder man kann sagen, daß der Wille der Herr über seinen Akt bei den Dingen ist, die dem Menschen naturgemäß sind. Die größte Vollkommenheit der heiligen Liebe, die es in der ewigen Heimat geben wird, steht über dem Menschen, besonders aber, wenn der Mensch aus der Sicht des Standes im gegenwärtigen Leben betrachtet wird. Zu 7. Eine Tätigkeit hört nicht nur von seiten des Gegenstandes auf, erfreulich zu sein, sondern auch von seiten des Tätigen, dem es an der Kraft zum Tätigsein mangelt. Deshalb muß man feststellen, daß es von seiten des Gegenstandes her erfreulich ist, wirklich immer in Gott getragen zu sein. Von seiten der Bedingung in diesem Leben kann es keine solche dauernde Freude geben, weil die Betrachtung des menschlichen Geistes nicht ohne die Aktivität der Vorstellungskraft und anderer körperlicher Kräfte, die notwendigerweise beim Andauern einer Tätigkeit wegen der Schwäche des Körpers, nachlassen; dadurch wird die Freude behindert. Deswegen heißt es in Prd. 12, 12: »Vieles Studieren ist eine Bedrängung des Fleisches«. Zu 8. Die Vollkommenheit der heiligen Liebe bezieht sich nicht auf die Vergrößerung der Quantität, sondern auf den Intensitätsgrad der Qualität. Dieser Intensitätsgrad widerspricht der Einfachheit der heiligen Liebe nicht.

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Zu 9. Die Gegenstände der anderen sittlichen Tugenden sind menschliche Güter, die die menschlichen Kräfte nicht übersteigen. Darum kann bei ihnen der Mensch in diesem Leben zu jeglicher Vollkommenheit gelangen. Der Gegenstand der heiligen Liebe jedoch ist das ungeschaffene Gut, das die Kräfte des Menschen überschreitet, und deshalb ist das Argument nicht vergleichbar. Erwiderung zum Gegenargument: 1. In diesem Leben kann jemand ohne Todsünde leben, nicht aber ohne läßliche Sünde, weil sie nicht der Vollkommenheit des Pilgerstandes widerspricht, sondern der Vollkommenheit der ewigen Heimat, die ›immer‹ wirklich auf Gott bezogen ist. Die läßliche Sünde aber hebt den Habitus der heiligen Liebe nicht auf, sondern behindert nur deren Akt. Zu 2. Wir können Gott in diesem Leben nicht vollkommen erkennen, so daß wir von ihm wüßten, was er ist. Dennoch können wir von ihm erkennen, was er nicht ist,158 wie Augustinus sagt. Darin besteht die Vollkommenheit der Erkenntnis des Pilgerstandes. In ähnlicher Weise können wir in diesem Leben Gott nicht vollkommen lieben, so daß wir immer wirklich auf ihn bezogen wären, aber doch so, daß der Geist niemals auf dessen Gegensatz bezogen wird. Zu 3. In diesem Leben gibt es die vollkommene heilige Liebe weder schlechthin noch der menschlichen Natur nach, sondern nur der Zeit nach. Diejenigen aber, die auf diese Weise vollkommen sind, besitzen das, wodurch sie wachsen, wie man es bei den Kindern sieht. Darum besitzt die heilige Liebe in diesem Leben immer das, wodurch sie wächst. Zu 4. Die vollkommene heilige Liebe treibt nur die knechtische Furcht und die Furcht vor dem Anfangen der kindlichen Liebe159 aus, 158 Vgl. Augustinus, De trin. VIII, 2, 3 (CCSL 50, 270). 159 Sven Grosse, Heilsungewißheit und Scrupulositas im späten Mit-

telalter, Tübingen 1994, 42 f. unterscheidet prinzipiell: »Der timor servilis, die knechtische Furcht, fürchtet die Strafe« und »entspricht der vorbereitenden gratia gratis data …« »Der timor filialis hingegen, die kindliche Furcht, fürchtet allein aus Liebe die Trennung vom Geliebten. Er ist dabei ein timor castus, eine keusche Furcht, der es keineswegs um den eigenen Vorteil im Besitz des Geliebten geht. Er fürchtet nur den beleidigt zu ha-

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aber nicht die keusche, kindliche Furcht und auch nicht die natürliche Furcht. 11. Artik el Die elfte Frage lautet: Sind alle Menschen zur vollkommenen heiligen Liebe verpflichtet? 160 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1. Bezogen auf das, was im Gebot steht, sind alle Menschen dazu verpflichtet. Die Vollkommenheit der heiligen Liebe besteht aber im Gebot, denn in Dt. 6, 5 heißt es: »Du sollst den Herren deinen Gott aus ganzem Herzen lieben«. Darum sind alle zur Vollkommenheit der heiligen Liebe verpflichtet. 2. Es scheint zur Vollkommenheit der heiligen Liebe zu gehören, daß der Mensch alle seine Akte auf Gott bezieht. Dazu aber sind alle Menschen verpflichtet, denn in 1 Kor. 10, 31 heißt es: »Ob ihr eßt oder trinkt oder anderes tut, tut alles zur Ehre Gottes«. Darum sind alle zur Vollkommenheit der heiligen Liebe verpflichtet. 3. Darauf ist zu erwidern: Jenes Gebot des Apostels meint, daß sich alles nur habituell, aber nicht wirklich auf Gott bezieht. – Dagegen aber steht: Die Gesetze des Gebotes handeln zwar von den Tugendakten, aber der Habitus fällt nicht unter das Gebot. Das Gebot des Apostels ist also nicht von einem habituellen, sondern von einer wirklichen Entschiedenheit unserer Akte angesichts Gottes zu verstehen. 4. Der Herr hat gemäß Mt. 5, 17 die Gebote des alten Gesetzes völlig erfüllt; dort heißt es: »Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzuheben, sondern zu erfüllen«. Diese Erfüllung aber bezieht sich auf die Erfordernis für das Heil, wie Mt. 5, 20 erhellt: »Wenn eure Gerechtigkeit nicht größer ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, könnt ihr nicht in das Himmelreich gelangen«. Zu allem aber, ben, den er liebt«. »Timor initialis und filialis entsprechen der rechtfertigenden gratia gratum faciens.« Ebd. 43, Anm. 47 präzisiert er: »Zudem wird ein Zwischenglied eingeschaltet zwischen timor servilis und filialis, der timor initialis, in welchem der Mensch aus beiden Motiven fürchtet. Dieser timor initialis ist gar keine selbständige Größe, sondern die Veranschaulichung eines Prozesses«. Daraus resultiert obige Übersetzung. 160 Paralleltexte: Sent. III, d. 29 a. 8 ql. 2.

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was zum Heil notwendig ist, sind alle verpflichtet, also auch zur vorgeschriebenen Erfüllung; diese aber gehört zur Vollkommenheit. Darum zieht der Herr letztlich den Schluß: »Seid vollkommen wie euer himmlischer Vater vollkommen ist«.161 Es sind also alle zur Vollkommenheit der heiligen Liebe verpflichtet. 5. Nicht alle sind zu den Räten verpflichtet. Die Vollkommenheit des ewigen Lebens oder der heiligen Liebe richtet sich nicht nach den Räten. Es gibt nämlich den Rat der Armut, aber es folgt daraus nicht, daß, wer ärmer ist auch vollkommener ist. Es gibt auch den Rat der Jungfräulichkeit, und dennoch sind viele Jungfrauen im Vergleich zu anderen in der heiligen Liebe unvollkommener. So scheint es, daß die Vollkommenheit der heiligen Liebe nicht in der Befolgung der Räte besteht. Keiner ist also von der Vollkommenheit der heiligen Liebe entschuldigt. 6. Der Stand der Bischöfe ist vollkommener als der Stand der Ordensleute, sonst könnte niemand zu Recht vom Ordensstand zum Bischofsstand überwechseln. Deshalb sagt auch Dionysius im Buch Über die kirchliche Hierarchie, daß die Bischöfe die Vollkommeneren sind; die Mönche aber nur dahingehend vollkommener sind, sofern sie ihren Tugenden hingegeben sind, und weil sie sich nach oben zu den Vollkommenheiten, die sie bei den Bischöfen sehen, ausrichten sollen.162 Dennoch sind die Bischöfe nicht zur Beobachtung des Rates der Armut in dieser Weise verpflichtet. Darum gibt es bei ihnen die Vollkommenheit der heiligen Liebe nicht. 7. Der Herr hat den Aposteln vieles auferlegt, was die Vollkommenheit des Lebens betrifft, z. B. daß sie nicht zwei Mäntel, keine Sandalen, keinen Stab und nichts derartiges bei sich haben sollen. Was er den Aposteln auferlegt hat, hat er aber allen auferlegt, wie es in Mk. 13, 37 heißt: »Was ich euch gesagt habe, das sage ich allen«. Deshalb sind alle zur Vollkommenheit des Lebens verpflichtet. 8. Jeder, der die heilige Liebe hat, liebt das ewige Leben mehr als das zeitliche. Zum Akt der heiligen Liebe aber ist jeder Mensch verpflichtet. Darum ist auch jeder Mensch dazu verpflichtet, daß er das ewige Leben mit dem körperlichen Leben verbindet. In diesem 161 Mt. 5, 48. 162 Vgl. Dionysius Areopagita, De hierar. eccl. VI, 89 (Dion. 4, 1387).

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Sinne aber sagt Augustinus: Die heilige Liebe sagt, wenn sie zur Vollkommenheit gelangt: »Ich begehre, mich aufzulösen und mit Christus zu sein«.163 Darum ist jeder verpflichtet, die vollkommene heilige Liebe zu haben. 9. Augustinus sagt, daß die vollkommene heilige Liebe darin besteht, wenn jemand bereit ist, für die Brüder auch zu sterben.164 Dazu aber sind alle verpflichtet, denn im Ersten Johannesbrief heißt es: »Darin erkennen wir die Liebe Gottes, daß er für uns sein Leben hingegeben hat; auch wir sollen für die Brüder das Leben hingeben. Jeder ist also zur Vollkommenheit der Liebe verpflichtet. 10. Jeder ist verpflichtet, die Sünde zu meiden. Wer aber ohne Sünde ist, hat Zuversicht am Tag des Gerichtes, denn »darin ist die Liebe Gottes in uns vollendet, daß wir am Tag des Gerichtes Zuversicht haben«, wie es in 1 Joh. 4, 17 heißt. Darum sind alle zur vollkommenen heiligen Liebe verpflichtet. 11. Aristoteles sagt im 8. Buch der Ethik: Gott und den Eltern können wir nicht Gleichwertiges zurückerstatten, aber es genügt, daß jeder ihnen zurückgibt, was er kann.165 Die Vollkommenheit der heiligen Liebe aber besteht darin, daß jemand für Gott tut, was er kann, denn keiner bringt ein Können hervor, das darüber hinaus liegt. Also ist jeder verpflichtet, die vollkommene heilige Liebe zu haben. 12. Die Ordensleute bekennen sich zum vollkommenen Leben. Also scheinen sie zum Besitz der Vollkommenheit der heiligen Liebe und zu allem, was zur Vollkommenheit des Lebens gehört, verpflichtet zu sein. Dagegen spricht: Keiner ist zu dem verpflichtet, was nicht in ihm ist. Die vollkommene heilige Liebe zu besitzen, gehört jedoch nicht zu uns, sondern nur zu Gott. Sie kann deshalb kein Gebot sein.

163 Vgl. Augustinus, In Ioh. ep. V, 4 (PL 35, col. 2014); das Bibelzitat ist Phil. 1, 21 entnommen. 164 Vgl. ebd. V, 5 (PL 35, col. 2015). 165 Aristoteles, Eth. Nic. IX, 1; 1164 b 4 f.

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Antwort: Die Lösung dieser Frage kann aus dem bereits Gesagten abgeleitet werden. Es ist nämlich oben gezeigt worden, daß es eine erste Vollkommenheit gibt, die sich aus der Art der heiligen Liebe ergibt und in der Beseitigung jeglicher Neigung zum Gegenteil der heiligen Liebe besteht. Es gibt aber eine gewisse zweite Vollkommenheit, ohne die es die heilige Liebe, die zum Gutsein der heiligen Liebe gehört, durchaus geben kann. Sie besteht nämlich in der Beseitigung von weltlichen Vereinnahmungen, durch die das menschliche Gemüt behindert wird, so daß es nicht frei zu Gott hin voranschreitet. Es gibt aber noch eine dritte Vollkommenheit der heiligen Liebe, die dem Menschen in diesem Leben nicht möglich ist, und eine vierte, zu der keine geschaffene Natur hingelangen kann, wie das oben Gesagte erhellt. Es steht aber fest, daß man all dem den Charakter der Verpflichtung zuschreibt, ohne das das Heil nicht erlangt werden kann. Ohne die heilige Liebe aber kann keiner das ewige Heil erlangen, und nur durch diesen Habitus gelangt man zum ewigen Heil. Deshalb sind zur ersten Vollkommenheit der heiligen Liebe alle genauso verpflichtet wie zur heiligen Liebe selbst. Zur zweiten Vollkommenheit aber, ohne die es die heilige Liebe geben kann, sind die Menschen nicht verpflichtet, weil jede heilige Liebe zum Heil genügt. Noch viel weniger sind sie zur dritten oder vierten Vollkommenheit verpflichtet, weil keiner zum Unmöglichen verpflichtet ist. Zu 1. Jenes ›Ganzsein‹ gehört, sofern es unter das Gebot der heiligen Liebe fällt, zur Vollkommenheit, ohne die die heilige Liebe nicht sein kann. Zu 2. Alles in einer Handlung auf Gott hin auszurichten, ist in diesem Leben nicht möglich. Es ist z. B. nicht möglich, daß man immer über Gott nachdenkt; das nämlich gehört zur Vollkommenheit der ewigen Heimat. Daß aber alles durch die Tugend auf Gott bezogen wird, gehört zur Vollkommenheit der heiligen Liebe, zu der alle verpflichtet sind. Um dies zu verdeutlichen, muß bedacht werden, daß, genauso wie bei den Wirkursachen, die Kraft der ersten Ursache in allen folgen-

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den Ursachen bleibt, so auch die Absicht des Hauptzieles der Kraft nach in allen Zweitzielen bleibt. Daher richtet sich jeder, der in einer Handlung ein Zweitziel anstrebt, der Kraft nach auf das Hauptziel. Beispielsweise hat der Arzt, während er die Kräuter sammelt, die Absicht, den Trank herzustellen; vielleicht überhaupt nicht an die Gesundheit denkend, intendiert er dennoch der Wirkkraft nach die Gesundheit, deretwegen er den Trank verabreicht. Ordnet sich also jemand selbst auf Gott als auf ein Ziel hin, bleibt bei allem, was er dann nur um seiner selbst willen tut, der Kraft nach die Ausrichtung auf das letzte Ziel, welches Gott ist, erhalten. Alles kann darum verdienstvoll sein, wenn man die heilige Liebe hat. In diesem Sinne also schreibt Paulus vor, daß alles auf die Ehre Gottes bezogen werden soll. Zu 3. Es ist das eine, sich habituell und das andere, sich der Wirkkraft nach auf Gott zu beziehen. Habituell nämlich richtet sich derjenige auf Gott, der nichts wirklich tut und nichts wirklich beabsichtigt, wie es bei den Schlafenden der Fall ist. Sich der Wirkkraft nach auf Gott zu beziehen, ist dem Tätigen eigen, der wegen des Zieles sich auf Gott ausrichtet. Darum fällt habituell sich auf Gott zu beziehen, nicht unter das Gebot. Alles der Wirkkraft nach auf Gott zu beziehen, fällt hingegen unter das Gebot der heiligen Liebe, weil das nichts anderes ist, als Gott als das letzte Ziel zu haben. Zu 4. Der Ausspruch ›Seid vollkommen …‹, scheint auf die Feindesliebe bezogen werden zu müssen, die sich, wie in Artikel 8 ausgeführt, in einer Weise auf die Vollkommenheit des Rates und in anderer Weise auf die Notwendigkeit des Gebotes bezieht. Zu 5. Die Vollkommenheit des ewigen Lebens besteht bei einigen ursprünglich und an sich, bei einigen aber nachgeordnet und gewissermaßen akzidentell. Ursprünglich und an sich besteht die Vollkommenheit in dem, was zur inneren Anlage des Geistes gehört, besonders dem Akt der heiligen Liebe, welche die Wurzel aller Tugenden ist. Nachgeordnet und akzidentell besteht sie auch in äußeren Tugenden, wie z. B. der Jungfräulichkeit, der Armut und derartigem. Die Zugehörigkeit dieser Tugenden zur Vollkommenheit wird nämlich in dreifachem Sinn ausgesagt: Erstens nämlich, sofern durch diese dem Menschen die Hindernisse, die durch Vereinnahmungen entstehen, genommen sind und

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dadurch, nachdem sie entfernt sind, der Geist ungehinderter auf Gott ausgerichtet ist. Das meint darum auch der Herr, wenn er in Mt. 19, 21 sagt: »Wenn du vollkommen sein willst, geh und verkaufe alles, was du hast und gib es den Armen«. Anschließend fügt er hinzu: »Komm und folge mir nach«, um zu zeigen, daß die Armut nur insofern zur Vollkommenheit gehört, als sie dazu veranlagt, Christus nachzufolgen. Wir folgen ihm nämlich nicht mit den Schritten des Leibes nach, sondern mit dem Verlangen des Geistes. Dazu passend gibt Paulus in 1 Kor. 7, 34 den Rat, nicht zu heiraten denn »wer eine Jungfrau ist, denkt an das, was Gott betrifft«; sie will gewissermaßen Gott gefallen. Dieselbe Überlegung gilt für ähnliche Tugenden. Zweitens gehören sie zur Vollkommenheit, sofern sie eine Wirkung der vollkommenen heiligen Liebe sind, die nämlich Gott vollkommen liebt und sich von dem zurückzieht, was sie abhalten kann, keine Zeit für Gott zu haben. Drittens gehören sie zur Vollkommenheit der Reue, weil keine Genugtuung für die Sünden religiösen Gelübden, durch die sich der Mensch Gott weiht, gleichkommt, nämlich die Seele durch das Gelübde des Gehorsams, den Leib durch das Gelübde der Enthaltsamkeit und allen Besitz durch das Gelübde der Armut. Für das, was ursprünglich und an sich zur Vollkommenheit gehört, folgt daraus also, daß die größere Vollkommenheit da ist, wo das ursprünglich zur Vollkommenheit Gehörende mehr gefunden wird, z. B. daß der vollkommener ist, der die größere heilige Liebe hat. Für das aber, was erst in der Folge und gewissermaßen akzidentell zur Vollkommenheit gehört, folgt nicht, daß es auch einfachhin mehr da ist, wo es mehr angetroffen wird. Es folgt also daraus keineswegs, daß ärmer sein auch vollkommener sein bedeutet. Bei solchen muß man die Vollkommenheit durch den Vergleich mit denen vornehmen, deren Vollkommenheit einfachhin besteht, wie nämlich jener vollkommener genannt wird, dessen Armut den Menschen mehr von den irdischen Beschäftigungen löst und ihn freier macht, um Zeit für Gott zu haben. Zu 6. Der Unterschied zwischen ehrenhafter und lustorientierter Freundschaft ist folgender: In der lustbetonten Freundschaft wird nämlich der Freund um des Angenehmen willen geliebt, in der eh-

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renhaften Freundschaft aber um seiner selbst willen. Die Freude kommt aber erst in der Folge zustande. Zur Vollkommenheit der ehrenhaften Freundschaft gehört daher, daß jemand manchmal um des Freundes willen, während er ihm zu Diensten steht, sich auch einer Freude enthält, die er sonst in dessen Gegenwart hat. Entsprechend dieser Art der Freundschaft liebt man mehr den, der sich aus Freundschaft von ihm entfernt als den, der nicht bereit ist, aus Freundschaft auf die Gegenwart des Freundes zu verzichten.166 Wenn jemand sich aber frei und leicht von der Gegenwart des Freundes losreißt und an anderen sich mehr erfreut, sieht er es entweder gar nicht oder nur wenig für angemessen an, den Freund zu lieben. Diese drei Stufen können wir uns also in der heiligen Liebe vergegenwärtigen. Gott muß nun aber im höchsten Maße um seinetwillen geliebt werden. Es gibt aber welche, die frei und ohne großes Mißbehagen, sich von der Muße der göttlichen Betrachtung trennen, so daß sie in irdische Geschäfte verwickelt werden. Bei diesen wird entweder keine oder eine nicht allzu starke heilige Liebe sichtbar. Andere aber erfreuen sich an der Muße während der göttlichen Betrachtung so sehr, daß sie sie nicht aufgeben wollen, genauso wie sie sich beim Gehorsam Gott gegenüber dem Heil der Nächsten zuwenden. Wieder andere aber, die sogar die göttliche Betrachtung übergehen, obwohl sie sich an ihr am meisten erfreuen, steigen so sehr zum Gipfel der heiligen Liebe auf, daß sie Gott im Heil der Nächsten dienen. Diese Vollkommenheit wird bei Paulus offenbar, der in Röm. 9, 3 sagte: »Ich wünschte selbst verflucht« – das heißt getrennt – »zu sein von Christus für meine Brüder«, und in Phil. 1, 23 f. sagte er: »Ich habe Verlangen, aufgelöst zu werden und bei Christus zu sein, im Fleisch aber zu bleiben ist um euretwillen notwendig«. Diese Vollkommenheit ist den Bischöfen und Predigern und allen anderen eigen, die eingesetzt sind, um für das Heil anderer zu sorgen. Darum werden sie durch die aufsteigenden Engel der Jakobsleiter167 in der Betrachtung bezeichnet, durch die absteigenden aber hinsichtlich der Sorge, die sie für das Heil der Nächsten ausüben. Dem Stand der Bischöfe ist eine Minderung der Vollkommenheit 166 Übersetzung von discedere. 167 Vgl. Gen. 28, 12–15.

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unmöglich, weil diejenigen den Bischofsstand mißbrauchen, die das Bischofsamt wegen der zeitlichen Güter suchen, d. h. gewissermaßen durch die Süßigkeit der Betrachtung nicht angezogen werden. Genauso hebt auch »der Unglaube vieler die Treue Gottes nicht auf«, wie es in Röm. 3, 3 heißt. Zu 7. In der Lehre des Evangeliums ist einiges den Aposteln stellvertretend168 für alle Gläubigen gesagt worden, nämlich das, was heilsnotwendig ist. Darum heißt es in Mk. 13, 37: »Was ich euch sage, das sage ich allen: Seid wachsam!«, denn an dieser Stelle versteht man unter Wachsamkeit die Sorge, die der Mensch haben soll, damit er von Christus vorbereitet angetroffen wird. Den Aposteln selbst aber wird einiges gesagt, was zur Vollkommenheit des Lebens und zum Amt des Bischofs gehört; darauf kann das Wort »Was ich euch sage, das sage ich allen« nicht ausgedehnt werden. Dennoch muß man wissen, daß das, was der Herr den Jüngern in Lk. 9, 3 und 10, 4 gesagt hat »Nehmt nichts mit auf den Weg etc.«, gemäß der Auslegung des Augustinus in Über die Übereinstimmung der Evangelisten, nicht zur Vollkommenheit des Lebens gehört, sondern zur Vollmacht der apostolischen Würde, durch die sie – nichts mit sich tragend – vom dem leben konnten, was ihnen von denen angeboten wurde, denen sie das Evangelium verkündeten.169 Darum heißt es an derselben Stelle Lk. 10, 7, daß der Arbeiter seines Lohnes oder seiner Verköstigung würdig ist. Darum handelt es sich hierbei auch weder um ein Gebot noch um einen Rat, sondern um ein Zugeständnis. Deshalb hat Paulus, der nur das Notwendige bei sich hatte, von diesem Zugeständnis keinen Gebrauch gemacht. Er hat gewissermaßen Kriegsdienst um eigenen Sold getan, wie es in 1 Kor. 9, 7 offenkundig wird. Zu 8: Im Menschen gibt es zwei Gemütsbewegungen: Die eine ist die der heiligen Liebe, durch die die Liebe sich danach sehnt, bei Christus zu sein; die andere ist jedoch eine natürliche, durch die die Seele die Trennung vom Leib flieht. Das ist dem Menschen ganz natürlich, denn selbst Petrus war das Alter nicht genommen,170 wie 168 Übersetzung von in persona. 169 Vgl. Augustinus, De cons. evangelist. II, 30, 74 (CSEL 43, 67). 170 Vgl. Augustinus, In Ioh. ev. 123, 5 (CCSL 36, 679).

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Augustinus in Über das Johannesevangelium sagt. Wegen der Verbindung dieser beiden Gemütsbewegungen will die Seele in der Weise mit Gott vereint sein, daß sie nicht vom Körper getrennt ist, wie es bei Paulus in 2 Kor. 5, 4 heißt: »Wir wollen nicht entkleidet, sondern überkleidet werden, damit das Sterbliche vom Leben verschlungen werde«. Weil das aber unmöglich ist – solange wir nämlich im Leibe sind, weilen wir fern vom Herrn – , entsteht ein Gegensatz zwischen den genannten Gemütsbewegungen, und je vollkommener die heilige Liebe ist, desto mehr gewinnt die sensiblere Gemütsbewegung der heiligen Liebe die Oberhand über die natürliche Gemütsbewegung. Darin zeigt sich171 die Vollkommenheit der heiligen Liebe. Paulus fügt darum an derselben Stelle 2 Kor. 5, 6 hinzu: »Wir sind frohgemut und möchten lieber fern vom Leibe weilen und beim Herrn sein«. Bei denen aber, deren heilige Liebe unvollkommen ist, kommt unter der Bedingung, daß die heilige Liebe die Oberhand gewinnt, im Widerstreit zur natürlichen Gemütsbewegung ein unmerklicher Sieg der heiligen Liebe zustande. Deshalb sagt Paulus offenherzig und ohne Zweifel bzw. kühn: »Ich begehre mich aufzulösen und mit Christus zu sein«; darin zeigt sich die vollkommene heilige Liebe. Daß aber die Seele – obwohl nicht fühlbar – auf irgendeine Weise das Genießen Gottes der Einheit mit dem Leib vorzieht, gehört notwendigerweise zur heiligen Liebe. Zu 9. Seine Seele, d. h., sein gegenwärtiges Leben, für die Brüder hinzugeben, gehört sozusagen notwendig zur heiligen Liebe und ist gewissermaßen ihre Vollkommenheit, denn der Mensch soll mehr den Nächsten lieben als den eigenen Körper. Darum ist jemand in dem Fall, daß er verpflichtet ist, für das Heil des Nächsten zu sorgen, auch verpflichtet, für dessen Heil das körperliche Leben Gefahren auszusetzen. Das aber gehört zur vollkommenen heiligen Liebe, daß jemand auch für seinen Nächsten, dem gegenüber er keine Verpflichtung hat, sein körperliches Leben Gefahren aussetzt. Zu 10. Obwohl jeder verpflichtet ist, ohne Todsünde zu leben, hat dennoch nicht jeder Sicherheit darin. Eine Ausnahme bilden die Vollkommenen, die sich die Sünden ganz unterworfen haben. 171 Übersetzung von pertinet.

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Zu 11. Der Mensch ist den Eltern und noch viel mehr Gott gegenüber verpflichtet, alles, was er kann, zurückzugeben. Dennoch kann jemand entsprechend der im menschlichen Leben üblichen Art und Weise darüber hinaus etwas geben, zu dem er nach dem Gesetz keineswegs verpflichtet wäre. Zu 12. Keiner behauptet von sich die Vollkommenheit der heiligen Liebe, aber einige bekennen sich zu einem Zustand der Vollkommenheit, der in dem besteht, was organisch auf die Vollkommenheit der heiligen Liebe hingeordnet ist, wie die Armut und das Fasten. Dennoch sind sie nicht zu allen Übungen dieser Art verpflichtet, sondern nur zu dem, was sie öffentlich bekennen. Darum fällt bei ihnen die Vollkommenheit der Liebe nicht unter das Gelübde, sondern sie ist für sie wie ein Ziel, zu dem sie durch das, was sie versprochen haben, hinzugelangen streben.

12. Artik el Die zwölfte Frage lautet: Kann die heilige Liebe, die man einmal erworben hat, verloren gehen? 172 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. In 1 Joh. 3, 9 heißt es: »Jeder, der aus Gott geboren worden ist, begeht keine Sünde, weil sein Same in ihm bleibt. Und er kann nicht sündigen, weil er aus Gott geboren ist«. Außer den Söhnen Gottes besitzt aber niemand die heilige Liebe, denn sie selbst ist es, die »zwischen den Söhnen des ewigen Reiches und den Söhnen des ewigen Untergangs«173 unterscheidet, wie Augustinus im 15. Buch von Über die Dreifaltigkeit sagt. Also kann derjenige, der die heilige Liebe hat, sie durch die Sünde nicht verlieren. 2. Jede Tugend, die man durch Sündigen verliert, trocknet zwar durch die Sünde aus, aber Augustinus sagt: »Die heilige Liebe ist die unsichtbare Salbung, die in jedem schon vollzogen ist und die 172 Paralleltexte: Sum. theol. II–II, q. 24 a. 11; ScG c. 70; Ad Rom. c. 8 1. 7; Ad 1 Cor. c. 13 1. 3. 173 Augustinus, De trin. XV, 18, 32 (CCSL 50 A, 507); Augustinus bezieht sich auf Mt. 13, 38 bzw. Joh. 17, 12.

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Wurzel jener Tugend sein wird, die … nicht austrocknen kann und … durch die Wärme der Sonne so genährt wird, daß sie nicht austrocknet«.174 Darum kann die heilige Liebe nicht durch die Sünde verloren gehen. 3. Augustinus sagt im 8. Buch von Über die Dreifaltigkeit, daß die Liebe, wenn sie nicht wahr ist, nicht Liebe genannt werden kann.175 Aber, wie Augustinus im Brief an seinen Gefährten Julian sagt, »ist die heilige Liebe, die zerstört werden kann, niemals wahr gewesen«.176 Darum war sie auch keine heilige Liebe. Wer also die heilige Liebe hat, kann sie durch Sündigen nicht aufgeben. 4. Prosper von Aquitanien sagt im Buch Über die wahre Betrachtung: »Die heilige Liebe ist … als der rechte Wille … mit Gott untrennbar verbunden …; sie ist fleckenlos, kennt keine Zerstörung und ist keinem Makel der Veränderbarkeit unterworfen … Weder hat noch wird jemand mit ihr sündigen können …«.177 Darum kann die heilige Liebe durch die Sünde den Habitus nicht ein für alle mal verlieren. 5. Gregor der Große sagt in einer Predigt, daß die Liebe Gottes Großes tut, wenn sie da ist.178 Es verliert aber keiner durch Großestun die heilige Liebe. Wenn also die heilige Liebe einwohnt, kann sie nicht verloren gehen. 6. Der Mensch liebt Gott durch die heilige Liebe mehr als er sich selbst durch die natürliche Liebe liebt. Die Liebe zu sich selbst geht aber niemals durch die Sünde verloren und deshalb auch nicht die heilige Liebe als solche. 7. Der freie Wille neigt nicht zur Sünde, es sei denn durch etwas, das ihn zum Sündigen bewegt. Was aber zu jeglicher Sünde hinbewegt, ist die Selbstliebe, die, wie Augustinus in Der Gottesstaat 174 Augustinus, In Ioh. ep. III, 12 (PL 35, col. 2004). 175 Vgl. Augustinus, De trin. VIII, 7, 12 (CCSL 50, 284). 176 Diese Zitation ist Paulus diaconus, De salutaribus documentis ad

quemdam comitem 7 entnommen (PL 40, col. 1049). 177 Vgl. Decretum magistri Gratiani (Concordantia discordantium canonum) II, causa 33, q. 3 d. 2 can. 5; (ed. Friedberg, 1191). Thomas übernimmt die dortige Quellenangabe. Friedberg verbessert: »Imo Julianus Pomerius cuius hic liber est«. 178 Vgl. Gregor der Große, Hom. ev. II, 30, 2 (CCSL 141, 257).

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sagt, die Bürgerschaft Babylons hervorbringt.179 Diese aber schließt die heilige Liebe aus, weil, wie Dionysius sagt, »die göttliche Liebe Verzückung hervorbringt und diejenigen, die sich selbst lieben, nicht duldet«.180 In ähnlicher Weise wird auch die Begierde als die Wurzel aller Übel behauptet, wie Paulus in 1 Tim. 6, 10 sagt. Die heilige Liebe aber schließt auch diese aus,181 wie Augustinus in Über dreiundachtzig verschiedene Fragen sagt. Derjenige also, der die Liebe hat, kann sie nicht durch Sündigen verlieren. 8. Wer die heilige Liebe hat, wird durch den Geist Gottes geführt, wie es in Gal. 5, 18 heißt: »Wenn ihr durch den Geist geführt werdet, steht ihr nicht unter dem Gesetz«. Der heilige Geist kann aber, weil er unbegrenzte Kraft hat, in seiner Tätigkeit nicht nachlassen. Es scheint also, daß der Mensch, der die heilige Liebe hat, nicht sündigen kann. 9. Gegen keinen Habitus, dessen Sein im Handeln besteht, kann man sündigen. Aristoteles sagt nämlich im 7. Buch der Ethik, daß man nicht gegen das wirkliche Wissen, sondern gegen das habituelle Wissen sündigt.182 Die heilige Liebe aber besteht im Handeln. Gregor der Große sagt nämlich in einer Predigt, daß »die Gottesliebe niemals müßig ist«.183 Deshalb kann niemand so gegen die heilige Liebe sündigen, daß sie durch die Sünde verloren gehen kann. 10. Wenn jemand die heilige Liebe aufgibt, tut er dies entweder während er sie hat, oder während er sie nicht hat. Während er sie hat, gibt er sie nicht durch die Sünde auf, weil die Sünde nicht zugleich mit der heiligen Liebe bestehen kann. Wenn er sie nicht hat, gibt er sie ebenfalls nicht auf, weil er das, was er nicht hat, auch nicht aufgeben kann. Deshalb kann man die heilige Liebe überhaupt nicht aufgeben. 11. Die heilige Liebe ist gewissermaßen ein Akzidens in der Seele. Ein solches kann aber auf vier Weisen aufhören: Erstens nämlich ist dies möglich durch die Zerstörung des Trägers; aber auf diese 179 180 181 182 183

Vgl. Augustinus, De civ. Dei XIV, 28 (CCSL 48, 451). Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 19 (Dion. I, 215). Vgl. Augustinus, De div. qu. 83, 36, 1 (CCSL 44 A, 54 f.). Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VII, 3; 1145 b 22. Gregor der Große, Hom. ev. II, 30, 2 (CCSL 141, 257).

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Weise kann die heilige Liebe nicht aufhören, denn die menschliche Seele, die ihr Träger ist, ist unzerstörbar; Zweitens hört ein Akzidens durch das Fehlen der Ursache auf, wie beispielsweise das Licht durch Abwesenheit der Sonne aus der Luft entschwindet. Auf diese Weise aber kann die heilige Liebe nicht aufhören, weil ihre Ursache, nämlich Gott, nicht schwindet. Drittens hört ein Akzidens auf durch einen sich auflösenden Gegenstand, genauso wie durch den Tod des Sohnes die Vaterschaft aufhört. Aber auch auf diese Weise schwindet die heilige Liebe nicht, weil ihr Gegenstand das ewige Gute ist, nämlich Gott. Auf die vierte Weise hört etwas Hinzugefügtes durch die Tätigkeit eines entgegengesetzten Tätigen auf, wie z. B. die Kälte des Wassers durch die Tätigkeit der Wärme aufhört. Aber auch auf diese Weise kann die heilige Liebe nicht aufhören, weil sie stärker als die Sünde ist, die entgegengesetzt zu handeln scheint. In Hld. 8, 6 heißt es: »Stark wie der Tod ist die Liebe«; und ebenso Hld. 8, 7: »selbst gewaltige Wasser können die Liebe nicht auslöschen«. Deshalb kann die heilige Liebe bei dem, der sie hat, gar nicht aufhören. 12. Die Sünde ist das Übel einer vernünftigen Natur. Das Übel aber ist nur durch die Kraft des Guten tätig,184 wie Dionysius in Über die göttlichen Namen sagt. Das Gute ist aber nicht dem Guten entgegengesetzt,185 wie es bei Aristoteles in Die Kategorien heißt. Daher kann es nicht zerstören, weil jedes einzelne nur von dem ihm Entgegengesetzten zerstört wird. Die heilige Liebe kann also nicht durch die Sünde zerstört werden. 13. Wenn die heilige Liebe durch die Sünde zerstört wird, dann entweder durch eine bestehende oder durch eine nicht bestehende. Sie kann aber nicht durch eine bestehende Sünde zerstört werden, weil auf diese Weise Todsünde und heilige Liebe zugleich bestünden. Sie kann aber auch nicht durch die nicht bestehende Sünde zerstört werden, weil ein Nicht-seiendes nicht tätig sein kann. Darum kann die heilige Liebe gar nicht durch die Sünde aufhören. 14. Wenn die heilige Liebe durch die Sünde aufhört, sind die heilige Liebe und die Sünde entweder gleichzeitig oder nacheinan184 Vgl. Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 20 (Dion. I, 244 f.). 185 Aristoteles, Cat. 2; 13 b 35.

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der in der Seele. Sie können weder gleichzeitig in ihr sein, weil sie dann auch gleichzeitig bestünden; noch zuerst im einen Augenblick und dann im anderen, weil es sonst notwendigerweise einen Zeitpunkt dazwischen gäbe, in dem der Mensch weder Sünde noch heilige Liebe hätte, was auch nicht sein kann. Deshalb kann die heilige Liebe durch die Sünde nicht aufhören. 15. Petrus Lombardus sagt im 3. Buch der Sentenzen, daß die vollkommene heilige Liebe durch die Sünde nicht verloren gehen kann.186 16. So wie sich der Verstand zur Erkenntnis des Wahren verhält, so auch der Wille zur Liebe zum Guten. Der Verstand aber erkennt durch das Erkennen von etwas Wahrem die erste Wahrheit; also liebt er auch durch das Lieben von etwas Gutem das höchste Gute. Niemals aber sündigt jemand, der liebt, es sei denn er wendet sich mit der sinnlichen Liebe dem veränderlichen Gut zu. Deshalb liebt der Mensch in jeder Sünde das höchste Gute, dessen Liebe die heilige Liebe ist. Also kann die heilige Liebe niemals durch die Sünde verloren gehen. 17. Wie es in der Gattung der Wirkursache einen allgemeinen und einen besonderen Tätigen gibt, so auch in der Gattung der Finalursache. Das besondere Tätige ist immer in der Kraft des allgemeinen Tätigen tätig. Deshalb bewegt das besondere Ziel den Willen immer in der Kraft des letzten Zieles. Das letzte Ziel aber ist Gott; darum gilt dasselbe wie oben.187 18. Die heilige Liebe ist ein Zeichen dafür, daß jemand ein wahrer Jünger Christi ist, wie es in Joh. 13, 35 heißt: »Daran werden alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid, wenn ihr euch gegenseitig liebt.« Aber derjenige ist nicht der wahre Jünger Christi, der nicht immer sein Jünger ist. Deshalb erklärt Augustinus jenes Wort in Joh. 6, 66: »Viele von seinen Jüngern wandten sich von ihm ab«, indem er sagt, daß jene keine wahren Jünger Christi gewesen sind.188 Und der Herr sagt in Joh. 8, 31: »Wenn ihr in meinem Wort bleibt, 186 Vgl. Petrus Lombardus, Sent. III, d. 31 q. 1 a. 9 (ed. Coll. S. Bon. II,

183). 187 Vgl. De virt. q. 2 a. 12 obj. 16. 188 Vgl. Augustinus, In Ioh. ev. 27, 8 (CCSL 36, 274).

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werdet ihr wirklich meine Jünger sein«. Darum hat der, der nicht in der heiligen Liebe bleibt, nie die heilige Liebe gehabt. 19. Jede Bewegung vollzieht sich gemäß einem vorherrschenden Erfordernis. Die heilige Liebe aber herrscht im Herzen dessen vor, der die heilige Liebe hat, weil sie das ganze Herz so erfüllt, wie es in Dt. 6, 5 geboten ist: »Du sollst den Herrn, deinen Gott aus deinem ganzen Herzen lieben«. Darum entspricht jede Bewegung des heilig Liebenden der heiligen Liebe. Sie kann daher durch die Sünde nicht verloren gehen. 20. Unterschiede, die Gattung oder Art unterscheiden, können nicht der Zahl nach im selben Ding zusammentreffen. Aber »›Zerstörbar‹ und ›unzerstörbar‹ sind ein Gattungsunterschied«,189 wie es im 10. Buch der Metaphysik heißt. Wenn daher die heilige Liebe auf dem Pilgerweg und in der ewigen Heimat der Zahl nach dieselbe ist, scheint es, daß, genauso wie die heilige Liebe in der ewigen Heimat nicht zerstört werden kann, es auch nicht auf dem Pilgerweg möglich ist. 21. Wenn die heilige Liebe zerstört wird, ist es so: Entweder wird sie in etwas anderes oder in nichts aufgelöst. In etwas anderes wird sie nicht aufgelöst, weil das nur den Formen zukommt, die aus der Potenz der Materie heraus entstehen. In nichts kann sie aber auch nicht aufgelöst werden, weil Gott die heilige Liebe niemals zerstört; er allein kann aus etwas nichts machen, genauso wie er allein aus nichts etwas machen kann, denn zwischen beiden besteht der gleiche Abstand. Darum scheint es, daß die heilige Liebe nicht zerstört werden kann. 22. Das, wodurch die Sünde aufgehoben wird, kann von der Sünde nicht zerstört werden. Die Sünde aber wird gemäß 1 Petr. 4, 8 durch die heilige Liebe aufgehoben, »denn die Liebe deckt eine Menge Sünden zu«. Darum kann die heilige Liebe durch die Sünde nicht verloren gehen. 23. Zu dem Wort aus Ps 27 (26), 2 »Fallen Böse über mich her, mich zu verschlingen«, sagt Augustinus in der Glosse: Wenn eine Gabe weggenommen wird, ist der Geber besiegt.190 Gott aber, der 189 Aristoteles, Met. X, 10; 1058 b 26. 190 Vgl. Augustinus, Enarr. in Ps. 26, 2, 5 (CCSL 38, 156); Petrus Lom-

bardus, Comm. in Ps. 26, 2 (PL 191, 269 C).

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der Geber der heiligen Liebe ist, kann nicht besiegt werden. Deshalb kann die heilige Liebe nicht durch die Sünde weggenommen werden. 24. Die Seele wird – gemäß einer geistlichen Hochzeit – als Braut durch die heilige Liebe mit Gott als ihrem Bräutigam geeint. Die fleischliche Ehe kann aber nicht durch eine aufkommende Meinungsverschiedenheit, die nicht das eheliche Band ihn Frage stellt, getrennt werden. Darum kann die heilige Liebe durch eine Sünde nicht aufgehoben werden, durch die der Geist in Uneinigkeit mit denen gerät, die zu Gott gehören. Dagegen spricht: 1. In Apk. 2, 4 heißt es: »Ich habe gegen dich einiges, weil du deine erste Liebe schuldig bleibst«. 2. Gregor der Große sagt in einer Predigt: »Gott kommt in die Herzen einiger, aber er wohnt dort nicht, weil sie durch den Rückblick im Gewissensbiss Gottes zwar gewahr werden, aber in der Zeit der Versuchung … zu den läßlichen Sünden191 zurückkehren, als wenn sie diese gar nicht bereuen würden«.192 Gott kommt aber in die Herzen der Gläubigen nur durch die heilige Liebe. Darum kann sie jemand in Folge der Sünde nach dem Habitus der heiligen Liebe verlieren. 3. In 1 Kg. 16, 18 wird über David gesagt, »daß der Herr mit ihm war«. Später hat er aber dann gesündigt, indem er Ehebruch und Mord begangen hat. Gott ist im Menschen jedoch durch die heilige Liebe. Deshalb kann jemand durch eine Todsünde den Habitus der heiligen Liebe verlieren. 4. Gemäß 1 Joh. 3, 14 ist die heilige Liebe das Leben der Seele: »Wir wissen, daß wir aus dem Tod zum Leben hinübergeschritten sind, weil wir die Brüder lieben«. Das natürliche Leben kann aber durch den natürlichen Tod aufhören, darum auch das Leben der heiligen Liebe durch den Tod der Todsünde.

191 Übersetzung von perpetranda peccata; wörtlich: Sünden, die begangen werden dürfen. 192 Gregor der Große, Hom. ev. II, 30, 2 (CCSL 141, 257).

242

Quaestio · 2

Antwort: Petrus Lombardus behauptet im 1. Buch seiner Sentenzen, d. 17, daß die heilige Liebe in uns der heilige Geist ist.193 Es ist aber nicht seine Absicht gewesen zu sagen, daß der Akt unserer heiligen Liebe der heilige Geist selbst ist, sondern daß der heilige Geist unsere Seele – genauso wie zum Akt anderer Tugenden – dazu bewegt, Gott und den Nächsten zu lieben. Zu einem Akt der anderen Tugenden bewegt er die Seele durch die Habitus der eingegossenen Tugenden. Zum Akt der Gottes- und Nächstenliebe bewegt er aber ohne Vermittlung durch einen anderen Habitus. Darum ist zwar seine Meinung hinsichtlich der Behauptung wahr gewesen, daß die Seele durch den heiligen Geist zur Gottes- und Nächstenliebe bewegt wird; unvollkommen ist sie aber dahingehend gewesen, daß er nicht von einem geschaffenen Habitus in uns ausgeht, durch den der menschliche Wille zu einem solchen Akt der Liebe vervollkommnet wird. Es ist nämlich notwendig, daß, wie in Artikel 1 dieser Frage gesagt, ein solcher Habitus in der Seele angenommen wird. Man kann darum in vierfacher Weise eine Betrachtung zur heiligen Liebe vornehmen: Erstens ist sie von seiten des heiligen Geistes, der die Seele zur Gottes- und Nächstenliebe bewegt, zu betrachten. Unter dieser Hinsicht ist festzustellen, daß die Bewegung des heiligen Geistes immer gemäß seiner Absicht wirksam ist. Denn der heilige Geist handelt in der Seele, »indem er jedem nach seiner Eigenart zuteilt, wie er will«, wie es in 1 Kor. 12, 11 heißt. Darum will der heilige Geist ihnen nach seinem Ermessen eine beharrliche Bewegung der göttlichen Liebe verleihen; bei diesen kann die Sünde die heilige Liebe nicht verhindern. (Ich spreche hier von einem Nicht-Können seitens der bewegenden Kraft, obwohl hinsichtlich der Veränderbarkeit des freien Willens die Sünde möglich ist.) Das sind nämlich »die Wohltaten Gottes, durch die alle, die befreit werden, am sichersten befreit werden«,194 wie Augustinus im Buch Über die Vorherbestimmung 193 Vgl. Petrus Lombardus, Sent. I, d. 17 c. 6 p. 5 (ed. Coll. S. Bon. I,

150). 194 Das fragliche Zitat findet sich vielmehr in: Augustinus, De dono persev. 14 (PL 45, col. 1014).

12. Artikel

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der Heiligen sagt. Der heilige Geist verleiht ihnen zwar nach seinem Ermessen, so daß sie in der Zeit durch die Bewegung der Liebe in Gott bewegt werden, aber nicht, daß sie darin ausharren bis zum Ziel,195 wie es Augustinus im Buch Über Tadel und Gnade deutlich macht. Zweitens kann die heilige Liebe ihrer Macht nach betrachtet werden. Unter dieser Hinsicht kann keiner, der die heilige Liebe hat, sündigen, sofern es aus der Kraft der heiligen Liebe selbst geschieht, genauso wie auch niemand, der eine Form hat, aus der Kraft jener Form gegen jene Form handeln kann, wie z. B. das Warme aus der Kraft des Warmen nicht abkühlen oder kalt sein kann. Dennoch kann die Wärme verloren gehen oder sich abkühlen. Dementsprechend sagt Augustinus im Buch Über die Bergpredigt des Herrn, indem er das Wort aus Mt. 7, 18 »Der gute Baum kann keine schlechten Früchte tragen« erklärt: »Genauso wie es vorkommen kann, daß das, was aus Schnee gewesen ist, verschwunden ist, aber nicht, daß Schnee warm ist, so kann es geschehen, daß das, was schlecht gewesen ist, nicht mehr schlecht ist, obgleich es unmöglich ist, daß das Schlechte als solches gut wird«.196 Dieselbe Einsicht gilt für das Gute in Bezug auf jede Tugend, weil keiner eine Tugend schlecht gebraucht. Drittens ist die heilige Liebe von seiten des Willens zu betrachten, sofern sie ihm unterworfen ist wie die Materie der Form. Hierbei ist darauf zu achten, daß eine Form, wenn sie das ganze Vermögen der Materie erfüllt, in der Materie keine Möglichkeit für eine andere Form verbleibt. Darum besitzt sie jene Form unverlierbar, wie es an der himmlischen Materie deutlich wird. Es gibt aber eine Form, die nicht die ganze Möglichkeit der Materie erfüllt, sondern die Möglichkeit zu einer anderen Form zurückläßt; dann wird jene Form von seiten der Materie oder des Trägers verlierbar besessen, wie z. B. bei den Formen der elementaren Körper. Die heilige Liebe aber erfüllt das Vermögen ihres Trägers, sofern sie ihr Träger in den Akt der Liebe überführt. Deshalb besitzt man die heilige Liebe unverlierbar in der ewigen Heimat, wo das vernünftige Geschöpf 195 Vgl. Augustinus, De corrept. et gratia 6 (PL 44, col. 921). 196 Augustinus, De serm. Dom. II, 24, 79 (CCSL 35, 178).

244

Quaestio · 2

Gott aus seinem ganzen Herzen liebt und nichts anderes liebt als wirklich sich auf Gott zu beziehen. Auf dem Pilgerweg aber erfüllt die heilige Liebe nicht das ganze Vermögen der Seele, die sich nicht immer wirklich zu Gott hin bewegt, indem sie alles in wirklicher Absicht auf ihn bezieht. Darum besitzt man die heilige Liebe auf dem Pilgerweg in verlierbarer Weise, sofern sie von seiten des Trägers kommt. Viertens ist die heilige Liebe von seiten ihres Trägers zu betrachten, sofern er aufgrund seiner Art genauso auf die heilige Liebe selbst bezogen ist wie das Vermögen auf den Habitus. Hierbei muß man bedenken, daß der Habitus der Tugend den Menschen zum richtigen Handeln hinneigt, sofern er durch sie die rechte Einschätzung des Zieles besitzt, denn im 3. Buch der Ethik heißt es: Wie jeder einzelne beschaffen ist, so erscheint ihm auch das Ziel.197 Genauso wie das Schmecken über den Geschmack urteilt, sofern es einen Geschmackssinn198 mit einer guten oder schlechten Anlage gibt, so wird das, was gemäß der ihm eigenen guten oder schlechten habituellen Anlage mit dem Menschen übereinstimmt, von ihm als Gutes eingeschätzt. Was hingegen nicht damit übereinstimmt, wird als schlecht und abstoßend eingeschätzt. Daher sagt auch Paulus in 1 Kor. 2, 14, daß »der naturhafte Mensch nicht aufnimmt, was vom Geiste Gottes kommt«. Dennoch kommt es manchmal vor, daß jemandem etwas zwar der Neigung seines Habitus, aber nicht etwas anderem zu entsprechen scheint. Beispielsweise erscheint das Gut der Wolllust der Neigung des eigenen Habitus nach als wollüstig, der Überlegung der Vernunft oder der Autorität der Schrift nach aber als dem entgegengesetzt. Darum handelt derjenige, der den Habitus der Wolllust hat, manchmal aufgrund dieser Einschätzung gegen einen solchen Habitus, und in ähnlicher Weise handelt derjenige, der einen Habitus der Tugend hat, manchmal gegen die Neigung dieses Habitus, weil ihm – gemäß einem anderen Maßstab, z. B. durch Leidenschaft oder Verführung – etwas anders erscheint.

197 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. III, 7; 1114 b 14 ff. 198 Übersetzung für affectus.

12. Artikel

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Deshalb wird dann keiner mehr gegen den Habitus der heiligen Liebe handeln können, weil keiner eine andere Einschätzung des Zieles und des Gegenstandes der heiligen Liebe haben kann als in Übereinstimmung mit der Neigung der heiligen Liebe. Das aber wird in der ewigen Heimat sein, wo man das Wesen Gottes selbst schauen wird, welches das Wesen der Gutheit selbst ist. Daher kann auch in diesem Leben keiner irgendetwas wollen, es sei denn unter dem allgemeinen Begriff des Guten, und das Gute kann unter Hinsicht des Guten nicht nicht geliebt werden. So wird auch im ewigen Leben keiner dieses Gute, welches Gott ist, nicht lieben. Aus diesem Grund kann keiner, der Gott seinem Wesen nach schaut, gegen die heilige Liebe handeln. Daher kommt es, daß die heilige Liebe in der ewigen Heimat unverlierbar ist. In diesem Leben aber schaut unser Geist nicht das Wesen der göttlichen Gutheit selbst, sondern eine Wirkung von ihr, die – gemäß verschiedener Sichtweisen – gut und nicht gut erscheinen kann, wie z. B. das geistlich Gute für einige nicht gut zu sein scheint, sofern es der Wolllust, in deren Begierde sie sich befinden, entgegengesetzt ist. Deshalb kann die heilige Liebe auf dem Pilgerweg durch die Todsünde verloren gehen. Zu 1. Jenes Wort des Johannes ist in Bezug auf die Kraft des heiligen Geistes zu verstehen, der die Seele bewegt, die unablässig tut, was er will. Zu 2. Augustinus spricht dort von der heiligen Liebe gemäß der Kraft der heiligen Liebe selbst. Sie genügt sich selbst und trocknet daher nicht aus. Daß sie aber verloren geht, liegt, wie gesagt,199 an der Veränderbarkeit des Trägers. Zu 3. Die wahre Liebe geht ihrem Wesen nach niemals verloren. Wer nämlich den Menschen wahrhaft liebt, macht sich dies in seiner Seele zum Vorsatz, so daß er niemals die Liebe aufgibt. Wenn jener Vorsatz aber einmal verändert wird, geht selbst die Liebe, die echt gewesen ist, auf diese Weise verloren. Hätte aber jemand sich den Vorsatz gefaßt, daß er vom Lieben irgendwann einmal ablassen würde, wäre es keine echte Liebe gewesen. Deshalb ist es offenkun199 Im Korpus des Artikels.

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Quaestio · 2

dig, daß die heilige Liebe ihrer eigenen Macht nach unverlierbar ist, obwohl sie der Macht des veränderbaren Trägers nach verloren gehen kann. Zu 4. Jener autoritative Text des Prosper von Aquitanien spricht von der heiligen Liebe ihrer Macht und nicht dem Träger nach. Zu 5. Die heilige Liebe hat, solange sie da ist, eine Neigung, Großes zu tun; dies will sie, und sie nimmt es sich entsprechend der Natur ihres Vermögens vor. Irgendwann aber läßt dieser Vorsatz wegen der Veränderlichkeit des Trägers nach. Zu 6. Wenn es im Menschen eine zweifache Natur gibt – nämlich eine vernünftige, die ursprünglicher ist und eine sinnenhafte, die geringer ist –, liebt derjenige wahrhaft sich selbst, der sich in Bezug auf das Gute der Vernunft liebt; wer sich aber in Bezug auf das Gute der Sinnenhaftigkeit im Gegensatz zum Guten der Vernunft liebt, haßt sich mehr als er sich im eigentlichen Sinne liebt, wie es in Ps. 11 (10), 5 heißt: »Wer die Sünde liebt, haßt seine Seele«. Das sagt auch Aristoteles im 9. Buch der Ethik.200 Entsprechend dieser wahren Selbstliebe geht sie durch die entgegengesetzte Sünde verloren, wie es z. B. bei der Gottesliebe der Fall ist. Zu 7. Die heilige Liebe schließt ihrer Absicht entsprechend jeden Beweggrund zur Sünde aus. Es gehört nämlich zum Wesen der heiligen Liebe, daß sie weder begehren, noch sich selbst ungeordnet lieben will. Gemäß Paulus in Röm. 7, 19 stellt sich jedoch irgendwann wegen der Veränderbarkeit und Zerstörbarkeit unserer Natur das Gegenteil ein: »Ich tue nämlich nicht das Gute, das ich will, vielmehr das Böse, das ich hasse, das tue ich«. Zu 8. Solange jemand dem Antrieb des heiligen Geistes folgt, sündigt er nicht. Wenn er sich ihm aber widersetzt, dann sündigt er. Zu 9. Das Sein der heiligen Liebe liegt nicht immer im Handeln, sonst hätten die Schlafenden keine heilige Liebe. Jedoch entspricht das Wort ›die Gottesliebe ist niemals müßig‹ der Absicht der heiligen Liebe, die darin besteht, daß der Mensch sich Gott ganz schenkt. Zu 10. Der Verlust verhält sich zu einer Sache, die man besitzt, genau so wie die Zerstörung zu einer Sache, die existiert. Denn wie die Zerstörung bei der existierenden Sache beginnt und auf deren 200 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. IX, 4; 1166 b 5–10.

12. Artikel

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Nichtsein zielt, weil dessen Veränderung vom Sein zum Nichtsein führt, so auch der Verlust, weil auch die Veränderung vom Haben zum Nichthaben beim Haben anfängt und auf das Nichthaben zielt. Darum liegt der Anfang des Verlustes der heiligen Liebe in einem Zeitpunkt, an dem man die heilige Liebe noch hat, das Ende aber, wenn man sie nicht mehr hat. Zu 11. Aus folgenden vier Gründen hört die heilige Liebe in je einer Weise auf: Erstens gerät nämlich der Träger der heiligen Liebe – obwohl er der Substanz nach unzerstörbar ist –, dennoch durch die ihr entgegengesetzte Anlage zur Sünde in Unordnung zu dieser Form. Zweitens wird in ähnlicher Weise – obwohl die Ursache der heiligen Liebe unzerstörbar ist –, dennoch der Einfluß dieser Ursache durch die Sünde, die uns von Gott trennt, behindert. Drittens schwindet aus diesem Grund sogar die heilige Liebe von seiten des Gegenstandes, sofern der Wille sich vom unveränderbaren Guten abwendet. Viertens hört sie auch durch den ihr entgegengesetzten Beweggrund zum Sündigen auf, obwohl sie – einfach gesagt – schwächer ist als die heilige Liebe; dennoch kann sie im Einzelfall stärker sein. Zu irgendeinem Zeitpunkt nämlich ist die heilige Liebe einmal nicht wirklich tätig und der Beweggrund der Sünde bewegt den Menschen zu einem bestimmten Werk. Im gleichem Sinne zeigt auch Aristoteles im 7. Buch der Ethik, daß das Wissen von der Leidenschaft besiegt werden kann, obwohl es am stärksten ist.201 Dies gilt, sofern es nicht wirklich tätig ist, sondern durch die Leidenschaft im Habitus eingebunden ist; und genauso wie die Wissenschaft hinsichtlich des Allgemeinen, die Leidenschaft aber hinsichtlich des Einzelnen, das man tun kann, am stärksten ist, so ist die heilige Liebe in Bezug auf das letzte Ziel am stärksten und der Beweggrund der Sünde hat seine Stärke in der einzelnen Tat. Zu 12. Aristoteles sagt, daß das Gute einer Tugend nicht dem Guten einer anderen Tugend widerspricht;202 das meint er in Die Kategorien und im 2. Buch der Ethik. Bei den natürlichen Dingen ist aber das Gute dem Guten entgegengesetzt, denn auf beiden Seiten 201 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VII, 8; 1150 b 20 f. 202 Vgl. Aristoteles, Cat. 10; 11 b 35 und Eth. Nic. II, 3; 1105 b 5 f.

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Quaestio · 2

des Gegensatzes gibt es ein Gutes der Natur. Das Gute also, das das Streben zum Sündigen bewegt, ist dem göttlichen Guten entgegengesetzt, welches der Gegenstand der heiligen Liebe ist, sofern durch ihn das Ziel feststeht; denn nur so kann es das eine letzte Ziel sein. Genauso ist es auch in einem Reich, in dem es nur einen König geben kann; derjenige ist dem König entgegengesetzt, der sich selbst zum König macht, wie es in Joh. 19, 12 heißt: »Jeder, der sich selbst zum König macht, widerspricht dem Kaiser«. Zu 13. Die heilige Liebe wird von der Sünde nicht wie von einem Tätigen sondern von ihrem Gegensatz vertrieben. Darum ist das Hereinbrechen203 der Sünde die Vertreibung der heiligen Liebe, genauso wie die Ankunft des Lichtes die Vertreibung der Finsternis ist. Das Licht nämlich vertreibt die Finsternis durch sein eigenes Werden, aber der Beweggrund zur Sünde vertreibt die Liebe, sofern er in der Wahrnehmung der Seele vorher schon besteht. Zu 14. Sobald ein Mensch sich in der Todsünde befindet, geschieht dies durch eine Überlegung der Vernunft, weil es ohne überlegte Einwilligung keine Todsünde gibt. Die Überlegung aber ist eine in der Zeit gemessene Bewegung; erst dem letzten Augenblick dieses Zeitraums wohnt die Sünde inne. Vor jenem letzten Augenblick kann man jedoch nicht noch einen nächsten hervorbringen, in dem die heilige Liebe ist, weil die Augenblicke nicht in einer Aufeinanderfolge stehen, sondern die Zeit ein Kontinuum ist. Darum ist die heilige Liebe in der ganzen kontinuierlichen Zeit, die auf den letzten Augenblick hinzielt, in der Seele, in deren letzten Augenblick schließlich die Sünde ist. Es ist also nicht der letzte Augenblick hervorzubringen, in dem die heilige Liebe ist, sondern nur der letzte der Zeit,204 wie Aristoteles im 8. Buch der Physik erhellt. Zu 15. Wenn Petrus Lombardus die vollkommene heilige Liebe, die die heilige Liebe der ewigen Heimat ist, meint, ist es gemäß den obigen Ausführungen wahr, daß sie unverlierbar ist. Wenn er sie jedoch als die wie auch immer vollkommene heilige Liebe auf dem Pilgerweg versteht, ist es nicht wahr, daß sie durch die Art und Weise ihrer Zugehörigkeit zum Träger unverlierbar sei, sondern 203 Übersetzung von superventio. 204 Vgl. Aristoteles, Phys. VIII, 1; 251 b 23–26.

12. Artikel

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allein durch die Bewegungskraft des heiligen Geistes. So werden diejenigen die Gefestigten genannt, die auf dem Pilgerweg gefestigt worden sind. Zu 16. Wie in der Erkenntnis eines wahren Sachverhalts die erste Wahrheit wie das erste Vorbild im Abbild oder in der Spur erkannt wird, so wird auch in der Liebe zu jedem Guten die höchste Gutheit geliebt. Eine solche Liebe zur höchsten Gutheit genügt aber nicht für den Begriff der heiligen Liebe, sondern es ist notwendig, daß das höchste Gute als ein Gegenstand der Glückseligkeit geliebt wird. Zu 17. Dadurch ist auch die Antwort zum siebzehnten Einwand verständlich. Zu 18. Augustinus legt die Stellen aus Joh. 10, 27 »Meine Schafe hören meine Stimme« und Joh. 10, 5 »die Stimme der Fremden hören sie nicht« folgendermaßen aus: Es ist gewissermaßen die Stimme Christi, die keiner hört, wenn er nicht durch Vorherbestimmung sein Schaf ist.205 Das ist nämlich die Stimme: »Wer aushält bis zum Ende, der wird gerettet«.206 Auf diese Weise versteht man, daß derjenige, der nicht am Wort Christi festhält, auch nicht wahrhaft ein Jünger ist, weil von ihm das Aushaltenkönnen nicht wirklich behauptet werden kann. Dennoch kann er im Sinne einer zeitweiligen Gottes- und Nächstenliebe auch nur ein Jünger zeitlicher Natur sein. Zu 19. Solange die heilige Liebe wirklich im Menschen vorherrscht, wird er nicht von der entgegengesetzten Bewegung bewegt; vielmehr folgt er der Bewegung der heiligen Liebe. Darum ist es das beste Heilmittel gegen die Sünde, daß der Mensch in sein Herz zurückkehrt, indem er es zur Gottesliebe hinwendet. Wenn der Mensch jedoch nicht wirklich gemäß der heiligen Liebe bewegt ist, drängt sich ihm irgendwann die entgegengesetzte Bewegung der Sünde auf. Zu 20. Vergehen und Entstehen bzw. Werden ist eine Eigenschaft des Dinges, das sein Sein besitzt, und dies ist allein das Ding, das in seinem Sein subsistiert. Die Akzidentien und die Formen sind aber nicht subsistierend. Man nennt sie nicht Seiende, weil sie selbst das Sein haben, sondern weil durch sie etwas existiert. Darum sind 205 Vgl. Augustinus, In Ioh. ev. 48, 4 (CCSL 36, 414). 206 Vgl. Mk. 13, 13; Mt. 10, 22 und 24, 13.

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Quaestio · 2

Werden und Vergehen den Akzidentien und Formen nicht eigen, sondern (nur) den Trägern. Z. B. wenn ein Körper weiß wird, ist es diesem eigen, daß die weiße Farbe wird, genauso wenn ein Körper weiß ist, ist es diesem Körper eigen, daß die weiße Farbe ist. Im selben Sinn gilt es für das Vergehen. Deshalb sind ›zerstörbar‹ und ›unzerstörbar‹ nicht an sich Eigenschaften207 des Akzidens, sondern nur der Substanz. Darum hindert die heilige Liebe nichts daran, auf dem Pilgerweg und in der ewigen Heimat der Zahl nach dieselbe zu sein, obwohl die heilige Liebe im Pilgerstand verlierbar ist, aber die heilige Liebe in der ewigen Heimat unverlierbar. Zu 21. Wie schon gesagt,208 ist die heilige Liebe ihrem Wesen nach209 unvergänglich, aber der Träger hört auf, an der heiligen Liebe teilzuhaben. Deshalb spricht man nicht eigentlich davon, daß die heilige Liebe sich in etwas oder in nichts auflöst. Zu 22. Wegen der Veränderbarkeit des Trägers wird die heilige Liebe, die zur Sünde hinzukommt genauso zerstört, wie die hinzukommende Sünde die heilige Liebe vertreibt, denn die Gegensätze vertreiben sich gegenseitig. Zu 23. Wenn die Gabe gewaltsam weggenommen werden kann, wird scheinbar der Geber besiegt, zu dem es gehört, daß er die Gabe für den bewahrt, dem er sie gegeben hat. Wenn aber der, dem er sie gegeben hat, sie freiwillig wegwirft, scheint deswegen der Geber, zu dem es nicht gehört, den Menschen zur Tugend zu zwingen, nicht besiegt zu sein. Zu 24. Eine Frau verliert durch die Heirat die alleinige Verfügung210 über ihren Körper. Die Seele verliert jedoch durch die heilige Liebe nicht die Verfügung über den freien Willen. Darum greift das Argument nicht.

207 208 209 210

Übersetzung von attribuuntur. Im Korpus des Artikels. Übersetzung von proprie loquendo. Übersetzung von potestas.

13. Artik el Die dreizehnte Frage lautet: Kann die heilige Liebe durch einen Akt der Todsünde verloren gehen? 211 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1. Origenes sagt nämlich im 1. Buch von Über die Prinzipien: »Wenn manchmal einer, von denen, die im höchsten und vollkommenen Grade standfest sind, vom Überdruss erfaßt wird, meine ich nicht, daß so jemand sofort schwach wird und fällt; vielmehr kann er nur schrittweise und allmählich fallen. In diesem Sinne kann es manchmal vorkommen, daß jemand, wenn er für einen Moment strauchelt und schnell wieder zu sich kommt, nicht ganz stürzt«.212 Derjenige aber, der die heilige Liebe verliert, stürzt – gemäß Paulus in 1 Kor. 13, 2 – ganz: »Wenn ich die Liebe nicht habe, bin ich nichts«. Darum verliert man die heilige Liebe nicht durch eine Todsünde, die manchmal plötzlich zustande kommt. 2. Außerdem sagt Bernhard von Clairvaux im Buch Über die Gottesliebe, daß in Petrus, der Christus verleugnet, die heilige Liebe nicht ausgelöscht, sondern betäubt gewesen ist.213 Dennoch hat er, als er Christus verleugnet hat, eine Todsünde begangen. Darum verliert man die heilige Liebe nicht durch einen Akt der Todsünde. 3. Papst Leo der Große sagt – Petrus anredend – in einer Predigt über das Leiden des Petrus: »Der Herr sieht in dir nicht den Glauben als bezwungenen und nicht die Liebe als abgewandte, sondern daß die Standfestigkeit verwirrt gewesen ist. Er hat dann bitterlich geweint, als die Gemütsbewegung nicht gefehlt hat, und die Quelle der heiligen Liebe hat die Worte des furchterregenden Schreckbildes abgewaschen«.214 Darum hat in Petrus die Liebe als heilige Liebe wegen eines Aktes der Todsünde nicht aufgehört. 211 Paralleltexte: Sum. theol. II–II, q. 24 a. 12; Sent. III, d. 31 q. 1 a. 1. 212 Origenes, De principiis I, 3, 8 (SC 252, 164). 213 Thomas bezieht sich auf das zu seiner Zeit Bernhard von Clairvaux

zugeschriebene Werk des Wilhelm von Saint-Thierry, De natura et dignitate amoris 14 (CCSL, 88, 189). 214 Leo der Große, Tractatus septem et nonaginta 60, 4 (CCSL 138 A, 368).

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Quaestio · 2

4. Die heilige Liebe ist stärker als die erworbene Tugend. Die erworbene Tugend wird aber weder durch einen Akt der Sünde zerstört noch entsteht sie durch ihn. Aristoteles sagt nämlich im 2. Buch der Ethik, daß »die Tugend aus denselben Ursachen entsteht, durch das sie zerstört wird«.215 Darum geht die heilige Liebe noch weniger durch einen Akt der Sünde verloren. 5. Das Etwas wird nur durch seinen Gegensatz vertrieben. Der Habitus der heiligen Liebe aber ist nicht dem Akt der Sünde entgegengesetzt. Der sündhafte Habitus entsteht aber auch nicht durch einen Akt. Darum geht die heilige Liebe nicht durch einen Akt der Sünde verloren. 6. So wie sich der Glaube zu den vielen Glaubensinhalten verhält, so verhält sich die heilige Liebe zu den vielen Dingen, die man aus heiliger Liebe lieben soll. Wer aber nicht an den einen Artikel glaubt, verliert deswegen nicht den Glauben an die anderen. Wer also mit heiliger Liebe sich gegen das eine, das man mit heiliger Liebe lieben kann, versündigt, verliert deswegen nicht die heilige Liebe gegenüber den anderen liebenswerten Dingen. Darum geht die heilige Liebe nicht durch eine Todsünde verloren. Dagegen spricht: In 1 Joh. 3, 17 heißt es: »Wer die Güter dieser Welt besitzt und seinen Bruder Not leiden sieht, dabei jedoch sein Herz vor ihm verschließt, wie soll da die Gottesliebe in ihm bleiben?« So scheint es, daß jemand durch die Sünde der Unterlassung die heilige Liebe verliert. Aber die Sünde der Übertretung ist nicht weniger als die Sünde der Unterlassung. Also wird die heilige Liebe durch jegliche Sünde aufgehoben. Antwort: Der Habitus der heiligen Liebe wird ohne jeden Zweifel durch jeglichen Akt der Todsünde gemindert. Denn man spricht nur deswegen von der Todsünde, weil der Mensch durch sie geistlich stirbt; sie kann nicht da sein, während die heilige Liebe, die das Leben der Seele ist, anwesend ist. Ähnlich 215 Aristoteles, Eth. Nic. II, 1; 1103 b 7 f. und II, 2; 1104 a 26 f.

13. Artikel

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verdient der Mensch durch die Todsünde den ewigen Tod, wie es in Röm 6, 23 heißt: »Der Sünde Sold ist der Tod«. Jeder, der die heilige Liebe hat, besitzt jedoch das Verdienst des ewigen Lebens, denn der Herr verspricht dem, der ihn liebt, die Offenbarung seiner selbst, worin das ewige Leben besteht. Darum muß man sagen, daß der Mensch durch einen jeden Akt der Todsünde die heilige Liebe verliert. Es ist nämlich klar, daß in jedem Akt der Todsünde eine Abwendung vom unveränderlichen Guten, mit dem die heilige Liebe geeint ist, und dem die Todsünde entgegengesetzt ist, sich vollzieht. Weil aber der Akt der Todsünde nicht direkt einem Habitus, sondern einem anderen Akt entgegengesetzt ist, kann es so scheinen, daß durch den Akt der Todsünde ein entgegengesetzter Akt der heiligen Liebe verhindert wird, so jedoch, daß der Habitus nicht aufgehoben wird, wie z. B. bei den erworbenen Habitus, denn den Habitus der gnadenhaft geschenkten Tugend verliert jemand nicht, wenn er gegen ihn handelt. Beim Habitus der heiligen Liebe aber ist es anders, denn er hat keine Ursache im Träger, sondern hängt ganz und gar von der äußeren Ursache ab: »Die Liebe nämlich ist in unsere Herzen eingegossen durch den heiligen Geist, der uns gegeben«, wie es in Röm. 5, 5 heißt. Gott aber verursacht die heilige Liebe in der Seele nicht so, daß er ihre Ursache nur hinsichtlich des Werdens und nicht hinsichtlich ihrer Bewahrung ist, wie etwa ein Baumeister die Ursache des Hauses nur hinsichtlich des Werdens ist und deshalb, nachdem er sich entfernt hat, immer noch das Haus bestehen bleibt. Gott ist vielmehr die Ursache der heiligen Liebe und der Gnade in der Seele, sowohl hinsichtlich des Werdens als auch hinsichtlich der Bewahrung, wie beispielsweise die Sonne die Ursache der Lichtes in der Luft ist, weshalb sich das Licht in der Luft sofort zurückziehen würde, wenn etwas Hinderliches dazwischenkäme. Genauso hört der Habitus der heiligen Liebe in der Seele sofort auf, sobald die Seele sich durch die Sünde von Gott abwendet. Das ist es, was Augustinus in Über den Wortlaut der Genesis sagt: »Nicht in dem Sinne macht Gott den Menschen gerecht, d. h. rechtfertigt ihn, als würde er sich zurückziehen und sein Tun bliebe abwesend; vielmehr so wie die Luft, die nicht schon mit Helligkeit geschaffen ist, son-

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Quaestio · 2

dern es erst wird. … Auf diese Weise wird der Mensch durch den ihm gegenwärtigen Gott erleuchtet; sobald er abwesend ist, aber sogleich verfinstert«.216 Zu 1. Jenes Wort des Origenes kann so verstanden werden, daß der Mensch, der in einem vollkommenen Zustand sich befindet, nicht unvermittelt217 in den Akt der Todsünde hineingerät, sondern durch eine vorangehende Nachlässigkeit. Da er aber hinzufügt ›wenn er für einen Moment strauchelt, etc.‹, ist es wohl besser zu sagen, was er selber meint, nämlich ›daß er sofort schwach wird und fällt‹, d. h. nämlich, daß er aus Bosheit sündigt. Das trifft jedoch nicht gleich am Anfang zu,218 denn, wie Aristoteles im 1. Buch der Ethik sagt, ist es nicht leicht für den Gerechten, daß er ein ungerechtes Werk schon gleich so tut wie der Ungerechte, nämlich mit Absicht.219 Er verliert also die heilige Liebe zwar durch einen Akt der Todsünde, aber es bleiben immer noch irgendwelche Spuren der vorangegangenen Vollkommenheit, solange er die heilige Liebe nicht aus Bosheit verliert. Zu 2. Die heilige Liebe geht in zweifacher Weise verloren: direkt oder indirekt. Direkt verliert man sie natürlich durch die wirkliche Verachtung Gottes, wie es jene tun, die in Jb. 21, 14 zu Gott sagen: »Bleibe von uns fern, von deinen Wegen wollen wir nichts wissen.« Indirekt hingegen verliert man sie wie der, der wegen der Leidenschaft der Furcht oder wegen seiner Begierde nicht an Gott denkt, sondern dem zustimmt, was gegen das Gebot Gottes steht und folglich die heilige Liebe verliert. Bernhard von Clairvaux will darum sagen, daß die heilige Liebe in Petrus nicht auf die erste Weise ausgelöscht war, sondern er sie auf die zweite Weise verloren hat; er nennt das ›betäubtsein‹.220 Ähnlich sind die Worte von Papst Leo dem Großen zu verstehen. Das ist Augustinus, De Gen. ad litt., VIII, 12 (CSEL 28/1, 249). Übersetzung von subito. Vgl. dazu De virt. q. 2, a. 6 ad 1. Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. V, 13; 1137 a 17 f. Thomas bezieht sich auf das zu seiner Zeit Bernhard von Clairvaux zugeschriebene Werk des Wilhelm von Saint-Thierry: De natura et dignitate amoris 14 (CCSL, 88, 189). 216 217 218 219 220

13. Artikel

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aus dem ersichtlich, was er hinzufügt: »Das Heilmittel der Taufe ist nur dort verzögert worden, wo kein Urteil des Willens vorlag«,221 denn die Verleugnung durch Petrus ist eher durch den Schrecken herausgeplatzt als daß sie einem reiflich überlegten Willensurteil entsprungen wäre. Zu 3. Daraus ist die Lösung des dritten Einwandes klar. Zu 4. Die erworbene Tugend hat ihre Ursache im Träger und nicht nur in etwas Äußerem, wie die heilige Liebe. Darum handelt es sich nicht um denselben Grund. Zu 5. Bei Entgegengesetztem kann der eine Gegensatz nicht verschwinden, ohne daß ein anderer auftaucht. Die Habitus der Tugend und des Lasters aber sind vermittelte Gegensätze. Daher sagt Aristoteles in seiner Kategorienschrift, daß es zwischen gut und böse ein Mittleres gibt.222 Es muß darum nicht sein, daß der Mensch nur dann den Habitus einer Tugend verliert, wenn in ihm der Habitus eines entgegengesetzten Lasters entsteht. Zu 6. Der Habitus bezieht sich seinem Wesen nach mehr auf die formale Bestimmung eines Gegenstandes als nur materiell auf den Gegenstand selbst. Darum bleibt die Art des Habitus nicht bestehen, wenn der formbestimmte Charakter des Gegenstandes aufgehoben wird. Die formale Bestimmung des Gegenstandes im Glauben ist die erste Wahrheit, die durch die Lehre der Kirche festgelegt ist. Genauso ist der formbestimmte Charakter der Wissenschaft das Mittel des Beweises. Deshalb besitzt jemand, der die geometrischen Schlüsse aus der Erinnerung kennt, nicht die Wissenschaft der Geometrie, wenn er nicht wegen der geometrischen Beweismittel ihnen beipflichtet, sondern er wird jene Schlüsse sozusagen nur als Meinung haben. Genauso hat derjenige nicht den Habitus des Glaubens, der das, was zum Glauben gehört, zwar kennt,223 dem er aber nicht aufgrund der Autorität der katholischen Lehre zustimmt. Wer ihm aber wegen der katholischen Lehre zustimmt, pflichtet allem bei, was die 221 Leo der Große, Tractatus septem et nonaginta 60, 4 (CCSL 138 A,

368). 222 Vgl. Aristoteles, Cat. 10; 12 a 25. 223 Übersetzung von tenet.

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katholische Lehre sagt, sonst glaubt er mehr sich selbst als der katholischen Lehre. Daraus wird verständlich, daß derjenige, der hartnäckig in Bezug auf einen Glaubensartikel abtrünnig ist, nicht den Glauben an die anderen haben kann – ich spreche von jenem Glauben, der als Habitus eingegossen ist; er kann dann aber das, was zum Glauben gehört, nur noch als Meinungen haben.

III. ÜBER DIE BRÜDERLICHE ZURECHTWEISUNG

Die hier behandelten Fragen lauten: 1. Ist die Zurechtweisung im göttlichen Gebot enthalten? 2. Gibt es eine Ordnung der brüderlichen Zurechtweisung?

1. Artik el Die erste Frage lautet: Ist die Zurechtweisung im göttlichen Gebot enthalten?1 Es scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Die göttlichen Gebote sind untereinander nicht widersprüchlich. Dennoch findet sich das göttliche Gebot, daß man den Sünder nicht bloßstellen soll, denn in Spr. 9, 8 heißt es: »Rüge den Spötter nicht, damit er dich nicht haßt«. Die brüderliche Zurechtweisung fällt deshalb nicht unter das Gebot. 2. Es ist aber zu erwidern, daß im Fall eines Spötters, der die Zurechtweisung verschmäht, und so selbst seine Umkehr verhindert, er auf diese Weise schlechter wird. – Dagegen aber steht: Die Sünde ist, gemäß Ps. 6, 3 die Schwäche der Seele: »Erbarme dich meiner, Herr, weil ich schwach bin«. Derjenige aber, dem die Sorge um den Schwachen auferlegt ist, kann den Widerspruch oder den Trotz nicht gleichgültig stehen lassen, denn die Gefahr ist dann größer, wenn der Schwache das Heilmittel verachtet. Darum hat der Arzt genug zu tun, einen der Raserei Verfallenen zu heilen. Vielmehr sollte er die Zurechtweisung nicht unterlassen, wenn der Mensch dazu verpflichtet ist, für den sündigen Bruder – auch wenn er es verschmäht – durch scharfes Tadeln Sorge zu tragen. 3. Das göttliche Gebot darf wegen einer Verachtung des anderen nicht übergangen werden, denn die Wahrheit des Lebens darf nicht

1 Paralleltexte: Sum. theol. II–II, q. 33; Sent IV, d. 19 q. 2 a. 2 ql. 1.

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wegen einer Verachtung2 aufgegeben werden, wie Hieronymus klarstellt. Wenn also die brüderliche Zurechtweisung unter das Gebot fallen würde, dürfte man sie nicht aus Geringschätzung dem anderen gegenüber unterlassen. 4. Man darf nicht Böses tun, damit das Gute komme, wie es Paulus in Röm. 3, 8 klarstellt. Aus demselben Grund darf man also auch das Gute nicht unterlassen, damit die Übel nicht kommen. Wenn also die brüderliche Zurechtweisung etwas Gutes wäre, das unter das Gesetz fällt, darf man sie nicht wegen des Übels der Verärgerung oder der Geringschätzung dessen, der zurechtgewiesen wird, unterlassen. 5. Gemäß Eph. 5, 1 sollen wir in unseren Werken Gott nachahmen, sofern wir können: »Seid Nachahmer Gottes als geliebte Kinder«. Gott aber unterläßt nicht das Gute, nämlich die Eingießung der vernünftigen Seele, obwohl darauf die verdammenswerte Befleckung durch die Erbschuld folgt. Ganz ähnlich dürfte also der Mensch das Gute der Zurechtweisung, wenn sie unter das Gebot fiele, nicht unterlassen, auch wenn darauf die Geringschätzung und Verschlechterung des Zurechtgewiesenen folgte. 6. Der Herr sagt in Ez. 3, 19: »Hast du einen Gottlosen gewarnt, und er läßt nicht ab von seinem Frevel und seinem gottlosen Wege, so wird er wegen seiner Sünde sterben, du aber hast dein Leben gerettet«. Deshalb darf man die Zurechtweisung nicht unterlassen, auch wenn jener, der getadelt werden muß, durch die Zurechtweisung sich nicht bessert. 7. Die Zurechtweisung dessen, der sich vergeht, ist nützlicher als dessen Bestrafung. Der Richter unterläßt aber, den Übeltäter zu strafen, nicht einfach nur weil er durch Strafe nicht gebessert wird. Darum dürfte, auch wenn die brüderliche Zurechtweisung unter das Gebot fiele, keiner die Zurechtweisung aus Gründen der Geringschätzung oder Verärgerung gegenüber dem, der zurecht gewiesen wird, unterlassen. Es scheint daher nicht, daß die brüderliche Zurechtweisung unter das Gebot fällt. 2 Vgl. Hieronymus, Comm. in ev. Mt. III (PL 26, col. 128 D – 129 A); Kommentar zu Mt. 18, 5: »Wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf«.

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8. Das göttliche Gebot verpflichtet nicht zum Unmöglichen. Alle Übeltäter zu tadeln, ist aber unmöglich, »denn die Zahl der Törichten ist unbegrenzt«, wie es in Prd. 1, 15 heißt. Darum fällt die brüderliche Zurechtweisung nicht unter das Gebot. 9. Es ist aber zu erwidern, daß der Mensch nur bei denen verpflichtet ist, zurechtzuweisen, die ihm Anlass dazu geben. – Dagegen aber steht: Wenn die brüderliche Zurechtweisung zum Gebot gehört, folgt – weil gemäß einem solchen Gebot der Mensch der Schuldner des Bruders wird –, daß er ihn zurechtweist. Der Mensch aber, der jemandem das, was er für seinen Körper braucht,3 schuldet, darf nicht erwarten, daß der Schuldner ihm entgegenläuft, sondern er muß ihn suchen, damit er ihm zurückgibt, was er ihm schuldet. Also müßte der Mensch, wenn die brüderliche Zurechtweisung im Gebot enthalten wäre, viel mehr den aufsuchen, den er zurechtweisen will und nicht erwarten, daß er ihm entgegenkommt. 10. Würde das Gebot die brüderliche Zurechtweisung enthalten, wäre die ungebührliche Unterlassung einer Zurechtweisung Todsünde. Das aber ist falsch, weil eine solche Hintansetzung auch bei heiligen Männern zuweilen gefunden wird. Augustinus sagt nämlich im 1. Buch von Über den Gottesstaat, daß »nicht nur die Schwächeren …, sondern auch die, die einen höheren Lebensstand erreichen …, sich von der Zurechtweisung anderer wegen einer gewissen Fessel« der Macht4 »oder Begierde, nicht wegen der Pflicht der heiligen Liebe zurückhalten. … Es scheint mir daher dieser Grund nicht gering zu sein, warum auch die Guten mit Übeln gegeißelt werden«.5 Die brüderliche Zurechtweisung ist also nicht im Gebot enthalten. 11. Jemand, der das Gebot übertritt, begeht keine Todsünde, obwohl er nicht unmittelbar gegen die heilige Liebe handelt. Z. B. sagt Bernhard von Clairvaux, daß in Petrus, der Christus verleugnet hat, die heilige Liebe nicht ausgelöscht wurde.6 Wenn also die brüderliche Zurechtweisung im Gebot enthalten wäre, würde derjenige, der 3 4 5 6

Übersetzung von debitum corporale. Im augustinischen Original potestatis nicht enthalten. Vgl. Augustinus, De civ. Dei I, 9, 2 f. (CCSL 47, 9). Vgl. De virt. q. 2 a. 6; Anm. 94.

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die Zurechtweisung unterläßt, eine Todsünde begehen, auch wenn er dies nicht aus Geringschätzung tun würde, d. h. also gewissermaßen unmittelbar gegen das Gesetz handelnd. 12. Alle Vorschriften des göttlichen Gesetzes werden auf die des Dekalogs zurückgeführt. Die brüderliche Zurechtweisung fällt aber nicht unter ein Gebot des Dekalogs, wie es demjenigen klar ist, der sie einzeln durchgeht. Also fällt die brüderliche Zurechtweisung nicht unter das Gesetz. 13. Das, was unter die göttlichen Gebote fällt, sind wirksame Tätigkeiten auf ein Ziel hin, das man verfolgen soll. Die brüderliche Ermahnung reicht aber bei niemandem zu seiner Besserung aus, auch das Wort des Mahners bewirkt das nicht,7 wie Aristoteles im 10. Buch der Ethik sagt; und in Prd. 7, 13 heißt es: »Betrachte die Werke Gottes, denn niemand kann gerade richten, was jener verächtlich anschaut.« Daher ist die brüderliche Zurechtweisung nicht im Gebot enthalten. 14. Niemand muß sich auf jene einlassen, die nicht seiner Meinung sind. Wenn aber der Mensch gegen Gott gesündigt hat, ist er nicht unserer Meinung,8 wie Hieronymus in seinem Kommentar zum Matthäusevangelium sagt. Der Mensch darf sich darum nicht auf solche einlassen. Auf diese Weise den Bruder zu tadeln, fällt überhaupt nicht unter das Gebot. 15. Keiner ist wegen einer Sünde von der Beobachtung des Gebotes entschuldigt. Der Mensch darf aber als Sünder einen anderen Menschen zurechtweisen, denn Isidor von Sevilla sagt im 3. Buch von Über das höchste Gut, daß »derjenige die Fehler anderer nicht korrigieren darf, der selbst Fehlern unterworfen ist«.9 Die brüderliche Zurechtweisung fällt darum nicht unter das Gebot. 16. Keiner zieht sich die Verdammung durch Beobachtung des göttlichen Gebotes zu; gemäß Röm. 2, 1 ziehen sich aber doch einige die Verdammung zu, indem sie andere tadeln: »Worin du andere 7 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. X, 9; 1179 b 17 f. 8 Vgl. Hieronymus, Comm. in ev. Mt. III (PL 26, col. 131 B); Kommen-

tar zu Mt. 18, 15: »Wenn aber dein Bruder sündigt, dann gehe hin und stelle ihn unter vier Augen zur Rede«. 9 Isidor von Sevilla, Sent. III, 32, 1 (CCSL 111, 269).

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richtest, verdammst du dich selbst«. Deshalb ist die brüderliche Zurechtweisung nicht im Gebot enthalten. 17. Keiner darf für sich in Anspruch nehmen, was ihm nicht zusteht. In 2 Kor. 10, 13 heißt es nämlich: »Wir aber rühmen uns nicht maßlos, sondern nach dem Maß des Maßstabs, durch das uns Gott Maß ist«. Diejenigen zu tadeln, die ein Vergehen begangen haben, scheint aber die Pflicht des Oberen zu sein, denn auch im menschlichen Körper bewegen die höheren Glieder die niederen, und im Universum die höheren Himmelskörper die niedrigeren. Die anderen, die keine Vorgesetzten sind, sind also nicht zur brüderliche Zurechtweisung verpflichtet. 18. Was wir aus Verpflichtung zur heiligen Liebe für die Nächsten einsetzen, sollen wir für alle tun. Die Zurechtweisung aber ist nicht bei allen anzuwenden. Es heißt nämlich in 1 Tim. 5, 1: »Einen älteren Mann fahre nicht hart an«. Dazu sagt die Glosse: Wer unverdient daran trägt, vom Jüngeren getadelt worden zu sein, wird im Ton rauh.10 Deshalb tadelt auch Dionysius den Mönch Demophilus, weil er den Priester zurechtgewiesen hat.11 Deshalb fällt die brüderliche Zurechtweisung nicht unter die Pflicht der heiligen Liebe. 19. Die göttlichen Gebote sind gemäß 1 Tim. 1, 5 auf die heilige Liebe und den Frieden hingeordnet: »Das Ziel des Gebotes ist die Liebe«. Bei der brüderlichen Zurechtweisung werden aber häufig – gemäß Terenz – heilige Liebe und Frieden verwechselt: »Die Wahrheit gebiert den Haß«.12 Die brüderliche Zurechtweisung ist also nicht im Gebot enthalten. Dagegen spricht: 1. Augustinus sagt im Buch Über das Wort Gottes: Wenn du es vernachlässigst zurechtzuweisen, bist du durch den, der gesündigt hat, schlechter geworden.13 Derjenige, der gesündigt hat, handelt aber gegen das Gebot; darum handelt auch derjenige, der es 10 Vgl. Petrus Lombardus, Coll. in ep. Pauli in 1 Tim. V, 1 (PL 192, col. 351 B). 11 Vgl. Dionysius Areopagita, Ep. 8 (Dion. IV, 1547). 12 Terenz, Andria I, 1, 68 (ed. Ebener, 7). 13 Vgl. Augustinus, Serm. 82, 4, 7 (PL 38, col. 508).

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vernachlässigt zurechtzuweisen, gegen das Gebot. Deshalb fällt die brüderliche Zurechtweisung unter das Gebot. 2. In Mt. 18, 15 heißt es dazu: »Weise ihn unter vier Augen zurecht«. Eine Glosse sagt: Wer schweigt, während er sieht, daß sein Bruder gesündigt hat, sündigt also genauso, als wenn er dem Sünder nicht verzeiht.14 Jener aber, der dem Sünder nicht verzeiht, verstößt gegen das Gebot. Darum verstößt derjenige gegen das Gebot, der nicht zurechtweist. 3. Wir sollen gemäß Eph. 5, 1 in der Erfüllung des Gebotes der heiligen Liebe Gott gleichförmig werden: »Seid Nachahmer Gottes als geliebte Kinder«. Aber, wie es in Spr. 3, 12 heißt, »liebt der Herr diejenigen, die er züchtigt«. Wenn wir also verpflichtet sind, gemäß dem Gebot des Herrn zu lieben, scheint es, daß wir dem Gebot entsprechend die Brüder zurechtweisen sollen. 4. In Prd. 17, 12 wird gesagt, daß Gott jedem aufgetragen hat, für seinen Nächsten Sorge zu tragen. Also fällt es unter das Gebot, daß der Mensch Sorge trägt für das Heil des Nächsten, indem er ihn zurechtweist. Antwort: Die brüderliche Zurechtweisung fällt unter das Gebot. Der Grund dafür ist, daß wir durch das Gebot verpflichtet sind, den Nächsten zu lieben. Die Liebe aber schließt ein, daß der Mensch das Gute für den will, den er liebt, denn das heißt jemanden zu lieben, daß man ihm Gutes will,15 wie Aristoteles im 2. Buch der Metaphysik sagt. Weil vom Bösen frei zu sein, seinen Grund im Guten hat,16 wie es im 5. Buch der Ethik heißt, kommt von daher auch, was zum Wesen der Liebe gehört; beispielsweise wollen wir auch, daß denen, die wir lieben, kein Übel zustößt. Der Wille aber ist nicht wirksam und kein wahrhafter, wenn er sich nicht durch ein Werk bewährt. Deshalb gehört es auch zum Wesen der Liebe, daß wir für die Freunde Gutes tun und Schlechtes von ihnen fernhalten,17 wie 14 15 16 17

Vgl. Walafried Strabo, Glossa in Mt. (PL 114, 147 A). Thomas bezieht sich vielmehr auf: Aristoteles, Rhet. II, 4; 1380 b 35. Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. V, 1; 1129 a 19 f. Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VIII, 14; 1162 a 6 f.

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es im 9. Buch der Ethik heißt; und in 1 Joh. 3, 18 wird gesagt: »Wir wollen nicht mit Wort und Zunge lieben, sondern durch Tat und Wahrheit«. In dreifacher Weise ist aber das Gute des Menschen dem Übel entgegengesetzt: Denn es gibt ein Gut des Menschen, das in den äußeren Dingen besteht. Es ist das kleinste Gute, und in diesem Guten ist der Mensch verpflichtet, dem Nächsten durch Freigebigkeit mit Almosen für die leiblichen Bedürfnisse zu Hilfe zu kommen. In 1 Joh. 3, 17 heißt es nämlich: »Wer die Güter dieser Welt besitzt, und seinen Bruder Not leiden sieht und sein Herz vor ihm verschließt, wie kann die Liebe Gottes in ihm bleiben?« Aus dem gleichem Grund ist der Mensch verpflichtet, dem Nächsten Hilfe zu leisten gegen den Verlust zeitlicher Güter. Darum wird in Dt. 22, 1 geboten: »Du darfst nicht zusehen, wie das Rind oder das Schaf deines Bruders sich verläuft und deine Hilfe ihm versagen, sondern du sollst es deinem Bruder zurückbringen«. Ein anderes Gut des Menschen ist das Gut des Leibes, in dem der Mensch dem Menschen auch helfen und gegen das entgegengesetzte Übel Hilfe leisten soll. Es heißt nämlich in Spr. 24, 11: »Errette die, die zum Sterben geführt werden und die ins Verderben gezogen werden, befreie sie und zögere nicht«. Das dritte Gute aber ist das Gut der Tugend, welches das Gut der Seele ist, dem das Übel der Sünde entgegengesetzt ist. Der Mensch aber ist zu diesem Guten, dem er nachgehen bzw. zu dem Übel, das er meiden soll, so viel mehr verpflichtet, dem Nächsten mit heiliger Liebe zu helfen, als es einen Grund gibt, warum jemand mit heiliger Liebe geliebt wird. Darum sagt Aristoteles im 9. Buch der Ethik, daß in dem Maße, wie der Mensch dem Freund mehr helfen soll, die Sünde zu meiden als einen Geldverlust, auch die Tugend der Freundschaft näher steht.18 Darum ist der Mensch durch das Gebot der Liebe verpflichtet, daß er dem Nächsten beim Befolgen der Tugend Hilfe leistet, indem er ihm, gemäß Js. 35, 3 f., Rat und Hilfe gibt, um gut zu handeln: »Stärkt die erschlafften Hände und festigt die wankenden Knie. Sagt den verzagten Herzen: Habt Mut und 18 Aristoteles, Eth. Nic. IX, 3; 1165 b 19.

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fürchtet euch nicht«. Deswegen ist der Mensch durch das Gebot der Liebe verpflichtet, den Bruder, der in der Sünde sich befindet, von der Sünde durch eine Zurechtweisung abzuhalten. Das entspricht 1 Thess. 5, 14: »Weist die Unordentlichen zurecht, nehmt euch der Kleinmütigen an«. Und das ist es, was der Herr in Mt. 18, 15 aufgetragen hat: »Wenn dein Bruder gegen dich gesündigt hat, weise ihn zurecht«. Auf diese Weise fällt also die brüderliche Zurechtweisung unter das Gebot. Man muß aber anmerken, daß durch bejahende Gebote Tugendakte befördert,19 und durch verneinende Gebote lasterhafte Akte verhindert werden. Das aber, was in sich lasterhaft und Sünde ist, ist – wie auch immer es zustande kommt – ein Übel, weil es mit einzelnen Schwächen in Berührung steht,20 wie Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen sagt. Deshalb darf das, was durch ein negatives Gebot verhindert wird, von keinem und auf keine Weise getan werden. Durch ein bejahendes Gebot wird aber ein Tugendakt geboten, zu dessen Richtigkeit viele Umstände zusammenkommen müssen, weil das Gute aus der einen und ganzen Ursache hervorgeht,21 wie Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen sagt. Das, was unter das bejahende Gebot fällt, ist darum nicht zu jeder Zeit und auf jede Weise zu beachten, sondern nur wenn die angemessenen Umstände der Personen, Orte, Ursachen und Zeiten gegeben sind; z. B. ist die Ehre den Eltern gegenüber nicht zu einem beliebigen Zeitpunkt, an irgendeinem Ort oder auf eine beliebige Weise zu erweisen, sondern nur wenn die angemessenen Umstände gegeben sind. So fällt auch die brüderliche Zurechtweisung gemäß den angemessenen Umständen unter das Gebot, sofern sie ein Akt der Tugend ist. Diese Umstände sprachlich zu fassen, ist nicht möglich; weil das Urteil darüber sich nur auf das Einzelne bezieht und zur Klugheit gehört, die entweder durch Erfahrung und Zeit erworben oder sogar eingegossen ist, wie es in 1 Joh. 2, 27 heißt: »Die Salbung wird euch über alles belehren«. 19 Übersetzung von praecipiuntur. 20 Vgl. Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 20 (Dion. I, 279). 21 Vgl. Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 20 (Dion. I, 240 f.).

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Zu 1. Unter den Umständen, die für den Tugendakt erforderlich sind, scheint es besonders wichtig zu sein, daß der Akt zu dem Ziel im angemessenen Verhältnis steht, den die Tugend intendiert. Die heilige Liebe richtet sich beim Zurechtweisen auf den, der sich vergangen hat, d. h. auf seine Besserung. Der Akt wäre daher nicht tugendhaft, wiese man diesen Menschen so zurecht, daß er dadurch schlechter würde. Aus diesem Grund sagt der Weise ›Rüge den Spötter nicht, …‹. Denn es ist nicht zu befürchten, wie eine Glosse sagt, daß der Spötter dich beschämt, wenn er dich bezichtigt.22 Vielmehr soll man dafür Sorge tragen, daß er nicht zum Haß gereizt wird und dadurch schlechter wird. Zu 2. Es gibt eine zweifache Zurechtweisung dessen, der sich vergeht: Einerseits nämlich durch schlichte Ermahnung. Diese ist die brüderliche Zurechtweisung und sie ist nur bei denen angebracht, die kraft ihres eigenen Willens mit der Ermahnung einverstanden sind. Andererseits gibt es aber eine Zurechtweisung, die eine durch Auferlegung von Strafen zwingende Kraft hat,23 wie Aristoteles im 10. Buch der Ethik sagt. Eine solche Zurechtweisung betrifft vor allem die Vorgesetzten, die versuchen sollen, auch die Trotzigen von der Gefahr der Sünde zu befreien, wie der Arzt den der Raserei Verfallenen zu heilen versucht, indem er ihn fesselt und schlägt. Zu 3. Das göttliche Gebot darf nicht wegen des Ärgernisses des anderen übergangen werden. Die brüderliche Zurechtweisung fällt aber nicht unter das göttliche Gebot, es sei denn um der Besserung des Bruders willen. Dazu ist erforderlich, daß dies – im Sinne des in der Antwort Dargelegten – ohne Veranlassung zu seiner Verärgerung geschieht. Zu 4. Das Böse ist, wie schon gesagt, in jeder Weise zu meiden. Darum dürfen schlechte Taten überhaupt nicht mit der Absicht begangen werden, daß Gutes daraus hervorgeht. Gute Werke sollen nicht in jeder Weise vollbracht werden. Deshalb sind manchmal gute Werke zu unterlassen, damit große Übel vermieden werden. Dennoch ist die Zurechtweisung des Nächsten nicht einfachhin gut, es

22 Vgl. Glossa ordin. in Prov. 9, 8 (ed. princeps, 2, 665 b). 23 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. X, 9; 1180 a 9.

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sei denn, wie in der Antwort gesagt, unter den geschuldeten und herbeigeführten Umständen. Zu 5. Die natürlichen Dinge sind den sittlichen vorausgesetzt. Darum konnte die Eingießung der Seele, die ein Gut der Natur ist, nicht von Gott unterlassen werden, um den Mangel der Schuld zu meiden. Genauso darf auch der Mensch sich nicht der Erhaltung des Lebens enthalten, damit er die Sünde meidet. Ein sittliches Gut muß aber manchmal unterlassen werden, um ein anderes schwereres sittliches Übel zu meiden. Zu 6. Augustinus sagt im Buch Über die Worte des Herrn: »Eine weit schwerere Kirchenstrafe erhalten … die Vorgesetzten, die in der Kirche dafür eingesetzt sind, damit sie die Sünden nicht beim Tadeln schonen«,24 denn dazu gehört nicht nur die liebevolle, sondern auch die anhaltende Zurechtweisung. Zu solchen spricht der Herr dort durch den Propheten. Darum schickt er in Ez. 3, 17 vorweg: »Menschensohn, ich habe dich zum Wächter bestellt für das Haus Israel«. Zu 7. Der Richter strebt beim Strafen grundsätzlich das allgemeine Gute an, das bei der Bestrafung des Übeltäters für die Gemeinschaft25 entsteht, auch wenn jener sich nicht bessert, wie es in Spr. 19, 25 heißt: »Schlägt man den Spötter, so wird der Unverständige unverschämt26.« Das Ziel der brüderlichen Zurechtweisung ist aber die Besserung dessen, der getadelt wird. Deshalb besteht keine Ähnlichkeit. Zu 8. Wie in der Antwort ausgeführt, fällt die brüderliche Zurechtweisung – genauso wie die leibliche Barmherzigkeit – unter das Gebot, sofern die entsprechenden Umstände der Personen, Orte und Zeiten gegeben27 sind. Geistliche oder leibliche Wohltaten sollen aber in einer gewissen Ordnung dem Nächsten zukommen, zuerst nämlich denen, die uns näher stehen, sofern es uns schicksalhaft zufällt, für sie zu sorgen,28 wie Augustinus in Enchiridion sagt. Für 24 25 26 27 28

Augustinus, De civ. Dei I, 9, 3 (CCSL 47, 10). Übersetzung von multitudini. Übersetzung von sapientior. Übersetzung von secundum … servatis. Vgl. Augustinus, De doctr. christ. I, 28, 29 (CCSL 32, 22).

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andere soll man daher nur sorgen, sofern sich dafür eine Gelegenheit ergibt. So ist klar, daß das Gebot der brüderlichen Zurechtweisung nicht zu etwas Unmöglichem verpflichtet, genauso wie auch das Gebot, daß man leibliche Almosen geben soll. Zu 9. Augustinus sagt im Buch Über die Worte des Herrn, daß »unser Herr uns ermahnt, gegenseitig nicht gleichgültig gegenüber unseren Sünden zu sein; dies soll nicht durch Suchen des Tadelnswerten, sondern durch Sehen dessen geschehen, was man verbessern kann«.29 Darum entnehmen wir dem Gebot der brüderlichen Zurechtweisung nicht, daß wir die Sünden anderer suchen sollen, um sie korrigieren zu können; das hätte zur Folge daß wir Beobachter ihres Lebens würden. Ein solches Verhalten stünde ganz im Gegensatz zu dem, was in Spr. 24, 15 steht: »Du sollst nicht die Gottlosigkeit im Haus des Gerechten suchen und nicht seine Ruhe stören«. Der Grund für das körperlich Geschuldete ist aber ein anderer, weil es sich hier um etwas Bestimmtes handelt, das einer bestimmten Person zu einer bestimmten Zeit geschuldet wird. Das trifft aber, wie in der Antwort gesagt, nicht auf die brüderliche Zurechtweisung zu. Zu 10. Jemand kann in dreifacher Weise die brüderliche Zurechtweisung unterlassen: Erstens ohne jegliche Sünde, denn Augustinus sagt im 1. Buch von Über den Gottesstaat: »Wenn jemand diejenigen, die schlecht handeln und scharf getadelt werden müssen, deswegen schont, weil er einen günstigen Zeitpunkt dafür sucht, oder weil er für sie befürchtet, daß sie deswegen schlechter werden, oder weil diejenigen, die die Schwachen zu einem guten Leben und zur Geduld anleiten sollen, hinderlich sind, sie unterdrücken und vom Glauben abbringen, scheint es nicht eine Gelegenheit zum Eigennutz zu sein, sondern eine Überlegung aus heiliger Liebe«.30 Zweitens wird eine brüderliche Zurechtweisung unterlassen, wenn »eine schmeichlerische Zunge und ein nur menschlicher Gerichtstag Freude bereitet, weil man sich vor dem Urteil des gemeinen Volkes und der Folter oder der Tötung des Fleisches fürchtet«.31 29 Augustinus, Serm. 82, 1 (PL 38, col. 506). 30 Augustinus, De civ. Dei I, 9, 2 (CCSL 48, 8 f.). 31 Ebd. (CCSL 48, 9); vgl. auch 1 Kor. 4, 3.

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Wenn sich nämlich einige in ihrer Seele so verhalten, daß sie sich über die heilige Liebe zum Bruder hinwegsetzen, begehen sie eine Todsünde. Drittens kann man eine brüderliche Zurechtweisung durch eine läßliche Sünde unterlassen, wenn z. B. derartige Überlegungen die Seele bewegen – natürlich nicht in dem Sinne, daß sie über die heilige Liebe zum Nächsten gesetzt werden, sondern indem die Nachlässigen zu den zu bedenkenden Umständen und Anlässen, in denen sie zum Zurechtweisen verpflichtet gewesen wären, erst im Nachhinein zurückkehren. Zu 11. Jeder, der eine Todsünde begeht, sündigt unmittelbar gegen die heilige Liebe, weil er das tut, was im Gegensatz zur heiligen Liebe steht. Streng genommen, sündigt er nicht immer direkt gegen die heilige Liebe, sondern nur dann, wenn er etwas gegen die heilige Liebe zu tun beabsichtigt, wie es bei denen der Fall ist, die aus Schlechtigkeit sündigen. Zu 12. Auf das Gebot, die Eltern zu ehren, werden die Gebote von den Wohltaten, die man den Nächsten erweisen soll, zurückgeführt. Es wird aber ausdrücklich für die Ehrung der Eltern festgesetzt, weil es jederzeit jeden angeht; so aber ist es nicht bei den anderen Wohltaten. Zu 13. Das Wort des Mahners reicht nach Aristoteles bei denen nicht aus, die eine harte und sklavische Seele haben.32 Diese sind es, die durch die Ermahnung schwächer werden. Sie müssen durch die zwingende Zurechtweisung der Vorgesetzten in Schranken gewiesen werden. Eine Zurechtweisung ohne die göttliche Hilfe genügt ebenfalls nicht. Zu 14. Die Sünden gegen Gott können nicht durch unser Urteil vergeben werden. Sie können aber durch unser Urteil vergrößert werden. Zu 15. Der Mensch ist nicht wegen seiner Sünde von der Pflicht der Zurechtweisung befreit. Vielmehr wird derjenige unwürdig, einen anderen zurechtzuweisen, der sich selbst nicht zurechtweist. Das ist nicht verwirrend, weil dieser andere die Sünden vergeben und so zurechtweisen soll, wie es in Mt. 7, 5 steht: »Nimm zuerst 32 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. X, 9; 1179 b 17 f. und X, 10; 1180 a 8 f.

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den Balken aus deinem Auge und dann magst du den Splitter aus dem Auge deines Bruders herausnehmen«. Zu 16. Immer wenn derjenige, der sich in der Sünde befindet, einen anderen scharf tadelt, verurteilt er irgendwie auch sich selbst, d. h. er spricht seine eigene Verurteilung aus. Dennoch steigert sich für ihn nicht in jedem Fall die Verurteilung, z. B. wenn er sich in der geringeren Sünde befindet und sie als eine größere bekannt macht, oder wenn sie geheim ist, und er bekennt sich öffentlich dazu und gibt sich damit selbst und den anderen gleichzeitig zu erkennen, dies aber nicht durch Zurücksetzung des anderen, sondern indem er gleichzeitig auch sich selbst tadelt. Gregor der Große sagt nämlich im 5. Buch von Moralische Betrachtungen zum Buch Ijob, daß, wenn der Mensch den Nächsten lieben soll wie sich selbst, er dazu verpflichtet ist, die fremde Sünde zu korrigieren und sich über sie zu erzürnen genauso wie über die eigene. Wenn er aber – sich seiner Sünden sozusagen nicht mehr erinnernd – prahlt, dann zieht er sich die Verurteilung zu.33 Darum heißt es in Mt. 7, 3: »Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders und nicht den Balken in deinem Auge?« Wenn aber aus der Zurechtweisung auch eine Geringschätzung wegen des Offenbarwerdens seiner Sünde folgt, so wird auch die Zurechtweisung kein tugendhafter Akt sein. Zu 17. Die mit Zwang verbundene Zurechtweisung ist eine Pflicht der Oberen, die liebende Zurechtweisung hingegen eine Pflicht aller. Zu 18. Wenn die Oberen die Nächsten sind, sollen wir sie zwar zurechtweisen, aber demütig und ehrfurchtsvoll, nicht dreist, damit sie nicht gereizt werden. Deshalb sagt Paulus an derselben Stelle im Ersten Timotheusbrief: »Zu einem alten Mann … sprich wie zu einem Vater«. Deswegen wird dem Mönch Demophilus ein Vorwurf gemacht, der den sündigenden Priester mit ungerechten Worten und Taten – ihn schlagend und aus der Kirche hinauswerfend – zurechtgewiesen hat. Zu 19. Wenn die Zurechtweisung unter angemessenen Umständen durchgeführt wird, folgt daraus keine Verwirrung, sondern vielmehr eine Festigung des Friedens, nachdem die Ursachen der Zwietracht entfernt sind. 33 Vgl. Gregor der Große, Moralia V, 45 (CCSL 143, 276).

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2. Artik el Die zweite Frage lautet: Gibt es eine Ordnung der brüderlichen Zurechtweisung, die in Mt. 18 vorliegt? 34 Es scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. In 1 Tim. 5, 20 heißt es: »Den Fehlenden weise in der Gegenwart aller zurecht«. In Mt. 18, 15 heißt es aber: »Gib es ihm unter vier Augen bekannt«, d. h. man soll ihn unter vier Augen ermahnen. Wenn also das von Paulus Gesagte nicht dem Gebot Christi widerspricht, scheint es, daß es nicht unter das Gebot fällt, daß der Bruder zuerst unter vier Augen ermahnt werden und dann erst öffentlich der Kirche angezeigt werden soll. 2. Es ist aber zu erwidern, daß das Wort des Apostels in Bezug auf die offenkundigen Sünden zu verstehen ist, die öffentlich bekannt werden müssen. Das Wort des Herrn bezieht sich aber auf die verborgenen Sünden. – Dagegen aber steht: Keiner muß die verborgenen Sünden öffentlich kundtun, denn er wäre auf diese Weise mehr der Verräter eines Vergehens als einer, der den Bruder zurechtweist. Der Herr aber gibt in Mt. 18, 15 f. den Auftrag, daß, wenn der Bruder den Ermahnenden unter vier Augen nicht hört, er ein oder zwei Zeugen hinzuzieht und zuletzt es der Kirche kundtut, d. h. die Sünde öffentlich macht. Es scheint also, daß das Gebot des Herrn nicht in Bezug auf die verborgenen Sünden zu verstehen ist. 3. Wie Augustinus im 8. Buch von Über die Dreifaltigkeit sagt, werden alle Richtnormen der Wahrheit vom Gesetz der ewigen Wahrheit abgeleitet.35 Das Gesetz der ewigen Wahrheit besagt aber, daß Gott nicht nur den Menschen wegen der verborgenen Sünden straft, sondern auch manchmal eine Ermahnung unter vier Augen, die unterlassen wurde. Es scheint also, daß der Mensch, der als Nachahmer der göttlichen Wahrheit leben36 soll, jemand öffentlich anzeigen kann, auch wenn keine Ermahnung unter vier Augen vorangegangen ist.

34 Paralleltexte: Sum. theol. II–II, q. 33; Sent IV, d. 19 q. 2 a. 2 ql. 1. 35 Vgl. Augustinus, De trin. VIII, 1, 2 (CCSL 50, 269). 36 Übersetzung von existere.

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4. Augustinus sagt im Buch Gegen die Lüge, daß aus den Taten der Heiligen verstanden werden kann, wie die Gebote der heiligen Schrift zu deuten sind.37 Bei den Taten der Heiligen findet man aber, daß es Taten gibt, denen einst als öffentliche Anklage einer verborgenen Sünde keine Ermahnung unter vier Augen vorangegangen ist. So ist in der Apostelgeschichte zu lesen, daß Petrus Ananias und Saphira, während sie ihn heimlich wegen des Ackerpreises betrügen, öffentlich angeklagt hat, ohne daß eine Ermahnung unter vier Augen vorangegangen ist. Deshalb sind wir durch das Gebot Christi nicht verpflichtet, daß die geheime Ermahnung der öffentlichen Anklage vorangeht. 5. Jede Tat Christi ist für uns eine Anweisung, denn er sagt selbst in Joh. 13, 15: »Ich habe euch ein Beispiel gegeben. Wie ich gehandelt habe, so handelt auch ihr«. Man liest aber nicht, daß Christus Judas unter vier Augen ermahnt hätte, bevor dieser ihn verraten hat. Es scheint also, daß auch wir die Sünde des Bruders öffentlich kundtun können. 6. Wie die Anzeige in der Öffentlichkeit geschieht, so auch die Anklage. Jemand kann aber zur Anklage ohne vorangegangene Ermahnung übergehen, weil bei einer Anklage nur die schriftliche Eingabe vorher erforderlich ist, wie es die Verordnung vorschreibt. Es scheint also, daß jemand auch ohne vorangegangene Ermahnung öffentlich anklagen kann. 7. Was man in jedem Fall übergehen darf, fällt gar nicht unter das Gebot. In jedem Fall aber scheint es, daß die Ermahnung unter vier Augen übergangen werden kann, denn im Blick auf eine Sünde kann jemand das allgemeine Gute der Gerechtigkeit beabsichtigen und so direkt zur Anklage übergehen, obwohl die Ermahnung unter vier Augen nicht vorausgegangen ist. Also scheint es, daß man die Ermahnung unter vier Augen nicht aus der Notwendigkeit des Gebotes heraus vorausgehen lassen muß. 8. Es scheint nicht wahrscheinlich zu sein, daß dasjenige, das zur gemeinsamen Gewohnheit der Ordensleute gehört, gegen das Gebot Christi verstößt. Bei den Ordensleuten ist man aber gewohnt, daß bei den Kapiteln jemand wegen irgendwelcher Sünden ohne voran37 Vgl. Augustinus, De mendacio 15, 26 (PL 40, col. 506).

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gegangene Ermahnung unter vier Augen öffentlich angeklagt wird. Es scheint also, daß es nicht in der Notwendigkeit des Gebotes liegt, die Ermahnung unter vier Augen der öffentlichen Anzeige vorangehen zu lassen. 9. Augustinus sagt im 4. Buch von Über die christliche Lehre, daß, genauso wie dieselbe Rundung bei einer großen und einer kleinen Scheibe vorliegt, so auch derselbe Begriff der Gerechtigkeit bei großen und kleinen Angelegenheiten.38 Wenn also, wie gesagt, bei kleinen Sünden nicht die Ermahnung unter vier Augen der öffentlichen Anklage vorausgeht, scheint es, daß es auch bei großen nicht der Fall ist. 10. Wenn die Ermahnung unter vier Augen der öffentlichen Anzeige vorausgehen soll, muß ein zeitlicher Abstand39 zwischen der Zurechtweisung des Sünders und deren öffentlicher Anzeige gegeben sein. Wenn es aber zu einem solchen zeitlichen Abstand kommt, besteht die große Gefahr, daß man später nicht mehr ausreichend gegensteuern40 kann, wenn z. B. jemand mit den Feinden wegen der verräterischen Preisgabe der Stadt verhandelt, oder wenn ein Häretiker die Menschen einer Gemeinschaft vom Glauben abbringt. Es scheint daher nicht, daß eine Ermahnung unter vier Augen vorangehen muß. 11. Etwas kann in dreifacher Weise tätig sein, nämlich durch seine Natur, entsprechend seiner Sachkunde und durch die Gnade bzw. durch die heilige Liebe, d. h. indem man den Bruder aus heiliger Liebe tadelt. Das natürlich Tätige tut alles so gut es kann; ähnlich ist es beim sachkundig Tätigen. Darum soll auch der mit heiliger Liebe den Bruder Tadelnde dies so gut tun, wie er kann. Besser aber ist es, wenn er dies öffentlich tut, denn so nutzt er den Vielen mehr. Das Gute für viele ist aber besser als das Gute eines einzelnen. Es scheint also, besser zu sein, den Bruder ohne vorangegangene Ermahnung unter vier Augen sofort öffentlich anzuzeigen. 12. Der Sünder in der Kirche verhält sich wie ein krankes Glied am natürlichen Körper. Es ist aber gleichgültig,41 wie ein Arzt das 38 39 40 41

Vgl. Augustinus, De doctr. christ. IV, 18, 35 (CCSL 32, 142). Übersetzung von necesse est aliquam moram intervenire. Übersetzung von remedium adhiberi. Übersetzung von sed non refert.

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kranke Glied amputiert, um die Zerstörung des ganzen Körpers zu vermeiden. Es scheint also auch gleichgültig zu sein, wie der sündigende Bruder getadelt wird, ob öffentlich oder unter vier Augen. 13. Die Untergebenen sind verpflichtet, ihren Vorgesetzten zu gehorchen. Manchmal ordnen sie an, daß ihnen von den Untergebenen alles gesagt wird, was sie von den Sünden anderer wissen. Die Untergebenen sind also dazu verpflichtet, auch wenn die Sünden verborgen sind, sie ohne vorangegangene Ermahnung unter vier Augen zu offenbaren. 14. In einer Glosse heißt es zu der Stelle im Matthäusevangelium ›Wenn dein Bruder gegen dich gesündigt hat‹, daß der Bruder aus Gerechtigkeitseifer zurechtgewiesen werden soll.42 Deshalb scheint es, daß die brüderliche Zurechtweisung ein Akt der Gerechtigkeit ist. Gerechtigkeit aber muß öffentlich geschehen, denn Aristoteles sagt im 5. Buch der Ethik, daß die Gerechtigkeit eine Tugend ist, deren Glanz größer ist als der Morgen- oder der Abendstern.43 Deshalb soll die brüderliche Zurechtweisung öffentlich, nicht unter vier Augen geschehen. 15. Es gehört zur Gerechtigkeit, den Menschen für ihre Verdienste zurückzuerstatten, was ihnen zusteht. Aus dem, der gesündigt hat, wird aber ein Ehrloser vor Gott. Es scheint darum, daß ihm – so wie er es verdient hat – sein guter Ruf bei den Menschen durch öffentliche Zurechtweisung genommen werden soll. 16. Kein Gebot Gottes widerspricht einem Rat oder einem anderen Gebot. Der Herr aber sagt in Lk. 6, 13: »Wer dir wegnimmt, was dir gehört, von dem fordere es nicht zurück«. Es ist aber notwendig, daß das entweder im Sinne eines Rates oder im Sinne eines Gebotes gesagt ist. Es scheint also, daß die Ermahnung nur durch Rückforderung dessen, was ihm gehört, zustande kommen kann, besonders dann, wenn jemand einem anderen das Seine weggenommen hat, nur weil es nicht im Gebot enthalten ist, unter vier Augen zu ermahnen. 17. Jederzeit und auf jede Weise ist es erlaubt, Böses mit Gutem zu vergelten. Augustinus sagt aber im 3. Buch von Über den freien Willen Folgendes: Wenn diejenigen, die lästig fallen, getadelt wer42 Vgl. Glossa ordin. in Mt. 15, 18 (ed. princeps, 4, 60 b). 43 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. V, 1; 1129 b 27 f.

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den, wird ihnen Böses mit Gutem vergolten.44 Es scheint also, jederzeit erlaubt zu sein, sie vor einer Ermahnung unter vier Augen öffentlich zu tadeln. 18. Gesetze beziehen sich auf das, was oft geschieht, nicht auf das, was selten vorkommt. Es kommt aber selten vor, daß jemand deswegen schlechter wird, weil sein Ruf ruiniert wird. Viele Menschen aber werden wegen der Aufdeckung einer Sünde getadelt. Darum scheint es, daß es kein Gebot des göttlichen Gesetzes dafür gibt, daß jemand zuerst unter vier Augen ermahnt wird und dann erst45 öffentlich angezeigt wird. 19. In der Ordnung der brüderlichen Zurechtweisung wird daran festgehalten, daß eine Sünde der Kirche oder dem Vorgesetzten nur dann eröffnet wird, wenn der Bruder den, der ihm etwas zu erkennen gibt, nicht hören will. Wenn aber der eine im Mitwissen eines anderen sündigt und Besserung verspricht, scheint es deshalb, daß er den ihn überführenden Bruder gehört hat. Dennoch muß man anscheinend seine Sünde dem Vorgesetzten melden, damit die Zucht der Gerechtigkeit nicht untergeht. Es scheint also, daß die Ordnung der brüderlichen Zurechtweisung, die der Herr setzt, nicht unter das Gebot fällt. 20. Hieronymus sagt zu Mt. 18, 15 ›Wenn dein Bruder sich an dir versündigt hat …‹: »Wenn er aber gegen Gott gesündigt hat, untersteht es nicht unserem Urteil«.46 Es scheint also, daß die fragliche Art und Weise der Zurechtweisung sich nicht auf alle Sünden ausdehnt. 21. Der Herr sagt in Mt. 18, 15: »Wenn er auf dich hört, hast du deinen Bruder gewonnen«. Jemand hat aber nicht deswegen seinen Bruder gewonnen, weil dieser den Ermahnenden nur hört, obwohl er erst von der Sünde abläßt, nachdem er die schwere Sünde schon begangen hat. Vieles andere ist dazu erforderlich, daß er zum Heil gelangt, d. h., daß man den Bruder gewonnen hat. Es scheint also, daß sich diese Ordnung der brüderlichen Zurechtweisung nicht auf die schweren Sünden erstreckt. 44 Vgl. Augustinus, De gratia et lib. arb. 17, 34 (PL 44, col. 902). 45 Übersetzung von prius … quam. 46 Vgl. Hieronymus, Comm. in ev. Mt. III (PL 26, col. 131 B); Kommen-

tar zu Mt. 18, 15 ff.

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22. In Sir. 19, 10 heißt es: »Ist dir ein Wort zu Ohren gekommen, so sterbe es mit dir, sei unbesorgt, es wird dich nicht zerreißen«. Es ist also nicht notwendig, daß wir es anderen berichten, wenn wir deren Sünde wahrnehmen. 23. Man soll um des Bruders willen weniger wegen irgendwelcher anderer Sünden unternehmen als vielmehr wegen der Sünde der Häresie. Im Fall der Häresie soll jemand zwei- oder dreimal ermahnt werden, wie es in Tit. 3, 10 heißt: »Von einem ketzerischen Menschen ziehe dich zurück, nachdem du ihn einmal, zweimal gewarnt hast«. Es scheint also nicht auszureichen, jemanden einmal vor der Anzeige zu tadeln, wie es die Worte des Herrn andeuten. 24. Gemäß Augustinus im Buch Über die Worte des Herrn richtet sich diese Ordnung der Zurechtweisung auf die geheimen Sünden.47 Bei solchen scheint es aber, daß etwas nicht durch Zeugen überprüft werden kann. Es ist also unangemessen, an dieser Ordnung der Zurechtweisung, die Zeugen hinzuzieht, festzuhalten. 25. Der Mensch soll seinen Nächsten lieben wie sich selbst. Es ist aber keiner bei der öffentlichen Kundgebung seines Vergehens verpflichtet, Zeugen hinzuzuziehen, also auch nicht zur Offenbarung des Vergehens des Bruders. 26. Augustinus sagt in seiner Regel, daß ein Vergehen dem Vorgesetzten eher eröffnet werden muß als den Zeugen.48 Solches dem Vorgesetzten oder dem Bischof zu eröffnen, heißt aber, es der Kirche zu eröffnen. Also müssen die Zeugen nicht eher hinzugezogen werden bevor man es nicht der Kirche kundgetan hat. So scheint es, daß die Ordnung, die der Herr setzt, nicht in der Regel enthalten ist. Dagegen spricht: 1. Augustinus sagt im Buch Über die Worte des Herrn, indem er folgendes herausstellt: »Weise nur unter vier Augen zurecht – bemüht um die Besserung und das Ehrgefühl schonend. Er wird nämlich angesichts der Schande anfangen, seine Sünde vehement zu verteidigen. Willst du ihn auf diese Weise bessern, machst du ihn

47 Vgl. Augustinus, Serm. 82, 7, 10–8, 11 (PL 38, col. 510 f.). 48 Vgl. Augustinus, Regula 7 (PL 32, col. 1381).

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schlechter«.49 Das ist also der Grund für eine solche Ordnung, die man bei der brüderlichen Zurechtweisung wahren soll, daß nämlich das Ehrgefühl des Bruders geschont und er nicht schlechter wird. Dazu sind wir aber durch das Gebot der heiligen Liebe verpflichtet. Deshalb fällt die Ordnung der brüderlichen Zurechtweisung unter das Gebot. 2. Die Glosse sagt zu Mt. 18, 15 ›Wenn jemand gegen dich gesündigt hat …‹: »Wir können durch diese Ordnung die Ärgernisse meiden«.50 Ärgernisse zu meiden, fällt aber unter das Gebot, wie es in Röm. 14, 13 und 21 deutlich wird. Die Ordnung der brüderlichen Zurechtweisung fällt also unter das Gebot. Antwort: Die brüderliche Zurechtweisung fällt, wie in Artikel 1 gesagt, insofern unter das Gebot, als sie ein Akt der Tugend ist. Sie ist aber ein Akt der Tugend, sofern sie mit den angemessenen Umständen ausgestattet ist. Unter diesen scheint es vor allem eine Ordnung auf ein Ziel hin zu geben, das notwendig macht, eine gemeinsame Richtnorm für alles, was getan werden soll, zu haben. Das Ziel der brüderlichen Zurechtweisung ist, wie gesagt, die Besserung des Bruders. Darum will der Herr, daß durch diese Ordnung die brüderliche Zurechtweisung geschieht, sofern sie zur Besserung des Bruders, den wir von der Sünde befreien wollen, dient.51 In zweifacher Weise droht dem Menschen aus der Sünde Gefahr: hinsichtlich des Gewissens und hinsichtlich des Rufes. Diese zwei, nämlich das Gewissen und der Ruf verhalten sich aber so zueinander, daß das Gewissen vor dem Ruf den Vorrang hat, weil das Zeugnis des Gewissens im Blick Gottes ist, aber das Zeugnis des Rufes zum menschlichen Wirkungskreis52 gehört. Sie unterscheiden sich auch, sofern das Gewissen für den Menschen um seiner selbst willen notwendig ist, der Ruf aber um seinet- und um des Nächsten willen. 49 50 51 52

Augustinus, Serm. 82, 4, 7 (PL 38, col. 509). Glossa ordin., in Mt. 15, 18 (ed. princeps, 4, 60 b). Übersetzung von congruit. Übersetzung von officium humanum.

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Der Herr hat also gewollt, daß die brüderliche Zurechtweisung gemäß dieser Ordnung vor sich geht. Zuerst wird nämlich, wenn möglich, mit dem Gewissen vorausgesehen, daß in keiner Weise der Ruf beschädigt wird. Dann erst – weil nämlich das Gewissen vor dem Ruf den Vorrang hat, und nur wenn der Bruder nicht anders gebessert werden kann, als mit einer Beschädigung des Rufes – hat der Herr schließlich angeordnet, daß er öffentlich angezeigt werden soll, damit der Tadel, der von vielen ausgeht, ihm ein Heilmittel für das ewige Heil wird. Wenn aber sofort zur öffentlichen Anklage übergegangen wird, erleidet der Bruder die Beschädigung seines Rufes. Dies ist freilich um seinet- und der anderen willen, deretwegen denen für ihn der Ruf notwendig ist, zu meiden. Um seinetwillen gilt dies nämlich in zweifacher Hinsicht: Erstens nämlich, weil der gute Ruf eine Besonderheit unter den äußeren Gütern ist, wie es in Spr. 22, 1 heißt: »Besser ist ein guter Name als viele Reichtümer«. Das ist deshalb so, weil die Vorzüglichkeit des Rufes den Menschen zur menschlichen Pflicht, der er im menschlichen Umgang nachgehen soll, geeignet macht. Darum heißt es in Sir. 41, 12: »Achte auf deinen guten Namen, denn dieser wird dir mehr bleiben als viele große und wertvolle Schätze«. Wie jemand also sündigen würde, der ohne Notwendigkeit jemandem einen Nachteil hinsichtlich seines Besitzes zufügen würde, so sündigt er viel mehr, wenn jemand seinem Nächsten ohne Notwendigkeit, dessen Sünde öffentlich machen zu müssen, eine Schädigung seines Rufes zufügen würde. Zweitens weil der Mensch sich zur Bewahrung seines Rufes vielfältig von Sünden fernhält. Wenn darum jemand sieht, daß er schon den Ruf verloren hat, läßt er sich um Nichtiges zum Sündigen hinreißen, wie es in Jer. 3, 3 heißt: »Die Gestalt einer Dirne hast du angenommen, du hast nicht gewußt, dich zu schämen«. Daher kommentiert auch Hieronymus die besagte Stelle im Matthäusevangelium: »Der Bruder ist von den anderen abgesondert zu tadeln, damit er nicht, wenn er einmal das Ehrgefühl oder die Sittsamkeit verloren hat, in der Sünde verharrt«.53 53 Hieronymus, Comm. in ev. Mt. III (PL 26, col. 131 B); Kommentar zu Mt. 18,15.

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In ähnlicher Weise ist die Rufschädigung auch um der anderen willen in zweifacher Weise gefährlich: Erstens nämlich, weil die Menschen, die von der Sünde eines anderen hören, sich ärgern, und irgendwann nicht nur den Sünder, sondern auch viele andere, die rechtschaffen sind, verachten. Augustinus sagt darum im Brief an die Bevölkerung von Hippo: »Wenn von denen, die den heiligen Namen öffentlich bekennen, von einem Verbrechen entweder falsch zu hören ist, oder es wahr kundgetan wird, haben sie sofort genug zu tun und laufen herum, damit dies von allen geglaubt wird«.54 Zweitens, weil durch die öffentliche Sünde viele sehr zum Sündigen angeregt werden. In Bezug darauf heißt es in 1 Kor. 5, 6: »Wißt ihr nicht, daß ein wenig Sauerteig den ganzen Teig durchsäuert?« Aus diesem Grunde fällt es unter das Gebot, daß nicht eher jemand zur öffentlichen Anzeige übergehen soll, bevor er seinen Bruder nicht unter vier Augen zurechtgewiesen hat. Weil man von einem Extrem zum anderen nur über die Mitte hingelangt, setzt der Herr einen mittleren Schritt dazwischen, damit nach der Ermahnung unter vier Augen niemals für alle öffentlich eine Anzeige vorgenommen wird, solange nicht ein oder zwei Zeugen hinzugezogen sind, damit »der mehr im Verborgenen Gebesserte nicht den übrigen bekannt werden kann«,55 wie Augustinus in seiner Regel sagt. Darum fällt also die Ordnung der brüderlichen Zurechtweisung unter das Gebot, wie auch die brüderliche Zurechtweisung selbst. Nachdem nämlich diese Unterscheidung nach beiden Seiten hin und hinsichtlich des angemessenen Ortes, der Zeit und der anderen notwendigen Umstände, die zu beachten sind, nicht verletzt wurde, geschieht alles in dem Sinne, daß jemand hilfreich auf die Besserung des Bruders schaut. Darin liegt das Ziel und die Richtnorm der brüderlichen Zurechtweisung. Zu 1. Wie Augustinus in der Ansprache Über die Worte des Herrn die Frage löst, ist das Wort des Apostels in Bezug auf öffent54 Augustinus, Ep. 78, 6 (CCSL 31 A, 89). 55 Augustinus, Regula 4, 9 (PL 32, col. 1381).

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liche, das Wort des Herrn hingegen auf geheime Sünden hin zu verstehen, wie es aus der Sprechweise selbst sichtbar wird.56 Der Herr sagt nämlich: ›Wenn du gegen deinen Bruder gesündigt hast‹. Wenn er nämlich öffentlich sündigt, sündigt er nicht nur gegen dich, dem er eine Kränkung der Ehre oder ein Unrecht zufügt, sondern auch gegen alle, die dies sehen, wie es in dem vom Herrn in Mt. 18, 31 dargelegten Gleichnis vom nichtsnutzigen Knecht, der einen anderen Mitknecht niedergeschlagen hat, zu verstehen gegeben wird: »Die Mitknechte, die sehen, was geschieht, haben sich sehr empört«. In 2 Petr. 2, 8 heißt es, daß die Seele des Gerechten durch ungerechte Taten gekreuzigt wird. Zu 2. Einige haben die zu wahrende Ordnung der brüderlichen Zurechtweisung folgendermaßen verstanden: Zuerst ist der Bruder im geheimen zurechtzuweisen; wenn er darauf gehört hat, ist es selbstverständlich gut. Wenn er aber nicht gehört hat, so sagten sie, daß folgendermaßen zu unterscheiden ist: Entweder ist es nämlich ganz verborgen, und dann muß man nicht zu einem weiteren Schritt übergehen; oder es beginnt schon vielen bekannt zu werden, und dann muß ein weiterer Schritt eingeleitet werden, sofern es der Herr aufträgt. Dies scheint aber nicht richtig zu sein. Augustinus sagt nämlich in seiner Regel: »Wenn dein Bruder eine Wunde am Körper hat, die er geheim halten will, solange er fürchtet geschnitten zu werden, wäre es dann nicht grausam von dir zu schweigen, und wäre es nicht barmherzig, darauf aufmerksam zu machen? Wieviel mehr darf also die Sünde nicht verborgen werden, daß der Schwächere im Herzen nicht verkommt?«57 Darum brauchen wir eine andere Unterscheidung: Wenn wir nämlich mit Wahrscheinlichkeit abschätzen können, daß wir seine Besserung bewirken, indem wir weitere Schritte unternehmen, dann sollen wir es tun, indem wir Zeugen hinzuziehen und ihn anzeigen. Wenn wir aber mit Wahrscheinlichkeit abschätzen, daß er durch eine solche Veröffentlichung schwächer wird, soll man nicht darüber hinausgehen. Nur aus diesem Grund soll man, wie

56 Vgl. Augustinus, Serm. 82, 5 ff. (PL 38, col. 509–511). 57 Augustinus, Regula, 4, 8 (PL 32, col. 1381).

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oben gesagt,58 von der ganzen brüderlichen Zurechtweisung Abstand nehmen. Zu 3. Jede Wahrheit menschlicher Gerechtigkeit hat ihren Maßstab in der göttlichen Wahrheit. Die Handlungen der Menschen werden aber zur göttlichen und zur menschlichen Gerechtigkeit nicht in gleicher Weise in ein Verhältnis gesetzt. Nach der menschlichen Gerechtigkeit bleiben gewisse Sünden, bei denen man nicht sofort öffentlich werden muß, verborgen. Auf diese Weise werden nicht alle Sünden mit der göttlichen Gerechtigkeit in Beziehung gebracht, denn »alles steht vor seinen Augen bloß und enthüllt«, wie es in Hebr. 4, 13 heißt. Sofern also für die göttliche Gerechtigkeit es nicht erforderlich ist, daß eine Ermahnung unter vier Augen vorangeht und dennoch die Sünder meistens gewissermaßen von Gott eine Ermahnung ohne menschliche Zeugen durch einen inneren Gewissensbiss und durch eine innere Eingebung, sei es im Wachzustand oder beim Schlafen, erhalten. In Jb. 33, 15–17 heißt es nämlich: »Im Traum des Nachtgesichts, wenn tiefer Schlaf sich auf die Menschen senkt, dann öffnet er die Ohren der Menschen und unterweist sie aufschreckend durch Warnungszeichen, damit der Mensch sich abwendet von dem, was er getan hat«. Zu 4. Die Sünde von Ananias und Saphira kam Petrus nicht auf menschliche Weise, sondern durch göttliche Offenbarung zur Kenntnis. Deshalb kommt es bei jener Sünde nicht zu einem Urteil nach menschlicher, sondern nach göttlicher Art, als wenn dadurch eine Urteilsvollstreckung Gottes vollzogen wird. Zu 5. Der Herr hat als der, der die verborgenen Dinge erkennt, durch göttliche Kraft die Sünde des Judas vorhergewußt. Aus diesem Grund konnte er, sofern er Gott ist, sofort dazu übergehen, die Sünde offen kundzutun. Dennoch hat er es nicht selbst öffentlich gemacht, sondern er hat ihn mit geheimnisvollen Worten wegen der Sünde ermahnt. Zu 6. Es gibt einen anderen Grund für die Anklage und für die Anzeige, denn bei der Anzeige beabsichtigt man die Zurechtweisung des Bruders und deshalb muß es in einer solchen Ordnung zur Anzeige kommen, die mit der Besserung des Bruders übereinstimmt. 58 Im Korpus des Artikels.

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Aber bei der Anklage richtet man sich auf das Gute der Kirche, damit nämlich die Gemeinschaft frei von Schändung durch die Sünde bewahrt bleibt. Deshalb ist es bei der Anklage nicht notwendig, daß eine Anzeige vorangeht. Zu 7. Der Mensch muß nicht bei jeder Sünde zur Anklage schreiten, sondern nur bei jenen Sünden, aus denen sichtbar wird, daß eine Gefahr für viele entsteht, sei sie geistlich oder körperlich. Dann nämlich kann der Mensch zur Anklage ohne vorangehende Ermahnung übergehen, wenn dies der allgemeine Nutzen erfordert, denn das gemeinsame Gute ist dem privaten Guten vorzuziehen. Zu 8. Die Beschwerden, die in den Kapiteln der Ordensleute vorgebracht werden, sind eher gewisse Aufforderungen als Anklagen oder Anzeigen. Die Schuld, von der er sich reinigen soll, wird nämlich dem Bruder in Erinnerung gerufen, so daß sein Ruf keinen Schaden erleidet, denn derartige Beschwerden werden nur bei leichter Schuld vorgebracht. Wenn aber jemand ohne vorangehende Ermahnung sich über eine schwere Schuld, von der aus man ins Gerede kommen kann, sich öffentlich beschwert, wäre dies unerlaubt und gegen das Gebot Christi. Zu 9. Von den leichten Sünden geht nicht eine Rufschädigung aus wie von den schweren. Darum liegt auch bei beiden nicht derselbe Grund vor. Zu 10. In solchen Fällen, in denen ein Aufschub der Anzeige gefährlich ist, ist es nicht notwendig, eine Ermahnung abzuwarten, sondern erforderlich, sofort zur Anzeige überzugehen. Dies ist nicht wegen des Gebotes Christi so, sondern aus den folgenden zwei Gründen: erstens nämlich, weil diese Sünde dazu neigt, eine Gefahr für viele, d. h. nicht nur für dich, sondern sogar für viele andere zu werden. Der Herr aber sagt: ›Wenn dein Bruder gegen dich gesündigt hat‹. Zweitens soll man so verfahren, weil der Herr nicht von einer zukünftigen Schuld spricht, vor der man sich zu hüten hat, sondern von der vergangenen Schuld, die man schon begangen hat. Zu 11. Sowohl für den Bruder, dessen Besserung beabsichtigt wird, als auch für die Vielen, ist es besser, wenn es tatsächlich dazu kommt, daß er unter vier Augen berichtigt wird, wie aus dem Gesagten deutlich wird. Darum muß derjenige, der in heiliger Liebe zurechtweist, so vorgehen.

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Zu 12. Wenn ein Arzt sofort dazu übergehen würde, ein gebrochenes Glied abzuschneiden, würde er unvorsichtig handeln und oft würde er Glieder, die geheilt werden können, abschneiden. Ist er aber klug, beginnt er mit leichteren Heilmitteln. Er schneidet erst dann ein Glied ab, wenn er geprüft hat, daß es unheilbar ist. So soll man es freilich auch bei der brüderlichen Zurechtweisung machen. Zu 13. Man muß gemäß Apg. 5, 29 dem Vorgesetzten nicht gegen das Gebot Christi gehorchen: »Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen«. Aber auch jener Vorgesetzte, der gegen das Gebot Christi einen Befehl gibt, ist von der Sünde nicht freigesprochen. Wenn darum ein Vorgesetzter befiehlt, daß jemand sagt, was er von Tadelnswertem oder über die Sünden anderer weiß, ist sein Befehl in dem Fall, in dem er dies gemäß der festgesetzten Ordnung Christi befehlen kann, als richtig zu verstehen. Wenn er ausdrücklich etwas gegen diese Ordnung befiehlt, muß man ihm nicht gehorchen. In einigen Fällen kann der weltliche oder der kirchliche Richter dennoch einen Eid verlangen, sei es auf dem Weg der Anzeige, der Untersuchung oder der Anklage. In diesen Fällen kann der Vorgesetzte bei Ordensleuten durch Befehl seine Untergebenen unter Gehorsam verpflichten. Zu 14. Die Gerechtigkeit wird die herrlichste unter den Tugenden wegen der Zierde ihrer Ordnung genannt. Dazu gehört auch, daß man Dinge, die geheim bleiben sollen, auch geheim hält. Zu 15. Derjenige, der heimlich sündigt, verdient es, seinen guten Ruf zu verlieren. Bei einem solchen Verschulden kann die Strafe nur durch den erlassen, der der Richter über die verborgenen Dinge ist, nämlich Gott. Von ihm wird in 1 Kor. 4, 5 gesagt: »Er wird das im Dunkeln Verborgene ans Licht bringen und die Absichten der Herzen offenkundig machen«. Zu 16. Das Seine nicht zurückzufordern ist ein Gebot, sofern es als »Vorbereitung der Seele … verstanden wird«,59 wie es Augustinus gezeigt hat. Der Mensch ist nämlich zur Bereitschaft verpflichtet, das Seine in dem Fall nicht zurückzufordern, in dem dies die Notwendigkeit des Glaubens und der heiligen Liebe verlangen würde; er wäre in diesem Fall sogar verpflichtet, erneut zu geben. 59 Augustinus, De serm. Dom. 19, 59 (CCSL 35, 69).

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Daß aber ein Mensch über diesen Fall hinaus das Seine nicht zurückfordert, kann ein Rat sein, der unter den geschuldeten Umständen zur Anwendung kommt,60 genauso wie es auch ein Rat ist, daß ein Mensch das Seine denen gibt, denen er es geben soll. Die brüderliche Ermahnung ist aber weder dem Rat noch einem schon gegebenen Gebot entgegengesetzt. Jemand kann nämlich den Bruder, der etwas Fremdes weggenommen hat, so ermahnen, daß er die Sünde bereut und bereit ist, Genugtuung zu leisten, auch wenn der andere – sollte es ihm angemessen erscheinen61 – ihm das erlassen will, was er eigentlich zurückgeben soll. Zu 17. Wer den, der sich vergangen hat, tadelt, vergilt Böses mit Gutem. Wer aber die geschuldete Weise und Ordnung unterläßt, indem er öffentlich tadelt, was verborgen ist, vergilt nicht mit Gutem, sondern mit Bösem. Zu 18. Es trifft selten zu, daß die geheimen Sünden öffentlich werden; deshalb kommt es seltener zu dieser Gefahr. Wenn aber häufig geheime Sünden veröffentlicht würden, würde man aus Erfahrung genau abwägen, welche Gefahren daraus folgen würden. Zu 19. Solange die Sünde geheim ist, ist nicht einsehbar, weshalb sie veröffentlicht werden sollte. Verspricht derjenige, der gesündigt hat, Besserung, würde man gegen das Gebot Gottes handeln, wenn man den sündigenden Gefährten zu einem Vorgesetzten oder einem anderen bringen würde. Zu 20. Hinsichtlich der Sünden, die gegen Gott begangen werden, gehört es nicht in unser Ermessen,62 durch Reue zu vergeben. Sehr wohl gehört es aber in unser Ermessen bei denen, die darin zurechtgewiesen werden sollen, die Ordnung zu bewahren, die Christus eingesetzt hat. Zu 21. Derjenige, der sündigt, ist einsichtig, den Ermahnenden hören zu wollen, wenn er sich auch vom sündhaften Handeln abwendet und das andere tut, das für das Heil notwendig ist, indem er sich bekennt und Genugtuung leistet. Nur dann gewinnt jemand den auf diese Weise hörenden Bruder, wie schwer auch immer seine Sünde ist. 60 Übersetzung von debitis circumstantiis servatis. 61 Übersetzung von cum hoc viderit expedire. 62 Übersetzung von nostri arbitrii.

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Zu 22. Das Wort, das wir gegen den Bruder hören, soll in der Weise in uns sterben, daß von uns für den Bruder keine Rufschädigung ausgeht. Dennoch darf dadurch nicht verhindert werden, daß letztlich für den Bruder eine Besserung daraus hervorgeht. Zu 23. Wenn der Herr sagt: ›Weise deinen Bruder unter vier Augen zurecht‹, heißt das nicht, daß er einmal, sondern zwei- und dreimal oder auch öfter zurechtgewiesen wird, solange berechtigt die Hoffnung besteht, daß er unter vier Augen zurechtgewiesen werden kann. Wenn sich aber mit Wahrscheinlichkeit vermuten läßt, daß er auf diese Weise nicht auf den richtigen Weg gebracht werden kann, dann versteht man, daß er nicht hört. Zu 24. Zeugen werden entweder hinzugezogen, um zu zeigen, daß dies eine Sünde ist, der jemand überführt wird,63 wie Hieronymus sagt, oder um ihn tatsächlich zu überführen, wenn die Tat wiederholt wurde,64 wie Augustinus sagt, oder der ermahnende Bruder soll bezeugen, daß er getan hat, was ihm möglich war,65 wie Chrysostomus sagt. Zu 25. Der Mensch bedarf zur Überwindung66 seiner Sünde keiner Zeugen. Dennoch kann er zur Besserung des anderen entsprechend der drei oben angeführten Weisen der Zeugen bedürfen. Darum ist der Grund bei der eigene Sünde und bei der des Bruders nicht der gleiche. Zu 26. Augustinus versteht die Weisung, daß man eher mit dem Vorgesetzten als mit dem Zeugen reden soll, unter der Hinsicht, daß der Vorgesetzte eine einzelne Person ist, die auch mehr Nützliches bewirken kann als andere. Auf diese Weise dem Vorgesetzen den Sachverhalt kundzutun, heißt nicht, mit der Kirche, sondern – wenn es in der Öffentlichkeit kundgetan wird – gewissermaßen an dem Ort, wo das richterliche Amt niedergelassen ist, zu sprechen.

63 Vgl. Hieronymus, Comm. in ev. Mt. III (PL 26, col. 131 B); Kommentar zu Mt. 18, 15 ff. 64 Vgl. Augustinus, Regula 7 (PL 32, col. 1381). 65 Übersetzung von fecit quod in se fuit. Vgl. Johannes Chrysostomos, Hom. sur st. Mt. 6, 2 (ed. Bareille XII, col. 490 f.). 66 Übersetzung von emendatio.

IV. ÜBER DIE HOFFNUNG

Die hier behandelten Fragen lauten: 1. Ist die Hoffnung eine Tugend? 2. Ist die Hoffnung im Willen als ihrem Träger? 3. Ist die Hoffnung früher als die heilige Liebe? 4. Gibt es die Hoffnung nur im Pilgerstand?

1. Artik el Die erste Frage lautet: Ist die Hoffnung eine Tugend? 1 Das scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Die Tugend bezieht sich nicht sowohl auf das Gute als auch auf das Schlechte, sondern nur auf das Gute. Deshalb sagt Augustinus im Buch Über den freien Willen, daß die Tugend keiner auf schlechte Weise gebraucht.2 Die Hoffnung steht aber zum Guten und zum Schlechten in Beziehung, weil einige eine gute und einige eine schlechte Hoffnung haben. Darum ist die Hoffnung keine Tugend. 2. Gott bewirkt, wie schon gesagt, die theologische Tugend in uns ohne uns.3 So ist klar, daß keine Tugend durch Verdienste zustande kommt, sondern die Verdienste vorangehen. Die Hoffnung aber kommt durch Verdienste zustande, denn die Hoffnung ist die sichere Erwartung der zukünftigen Glückseligkeit, die aus der Gnade und den Verdiensten hervorgeht, wie Petrus Lombardus im 3. Buch seiner Sentenzen, dist. 26. sagt. Deshalb ist die Hoffnung keine Tugend. 3. Es ist aber zu erwidern, daß die Hoffnung die Verdienste nicht in wirklichen Handlungen, sondern nur habituell voraussetzt. – Da1 Paralleltexte: Sum. theol. II–II, q. 17 a. 1; Sent. III, d. 26 q. 2 a. 1. 2 Vgl. Augustinus, De lib. arb. II, 19 (CCSL 29, 271); Retract. I, 9, 4

(CCSL 57, 25) u. a.; vgl. De virt. q. 1 a. 2. 3 Vgl. ebd.

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gegen aber steht: Der Habitus, der das Prinzip des Verdiensteerwerbens ist, ist die heilige Liebe. Die Hoffnung setzt aber die heilige Liebe nicht voraus, sondern sie geht ihr voraus, denn in einer Glosse zum Matthäusevangelium heißt es, daß die Hoffnung die heilige Liebe hervorbringt.4 Die Hoffnung liegt also den Verdiensten nicht habituell zugrunde. 4. Gemäß Aristoteles im 6. Buch der Physik, ist die Tugend die Verfassung5 des Vollkommenen.6 Deshalb beweist er im 4. Buch der Ethik, daß die Scham keine Tugend ist, weil sie sich auf das Unvollkommene bezieht.7 Die Hoffnung hingegen ist die Verfassung des Unvollkommenen, weil sie zu dem gehört, das vom Guten entfernt ist. Deshalb ist die Hoffnung keine Tugend. 5. Keine Leidenschaft ist eine Tugend, denn »für die Leidenschaften werden wir weder gelobt noch getadelt«,8 wie es im 2. Buch der Ethik heißt. Die Hoffnung ist aber eine der vier Hauptleidenschaften; darum ist sie keine Tugend. 6. Es ist aber zu erwidern, daß die Hoffnung, die eine Leidenschaft ist, zwar keine Tugend, aber dennoch etwas zum Geist Gehörendes ist. – Dagegen aber steht: Alle Leidenschaften des sinnlichen Strebevermögens haben etwas Ähnliches im Geist, denn so wie die Hoffnung und die Liebe sowohl zum sinnenhaften als auch zum verstandesmäßigen Strebevermögen gehören, so auch die Sehnsucht, die Freude und anderes dieser Art. Bei den anderen Leidenschaften außer der Liebe kommen aber nicht die Namen der Tugenden zur Anwendung. Darum kann man auch keine Tugend Hoffnung nennen. 7. Es gibt drei Gattungen von Tugenden, nämlich die sittliche, die verstandesmäßige und die theologische Tugend. Die Hoffnung aber ist weder eine sittliche Tugend, denn sie wird nicht auf eine der Kardinaltugenden zurückgeführt, noch ist sie eine verstandesmäßige Tugend, denn sie gehört nicht zur Erkenntniskraft, sondern zur 4 Vgl. Glossa interlin. in Mt. 1, 2 (ed. princeps, 4, 3 b – 4 a); Petrus Pictavensis, Sent. III, 29 (PL 211, 1133 B). 5 Übersetzung von dispositio. 6 Vgl. Aristoteles, Phys. VII, 3; 246 b 1 f. 7 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. IV, 15; 1128 b 10 f. 8 Aristoteles, Eth. Nic. II, 4; 1105 b 31 f.

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Strebekraft, und sie ist auch keine theologische, denn zur theologischen Tugend gehört nicht, daß sie in der Mitte besteht, sondern in einem Extrem, wie es in Dt. 6, 5 heißt: »Du sollst den Herrn, deinen Gott aus ganzem Herzen lieben«. Die Hoffnung aber hält die Mitte zwischen Vermessenheit und Verzweiflung. 8. Die größte theologische Tugend ist eine übernatürliche, uns durch Gott eingegossene Gabe. Für die ewige Glückseligkeit, die wir erhoffen sollen, brauchen wir aber keine übernatürliche Gabe, denn wenn das Gute auf natürliche Weise das Strebevermögen bewegt, wird das höchste Gute, das die Glückseligkeit ist, am meisten das Strebevermögen auf natürliche Weise bewegen. Die Hoffnung ist also keine Tugend. 9. Der Akt der heiligen Liebe ist vollkommener als der Akt der Hoffnung. Gemäß der Meinung derer, die sagen, daß der Mensch und der Engel, die als natürliche Dinge geschaffen sind, Gott mehr als sich selbst und als alles andere geliebt haben, ist die geschaffene Natur aber ohne das Geschenk der Gnade zum Akt der heiligen Liebe fähig; dies scheint ein Akt der heiligen Liebe zu sein. Darum ist jemand zum Akt der Hoffnung viel mehr ohne das Geschenk der Gnade fähig. Also ist die Hoffnung keine Tugend. 10. Gemäß Aristoteles im 1. Buch der Ethik, macht die Tugend sicherer als jede Kunst.9 Dies gilt aber nicht für die Hoffnung, denn sie wird durch Gnade und Verdienste verursacht, derer man sich nicht gewiß sein kann, wie es in Prd. 9, 1 heißt: »Niemand weiß, ob er hassens- oder liebenswert ist«. Also ist die Hoffnung keine Tugend. 11. Jede Tugend kann in der heiligen Liebe wurzeln.10 Die Hoffnung schließt aber einen Abstand ein, die heilige Liebe hingegen eine Einung. Das entspricht dem, was Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen sagt, daß nämlich »die heilige Liebe … die einende Kraft ist«.11 Deshalb ist die Hoffnung keine Tugend. 12. Gemäß Joh. 1, 14 ist die ganze Fülle der Gnaden und Tugenden in Christus gewesen: »Wir sehen ihn … voll der Gnade und der Wahrheit«. Die Hoffnung aber ist nicht in Christus gewesen, »der 9 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. I, 11; 1100 b 13 ff. 10 Übersetzung von esse in. 11 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 19 (Dion. I, 225).

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nämlich sieht und nicht hofft«, wie es im Römerbrief festgehalten ist. Deshalb ist die Hoffnung keine Tugend. 13. Die Tugend verursacht wirklich Freude, die Hoffnung – gemäß Spr. 13, 12 – im Gegensatz dazu Betrübnis: »Hoffnung, die hingehalten wird, macht die Seele krank«. Deshalb ist die Hoffnung keine Tugend. 14. Die Tugend besitzt die Freude durch sich selbst,12 wie es im 1. Buch der Ethik heißt. Die Hoffnung aber und die Erinnerung gehören nicht zu den Dingen, die durch sich selbst erfreulich sind,13 wie es im 2. Buch der Metaphysik heißt. Also ist die Hoffnung keine Tugend. 15. Keine Tugend macht einen Akt schlecht. Die Hoffnung aber macht einen Akt schlecht, weil sie einen Akt schwierig macht. Also ist die Hoffnung keine Tugend. 16. Die Hoffnung ist, wie gesagt,14 eine gewisse Erwartung. Die Erwartung schließt aber einen Abstand ein. Deshalb schließt auch die größte Hoffnung den größten Abstand vom erhofften Guten, das die Glückseligkeit ist, ein. Die größte Tugend hat aber nicht den größten Abstand von der Glückseligkeit, im Gegenteil sie bringt die größte Nähe zu ihr hervor. Also ist die Hoffnung keine Tugend. 17. Genauso wie sich die Hoffnung auf die zukünftigen Dinge bezieht, so die Erinnerung auf die vergangenen. Die Erinnerung an die vergangenen Dinge aber ist keine Tugend, also auch nicht die Hoffnung auf die zukünftigen. Dagegen spricht: 1. Durch die Tugenden werden wir in die Glückseligkeit hineingeführt, denn das Glück ist der Lohn der Tugend,15 wie es im 1. Buch der Ethik heißt. Die Hoffnung führt aber in die Glückseligkeit ein; es wird nämlich in Hebr. 6, 18 f. gesagt, daß wir an der anbrechenden Hoffnung festhalten und zum Inneren des Vorhangs voranschreiten, 12 Aristoteles, Eth. Nic. I, 9; 1099 a 7. 13 Thomas bezieht sich vielmehr auf: Aristoteles, Eth. Nic. IX, 7; 1168

a 18 f. 14 Vgl. De virt. q. 4 a. 1 obj. 2. 15 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. I, 10; 1099 b 16 f.

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d. h. zur himmlischen Glückseligkeit,16 wie die Glosse dazu darlegt. Die Hoffnung ist also eine Tugend. 2. In 1 Kor. 13, 13 heißt es: »Jetzt aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei«. Der Glaube und heilige Liebe sind aber Tugenden, also auch die Hoffnung. 3. Gregor der Große sagt im 1. Buch von Moralische Betrachtungen zum Buch Ijob, daß diese drei Tugenden durch die drei Töchter Ijobs bezeichnet werden: Glaube, Hoffnung und Liebe.17 Sie ist also eine Tugend. 4. Die Gesetzesvorschriften sind um der Tugendakte willen gegeben. Viele Vorschriften drehen sich aber um den Akt der Hoffnung. In Ps. 37 (36), 3 heißt es nämlich: »Hoffe auf Gott und tue das Gute«. Die Hoffnung ist also eine Tugend. Antwort: Weil die Habitus durch die Akte erkannt werden und die Akte durch die Gegenstände,18 muß man, um zu erkennen, ob die Hoffnung eine Tugend ist, sich den Charakter eines solchen Aktes vor Augen führen. Es ist nämlich offenkundig, daß das Hoffen eine gewisse Bewegung der strebenden Kraft einschließt, die sich auf das Gute richtet, nämlich nicht als ein solches, das man hat, etwa Freude und Genuß, sondern als ein solches Gutes, dem man nachkommen soll, wie z. B. auch die Sehnsucht und die Begierde. Dennoch unterscheidet sich die Hoffnung von der Sehnsucht in zwei Punkten: Erstens nämlich, weil die Sehnsucht sich allgemein auf alles Gute bezieht und daher dem begehrlichen Strebevermögen zugeschrieben wird. Die Hoffnung bezieht sich aber auf ein nur mühevoll erreichbares Gutes, weil man es auch nur unter Schwierigkeit erlangen kann. Deshalb wird die Hoffnung dem zornmütigen Strebevermögen zugeschrieben. 16 Vgl. Glossa interlin. in Hebr. 6, 19 (ed. princeps, 4, 432 b); Petrus Lombardus, Coll. in ep. Pauli in Hebr. 6, 19 (PL 192, 446 D). 17 Vgl. Gregor der Große, Moralia I, 27 (CCSL 143, 45). 18 Vgl. Aristoteles, De an. I, 2; 405 a 27 f.

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Zweitens, weil die Sehnsucht sich auf ein absolutes Gutes ohne Rücksicht auf seine Möglichkeit und Unmöglichkeit bezieht. Die Hoffnung richtet sich aber auf etwas Gutes als auf das, was man erlangen kann, denn sie schließt ihrem Wesen nach eine gewisse Sicherheit des Erlangens ein. Deshalb werden im Gegenstand der Hoffnung vier Aspekte betrachtet: Erstens nämlich, daß er ein Gutes ist, durch das sie sich von der Furcht unterscheidet; zweitens, daß er zu einem zukünftigen Guten gehört – dadurch unterscheidet sie sich von der Freude und vom Genuß; drittens daß er zum schwer erreichbaren Guten gehört – dadurch unterscheidet sie sich von der Sehnsucht; viertens, daß er zum möglichen Guten gehört – dadurch unterscheidet sie sich von der Verzweiflung. Es ist aber möglich, daß jemand etwas auf zweifache Weise besitzt: Auf die eine Weise aus eigener Kraft; auf die andere Weise durch die Hilfe eines anderen – solche Möglichkeiten sind nämlich durch Freunde gegeben; wir nennen sie Möglichkeiten in gewisser Hinsicht,19 wie es Aristoteles im 3. Buch der Ethik deutlich macht. Manchmal hofft also der Mensch, etwas aus eigener Kraft, manchmal aber auch durch fremde Hilfe zu erlangen – eine solche Hoffnung besteht als Erwartung, sofern der Mensch sich auf fremde Hilfe bezieht. Dann ist es notwendig, daß die Bewegung der Hoffnung sich auf zwei Gegenstände bezieht, nämlich auf das Gute, das letztendlich erlangt werden soll und auf das Gute, auf dessen Hilfe man sich stützt. Das höchste Gute aber, das die ewige Glückseligkeit ist, kann der Mensch nur durch die göttliche Hilfe erlangen, wie es in Röm. 6, 23 heißt: »Die Gnade Gottes ist das ewige Leben«. Darum hat die Hoffnung, das ewige Leben zu erlangen, zwei Gegenstände, nämlich das ewige Leben selbst, das jemand erhofft und die göttliche Hilfe, auf die er hofft. Genauso hat auch der Glaube zwei Gegenstände, nämlich den Inhalt, den er glaubt und die erste Wahrheit, der er entspricht. Der Glaube hat aber nur insofern den Charakter der Tugend, als er aufgrund des Zeugnisses der ersten Wahrheit innewohnt, damit 19 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. III, 5; 1112 b 27 f.

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man ihm glaubt, was durch sie offenbar wird – so gemäß Gen. 15, 6: »Abraham hat Gott geglaubt und es wurde ihm als Gerechtigkeit angerechnet«. Deshalb hat auch die Hoffnung den Charakter der Tugend daraus, daß der Mensch der Hilfe der göttlichen Macht anhängt, um das ewige Leben zu erlangen. Wenn nämlich jemand sich auf menschliche Hilfe stützt – sei es auf sich oder auf jemand anderen –, um das vollkommene Gut ohne die göttliche Hilfe zu erlangen wäre dies gemäß Jer. 17, 5 ein Fehler: »Verflucht sei der Mensch, der sich auf den Menschen verläßt und Fleisch zu seinem Arme macht«. Daraus folgt also: Genauso wie der formale Gegenstand des Glaubens die erste Wahrheit ist, durch die der Gläubige wie durch ein Vermittelndes dem zustimmt, was geglaubt wird; das aber ist der materiale Gegenstand. So ist auch der formale Gegenstand der Hoffnung die Hilfe der göttlichen Macht und Barmherzigkeit, wegen der sich die Bewegung der Hoffnung auf die erhofften Güter, die der materiale Gegenstand der Hoffnung sind, richtet. Wie also all das, was material geglaubt wird, sich auf Gott bezieht, obwohl einiges davon geschaffen ist, so glauben wir, daß alle Geschöpfe von Gott sind, und daß der Leib Christi vom Sohn Gottes in der Einheit der Person angenommen ist. Auf diese Weise ist auch alles, was material erhofft wird, auf das eine letzte Erhoffte hingeordnet, welches das Genießen Gottes20 ist. In der Hinordnung auf dieses Genießen erhoffen wir nämlich, von Gott nicht nur für geistliche, sondern auch für körperliche Wohltaten Hilfe zu erlangen. Zu 1. Sofern die Hoffnung ihre Wurzel in der göttlichen Hilfe hat, kann sie sich nicht auf das Schlechte beziehen, denn keiner kann zu sehr auf Gott hoffen. Daß aber jemand in schlechter Weise hofft, kommt vor, weil er nicht Gott anhängt, sondern seiner eigenen Kraft oder einer falschen Meinung, beispielsweise wenn er im voraus annimmt, gerettet zu sein, obwohl er in der Sünde verharrt. Zu 2. Wenn man sagt, daß die Hoffnung eine Erwartung der zukünftigen Glückseligkeit ist, die aus der Gnade und den Verdiensten hervorgeht, kann dies in zweifacher Weise verstanden werden. 20 Übersetzung von fruitio Dei.

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Auf die eine Weise wird sie als Erwartung so verstanden, daß sie aus den Verdiensten seitens des Erwartenden hervorgeht, d. h. daß eine solche Erwartung im Menschen durch vorangehende Verdienste verursacht ist; aus diesem Verständnis geht der Einwand hervor, der falsch ist. Auf die andere Weise kann sie als eine Erwartung so verstanden werden, daß die Erwartung von den Verdiensten seitens der erwarteten Sache herrührt. Darin liegt der wahre Sinn: Wir erwarten nämlich, daß wir durch die Gnade Gottes und die guten Verdienste die Glückseligkeit erlangen. Zu 3. Diesem Sinn gemäß gehen die Verdienste nicht notwendigerweise der Hoffnung voraus, weder wirklich noch habituell. Vielmehr gehen sie aus der erhofften Sache, nämlich der Glückseligkeit, hervor. Deshalb kann es sein, daß der Hoffende Verdienste weder wirklich noch habituell hat, sondern nur dem Vorsatz nach. Zu 4. Die Hoffnung ist, sofern sie sich auf den materialen Gegenstand bezieht, eine Verfassung des Unvollkommenen, weil etwas erhofft wird, was man noch nicht besitzt. Sofern sie sich aber auf den formalen Gegenstand bezieht, d. h. auf die göttliche Hilfe, ist sie eine Verfassung des Vollkommenen. Die Vollkommenheit des Menschen besteht nämlich darin, daß er Gott anhängt. Ähnlich verhält es sich beim Glauben, dem eine Unvollkommenheit eigen ist, denn er sieht noch nicht, was er glaubt. Er hat aber eine Vollkommenheit dadurch, daß er dem Zeugnis der ersten Wahrheit folgt. Aus diesem Grund ist sie eine Tugend. Zu 5. Die Hoffnung ist eine Leidenschaft, sofern sie eine Bewegung des sinnenhaften Strebevermögens ist, dessen Gegenstand Gott nicht sein kann. Deswegen wird eine solche Hoffnung nicht eine Tugend genannt, sondern nur jene, die eine Bewegung des Geistes und daher empfänglich für Gott ist. Zu 6. Keine Tugend darf wegen ihrer Eigenart von einer Leidenschaft her benannt werden, mit Ausnahme der theologischen, denn die verstandesmäßigen Tugenden gehören zur erkennenden Kraft, die Leidenschaften aber sind in der strebenden Kraft der Seele. Die sittlichen Tugenden bestehen als Mitte der Leidenschaften. Darum wird die sittliche Tugend nicht unabhängig von einer Leidenschaft benannt, sondern entsprechend der Zügelung der Leidenschaften,

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wie z. B. dem Maßhalten, der Tapferkeit und ähnlichen Tugenden. Die Bewegung des menschlichen Geistes – wie auch immer sie Gott berührt – gehört aber zur Tugend. Darum werden die Namen der einfacheren Bewegungen bzw. der Leidenschaften den theologischen Tugenden angepaßt. Weil der Gegenstand der theologischen Tugenden Gott als das höchste Gute ist, steht fest, daß die Leidenschaften, deren Gegenstand das Übel ist, nicht theologische Tugenden bezeichnen können. Ähnlich ist es im Fall der theologischen Tugend während des Pilgerstandes, d. h. also noch vor dem Gericht: Die Leidenschaften, deren Gegenstand das gegenwärtige Gute ist, wie der Genuß und die Freude, sind nicht gleichzeitig Namen irgendwelcher Tugenden, vielmehr gehören sie zur Glückseligkeit; deshalb wird der Genuß als eine der Gaben der Glückseligkeit angeführt. Die Sehnsucht schließt zwar eine Bewegung in die Zukunft ein, aber ohne ein gegenwärtiges Anhängen oder eine geistige Verbindung zu Gott selbst. Die Sehnsucht bezeichnet darum auch nicht eine Tugend. Es ergibt sich also, daß allein die Hoffnung und die Liebe auch theologische Tugenden bezeichnen. Zu 7. Die sittlichen Tugenden bestehen in der Mitte, weil es zur sittlichen Tugend gehört, sich mit dem Maßstab der Vernunft in Bezug auf das Eigene und auf den Gegenstand selbst, d. h. hinsichtlich der menschlichen Leidenschaften und der Handlungen, zu befassen. Alles dem rechten Maße Unterstehende21 aber, sofern es ein solches ist, hat den Charakter einer Mitte. Was aber von der Richtnorm abweicht, übersteigt sie oder bleibt hinter ihr zurück. Man sagt auch, daß die verstandesmäßige Tugend darin besteht, daß sie mit dem Wahren zu tun hat, welches das Gute des Verstandes ist. Die Wahrheit des menschlichen Verstandes hat ihren Maßstab vom Wesen der Sache, denn dadurch, daß die Sache ist oder nicht ist, kommt die wahre oder falsche Meinung zustande. Deshalb besteht auch die verstandesmäßige Tugend hinsichtlich des eigenen Gegenstandes in der Mitte, genauso wie nämlich der Mensch von einem Ding nur das begreift, was es ist, nicht mehr und nicht weniger. 21 Übersetzung von regulatum.

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Die theologische Tugend hat aber den ersten Maßstab selbst und nicht etwas nur Gemessenes zum Gegenstand. Darum genügt es, sich auf irgendeine Weise mit dem Maßstab für den Charakter der Tugend zu befassen, denn hinsichtlich der Handlungen besteht der eigene und formale Gegenstand der theologischen Tugend nicht in der Mitte. Von seiten des materialen Gegenstandes kann er in der Mitte bestehen. Dies trifft z. B. zu, wenn der katholische Glaube hinsichtlich der göttlichen Personen den Weg zwischen der Häresie des Sabellius, die die göttlichen Personen ineinander übergehen läßt und der Häresie des Arius, der die Substanz abtrennt,22 nimmt. Auf dieselbe Weise besteht material betrachtet auch der Gegenstand der Hoffnung in der Mitte, sofern nämlich jemand hofft, die Glückseligkeit so oder anders zu erlangen. Von seiten des formalen Gegenstandes, der die göttliche Hilfe ist, besteht er nicht in der Mitte, denn keiner kann sich zu sehr auf die göttliche Hilfe stützen. Zu 8. Das angemessene Gute bewegt das Strebevermögen. Es wird nämlich nicht auf natürliche Weise das erstrebt, was nicht angemessen ist. Daß aber die ewige Glückseligkeit das angemessene Gute für uns ist, das kommt durch die Gnade Gottes zustande. Deshalb ist die Hoffnung, die sich auf dieses Gute so ausrichtet, als wenn es dem Menschen, der es haben soll, entspricht, ein von Gott eingegossenes Geschenk. Zu 9. Gott über alles zu lieben, kann in zweifacher Weise verstanden werden. Auf die eine Weise, sofern das göttliche Gute das Prinzip und das Ziel des ganzen natürlichen Seins ist. So lieben nicht nur die vernunftbegabten Wesen Gott über alles, sondern auch die Tiere und das Leblose, sofern sie lieben können, denn für jeden einzelnen Teil ist das Gute des Ganzen liebenswerter als das besondere Gute. Deshalb setzt sich die Hand von Natur aus einem Schlag zum Wohl des ganzen Körpers aus. Diese natürliche Liebe zu Gott wird aber von den Menschen durch die Sünde verkehrt. Deshalb konnte der 22 Thomas spricht hier die Kernaussagen der modalistisch-monarchianistischen Trinitätslehre des Sabellius im Gegensatz zur Lehre von der subordinatianischen Wesensverschiedenheit zwischen Vater und Sohn bei Arius an.

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Mensch im Stand der unversehrten Natur Gott über alles lieben, wie es das Gebot vorgibt. Auf die andere Weise kann jemand Gott über alles lieben, sofern Gott der Gegenstand der Glückseligkeit ist, und sofern eine gewisse Gemeinschaft des vernünftigen Geistes mit Gott in einer gewissen geistlichen Einheit entsteht. Eine solche Liebe ist der Akt der heiligen Liebe, den kein Geschöpf ohne die Gnade vollziehen kann. Zu 10. Die Tugend neigt zu ihrem Akt durch Zügelung,23 wie Cicero sagt. Deshalb sind die Gewißheit der Hoffnung und der anderen Tugenden nicht auf die Erkenntnis des Gegenstandes oder der je eigenen Prinzipien zu beziehen, sondern nur auf die unfehlbare Neigung im Akt. Zu 11. Die heilige Liebe bewirkt die Einheit im Gemüt, d. h. daß der Liebende den Freund gewissermaßen wie ein anderes Selbst und Gott als mehr als sich selbst ansieht. Dennoch kann es einen Abstand zur realen geliebten Sache geben. Auf diese Weise kann die heilige Liebe zusammen mit der Hoffnung bestehen. Zu 12. Die Hoffnung besitzt Vollkommenheit zusammen mit einer gewissen Unvollkommenheit. Von seiten der Vollkommenheit hat sie einen vollkommenen Charakter der Tugend, und in dieser Hinsicht ist sie in Christus in größter Fülle gewesen, denn er hat sich am vollkommensten auf die göttliche Hilfe gestützt. Von seiten der Unvollkommenheit haben ihm Hoffnung und Glaube gefehlt. Zu 13. Die Hoffnung macht die Seele nicht krank, sondern sie ist eher Grund der Freude, sofern sie bewirkt, daß eine noch unerreichbare24 Sache in gewisser Weise gegenwärtig ist in der sicheren Zuversicht, sie zu erlangen. Deshalb sagt auch Paulus in Röm. 12, 12: »Seid fröhlich in der Hoffnung«. Die Verzögerung der noch nicht eingetretenen Sache ist es, die irgendwann krank macht. Zu 14. Es gibt eine zweifache Freude: zum einen nämlich am Gegenstand des Aktes, zum anderen am Akt selbst. Die erste Freude aber ist nicht eine Eigentümlichkeit der Tugend, sofern eine Tugend, zu der der Schmerz über ihren Gegenstand gehört, nämlich die Reue. Die zweite Freude aber, die im Akt selbst 23 Vgl. Cicero, De inv. I, 56 (ed. Nüßlein, 162 f.). 24 Übersetzung von separatam.

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liegt, ist eine Eigenart der Tugend, weil für jeden, der eine Tugend hat, die Tätigkeit erfreulich ist, die dem eigenen Habitus entspricht. Deshalb freut sich der Bereuende über den Schmerz. So verursacht also die Hoffnung, sofern sie die Freude über eine noch nicht erreichbare Sache verursacht, nicht Freude durch sich selbst, sondern durch etwas anderes, d. h., sofern sie bewirkt, dies wie etwas Gegenwärtiges anzusehen. Sofern aber sie die Freude über ihren eigenen Akt verursacht, verursacht sie so die Freude durch sich selbst. Zu 15. Einen schwierigen Akt zu vollbringen, kann in zweifacher Weise verstanden werden. Auf die eine Weise, daß sie eine Schwierigkeit im Akt hervorbringt. In diesem Sinn argumentiert der Einwand. So aber bewirkt die Hoffnung nicht einen schwierigen Akt, weil sie die Schwierigkeit für den Akt nicht erst hinzuzieht, sondern sie eher mindert. Auf die andere Weise kann, einen schwierigen Akt zu vollbringen, verstanden werden, sofern die Menschen wegen der Hoffnung bereit sind, Schwierigkeiten auf sich nehmen. Zu 16. Der Abstand zwischen dem Zielpunkt oder dem Ausgangspunkt ist in jeder Bewegung anzutreffen. Dennoch wird die Bewegung nicht dadurch in ihrer Art bestimmt, sondern eher vom Endpunkt her. Daraus folgt aber nicht, daß, wenn die Bewegung eine Distanz überwindet, die größere Bewegung auch mehr Distanz überwindet. Diese Wissenschaft des Beweisens greift nämlich nur bei den Gegenständen, die ihr an sich zukommen. Wir sehen aber, daß je mehr die natürliche Bewegung sich dem Ziel nähert, sie um so stärker beabsichtigt wird.25 Ähnlich ist es auch bei der Hoffnung. Zu 17. Die Erinnerung schließt kein Anhängen an etwas ein. Sie kann darum nicht den Charakter einer Tugend haben, wie es bei der Hoffnung der Fall ist. Es besteht also keine Ähnlichkeit.

25 Vgl. In de caelo, 173–174.

2. Artik el Die zweite Frage lautet: Ist die Hoffnung im Willen als ihrem Träger? 26 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Der Gegenstand der Hoffnung ist das schwer erreichbare Gute. Dieses aber ist der Gegenstand des zornmütigen Strebevermögens. Also ist die Hoffnung im zornmütigen Strebevermögen und nicht im Willen. 2. Die heilige Liebe ist die vollkommenste unter den Tugenden. Sie genügt also für die Vervollkommnung nur eines Vermögens. Die heilige Liebe aber ist im Willen. Also ist die Hoffnung nicht im Willen. 3. Wir können nicht deshalb Mehreres gleichzeitig verstehen, weil der Verstand nicht verschiedene geistige Erkenntnisbilder zugleich aufnehmen kann, genauso wie der Körper nicht verschiedenen Gestalten annehmen kann,27 wie Algazel sagt. Im gleichen Sinne kann das eine Vermögen nicht gleichzeitig verschiedene Habitus wirklich so aufnehmen, daß es im Sinne verschiedener Habitus28 wirklich tätig ist. Ein Akt der Hoffnung kann aber gleichzeitig mit einem Akt der heiligen Liebe vollzogen werden. Heilige Liebe und Hoffnung können also nicht gleichzeitig in einem Vermögen sein. Die heilige Liebe ist aber im Willen, also ist die Hoffnung nicht im Willen. 4. Die Hoffnung ist eine sichere Erwartung. Die Gewißheit gehört aber zur Erkenntniskraft. Also ist die Hoffnung in der Erkenntniskraft und nicht im Willen. Dagegen spricht: Die Hoffnung geht aus den Verdiensten hervor. Die Verdienste aber gehören zum Willen. Also ist die Hoffnung im Willen.

26 Paralleltexte: Sum. theol. II–II, q. 18 a. 1; Sent. III, d. 26 q. 1 a. 5 und q. 2 a. 2 ad 1. 27 Vgl. Algazel, Met. I, 2, 4 (ed. Muckle, 30). 28 Übersetzung von utrumque.

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Antwort: Die Hoffnung ist, wie gesagt,29 eine theologische Tugend. Deshalb ist ihr Gegenstand Gott. Keine sinnenhafte Kraft kann sich aber auf diesen Gegenstand, der Gott ist, ausrichten, weil die Sinne das Körperliche nicht überschreiten. Darum kann die Hoffnung nicht in einer sinnlichen Kraft gründen. Es steht aber fest, daß die Hoffnung zur Strebekraft gehört, weil, wie im vorangegangenen Artikel ausgeführt, deren Gegenstand das Gute ist. Deshalb ist es notwendig, daß sie in der Strebekraft der Vernunft ist, die gemäß Aristoteles im 3. Buch von Über die Seele der Wille ist.30 Deshalb ist die Hoffnung im Willen als ihrem Träger. Auf diese Weise wird aber das vernünftige Strebevermögen nicht in ein zornmütiges und ein begehrliches Strebevermögen unterteilt, wie einige behauptet haben, denn der Gegenstand des Willens ist das Gute gemäß der allgemeinen Bestimmung des Guten, die der Verstand, aber nicht die Sinne erfassen können. Deshalb wird das sinnliche Strebevermögen, dessen Gegenstand das Gute gemäß seiner partikulären Bestimmung ist, in das zornmütige und das begehrliche Strebevermögen eingeteilt. Dies geschieht entsprechend den verschiedenen Bestimmungen des sinnenhaften Guten, das entweder lustvoll für die Sinne ist – darauf ist das begehrliche Strebevermögen hingeordnet –, oder eine eigene Höhe hinsichtlich der Hindernisse gegen das Lustvolle hat; dies ist der Gegenstand des zornmütigen Strebevermögens. Darum werden das zornmütige und das begehrliche Strebevermögen nicht im höheren Strebevermögen angesetzt. Der Träger der Hoffnung ist also nicht das zornmütige Strebevermögen, sondern der Wille. Zu 1. Die Hoffnung, von der wir sprechen, bezieht sich auf ein schwer erreichbares verstandesmäßiges Gutes, das nicht der Gegenstand eines speziellen Vermögens ist. Der Wille in sich selbst richtet sich auf den allgemeinen Charakter des Guten.

29 Vgl. De virt. q. 1 a. 12 c u. a. 30 Vgl. Aristoteles, De an. III, 10; 433 a 23 f.

3. Artikel

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Zu 2. Die heilige Liebe vervollkommnet den Willen in vollkommener Weise hinsichtlich einer seiner Bewegungen: das Lieben. Er bedarf aber einer anderen Vollkommenheit hinsichtlich einer anderen Bewegung, nämlich das Hoffen. Zu 3. Wenn vieles auf eines hingeordnet ist, können sie gleichzeitig verstanden werden. Ähnlich kann auch die Bewegung der Hoffnung zugleich mit der Bewegung der heiligen Liebe sein, weil sie aufeinander hingeordnet sind. Zu 4. Die Gewißheit der Hoffnung ist von der Gewißheit des Glaubens abgeleitet. Sofern nämlich die Bewegung der Strebekraft von der Erkenntniskraft gelenkt wird, hat sie einen gewissen Anteil an deren Gewißheit. 3. Artik el Die dritte Frage lautet: Ist die Hoffnung früher als die heilige Liebe?31 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Ambrosius sagt zu folgender Stelle Lk. 17, 6 »Wenn ihr einen Glauben hättet wie ein Senfkorn etc.«: »Vom Glauben kommt die heilige Liebe und aus der heiligen Liebe die Hoffnung«.32 Der Glaube aber ist früher als die heilige Liebe. Also ist die heilige Liebe früher als die Hoffnung. 2. Im Enchiridion sagt Augustinus, daß »der Glaube ohne heilige Liebe unnütz ist. Die Hoffnung kann aber ohne heilige Liebe nicht sein«.33 Wenn aber die Hoffnung der heiligen Liebe vorausginge, könnte sie, genauso wie der Glaube, zwar ohne diese sein, aber sie wäre unnütz. Also ist die Hoffnung nicht früher als die heilige Liebe. 3. Augustinus sagt im 12. Buch von Über den Gottesstaat, daß die Bewegung zum Guten und die Gemütsbewegung von der Liebe und der heiligen Liebe kommen. Das Hoffen aber, sofern es ein Akt der Hoffnung ist, ist eine gewisse Bewegung und lobenswerte Zuneigung. Es wird also von der heiligen Liebe abgeleitet. Auf diese Weise ist darum die heilige Liebe früher als die Hoffnung. 31 Paralleltexte: Sum. theol. II–II, q. 17 a. 1; Sent. III, d. 26 q. 2 a. 1. 32 Ambrosius, Expos. ev. sec. Luc. VIII, 30 (CSEL 32/4, 405 f.). 33 Augustinus, Enchiridion 2, 8 (CCSL 46, 52).

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4. Die Hoffnung geht, wie schon gesagt,34 mit der Sehnsucht einher. Sehnsucht gibt es aber nur hinsichtlich eines geliebten Guten. Die Hoffnung setzt also die Liebe voraus und ist darum früher als die heilige Liebe. 5. Unter den Gemütsbewegungen der Seele ist die Liebe die erste. Aus ihr leiten sich alle Tätigkeiten und Gemütsbewegungen der Seele her,35 wie Dionysius deutlich macht. Die Hoffnung schließt aber eine Gemütsbewegung der Seele ein. Die heilige Liebe aber, die die Liebe ist, ist früher als die Hoffnung. 6. Die Hoffnung oder die Sehnsucht gibt es nur in Bezug auf das eigene Gute. Etwas Gutes wird aber erst für den Strebenden durch die Liebe etwas Eigenes, denn auf diese Weise wird das Übereinstimmende wiedergegeben. Also setzen Hoffnung und Sehnsucht die Liebe voraus. 7. Im 14. Buch von Über den Gottesstaat sagt Augustinus, daß der rechte Wille zur heiligen Liebe gehört.36 Der rechte Wille geht aber der Hoffnung voraus. Darum geht die heilige Liebe der Hoffnung voraus. 8. Das eine von zwei gleichzeitig bestehenden Dingen ist nicht früher als das andere. Glaube, Hoffnung und heilige Liebe sind aber gleichzeitig, weil der Mensch sie, wie Gregor der Große in seinen Predigten zu Ezechiel sagt, in gleicher Weise besitzt.37 Deshalb ist die Hoffnung nicht früher als die heilige Liebe. 9. Dasselbe Ding ist nicht früher als es selbst. Die Hoffnung scheint aber dasselbe für die heilige Liebe zu sein, weil beide einen Gegenstand haben, nämlich das höchste Gute. Also ist die Hoffnung nicht früher als die heilige Liebe. 10. Petrus Lombardus sagt im 3. Buch der Sentenzen, dist. 26, daß die Hoffnung aus den Verdiensten hervorgeht, die nicht nur dem erhofften Gegenstand vorausgehen, sondern auch der Hoffnung, der die heilige Liebe vorausgeht. Daher ist Hoffnung nicht früher als die heilige Liebe. 34 35 36 37

Vgl. De virt. q. 4 a. 1 c. Vgl. Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 20 (Dion. I, 301). Vgl. Augustinus, De civ. Dei XIV, 7, 2 (CCSL 48, 422). Vgl. Gregor der Große, Hom. in Ez. II, 10, 17 (CCSL 142, 392).

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11. Der Hoffnung ist die Verzweiflung entgegengesetzt, der heiligen Liebe aber jede Todsünde. Der Mensch gerät aber früher in die Todsünde als in die Verzweiflung. Also ist die heilige Liebe früher als die Hoffnung. 12. Die Ordnung der Habitus und der Akte entspricht der Ordnung der Gegenstände. Das Gute, das der Gegenstand der heiligen Liebe ist, ist jedoch früher als das schwer erreichbare Gute, das der Gegenstand der Hoffnung ist, weil das schwer Erreichbare sich nur als Hinzufügen zum Guten verhält. Deshalb ist die heilige Liebe früher als die Hoffnung. 13. Alles, was zur Vorzüglichkeit von etwas Unvollkommenem in einer Gattung gehört, gehört auch zum Vollkommenem in jener Gattung. Es steht aber fest, daß der Hoffnung eine unvollkommene Liebe vorausgeht. Also geht vielmehr die vollkommene Liebe, die die heilige Liebe ist, der Hoffnung voraus. Dagegen spricht: 1. In Mt. 1, 2 heißt es: »Abraham hat Isaak gezeugt, Isaak aber hat Jakob gezeugt«. Eine Glosse kommentiert dazu: Das heißt, daß der Glaube die Hoffnung und die Hoffnung die heilige Liebe zeugt.38 Der Zeugende aber ist durch den früher Gezeugten. Also ist die Hoffnung früher als die heilige Liebe. 2. Dazu heißt es in den Psalmen: »Hoffe auf Gott und tue das Gute«.39 Eine Glosse sagt dazu: »Die Hoffnung ist der Zugang zum Glauben und der Anfang des menschlichen Heils«.40 So scheint es, daß die Hoffnung früher als der Glaube ist. Der Glaube aber ist früher als die heilige Liebe, also auch die Hoffnung. 3. Der Apostel sagt in 1 Tim. 1, 5 : »Das Ziel der Predigt ist die Liebe aus reinem Herzen und gutem Gewissen«. Eine Glosse kommentiert dazu: »Das ist die Hoffnung«.41 So scheint es, daß die hei38 Glossa interlin. in Mt. 1, 2 (ed. princeps, 4, 3 b–4 a); Petrus Pictavensis, Sent. III, 29 (PL 211, 1133 B). 39 Ps. 37 (36), 3. 40 Petrus Lombardus, Comm. in ep. Pauli (PL 192, 327 C); ders. Comm. in Ps. 36, 3 (PL 191, 368 B); Cassiodorus, Expos. in Ps. 36, n. 3 (PL 70, 258 B; CCSL 97, 326). 41 Petrus Lombardus, Coll. in ep. Pauli in 1 Tim. 1, 5 (PL 192, 327 C

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lige Liebe aus der Hoffnung hervorgeht. Die Hoffnung ist also früher als die heilige Liebe. 4. Augustinus sagt im 1. Buch von Über die Dreifaltigkeit, daß man nur das liebt, wovon man sich erhofft, hingelangen zu können.42 Und das, was jemand nicht erhofft, liebt er entweder gar nicht oder nur halb. Also setzt die Liebe die Hoffnung voraus. 5. Früher ist das, dessen Folge nicht umgekehrt werden kann.43 Die Hoffnung aber ist von dieser Art; im Pilgerstand nämlich hat jeder, der die heilige Liebe hat auch die Hoffnung, aber nicht umgekehrt. Also ist die Hoffnung früher als die heilige Liebe. Antwort: Etwas wird entweder, weil es den Begriff eines Prinzips erfüllt oder weil es dem Prinzip näher steht, ›früher‹ genannt. Es gibt nun aber zwei innere Prinzipien eines Dinges: die Materie und die Form. Gemäß deren Unterscheidung wird etwas in zweifacher Weise ›früher‹ genannt: Auf die eine Weise ist nämlich etwas hinsichtlich seiner Vollkommenheit früher als ein anderes, so wie der Akt früher ist als die Potenz bzw. das Vollkommene als das Unvollkommene; diese Weise des Früherseins entspricht dem formalen Prinzip. Auf die andere Weise ist aber etwas früher auf dem Weg der Entstehung und in der Zeit; auf diese Weise ist im selben Ding das Vermögen früher als der Akt bzw. das Unvollkommene früher als das Vollkommene. Das Vollkommene ist aber auch einfachhin und allgemein der Zeit nach früher, denn das Unvollkommene wird nur von etwas vorher bestehenden Vollkommenen bewegt; jenes aber entspricht dem materialen Prinzip. Gemäß der ersten Weise des Früherseins ist der Natur nach die heilige Liebe früher als die Hoffnung; gemäß der

und 329 D); vgl. Glossa ordin. in 1 Tim. 1, 5 (ed. princeps, 4, 405 a); vgl. Augustinus, Enarr. in Ps. 31, Enarr. 2, n. 5 (PL 36, 261) u. a. 42 Thomas bezieht sich vielmehr auf: Augustinus, Serm. Lamberti 4 (PL suppl. 2, col. 760). 43 Übersetzung von prius est a quo non convertitur consequentia subsistendi.

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zweiten Weise geht die Hoffnung in einem Menschen der heiligen Liebe voran. Um dies zu verstehen, muß man wissen, daß alle Gemütsbewegungen der Seele, die eine Bewegung des Strebevermögens sind, im Verhältnis zu den natürlichen Bewegungen stehen, weil die natürliche Bewegung aus der natürlichen Neigung hervorgeht, die das natürliche Streben genannt wird. In ähnlicher Weise gehen die Bewegungen der Zuneigungen der Tiere aus der tierischen Neigung hervor, die ein tierisches Strebevermögen ist. Bei den natürlichen Bewegungen finden wir nämlich erstens ein Prinzip der Bewegung selbst, die eine Einprägung durch seine nichtbelebte Form ist, z. B. wenn etwas schwer oder leicht wird. Zweitens gibt es eine natürliche Bewegung, die aus einer solchen Form hervorkommt, z. B. wenn der Körper aufsteigt und absteigt. Drittens gibt es die Ruhe am eigenen Ort des Dinges. Ähnlich ist es beim Streben eines Lebewesens: Erstens gibt es nämlich die Einprägung seines Strebens nach dem Guten. Dies ist die Liebe, die das Geliebte mit dem Geliebten eint. Daraus folgt aber zweitens: Wenn das geliebte Gute nicht gegenwärtig ist, so daß das Streben sich durch die Bewegung der Sehnsucht oder der Hoffnung darauf ausrichtet. Drittens aber folgt die Freude und der Genuß, wenn jemand die geliebte Sache ganz erreicht hat. Wie also die natürliche Bewegung und die natürliche Ruhe aus der Form hervorgehen, so geht jede Gemütsbewegung der Seele aus der Liebe hervor. Deshalb muß der Unterscheidung der Liebe entsprechend, die Unterscheidung sich auch auf die übrigen Gemütsbewegungen der Seele erstrecken. Es gibt nun eine doppelte Liebe: Die eine nämlich ist unvollkommen, die andere hingegen vollkommen. Unvollkommen ist die Liebe zu einer Sache, wenn jemand eine Sache liebt, nicht weil er ihr Gutes um ihrer selbst willen will, sondern weil er deren Gutes nur für sich will. Diese Liebe wird von einigen Begierde benannt, z. B. wenn wir den Wein lieben, indem wir ihn nur um seiner Süße willen wollen, oder wenn wir einen Menschen lieben wegen unseres Nutzens oder Genusses. Die andere Liebe aber ist die vollkommene, durch die das Gute von etwas in sich selbst geliebt wird, z. B. wenn ich in der Liebe zu jemanden will, daß er das Gute besitzt, auch wenn mir dadurch

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kein Vorteil erwächst.44 Diese Liebe wird die Freundschaftsliebe genannt, durch die jemand um seiner selbst willen geliebt wird. Daher ist sie, wie es im 8. Buch der Ethik heißt, die vollkommene Freundschaft.45 Die heilige Liebe ist aber nicht irgendeine Liebe zu Gott. Vielmehr ist sie die vollkommene Liebe, durch die Gott in sich selbst geliebt wird. Dazu aber, daß jemand das göttliche Gute um seinetwillen liebt, wird er sowohl durch die Güter, die von Gott herkommen, und die er für sich will, veranlaßt als auch durch die Übel, die er meidet, solange er Gott anhängt. In Bezug auf das Meiden der Übel gehört zu dieser Liebe die Furcht; in Bezug aber auf die Erlangung von Gütern gehört zur Selbstliebe die Hoffnung, die eine Bewegung ist, die, wie gesagt,46 sich auf die Erlangung von etwas ausrichtet. Beide werden darum mit einem eigenen Argument aus der unvollkommenen Liebe zu Gott abgeleitet. Deswegen geht die Furcht auf dem Weg der Entstehung und der Zeit der heiligen Liebe voraus, und sie führt sie auch in sie hinein, wie Augustinus in seinem Kommentar zum Ersten Johannesbrief sagt: Die Hoffnung führt auch auf folgende Weise in die Liebe hinein: In der Zeit, in der jemand sich erhofft, von Gott etwas Gutes zu erlangen, wird er dazu geführt, daß er Gott um seiner selbst willen liebt.47 Zu 1. Ambrosius erwidert an derselben Stelle, daß »sie durch einen heiligen Kreislauf in sich zurückgegossen werden«,48 weil nämlich, wenn jemand durch die Hoffnung schon einmal in die heilige Liebe hineingeführt wurde, er dann auch vollkommener hofft und uneigennütziger sich fürchtet, aber auch fester glaubt. Dadurch, daß er sagt, daß ›es eine Hoffnung aus der heiligen Liebe gibt‹, spricht Übersetzung von nihil inde mihi accedat. Aristoteles, Eth. Nic. VIII, 4; 1156 b 9 f. Vgl. De virt. q. 4 a. 1 c. Vgl. Augustinus, In Ioh. ep. IX, 4 und 5 (PL 35, col. 2047 f.). Augustinus legt diesen Gedanken aus der Perspektive der Furcht dar. 48 Ambrosius, Expos. ev. sec. Luc. VIII, 30 (CSEL 32/4, 406). 44 45 46 47

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er nicht über das erste Entstehen der Liebe, sondern über das darauf folgende Sichergießen49 der heiligen Liebe. Sofern sie uns schon gegeben worden ist, macht sie uns vollkommener im Hoffen und Glauben. Zu 2. Die Hoffnung, die durch die vorangehenden Verdienste entsteht, kann nicht ohne die heilige Liebe sein, die das Prinzip des Verdienens ist. Aber eine unbestimmte Hoffnung, die ohne Verdienste wirklich ist, aber aufgrund von Verdiensten als Vorsatz besteht, ist zwar ohne heilige Liebe wirklich, aber nicht ohne heilige Liebe im Vorsatz. Zu 3. Augustinus spricht an dieser Stelle über gute Bewegungen der Seele und verdienstvolle Gemütsbewegungen. Derartiges wird nämlich durch die heilige Liebe verursacht. Zu 4. Jenes Argument beweist, daß der Hoffnung Liebe zugrunde liegt, obwohl ihr nicht schon die Liebe als heilige Liebe zugrunde liegen muß. Vielmehr liegt ihr die Selbstliebe zugrunde, durch die jemand das göttliche Gute wünscht. Zu 5./6. Daraus wird die Lösung für den fünften und sechsten Einwand klar. Zu 7. Der rechte Wille wird im Hinblick auf seinen Grund heilige Liebe genannt, weil es nämlich die vollkommene Rechtheit des Willens nur durch die heilige Liebe geben kann. Eine solche Vollkommenheit des Willens geht der unbestimmten Hoffnung nicht voraus. Zu 8. Die Ansicht Gregors des Großen ist in Bezug auf Glaube, Hoffnung und heilige Liebe zu verstehen, sofern sie Tugenden sind, denn sie passen nur zusammen, sofern sie durch die heilige Liebe bestimmt werden. Sie sind aber insofern unbestimmt, als sie der Zeit nach der heiligen Liebe vorangehen. Zu 9. Das göttliche Gute ist, sofern es um seiner selbst willen geliebt wird, der Gegenstand der heiligen Liebe. Sofern es aber erlangt werden soll, ist es der Gegenstand der Hoffnung. Deswegen ist die heilige Liebe von der Hoffnung unterschieden. Zu 10. Wenn die Hoffnung unbestimmt ist, gehen die Verdienste nicht der Hoffnung, sondern der erhofften Sache voraus. Ist aber die Hoffnung bestimmt, gehen die Verdienste auch der Hoffnung 49 Übersetzung von secundam refusionem.

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voraus. Auf diese Weise geht die heilige Liebe ihr auf natürliche Weise voraus. Zu 11. Die Dinge, die in der Zusammensetzung früher auftreten, sind in der Auflösung später. Daraus folgt: Weil auf dem Weg der Entstehung die Hoffnung der heiligen Liebe vorangeht, ist es auf dem Weg der Auflösung umgekehrt: Die Schuld, durch die die heilige Liebe verloren geht, geht der Verzweiflung, durch die die Hoffnung verloren geht, voraus. Zu 12. Jenes Argument schließt ein, daß die Liebe nur in allgemeiner Weise früher ist als die Hoffnung, denn das Gute ist – allgemein genommen – der Gegenstand der Liebe. Es ist aber nicht notwendig, daß die heilige Liebe früher als die Hoffnung ist. Zu 13. Das Vorangehen auf dem Weg der Entstehung gehört nicht zur Vollkommenheit, weil in diesem Leben die unvollkommenen Dinge früher sind als die vollkommenen.

4. Artik el Die vierte Frage lautet: Gibt es die Hoffnung nur im Pilgerstand? 50 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Wie die Hoffnung sich auf die Dinge bezieht, die man nicht besitzt – dies scheint dem Stand der Seligen zu widersprechen – so auch die Sehnsucht. Die Sehnsucht gibt es aber bei den Seligen, wie es in 1 Petr. 1, 12 heißt: »Die Engel begehren, darin Einblick zu erlangen«. Die Hoffnung kann es also auch bei den Seligen geben. 2. Die Hoffnung, deren Gegenstand das Gute ist, ist etwas Vollkommeneres als die Furcht, deren Gegenstand das Übel ist. Es gibt aber gemäß Ps. 18 (17), 10 eine Furcht bei den Seligen: »Die heilige Furcht des Herrn bleibt in Ewigkeit«. Es gibt also auch eine Hoffnung bei den Seligen. 3. Genauso wie die Erlangung der Glückseligkeit ein schwer erreichbares Gutes ist, so auch deren Andauern. Bevor aber irgendjemand die Glückseligkeit erlangt, hofft er auf ihre Erlangung. Nach50 Paralleltexte: Sum. theol. I–II, q. 67 a. 4; Sum. theol. II–II, q. 18 a. 2; Sent. III, d. 26 q. 2 a. 5 qla. 2; Sent. III, d. 31 q. 2 a. 1 qla. 2.

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dem man also die Glückseligkeit erlangt hat, kann man immer noch das Andauern der Glückseligkeit erhoffen. 4. Hoffnung und Verzweiflung sind im selben Menschen. Die Verzweiflung kann es aber auch einem anderen Menschen gegenüber geben. Deshalb ist uns geboten, über niemand im Pilgerstand verzweifelt zu sein. Folglich kann sich auch die Hoffnung auf einen anderen beziehen. Auf diese Weise können die Heiligen, die in der ewigen Heimat sind, für die anderen im Pilgerstand hoffen, daß sie zur Glückseligkeit gelangen. 5. Es muß aber eingewandt werden, daß das Hoffen auf die Glückseligkeit des anderen nicht zur Tugend der Hoffnung gehört. – Dagegen aber steht: Genauso wie die Hoffnung eine theologische Tugend ist, so auch die Liebe. Mit derselben Tugend der heiligen Liebe liebt aber der Mensch sich selbst und den Nächsten. Deshalb erhofft auch der Mensch mit derselben Tugend der Hoffnung das ewige Leben für sich und für andere. Weil auf diese Weise die Guten das ewige Leben für andere erhoffen, scheint es, daß in ihnen die Tugend der Hoffnung ist. 6. Gemäß Ps. 37 (36), 5 geht das Gebet aus der Tugend der Hoffnung hervor: »Befiehl dem Herrn deinen Weg, hoffe auf ihn, er wird es fügen«. Den Heiligen aber, die in der ewigen Heimat sind, kommt das Fürbitten zu. Darum bitten wir sie, indem wir sagen: ›Bittet für uns, alle Heiligen Gottes.‹ Also kann es bei ihnen auch Hoffnung geben. 7. Dasselbe Prinzip liegt der Bewegung zum Ziel und dem Ruhen im Ziel zugrunde. Die Hoffnung ist aber das Prinzip der Bewegung zur Glückseligkeit, die wir gemäß Hebr. 6, 19 als eine hineinschreitende Hoffnung haben; sie bewirkt nämlich das Hineinschreiten »bis zum Inneren des Vorhangs«. Die Hoffnung ist also das Prinzip des Ruhens in der Glückseligkeit und deswegen muß den Seligen die Hoffnung innewohnen. 8. Isidor von Sevilla sagt, daß die Gerechtigkeit sich auf Hoffnung und Glaube stützt.51 Auch Augustinus sagt im Enchiridion, daß »derjenige recht lebt,52 der … recht glaubt und recht 51 Vgl. Isidor von Sevilla, Sent. II, 4, 2 (CCSL 111, 98 f.). 52 Im augustinischen Original findet sich amat.

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hofft«.53 Die Gerechtigkeit gibt es aber in der ewigen Heimat und in der Rechtschaffenheit des Pilgerstandes, wie es in Js. 60, 21 heißt: »In deinem Volk sind alle Gerechte«. Deshalb gibt es auch in der ewigen Heimat Glaube und Hoffnung. 9. Für die Glückseligkeit bedarf es der Sicherheit des dauernden Verweilens in ihr. Weil dies den Engeln vor ihrer Festigung bzw. ihrem Fall gefehlt hat, sind sie nicht vollkommen selig gewesen,54 wie Augustinus sagt. Die sichere Erwartung der Glückseligkeit gehört aber zur Tugend der Hoffnung. Deshalb gibt es bei den Seligen die Hoffnung. 10. Gemäß Aristoteles gilt: Sind zerstörte Dinge gut, dann sind sie selbst schlecht.55 Wenn daher die Hoffnung, die es bei den Menschen im Pilgerstand gibt, durch die Glückseligkeit, die das höchste Gute des Menschen ist, zerstört wird, scheint es, daß die Hoffnung ein Übel ist. Das stimmt aber nicht damit überein, daß, wie in Artikel 1 dieser Frage gesagt, die Hoffnung eine Tugend ist. 11. Der Akt der Tugend scheint nicht nur das Tun oder das Tunwollen dessen hervorzubringen, was zur Tugend gehört, wenn die Fähigkeit dazu da ist, sondern auch das Wollen, sofern die Fähigkeit da wäre. Der Akt der Gerechtigkeit nämlich besagt, das geschuldete Geld zurückgeben zu wollen, auch wenn niemand da ist, der es haben kann. Die Heiligen aber, die in der ewigen Heimat sind, sind so ausgerichtet, daß sie die Glückseligkeit erwarten würden, auch wenn sie sie nicht schon hätten. Es gibt also in ihnen einen Akt der Hoffnung. Der Akt geht aber aus dem Habitus hervor. Daher gibt es in ihnen eine Tugend der Hoffnung. 12. Anselm von Canterbury sagt im Buch Über die Ähnlichkeiten, daß es bei den Heiligen nach der Auferstehung eine so große Stärke geben wird, daß sie die Erde bewegen.56 Er meint damit nicht, daß sie gerade dabei sind, sie zu bewegen oder etwas derartiges, solange alles in bester Weise seinen Platz hat, sondern er behauptet Augustinus, Ench. 31, 117 (CCSL 46, 111). Augustinus, De civ. Dei XI, 11 (CCSL 48, 332). Vgl. Aristoteles, Top. II, 9; 114 b 24. Vgl. Anselm von Canterbury, De hum. mor. per similit., 52 (Southern, 58). 53 54 55 56

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dies wegen ihrer Vollkommenheit. In ähnlicher Weise könnte es den Habitus der Hoffnung, der eine Vollkommenheit ist, bei den Seligen geben, obwohl der Akt der Hoffnung dort nicht zu verorten ist. 13. Die göttliche Gutheit ist nicht größer als die göttliche Erhabenheit. Die heilige Liebe, deren Gegenstand die göttliche Gutheit ist, hat aber nur in der ewigen Heimat Bestand; also auch die Hoffnung, deren Gegenstand die göttliche Erhabenheit ist. 14. Wenn Fundament und Wände zerstört sind, ist auch das Dach zerstört. Im geistlichen Gebäude verhält sich der Glaube wie das Fundament. Die Hoffnung aber, die aufrichtet, verhält sich wie eine Wand. Wenn aber bei den Seligen Glaube und Hoffnung weggenommen sind, kann die heilige Liebe, die wie ein Dach wirkt, nicht bleiben. Das aber paßt nicht zusammen, denn »die Liebe hört niemals auf«, wie Paulus in 1 Kor. 13, 8 sagt. 15. Jeder, der etwas von dem erwartet, was sein Streben zur Ruhe bringt, sobald er es besitzt, scheint es zu erhoffen. Die Seelen der Seligen aber erwarten die Herrlichkeit des Leibes. Sobald sie sie haben, kommt ihr Streben zur Ruhe,57 wie Augustinus im 12. Buch von Über den Wortlaut der Genesis sagt. Aus diesem Grund gibt es bei ihnen die Tugend der Hoffnung. 16. Christus ist vom ersten Moment seiner Empfängnis an der vollkommen Selige gewesen. Christus hat aber Hoffnung gehabt, denn über seine Person wird in Ps. 71 (70), 5 gesagt: »Auf dich, Herr, habe ich gehofft«, wie eine Glosse58 auslegt. Also kann es bei den Seligen Hoffnung geben. Dagegen spricht: 1. In Röm. 8, 24 heißt es: »Was man schon erfüllt sieht – braucht man darauf noch zu hoffen?« Die Heiligen aber genießen die volle Anschauung Gottes. Darum gibt es bei ihnen keine Hoffnung. 2. Paulus beweist in 1 Kor. 13, 8, daß die Liebe höher steht als Glaube und Hoffnung, denn »die Liebe hört niemals auf«; Glaube und Hoffnung aber werden vergehen, denn es kommt, was voll57 Vgl. Augustinus, De Gen. ad litt, XII, 35, 68 (CSEL 28/1, 432 f.). 58 Vgl. Potius Petrus Lombardus, comm. in Ps. 30, prooem. (PL 191,

299 B; 300 B–C); Glossa ordin. in Ps. 30, 1 (ed. princeps, 2, 488 a).

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kommen ist.59 Vollkommen aber ist jener Stand der Glückseligkeit. Deshalb gibt es Glaube und Hoffnung im Stand der Glückseligkeit nicht mehr. 3. Augustinus sagt in Über das Gut der Ehe : »Es ist der Habitus, durch den etwas getan wird, wenn es notwendig ist; und wenn es nicht getan wird, kann es doch getan werden«.60 Daraus kann erschlossen werden, daß da, wo kein Akt sein kann, folglich auch kein Habitus ist. In der ewigen Heimat kann es aber keinen Akt der Hoffnung geben, der sich auf die Glückseligkeit richtet, die man nicht besitzt. Es kann dort also keinen Habitus der Hoffnung geben. Antwort: Sobald man das entfernt, wodurch ein Ding seine Art hat, folgt daraus, daß die Art sich genauso von der Sache löst, wie dieselbe Art nicht bestehen bleibt, sobald die substantielle Form von den natürlichen Körpern entfernt wird. Wie aber die Form den natürlichen Dingen die Art verleiht, so bestimmt auch in den sittlichen Belangen der Gegenstand die Art des Aktes und folglich des Habitus. Aus diesem Grunde kann, sobald der ursprüngliche Gegenstand eines Habitus entfernt worden ist, kein Habitus zurückbleiben. Wie schon im ersten Artikel dieser Frage gesagt, ist nun aber der Gegenstand der Hoffnung, wenn die Hoffnung absolut betrachtet wird, das schwer Erreichbare, zukünftige und nur mögliche Gut. Wenn daher etwas aufhört gut, zukünftig, schwer erreichbar oder möglich zu sein, hört auch die Hoffnung gemäß dem allgemeinen Sinn von Hoffnung auf. Der formale Gegenstand der Hoffnung ist aber, sofern sie eine theologische Tugend ist, die göttliche Hilfe, in der sie ihren Grund hat. Obwohl unter diesem formalen Gegenstand viel material Erhofftes zusammengefaßt wird, ist der eine Gegenstand ursprünglich, und die anderen stehen an zweiter Stelle oder sind nur hinzugefügt. Das kann nun in zweifacher Weise verstanden werden: zum einen bezogen auf den erhofften Gegenstand, zum anderen bezogen auf den hoffenden Menschen. 59 Vgl. 1 Kor. 13, 10. 60 Augustinus, De bono coniugali 21, 25 (PL 40, col. 390).

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Von seiten des erhofften Gegenstandes ist nämlich, sofern sie eine theologische Tugend ist, der ursprüngliche Gegenstand der Hoffnung das volle Genießen Gottes, welches selig macht. Andere Gegenstände, die wir erhoffen, fallen aber entsprechend ihrer Hinordnung auf ihr Ziel unter die Hoffnung, seien es geistliche oder zeitliche Güter. Von seiten des Hoffenden ist aber der ursprüngliche Gegenstand, daß jemand die Glückseligkeit für sich erhofft. Der nachgeordnete Gegenstand ist, daß er sie für andere erhofft, sofern sie in irgendeiner Weise eins mit ihm sind, und er das Gute für sie erhofft genauso wie für sich. Solange darum der ursprüngliche Gegenstand bleibt, d. h., daß für den Hoffenden, der das schwer erreichbare Gut, das die Glückseligkeit ist, nur zukünftig und nur der Möglichkeit nach hat, die Tugend der Hoffnung bestehen bleibt. Durch diese Tugend der Hoffnung erhofft jemand nicht nur die zukünftige Glückseligkeit selbst, sondern auch alles andere, das darauf hingeordnet ist. Wenn aber der ursprüngliche Gegenstand der Hoffnung weggenommen ist, sofern sie eine theologische Tugend ist – damit ist gemeint, daß die ewige Glückseligkeit nicht mehr zukünftig, sondern schon Eigentum ist – hört die Art dieser Tugend auf. Deshalb gibt es bei den Seligen keine Hoffnung im Sinne einer theologischen Tugend. Die Heiligen können aber gemäß der allgemeinen Bedeutung von Hoffen durch ein Bedachtsein auf die göttliche Hilfe hoffen, sei es, daß sie ihnen selbst, sei es, daß sie anderen zukommt. Sie können aber nicht gemäß der besonderen Bedeutung von Hoffnung hoffen, d. h. sofern sie eine theologische Tugend ist. Im entgegengesetzten Sinn kann ein Beispiel von schlechten Menschen angeführt werden: Gott ist der ursprüngliche Gegenstand der heiligen Liebe. Darum liebt jemand, solange er Gott liebt, durch dieselbe Tugend der heiligen Liebe auch in Gott den Nächsten. Wenn er aber aufhört, Gott zu lieben, wird er dennoch den Nächsten auf natürliche Weise lieben können, nicht aber durch die Tugend der heiligen Liebe, deren Art aufgehoben ist, sobald der ursprüngliche Gegenstand beseitigt ist. Zu 1. Die Sehnsucht wird freilich für den Stand der Seligen nicht im eigentlichen Sinne behauptet, nämlich sofern sie sich auf eine

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zukünftige Sache bezieht, sondern sofern sie den Widerwillen ausschließt. In diesem Sinne heißt es in Sir. 24, 21: »Die mich essen, werden weiterhin Hunger haben«. Zu 2. Die Furcht bezieht sich auf das Übel. Unter ›Übel‹ kann aber jeder Mangel verstanden werden. Es gibt nämlich einen dreifachen Mangel im Menschen: Erstens den der Strafe; und diesen meint besonders die sklavische Furcht. Zweitens aber gibt es den Mangel der Schuld; und diesen meint die kindliche oder reine Furcht, sofern es sie im Pilgerstand gibt, in dem wir sündigen können. In der ewigen Heimat wird es, nachdem die Macht der Schuld und der Strafe aufgehoben wurde, keine der beiden Weisen mehr geben, wie es in Spr. 1, 33 heißt: »Man wird sich am Überfluß laben, nachdem die Furcht vor den Übeln aufgehoben wurde«. Drittens aber gibt es einen natürlichen Mangel, sofern jedes Geschöpf einen unendlichen Abstand zu Gott hat; dieser Mangel wird niemals aufgehoben und auf ihn bezieht sich die ehrfurchtsvolle Furcht, die es in der ewigen Heimat geben wird. Wer die Ehrfurcht seinem Schöpfer gegenüber aus der Betrachtung seiner Erhabenheit heraus erweist, springt in die eigene Kleinheit herab. Der Gegenstand der Hoffnung, der besagt, daß es eine künftige Glückseligkeit gibt, ist aufgehoben, nachdem er überflüssig geworden ist. Aus diesem Grunde wird die Hoffnung nicht bleiben. Zu 3. Das Andauern der Glückseligkeit hat nicht den Charakter des Zukünftigen. Sofern nämlich ein Mensch glückselig wird, hat er an der Ewigkeit teil, in der es weder Vergangenheit noch Zukunft gibt. Daher wird in jener Glückseligkeit vom ewigen Leben gesprochen. Gesetzt man hätte doch den Aspekt des Zukünftigen, dann fehlte aber bei dem, der die Glückseligkeit schon besitzt, der Aspekt des schwer erreichbaren Gutes. Deshalb nimmt man für die Seligen nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar die Notwendigkeit an, niemals zu sündigen, sondern immer treu zu bleiben.61 Deshalb ist der Grund für die Hoffnung völlig aufgehoben. Zu 4. Jenes Argument speist sich aus dem, was nicht ursprünglich, sondern nur nachgeordnet die Hoffnung betrifft. 61 Übersetzung von permanendi.

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Zu 5. Solange der ursprüngliche Gegenstand der Hoffnung bleibt, erhofft jeder mit derselben Tugend der Hoffnung das Gute für sich und für andere. Nachdem aber der ursprüngliche Gegenstand nicht mehr gegeben62 ist, kann man zwar für andere auf irgendeine Weise hoffen, aber nicht im Sinn der Hoffnung als Tugend. Zu 6. Auf diese Weise kommt es den Heiligen zu, sowohl Fürsprache zu halten als auch zu hoffen, nicht aber mit Hilfe der Tugend der Hoffnung, die als theologische Tugend verstanden wird. Zu 7. Wenn ein erstes bewegendes Prinzip angenommen wird, ist es wahr, daß dasselbe Prinzip der Bewegung zum Ziel und der Ruhe im Ziel zugrunde liegt. Wenn aber etwas Nachgeordnetes bzw. instrumentell Wirkendes angenommen wird, gibt es Prinzipien der Bewegung, die dann nachlassen, sobald man zum Ziel gelangt ist, wie z. B. das Schiff wegen des nachlassenden Windantriebes stehen bleibt, wenn es im Hafen angekommen ist. Auf diese Weise ruht die heilige Liebe, die das erste Bewegende ist, im Ziel der Glückseligkeit, nicht aber die Hoffnung, die das nachgeordnete nächste Prinzip der Bewegung ist. Zu 8. Jene Autoren äußern sich zur Gerechtigkeit und zur Rechtheit des Lebens im Stand des gegenwärtigen Lebens, in dem die Menschen sich zur Rechtheit hin bewegen. Zu 9. Die Gewißheit, die es bei den Seligen über die andauernde Festigkeit gibt, kommt nicht durch etwas zukünftig Erwartetes zustande, sondern durch das, was sie schon empfangen haben. Darum gehört sie nicht zum Wesen der Hoffnung. Zu 10. Aristoteles sagt im 3. Buch der Physik, daß man bei den Bewegungen das Mehr und Weniger anstelle der Gegensätze versteht wie das mehr oder weniger Weiße anstelle des Weißen und Schwarzen, und ähnlich das mehr und weniger Gute statt des Guten und Schlechten.63 In dieser Weise macht die den Pilgerstand übersteigende Glückseligkeit die Hoffnung überflüssig,64 d. h. nicht wie das Gute das Schlechte, sondern das weniger Gute, z. B. wie die Jugend die Kindheit. 62 Übersetzung von remoto. 63 Thomas bezieht sich vielmehr auf: Aristoteles, Phys. V, 2; 226 b 1–8. 64 Übersetzung von evacuat.

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Zu 11. Der Gegenstand einer Tugend kann in zweifacher Weise fehlen. Auf die eine Weise mit der Möglichkeit, ihn zu besitzen; und so kann auch durch den Gegenstand, den man nicht besitzt, der Akt der Tugend und die Tugend unter der Bedingung zustande kommen, daß die Möglichkeit fehlt. Auf die andere Weise mit der Unmöglichkeit ihn zu besitzen; und so bleibt weder der Habitus noch der Akt, denn sie hätten keinen Sinn.65 Auf diese Weise ist der Gegenstand der Hoffnung in der ewigen Heimat aufgehoben, denn es wird dann niemals mehr möglich sein, daß Glückseligkeit nur zukünftig ist. Zu 12. Jene Stärke, die es bei den Heiligen geben wird, folgt nicht aus dem schon vorher bestehenden Prinzip, d. h. aus dem vollkommenen Anhängen am allmächtigen Gott. Sie wird nicht in Hinordnung auf das Ziel bestehen, sondern, wie gesagt,66 vielmehr in der Befolgung des Zieles. Deshalb liegt kein entsprechendes Argument zur Hoffnung vor, die wegen der Bewegung zum Ziel gegeben ist. Zu 13. Die Erhabenheit Gottes ist nicht geringer als dessen Gutheit. Die heilige Liebe aber verhält sich in anderer Weise zur Gutheit als die Hoffnung zur Erhabenheit, weil die Liebe von ihrem Wesen her die Einheit einschließt und darum in der ewigen Heimat vervollkommnet wird. Die Hoffnung schließt aber den Abstand ein, der dem Stand in der ewigen Heimat widerspricht. Zu 14. Der Glaube und die Hoffnung haben das Wesen des Fundamentes bzw. der Wand aus dem, was in ihnen zur Vollkommenheit gehört, d. h. davon, daß der Glaube der ersten Wahrheit anhängt, die Hoffnung aber der höchsten Erhabenheit. Dies gilt aber nicht von dem, was in beiden unvollkommen ist, sofern nämlich der Glaube sich auf die nicht-sichtbaren Dinge bezieht, und die Hoffnung auf die Dinge, die man nicht besitzt. Im Stand der vollkommenen Glückseligkeit, wenn die heilige Liebe, die ihrem Begriff nach keinerlei Unvollkommenheit mit sich bringt, vervollkommnet wird, folgt sie dem Glauben als dem vollkommeneren Fundament, nämlich als die offene Schau, und der Hoffnung als der vollkommeneren Wand, nämlich der vollen Erfassung, wie es in 1 Kor. 9, 24 heißt: »Lauft so, daß ihr den Siegeskranz erringt«. 65 Übersetzung von frustra enim remaneret. 66 Im Korpus des Artikels.

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Zu 15. Die Herrlichkeit des Leibes rührt bei den Heiligen von der Herrlichkeit der Seele her. Darum hat die Herrlichkeit des Leibes bei denen, die die Herrlichkeit der Seele haben, die vorzüglicher ist, nicht den Charakter von etwas schwer Erreichbarem. Zu 16. Christus hat in einem allgemeinen Sinn von Hoffnung gehofft. Er hat aber nicht Hoffnung im Sinne der theologischen Tugend gehabt, weil die Glückseligkeit für ihn nicht eine zukünftige, sondern eine gegenwärtige war.

V. ÜBER DIE KARDINALTUGENDEN

Die hier behandelten Fragen lauten: 1. Sind Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maßhalten Kardinaltugenden? 2. Sind die Tugenden so untereinander verbunden, daß, wer die eine besitzt, alle besitzt? 3. Sind alle Tugenden im Menschen gleich? 4. Bleiben die Kardinaltugenden in der ewigen Heimat erhalten?

1. Artik el Die erste Frage lautet: Sind Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maßhalten Kardinaltugenden? 1 Das scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Was nicht voneinander unterschieden werden kann, soll auch nicht zusammengezählt werden, weil die Unterscheidung die Ursache der Zahl ist,2 wie Johannes von Damaskus sagt. Die oben genannten Tugenden werden jedoch voneinander nicht unterschieden, denn Gregor der Große sagt im 22. Kapitel von Moralische Betrachtungen zum Buch Ijob: »Es gibt weder wahre Klugheit, die nicht gerecht, maßvoll und tapfer, noch vollkommenes Maßhalten, das nicht tapfer, gerecht und klug, noch echte Tapferkeit, die nicht klug, maßvoll und gerecht, noch wahre Gerechtigkeit, die nicht klug, tapfer und maßvoll ist«.3 Aus diesem Grund sollten sie nicht die vier Kardinaltugenden genannt werden. 2. Die Tugenden scheinen ›kardinal‹ genannt zu werden, weil sie ursprünglicher als die anderen sind. Deshalb nennen sie einige 1 Paralleltexte: Sum. theol. I–II, q. 61 a. 2; Sent. III., d. 33 q. 2 a. 1 ql. 3; Sent. Eth. II, l.8. 2 Vgl. Johannes Damascenus, De fide orth. 15, 5 (ed. Buytaert, 68). 3 Gregor der Große, Moralia XXII, 1, 2 (CCSL 143 A, 1093).

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›kardinal‹ und – wie es bei Gregor den Großen im 22. Buch von Moralische Betrachtungen zum Buch Ijob einmal vorkommt – ›ursprünglich‹.4 Weil aber das Ziel ursprünglicher ist als die, die auf das Ziel hingeordnet sind, scheinen die theologischen Tugenden, die das letzte Ziel zum Gegenstand haben, ursprünglicher zu sein als die oben genannten Tugenden, die auf das bezogen sind, was auf das Ziel hingeordnet ist. Also dürfen die oben genannten nicht die vier Kardinaltugenden genannt werden. 3. Dinge, die zu verschiedenen Gattungen gehören, dürfen nicht zu einer gemeinsamen Ordnung gezählt werden. Die Klugheit gehört aber zur Gattung der verstandesmäßigen Tugenden,5 wie im 6. Buch der Ethik klar wird. Die anderen drei sind hingegen sittliche Tugenden. Darum werden die oben Genannten zu Unrecht für die vier Kardinaltugenden gehalten. 4. Unter den verstandesmäßigen Tugenden ist die Weisheit ursprünglicher als die Klugheit,6 wie Aristoteles im 6. Buch der Ethik beweist, denn die Weisheit bezieht sich auf die göttlichen, die Klugheit aber auf die menschlichen Dinge. Sollte man daher irgendeine verstandesmäßige Tugend für eine Kardinaltugend halten, wäre es angebracht, die Weisheit gewissermaßen als ursprünglicher anzusehen. 5. Die anderen Tugenden müssen auf die Kardinaltugenden zurückgeführt werden. Aristoteles unterscheidet jedoch im 2. Buch der Ethik einige andere Tugenden als Tapferkeit und Maßhalten, nämlich Freigebigkeit und Großmut und ähnliche, die nicht auf die Kardinaltugenden zurückgeführt werden.7 Daher sind die oben Genannten keine Kardinaltugenden. 6. Was keine Tugend ist, kann nicht zu den Kardinaltugenden gezählt werden. Das Maßhalten scheint aber keine Tugend zu sein, denn man hat sie nicht, wenn man die anderen Tugenden hat, wie bei Paulus deutlich wird. Er besaß alle anderen Tugenden mit Aus4 Thomas bezieht sich vielmehr auf: Gregor der Große, Hom. in Ez. I, 3,8 (CCSL 142, 37). 5 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 3; 1139 b 15 f. 6 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 7; 1141 a 20–23 und 1141 b 3 f. 7 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 7; 1107 b 9–23.

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nahme des Maßhaltens, denn in seinen Gliedern gab es gemäß Röm. 7, 23 immer noch die Begierde: »Ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetz meines Geistes widerstreitet«. Der Maßvolle aber unterscheidet sich darin von dem, der sich beherrscht, daß er keine verkehrte Begierde hat. Der sich Beherrschende hat sie zwar, aber er folgt ihr nicht,8 wie durch Aristoteles im 7. Buch der Ethik klar wird. Darum ist es unsinnig, die oben genannten vier Kardinaltugenden aufzuzählen. 7. Genauso wie der Mensch durch die Tugend auf sich selbst hingeordnet wird, so auch auf den Nächsten. Es werden aber zwei Tugenden angenommen, durch die der Mensch auf sich selbst hingeordnet wird, nämlich die Tapferkeit und das Maßhalten. Daher müssen auch zwei Tugenden angenommenen werden, durch die jemand auf den Nächsten hingeordnet ist und nicht nur die Gerechtigkeit. 8. Augustinus sagt im Buch Über die Sitten der Kirche, daß die Tugend die Ordnung der Liebe ist.9 Die Liebe der Gnade aber wird unter zwei Geboten erfaßt, nämlich dem der Gottes- und dem der Nächstenliebe. Also kann es nur zwei Kardinaltugenden geben. 9. Die Verschiedenheit der Materie, die nur der Ausdehnung nach besteht, bewirkt nur eine Verschiedenheit der Zahl nach. Die Verschiedenheit der Materie aber, die gemäß der unterschiedlichen Aufnahme von Formen besteht, bewirkt eine Verschiedenheit der Gattung nach. Deswegen »werden Vergängliches und Unvergängliches der Gattung nach unterschieden«,10 wie es im 10. Buch der Metaphysik heißt. Die oben genannten Tugenden unterscheiden sich hinsichtlich der Verschiedenheit der Materie, die eine verschiedene Hinsicht hat, die Form zu empfangen, denn die Weise der Hinsicht bezüglich der Materie des Maßhaltens beruht auf der Zügelung der Leidenschaften, bezüglich der Materie der Tapferkeit auf einem Bemühen zu dem, von dem die Leidenschaft wegdrängt. Die oben genannten Tugenden unterscheiden sich also durch die Gattung. Sie dürfen also nicht in einer Ordnung der Kardinaltugenden verbunden werden. 8 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. 1151 b 34–1152 a 1. 9 Vgl. Augustinus, De mor. eccl. cath. et de mor. Manich. I, 15, 25 (PL

32, col. 1322). 10 Aristoteles, Met. X, 10; 1058 b 26.

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10. Die Definition der sittlichen Tugend beruht darauf, daß sie die Vernunft betrifft, wie durch Aristoteles im 2. Buch der Ethik deutlich wird, der die Tugend dadurch bestimmt, daß sie der richtigen Vernunft entspricht.11 Aber die richtige Vernunft ist die durch die erste Richtnorm, d. h. die durch Gott festgesetzte12 Richtnorm, von der sie auch die Eigenschaft einer Richtnorm13 hat. Die sittlichen Tugenden haben daher besonders das Merkmal der Tugend, weil sie nämlich mit der ersten Richtnorm, nämlich Gott, in Verbindung stehen. Die theologischen Tugenden, die auf Gott bezogen sind, werden nicht Kardinaltugenden genannt. Deshalb dürfen auch die sittlichen Tugenden nicht Kardinaltugenden genannt werden. 11. Der seinem Wesen nach hauptsächliche Teil der Seele ist die Vernunft. Das Maßhalten und die Tapferkeit sind aber nicht in der Vernunft, sondern »gehören zu den unvernünftigen Seelenteilen«,14 wie Aristoteles im 3. Buch der Ethik sagt. Sie können also nicht zu den Kardinaltugenden gerechnet werden. 12. Es ist lobenswerter, von dem Seinen zu geben als nur etwas zurückzugeben oder gar nur das Fremde nicht wegzugeben. Das erste gehört zur Freigebigkeit, das zweite zur Gerechtigkeit. Darum muß die Freigebigkeit mehr als Kardinaltugend bestimmt werden als die Gerechtigkeit. 13. Jene Kardinaltugend scheint am größten zu sein, die das Fundament der anderen ist. Von dieser Art ist die Demut; Gregor der Große sagt nämlich: »Wer die übrigen Tugenden ohne Demut sozusagen nur anhäuft, trägt gewissermaßen Pulver in den Wind«.15 Darum muß die Demut zu den Kardinaltugenden gezählt werden. 14. Die Tugend ist eine gewisse Vollkommenheit,16 wie es durch Aristoteles im 6. Buch der Physik deutlich wird. Ebenso heißt es in Jak. 1, 4: »Die Standfestigkeit vollendet das Werk«. Es muß also die Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 6; 1107 a 1 f. Übersetzung von regulata Übersetzung von virtutem regulandi. Aristoteles, Eth. Nic. III, 13; 1117 b 24. Gregor der Große, Hom. in ev. I, 7, 4 (CCSL 141, 51). Vgl. Aristoteles, Phys. VII, 3; 246 b 2; vgl. auch De virt. q. 1, a. 1, obj. 8; q. 1, a. 12, obj. 7; q. 4, a. 1, obj. 4. 11 12 13 14 15 16

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Standfestigkeit – gleichsam als ihre Vollendung – zu den Kardinaltugenden gezählt werden. 15. Aristoteles sagt im 4. Buch der Ethik, daß der Großmut das Große in den Tugenden vollbringt und wie eine Zierde unter den anderen Tugenden ist.17 Dies scheint am meisten zur Vorzüglichkeit der Tugend zu gehören. Deshalb scheint der Großmut eine Kardinaltugend zu sein. Es ist darum falsch, die oben genannten Kardinaltugenden dazuzuzählen. Dagegen spricht: Ambrosius sagt zu der Stelle im Lukasevangelium »Selig die Armen im Geiste«: 18 »Wir wissen, daß es vier Kardinaltugenden gibt: Maßhalten, Gerechtigkeit, Klugheit, Tapferkeit«.19 Antwort: Das Wort ›kardinal‹ leitet sich von ›cardo‹ (Angel) ab, in der sich gemäß Spr. 26, 14 die Tür dreht: »Wie die Tür in ihrer Angel sich dreht, so der Faule in seinem Bett«. Deshalb werden die Tugenden ›kardinal‹ genannt, auf denen das menschliche Leben sich gründet und durch die man wie durch eine Tür hindurch in ein gutes Leben eintritt. Ein solches gutes, menschliches Leben aber ist es, das dem Menschen entspricht. In diesem Menschen findet man natürlich zuerst die sinnliche Natur, in der er mit den Tieren übereinstimmt, dann die praktische Vernunft, die dem Menschen seiner Seinsstufe nach entspricht, und schließlich den theoretischen Verstand, der im Menschen nicht vollkommen wie in den Engeln angetroffen wird, sondern gemäß einer Teilhabe der Seele. Das betrachtende Leben ist also nicht eigentlich menschlich, sondern übermenschlich.20 Das an der Lust orientierte21 Leben aber, das den sinnenhaften Gütern anhaftet, ist nicht 17 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. IV, 7; 1123 b 26 ff. 18 Thomas zitiert Mt. 5, 3. 19 Vgl. Ambrosius, Expos. ev. sec. Luc. V, 62 (CSEL 32/4, 207). Ambro-

sius kommentiert Lk. 6, 20. 20 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. X, 8; 1178 b 22 f. 21 Übersetzung von voluptuosus.

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menschlich, sondern tierisch. Das eigentümlich menschliche Leben also ist ein aktives Leben, das in der Ausübung der sittlichen Tugenden besteht. Darum werden diejenigen Tugenden im eigentlichen Sinn ›kardinal‹ genannt, um die sich sozusagen das sittliche Leben dreht und gegründet ist wie auf die Prinzipien eines solchen Lebens. Aus diesem Grund werden diese Tugenden ›ursprünglich‹ genannt. Man muß aber bedenken, daß folgende vier Bestimmungen zum Begriff der tugendhaften Akte gehören: Erstens, daß die Substanz des Aktes selbst in sich dem Maß entspricht. Aus diesem Grund wird ein Akt gut genannt, der in Bezug auf eine angemessene Materie besteht oder mit den angemessenen Umständen ausgestattet ist. Zweitens verhält sich der Akt in einer angemessenen Weise zum Träger, wodurch er in ihm verwurzelt ist. Drittens steht der Akt auf eine geschuldete Weise in einem Verhältnis zu etwas Äußerem wie zu seinem Ziel. Diese drei Aspekte, sind selbstverständlich von der Vernunft gelenkt, ein vierter bezieht sich aber auf die lenkende Vernunft selbst, d. h. auf die Erkenntnis. Diese vier Bestimmungen thematisiert Aristoteles im 2. Buch der Ethik, wo er sagt, daß es für eine Tugend nicht ausreicht, daß Handlungen gerecht oder maßvoll sind22 – das gehört zu ihrem Angemessensein; vielmehr sind nämlich drei weitere Bestimmungen vom Handelnden verlangt: Erstens nämlich, daß er wissend ist; dies gehört zur leitenden Erkenntnis. Zweitens, daß er wählend und deswegen auch erneut wählend ist; dies hat seinen Grund im angemessenen Ziel und gehört zur Richtigkeit des Aktes in der Ordnung zu etwas Äußerem. Die dritte Bestimmung liegt vor, wenn er fest und unbeweglich am angemessenen Ziel festhält und dem entsprechend handelt. Jede dieser vier Bestimmungen, nämlich die leitende Erkenntnis, die Richtigkeit, die Festigkeit und das angemessene Maß, hat also, obwohl sie bei allen tugendhaften Akten erforderlich sind, einen je eigenen Vorzug bei bestimmten Handlungsgegenständen und Akten. Seitens der praktischen Erkenntnis sind drei Bestimmungen erforderlich: erstens der Rat und zweitens das Urteil über das Gera22 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 3; 1105 a 29 f.

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tene. Auch in der theoretischen Vernunft findet man genauso das Entdecken bzw. das Aufsuchen und das Urteil. Weil aber der praktische Verstand vorschreibt, ob man vor etwas fliehen oder es verfolgen soll – das macht nicht der theoretische Verstand,23 wie es im 3. Buch von Über die Seele heißt –, gehört darum drittens zum praktischen Verstand, über das, was getan werden soll, vorher nachzudenken. Das ist das Besondere, auf das die anderen beiden Punkte hingeordnet sind. Wie es im 6. Buch der Ethik heißt, wird der Mensch hinsichtlich des ersten Punktes durch die Tugend der ›euboulia‹, der Wohlberatenheit,24 hinsichtlich des zweiten Punktes aber durch ›synesis‹ und ›gnome‹, dem gut Urteilen,25 vervollkommnet. Durch die Klugheit befiehlt die Vernunft gut, wie es dort ebenfalls heißt. Es steht darum fest, daß das Besondere in der lenkenden Erkenntnis zur Klugheit gehört. Aus diesem Grund wird die Klugheit zu den Kardinaltugenden gezählt. Ähnlich hat die Richtigkeit des Aktes in Beziehung zu etwas Äußerem das Kennzeichen des Guten und Lobenswerten zwar auch bei dem, was die Person selbst betrifft, vor allem aber wird sie für das gelobt, was sich auf den anderen bezieht. Das trifft zu, wenn der Mensch nämlich seinen Akt nicht nur bei den Dingen, die ihn selbst betreffen, richtig durchführt, sondern auch bei denen, die er mit anderen gemeinsam hat. Aristoteles sagt nämlich im 5. Buch der Ethik, daß »viele bei den eigenen Angelegenheiten die Tugend anwenden können, bei denen aber, die andere betreffen, nicht«.26 Deshalb wird die Gerechtigkeit in dieser Hinsicht als Haupttugend verstanden, durch die der Mensch auf die angemessene Weise mit den anderen, mit denen er zusammen lebt, verbunden und gleichgestellt ist. Darum werden auch gewöhnlich jene gerecht genannt, die auf die angemessene Weise miteinander verbunden sind. Die Mäßigung oder die Zügelung ist besonders lobenswert und Ursache des Guten dort, wo die Leidenschaft besonders antreibt. Die 23 24 25 26

Vgl. Aristoteles, De an. III, 10; 433 a 14 f. Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 10; 1142 a 35–1142 b 2. Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 11; 1143 a 18–24. Aristoteles, Eth. Nic. V, 3; 1129 b 32 f.

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Vernunft soll sie zügeln, damit man zur Mitte der Tugend gelangt. Die Leidenschaft aber treibt am meisten zu den stärksten zu verfolgenden Genüssen an, d. h. den Genüssen der Berührung. Darum wird in dieser Hinsicht das Maßhalten als jene Kardinaltugend verstanden, die das Begehren nach Genüssen der Berührung zurückhält. Die Festigkeit aber ist besonders lobenswert und der Grund des Guten bei denen, in denen die Leidenschaft am stärksten zur Flucht bewegt. Dies geschieht besonders in den größten Gefahren, die die Todesgefahren sind. Deshalb wird unter dieser Hinsicht die Tapferkeit als Kardinaltugend verstanden, durch die der Mensch sich in Todesgefahr unerschrocken verhält. Von den vier Tugenden aber ist die Klugheit freilich in der Vernunft, die Gerechtigkeit aber im Willen, die Tapferkeit im zornmütigen, das Maßhalten jedoch im begehrlichen Strebevermögen. Diese Vermögen allein können Prinzipien des menschlichen, d. h. des willentlichen Aktes sein. Aus all dem wird der Begriff der Kardinaltugenden klar: Er stammt einmal aus den Arten der Tugend, die gewissermaßen die formalen Bestimmungen sind, ferner auch aus der Materie der Tugenden, aber auch des Trägers. Zu 1. Über die oben genannten vier Kardinaltugenden spricht man in zweifacher Weise. Einige verwenden nämlich diese vier Namen, um allgemeine Seinsweisen der Tugenden zu bezeichnen, z. B. nennen sie jeden lenkenden Gedanken Klugheit, jede Rechtheit, die die menschlichen Akte angemessen sein lassen, Gerechtigkeit, jede Mäßigung, die das Streben des Menschen nach zeitlichen Gütern zügelt, Maßhalten, jede Festigkeit der Seele, die den Menschen im Guten gegen den Angriff von Übeln festigt, Tapferkeit. In diesem Sinne scheint Augustinus diese Bezeichnungen im Buch Über die Sitten der Kirche zu gebrauchen.27 Entsprechend kann das oben zitierte Wort Gregors des Großen verstanden werden, weil eine dieser Bedingungen 27 Vgl. Augustinus, De mor. eccl. cath. et de mor. Manich. I, 15 (PL 32, col. 1322).

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für den wahren Begriff der Tugend nicht ausreicht. Vielmehr müssen alle genannten Bedingungen zusammenkommen. Die genannten vier Gegenstände werden darum nicht wegen der verschiedenen Arten der Habitus, die entsprechend verschiedener Gegenstände angestrebt werden, die vier Tugenden genannt, sondern wegen ihrer verschiedenen formalen Bestimmungen. Andere, wie Aristoteles in seiner Ethik, sprechen über die genannten vier Tugenden, sofern sie besondere Tugenden und durch den Bezug auf eine je eigene Materie bestimmt sind. In diesem Sinne kann auch das Wort Gregors des Großen als wahr angesehen werden, denn im Sinne des Überströmens beziehen sich die genannten Tugenden auf jene Materien, in denen die genannten vier allgemeinen Bedingungen der Tugend am meisten zur Geltung kommen.28 Darum ist die Tapferkeit mäßigend und das Maßhalten tapfer, denn, wer sein Streben so zügelt, daß er nicht dem Begehren der Genüsse folgt – dies gehört zum Maßhalten –, der kann noch viel besser die Bewegung der Kühnheit in der Gefahr zügeln. Ähnlich kann derjenige, der in Todesgefahr feststehen kann, noch viel mehr den Verlockungen der Begierde widerstehen. Darum gilt: Was ursprünglich zum Maßhalten gehört, geht auch in die Tapferkeit über und umgekehrt. Dasselbe Argument gilt auch für die anderen Tugenden. Zu 2. Das Streben des Menschen ruht im Ziel. Darum wird die Ursprünglichkeit der theologischen Tugenden, die sich auf das letzte Ziel beziehen, nicht mit der Angel verglichen, die bewegt wird, sondern eher mit dem Fundament und der Wurzel, die, gemäß dem Wort in Eph. 3, 17 Standfestigkeit und Ruhe verleihen: »Ihr seid in der Liebe festverwurzelt und festgegründet«. Zu 3. Gemäß Aristoteles im 6. Buch der Ethik ist die Klugheit die rechte Erkenntnis über den Bereich des Handelns.29 Dieser wird aber sittliches Handeln genannt, wie aus dem dort Gesagten klar wird. Darum stimmt die Klugheit im Hinblick auf ihre Materie mit den sittlichen Tugenden überein. Aus diesem Grund wird sie auch zu ihnen gezählt, obwohl sie hinsichtlich ihres Wesens oder Trägers eine verstandesmäßige Tugend ist. 28 Übersetzung von commendantur. 29 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 5; 1140 b 5 f.

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Zu 4. Die Weisheit hat, weil sie sich nicht auf das Menschliche, sondern das Göttliche bezieht, hinsichtlich ihrer Materie nichts mit den sittlichen Tugenden gemeinsam. Darum zählt man sie nicht unter die sittlichen Tugenden, so daß sie zusammen mit ihnen eine Kardinaltugend genannt würde. Der Begriff der Angel widerspricht nämlich der Betrachtung, weil diese gerade nicht wie eine Tür ist, durch die man in etwas anderes eintritt. Vielmehr ist die sittliche Tätigkeit eine Tür, durch die man sich in die Betrachtung der Weisheit hineinbegibt. Zu 5. Werden die genannten vier Tugenden als allgemeine Bedingungen der Tugenden verstanden, dann werden alle besonderen Tugenden, von denen Aristoteles im Buch der Ethik handelt, auf diese vier Tugenden wie die Art auf die Gattung zurückgeführt. Werden die vier Tugenden aber als besondere Tugenden in Bezug auf ursprüngliche Materien verstanden, dann werden die anderen Tugenden auf diese genauso zurückgeführt wie das Nachfolgende auf das Prinzip, z. B. das passende Scherzen, das die Freude am Spiel im Zaum hält,30 auf das Maßhalten, das die Freuden an der Berührung beherrscht, zurückgeführt werden kann. Darum behauptet auch Cicero im 2. Buch seiner Rhetorik, daß die anderen Tugenden Teile dieser vier sind.31 Das aber kann in zweifacher Weise verstanden werden: zum einen so, daß sie gemäß der ersten Weise, diese Tugenden zu verstehen, Teile im Träger sind; zum anderen so, daß sie potentielle Teile sind, wenn die genannten Tugenden in der zweiten Weise verstanden werden. So sind die Sinne der potentielle Teil, weil sie nicht die ganze Tugend der Seele benennen, sondern nur einen Teil32 von ihr. Zu 6. Es ist nicht der Sinn des Maßhaltens, daß es alle verkehrten Begierden ausschließt, sondern daß der Maßvolle nicht derart heftige und starke Begierden erleidet, wie diejenigen, die die Begierden gar nicht erst zu zügeln versuchen. Paulus erlitt daher ungeordnete

30 Vgl. dazu Aristoteles, Eth. Nic. II, 7; 1108 a 24–26 und ebd. IV, 14; 1127 b 33–1128 b 9. 31 Vgl. Cicero, De inv. II, 53, 159–54, 165 (ed. Nüßlein 318–325). 32 Übersetzung von aliquid.

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Begierden wegen der Versuchung durch den Zunder33 weder heftig noch dauerhaft, weil er versuchte, diese durch Züchtigung seines Körpers in die Ordnung zu bringen und sie sich zu unterwerfen. Deshalb war er wahrhaft maßvoll. Zu 7. Die Gerechtigkeit, durch die wir auf den anderen hingeordnet sind, ist nicht auf die eigenen Leidenschaften bezogen, sondern auf die Handlungen, durch die wir mit anderen Gemeinschaft haben, wie z. B. beim Kaufen und Verkaufen und anderem derartigem. Das Maßhalten und die Tapferkeit aber beziehen sich auf die eigenen Leidenschaften. Darum gilt: So wie es im Menschen nur eine Strebekraft ohne Leidenschaft gibt – dies ist der Wille –, zwei aber mit Leidenschaft – dies ist das begehrliche und zornmütige Strebevermögen –, so gibt es auch nur eine Kardinaltugend, die den Menschen auf den Nächsten hinordnet, zwei aber, die ihn auf sich selbst hinordnen. Zu 8. Man sagt, daß die heilige Liebe jede Tugend ist, zwar nicht wesentlich, aber ursächlich, weil nämlich die heilige Liebe die Mutter aller Tugenden ist. Die Wirkung aber wird immer mehr vervielfältigt als die Ursache. Darum müssen die anderen Tugenden numerisch mehr sein als die heilige Liebe. Zu 9: Der unterschiedliche Grund des Empfangens kann entweder von seiten der Materie herrühren, die für die Form empfänglich ist – eine solche Unterscheidung bewirkt die Unterscheidung der Gattung – oder von seiten der Form, die je unterschiedlich in der Materie empfangen werden kann. Ein solcher Unterschied bewirkt den Unterschied der Art nach. Dies trifft auf den Einwand zu. Zu 10. Die sittlichen Tugenden stehen mit der Vernunft als ihrer nächsten Richtnorm, mit Gott aber als ihrer ersten Richtnorm in Verbindung. Die Sache aber wird nur gemäß dem eigenen und nächsten Prinzip, nicht gemäß dem ersten Prinzip der Art nach bestimmt. Zu 11. Der seinem Wesen nach bestimmende Seelenteil des Menschen ist der vernünftige. Das Vernünftige liegt in zweifacher Weise vor, nämlich seinem Wesen nach und durch die Teilhabe. Genauso 33 Gemeint ist die Anfälligkeit des gefallenen Menschen für die Sünde, die im Menschen zurückbleibt trotz Wegnahme der Schuld in der Taufe.

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wie die Vernunft selbst ihrem Wesen nach ursprünglicher ist als die an der Vernunft teilhabenden Kräfte, so ist auch die Klugheit ihrem Wesen nach ursprünglicher als die anderen Tugenden. Zu 12. Die Kardinaltugenden werden ›ursprünglicher‹ als alle anderen genannt, nicht weil sie vollkommener als alle anderen sind, sondern weil in ihnen das menschliche Leben fundamentaler hin und her gewendet wird, und auf ihnen die anderen Tugenden gründen. Es steht aber fest, daß das menschliche Leben sich mehr um die Gerechtigkeit dreht als um die Freigebigkeit. Wir gebrauchen die Gerechtigkeit nämlich gegenüber allen, die Freigebigkeit aber nur gegenüber wenigen. Die Freigebigkeit selbst aber ist auf die Gerechtigkeit gegründet. Es gäbe nämlich kein freigebiges Geschenk, wenn nicht jemand etwas vom Seinen geben würde. Durch die Gerechtigkeit aber wird das Eigene vom Fremden unterschieden. Zu 13. Die Demut festigt alle Tugenden indirekt, indem sie alles entfernt, was den guten Werken der Tugenden im Wege steht, so daß sie verloren gingen. Die anderen Tugenden sind aber in den Kardinaltugenden direkt befestigt. Zu 14. Die Standfestigkeit ist in die Tapferkeit eingeschlossen, denn der Tapfere hat das, was zur Standfestigkeit gehört, so daß er nämlich nicht durch das drohende Übel verwirrt wird. Ferner kommt hinzu, daß er, sofern nötig, gegen die drohenden Gefahren einschreitet. Zu 15. Weil die Großgesinntheit die Zierde der anderen Tugenden ist, ist offenkundig, daß sie die anderen Tugenden voraussetzt, auf denen sie gegründet ist. Darum ist klar, daß die anderen Tugenden grundlegender sind als sie.

2. Artik el Die zweite Frage lautet: Sind die Tugenden so untereinander verbunden, daß, wer die eine besitzt, alle besitzt? 34 Das scheint nicht der Fall zu sein; denn: 34 Paralleltexte: Sum. theol. I–II, q. 65; Sent III, d. 36 a. 1; Sent. IV, d. 33 q. 3 a. 2 ad 6; Quodl. XII, q. 15 a. 1; In Eth. VI, l.11.

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1. Beda Venerabilis sagt in seinem Kommentar zum Lukasevangelium, daß die Heiligen sich mehr gedemütigt haben wegen der Tugenden, die sie nicht haben, als daß sie sich der Tugenden gerühmt haben, die sie besitzen.35 Sie haben also einige Tugenden und einige haben sie nicht. Deshalb sind die Tugenden nicht untereinander verbunden. 2. Nach der Buße befindet sich der Mensch im Stand der heiligen Liebe. Wie Augustinus in Gegen Julian sagt, erleidet er nur wegen der vorangehenden Gewohnheit die Schwierigkeit beim guten Handeln.36 Darum scheint eine solche Schwierigkeit aus dem der Tugend entgegengesetzten Habitus durch eine schlechte erworbene Gewohnheit hervorzugehen, weil es dadurch keine ihm entgegengesetzte Tugend geben kann. Daher kann jemand eine Tugend haben, nämlich die heilige Liebe, und die anderen fehlen ihm. 3. Bei allen Getauften findet man die heilige Liebe. Einige Getaufte besitzen aber nicht die Klugheit. Gemäß Aristoteles wird dies vor allem bei den Narren und Wahnsinnigen deutlich, die nicht klug sein können.37 Dasselbe gilt auch bei einfältigen Erwachsenen, die nicht wirklich klug zu sein scheinen, denn sie beratschlagen nicht gut; das aber ist das Werk der Klugheit. Es gilt also nicht: Wer eine Tugend, nämlich die heilige Liebe, hat, hat deswegen alle anderen. 4. Gemäß Aristoteles im 6. Buch der Ethik ist die Klugheit die rechte Einsicht in den Bereich des Handelns,38 genauso wie die Kunst die rechte Einsicht in das ist, was hergestellt werden soll. Der Mensch kann aber eine angemessene Einsicht hinsichtlich der einen Gattung des Herstellbaren, z. B. Skulpturen, haben, aber kein rechtes Verständnis für andere Kunstfertigkeiten. Deshalb kann man auch Klugheit zwar in Bezug auf eine Gattung im Bereich des Handelns haben, z. B. hinsichtlich gerechter Taten, aber nicht in Bezug auf eine andere Gattung, etwa der Tapferkeit. Auf diese Weise könnte man die eine Tugend ohne die anderen besitzen. 35 Vgl. Beda Venerabilis, In Luc. ev. expos. V, 17 (PL 92, col. 541 C und D); Kommentar zu Lk. 17, 10. 36 Vgl. Augustinus, Contra Iulianum VI, 18, 55 (PL 44, col. 855). 37 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 9; 1142 a 13 f. 38 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 5; 1140 b 5 f.

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5. Aristoteles sagt im 4. Buch der Ethik, daß nicht jeder freigebig und großzügig ist; aber dennoch beide Tugenden sind, nämlich die Freigebigkeit und die Großzügigkeit. In ähnlicher Weise sagt er, daß diejenigen, die maßvoll sind, nicht unbedingt großmütig sind. Nicht jeder also, der eine Tugend hat, hat alle. 6. Paulus sagt in 1 Kor. 12, 4: »Es gibt Verschiedenheiten in den Gnadengaben« und fügt 1 Kor. 12, 8 und 9 hinzu: »Dem einen ist durch den Geist die Weisheitsrede gegeben, dem anderen die Erkenntnisrede« – dies sind die verstandesmäßigen Tugenden – »dem anderen der Glaube« – dies ist eine theologische Tugend. Wer also die eine Tugend hat, hat nicht alle. 7. Die Jungfräulichkeit ist eine Tugend,39 wie Cyprian sagt. Aber viele, die die Jungfräulichkeit nicht haben, haben andere Tugenden. Nicht jeder also, der eine Tugend hat, hat auch alle. 8. Aristoteles sagt im 6. Buch der Ethik, daß wir Anaxagoras und Thales zwar weise nennen, nicht aber klug.40 Die Weisheit und die Klugheit sind aber verstandesmäßige Tugenden. Also kann jemand eine Tugend ohne die anderen haben. 9. Aristoteles sagt in demselben Buch, daß einige die Neigung zur einen Tugend haben aber nicht zur anderen.41 Es kann also sein, daß jemand in den Akten der einen Tugend geübt ist, aber nicht in der anderen. Aber durch die Übung der Akte werden Tugenden erworben,42 wie es durch Aristoteles im 2. Buch der Ethik deutlich wird. Also sind wenigstens die erworbenen Tugenden nicht untereinander verbunden. 10. Die Tugend ist, auch wenn von Natur aus43 eine Eignung für sie da ist, ihrem Sein nach nicht von Natur aus vollkommen,44 wie es im 2. Buch der Ethik heißt. Es steht auch fest, daß sie nicht schicksalhaft zustande kommt, weil das, was schicksalhaft ist, außerhalb der Wahl liegt. Es bleibt darum nur übrig, daß die Tugend in uns 39 40 41 42 43 44

Vgl. Cyprian, De habitu virginum I (CSEL 3, 1). Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 7; 1141 b 4 f. Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 7; 1141 b 4 f. und VI, 6; 1144 b 34. Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 1; 1103 a 32. Übersetzung von annexa. Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 1; 1103 a 27–32.

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entweder durch Vorsatz oder von Gott her kommend erworben wird. Durch Vorsatz, so scheint es, kann die eine Tugend ohne die andere erworben werden, weil einer die Absicht haben kann, die eine Tugend und nicht die andere zu erwerben. Ähnlich ist es auch beim Empfang einer Tugend von Gott, weil jemand die eine Tugend erbitten kann aber nicht eine andere. In jeglicher Weise kann also die eine Tugend ohne die andere sein. 11. Das Ziel der sittlichen Tugenden steht zu deren Akt in derselben Beziehung wie beim Beweisen die Prinzipien zu den Schlußfolgerungen. Der Mensch kann aber die eine Schlußfolgerung ohne die andere ziehen. Darum kann er auch die eine Tugend ohne die andere besitzen. 12. Augustinus spricht in einem Brief mit dem Titel Über die Lehre des Jakobus, daß »es keine göttliche Lehre gibt, durch die gesagt wird: Wer die eine Tugend hat, hat alle«,45 und daß der Mensch eine Tugend ohne die anderen haben kann,46 z. B. die Barmherzigkeit und nicht die Selbstbeherrschung; genauso wie auch in den Gliedern des Körpers das eine in gutem Zustand sein47 kann, sei es im Sinne der Anmut oder der Gesundheit, und das andere nicht. Daher sind die Tugenden nicht untereinander verbunden. 13. Bei denen, die untereinander verbunden sind, ist dies entweder so wegen des Prinzips, wegen des Trägers oder wegen des Gegenstandes. Sie sind es nicht wegen des Prinzips, welches Gott ist, weil dann alle Güter, die von Gott sind, untereinander verbunden wären. Sie sind es auch nicht wegen des Trägers, der die Seele ist, weil dann alle untereinander verbunden wären. Ebenso sind sie es nicht wegen des Gegenstandes, weil sie durch die Gegenstände unterschieden werden. Das Prinzip der Unterscheidung und das der Verbindung ist aber nicht dasselbe. Also […] 14. Die verstandesmäßigen Tugenden stehen nicht mit den sittlichen Tugenden in Verbindung. Das wird vor allem am Verstehen der Prinzipien deutlich, das man ohne die sittlichen Tugenden haben kann. Die Klugheit ist aber eine verstandesmäßige Tugend, die 45 Augustinus, Ep. 167 (De sententia Iacobi liber) 3, 10 (PL 33, col. 736 f.). 46 Vgl. ebd. 47 Übersetzung von illuminatum.

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als einzige auch zu den Kardinaltugenden gezählt wird. Also hat sie keine Verbindung mit den anderen Kardinaltugenden, die sittliche Tugenden sind. 15. In der ewigen Heimat wird es weder Glaube noch Hoffnung geben, sondern nur die heilige Liebe. Also werden auch im vollkommensten Stand die Tugenden nicht untereinander verbunden sein. 16. Die Engel, die keine sinnenhaften Kräfte haben, und ähnlich die abgeschiedenen Seelen, besitzen die heilige Liebe und die Gerechtigkeit, die ewig und unsterblich ist. Sie haben aber kein Maßhalten und keine Tapferkeit, weil diese »Tugenden zu den unvernünftigen Seelenteilen gehören«,48 wie im 3. Buch der Ethik gesagt ist. Die Tugenden sind also nicht untereinander verbunden. 17. Genauso wie die Tugenden der Seele sind, sind es auch die körperlichen Vermögen. Unter den körperlichen Vermögen gibt es keine Verbindung. Jemand kann nämlich das Sehvermögen haben, aber nicht das Hörvermögen. Also gibt es auch unter den Tugenden der Seele keine Verbindung 18. Gregor der Große sagt in seinem Kommentar zum Buch Ezechiel, daß »niemand auf einen Schlag der Größte wird«,49 und in Ps. 84 (83), 8 heißt es, daß sie von Tugend zu Tugend gehen werden. Der Mensch erwirbt also die Tugenden nicht gleichzeitig, sondern nacheinander. Darum sind die Tugenden nicht untereinander verbunden. Dagegen spricht: 1. Ambrosius sagt in seinem Kommentar zum Lukasevangelium: »Sie sind untereinander verbunden und verknüpft, so daß, wer eine hat, alle zu haben scheint«.50 2. Gregor der Große sagt in Moralische Betrachtungen zum Buch Ijob, daß, wenn man eine Tugend ohne die anderen hat, es entweder keine Tugend ist, oder sie nicht vollkommen ist.51 Die Vollkommen48 Aristoteles, Eth. Nic. III, 10; 1117 b 24. 49 Gregor der Große, Hom. in Ez. II, 3, 3 (CCSL 142, 238). 50 Ambrosius, Expos. ev. sec. Luc. V, 63 (CSEL 32/4, 207). Kommentar

zu Lk. 6, 20. 51 Vgl. Gregor der Große, Moralia XXII, 1, 2 (CCSL 143, 1093).

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heit aber gehört zum Wesen der Tugend: Die Tugend nämlich ist eine gewisse Vollkommenheit52, wie es im 7. Buch der Physik heißt. Also sind die Tugenden untereinander verbunden. 3. Eine Glosse kommentiert Ez. 1, 11 »Die beiden Flügel von jedem wurden verbunden«: »Die vier Tugenden sind folgendermaßen … verbunden: Wem die eine fehlt, dem fehlt auch die andere«.53 Antwort: Wir können über die Tugenden in zweifacher Weise sprechen: über die Tugenden als vollkommene und über die Tugenden als unvollkommene. Die vollkommenen Tugenden sind nämlich untereinander verbunden; die unvollkommenen Tugenden sind nicht notwendig verbunden. Um das zu verstehen, muß man wissen, daß, wenn es »die Tugend ist, die den Menschen gut macht und sein Werk gut macht«,54 jene Tugend vollkommen ist, die vollkommen das gute Werk des Menschen hervorbringt und ihn selbst gut macht. Jene Tugend aber ist unvollkommen, die den Menschen und sein Werk nicht einfachhin gut macht, sondern nur in bestimmter Hinsicht. Einfachhin findet sich aber das Gute in den menschlichen Akten nur dadurch, daß es die Richtnorm der menschlichen Akte erreicht. Die eine Richtnorm stimmt mit der menschlichen Natur überein,55 nämlich die richtige Einsicht. Die andere Richtnorm aber ist das erste uns überschreitende Maß, welches Gott ist. Zur richtigen Einsicht aber gelangt der Mensch durch die Klugheit, die die rechte Einsicht in den Bereich des Handelns ist,56 wie Aristoteles im 6. Buch der Ethik sagt. Zu Gott aber gelangt der Mensch, gemäß 1 Joh. 4, 16, durch die heilige Liebe: »Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm«. Daher gibt es also einen dreifachen Grad der Tugenden: 52 Vgl. Aristoteles, Phys. VII, 3; 246 b 2. 53 Glossa ordin. in Ez. 1, 11 (ed. princeps, 3, 224 b–225 a); entnommen

aus: Hieronymus, Comm. in Ez. I, 1 (PL 25, col. 25). 54 Aristoteles, Eth. Nic. II, 6; 1106 a 17 f. 55 Übersetzung von una quasi homogenea et propria homini. 56 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 5; 1140 b 5 f.

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Einige Tugenden nämlich, die ohne die Klugheit bestehen, sind ganz unvollkommen; sie erreichen – genauso wie die Neigungen, die einige zu Werken der Tugenden von Geburt an haben – nicht die rechte Vernunft, wie es in Jb. 31, 18 heißt: »Von Kindheit an ist das Mitleid mit mir gewachsen und es kam mit mir aus dem Mutterschoß hervor«. Solche Neigungen aber sind nicht bei allen gleich, vielmehr haben einige die Neigung zum einen und einige zum anderen. Diese Neigungen haben nicht das Merkmal der Tugend, weil, gemäß Augustinus, keiner die Tugend schlecht gebraucht.57 Derartigen Neigungen aber kann jemand schlecht und Schaden bringend folgen, wenn er sie ohne Unterscheidung gebraucht, wie das Pferd, wenn es blind ist desto heftiger sich stößt, je schneller es läuft. Daher sagt Gregor der Große in Moralische Betrachtungen zum Buch Ijob, daß die anderen Tugenden nur dann Tugenden sein können, wenn die Strebenden klug handeln.58 Daher können dort die Neigungen, die ohne Klugheit sind, nicht in vollkommener Weise das Merkmal der Tugend haben. Der zweite Grad der Tugenden betrifft aber jene, die die rechte Vernunft berühren, aber dennoch nicht mit der heiligen Liebe Gott selbst berührt haben. Diese Tugenden sind nämlich durch den Vergleich zum menschlichen Guten irgendwie, aber nicht einfachhin vollkommen, weil sie nicht die erste Richtnorm berühren, die das letzte Ziel ist,59 wie Augustinus in Gegen Julian sagt. Deswegen fehlt ihnen – genauso wie auch den sittlichen Neigungen ohne Klugheit – das eigentliche Merkmal der Tugend. Der dritte Grad betrifft die einfachhin vollkommenen Tugenden, die zugleich mit der heiligen Liebe bestehen. Diese Tugenden nämlich machen den Akt des Menschen, der sich sozusagen das letzte Ziel richtet, einfachhin gut. Man muß aber dabei folgendes bedenken: Genauso wie die sittlichen Tugenden – in dem schon benannten Sinne – nicht ohne Klug57 Vgl. Augustinus, De lib. arb. II, 19 (CCSL 29, 271); Retract. I, 9, 4 (CCSL 57, 25); vgl. De virt. q. 1, a. 2. 58 Vgl. Gregor der Große, Moralia XXII, 1, 2 (CCSL 143, 1093). 59 Vgl. Augustinus, Contra Iulianum I, 5, 16 (PL 44, col. 650) und ders., De div. qu. 83, 69, 7 (CCSL 44 A, 191).

2. Artikel

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heit sein können, so auch die Klugheit nicht ohne die sittlichen Tugenden, denn die Klugheit ist die rechte Einsicht in das, was getan werden soll. Zur rechten Einsicht in jede Gattung von Handlungsbereichen ist erforderlich, daß jemand eine Einschätzung des Sachverhalts und ein Urteil über die Prinzipien besitzt, aus denen jene Einsicht hervorgeht, z. B. kann jemand bei geometrischen Fragen keine richtige Einschätzung vornehmen, wenn er keine rechte Einsicht in die geometrischen Prinzipien hat. Die Prinzipien der Handlungsbereiche sind die Ziele. Aus diesen wird nämlich die Einsicht dessen gewonnen,60 was getan werden soll. Über das Ziel aber hat jeder durch den Habitus der sittlichen Tugend ein richtiges Urteil, denn Aristoteles sagt im 3. Buch der Ethik: Wie jeder einzelne beschaffen ist, so erscheint ihm auch das Ziel.61 Beispielsweise erscheint dem Tugendhaften das Gute erstrebenswert als das Ziel, das der Tugend entspricht, und dem Lasterhaften jenes, das zu jenem Laster gehört. Ähnlich ist es beim kranken und gesunden Geschmack. Darum ist es notwendig, daß jeder, der Klugheit besitzt, auch die anderen sittlichen Tugenden hat. Ähnlich ist es auch bei dem, der die heilige Liebe hat, notwendig, daß er alle anderen Tugenden besitzt. Die heilige Liebe ist nämlich, gemäß Röm. 5, 5 im Menschen durch göttliche Eingießung: »Die Liebe Gottes ist in unsere Herzen eingegossen durch den heiligen Geist, der uns gegeben worden ist«. Wem auch immer Gott eine Neigung verleiht, dem gibt er aber auch Formen, die die Prinzipien der Handlungen und Bewegungen sind, zu denen die Dinge von Gott hingeneigt sind. Beispielsweise gibt er dem Feuer die Leichtigkeit, durch das es schnell und leicht nach oben strebt. Darum heißt es in Wsh. 8, 1, daß er alles vortrefflich angeordnet hat. Darum ist es notwendig, daß in ähnlicher Weise zusammen mit der heiligen Liebe die habituellen Formen eingegossen sind, die ungehindert Akte hervorbringen, zu denen die heilige Liebe hinneigt. Die heilige Liebe aber neigt zu allen Akten der Tugenden, denn, wenn sie sich auf das letzte Ziel bezieht, verursacht sie alle Akte der Tugenden. Jede Kunst oder Tugend nämlich, zu der ein Ziel ge60 Übersetzung von sumitur. 61 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. III, 7; 1114 b 14 ff.

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hört, befiehlt denen, die sich auf das Ziel beziehen, genauso wie der General dem Reiter und der Reiter den Sattlern befiehlt,62 wie es im 1.  Buch der Ethik heißt. Daher werden, dem Rang der göttlichen Weisheit und Gutheit entsprechend, mit der heiligen Liebe zusammen der Habitus aller Tugenden eingegossen. Darum wird in 1 Kor. 12, 4 gesagt: »Die Liebe ist geduldig, sie ist gütig …« So sind die Tugenden also, wenn wir von den einfachhin vollkommenen Tugenden ausgehen, aufgrund der heiligen Liebe untereinander verbunden, denn keine solche Tugend kann man ohne die heilige Liebe haben und durch die heilige Liebe, die man besitzt, hat sie jeder. Wenn wir aber von den vollkommenen Tugenden im zweiten Grad mit der Hinsicht auf das menschliche Gute ausgehen, so sind sie durch die Klugheit verbunden, weil es ohne die Klugheit keine sittliche Tugend geben kann, und man auch die Klugheit nicht besitzen kann, wenn jemandem die sittliche Tugend fehlt. Wenn wir aber von den vier Kardinaltugenden ausgehen, sofern sie gewisse allgemeine Bedingungen der Tugenden einschließen, haben sie, insofern eine Verbindung untereinander, als daß zu einem Akt der Tugend es nicht ausreicht, wenn nur eine dieser Bedingungen erfüllt ist, denn es müssen63 alle erfüllt sein. In diesem Sinne scheint Gregor der Große in Moralische Betrachtungen zum Buch Ijob die Ursachen der Verbindung der Tugenden untereinander zu bestimmen.64 Zu 1. Wegen der Neigung, die von Natur aus oder durch ein Geschenk der Gnade da ist, das jemand zur Ausübung der einen Tugend mehr hat als zu der einer anderen, ist er auch bereiter zur Ausübung der einen Tugend als zu der der anderen. In diesem Sinn sagt man von den Heiligen, daß sie Tugenden haben, zu deren Akt sie mehr bereit sind und keine haben, zu denen sie weniger bereit sind. Zu 2. Wenn ein Habitus an sich bewirkt, daß man ohne zu zögern und freudig handelt, kann dies dennoch durch etwas Unerwartetes verhindert werden, z. B. wird derjenige, der den Habitus der Wissenschaft hat, manchmal an dessen Gebrauch durch Schläfrigkeit oder 62 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. I, 1; 1094 a 11–14. 63 Übersetzung von nisi omnes adsint. 64 Vgl. Gregor der Große, Moralia XXII, 1, 2 (CCSL 143, 1093).

2. Artikel

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Trunkenheit oder etwas derartigem gehindert. Wer das bereut, folgt also mit Hilfe der geschenkt wirkenden Gnade, der heiligen Liebe und allen anderen Habitus der Tugenden, aber wegen verbliebener Spuren65 aus den Akten früherer Sünden, erleidet man die Schwierigkeit in der Ausübung der Tugenden, die man habituell empfängt. Dies trifft freilich bei den erworbenen Tugenden nicht zu durch die Übung der Akte, durch die gleichzeitig und entgegengesetzte Anlagen aufgehoben werden und die Habitus der Tugenden entstehen. Zu 3. Wer getauft wird, empfängt mit der heiligen Liebe gleichzeitig auch die Klugheit und alle anderen Tugenden. Bei der Notwendigkeit der Klugheit ist es aber nicht so, daß der Mensch in allem, z. B. beim Handel, beim Krieg führen und derartigem, gut beraten ist, sondern bei dem, was die Notwendigkeiten für das ewige Heil betrifft. Dies fehlt all denen nicht, die in der Gnade stehen, wie schlicht sie auch sein mögen. Das entspricht 1 Joh. 2, 27: »Das Salböl wird euch über alles belehren«. Eine Ausnahme bilden Getaufte, deren Akt der Klugheit stark behindert ist, z. B. durch körperliche Gebrechen im Alter, bei Kindern oder durch verkehrte Veranlagungen bei Narren und Wahnsinnigen. Zu 4. Die Kunstgebilde verschiedener Gattungen folgen ganz verschiedenen Prinzipien. Darum hindert nichts daran, die Kunst hinsichtlich nur einer ihrer Gattungen und nicht auch anderer zu beherrschen. Die Prinzipien der sittlichen Gegenstände aber sind aufeinander so hingeordnet, daß aus dem Mangel des einen auch ein Mangel bei den anderen folgen würde, z. B. wenn jemandem das Prinzip, nicht den Begierden folgen zu sollen, fehlen würde. Würde er manchmal dem folgen, was zur Begierde gehört, würde er, indem er der Begierde folgt, ein Unrecht begehen und so die Gerechtigkeit verletzten. Genauso zieht in ein und derselben Kunst oder Wissenschaft, z. B. in der Geometrie, der Irrtum in einem Prinzip auch den Irrtum in der ganzen Wissenschaft nach sich. Daher kommt es, daß jemand in der Beherrschung der Materie einer Tugend nicht in ausreichendem Maße klug sein kann, wenn er nicht in allen klug ist. Zu 5. Man kann von jemand hinsichtlich eines Aktes behaupten, daß er freigebig, aber nicht großzügig ist, denn jemand, der zu we65 Übersetzung von dispositiones.

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nig hat, kann im Gebrauch dessen, was er hat, den Akt der Freigebigkeit, nicht aber den glanzvoller Großzügigkeit ausüben, obwohl jemand den Habitus hat, durch den er auch den Akt der Großzügigkeit ausüben würde, hätte er die Mittel dazu. Ähnlich ist es auch bei der Bescheidenheit und der Großmut. Diese Antwort ist ganz auf die eingegossenen Tugenden zu beziehen. Auch bei den durch Akte erworbenen Tugenden kann man sagen, daß der, der den Habitus der Freigebigkeit im Gebrauch kleiner Dinge66 sich erworben hat, noch nicht den Habitus der Großzügigkeit hat, sondern nur den Habitus der Freigebigkeit wirklich besitzt. Er befindet sich aber in der nächsten Hinordnung darauf, daß er den Habitus der Großzügigkeit durch einen geringfügigen Akt erwirbt. Darum gilt: Was immer in der Nähe ist, als würde man es schon haben, scheint dasselbe zu sein, als hätte er es schon gehabt, denn, wofür nur wenig fehlt, dafür scheint sozusagen nichts mehr zu fehlen,67 wie es im 2. Buch der Physik heißt. Zu 6. Weisheit und Wissen werden in jenen Worten des Apostels, weder sofern sie verstandesmäßige Tugenden sind, die dennoch, wie gesagt,68 keine Verbindung untereinander haben, noch sofern sie Gaben des Heiligen Geistes sind, die der heiligen Liebe nach eine Verbindung untereinander haben, verstanden. Sofern sie aber umsonst geschenkte Gnaden sind, besitzt jemand Wissenschaft und Weisheit in Überfülle, so daß er andere hinsichtlich des ewigen Zieles und der Gotteserkenntnis aufbauen und Widersprechendes als verwerflich nachweisen kann. Daher sagt Paulus auch nicht ›den einen wird Weisheit gegeben, den anderen Wissenschaft‹, sondern ›den einen wird Weisheitsrede, den anderen Erkenntnisrede gegeben‹. Daher sagt Augustinus im 14. Buch von Über die Dreifaltigkeit, daß »die meisten Gläubigen über eine derartige Wissenschaft nicht verfügen, obwohl sie stark sind im Glauben selbst«.69 Der Glaube wird dort auch nicht, wie einige meinen, als ungeformter Glaube verstanden, weil das Geschenk des Glaubens allen gemeinsam ist, sondern als 66 67 68 69

Übersetzung von substantiae. Vgl. Aristoteles, Phys. II, 6; 197 a 28. Vgl. De virt. q. 5 a. 2 ad 4. Augustinus, De trin. XIV, 1, 3 (CCSL 50 A, 424).

2. Artikel

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eine gewisse Beständigkeit oder Sicherheit des Glaubens, die manchmal auch auf die Sünder überfließt. Zu 7. ›Jungfräulichkeit‹ bezeichnet nach der Meinung einiger keine Tugend, sondern einen vollkommeneren Stand der Tugend. Es ist aber nicht notwendig, daß jeder, der eine Tugend hat, diese im vollkommenen Grade besitzt. Darum kann man Keuschheit und andere Tugenden ohne die Jungfräulichkeit besitzen. Oder, gesetzt den Fall, daß die Jungfräulichkeit eine Tugend ist, wird sie dies insofern sein, als sie einen Habitus des Geistes einschließt, durch den jemand die Wahl trifft, die Jungfräulichkeit um Christi willen zu bewahren. Dies kann freilich ein Habitus auch bei denen sein, die der Unversehrtheit des Fleisches entbehren, genauso wie es auch den Habitus der Großzügigkeit ohne die Fülle der Reichtümer geben kann. Zu 8. Die verstandesmäßigen Tugenden sind nicht untereinander verbunden, und dies aus drei Gründen: Erstens nämlich, weil sie sich auf die verschiedenen Gattungen der Dinge beziehen, sind sie nicht einander zugeordnet, wie es schon für die Künste ausgeführt wurde; 70 zweitens, weil in den Wissenschaften Prinzipien und Schlußfolgerungen nicht austauschbar sind, nämlich in der Weise, daß jeder, der die Prinzipien hat auch die Schlußfolgerungen hat, wie man von sittlichen Gegenständen sagt; drittens, weil die verstandesmäßige Tugend keine Beziehung zur heiligen Liebe hat, durch die der Mensch auf das letzte Ziel hingeordnet ist. Darum werden derartige Tugenden auf Einzelgüter hingeordnet, z. B. die Geometrie auf das, was man an abstrakten Gegenständen abmessen kann, die Physik auf das, was sich bewegen kann und genauso bei den anderen Fachgebieten. Daher sind sie, wie oben in der Antwort gesagt, nicht aus demselben Grund untereinander verbunden, durch den auch die unvollkommenen Tugenden es nicht sind. Zu 9. Es gibt Tugenden, die den Menschen auf das hinordnen, was ihm in seinem Leben begegnet, wie das Maßhalten, die Gerechtigkeit, die Milde und derartiges. Bei diesen ist es notwendig, daß der Mensch, solange er sich im Akt dieser Tugend übt, entweder sich gleichzeitig auch in den Akten anderer Tugenden übt, und 70 Vgl. De virt. q. 5, a. 2, ad 4.

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dann erwirbt er auch gleichzeitig alle Habitus der Tugenden. Oder es ist notwendig, daß er sich in der einen gut verhält und in den anderen schlecht, und dann erwirbt er einen Habitus, der einer anderen Tugend entgegengesetzt ist. Folglich kommt es, wie schon in der Antwort gesagt, zu einer Zerstörung der Klugheit, ohne die auch die Anordnung, die er durch den Akt einer Tugend erworben hat, nicht das der Tugend eigene Merkmal hat. Solche erworbenen Habitus, die auf das bezogen sind, was einem Menschen allgemein im Leben begegnet, besitzt man schon der Kraft nach gewissermaßen in naher Hinordnung, wenn es andere Habitus der Tugenden gibt, deren Akte häufig im menschlichen Umgang begegnen, genauso wie es zum Verhältnis von Großzügigkeit und Freigebigkeit in der Erwiderung auf das fünfte Argument gesagt ist. Zu 10. Die erworbenen Tugenden werden durch eine Absicht verursacht, und es ist notwendig, daß sie alle zusammen in einem Menschen verursacht werden, der sich vornimmt, eine Tugend zu erwerben. Er würde sie nicht erwerben, wenn er nicht gleichzeitig die Klugheit erwirbt, weil man durch sie, wie in der Antwort gesagt, alle besitzt. Die eingegossenen Tugenden werden aber, wie in der Antwort gesagt, unmittelbar von Gott bzw. auch mit der heiligen Liebe als ihrer gemeinsamen Wurzel verursacht. Zu 11. Wie in der Antwort gesagt, sind – im Gegensatz zur Ethik – in der betrachtenden Wissenschaft die Prinzipien nicht mit den Schlußfolgerungen austauschbar. Darum gilt: Wer über die eine Schlußfolgerung verfügt, hat nicht notwendigerweise die andere. Dies wäre aber notwendig, wenn jeder, der die Prinzipien hat, auch die Schlußfolgerungen haben müßte, wie es im Einwand angenommen wird. Zu 12. Augustinus spricht in diesem Brief von den unvollkommenen Tugenden, die Hinordnungen zu den Akten der Tugenden sind. Er beweist selbst im 6. Buch von Über die Dreifaltigkeit, ihre Verbindung untereinander. Zu 13. Die Tugenden haben eine Verbindung auf Grund ihres nächsten Prinzips, d. h. ihrer Gattung, die die Klugheit oder die heilige Liebe ist, nicht aber auf Grund des entfernten und allgemeinen Prinzips, welches Gott ist.

3. Artikel

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Zu 14. Die Klugheit hat ihrer Art nach eine Verbindung zwischen den verstandesmäßigen und den sittlichen Tugenden hinsichtlich der Materie, auf die sie sich beziehen; sie ist nämlich auf die beweglichen Dinge bezogen. Zu 15. In der ewigen Heimat wird, nachdem Hoffnung und Glaube vergangen sind, Vollkommeneres folgen, d. h. die Anschauung und die Erfassung, die mit der heiligen Liebe verbunden sind. Zu 16. Bei den Engeln und bei den getrennten Seelen gibt es das Maßhalten und die Tapferkeit nicht in Bezug auf die Akte, auf die sie sich in diesem Leben beziehen, nämlich die Leidenschaften des sinnenhaften Seelenteils zu mäßigen, sondern in Bezug auf andere Akte,71 wie Augustinus im 14. Buch von Über die Dreifaltigkeit deutlich macht. Zu 17. Die Vermögen der Seele sind nicht mit dem Wesen der Seele austauschbar, obwohl kein Vermögen der Seele ohne das Wesen sein kann. Dennoch kann das Wesen der Seele – aufgrund der Zerstörung jener Organe, deren Akte derartigen Vermögen eigen sind – ohne Vermögen sein, z. B. ohne das Sehen und das Hören. Zu 18. Nicht deswegen ist der Mensch der größte, weil er alle Tugenden hat, sondern weil er sie in höchster Weise besitzt.

3. Artik el Die dritte Frage lautet: Sind alle Tugenden im Menschen gleich? 72 Das scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. In 1 Kor. 13, 13 heißt es: »Jetzt aber bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe, diese drei; am größten unter diesen aber ist die Liebe«. Das Größersein aber schließt die Gleichheit aus. Also sind die Tugenden in einem Menschen nicht gleich. 2. Es ist aber zu erwidern, daß die heilige Liebe größer hinsichtlich des Aktes, nicht aber hinsichtlich des Habitus ist. – Dagegen aber steht: Augustinus sagt im Buch Über die Dreifaltigkeit, daß

71 Vgl. Augustinus, De trin. XIV, 9, 12 (CCSL 50 A, 438 f.). 72 Paralleltexte: Sent. III, d. 33 q. 2 a. 1 ql. 3; In Eth. II, l. 8.

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»bei den Dingen, die nicht der Masse nach groß sind,73 das Großsein dasselbe wie Bessersein ist«.74 Der Habitus der heiligen Liebe aber ist besser als der Habitus der anderen Tugenden, weil er gemäß 1 Joh. 4, 16 mehr Gott berührt: »Wer in meiner Liebe bleibt, der bleibt in Gott«. Also ist die heilige Liebe dem Habitus nach größer als die anderen Tugenden. 3. Die Vollkommenheit geht dem, was durch sie vervollkommnet werden kann, voraus. Die heilige Liebe aber ist die Vollkommenheit der anderen Tugenden, wie es in Kol. 3, 14 heißt: »Über allem aber habt die Liebe, die das Band der Vollkommenheit ist«; und in 1 Tim. 1, 5 heißt es: »Das Ziel aber des Gesetzes ist die Liebe«. Sie ist also größer als die anderen Tugenden. 4. Das, was nichts Unvollkommenes an sich75 hat, ist vollkommener und größer, denn weißer ist, was mit dem Schwarzen weniger durchmischt ist. Der Habitus der heiligen Liebe ist mit nichts Unvollkommenem vermischt, denn der Glaube richtet sich auf das nicht Sichtbare und die Hoffnung auf das, was man nicht besitzt. Also ist die heilige Liebe auch dem Habitus nach vollkommener und größer als Glaube und Hoffnung. 5. Augustinus sagt im 19. Buch von Über den Gottesstaat: Wenn die Tugenden nicht auf Gott bezogen werden, sind sie Laster.76 Deshalb kann davon ausgegangen werden, daß der Begriff der Tugend durch die Hinordnung auf Gott vervollkommnet ist. Die heilige Liebe aber ordnet näher als die anderen Tugenden auf Gott hin, weil sie gemäß 1 Kor. 6, 17 den Menschen mit Gott eint: »Wer Gott anhängt, ist ein Geist mit ihm«. Darum ist die heilige Liebe die größere Tugend im Vergleich zu den anderen. 6. Die eingegossenen Tugenden haben ihren Ursprung in der Gnade, die deren Vollkommenheit ist. Die heilige Liebe hat aber an der Gnade vollkommener teil als die anderen Tugenden, denn die Gnade und die heilige Liebe begleiten einander untrennbar. Hingegen können Glaube und die Hoffnung ohne Gnade sein. Also ist die 73 74 75 76

Übersetzung von mole magna sunt. Vgl. Augustinus, De trin. VI, 8, 9 (CCSL 50, 238). Übersetzung von annexum. Vgl. Augustinus, De civ. Dei XIX, 25 (CCSL 48, 696).

3. Artikel

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heilige Liebe größer als die anderen Tugenden. Darum sind nicht alle Tugenden gleich. 7. Außerdem sagt Bernhard von Clairvaux im 1. Buch von Was ein Papst erwägen muß, daß die Klugheit die Materie77 der Tapferkeit ist, weil die Tapferkeit ohne die Klugheit sich überstürzt.78 Prinzip und Ursache von etwas sind aber größer und vorzüglicher als das Verursachte. Die Klugheit ist darum größer als die Tapferkeit. Also sind nicht alle Tugenden gleich. 8. Aristoteles sagt im 5. Buch der Ethik, daß die Gerechtigkeit die ganze Tugend ist, während die anderen Tugenden nur Teile davon sind.79 Das Ganze aber ist größer als der Teil. Also ist die Gerechtigkeit größer als die anderen Tugenden. Deshalb sind nicht alle Tugenden gleich. 9. Augustinus beweist im 11. Buch von Über den Wortlaut der Genesis, daß, wenn alle Dinge im Universum gleich wären, sie nicht alle existieren würden.80 Man besitzt aber alle Tugenden gleichzeitig, weil sie untereinander verbunden sind, wie im vorigen Artikel gezeigt worden ist. Daher sind also nicht alle Tugenden gleich. 10. Die Laster sind den Tugenden entgegengesetzt. Nun sind aber nicht alle Laster gleich. Daher sind auch nicht alle Tugenden gleich. 11. Lob gebührt den Tugendakten. Bestimmte Menschen werden jedoch mehr wegen der einen als wegen der anderen Tugend gelobt. Daher sagt Kassian im 5. Buch von Über die Einrichtungen der Klöster: »Der eine ist mit den Blüten der Wissenschaft geschmückt, 77 Im bernardischen Original steht: »Vides, fortitudinis matrem esse prudentiam: …« Sofern Thomas selbst die Klugheit als eine verstandesmäßige Tugend bezeichnet, in der die anderen sittlichen Tugenden verbunden sind, und sie so als nächste übergeordnete Tugend ihrem Wesen nach ursprünglicher ist als jene (vgl. De virt. q. 5, a. 1 und 2), oder wie er in der Antwort dieses Artikels sagt, die »moderatrix aliarum virtutum« ist, fällt es auf, daß der thomasische Gedanke sich besser in der Vorlage Bernhards wiederfindet als in der freien Zitation der vorliegenden Passage: prudentia est materia fortitudinis. 78 Vgl. Bernhard von Clairvaux, De consideratione I, 8, 9 (ed. Winkler III, 404). 79 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. V, 1; 1130 a 8 f. 80 Vgl. Augustinus, De Gen. ad litt, XI, 8, 10 (CSEL 28/1, 341).

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eines anderen Stärke besteht in der ungewöhnlichen Urteilskraft, die eines Dritten in einer außerordentlich großen Geduld. Der Eine zeichnet sich durch die Tugend der Demut, der Andere durch die der Enthaltsamkeit aus«.81 Folglich sind nicht alle Tugenden in einem Menschen gleich stark ausgeprägt. 12. Es ist aber zu erwidern, daß dies eine Ungleichheit gemäß dem Akt, nicht gemäß dem Habitus ist. – Dagegen aber steht, gemäß Aristoteles im 1. Buch der Zweiten Analytiken: Gegenstände, die auf etwas bezogen sind, sind gleichzeitig auf ihr Ziel ausgerichtet.82 Der Habitus aber ist definitionsgemäß auf einen Akt bezogen. Habitus besagt nämlich dasjenige, wodurch jemand handelt, wenn die Zeit gekommen ist,83 wie Augustinus im Buch Über das Gut der Ehe sagt. Wenn also der Akt der einen Tugend in einem Menschen größer ist als der Akt der anderen, folgt daraus, daß auch die Habitus ungleich sind. 13. Hugo von St. Viktor sagt, daß die Akte den Habitus verstärken.84 Wenn also die Akte der Tugenden ungleich sind, werden auch die Habitus der Tugenden ungleich sein. 14. Bei den sittlichen Gegenständen verhält sich der Tugendhabitus zum eigenen Akt genauso wie bei den natürlichen Dingen die Form zur eigenen Bewegung oder Tätigkeit. Bei den natürlichen Dingen ist es so: Je mehr jemand von der Form hat, desto mehr hat er von der Tätigkeit oder der Bewegung, denn das, was schwerer ist, strebt auch schneller nach unten, und das, was wärmer ist, macht mehr warm. Daher können auch bei sittlichen Fragen die Akte der Tugenden nur dann ungleich sein, wenn die Tugendhabitus ungleich sind. 15. Vollkommenes kann zu dem, was vervollkommnet werden soll, in Entsprechung stehen. Die Tugenden aber sind Vollkommenheiten der Vermögen der Seele, die ungleich sind, weil die Vernunft

81 Cassian, De inst. coenob. V, 4 (CSEL 17, 83). 82 Thomas bezieht sich vielmehr auf: Aristoteles, Cat. 7; 8 a 35–38. 83 Übersetzung von habitus quo quis agit cum tempus fuerit; vgl.

Augustinus, De bono coniugali 21, 25 (PL 40, col. 390). 84 Vgl. Hugo von St. Viktor, Didascalion II, 19 (ed. Offergeld, 190 f.).

3. Artikel

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die niederen Kräfte überschreitet, über die sie befiehlt. Folglich sind auch die Tugenden ungleich. 16. Gregor der Große sagt im 22. Buch der Moralischen Betrachtungen zum Buch Ijob und in der 15. Predigt über das Buch Ezechiel: Der selige Ijob beschreibt das Wachstum in der Tugenden als ›Stufe‹, weil er gesehen hat, wie unterschiedlich unter den Menschen die höchste Gabe verteilt ist, denn durch sie steigt man auf und gelangt zu den himmlischen Dingen, die man besitzen soll.85 Wo es aber Wachstum und Stufung gibt, ist keine Gleichheit. Darum sind die Tugenden ungleich. 17. Was immer sich so verhält, daß das eine wächst, während das andere schwindet, muß ungleich sein. Es scheint aber, daß die heilige Liebe wächst, während andere Tugenden schwinden, denn der Stand in der ewigen Heimat, in dem die heilige Liebe vervollkommnet wird, ist dem Pilgerstand entgegengesetzt, in dem der Glaube seinen Ort hat. Solange aber der eine der Gegensätze wächst, schwindet der andere. Also können heilige Liebe und Glaube nicht gleich sein. Darum sind nicht alle Tugenden gleich. Dagegen spricht: 1. In Apk. 21, 16 wird gesagt, daß die Seiten der Stadt gleich lang sind. Gemäß der Glosse werden durch diese Seiten die Tugenden bezeichnet.86 Also sind die Tugenden gleich. 2. Augustinus sagt im 6. Buch von Über die Dreifaltigkeit: »Alle, die an … Tapferkeit gleich sind, sind es auch an Klugheit … und an Maßhalten. Wenn man nämlich behaupten würde, daß sie an Tapferkeit gleich sind, aber einen die anderen an Klugheit überragen ließe, folgte daraus, daß die Tapferkeit der anderen weniger klug wäre, und sie wären dann auch nicht mehr an Tapferkeit gleich, wenn die Tapferkeit des einen klüger wäre. Denselben Sachverhalt findet man bei den übrigen Tugenden, wenn man sie nach diesem Gesichtspunkt durchgeht«.87 Es wäre aber nicht notwendig, daß diejenigen, die in 85 Vgl. Gregor der Große, Moralia XXII, 20, 46 (CCSL 143, 1125 f.); Hom. in Ez. II, 3, 3 (CCSL 142, 238). 86 Vgl. Glossa ordin. in Apk. 21, 16 (ed. princeps 4, 575 b). 87 Vgl. Augustinus, De trin. VI, 4, 6 (CCSL 50, 233 f.).

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der einen Tugend gleich sind auch in der anderen gleich sind, es sei denn, daß alle Tugenden in einem Menschen gleich sind. 3. Gregor der Große sagt in seinem Ezechielkommentar, daß Glaube, Hoffnung, heilige Liebe und die Tätigkeit gleich sind.88 Aus demselben Grund sind also alle anderen Tugenden gleich. 4. Zu dem Wort aus Ez. 46, 22 »alle vier hatten dasselbe Maß« sagt eine Glosse: Durch diese machen wir Fortschritte in der Tugend.89 Diese Maßeinheiten des einen aber sind gleich; darum sind alle gleich. 5. Johannes von Damaskus sagt: »Es gibt natürliche Tugenden, und sie sind bei allen in gleicher Weise als akzidentelles Sein90 vorhanden«.91 Also sind die Tugenden gemäß ihrem akzidentellen Sein gleich. 6. Der größere Lohn ist der Betätigung der größeren Tugend geschuldet. Wenn darum im Menschen die eine Tugend höher wäre als die andere, würde daraus folgen, daß demselben Menschen ein höherer und ein geringerer Lohn zugleich geschuldet würde. Das aber macht keinen Sinn. 7. Wenn das einfachhin Zukommende aus dem einfachhin Zukommenden folgt, folgt auch das Mehr aus dem Mehr. Darauf aber, daß man die eine Tugend hat, folgt, daß man alle Tugenden hat, weil die Tugenden verbunden sind, wie schon im vorangegangenen Artikel gesagt. Darauf also, daß die eine Tugend in höherem Maße besessen wird, folgt, daß alle mehr besessen werden. Es ist also notwendig, daß alle Tugenden gleich sind. Antwort: Von ›gleich‹ und ›ungleich‹ spricht man hinsichtlich der Quantität. Das Eine wird nämlich der Quantität nach ›gleich‹, der Qualität nach ›ähnlich‹ und der Substanz nach ›dasselbe‹ genannt,92 wie es im 5. Buch der Metaphysik dargetan wird. Die Quantität schließt 88 89 90 91 92

Vgl. Gregor der Große, Hom. in Ez. II, 10, 17 (CCSL 142, 392). Unbekannt. Ergänzung im Zitat durch Thomas. Johannes Damascenus, De fide orth. 58, 24 (ed. Buytaert, 226). Vgl. Aristoteles, Met. V, 15; 1121 a 11 f.

3. Artikel

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den Begriff des Maßes ein. Dies ist nämlich zuerst bei den Zahlen zu finden, an zweiter Stelle aber bei den Größen und auf irgendeine andere Weise auch bei allen anderen Gattungen,93 wie es im 9. Buch der Metaphysik deutlich wird. Denn in jeder Gattung ist das, was am einfachsten und vollkommensten ist, das Maß von allem anderen, wie die Weiße bei den Farben und der tägliche Lauf der Sonne bei den bewegten Dingen, weil jede einzelne Sache um so vollkommener ist, je näher sie zum ersten Prinzip seiner Gattung steht. Daraus wird klar, daß die Vollkommenheit jeder einzelnen Sache, sofern sie auf ihr Maß ausgerichtet ist, vom ersten Prinzip herrührt; ähnlich ist es hinsichtlich ihrer Quantität. Das ist es, was Augustinus im 8. Buch von Über die Dreifaltigkeit sagt, daß bei denen, die nicht quantitativ bestimmt sind, das ›größer‹ ›besser‹ meint.94 Wenn aber bei jeder Form, die nicht selbständig existiert, das Sein in dem besteht, was dem Träger oder der Materie innewohnt, kann die Quantität oder die Vollkommenheit in zweifacher Weise betrachtet werden: Auf die eine Weise gemäß dem Wesen der eigenen Art, auf die andere Weise gemäß dem Sein, das es in der Materie oder im Träger hat. Gemäß dem Wesen der je eigentümlichen Art sind nämlich die Formen der verschiedenen Arten ungleich; einige Formen einer einzelnen Art können freilich gleich sein, einige aber nicht. Es ist nämlich notwendig, ein artbestimmendes Prinzip auch in etwas Unteilbarem anzunehmen. Ist nämlich ein derartiges Prinzip ein anderes, verändert es auch die Art.95 Darum gilt: Wenn durch dieses Prinzip eine Hinzufügung oder ein Abziehen zustande käme, würde die Art notwendigerweise verändert werden. Deshalb sagt auch Aristoteles im 8. Buch der Metaphysik, daß die Arten der Dinge sich verhalten wie die Zahlen, in denen die hinzugefügte oder abgezogene Einheit die Art verändert.96 93 Vgl. Aristoteles, Met. IX, 1; 1052 b 18–22. 94 Vgl. Augustinus, De trin. VI, 8, 9 (CCSL 50, 238); De virt. q. 5 a. 3

obj. 2. 95 Übersetzung von differentia enim huiusmodi principii speciem variat. 96 Vgl. Aristoteles, Met. VIII, 3; 1043 b 32–1044 a 2.

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Es gibt tatsächlich einige Formen, die die Art durch das bestimmen, was ihrem Wesen eigen ist, z. B. alle absoluten Formen, seien sie substantiell oder akzidentell. Bei solchen Formen ist es unmöglich, daß man auf diese Weise in derselben Art die eine Form mehr als die andere vorfindet, denn das eine Weißsein für sich betrachtet ist nicht mehr Weißsein als das andere. Es gibt jedoch andere Formen, die eine Art durch etwas Äußerliches, auf das sie hingeordnet sind, bestimmen, so wie die Art der Bewegung durch das Ziel bestimmt wird. Daher steht die eine Bewegung höher als die andere, je nach der Nähe oder der Distanz zum Ziel. Ähnlich findet man Qualitäten, die Anlagen in Hinordnung auf etwas sind, wie die Gesundheit eine Ausgewogenheit der Körpersäfte in Hinordnung auf die Natur des Lebewesen ist; das nennt man ›gesund‹. Darum ist eine bestimmte Stufe der Ausgewogenheit der Körpersäfte im Löwen für ihn Gesundheit; im Menschen wäre es Krankheit. Weil also die Gesundheit nicht dem Grad der Ausgewogenheit nach die Art empfängt, sondern der Natur des Lebewesens nach auf diese Ausgewogenheit hingeordnet ist, bedeutet das auch, daß in demselben Lebewesen die eine Gesundheit in dem einen Bereich besser als im anderen ist, wie es im 10. Buch der Ethik heißt,97 sofern es nämlich verschiedene Grade der Ausgewogenheit der Körpersäfte geben kann, durch die die Harmonie der menschlichen Natur aufrechterhalten wird. Genauso verhält es sich mit der Wissenschaft, die ihre Einheit aus der Einheit des Trägers empfängt, weshalb im einen die Geometrie besser ausgebildet sein kann als im anderen, sofern er mehrere Schlüsse ziehen kann, die auf die Erkenntnis des Trägers der Geometrie hingeordnet sind, welches die Größe ist. In ähnlicher Weise können hinsichtlich der Quantität an Vollkommenheit, die solche Formen haben, sofern sie in einer Materie oder in einem Träger sind, einige Formen einer Art ungleich sein, sofern sie sich mehr oder weniger darin befinden. Andere Formen aber können nicht mehr oder weniger darin sein. Nicht jede Form nämlich, die die Art dem Träger, in dem sie ist, gibt, kann mehr oder weniger in ihm sein. Das artbestimmende 97 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. X, 2; 1173 a 24–28.

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Prinzip muß, wie gesagt, in etwas Unteilbarem bestehen. Das ist deshalb so, weil keine substantiale Form durch ein Mehr und Weniger bestimmt sein kann. Ähnlich wird auch, wenn die Art durch eine Form bestimmt wird, das, was seinem Wesen nach unteilbar ist, nicht im Sinne des Mehr und Weniger benannt. Daher kommt es, daß die Zwei und jede andere Art der Zahl, die gemäß einer hinzugefügten Einheit ihrer Art nach bestimmt wird, kein Mehr oder Weniger aufnimmt. Derselbe Grund gilt für die Figuren, die gemäß der Zahl ihrer Art nach bestimmt werden, wie das Dreieck und das Quadrat, ebenso bei bestimmten Quantitäten, wie zwei Ellen und drei Ellen, oder bei den Zahlenrelationen wie das Zweifache und das Dreifache. Die Formen aber, die dem Träger weder die Art verleihen noch sie durch etwas bestimmen, was seinem Wesen nach unteilbar ist, können mehr oder weniger im Träger sein, wie z. B. das Weiße und das Schwarze und anderes derartiges. Daraus ergibt sich, daß sich etwas in zweifacher Weise zu verschiedenen Formen hinsichtlich der Gleichheit und Ungleichheit verhalten kann: Es gibt nämlich einige Formen, die in derselben Art keine Ungleichheit zulassen – weder in sich selbst, d. h., daß das eine von ihnen größer als das andere derselben Art wäre, noch dem Sein nach, d. h. daß es nämlich mehr im Träger wäre. Von dieser Art sind alle substantiellen Formen. Sie erlauben die Ungleichheit nicht in sich selbst, sondern nur, sofern sie dem Träger innewohnt, wie z. B. das Weißsein und das Schwarzsein. Einige Formen erlauben98 aber doch die Ungleichheit in sich selbst, auch wenn sie in dieser Hinsicht nicht dem Träger innewohnen, wie beispielsweise das eine Dreieck größer als das andere genannt wird, weil die Linien des einen Dreiecks länger sind als die anderen, obgleich sie auf ein artbestimmendes Eines hingeordnet sind; dennoch ist nicht die eine Fläche mehr Dreieck als die andere. Es gibt aber einige Formen, die Ungleichheit sowohl in sich selbst als auch einem Träger innewohnend erlauben, wie z. B. die Gesundheit, die Wissenschaft und die Bewegung. Die Bewegung ist näm98 Übersetzung von recipiunt.

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lich ungleich, entweder weil sie eine größere Strecke (als die eines anderen zurücklegt oder weil das Bewegbare schneller bewegt wird. Ähnlich ist auch die Wissenschaft des einen größer als die des anderen, entweder weil er mehr Schlüsse ziehen kann, oder weil er diese Dinge besser versteht. Ähnlich kann auch die Gesundheit ungleich sein, entweder weil beim einen der Grad der Ausgewogenheit der Körpersäfte der geschuldeten und vollkommenen Harmonie99 näher kommt als beim anderen, oder weil der eine in Bezug auf denselben Grad der Ausgewogenheit sich stabiler und besser verhält als der andere. Nachdem also all dies vor Augen geführt worden ist, ist hinsichtlich der Gleichheit und Ungleichheit der Tugenden zu sagen, daß, wenn wir von der Ungleichheit der Tugenden für sich selbst betrachtet sprechen, auf diese Weise die Tugenden verschiedener Arten ungleich sein können. Wenn nämlich die Tugend die Anlage des Vollkommenen auf das Beste hin ist,100 wie es im 7. Buch der Ethik heißt, ist jene Tugend vollkommener und größer, die auf das höhere Gut hingeordnet ist. Sofern die theologischen Tugenden, deren Gegenstand Gott ist, vorzüglicher sind als die anderen, ist unter ihnen dennoch die heilige Liebe größer, weil sie näher mit Gott verbindet. Ebenfalls steht die Hoffnung höher als der Glaube, weil nämlich die Hoffnung in gewisser Weise das Gemüt zu Gott hin bewegt; der Glaube aber bewirkt, daß Gott im Menschen auf die Weise der Erkenntnis ist. Unter den anderen Tugenden aber ist die Klugheit am größten, weil sie die Leiterin der anderen ist. Nach dieser schließt sich die Gerechtigkeit an, durch die der Mensch sich gut verhält nicht nur in Bezug auf sich selbst, sondern auch zum anderen. Nach ihr folgt die Tapferkeit, durch die der Mensch wegen des Guten die Todesgefahr verachtet. Dann kommt das Maßhalten, durch das der Mensch um des Guten willen die größten leiblichen Genüsse gering schätzt. Innerhalb derselben Art der Tugend kann man aber nicht eine solche Ungleichheit antreffen, wie man sie innerhalb derselben Art der Wissenschaft findet, weil es nicht zum Wesen der Wissenschaft ge99 Übersetzung von aequalitati. 100 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 2; 1139 a 16 f.

3. Artikel

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hört, daß derjenige, der eine Wissenschaft beherrscht, alle Schlußfolgerungen jener Wissenschaft kennt, aber es zur Tugend gehört, daß der, der sie hat, sich in all dem gut verhält, was zu jener Tugend gehört. Hinsichtlich der Vollkommenheit und Quantität der Tugend, sofern sie in einem Träger ist, kann es auch eine Ungleichheit in derselben Art der Tugend geben, sofern der eine, der die Tugend hat, besser auf das bezogen ist, was zu jener Tugend gehört als der andere, und zwar entweder wegen seiner besseren Naturanlage oder wegen der besseren Ausübung, wegen des besseren Vernunfturteils oder wegen einer Gnadengabe. Denn die Tugend verleiht weder dem Träger die Art noch besitzt sie etwas Unteilbares in ihrem Wesen, außer bei den Stoikern, die sagten, daß keiner eine Tugend hat, wenn er sie nicht im höchsten Maße besitzt, und folglich101 würden alle in gleicher Weise dieselbe Tugend besitzen. Das scheint aber nicht das Wesen einer Tugend zu sein; eine solche Verschiedenheit in der Weise des Teilhabens an der Tugend ist nämlich im oben Gesagten schon dargelegt. Sie gehört nicht zum Wesen einer einzelnen Tugend, z. B. der Keuschheit oder einer ähnlichen. So können also in verschiedenen Menschen Tugenden ungleich sein, sowohl in Bezug auf die verschiedenen Arten der Tugenden, als auch – sofern sie im Träger sind – in Bezug auf die eine Art der Tugend.102 Aber in ein und demselben Menschen sind Tugenden hinsichtlich ihrer Quantität und ihrer Vollkommenheit, die die Tugend für sich selbst genommen hat, natürlich ungleich. Bezüglich aber jener Quantität und Vollkommenheit, die die Tugend hat, sofern sie einem Träger innewohnt, ist es nämlich einfachhin notwendig, daß alle Tugenden gleich sind. Aus demselben Grund sind sie auch untereinander verbunden, weil die Gleichheit eine gewisse Verbundenheit in der Quantität ist. Daher benennen auch einige den Grund der Gleichheit, sofern durch die vier Kardinaltugenden allgemeine Weisen der Tugenden 101 Übersetzung von secundum hoc. 102 Wie im Folgenden ausgeführt wird, ist die Liebe bzw. die Klugheit

gemeint.

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verstanden werden. Von dieser Art ist die Einsicht des Augustinus103 im 6. Buch von Über die Dreifaltigkeit. Es kann aber auch auf andere Weise, nämlich gemäß der Abhängigkeit der sittlichen Tugenden von der Klugheit und aller Tugenden von der heiligen Liebe bezeichnet werden. Wo daher in gleicher Weise die heilige Liebe vorliegt, ist es notwendig, daß alle Tugenden gleich sind hinsichtlich der formalen Vollkommenheit der Tugend; derselbe Grund gilt für die Klugheit in ihrem Verhältnis zu den sittlichen Tugenden. In gewisser Hinsicht können aber die Tugenden hinsichtlich der Neigung des Vermögens zum Akt, die von Natur aus besteht oder aus irgendeiner anderen Ursache herrührt, in ein und demselben Menschen ungleich und nicht untereinander verbunden sein. Darum sagen einige, daß die Tugenden hinsichtlich des Aktes ungleich sind. Dies ist aber nur in Bezug auf die Ungleichheit der Neigung zum Akt zu verstehen. Zu 1. Jenes Argument geht von der Ungleichheit innerhalb der jeweiligen Tugend selbst aus,104 nicht aber von der Ungleichheit, sofern sich die Tugenden in einem Vermögen befinden, wovon wir gerade sprechen. Die heilige Liebe als solche steht nämlich, wie gesagt, höher als andere Tugenden. Aber dennoch wachsen, solange sie wächst, im Verhältnis dazu auch die anderen Tugenden genauso wie in ein und demselben Menschen die Finger der Hand als solche ungleich sind und dennoch im Verhältnis zueinander wachsen. Zu 2.–7. Ähnlich ist auch auf den 2., 3., 4,. 5., 6., und auch auf den 7. Einwand zu antworten, weil er genauso dahingehend argumentierte, daß die Tapferkeit größer ist als die anderen Tugenden.105 Zu 8. Dieses Argument gilt in ähnlicher Weise auch für die Gerechtigkeit, obwohl die Gerechtigkeit, die die ganze Tugend ist, nicht jene Gerechtigkeit ist, die man eine Kardinaltugend nennt. Zu 9. Auch hier greift das Argument, denn alle diese Tugenden 103 Vgl. Augustinus, De trin., VI, 4, 6 (CCSL 50, 233 f.). 104 Übersetzung von quae est attenditur secundum ipsas virtutes. 105 Der 7. Einwand dieser Antwort behauptet das Gegenteil, nämlich daß

die Klugheit größer ist als die Tapferkeit, obgleich Thomas, wie gesagt, in seiner freien Zitation von der Klugheit als der Materie der Tapferkeit spricht.

3. Artikel

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kommen dadurch dem Menschen zu, daß sie sich gemäß der größeren und kleineren Vollkommenheit in ihrer Art unterscheiden. Zu 10. Ähnlich gilt es auch hier, denn die Laster sind in diesem Sinne ungleich. Zu 11. Der eine wird mehr für die eine Tugend als für die andere gelobt wegen der höheren Bereitschaft zum Akt. Zu 12. Wo der bessere Habitus ist, muß auch der Neigung des Habitus entsprechend der bessere Akt zustande kommen. Dennoch kann es im Menschen etwas geben, das entweder den Akt behindert oder ihn zu seiner Ausführung disponiert; dabei verhält er sich akzidentell zum Habitus, z. B. wenn der Habitus der Wissenschaft wegen Trunkenheit nicht zum Akt führt. Wegen solcher Handungshindernisse bzw. -hilfen, kann es manchmal zu einem Wachstum im Akt ohne eine Wachstum im Habitus kommen. Zu 13. Bei den erworbenen Habitus verursacht der ausgeprägtere Habitus mehr Übung. Dennoch kann der Habitus durch mehrere schon vollzogene Akte behindert werden, so daß er, wie in der Antwort gesagt, nicht mehr in den Akt übergehen kann. Zu 14. Bei den natürlichen Gegenständen, wo eine Form gleich ist, kann es wegen eines akzidentellen Hindernisses eine Ungleichheit des Aktes geben. Zu 15. Die Vermögen sind in sich selbst ungleich, sofern nämlich das eine Vermögen an sich vollkommener ist als das andere. In diesem Sinne ist schon gesagt worden, daß die Tugenden ungleich sind. Zu 16. Die Tugenden kommen, wie gesagt, dem Verhältnis nach dem Träger zu. Deshalb folgt daraus jedoch nicht, daß man sie in ungleicher Weise besitzt. Zu 17. Der Stand der ewigen Heimat ist wegen der offenen Schau, die niemand durch Wachstum in der heiligen Liebe erlangt, dem Glauben entgegengesetzt. Darum ist es nicht notwendig, daß der Glaube gemindert wird, solange die heilige Liebe wächst. Erwiderung zum Gegenargument: Ad 1.–4. Die Antworten sind aus dem schon Gesagten zu entnehmen. Zu 5. Johannes von Damaskus versteht darunter, daß die Tugenden bei allen in gleicher Weise sind.

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Zu 6. Der Lohn entspricht seinem Wesen nach der Wurzel der heiligen Liebe. Darum wird dennoch – auch wenn gegeben ist, daß die Tugenden nicht gleich sind – derselbe Lohn dem einen Menschen wegen der Identität der heiligen Liebe geschuldet. Zu 7. Diese Entgegnung räumen wir ein.

4. Artik el Die vierte Frage lautet: Bleiben die Kardinaltugenden in der ewigen Heimat erhalten? 106 Das scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Gregor der Große sagt im 16. Kapitel von Moralische Betrachtungen zum Buch Ijob, daß »die akzidentellen107 Eigenschaften des Lebens, die im Verhältnis zum Körper stehen, vergehen«.108 Sie bleiben also in der ewigen Heimat nicht erhalten. 2. Nachdem das Ziel erreicht ist, ist das nicht mehr notwendig, was auf das Ziel hingeordnet ist, genauso wie das Schiff nicht mehr notwendig ist, nachdem man im Hafen angekommen ist. Die Kardinaltugenden unterscheiden sich aber von den theologischen Tugenden darin, daß diese das letzte Ziel zum Gegenstand haben, die Kardinaltugenden aber sich auf das beziehen, was auf das Ziel hingeordnet ist. Wenn man zum letzten Ziel in der ewigen Heimat hingelangt ist, wird also die Kardinaltugend nicht mehr notwendig sein. 3. Nachdem das Ziel aufgehoben ist, bleibt das zurück, was auf das Ziel hingeordnet ist. Die Kardinaltugenden aber sind auf das bürgerliche Gute hingeordnet, das es in der ewigen Heimat nicht geben wird. Darum wird es auch die Kardinaltugenden in der ewigen Heimat nicht geben. 4. Es wird nicht gesagt, daß sie in der ewigen Heimat erhalten bleiben, sondern eher, daß aufgehoben wird, was nicht gemäß der eigenen Art, sondern nur gemäß dem allgemeinen Wesen der Gat106 Paralleltexte: Sum. theol. I–II, q. 67 a. 4; II–II, q. 18 a. 2; Sent III, d. 26 q. 2 a. 5 ql. 2; Sent III, d. 31 q. 2 a. 1 ql.2. 107 Im Original Gregors des Großen: »activae vitae opera«. 108 Thomas bezieht sich vielmehr auf: Gregor der Große, Moralia VI, 37.61 (CCSL 143, 331).

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tung bleibt, wie man beispielsweise sagt, daß der Glaube aufgehoben wird, obwohl die Erkenntnis bleibt, zu deren Gattung er gehört. Die Kardinaltugenden bleiben aber nicht gemäß ihren eigenen Arten, nach denen sie unterteilt sind, in der ewigen Heimat erhalten. Augustinus sagt nämlich im 12. Buch von Über den Wortlaut der Genesis, daß »dort die eine und ganze Tugend ist, zu lieben, was du schaust«.109 Also bleiben die Kardinaltugenden nicht in der ewigen Heimat erhalten, sondern werden aufgehoben. 5. Die Tugenden haben ihre Art von den Gegenständen. Aber die Gegenstände der Kardinaltugenden bleiben nicht in der ewigen Heimat. Die Klugheit nämlich bezieht sich auf das Zweifelhafte, das der Beratung bedarf, die Gerechtigkeit ist auf die Verträge und Urteile bezogen, die Tapferkeit auf die Todesgefahr, das Maßhalten auf die Begierde beim Essen und im Geschlechtlichen. Das alles wird es in der ewigen Heimat nicht geben. 6. Es ist aber zu erwidern, daß es in der ewigen Heimat andere Akte geben wird. – Dagegen aber steht: Die Unterscheidung dessen, was zur Definition einer Sache gehört, unterscheidet deren Art. Der Akt aber fällt unter die Definition des Habitus, denn Augustinus sagt im Buch Über das Gut der Ehe, daß Habitus das ist, durch das jemand, wenn die Zeit gekommen ist.110 Wenn es also verschiedene Akte gibt, wird es auch der Art nach verschiedene Habitus geben. 7. Gemäß Plotin gehören, wie Macrobius berichtet, die einen Tugenden zu einer geläuterten Seele und die anderen betreffen die Gemeinschaft.111 Die Tugenden der geläuterten Seele scheinen am ehesten diejenigen Tugenden zu sein, die es in der ewigen Heimat gibt. Die Tugenden, die es hier gibt, sind die die Gemeinschaft betreffenden Tugenden. Also bleiben die Tugenden, die es hier gibt, nicht, sondern werden aufgehoben. 8. Der Stand der Seligen und der Pilgerstand haben einen größeren Abstand als der Stand des Herrn und des Sklaven oder der des 109 Augustinus, De Gen. ad litt, XII, 26, 54 (CSEL 28/1, 419). 110 Vgl. Augustinus, De bono coniugali 21, 25 (PL 40, col. 390); vgl. De

virt. q. 5 a. 3 obj. 12. 111 Vgl. Macrobius, Comm. in Somn. Scip. I, 8, 5 (ed. Willis, 37); vgl. Plotin, Enneaden I, 2, 2–7

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Mannes und der Frau im gegenwärtigen Leben. Gemäß Aristoteles im 1. Buch der Politik ist das eine die Tugend des Herrn und das andere die Tugend des Sklaven und ähnlich das eine die des Mannes und das andere die der Frau.112 Also sind die Tugenden im Pilgerstand und im Stand der Seligen völlig andere. 9. Die Tugendhabitus sind notwendig, um die Möglichkeit zum Akt zu haben. Eine derartige Fähigkeit wird aber dort in ausreichender Weise durch die Herrlichkeit bewirkt werden. Die Tugendhabitus werden darum nicht notwendig sein. 10. Paulus beweist in 1 Kor. 13, 8 f., daß die heilige Liebe vorzüglicher ist als die anderen, denn sie wird nicht aufgehoben. Glaube und Hoffnung, die aufgehoben werden, sind jedoch edler als die Kardinaltugenden, weil sie einen edleren Gegenstand haben, nämlich Gott. Deshalb werden die Kardinaltugenden aufgehoben. 11. Die verstandesmäßigen Tugenden sind edler als die sittlichen, wie im 6. Buch der Ethik deutlich wird. Aber die verstandesmäßigen Tugenden bleiben nicht, »weil die Erkenntnis aufhört«, wie es in 1 Kor. 13, 8 heißt. Also bleiben auch die Kardinaltugenden nicht in der ewigen Heimat. 12. »Die Geduld vollendet sich im Werk«; so heißt es in Jak. 1, 4. Die Geduld bleibt aber in der ewigen Heimat nur hinsichtlich des Lohnes,113 wie Augustinus im 14. Buch von Über den Gottesstaat sagt. Um so weniger bleiben darum die anderen sittlichen Tugenden. 13. Einige Kardinaltugenden, nämlich das Maßhalten und die Tapferkeit, sind in den Vermögen der sinnenhaften Seele: »Sie gehören nämlich zu den unvernünftigen Teilen der Seele«,114 wie Aristoteles im 3. Buch der Ethik klar macht. Die sinnenhaften Teile der Seele gibt es weder bei den Engeln noch können sie in den getrennten Seelen sein. Deshalb gibt es derartige Tugenden in der ewigen Heimat nicht, weder bei den Engeln noch bei den getrennten Seelen. 14. Augustinus sagt im 13. Buch von Über den Gottesstaat, daß wir in der ewigen Heimat frei sein werden, wir werden sehen, lie112 Vgl. Aristoteles, Pol. I, 5; 1254 b 13–23. 113 Vgl. Augustinus, De civ. Dei XIV, 9, 5 (CCSL 48, 429). 114 Aristoteles, Eth. Nic. III, 13; 1117 b 24.

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ben und lobpreisen.115 Freisein ist aber ein Akt der Weisheit, Sehen ein Akt des Verstandes, Lieben ein Akt der heiligen Liebe und Lobpreisen ein Akt der Gottesverehrung. Nur diese wird es also in der ewigen Heimat geben, nicht aber die Kardinaltugenden. 15. In der ewigen Heimat werden die Menschen den Engeln ähnlich sein, wie es in Mt. 22, 30 heißt. Hinsichtlich der Enthaltsamkeit werden aber die Menschen den Engeln, die nicht essen und trinken müssen, nicht ähnlich gemacht. Also wird es die Enthaltsamkeit in der ewigen Heimat nicht geben, und aus gleichem Grund auch nicht die anderen derartigen Tugenden. Dagegen spricht: 1. In Wsh. 1, 15 heißt es: »Die Gerechtigkeit ist immerwährend und unsterblich«. 2. In Wsh. 8, 7 wird über die göttliche Weisheit gesagt: »Denn sie lehrt Enthaltsamkeit und Klugheit, Gerechtigkeit und Tugend; etwas Vorteilhafteres gibt es für die Menschen im Leben nicht«. In der ewigen Heimat wird es aber die vollste Teilhabe an der Weisheit geben. Diese Tugenden werden also in der ewigen Heimat reichlicher ausgestattet sein. 3. Die Tugenden sind geistliche Reichtümer; aber in der ewigen Heimat gibt es eine noch größere Menge an geistlichen Reichtümern. Darum fließen diese Tugenden in der ewigen Heimat in noch reichlicherem Maße. Antwort: Die Kardinaltugenden werden in der ewigen Heimat erhalten bleiben, aber sie werden dort andere Akte ausprägen als hier, wie Augustinus im 13. Buch von Über die Dreifaltigkeit sagt: »Was jetzt die Gerechtigkeit tut, indem sie den Elenden zu Hilfe kommt, die Klugheit, indem sie Vorsichtsmaßnahmen gegenüber Hindernissen trifft, die Tapferkeit, indem sie das Schwere erträgt, das Maßhalten, indem sie verkehrte Genüsse unterdrückt, wird es dort, wo es keinerlei Übel mehr gibt, nicht mehr sein«.116 Aber »die Gerechtigkeit 115 Vgl. Augustinus, De civ. Dei XXII, 30, 4 f. (CCSL 48, 866). 116 Vgl. Augustinus, De trin. XIV, 9, 12 (CCSL 50 A, 439 f.).

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wird Gott117 als dem Regierenden untergeben sein, … die Klugheit kein Gut mehr Gott vorziehen oder ihm gleichsetzen, die Tapferkeit in äußerster Festigkeit ihren Halt in ihm haben, das Maßhalten keine Gemütsbewegung118 zum eigenen Schaden genießen«.119 Um das zu verstehen, muß man wissen, daß, genauso wie Aristoteles im 1. Buch von Über Himmel und Erde sagt, die Tugend das Äußerste des Vermögens besagt.120 Es steht aber fest, daß in den verschiedenen Naturen auch das Äußerste des Vermögens verschieden ist, weil zu einer höheren Natur ein höheres Vermögen gehört, das sich auf Vieles und Höheres ausrichten kann. Deshalb ist das, was in der einen Natur Tugend ist, es nicht in der anderen. Beispielsweise wird die Tugend des Menschen durch das bestimmt, was das Besondere des menschlichen Lebens ausmacht; so besteht das menschliche Maßhalten darin, daß der Mensch trotz größten Genusses nicht von der Vernunft abweicht, sondern ihn vielmehr entsprechend der Vernunft mäßigt. Die Tapferkeit aber ist menschlich, sofern das Gute der Vernunft angesichts der größten Gefahr, die die Todesgefahr ist, feststeht. Weil aber das Äußerste des göttlichen Vermögens nicht mit Hilfe dieser Tugenden erreicht wird, sondern nur von etwas Höherem, das zur unendlichen Kraft dieses Vermögens gehört, darum ist die göttliche Tapferkeit seine Unbeweglichkeit, das Maßhalten die Hinwendung des göttlichen Geistes zu sich selbst, die Klugheit der göttliche Geist selbst, die Gerechtigkeit Gottes aber sein ewiges Gesetz selbst. Es ist aber zu bedenken, daß das verschiedene Äußerste in zweifacher Weise verstanden werden können: Auf die eine Weise, sofern sie in derselben Reihe der Bewegung, auf die andere Weise, sofern sie völlig getrennt und nicht aufeinander hingeordnet sind. Wenn also verschiedene Äußerste121 angenommen werden, die in einer Reihe der Bewegung angeordnet sind, bewirken sie verschieIm augustinischen Original nicht vorgegeben. Im augustinischen Original: »defectu«. Vgl. Augustinus, De trin. XIV, 9, 12 (CCSL 50 A, 439). Vgl. Aristoteles, De caelo I, 11; 281 a 15. Thomas verwendet den Terminus ultima und nicht extrema, weil es sich im folgenden nicht um Abweichungen vom Gesollten handelt. Darum wird die bisher verwendete Bedeutung von ultima bebehalten. 117 118 119 120 121

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dene Arten der Bewegung. Diese Äußerste machen aber die Art des Bewegungsprinzips nicht verschieden, weil es dasselbe Bewegungsprinzip ist, das vom Anfang bis zum Ziel bewegt. Als Beispiel können wir einen Hausbau heranziehen, bei dem das letzte Ziel die vollendete Form des Hauses ist; es können aber auch andere Äußerste entsprechend der Verknüpfung der einzelnen Teile des Hauses als Beispiel genommen werden. Darum ist, wie Aristoteles im 10. Kapitel der Ethik sagt, der Art nach die eine Bewegung die Grundlegung des Hauses, die auf die Fundamentlegung zielt, eine andere die Errichtung der Säulen, und eine andere die Vollendung des Baus. Aber dennoch ist die Baukunst, die das Prinzip dieser drei Bewegungen ist, ein und dieselbe, und dasselbe gilt für die anderen Bewegungen.122 Wenn aber verschiedene, von einander getrennte Äußerste angenommen werden, die nicht in der einen Reihe der Bewegung stehen, sondern völlig getrennt sind, unterscheiden sich auch die Bewegung und das bewegende Prinzip der Art nach; beispielsweise ist es je eine andere Kunst, die dem Prinzip des Hausbaus bzw. dem des Schiffsbaus folgt. Deshalb kann man sagen: Wo dasselbe Äußerste der Art nach vorliegt, ist auch der Art nach dieselbe Tugend, derselbe Akt oder dieselbe Bewegung der Tugend. Genauso ist klar, daß dasselbe Äußerste der Art nach das ist, was das Maßhalten in mir und in dir betrifft, nämlich das Maßhalten bezüglich der Genüsse aufgrund der Berührung. Daher unterscheidet sich weder das Maßhalten noch sein Akt der Art nach in mir und in dir. Wo aber das Äußerste, das die Tugend betrifft, weder in derselben Art noch in derselben Reihe der Bewegung aufrecht erhalten wird, ist es notwendig, daß die Unterschiede der Art nach nicht nur in der Wirklichkeit der Tugend, sondern auch in der Tugend selbst ist. So ist es bei diesen Tugenden offenkundig, sofern sie von Gott und vom Menschen ausgesagt werden. Wo aber das Äußerste der Tugend sich der Art nach unterscheidet (aber in derselben Reihe der Bewegung enthalten ist, so daß es nämlich vom einen zum anderen hingelangt), ist selbstverständlich auch der Akt der Art nach unterschieden, obwohl die Tugend dasselbe ist, 122 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. X, 3; 1174 a 19–29.

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wie z. B. der Akt der Tapferkeit von einem je anderen Äußersten vor dem Kampf, im Kampf selbst bzw. im Sieg abgeleitet wird. Daher ist es der Art nach ein je anderer Akt, sich dem Krieg zu nähern, im Kampf tapfer zu stehen bzw. sich über den errungenen Sieg zu freuen, aber es ist dieselbe Tapferkeit, wie es z. B. auch der Akt desselben Vermögens ist, zu lieben, zu ersehnen und sich zu freuen. Aus dem in diesem Artikel Gesagten, wird klar, daß, wenn der Stand der ewigen Heimat höher steht als der Pilgerstand, er auch vollkommener bis zum Äußersten reicht. Wenn darum das Äußerste das ist, worauf sich die Tugend schon im Pilgerstand erstreckt, und sie auf dasselbe Äußerste hingeordnet ist, das dann die Tugend in der ewigen Heimat völlig erreicht, ist es notwendig, daß sie zwar der Art nach dieselbe Tugend ist, aber die Akte verschieden sein werden. Würde aber das eine nicht in der Hinordnung auf das andere verstanden, wären sie weder gemäß dem Akt noch dem Habitus nach dieselben Tugenden. Es ist dann aber auch klar, daß die erworbenen Tugenden, von denen die Philosophen gesprochen haben, die Menschen nur auf das, was im bürgerlichen Leben vervollkommnet werden soll, hinordnen und nicht auf die himmlische Herrlichkeit. Deshalb haben sie behauptet, daß solche Tugenden nicht nach dem irdischen Leben bleiben,123 wie Augustinus von Cicero berichtet. Die Kardinaltugenden, sofern sie geschenkte bzw. eingegossene sind – unter dieser Hinsicht sprechen wir hier von ihnen –, vervollkommnen aber den Menschen im gegenwärtigen Leben in ihrer Hinordnung auf die himmlische Herrlichkeit. Darum muß man sagen, daß hier und dort derselbe Habitus dieser Tugenden vorliegt, aber die Akte verschiedene sind, denn hier haben die Menschen Akte, die den auf ihr letztes Ziel hin Strebenden, dort aber Akte, die den schon im letzten Ziel Ruhenden zukommen. Zu 1. Solche Tugenden vervollkommnen den Menschen im tätigen Leben im Sinne des Weges, auf dem er zum Ziel der Beschauung in der ewigen Heimat hingelangt. Darum bleiben sie in der ewigen Heimat als vollendete Akte im Ziel erhalten. 123 Vgl. Augustinus, De trin. XIV, 9, 12 (CCSL 50, 438 f.).

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Zu 2. Die Kardinaltugenden sind auf das bezogen, was auf das Ziel hingeordnet ist. Das aber ist bei ihnen nicht etwa deren letztes Ziel, wie das letzte Ziel des Schiffes die Schifffahrt ist; vielmehr haben sie durch das, was auf ein Ziel hingeordnet ist, eine Hinordnung auf das letzte Ziel. So hat z. B. das gnadenhaft geschenkte Maßhalten nicht zum letzten Ziel, die Begierde nach Berührung zu mäßigen; vielmehr tut sie das wegen der Entsprechung zum Leben im Himmel.124 Zu 3. Das bürgerliche Gute ist nicht das letzte Ziel der eingegossenen Kardinaltugenden, von denen wir sprechen, sondern der erworbenen Tugenden, von denen, wie in der Antwort gesagt, die Philosophen gesprochen haben. Zu 4. Nichts hindert daran, daß ein und dieselbe Sache das Ziel verschiedener Tugenden oder Künste ist, wie beispielsweise die Bewahrung des bürgerliche Guten Ziel und Begriff sowohl des Militärs als auch des positiven Gesetzes ist. Darum beziehen beide – Kunst bzw. Tugend – ihren Akt darauf als auf das am Ende stehende Gute. Das Militär tut dies jedoch nur, sofern es Sorge trägt für das bürgerliche Gute, und es durch tapferen Kampf dahin gelangt. Das positive Gesetz aber freut sich über dasselbe, sofern durch Ordnung der Gesetze das bürgerliche Gute bewahrt wird. So ist daher das Genießen Gottes in der ewigen Heimat das Ziel aller Kardinaltugenden und jeder freut sich dort darüber, sofern es das Ziel seiner Akte ist. Darum sagt man, daß es in der ewigen Heimat eine Tugend geben wird, sofern sie im Träger sein wird, in dem alle Tugenden sich freuen werden. Dennoch wird es entsprechend dem unterschiedlichen Grund, über den man sich freut, verschiedene Akte und Tugenden geben. Zu 5. In zweifacher Weise wird etwas Gegenstand der Tugenden genannt. Zum einen als das, zu dem die Tugend wie auf ihr Ziel hingeordnet wird, wie z. B. das höchste Gute der Gegenstand der heiligen Liebe und die ewige Glückseligkeit der Gegenstand der Hoffnung ist. Zum anderen als die Materie, in Bezug auf die gehandelt wird; diese richtet sich auf anderes. Auf diese Weise ist der Genuß der sexuellen Vereinigung Gegenstand des Maßhaltens, denn nicht 124 Übersetzung von propter similitudinem caelestem.

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das Maßhalten erstrebt es, derartigen Genüssen nachzugehen, sondern sie durch Bändigung auf das Gute der Vernunft hinzulenken. Ähnlich strebt die Tapferkeit nicht danach, in die Gefahren hineinzugehen, sondern dem Guten der Vernunft zu folgen, indem sie die Gefahren überwindet. Dasselbe gilt für die Klugheit hinsichtlich der Zweifel und für die Gerechtigkeit hinsichtlich der Notwendigkeiten dieses Lebens. Je weiter man sich von diesen Gefahren entsprechend dem Fortschritt des geistlichen Lebens zurückgezogen hat, desto vollkommener sind die Akte dieser Tugenden, weil das oben Gesagte mehr im Sinne eines Anfangs zu diesen Tugenden in Beziehung steht als im Sinne eines Zieles, das die Art bestimmt. Zu 6. Nicht jeder Unterschied der Akte beweist, wie in der Antwort dargelegt, auch schon den Unterschied der Habitus. Zu 7. Die Tugenden der geläuterten Seelen, die Plotin näher bestimmte, können bei den Seligen angetroffen werden, denn zur Klugheit gehört es, dort allein das Göttliche zu schauen, zum Maßhalten, die Begierden zu vergessen, zur Tapferkeit, die Leidenschaften nicht zu kennen, zur Gerechtigkeit, einen immerwährenden Vertrag mit Gott zu haben. Die die Gemeinschaft betreffenden Tugenden aber, von denen er selbst spricht, sind, wie in der Antwort gesagt, nur auf das bürgerliche Gute des gegenwärtigen Lebens hingeordnet. Zu 8. Das jeweils Äußerste der Tugenden des Sklaven und des Herrn, der Frau und des Mannes sind nicht in der Weise aufeinander hingeordnet, daß es aus dem einen in das andere übergeht. Der Grund ist also nicht vergleichbar. Zu 9. Die Befähigung selbst zum Werk der Tugenden in der Herrlichkeit, wird durch die Herrlichkeit geschehen bzw. vervollkommnet werden. Sie gehört zu den Tugendhabitus selbst. Zu 10. Der Glaube, der auf die nicht sichtbare Wahrheit und die Hoffnung, die auf das schwer erreichbare Gute, das man nicht besitzt, hingeordnet sind, haben davon ihre Art. Deshalb werden sie, obwohl sie edler als die Kardinaltugenden sind, wegen ihres höheren Gegenstandes, dennoch abgelegt werden, weil sie eine Art haben, die nicht bleibt. Zu 11. Das Wissen wird nicht als Habitus untergehen, sondern wird einen anderen Akt haben.

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Zu 12. Die Geduld wird in der ewigen Heimat nicht dem Akt nach bleiben, der sie im Pilgerstand ausmacht, nämlich im Ertragen von Drangsalen. Dennoch wird sie gemäß dem Akt, der mit dem Ziel übereinstimmt, bleiben, wie es auch von den anderen Tugenden in der Antwort gesagt ist. Zu 13. Einige behaupten, daß das zornmütige und begehrliche Strebevermögen, in denen Maßhalten und Tapferkeit sind, im höheren Teil sind, nicht aber im sinnenhaften Teil. Dies aber widerspricht Aristoteles im 3. Buch der Ethik, wo er sagt, daß »die Tugenden zu den unvernünftigen Teilen gehören«.125 Andere aber sagen, daß die Kräfte des sinnenhaften Teiles in der getrennten Seele entweder nur dem Vermögen nach oder dem Akt nach bleiben. Das aber kann nicht sein, weil es den Akt des sinnenhaften Vermögens nicht ohne den Körper gibt, so daß die sinnenhafte Seele der Tiere auch unzerstörbar wäre, was ein Irrtum ist. Dem aber ist die Tätigkeit eigen, zu dem auch das Vermögen gehört. Daher ist es notwendig, daß derartige Vermögen verbunden sind. So bleiben sie nach dem Tod nicht wirklich in der getrennten Seele zurück, sondern nur der Möglichkeit nach wie in der Wurzel, sofern nämlich die Vermögen der Seele aus ihrem Wesen fließen. Diese Tugenden befinden sich nämlich im zornmütigen Strebevermögen, sofern sie davon abgeleitet sind. Dem Ursprung und Anfang nach sind sie in der Vernunft und im Willen, denn der ursprüngliche Akt der sittlichen Tugend ist die Wahl, die der Akt des vernünftigen Strebevermögens ist. Diese Wahl aber wird durch eine Anwendung auf die zornmütigen und begehrlichen Leidenschaften in Bezug auf das Maßhalten und die Tapferkeit bestimmt. Zu 14. Alle vier gehören im Sinne ihres Ziel zu jedem einzelnen Akt der Kardinaltugenden, sofern in ihnen die himmlische Glückseligkeit besteht. Zu 15. Die Enthaltsamkeit macht uns nicht mit den Engeln ähnlich in bezug auf den Akt im Pilgerstand, zu dem Essen und Trinken gehören, sondern nur hinsichtlich der Akte in der ewigen Heimat, der sich auf das letzte Ziel richtet; dasselbe gilt auch für die anderen Tugenden. 125 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. III, 10; 1117 b 24.

NACHWORT

1. Textgestalt und Übersetzung Die vorliegende Übersetzung der Quaestiones disputatae de virtutibus ist die erste Gesamtübertragung der fünf Einzelfragen ins Deutsche. Bisher war das Gesamtwerk in Übersetzung nur auf englisch, französisch und italienisch zugänglich; diese Übersetzungen wurden erst in den Jahren 2002, 2005, 2007 bzw. 2010 fertiggestellt,1 so daß für dieses Werk eine breiter Zugang zum thomasischen Ori1 Es handelt sich um: Thomas Aquinas, Disputed questions on the virtues, transl. by E. M. Atkins, ed. E. M. Atkins und Thomas Williams, Cambridge 2005; Thomas Aquinas, Disputed questions on Virtue, transl. by Jefrey Hause and Claudia Eisen Murphy, Introduction an Commentary by Jeffrey Hause, Cambridge 2010 ; Saint Thomas d’Aquin, Les cinq questions disputées sur les vertus, trad. J. Ménard (Les vertus en général), D. Dupont (La charité), A. Michel (la correction fraternelle), Mari-Lous Evrard (l’espérance), Raymond Berton (Les vertus cardinales), sous la direction de D. Pillet, préface du M. Allard, Bd. I und II, Paris : Éd. du Sandre, 2009 f. (Diese Übersetzung ist auch im Internet zugänglich unter http:// docteurangelique.free.fr / fichiers / Webmestre.htm); Tommaso d’Aquino, De virtù (De virtutibus in communi, De caritate, De correctione fraterna, De spe, De virtutibus cardinalibus), ed. e trad. di Pietro Lippini (= Le questioni disputate 5), Bologna 2002, 3–603. Die französische und die italienische Übersetzung sind zweisprachig. Englische Teilübersetzungen sind: R. P. Goodwin, On the virtues in general, in: ders., Selected writings of St. Thomas Aquinas: The principles of nature, On being an essence, On the virtues in general, On free choice, Indianapolis 1965, 75–113; L. H. Kendzierski, On charity (De caritate), Milwaukee 41993 (= Mediaeval philosophical texts in translation 10); Thomas Aquinas, Disputed Questions on Virtue, Quaestio disputata de virtutibus in communi and Quaestio disputata de virtutibus cardinalibus, transl. and ed. R. McInerny, South Bend / Indiana 1999, Eine französische Teilübersetzung liegt vor: J. Kreit, De caritate, in: ders. Saint Thomas d’Aquin: Bref résumé de la foi chrétienne, Paris 1985. Dankbar wurden diese Übersetzungen für wertvolle Vergleiche herangezogen.

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ginal durch das Bemühen eines Übersetzers, dem jeweilig Gesagten zu entsprechen, und der damit einhergehenden Deutung gewährleistet ist. Das Gesamtbild der Übersetzungen von De virtutibus, in das sich nun die deutsche Übersetzung einfügt, erleichtert einerseits die noch anstehende Forschungsarbeit an diesem Text, der bisher nur wenig zitiert wurde, obwohl er an inhaltlicher Dichte den anderen Quaestiones disputatae nicht nachsteht. Andererseits aber wird der Leser mit der Spannung zwischen Wörtlichkeit, die zwar dem Original folgt, aber möglicherweise dem Leser inhaltliche Unklarheiten zumutet, und einem auf inhaltliche Durchsichtigkeit bedachten Zugriff konfrontiert, der ihn zwar sicher führt, aber auch Mehrdeutigkeiten bei Thomas einebnet.2 Ein Beispiel für den ersteren Weg ist auf hohem Niveau die französische Übersetzung unter der Redaktion von D. Pillet, für den zweiten Weg die Übersetzung von E. M. Atkins. Einen mittleren Weg haben R. McInerny und J. Hause3 eingeschlagen. Die vorliegende Übersetzung strebt bei möglichst großer Textnähe vor allem Lesbarkeit verbunden mit inhaltlicher Kohärenz an; in diesem Bemühen schließt sie sich ebenfalls dem mittleren Weg an. Damit ist verbunden, daß – nach gut aristotelisch-thomasischem Vorbild – zwei Extreme vermieden wurden: Weder wurde das Ideal, gleiche lateinische Ausdrücke prinzipiell auch mit gleichem deutschen Ausdrücken zu übersetzen, zum Gesetz erhoben, denn der nahezu karge lateinische Wortschatz der thomasischen Texte birgt 2 Nach H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 31972, 363 f. steht der Übersetzer in folgendem Konflikt: »Er darf offenbar nichts offenlassen, was ihm selber unklar ist. Er muß Farbe bekennen. Zwar gibt es Grenzfälle, in denen im Original (und für den ›ursprünglichen Leser‹) etwas wirklich unklar ist. Aber gerade an solchen hermeneutischen Grenzfällen wird die Zwangslage deutlich, in der sich der Übersetzer immer befindet. Hier muß er resignieren. Er muß klar sagen, wie er versteht«. 3 Ausdruck dieser Haltung ist der Kommentar, der die Verbindung zu den Paralleltexten der Summa theologiae im Blick hat und so den Vergleich innerhalb des thomasischen Werkes als inhaltlichen Maßstab in die Darstellung einfließen läßt.

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eine beachtliche Bedeutungsfülle der jeweiligen Termini in sich, die nur im jeweiligen Kontext bestimmt werden kann, z. B. die Begriffe actus oder ratio; noch folgt die Übersetzung der Vorstellung, die Bedeutungsfülle des einen lateinischen Ausdrucks – wenn auch nur für bestimmte Fälle – mit einer Wortneuschöpfung im Deutschen rekonstruieren zu können. Versuche dieser Art erschweren eher die Lektüre und erschließen den Inhalt nicht unbedingt besser. Der gewählte Weg zwischen Skylla und Karybdis strebt allerdings nur hinsichtlich der Richtigkeit und der Nachvollziehbarkeit eine ›Mitte‹ an; der Blick in das lateinische Original allein garantiert die Annäherung an die ›Bestheit‹, die immer eine gefährdete sein wird.4 Um diese Verbindung, die dem Leser aufgetragen bleibt, sicherer legen zu können, soll die vorliegende Übersetzung eine Hilfe sein. Als Text-Grundlage des lateinischen Originals dient die sog. Marietti-Ausgabe,5 da der kritisch durchgesehene Text der »Editio Leonina« sich noch in Vorbereitung befindet und eine vorläufige Fassung bisher nicht erhältlich ist.6 Auf Grund dessen liegen für die Recherche der Zitationen, die Thomas vornimmt – insbesondere bei seinen freien Zusammenfassungen, in denen er sich auf unbekanntere Texte bezieht – noch keine verbindliche Ergebnisse vor. Da die Marietti-Ausgabe nur an wenigen Stellen die von Thomas oft vage gehaltenen Literaturangaben präzisiert bzw. korrigiert, sind Ergebnisse, die E. M. Atkins in seine Übersetzung eingearbeitet hat, diesbezüglich als Pionierleistung einzustufen. Soweit mir seine Angaben sinnvoll erschienen, habe ich sie übernommen; soweit es möglich war, sind sie ergänzt worden, so daß alle thomasischen Zi-

4 H.-G. Gadamer ebd., 362 äußert sich dazu ergänzend zum schon zitierten Text: »Wo es der Übersetzung bedarf, muß der Abstand zwischen dem Geist des ursprünglichen Wortlauts des Gesagten und dem der Wiedergabe in Kauf genommen werden, dessen Überwindung nie ganz gelingt«. 5 De virtutibus, ed. P. A. Odetto, in: S. Thomae Aquinatis doctoris angelici Quaetiones disputatae, Vol. II, cura et studio P. Bazzi et al., Taurini / Romae 101965, 707–751 6 Angekündigt als Band. 24, 3 der Opera omnia, iussu impensaque Leonis XIII P. M. edita, Rom 1882 ff.

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tationen einer Quelle zugeordnet sind. Weitreichendere Ergebnisse läßt die »Editio Leonina« erwarten. Hinsichtlich der Zitation in der vorliegenden Übersetzung ist zum einen anzumerken, daß die von Thomas vorgenommenen Zitatwiederholungen nach einem Erstzitat in einfache Anführungszeichen gesetzt werden. Zum anderen werden jene Zitate, die Thomas offenbar in freier Zitation aus dem Gedächtnis vorgenommen hat, nicht in Anführungszeichen gesetzt; ihre Zuordnung zum gemeinten Originaltext wird in der üblichen Weise vorgenommen. Daneben sind einige Quellenangaben im thomasischen Urtext nicht zutreffend; sie werden in einer Anmerkung, weitgehend ohne Kommentierung, korrigiert.

2. Historische Einordnung und die Begründung des Gesamtaufbaus von »De virtutibus« Innerhalb der Thomas-Forschung ist es unbestritten, daß die Quaestiones disputatae de virtutibus während der zweiten Pariser Lehrtätigkeit in den Jahren 1269 bis 1272 entstanden sind, als er dort fungierender Magister war. Schon in den »frühesten Katalogen der Thomasschriften« wird angegeben, daß Thomas in dieser Zeit in Paris »De virtutibus ›und das übrige‹ et ultra disputiert«.7 Hinsichtlich einer genaueren Datierung gehen allerdings die Meinungen auseinander. J.-P. Torrell distanziert sich in seiner Darstellung von der Datierung »auf den Anfang des akademischen Jahres 1269–1270«8 bei P. Glorieux,9 indem er im Kontext der Datierungfrage von De malo darauf hinweist, daß 1270 bereits Handschriften nachweisbar sind und darum, weil die These von der Erarbeitung von De malo in den vorangegangenen Jahren in Rom nicht haltbar ist, »die Disputatio7 J. Weisheipl (Übers. Gregor Kirstein), Thomas von Aquin, Sein Leben und seine Theologie, Graz 1996 [ND], 231. [Weisheipl] 8 J.-P. Torrell (Übers. Katharina Weibel u. a.), Magister Thomas, Leben und Werk des Thomas von Aquin, Freiburg 1995, 219. [Torrell] 9 Er bezieht sich auf P. Glorieux, Les Questions Disputées de S. Thomas et leur suite chronologique, RThAM 4 (1932) 5–33.

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nen zu De virtutibus … dagegen eher gegen das Ende des zweiten Pariser Aufenthaltes hin stattgefunden haben«.10 Sofern die öffentlichen planmäßigen und außerplanmäßigen (Quodlibetales) Disputationen wesentlicher Bestandteil seiner Lehrtätigkeit waren – dazu gehörten auch die Bibelvorlesungen und die Predigt für die akademische Gemeinschaft11 – , ist De virtutibus unmittelbares Resultat der Erfüllung seiner Professorenpflicht, neben der ihm die akademische Verteidigung der Bettelorden gegen die Angriffe des Gérard d’Abbeville von der Ordensleitung12 aufgetragen war. Insofern steht das Werk im Zentrum seiner akademischen Aufgabe. Um sich aber ein einigermaßen realistisches Bild von den Umständen, unter denen De virtutibus entstanden ist, bilden zu können, muß man sich klar machen, daß Thomas in den Pariser Jahren nicht nur zu all dem hinzukommend den ganzen zweiten Teil der Summa theologiae verfaßt hat, sondern auch ausführliche Kommentare zu sämtlichen Hauptwerken des Aristoteles. Dieses Arbeitspensum konnte er nur bewältigen, weil er die Fähigkeit hatte, gleichzeitig mehreren Sekretären diktieren zu können.13 Hinzu kommen zwei wesentliche Ereignisse, die am Anfang dieser Zeit stehen: ein inneres, auf das Weisheipl aufgrund der lehrhaften Veränderung hinsichtlich des Freiheitsbegriffs, wie ihn Thomas in der Quaestio 6 von De malo mit einer neuen Bestimmung der Beteiligung des Willens ausarbeitet, schließt,14 und ein äußeres, nämlich die Verurteilung des radikalen, d. h. averroistischen Aristotelismus am 10. Dezember 1270 durch Stephan Tempier, dem Bischof Torrell, 219. Vgl. Weisheipl 227. Vgl. Weisheipl, 223. Aus den Angaben von Torrell, 219 wird in diesem Zusammenhang die geringere Zahl von nur 36 Artikel (Disputationen) in De virtutibus im Vergleich vor allem zu den 80 in De veritate nachvollziehbar. Er schließt daraus, »daß der reife Thomas wesentlich weniger Disputationen hielt als früher …, um mehr Zeit für seine anderen Verpflichtungen zur Verfügung zu haben«. 14 Vgl. Weisheipl 226 spricht von einem »tiefgründigen, persönlichen psychischen Erlebnis, das den Inhalt und die Darstellungsweise beeinflußte«. 10 11 12 13

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von Paris. J. Weisheipl führt O. Lottin an, der letzteres als Grund für den Wandel in der Lehre annimmt.15 Entscheidend für die Stellung von De virtutibus ist die Tatsache, daß dieses Werk, da es nach De malo verfaßt wurde, ebenfalls von der Lehrveränderung geprägt ist. Dies manifestiert sich darin, daß beachtliche inhaltliche Parallelen zum zweiten Teil der Summa theologiae festzustellen sind, in dem seinerseits ab Quaestio 9 der Prima secundae die neue Lehre aufgenommen ist und der gesamte Teil der Summa nicht mehr den Charakter eines Lehrwerkes für Anfänger hat, wie es Thomas ursprünglich geplant und in der Prima pars auch durchgeführt hat; in diesem und den folgenden Teilen entfaltet Thomas die ganze Komplexität der jeweiligen Themengebiete. Das bedeutet für den Status von De virtutibus, daß das Gefälle zwischen den Quaestiones disputatae und dem zweiten Teil der Summa theologiae nicht mehr wie in De potentia im Verhältnis von 15 Vgl. ebd. – Richard Schenk, Die Gnade vollendeter Endlichkeit, Zur transzendentaltheologischen Auslegung der thomanischen Anthropologie, Freiburg i. Br. 1989 skizziert die Geschichte der auf Lottin folgenden Erforschung der Frage, inwiefern von einer Wende in der thomasischen Lehre gesprochen werden kann. Vorläufiger Kulminationspunkt dieser Auseinandersetzung ist nach Schenk die Analyse von O. H. Pesch, Philosophie und Theologie der Freiheit bei Thomas von Aquin in quaest. disp. 6 De Malo, in: MThZ 13 (1962), 1–25. Dieser Forschungsstand zeichnet sich dadurch aus, daß »die Kategorien ›rationalistisch‹ und voluntaristisch‹ selbst fragwürdig werden« (Schenk 1989, 574), obgleich zugestanden wird, daß Thomas »infolge der Verurteilung eine wichtige Kehre in seinen Schriften machen mußte, um ›die Ungenötigtheit der Wahl und die Aktivität des Willens in der Willensbewegung‹ herauszustellen …« (ebd.). Hilfreich für die vorliegende Übersetzung von De virtutibus ist die Beschreibung der neuen Denkhaltung bei Thomas, die Schenk De malo entnimmt: »Thomas … versuchte in Mal 6 angesichts der Kontroversen von 1270 an …, die Wahlfreiheit in der intellektuellen Grundlegung des Willens zu fundieren, ohne deterministisch denken zu müssen« (ebd. 592). Yul Kim, Die Selbstbewegung des Willens bei Thomas von Aquin, Berlin 2007 verfolgt diesen Ansatz weiter, sofern Selbstbewegung dem Willen und dem Verstand in je eigener Weise zukommt und so die thomasische Selbstkorrektur dazu führt, sein Denken weder dem Intellektualismus noch dem Voluntarismus zuordnen zu können (Vgl. Kim 2007, 212 f.), sondern die Ausgewogenheit zwischen beiden Vermögen im Akt der Freiheit zu denken.

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Forschungsbeitrag zu einer lehrbuchhaften didaktischen Reduktion hat, sondern beide Werke die Forschung zum Ziel haben. Thomas dringt sogar zum Teil bei gleichen Themenfeldern in der Summa weiter vor als in De virtutibus,16 auch wenn aufs Ganze gesehen, die Tendenz größerer gedanklicher Eigenständigkeit der Quaestio disputata vorbehalten bleibt. Das Urteil von Bataillon über die Verhältnisse bei De malo trifft m. E. die Situation auch in De virtutibus, wenn er schreibt, daß wegen der gleichzeitigen Verfassungszeit »manchmal die Quaestio und manchmal die Summa den letzten Stand von Thomas’ Denken zu dokumentieren scheinen«.17 Angesichts der Arbeitsweise des Thomas von Aquin und der Veränderung in Lehre und wissenschaftlichem Anspruch der Summa ist eine solche Erklärung plausibel. So lassen sich die fünf Quaestiones von De virtutibus einzelnen Gruppen von Quaestiones der Prima Secundae bzw. der Secunda secundae zuordnen, wie den Angaben der Paralleltexte zu Beginn jedes Artikels der vorliegenden Übersetzung zu entnehmen 16 Als Beispiel für das noch genauer zu erforschende Gebiet eines Vergleich beider Werke sei Sum. Theol. I–II, q. 64, a. 3, ad 3 angeführt. Dort differenziert er die in De virt. q. 1, a. 13 c vorausgesetzte Implikation des Verhältnisses von Erkenntnis der Dinge als solcher, die die kontradiktorische Unterscheidung von Sein und Nicht-sein erfordert, und dem konträren Verhältnis von Bejahung und Verneinung in der Verstandestätigkeit. Der entscheidende Schritt, denn er dann in der Summa vollzieht, klärt den Unterschied zwischen Sein und Nicht-sein bei den Dingen als solchen und der verschieden gesetzten Seinsweise bei den erkannten Dingen im Intellekt. Die Bestimmung der sittlichen Mitte der Vernunft geht nämlich dann vom konträren Seinsverhältnis im Intellekt zwischen ›gut ist gut‹ und ›gut ist nicht gut‹ aus. Damit gewährt Thomas Einblick in sein Verständnis von sittlicher Wahrheit, die er wiederum in beiden Texten – die genannte Implikation voraussetzend – thematisiert. Diese Weise des Erkenntnisfortschritts charakterisiert das Verhältnis der beiden Texte zueinander und die Arbeitsweise des Aquinaten. 17 Thomas von Aquin, Opera omnia, Quaestiones disputatae de malo, iussu impensaque Leonis XIII, ed. P.-M. Gils, Bd. 23, Rom 1982, 5: »Une rédaction quelque peu simultanée des deux ouvragees expliquerait assez bien que ce soit tantôt la Somme, qui semble donner le dernier état de la pensée de saint Thomas«.

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ist. Durch dieses Zueinander der beiden Werke kann nun die Kohärenz der an sich divergierenden Themen der in De virtutibus versammelten Einzelfragen verständlich gemacht werden. Thomas durchdringt in den universitätsöffentlichen Disputationen drei Grundlegungsfragen: erstens die allgemeine Grundlegung der Tugend (q. 1; De virtutibus in communi), bei der allerdings der Habitusbegriff vorausgesetzt ist. Zweitens zeigt er besonderes Interesse am Prinzip menschlichen Strebens nach dem Guten, der Liebe, ohne die kein tugendhaftes Streben möglich ist und durch die die wesentliche Verbindung zum Proprium der thomasischen Tugendlehre, den virtutes infusae, und damit der Moraltheologie begründet wird (q. 2; De caritate). Drittens widmet sich Thomas der Hoffnung, die in ihrer Eigenschaft als Leidenschaft und als theologische Tugend das Prinzip der Liebe in besonderer Weise in den Kontext des Pilgerstandes übersetzt, in dem Liebe oft die Gestalt der Überwindung von Widerständen annimmt; insofern beinhaltet auch diese Frage eine Grundlegung innerhalb der Tugendlehre (q. 4; De spe). Viertens präsentiert Thomas die Grundlegung der vier vernunftgeleiteten Weisen natürlichen Strebens, die Kardinaltugenden, die er ihrerseits im Zusammenhang der eingegossenen Tugenden deutet und so auch hier die Kohärenz zu den ersten beiden Fragen wahrt (q. 5; De virtutibus cardinalibus). Vor dem Hintergrund dieser Grundlegung läßt sich nun plausibel machen, warum Thomas die brüderliche Zurechtweisung als besonders sprechendes Beispiel der Verwirklichung von Tugend in die Mitte18 stellt (q. 3; De correctio fraterna). Ihr Ziel ist ein übernatürliches und ermöglicht darum auch, die Fundierung der mit der brüderlichen Zurechtweisung verbundenen Tugendakte in der heiligen Liebe am praktischen Beispiel zu verdeutlichen.19 Was auf diese 18 Der Schwerpunkt der Argumentation liegt auf einer Begründung der Zusammenstellung der Themen in De virtutibus, nicht auf ihrer Reihenfolge. 19 Inwiefern Thomas mit dieser Position der dritten Quaestio und der Auswahl dieser Thematik seiner Sendung in die zerstrittene Universitätssituation in Paris nachkommen will, kann nur Mutmaßung bleiben. Daß an einem theoretisch genutzten praktischen Beispiel ein Hinweis für die Praxis gegeben werden kann, ist selbstredend.

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Weise schon einer inneren Systematik innerhalb von De virtutibus folgt und zentrale Einzelfragen einer genaueren Analyse unterzieht, hat seinen systematischen Ort in der umfassenden Darstellung der Secunda pars. Dort wird der tiefer liegende Zusammenhalt der Quaestiones disputatae de virtutibus ausführlich dargestellt. Der Einbindung in die Systematik des größeren Werkes erweist also die Kohärenz der Auswahl von grundlegenden Fragen und enthebt den Aufbau von De virtutibus dem Verdacht der Zufälligkeit. Diese Deutung der inneren Konsistenz von De virtutibus, setzt wissenschaftstheoretische Prämissen voraus, die in ihrer Anwendung hier nur gerechtfertigt sein können, wenn sie im thomasischen Denken begründet sind. Vor allem stellt sich die Frage, wodurch die innere Einheit eines theologisch geprägten Tugendbegriffs zustande kommt, der in expliziter Fortführung der aristotelischen Tugendlehre steht, die sich aus den Gegebenheiten der menschlichen Natur ableitet. W. Kluxen bestimmt die Beziehung von Philosophie und Theologie in der thomasischen Ethik als ein »theologisches Verhältnis«, ohne das ein rein philosophisches Verständnis eine »Setzung« wäre und »den Charakter einer unausweisbaren ›Entscheidung‹«20 hätte. So ist es nachvollziehbar, wenn er darauf hinweist, daß nicht in den philosophischen Schriften, z. B. den Aristoteles-Kommentaren, die letztgültigen Bestimmungen seines Denkens zu finden sind, sondern »in den großen theologischen Werken«,21 zu denen »die Quaestiones disputatae« als »typische Schriften des Magisters der Theologie«22 gehören. Interessanterweise fährt er mit der Feststellung fort, daß Thomas »gerade an theologisch bedeutsamen Themen … seine philosophiegeschichtliche Bedeutung entwickelt«.23 Sehr erhellend führt er weiter aus, daß die Metaphysik als Wissenschaft vom Seienden im Allgemeinen und von dessen höchsten und letzten Ursachen – durchaus im aristotelischen Sinne – auch der praktischen Wissenschaft vorgeordnet ist und insofern hinsichtlich 20 W. Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, Hamburg 1980, XLII f. [Kluxen] 21 Ebd. 1 22 Ebd. 1, Anm. 2. 23 Ebd. 2.

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des Materials, d. h. im Sinne der materia circa quam,24 den Gegenstand des Handelns bestimmt, aber dabei nicht einfach im Handelnden aufgeht, sondern als das über ihn hinausweist, was im menschlichen Wirken das Nicht-Wirkbare bleibt und gewissermaßen als Bedingung in das Handeln eingeht. So steht also der Mensch als Handelnder in einer auf Gott hingeordneten Gesamtordnung, die begrifflich in der Metaphysik erfaßt wird.25 Mit ihrer Hilfe leistet Thomas den Anschluß an Aristoteles unter Wahrung der Perspektive natürlicher Erkenntnis. Gleichzeitig aber kommt es in ihr zu einer Begegnung mit der Glaubenserkenntnis, an der Kluxen das Verhältnis von Philosophie und Theologie dahingehend klärt, daß in der natürlichen Erkenntnis »das ›Warum‹ eingesehen« und in der Glaubenserkenntnis »das ›Daß‹ gesichert wird«.26 Daraus zieht er folgende zwei Schlüsse: Zum einen hat dadurch »die natürliche Erkenntnis einen (relativen) Vorzug, auf dem das Eigenrecht der Philosophie gegenüber Theologie gründet«, und zum anderen aber, sofern nämlich das Praktische sein ›Warum‹ vom Ziel her versteht, »gibt gerade die Offenbarung und die sie erläuternde Theologie das letzte und umfassende ›Warum‹ allen menschlichen Handelns«.27 Mit dieser Argumentation wird verständlich, wie Thomas einerseits an Aristoteles anknüpfen kann und andererseits die Metaphysik der theologischen Perspektive von Gott her zugeordnet bleibt. In diesem Spannungsfeld stehen die Analysen in De virtutibus, und es wird nachvollziehbar, daß die Struktur des Werkes einem theologischen Primat folgt, die Philosophie aber den Status der ancilla theologiae hat, d. h. daß die ethische Systematik nicht in ihrer philosophischen, sondern nur in ihrer theologischen Aussage eigenständig ist.28 Fragen wir weiter nach der entscheidenden sich daraus ergebenden Bestimmung, von der die gesamte Tugendlehre abhängt und das Verhältnis der thomasischen zur aristotelischen Ethik para24 25 26 27 28

Vgl. Sum. theol. I–II, q. 18, a. 2, ad 2. Vgl. Kluxen 61 ff. Kluxen 83. Ebd. Vgl. ebd. 87.

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digmatisch erhellt werden kann, so bietet sich der Habitus-Begriff an. Aristoteles entwickelt ihn in seiner Ethik bei der Analyse des Tugendbegriffs in Abgrenzung zu Affekt und Vermögen als Gattungsbegriff; 29 umgekehrt kann man ihn wiederum durch die Tugend bestimmen, sofern sie durch Belehrung und Erfahrung in der Zeit wächst und zu Gewöhnung führt.30 Sofern der Habitus nur ein erworbener sein kann, legt Aristoteles den Begriff fest und wird als Kategorie des ›Habens‹, d. h. als eine Vermittlung zwischen dem Habenden und dem Gehabten31 verständlich. In welcher Weise aber der Sitz des Habitus im Menschen zu bestimmen ist, wird von Aristoteles in seiner Ethik nicht vollends festgelegt, so daß Thomas seinen Habitus-Begriff von dem in der Metaphysik dargelegten zweiten Habitus-Begriff im Sinne des ›Sich-Habens‹, das Aristoteles am Beispiel der Gesundheit verdeutlicht, ableitet.32 Der ethische HabitusBegriff erfährt dadurch eine beachtliche Aufwertung, sofern damit eine Beschaffenheit (Qualität) ausgesagt wird, nämlich eine gute oder schlechte Ausrichtung des Subjektes auf seine eigene Natur, durch die die Tätigkeitsweise der Substanz, die der Mensch ist, näher festgelegt wird.33 Diese scheinbar geringfügige Veränderung am aristotelischen Habitus-Begriff, ermöglicht Thomas wesentliche systematische Entscheidungen. Sofern der Habitus sozusagen ein Maß im Maß der menschlichen Natur ist, kann er einerseits im aristotelischen Sinne ein erworbener sein, dem die Vernunft in der Tugendmitte das Maß gibt, und auf den durch Gewohnheit zurückgegriffen werden kann; andererseits aber ist es aber auch – im Gegensatz zur aristotelischen Vorgabe – denkbar, daß die Formung des Habitus vom Gegenstand selbst herrührt und so der Habitus empfangen wird. Eine vorgegebene metaphysische Struktur wird zum Formprinzip des Habitus und wird in einer unabhängig davon unterschiedlich stark vollzoEth. Nic. II, 4; 1105 b 14–1106 a 13. Eth. Nic. II, 1; 1103 a 14–17. Vgl. Met. V, 20; 1022 b 6–9. Vgl. Sum. theol. I–II, q. 49, a. 1 c. Sum. theol. I–II, q. 49, a. 2 c: »Proprie enim qualitas importat quemdam modum substantiae«. 29 30 31 32 33

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genen Intensität des Subjekts aufgenommen. Diese Gegenstände bezeichnet Thomas als ›unbewegliche Ursachen‹ (causae immobiles).34 Hierdurch erhält der aristotelische Ansatz seine Überformung durch den Theologen Thomas, der nämlich nun einen neuen Maßstab für das, was ein Habitus ist, eingeführt hat. Einerseits erhält dadurch die nur erworbene Gestalt des Habitus den Status der Unvollkommenheit, während der eigentliche Tugendhabitus auf eine causa immobilis zurückgeht. Diese ist die Form- und Zielursache eines solchen Habitus, den Thomas eine ›eingegossene Tugend‹ (virtus infusa) nennt. Virtutes infusae sind, wie De virtutibus cardinalibus beweist, nicht nur die theologischen, sondern auch die sittlichen Tugenden, sofern sie auf Gott ausgerichtet sind.35 An dieser metaphysischen Struktur des thomasischen HabitusBegriff läßt sich das Verhältnis von Philosophie und Theologie als Deutungsprinzip für den Aufbau von De virtutibus verständlich machen. Die Neubestimmung des Habitus als nähere Festlegung der Substanz (modus substantiae) ist als solche zunächst nur eine Präzisierung des aristotelischen Anliegens und ermöglicht – im Anschluß an W. Kluxen gesprochen –, daß das ›Warum‹ des Handelns philosophisch bestimmbar und gleichzeitig im Sinne der natürlichen Theologie das ›Daß‹ der letzten Zielursache gesichert ist. Thomas aber erweitert diese Möglichkeit eines philosophischen Zugangs zum Habitus auf den offenbarungstheologischen hin, sofern der Habitus in letzter Dimension seine Form als Gegenstand des handelnden Menschen als von Gott gegebenem hat und dadurch nur vom letzten ›Warum‹ her sich erschließt. So ist von diesem der Tugendlehre vorgeschalteten Begriff des Habitus sowohl der philosophische als auch der theologische Zugang gerechtfertigt. Es zeigt sich hier ein zentrales thomasisches Denkprinzip, durch das der Aufbau von De virtutibus erhellt wird: Die allgemeine Einführung (De virtutibus in communi) legt zunächst die philosophische (a. 1–9), dann die theologische Grundlage (a. 10–13). Die heilige Liebe als Handlungsprinzip der Tugend (De caritate) hat ihren Ursprung in ihrer Gestalt als theologische Tugend und prägt auf 34 Vgl. Sum. theol. I–II, q. 49, a. 2, ad 3. 35 De virt. 5, 4 c.

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diese Weise das Gesamtwerk; durch sie ermöglicht sich Thomas, die ganze menschliche Existenz als Bürger zweier Welten aus theologischer Sicht im Blick zu halten, sofern die heilige Liebe die Tugend ist, die im ewigen Leben bleiben wird. Von hier aus kann die praktische Tugendübung (De correctio fraterna) im theologischen Licht betrachtet werden und diese wiederum in ihren beiden Handlungsschwerpunkten des Pilgerstandes: mit theologischem Akzent die Hoffnung (De spe) und mit philosophischem Akzent die Kardinaltugenden (De virtutibus cardinalibus).

3. Inhaltliche Hinführung zu den Quaestiones disputatae de virtutibus Nach der Klärung der inneren Konsistenz des Werkes, geht es nun darum, die Gedankenführung in der jeweiligen Quaestio im Blick auf die Nachzeichnung der inneren Einheit des Werkes darzustellen.36 Die erste Quaestio (De virtutibus in communi) stellt in dreizehn Artikeln die Frage nach der Definition, dem Träger, der Herkunft, dem Wachstum, der Unterscheidung und dem Kriterium der inhaltlichen Richtigkeit der Tugend. Thomas setzt, wie gesagt, die Frage nach dem Habitus als geklärt voraus und untersucht im ersten Artikel (q. 1 a. 1) die Gattungszugehörigkeit der Tugend; er stellt die Alternative zwischen Habitus und Akt auf. Thomas setzt in seiner Antwort von der Vollkommenheit an, die für die Tugend im Vermögen ihren Sitz haben muß, um eine gute Handlung hervorbringen und den sie Besitzenden gut sein lassen zu können. Diese allgemeine Bestimmung muß allerdings nach Art des Vermögens unterschieden werden. Thomas unterscheidet nur tätige (Gott, tätige Vernunft, natürliche Vermögen), bewegte, d. h. durch eine Bewegung von einem anderen bestimmte Vermögen, und die zugleich tätigen und bewegten Vermögen. Letztere erhalten zwar einen Impuls von außen, aber dieser Einfluß bleibt im Vermögen als blei36 Die Darstellung der einzelnen Artikel folgt primär den Antworten. Die Herkunft aller weiteren genannten Inhalte wird im Text angegeben.

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bende Form und verursacht keinen Zwang. Ein Vermögen mit einer solchen Eigenschaft hat der Mensch, der sich frei zu diesem Einfluß einstellen kann. Diese hinzugewonnene Qualität ist der Habitus eines menschlichen Vermögens. Tugend ist also Habitus, sofern erstens eine gefestigte Neigung vorliegt, die – negativ argumentiert – nicht durch einen einzelnen Akt entsteht, zweitens diese vernunftgemäße Neigung Überlegung in der spontanen Handlung erspart, und drittens diese Leichtigkeit – in Übereinstimmung mit der eigenen Natur – beglückt. Thomas unterscheidet den Habitus von der Tugend, sofern er die Form der materialen (natürlichen) Hinordnung ist, während die Tugend als Tätiges dieses Geformtseins auf jene Verwirklichung hingeordnet ist (a. 1 ad 9), die in einem Vermögen das Beste vollbringt und dem Inhalt nach das ist, was das Vermögen erfüllt (a. 1 ad 6). Für den Akt bedeutet das, daß er entweder ein Akt der Tugend ist (a. 1 ad 4) oder eine sündhafte Tat, die die Tugend akzidentell beseitigt (a.1 ad 5). Von einem vorausgehenden Akt, durch den sich ein Habitus bildet, spricht er hier nicht, d. h. daß schon in der Anknüpfung an den Habitus-Begriff, der in der Summa ausgeführt wird, der Habitus-Erwerb im Sinne des Aristoteles nicht thematisiert wird. Die Frage nach dem Wesen der Tugend geht Thomas mit Hilfe der augustinischen Definition an (q. 1 a. 2). Hier interessiert nun die Vollkommenheit Aktes als Ziel des Vermögens bzw. des Handelnden, wodurch er gut ist. Als solcher muß der Akt richtig (vernunftgemäß) und frei von Mißbrauch sein; dies ist nur möglich, wenn er durch Orientierung am Guten als dem Ziel vom Geist bestimmt ist, und darin der Verstand in seiner Vollkommenheit ist (a. 2 c). Die Tugend ist es also, die den Handelnden gut macht und nicht umgekehrt (a.2 ad 1). Ihr Spezifikum aber ist es, daß in ihr das Gute nicht nur Form bzw. Gegenstand des Willens ist, wie bei den natürlichen Tätigkeiten, die nicht schlecht sein können, sondern auch Ziel, das der Art nach gut und schlecht sein kann (a. 2 ad 3). Die freie Stellungnahme zu jenem Einfluß von außen, die den Habitus ausmacht, ist also in der Tugend nicht nur in allgemeiner Weise zielorientiert, sondern eindeutig gut und darum die Vollkommenheit des Vermögens. Konsequenterweise fragt nun (q. 1 a. 3) Thomas – nachdem klar ist, daß Tugend Vollkommenheit eines Vermögens besagt –, ob dann

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auch das Vervollkommnete ihr Träger sein kann. Diese Frage ist entscheidend für die ontologische Einbindung der Tugend. Angesichts des Status der Tugend und des Vermögens als Akzidenz können sich zwar beide nicht als Träger gegenseitig bedingen, aber sie können durch den Träger, der die Seele ist, sowohl in einem Verhältnis von Potenz und Akt stehen, wie das Vermögen durch eine bestimmte (durch einen Habitus festgelegte) Tätigkeit eine akzidentelle Form erhält und umgekehrt das Vermögen Ursache für die Aufnahme dieser akzidentellen Form ist. Auf diesem Wege leitet Thomas ab, daß das Vermögen, das der Seele als ihrem Träger inhäriert, das Trägersein zur Tugend hin vermittelt. Nur durch diese Ableitung kann überhaupt im Folgenden von der Trägerschaft eines Vermögens für eine Tugend gesprochen werden. Beginnt nun Thomas die Vermögen in dieser Funktion des Trägerseins zu differenzieren (q. 1, a. 4–7), muß er begründen, warum Tugenden überhaupt in verschiedenen Vermögen zu verorten sein sollen. Er begründet es mit der unterschiedlichen Struktur der Vermögen (q. 1 a. 4 c): durch Verstand und Willen ist der Mensch Herr seiner Akte; der Verstand ist der erste Bewegende. Das sinnenhafte Strebevermögen wird durch den Verstand bewegt und bewegt die Gliedmaßen, die ihrerseits nur bewegt sind; es kann sich aber dem Verstand widersetzen. Mit diesen drei Bestimmungen setzt Thomas den Rahmen für die folgende Fragenreihe. Er fragt – immer im Vergleich zu den natürlichen Bewegungen – nach dem Träger der Tugend, zunächst nach dem bewegt-bewegenden und dann nach dem ersten Bewegenden. Die Tugend im sinnenhaften Strebevermögen muß also eine Reaktion auf dessen Widersetzlichkeit sein, denn dieses Vermögen ist das unmittelbare Handlungsprinzip und kann nur in Ausrichtung auf die Vernunft vollkommen sein. Die Tugend, die sich in ihm ausbildet, ist darum auf diese Unstetigkeit der Gefühle bezogen, die nämlich nur beherrscht werden kann, weil das sinnenhafte Streben trotz seiner Materiegebundenheit auch unabhängig von der Materie ist, sofern es nämlich der Vernunft gehorchen kann (a. 4 ad 4); Tapferkeit und Maßhalten haben darum in der zur Seele hin vermittelten Weise ihren Träger im sinnenhaften Strebevermögen. Tugend aber besagt hier, daß sie in analoger Weise ihre Wurzel in der Ver-

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nunft hat wie die Vermögen in der Seele (a. 4 ad 3). Im Gegenzug ist zwar die Begehrlichkeit die erste Wurzel alles Bösen, aber nicht sein erstes Prinzip, denn in der Begehrlichkeit gründen die Leidenschaften37 (a. 4, ad 13), die ja gerade durch die Tugend geformt werden können. Nach diesem Einstieg in die Frage nach dem Träger der Tugend ist auf den ersten Blick die Implikation der Frage verwunderlich, daß der Wille als Träger ausgeschlossen sein könnte (q. 1 a. 5), da doch das sinnenhafte Strebevermögen schon zum Voluntarium gehört. Thomas bezweckt mit dieser Problematisierung zweierlei: Zum einen wird daran klar, daß der Wille als Vermögen unmittelbarer Ausdruck der Natur ist und ohne eine Tugend auf das Gute ausgerichtet ist; darin zeigt sich die Sonderstellung des Willens. Zum anderen hebt er damit hervor, daß der Grund für eine tugendhafte Formung des Willens nur sinnvoll zu denken ist, wenn diese rein natürlichen Verhältnisse überschritten werden, sei es zur Übernatur hin auf das göttliche Gute – hierfür stehen die heilige Liebe und die Hoffnung, die Thomas strukturbildend für De virtutibus einsetzt –, sei es auf das Individuum hin, wenn es sich im rationalen Streben auf anderes richtet, wie es durch die Tugend der Gerechtigkeit geschieht – auch hier zeigt sich an ihr als Kardinaltugend ein Hinweis auf das Bauprinzip des Werkes. Es ist offenkundig, daß die Fragestellung in diesem Artikel auf eine Unterteilung der Tugenden hinsichtlich ihrer Träger aus der Sicht des Willen als rationalem Strebevermögen hinausläuft. Darum grenzt er ihn vom sinnenhaften Strebevermögen als Träger der Tugend ab und betont das von der Vernunft Aufgefaßte als natürlichen Gegenstand des Willens. Er fokussiert letztlich den Akt der Klugheit und das ihr eigene tätige Glücklichsein, das vom Willen getragen ist und durch die heilige Liebe den Willen in der himmlischen Glückseligkeit vollendet – dies in Abgrenzung 37 Die Unterscheidung zwischen Wurzel und Prinzip des Bösen in Bezug auf die Leidenschaften ist entscheidend für das Verständnis von Tugend und Laster. Sofern die Leidenschaften ein Seelenteil sind, gehören sie zum Sein der Seele und können darum nicht Prinzip des Nicht-seins sein. Sofern sie von der Lenkung des an der Wahrheit orientierten Verstandes gelöst tätig sein können, ist es ihnen möglich, dem Guten und Wahren Widersprechendes hervorbringen.

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zum betrachtenden Glücklichsein des Verstandes (a. 5 ad 8). So ist die Trägerschaft des Willens für die Tugend sehr wohl erwiesen; der Gewinn liegt in der Abgrenzung und Beziehung zu Verstand und Leidenschaften. Die Prüfung, inwieweit die praktische Vernunft Träger der Tugend sein kann (q. 1 a. 6), setzt von der Zahl der Gegenstände aus an: natürliche Kräfte haben einen Gegenstand, die Tugend kraft der Vernunft viele, und Thomas weist deutlich darauf hin, daß dem vernünftigen Streben prinzipiell ein Verstehen vorausgehen muß. So ist die Klugheit als eine verstandesmäßige Tugend (a. 6 ad 6) die Ursache und die Vervollkommnung aller sittlichen Tugenden, sofern der Verstand die verschiedenen Hinsichten und Bedingungen einer Handlungssituation – Personen, Zeiten, Orte – in sich zu einer Einheit im richtigen Urteil bringt, welches dann nicht nur allgemeines, sondern konkretes Handlungswissen ist (a. 6 ad 1). Diese Art praktischen Wissens besagt zugleich, daß der schlechte Mensch in den ungesteuerten Leidenschaften ein praktisch Unwissender, d. h. ein Unkluger ist (a. 6, ad 3). Nur der gegenseitige Einschluß des Guten und des Wahren,38 wie er in der Klugheit als Bezug von Verstand und Wille vollzogen wird, ermöglicht das richtige praktische Urteil (a. 6 ad 6). Das Unterscheidungskriterium zwischen den Tugenden der praktischen und der theoretischen Vernunft (q. 1 a. 7) liegt nach Thomas in der Weise der Ausrichtung des Habitus auf das Gute: Ist er auf das Gute als solches hingeordnet, wie die Tugenden des Strebevermögens, ist die Ausrichtung formal; Thomas nennt sie die eigentlichen Tugenden. Ist sie dagegen nur auf den Gegenstand selbst ausgerichtet, der eine Tugend ausmacht, ist sie material; diese Tugenden haben ihren Sitz nicht im Strebevermögen und orientieren sich auch nicht an ihm. Diese wesentliche Unterscheidung ermöglicht Thomas, innerhalb der materialen Ausrichtung der theoretischen Tugenden das wechselseitig angelegte Verhältnis von Verstand und Wille unter dem Primat des Verstandes bzw. des Willens zur betrachten: In Wissenschaft und Weisheit geht der Verstand dem Willen voraus und das Wahre ist nicht etwas Gewolltes, sondern als das 38 Vgl. dazu Sum. theol. I, q. 82, a. 4, ad 1.

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Gute des Verstandes unmittelbarer Betrachtungsgegenstand; in der Kunst vollzieht sich dasselbe hinsichtlich des Wissens und der Fähigkeiten, die man sich im praktischen Verstand erwirbt, ohne gut handeln zu wollen. Geht aber der Wille dem Verstand voraus, so ist es der Glaube, der den theoretischen Verstand vervollkommnet, sofern der Mensch dem zustimmt, was den Verstand übersteigt; dies verbindet ihn mit dem Maßhalten und steht daher den formal ausgerichteten Tugenden näher. Mit der Klugheit, die ja die Brückenfunktion zu den sittlichen Tugenden übernimmt, führt Thomas für alle verstandesmäßigen Tugenden ein drittes Unterscheidungskriterium ein, nämlich ihre Stellung zum Willen: der Wissenschaft, der Weisheit und der Kunst verhilft er nur zum Gebrauch der Fähigkeiten, der Klugheit ist er Handlungsziel, während sie den Gegenstand erforscht, und dem Glauben verleiht er sogar den Gegenstand. So kann Thomas schlußfolgern, daß die theoretische Vernunft das Gute als Ziel im eigenen Akt hervorbringt und darum nur material darauf ausgerichtet ist, während die Klugheit das Gute als ihr Ziel in Orientierung auf andere darauf gerichtete Akte erstrebt (a. 7, ad 1). Nach diesem prüfenden Durchgang, der sich auf die Systematik der Trägerschaft bezogen hat, widmet sich Thomas der Fragengruppe nach der Herkunft der Tugend (q. 1 aa. 8–10). Er beginnt mit der Frage, ob die Tugend von Natur aus in uns ist (a. 8). Thomas diskutiert zunächst die Frage nach der Herkunft der Formen (Anaxagoras, Platon, Aristoteles, Avicenna). Er schließt sich Aristoteles an, der sagt, daß die Formen potentiell in der Materie präexistieren und durch Wirkung von außen in den Akt überführt werden. Auf dieser Grundlage kann Thomas die Meinung übernehmen, daß Wissenschaft und Tugend als Begabung von Natur aus in uns sind, dies aber nicht nur als passive, sondern auch als aktive Potenz, wie Eignung des Körpers zur Heilung. Eine solche passiv-aktive Potenz sieht Thomas auch im Zusammenwirken von tätigem und aufnehmendem Verstand, von aktiver Zielausrichtung und Empfänglichkeit für einen Habitus im Willen, von aktivem Streben und Fähigkeit zum Gehorsam gegenüber dem Verstand im sinnenhaften Strebevermögen. Diese Art der Anfangsgründe liegen in der Natur des Menschen vor. Im einzelnen Menschen kann darüber hinaus entweder in der Natur oder durch die Gnade eine Tugendveranlagung

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gegeben sein, die aber der Steuerung durch die Vernunft bedarf, die auf diese Weise ihrerseits Samen aller Tugenden ist (a. 8 ad 10). So können Wollen und Wissen in einem allgemeinen Sinn von Natur aus in uns sein (a. 8 ad 6); sie sind aber aufgrund ihres nur Möglichseins unvollkommen (a. 8 ad 8), obgleich sie schon in die Natur selbst eingebunden sind, sofern in ihr Maß, Art und Ordnung verwirklicht sind, die das Gute der Natur bestimmen (a. 8 ad 12), und sie ermöglichen, daß die Spezifizierung der Handlungsrichtung durch die Tugend – an diesen Anfängen in der Natur ansetzend – sich überhaupt vollziehen kann. Die zweite mögliche Herkunft einer Tugend ist der Erwerb (q. 1 a. 9). Vorbereitend schon auf den folgenden Artikel unterscheidet Thomas das von der Natur des Menschen erfüllbare Gute (›der gute Staatsbürger‹) und das Gute, das seine Natur überschreitet (›Bürger der himmlischen Stadt‹). Vor diesem Hintergrund kann Thomas hinsichtlich des Erwerbs differenzieren: die Anlage zu einer Vollkommenheit folgt einem passiven Prinzip und wird nur durch äußere Einwirkung verwirklicht, wie z. B. das Leuchten der Luft, oder sie folgt einem aktiven und einem passiven Prinzip und kann aus eigener Kraft verwirklicht werden, wie z. B. das Gesundwerden. Sofern Verstand, Wille und sinnenhaftes Strebevermögen diesem aktiv-passiven Prinzip folgen (s. o.), hat in ihnen auch die Tugend ein Prinzip, das sie in den Akt überführt, wie das Erkannte dem Erkennbaren ähnlich ist und die verstandesmäßige Tugend bildet und die Hinneigung zum Erstrebbaren die sittliche Tugend begründet. Die Tugend wird aber – im Gegensatz zu einer festgelegten Ausrichtung von Naturdingen – durch den Gegenstand, auf den sie sich richtet, erst durch Wiederholung und Gewöhnung festgelegt, bis sich eine zweite Natur bildet. Thomas vergleicht den Tugenderwerb mit einer Meinung, die wegen ihrer Schwäche viele Schlußfolgerungen braucht und dadurch im Gegensatz zur spontanen Verbesserung einer verstandesmäßigen Tugend durch einen Beweis steht (a. 9 ad 11). Die dritte mögliche Herkunft (q. 1 a. 10) einer Tugend, die gnadenhafte Eingießung, leitet Thomas ontologisch mit Hilfe der Seele als Analogon ab. Vorab klärt er, daß die Tugend unterschieden wird, sofern das Gute im Menschen verschieden ist. Zum einen entspricht das der Kraft dessen, der es in ihm verursacht und zum anderen ist

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damit impliziert, daß es ein Gutes für den Menschen gibt, das seine Natur überschreitet. Anhand der Analogie der Seele verdeutlicht Thomas nun, daß, so wie die Seele von der Materie nicht erfaßt werden kann und in ihr etwas bleibt, woran die Materie nicht teilhaben kann – Verhältnisse, die es bei unbeseelten Díngen nicht gibt – die Seele nicht nur ihre erste, sondern auch ihre letzte Vollkommenheit, d. h. das vollkommene Glücklichsein unmittelbar durch die Tätigkeit Gottes erhält, obgleich sie dann nicht in der ganzen Kraft Gottes tätig ist (a. 10 ad 3), und darum die Natur auch nicht aus sich wie Gott handeln kann (a. 10 ad 7). Auf dieser Grundlage schließt Thomas von der Hinordnung jedes Dinges auf sein Ziel, daß der Mensch auf ein übernatürliches Ziel hingeordnet ist, dem ein übernatürliches Handlungsprinzip in der Seele entspricht, das von Gott eingegossen ist. In der Folge vermögen die natürliche Prinzipienerkenntnis des Verstandes und die natürliche Neigung des Willens zum Guten zwar nicht sich aus sich selbst heraus zu überschreiten, aber dadurch, daß auch sie nicht von der letzten Hinordnung auf das übernatürliche Leben ausgeschlossen sind, folgen sie nicht nur der natürlichen Ordnung, sondern durch die eingegossene Gnade, der übernatürlichen Ordnung. Durch die eingegossene Tugend der Hoffnung und der heiligen Liebe empfängt der Wille die Neigung zum übernatürlichen Guten hingeneigt. In dieser analogischen Struktur stehen Sinne und Verstand, natürliches Ziel und übernatürliches Ziel und schließlich Tugend der ersten Vollkommenheit und der letzten Vollkommenheit im Verhältnis von Vollkommenheit in gewisser Hinsicht und Vollkommenheit einfachhin (a. 10 ad 1). Das ist aber nur möglich, weil der Mensch im Gegensatz zu seinen natürlichen Fähigkeiten hinsichtlich der eingegossenen Tugenden rein empfangend ist (a. 10 ad 2). Dadurch ist zwar klar, daß der Akt einer erworbenen Tugend nur mittels der heiligen Liebe als eingegossener Tugend verdienstvoll sein kann (a. 10 ad 4), aber das nicht gleichzeitig bedeutet, daß die Liebe die Art jeder Tugend bestimmt, auch wenn sie die Tugend als eine eingegossene befiehlt (a. 10 ad 10); das zeigt sich darin, daß die Übel der Leidenschaften durch die erworbenen Tugenden weniger gefühlt werden und der Kampf bleibt, aber bei den eingegossenen sie zwar gefühlt werden, aber nicht herrschen (a. 10 ad 14).

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Die Analyse von Trägerschaft und Herkunft der Tugend hat die originär ethische Fragestellung zunächst einmal anthropologisch und theologisch eingebunden. Von hier aus kann er sich drei Themen zuwenden, die die Tugend nicht mehr nur allgemein bestimmen, sondern allgemeine Bestimmungen diskutiert, die nur an einer einzelnen Tugend verständlich werden. Es geht ihm nun um das Wachstum der Tugend (q. 1 a. 11), um die systematisch Bestimmung der Arten der Tugend (q. 1 a. 12) und um das Kriterium der Richtigkeit des Tugendhaften (q. 1 a. 13). Thomas sieht bei der Frage nach dem Wesen des Wachstums von Tugend (q. 1 a. 11) das Problem des Sprachgebrauchs, das den Zugang zum Sachproblem erschwert. Formen werden nämlich wie Substanzen abstrakt bezeichnet (das Weißsein); das Werden ist dann entweder an schon geschaffene Formen gebunden oder läuft ohne vorgegebene Formen ab und meint das Entstehen eines Dinges nur aus der Materie. Thomas klärt auf, daß die Identität von Form und Seiendes oder Form und Werden irreführend ist, da durch die Form zwar etwas, aber nicht die Form selbst wird (non quia ipsa fiat, sed quia ea aliquid fit ). So kann er weitergehen und die Sprechweise ›Zunahme einer Substanz‹ als Übergang von einer geringeren zu einer höheren Qualität an einem Träger erkennbar machen; diese Qualitäten nehmen aber nicht im Sinne einer zählbaren Hinzufügung zu, da die Formen einer Art nur durch den Träger unterschieden werden. Daraus schließt er für geistige Qualitäten, wie sie die Tugenden sind, daß sie zunehmen, sofern sie stärker im Träger verwurzelt sind, d. h. daß der Träger in höherem Maß an der Qualität teilhat; dies wirkt sich in höherer Intensität aus. So ist die heilige Liebe der Substanz ähnlich, d. h. sie ist zwar Sein an sich, aber nicht selbst Substanz. Durch seine Teilhabe an ihr wird der Träger als Form des Aktes in höherem Maße in den Akt überführt, so daß er sich mehr seiner eigenen Form bemächtigt. Dadurch macht Thomas klar, daß die Liebe zwar als etwas benannt wird, das, wie das Weißsein, als etwas Unteilbares dem Träger inhäriert und darum in einen abstrakten Begriff gefaßt ist, die heilige Liebe aber ihrem Wesen nach gerade nicht unteilbar ist, d. h. nämlich, daß der Träger sich verändert, indem er mehr liebt (a. 11 ad 3); die heilige Liebe wird aber nicht wesentlich vom Träger ausgesagt, da sie, die als solche unverändert bleibt (a. 11

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ad 5) und von ihm empfangen wird (a. 11 ad 4). So kann sie bei den erworbenen Tugenden durch die Akte des Menschen wachsen und bei den eingegossenen Tugenden durch die Gnade Gottes, an der der Mensch verdienstvoll mitwirken kann, sofern er sich auf die heilige Liebe vorbereitet. Unter dieser Hinsicht der Vorbereitung auf die heilige Liebe ist das Wesen der Tugend hinsichtlich seines Trägers unteilbar, sofern er sich nämlich auf die Mitte der Vernunft als den Inhalt richtigen Handelns ausrichtet. Der Ausgangspunkt und der Maßstab für die Unterteilung der Tugenden (q. 1 a. 12) ist das Gute, das den strebenden Seelenteil formal und den erkennenden, sofern Wahrheitserkenntnis erstrebbar ist, material bestimmt. Die Seelenteile haben also einen unterschiedlichen Grund ihrer Vervollkommnung. So gliedern sich die Verstandestugenden in Wissenschaft und Weisheit, die sich mit dem notwendig Wahren, das – im Gegensatz zum an sich Bekannten (die ersten Prinzipien) – durch anderes bekannt ist, und in Klugheit und Kunst, die sich mit kontingent Wahrem befassen – die Klugheit mit den Gegenständen in uns (Handlungen) und die Kunst mit den Gegenständen außerhalb von uns. Sie sittlichen Tugenden unterscheidet Thomas nach der Materie: Zornmütiges und begehrliches Strebevermögen führen durch vernunftgelenkte Beherrschung zum Maßhalten und zur Tapferkeit und die Regelung äußerer Dinge zur Gerechtigkeit. Thomas ergänzt die Klugheit als sittliche Tugend, die im strebenden Seelenteil an der rechten Erkenntnis teilhat (a. 12 ad 16) und alle sittlichen Gegenstände zur Materie hat (a. 12 ad 21). Diese Tugenden sind auf das Gute gerichtet, das um eines Zieles willen da ist; als Kardinal-Tugenden eröffnen sie wie eine Tür in der Angel den Raum des Strebens nach dem letzten Ziel (a. 12 ad 24). In dieser Funktion sind sie vom Streben nach dem Guten, das das letzte Ziel ist, abzusetzen. Diesem entsprechen dann die theologischen Tugenden, mit denen der Mensch sich auf dieses Ziel sich hinbewegt; deshalb muß es ersehnt und erkannt sein: die Liebe zum Ziel – Prinzip und Wurzel aller Empfindungen (a. 12 ad 9) – begründet das Ersehnen, der Glaube die Erkenntnis und die Hoffnung die Zuversicht, es zu erlangen. Die Vernunftbegabtheit ist der Grund für die Vielheit der Tugenden, weil die Vernunft sich auf Vieles richten kann und darum auch der Mensch durch Vieles hindurch zum Ziel

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gelangt (a. 12 ad 2). Das aber bedeutet auch, daß der Gegenstand der Vermögen für verschiedene Gegenstände der Habitus offen ist (a. 12 ad 4), die ihrerseits nach ihren Akten als den Zielen der Habitus und die Habitus als den Wirkungen dieser Akte unterschieden werden. Den Abschluß der allgemeinen Einführung in die Tugendlehre bildet die Frage nach der konkreten Gestalt jenes Gegenstandes, der eine Tugend ausmacht und dadurch das jeweilige richtige Handeln bestimmt ist. Für die sittlichen Tugenden besteht dieser Gegenstand in jener Mitte zwischen den Leidenschaften, die ihr Maß und ihre Regel von der Vernunft hat, die darin das Woraufhin der Handlung bestimmt. Diese Mitte ist aber formal (sicut imprimentis) durch die Klugheit bestimmt, während die anderen sittlichen Tugenden sie material (sicut impressi) aufnehmen; darin hat die Tugend ihr Extrem bzw. das Äußerste hinsichtlich der Entsprechung gegenüber dem Maß der Vernunft (a. 13 ad 3 und ad 5). Unterscheidend für diese Art der Mitte ist, daß ihr Ausgangspunkt die gemessenen Gegensätze sind, sofern sie vom Maß abweichen. Dazu zählt auch die praktische Verstandestugend der Kunst, die ebenfalls ein Verhältnis von Form und Materie verwirklicht (ut rectificantis, ut rectificati). Die betrachtende Verstandestugend hat aber ihre Mitte im Wahren selbst, das Gegensätze nur in der Vernunft selbst im Sinne der Bejahung und Verneinung kennt und die Mitte dazwischen ermittelt werden kann. Die theologische Tugend an sich kennt keine Mitte, weil zuerst der Wille, der keine Mitte hat, den Gegenstand an sich erstrebt. Gott selbst ist Regel und Maß des Willens, wodurch der Wille die theologischen Tugenden auf ihren Gegenstand hinordnet. Die zweite Quaestio, ebenfalls aus dreizehn Artikeln bestehend, widmet sich der theologischen Tugend der heiligen Liebe. Ist sie bisher in der strukturellen Betrachtung der ersten Quaestio nur als Hauptvertreter der theologischen Tugenden behandelt worden, wird sie nun in ihrer prinzipiellen Bedeutung für die Tugendlehre untersucht. Thomas eröffnet die Reihe der Fragen mit einem Gegensatz, durch den die Liebe als Tugendakt der menschliche Natur charakterisiert wird: Einerseits fragt er, ob die heilige Liebe mit dem Heiligen Geist identisch ist, und andererseits, ob sie überhaupt eine Tugend und nicht vielmehr der Wille selbst ist. Gerade ihre Eigenschaft als

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Fundament der Tugenden und ihr Fortdauern in der ewigen Heimat provozieren die Fragen nach der Möglichkeit ihrer Besonderheit, ihrer Gleichzeitigkeit zur Todsünde, ihrer Vollkommenheit bzw. auch ihrer Verlierbarkeit im Pilgerstand, und – angesichts ihres göttlichen Gegenstandes – nach ihrer Art der Rationalität und Geordnetheit. Das Problem des ersten Artikels (q. 2 a. 1) fokussiert die Frage des Bewegtwerdens des freien Willens durch die Gnade. Werden nämlich die Willensakte nicht auf ihre Natur als Wurzel zurückgeführt, bleibt das Wirken des Heiligen Geistes dem inneren Handlungsprinzip äußerlich; der Akt wäre nicht willentlich. Darum kann ein Akt, der die menschliche Natur überschreitet nur dann willentlich und dadurch auch verdienstvoll sein, wenn der Wille vervollkommnet wird. D. h., daß eine geschaffene Liebe als formalbestimmendes natürliches Prinzip gegeben sein muß, und gleichzeitig die Möglichkeit besteht, daß der heilige Geist als die ungeschaffene Liebe die Seele so zum Akt der Liebe bewegt wie Gott die Dinge zu ihren formal bedingten Tätigkeiten (vgl. auch a. 1 ad 13), d. h., daß Gott als stärkster Beweger mit der Neigung auch den Habitus der heiligen Liebe verursacht (a. 1 ad 2). In diesem Akt der heiligen Liebe fühlen wir eine Teilhabe an Gott (a. 1 ad 7). Die Liebe kann eine Tugend nur im Vollsinn sein (q. 2 a. 2), wenn sie die Eigenaktivität des liebenden Menschen in seiner vernünftigen Natur ist, denn diese ist das Gute des Menschen und nur durch sie kann er das Gute, auf das sein Handeln sich richtet, lieben. Die Liebe ist auf diese Weise der Anfang aller willentlichen Strebungen, weil sie dem Willen seiner Natur nach innewohnt. Von hier aus entwickelt Thomas das Prinzip der Liebe, das diesen natürlichen Boden überschreitet, zum einen in der Kunst, in der die Liebe zum Guten angesichts des herzustellenden Kunstgegenstandes hinzukommen muß, und zum anderen in der Politik, in der die Gewährung der Teilhabe am Guten des Staates, dem Bürger die Liebe zu diesem Guten hinzukommen läßt. Analog ist es beim Bürger des himmlischen Jerusalem, der durch die eingegossenen Tugenden, die dann selbst das Hinzukommende sind, an der himmlischen Glückseligkeit teilhat. Diese Liebe zum spezifischen Guten ist aber selbst nur gut, wenn sie nicht um des Liebenden selbst willen vollzogen wird

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– dies kann auch ein Tyrann –, sondern unter Zurückstellung des eigenen Guten, sogar des eigenen Lebens, und mit dem Ziel, das Gute um seiner selbst willen zu lieben. Das erst führt zum guten Verhalten des Menschen, dem er mit Leichtigkeit nachkommt und zeigt die Erhabenheit der Liebe als Tugend. Das bedeutet aber auch, daß der Liebe die Freundschaft zu Gott vorausgehen muß; darum ist auch die Liebe zu Gott ohne Maß und ohne Mitte, da sie sonst dem Wesen der Freundschaft zu Gott widerspräche. Im Gegensatz dazu folgt die Freundschaft zu den Menschen der Liebe (a. 2 ad 8 und 13). So begründet die Liebe sowohl als natürliches Seinsprinzip als auch als Prinzip der Teilhabe an der Gnade (a. 2 ad 15 und 16) gutes Verhalten. Die Notwendigkeit, die Liebe zu Gott hin abgrenzen zu müssen, und die Erkenntnis, daß sie erstes Handlungsprinzip ist, drängt die Frage nach ihrem Status unter den Tugenden auf (q. 2 a. 3). Thomas geht in seiner Ableitung davon aus, daß jeder Akt seine Form von der Form des Tätigen erhält; diese ist für den Willen das Ziel. Die Liebe aber ist Akt aller Tugenden, weil sie auf das höchste Gute als ihr Ziel hingeordnet ist. Die Hoffnung hängt von ihr ab, sofern sie dieses höchste Gute ersehnt. Ähnlich ist Gott als das Wahre des Glaubens erstrebbar, indem der Wille dem Verstand vorausgeht (a. 3 ad 12 und 13); insofern ist der Glaube auch gut. Die Liebe aber gibt allen anderen Tugenden die Form, erweckt ihren Akt und ordnet das niedere Vermögen auf das höhere Ziel hin; gleichzeitig bewirkt sie, daß alle anderen Tugenden auf sie hingeordnet sind und in ihr eine gemeinsame Art haben (a. 2 ad 5), durch die sie verdienstlich sind (a. 3 ad 3 und 9). Aus diesem Grund bezeichnet Thomas sie als ›Wurzel aller Tugenden‹ (a. 3 c a. 11 c und a. 11 ad 5). Dennoch entstehen die anderen Tugenden nicht durch Übernahme des Urbildes, sondern durch ein der Liebe ähnliches Handeln (a. 3 ad 6). In ihm zeigt sich die Wirksamkeit des Urbildes Liebe in ihrem Abbild (a. 3 ad 8). Die erhabene Position der Liebe als Form der anderen Tugenden fordert die Frage heraus, ob diese Form einen adäquaten Grund der Einheit aufzuweisen hat (q. 2 a. 4). Thomas entwickelt seinen Gedanken vom Gegenstand aus, der ein Vermögen oder einen Habitus bestimmt. Formal bestimmt der Gegenstand ein Vermögen oder Habitus an sich (z. B. das Sehvermögen) und vermag sie als solche zu

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verändern; material aber bestimmt der Gegenstand sie akzidentell (wahrgenommene Dinge) und vermag sie als solche nicht zu verändern. Diese Unterscheidung sieht Thomas bei der Liebe verwirklicht, sofern die Liebe formal durch die Liebe zum Guten um seiner selbst willen bestimmt ist und im Bezug darauf (material) vieles geliebt werden kann. So liebt die Liebe Gott (formal) um seiner selbst willen und alle anderen (material), sofern sie auf Gott hingeordnet sind und auf Grund des formalen Grundes Gott in allen Nächsten. So richtet sich die Liebe auf das göttliche Gute als jenen Hauptgegenstand, an dem jeder teilhat, sofern er glückselig werden kann. Wir erblicken also durch die Liebe zum Teil eines Ganzen, d. h. des allgemeinen Guten im Einzelnen, das Ganze, d. h. das allgemeine Gute, auf das die Liebe an sich hingeordnet ist (a. 4 ad 2). Die Einheit der Liebe ist darum in der Hinordnung auf das allgemeine Gute (Gott) hingeordnet, wodurch sie unteilbar ist und Form aller Tugenden sein kann. Die Frage, ob die Liebe eine besondere Tugend ist (q. 2 a. 5) richtet sich auf die Kooperation der Liebe mit Unvollkommenheiten, z. B. im sinnenhaften Strebevermögen. Dadurch ist die Existenz der Kardinaltugenden begründet, die nicht nur durch Liebe auf das letzte Ziel, sondern auch auf die Mittel, die dorthin führen, gerichtet sind. Die Liebe bringt aber nicht den Akt der Tugenden hervor, sondern befiehlt ihn durch den Willen (a. 5 ad 3 und 6). Sofern die Liebe in Auseinandersetzung mit den Unvollkommenheiten in der Gestalt der Kardinaltugenden steht, ist es konsequent, die Frage nach ihrer Existenzmöglichkeit angesichts der Todsünde zu diskutieren (q. 1 a. 6). Die Sünde folgt dem Prinzip, ein Gut mehr als Gott zu lieben. In diesem Vorzug wird die fortdauernde Erhaltung der eingegossenen Liebe verhindert; im Gegensatz dazu wird die erworbene sittliche Tugend durch eine Todsünde nicht ganz aufgehoben (a. 6 ad 3) und so ist auch nur der direkte Blick auf Gott behindert. Thomas sieht einen wesentlichen Grund dafür darin, daß zwar entgegengesetzte Begriffe in der Vernunft nicht entgegengesetzt sind – Weißes und Schwarzes anschauen kann beides Grund zur Freude sein –, aber die Bewegungen des Willens zu den Dingen gegensätzlich sind und sich gegenseitig ausschließen. So ist es bei der Liebe zu Gott und ihrer Entgegensetzung, der Sünde (a. 6 ad 8),

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die nicht nur den besonderen Gegenstand, sondern den allgemeinen Gegenstand behindert (a. 6 ad 9) und die Abwendung vom letzten Ziel als dem allgemeinsten Prinzip der Ethik die Liebe genauso verhindert wie die Unwissenheit über die allgemeinen Prinzipien die Wissenschaft (a. 6 ad 13). Mit dem siebten Artikel wendet sich Thomas von den ontologisch-ethischen Grundbestimmungen der Liebe nun der Fragengruppe nach der Struktur des Gegenstandes der Liebe zu. Er fragt nach seiner Rationalität (q. 2 a. 7), nach seinem Umfang am Beispiel der Feindesliebe (q. 2 a. 8) und nach der Ordnung der Gegenstände der Liebe (q. 2 a. 9). Zur Begründung der Vernünftigkeit des Gegenstandes der Liebe (q. 2 a. 7) führt Thomas das Prinzip an, daß eine Beziehung zwischen einem Ding und seinem formalen Grund bestehen muß. Diese Beziehung besteht beim Menschen in der ewigen Glückseligkeit, zu der er fähig ist kraft seiner kreatürlichen Beziehung als vernunftbegabtes Geschöpf. Darum kann auch der Gegenstand der Liebe nur die vernünftige Natur sein, für die die Liebe das Gute will. So lieben wir Gott, der die Glückseligkeit dem Wesen nach hat, den Menschen, der sie der Teilhabe nach haben kann, die Geschöpfe, die dazu beitragen und den Leib, auf den die Glückseligkeit von der Seele her überfließt. Die Liebe richtet sich auf diese Weise auf denjenigen, dem wir das Gute wollen. Sofern die Glückseligkeit jene Beziehung auf den formalen Grund ist, ist auch klar, daß die Liebe sich auch auf die Güter richtet, die den Menschen zur ewigen Glückseligkeit führen können, d. h. auf alle Geschöpfe. Die Beziehung, die die ewige Glückseligkeit ist, thematisiert Thomas auch von seiten der Selbstliebe, die nur in der Gottesliebe im höchsten Maße vollzogen werden kann (a. 7 ad 10). In dieser Weise ist die Selbstliebe Grundlage der Freundschaft (a. 7 ad 11), da man sich dann selbst nicht mehr liebt als einem zusteht (a. 7 ad 13). Thomas sieht damit die Selbstliebe im Dienst jener Liebe, die die Glückseligkeit für den anderen will im Sinne der liebe zu ihm selbst und zu den Gütern, die ihm dazu verhelfen. Ist die Glückseligkeit Kriterium der Vernünftigkeit des Gegenstandes der Liebe und hat sie ihr Urbild in Gott, so ist die Feindesliebe Kriterium für den Umfang dessen, was geliebt werden soll (q. 2 ad 8). Thomas’ zentrales Argument besagt, daß alles, was zu Gott

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gehört, zu lieben ist. Für die Feinde setzt er also beim Geschaffensein an. Feindeshaß ist folglich gegen die Freundschaft mit Gott gerichtet. Im Feind soll man nur hassen, daß er haßt (a. 8 ad 6), denn sein Feindsein ist der Natur hinzugefügt (a. 8 ad 7). Damit ist verbunden, daß der Feind sowohl im allgemeinen als auch bei schicksalhafter Notlage im besonderen durch konkrete Hilfe zu lieben ist. Die Vollkommenheit der Liebe überwindet die damit verbundene Schwierigkeit und ist dadurch verdienstvoll. Im Angehen gegen diesen Widerstand ist die Liebe akzidentell stark (a. 2 ad 17). Die Ordnung der Gegenstände der Liebe (q. 2 a. 9) geht von der Gottesliebe aus. Gott ist das Ziel der Liebe, insbesondere der eingegossenen. Abgestuft bedarf es dazu der göttlichen und der eigenen Hilfe und der des Nächsten, so daß auch in gleicher Abstufung die Liebe sich auf das jeweilige Ziel hinordnet. Andere Arten der Liebe als die Gottes- und Nächstenliebe unterstehen der letzteren und werden von ihr befohlen. Anthropologisch ist die Vernunft die ordnende und der Wille das geordnete; dadurch erhält die Liebe ihre typisch menschliche Ordnung (a. 9 ad 2). Dieses Prinzip gilt sowohl für die Liebe in der ewigen Heimat, in der diese Ordnung durch das selbst Ziel aufrecht erhalten bleibt, während wir uns auf dem Pilgerweg uns eigens darauf ausrichten müssen, so daß eine Ordnung von Prioritäten entsteht; z. B. soll ein Prälat als Lehrer der Kirche primär um Gottes und der Kirche willen handeln (a. 9 ad 14), oder hinsichtlich der Verantwortlichkeiten einer Person sollen die Eltern in der Liebe den Vorrang haben (a. 9 ad 15). Die beiden folgenden Artikel (q. 2 a. 10 und 11) richten sich auf die Vollkommenheit der Liebe in diesem Leben. Leitprinzip ist, daß der Gegenstand Grund der Vollkommenheit einer Tugend ist. Die Liebe ist einfachhin vollkommen, sofern sie das höchste Gute, das unendlich liebenswert ist, zum Gegenstand hat. Nur die Liebe Gottes zu sich selbst erfüllt dieses Maß. Im Unterschied dazu kann sich die menschliche Natur nur dem höchsten Guten zuwenden, aber auf diese Weise ist sie ein vollkommenes Sein. In der Gestalt dieses Lebens vermag sie das nicht (entgegengesetzte Neigungen des Geistes, Beanspruchtsein durch weltliche Dinge, Schwachheit), obgleich es prinzipiell für den Menschen möglich ist, ohne Sünde zu leben. Die vollkommene Liebe im Pilgerstand zu leben, ist nur der Zeit nach

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möglich; dies zeigt sich in einem kindähnlichen Wachstum (a. 10 ad 3 zu sc. 3). So entspricht es dem Wesen der Liebe, d. h. Gott über alles zu lieben, daß sie die Kraft hat, der Versuchung widerstehen zu können (a. 10 ad 4). Dies gilt, sofern wir Herr über das in uns sind, was wir tun; die Versuchung ist aber echt, sofern wir im Pilgerstand nicht in einem Akt vollkommen ausharren können (a. 10 ad 6). Die vollkommene Zuwendung zu Gott kraft der Natur ist im Gebot, Gott aus ganzem Herzen zu lieben, als Ziel schon angesprochen (a. 1 ad 1), aber erst in der ewigen Heimat können sich die menschlichen Vermögen ganz im Dienst der Liebe entfalten. Dies ist nur möglich, weil Gott selbst als Gegenstand einfach ist (a. 10 ad 5). Hinsichtlich der Frage, inwieweit der Mensch zu der ihm möglichen Vollkommenheit der Liebe verpflichtet ist (q. 2 a. 11), geht Thomas von den Möglichkeiten aus, Behinderungen in der Liebe zu beseitigen, da sie das ewige Heil gefährden. An erster Stelle steht die Beseitigung falscher Neigungen, an zweiter die Meidung weltlicher Vereinnahmung. Auf dieser Grundlage kann die Liebe auch durch nachgeordnete Wirk- oder Zielursachen auf Gott bezogen bleiben, auch wenn die direkte Aufmerksamkeit nicht immer auf Gott gerichtet ist (a. 11 ad 2). Eine Verpflichtung zur Liebe besteht insofern, als die Liebe die Wurzel aller Tugenden ist. Durch sie wird erst sichtbar, inwieweit nachgeordnete Tugenden, wie sie in den evangelischen Räten angesprochen sind, äußerlich bleiben (a. 11 ad 5). Ähnlich verhält es sich beim Verhältnis der Freundesliebe nur um des Angenehmen willen (a. 11 ad 6). Die Verpflichtung zur Liebe gipfelt letztlich in der Verantwortung für das ewige Heil des anderen, die bis zur Hingabe des Lebens reicht (a. 11 ad 9). Gewissermaßen als Urbild aller Verpflichtung weist Thomas auf Gott und die Eltern hin (a. 11 ad 11). Die Art und Weise der Verpflichtung zur Liebe ist aber von der jeweiligen Aufgabe abhängig; dies illustriert Thomas am Beispiel der apostolischen Armut, die nicht jedem aufgetragen ist (a. 11 ad 7). Die Vollkommenheit der Liebe läßt sich auch an der Verlierbarkeit der Liebe erkennen (q. 2 a. 12 und 13). Thomas nähert sich dieser Frage zunächst durch eine Betrachtung des Wirkens des heiligen Geistes in der Seele. Die durch ihn eingegossene Liebe verleiht eine beharrliche Bewegung der göttlichen Liebe, die als solche durch die

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Sünde nicht gestört werden kann, denn die Macht der Liebe ist mit der Sünde unvereinbar, weil sie sich selbst nicht widersprechen kann. Die Verlierbarkeit kommt erst durch die Unterordnung der Liebe unter den Willen ins Spiel, weil die Liebe im Pilgerstand nicht ganz das Vermögen erfüllt. Ebenso gründet die Verlierbarkeit in einer sündhaften Gegensätzlichkeit zwischen dem sinnenhaften Begehren und dem Urteil der Vernunft, die letztlich Selbsthaß bedeutet (a. 12 ad 6). Ein solcher in Unordnung geratener Träger der Liebe steht auch im Widerspruch zur eigenen unzerstörbaren Substanz und zur Ursache der Liebe und wendet sich sogar vom unveränderbaren Guten ab, so daß durch die Sünde die Liebe aufhört (a. 12 ad 11). Die Liebe aber kann nur durch einen vernunftorientierten Vorsatz bewahrt werden (a. 12 ad 3), und wo sie vorherrscht, ist sie das beste Heilmittel gegen die Sünde (a. 12 ad 19). Verlierbarkeit und Unverlierbarkeit werden – genauso wie Zerstörbarkeit und Unzerstörbarkeit hinsichtlich der Substanz – vom selben ausgesagt, nämlich der Liebe, so daß sie der Zahl nach im Pilgerstand und in der ewigen Heimat dieselbe ist (a. 12 ad 20). Der 13. Artikel erweitert das im 12. Artikel Gesagte auf die Todsünde als Ursache des Verlustes der Liebe hin (q. 2 ad 13). Die Todsünde bewirkt ein geistliches Sterben durch Abwendung vom unveränderlichen Guten. Thomas unterscheidet aber zwischen einem direkten Verlust der Liebe durch die Verachtung Gottes und einem indirekten, in dem wegen Furcht oder wegen Begehrlichkeit nicht an Gott gedacht wird, wie es bei der Verleugnung durch Petrus vorlag. Hinsichtlich des Glaubens vollzieht sich durch die Todsünde ein Veränderung von der Bestimmung des Habitus durch einen formalen zu einem materialen Grund, d. h. von einer expliziten Zustimmung zum katholischen Glaubensgut zu einer Meinung. Die dritte Quaestio thematisiert in zwei Artikeln das Thema der brüderlichen Zurechtweisung. Sie ist gewissermaßen die Nagelprobe der Liebe. Zu Rechtfertigung ihrer zentralen Stellung, stellt Thomas zunächst die Frage, ob sie unter das Gebot fällt (q. 1 a. 1). Das Gebot der Nächstenliebe in der Gestalt der Sorge um die Unversehrtheit des anderen bildet die Grundlage der Auseinandersetzung. Thomas

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unterscheidet drei Stufen des für den Menschen Guten und ihrer Reaktion in der Nächstenliebe: äußere Dinge (Almosen), Hilfeleistung für den Leib, Hilfe für die Seele, d. h. für ein tugendhaftes Leben, das im Liebesgebot, besonders in der Sorge um die drohende Sünde des Bruders ihren Fokus hat. Das dafür notwendige Mittel der brüderlichen Zurechtweisung ordnet Thomas nicht unter die negativen Gebote ein, deren verbotene Handlungen nie getan werden dürfen, sondern unter die bejahenden Gebote, zu deren gebotenen Handlungen alle geschuldeten Umstände erfüllt sein müssen. Diese können nur situativ durch die erworbene oder eingegossene Klugheit erfaßt werden; dies ist ein sehr viel komplexerer Vorgang als etwa der vergleichsweise unmittelbar erkennbare Grund für das Almosengeben (a. 1 ad 9). Nur durch die Klugheit kann das Ziel des Zurechtweisens, die Besserung des Bruders, erreicht werden (a. 1 ad 1). Dazu zählt bisweilen auch die Unterlassung guter Werke zur Vermeidung größerer Übel (a. 1 ad 4). Innerhalb dieser Zielgebung unterscheidet Thomas einerseits den Grad der Zurechtweisung, der von der schlichten Ermahnung bis zur Strafe reicht, die nur den Vorgesetzten vorbehalten bleibt (a. 2 ad 2, 6 und 17). Andererseits grenzt er die brüderliche Zurechtweisung sowohl von der Orientierung eines Richters am allgemeinen Guten, die zur Strafe führt, ab, als auch von eine unangemessenen Verpflichtung, etwa der Sorge für schicksalhaft Nahestehende (a. 1 ad 7 und 8). Thomas richtet den Blick differenziert auf die Gründe der Unterlassung einer Zurechtweisung; diese ist möglich aus Liebe, sofern die Umstände noch nicht gegeben sind, aber auch aus Feigheit vor der Öffentlichkeit, die möglicherweise eine Korrektur im Nachhinein noch offen hält (a. 1 ad 10). Ebenso differenziert sieht er die Frage der Selbstverurteilung in der Korrektur des anderen: die Auslegung des eigenen Anteils kann zu den eigenen Gunsten oder Ungunsten ausfallen. Davon hängt ab, ob die Zurechtweisung noch eine Tugend ist oder nicht (a. 1 ad 16); dazu gehört auch die Zurechtweisung der Oberen, die ehrfurchtsvoll geschehen soll (a. 1 ad 18). Thomas schließt die Frage nach der Ordnung der brüderlichen Zurechtweisung an (q. 3 a. 2). Er begründet sie durch das Ziel, nämlich die Besserung des Bruders, das die Festlegung einer gemeinsamen Handlungsregel ermöglicht. Thomas sieht zwei Gefahrenquellen,

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die in ein solchen Regel beachtet sein müssen: an erster Stelle gilt es, mit Hilfe kluger Voraussicht im Gewissen jegliche Rufschädigung zu verhindern; erst in der Folge wird letztere im Notfall in Kauf genommen. In diesem zweiten Schritt differenziert er die Regel erneut von der Gefahr der Sünde her: Der Ruf soll um des Zurechtzuweisenden willen geschützt werden und darf nicht ohne Notwendigkeit verletzt werden; ist er nämlich einmal verletzt, kann dieser Verlust ihn erst recht zur Sünde verleiten. Darum muß die Wahrscheinlichkeit seiner Besserung vor einer Zurechtweisung abgeschätzt werden (a. 2 ad 2). Ebenso soll der Ruf um der anderen willen geschützt werden. Zum einen führt der Ärger anderer zur Verachtung des Zurechtzuweisenden und anderer; zum anderen würde die öffentliche Schädigung des Rufes andere zum Sündigen anregen. Darum ist vor der öffentlichen Anzeige der Zwischenschritt des Gespräches unter vier Augen notwendig. Das Prinzip, daß das allgemeine Gute dem privaten Guten vorzuziehen ist, greift, wenn eine Gefahr für viele besteht (a. 2 ad 7) und daher nicht gezögert werden darf (a. 2 ad 10). Thomas zieht auch eine unmittelbar von Gott kommende Zurechtweisung in Erwägung; er deutet an, daß sie sich z. B. im Traum kundtun kann. (a. 2 ad 3). Die vierte, vier Artikel umfassende Quaestio befaßt sich mit der theologischen Tugend der Hoffnung und stellt die Fragen nach der Gattungszugehörigkeit (q. 4 a. 1), dem Träger (q. 4 a. 2), dem Verhältnis zur Liebe (q. 4 a. 3) und nach ihrem möglichen Gebrauch im ewigen Leben (q. 4 a. 4). Thomas entwickelt bei der Frage, ob die Hoffnung eine Tugend ist (q. 4 a. 1), ihren Begriff aus der Gleichartigkeit mit der Leidenschaft der Sehnsucht bzw. Begierde, sofern sie sich auf etwas Gesolltes richten. Es unterscheidet sie aber, daß nur die Hoffnung den Aspekt von Möglichkeit und Unmöglichkeit des Erlangens von etwas Gutem erwägt und darin eine gewisse Sicherheit gewinnt, die letztlich im Gegenstand der theologischen Tugend begründet ist, nämlich Gott, während die Leidenschaft auch das Übel zum Gegenstand hat (a. 1, ad 6). Der Gegenstand der Hoffnung ist also das zukünftige, schwer erreichbare, mögliche Gute, das im ewigen Leben besteht. Thomas unterscheidet zwischen dem materialen Gegenstand, der im

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Hoffenden unvollkommen ist, weil man ihn noch nicht besitzt, und dem formalen Gegenstand, der göttlichen Hilfe, die für den Hoffenden vollkommen ist. (a. 1 ad 4). Die Hoffnung vollzieht in dieser dichotomischen Struktur eine Erwartung der Glückseligkeit: material wegen der eigenen Verdienste, formal wegen der Verdienste der Gnade (a. 1 ad 2). So ist sie auch Grund zur Freude sowohl von seiten des Gegenstandes, denn sie setzt das noch nicht Erlangte gegenwärtig, als auch von seiten des tugendhaften Aktes selbst, der qua definitionem freudig ist (a. 1 ad 13). Für diese Art tugendhafter Tätigkeit ist es klar, daß der Träger der Hoffnung als Leidenschaft, d. h. das sinnhafte Strebevermögen, dafür nicht geeignet ist, weil es das Körperliche nicht überschreitet. Darum kann der Träger nur der Wille sein (q. 4 a. 2). Thomas begründet dies mit der Beziehung der Gewißheit der Hoffnung zur Gewißheit des Glaubens, sofern sich darin die Abhängigkeit des vernünftigen Strebevermögens von der Vernunft zeigt (a. 2 ad 4). Im Anschluß daran fragt Thomas nach dem Status der Hoffnung im Vergleich zur Liebe (q. 4 a. 3) und begründet das Frühersein der Hoffnung, sofern sie früher in der Zeit entsteht als die Liebe. Dem Prinzip nach bzw. der Vollkommenheit nach aber ist die Liebe früher als die Hoffnung. Thomas leitet diesen Zusammenhang vom Dreischritt Form – Bewegung – Ruhe ab, indem er ihn zu den Grundleidenschaften Liebe – Sehnsucht bzw. Hoffnung – Freude analogisiert. Dadurch wird klar, daß der Affekt der Seele aus der Liebe kommt. Diese Liebe aber ist unvollkommen, weil sie nicht das Gute um seinetwillen erstrebt; vollkommen ist dagegen die selbstlose Liebe entweder in der Freundschaftsliebe oder in der Gottes- und Nächstenliebe. In der Folge sind das Meiden des Übels in der Furcht und das Ersehnen des Guten in der Hoffnung nachgeordnet. Es handelt sich unter dieser Bedingung um eine bestimmte Hoffnung, die aus Liebe hofft (a. 3 ad 2) und darum auch das Verdienen und der Vorsatz, die dem Prinzip der Liebe folgen, ihr vorausgehen (a. 3 ad 2). Das Frühersein der Hoffnung ist hingegen nur der Entstehung in der Zeit nach möglich. Unter dieser Hinsicht geht die Furcht der Gottes- und Nächstenliebe und die noch unbestimmte Hoffnung einem vollkommen durch die Liebe bestimmten Willen voraus (a. 3 ad 7). Die unbestimmte Hoffnung, die der Entstehung nach sichtbar wird, ist aber

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letztlich der das Prinzip gebenden Liebe nachgeordnet, da die Vollkommenheit der Unvollkommenheit vorangeht. In einem vierten Artikel (q. 4 a. 4) wird die kontingente Gestalt der Hoffnung besonders sichtbar, da sie aufhören wird, wenn es ihren Gegenstand, d. h. das ewige Gute unter der Hinsicht der Zukünftigkeit, des nur Möglichseins und der schweren Erreichbarkeit, nicht mehr geben wird. Die göttliche Hilfe als formaler Gegenstand der Hoffnung, das erhoffte Genießen Gottes als erhoffter Gegenstand und die Hoffnung auf die Glückseligkeit für sich und für andere wird nicht mehr sein, weil die Hoffnung nicht wie die Liebe als erste Bewegende in der Glückseligkeit im Ziel ruht (a. 4 ad 7). Der formale Gegenstand der Hilfe Gottes bleibt bei den Seligen nur in einer allgemeinen, nicht aber in einer besonderen Bedeutung, d. h. daß es Hoffen bei den Seligen nur im Sinne der Fürsprache, nicht im Sinne der theologischen Tugend gibt (a. 4 ad 6). Sofern nur die Liebe bleibt, vollzieht sie statt Glauben Schau und statt Hoffnung volles Erfassen des Ersehnten (a. 4 ad 14). Die fünfte Quaestio, die aus vier Artikeln besteht, bildet die dritte Stufe der von der Liebe abhängigen Tugenden; ihr Gegenstand ist nicht mehr wie bei der Hoffnung an erster Stelle Gott, sondern das kontingente Leben. Darum fragt Thomas zunächst nach der Berechtigung, von Kardinaltugenden sprechen zu können (q. 5 a. 1), dann nach ihrer Verbundenheit untereinander (q. 5 a. 2), nach der Möglichkeit ihrer individuell unterschiedlichen Ausprägung (q. 5 a. 3) und schließlich nach ihrem Fortbestand in der ewigen Heimat (q. 5 a. 4). Ausgangspunkt des ersten Artikels ist die metaphorische Deutung von ›kardinal‹ als die Türangel (cardo), die die Kardinaltugend als Dreh- und Angelpunkt der sittlichen Bewältigung des menschlichen Lebens kennzeichnet. Der nur dem Menschen vorbehaltenen praktischen Vernunft inhäriert die nächste Regel und die Prinzipien des sittlichen Lebens, die in Gott ihre erste Regel haben (a. 1 ad 10). Durch sie ist begründet, daß sich vier Hauptarten von Tugenden als artbestimmende Form innerhalb der sittlichen Materie ausprägen (vgl. a. 1 ad 9). Dies vollzieht sich durch den guten Akt, der sich auf eine geschuldete Materie bezieht, die ein Subjekt in Bezug auf ein

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geschuldetes Ziel betrifft. Sofern dies von der praktischen Vernunft gelenkt wird, muß der Handelnde wissend einer leitenden Erkenntnis folgen, im Blick auf die Richtigkeit der Handlung wählen und am Ziel festhalten. Thomas präzisiert mit Aristoteles in Absetzung zur theoretischen Erkenntnis, daß die praktische Vernunft nicht nur den Sachverhalt aufsucht und dann ein Urteil fällt, sondern daß diese beiden Akte auf die Unterscheidung von Gut und Böse hingeordnet sind. Diese Aufgabe fällt der Klugheit zu, die unter den Kardinaltugenden ebenso die führendere ist wie die Vernunft selbst für den ganzen Menschen (a. 1 ad 11). Ihr sind die Gerechtigkeit (Willen), Maßhalten (begehrendes Strebevermögen) und Tapferkeit (zornmütiges Strebevermögen) untergeordnet. Diesen vier Tugenden sind gewisse Unterarten zugeordnet (a. 1 ad 5, 12 und 15); in diesem Zusammenhang steht auch der gegenseitige Einfluß der Kardinaltugenden aufeinander (a. 1 ad 1). Mit der Klugheit als Leittugend der sittlichen Tugenden ist ein Prinzip der Verbundenheit der Tugenden untereinander angesprochen, das Thomas auf seine prinzipielle Bedeutung hin untersucht (q. 5 a. 2). Er unterscheidet unvollkommene von vollkommenen (sittlichen) Tugenden einerseits durch ihre Art der Verbundenheit untereinander, die die Klugheit herstellt, und andererseits durch ihren eindeutig guten Gebrauch, der bei angeborenen tugendhaften Neigungen (z. B. Mitleid) nicht gewährleistet ist. Nur bedingt vollkommen ist auch die zwar kluge, aber nicht in der Gottesliebe verankerte Tugend, obgleich in diesem Fall die Klugheit und die anderen sittlichen Tugenden sich gegenseitig brauchen und ihre Differenzierung durch die verschiedenen Ziele zustande kommt, die im praktischen Urteil die sittliche Handlung bestimmen; negativ betrachtet heißt das, daß aus dem Mangel des einen der Mangel des anderen folgt (a. 2 ad 4). Vollkommenheit der Tugend ist erst durch die Gottesund Nächstenliebe (caritas) gewährleistet, durch die der Akt einfachhin gut ist und bis zum letzten Ziel reicht. Die Liebe zeigt sich als eingegossene Tugend in den verschiedenen Akten bzw. Habitus, zu denen sie hinneigt und sie verursacht. Mit ihr wird einerseits der Habitus aller Tugenden eingegossenen und andererseits braucht sie die anderen Tugenden. In ihr sind die Tugenden vollkommen untereinander verbunden. Durch die Unterscheidung von eingegosse-

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ner und erworbener Tugend (a. 2 ad 2 und ad 3) vermag er weitere Differenzierungen hinsichtlich der Verbundenheit vorzunehmen: Weisheit und Wissenschaft sind als erworbene verstandesmäßige Tugenden nicht verbunden (a. 2 ad 6), weil ihre Gegenstände verschiedenen Gattungen angehören und darum die Prinzipien nicht austauschbar sind (a. 2 ad 6 und 11). Als Gaben des heiligen Geistes sind sie aber durch die Liebe untereinander verbunden; und als einzeln geschenkte Gaben können sie getrennt sein (a. 2 ad 6). Ähnlich sind Freigebigkeit und Großzügigkeit als eingegossene Tugenden unverbunden, aber als erworbene Tugenden steht die Freigebigkeit in nächster Hinordnung zur Großzügigkeit (a. 2 ad 5 und 9). So zeigt sich, wie unterschiedlich Klugheit bzw. Liebe das jeweilig nächste Prinzip sind, hinter dem explizit oder implizit Gott als allgemeines Prinzip steht (a. 2 ad 13). Im dritten Artikel geht Thomas auf die Frage ein, warum die Tugenden nicht bei allen Menschen gleich vorzufinden sind (q. 5 a. 3). Er entwickelt seinen Gedankengang vom Begriff der Quantität aus, bei der man von Gleichheit spricht. In dieser Eigenschaft verursacht sie den Begriff des Maßes einer Gattung, sofern damit das einfachste und vollkommenste einer Gattung, das das Maß von allem anderen ist, angesprochen ist. Tugend aber ist nicht quantitativ bestimmt; wenn dennoch quantitative Begriffe verwendet werden meint ›größer‹ ›besser‹. In dieser Hinsicht betrachtet Thomas die Quantität als Vollkommenheit, die ihr Sein im Träger oder in der Materie hat, aber vom Wesen des Trägers zu unterscheiden ist, das als artbestimmendes Prinzip unteilbar ist und nichts hinzugefügt werden kann, ohne die Art zu verändern, während die Formen ohne Selbststand veränderlich sind. Entgegengesetzt und doch analog dazu versteht Thomas die Formen, die ihre Art vom Ziel haben, wie die Bewegung. Solche Formen sind Qualitäten wie die Tugenden, die auf etwas hingeordnet sind; unter ihnen unterscheidet er Gleichheiten und Ungleichheiten verschiedener Art: Trotz der einen Wissenschaft, werden ihre Teile vom einzelnen unterschiedlich gut beherrscht; auf diese Weise sind sie ungleich, da es ein Bessersein gibt. Thomas sieht im Ungleichsein eine wesentliche Unterscheidung zwischen dem, was durch die unveränderbare Substanz an sich vorgegeben ist und die Individuen dieser Vorgabe unterschiedlich gerecht werden (ak-

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tiv), oder umgekehrt der gleiche Zustand in zwei Individuen Unterschiedliches für sie bedeutet (Gesundheit, Bewegung, Wissenschaft). Auf diese Weise können verschiedene Tugenden ungleich sein, obwohl sie auf das Beste hin ausgerichtet sind. Diese Ausrichtung aber ist gegliedert durch die hierarchische Struktur, die durch die theologische Tugend der Liebe bzw. die intellektuell-sittliche Tugend der Klugheit gelegt ist; diese Struktur begründet die Verbundenheit und die Ungleichheit der Tugenden ihrem Wesen nach. Entscheidend ist der Unterschied der von der Liebe verursachten Tugenden zur Wissenschaft; letztere muß nicht als Ganze beherrscht werden, während erstere besagt, daß ihre Ausübung gleichzeitig beinhaltet, in allem, was die jeweilige Tugend betrifft, gut zu sein. Ungleichheit besteht aber, sofern der Tugendhafte besser oder schlechter auf den Gegenstand der Tugend bezogen sein kann, d. h. – im Gegensatz zur Stoa – unterschiedlich an einer Tugend teilhat. So können in verschiedenen Menschen verschiedene Tugenden und die Tugend verschieden im Menschen sein (hinsichtlich der Annäherung an ein Maximum und hinsichtlich der Bedeutung der aktuellen Ausprägung einer Tugend für den einzelnen), obgleich sie hinsichtlich ihres Vollkommenseins gleich sind, sofern die Liebe das formale Prinzip ist. Abschließend fragt Thomas danach, ob die Kardinaltugenden in ihrer irdischen Gestalt Anfänge tugendhafter Tätigkeit sind, deren Akt in der ewigen Heimat zwar verschieden sein kann, aber deren Ziel gleich bleiben wird (q. 5 a. 4). Die Gerechtigkeit wird Gott als Herrscher ungemindert anerkennen, mit Plotin wird sie Ausdruck eines immerwährenden Vertrags sein (a. 4 ad 7). In Absetzung zur Täuschbarkeit des Menschen in statu viae, wird die Klugheit dann kein Gut mehr Gott vorziehen und Gott allein schauen (ebd.), und in der Tugend des Maßhaltes wird nichts mehr zum eigenen Schaden genossen, d. h. man wird die Begehrlichkeit vergessen (ebd.), und die Tapferkeit wird nur in Gott Festigkeit haben. Thomas geht sogar so weit, daß er Gott als Inhaber der höchstmöglichen Natur von seinem Vermögen her als tugendhaft versteht. In diesem Sinne deutet er seine Unbeweglichkeit (Tapferkeit), seine Hinwendung zu sich selbst (Maßhalten), seine Geistigkeit (Klugheit) und seine Eigenschaft als ewiges Gesetz (Gerechtigkeit). Als Unterscheidungskriterium zu den menschlichen Tugenden führt Thomas das In-einer-Reihe-Ste-

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hen einer Bewegung an. Da die genannten Tugenden Gottes nicht in einer Reihe der Bewegung zu den menschlichen Tugenden stehen, sind sie der Art nach verschieden. Die Reihe der Bewegung der menschlichen Tugend ist aber artgemäß in einen Dreischritt gegliedert (Tapferkeit vor dem Kampf, im Kampf und im Sieg; Lieben, Ersehnen bzw. Erfreuen), d. h., daß die Akte trotz Artgleichheit verschieden sind. So beziehen sich die Anfänge der eingegossenen Kardinaltugenden im Pilgerstand schon auf ihre äußerste Ausprägung in der ewigen Heimat (a. 4 ad 5). Das Genießen Gottes ist in der ewigen Heimat das Ziel aller Kardinaltugenden und ihrer Akte (a. 4 ad 4). Im Gegensatz dazu wird es Glaube und Hoffnung nicht mehr geben (a. 4 ad 10).

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

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Dionysiaca. Recueil donnant l’ensemble des traductions latines des ouvrages attribués au Denys de l’Aréopage et synopse marquant la valeur de citations presque innombrables allant seules depuis trop longtemps, remises enfin dans leur contexte au moyen d’une nomenclature rendue d’un usage très facile, Brügge 1937.

Friedberg

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Patrologiae cursus completus, Series Latina, Supplementum, Bd. 2, ed. J.-P. Migne, Paris 1960.

Moreschini M. Tullius Cicero, Die finibus bonorum et malorum, recensuit Claudio Moreschini, München 2005 (= Scripta quae mansuerunt omnia, Fasc. 43). Ebener

Publius Terentius Afer, Werke in einem Band, ed. Dietrich Ebener, Berlin 1988.

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Algazel’s Metaphysics, A Mediaeval Translation, ed. J. T. Muckle, Toronto 1933.

Nüßlein

M. Tullius Cicero, De inventione / Über die Auffindung des Stoffes, De optimo genere oratorum / Über die beste Gattung von Rednern, Lateinisch / deutsch, hg. und übers. von Theodor Nüßlein, Düsseldorf 1998.

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Hugo von Sankt Viktor, Didascalia de studio legendi / Studienbuch, übers. und eingel. von Thilo Offergeld, Freiburg 1997 (= Fontes christiani 27).

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Ambrosius Theodosius Macrobius, Commentarius in somnium Scipionis, ed. Jakob Willis, Leipzig 21970.

Winkler

Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke lateinisch / deutsch, ed. Gerhard B. Winkler, Innsbruck 1990 ff.

THOMAS VON AQUIN

Quaestiones Disputatae Regensburger Ausgabe herausgegeben von Rolf Schönberger

band 1–6 Über die Wahrheit (De veritate) band 7–9 Über Gottes Vermögen (De potentia Dei) band 10 Über die Tugenden (De virtutibus) band 11–12 Vom Übel (De malo) band 13 Über die Seele (De anima)