Die Arbeit untersucht den Stellenwert, der dem Verfassungsprinzip des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) im
297 38 65MB
German Pages 970 [972] Year 2002
Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Kapitel: Einleitung
ERSTER TEIL: Die Grundlagen
ERSTER ABSCHNITT: Die historischen Wurzeln
2. Kapitel: Die Justiz im Zeitalter des (aufgeklärten) Absolutismus
3. Kapitel: Die Entwicklung seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts
ZWEITER ABSCHNITT: Die ideelle Bedeutung des Prinzips des gesetzlichen Richters im heutigen Justizsystem
4. Kapitel: Die Auseinandersetzung zwischen „Pragmatikern“ und „Puristen“ als Symptom für eine schleichende Sinnkrise
5. Kapitel: Rechtsphilosophische und rechtsvergleichende Aspekte
6. Kapitel: Zusammenfassende Betrachtung zum idealtypischen Stellenwert des Prinzips des gesetzlichen Richters
ZWEITER TEIL: Der verfassungsrechtliche Gehalt des Art. 101 GG
7. Kapitel: Die verfassungssystematische Einordnung und der personale Schutzbereich des Art. 101 GG
8. Kapitel: Der sachliche Schutzbereich des Art. 101 I 2 GG
9. Kapitel: Die Beschränkung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle durch die sog. „Willkürformel“
DRITTER TEIL: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht – Probleme der Organisation des Gerichtsaufbaus
ERSTER ABSCHNITT: Die gerichtsinterne Geschäftsverteilung (§ 21 e GVG)
10. Kapitel: Allgemeine Überlegungen zur gerichtinternen Geschäftsverteilung
11. Kapitel: Die Besetzung der Spruchkörper (personelle Geschäftsverteilung)
12. Kapitel: Die Verteilung der Rechtsprechungsaufgaben (sachliche Geschäftsverteilung)
13. Kapitel: Die Regelung des Vertretungssystems
ZWEITER ABSCHNITT: Die Spruchkörperinterne Geschäftsverteilung (§ 21g GVG)
14. Kapitel: Der Anschauungswandel zur Bedeutung des § 21g II GVG
15. Kapitel: Justizpolitische Überlegungen zur Organisations- und Kommunikationsstruktur im Spruchkörper
16. Kapitel: Dogmatische Aspekte der Auslegung des § 21g II GVG
VIERTER TEIL: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht – Probleme der Organisation des Verfahrensablaufs im Strafprozeß
ERSTER ABSCHNITT: Die Ermittlung des erstinstanzlich zuständigen Gerichts
17. Kapitel: Grundlagen zur Problematik der „beweglichen“ Zuständigkeit im Strafprozeß
18. Kapitel: Allgemeines zur „beweglichen“ sachlichen Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Amtsgericht und Landgericht (§ 24 GVG)
19. Kapitel: Das Merkmal der „besonderen Bedeutung des Falles“ (§ 24 I Nr. 3 GVG)
20. Kapitel: Die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Strafrichter und Schöffengericht (§ 25 GVG)
21. Kapitel: Das Wahlrecht der Staatsanwaltschaft bezüglich der örtlichen Zuständigkeit (§§ 7 ff. StPO)
22. Kapitel: Weitere „Wahlmöglichkeiten“ der Staatsanwaltschaft bezüglich der Zuständigkeit des Eingangsgerichts
23. Kapitel: Sonstige Gefährdungen des gesetzlichen Richters im Zusammenhang mit dem erstinstanzlichen Hauptverfahren
ZWEITER ABSCHNITT: Die Tätigkeit der Revisionsgerichte
24. Kapitel: Die Aufgabenteilung zwischen Tat- und Revisionsgericht als Problem des Art. 101 I 2 GG
25. Kapitel: Das Ermessen der Revisionsgerichte im Zusammenhang mit der Zurückverweisung der Sache (§ 354 II, III StPO)
26. Kapitel: Rückblick und Ausblick
Literaturverzeichnis
Sachregister
Christoph Sowada Der gesetzliche Richter im Strafverfahren
Christoph Sowada
Der gesetzliche Richter im Strafverfahren
W DE
2002
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
@
Gedruckt auf säurefreiem Papier,
das die U S - A N S I - N o r m über Haltbarkeit erfüllt
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Sowada, Christoph: Der gesetzliche Richter im Strafverfahren / Christoph Sowada. Berlin ; N e w York : de Gruyter, 2 0 0 2 Zugl.: Berlin, Freie Univ., Habil.-Schr., 2 0 0 0 ISBN 3-11-017066-3
© Copyright 2 0 0 2 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D - 1 0 7 8 5 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Datenkonvertierung/Satz: Dörlemann Satz, Lemförde
Vorwort Die im Januar 2 0 0 0 abgeschlossene Arbeit wurde im Sommersemester 2 0 0 0 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin als Habilitationsschrift angenommen. Für die Drucklegung ist das Gesetz zur Stärkung der Unabhängigkeit der Richter und Gerichte vom 2 2 . 1 2 . 1 9 9 9 ( B G B l . I, S. 2 5 9 8 ) in den Text eingearbeitet worden. Im übrigen konnten neuere Rechtsprechung und Literatur nur noch teilweise (insbesondere in den Fußnoten) berücksichtigt werden; das gilt auch bezüglich der Kölner Dissertation von Thomas Roth, Das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter. Der Rückblick auf eine mehrere Jahre umfassende Arbeit gibt in mehrfacher Hinsicht Anlaß zu danken. Ganz besonders herzlicher Dank gebührt meinem verehrten akademischen Lehrer, Herrn Professor Dr. Klaus Geppert, der das Thema der vorliegenden Arbeit angeregt und ihre Entstehung maßgeblich gefördert hat. Vor allem verdanke ich ihm den Wunsch, den Beruf des Hochschullehrers zu ergreifen, und vielfältige Unterstützung auf dem Weg zu diesem Ziel. Herrn Professor Dr. Axel Montenbruck danke ich für die sehr zügige Erstattung seines Zweitgutachtens. Großen Dank schulde ich ferner der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die mir durch ein zweijähriges Habilitationsstipendium die Fertigstellung dieser Arbeit er möglicht und ihre Veröffentlichung durch einen großzügigen Druckkostenzuschuß wesentlich erleichtert hat. Schließlich möchte ich dem Verlag Walter de Gruyter, und hier namentlich Frau Dr. Dorothee Walther, für die Aufnahme des Buches in das Verlagsprogramm sowie für die kompetente und freundliche verlegerische Betreuung danken. Gewidmet ist dieses Buch meiner Lebensgefährtin Martina Zebisch, die mich in all den Jahren mit ihrer Heiterkeit und Zuversicht begleitet und unterstützt hat. Berlin/Rostock, im Januar 2 0 0 2
Christoph Sowada
Inhaltsübersicht Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis 1. Kapitel:
IX XXIII
Einleitung
1 ERSTER TEIL: Die Grundlagen ERSTER A B S C H N I T T : Die historischen Wurzeln
I.Kapitel: 3. Kapitel:
Die Justiz im Zeitalter des (aufgeklärten) Absolutismus Die Entwicklung seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts
33 55
ZWEITER ABSCHNITT: Die ideelle Bedeutung des Prinzips des gesetzlichen Richters im heutigen Justizsystem 4. Kapitel: 5. Kapitel: 6. Kapitel:
Die Auseinandersetzung zwischen „Pragmatikern" und „Puristen" als Symptom für eine schleichende Sinnkrise Rechtsphilosophische und rechtsvergleichende Aspekte Zusammenfassende Betrachtung zum idealtypischen Stellenwert des Prinzips des gesetzlichen Richters
82 105 130
ZWEITER TEIL: Der verfassungsrechtliche Gehalt des Art. 101 G G 7. Kapitel: 8. Kapitel: 9. Kapitel:
Die verfassungssystematische Einordnung und der personale Schutzbereich des Art. 101 GG Der sachliche Schutzbereich des Art. 101 I 2 GG Die Beschränkung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle durch die sog. „Willkürformel"
136 168 202
DRITTER TEIL: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht Probleme der Organisation des Gerichtsaufbaus ERSTER A B S C H N I T T : Die gerichtsinterne Geschäftsverteilung (§ 21e GVG) 10. Kapitel: 11. Kapitel: 12. Kapitel: 13. Kapitel:
Allgemeine Überlegungen zur gerichtinternen Geschäftsverteilung Die Besetzung der Spruchkörper (personelle Geschäftsverteilung) Die Verteilung der Rechtsprechungsaufgaben (sachliche Geschäftsverteilung) Die Regelung des Vertretungssystems
241 260 311 334
VIII
Inhaltsübersicht
ZWEITER ABSCHNITT: Die spruchkörperinterne Geschäftsverteilung (§ 21g GVG) 14. Kapitel: 15. Kapitel: 16. Kapitel:
Der Anschauungswandel zur Bedeutung des § 21g II GVG Justizpolitische Überlegungen zur Organisations- und Kommunikationsstruktur im Spruchkörper Dogmatische Aspekte der Auslegung des § 21g II GVG
373 405 434
VIERTER TEIL: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht Probleme der Organisation des Verfahrensablaufs im Strafprozeß ERSTER A B S C H N I T T : Die Ermittlung des erstinstanzlich zuständigen Gerichts 17. Kapitel: 18. Kapitel: 19. Kapitel: 20. Kapitel: 21. Kapitel: 22. Kapitel: 23. Kapitel:
Grundlagen zur Problematik der „beweglichen" Zuständigkeit im Strafprozeß Allgemeines zur „beweglichen" sachlichen Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Amtsgericht und Landgericht (§ 24 GVG) Das Merkmal der „besonderen Bedeutung des Falles" (§ 24 I Nr. 3 GVG) Die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Strafrichter und Schöffengericht (§ 25 GVG) Das Wahlrecht der Staatsanwaltschaft bezüglich der örtlichen Zuständigkeit (§§ 7 ff. StPO) Weitere „Wahlmöglichkeiten" der Staatsanwaltschaft bezüglich der Zuständigkeit des Eingangsgerichts Sonstige Gefährdungen des gesetzlichen Richters im Zusammenhang mit dem erstinstanzlichen Hauptverfahren
466 499 527 592 631 649 707
ZWEITER ABSCHNITT: Die Tätigkeit der Revisionsgerichte 24. Kapitel: 25. Kapitel: 26. Kapitel:
Die Aufgabenteilung zwischen Tat- und Revisionsgericht als Problem des Art. 101 I 2 GG Das Ermessen der Revisionsgerichte im Zusammenhang mit der Zurückverweisung der Sache (§ 354 II, III StPO) Rückblick und Ausblick
Literaturverzeichnis Sachregister
740 760 807 843 931
Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis
XXIII
1. Kapitel: Einleitung I. Sinnkrise versus Anschauungswandel 1. Einfachgesetzliche Streitfragen als Krisensymptome 2. Verständnisprobleme bezüglich des Art. 101 I 2 G G a) Sprachliche Unbestimmtheit des „gesetzlichen" Richters b) Der Verlust des „historischen Feindbildes" c) Der Zielkonflikt zwischen Formenstrenge und Flexibilität d) Die „Materialisierung" des Grundsatzes des gesetzlichen Richters II. Methodische Probleme 1. Der verfassungsrechtliche Sinngehalt als eigenständiger Untersuchungsgegenstand 2. Die Wahl des richtigen Blickwinkels III. Gegenstand der Untersuchung 1. Die breite Anlage einer auf die Strafjustiz bezogenen Untersuchung als Ausgangspunkt 2. Thematische Begrenzungen a) Die Beschränkung auf die innerstaatliche Gerichtsbarkeit unter Ausklammerung der Personalgewinnung und der Laienbeteiligung b) Die weitgehende Ausblendung rechtsschutzspezifischer Besonderheiten IV. Die rollenspezifische Polarisierung als psychologisches Grundproblem . . V. Gang der weiteren Untersuchung
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15 17 20 23
ERSTER TEIL: Die Grundlagen ERSTER A B S C H N I T T : Die historischen Wurzeln 2. Kapitel: Die Justiz im Zeitalter des (aufgeklärten) Absolutismus I. Die Herausbildung der Kabinettsjustiz im absolutistischen Staat (unter besonderer Berücksichtigung Brandenburg-Preußens) 1. Die Theorie: Der absolutistische Herrscher als Träger uneingeschränkter Souveränität 2. Die Praxis: Der Kampf um die Zurückdrängung der Stände 3. Machtspruch und Bestätigungsrecht als Instrumente landesherrlicher Rechtsprechungsmacht
33 33 33 33 34
χ
Inhaltsverzeichnis
II.
3. Kapitel: Die I.
II. III.
4. Das Supplikenwesen als Anreiz zur Ausübung landesherrlicher Kabinettsjustiz Der Bedeutungswandel des Machtspruchs im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus 1. Der theoretische Machtspruchverzicht Friedrichs des Großen als Folge eines aufgeklärten Staats Verständnisses 2. Der Müller-AnioW-Prozeß als ,Justizkatastrophe" (?) a) Darstellung der historischen Ereignisse b) Die Beurteilung des königlichen Eingreifens in die Justiz 3. Die Entwicklung bis zum Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 a) Die Normierung des Machtspruchverbots in § 6 der Einleitung des Allgemeinen Gesetzbuchs von 1791 b) Die Begründung des Machtspruchverbots in Svarez' Kronprinzenvorträgen c) Die Streichung des Machtspruchverbots im Allgemeinen Landrecht von 1794 d) Ansätze für einen Grundsatz des gesetzlichen Richters 4. Zwischenbilanz: Preußische Justizpolitik an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert Entwicklung seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts Die Entwicklung in Deutschland bis zur Paulskirchenverfassung von 1848 1. Der süddeutsche Konstitutionalismus und die Lehre vom monarchischen Prinzip 2. Die Demagogenverfolgung als Ausdruck des Kampfes zwischen Restauration und Liberalismus 3. Bürgertum und Justiz 4. Absicherungen der sachlichen Unabhängigkeit des Richters Von der Frankfurter Reichsverfassung zum Grundgesetz Erträge der historischen Betrachtung 1. Der Grundsatz des gesetzlichen Richters als Verstärkung der richterlichen Unabhängigkeit 2. Das Prinzip des gesetzlichen Richters und der Gedanke der Gewaltenteilung 3. Der Grundsatz des gesetzlichen Richters als Ausprägung des Willkürverbots
37 39 39 41 41 43 47 47 48 49 50 51 55 55 55 56 58 60 67 71 71 74 77
ZWEITER ABSCHNITT: Die ideelle Bedeutung des Prinzips des gesetzlichen Richters im heutigen Justizsystem 4. Kapitel: Die Auseinandersetzung zwischen „Pragmatikern" und „Puristen" als Symptom für eine schleichende Sinnkrise I. Der Wandel der Justiz II. Die Alternative zwischen Vertrauen und Mißtrauen in die Justiz 1. Die Auswirkungen der emotionalen Grundhaltung auf die Reichweite des Grundsatzes vom gesetzlichen Richter 2. Konkrete Anhaltspunkte für manipulative Eingriffe
82 83 86 86 89
Inhaltsverzeichnis
XI
III.
5. Kapitel:
6. Kapitel:
Argumente für eine Perspektive des Mißtrauens 1. Mißtrauen als die dem Rechtsstaatsgedanken adäquate Grundhaltung 2. Die Maßgeblichkeit des Empfängerhorizonts IV. Argumente für die Position des Vertrauens in die Justiz 1. „Gleichwertigkeit" aller Richter? 2. Ausreichender Schutz durch Ablehnungsregeln? V. Gewachsene Anforderungen an die „Unabhängigkeit" der Richter Rechtsphilosophische und rechtsvergleichende Aspekte I. Der Eigenwert des Verfahrens 1. Der Funktionswandel des Verfahrensrechts 2. Die legitimierende Wirkung des Verfahrens 3. Verstärkungen der politischen Argumentation durch Aspekte der Verfahrensgerechtigkeit II. Die Stellung des Prinzips des gesetzlichen Richters im Konzept der Verfahrensgerechtigkeit 1. Absicherung der richterlichen Unabhängigkeit 2. Der Grundsatz des gesetzlichen Richters als Ausprägung formaler Gleichheit 3. Der Grundsatz des gesetzlichen Richters als bereichsspezifisches Bestimmtheitsgebot III. Die eingeschränkte Aussagekraft rechtsvergleichender Betrachtungen . . 1. England als „Rechtsstaat ohne gesetzlichen Richter" 2. Die Notwendigkeit der Berücksichtigung nationaler Besonderheiten bei der Interpretation des Rechtsstaatsprinzips Zusammenfassende Betrachtung zum idealtypischen Stellenwert des Prinzips des gesetzlichen Richters
91 91 93 95 95 98 99 105 105 105 108 112 114 114 117 120 124 125 127 130
ZWEITER TEIL: Der verfassungsrechtliche Gehalt des Art. 101 G G 7. Kapitel:
Die verfassungssystematische Einordnung und der personale Schutzbereich des Art. 101 GG I. Der systematische Aufbau des Art. 101 GG 1. Das Verhältnis zwischen dem Verbot der Ausnahmegerichte (Art. 101 I 1 G G ) und dem Prinzip des gesetzlichen Richters 2. Die Abgrenzung zwischen Ausnahmegerichten (Art. 101 I 1 G G ) und Sondergerichten (Art. 101 II G G ) a) Der Begriff des Ausnahmegerichts aa) Das Problem des Willkiirerfordernisses bb) Präzisierungen des formalen Ausgangspunktes cc) Verbleibende Unschärfen im Randbereich b) Der Begriff des Sondergerichts II. Die Garantieebenen des Art. 101 I 2 G G 1. Das Prinzip des gesetzlichen Richters als grundrechtsgleiches Recht . 2. Das Prinzip des gesetzlichen Richters als institutionelle Garantie . . . . a) Die Begriffsmerkmale der „institutionellen Garantie"
136 136 136 138 139 140 141 143 145 146 146 149 150
XII
Inhaltsverzeichnis
b) Das in Art. 101 I 2 GG enthaltene „Strukturprinzip" als Gegenstand einer institutionellen Garantie III. Der personale Schutzbereich des Art. 101 I 2 GG im Hinblick auf das Strafverfahren 1. Beschuldigte, Verletzte, Verteidiger, Zeugen, Sachverständige, Richter 2. Staatsanwaltschaft IV. Zur (Un-)Verzichtbarkeit des grundrechtsgleichen Schutzes 8. Kapitel: Der sachliche Schutzbereich des Art. 101 I 2 GG I. Der Prozeß der „Intensivierung" und „Extensivierung" des Prinzips des gesetzlichen Richters II. Die Erstreckung des Art. 101 I 2 G G auf die Dritte Gewalt als unproblematische Sinnerweiterung III. Die „Materialisierung" des Grundsatzes des gesetzlichen Richters 1. Die von der herrschenden Meinung befürwortete Sinnerweiterung des Art. 101 I 2 G G a) Der fortschreitende Ausbau des Art. 101 I 2 GG durch das BVerfG b) Dogmatische Verstärkungen dieser Position durch das Schrifttum 2. Dogmatische Bedenken gegen die „Materialisierung" des Art. 101 I 2 GG a) Der hinreichende Eigenwert eines formellen Verständnisses des Art. 101 I 2 GG b) Das systematische Verhältnis zwischen Art. 101 I 2 G G und Art. 97 GG c) Das Verhältnis zwischen Unparteilichkeit und Unabhängigkeit des Richters d) Das Verhältnis zwischen Abwehr- und Leistungsaspekt bei Art. 101 I 2 G G 3. Anderweitige Möglichkeiten einer verfassungsrechtlichen Verankerung der Unparteilichkeit des Richters a) Rechtsstaatsprinzip (fair trial) b) Art. 103 I GG und Art. 3 I GG 4. Dogmatische Konsequenzen einer rein formalen Interpretation des Art. 101 12 GG a) Das systematische Verhältnis der §§ 22 ff. StPO zur Garantie des gesetzlichen Richters b) Die Auslegung der Befangenheitsnormen 5. Der Streit um die sog. „Blindlingstheorie" 9. Kapitel: Die Beschränkung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle durch die sog. „Willkürformel" I. Die Gegenüberstellung von willkürlicher Richterentziehung und unbeachtlichem „error in procedendo" durch das BVerfG II. Zur materiell-rechtlichen Ableitbarkeit der Willkürformel aus Art. 101 I 2 GG 1. Erfolgs- oder verhaltensbezogene Interpretation des „Entziehens"? . . 2. Das Verhältnis von Irrtum und Willkür 3. Die Willkürformel als Irrtumsprivileg rechtsanwendender Richtertätigkeit
152 155 155 158 163 168 169 172 174 175 175 178 179 180 181 182 184 187 188 190 192 193 196 198 202 202 206 206 208 210
Inhaltsverzeichnis
III.
XIII
Der funktionell-rechtliche Ansatz zur Begründung der Willkürformel . . . 1. Die allgemeine Willkürformel als Maßstab verfassungsgerichtlicher Prüfung 2. Allgemeine Bedenken gegen das Willkürkriterium als Maßstab der Kompetenzabgrenzung 3. Spezielle Bedenken bezüglich einer Anwendbarkeit der Willkürformel im Rahmen des Art. 101 I 2 GG a) Die besonders enge Verflechtung mit dem einfachen Gesetzesrecht b) Intensivierung der Prüfung unter Beibehaltung der Willkürformel? .
213 213 216 223 224 225
DRITTER TEIL: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht Probleme der Organisation des Gerichtsaufbaus ERSTER ABSCHNITT: Die gerichtsinterne Geschäftsverteilung (§ 21e GVG) 10. Kapitel: Allgemeine Überlegungen zur gerichtsinternen Geschäftsverteilung I. Die Bedeutung der Geschäftsverteilung für die Garantie des gesetzlichen Richters 1. Die historische Entwicklung der Geschäftsverteilung als Bestandteil der gerichtlichen Selbstverwaltung 2. Funktionelle Zusammenhänge 3. Argumentative Parallelen 4. Thematische Begrenzungen II. Allgemeine Grundsätze der inhaltlichen Gestaltung des Geschäftsverteilungsplans 1. Der Grundsatz der Gestaltungsfreiheit als Ausgangspunkt 2. Der Umfang der Geschäftsverteilung a) Vollständigkeitsprinzip b) Gesetzliche Geschäftsverteilung 3. Weitere Grundsätze bei der Aufstellung des Geschäftsverteilungsplanes a) Festlegungen zur Geltungsdauer b) Abstraktionsprinzip und Bestimmtheitsgrundsatz 4. Einbruchstellen in das Sicherungssystem 11. Kapitel:Die Besetzung der Spruchkörper (personelle Geschäftsverteilung) I. Das Problem der Überbesetzung kollegialer Spruchkörper 1. Die grundsätzliche Zulässigkeit der Überbesetzung 2. Die Grenzen der Überbesetzung a) Die verfassungsrechtliche Bedeutung des § 21g II GVG b) Die „Unvermeidbarkeit" der Überbesetzung als überholtes Restriktionskriterium c) Die Beibehaltung absoluter Obergrenzen zulässiger Überbesetzung d) Die Einbeziehung von Teilkräften (insbesondere Hochschullehrern) 3. Die Überbesetzung in reduzierten Spruchkörpern a) Die reduzierte Richterbank als Sonderfall der Überbesetzung . . . .
241 241 241 243 245 247 249 249 251 251 252 255 255 256 256 260 260 260 263 263 266 267 269 271 271
XIV
Inhaltsverzeichnis
II.
12. KapttehOie I.
II.
13. Kapitel:O\e I.
b) Argumentationsansätze für eine erweiterte Überbesetzung aa) Das Abstellen auf den „Normalfall" bb) Die Parallele zu § 15a BVerfGG cc) Faktische Zwänge dd) Konsequenzen einer praxisorientierten Fundierung ee) Besonderheiten bezüglich der Uberbesetzung der großen Strafkammer und des erstinstanzlich tätigen Strafsenats beim Oberlandesgericht 4. Zusammenfassung Weitere Aspekte bei der Erstellung des Besetzungsplanes 1. Die Behandlung vakanter Stellen („N.N.") und das Problem haushaltsrechtlicher Wiederbesetzungssperren a) Die Berücksichtigung vakanter Stellen im Geschäftsverteilungsplan b) Zur Zulässigkeit von Vakanzen als Folge haushaltsrechtlicher Wiederbesetzungssperren aa) Die besondere Problematik haushaltsrechtlich bedingter Vakanzen bb) Die Bejahung der Zulässigkeit von Haushaltssperren durch den Bayerischen Verfassungsgerichtshof cc) Argumente der Gegenansicht dd) Stellungnahme 2. Das Verbot disziplinierender Geschäftsverteilung a) Ermessen und Macht des Präsidiums b) Der „Fall Orlet aa) Darstellung der Ereignisse bb) Zur Änderung des Geschäftsverteilungsplans infolge vehementer Urteilskritik cc) Zur Anderungsbefugnis bezüglich des nächsten Jahresgeschäftsverteilungsplanes Verteilung der Rechtsprechungsaufgaben (sachliche Geschäftsverteilung) Modelle der sachlichen Geschäftsverteilung 1. Das Rotationsprinzip a) Die gegensätzliche Beurteilung durch B G H und BAG b) Das Erfordernis zusätzlicher SicherungsVorkehrungen 2. Die Verteilung nach Buchstaben 3. Die Verteilung nach Sachgebieten Weitere Zuständigkeitsregelungen in Geschäftsverteilungsplänen 1. Zuständigkeitsperpetuierende Klauseln 2. Bindende Wirkung von Abgaben 3. Einstimmigkeitserfordernis und Zweckmäßigkeitsvorbehalt Regelung des Vertretungssystems Ringvertretung oder ad-hoc-Vertreterbestellung 1. Die Rechtslage zu § 67 GVG (a.F.) 2. Der gegenwärtige Meinungsstreit a) Die analoge Anwendung des § 22b II GVG b) Die Unzulässigkeit einer ad-hoc-Vertreterbestellung bei unzulänglicher Vertretungsregelung
272 273 275 276 277
279 282 283 284 284 286 286 288 289 291 295 295 299 299 301 308 311 311 313 313 318 320 322 326 326 330 331 334 334 334 335 336 337
Inhaltsverzeichnis
II.
III.
XV
c) Das Modell der Ringvertretung Hilfsspruchkörper 1. Der Hilfsspruchkörper als Vertretungsfall 2. Die Dauer des Bestehens von Hilfsspruchkörpern a) Die Restriktionsbemühungen der neueren Judikatur und die noch strengere Position von Frisch b) Stellungnahme c) Vermittelnde Lösungsansätze 3. Der Vorsitz in der Hilfsstrafkammer a) Dogmatische und praxisbezogene Argumente der herrschenden Meinung b) § 21 f II GVG als Argument mit zeitlich beschränkter Legitimationswirkung c) Der Widerstreit zwischen dogmatischen und praxisbezogenen Gesichtspunkten 4. Die Geschäftsverteilung zwischen Haupt- und Hilfsspruchkörper . . . 5. Abschließende Beurteilung Ergänzungsrichter 1. Zulässigkeit einer ad-hoc-Bestellung der Ergänzungsrichter (herrschende Meinung) 2. Argumente für eine Vorausbestimmung durch den Geschäftsverteilungsplan 3. Folgerungen aus dem Verbot der ad-hoc-Bestellung
338 342 342 344 344 345 350 351 352 353 355 359 362 363 363 364 367
ZWEITER ABSCHNITT: Die spruchkörperinterne Geschäftsverteilung (§ 21g GVG) 14. Kapitel. Der Anschauungswandel zur Bedeutung des § 21g II GVG I. Erste Phase: Die Einführung des § 8 II V w G O (a.F.) 1. Stellungnahmen der Präsidenten der obersten Gerichtshöfe des Bundes . 2. Kritische Würdigung II. Zweite Phase: Der „Aufstand der Praktiker" in der Mitte der 60er Jahre . III. Dritte Phase: Die „Palastrevolution" am B G H in den 90er Jahren 1. Die spruchkörperinterne Geschäftsverteilung als Gegenstand öffentlicher Diskussion a) Kontinuität der höchstrichterlichen Argumentation b) Kritische Stellungnahme 2. Der Beschluß der Vereinigten Großen Senate des BGH vom 5.5.1994 IV. Die Entscheidungen des BVerfG als „vierte Phase" V. Die Neugestaltung des § 21g GVG durch das Gesetz zur Stärkung der Unabhängigkeit der Richter und Gerichte vom 22.12.1999 15. Kapiie/.-Justizpolitische Überlegungen zur Organisations- und Kommunikationsstruktur im Spruchkörper I. Die Rolle des Vorsitzenden im Spruchkörper 1. Die Formel vom „richtunggebenden Einfluß des Vorsitzenden" 2. Die Gleichberechtigung der Mitglieder als Element des Kollegialprinzips
373 374 374 379 382 385 385 387 389 392 397 403 405 407 407 410
XVI
Inhaltsverzeichnis
a) Der Wert des Kollegialsystems für die Rechtsfindung b) Verfassungsrechtliche Bezüge des Kollegialprinzips 3. Die faktische Dominanz des Vorsitzenden als strukturelles Problem . 4. Allgemeine Konsequenzen für das normative Leitbild vom Vorsitzenden II. Die Stärkung der gerichts- und spruchkörperinternen Demokratie durch die Reform der Präsidialverfassung im Jahre 1999 1. Die spruchkörperinterne Geschäftsverteilung als Aufgabe des Berufsrichterkollegiums 2. Exkurs: Z u r Richteröffentlichkeit von Präsidiumssitzungen a) Die Gefahr von ad-hoc-Bestellungen durch das Präsidium b) Die Zulassung der Richteröffentlichkeit als Ermessensentscheidung des Präsidiums 16. Kapitel:Dogmatische Aspekte der Auslegung des § 21g II GVG I. Die an den Mitwirkungsplan zu stellenden Bestimmtheitsanforderungen 1. Der Geschäftsverteilungsplan als dogmatisches Vorbild 2. Die Bestimmbarkeit der Richterbank unter Verwendung auslegungsbedürftiger Begriffe 3. Einzelne Mitwirkungsmodelle und Anknüpfungsmerkmale 4. Änderungen des Mitwirkungsplans II. Die Bestellung des Berichterstatters 1. Die Bestellung des Berichterstatters als Mittel zur Bestimmung des konkreten Entscheidungsträgers 2. Z u r Frage eines „gesetzlichen Berichterstatters" auf dem Boden des § 21g GVG a.F. a) Die faktische Bedeutung des Berichterstatters b) Dogmatische Gesichtspunkte aa) Die Interpretation des § 21g GVG a.F. bb) Z u r verfassungskonformen Auslegung des § 21g GVG 3. Die Bedeutung der Neuregelung des ξ 21g GVG für die Frage der Bestellung des Berichterstatters
410 414 416 419 421 421 425 425 427 434 434 434 437 440 443 445 446 448 449 452 452 453 456
VIERTER TEIL: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht Probleme der Organisation des Verfahrensablaufs im Strafprozeß ERSTER ABSCHNITT: Die Ermittlung des erstinstanzlich zuständigen Gerichts 17. Kapitel: Grundlagen zur Problematik der „beweglichen" Zuständigkeit im Strafprozeß I. Überblick über die aktuelle Bedeutung des Problems 1. Die Arten der Zuständigkeit 2. Die Auffächerung der möglichen Eingangsspruchkörper 3. Die modellartige Gegenüberstellung von abstrakter und konkreter Zuständigkeitsbestimmung II. Die historische Entwicklung der Zuständigkeitsnormen
466 466 466 468 472 474
Inhaltsverzeichnis
1. Die Entwicklung von der Schaffung der Reichsjustizgesetze (1877) bis zum Jahr 1915 2. Die Entwicklung von 1915 bis 1932 a) Die Entwicklung bis zur Emminger-Verordnung vom 4. Januar 1924 b) Die Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4. Januar 1924 (Emminger-VO) c) Die Notverordnung über Maßnahmen auf dem Gebiete der Rechtspflege und Verwaltung vom 14. Juni 1932 3. Die Entwicklung von 1933 bis 1945 4. Die Entwicklung seit 1945 III. Ergebnisse der historischen Betrachtung 1. Das Vordringen der konkreten Methode und der Machtzuwachs der Staatsanwaltschaft 2. Die Entwicklung der örtlichen Zuständigkeit 3. Zuständigkeitsreformen als Reaktion auf staatliche Finanznot 18. Kapitel: Allgemeines zur „beweglichen" sachlichen Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Amtsgericht und Landgericht (§ 24 GVG) I. Die ursprüngliche Position des BGH und die Leitentscheidung des BVerfG vom 19.3.1959 II. Kritische Würdigung der allgemein für eine bewegliche Zuständigkeitsregelung angeführten Argumente 1. Die gesetzliche Verankerung der beweglichen Zuständigkeit 2. Die These von der gesetzgeberischen Bestätigung der beweglichen Zuständigkeit 3. Die Stellung der Staatsanwaltschaft und das Vertrauen in den Rechtsstaat 4. Kontrollbedarf und Kontrollmöglichkeit III. Die konkrete Straferwartung als Abgrenzungskriterium (§ 24 I Nr. 2 GVG) 1. Der Zusammenhang zwischen weiten Strafrahmen und konkreter Zuständigkeitsbestimmung 2. Die grundsätzliche Kritik an den weiten Strafrahmen 3. Die Verfassungsmäßigkeit des § 24 I Nr. 2 GVG 19. Kapitel:Das Merkmal der „besonderen Bedeutung des Falles" (§ 24 I Nr. 3 GVG) . . . I. Die „besondere Bedeutung" im Spannungsfeld zwischen Ermessen, unbestimmtem Rechtsbegriff und Beurteilungsspielraum 1. Die Pflicht zur umfassenden gerichtlichen Prüfung der „besonderen Bedeutung" des Falles 2. Anhaltspunkte für eine unzulängliche Umsetzung in der Rechtspraxis II. Das Problem der hinreichenden Bestimmtheit des Merkmals der „besonderen Bedeutung" 1. Die Auslegung des Merkmals der „besonderen Bedeutung" im allgemeinen 2. Die einzelnen zur Konkretisierung der „besonderen Bedeutung" herangezogenen Merkmale (mit Fallbeispielen)
XVII
474 477 477 481 484 487 491 494 494 495 495 499 500 502 503 505 509 512 516 516 519 523 527 527 527 531 538 539 544
XVIII
Inhaltsverzeichnis
a) Das Ausmaß der Rechtsverletzung und die Auswirkungen der Tat auf die Allgemeinheit aa) Die (positive) Generalprävention als Bezugspunkt bb) Die Kategorie des „(besonderen) öffentlichen Interesses" als prozessuale Ausprägung generalpräventiver Gesichtspunkte . cc) Bedenken gegen eine generalklauselartige Berücksichtigung generalpräventiver Aspekte im Zuständigkeitskontext b) Die herausgehobene Stellung des Täters oder Tatopfers in der Öffentlichkeit c) Der Umfang der Strafsache d) Gesteigertes Bedürfnis nach einer möglichst baldigen Grundsatzentscheidung des B G H e) Die Bejahung der „besonderen Bedeutung des Falles" als Maßnahme des Zeugenschutzes f) Der vom Beschuldigten hergestellte Offentlichkeitsbezug III. Die Verfassungswidrigkeit des § 2 4 I Nr. 3 GVG 20. Kapitel:-Die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Strafrichter und Schöffengericht (§ 25 G V G ) I. Der Streit um die Fortgeltung des ungeschriebenen Merkmals der „minderen Bedeutung des Falles" 1. Gründe für den Wegfall 2. Auseinandersetzung mit den für eine Fortgeltung der „minderen Bedeutung" vorgetragenen Argumenten 3. Konsequenzen bezüglich des Willkürmerkmals a) Der Meinungsstreit zwischen dem B G H und den Oberlandesgerichten b) Argumente des Schrifttums zur Verneinung einer willkürlichen Richterentziehung aa) Die mangelnde Beschwer (arg. § 269 StPO) bb) Die subsidiäre Zuständigkeit des Schöffengerichts (arg. § 28 G V G ) II. Die Willkürprüfung bezüglich des Merkmals der Straferwartung 1. Statistische Anhaltspunkte für die Handhabung der Strafprognose als Ausweichstrategie 2. Kasuistische Befunde 3. Nähere Bestimmung des Willkürmaßstabes a) Der gesicherte Bereich einer willkürlichen Zuständigkeitsanmaßung b) Der ungesicherte Bereich einer willkürlich fehlerhaften Strafprognose 4. Rechtspolitische Konsequenzen III. Zusammenfassung 21. Kapitel:T)as Wahlrecht der Staatsanwaltschaft bezüglich der örtlichen Zuständigkeit (§§ 7 ff. StPO) I. Das staatsanwaltschaftliche Wahlrecht zwischen mehreren Gerichtsständen im Lichte des Art. 101 I 2 G G II. Zur Forderung nach einer Vorrangregelung
544 547 551 552 557 562 566 574 582 585 592 592 593 594 602 603 606 606 608 612 612 618 621 621 622 627 630 631 632 636
XIX
Inhaltsverzeichnis
III.
IV.
1. Das Verhältnis zwischen den Gerichtsständen des Tatorts und des Wohnsitzes
637
2. Der Gerichtsstand des Ergreifungsortes
638
Die gerichtliche Nachprüfung der staatsanwaltschaftlichen Wahl des Gerichtsstands 1. Die Notwendigkeit einer gerichtlichen Kontrolle
641 641
2. Umfang und Form der Kontrolle
643
Zusammenfassung
647
2 2 . Kapitel:Weitere
„Wahlmöglichkeiten" der Staatsanwaltschaft bezüglich der
Zuständigkeit des Eingangsgerichts I.
II.
Zuständigkeitsprobleme im Zusammenhang mit gesetzlich vorgesehenen Spezialspruchkörpern
649
1. Die Zuständigkeit in Jugendschutzsachen (§§ 2 6 , 7 4 b G V G )
650
2. Die Zuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammer (§ 7 4 c G V G )
653
Die Zuständigkeit in Staatsschutzsachen (§§ 74a, 120 G V G )
656
1. Überblick über die Entwicklung und Systematik der §§ 74a, 120 G V G 2. Die hinreichende Bestimmtheit der „beweglichen" Zuständigkeit . . . a) Die dogmatische Eigenständigkeit der „besonderen Bedeutung
656 660
des Falles" im Rahmen des § 120 II G V G b) „Beweglichkeitsklauseln" als einzelfallbezogene Begrenzung gesetzlich normierter Spezialzuständigkeiten
661
c) Konzentration und Flexibilität im Staatsschutzstrafrecht
664
3. Die gerichtliche Nachprüfung einer Verneinung der „besonderen Bedeutung" durch den Generalbundesanwalt a) Darstellung des Problems und Streitstand
III.
649
b) Vergleich mit der parallelen Problematik in § 2 4 I Nr. 3 G V G . . . c) Die Vorlagemöglichkeit gemäß § 2 0 9 II S t P O d) Die Erweiterung des revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs als unzureichende Kompensation Weitere gesetzlich vorgesehene Einwirkungsmöglichkeiten der Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit der Anklageerhebung 1. Das beschleunigte Verfahren (§§ 417ff. S t P O ) a) Die Verfassungsmäßigkeit der Einrichtung ständiger Spezialabteilungen für die Aburteilung im beschleunigten Verfahren . . . .
662
669 669 670 671 673 675 675 677
b) Einzelne Organisationsbeispiele
680
c) Das Problem einer hinreichenden gerichtlichen Kontrolle aa) Die Verneinung der Eignung durch das erstinstanzliche Gericht
683
bb) Fehlender Antrag der Staatsanwaltschaft c c ) Kontrolle im Rahmen des Rechtsweges 2. Das erweiterte Schöffengericht (§ 2 9 II G V G ) a) Die verfassungsrechtliche Beurteilung des § 2 9 II G V G b) Die Bildung ständiger erweiterter Schöffengerichte im Wege der Geschäftsverteilung 3. Das Recht zur Klagerücknahme ( § 1 5 6 S t P O ) 4. Die Beschränkung der Verfolgung (§ 154a S t P O ) a) Auswirkungen des § 154a S t P O auf die gerichtliche Zuständigkeit
683 686 687 688 689 693 696 700 701
XX
Inhaltsverzeichnis
b) Die Verfassungsmäßigkeit der durch § 154a StPO eröffneten Gestaltungsspielräume 23. Kapitel:Sonstige Gefährdungen des gesetzlichen Richters im Z u s a m m e n h a n g mit dem erstinstanzlichen Hauptverfahren I. Verbindung und Trennung von Verfahren 1. Überblick über die gesetzliche Systematik 2. Die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Vorschriften 3. Gesetzlich nicht geregelte Konstellationen a) Verbindung von Verfahren vor gleichrangigen Spruchkörpern desselben Gerichts b) Die Verbindung von in unterschiedlichen Instanzen bei demselben Gericht anhängigen Verfahren c) Die Interpretation des § 237 StPO d) Zusammenfassende Betrachtung II. Das Terminierungsermessen des Vorsitzenden 1. Auswirkungen der Terminierung auf die Gerichtsbesetzung 2. Die besondere Problemlage bezüglich der Schöffenmitwirkung III. Zusammenfassende Betrachtung des ersten Abschnitts
704 707 707 707 709 714 715 717 721 722 724 724 729 731
ZWEITER ABSCHNITT: Die Tätigkeit der Revisionsgerichte 24. Kapitel:Die Aufgabenteilung zwischen Tat- und Revisionsgericht als Problem des Art. 101 I 2 G G I. Die Ausdehnung der Prüfungskompetenzen durch die Revisionsgerichte II. Die Schuldspruchberichtigung analog § 3 5 4 I StPO 1. Die Reichweite der Sachentscheidungskompetenz des Revisionsgerichts 2. Die Judikatur des BVerfG 3. Stellungnahme zur Reichweite der verfassungsgerichtlichen Kontrolle 25. Kapitel.-Das Ermessen der Revisionsgerichte im Z u s a m m e n h a n g mit der Zurückverweisung der Sache (§§ 354 II, III StPO) I. Die Entscheidungsalternative zwischen der Zurückverweisung an das Ausgangsgericht und der Weiterverweisung an ein anderes Gericht . . . . 1. Allgemeine Argumentationsansätze 2. Die These von der „Steuerungsaufgabe der Revisionsgerichte" 3. Z u r Frage unabweisbarer Bedürfnisse für die Befassung eines anderen Gerichts a) Justizorganisatorische Gründe b) Umfassende Absicherung der richterlichen Unvoreingenommenheit 4. Abschließende Beurteilung II. Das Ermessen bezüglich der Auswahl des „anderen" Gerichts III. Revisionsgerichtlich herbeigeführte Verschiebungen im Bereich der sachlichen Zuständigkeit (§§ 354 III, 355 StPO) 1. Der Anwendungsbereich der beiden Vorschriften 2. Ermessensschranken im Rahmen des § 354 III StPO
740 740 746 746 750 754 760 762 762 764 770 770 776 782 783 789 789 791
XXI
Inhaltsverzeichnis
a) Die Heranziehung des § 2 6 9 S t P O zur Begründung eines revisionsgerichtlichen Freiraums b) § 3 5 4 III StPO als „Kann"-Bestimmung IV.
Exkurs: Die Zurückverweisungsbefugnis des Beschwerdegerichts gemäß § 2 1 0 III StPO
2 6 . Kapitel:Rückblick I.
792 797
und Ausblick
800 807
Der Sinngehalt des Art. 101 I 2 G G als zentrale Grundfrage
807
1. Das Modell der „hermeneutischen Spirale"
807
2.
808
Die Notwendigkeit eines Dialogs zwischen Theorie und Praxis
3 . Die „Blindlingstheorie" als „Wahrsager"
811
a) Der zweispurige Begründungsansatz: Manipulationsabwehr und Regulativ zur Steuerung der konstitutionell bedingten Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung b) Denkbare Einwände gegen diese Konzeption aa) Übertriebenes Mißtrauen bb) Überhöhung des Bestimmtheitsgebots II.
812 813 813 816
4. Der Zusammenhang zwischen Richterentziehung und Willkürformel
818
Die Umsetzung des Art. 101 I 2 G G in der Strafrechtspflege
820
1. Der gesetzliche Richter und die Legislative
821
a) Gesetzgeberische Ausgestaltungsfreiheit und verfassungsrechtliche Bindung
821
b) Die Verfassungswidrigkeit einzelner „beweglicher" Zuständigkeitsregelungen
822
aa) Die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts wegen der „besonderen Bedeutung des Falles" (§§ 2 4 I Nr. 3, 7 4 I 2 G V G )
822
bb) Das Auswahlermessen bei der Zurückverweisung durch das Revisions- bzw. Beschwerdegericht (§ 3 5 4 II und § 2 1 0 III S t P O )
824
c c ) Keine generelle Verfassungswidrigkeit „beweglicher" Zuständigkeitsregelungen c ) Weitere Felder gesetzgeberischer Verantwortung
826 827
2. Der gesetzliche Richter und die Exekutive
830
3. Der gesetzliche Richter und die Judikative
832
a) Die Aufstellung konkretisierender Regelungen
832
b) Die Rechtsanwendung der Eingangsgerichte
834
aa) Die unzureichende Prüfung der Zuständigkeitsmerkmale . . . .
834
bb) Die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen dem Strafrichter und dem Schöffengericht c ) Die Tätigkeit der Revisionsgerichte III.
836 837
Ausblick auf die künftige Entwicklung des Prinzips des gesetzlichen Richters
838
Literaturverzeichnis
843
Sachregister
931
Abkürzungsverzeichnis a.A. a.a.O. a.D. a.E. a.F. Abg. abl. Abs. AcP AE-ZVR AFG AfP AG AK/GG AK/StPO allg. ALR Alt. Anh. Anm. AnwBl. AO AöR AP ArbGG arg. Art. AT Aufl. BA BAG BAG Ε BayJMBl. BayObLG BayObLGSt
anderer Ansicht am angegebenen Ort außer Dienst am Ende alte Fassung Abgeordneter ablehnend Absatz Archiv für die civilistische Praxis Alternativ-Entwurf Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmefreiheit Arbeitsförderungsgesetz Archiv für Presserecht Amtsgericht Kommentar zum Grundgesetz in der Reihe Alternativkommentare Kommentar zur Strafprozeßordnung in der Reihe Alternativkommentare allgemein Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 Alternative Anhang Anmerkung Anwaltsblatt Abgabenordnung Archiv des öffentlichen Rechts Arbeitsrechtliche Praxis Arbeitsgerichtsgesetz argumentum Artikel Allgemeiner Teil Auflage Blutalkohol Bundesarbeitsgericht Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Bayerisches Justizministerialblatt Bayerisches Oberstes Landesgericht Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in Strafsachen
XXIV
Abkürzungsverzeichnis
BayVBl. BayVerf BayVerfGH BayVerfGHE BayVGH BayZ BB BBG Bd. BFH BFHE BGB BGBl. BGH BGHR BGHSt. BGHZ BK BRAK BRAK-Mitteilungen BR-Drucks BRRG BSG BSGE BT-Drucks BVerfG BVerfGE BVerfG G BVerwG BVerwGE bzw.
Bayerische Verwaltungsblätter Verfassung des Freistaates Bayern Bayerischer Verfassungsgerichtshof Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Zeitschrift für Rechtspflege in Bayern Betriebs-Berater Bundesbeamtengesetz Band Bundesfinanzhof Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof BGH-Rechtsprechung in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bonner Kommentar zum Grundgesetz Bundesrechtsanwaltskammer Bundesrechtsanwaltskammer-Mitteilungen Drucksachen des Bundesrates Rahmengesetz zur Vereinheitlichung des Beamtenrechts Bundessozialgericht Entscheidungen des Bundessozialgerichts Drucksachen des Deutschen Bundestages Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetz über das Bundesverfassungsgericht Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts beziehungsweise
ca.
circa
d.h. DAR DAV DB ders. dies. Diss. DJ DJT DJZ DÖD DÖV
das heißt Deutsches Autorecht Deutscher Anwaltsverein Der Betrieb derselbe dieselbe(n) Dissertation Deutsche Justiz Deutscher Juristentag Deutsche Juristenzeitung Der öffentliche Dienst Die öffentliche Verwaltung
XXV
Abkürzungsverzeichnis
Dr. DRB DRiG DRiZ DStR DStrZ DStZ DtZ DuR DV DVBI. DWiR
Doktor Deutscher Richterbund Deutsches Richtergesetz Deutsche Richterzeitung Deutsches Steuerrecht Deutsche Strafrechtszeitung Deutsche Steuer-Zeitung Deutsch-Deutsche Rechtszeitschrift Demokratie und Recht Deutsche Verwaltung Deutsches Verwaltungsblatt Deutsche Zeitschrift für Wirtschaftsrecht
Ε ebd. EGGVG EinigungsV Einl. EMRK
Entwurf ebenda Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz Einigungsvertrag Einleitung Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten Erläuterung et cetera Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht eingetragener Verein Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
Erl. etc. EuGH EuGRZ EuZW e.V. EWGV EWiR f. FAG FAZ FBPG ff. FG FGG FGO Fn FR FS GA GG
Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht folgende Gesetz über Fernmeldeanlagen Frankfurter Allgemeine Zeitung Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte folgende Festgabe, Finanzgericht Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Finanzgerichtsordnung Fußnote Finanzrundschau, Frankfurter Rundschau Festschrift Goltdammer's Archiv für Strafrecht Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
XXVI
Abkürzungsverzeichnis
ggf· GGK GO-BVerfG Grdl. GS GVG GWO GWB
gegebenenfalls GG-Kommentar Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts Grundlagen Gedächtnisschrift, Gerichtssaal Gerichtsverfassungsgesetz Verordnung zur einheitlichen Regelung der Gerichtsverfassung Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen
HansOLG HessDGH HessVGH HRG HRR Hrsg. hrsg.
Hanseatisches Oberlandesgericht Hessischer Dienstgerichtshof Hessischer Verwaltungsgerichtshof Heidelberger Kommentar zur Strafprozeßordnung Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Höchstrichterliche Rechtsprechung Herausgeber herausgegeben
i.d.R. IKV insb. IRG i.V.m. i.w.S.
in der Regel Internationale Kriminalistische Vereinigung insbesondere Gesetz über internationale Rechtshilfe in Strafsachen in Verbindung mit im weiteren Sinn
JA JBlRhPf
JVA JW JZ
Juristische Arbeitsblätter Justizblatt Rheinland-Pfalz Jahrgang Jugendgerichtsgesetz Jura-Rechtsprechungskartei, Beilage der Zeitschrift Jura Justizministerialblatt für das Land Nordrhein-Westfalen Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Juristische Rundschau Juristische Ausbildung Juristische Blätter (Österreich) Juristische Schulung Die Justiz (Amtsblatt des Justizministeriums Baden-Württemberg) Justizvollzugsanstalt Juristische Wochenschrift Juristenzeitung
Kap. KG KJ KK
Kapitel Kammergericht Kritische Justiz Karlsruher Kommentar zur Strafprozeßordnung
HK
Jg·
JGG JK
JMB1NRW JöR JR Jura JurBl. JuS Justiz
XXVII
Abkürzungsverzeichnis
KK/OWiG KMR KO KÖSDI KrimJ lcrit. KritV
Karlsruher Kommentar zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten Loseblattkommentar zur Strafprozeßordnung (begründet von Kleinknecht/Müller/Reitberger) Konkursordnung Kölner Steuerdialog Kriminologisches Journal kritisch Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft
LS LSG LVerfGH LZ
Landgericht Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch Landes- und Kommunalverwaltung Lindenmaier/Möhring (Nachschlagewerk zu Entscheidungen des Bundesgerichtshofs) Löwe/Rosenberg (Kommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz) Leitsatz Landessozialgericht Landesverfassungsgerichtshof Leipziger Zeitschrift für Deutsches Recht
m.E. m.w.N. MDR MMR MschrKrim MschrKrimBiol. Müko/ZPO
meines Erachtens mit weiteren Nachweisen Monatsschrift für Deutsches Recht MultiMedia und Recht Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform Monatsschrift für Kriminalbiologie und Strafrechtsreform Münchener Kommentar zur Z P O
NF n.F.
Neue Folge neue Fassung nomen nominandum nicht veröffentlicht Niedersächsische Rechtspflege Neue Justiz Neue Juristische Wochenschrift NJW Entscheidungsdienst Miet- und Wohnungsrecht NJW-Rechtsprechungs-Report N o m o s Kommentar zum Strafgesetzbuch Notverordnung Nummer Nationalsozialismus Neue Entscheidungssammlung für Strafrecht Neue Zeitschrift für Strafrecht NStZ-Rechtsprechungs-Report
LG LK LKV LM LR
N.N.
n.v. NdsRpfl. NJ NJW NJWE-MietR NJW-RR NK NotVO Nr. NS NStE NStZ NStZ-RR
XXVIII
Abkürzungsverzeichnis
NVwZ NVwZ-RR NZA NZA-RR NZS NZV
Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Ν V wZ-Rechtsprechungs-Report Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht NZA-Rechtsprechungs -Report Neue Zeitschrift für Sozialrecht Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht
o.a. o. Verf. ÖJT OLG OLGSt.
oder ähnliche ohne Verfasser Österreichischer Juristentag Oberlandesgericht Entscheidungen der Oberlandesgerichte zum Straf- und Strafverfahrensrecht Oberverwaltungsgericht Gesetz über Ordnungswidrigkeiten
OVG OWiG Pf/M.
Pfeiffer/Miebach, Aus der (vom B G H nicht veröffentlichten) Rechtsprechung des B G H in Strafsachen zum Verfahrensrecht
RdA Reg.Bl. RepSchuG RG RGBl. RGSt. RGZ RiA RiStBV Rn ROW RpflAnpG RuP
Recht der Arbeit Regierungsblatt Gesetz zum Schutz der Republik Reichsgericht Reichsgesetzblatt Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Das Recht im Amt Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren Randnummer Recht in Ost und West Rechtspflege-Anpassungsgesetz Recht und Politik
S. s. s. a. S.K.M. s.o. S/S SchlHA SchwZStrR seil. SGb SGG SJZ SK/StGB
Satz, Seite siehe siehe auch Seine Königliche Majestät siehe oben Schönke/Schröder (Kommentar zum Strafgesetzbuch) Schleswig-Holsteinische Anzeigen Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht scilicet Die Sozialgerichtsbarkeit Sozialgerichtsgesetz Süddeutsche Juristenzeitung Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch
XXIX
Abkürzungsverzeichnis
StPO StraFO StrafRÄndG StRK StrRG StV StVG StVRG SZ
Systematischer Kommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz sogenannte(r/s) Die Sozialversicherung Spalte Seiner Königlichen Majestät Strafgesetzbuch Steuerliches Journal Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 19.12.1964 Strafprozeßordnung Strafverteidiger Forum Strafrechtsänderungsgesetz Steuerrechtsprechung in Karteiform Gesetz zur Reform des Strafrechts Strafverteidiger Straßenverkehrsgesetz Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts Süddeutsche Zeitung
Tab. ThürOLG Tit.
Tabelle Thüringisches Oberlandesgericht Titel
u.a. US
unter anderem United States
VB1BW VerwArch VGH vgl. VGS VO VRiaBFH VVdStRL VwGO VwVfG
Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg Verwaltungsarchiv Verwaltungsgerichtshof vergleiche Vereinigte Große Senate des Bundesgerichtshofs Verordnung Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz
Wahl Ο WBO WGO-MfOR wistra WRV
Wahlordnung Wehrbeschwerdeordnung Monatshefte für osteuropäisches Recht Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer, Strafrecht Verfassung des Deutschen Reiches (Weimarer Reichsverfassung)
Z.ärztl.Fortbild. z.B.
Zeitschrift für ärztliche Fortbildung zum Beispiel
SK/StPO sog. SozVers Sp. Sr.K.M. StGB StJ StPÄG
XXX z.T. ZAkDR ZAP ZBJV ZblJR ZBR ZfA ZfP ZfS Ziff. ZIP ZPO ZRP ZSchG
ZStW zust. ZustVO
ZZP
Abkürzungsverzeichnis
zum Teil Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht Zeitschrift für Anwaltspraxis Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt Zeitschrift für Beamtenrecht Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für Politik Zeitschrift für Schadensrecht Ziffer Zeitschrift für Wirtschaftsrecht und Insolvenzpraxis Zivilprozeßordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung und der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte vom 30.4.1998 (Zeugenschutzgesetz) Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft zustimmend Verordnung über die Zuständigkeit der Strafgerichte, die Sondergerichte und sonstige strafverfahrensrechtliche Vorschriften vom 21.2.1940 Zeitschrift für Zivilprozeß
1. Kapitel:
Einleitung
„ N i e m a n d darf seinem gesetzlichen R i c h t e r e n t z o g e n w e r d e n . " M i t dieser scheinbar eindeutigen Forderung normiert das G e s e t z - wortgleich in Art. 1 0 1 I 2 G G und in § 16 S. 2 G V G - das Prinzip des gesetzlichen Richters. Dieser Grundsatz soll der Gefahr vorbeugen, daß die r e c h t s p r e c h e n d e n O r g a n e durch eine Manipulierung sachfremden Einflüssen ausgesetzt werden. 1 Aus diesem Anliegen e r w ä c h s t das G e b o t , daß sich der für den Einzelfall zuständige R i c h t e r möglichst eindeutig aus einer allgemeinen N o r m ergeben muß.2 Bei formaler B e t r a c h t u n g k o m m t d e m Prinzip des gesetzlichen Richters ein herausgeh o b e n e r Stellenwert in unserer R e c h t s o r d n u n g zu. Die besondere B e d e u t u n g zeigt sich vor allem in der normativen Verstärkung, die dieser 1 7 9 1 erstmals ausdrücklich niedergelegte G r u n d s a t z 3 durch die A u f n a h m e in die Verfassung 4 erfahren hat. Das Postulat des gesetzlichen Richters gilt heute als ein „Kernstück des R e c h t s s t a a t s " 5 bzw. als ein „Strukturprinzip der r e c h t s p r e c h e n d e n Gewalt",'' dessen Verletzung im Einzelfall mit der Verfassungsbeschwerde geltend g e m a c h t werden kann und das im Hinblick auf seine die Rechtsstaatlichkeit des gerichtlichen Verfahrens schlechthin sichernde Funktion z u m
1 So das BVerfG in ständiger Rechtsprechung; vgl. BVerfGE 17, 294 (299); 82, 286 (296) sowie die Nachweise bei Leibholz/Rinck/Hesselberger, GG, Art. 101 Rn 2. 2 Auch dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des BVerfG; vgl. BVerfGE 17, 294 (298f.); 63, 77 (79) sowie die Nachweise bei Leibholz/Rinck/Hesselberger, GG, Art. 101 Anm. 4 ( = S. 838/1). In der französischen Verfassung vom 3 . 9 . 1 7 9 1 heißt es in Chap. V Art. IV: „Les citoyens ne peuvent etre distraits des juges que la loi leur assigne par aucune commission ni par d'autres attributions et evocations que Celles qui sont determinees ä la loi." Vgl. hierzu Kern, Gesetzlicher Richter, S. 31 f. In der Folgezeit kehrte das Verbot der Richterentziehung (wenngleich in unterschiedlichen Ausgestaltungen) in allen konstitutionellen Verfassungen des 19. Jahrhunderts wieder; vgl. Kern a.a.O. S. 146ff. (148); Wendt, Verfassungsurkunden, S. 60 ff. 4 Die einzelstaatenübergreifende verfassungsrechtliche Verankerung erfolgte in Art. 105 WRV vom 11.8.1918. Zu Vorläufern der Jahre 1848/49, die schließlich nicht Gesetz wurden, vgl. unten 3. Kap. 1.4 (a.E.). 5 K K - P f e i f f e r , Einl. Rn 25; Vgl. auch BGH, NJW 1997, 1452 („Eckpfeiler des rechtsstaatlichen Prozessierens"); Joachim, DRiZ 1965, 181 („Säule des Rechtsstaats"); H. Schiedermair, in: Wadle, Recht und Gesetz, S. 16 („Fundamentalgarantie") und v. Stackelberg, NJW 1959, 471 („Grundpfeiler des Rechtsstaats"). Anknüpfend an die Feststellung, daß „eine unabhängige, unpolitische und rein sachlich eingestellte Rechtspflege ... eine unentbehrliche Bürgschaft des Rechtsstaates" sei, rechnet der Herrenchiemseer Konvent (in der Einleitung seiner Beratungen über Art. 101 GG) das Prinzip des gesetzlichen Richters zu jenen alten bewährten Grundsätzen, die nach der Zerstörung des großen Vertrauenskapitals durch das nationalsozialistische Regime wieder zu Ehren kommen sollen; vgl. BK-Dennewitz, Art. 101 Anm. I. 6 Arndt, J Z 1956, 633; s. auch Bethge, KritV 73 (1990), 19; Joachim, DRiZ 1965, 183; Marx, Gesetzlicher Richter, S. 59; Reicht, Gesetzlicher Richter, S. 38 und AK/CG-Wassermann, Art. 101 Rn 10. Sachlich entsprechend bezeichnet v. Winterfeld (NJW 1972, 1401) den Grundsatz der normativen Vorausbestimmung des gesetzlichen Richters als ein „Systemanliegen des GG".
2
1. Kapitel: Einleitung
Kreis der gemäß Art. 79 III GG unabänderbaren Vorschriften des Grundgesetzes gerechnet wird. 7 Allerdings stellt diese Charakterisierung die „Schokoladenseite" des Grundsatzes vom gesetzlichen Richter dar. Dem früheren Bundesminister Hermann Höcherl wird das Bonmot zugeschrieben, daß Prinzipien so hoch gehalten werden, damit man besser unter ihnen hindurchschlüpfen kann. Dieses Bild lenkt den Blick auf das mit der vorliegenden Arbeit verfolgte Anliegen: Es soll untersucht werden, welcher Stellenwert dem Prinzip des gesetzlichen Richters im Bereich der Strafrechtspflege gegenwärtig tatsächlich zukommt. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß dieser Grundsatz seine Bewährungsprobe nicht im Olymp des Verfassungsrechts, sondern auf dem harten Boden des Gerichtsorganisations- und Verfahrensrechts zu bestehen hat. Im Justizalltag muß sich erweisen, ob das Prinzip des gesetzlichen Richters nur als eine liebgewordene und in Ehren gehaltene Tradition erscheint, die Eingang in das Grundgesetz gefunden hat und in Festreden mit salbungsvollen Worten gepriesen wird, oder ob es sich hierbei tatsächlich um eine auch im Denken der Rechtsanwender lebendige „conditio sine qua non für die Verwirklichung des Rechtsstaats" 8 handelt.
I.
Sinnkrise versus Anschauungswandel
Erscheint es bereits ganz allgemein reizvoll, der Ubereinstimmung zwischen abstraktem Anspruch und konkreter Wirklichkeit eines Verfassungsprinzips nachzuspüren, so kommt bezüglich des vorliegenden Problemgegenstandes hinzu, daß die Vorstellung vom Grundsatz des gesetzlichen Richters als traditionsreichem und allseits anerkannten Fundamentalprinzip des rechtsstaatlichen Justizwesens nur die glatte Oberfläche beschreibt, unter der bei näherem Hinsehen deutliche Risse erkennbar werden. Freilich fordert niemand offen die Abschaffung des Art. 101 I 2 GG; eben diese formale Unangefochtenheit macht ja die glattpolierte Oberfläche dieses Rechtsprinzips aus. Die Schwierigkeiten im Umgang mit dem Grundsatz des gesetzlichen Richters treten vielmehr anläßlich diverser einfachgesetzlicher Fragestellungen zutage.
1.
Einfachgesetzliche Streitfragen als Krisensymptome
Als beredte Zeugnisse für die erheblichen Spannungen, unter denen dieses Verfassungspostulat steht, lassen sich insbesondere Stellungnahmen zur strafprozessualen Besetzungsrüge anführen, die als absoluter Revisionsgrund (§ 338 Nr. 1 StPO) ausgestaltet ist und der Durchsetzung des Prinzips des gesetzlichen Richters dient. Ein solches Rechtsmittel wird bisweilen abschätzig als „letzte Zuflucht von Quenglern" 9 oder als ein „pu7 Vgl. dazu Even, Bedeutung der Unantastbarkeitsgarantie, S. 242, 276; Marx, Gesetzlicher Richter, S. 65, 118; Scupin, Gesetzlicher Richter, S. 87; Sobota, Prinzip, S. 509; Stern, Staatsrecht III/2, § 89 V 3 ( = S. 1125); kritisch insoweit Schnapp, in: v. Münch/Kunig, GGK, Art. 20 Rn 24 und Austerhoff, Gerichte, S. 73 ff.; einschränkend Leisner, NJW 1989, 2446. 8 Ogris, FS Hermann Krause (1975), S. 187; s. auch Kern, Gesetzlicher Richter, S. 148. 9 So bezüglich des Verwaltungsprozeßrechts Eyermann/Fröhler/Kormann, VwGO, Anh. zu § 4, dort zu § 21 e GVG Rn 17 (allgemein zum Recht auf den gesetzlichen Richter).
1. Kapitel: Einleitung
3
re(s) Revisions-Vehikel" 10 bezeichnet, mit dem der Verteidiger versucht, seinem Mandanten eine weitere, ansonsten gerade nicht gegebene Tatsacheninstanz zu eröffnen. Bei einer solchen Betrachtung haften an der Rüge einer Verletzung des Prinzips des gesetzlichen Richters „regelmäßig das Unziemliche des Hintereingangs und der Makel der falschen Flagge, mehr noch gar der eines kleinlichen Formalismus, der großzügig weitreichende, ärgerliche, kostspielige und insgesamt oft als unverhältnismäßig empfundene Folgen in Kauf nimmt, die Strafrechtspflege aufhält und einen möglicherweise ,großen justiziellen Aufwand' sinnlos werden lassen kann, ohne selbst prima facie als sinnvoll zu erscheinen". 11 Es griffe zu kurz, wollte man eine solche Kritik ausschließlich auf das Verhalten von Verteidigern beziehen. Hier gerät der Grundsatz des gesetzlichen Richters selbst in die Schußlinie, der eine solche (vermeintlich) billige Instrumentalisierung zuläßt. Diese größere, auf die Reichweite des Verfassungsgebots abzielende Dimension wird deutlich in der Frage angesprochen, ob wir den Grundgedanken des gesetzlichen Richters „in weltweit einsamer Perfektion" überstrapazieren. 12 Weiteres Anschauungsmaterial für die Feststellung, daß sich hinter einfachgesetzlichen Meinungsverschiedenheiten grundlegende Divergenzen bezüglich des dem Art. 101 I 2 G G beizulegenden Sinnverständnisses verbergen, bietet die Kontroverse um die Zulässigkeit der bei den obersten Bundesgerichten praktizierten spruchkörperinternen Geschäftsverteilung. In dieser zwischen „Puristen" und „Pragmatikern" 1 ' mit hoher Emotionalität geführten Debatte wurde gewarnt, „(m)an sollte das Prinzip des gesetzlichen Richters nicht zu Tode reiten". 14 Andererseits trägt der zu dieser Problematik ergangene Beschluß des Plenums des BVerfG 15 (anknüpfend an eine Entscheidung der Vereinigten Großen Senate des B G H ) 1 6 der Tatsache Rechnung, „daß sich die Vorstellungen von den Anforderungen an den gesetzlichen Richter im Laufe der Zeit allmählich verfeinert haben und im Zuge dieser Entwicklung die Forderung nach einer möglichst präzisen Vorherbestimmung auch der im Einzelfall an der Entscheidung mitwirkenden Richter zunehmend stärkeres Gewicht gewonnen hat". Vor dem Hintergrund dieses Anschauungswandels besteht zugleich Anlaß, auch andere Teilbereiche des Art. 101 I 2 G G einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der umstrittenen Frage, inwieweit die gesetzlichen Bestimmungen über die sachliche und örtliche Zuständigkeit der Strafgerichte mit dem Verfassungsgrundsatz des gesetzlichen Richters in Einklang stehen. 17 Sind diese Überlegungen tendenziell auf eine strengere Beurteilung gerichtet, so gibt es andere Indizien, die in die entgegengesetzte Richtung weisen. So verfolgte der Gesetzgeber mit der Einführung der in § 338 Nr. 1 in Verbindung mit § 222b StPO normierten Präldusionsregelung durch das
'» Kissel, StV 1993, 398. " Seebode, JR 1986, 475. ι* Kissel, StV 1993, 398 f.; ähnlich auch Bertram, NJW 1994, 2190. S. ferner Kissel, J Z 1994, 1179 und Saiger, zitiert bei Sangmeister, DStZ 1994, 38. " Vgl. zu dieser Charakterisierung Lamprecht, BB 1992, 2153. 14 Foth, J Z 1993, 942; s. auch bereits Schalscha, DRiZ 1960, 16. ι' BVerfG(Plenum)E 95, 3 2 2 (333). " B G H ( V G S ) Z 126, 63 (85). 17 Vgl. Kunig, in: v. Münch/Kunig, GGK, Art. 101 Rn 28 Stichwort „Bewegliche Zuständigkeiten"; Achenbach, FS Wassermann (1985), S. 849 ff., 855 ff.
4
1. Kapitel: Einleitung
Strafverfahrensänderungsgesetz 1 9 7 9 1 8 erklärtermaßen das Ziel, die Zahl der auf die fehlerhafte Besetzung des Gerichts gestützten Revisionen zurückzudrängen. 1 9 Neuere G e setze ermöglichen teilweise eine Spruchtätigkeit in unterschiedlicher Besetzung. 2 0 Zwischen den Strafsenaten des B G H besteht lebhafter Streit darüber, o b eine Verkennung der sachlichen Zuständigkeit als Prozeßvoraussetzung von Amts wegen oder nur auf eine substantiierte Verfahrensrüge gemäß §§ 3 3 8 Nr. 4 , 3 4 4 II S t P O zu prüfen ist. 2 1 Die zunehmende Strenge ist also keine durchgängig zu konstatierende „Einbahnstraße", sondern dem Betrachter bietet sich ein durchaus buntscheckiges Bild unterschiedlicher Strömungen. Die angesprochenen Streitfragen betreffen (zumindest in ihrer Gesamtheit) den Verfassungssatz vom gesetzlichen Richter nicht nur punktuell, sondern prinzipiell. Die skizzierten Befunde können als Symptome einer Sinnkrise dieses Prinzips gedeutet werden, die nur deshalb nicht unmittelbar wahrgenommen wird, weil die aus der verfassungsrechtlichen Verankerung resultierende Unantastbarkeit dieses Postulats die einzelnen Konfliktherde wie eine schützende Patina überzieht.
2.
V e r s t ä n d n i s p r o b l e m e b e z ü g l i c h des A r t . 1 0 1 I 2 G G
Die soeben angeführten Einzelpunkte sind indirekte Fingerzeige auf das Bestehen gravierender Meinungsverschiedenheiten über den Sinngehalt des Prinzips des gesetzlichen Richters. D o c h auch eine diesen Verfassungsgrundsatz direkt ins Visier nehmende Betrachtung fördert Umstände zutage, die eine eindeutige Inhaltsbestimmung erschweren.
a)
Sprachliche Unbestimmtheit des „gesetzlichen" Richters
Der erste in diesem Zusammenhang zu nennende Aspekt ist die inhaltliche Unbestimmtheit des Art. 101 I 2 G G . Insbesondere läßt sich dieser Vorschrift nicht entnehmen, wer der „gesetzliche" Richter ist, dem niemand entzogen werden darf. 2 2 In dieser Formulierung eine pauschale Verweisung auf die Normen des einfachen Gesetzesrechts zu sehen, erscheint deshalb unzureichend, weil auch der Gesetzgeber selbst an die Verfassungs-
Gesetz vom 5.10.1978 (BGBl. I, S. 1645). BT-Drucks 8/976, S. 24 ff. 20 Das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11.1.1993 (BGBl. I, S. 50) hat die Möglichkeit der Besetzungsreduzierung für Hauptverhandlungen der großen Strafkammer (§ 76 11 G V G ) und der Jugendkammer (§ 33b II J G G ) sowie eine unterschiedliche Besetzung der Strafvollstreckungskammer (§ 78b I GVG) eingeführt. Vgl. ferner zur Besetzung der Bußgeldsenate des Oberlandesgerichts § 80a OWiG (eingeführt durch das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten und anderer Gesetze vom 2 6 . 1 . 1 9 9 8 [BGBl. I, S. 156]). 21 Für eine Prüfung von Amts wegen der 4. Strafsenat; vgl. BGHSt. 40, 120 (122ff.) mit Anm. Engelhardt, J Z 1995, 2 6 2 f . und Sowada, J R 1995, 257ff.; BGH, NJW 1999, 2604 (m.w.N.); für das Rügeerfordernis der 1. Strafsenat; vgl. BGHSt. 43, 53 (56ff.) mit (abl.) Anm. Bernsmann, J Z 1998, 629 ff.; BGH, NJW 1993, 1607 f. Vgl. auch zur entsprechenden Problematik einer Verletzung des § 328 II StPO seitens des Berufungsgerichts BGH(5. Senat)St. 42, 205ff. mit Anm. Gollwitzer, J R 1997, 432ff; Brandenbg. OLG, NStZ 2001, 611 f. mit Anm. Meyer-Goßner sowie Hegmann, NStz 2000, 574 ff. " BGHSt. 9, 367 (369); BVerwGE 1, 60 (63). 18
19
1. Kapitel: Einleitung
5
norm gebunden ist 2 3 und überdies nicht alle Zuständigkeitsfragen einer Regelung durch ein formelles Gesetz zugänglich sind. Um einen verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab zu gewinnen, muß der Wesensgehalt des Prinzips des „gesetzlichen" Richters losgelöst von den konkreten Einzelregelungen ermittelt werden. Das gilt ungeachtet der Tatsache, daß für die Rechtsanwendung die Ausfüllung der verfassungsrechtlichen Vorgabe durch Regelungen des einfachen Rechts maßgebliche Bedeutung erlangt. Die insoweit zu konstatierende Unbestimmtheit ist zwar keine Besonderheit des Art. 101 1 2 G G . Vielmehr wird in bewußter Zuspitzung allgemein darauf verwiesen, eine Verfassung müsse „kurz und dunkel" sein und sie könne „noch weniger als irgendein anderes Gesetz die Hoffnung auf wasserdichte Rechtssicherheit erfüllen". 2 4 In der Tat kann „Offenheit" geradezu als Wesensmerkmal verfassungsrechtlicher Bestimmungen angesehen werden. 2 5 Das ändert jedoch nichts an der Schwierigkeit, daß ein festumrissenes Substrat des Art. 101 I 2 G G nicht zur Verfügung steht.
b)
Der Verlust des „historischen Feindbildes"
Ein zweiter Grund, der die Ermittlung des dem Grundsatz vom gesetzlichen Richter zukommenden Sinngehalts erschwert, ist darin zu sehen, daß die historische Ausgangslage, die zur Aufnahme dieses Prinzips in die Verfassungen des späten 18. und 19. Jahrhunderts geführt hat, inzwischen entfallen ist. Der Grundsatz des gesetzlichen Richters wird heute ganz überwiegend als Errungenschaft des Liberalismus im Kampf gegen die zur Zeit des Absolutismus geübte sog. „Kabinettsjustiz" angesehen. 2 6 Die Gefahren, die von einem sich in die Belange der Rechtsprechung einmischenden Monarchen ausgingen, waren den Menschen der damaligen Zeit präsent; die Hauptschwierigkeit bestand darin, die gegen eine solche Einflußnahme gerichteten Vorstellungen unter den machtpolitischen Gegebenheiten tatsächlich durchzusetzen. Heute fehlt demgegenüber nicht nur der verfassungswidrig intervenierende König als personifizierter Gegenspieler, sondern auch die Gefahr einer unmittelbaren, ergebnisorientierten Einflußnahme der Exekutive auf die Entscheidungen der Judikative erscheint eher theoretischer Natur. Der Verlust des „Feindbildes" in Gestalt des Alleinherrschers 2 7 hat somit zu einem Verblassen des Gefährdungsbewußtseins geführt und die Notwendigkeit begründet, den Aussagegehalt des Grundsatzes vom gesetzlichen Richter in einer allgemeineren, an komplexen Organisationsstrukturen ausgerichteten Weise neu zu definieren.
c)
Der Zielkonflikt zwischen Formenstrenge und Flexibilität
Eine weitere Schwierigkeit resultiert aus dem Umstand, daß die Zuständigkeitsregelungen des einfachen Rechts regelmäßig nicht allein an dem Postulat des gesetzlichen Rich21 B V e r f G E 6, 4 5 ( 5 9 f f . ) ; 9, 2 2 3 ( 2 2 6 ) ; 10, 2 0 0 ( 2 1 3 ) ; 2 2 , 4 9 ( 7 3 ) ; Degenhardt, in: Sachs, G G , Rn 1 0 ff.; Maunz, in: Maunz/Dürig, G G , Rn 19 ff. jeweils zu Art. 1 0 1 . 24 So Hassemer, in: „Der Spiegel", Nr. 1 / 1 9 9 8 S. 5 0 ( 5 4 ) ; s. auch Böckenförde, NJW 1976, 2091, 2 0 9 9 ; Sendler, FS Kriele ( 1 9 9 7 ) , S. 4 6 1 f. 25 Vgl. hierzu Höfling, Grundrechtsinterpretation, S. 7 6 ff.; s. auch Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 8Off. ( 8 9 ff.), 2 6 7 f f . ( 2 6 8 ) ; Larenz, Methodenlehre, S. 3 6 0 f f . ( 3 6 3 f.). 26 Vgl. nur Kellermann, Gesetzlicher Richter, S. 5 0 ff. 27 Vgl. Voßkuhle, Rechtsschutz, S. 1 2 1 („Wandel der Feindbilder"); s. auch Ermacora, in: Bettermann/Neumann/Nipperdey, Grundrechte 1/1, S. 1 7 1 f.
6
1. Kapitel: Einleitung
ters ausgerichtet sind, sondern zugleich anderen Zielen - insbesondere der effektiven Gestaltung der justiziellen Arbeitsabläufe - dienen sollen. Wenn der Gesetzgeber mehrere örtliche Gerichtsstände zuläßt oder wenn er durch die Einrichtung eigenständiger Spruchkörper für besondere Sachgebiete (Staatsschutzkammern, Wirtschaftsstrafkammern) dem Spezialisierungsgedanken Rechnung trägt, wenn er unter der ausdrücklichen Zielsetzung der Zurückdrängung der Revisionen eine Präklusionsregelung für die Besetzungsrüge einführt oder wenn er zur Entlastung der Rechtspflege die Möglichkeit einer Verhandlung mit reduzierter Richterbank eröffnet, so handelt es sich um legislatorische Entscheidungen, die dem Gedanken der Funktionalität Rechnung tragen, aber zugleich Abstriche am Idealbild eines möglichst klar und einfach strukturierten Zuordnungssystems bedingen. Die Forderung nach dem gesetzlichen Richter wird mithin nicht nur infolge verblassender historischer Anschauung diffuser, sondern sie tritt zugleich in ein normatives Spannungsverhältnis zu anderen Zielvorgaben bei der Festlegung von Organisationsstrukturen und Arbeitsabläufen in der Justiz. Hierbei ist unschwer absehbar, daß mit zunehmendem Geschäftsanfall und mit wachsendem ökonomischen Druck das Bestreben steigt, die vorhandenen Kapazitäten möglichst flexibel einzusetzen. Als spiegelbildliche Verkehrung wächst damit tendenziell die Gefahr, daß der Grundsatz des gesetzlichen Richters von der Kraft justizfiskalischer Sachzwänge mehr und mehr an den Rand gedrängt wird. Diese Spannungslage kommt auch in der Forderung des BVerfG28 zum Ausdruck, daß „effektiver Rechtsschutz und gesetzlicher Richter ... nicht gegeneinander ausgespielt werden (dürfen)", weil „das Grundgesetz ... den effektiven Rechtsschutz durch den gesetzlichen Richter (gebietet)". Obwohl der Zielkonflikt zwischen einer möglichst eindeutigen Festlegung des gesetzlichen Richters und der Schaffung von Gestaltungsspielräumen für einen möglichst effektiven Einsatz knapper Ressourcen grundsätzlich alle Gerichtszweige gleichermaßen betrifft, kommt diesem Gegensatz im Kontext des Strafverfahrens eine herausragende Bedeutung insofern zu, als mit der Frage nach der Reichweite des Prinzips vom gesetzlichen Richter zugleich der Grundsatz von der Formenstrenge des Strafverfahrens in einem zentralen Teilbereich auf den Prüfstand gestellt ist. Hatte Rudolf v. Ihering29 die Form vor 100 Jahren noch als „die geschworene Feindin der Willkür" und als „Zwillingsschwester der Freiheit" bezeichnet, so sah Eberhard Schmidt30 im Jahre 1953 die prozessualen Formen in einem „seltsamen Zwielicht". Es scheint, als sei das Nachlassen des Verständnisses für formelle Vorschriften unaufhaltsam vorangeschritten.31 Das Spannungsverhältnis zwischen der Formenstrenge des Strafprozesses und den im Interesse einer effektiven und funktionstüchtigen Strafrechtspflege vorgenommenen Auflockerungen und Durchbrechungen hat das Gepräge des modernen Strafverfahrens nachhaltig
2» 2* «·
BVerfG, NJW 1995, 2 7 0 3 ( 2 7 0 5 ) . Geist, S. 497. ZStW 65 (1953), 161 (170). 11 Vgl. dazu Peters, DJT-Gutachten, C 65 (Fn 21) und Paeffgen, NJW 1990, 545 („Die Gefahren, die sich aus der Geringachtung der [nicht nur individual-] schützenden Funktion der Form ergeben, werden allenthalben unterschätzt."). Speziell zum Grundsatz des gesetzlichen Richters vgl. Eb. Schmidt, Strafprozeßrecht, Rn 52: „... muß man leider feststellen, daß die alte formale Strenge des Satzes vom gesetzlichen Richter nicht mehr besteht" (Hervorhebung im Original); ferner Brauns, Besetzungsrüge, S. 229 ff. und Hassemer, Einführung, S. 158; s. auch bereits Kern, Gesetzlicher Richter, S. 176 f.
7
1. Kapitel: Einleitung
erschüttert. 32 Das Problem beschränkter Ressourcen zur Bekämpfung einer massenhaft anwachsenden Bagatellkriminalität hat nicht nur das Legalitätsprinzip in eine Legitimierungskrise gestürzt. 33 Noch eklatanter sind die unter dem Schlagwort der „Verständigung im Strafprozeß" ausgelösten Veränderungen, die sich nach den Worten von Ellen Schlüchtern als eine Art von „Soft Law" neben dem Bereich des (in der Strafprozeßordnung und im Gerichtsverfassungsgesetz geregelten) „Hard Law" etabliert haben. 35 Wenn die Devise „Funktionalität statt Formalismus" 36 zum Kampfruf für die Umgestaltung des Strafverfahrens wird, dann steht der gerade als Formalprinzip konzipierte Grundsatz des gesetzlichen Richters 37 mit dem Rücken zur Wand. Da sich die Uhren nicht einfach zurückdrehen lassen, ist es mit einer pauschalen Zurückweisung solcher Entwicklungstendenzen unter Hinweis auf die Verfassungsnorm des Art. 101 GG nicht getan. Vielmehr ist dieser zentralen Herausforderung für das Prinzip des gesetzlichen Richters in der Weise zu begegnen, daß der gegenwärtige Stellenwert dieses Verfassungsgrundsatzes überdacht wird, um zu erkennen, wo hypertrophe Entwicklungen im Interesse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege zurückgeschnitten werden können und an welchen Stellen wirkliche Gefährdungen des Prinzips des gesetzlichen Richters eine verstärkte Aufmerksamkeit verlangen.
d)
Die „Materialisierung" des Grundsatzes des gesetzlichen
Richters
Für den soeben erörterten Zielkonflikt ist es charakteristisch, daß der Grundsatz des gesetzlichen Richters in Widerstreit zu anderen Zwecken tritt. Es handelt sich also um Gegenkräfte, die von außen auf dieses Prinzip einwirken und seinen Geltungsbereich tendenziell einzuengen trachten. Hiervon läßt sich das Phänomen einer „Materialisierung" des Grundsatzes vom gesetzlichen Richter unterscheiden. Mit diesem Begriff sollen Veränderungen bezeichnet werden, die den originären Sinngehalt des Art. 101 I 2 GG betreffen. Diese Materialisierung ist in unterschiedlichen Formen zu erkennen, die teils den Anwendungsbereich des Art. 101 I 2 GG ausdehnen, teils hingegen Einschränkungen des Kontrollsystems bewirken. Durch die Judikatur des BVerfG hat der Schutzbereich des Art. 101 I 2 GG eine zweifache Erweiterung erfahren.38 Zum einen kann dieser Verfassungssatz nach heute einhel32 Vgl. auch im Hinblick auf die Beschränkung der strafprozessualen Revision durch die Einführung von Zwischenverfahren Bohnert, Beschränkungen, S. 1 9 1 , 1 9 5 ff.
Vgl. Rieß, N S t Z 1 9 8 1 , 2 ff. Weniger ist mehr, S. 14; dies., G S Karlheinz Meyer ( 1 9 9 0 ) , S. 4 4 5 ff. 35 Nach einer Formulierung von Hamm ist der Deal der „Supergau der F o r m " {vg\. Jungfer, Anwaltsblatt 1 9 9 6 , 4 5 8 ) . 33 34
Berliner
36 Schlüchter, Weniger ist mehr, S. 14; vgl. aber auch zum „Wert der Form im Strafprozeß" dies., in: Wolter, Z u r T h e o r i e und Systematik des Strafprozeßrechts ( 1 9 9 5 ) , S. 2 0 5 ff. Auch bezüglich des Ausbaus der Subjektstellung des Beschuldigten konstatiert Rieß (in: Bundesministerium der Justiz, V o m Reichsjustizamt zum Bundesministerium der Justiz [ 1 9 7 7 ] , S. 4 3 4 f.; zustimmend Fezer, G S Schröder [ 1 9 7 8 ] , S. 4 1 4 [Fn 2 8 ] ) in der Entwicklung der letzten 1 0 0 J a h r e den Übergang von einer prinzipiell geprägten zu einer mehr funktionell geprägten Betrachtungsweise. 37 Vgl. /. Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren, S. 1 3 5 : „Artikel 101 Abs. 1 Satz 2 gehört zu den N o r m e n , die nur bei strikt formaler Anwendung ihre Schutzfunktion entfalten k ö n n e n . " S. auch Achenbach, FS Wassermann ( 1 9 8 5 ) , S. 8 4 9 ff. 38 Vgl. zum Folgenden Bettermann, A ö R 9 4 ( 1 9 6 9 ) , 2 6 3 f.
8
1. Kapitel: Einleitung
lig vertretener Auffassung auch durch richterliche Handlungen verletzt werden. Diese als „Intensivierung" des Prinzips des gesetzlichen Richters bezeichnete Erstreckung läßt den formalen Charakter dieses Grundsatzes unberührt. Daneben wird jedoch eine „Extensivierung" des Art. 101 I 2 G G in dem Sinne angenommen, daß als gesetzlicher Richter nicht mehr lediglich der „gesetzlich zuständige Richter" angesehen wird; vielmehr wird zusätzlich postuliert, daß „gesetzlicher" Richter nur ein solcher sein könne, der in jeder Hinsicht den Anforderungen des Grundgesetzes entspricht und den Rechtsuchenden als neutraler, unbeteiligter Dritter entgegentritt. 3 9 Eine materialisierende Einschränkung erfährt der Grundsatz des gesetzlichen Richters hingegen insofern, als eine Verletzung des Art. 101 I 2 G G durch fehlerhafte richterliche Rechtsanwendung nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG 4 0 nur bei einem objektiv willkürlichen Handeln, nicht hingegen bei einem sog. error in procedendo gegeben ist. Auf den ersten Blick könnte diese Verengung als nicht allzu bedeutsam erscheinen, da es sich insoweit lediglich um eine Gegenausnahme zu der als „Intensivierung" bezeichneten Ausdehnung handelt, die zudem eine inhaltliche Nähe zur Formel vom „spezifischen Verfassungsrecht" als verfassungsgerichtlichem Prüfungsmaßstab aufweist. Dennoch verdient auch diese Form der Materialisierung unter methodischen Gesichtspunkten Beachtung, zumal der B G H 4 1 die Willkürformel als Restriktionselement auf den Bereich der strafprozessualen Revision übertragen hat. Betrachtet man die skizzierten Entwicklungen im Zusammenhang und berücksichtigt man ferner die bereits angesprochenen legislatorischen Maßnahmen zur effektiveren G e staltung des Strafverfahrens (Rügepräklusion, flexiblere Spruchkörperbesetzung), so ergibt sich einerseits eine beständige Erweiterung des Schutzbereichs des Art. 101 I 2 G G durch „materialisierende" Anlagerungen, 4 2 andererseits hingegen ein partielles Nachgeben bezüglich der Bestimmtheitsanforderungen sowie Beschränkungen im Rechtsschutzbereich. Diese Veränderungen deuten darauf hin, daß sich der Verfassungssatz v o m gesetzlichen Richter in einer Phase des normativen Umbaus befindet, den man mit der Formel „mehr Weite bei weniger T i e f e " charakterisieren könnte. 4 3 Auch vor dem Hintergrund einer solchen schleichenden Strukturveränderung 4 4 erscheint ein grundsätzliches Nachdenken über den gegenwärtigen Stellenwert des Verfassungsgrundsatzes vom gesetzlichen Richter lohnenswert.
w BVerfG Ε 10, 200 (213); 21, 139 (145 f.); 27, 312 (319); 82, 286 (298); s. auch Kunig, in: v. Münch/Kunig, GGK, Art. 101 Rn 17. 4° BVerfG Ε 3, 359 (364 f.); 29, 198 (207); 82, 286 (299). 41 BGHSt. 11, 106 (110); BGH, GA 1976, 141 („ständige Rechtsprechung"). « Nach einer Formulierung des BVerfG (NJW 1956, 545; s. auch BVerfGE 40, 356 [361]) dient der Grundsatz des gesetzlichen Richters „der Sicherung der Rechtsstaatlichkeit auf dem Gebiete der Gerichtsbarkeit schlechthin". 4' Vgl. bezüglich zivilprozessualer Zuständigkeitsmängel auch Gaede, Zuständigkeitsmängel, S. 2 ff. 44 Ohne speziellen Bezug auf Art. 101 I 2 GG ist nach Ansicht von Schlink (NJ 1994, 4 3 6 ) der „Trend zur Subjektivierung objektiver und zur Materialisierung formaler rechtlicher Befunde allgemein zu beobachten".
1. Kapitel: Einleitung
II.
Methodische Probleme
1.
Der verfassungsrechtliche Sinngehalt als eigenständiger Untersuchungsgegenstand
9
Aus den bisherigen Überlegungen läßt sich die für die Konzeption der vorliegenden Arbeit wichtige Erkenntnis ableiten, daß der verfassungsrechtliche Sinngehalt des Prinzips des gesetzlichen Richters einen eigenständigen Untersuchungsgegenstand bildet. Bei der Frage nach dem gegenwärtigen Stellenwert dieses Grundsatzes handelt es sich um eine Gleichung mit zwei Unbekannten. Es griffe zu kurz, die Thematik auf die Frage zu reduzieren, ob der Gesetzgeber und die Justizpraxis den verfassungsrechtlichen Anforderungen Genüge tun. Als erster Schritt der Untersuchung steht vielmehr der anzulegende Maßstab selbst zur Diskussion. Erst wenn man den Inhalt dieses Verfassungsprinzips geklärt hat, vermag man festzustellen, inwieweit die tatsächlichen Befunde dieser Vorgabe entsprechen oder von ihr abweichen. Aus dieser Einsicht resultieren allerdings methodische Schwierigkeiten. Es kann nicht darum gehen, gleichsam bei „Null" anzufangen und das Rad noch einmal zu erfinden. Ferner ist zu berücksichtigen, daß es sich vorliegend um keine verfassungsdogmatische Arbeit im eigentlichen Sinne handelt; vielmehr bildet der Bedeutungsgehalt des Art. 101 I 2 GG nur eine - wenngleich zentrale - Vorfrage für das eigentliche, auf die Strafgerichtsbarkeit bezogene Anliegen der Untersuchung. Unbezweifelbar ist schließlich auch die beherrschende Bedeutung, die der Rechtsprechung des BVerfG in der Rechtswirklichkeit für das Verständnis der Verfassungsnormen zukommt. 45 Dennoch kann diese Judikatur nicht unbesehen als Prüfungsmaßstab übernommen werden. Denn die Entwicklung dieser Rechtsprechung hat sich anhand von Einzelfällen vollzogen, die teilweise mehrere Jahrzehnte zurückliegen. Vor diesem Hintergrund ist es denkbar, daß sich auch die Auffassung des BVerfG (in Einzelfragen oder auch im Grundsätzlichen) als inzwischen überholt oder verfehlt erweisen kann. Die Achtung vor der Autorität des BVerfG gebietet es zwar, sich mit den Ansichten dieses Gerichts eingehend auseinanderzusetzen; ein wissenschaftliches Denkverbot, das von der Meinung des BVerfG abweichende Positionen von vornherein ausschließt, folgt hieraus aber nicht. In Wahrheit muß die Annäherung an das Prinzip des gesetzlichen Richters sogar bis in die dem Verfassungsrecht vorgelagerten Regionen erstreckt werden. Der Grund hierfür liegt darin, daß wir ein juristisches Problem nicht „an sich", sondern immer nur mit einem gewissen Vorverständnis erfassen. 46 Gerade die Normen des Verfassungsrechts laden angesichts ihres fragmentarischen und hochabstrakten Charakters in besonderer Weise zu vorpositiven Fragestellungen, Erwartungen und Sinnentwürfen ein.47 Die eingangs angesprochenen einfachgesetzlichen Kontroversen begründen die Vermutung, daß es unter der Decke der gängigen verfassungsrechtlichen Grundaussagen kräftig brodelt.
45 Vgl. Smend, in: Das Bundesverfassungsgericht (1971), S. 16: „Das Grundgesetz gilt nunmehr praktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt, und die Literatur kommentiert es in diesem Sinne." 4 « Ehmke, W d S t R L 20 (1963), S. 56. 47 Höfling, Grundrechtsinterpretation, S. 77 f.; s. auch ders., Jura 1994, 169 sowie allgemein zur Auslegung der Grundrechte Stern, Staatsrecht III/2, § 95, insbesondere IV.2 ( = S. 1633 ff. [1694ff.]).
1. Kapitel: Einleitung
10
Indiziert der nicht offen ausgetragene Dissens eine Sinnkrise des Prinzips des gesetzlichen Richters als solchem, so muß über den Sinn dieses Verfassungsgrundsatzes nachgedacht und geredet werden. Mit logischen Deduktionen und dogmatischen Ableitungen allein sind diese Schwierigkeiten nicht zu meistern, sondern es ist nach einer überzeugenden Erklärung dafür zu suchen, worin der Wert und die Funktion dieses Verfassungsgrundsatzes für unser heutiges Rechtssystem liegen. Dieser weit ausgreifende gedankliche Ansatz ist schließlich aus einem weiteren Grund geboten. Die Einsicht, daß das Verstehen eines Textes ( z . B . des Wortlauts des Art. 1 0 1 1 2 G G ) auch vom Vorverständnis des Interpreten abhängt, 4 8 gilt unbezweifelbar auch für die vorliegende Arbeit. Die Erarbeitung der vorrechtlichen Grundlagen ist somit zugleich Ausdruck des Ringens um den eigenen Standpunkt. Hiermit verbindet sich das Bemühen, das auf diese Weise reflektierte Vorverständnis des Autors transparent zu machen und hierdurch einen Beitrag für einen offenen Dialog zu leisten.
2.
D i e W a h l des r i c h t i g e n B l i c k w i n k e l s
Der Forscher kann sich seinem Untersuchungsobjekt aus unterschiedlichen Richtungen nähern. Bisweilen ist es auch geboten, den Standort zu wechseln, um den zu beobachtenden Gegenstand bestmöglich zu erfassen. Ebenso verhält es sich bezüglich der vorliegend zu untersuchenden Thematik, Anspruch und Wirklichkeit („Sollen" und „Sein") des gesetzlichen Richters miteinander zu vergleichen. Der erste Teil der Wegstrecke besteht darin, das Profil der normativen Anforderungen zu entfalten. Diese vorrechtlichen und verfassungsdogmatischen Überlegungen sind notwendigerweise abstrakt; sie bedingen eine Annäherung aus der Vogelperspektive, um aus der Distanz und (im wesentlichen) ohne Ablenkung durch die Besonderheiten einzelner Verfahrenskonstellationen oder Fallgestaltungen eine Vorstellung davon zu gewinnen, was dieser Grundsatz seinem Wesen nach besagt. Auf diese Folie sind anschließend die gerichtsorganisatorischen und verfahrensrechtlichen Ausformungen des einfachen Gerichtsverfassungs- und Strafprozeßrechts aufzutragen. Hier wird gleichsam aus der Froschperspektive der Blick vom Justizalltag auf den Himmel des Verfassungsrechts gerichtet, um festzustellen, inwieweit die konkreten Erscheinungsformen des einfachen Rechts den abstrakten Vorgaben entsprechen, oder gegebenenfalls zu beurteilen, ob das Zurückbleiben hinter dem verfassungsrechtlichen Leitbild aus besonderen Gründen gerechtfertigt werden kann. Für den abschließenden Versuch, die Ergebnisse der Einzelbetrachtungen zu bündeln, ist hingegen wiederum eine die Gesamtheit umfassende Perspektive zu wählen. Das Hin- und Herschalten zwischen dem Blick „von o b e n " und jenem „von unten" trägt dem Unterschied zwischen der verfassungsrechtlichen und der einfachgesetzlichen Ebene Rechnung. Hinsichtlich einer anderen Ausrichtung ist die Perspektive hingegen starr: Die Vorgänge in der Justiz können im Rahmen dieser Arbeit ausschließlich „von auß e n " beobachtet werden. Die Position des Externen bringt unbestreitbar Nachteile mit
48 Vgl z u r Bedeutung des Vorverständnisses für die juristische Hermeneutik Esser, Vorverständnis, S. 136 ff.; Hassemer, ARSP 72 (1986), 207ff.; Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 46.
1. Kapitel: Einleitung
11
sich. Die Justiz gilt als eine „stille und wenig durchschaubare Gewalt", 4 9 über deren Arbeitsweise, interne Gepflogenheiten und Absprachen Außenstehende nur wenig erfahren. 50 Für die hier interessierende Problematik ist dieses Erfahrungsdefizit insofern mißlich, als sich die Beurteilung des dem Prinzip des gesetzlichen Richters tatsächlich zukommenden Stellenwertes nicht auf eine Analyse des „toten" Buchstabens des Gesetzes zurückziehen kann, sondern auch die Lebenswirklichkeit im Umgang mit diesen Normen in den Blick nehmen muß. Dient das Prinzip des gesetzlichen Richters ganz allgemein der Vermeidung von Manipulationen und kommen nach inzwischen einhelliger Ansicht auch justizinterne Vorgänge als Verstöße gegen Art. 101 I 2 G G in Betracht, so ist es naturgemäß von Interesse, wie die einzelnen Zuständigkeitsnormen gehandhabt werden und welche Motive diese Handhabung bestimmen. Es k o m m t hinzu, daß der Forderung nach größerer Strenge prinzipiell der Einwand entgegengehalten werden kann, die bestehenden Spielräume seien im Interesse der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege unverzichtbar. Ob diese Argumentation berechtigt ist, oder ob sie nur vorgeschoben wird, um jede Schmälerung der mit den Entscheidungsspielräumen einhergehenden Machtbefugnisse abzuwehren, ist bisweilen schwer zu sagen. Das gilt insbesondere dann, wenn einem die Arbeitsabläufe der Justiz nicht aus eigenem Erleben vertraut sind. Lassen sich die mit der Position des Außenseiters verbundenen Nachteile auch nicht in Abrede stellen, so sind sie andererseits auch nicht von solchem Gewicht, daß sie die Sinnhaftigkeit des Untersuchungsvorhabens überhaupt in Zweifel ziehen könnten. Der Hinweis, daß der „Theoretiker ... immer leicht in Gefahr (ist), dem Perfektionismus zu erliegen", 51 ist ebenso wohlfeil wie der gegen den Wissenschaftler denkbare „Vorwurf eines praxisfernen rechtsstaatlichen Asthetizismus". 5 2 Die Feststellung, daß „die Justiz gegen Außenkritik weitgehend immun und Selbstkritik nicht jedermanns Sache ist", 53 ist gewiß nicht so zu verstehen, daß hiermit die Justiz als Dritte Staatsgewalt generell jeglicher Kritik enthoben sein soll. Damit ist die grundsätzliche Schwierigkeit jedoch vorgezeichnet: Sofern der Untersuchende „von außen k o m m t , wird ihm die Legitimation oder das Vermögen abgesprochen, etwas Triftiges zu sagen. Sofern er von innen heraus arbeitet, wird er als ,Nestbeschmutzer' (mit der Attributierung entsprechender Motive) geächtet, seine Unbefangenheit in Frage gestellt - zusammengenommen implizierte das, eine wissenschaftliche Forschung auf diesem Feld auszuschließen." 5 4 Die Alternative eines der Justiz angehörenden Forschers ist schon deshalb wenig realistisch, weil die Bewältigung der Alltagsarbeit wohl kaum hinreichend Zeit lassen würde, den Stellenwert des gesetzlichen Richters in der erforderlichen Breite auszuloten. Hiervon abgesehen bliebe ein noch so profunder Werkstattbericht aus dem Innenleben der Justiz dem Vorbehalt ausgesetzt, daß es sich um individuelle Erfahrungen handelte, die nicht ohne weiteres als allgemeingültig angesehen werden könnten. Ist eine „ideale" Forscherperson, die in gleichem Maße über den wissenschaftlichen Weitblick des Theoretikers und über die intime Kenntnis des Strafrechtspraktikers verfügt, hiernach kaum vorstellbar, so führt 4
*
Limbach, D R i Z 1995, 170. Lilie, O b i t e r dictum, S. 17. 51 Diese (auf die Vorlagepflicht bezogene) Ä u ß e r u n g s t a m m t von Sarstedt, Revision 4 , Rn 5 2 (in der folgenden Auflage des W e r k e s von Sarstedt/Hamm ist sie nicht m e h r enthalten). " Vgl. (bezüglich der Z u g a n g s h ü r d e n zum BVerfG) Scblink, N J W 1984, 94. " Vgl. Wassermann, N J W 1994, 2 1 9 6 . 54 Fabricius, Selbst-Gerechtigkeit, S. 34. 50
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1. Kapitel: Einleitung
kein Weg daran vorbei, die unterschiedlichen Denkweisen und Erfahrungshorizonte als Chance für einen Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis zu begreifen. Überdies ist das Manko, nicht über eigene Justizerfahrungen zu verfügen, keineswegs gleichbedeutend mit der Sorge, die Belange der Justizpraxis blieben vollständig außer Betracht. Denn neben einschlägigen Gerichtsentscheidungen gewähren sowohl die weithin von Justizpraktikern verfaßten Kommentierungen zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz als auch zahlreiche aus der Feder von Angehörigen des Justizstabes stammende Einzelbeiträge einen Einblick in die praktischen Zusammenhänge der Strafjustiz. Ein weiterer Aspekt des „Außenseiter"-Problems soll anhand einer persönlichen Begebenheit dargestellt werden. Als ich am Anfang meiner Überlegungen stand, erklärte mir ein erfahrener Oberstaatsanwalt sinngemäß, natürlich werde in der Praxis bisweilen „getrickst", doch würde dies gewiß niemand in einer Weise eingestehen, die für meine Veröffentlichung verwertbar wäre. Auf bloße Mutmaßungen und Spekulationen, die leicht als haltlose Verdächtigungen und Unterstellungen zurückgewiesen werden könnten, ließe sich aber kaum ein fundiertes Werk gründen. Hinter dieser Äußerung stand nicht die Arroganz des „Täters", der weiß, daß ihm seine Verfehlungen nicht nachzuweisen sind, sondern es handelte sich durchaus um einen wohlmeinenden Hinweis, der mir die Schwierigkeit meines Unterfangens vor Augen führen sollte. Im ersten Moment wirkte der Vorhalt entmutigend, beim nochmaligen Überdenken bestätigte er hingegen die Notwendigkeit, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen; denn die Konsequenz, sich resignativ mit möglichen Manipulationen abzufinden, weil viele Fälle unerkannt bleiben und der Einzelfallnachweis regelmäßig nicht zu führen ist, stellt keine akzeptable Alternative dar. Die geschilderte Begebenheit bietet zugleich Gelegenheit, die Perspektive im Verhältnis von konkreten Einzelfallen und abstrakten Überlegungen zurechtzurücken. Die vorliegende Untersuchung ist kein „Tribunal", das mit einer „manipulativen" Justiz ins Gericht geht, und das vorliegende Buch ist kein „Sensationsreport", der darauf angelegt ist, möglichst viele Justizskandale zusammenzutragen. Angesichts der Tatsache, daß das Prinzip des gesetzlichen Richters jeglicher Manipulationsge/a^r vorbeugen will, ist eine auf die Strukturen der Gerichtsorganisation und der Zuständigkeitsregelungen gerichtete Betrachtung geboten. Hierbei sind spektakuläre Einzelfälle nicht ohne Wert; denn sie erhellen schlaglichtartig mögliche Gefährdungslagen. Letzlich sind derartige Vorkommnisse aber nur Mittel zum Zweck. Das zeigt sich bereits daran, daß selbst der wasserdichte Nachweis von 50 Manipulationsfällen die Argumentation zuließe, derartige singuläre Erscheinungen blieben vor dem Hintergrund der immensen Zahl der jährlich bearbeiteten Fälle seltene „Ausreißer", die nicht auf den Justizbetrieb als solchen übertragen werden dürften. Eine solche Sichtweise führt am Kern des Problems vorbei. Läßt sich einerseits auf dem Wege der Einzelfallbetrachtung nicht zwingend der Nachweis erbringen, daß es strengerer Zuständigkeitsregelungen bedarf, so ist der Befund, daß die Staatsanwaltschaft nach dem gegenwärtigen Zuständigkeitsmodell im Extremfall zwischen mehr als zehn verschiedenen Gerichten oder Spruchkörpern wählen kann, 55 unter dem Gesichtspunkt des Prinzips des gesetzlichen Richters auch dann zu thematisieren, wenn 55 Achenbach, FS Wassermann (1985), S. 860; Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Grundrechte III/2, S. 564.
1. Kapitel: Einleitung
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sich überhaupt kein Fall manipulativer Steuerung nachweisen ließe. Im Hinblick auf die prophylaktische Zielsetzung dieses Grundsatzes ist es unerheblich, Manipulationen nicht beweisen zu können; maßgeblich ist vielmehr, Manipulationsmöglichkeiten zu erkennen und sie zum Anlaß für die Frage zu nehmen, welches Gefahrenmaß als noch tolerabel angesehen werden kann. Die Betonung der strukturellen Zusammenhänge (bei gleichzeitiger Zurückdrängung der individuellen M o m e n t e ) erleichtert die Diskussion insofern, als es möglich wird, die Probleme zu erörtern, ohne jeden Staatsanwalt oder Richter als potentiellen „Justizverbrecher" auf eine imaginäre Anklagebank zu setzen. Hierdurch verringern sich zugleich die Nachteile des außenstehenden Beobachters. Er muß nicht durch das Schlüsselloch starren, um die Justiz bei ihrem „manipulativen Treiben" zu überführen, sondern es reicht aus, typische Gefahrenkonstellationen plausibel zu machen und nach Möglichkeiten Ausschau zu halten, ihnen wirksam zu begegnen. Auf dieser Ebene ist der justizexteme Diskussionsteilnehmer nicht unmündiger Zuschauer, sondern gleichberechtigter G e sprächspartner. Das schließt nicht aus, daß es infolge unterschiedlicher Interessenlagen oder voneinander abweichender Gefahrbeurteilungen zu divergierenden Grundpositionen k o m m e n kann. Solche Auseinandersetzungen müßten gegebenenfalls geführt werden. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, daß es nicht allein um einen Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis geht. Das T h e m a des gesetzlichen Richters betrifft ebenso den Gesetzgeber und den rechtsuchenden Bürger. Auch diese Parteien des idealtypischen Diskurses verfügen lediglich über eine Außenansicht der Justiz, ohne daß hierdurch ihre Legitimation zur Mitsprache entfiele.
III. Gegenstand der Untersuchung 1.
D i e b r e i t e A n l a g e e i n e r a u f die Strafjustiz b e z o g e n e n U n t e r s u c h u n g als Ausgangspunkt
Als Verfassungsnorm gilt das Prinzip des gesetzlichen Richters für alle Gerichtszweige in gleichem M a ß e . D e n n o c h erscheint es aus mehreren Gründen gerechtfertigt, die Untersuchung dieses Grundsatzes auf den Bereich des Strafrechts zu konzentrieren. Ganz allgemein ist die Strafrechtspflege „staatliche Machtausübung par excellence", 5 6 bei der es „um die brutalsten Rechtsfolgen überhaupt" 5 7 geht. Deshalb kann die Strafjustiz mit Recht als diejenige Erscheinung bezeichnet werden, in der sich das politische Verhältnis des Staates zum Einzelnen und umgekehrt in seiner ganzen höchst empfindlichen Problematik offenbart, da hier der nach Gerechtigkeit verlangende und der Staatsmacht ausgelieferte Bürger besonders deutlich die Gefahren sieht, die v o m politischen Zweckdenken, von Staatsräson und Machtwillen für Freiheit und Existenz drohen. 5 8 Hiermit stimmt es überein, wenn die „Gesetzlichkeit" des Strafrichters als historischer Ausgangs-
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Gössel, GA 1980, 328.
Schünemann, S t V 2 0 0 0 , 1 5 9 . Dies gilt nicht allein im Hinblick auf Art und H ö h e der verhängten Sanktion, sondern es folgt bereits aus dem im Schuldspruch als solchem liegenden Unwerturteil; vgl. auch B V e r f G , N J W 1 9 9 8 , 4 4 3 f. 57
58
Eb. Schmidt,
SchwZStrR 73 ( 1 9 5 8 ) , 3 4 2 .
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1. Kapitel: Einleitung
punkt dieser Verfassungsgarantie angesehen wird. 59 Die enge Beziehung zwischen dem Strafprozeßrecht und dem Verfassungsrecht ist aber nicht nur eine historische Reminiszenz, sondern auch heute gilt das Strafverfahrensrecht als „Seismograph der Staatsverfassung". 60 Zudem hat auch das einfache Recht für den Strafprozeß in vielfältiger Weise stärkere Sicherungen eingebaut als bei anderen Verfahrensarten. 61 Hebt sich das Strafverfahrensrecht somit von den übrigen Prozeßordnungen durch ein höheres Maß an formaler Strenge ab, so erscheint es auch insoweit in besonderer Weise als Untersuchungsgegenstand für das Prinzip des gesetzlichen Richters prädestiniert. Auch bei einer Beschränkung auf den Bereich der Strafjustiz verbleibt allerdings ein allzu weites Themenfeld. Das gilt um so mehr, als aus den dargelegten Gründen weder von einem allgemeinen Konsens bezüglich des Prinzips des gesetzlichen Richters ausgegangen noch die Rechtsprechung des BVerfG ungeprüft als verfassungsrechtliche Grundlage übernommen werden kann. Darüber hinaus ist das den Art. 101 I 2 GG konkretisierende Normensystem überaus komplex und kompliziert. Um den „gesetzlichen" Strafrichter im Einzelfall bestimmen zu können, sind zahlreiche unterschiedliche Gesetzesnormen heranzuziehen, die die Organisation der Gerichte, die Ernennung von Berufsund Laienrichtern sowie die sachliche, örtliche und funktionelle Zuständigkeit zum Gegenstand haben. Selbst dies genügt nicht; denn der betreffende Spruchkörper wird sich regelmäßig erst aus dem Geschäftsverteilungsplan ergeben. Ist überdies der so ermittelte Spruchkörper mit mehr Richtern besetzt, als das Gesetz für die zu treffende Entscheidung vorsieht, so sind für die konkrete Zusammensetzung der Richterbank weiterhin die Grundsätze der jeweiligen spruchkörperintemen Geschäftsverteilung sowie die sich aus der Schöffenliste ergebenden Festlegungen zu beachten. Die Vielzahl der soeben angesprochenen Regelungen markiert jedoch nur den Kernbestand der auf dem Weg zur Konkretisierung des gesetzlichen Richters zurückzulegenden Wegstrecke. Die „Checkliste" verlängert sich bei der Berücksichtigung des Instanzenzuges sowie bei der Einbeziehung von „Störfällen" (Verhinderung oder Ausschluß eines Richters) oder sonstigen Komplikationen (z.B. Verfahren mit mehreren Beschuldigten). Trotz der hiermit verbundenen Stoffmenge und der Heterogenität der einzelnen Problembereiche (für die Zulässigkeit der Einrichtung von Hilfsstrafkammern sind beispielsweise völlig andere Erwägungen maßgeblich als für das staatsanwaltschaftliche „Wahlrecht" zwischen mehreren Gerichtsständen) soll die vorliegende Untersuchung breit angelegt werden. Hierfür spricht zum einen das Anliegen, eine Bestandsaufnahme über die dem Prinzip des gesetzlichen Richters beigemessene Bedeutung zu erstellen. Dieses Ziel geht über die Untersuchung eines einzelnen Problemsegments (etwa der sachlichen und/oder örtlichen Zuständigkeit der strafgerichtlichen Eingangsinstanz) hinaus; denn die auf einen vergleichsweise engen Ausschnitt begrenzte Betrachtung ließe notwendi" ]. Henkel, Gesetzlicher Richter, S. 13 (Fn 4); Kellermann, Gesetzlicher Richter, S. 51. 7 Vgl. Arzt, Strafrichter, S. 104. Ausdrücklich ablehnend Wipfelder, VB1BW 1982, 43; s. auch Stemmler, Befangenheit, S. 245 ff. i°8 Vgl. Träger, FS Zeidler Bd. I (1987), S. 125 f.; vgl. auch (Dehler, ZStW 64 (1952), 296 und Marx, Gesetzlicher Richter, S. 1 (Fn 2).
8. Kapitel: Der sachliche Schutzbereich des Art. 101 I 2 G G
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weisen diese Vorschrift als Verbot der Einmischung aus. Ein Anspruch auf eine bestimmt geartete staatliche Leistung ergibt sich hieraus jedenfalls nicht ohne weiteres. 109 Hiergegen liegt der Einwand nahe, daß ohne ein aktives Handeln des Staates der gesetzliche Richter gar nicht ermittelt werden kann. In den Worten des BVerfG 1 1 0 hat das vom Grundgesetz zum Verfassungssatz erhobene Postulat des gesetzlichen Richters „zur logischen Voraussetzung" einen Bestand von Rechtssätzen, die im voraus den im Einzelfall zuständigen Richter bezeichnen. Immerhin ließe sich fragen, ob dieser Gesichtspunkt tatsächlich die Kraft hat, den Art. 101 I 2 G G vom Abwehr- in ein Leistungsgrundrecht umzumünzen. Denn aus der Pflicht zum Tätigwerden folgt nicht automatisch ein entsprechendes subjektives Recht des einzelnen. Vielmehr wäre es grundsätzlich auch vorstellbar, daß objektiver und subjektiver Normgehalt insoweit auseinanderfallen. Hierfür ließe sich anführen, daß der Staat seiner Pflicht zur Aufstellung eines Normbestandes regelmäßig bereits zu einem Zeitpunkt nachkommen muß, in welchem der betroffene Bürger noch gar nicht Verfahrensbeteiligter ist. So kann etwa niemand unter Hinweis auf die Möglichkeit, daß er in Zukunft Beteiligter eines gerichtlichen Verfahrens werden könne, mit einer auf die Verletzung des Art. 101 I 2 G G gestützten Verfassungsbeschwerde geltend machen, daß die staatlichen Zuständigkeitsregelungen (gleichgültig, ob es sich insoweit um ein Gesetz oder etwa einen Geschäftsverteilungsplan handelt) nicht den Anforderungen genügen, die sich aus dem Prinzip des gesetzlichen Richters ergeben. Trotz dieses Bedenkens wird man im Ergebnis allerdings eine aus Art. 101 I 2 G G resultierende Leistungskomponente anerkennen müssen. Dies ergibt sich aus der Frage, was zu geschehen habe, wenn im Einzelfall mangels hinreichend bestimmter Regelungen ein Verfassungsverstoß gegeben ist. In dieser Konstellation besteht gewiß kein endgültig wirkendes Verfahrenshindernis, sondern es ist eine Pflicht anzunehmen, durch abstraktgenerelle Regelungen einen gesetzlichen Richter auch für den betreffenden Fall zu bestellen. Die aus der Gewährleistung des gesetzlichen Richters abzuleitende Leistungskomponente ist allerdings thematisch gebunden. Sie bezeichnet das Mittel, mit welchem der Staat das ihn treffende Einmischungsverbot erfüllt. 111 Insoweit ist die Aufstockung des Art. 101 I 2 G G um den Leistungsaspekt auch methodisch legitimiert; denn es bleibt die maßgebliche inhaltliche Verknüpfung zur Vermeidung manipulativer Eingriffe in die Zuständigkeitsordnung als dem charakteristischen Schutzgehalt des Prinzips des gesetzlichen Richter erhalten. 112 Diese „Zweckbindung" der Leistungskomponente wird miß-
1(19 Daß Art. 101 I 2 G G nur entgegen dem Verfassungswortlaut als positiver Anspruch interpretiert werden kann, bemerkt mit Recht Stern, Staatsrecht III/1, § 65 IV 2 ( = S. 6 0 4 ) . Unzutreffend ist es demgegenüber, wenn Marx (Gesetzlicher Richter, S. 6 0 ) den Wortlaut des Art. 1 0 1 1 2 G G für so zwingend erachtet, daß es „gar nicht angängig wäre, ihn anders zu verstehen als: Jedermann hat Anspruch auf seinen gesetzlichen Richter'".
ι » BVerfG Ε 2, 3 0 7 (319 f.); sachlich übereinstimmend 19, 5 2 ( 6 0 ) ; 2 7 , 18 ( 3 4 ) ; 4 0 , 3 5 6 ( 3 6 0 f . ) . i " Zu den Ausprägungen dieses Wandels von der Verbots- zur Gebotsnorm vgl. Hamm, Gesetzlicher Richter, S. 3 8 ff.; s. auch Gerleit, Gesetzlicher Richter, S. 1 1 4 f., 117, 141. i' 2 Insoweit läßt sich auch durchaus von einem „Anspruch" im Sinne eines „subjektive(n) Recht(s) des einzelnen auf,Zuteilung' des ihm zustehenden gesetzlichen Richters" sprechen (vgl. Schilken, Lexikon des Rechts 1 8 / 1 4 0 , S. 1). Zur Entwicklung des Grundsatzes des gesetzlichen Richters vom individuellen Abwehrrecht zu einem „Konnexinstitut der Garantie eines staatsorganisatorischen Formprinzips" vgl. Huber, A ö R 2 3 ( 1 9 3 3 ) , 5 7 f.
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Zweiter Teil: Der verfassungsrechtliche Gehalt des Art. 101 GG
achtet, wenn man sie dazu benutzt, ganz anders geartete Wertvorstellungen (so legitim diese für sich betrachtet auch sein mögen) auf die Ebene des der Verfassungsbeschwerde zugänglichen Verfassungsrechts zu heben.113 Die „Materialisierung" des Grundsatzes vom gesetzlichen Richter ist hiernach dem Einwand ausgesetzt, daß sie den auf die Manipulationsabwehr gerichteten Leistungscharakter des Art. 101 I 2 GG zu anderen Zwecken instrumentalisiert. Hierüber kann auch nicht der Rückgriff auf den allgemeinen Gedanken der Vertrauenssicherung hinwegtäuschen. Denn der spezifische Gehalt des Art. 101 I 2 GG konstituiert sich aus Mittel und Zweck, und beide dürfen nicht unbesehen gleichgesetzt werden, um das dogmatische Kunststück zu vollbringen, den umfassenderen Begriff des unparteilichen Richters in den engeren Begriff des gesetzlichen Richters zu integrieren.114 Es kommt hinzu, daß hierbei auch der Zweck eine starke Ausweitung erfährt. Unterscheidet man zwischen End- und Zwischenzielen bzw. zwischen Regelungszweck und legislatorischer Absicht, so wird deutlich, daß der allgemeine Vertrauensaspekt als hinter dem eigentlichen Normgegenstand anzusiedelnden Motiv erscheint, das sich nicht gut dazu eignet, die (enger abzusteckenden) Tatbestandsgrenzen zu bestimmen.115 Aus der gleichen Überlegung scheidet auch der Gleichheitssatz als tragfähige Begründung für die umfassende Extensivierung aus. Zwar enthält das Gebot der beiden Parteien gegenüber zu wahrenden „Äquidistanz" einen unübersehbaren Bezug zum Gleichbehandlungsgrundsatz, doch ändert dies nichts daran, daß Willkürabwehr und Rechtsgleichheit im Rahmen des Art. 101 I 2 GG nur ausschnitthaft angesprochen sind.116 Wiederum ist darauf zu beharren, daß der Blick auf den Endzweck nicht die thematischen Grenzen des Tatbestandes überspielen darf. Es kommt hinzu, daß sich Befangenheitsgründe auch erst im Verlauf des Rechtsstreits ergeben können. Die Gewährleistung des Art. 101 I 2 GG betrifft aber lediglich die Gleichheit auf dem Weg zum Richter, nicht jedoch die Gleichheit vor dem Richter117 schlechthin.118 Diskutabel erscheint allenfalls die Einbeziehung der gleichfalls auf den Schutz der Justiz vor staatlichen Eingriffen beschränkten richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 GG). 114 So (allerdings mit Blick auf eine Einbindung der Unparteilichkeit des Richters in Art. 97 G G ) Kollhosser, Verfahrensbeteiligte, S. 76; ihm folgend Voßkuhle, Rechtsschutz, S. 112 (Fn 293). 115 Uberspitzt formuliert würde niemand auf den Gedanken kommen, den prozeßrechtlichen Offentlichkeitsgrundsatz dem Art. 101 I 2 G G zuzuweisen, obwohl auch die Verfahrensöffentlichkeit dem Zweck dient, das Vertrauen der Bevölkerung in die Justiz zu stärken (vgl. BGHSt. 9, 280 [281]). Zutreffend bemerkt Rudolphi (in: SK/StPO, vor ξ 22 Rn 6) bezüglich der Befangenheits- und Ausschließungsregeln, daß „in mehr oder weniger deutlicher Weise wohl sogar alle Normen des Strafverfahrensrechts" dem Ziel der Sicherung der Vertrauenswürdigkeit dienen. Daß diese Zielrichtung nicht ausreicht, einen (sei es auch auf die Besetzung des Gerichts bezogenen) Aspekt zum Gegenstand des Art. 101 I 2 GG zu machen, zeigt auch der Hinweis, daß diese Norm keine Laienbeteiligung garantiert (vgl. hierzu BVerfGE 14, 56 [73]; 27, 312 [319f.]). Vgl. bereits oben 5. Kap. II.2. Zu dieser Unterscheidung vgl. Voßkuhle, Rechtsschutz, S. 107f. (der allerdings a.a.O. S. 112ff. der materiellen Interpretation des Art. 101 I 2 GG folgt). In ähnlicher Weise beschränkt Zuck (DRiZ 1988, 177) das Prinzip des gesetzlichen Richters auf den gerichtsverfassungsrechtlichen Status des Richters, von dem die für die Befangenheit einschlägige Art und Weise der Amtsausübung zu unterscheiden sei. 118 Auch die These, die Vorschrift des Art. 101 I 2 G G sei im Lichte einer „materiellen Verweisungstheorie" zu interpretieren (vgl. Hamm, Gesetzlicher Richter, S. 62 f., 73 ff., 89; s. auch Gerleit, Gesetzlicher Richter, S. 100 ff., 116 f. und Barbey, in: Isensee/Kirchhof [Hrsg.], Handbuch des Staatsrechts III, 116 117
8. Kapitel: Der sachliche Schutzbereich des Art. 101 I 2 GG
3.
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Anderweitige Möglichkeiten einer verfassungsrechtlichen Verankerung der U n p a r t e i l i c h k e i t des R i c h t e r s
Angesichts der gravierenden Bedenken, die gegen die von der herrschenden Meinung befürworteten Extensivierung des Art. 101 I 2 G G anzumelden sind, stellt sich die Frage, welche Konsequenzen sich aus diesem Befund ergeben. Ein maßvoller Umgang mit dem Problem wird den beiden denkbaren Extrempositionen, die Extensivierung entweder mit dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit zu belegen 1 1 9 oder aber sie als infolge jahrzehntelanger Übung durch das BVerfG sanktioniert anzusehen, 1 2 0 wenig abgewinnen können: Einerseits würde das „schwere Geschütz" des Vorwurfs der Verfassungswidrigkeit zu einer vertieften Auseinandersetzung über die dem BVerfG gesteckten Grenzen der Verfassungsinterpretation zwingen; 1 2 1 selbst wenn sich das harte Urteil am Ende bestätigen würde, wäre eine Änderung dieser Judikatur aber nur mit dem, nicht jedoch gegen das BVerfG möglich. Auf der anderen Seite statuiert die in § 31 I BVerfG G normierte Bindungswirkung natürlich kein wissenschaftliches Denkverbot, und auch das BVerfG ist nicht gehindert, von seiner bisherigen Interpretation abzurücken, wenn ihm dies aus überzeugenden Gründen dogmatisch geboten erscheint. 1 2 2 Es k o m m t hinzu, daß der vorliegende Streit nicht die Frage betrifft, ob der Unparteilichkeit des Richters Verfassungsrang zukommt, sondern darauf beschränkt ist, wie dieser Gesichtspunkt angemessen dogmatisch umzusetzen ist. Der Aspekt des Verfassungswandels oder des „Verfassungsgewohnheitsrechts" 1 2 3 steht aber einer Veränderung der dogmatischen Rubrizierung bei identischem Schutzumfang nicht entgegen. Die Frage, w o genau das Postulat der richterlichen Unparteilichkeit seinen Hort im Verfassungsgefüge des Grundgesetzes finden soll, ist für die Themenstellung der vorliegenden Arbeit nachrangig. Immerhin sollen die in Betracht kommenden Anknüpfungspunkte kurz skizziert werden, um deutlich zu machen, daß es zu der hier abgelehnten Zuordnung zum Prinzip des gesetzlichen Richters durchaus tragfähige Alternativen gibt. 1 2 4
§ 74 Rn 61 f.), beschreibt lediglich den dogmatischen Vorgang, ohne ihn wirklich zu begründen. Denn wenn das Prinzip des gesetzlichen Richters einen auch in der Gegenwart gültigen eigenständigen Gehalt aufweist, dann bleibt fraglich, warum neben diesem Inhalt auch qua Verweisung weitere Inhalte als Bestandteil dieses Verfassungssatzes ausgegeben werden dürfen »» Vgl. oben Fn 38. 120 In dieser Richtung Dierlamm, Ausschließung, Rn 286; Reicht, Gesetzlicher Richter, S. 58 ff (60); vgl. auch Kunig, in: v. Münch/Kunig, GGK, Art. 101 Rn 19. 121 Da die mit der Extensivierung verbundene Ausdehnung vom gesetzlich zuständigen zum in jeder Hinsicht „gesetzmäßigen" Richter (vgl. Degenhardt, in: Isensee/Kirchhof [Hrsg.], Handbuch des Staatsrechts III, § 75 Rn 26; Reicht, Gesetzlicher Richter, S. 58 f.) die Wortsinngrenze des Merkmals „gesetzlich" nicht überschreitet, hinge die Verfassungswidrigkeit davon ab, ob auch schon die Änderung des Normprogramms als unzulässig anzusehen ist. Vgl. hierzu F. Müller, Rechtslehre, S. 363ff. (370f.); Böckenförde, FS Lerche (1993), S. 11 ff. ( 1 2 f . ) und Stern, Staatsrecht I, § 5 III 2 ( = S. 161 f.). 122 So verneint das BVerfG in ständiger Rechtsprechung eine Bindung seiner selbst durch frühere Entscheidungen gemäß § 31 I BVerfGG; vgl. BVerfGE 77, 84 (104 m.w.N.); s. auch Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 425 ff.; Hesse, J Z 1995, 268 und Rennert, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 31 Rn 79. Ausführlich zur Bindungswirkung auch Sachs, FS Kriele (1997), S. 431 ff. (443f., 454f.). 121 Grundsätzlich ablehnend zur Möglichkeit verfassungsrechtlichen Gewohnheitsrechts Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, S. 144, 145 ff.; vgl. auch Blankenagel, Tradition, S. 129 ff. 124 Aufgrund der bisherigen Überlegungen (vgl. oben l b und 2c) kann eine Verankerung bei Art. 92
188 a)
Zweiter Teil: Der verfassungsrechtliche Gehalt des Art. 101 GG
Rechtsstaatsprinzip
(fair trial)
Eine naheliegende Möglichkeit zur verfassungsrechtlichen Fundierung des Unparteilichkeitspostulats bietet das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 GG) 1 2 5 . Damit der Rechtsstaat „zur Wahrheit werde", muß es - wie Otto Bähr126 bereits 1864 hervorhob - „eine Rechtsprechung geben, welche das Recht für den concreten Fall feststellt, und damit für dessen Wiederherstellung, wo es verletzt ist, eine unzweifelhafte Grundlage schafft". Bildet mithin die Gewährleistung eines sachgerecht ausgestalteten Gerichtsschutzes durch die Gerichte ein wesentliches Element des Rechtsstaates,127 und ist die Neutralität für die richterliche Tätigkeit „schlechthin konstituierend",128 so ergibt sich die Einbeziehung der richterlichen Unparteilichkeit in das Rechtsstaatsmodell nahezu von selbst. Hiermit steht in Einklang, daß Art. 6 1 1 EMRK jedermann das Recht auf Anhörung vor einem „unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht" einräumt.129 Ferner ließe sich ein zusätzliches Argument für diese Einbindung daraus ableiten, daß hierdurch die strukturelle Gemeinsamkeit zwischen der richterlichen Befangenheit und jener des Staatsanwalts130 stärker akzentuiert wird.
G G (hierzu tendiert Overhoff, Ausschluß, S. 39 f., 42; offen gelassen bei Bettermann, AöR 94 [1969], 2 7 1 ) oder Art. 97 GG beiseite gelassen werden. Gegen eine Verortung der richterlichen Unparteilichkeit in Art. 92 GG auch Dierlamm, Ausschließung, Rn 321 ff.; Gerdes, Ablehnung, S. 13 ff. (15) Riedel, Unparteilichkeit, S. 216ff. (219); s. auch Voßkuhle, Rechtsschutz, S. 110f.; zu einer dem Art. 101 I 2 GG vergleichbaren Ausgangssituation für eine Anbindung an Art. 97 GG vgl. Kollhosser, Verfahrensbeteiligte, S. 74 ff. 125 Zum Sitz des Rechtsstaatsprinzips im GG vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 0 Abschnitt VII Rn 30 ff. (35). Rechtsstaat, S. 192. 127 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2 0 Rn 64; vgl. auch BVerfGE 85, 337 (345); Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 IV Rn 16; Stern, Staatsrecht I, § 2 0 IV 5 ( = S. 838 ff.). 128 Voßkuhle, Rechtsschutz, S. 101; s. auch Stern, Staatsrecht II, § 43 I 4 ( = S. 897). 129 Zur Interpretation des Merkmals der „Unparteilichkeit" vgl. Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Art. 6 Rn 94ff. und Trechsel, GS Noll (1984), S. 393 ff.; s. auch Dörr, Faires Verfahren, S. 51 f. Auch im „Entwurf von Mindestgrundsätzen der Vereinten Nationen für das Strafverfahren" (abgedruckt in: ZStW 105 [1993], 668 ff.) ist die Forderung enthalten, daß die Gerichte unparteiisch sein müssen und die nationale Gesetzgebung Befangenheits- und Ablehnungsgründe bestimmen muß (a.a.O. S. 670 sub 4.[1]). 130 Zur Rückbindung der Problematik des befangenen Staatsanwalts an das Rechtsstaatsprinzip bzw. an den Grundsatz des „fair trial" vgl. Hackner, S. 67ff., 91 ff., 93 ff.; Schairer, Staatsanwalt, S. 30ff. (35 f.); Wohlers, Staatsanwaltschaft, S. 286ff. (288); vgl. auch BVerfG, J R 1979, 28 mit Anm. Bruns a.a.O. S. 31 f. Immerhin würde auch bei einer Verankerung der Unparteilichkeit in Art. 103 I GG der Schritt einer Übertragung auf die Staatsanwaltschaft wohl kleiner sein als im Falle der Anbindung an Art. 101 I 2 GG; vgl. hierzu Zuck, DRiZ 1988, 177. Aus der verfassungsrechtlichen strukturellen Übereinstimmung folgt freilich nicht unbesehen auch die gleiche Reichweite hinsichtlich der zur Ablehnung des Staatsanwalts führenden Befangenheitsgründe; vgl. Pawlik, NStZ 1995, 311 sowie ausführlich Hackner aaO S. 201 ff., 233 ff. (235 ff.). Zu der umstrittenen Frage, ob die Möglichkeit der Ablehnung eines befangenen Staatsanwalts im Wege einer gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung bzw. Analogie zu den §§ 22 ff. StPO oder unmittelbar aus dem „fair-trial"-Gedanken bzw. der Objektivitätspflicht der Staatsanwaltschaft zu entwickeln ist, vgl. die Zusammenstellung des Streitstandes bei Pawlik a.a.O. (Fn 16). S. ferner zur gesetzlich eingeräumten Ablehnungsmöglichkeit gegenüber weiteren Verfahrensbeteiligten Chlosta, SchlHA 1994, 137.
8. Kapitel: Der sachliche Schutzbereich des Art. 101 I 2 GG
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Eine Ableitung des Unparteilichkeitspostulats aus dem Rechtsstaatsprinzip 131 wird auch von solchen Autoren 1 3 2 nicht bestritten, die eine Extensivierung des Art. 101 I 2 G G bejahen. Denn die Z u o r d n u n g zu einem der in Art. 101 ff. G G normierten Justizgrundrechte bewirkt keine Trennung vom allgemeinen Rechtsstaatsprinzip, sondern es vermittelt gerade eine solche Beziehung. Sowohl das Prinzip des gesetzlichen Richters (Art. 1 0 1 1 2 G G ) als auch der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 I G G ) sind konkretisierende Ausprägungen des Rechtsstaatsgedankens, 1 3 3 die zu dem allgemeineren Grundprinzip nicht im Verhältnis der Exklusivität, sondern der Spezialität stehen. Angesichts der hohen Abstraktion, die der Begriff des Rechtsstaatsprinzips aufweist, mag es dogmatisch wünschenswert erscheinen, die jeweiligen Anforderungen nach Möglichkeit in den deutlicher konturierten Einzelaussagen des Grundgesetzes zu installieren. 134 Dennoch m u ß der Rückgriff auf das die Einzelverbürgungen überwölbende Dach des Rechtsstaatsprinzips möglich sein, w o die dogmatische „Schmerzgrenze" zwischen einer interpretatorischen Fortentwicklung und einer sinnändernden Umgestaltung überschritten ist.13S Die Staffelung zwischen den einzelnen Justizgrundrechten und dem dahinter stehenden allgemeinen Rechtsstaatsprinzip erhellt zugleich, daß die in diesem Spannungsverhältnis angesiedelten Probleme weniger die praktischen Ergebnisse als vielmehr die angemessene Systematisierung betreffen. Aus diesem Grund ist es erklärlich, daß die Neigung zur „Umbettung" eines Problemfeldes gering zu sein scheint, wenn das BVerfG ihm erst einmal einen Platz im Gesamtensemble der rechtsstaatlichen Gewährleistungen zugewiesen hat. Fragt man hingegen danach, warum das BVerfG im Jahre 1967 mit seinem (allzu) kühnen Sprung die Lösung über das Prinzip des gesetzlichen Richters gesucht und nicht auf den allgemeinen Rechtsstaatsgedanken zurückgegriffen hat, so dürfte der Grund hierfür darin liegen, daß das Rechtsstaatsprinzip nach der damals geltenden Anschauung keine taugliche Grundlage für eine Verfassungsbeschwerde bot. 136 Inzwischen hat das BVerfG jedoch in ständiger Rechtsprechung 1 3 7 die Möglichkeit anerkannt, Verstöße gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Recht auf ein faires Verfah-
131 Arzt, Strafrichter, S. 115; Dagtolou, FG Forsthoff (1967), S. 68f.; Krekeler, NJW 1981, 1633, 1638; Pawlowski, DÖV 1976, 505; Stern, Staatsrecht I, § 20 IV 5 ( = S. 847); Zipf, Strafprozeßrecht, S. 36; Zuck, DRiZ 1988, 178 f. (fair trial). 132 Dierlamm, Ausschließung, Rn 341 f.; Hey de, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, § 33 Rn 77; Riedel, Unparteilichkeit, S. 213; Wolf, Gerichtsverfassungsrecht, § 22 I 3 ( = S. 220). 133 Vgl. allgemein Bender, Befugnis, S. 352 f. („Das Grundrecht auf faires Verfahren ... überwölbt . .. als Grundsatz die ausdrücklichen Verfahrensgarantien der Justizgrundrechte, die nunmehr als dessen erste Positivierungen erscheinen."); Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 Abschnitt VII Rn 27. Speziell zu Art. 101 I 2 GG vgl. Heyde, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, § 33 Rn 77; zu Art. 103 I GG Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 I Rn 5 f., 9. Demgegenüber werden die Dinge systematisch auf den Kopf gestellt, wenn Schilken (Gerichtsverfassungsrecht, Rn 310) die Notwendigkeit und Fairneß des richterlichen Rechtsschutzes zum Gebot des gesetzlichen Richters zählt. 134
Zur „Stärkung von Rechtsstaatlichkeit durch die Reduktion des Rechtsstaatsprinzips" vgl. Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 455 ff. (s. auch a.a.O. S. 292 ff.). 135 Vgl. auch Steiner, Fairneßprinzip, S. 205 f. 136 Auf die Fassung des § 90 I BVerfG G rekurriert auch Riedel, Unparteilichkeit, S. 213 f. 137 BVerfG Ε 38, 105 (111); 57, 250 (274 f.); BVerfG, EuGRZ 1994, 73 (75); zur Entwicklung dieser Rechtsprechung Rüping, J Z 1983, 664; Steiner, Fairneßprinzip, S. 41 ff.
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Zweiter Teil: Der verfassungsrechtliche Gehalt des Art. 101 GG
ren in Verbindung mit Art. 2 I G G mit der Verfassungsbeschwerde anzugreifen. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung spricht nichts dagegen, eine unsachgemäße Rubrizierung des Unparteilichkeitspostulats zu korrigieren 138 und dem Grundsatz des gesetzlichen Richters um des Wertes der dogmatischen Klarheit willen den Schutzbereich zurückzugeben, der ihm zukommt.
b)
Art. 103 I GG und Art. 3 I GG
Für eine verfassungsrechtliche Einbettung des Unparteilichkeitspostulats kommt ferner der durch Art. 103 I G G gewährleistete Anspruch auf rechtliches Gehör in Betracht. 1 3 9 Vor jeder rechtsdogmatischen Analyse weist ein bildhafter Vergleich auf den bestehenden Sachzusammenhang hin: Ein befangener, voreingenommener Richter kann als „schwerhörig" charakterisiert werden; hat er beispielsweise ein persönliches Interesse am Ausgang des Rechtsstreits, so mögen beide Parteien aus entgegengesetzter Richtung an den Richter herantreten und ihr Anliegen vortragen, doch steht zu befürchten, daß nur der eine ein offenes Ohr findet, während der andere gleichsam gegen eine Wand redet. 1 4 0 Abstrakt formuliert beinhaltet der Verfassungssatz des Art. 103 I G G eine Kommunikationsgarantie; umgekehrt bewirkt die richterliche Voreingenommenheit eine Kommunikationsstörung. 1 4 1 Gegenüber einer Zuordnung zu Art. 1 0 1 1 2 G G böte die Anbindung an Art. 103 I G G zudem den Vorteil, daß das rechtliche Gehör nicht auf das Verhältnis des Richters zum Staat, sondern auf seine Beziehung zum rechtsuchenden Bürger zugeschnitten ist. Der durch den Kommunikationsbezug und den Wortlaut („vor Gericht") vermittelte „dynamische" Charakter trägt einer erst während der laufenden Hauptverhandlung auftretenden Befangenheit ungleich besser Rechnung als die vergleichsweise „statische" Gewährleistung einer formalen Zuständigkeitsordnung. 1 4 2 Schließlich ergibt sich aus dem
1.8 Dies gilt um so mehr, als hier der fair-trial-Grundsatz nicht zur Ableitung einzelfallbezogener Individualansprüche, sondern zur Begründung einer gesetzgeberischen Pflicht herangezogen wird, bei der Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens elementaren Gerechtigkeitsvorstellungen Rechnung zu tragen. Zu der primär an den Gesetzgeber gewandten Stoßrichtung des fair-trial-Prinzips vgl. Bender, Befugnis, S. 355; Störmer, Verwertungsverbote, S. 55. 1.9 Für eine „materielle Einbettung" des § 24 StPO in Art. 103 I G G plädiert Kühne, Strafprozeßlehre, Rn 411; vgl. auch Strate, FG Koch (1989), S. 261 ff. (269ff.); Zuck, DRiZ 1988, 177 sowie zur verfassungsrechtlichen Verankerung beim Gebot des „fair hearing" in Kanada Schwab/Gottwald, in: Habscheid, Effektiver Rechtsschutz und verfassungsmäßige Ordnung (1983), S. 31 (Fn 167). Teilweise werden auch Art. 1 0 1 1 2 GG und Art. 103 I GG gleichermaßen für betroffen erachtet oder auf die enge Verknüpfung beider Verfassungsnormen verwiesen; vgl. Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 10 Rn 55; F. Herzog, StV 1995, 374; Kopp, AöR 106 (1981), 612f. und Lamprecht, Mythos, S. 184; ders., NJW 1993, 2222 und 1999, 2792. Die Möglichkeit einer Einordnung bei Art. 103 I GG wird ferner angesprochen von J. Henkel, Gesetzlicher Richter, S. 165 und Kollhosser, Verfahrensbeteiligte, S. 77. 140 Vgl. auch Zuck, DRiZ 1988, 177 („Natürlich hört der befangene Richter nicht wirklich zu, sei es, weil er voreingenommen ist, also intellektuell gesperrt ist, sei es, weil persönliche Verärgerung ihn emotional hemmt.") und Chlosta, SchlHA 1994, 137. 141 Zum Kommunikationsbezug der Befangenheitsregelungen vgl. Kühne, Strafprozeßlehre, Rn 41 Off.; ihm folgend Geiter, Recht & Psychiatrie 1991, 17 und F. Herzog, StV 1995, 374. S. auch bereits Doerr, AöR 41. Bd. ( = N.F. Bd. 2) 1921, 85. 142 Nimmt man beispielsweise an, daß der Richter bereits am Ende der Beweisaufnahme oder während der Plädoyers die Urteilsformel niederschreibt, und bewertet man dieses Verhalten als einen Um-
8. Kapitel: Der sachliche Schutzbereich des Art. 101 I 2 GG
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Wortlaut des Art. 103 I GG („Anspruch") auch der Leistungscharakter dieser Verfassungsnorm ungezwungen, ohne daß es (wie dies für Art. 101 I 2 GG der Fall wäre) der Überdehnung eines „Anspruchs" bedürfte, der erst zuvor als Kehrseite eines Abwehrrechts konstruiert werden mußte. Eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit dieser Zuordnung findet nur vereinzelt 143 statt. Die insoweit vorgetragene These, beim Postulat der richterlichen Unparteilichkeit handele es sich bezüglich des Art. 103 I GG um einen „bloßen Schutzreflex", der von den „spezifische(n) Schutzimpulse(n) und Regelungsziele(n)" unterschieden werden müsse, 144 ist sehr viel leichter behauptet als bewiesen. 145 Auch der Gesichtspunkt, daß die einschlägigen Verfahrensnormen auf die „Besorgnis" der Befangenheit abstellen, daß es aber keine Besorgnis der Verweigerung des rechtlichen Gehörs gebe, 146 begründet keinen zwingenden Einwand. Abgesehen von der Frage, ob der Rekurs auf das Merkmal der „Besorgnis" wirklich noch zu dem verfassungsrechtlich zwingend vorgeschriebenen Maß gehört, in welchem der Gesetzgeber dem Postulat der Unparteilichkeit Rechnung tragen muß, 147 findet in dieser Gestaltungsform auch die Beweisnot bezüglich des wirklichen Bestehens einer Befangenheit ihren Niederschlag. 148 Vor allem aber darf die Rückwirkung der vom Rechtsuchenden gehegten Besorgnis der Befangenheit auf sein eigenes
stand, der die Besorgnis der Befangenheit begründet (vgl. Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 10 Rn 55; Sendler, FS Lerche [1993], S. 833 ff. [848 f.]; s. aber auch BGHSt. 11, 74ff.; hierzu Hanack, J Z 1972, 315), dann liegt es sehr viel näher zu sagen, der Angeklagte sei in seinem Recht auf Gehör verletzt, da er befürchten müsse, sein letztes W o r t (§ 258 II StPO) sei in den Wind gesprochen, als anzunehmen, daß der bis dato zuständige Richter im Augenblick der Niederschrift aufhöre, „gesetzlicher" Richter in diesem Verfahren zu sein. Hiergegen läßt sich auch nicht einwenden, daß sich die vom BVerfG (E 21, 139 [LS 2 und 146] )statuierte Pflicht zur Einräumung eines Ablehnungsrechts auf die Zuständigkeitsordnung auswirkt. Denn dies ist lediglich Konsequenz der „Therapie", während es für die sachgerechte Z u o r d n u n g darauf a n k o m m e n muß, w o die „Krankheit" ihren Sitz hat. 14! Vgl z u m folgenden Dierlamm, Ausschließung, Rn 329 ff. Inwieweit der „sprunghafte Anstieg von Verfassungsgerichtsentscheidungen zum rechtlichen G e h ö r " (a.a.O. Rn 333) ein Argument gegen diese Zuweisung bilden soll, ist unverständlich. Auch der Hinweis, daß das BVerfG („und zwar mit Bindungswirkung[!]") den Unparteilichkeitsgrundsatz in Art. 101 I 2 G G verankert sieht (a.a.O. Rn 335), formuliert lediglich das Problem, ohne etwas über die Richtigkeit dieser Auffassung zu besagen. 144
A.a.O. Rn 331 f. Vgl. zur Kritik an der Figur des Schutzreflexes (im Z u s a m m e n h a n g mit der strafrechtlichen Rechtsgutslehre) Sowada, Notwendige Teilnahme, S. 95 f. Auch die Beschränkung des Gehörgrundsatzes auf drei Elemente (Information über den Verfahrensstand, Recht zur Äußerung, Recht auf Berücksichtigung des Vorbringens; vgl. Dierlamm, Ausschließung, Rn 332) steht einer Rubrizierung der Unbefangenheit in Art. 103 I G G nicht entgegen. Denn das „,Anhörungsrecht' ist ... mehr als nur ,Rederecht'; es verpflichtet das Gericht auf einen offenen unvoreingenommenen Kommunikationsprozeß" {Strauch, FS Mallmann [1978], S. 346; s. auch Voßkuhle, Rechtsschutz, S. 116 [Fn 327] und BKRüping, Art. 103 I Rn 4f.). Z u r historischen Verbindung zwischen dem Postulat richterlicher Unparteilichkeit und dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs vgl. Rüping, Gehör, S. 23, 30. 145
144 Zuck, DRiZ 1988, 177 (rechte Spalte); freilich müßte nach Ansicht von Zuck (a.a.O. linke Spalte) auch die auf den gesetzlichen Richter abstellende Auffassung eigentlich auf die „Besorgnis" verzichten. 147 Konkret wäre zu fragen, ob es verfassungswidrig wäre, wenn das Gesetz lediglich ein Recht zur Ablehnung des befangenen (und nicht bereits des befangen erscheinenden) Richters vorsähe. Da die Anhänger einer an Art. 101 I 2 G G orientierten Lösung das Ablehnungsrecht nur in einem Kernbereich (vgl. oben Fn 69) verfassungsrechtlich gewährleistet sehen, müßte sich für sie die Frage ebenfalls stellen. ι « Hackner, Staatsanwalt, S. 89; Trechsel, GS Noll (1984), S. 394.
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Zweiter Teil: Der verfassungsrechtliche Gehalt des Art. 101 GG
Prozeßverhalten nicht außer acht bleiben: „Die Unbefangenheit des Richters bezweckt die Unbefangenheit der Parteien, sich G e h ö r zu verschaffen und damit ein Urteil zu ermöglichen, das dem wahren Sachverhalt n a h e k o m m t . " 1 4 9 Als weitere Möglichkeit zur Verortung des Neutralitätsprinzips ist schließlich an den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I G G ) zu denken. 1 5 0 Freilich wiederholen sich hier die bisherigen Überlegungen. Zwar verletzt es das G e b o t der Gleichbehandlung, wenn der Richter sein Amt nicht unvoreingenommen ausübt. Für die Frage aber, inwieweit sich hieraus eine Pflicht des Gesetzgebers ableiten läßt, Ausschließungs- und Befangenheitsvorschriften in die jeweiligen Verfahrensordnungen einzustellen, ist letztlich auf jene Aspekte zurückzugreifen, die in den Justizgrundrechten bzw. im Rechtsstaatsgedanken verankert sind. Diese Normierungen erweisen sich somit gegenüber dem Art. 3 I G G als die spezielleren, weil sachnäheren Regelungen.
4.
D o g m a t i s c h e K o n s e q u e n z e n e i n e r rein f o r m a l e n I n t e r p r e t a t i o n des A r t . 1 0 1 I 2 G G
Die Ablehnung einer „Materialisierung" des Art. 101 I 2 G G hat zur Folge, daß einige strafprozessuale Streitfragen, die gemeinhin (auch) unter dem Gesichtspunkt des gesetzlichen Richters diskutiert werden, aus der vorliegenden Untersuchung auszuschließen sind. Das gilt insbesondere für die These, daß ein schlafender, tauber oder blinder Richter insoweit, als er maßgebliche Umstände des Verfahrens nicht wahrnehmen könne, nicht als „gesetzlicher" Richter anzusehen sei. 151 Auf der Ebene der strafprozessualen Revision ist zwar die Rüge der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts (§ 3 3 8 Nr. 1 S t P O ) einschlägig; 1 5 2 ob die Besetzung tatsächlich fehlerhaft war, kann aber nicht aus dem Schutzgehalt des Art. 101 I 2 G G heraus beantwortet werden, 1 5 3 sondern dies ist anhand der Anforderungen zu bestimmen, die sich aus dem strafprozessualen Unmittelbarkeitsprinzip ergeben. 1 5 4
149 Strate, FG Koch (1989), S. 271; vgl. auch Kühne, Strafprozeßlehre, Rn 410, 411 und den dortigen Hinweis auf BVerwGE 17, 170 ff. Insoweit erscheint auch das von Zuck (DRiZ 1988, 177) geäußerte Bedenken überwindbar, daß Art. 103 I GG nicht die Berücksichtigung von Fallkonstellationen gestatte, die durch massive Spannungen zwischen dem Richter und dem Verteidiger des Angeklagten gekennzeichnet sind. 150 Vgl. hierzu Dierlamm, Ausschließung, Rn 337 ff.; Overhoff, Ausschluß, S. 40 ff. und Riedel, Unparteilichkeit, S. 13 ff., 214. 151 So Wolf, Gerichtsverfassungsrecht, § 7 IV ( = S. 71); grundsätzlich ebenso Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, Rn 7; Kissel, GVG, Rn 64 jeweils zu § 16; Schilken, Gerichtsverfassungsrecht, Rn 309; Schmidt-Bleibtreu, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 101 Rn 13; s. auch (vor BVerfGE 21, 139 ff.) Gottschalk, Gesetzlicher Richter, S. 70ff. und E.G. Richter, JZ 1961, 688. Vgl. allgemein zum Einsatz blinder Richter H.-E. Schulze, MDR 1995, 670 ff. 152 LR-Hanack, Rn 38 ff.; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 10ff. jeweils zu § 338; vgl. auch Mehle, Tendenzen, S. 125 f. ! » Ebenso]. Henkel, Gesetzlicher Richter, S. 175 ff. (176, 179); ders., DÖV 1976, 243; s. auch Saal, Jura 1998, 651. 1,4 Vgl. Geppert, JK, StPO § 338 Nr. 1/1; s. auch ders., Unmittelbarkeit, S. 147 ff. Zu der (umstrittenen) Frage, ob körperliche Eignungsmängel eine Ablehnung wegen der Besorgnis der Befangenheit
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Im Sinne der hier vertretenen Sichtweise hat auch das BVerfG (in einer Kammerentscheidung) 1 5 5 bezüglich der Mitwirkung eines blinden Richters unlängst hervorgehoben, daß der Anwendungsbereich des § 3 3 8 Nr. 1 StPO über den Schutzbereich des Art. 1 0 1 1 2 G G hinausgeht. Vom Schutzbereich dieser Verfassungsnorm werden hiernach „jedenfalls solche persönlichen Eignungsmerkmale nicht erfaßt, die den Schutzzweck der N o r m , Eingriffe Unbefugter in die Rechtspflege zu verhindern und das Vertrauen der Rechtsuchenden und der Öffentlichkeit in die Unparteilichkeit und Sachlichkeit der Gerichte zu schützen, nicht berühren". Deshalb könnten „Mängel in der physischen oder psychischen Konstitution des Richters ... wie etwa Blindheit, Taubheit, Schwerhörigkeit, Krankheit oder Übermüdung ... im Einzelfall zu Verletzungen des Anspruchs auf rechtliches G e h ö r (Art. 103 I G G ) oder auf ein rechtsstaatlich faires Verfahren (Art. 2 I G G in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes) führen. Mit dem Anspruch auf den gesetzlichen Richter haben sie jedoch nichts zu tun." 1 5 6
a)
Das systematische Verhältnis der §§ 22 f f . StPO zur Garantie des gesetzlichen Richters
Die Ablehnung der „Materialisierung" des Art. 101 I 2 G G bildet zugleich die Grundlage für die Klärung des dogmatischen Verhältnisses zwischen den stafprozessualen Ausschließungs- und Befangenheitsnormen (§§ 2 2 f f . S t P O ) und dem Verfassungsprinzip des gesetzlichen Richters. Eine ausführliche Systematisierung der insoweit denkbaren Konzeptionen hat Rainer Hammis? vorgestellt. Er unterscheidet zunächst grob zwischen der „Regel-Ausnahme-Theorie" sowie den „formalen" und den „materiellen" Verweisungstheorien, wobei die beiden zuletzt genannten Modelle jeweils eine weitere Differenzierung erfahren. Die „Regel-Ausnahme-Theorie"lss ist dadurch gekennzeichnet, daß das Prinzip des gesetzlichen Richters ganz strikt von dem Problemkreis der Unparteilichkeit getrennt wird mit der Folge, daß sich Ausschluß und Ablehnung eines Richters als Ausnahme von der (den alleinigen Gegenstand des Art. 1 0 1 I 2 G G ausmachenden) formalen Zuständigkeitsordnung darstellen. Hiernach wird der Richter nicht wegen seiner Befangenheit unzuständig, sondern er wird ersetzt, obwohl er zuständig ist. Die gesetzlich zugelassene Richterentziehung bezieht ihre Legitimität aus dem Umstand, daß das „Prinzip der Neutralität" gegenüber dem Prinzip der normativen Vorausbestimmung als das stärkere angesehen wird. 1 5 9 Das insoweit weichende Prinzip der gesetzlichen Zuständigkeitsordbegründen können, vgl. (bejahend) Arzt, Strafrichter, S. 101 ff. (106); verneinend hingegen Götz, Befangenheit, S. 199 ff. (203) und Stemmler, Befangenheit, S. 245 ff. 155 BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats) NJW 1992, 2075 f. (die nachfolgenden Zitate befinden sich a.a.O. S. 2075). 156 Zustimmend Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 101 Rn 2a. Für eine Zuordnung zu der Problematik zu Art. 103 I GG auch Degenhardt, in: Sachs, GG, Art. 101 Rn 22; vgl. ferner Mehle, Tendenzen, S. 128 (Erfordernis richterlicher Aufnahmefähigkeit als „Reflex des Anspruchs auf rechtliches Gehör") und Rüping, Strafverfahren, Rn 45. 157 Gesetzlicher Richter, S. 53 ff. (s. auch a.a.O. S. 63 ff.). 158 Die „Regel-Ausnahme-Theorie" dient Hamm zur Beschreibung der von Bettermann (AöR 94 [1969], 2 6 9 f . ) entwickelten Konzeption. 159 In ähnlicher Weise bezeichnet Marx (Gesetzlicher Richter, S. 117f.) die Ablehnungsvorschriften als eine „Art von Rechtfertigungsgründen . . ., die eine Abweichung von der ursprünglichen Zuständig-
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nung soll freilich sogleich wieder in seine Rechte in der Weise eintreten, daß der ausgeschlossene oder erfolgreich abgelehnte Richter durch einen geschäftsplanmäßig vorausbestimmten anderen Richter ersetzt wird. Im prinzipiellen Gegensatz zu diesem Modell besteht der Grundgedanke der „Verweisungstheorien" (in allen ihren Spielarten) 160 darin, daß sie die Ausschließungs- und Ablehnungsnormen in das Zuständigkeitssystem integrieren. Hieraus folgt, daß die Mitwirkung eines ausgeschlossenen oder befangenen Richters unter Umständen eine Verletzung des Prinzips des gesetzlichen Richters darstellen kann. Die „formalen Verweisungstheorien" orientieren sich hierbei an der Einhaltung der bestehenden verfahrensgesetzlichen Bestimmungen. Auf dieser Grundlage differenziert Hamm wie folgt: Nach der sog. „streng formalen Verweisungstheorie" läßt erst der die Ablehnung für begründet erklärende Beschluß den Richter zum ungesetzlichen werden. Wird das Ablehnungsgesuch hingegen zu Unrecht zurückgewiesen, so bleibt der abgelehnte Richter dennoch der gesetzliche und eine Verletzung des Art. 1 0 1 1 2 GG scheidet aus. Anders verhält es sich, wenn man die formale Theorie mit einer materiellen Komponente versieht und darauf abstellt, welchen Inhalt die Entscheidung richtigerweise hätte haben müssen. Maßgeblich für die Beurteilung der (Un-)Gesetzlichkeit des Richters ist auch dann der Zeitpunkt der Entscheidung über das Ablehnungsgesuch. Gesetzlicher Richter ist nach diesem Zeitpunkt aber nur diejenige Entscheidungsperson, bezüglich derer der Befangenheitsantrag zu Recht verworfen oder zurückgewiesen wurde. Hingegen liegt eine Richterentziehung vor, wenn entweder ein ausgeschlossener oder erfolgreich abgelehnter Richter weiter an der Verhandlung mitwirkt oder wenn dem Ablehnungsgesuch fehlerhaft nicht entsprochen worden ist. Die „materiellen Verweisungstheorien" wählen demgegenüber nicht die in den einfachgesetzlichen Verfahrensordnungen vorgesehene Entscheidung über die Ablehnung zum Anknüpfungspunkt, sondern rekurrieren unmittelbar auf den Befangenheitstatbestand. Auch insoweit bildet Hamm zwei Varianten: Zum einen kann man auf die Kenntnis zumindest eines Ablehnungsberechtigten von den die Besorgnis der Befangenheit begründenden Umständen abstellen; die Alternative besteht darin, daß der an sich formal zuständige Richter bereits in dem Zeitpunkt zum ungesetzlichen Richter wird, in dem die Umstände, die seine Unparteilichkeit zweifelhaft erscheinen lassen, zur Entstehung gelangen (sog. „streng materielle Verweisungstheorie"). Nach der hier vorgenommenen Weichenstellung liegt die Ablehnung der zuletzt dargestellten materiellen Verweisungstheorien auf der Hand. Denn ein Abstellen auf die Befangenheit als solche erscheint nur auf dem Boden der „Materialisierung" des Grundsatzes vom gesetzlichen Richter zulässig und konsequent. 161 Umgekehrt verdient auch die Konstruktion der „Regel-Ausnahme-Theorie" keinen Beifall, da die von ihr angebotene keit gestatten". Hingegen seien die Ausschließungsgründe als Bestandteil des Zuständigkeitssystems anzusehen {Marx a.a.O.). 160 Vgl_ a u ch die überblicksartige Zusammenstellung der vier Varianten bei Riedel, Unparteilichkeit, S. 259. 161 Vgl. Riedel, Unparteilichkeit, S. 259 f., der freilich auch zutreffend auf die in § 29 StPO und § 47 ZPO getroffene Regelung hinweist, nach welcher dem abgelehnten Richter vor der Entscheidung über das Ablehnungsgesuch nur (aber immerhin) die Vornahme unaufschiebbarer Handlungen gestattet ist. Nach Ansicht der „materiellen Verweisungstheorien" müßte der Gesetzgeber hier den „ungesetzlichen" Richter für (wenngleich eingeschränkt) zuständig erklärt haben.
8. Kapitel: Der sachliche Schutzbereich des Art. 101 I 2 G G
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Erklärung der Ersetzung des befangenen durch einen unbefangenen Richter unnötig kompliziert erscheint. Würde die Anwendung der allgemeinen Zuständigkeitsregelungen zur Bestellung eines ausgeschlossenen Richters führen, so wird nicht etwa dieser an sich zuständige Richter dem Rechtsuchenden legitimerweise entzogen, sondern die Suche nach dem gesetzlichen Richter ist noch gar nicht beendet, weil das Normensystem es verbietet, bei einem ausgeschlossenen Richter stehenzubleiben. In entsprechender Weise führt auch die einem Ablehnungsgesuch stattgebende Entscheidung den Prozeß der Ermittlung des gesetzlichen Richters um eine Stufe weiter.162 Diese Abgrenzungen entsprechen der Grundposition der „formalen Verweisungstheorien",163 deren dogmatischer Gehalt sich auch mit Hilfe der Rechtsinstitute des „Vorbehalts" und des „Vorrangs" des Gesetzes 164 verdeutlichen läßt. Im Hinblick auf Art. 10112 GG beinhaltet der Gesetzesvorbehalt die Pflicht zur Schaffung eines Systems zur normativen Vorausbestimmung des zur Entscheidung berufenen Richters; dieser Pflicht wird zum einen durch gesetzliche Vorschriften, zum anderen durch ergänzende, gleichfalls abstrakt-generell gestaltete Regelungen in Geschäftsverteilungsplänen Rechnung getragen. Der Gesichtspunkt des Vorrangs des Gesetzes verpflichtet demgegenüber alle Träger staatlicher Gewalt zur Befolgung dieser formalen Zuständigkeitsordnung.165 Lehnt man mit der hier vertretenen Sichtweise eine „Materialisierung" des Prinzips des gesetzlichen Richters ab, so ist das Unparteilichkeitspostulat für den aus Art. 101 I 2 GG folgenden Vorbehalt des Gesetzes ohne Bedeutung. Zwar mag der Gesetzgeber aus anderen verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten verpflichtet sein, im System der Zuständigkeitsnormen eine Korrekturmöglichkeit für den Fall der systembedingten Fehlzuweisung vorzusehen. Der aus Art. 101 I 2 GG resultierende Gesetzesvorbehalt ist aber rein formaler Natur; er beschränkt sich auf die Schaffung einer Zuständigkeitsordnung, die mittels genereller und abstrakter Merkmale eine Vorausbestimmung des zur Entscheidung berufenen Richters ermöglicht. Demgegenüber wendet sich der Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes an den Rechtsanwender, dem die gleichfalls ganz formal zu begreifende (wenngleich nicht deckungsgleiche) Pflicht auferlegt wird, den im Einzelfall zuständigen Richter zu ermitteln. Hierbei hat der Rechtsanwender alle (verfassungsmäßigen) zuständigkeitsrelevanten Normen beachten, da andernfalls der vom Regelungssystem vorausbestimmte Richter im Ergebnis verfehlt wird. Warum es die betreffenden Normen gibt, insbesondere ob sie auf einem dem Gesetzgeber eingeräumten Gutdünken beruhen oder ob der Gesetzgeber hiermit einem aus anderen Verfassungsnormen folgenden Gebot entspricht, ist aus der Perspektive des Rechtsanwenders gleichgültig.
162 Daß dieser Wechsel im Fall der Befangenheit möglicherweise erst während des Verlaufs des Prozesses eintritt, erzwingt - wie auch die Fälle des Richterwechsels nach Verhinderung zeigen - keine andere Beurteilung. 16' Damit ist der gegen die „Regel-Ausnahme-Theorie" erhobene Einwand, das Gebot des Art. 101 I 2 G G gelte angesichts des Wortlauts dieser Norm ohne jegliche Einschränkung (vgl. Hamm, Gesetzlicher Richter, S. 68 f.; Riedel, Unparteilichkeit, S. 2 4 0 f.; Dierlamm, Ausschließung, Rn 2 8 2 ) , für die vorliegende Konzeption ohne Bedeutung; im übrigen ist auf die Möglichkeit des Bestehens verfassungsimmanenter Schranken zu verweisen (vgl. auch Dierlamm a.a.O. Rn 2 8 3 [mit Fn 2 2 0 ] ) . 164 Vgl. Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Grundrechte III/2, S. 5 4 4 , 5 5 7 f . ; J. Henkel, Gesetzlicher Richter, S. 8 sowie oben 7. Kap. II. 2b (Fn 1 2 5 ) . 165 Marx, Gesetzlicher Richter, S. 67.
196
Zweiter Teil: Der verfassungsrechtliche Gehalt des Art. 101 GG
Unter Rückgriff auf den Aspekt des Vorrangs des Gesetzes kann nunmehr auch die Festlegung zwischen den beiden Spielarten der „formalen Verweisungstheorien" getroffen werden. Die insoweit maßgebliche Weichenstellung besteht darin, ob allein auf das Faktum der erfolgreichen Ablehnung abzustellen oder weitergehend danach zu fragen ist, ob einem gestellten Befangenheitsantrag richtigerweise hätte entsprochen werden müssen. Gehören die Ablehnungsvorschriften zu den zuständigkeitsrelevanten Normen, so tangiert die fehlerhafte Entscheidung eines Ablehnungsgesuchs das Recht auf den gesetzlichen Richter in gleicher Weise, wie dies bei unrichtiger Anwendung der die formale Zuständigkeit betreffenden Regelungen der Fall ist. Daher verdient die „materiell angereicherte" Variante der „formalen Verweisungstheorie" den Vorzug. 1 6 6
b)
Die Auslegung der
Befangenheitsnormen
Angesichts der Ablehnung einer Anreicherung des Prinzips des gesetzlichen Richters mit dem Unparteilichkeitspostulat gehört ein detailliertes Eingehen auf die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine zur Richterablehnung berechtigende Besorgnis der Befangenheit anzunehmen ist, 167 ebensowenig zum Gegenstand der vorliegenden Untersuchung wie das Problem der Ausschließung oder Ablehnung des vorbefaßten Richters. 1 6 8
Im Ergebnis ebenso Kollnig, NJW 1967, 2046. Vgl. ferner Overhoff (Ausschluß, S. 32ff.), der zwar den Richterausschluß, nicht aber das Ablehnungsrecht als von Art. 101 I 2 GG umfaßt ansieht. 167 Insoweit handelt es sich um eine Spezialmaterie, die in weiten Bereichen einer kasuistischen Bearbeitung bedarf und eine solche gerade auch in neuerer Zeit vielfach erfahren hat. Vgl. zur Befangenheit im Strafprozeß die Monographien von Arzt, Der befangene Strafrichter (1969); Gerdes, Die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit aufgrund von Meinungsäußerungen des Richters (1992); Götz, Untersuchungen zum Befangenheitsrecht (1988); Mahne, Der Befangenheitsantrag im Strafprozeß (1979); Semmler, Prozeßverhalten des Richters unter dem Aspekt des § 24 II StPO, insbesondere Verfahrensverstöße als Ablehnungsgrund; s. auch die bei Bremer/Schlothauer/Taschke/Weider, Rechtsprechung, § 24 Rn 2 f. in Leitsätzen zusammengestellte Judikatur. Bezüglich des Zivilprozesses vgl. M. Ernst, Die Ablehnung eines Richters wegen der Besorgnis der Befangenheit gemäß § 42 ZPO unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung der Sozialgerichtsbarkeit (1973); U. Horn, Der befangene Richter (1977); Nowak, Richterliche Aufklärungspflicht und Befangenheit (1991) und E. Schneider, Befangenheitsablehnung im Zivilprozeß (1993). 16» Vgl. hierzu BVerfGE 30, 149ff. und 165ff. (zu beiden Beschlüssen Arzt, NJW 1971, 1112ff.); ferner ausführlich Brandt-Janczyk, Richterliche Befangenheit durch Vorbefassung im Wiederaufnahmeverfahren (1978) und Dierlamm, Ausschließung und Ablehnung von Tatrichtern nach Zurückverweisung durch das Revisionsgericht (§ 354 Abs. 2 StPO), 1994. Vgl. ferner zum verwaltungsgerichtlichen Verfahren Reichl, Gesetzlicher Richter, S. 183 ff.; zum Zivilprozeß M. Ernst, Ablehnung, S. 221 ff. und Overhoff, Ausschluß, S. 120 ff. Im Schrifttum wird überwiegend die Möglichkeit einer allein auf die Vorbefassung gestützten Befangenheitsablehnung anerkannt; vgl. Arzt, Strafrichter, S. 80ff.; ders., JZ 1973, 33 ff. (35); Beulke, Strafprozeß, Rn 73 f.; Dahs, NJW 1966, 1691 ff. (1694ff.); Hanack, JZ 1971, 91; Mahne, Befangenheitsantrag, S. 25 ff.; Overhoff a.a.O. S. 107 ff.; Rieß, JR 1980, 388; Roxin, Strafverfahrensrecht, 9/10; SK/StPO-Rudolphi, § 23 Rn 17f.; Schlüchter, Strafverfahren, Rn 43 f.; Stemmler, Befangenheit, S. 170 ff. (180). Im Gegensatz hierzu läßt insbesondere die Rechtsprechung eine Ablehnung nur beim Hinzutreten besonderer Umstände (z.B. abträgliche Werturteile in den Urteilsgründen; zur Konkretisierung vgl. Dierlamm a.a.O. Rn 123 ff.) vgl. BGHSt. 21, 142 und 334 (342); 24, 336; ebenso Gössel, Strafverfahrensrecht, § 19 A IV 3 ( = S. 158); Götz, Befangenheit, S. 129ff. (139); Günther, DÖD 1995, 17f. (s. auch a.a.O. S. 16); KK-Kuckein, § 354 Rn 30; Ranft, Strafprozeßrecht, Rn 179 (a.E.); weitere Nachweise bei Dierlamm a.a.O. Rn 120 (Fn 13), der selbst noch strenger ist (a.a.O. Rn 234, 250); s. auch Klenke, DÖV 1998, 155 ff.
8. Kapitel: Der sachliche Schutzbereich des Art. 101 I 2 GG
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Dennoch ist bezüglich der Interpretation der Befangenheitsnormen ein grundsätzlicher Aspekt anzusprechen, der mit der Frage der „Materialisierung" des Art. 101 I 2 G G in unmittelbarem Zusammenhang steht. Das Gesetz konstituiert einen aus einem subjektiven und einem objektiven Element zusammengesetzten Prüfungsmaßstab, indem es (z.B. in § 2 4 II StPO und in § 4 2 II Z P O ) einerseits auf die „Besorgnis" der Befangenheit abstellt, andererseits aber hierfür einen Grund verlangt, der „geeignet" ist, Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen. 1 6 9 Die Gewichtsverteilung zwischen diesen Komponenten erfolgt im Schrifttum vielfach unter Rückgriff auf die Verankerung des Unparteilichkeitspostulats in Art. 101 I 2 G G . So vertreten mehrere Autoren 1 7 0 eine vorrangig objektive (und damit enge) Auslegung der Befangenheitsvorschriften mit dem Hinweis, die Ablehnungsregelungen bezweckten die Festlegung des gesetzlichen Richters und stünden somit ihrerseits unter dem besonderen Bestimmtheitsgebot, das dieser Verfassungsnorm eigen sei. 171 In gleicher Richtung wird teilweise eine zugunsten der normativen Zuständigkeitsordnung geltende Vermutung angenommen und der Verortung der Befangenheitsproblematik bei Art. 101 I 2 G G eine „restriktive Dynamik" 1 7 2 beigelegt. D o c h auch das gegnerische Lager 1 7 3 beruft sich für die Betonung der subjektiven Komponente auf die Extensivierung des Prinzips des gesetzlichen Richters. Wenn unter besonderer Berücksichtigung des Vertrauensaspekts als gesetzlicher Richter nur jene Entscheidungsperson anzusehen sei, deren Unparteilichkeit gewährleistet erscheine, dann verlange eine an Art. 1 0 1 1 2 G G ausgerichtete Interpretation im Zweifel eine Beurteilung zugunsten des Ablehnenden. 1 7 4 Gerade diese an denselben Umstand - die „Materialisierung" des Art. 1 0 1 1 2 G G - anknüpfende Gegenläufigkeit der Argumentation macht deutlich, daß sich durch die Extensivierung des Grundsatzes vom gesetzlichen Richter für eine bestimmte Spruchpraxis bezüglich der Befangenheitsablehnung nichts herleiten läßt; denn wer für eine „großzüg i g e r e ) " Auslegung der einschlägigen Bestimmungen eintritt, wird erst dann die Garantie des gesetzlichen Richters als wirklich gewährleistet ansehen. 1 7 5 Freilich stellt sich das Sachproblem des Spannungsverhältnisses zwischen der formalen Zuständigkeitsordnung und der am Neutralitätsprinzip orientierten Korrektur von Fehlzuweisungen auch bei einer Ablehnung der Extensivierung des Art. 101 I 2 G G . Sieht man aber, welche gedankliche Verwirrung aus der dogmatischen Vermengung gegensätzlicher (formaler und materieller) Gesichtspunkte erwächst, dann erweist sich die klare Gegenüberstellung der den Konflikt bildenden Interessen als dogmatischer Gewinn. 169 Zum subjektiv-objektiven Maßstab der herrschenden Meinung und zu abweichenden Konzeptionen vgl. Semmler, Prozeßverhalten, S. 138 ff. 170 Für eine primär objektive, tendenziell strenge Handhabung der Ablehnungsvorschriften treten unter Hinweis auf die Verankerung in Art. 101 I 2 GG ein Dierlamm, Ausschließung, Rn 231; Götz, Untersuchungen, S. 44 f.; Hamm, Gesetzlicher Richter, S. 99 ff. (104 ff.), 221 f. (s. aber auch a.a.O. S. 109 f., 120); Sarstedt,]Ζ 1966, 314; Semmler, Prozeßverhalten, S. 140ff., 151. Vgl. auch BGH, StV 1997, 449. 171 Vgl. Hamm, Gesetzlicher Richter, S. 104 f. 172 Semmler, Prozeßverhalten, S. 129. 173 Eine eher subjektive, von der Tendenz her großzügigere Auslegung der Befangenheitsnormen befürworten unter Hinweis auf die „Materialisierung" des Art. 101 I 2 GG Brandt-Janczyk, Befangenheit, S. 14 f.; Ernst, Ablehnung, S. 140 f.; Nowak, Aufklärungspflicht, S. 90; Stemmler, Befangenheit, S. 17 ff., 176; Teplitzky, MDR 1970, 107; s. auch Reichl, Gesetzlicher Richter, S. 184. 174 Nowak, Aufklärungspflicht, S. 90. 175 Gerdes, Ablehnung, S. 50; Horn, Richter, S. 120f.; Teplitzky, JuS 1969, 319.
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Zweiter Teil: Der verfassungsrechtliche Gehalt des Art. 101 GG
Bei der gebotenen Trennung zeigt sich, daß der aus dem Prinzip des gesetzlichen Richters resultierenden Forderung nach manipulationsfreier Richterzuweisung Genüge getan ist, wenn aufgrund abstrakt-genereller Vorausbestimmung geklärt ist, wer über den Befangenheitsantrag zu entscheiden hat 1 7 6 und welcher Richter im Falle der erfolgreichen Ablehnung den ausscheidenden Richter ersetzt. Vergegenwärtigt man sich, daß der in Art. 101 I 2 G G normierte bereichsspezifische Bestimmtheitsgrundsatz ein besonderes Schutzinstrument zugunsten des Rechtsuchenden darstellt, dann erscheint es ungereimt, wenn die für eine weitgehend objektive Betrachtung eintretende Literaturmeinung die ja ebenfalls dem Schutz des Angeklagten dienende Befangenheitsnorm des § 2 4 II StPO unter Berufung auf Art. 101 I 2 G G einschränken will. 1 7 7 Würde der Gesetzgeber dem Angeklagten im Strafverfahren beispielsweise das Recht einräumen, einen (Laien-)Richter bis zum Beginn der Verhandlung ohne Angabe von Gründen ablehnen zu können, und wäre für diesen Fall die Person des Nachrückers im voraus bestimmt, so mag man darüber streiten, o b diese Regelung eine unnötige Übertreibung wäre; ein Verstoß gegen Art. 101 I 2 G G wäre hierin wohl nicht zu sehen. In Wahrheit kollidieren bei der vorliegenden Problematik die Vertrauensschutzaspekte nicht mit dem Bestimmtheitsgebot, sondern mit Effektivitätsgesichtspunkten bzw. - negativ gewendet - mit der Befürchtung einer mißbräuchlichen Ausübung des Ablehnungsrechts durch den Angeklagten oder seinen Verteidiger. 1 7 8 Die Verzerrungen, die sich aus der „Materialisierung" des Art. 101 I 2 G G für das Verständnis des Prinzips des gesetzlichen Richters ergeben, sind jedoch nicht auf die Auslegung der Befangenheitsvorschriften beschränkt. Im Gegenteil beleuchtet dieses Problemfeld in geradezu symptomatischer Weise die grundsätzliche Gefahr, die mit der Vermischung formeller und materieller Gesichtspunkte einhergeht. „Materialisierung" drängt zur Abwägung und damit zur Relativierung 1 7 9 - eben dies b e k o m m t formal angelegten Schutzrechten schlecht mit der Folge, daß jene, die zur Stärkung und Aufwertung der Garantie des gesetzlichen Richters angetreten sind, der Aushöhlung und Aufweichung dieser Gewährleistung Vorschub leisten.
5.
D e r Streit u m die s o g . „ B l i n d l i n g s t h e o r i e "
Die grundsätzliche Dimension dieser Problematik läßt sich anhand des Streits um die sog. „Blindlingstheorie" verdeutlichen. Als der B G H 1 8 0 im Jahre 1 9 5 4 es als zum Begriff des gesetzlichen Richters gehörend bezeichnete, daß die einzelne Sache „blindlings" an ihn k o m m t , hatte er nur eine neue Bezeichnung 1 8 1 für das seit jeher mit diesem Prinzip verbundene Bestreben gefunden, die Richterzuweisung einzelfallunabhängig zu gestalten 176 Zum Problem, in welcher Reihenfolge mehrere Befangenheitsanträge zu entscheiden sind, vgl. BGH, NStZ 1996, 144. 177 Ebenso Arzt, Strafrichter, S. 7 f. 178 Zum Ineinandergreifen von prozeßökonomischen Erwägungen und dem Mißbrauchsargument vgl. Gerdes, Ablehnung, S. 51 ff., 53 f. m Vgl. auch zur Gefahr, daß sich die Grenzen des Normbereichs dieser Vorschrift immer mehr verflüchtigen, ]. Henkel, DÖV 1976, 244. ι«» BGHSt. 7, 23 (24). ·»' Vgl. Arndt, FS Schorn (1966), S. 10.
8. Kapitel: Der sachliche Schutzbereich des Art. 101 I 2 G G
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und abstrakt-generellen Normen zu unterstellen. 182 Zur „Theorie" avancierte die bildhaft einprägsame Wendung der „blindlings" erfolgenden Richterbestellung, als es um die schlagwortartige Kennzeichnung jener Position ging, die eine vollkommene Trennung von Einzelfall und Richterbestellung fordert(e) 1 8 3 . Obwohl die „Blindlingstheorie" einen tendenziell negativen Klang durch den Umstand erhalten hat, daß dieser Terminus insbesondere von jenen Autoren Verwendung findet, die diese Sichtweise als unpraktikable Übersteigerung der verfassungsrechtlichen Anforderungen ablehnen, 184 eignet sich dieser Begriff als Reizwort zur Offenlegung eines für das Verständnis des Art. 101 I 2 G G zentralen Problems, das durch den vom BVerfG favorisierten Sprachgebrauch eher zugedeckt wird. Das BVerfG verlangt in ständiger Rechtsprechung, 1 8 5 daß der gesetzliche Richter sich im Einzelfall „möglichst eindeutig" aus einer allgemeinen N o r m ergibt. Dieser Formel kann jeder unbedenklich zustimmen; dies freilich nicht zuletzt deshalb, weil sie ihrerseits zweideutig insofern ist, als sie den Bezugspunkt des Wortes „möglichst" nicht klar zu erkennen gibt. 186 Z u m einen läßt sich - in sachlicher Ubereinstimmung mit der Blindlingstheorie - die Rechtsprechungsformel streng interpretieren, indem die mit dem Begriff „möglichst" verbundene Einschränkung nur auf solche Umstände bezogen wird, die aus sachlogischen Gründen denknotwendigerweise einer abstrakt-generellen Regelung nicht zugänglich sind. 187 Z u m anderen ist jedoch auch eine weitere Deutung in dem Sinne denkbar, daß die Pflicht zur eindeutigen Regelung der Richterzuweisung nur insoweit gilt, wie dies ohne Mißachtung von sachgerechten Praktikabilitäts- und Zweckmäßigkeitserwägungen ohne Nachteile für die Funktionsfähigkeit des Justizsystems möglich ist. Die sprachliche Wendung von der „möglichst eindeutigen" Bestimmung des zur Entscheidung berufenen Richters kaschiert damit den Grundkonflikt zwischen einer „strengen" und einer „flexiblen" Ausdeutung des Prinzips des gesetzlichen Richters. Dieser Gegensatz kommt insbesondere hinsichtlich der Frage zum Tragen, inwieweit die Zuständigkeit des Richters von Wertungen und Ermessensentscheidungen abhängig gemacht werden darf.
182 Früher hatte man zur Umschreibung dieses Anliegens den Terminus der „Ständigkeit" der Gerichte verwandt (vgl. Helmut Müller, Ständigkeit, S. 11); heute ist teilweise vom „Abstraktionsprinzip" die Rede (vgl. BVerwG, 1987, 2031; 1988, 1339). Z u m Gebot einer „blindlings" erfolgenden Richterzuweisung vgl. BVerfG(Plenum)E 95, 3 2 2 (329); BVerfG, NJW 1995, 2703; O L G Bremen, NJW 1965, 1447 ( 1 4 4 8 ) ; OLG H a m m , StV 1998, 6 (7); O V G Hamburg, NJW 1994, 274 (275 m.w.N.). 181 Vgl. Kellermann, Gesetzlicher Richter, S. 134. Als Hauptvertreter der Blindlingstheorie sind Arndt und Bettermann zu nennen (vgl. Kellermann a.a.O. S. 131 ff., 138 ff.); vgl. auch Felix, NJW 1992, 218. 184 Vgl. insbesondere Kellermann, Gesetzlicher Richter, S. 2 2 2 f f . (236ff., 254), 257; s. auch List, DStR 1992, 700, 702 und LR-/C. SchäferEinl. Kap. 13 Rn 119 ff.; in der Sache ablehnend auch Gerleit, Gesetzlicher Richter, S. 73 ff. 185 Auf die „möglichst eindeutige" Vorausbestimmung stellen ab BVerfGE 6, 45 (50f.); 9, 223 (226); 17, 294 (298; s. auch a.a.O. LS 2 und S. 299: „so eindeutig wie möglich"; ebenso Ε 18, 65 [69]; 31, 145 [163 f.]; 40, 356 [ 3 6 0 f . ] ) ; 2 0 , 3 3 6 (344); 21, 139 (145); 22, 254 (258); 25, 3 3 6 (346); 27, 18 (34); 30, 149 (152f.); 40, 268 (271); 48, 246 (253); 63, 77 (79); BVerfG, N J W 1995, 2703; ähnlich („so genau wie möglich") auch BVerfGE 23, 321 (325). 186 Z u m folgenden vgl. Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 101 Rn 26 ff.; s. auch Bleckmann, Staatsrecht II, S. 1016. 187 Vgl. insoweit ]. Henkel, Gesetzlicher Richter, S. 97 ff.; Kellermann, Gesetzlicher Richter, S. 231 f.
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Zweiter Teil: Der verfassungsrechtliche Gehalt des Art. 101 GG
Bei der Beantwortung dieser (rechtspolitisch maßgeblich von der Alternative zwischen einer eher vom Mißtrauen geprägten oder einer primär vertrauensgeleiteten Grundhaltung gesteuerten) 1 8 8 prinzipiellen Frage gilt es, die im vorigen Teil angestellten Überlegungen zur gegenwärtigen Bedeutung des Grundsatzes des gesetzlichen Richters dogmatisch umzusetzen. Das mit dem Art. 101 I 2 G G verfolgte Anliegen, der Gefahr manipulativer Richterzuweisungen durch die Statuierung eines dem Losverfahren vergleichbaren, gleichsam mechanisch ablaufenden Normensystems präventiv entgegenzutreten, 1 8 9 bildet den maßgeblichen Grund dafür, der strengen Betrachtungsweise der Blindlingstheorie den Vorzug zu geben. 1 9 0 Das Leitbild des gesetzlichen Richters ist der gesetzlich bestimmte Richter; die Verfassungsnorm des Art. 101 I 2 G G ist auf die optimale Verwirklichung des Aspekts der Rechtssicherheit ausgerichtet. 1 9 1 Es mag sein, daß diese Vorgabe nicht in allen Einzelfragen das letzte Wort darstellt. Eine Zurückdrängung des Bestimmtheitsgebots muß aber als Einschränkung des Schutzbereichs des Art. 1 0 1 1 2 G G erkannt werden, um eine kritische Überprüfung der zu einer „flexibleren" Gestaltung drängenden Aspekte zu erzwingen und sodann entscheiden zu können, ob diese Gegeninteressen sich als Ausdruck verfassungsimmanenter Schranken gegen das Bestimmtheitsgebot durchsetzen können. 1 9 2 Wer von vornherein Bestimmtheit nur nach Maßgabe des für praktikabel und zweckmäßig Erachteten für geboten hält, 1 9 3 handelt das Verfassungsprinzip des gesetzlichen Richters in allzu kleiner Münze. Nunmehr gilt es, den Bogen zu schlagen zwischen der Betonung der Blindlingstheorie und der Ablehnung der „Materialisierung" des Art. 101 I 2 G G . Es ist einzuräumen, daß keine logisch zwingende Verknüpfung zwischen beiden Aspekten besteht; denn prinzi-
188 So auch Kellermann, Gesetzlicher Richter, S. 236ff. (der a.a.O. die vom Mißtrauen gekennzeichnete Position freilich zurückweist und konsequenterweise auch die Blindlingstheorie ablehnt); zur eigenen Position vgl. oben 4. Kap. III.-V. Zumindest am Rande ist allerdings das Befremden zu vermerken, das sich einstellt, wenn Kellermann (a.a.O. S. 247) es allgemein begrüßt, daß „die Einstellung des Bundesverfassungsgerichts ... es auch unnötig (mache), gegen die unabhängige Richterschaft ein derart weitgehendes Mißtrauen zu äußern, wie es von Seiten der Blindlingstheorie ... letztlich doch geschieht". Hier (und ganz ähnlich bei Mößlang, EuZW 1996, 71) werden Ursache und Wirkung verkannt, frei nach dem Motto: Der Abbau von Kontrolle ist wünschenswert, weil man dann nicht so mißtrauisch sein muß. Als Bestärkung des Mißtrauens muß es schließlich wirken, daß Kellermann (a.a.O. S. 2 6 7 ) das in einer gezielten Richterbestellung liegende „Symptom der Willkür" für entkräftet hält, wenn in Großverfahren gegen nationalsozialistische Gewaltverbrecher die Gerichtspräsidien „ganz offensichtlich nur die Absicht verfolgen, politisch unbelastete Richter für die einzelnen Verfahren auszuwählen".
Vgl. hierzu oben 5. Kap. II.2 (a.E.). Letztlich ist bereits die Entscheidung für ein normatives System eine (freilich aus Gründen einer effektiven Rechtspflege einsichtige) Konzession an das Ziel einer präventiven Manipulationsvermeidung; denn die Aufstellung und Anwendung auslegungsbedürftiger Normen eröffnet per se größere Spielräume als ein auf den Zufall abstellendes Lossystem. 191 Grundsätzlich ebenso Bettermann, AöR 94 (1969), 291 ff. (293), 303ff.; Kern, Gesetzlicher Richter, S. 176f.; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GGK, Art. 101 Rn 25 f.; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 101 Rn 27; I. Müller, Rechtsstaat, S. 135f.; s. auch Achenbach, FS Wassermann (1985), S. 849ff. (859f.). Vgl. auch BVerfG, NJW 1995, 2703 (2705): „Wo eine eindeutige Regelung möglich ist, da ist sie auch nötig." 192 Insoweit ist der Hinweis Kellermanns (Gesetzlicher Richter, S. 243) auf die verfassungsrechtliche Relevanz einer (etwaigen) erheblichen Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit der Gerichte zutreffend. 193 Zumindest ansatzweise in der Gefahr einer allgemeinen Relativierung stehen die Ausführungen von Eser, FS Saiger (1995), S. 265 (s. auch a.a.O. S. 269). 190
8. Kapitel: Der sachliche Schutzbereich des Art. 101 I 2 G G
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piell ist es denkbar, den Aspekt der von Art. 101 I 2 GG geforderten formalen Zuständigkeitsordnung mit der gebotenen Strenge zu interpretieren und zusätzlich dieser Verfassungsnorm weitere materielle Inhalte zuzuweisen. Gleichwohl ist die Gefahr eines argumentativen Zusammenspiels nicht zu übersehen. 194 Die „Materialisierung" schlägt eine Schneise in das formale Verständnis des Prinzips des gesetzlichen Richters. Überdies „versüßt" sie die Aufweichung der formalen Strenge, indem sie angesichts des neu hinzutretenden „modernen" Elements den Abbau des formalen Schutzes als zeitgemäßen dogmatischen Umbau eines überkommenen Grundsatzes erscheinen läßt. Einer solchen Verwischung der Konturen ist entgegenzutreten. Für die verfassungsrechtliche Verankerung des Unparteilichkeitspostulats bedarf es der Verbiegung des Art. 101 I 2 GG nicht; vor dem Hintergrund der Einbuße an dogmatischer Identität ist die Materialisierung nicht nur unnötig, sondern geradezu gefährlich. Der bewußt formalen Interpretation des Art. 101 I 2 GG kommt somit eine dogmatische „Konzentrationswirkung" zu, die den Schutzbereich dieser Verfassungsnorm thematisch verengt und zugleich inhaltlich verstärkt. Als Quintessenz der Schutzbereichsbetrachtung bleibt mithin festzuhalten: Das Prinzip des gesetzlichen Richters (Art. 101 I 2 GG) enthält „nur" eine formale Zuständigkeitsgarantie; gerade mit dieser Bedeutung will es aber ernst genommen werden. Oder schlagwortartig verkürzt: Die Vorschrift des Art. 101 I 2 GG ist „eng, aber streng" auszulegen.
194 So heißt es etwa bei Dörr, Faires Verfahren, S. 97: „Damit bevorzugt das Bundesverfassungsgericht im Gegensatz zu den Vertretern der Blindlingstheorie eine materielle Betrachtungsweise."
9. Kapitel:
Die Beschränkung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle durch die sog. „Willkürformel"
Die Reichweite des durch Art. 101 I 2 G G gewährleisteten Schutzes hängt nicht allein von den personellen und sachlichen Grenzen des Schutzbereichs, sondern auch vom verfassungsgerichtlichen Prüfungsumfang ab. In diesem Zusammenhang ist die nachfolgend zu betrachtende sog. „Willkürformel" von maßgeblicher Bedeutung.
I.
Die Gegenüberstellung von willkürlicher Richterentziehung und unbeachtlichem „error in procedendo" durch das BVerfG
Von Anbeginn seiner Judikatur verband das BVerfG 1 seine Feststellung, daß das Prinzip des gesetzlichen Richters auch durch richterliche Akte verletzt werden könne, mit der Einschränkung, daß dies nur für „willkürliche" Maßnahmen oder Entscheidungen eines Gerichts gelte. 2 Da keineswegs jede irrtümliche Überschreitung der den Rechtsinstanzen gezogenen Grenzen für die Annahme eines Verfassungsverstoßes ausreiche, seien die willkürlichen Handlungen vom bloßen Verfahrensirrtum (dem sog. „error in procedendo")? abzugrenzen, durch den niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werde. Das Vorliegen von Willkür beurteilt das BVerfG - in Übereinstimmung mit seiner Judikatur zum allgemeinen, aus Art. 3 I G G abgeleiteten Willkürverbot - 4 allein nach objek1 BVerfG Ε 3, 359 (LS 2 und 364 f.); 4, 412 (416f.); 7, 327 (329); 9, 223 (230); 11, 1 (6), 263 (264f.); 13, 132 (144); 14, 56 (72f.); 15, 245 (247f.), 303 (306); 17, 99 (104); 19, 38 (42f., „ständige Rechtsprechung"); 22, 154 (266), 2 8 2 (286); 23, 288 (319f.); 27, 297 (304); 29, 45 (48 ff.), 166 (172f.), 198 (207), 213 (219f.); 31, 145 (164ff.); 37, 67 ( 75); 38, 386 ( 3 9 7 f . ) ; 42, 237 (240ff.); 45, 142 (181); 54, 100 (115f.); 64, 1 ( 2 0 f . ) ; 67, 90 ( 9 4 f . ) ; 69, 112 (120ff.); 73, 339 (366, 369); 75, 223 (245); 76, 93 (96ff.); 82, 159 (194), 286 (299); 86, 133 (143f.); 87, 282 (284f.); BVerfG, NJW 1982, 29. 2 Auch im Schrifttum hat die Willkürformel des BVerfG vielfach Zustimmung gefunden. Vgl. Austerhoff, Gerichte, S. 160 f.; Degenhardt, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts III, § 75 Rn 24 f.; Goeckel, Rechtsstaat, S. 72 f.; Hamann, in: Hamann/Lenz, GG, Anm. Β 2d; Maunz, in: Maunz/ Dürig, GG, Rn 50ff.; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Rn 9 jeweils zu Art. 101; G. Kröger, Gesetzlicher Richter, S. 99ff. (105); Neubauer, Begründung, S. 67ff.; KMR-Paulus, vor § 1 Rn 27; Reicht, Gesetzlicher Richter, S. 62 f.; Rinck, NJW 1964, 1651 f.; KMR-Sax, Einleitung III Rn 21; H. Schiedermair, in: Wadle, Recht und Gesetz im Dialog (1982), S. 26ff. (28); Schorn, Präsidialverfassung, S. 155 f.; Scupin, Gesetzlicher Richter, S. 48 ff. (53); Stree, NJW 1959, 2051 f.; Wolf, Gerichtsverfassungsrecht, § 7 V 3b ( = S. 7 4 f . ) ; weitere Nachweise bei Rapp, Funktionen, S. 74 (Fn 133); s. auch Kothe, DÖV 1988, 285 (zu Fn 9). ' BVerfG Ε 3, 359 (365); 4, 412 (417); 7, 327 (329); 14, 56 (73); 29, 45 (48). 4 Vgl. nur BVerfG Ε 4, 1 (6 f.) sowie zum objektiven Maßstab der Willkür BVerfGE 42, 64 (73); 62, 189 (192); 70, 93 (97); 80, 48 (51); 87, 273 (279: „ständige Rechtsprechung"); s. auch Kunig, in: v. Münch/Kunig, GGK, Art. 101 Rn 21, 34.
9. Kapitel: Die Beschränkung der Verfassungsgericht!. Kontrolle durch die sog. „Willkürformel"
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tiven Kriterien. 5 Es ist hiernach unerheblich, o b g e g e n die handelnden Personen ein Schuldvorwurf zu erheben ist; 6 erst r e c h t bedarf es keines vorsätzlichen Verhaltens. Die zur U m s c h r e i b u n g des Willkürerfordernisses verwandten Formulierungen 7 variieren geringfügig: Anfänglich bezeichnete das BVerfG gerichtliche Entscheidungen im R a h m e n des Art. 101 I 2 G G als willkürlich, wenn sie „auf unsachlichen E r w ä g u n g e n ber u h e n " ; 8 später wird darauf abgestellt, o b die gerichtliche Entscheidung „bei verständiger Würdigung der das G r u n d g e s e t z beherrschenden Gedanken nicht m e h r verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist" 9 bzw. „objektiv unter keinem Gesichtspunkt v e r t r e t b a r " 1 0 erscheint. 1 1 N a c h neueren Entscheidungen des BVerfG 1 2 ist der s o umrissene Prüfungsmaßstab „dahin zu ergänzen, daß eine verfassungswidrige Entziehung des gesetzlichen Richters durch eine richterliche Zuständigkeitsentscheidung vorliegt, wenn diese B e d e u t u n g und Tragweite von Art. 101 I 2 G G grundlegend verkannt h a t " . In t h e m a t i s c h e r Hinsicht 1 3 betreffen die verfassungsgerichtlichen E n t s c h e i d u n g e n zu Art. 101 I 2 G G u . a . das Unterlassen von Vorlagen an ü b e r g e o r d n e t e Spruchkörper o d e r Gerichte, 1 4 die Festlegung der sachlichen o d e r örtlichen Zuständigkeit im konkreten Ein-
5 Kissel, GVG, Rn 52; LR-K. Schäfer, Rn 17f. jeweils zu ξ 16 GVG. Zwar wird das Votum des BVerfG für einen objektiven Willkürmaßstab bezüglich des Art. 101 I 2 GG (vgl. aber BVerfGE 2, 266 [281] zu Art. 11 GG) nicht explizit ausgesprochen, doch läßt es sich hinreichend deutlich aus den einschlägigen Judikaten herauslesen; vgl./. Henkel, Gesetzlicher Richter, S. 97 (Fn 2). ' BVerfGE 86, 59 (63); BVerfG, J Z 1985, 957. 7 Zu „Sub-Formeln" des Willkürbegriffs im Rahmen des Art. 101 I 2 G G vgl. Leisner, NJW 1989, 2448. Vielfach verzichtet das BVerfG allerdings auf eine Definition des Willkürerfordernisses und begnügt sich mit der pauschalen Feststellung, im konkreten Fall bestünden keine Anhaltspunkte für Willkür bzw. die gerichtliche Entscheidung sei „jedenfalls nicht willkürlich"; vgl. insoweit etwa BVerfGE 9, 223 (230); 11, 1 (6), 263 (264f.); 22, 254 (266); 29, 166 (172f.), 213 (2.19f.); 45, 142 (181). » BVerfGE 7, 327 (329); 15, 303 (306). 9 BVerfGE 29, 45 (49), 198 (207); 58, 1 (45); 8 2 , 1 5 9 (194), 286 (299); ähnlich auch BVerfGE 6, 45 (53); vgl. ferner die Entscheidungen der 2. Kammer des Zweiten Senats in NJW 1991, 2893 und NStZ 1995, 253 f. 10 BVerfGE 42, 237 (242 unter Bezugnahme u.a. auf die zu Art. 3 I G G ergangenen Entscheidungen BVerfGE 4, 144 [155] und 42, 64 [72 ff.]); 76, 93 (97); ebenso die 2. Kammer des 1. Senats, NJW 1989, 3007. 11 Eine bis in die Formulierungen hinein reichende Übereinstimmung zwischen der Judikatur zu Art. 101 I 2 G G und Art. 3 I G G konstatiert Rinck, NJW 1964, 1651 (vgl. auch die in der vorigen Fn nachgewiesene übergreifende Bezugnahme); vgl. ferner zur neueren Entwicklung Rodi, DOV 1989, 751, 760 ff. Bezüglich des Art. 3 I GG wird Willkür mit einer vielfach wiederkehrenden Formulierung dahingehend umschrieben, daß die fehlerhafte Rechtsanwendung „bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluß aufdrängt, daß sie auf sachfremden Erwägungen beruht"; vgl. BVerfGE 4, 1 (7); 62, 189 (192 [m.w.N.]); BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), NJW 1998, 2810 (m.w.N.). 12 BVerfGE 82, 286 (299 unter Hinweis auf BVerfGE 75, 302 [314f.] zu Art. 103 I G G ) ; 87, 282 (285); BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), NJW 1998, 3484. " Vgl. zum Folgenden Rennig, Entscheidungsfindung, S. 112 (jeweils mit zahlreichen Nachweisen zur Judikatur des BVerfG) sowie die Übersicht bei Kunig, in: v. Münch/Kunig, GGK, Art. 101 Rn 35. 14 Vgl. BVerfGE 17, 99 (104); 22, 254 (266); 29, 166 (173); 42, 237 (241 f. m.w.N.); 45, 142 (181); 67, 90 (95); 76, 93 (96ff.); BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), NJW 1995, 2914; s. auch Hergenröder, Grundlagen, S. 177 ff. und Leisner, NJW 1989, 2446 ff.; speziell zur NichtVorlage an den EuGH vgl. BVerfGE 82, 159 (194ff.) sowie Kirchhof, DStR 1989, 551 ff. und Schmidt-Bleibtreu, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 101 Rn 8a (mit zahlreichen weiteren Nachweisen).
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Zweiter Teil: Der verfassungsrechtliche Gehalt des Art. 101 GG
zelfall,15 die Anwendung von Geschäftsverteilungsplänen 16 oder von Regelungen zur spruchkörperinternen Geschäftsverteilung, 17 ferner die Rechtsmittelzulassung 18 oder die Entscheidung über die Zurückweisung eines wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnten Richters. 19 Begnügte sich das BVerfG20 zunächst mit einem bloßen Hinweis auf die grundlegende Monographie von Kern, so lassen sich heute zwei unterschiedliche Ansätze zur Begründung der Willkürformel ausmachen, die beide auch in den Entscheidungen des BVerfG anklingen. Die erste Ableitung ist „materiell-rechtlicher" Natur; sie basiert auf der These, daß Art. 1011 2 GG „nur Schutz gegen Willkür, nicht aber gegen Irrtum bieten" wolle. 21 Die zweite Argumentationslinie wird aus der Funktionenordnung des Grundgesetzes entwickelt. Dieser „funktionell-rechtliche" Ansatz wurzelt in der Aufgabenteilung zwischen der Verfassungs- und der Fachgerichtsbarkeit. 22 Ausgehend von der Überlegung, daß die richtige Anwendung des Rechts primär den Fachgerichten obliegt und das BVerfG in unerträglicher Weise überlastet würde, wenn man es systemwidrig in die Rolle eines „Superrevisionsgerichts" 23 drängen wollte, hat das BVerfG generell (d. h. nicht allein hinsichtlich des Art. 1 0 1 1 2 GG) 2 4 den verfassungsgerichtlichen Prüfungsumfang bezüglich gerichtlicher Entscheidungen auf die Verletzung sog. „spezifischen" Verfassungsrechts beschränkt 25 und diesen Bereich (auch) unter Rückgriff auf die Willkürformel bestimmt. 26
Vgl. BVerfG Ε 29, 45 (49) sowie BVerfGE 11, 263 (264 f.); 15, 303 (306); Hirsch, Sondervotum zu BVerfGE 57, 170 (a.a.O. S. 182ff. [196f.]). 16 Vgl. BVerfGE 14, 56 (72f.). 17 Vgl. BVerfGE 69, 112 (120f.); s. hierzu aber auch BVerfG, NJW 1995, 2703. •8 BVerfGE 67, 90 (94). i« BVerfGE 11, 1 (6); 31, 145 (164f.); 37, 67 (75); BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), NJW 1995, 2912 (2913) und 2914. 20 BVerfGE 3, 359 (364 f.) verweist auf Kern, Gesetzlicher Richter, S. 191; vgl. hierzu auch Ostler, JR 1957, 454. Der weitere Hinweis des BVerfG (a.a.O.) auf BGHZ 6, 178 (182) betrifft nicht das Willkürerfordernis, sondern erklärt eine Richterentziehung durch das entscheidende Gericht schlechthin für ausgeschlossen. 21 So (unter Berufung auf Arndt, J Z 1956, 633) BVerfGE 15, 245 (248) und 303 (306); 17, 99 (104); BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), NJW 1995, 2914; s. auch BVerfGE 22, 254 (266); 29, 198 (207). Auch die erste in diesem Zusammenhang ergangene Entscheidung des BVerfG (E 3, 359 [364f.]) wird man hier einordnen können; denn bei der in Bezug genommenen Textstelle bei Kern (vgl. vorige Fn) heißt es: „§ 16 GVG bedeutet einen Schutz gegen Willkür, nicht einen Schutz gegen Irrtum." 22 Zu den terminologischen Problemen bezüglich des Begriffs „Fachgerichtsbarkeit" vgl. Posser (Subsidiarität, S. 343 ff.), der insoweit von „Instanzgerichten" spricht. 23 Zu diesem als „Schreckbild" (Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 314 [Fn 88]) verwandten Begriff vgl. Geiger, BVerfGG, § 90 Anm. 6e; s. zu den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers auch Miebach, Abwägungskontrolle, S. 36 ff. 24 Vgl. allgemein zum Problemkreis der verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Gerichtsentscheidungen Herzog, FS Dürig (1990), S. 431 ff.; Schiaich, BVerfG, Rn 271 ff.; Winter, FS Merz (1992), S. 611 ff. sowie die Monographien von Bender, Die Befugnis des Bundesverfassungsgerichts zur Prüfung gerichtlicher Entscheidungen (1991) und Steinwedel, „Spezifisches Verfassungsrecht" und „einfaches Recht" (1976). 25 Posser, Subsidiarität, S. 54 ff. 26 Dieser funktionell-rechtliche Aspekt wird in der Sache bezüglich des Art. 101 I 2 G G angesprochen in BVerfGE 15, 245 (247). Er findet sich überdies vor allem in den neueren Entscheidungen häufiger; vgl. BVerfGE 82, 159 (194), 286 (299); 87, 282 (284f.); s. auch BVerfGE 63, 77 (79). Allgemein
9. Kapitel: Die Beschränkung der Verfassungsgericht!. Kontrolle durch die sog. „Willkürformel"
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Auch im Schrifttum werden beide Aspekte herangezogen und teilweise 2 7 als einander verstärkende Faktoren nebeneinander gestellt. Der hierdurch möglicherweise entstehende Eindruck, ein solchermaßen auf zwei Standbeine gegründetes Restriktionsinstrument sei in besonderer Weise abgesichert, macht eine kritische Betrachtung nicht entbehrlich. Denn erstens gibt es zahlreiche Stimmen, die das Willkürkriterium ablehnen. Auch wenn sich jedoch die Willkürformel als haltbar erweisen sollte, k o m m t es zweitens - sehr wohl darauf an, welche Begründungsvariante sich als tragfähig herausstellt. Dies erhellt aus dem Umstand, daß die Willkürformel des BVerfG im Rahmen des Art. 101 I 2 G G schon bald von den Zweigen der einzelnen Fachgerichtsbarkeiten übern o m m e n worden ist. 2 8 Eine solche Adaption mag plausibel sein, wenn das Willkürkriterium in der materiellen Struktur des Art. 101 1 2 G G verankert ist. Anders verhält es sich jedoch, wenn die Willkürformel ihre Berechtigung aus funktionell-rechtlichen Erwägungen bezöge. Denn wäre das BVerfG insoweit gerade deshalb von einer Prüfung freigestellt, weil diese nach der Aufgabenverteilung von den Fachgerichten vorzunehmen ist, so wäre nicht einzusehen, wie die Instanzgerichte sich ihrerseits unter Berufung auf eben jene Willkürformel von der Kontrollpflicht sollten befreien können. Die Etablierung der Willkürformel im Rahmen des Art. 101 I 2 G G wird begünstigt durch die Nähe, die gemeinhin zwischen dem Prinzip des gesetzlichen Richters und dem allgemeinen Gleichheitssatz angenommen wird. 2 9 Die insoweit bis in die Formulierungen hinein zu konstatierenden Übereinstimmungen bedeuten jedoch keine Klärung hinsichtlich der Alternative zwischen einer materiell-rechtlichen und einer funktionell ausgerichteten Ableitung der Willkürformel. Denn wenn man das Willkürverbot als Bestandteil des Gleichheitssatzes ansieht und das Prinzip des gesetzlichen Richters als Spezialfall des Gleichheitsgebots begreift, so kann man hierin eine Basis für eine materiell-rechtliche
zur Willkürformel als Instrument des BVerfG zur funktionellen Abgrenzung zwischen Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit vgl. Benda, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn 592f.; Gusy, Verfassungsbeschwerde, Rn 94 f.; Kirchberg, NJW 1987, 1990 ff.; Kirchhof, FS Geiger (1989), S. 92; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG, § 90 Rn 141 f. und Stern, Staatsrecht III/l, § 75 IV 4 ( = S . 1495 f.). 27 So Wolf, Gerichtsverfassungsrecht, § 7 V 3b ( = S. 74); s. auch Leibholz/Rinck/Hesselberger, GG, Anm. 2 und 6; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Rn 50 jeweils zu Art. 101; Scupin, Gesetzlicher Richter, S. 49; Träger, FS Zeidler Bd. I (1987), S. 137. Vgl. ferner zur Rechtsprechung des BVerfG F. Krauß, Umfang, S. 276: „Das BVerfG kommt dadurch zu einer bloßen Willkürkontrolle, daß es den Tatbestand des Art. 101 I 2 GG restriktiv auslegt. ,Entzogen' wird der Bürger seinem gesetzlichen Richter nicht schon bei einem versehentlichen Rechtsirrtum, sondern nur, wenn Willkür im Spiel ist." Andererseits heißt es a.a.O. S. 278: „Das BVerfG will ... wohl weniger den Schutzbereich des Art. 1 0 1 1 2 GG einengen, als vielmehr den Umfang der verfassungsgerichtlichen Kontrolle beschränken." 28 BGHZ 6, 178 (181 f.); 85, 116 (119); BGHSt. 11, 106 (110); 38, 212 (213); BVerwGE 69, 30 (36); BAGE 44, 211 (221); BAG, AP Nr. 1 zu § 39 ArbGG 1953; BSGE 5, 1 (2); vgl. auch zahlreiche weitere Nachweise bei BGH(VGS)Z 126, 63 (71). Speziell zur strafgerichtlichen Judikatur vgl. Brauns, Besetzungsrüge, S. 219 ff. und Niemöller, StV 1987, 311 ff. 29 Die Parallele zwischen Art. 101 I 2 GG und Art. 3 I GG klingt an in BVerfGE 11, 264 (264 f); 19, 38 (43); 67, 90 (94); 86, 133 (143f.); 87, 282 (286); s. auch oben Fn 4 sowie 3. Kap. III.3. Das OLG Karlsruhe (StV 1998, 252 [253]) bezeichnet den verfassungsrechtlich garantierten Anspruch auf den gesetzlichen Richter sogar als „Unterfall des auch für die Handhabung des Verfahrensrechts ... geltenden allgemeinen Willkürverbots des Art. 3 I GG".
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Zweiter Teil: Der verfassungsrechtliche Gehalt des Art. 101 GG
Fundierung der Willkürformel sehen. 3 0 Allerdings kann auch das dem Art. 3 I G G zugeordnete allgemeine Willkiirverbot unter funktionellen Vorzeichen entwickelt werden. 3 1
II.
Zur materiell-rechtlichen Ableitbarkeit der Willkürformel aus Art. 101 I 2 G G
1.
E r f o l g s - o d e r v e r h a l t e n s b e z o g e n e I n t e r p r e t a t i o n des „ E n t z i e h e n s " ?
Überträgt man die Grundrechtsdogmatik, die herkömmlich zwischen den Kategorien des Schutzbereichs, des Eingriffs und der Grundrechtsschranken unterscheidet, 3 2 auf das grundrechtsgleiche Recht des Art. 101 I 2 G G , so repräsentiert das Merkmal des „Entziehens" die Ebene des Grundrechtseingriffs. 3 3 Es bezeichnet damit zugleich jenen G e sichtspunkt, an den eine materiell-rechtliche Ableitung der Willkürformel im Rahmen des Art. 101 I 2 G G anknüpfen könnte. Bei der Interpretation des Merkmals „Entziehen" k o m m t sowohl eine erfolgs- als auch eine verhaltensbezogene Deutung 3 4 in Betracht. Während nach der erstgenannten Lesart jedes Verfehlen des an sich zuständigen Richters eine Richterentziehung darstellt, bezieht die verhaltensbezogene Deutung die Motive und Umstände, unter denen es zu diesem Resultat gekommen ist, in die Beurteilung mit ein. Da vom Wortsinn des Begriffs „Entziehen" sogar die Beschränkung auf finale Maßnahmen gedeckt wäre, 3 5 ist eine Auslegung im Sinne der Willkürformel grundsätzlich möglich. Für eine derartige Deutung sprechen die historischen Entstehungsbedingungen des Prinzips des gesetzlichen Richters. Sollte das Verbot der Richterentziehung politisch die Freiheit von manipulativer Einmischung gewährleisten, so erscheint es zunächst naheliegend, den Begriff des „Entziehens" möglichst exakt an diesem Gefahrenpotential auszurichten und nur willkürliche
10 Vgl. Dörr, Faires Verfahren, S. 97; P.M. Huber, JA 1985, 301; Marx, Gesetzlicher Richter, S. 68; Rinck, NJW 1964, 1651 f.; KMR-.S'a.r, Einl. III Rn 21; Scupin, Gesetzlicher Richter, S. 49; Stree, NJW 1959, 2052; s. auch Zuck (Verfassungsbeschwerde, Rn 490), der die „allgemeine und die spezielle (ζ. B. bei Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) Willkürrechtsprechung" nebeneinander stellt (vgl. hierzu auch BVerfGE 67, 90 [94f.]). 31 Vgl. zur Ableitung des allgemeinen Willkürverbots aus Art. 3 I GG durch das BVerfG - außer den oben in Fn 4 angegebenen Nachweisen - Bender, Befugnis, S. 22 ff., 397 ff. und Höfling, JZ 1991, 955 ff. 32 Vgl. Eckhoff, Grundrechtseingriff, S. 9 ff.; Jarass, AöR 120 (1995), 358ff.; Lerche, in: Isensee/ Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts V, § 121 Rn 11 ff., 45 ff. und § 122; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn 212 ff. 33 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn 1144. 34 Hiermit klingt die Unterscheidung zwischen dem Erfolgs- und dem Handlungsunrecht an. Diese Kategorien sind zwar primär im Bereich des materiellen Strafrechts anzusiedeln (vgl. insoweit Gallas, FS Bockelmann [1979], S. 155 ff.;Jescheck/Weigend, AT, § 24 III [= S. 238 ff.]), doch lassen sie sich auch in prozessualen Zusammenhängen verwenden (vgl. z.B. SK/StPO-Wolter, vor § 151 Rn 203 und Rieß, GA 1993, 184). Zur Unterscheidung zwischen einer Ergebnis- und einer Verhaltenskontrolle der Fachgerichte durch das BVerfG vgl. Schuppert, AöR 103 (1978), 62ff. und Gusy, Verfassungsbeschwerde, Rn 91. 35 G. Kröger, Gesetzlicher Richter, S. 105; s. auch Dahs, GA 1976, 357; Gottschalk, Gesetzlicher Richter, S. 76f.; Gerleit, Gesetzlicher Richter, S. 56. Demgegenüber vertritt Ostler (JR 1957, 455) die Ansicht, daß das Willkürerfordernis nicht dem Gesetz entnommen werden könne.
9. Kapitel: Die Beschränkung der Verfassungsgericht!. Kontrolle durch die sog. „Willkürformel"
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Verschiebungen der richterlichen Zuständigkeit als (justizinternen) Eingriff in den Schutzbereich des Art. 101 I 2 GG anzusehen. Zudem ließe sich argumentieren, daß der Irrtum ebenso „blind" sei wie der Zufall, so daß es eines verfassungsrechtlichen Schutzes gegenüber irrtümlichen Zuständigkeitsverschiebungen nicht bedürfe. Andererseits ist zu bedenken, daß das Wesen des Prinzips des gesetzlichen Richters aus heutiger Sicht verkürzt umschrieben wird, wenn man allein auf die historische Zielvorstellung (Manipulationsabwehr) zugreift. Vielmehr geht die gegenwärtige Bedeutung über diesen Ursprung insofern hinaus, als sie auch das spezifische Mittel zur Erreichung dieses Ziels (die Statuierung eines normativen Zuständigkeitssystems) als Wesensmerkmal dieses Grundsatzes erscheinen läßt. Das Vertrauen in ein gleichsam mechanisch funktionierendes System soll das Mißtrauen gegenüber den handelnden Personen kompensieren. Das Ideal einer blindlings erfolgenden Richterzuweisung basiert auf dem Gedanken der Abstraktion. Sieht man den angestrebten Automatismus als tragendes Element der Garantie des gesetzlichen Richters, das auch die Auslegung des Merkmals „Entziehen" bestimmt, dann erscheint eine rein erfolgsbezogene Definition dieses Kriteriums plausibel, die einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 101 I 2 GG stets dann bejaht, wenn ein anderer als der sich aus den Zuständigkeitsregelungen ergebende Richter tätig wird, ohne daß es auf die Gründe ankäme, aus denen der an sich zuständige Richter im konkreten Fall verfehlt wird. Ein solches Verständnis, das in Art. 101 I 2 GG einen „Schutz gegen Willkür und Irrtum" 36 verbürgt sieht, würde der vertrauensbildenden Funktion dieses Verfassungssatzes in besonderer Weise Rechnung tragen; denn hierdurch würde dem bloßen Schein der Manipulation noch entschiedener entgegengetreten, als dies nach der auf das Kriterium der objektiven Willkür rekurrierenden Auffassung der Fall ist. Ferner ließe sich der Gedanke heranziehen, daß die Verfassungsnorm des Art. 101 I 2 GG dem einzelnen nach herkömmlicher Terminologie einen „Anspruch" auf den gesetzlichen Richter gibt. In einem normativen System, in dem der jeweilige Fall gleichsam „blindlings" auf den im voraus bestimmten Richter zuläuft, könnte man es (despektierlich, aber anschaulich) als staatliche „Stückschuld" begreifen, daß der „richtige" Richter über den Fall urteilt; durch eine qualitativ gleichwertige „Sache" derselben „Gattung" träte hiernach keine Erfüllungswirkung ein. Es zeigt sich somit, daß eine den Art. 101 I 2 GG als Leistungsgrundrecht interpretierende Sichtweise tendenziell eine erfolgsbezogene Deutung des „Entziehens" begünstigt; umgekehrt erschiene eine auf den Willküraspekt rekurrierende, verhaltensbezogene Auslegung des Merkmals „Entziehen" eher plausibel, wenn man den Abwehrcharakter des Prinzips des gesetzlichen Richters in den Vordergrund rückt. 37
16 So Schumann, in: Stein/Jonas, ZPO, Einl. Rn 492 (mit Hervorhebung im Original). Ebenso Rapp, Funktionen, S. 76ff.; Schumacher, Geschäftsverteilungsplan, S. 48 ff. (54, 57f.); s. auch Gerleit, Gesetzlicher Richter, S. 143 f. und Gusy, Verfassungsbeschwerde, Rn 95. 37 Diese (vorsichtige) Zuordnung wird von der herrschenden Meinung nicht geteilt. So heißt es (freilich sehr apodiktisch) bei Stree, NJW 1959, 2 0 5 1 : „Der Einzelne hat einen Anspruch darauf, daß nur der gesetzlich vorgesehene Richter seine Sache bearbeitet. Das kann jedoch nicht bedeuten, daß Art. 101 GG stets als verletzt anzusehen ist, wenn ein anderer als der nach dem Gesetz zuständige Richter tätig wird." In der Sache ebenso Arndt, J Z 1962, 546; Leibholz/Rinck/Hesselberger, GG, Art. 101 Anm. 6 ( = S. 843); Marx, Gesetzlicher Richter, S. 77 f.; Reicht, Gesetzlicher Richter, S. 62.
208 2.
Zweiter Teil: Der verfassungsrechtliche Gehalt des Art. 101 GG
Das Verhältnis von Irrtum und Willkür
Die für die materiell-rechtliche Ableitung des Willkürkriteriums zentrale These, daß Art. 101 I 2 GG nur Schutz gegen Willkür, nicht jedoch gegen Irrtum bieten wolle, und die hieraus resultierende Unterscheidung zwischen einer willkürlichen Richterentziehung und einem unbeachtlichen „error in procedendo" hat im Schrifttum vor allem durch Karl August Bettermann18 nachhaltige Kritik erfahren. Der zentrale Einwand39 geht dahin, daß „Willkür" und „Irrtum" in dem vom BVerfG zugrunde gelegten Verständnis sachlich keinen echten Gegensatz bilden.40 Begreift man nämlich die Willkür objektiv als (gesteigerte) fehlende Sachgerechtigkeit, so werden beide Begriffe inkommensurabel; denn die mangelnde Sachgerechtigkeit ( = Willkür) kann gerade Folge eines (gegebenenfalls groben) Irrtums sein. Es kommt hinzu, daß bei rechtlich gebundenen Entscheidungen - und diese bilden idealtypisch den Regelfall der blindlings erfolgenden Richterzuordnung ohnehin kein Raum für die Frage bleibt, ob die Entscheidung von sachfremden Motiven getragen ist.41 Der Vorwurf des Fehlens eines echten begrifflichen Gegensatzes ließe sich freilich ausräumen, wenn man den Willkürbegriff in einem subjektiven Sinne interpretieren würde.42 Dann lägen beide Begriffe auf der subjektiven Ebene, und eine randscharfe Abgrenzung zwischen vorsätzlichen ( = willkürlichen) und fahrlässigen ( = irrtümlichen) Maßnahmen wäre möglich. Allerdings verdient eine solche enge Interpretation keinen Beifall, da sie dem Rechtsuchenden aus doppeltem Grund nur „Steine statt Brot" gibt. Dies zeigt zum einen ein vergleichender Blick auf die Judikatur zu Art. 3 I GG. 4 3 Dort werden gerichtliche Entscheidungen nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG44 einer an objektiven Maßstäben orientierten Willkürkontrolle unterworfen. Wollte man demgegenüber die Anforderungen für eine Verletzung des Prinzips des gesetzlichen Richters auf vorsätzliche Manipulationen der Richterbank heraufschrauben, so liefe die Intensivierung des Art. 101 I 2 GG im Anwendungsbereich der Willkürformel leer. Um das unsinnige Ergebnis zu vermeiden, daß die Ausdehnung des Schutzbereichs dieser Verfassungsnorm eine Ver38 AöR 94 (1969), 280 ff.; in der Gefolgschaft Bettermanns Arnold, FS Neumayer (1985), S. 25 ff. (26); Leisner, NJW 1989, 2448; Papier, FG BVerfG Bd. I (1976), S. 455 f. Kritisch zur Willkürformel auch Bakker, Grenzen, S. 169ff.; Gerleit, Gesetzlicher Richter, S. 122ff.; Höfling, J Z 1991, 960, 961 f.; Ostler, JR 1957, 454 f. 39 Von eher untergeordneter Bedeutung ist demgegenüber der rein sprachliche Aspekt der unzutreffenden Verwendung des Terminus „error in procedendo", der (im Gegensatz zur unrichtigen materiell-rechtlichen Beurteilung eines Falles) alle Verfahrensfehler betreffe und somit nicht Gegen-, sondern Oberbegriff zur Willkür sei. Vgl. Bettermann, AöR 94 (1969), 281. 40 Ebenso Bettermann, AöR 94 (1969), 281 f.; vgl. auch Benda, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn 603. 41 Bettermann, AöR 94 (1969), 282; vgl. ferner Arnold, FS Neumayer (1985), S. 26 und Bakker, Richtermacht, S. 172. « Bruns, NJW 1964, 1888; Henckel, J Z 1963, 292; Kern, J Z 1956, 411. In gleichem Sinne ursprünglich Bettermann (in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner [Hrsg.], Grundrechte III/2, S. 565), der diese Auffassung jedoch später (in AöR 94 [1969], 286) wieder aufgab. « Vgl. Austerhoff, Gerichte, S. 163; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GGK, Art. 101 Rn 21; Stree, NJW 1959, 2052. 44 Vgl. BVerfG Ε 4, 1 (6f.); 18, 85 (96); BVerfG, J Z 1985, 957; weitere Nachweise bei Rinck, NJW 1964, 1651 f.
9. Kapitel: Die Beschränkung der Verfassungsgericht!. Kontrolle durch die sog. „Willkürformel"
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kürzung des Grundrechtsschutzes mit sich brächte, müßte ohnedies (dann freilich unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Gleichheitssatzes) auf die objektive Festlegung des Willkürbegriffs zurückgegriffen werden. Freilich trägt dieses Argument nur unter der (hier nicht näher zu untersuchenden) Prämisse, daß die Bestimmung des Willkürbegriffs im Rahmen des Art. 3 I G G zu Recht nach objektiven Kriterien erfolgt. Unabhängig von dieser Parallelbetrachtung ist die Ausrichtung des Willkürmerkmals an der subjektiven Zielsetzung des Handelnden auch im Hinblick auf die evidenten Beweisnöte abzulehnen. 4 5 Ein verfassungsrechtlicher Schutz, der faktisch auf die Fälle strafbarer Rechtsbeugung reduziert wäre, 4 6 würde sowohl den darlegungspflichtigen Beschwerdeführer als auch das zur Nachprüfung verpflichtete BVerfG vor nahezu unlösbare Schwierigkeiten stellen 4 7 und damit die grundrechtsgleiche Gewährleistung in einem erheblichen Umfang entwerten. Die Forderung, ein gesetzliches System zur Bestimmung des zuständigen Richters zu installieren, ist nicht zuletzt eine Konsequenz aus der lebensnahen Erkenntnis, daß ein den Nachweis der Manipulation verlangender Schutz regelmäßig zu kurz griffe. Deshalb hat es „einen guten Sinn und entspricht praktischem Bedürfnis, bei Anwendung des Prinzips [ergänze: des gesetzlichen Richters; C.S.] die M e t h o d e zu befolgen, deren sich der Gesetzgeber im Interesse größerer Rechtssicherheit gar häufig bedient: das leicht feststellbare Symptom an Stelle des sehr viel schwerer feststellbaren eigentlich entscheidenden Kriteriums zu setzen". 4 8 Diese auf den Begriff der Ausnahmegerichte gemünzte Feststellung läßt sich unschwer auf den vorliegenden Zusammenhang übertragen: 4 9 Entfernt sich die Rechtsanwendung so fundamental von den bei der Handhabung der einschlägigen Normen maßgeblichen Überlegungen, daß dieses Vorgehen als objektiv willkürlich erscheint, so begründet dies eine unwiderlegliche Vermutung 5 0 für die einem unmittelbaren Nachweis regelmäßig entzogene böse Absicht. 5 1 Freilich impliziert das Festhalten an der objektiven Ausrichtung des Willkürbegriffs das Eingeständnis, daß der Gegenüberstellung von „Willkür" und „Irrtum" kein logisch zwingendes Ausschlußverhältnis zugrunde liegt; vielmehr werden beide Bereiche anhand einer wertenden Beurteilung der Schwere des betreffenden Fehlers voneinander abgeschichtet. Die scheinbar klare Abgrenzung, was lediglich Irrtum ist, könne nicht Willkür sein, geht hiermit verloren. 5 2
45 Ein zusätzliches Argument bietet die von Papier (FG BVerfG Bd. I [1976], S. 456) getroffene Feststellung, daß das subjektive Merkmal der Kenntnis einer Zuständigkeitsverletzung ein Fremdkörper im geltenden Rechtsschutzsystem für die Anfechtung von Hoheitsakten darstellen würde. 44 Vgl. Ostler, J R 1 9 5 7 , 4 5 5 . 47 Schorn, Präsidialverfassung, S. 156. 48 So Dohna, in: Nipperdey, Grundrechte, S. 118. 49 Ebenso G. Kröger, Gesetzlicher Richter, S. 106 f. 50 Vgl. Marx, Gesetzlicher Richter, S. 86. 51 Zu den Beweisschwierigkeiten vgl./. Henkel, Gesetzlicher Richter, S. 95 (mit Beispiel in Fn 3); Hergenröder, Grundlagen, S. 180. 52 Dieser dogmatische Mangel verliert seine Bedeutung auch nicht durch den rechtspolitischen Aspekt, daß die „objektive" Willkür insofern Kompromißcharakter trägt, als sie den allzu engen subjektiven Willkürbegriff an die rein erfolgsbezogene Auslegung des Merkmals „Entziehen" annähert.
210 3.
Zweiter Teil: Der verfassungsrechtliche Gehalt des Art. 101 GG
Die Willkürformel als Irrtumsprivileg rechtsanwendender Richtertätigkeit
Eine weitere Angriffsfläche bietet die Willkürformel dadurch, daß sich ihr Anwendungsbereich auf gerichtliche Maßnahmen und Entscheidungen beschränkt. 53 Auf diese Weise wird das Merkmal des „Entziehens" in Art. 101 I 2 GG mit Blick auf die einzelnen Adressaten dieser Verfassungsnorm unterschiedlich ausgelegt. Der Hinweis, Art. 101 I 2 GG statuiere für alle Staatsgewalten gleichermaßen ein Willkürverbot, aus dem sich lediglich unterschiedliche Anforderungen ergeben, 54 bewirkt letztlich nur eine Verschiebung des Problems der ungleichen Beurteilungsmaßstäbe und ist damit ebenso unzulänglich wie der vom BVerfG 55 herangezogene Gedanke, daß ein Verfahrensirrtum schon begrifflich ausgeschlossen sei, wenn es sich um das Einwirken einer außerhalb der Gerichte stehenden Person oder Stelle handelt. Daß nur in diesem Teilbereich eine Differenzierung zwischen Verfahrensirrtum und Willkür möglich ist, besagt nichts darüber, daß und warum diese Unterscheidung überhaupt vorgenommen werden soll. Der Vorwurf eines Zirkelschlusses ließe sich nur dann vermeiden, wenn überzeugend dargetan werden könnte, warum der Verfahrensirrtum keinen Verstoß gegen Art. 101 I 2 GG darstellt. Die Feststellung, daß die Willkürformel allein im Bereich richterlicher Tätigkeit zum Tragen kommt, verdient allerdings besondere Aufmerksamkeit. Denn hiermit verbindet sich eine interessante Verschiebung der Perspektive. Was in der These, daß Art. 101 I 2 GG nur Schutz vor Willkür, nicht jedoch gegenüber Irrtum biete, als allgemeingültige Aussage über den Gehalt des Grundsatzes vom gesetzlichen Richter erscheint, erweist sich beim näheren Hinsehen als eine Ausnahme, die nur in einem Teilbereich dieses Verfassungspostulats Geltung beansprucht. Nimmt man hinzu, daß das Willkürkriterium der Abschichtung zwischen schweren und weniger schweren Irrtümern dient, läßt sich die Willkürformel als „Irrtumsprivileg"56 für richterliche Tätigkeiten charakterisieren. Diesen Gedanken gilt es zu präzisieren, indem nach Grund und Grenzen dieses Privilegs gefragt wird. Die erste Konkretisierung ist dahingehend vorzunehmen, daß nicht die statusrechtliche Eingliederung in die Gerichtsorganisation, sondern die berechtigte Wahrnehmung richterlicher Funktionen für die Anwendbarkeit der Willkürformel maßgeblich ist. Dies zeigt sich insbesondere daran, daß das BVerfG 57 die Handlungen eines ausgeschlossenen Richters als Verletzung des Art. 101 I 2 GG beurteilt und hierbei eine Heranziehung des Willkürkriteriums ausdrücklich abgelehnt hat. Gegen die Annahme, schlechthin jedes Handeln eines Richters sei der Willkürformel zu unterstellen, spricht zudem die Überlegung, daß die Erstreckung des Adressatenkreises des Art. 101 I 2 GG auf die Judikative «
Vgl. Bakker, Grenzen, S. 170 f.; Pechstein, Jura 1998, 201. J. Henkel, Gesetzlicher Richter, S. 88 f.; vgl. auch Rodt, DÖV 1989, 755. 55 BVerfGE 4, 412 (417); 31, 181 (184). Zur Differenzierung zwischen Eingriffen „von außen" bzw. „von innen" bereits Kern, Gesetzlicher Richter, S. 185, 191; s. auch Rüthers, NJW 1996, 1868; Schorn, Präsidialverfassung, S. 155 f.; kritisch hierzu J. Henkel, Gesetzlicher Richter, S. 54 (Fn 2), 112 ff.; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 101 Rn 51 und Rodi, DÖV 1989, 752 (Fn 28). 56 So ausdrücklich Ranft, Strafprozeßrecht, Rn 81 f.; ausführlich in gleichem Sinne Marx, Gesetzlicher Richter, S. 84 ff. Vgl. auch Schünemann, NJW 1974, 299; Träger, FS Zeidler Bd. I (1987), S. 137; Wömpner, DRiZ 1982, 408 („Doktrin von der unvertretbaren Fehlinterpretation"). " BVerfGE 4, 412 (416f.); 30, 165 (167); BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NJW 1996, 2149 (2150f.). 54
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keine wirkliche Verstärkung des verfassungsrechtlichen Schutzes brächte, wenn sie in vollem Umfang auf eine Willkürprüfung beschränkt und damit einem Maßstab unterworfen würde, der sich bereits aus dem allgemeinen Willkürverbot (Art. 3 I GG) ergibt. Noch wichtiger ist die weitere Einschränkung, daß die Willkürformel allein bezüglich richterlicher Rechtsanwendung gilt. Ausgespart ist demgegenüber der Bereich der rechtsetzenden Tätigkeit. 58 Dies ist deshalb bedeutsam, weil sich der gesetzliche Richter im Einzelfall nicht allein aus Gesetzen im formellen Sinne ergibt, sondern es der ergänzenden Konkretisierung insbesondere durch Geschäftsverteilungspläne bedarf, die in richterlicher Selbstverwaltung von den jeweiligen Gerichtspräsidien beschlossen werden.59 Hieraus folgt, daß Richter bei der Ermittlung der zuständigen Entscheidungsperson sowohl rechtsetzend als auch rechtsanwendend tätig werden können. Obwohl auch die Mitwirkung im Präsidium funktionsgemäß wahrgenommen wird und unter dem Schutz der richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 GG) steht, 60 entfaltet der Gedanke des unbeachtlichen Verfahrensirrtums bezüglich der Gestaltung der Geschäftsverteilungspläne keine privilegierende Wirkung. Für sie gilt vielmehr ebenso wie für Normierungen der Legislative, daß sich die Bestimmung des gesetzlichen Richters so genau wie möglich aus abstrakt-generellen Regelungen ergeben muß.61 Denn der für alle der Festlegung des gesetzlichen Richters dienenden Regelungen übereinstimmende Zweck, einer ad hoc erfolgenden Richterbestimmung vorzubeugen, gebietet es, daß die betreffenden Regelungen nicht in vermeidbarer Weise die Möglichkeit zum willkürlichen Manipulieren bieten dürfen. Der Verfassungsverstoß besteht somit in der unzureichenden Gestaltung der jeweiligen Norm, ohne daß es im Einzelfall darauf ankäme, ob Willkür vorliegt.62 Die dargestellte Ausblendung des rechtsetzenden Sektors63 aus dem Anwendungsbereich der Willkürformel verdient Zustimmung. Schon angesichts des Multiplikatoreffekts bestünde - ähnlich wie bei der Annahme eines subjektiven Willkürbegriffs - die Gefahr eines nur unvollkommen ausgestalteten Schutzes, wenn man die Richterzuordnung mittels unzureichend bestimmter Pläne zulassen wollte, sofern der Bestimmtheitsmangel nur auf einer irrtümlichen Fehlvorstellung beruht. Im Hinblick auf den Charakter als präventives Sicherungsinstrument muß ein Nachgeben der Bestimmtheitsanforderungen auch 58 Zur Unterscheidung zwischen Rechtsetzung und Rechtsanwendung vgl. Wipfelder, VB1BW 1982, 36; in der Sache ebenso BVerfG, NJW 1995, 2703 (2704: Mängel der Regelung bzw. Mängel bei ihrer Anwendung); OLG Hamm, StV 1998, 6 (8) sowie Felix, MDR 1992, 831 („Planmangel" und „Anwendungsmangel"); s. auch Gottschalk, Gesetzlicher Richter, S. 116 f. 59 Vgl. §§ 21a, 21e I GVG; s. auch § 21g II GVG (zur spruchkörperintemen Geschäftsverteilung). 60 Kissel, GVG, § 21e Rn 20. 61 BVerfG Ε 17, 294 (299, 301); 18, 65 (69) und 344 (349); BVerfG, NJW 1995, 2703 (2704); Degenhardt, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts III, ξ 75 Rn 18; Gottschalk, Gesetzlicher Richter, S. 59 (Fn 161b); Niebier, FS Kleinknecht (1985), S. 304; Schilken, Lexikon des Rechts 18/140, S. 4, 9. Zur Judikatur des BVerwG vgl. Dickersbach, JöR N.F. Bd. 37 (1988), 570. 62 So BVerfG Ε 17, 294 (301) sowie die übrigen in der vorigen Fn angegebenen Nachweise zur Judikatur des BVerfG. Allerdings soll die „abstrakte Möglichkeit eines Mißbrauchs" eine Anordnung des Geschäftsverteilungsplans noch nicht verfassungswidrig machen; vgl. BVerfGE 18, 423 (427). 63 Diese Kontrollerweiterung findet ihre allgemeine Entsprechung in der Tatsache, daß die „mittelbare Gesetzesverfassungsbeschwerde", bei welcher der Beschwerdeführer anläßlich einer gerichtlichen Entscheidung die Verfassungswidrigkeit der angewendeten Norm rügt, dem gleichen Prüfungsumfang unterliegt wie die unmittelbare Gesetzesverfassungbeschwerde; vgl. Gusy, Verfassungsbeschwerde, Rn 83; Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 58 ff.
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Zweiter Teil: Der verfassungsrechtliche Gehalt des Art. 101 GG
dann vermieden werden, wenn die jeweiligen Akteure unter dem Schutz richterlicher Weisungsfreiheit handeln. Die richterliche Unabhängigkeit führt - wie bereits dargelegt nicht dazu, die Perspektive des Mißtrauens in eine solche des prinzipiellen Vertrauens umzumünzen; Vertrauen soll vielmehr primär das normative System beanspruchen, das die jeweiligen Fälle den einzelnen Richtern blindlings zuweist und damit individuelle Entscheidungen über die Zuständigkeit gerade so weit wie möglich entbehrlich macht. In diesem Zusammenhang ist auch zu bedenken, daß die von Art. 101 I 2 GG ausgehende Sensibilität für Zuständigkeitsfragen in dem Maße steigt, in dem die Konkretisierung des gesetzlichen Richters mit Blick auf den jeweiligen Einzelfall voranschreitet. Die Gefahr, daß bereits der Gesetzgeber eine bestimmte Norm schafft, um die Besetzung der Richterbank in einem konkreten Fall zu lenken, ist vergleichsweise gering; denn ein für alle Fälle gültiges Gesetz ist ein relativ unbewegliches Geschütz, und regelmäßig werden bei den parlamentarischen Beratungen sowohl die beteiligten Richterpersonen als auch die betroffenen Bürger nicht konkret bekannt sein. Die an den Gesetzgeber gerichteten Bestimmtheitsanforderungen bekämpfen deshalb etwaige Manipulationsgefahren auf einer sehr abstrakten Ebene: Es sollen unnötige Spielräume vermieden werden, um Vorsorge dafür zu treffen, daß später nicht andere Instanzen einen (dann von den relativ unbestimmten Normen formal gedeckten, deshalb schwer zu erkennenden und kaum zu beseitigenden) manipulativen Einfluß auf die Zusammensetzung des Entscheidungsgremiums ausüben können. Je dichter aber der konkrete Fall und die zu seiner Aburteilung prinzipiell in Betracht kommenden Richter aneinanderrücken, um so größer ist die grundsätzliche Gefahr, daß die Zuordnungen aus sachfremden Motiven vorgenommen werden könnten. Die Konkretisierungen des gesetzlichen Richters in die Hände des Präsidiums als eines in richterlicher Unabhängigkeit arbeitenden Gremiums zu legen, entspricht somit nicht allein sachlichen Zwängen, die einer unmittelbaren Regelung durch ein formelles Gesetz entgegenstehen. Indem dieses weisungsfrei entscheidende Gremium prinzipiell ein größeres institutionelles Vertrauen verdient als die politisch weisungsgebundene Justizverwaltung, bewirkt die Übertragung der Geschäftsverteilungskompetenz an die richterliche Selbstverwaltung auch eine partielle Kompensation der mit fortschreitender Konkretisierung gesteigerten Gefahrenlage. Allerdings wäre es verfehlt, dieses institutionalisierte Vertrauen nun ein weiteres Mal in Ansatz zu bringen, um zusätzlich einen Abbau der Bestimmtheitsanforderungen zu rechtfertigen. Vielmehr wird dem besonderen Gefahrengrad angemessen dadurch Rechnung getragen, daß man die normativen Limitierungen mit den institutionellen Sicherungen kombiniert. Diese Strenge, die keine Abstriche bei der Gestaltung des Systems normativer Vorausbestimmung zuläßt, bildet somit erst die Grundlage für die Frage, ob eine Relativierung der verfassungsgerichtlichen Prüfung bezüglich richterlicher Anwendungsfehler hinnehmbar (oder sogar sinnvoll) erscheint. 64 Greift man auf den modellhaften Gegensatz zwischen einer erfolgs- und einer verhaltensbezogenen Interpretation des Begriffs des „Entziehens" zurück, so ist zu konstatieren, daß im normsetzenden Bereich (zu Recht) eine erfolgsorientierte Ergebniskontrolle stattfindet. Die bisherigen Überlegungen führen zu dem Schluß, daß die Willkürformel im Rahmen des Art. 101 I 2 GG keine hinreichende Stütze im materiellen Gehalt dieses Justizgrund-
64
Vgl. oben Fn 58 sowie /. Henkel, Gesetzlicher Richter, S. 54 (Fn 2).
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rechts findet. 6 5 Hinsichtlich der Grundlagen dieser Formel lassen sich der objektiv interpretierte Willkürbegriff und das Irrtumsmerkmal nicht als logischer Gegensatz konstruieren, und der Anwendungsbereich dieser Formel ist darauf beschränkt, ein Irrtumsprivileg für die Fälle einer fehlerhaften richterlichen Rechtsanwendung zu installieren. 6 6 Mit dieser Reichweite betrifft die Willkürformel aber exakt jenen Bereich, in dem sich die verfassungsgerichtliche Kontrolltätigkeit mit der Prüfungsaufgabe der Rechtsmittelinstanzen der Fachgerichtsbarkeit deckt. Dies begründet die Vermutung, daß die eine partielle Rücknahme der verfassungsgerichtlichen Kontrolle bewirkende Willkürformel in der Sache maßgeblich von funktionellen Erwägungen bestimmt ist, die die Aufgabenverteilung zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und den Fachgerichten betreffen.
III. Der funktionell-rechtliche Ansatz zur Begründung der Willkürformel 1.
D i e a l l g e m e i n e W i l l k ü r f o r m e l als M a ß s t a b v e r f a s s u n g s g e r i c h t l i c h e r Prüfung
Die rechtsprechende Gewalt ist an Gesetz und Recht (Art. 2 0 III G G ) gebunden; dies gilt in besonderer Weise für die Grundrechte (Art. 1 III G G ) , die zugleich eine auch von den Gerichten zu beachtende objektive Wertordnung begründen. Berücksichtigt man ferner, daß jeder rechtswidrige Akt staatlicher Gewalt eine Grundrechtsverletzung (zumindest hinsichtlich des Rechts der allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 I G G ) darstellt und daß überdies die in Art. 3 I G G garantierte Rechtsanwendungsgleichheit die richtige Handhabung der Gesetzesvorschriften verlangt, so ergibt sich, daß jedes fehlerhafte Urteil eines Gerichts an sich zugleich als Verfassungsverstoß zu klassifizieren ist. 6 7 Angesichts der dem BVerfG obliegenden Aufgabe, „Grundrechtsschutz im konkreten harten Einzelfall" zu gewährleisten, scheint es keinen sicheren materiell-rechtlichen Halt vor einem Abrutschen in eine „Superrevision" (oder sogar in eine „Superberufung" ) 6 8 zu geben. 6 9 Auf der anderen Seite würde die vollständige Uberprüfung jeder Gerichtsentscheidung im Wege der Verfassungsbeschwerde eine untragbare Konsequenz bedeuten. In dieser Spannungslage bildet das Problem, in welchem Umfang das BVerfG berufen ist,
65 Ebenso Roth, Gesetzlicher Richter, S. 214ff. (218f.). Ergänzend ist darauf zu verweisen, daß nach Ansicht des BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats, NJW 1988, 1456 [1457] zur Vorlagepflicht an den EuGH gemäß Art. 177 EWGV) der im Rahmen des Art. 101 I 2 GG geltende Willkürmaßstab auch in Abhängigkeit von dem jeweiligen Regelungsbereich bestimmt werden kann; vgl. auch Wölker, EuGRZ 1988, 97ff. (101, 102) und Rabe, FS Redeker (1993), S. 209ff. (212); s. ferner Heß, ZZP 108 (1995), 82 ff. 66 Da die Willkürformel im Bereich der Judikative nicht flächendeckend, sondern nur ausschnitthaft gilt, kann sie auch nicht als bloßer Ausfluß des Gedankens der Gewaltenteilung gedeutet werden. 67 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 314; Miebach, Abwägungskontrolle, S. 31 ff. (33); Ossenbühl, FS Ipsen (1977), S. 137 f.; Papier, BVerfG-FG Bd. I (1976), S. 433 f.; Rentiert, NJW 1991, 12; Voßkuhle, Rechtsschutz, S. 7 f. 68 Benda, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn 593; Mauder, Anspruch, S. 54 (Fn 1); Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 27; Voßkuhle, NJW 1995, 1378; Waldner, Probleme, S. 266; vgl. ferner BVerfGE 51, 130 (143: „Superbeschwerdeinstanz"). 69 So Ossenbühl, FS Ipsen (1977), S. 137; s. auch Schiaich, BVerfG, Rn 276.
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Zweiter Teil: Der verfassungsrechtliche Gehalt des Art. 101 GG
Gerichtsurteile auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen, eine der am heftigsten umstrittenen Fragen der Verfassungsgerichtsbarkeit.70 Kommt eine verfassungsgerichtliche Totalkontrolle instanzgerichtlicher Judikate schon im Hinblick auf die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des BVerfG nicht in Betracht,71 so bleibt unklar, nach welchen Kriterien die Aufgabenteilung zwischen dem BVerfG und der Fachgerichtsbarkeit72 vorgenommen werden soll.73 Das BVerfG beschreibt seine diesbezügliche Position in mittlerweile unzähligen Entscheidungen74 mittels der Formel vom „spezifischen Verfassungsrecht"75 (sog. „Hecksche Formel") 76 . Hiernach „würde es dem Sinn der Verfassungsbeschwerde und der besonderen Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts nicht gerecht werden, wollte dieses ähnlich wie eine Revisionsinstanz die unbeschränkte rechtliche Nachprüfung von gerichtlichen Entscheidungen um deswillen in Anspruch nehmen, weil eine unrichtige Entscheidung möglicherweise Grundrechte des unterlegenen Teils berührt. Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind allein Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen; nur bei einer Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht kann das Bundesverfassungsgericht auf Verfassungsbeschwerde hin eingreifen (vgl. BVerfGE 1, 418 [420]). Spezifisches Verfassungsrecht ist aber nicht schon dann verletzt, wenn eine Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist; der Fehler muß gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen".77 In dem Bemühen, einen Kurs zwischen der „Scylla des restlosen Prüfungsverzichts und der Charybdis der unumschränkten Prüfung"78 zu steuern, bedient sich das BVerfG einiger weniger, einprägsamer Formeln, zu denen auch das Willkürverbot zu zählen ist.79 70 Heun, Schranken, S. 31; Starck,JZ 1996, 1033 ff. Ossenbühl(FS Ipsen [1977], S. 139) bezeichnet die Frage des richtigen Kontrollmaßstabes als „ein unaufhebbares ewiges Problem". 71 Ein zusätzliches dogmatisches Argument besteht darin, daß das BVerfG nach der Konzeption des G G gerade nicht mit dem Obersten Bundesgericht zusammengelegt worden ist; vgl. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 316. 72 Allgemein zu den funktionellen (bzw. funktionell-rechtlichen Grenzen) der Tätigkeit des BVerfG (auch gegenüber dem Gesetzgeber) Hesse, FS Huber (1981), S. 261 ff. und Schuppert, DVB1. 1988, 1191 ff. (auch zur strukturell vergleichbaren Problematik im Verhältnis der Verwaltungsgerichtsbarkeit zur Exekutive). Zum Verhältnis zwischen BVerfG und Fachgerichten vgl. Haas, FS 5 0 Jahre BayVerfGH (1997), S. 27ff.; Robbers, NJW 1998, 935 ff. sowie Seidl, DJT-Referat (1996). 73 Zu diesbezüglichen Ansätzen im Schrifttum vgl. Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn 480 ff. 74 Herzog (FS Dürig [1990], S. 4 3 2 ) spricht von „Dutzenden von Senatsentscheidungen und Tausenden von Nichtannahmebeschlüssen". Nach Ansicht von Wahl/Wieland (JZ 1996, 1139) ist diese Formel für das BVerfG „zur Grundlage seiner Überlebensstrategie" geworden. 75 Diese Formel ist terminologisch ungenau, da es ein „unspezifisches" Verfassungsrecht nicht gibt; vgl. Steinwedel, Verfassungsrecht, S. 58 ff. (60: „spezifische Verletzung von Verfassungsrecht"; ebenso Posser, Subsidiarität, S. 56 [Fn 50]; Seidl, DJT-Referat, Ο 15). 76 Benannt nach dem Berichterstatter der Entscheidung BVerfGE 18, 85; vgl. Schiaich, BVerfG, Rn 2 7 2 (Fn 620) sowie zur Entwicklung dieser „Formel" ausführlich Herzog, FS Dürig (1990), S. 431 ff. 77 BVerfGE 18, 85 (92f.). 78 Pohle, Bemerkungen, S. 67. 7» Benda, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn 591 ff.; s. auch Robbers, NJW 1998, 936, 939. Grundlegend insoweit BVerfGE 4, 1 (6f.) und 42, 64 (72ff.); weitere Nachweise bei Gusy, Verfassungsbeschwerde, Rn 94. Die erst später entwickelte Formel vom „spezifischen Verfassungsrecht"
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Hierbei fungiert das v o m BVerfG aus Art. 3 I G G abgeleitete Willkürverbot als „eine Art i m m e r anwendbaren ,Mindeststandards' seiner Nachprüfungsbefugnis g e g e n ü b e r gerichtlichen E n t s c h e i d u n g e n " . 8 0 Die hierdurch bewirkte „ G r u n d k o n t r o l l e " 8 1 der R e c h t sprechung durch das BVerfG ist dadurch gekennzeichnet, daß sie einerseits die g e s a m t e Bandbreite fachgerichtlicher Tätigkeit abdeckt, andererseits aber nur unter sehr strengen Anforderungen zur Aufhebung der Entscheidung des A u s g a n g s g e r i c h t s führt. Die c h a rakteristische Struktur der Willkürformel besteht mithin darin, daß sie einen Kontrollzugriff mit g r o ß e r Prüfungsbreite bei geringer Prüfungstiefe e r m ö g l i c h t . 8 2 In der praktischen H a n d h a b u n g durch das BVerfG erwies sich die Willkürformel lange Z e i t ausschließlich als A b w e h r i n s t r u m e n t . N o c h im J a h r e 1 9 6 9 w u r d e es angesichts der sehr strengen und engen U m s c h r e i b u n g des Willkürbegriffs als nicht erstaunlich angesehen, daß bis zu jenem Zeitpunkt (bei einer immerhin 18jährigen G e s c h i c h t e der Verf a s s u n g s b e s c h w e r d e ) keine einzige Gerichtsentscheidung v o m BVerfG w e g e n Willkür aufgehoben w o r d e n w a r . 8 3 Weitere 18 J a h r e später enthielt die amtliche E n t s c h e i d u n g s s a m m l u n g des BVerfG bereits 15 B e s c h l ü s s e , 8 4 in denen fachgerichtliche Judikate w e g e n Verstoßes gegen das Willkürverbot aufgehoben wurden. In der Folgezeit hat die Bedeutung der Willkürkontrolle - maßgeblich begünstigt durch die seit d e m Ä n d e r u n g s g e s e t z 1 9 8 5 8 5 bestehende Möglichkeit einer stattgebenden K a m m e r e n t s c h e i d u n g 8 6 - beständig z u g e n o m m e n . 8 7 Diese Entwicklung ändert nichts an der Tatsache, daß die Erfolgsquote der Verfassungsbeschwerde mit ca. 2 % weiterhin äußerst gering ist. 8 8 D e n n o c h läßt sich baut (u.a.) auf das so verstandene Willkürverbot auf; vgl. Herzog, FS Dürig (1990), S. 433 ff. (437f.). Vgl. auch oben Fn 26. 80 Steinwedel, Verfassungsrecht, S. 39. 81 Bender, Befugnis, S. 398. 82 Niemöller, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, III. 1 Rn 74 („Das Willkürverbot ist zwar das schwächste Grundrecht, ,regiert' dafür aber ubiquitär."); s. auch Schumann, BVerfG, S. 24 (Fn 88); G. Seibert, FS Hirsch (1981), S. 506 f.; Seuffert, NJW 1969, 1370 f. und Stürmer, J Z 1986, 532. Seuffert, NJW 1969, 1370f.; s. auch Hill, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts Bd. VI, § 1546 Rn 54 (a.E.); v. Winterfeld, NJW 1972, 1401. BVerfG Ε 42, 64 ( 7 2 f f . ) ; 5 4 , 117 (124 ff.); 57, 39 (42); 58, 163 (167 f.); 59, 98 (101 ff.); 62, 189 (192ff.) und 338 (343ff.); 64, 389 (394ff.); 66, 199 (206ff.) und 324 (330f.); 69, 161 (168ff.) und 248 (254ff.); 70, 93 (97ff.); 71, 122 (131 ff.) und 202 (204f.). Die Beschlüsse sind jeweils mit stichwortartiger Umschreibung des Entscheidungsgegenstandes mitgeteilt bei Kirchberg, NJW 1987, 1989 (Fn 4); vgl. auch Miebach, Abwägungskontrolle, S. 67ff. und Schumann, BVerfG, S. 23 ff. 85 Vom 12. Dezember 1985 (BGBl. I S. 2226). 86 Zur Einführung der stattgebenden Kammerentscheidung durch § 93b II BVerfGG (a.F.) vgl. UIsamer, EuGRZ 1986, 115; zur heutigen Regelung (§ 93c I 1 BVerfGG) vgl. E. Klein, NJW 1993, 2075. 87 So weist Winter (FS Merz [1992], S. 611 [Fn 2]) für das Jahr 1990 auf mindestens 14 Kammerbeschlüsse hin, die gerichtliche Entscheidungen wegen Verstoßes gegen das Willkürverbot aufgehoben haben; s. auch Blankenburg, KJ 1998, 207, 212f.; Clemens/Umbach, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 93b Rn 52 (mit Fn 40). Vgl. weiterhin (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) BVerfGE 83, 82 (84); 86, 59 (62ff.); ferner die Senatsentscheidungen in NJW 1993, 996f.; VRS 86 (1994), 81 f.; 9 0 (1996), 1 ff. sowie die Kammerbeschlüsse in NJW 1993, 997ff., 1380f., 1699f., 1909; NJW 1995, 2911 f.; NJW 1996, 1336, 1531 und NJWE-MietR 1996, 25 f.; weitere Nachweise zu strafrechtlichen Ausgangsfällen bei Niemöller, in: Umbach/Clemens a.a.O., III/1 Rn 74 (Fn 150). Die von Mahrenholz (FS Zeidler Bd. II [1987], S. 1366 [Fn 16]) konstatierte anfängliche Zurückhaltung (nur vier Kammerentscheidungen zum Willkürverbot) dürfte inzwischen überholt sein. Vgl. auch Sangmeister, NJW 1996, 828 f. 88 Vgl. Benda, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn 357ff.; Schiaich, BVerfG, Rn 187. Vgl. ferner zur Gesamtstatistik von 1 9 5 1 - 1 9 8 9 (erledigte Verfahren: 7 5 9 2 5 ; darunter 7 2 6 2 8 Verfassungs-
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der lange Zeit bestehende Eindruck, gerichtliche Willkür k o m m e nicht vor und die Willkürformel sei ausschließlich ein Instrument zur Zurückweisung von Verfassungsbeschwerden, nicht so apodiktisch aufrechterhalten. Freilich rechtfertigt die dargestellte Wandlung nicht den Schluß, daß die Fachgerichte in zunehmendem M a ß e horrend fehlerhafte Entscheidungen treffen. Es ist vielmehr davon auszugehen, daß das BVerfG - ungeachtet der gleichlautenden Willkürdefinition 8 9 - diesen M a ß s t a b in jüngerer Zeit strenger handhabt bzw. dort verwendet, w o früher die Lösung bei speziellen Freiheits- oder Gleichheitsgrundrechten gesucht wurde. 9 0
2.
A l l g e m e i n e B e d e n k e n g e g e n das W i l l k ü r k r i t e r i u m als M a ß s t a b d e r Kompetenzabgrenzung
O b w o h l die Willkürformel einen festen Platz im Arsenal des BVerfG einnimmt, ist diese Rechtsfigur mannigfacher Kritik ausgesetzt. Umstritten ist bereits der Ausgangspunkt, o b sich dem Gleichheitssatz des Art. 3 I G G ein allgemeines Willkürverbot entnehmen läßt. 9 1 Vielfach wird der Anwendungsbereich dieser Verfassungsnorm auf die Leitvorstellung personaler Gleichheit beschränkt und eine Verselbständigung des Willkürverbots zum G e b o t allgemeiner Sachgerechtigkeit abgelehnt. Hiernach ist an Art. 3 I G G allein die Behandlung von Vergleichspaaren zu messen; die (sei es auch evident) fehlerhafte Beurteilung eines Falles durch das Ausgangsgericht begründet hingegen lediglich ein Subsumtions-, aber kein Gleichheitsproblem. 9 2 Erachtet man aus diesen Gründen den Art. 3 I G G als einen nur vorgeschobenen Prüfungsmaßstab, 9 3 bliebe freilich zu überlegen, ob sich eine inhaltlich vergleichbare Prüfungsbefugnis des BVerfG aus den thematisch betroffenen Grundrechten oder dem Rechtsstaatsprinzip entwickeln ließe. 9 4 Beschwerden, hiervon erfolgreich 1086 = 1,50%) Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, Anh. zu § 20 Rn 142. 89 Die etwa seit dem Jahre 1980 vom BVerfG entwickelte sog. „neue" Willkürformel (Verstoß gegen Art. 3 I GG, „wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten"; vgl. BVerfGE 55, 72 [88]; 74, 9 [24] und Sachs, JuS 1997, 124ff.) zielt auf die Einbeziehung der Verhältnismäßigkeit in die Gleichheitsprüfung (Katzenstein, Sondervotum zu BVerfGE 74, 9 [29 f.]; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz/ Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG, § 90 Rn 56; kritisch insoweit Sachs a.a.O. S. 129 f.). Sie betrifft jedoch primär die Kontrolle gegenüber dem Gesetzgeber und ist von dem hier einschlägigen „allgemeinen" Willkürverbot als Maßstab für die Kontrolle der Fachgerichte zu trennen; vgl. Osterloh, in: Sachs, GG, Rn 126; BK-Rüfner, Rn 21 jeweils zu Art. 3; s. auch BayVerfGH, NJW 1986, 1096f.; Höfling, JZ 1991, 957; Jarass, NJW 1997, 2546, 2548; Krugmann, JuS 1998, 7 ff. 90 Schiaich, BVerfG, Rn 291; zur Berufung auf Art. 3 I GG als „subsumtionsunwillige Routine" vgl. Stürner, JZ 1986, 532. 91 Vgl. zum Folgenden Geiger, Sondervotum zu BVerfGE 42, 64 (a.a.O. S. 79ff.); Alexy, Grundrechte, S. 364f.; Höfling, JZ 1991, 956ff.; s. auch Eyermann, FS 25 Jahre BayVerfGH (1972), S. 45 ff. und Kirchberg, NJW 1987, 1992 f. 92 Höfling, JZ 1991, 95 8; Weitzel, JuS 1976, 724. 9' So Schiaich, BVerfG, Rn 290. 94 Vgl. Clemens/Umbach, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 93b Rn 52 (Fn 40); Kirchhof, FS Geiger (1989), S. 106; BK-Rüfner, Art. 3 I Rn 24; Sachs, JuS 1997, 125; Wank, JuS 1980, 551 sowie Zuck, JZ 1985, 925; ders., MDR 1986, 723 f.
9. Kapitel: Die Beschränkung der Verfassungsgericht!. Kontrolle durch die sog. „Willkürformel"
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Ein weiterer maßgeblicher Kritikpunkt besteht darin, daß der Begriff der Willkür „völlig s c h w i m m t " . 9 5 Hiermit verbindet sich der Vorwurf, daß sich die zur Ausfüllung dieser „Super- und Z a u b e r f o r m e l " 9 6 v e r w a n d t e n Kriterien w e g e n ihrer Unbestimmtheit schwerlich anders als willkürlich a n w e n d e n ließen. 9 7 In der Tat läßt sich k a u m in abstrakter F o r m angeben, w o e x a k t die Grenze zwischen einer „gerade n o c h " und einer „ s c h o n eben nicht m e h r v e r t r e t b a r ( e n ) " R e c h t s a n w e n d u n g verläuft. 9 8 Freilich hat es den Anschein, als sei die Konturenlosigkeit des Willkürkriteriums für das BVerfG ein geradezu willkommenes Übel. Denn das BVerfG reklamierte von Anfang an für sich eine K o m p e t e n z - K o m p e t e n z , 9 9 und es hat sich bei der H a n d h a b u n g dieser Befugnis weniger von systematisch-begrifflichen als vielmehr von richterrechtlich-pragmatischen Überlegungen leiten lassen, u m sich jenseits aller D o g m a t i k o h n e Rechtfertigungslast eine gewisse Flexibilität zu erhalten. 1 0 0 M a g die Janusköpfigkeit, s o w o h l als pauschale A b w e h r f o r m e l zu fungieren als auch eine nahezu ungehinderte Zugriffsmöglichkeit auf fachgerichtliche Judikate zu eröffnen, der Willkürformel in den A u g e n des BVerfG eine b e s o n d e r e Attraktivität verleihen, 1 0 1 s o wird der v o m BVerfG postulierte „ S p i e l r a u m " 1 0 2 hinsichtlich des Prüfungsumfangs im Schrifttum 1 0 3 teilweise gerade unter Hinweis auf den objektivrechtlichen Gehalt des Art. 1 0 1 I 2 G G abgelehnt, der es verbiete, dem Richter ein H a n d l u n g s e r m e s s e n bei der B e s t i m m u n g seiner Zuständigkeit einzuräumen. Ferner wird eingewandt, durch den Rückgriff auf die Willkürformel überschreite das BVerfG den selbstgesteckten R a h m e n Ostler, J R 1957, 454. Vgl. auch Sangmeister, NJW 1996, 829: „Die eigentliche Crux der (objektiven) Willkür ... liegt darin, daß niemand so genau weiß, was eigentlich hierunter zu verstehen ist." Zum Begriff der Willkür vgl. ferner Kirchhof, FS Geiger (1989), S. 86 ff.; Miebach, Abwägungskontrolle, S. 63 ff. und Zuck, MDR 1986, 723 f.; s. auch (bezüglich Art. 3 I GG) den (insoweit mit fünf zu vier Stimmen) ergangenen Beschluß des LVerfGH Berlin, J R 1998, 99 (mit Sondervotum Arendt-Rojahn, Eschen und Citron-Piorkowski). Eine entsprechende Beurteilung erfährt das „spezifische Verfassungsrecht"; als „Leerformel" wird es angesehen von Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn 473 und Mager, Jura 1996, 409; ähnlich Mauder, Anspruch, S. 61 ff.; Ossenbühl, FS Ipsen (1977), S. 137 („pauschale Abwehrformel"); Starck,JZ 1996, 1035, 1038; Tröndle, FS Odersky (1996), S. 2 6 9 f . und Wahl/Wieland, J Z 1996, 1139; vgl. ferner F. Krauß, Umfang, S. 89 ff. Für gegenüber der „Willkür" vorzugswürdig erachtet jedoch Höfling (JZ 1991, 961) die Formel vom „spezifischen Verfassungsrecht". " Höfling, J Z 1991, 960; ihm folgend Bakker, Grenzen, S. 169. «7 AK/GG-Stein, Art. 3 Rn 32; s. auch Kromer, JuS 1984, 605; Mauder, Anspruch, S. 58 f.; Sangmeister, NJW 1996, 829. •>x Vgl. Dahs, GA 1976, 360. S. auch die bezüglich § 339 StGB geäußerte Kritik von Herdegen (NStZ 1999, 457) an der hinreichenden Bestimmtheit einer sprachlich (durch „völlig", „schlechthin" oder „elementar") gesteigerten „Unvertretbarkeit" richterlichen Handelns. '» Kirchberg, NJW 1987, 1989; Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 54ff.; vgl. auch BVerfGE 18, 85 (93) und Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn 473. 100 Henke, DÖV 1984, 10; Löwer, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts II, § 56 Rn 165; Pestalozzi, Verfassungsprozeßrecht, ξ 12 Rn 13; Stern, Staatsrecht III/1, § 75 IV 4 ( = S. 1496f.). Zu dem Wunsch des BVerfG, als „Pannenhelfer" Fälle manifester Ungerechtigkeit durch die Aufhebung der fehlerhaften Entscheidung reparieren zu können, vgl. Schumann, NJW 1985, 1134 ff.; Rennert, NJW 1991, 13 und Winter, FS Merz (1992), S. 624. 101 Diese „hohe Praktikabilität" wird als Erklärung für die Dauerhaftigkeit der Willkürformel angesehen von Bohnert, Beschränkungen, S. 50; ihm folgend Scheffler, Dauer, S. 175. BVerfGE 18, 85 (93). 103 So insbesondere Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 54 ff.; s. auch Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn 473.
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Zweiter Teil: Der verfassungsrechtliche Gehalt des Art. 101 GG
des spezifischen Verfassungsrechts. 1 0 4 Denn o b eine Entscheidung des A u s g a n g s g e r i c h t s „nicht nachvollziehbar, evident unsachlich o d e r schlechthin u n v e r t r e t b a r " 1 0 5 ist, läßt sich nicht n a c h M a ß g a b e v o n Verfassungssätzen feststellen; vielmehr fungieren insoweit die N o r m e n des einfachen R e c h t s als M a ß s t a b , u m eine gesteigerte Fehlerhaftigkeit zu ermitteln. 1 0 6 Von anderer Seite erfährt die A u s w e i t u n g der Kontrollbefugnis hingegen eine deutlich mildere B e t r a c h t u n g , i n d e m der für eine „glattere D o g m a t i k " zu entrichtende Preis als u n a n g e m e s s e n h o c h angesehen wird, w e n n hiermit ein völliger o d e r d o c h zu w e i t g e h e n d e r R ü c k z u g des BVerfG aus der F a c h r e c h t s p r e c h u n g verbunden w ä r e und das BVerfG somit seine Funktion als „ N o t h e l f e r " in n e n n e n s w e r t e m U m f a n g einbüßen würde.107 Diese hier nur kurz angerissenen Gesichtspunkte bilden die Grundlage für die verfassungsrechtliche Beurteilung der Willkürformel. Diesbezüglich k o m m t einerseits der U n bestimmtheit des Prüfungsmaßstabes ein erhebliches G e w i c h t zu. 1 0 8 Auf der anderen Seite sind die b e s o n d e r e Stellung des BVerfG und die hiermit verbundene Aufgabe zu berücksichtigen, ein verfassungsgerichtliches Kontrollsystem zu installieren, das gleicherm a ß e n effektiven wie funktionsadäquaten R e c h t s s c h u t z bietet. 1 0 9 Die Überlastung des BVerfG ist offenkundig. 1 1 0 Das Kapazitätsproblem stellt sich beim BVerfG mit b e s o n d e rer Schärfe, 1 1 1 da es hier - wenn m a n für den vorliegenden Z u s a m m e n h a n g das BVerfG in der Justizhierarchie als über den einzelnen Gerichtszweigen s c h w e b e n d ansieht - im wahrsten Sinne „auf die Spitze getrieben" ist. Angesichts der formal wie materiell vor104 Gusy, Verfassungsbeschwerde, Rn 94. Vgl. auch zum Vorwurf einer Überschreitung der Kognitionsgrenzen durch eine (vollumfängliche) Nachprüfung von strafgerichtlichen Entscheidungen im Spannungsfeld von Ehrenschutz und Meinungsfreiheit (mit zahlreichen weiteren Nachweisen) Tröndle, in: Tröndle/Fischer, StGB, § 193 Rn 14b ff. (14f, 14m, 14n); s. auch Krey, Besonderer Teil I, Rn 397a (Verstoß gegen Art. 101 I 2 GG); Haas, in: FS 50 Jahre BayVerfGH (1997), S. 35, 40. i»·' Zu diesen Umschreibungen vgl. Kirchhof, NJW 1996, 1504; s. auch Zuck, MDR 1986, 723 (Fn 16). 106 Erichsen, Jura 1992, 148 f.; Gusy, Verfassungsbeschwerde, Rn 94; Miebach, Abwägungskontrolle, S. 42f.; Waldner, Z Z P 9 8 (1985), 206. 107 Ossenbühl, FS Ipsen (1977), S. 141; s. auch Gündisch, NJW 1981, 1813 ff. (1819 f.); Mauder, Anspruch, S. 57; Schiaich, BVerfG, Rn 297. los Angesichts der mit der Willkürformel verbundenen Unbestimmtheit ist zu befürchten, daß in zahlreichen anderen Fällen die Verfassungsbeschwerde trotz ebenfalls gravierender Fehler erfolglos bleibt (vgl. Kromer, JuS 1984, 605; Mauder, Anspruch, S. 58 f.); dies z.B. deshalb, weil bereits die Kompliziertheit der Regelungsmaterie in manchen stark spezialisierten Rechtsgebieten (ζ. B. in Bereichen des Sozial- oder Steuerrechts) etwaige Anwendungsfehler nicht als „offensichtlich unhaltbar" erscheinen läßt (vgl. Benda, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn 606). 109 Vitzthum, FS Bachof (1984), S. 315 ff. Vgl. zu dieser äußerst komplexen Materie den Bericht der vom Bundesminister der Justiz eingesetzen und nach ihrem Vorsitzenden, dem früheren Präsidenten des BVerfG, benannten ßemfa-Kommission (vgl. Bundesministerium der Justiz [Hrsg.], Entlastung des Bundesverfassungsgerichts. Bericht der Kommission [1998]; s. hierzu auch Faupel, NJ 1998, 57ff.) sowie die Monographien von Posser, Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (1993) und Warmke, Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (1993) sowie Bender, Die Befugnis des BVerfG zur Prüfung gerichtlicher Entscheidungen (1991); Miebach, Zur Willkür- und Abwägungskontrolle des BVerfG bei der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile (1990) und Scherzberg, Grundrechtsschutz und „Eingriffsintensität" (1989). 110 Zum Arbeitsanfall beim BVerfG vgl. Böckenförde, ZRP 1996, 282; Pestalozza, zeßrecht, Anh. zu § 20 Rn 142 und Warmke, Subsidiarität, S. 25 ff. in Schiaich, BVerfG, Rn 264; Wieland, Staat 29 (1990), 351.
Verfassungspro-
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aussetzungsarmen Ausgestaltung der Verfassungsbeschwerde ist jedes im einfachgesetzlichen R e c h t s z u g nicht weiter angreifbare fachgerichtliche Urteil ein potentieller Kandidat für diesen außerordentlichen Rechtsbehelf. M i t der z u n e h m e n d e n B e s c h r ä n k u n g der einfachgesetzlichen R e c h t s m i t t e l 1 1 2 steigt tendenziell der Druck auf das BVerfG. Denn der v o m G e s e t z g e b e r v o r g e n o m m e n e Rechtsmittelausschluß läßt die verfassungsgerichtliche Prüfung von G r u n d r e c h t s v e r s t ö ßen unberührt. 1 1 3 Überdies w ä c h s t mit d e m Abbau der Kontrollmöglichkeiten die Gefahr von Verfahrensfehlern, 1 1 4 die - weil das einfache Prozeßrecht entsprechende Abhilfemöglichkeiten nicht ( m e h r ) vorsieht - das K o n t o des BVerfG zusätzlich belasten. 1 1 5 Insoweit w ä r e ein Absehen von weiteren R e c h t s b e h e l f s b e s c h r ä n k u n g e n 1 1 6 zugleich ein erster Beitrag zur Entlastung des BVerfG. G e r a d e vor d e m H i n t e r g r u n d gegenläufiger Sparziele (Entlastung s o w o h l der F a c h - als a u c h der Verfassungsgerichtsbarkeit) erweist sich die
112 Vgl. die Übersicht zu den zivilprozessualen Änderungen seit 1879 bei Köster, Beschleunigung (Teil 1), S. 45 ff. (s. auch zur Entwicklung der Wertgrenzen a.a.O. Teil 2, S. 970ff.); vgl. femer Schumann, in: Gilles/Röhl/Schuster/Strempel, Rechtsmittel, S. 270: „Die Reformgeschichte der ZPO im 20. Jh. ist eine Chronologie des Abbaus der Rechtsmittel." Zur Frage weiterer Rechtsmittelbeschränkungen im Zivilprozeß vgl. das von Gottwald für den 61. DJT (1996) erstattete Gutachen (insbesondere A 9 ff., 52 ff, 106ff.); femer ders., BRAK-Mitteilungen 1999, 55ff.; Büttner, BRAK-Mitteilungen 1999, 50ff.; Feiber, NJW 1996, 2057ff.; Hahne, ZRP 1999, 356ff.; Roth, J Z 1996, 805ff.; E. Schneider, MDR 1996, 865 ff. Bezüglich des Strafprozesses brachte das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11.1.1993 (BGBl. I, S. 50) im Vergleich zu den zunächst geplanten Einschnitten (kritisch Werle, J Z 1991, 790ff.) lediglich die Einführung der Annahmeberufung (§§313, 322a StPO; vgl. Böttcher/Mayer, NStZ 1993, 155; s. auch Feuerhelm, StV 1997, 99ff. und Rottleuthner, Entlastung, S. 101 ff.); vgl. jedoch zu weitergehenden Reformplänen Bertram, ZRP 1995, 47; Meyer-Goßner/Ströher, ZRP 1996, 354 ff. und die Stellungnahme des Strafrechtsausschusses der BRAK (BRAK-Mitteilungen 1995, 236f.). Vgl. auch Th. Brandner, FS Brandner (1996), S. 684f. und allgemein Voßkuhle, Rechtsschutz, S. 2 f. 113 Im fundamentalen Gegensatz zu dieser Sichtweise hält Bettermann (AöR 94 [1969], 2 8 5 ) es für „ausgeschlossen, daß Zuständigkeitsmängel, die nicht einmal mit einem normalen Rechtsmittel gerügt zu werden vermögen, mit dem äußersten und extraordinären Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde noch angegriffen werden können." Ahnlich auch Weyreuther, DVB1. 1997, 928 f. Dennoch erscheint es nicht angängig, die Reichweite des verfassungsrechtlichen Grundrechtsschutzes zur Disposition des (ja gleichfalls an Art. 101 I 2 GG gebundenen) Gesetzgebers zu stellen. Daß die Beschneidung der fachgerichtlichen Rechtsmittelzüge das BVerfG in die Rolle eines „Pannenhelfers" drängt, ist eine zwar mißliche, aber vom Gesetzgeber zu verantwortende Folge, die nicht dadurch vermieden werden kann, daß die Einhaltung (insbesondere der Justiz-)Grundrechte jeglicher Kontrolle entzogen wird. Vgl. auch BVerfGE 42, 243 (248); Schumann, NJW 1985, 1134ff. ( 1 1 3 7 ) ; Kunze, NJW 1997, 2154 f. 114 Prägnant Maetzel, DÖV 1965, 317: „Die Gefahr der Verletzung prozessualer Grundrechte ist um so größer, je kürzer der Instanzenzug ist." Ebenso Voßkuhle, Rechtsschutz, S. 224. Prinzipiell sind die Gefahren dort besonders groß, wo ein Einzelrichter die einzige Instanz bildet. Vgl. insoweit zu § 495a ZPO die Untersuchung von Rottleuthner, Entlastung durch Entformalisierung? (1997), insbesondere S. 86 ff.; ders., NJW 1996, 2473 ff. und Redeker, NJW 1996, 1870 ff. Winter, FS Merz (1992), S. 624 f.; Posser, Subsidiarität, S. 489 f.; Warmke, Subsidiarität, S. 294 (zu 14.); Kh. Meyer, FS Kleinknecht (1985), S. 271 f.; Proske, NJW 1997, 356; s. auch Bundesministerium der Justiz, Entlastung, S. 82 ff. Zum Zusammenhang zwischen dem verfassungsgerichtlichen Kontrollumfang und der Reichweite des einfachgesetzlich gewährleisteten Rechtsschutzsystems vgl. ferner Gündisch, NJW 1981, 1819; Gusy, Verfassungsbeschwerde, Rn 95; H. Klein, FS Stern (1997), S. 1148; Peters, J R 1980, 266; Schumann, NJW 1985, 1134ff. (1136 ff.); Stern, Staatsrecht II, § 44 II 3 ( = S. 964). 11(1 Vgl. die Zusammenstellung von Modellen zur Rechtsmittelbeschränkung bei Voßkuhle, Rechtsschutz, S. 249ff. (Streitwert-, Zulassungs-, Annahme-, Enumerativ-, Verfahrensfehler- und Vorlagesystem) sowie Gottwald, in: Gilles/Röhl/Schuster/Strempel, Rechtsmittel, S. 295 ff.
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n o c h weithin ungelöste Aufgabe der Erarbeitung einer an den Vorgaben des Verfassungsrechts ausgerichteten Rechtsmitteldogmatik 1 1 7 als vordringlich, um eine normative Leitlinie für die verfassungsrechtlichen Mindeststandards und die dem Gesetzgeber verbleibenden Gestaltungsspielräume zu gewinnen. Die Beobachtung, daß der Gesetzgeber vorsichtig tastend Änderungen im Rechtsschutzsystem zunehmend in das Auswahlermessen der Gerichte oder der Landesjustizverwaltungen stellt, 1 1 8 begegnet auch bezüglich des aus Art. 101 I 2 G G resultierenden Bestimmtheitsgebots ernsten Bedenken. Ungeachtet der vom Gesetzgeber in mehreren Etappen unternommenen Bemühungen, das BVerfG durch Änderungen des Annahmeverfahrens zu entlasten, 1 1 9 dauert die Kontroverse um die Sicherung der Funktionsfähigkeit des BVerfG weiterhin an. Hierbei macht die Diskussion selbst vor der dogmatischen Grundkonzeption der Verfassungsbeschwerde nicht mehr halt. Gemeinhin wird diesem Rechtsinstitut eine Doppelfunktion zugewiesen, wonach die Verfassungsbeschwerde (subjektiv) ein Instrument des individuellen Rechtsschutzes und zugleich ein spezifisches Mittel des objektiven Verfassungsrechts zur Wahrung und Fortentwicklung des Grundgesetzes ist. 1 2 0 Die bisherigen Entlastungsmaßnahmen haben stets die objektive Funktion der Verfassungsbeschwerde betont und den Aspekt des Individualrechtsschutzes zunehmend zurückgedrängt. Im Hinblick auf die Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung haben Überlegungen, die Zahl der Spruchkörper zu erhöhen 1 2 1 oder das gegenwärtig praktizierte Kammermodell durch ein Einzelrichtersystem zu ersetzen, 1 2 2 nur wenige Anhänger gefunden. Unter diesen Umständen sind die Schwierigkeiten, als oberstes Gericht den Ansprüchen auf Einzelfallgerechtigkeit zu entsprechen, mit den Händen zu greifen. 1 2 3 Inzwischen wird vereinzelt offen darüber nachgedacht, die Urteilsverfassungsbeschwerde überhaupt abzuschaffen 1 2 4 oder sie nur für jene Fälle beizubehalten, in denen der Grundrechtsverstoß
» 7 Vgl. aber Voßkuhle, Rechtsschutz, S. 2, 244ff., 298 ff., 316ff., 343 ff.; ders., NJW 1995, 1381 ff. sowie Th. Brandner, FS Brandner (1996), S. 683 ff. 118 Kritisch hierzu (bezüglich des Zivilprozeßrechts) Köster, Beschleunigung (Teil 2), S. 868 ff., 886. Vgl. auch J. Henkel, Gesetzlicher Richter, S. 137 ff. 119 Zu den vom Gesetzgeber in mehreren Etappen eingeführten organisatorischen und prozessualen Maßnahmen zur Bewältigung der Arbeitslast beim BVerfG (hierbei geht es insbesondere um die Einführung des Kammersystems und um die Ausgestaltung des Annahmeverfahrens) vgl. Blankenburg, KJ 1998, 206ff.; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG, § 93a Rn 1 ff.; Wöhrmann, FS Zeidler Bd. II (1987), S. 1346 ff.; s. auch Schiaich, BVerfG, Rn 250 ff. Zum Nebeneinander von prozessualen und dogmatischen Selektionsmechanismen vgl. Posser, Subsidiarität, S. 52 ff.; Zacher, FG BVerfG Bd. I (1976), S. 402ff. und Miebach, Abwägungskontrolle, S. 55. 120 BVerfG Ε 33, 247 (258f.); 51, 130 (139); Benda, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn 331 ff.; Gusy, Verfassungsbeschwerde, Rn 15 f.; Löwer, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts II, § 56 Rn 142; Schiaich, BVerfG, Rn 263 ff.; Stern, Staatsrecht II, § 44 IV 9 ( = S. 1015ff.); kritisch jedoch Posser, Subsidiarität, S. 47ff., 273, 358ff. (359); Schlink, NJW 1984, 92ff.; s. auch Vitzthum, FS Bachof (1984), S. 317. 121 Vgl. Sailer, ZRP 1977, 310; Pestalozza, DWiR 1992, 427; ablehnend ζ. B. Mahrenholz, FS Zeidler Bd. II (1987), S. 1363 und Warmke, Subsidiarität, S. 30f. (m.w.N.). 122 Bausback, ZRP 1999, 9; Pestalozza, DWiR 1992, 431; s. ferner (im Zusammenhang mit der Einführung einer Verfassungsanwaltschaft Herzog, ZRP 1991, 28 f.; Söllner, ZRP 1997, 275 f.; kritisch hingegen Bundesministerium der Justiz, Entlastung, S. 96 ff. (101 ff.); Vogel, FS Kleinert (1992), S. 75 f. 123 Vgl. Blankenburg, KJ 1998, 214. 124 Kauffmann, RuP 1998, 29 ff.; s. auch Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 12 Rn 7; abschwächend jedoch (Beibehaltung für die neuen Bundesländer einschließlich Berlins) ders., DWiR 1992, 427.
9. Kapitel: Die Beschränkung der Verfassungsgericht!. Kontrolle durch die sog. „Willkürformel"
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erstmalig in der letztinstanzlichen (bzw. der im R a h m e n des § 9 0 II B V e r f G G angreifbar e n ) Entscheidung liegt. 1 2 5 Ungleich m e h r A n h ä n g e r hat hingegen der insbesondere von den Mitgliedern des BVerfG seit jeher favorisierte Vorschlag, ein freies Annahmeverfahren n a c h d e m Vorbild des a m U S - S u p r e m e C o u r t geltenden „writ o f certiorari" einzuführ e n . 1 2 6 Dieses M o d e l l 1 2 7 basiert auf d e m Grundgedanken, daß über die A n n a h m e einer Verfassungsbeschwerde nicht durch die Subsumtion unter gesetzliche Vorgaben entschieden wird, sondern daß ein A u s w a h l e r m e s s e n der Richter b e s t e h t . 1 2 8 Freilich begegnet a u c h eine solche „ G e w ä h r u n g v o n Z u s t ä n d i g k e i t s a u t o n o m i e für das BVerfG" tiefgreifenden B e d e n k e n ; 1 2 9 abgesehen d a v o n w ü r d e die hiermit verbundene A u s h ö h l u n g der Rechtsschutzfunktion der Verfassungsbeschwerde w o h l eine Verfassungsänderung erfordern. 1 3 0 Vor diesem H i n t e r g r u n d steht mittelfristig eine Entscheidung darüber an, o b an der G r u n d k o n z e p t i o n der Verfassungsbeschwerde als (wenngleich nur äußerst selten z u m Erfolg f ü h r e n d e m ) Mittel des subjektiven G r u n d r e c h t s s c h u t z e s festgehalten o d e r o b diese Funktion b e w u ß t aufgegeben w e r d e n soll. 1 3 1 Diese prinzipielle Alternative strahlt Gegen eine solche „alexandrinische Lösung", die „das Kind mit dem Bade ausschütten" würde, vgl. nur Posser, Subsidiarität, S. 467f.; S. Pawlowski, Rechtsschutz, S. 19 ff.; s. auch Lamprecht, NJW 1997, 2219 f. 125 Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn 263 f.; s. auch Geiger, DRiZ 1991, 360. 126 Für diesen Vorschlag votiert auch die Bertha-Kommission (vgl. Bundesministerium der Justiz [Hrsg.], Entlastung, S. 42ff.). Vgl. ferner Umbach, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, vor §§ 93a ff Rn 19 ff.; Benda, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn 328; Böckenförde, ZRP 1996, 283 f. sowie Grimm, in: Die Woche, Nr. 3 6 / 9 5 (vom 1 . 9 . 1 9 9 5 ) , S. 30; vgl. bereits Rinck, NJW 1959, 170 sowie die Nachweise bei Wieland, Staat 29 (1990), 340 (Fn 43), 351 (Fn 85). 127 Vgl. die Darstellungen bei Posser, Subsidiarität, S. 469 ff.; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz/SchmidtBleibtreu, BVerfGG, § 93a Rn 9 ff. und Wieland, Staat 29 (1990), 343 ff. 128 Die Formulierung einer entsprechenden gesetzlichen Regelung könnte etwa lauten (vgl. Böckenförde, ZRP 1996, 2 8 3 ) : „Der Senat nimmt eine Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, wenn mindestens drei Richter der Auffassung sind, daß die Entscheidung für den Grundrechtsschutz von (besonderer) Bedeutung ist. Kommt eine solche Übereinstimmung nicht zustande, ist die Verfassungsbeschwerde nicht angenommen." 129 Kritisch zur „Gewährung von Zuständigkeitsautonomie für das BVerfG" Posser (Subsidiarität, S. 474 ff. [476]), der zudem eine Verringerung der Pensen durch ein alternatives Vorprüfungsmodell zur Diskussion stellt (a.a.O. S. 483 ff.); ferner Albers, ZRP 1997, 200f.; H.-P. Schneider, NJW 1996, 2631; Mahrenholz, ZRP 1997, 130 f. und Söllner, ZRP 1997, 275. Angesichts der amerikanischen Erfahrungen (nach Schätzungen verwendet jeder Richter zwischen vier und 20 Minuten auf jedes der mehr als 4000 jährlich nicht zur Entscheidung angenommenen Verfahren; vgl. Wieland, Staat 29 [1990], 347) dürfte der Hinweis von Böckenförde (ZRP 1996, 284; ausführlich in die gleiche Richtung argumentierend Wahl/Wieland, J Z 1 9 9 6 , 1 1 4 3 ff.), die „besondere Bedeutung" könne sich auch aus den subjektiven Umständen des Einzelfalles ergeben, eher theoretischer Natur sein. Die ebd. getroffene Äußerung, die „Suspendierung des Grundsatzes ,Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser'" beginne nicht erst beim Annahmeverfahren, sondern schon bei Verfassungsgerichtsbarkeit überhaupt, ist ebenfalls ein Argument von zweifelhaftem Wert (vgl. auch oben 4. Kap. III.2). 1.0 So (mit neun gegen zwei Stimmen) die Benda-Kommission (Bundesministerium der Justiz [Hrsg.], Entlastung, S. 54ff.); Albers, ZRP 1997, 200; Posser, Subsidiarität, S. 476ff.; AK/GG-Rinken, Art. 93 Rn 75; Vitzthum, FS Bachof (1984), S. 320; Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn 266 f.; a.A. Clemens, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 93d Rn 19 ff.; Kau, ZRP 1999, 320ff. sowie (gestützt auf Art. 94 II 2 GG) Wieland, Staat 29 (1990), 350 ff. und Schiaich, BVerfG, Rn 265 ff. 1.1 Nach Ansicht von Faupel (NJ 1998, 59) spricht entscheidend für die Einführung des freien Annahmeermessens, daß „die scheinbar bürgerfreundliche Vorstellung (...), das oberste Gericht eines Lan-
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Zweiter Teil: Der verfassungsrechtliche Gehalt des Art. 101 GG
a u c h auf die verfassungsrechtliche Beurteilung der Willkürformel aus. Bei einer Einführung des freien Annahmeverfahrens würde die Frage der Willkürformel schlagartig ihre B e d e u t u n g verlieren. Freilich w ä r e hiermit z w a r d e m BVerfG, nicht aber d e m in seinen G r u n d r e c h t e n verletzten Bürger geholfen. Andererseits w ä r e die Beibehaltung des vergleichsweise rechtsschutzfreundlichen, immerhin an einen (freilich äußerst s c h w a c h k o n t u r i e r t e n ) 1 3 2 n o r m a t i v e n M a ß s t a b gebundenen Z u s c h n i t t s der Verfassungsbeschwerde vermutlich illusorisch, w e n n m a n die Belastung des BVerfG zusätzlich d a d u r c h e r h ö h e n würde, daß m a n die in Gestalt der Willkürformel praktizierte Kontrollrestriktion für verfassungswidrig erklärt. U m zu vermeiden, daß die Verfassungsbeschwerde ihren individualschützenden C h a r a k t e r vollständig einbüßt o d e r lediglich n a c h M a ß g a b e eines freien richterlichen E r m e s s e n s behält, erscheint es daher a n g e m e s s e n , die Willkürformel als z w a r in h o h e m M a ß e bedenklich, nicht aber als verfassungswidrig anzusehen. Dies gilt u m s o mehr, als bei einer aus Art. 101 I 2 G G abgeleiteten Verwerfung der Willkürprüfung gerade ein d e m Bürger gewährleistetes Justizgrundrecht als M e s s e r dienen würde, u m die erweiterten Kontrollmöglichkeiten abzuschneiden. Vor diesem H i n t e r g r u n d erscheint es hinnehmbar, d e m BVerfG weitere Toleranzgrenzen einzuräumen, als es seinerseits den fachgerichtlichen Revisionsgerichten zubilligt. 1 3 3 Dies gilt u n g e a c h t e t der Tatsache, daß mit der sprachlichen „ G r o b h e i t " der Willkürformel 1 3 4 und der Gefahr der
des könnte mit seinen 16 Richtern alle wirklichen oder vermeintlichen Grundrechtsverstöße aufarbeiten, die es in einem Volk von 80 Mio. Einwohnern und jährlich ca. 3 3 0 0 0 0 bis 3 5 0 0 0 0 nicht mehr mit Rechtsmitteln angreifbaren Gerichtsentscheidungen gibt, ... als blanke Illusion (erscheint)". Deshalb sei die Annahme nach Ermessen gegenüber der Steuerung des Arbeitsanfalls über die Zulässigkeitskriterien und sonstige Mechanismen der „weitaus ehrlichere Ansatz" (a.a.O.). Umgekehrt gegen einen „Befreiungsschlag", durch den der Grundrechtsschutz zum „Gnadenakt" würde, H.-P. Schneider, NJW 1996, 2631. 132 Die gegenwärtige Situation wird von Benda (in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn 592) als dem certiorari-Verfahren „stark angenähert" gedeutet; vgl. auch Kau, ZRP 1999, 322; Krämer, KritV 1998, 218; Wahl/Wieland, J Z 1996, 1142 f. Nach Ansicht von Haas (FS 50 Jahre BayVerfGH [1997], S. 40) definiert das BVerfG „ohne gesetzliches Regulativ den Umfang seiner Prüfungsbefugnis selbst"; nach Ansicht von Weyreuther (DVB1. 1997, 926) vermitteln manche Entscheidungen des BVerfG den Eindruck, „die Rechtsprechung werde ... von zwei Maximen ... beherrscht, dem ,Wir wollen nicht ran' ... und dem ,Wir wollen ran'". Im Plenumsbeschluß BVerfGE 54, 277 (291 ff. [293]) wurde bezüglich § 554b I ZPO festgestellt, daß von Verfassungs wegen die Annahme einer Revision, die nach der in diesem Stadium gebotenen Prüfung Aussicht auf Erfolg besitzt, „nicht aus Gründen der Selbststeuerung seiner Arbeitslast durch das Revisionsgericht abgelehnt werden darf". Vgl. im Kontrast dazu die Nichtannahme von an sich (sogar „offensichtlich") begründeten Verfassungsbeschwerden; s. BVerfGE 46, 313 (314); 71, 64 (65f.); SK/ StPO-Frisch, vor § 296 Rn 56f. (m.w.N.) sowie E. Klein, NJW 1993, 2075 (zur Einbeziehung des ξ 93a IIb BVerfGG in § 93c I 1 BVerfGG). Vgl. auch kritisch zur Annahmepraxis des BGH Krämer, FS Brandner (1996), S. 701 ff. (709ff.). 1,4 Daß durch die dem Willkürbegriff immanente gesteigerte Polemik die berufliche Ehre des Ausgangsrichters tangiert wird, obwohl es in der Sache doch allein um die eher nüchterne Frage des verfassungsgerichtlichen Prüfungsumfangs (bei grundsätzlicher Aufgabenparallelität) geht, wird bemängelt von Kirchhof, FS Geiger (1989), S. 109; ders., NJW 1996, 1504; s. auch Günter, DRiZ 1996, 157f.; Rennert, NJW 1991, 16 und Kauffmann, RuP 1996, 152. Die durch das Abstellen auf die „objektive" Willkür angestrebte Abmilderung dieses Vorwurfs (vgl. Benda, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn 603) fällt recht bescheiden aus (Haas, FS 5 0 Jahre BayVerfGH [1997], S. 36; ähnlich Höfling, J Z 1991, 955), wenn man bedenkt, daß nach der Rechtsprechung des BVerfG (E 70, 93 [97]) „selbst
9. Kapitel: Die Beschränkung der Verfassungsgericht!. Kontrolle durch die sog. „Willkürformel"
d o g m a t i s c h e n Verflachung des G r u n d r e c h t s s c h u t z e s 1 3 5
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n o c h weitere Aspekte in die
Mängelliste aufzunehmen sind. 1 3 6 Inwieweit der G e s e t z g e b e r ( o d e r a u c h das Gericht s e l b s t ) 1 3 7 auf andere Weise die Funktionsfähigkeit des BVerfG stärken kann, 1 3 8 ist hier nicht zu untersuchen. Allerdings sollte es angesichts der v o r s t e h e n d e n E r w ä g u n g e n kein e m Zweifel unterliegen, daß die formell im R a h m e n der Begründetheitsprüfung 1 3 9 angesiedelte Willkürformel eine weniger von materiell-rechtlichen als vielmehr von funktionellen E r w ä g u n g e n g e p r ä g t e Rechtsfigur darstellt. 1 4 0
3.
Spezielle B e d e n k e n bezüglich einer A n w e n d b a r k e i t d e r W i l l k ü r f o r m e l im R a h m e n des Art. 101 I 2
GG
Da sich die Willkürformel im A n w e n d u n g s b e r e i c h des Grundsatzes v o m gesetzlichen Richter nicht aus d e m materiellen Gehalt des Art. 101 I 2 G G ableiten läßt, 1 4 1 k o m m t im eine zweifelsfrei fehlerhafte Anwendung einfachen Rechts ... noch keinen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz (begründet)". '•« Kirchberg, NJW 1987, 1994 f. 1,6 Überdies ist nicht recht einsichtig, warum die ansonsten für die Prüfungsdichte maßgebliche Schwere des Eingriffs (zur sog. „Eingriffsintensität" vgl. Lincke, EuGRZ 1986, 60 ff.; s. auch Herzog, FS Dürig [1990], S. 439 ff. sowie ausführlich Scherzberg, Grundrechtsschutz und „Eingriffsintensität" [1989], insbesondere S. 18ff., 139ff., 223ff.) hinter der Evidenz der Unhaltbarkeit zurücktreten soll; vgl. Benda, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn 604; Kirchberg, NJW 1987, 1996 f.; Winter, FS Merz (1992), S. 622. Das weitere rechtspolitische Bedenken, die Willkürkontrolle verstärke die inflationäre Entwicklung der Urteilsverfassungsbeschwerde, da sie für Evidenzfälle einen nahezu unbeschränkten Zugriff auf die Spruchtätigkeit der Fachgerichte ermögliche und hierdurch geradezu einen Anreiz schaffe, nach erfolglosem Durchschreiten des Instanzenzuges sein Heil vor dem BVerfG zu suchen (vgl. Gusy, Verfassungsbeschwerde, Rn 93; Haas, in: FS 5 0 Jahre BayVerfGH [1997], S. 40 [Fn 54]; Kauffmann, RuP 1998, 33; Kirchberg, NJW 1987, 1995f.; Mauder, Anspruch, S. 58; Stürner, J Z 1986, 533), gilt für das freie Annahmeverfahren freilich in gleicher Weise. i' 7 Nach Ansicht von H.-P. Schneider (NJW 1996, 2631 f.) ist in erster Linie das BVerfG gefordert, seine „extensive Arbeitsweise" umzustellen; so auch Albers, ZRP 1997, 201 ff.; Starck, J Z 1996, 1041 f.; vgl. ferner Wahl/Wieland a.a.O. S. 1140. 1.8 Zu den in Betracht kommenden Änderungen vgl. Posser, Subsidiarität, S. 466 ff.; s. auch Wahl/ Wieland, J Z 1996, 1139 f. und Wöhrmann, FS Zeidler Bd. II (1987), S. 1356 ff. 1.9 Vgl. Benda, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn 586ff. (589); Posser, Subsidiarität, S. 55 f. Unter funktionell-rechtlichen Vorzeichen für ein Zuständigkeitsproblem Schuppert, AöR 103 (1978), 50; demgegenüber nimmt Schiaich (BVerfG, Rn 2 7 2 ) eine (wenngleich von einem prozessualen Aspekt geprägte) materielle Einordnung vor. 14(1 Zur Erklärung kann auf die modellhafte Gegenüberstellung zwischen Handlungs- (oder Entscheidungs-) und Kontrollnorm verwiesen werden. Dieses an die von Forsthoff (GS Jellinek [1955], S. 2 3 2 f . ) herrührende Differenzierung zwischen Funktions- und Kontrollnorm anknüpfende Begriffspaar ist zwar primär auf die verfassungsgerichtliche Kontrolle des Gesetzgebers bezogen; es läßt sich aber auch zur Verdeutlichung des Prüfungsumfangs der Verfassungsgerichte gegenüber der Fachgerichtsbarkeit verwenden; vgl. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 I Rn 395 ff.; Bender, Befugnis, S. 22, 122; Scherzberg, Grundrechtsschutz, S. 19f., 121 ff. (123 [Fn 152], 134f.); s. auch Miebach, Abwägungskontrolle, S. 62 f. Gegen eine Aufspaltung zwischen Handlungs- und Kontrollnorm jedoch Heun, Schranken, S. 46ff. (52f.). 141 Vgl. oben zu II. Hiermit stimmt die Forderung von Proske (NJW 1997, 354) überein, daß „der materiellrechtliche Gehalt der Garantie des gesetzlichen Richters unabhängig von der Prüfungskompetenz des BVerfG zu bestimmen (ist)."
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Zweiter Teil: Der verfassungsrechtliche Gehalt des Art. 101 GG
Rahmen dieses Justizgrundrechts lediglich eine parallele Konstruktion zur allgemeinen Willkürformel in Betracht. Der funktionelle Charakter der Willkürformel wird anschaulich durch den Hinweis beschrieben, daß das BVerfG bei der Erstreckung des Art. 1 0 1 1 2 G G auf Vorgänge innerhalb der Judikative mit der Übertragung der Willkürformel „eine Bremse eingebaut" 1 4 2 habe. Angesichts der konzeptionellen Verwandtschaft belasten die dargestellten Schwächen der allgemeinen Willkürformel grundsätzlich auch ihre Verwendung im Kontext des gesetzlichen Richters. Daneben gibt es jedoch noch weitere Aspekte, die speziell mit Blick auf Art. 101 I 2 G G zusätzliche Bedenken gegen eine Reduzierung des Kontrollumfangs auf willkürliche Richterentziehungen begründen.
a)
Die besonders enge Verflechtung mit dem einfachen Gesetzesrecht
Ein erstes Indiz gegen die unbesehene Übernahme der bezüglich der materiellen Freiheitsrechte entwickelten Kontrollmaßstäbe ergibt sich aus der hohen Normprägung der Justizgrundrechte. 1 4 3 Wer „gesetzlicher" Richter ist, läßt sich nur unter Heranziehung einfachgesetzlicher Normen ermitteln. Damit sind die Sphären des Verfassungs- und des einfachen Gesetzesrechts hier aber aufs engste miteinander verwoben. 1 4 4 Dies führt nicht allein zu der praktischen Schwierigkeit, beide Sphären voneinander zu trennen, sondern die Bezugnahme der Verfassungsgarantie auf die Konkretisierungen durch die Normen des einfachen Gesetzesrechts verleiht diesen Bestimmungen grundsätzlich 1 4 5 eine stärkere verfassungsrechtliche Relevanz, als sie den allgemeinen Vorschriften zukommt, die erst auf dem Umweg über die allgemeinen Grundrechtsnormen der Art. 2 I G G bzw. Art. 3 I G G auch eine verfassungsrechtliche Bedeutung erlangen. Soweit verfahrensrechtliche und gerichtsverfassungsrechtliche Regelungen in diesem Sinne verfassungsspezifischen Charakter tragen, begründet die Anwendung der Willkürformel die Gefahr einer ungerechtfertigten Zurücknahme der Prüfungskompetenz und einer „Verharmlosung" der Verletzung von Prozeßgrundrechten. 1 4 6 Z u r Begründung eines erweiterten Zugriffs auf die Fachgerichtsbarkeit bedarf es in diesem Sektor der Willkürformel nicht; sie wirkt hier vielmehr ausschließlich als Mittel zur Prüfungsbeschränkung. 142 Kromer, JuS 1984, 604; s. auch Bohnert, Beschränkungen, S. 50; Kern, JZ 1959, 220. Allgemein konstatiert Bender (Befugnis, S. 46), daß in der verfassungsgerichtlichen Judikatur „den Weiterungen materiellrechtlich vermittelten Schutzes ... vage Zurückhaltungspostulate wie Schatten (folgen)". Im Kontext des Art. 1 0 1 1 2 GG ist ferner darauf hinzuweisen, daß die Ausweitung des Schutzbereichs nach der Einführung des Vorprüfungsverfahrens erfolgt ist; vgl. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 170 (Fn 121). 143 Gegen einen solchen Automatismus bereits Ossenbühl, FS Ipsen (1977), S. 131; ebenso Höfling, JZ 1991, 962; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. I Rn 143. ]44 Bakker, Grenzen, S. 170; Bohnert, Beschränkungen, S. 49 f.; Leisner, NJW 1989, 2447; Steinwedel, Verfassungsrecht, S. 38; s. auch BendafWeber, ZZP 96 (1983), 305; Gusy, Verfassungsbeschwerde, Rn 95. Zutreffend weisen Pieroth/Schlink (Grundrechte, Rn 1262) daraufhin, daß bei Art. 101 I 2 (und 103 I) GG „die grundrechtliche Gewährleistung gerade in der Gesetzlichkeit besteht". 145 Dies gilt prinzipiell auch dann, wenn man eine automatische Gleichsetzung von Gesetzesverstoß und Verfassungsverletzung ablehnt und für die Entwicklung eines Modells der spezifizierenden Fehlerfolgenbestimmung eintritt; vgl. Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 35 ff.; (zur parallelen Problematik des „rechtlichen" Gehörs) Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. I Rn 143 ff.; Voßkuhle, Rechtsschutz, S. 190 (mit Fn 20). Höfling, J Z 1991, 961 f.; Proske, NJW 1997, 354 f. Für das Strafverfahren (freilich nicht beschränkt auf Art. 101 I 2 GG) bemerkt Peters, Strafprozeß, § 4 I 4 ( = S . 29): „Vollends erhält der Bürger keinen Schutz, wenn das Bundesverfassungsgericht auf Willkür des Richters abstellt."
9. Kapitel: Die Beschränkung der Verfassungsgericht!. Kontrolle durch die sog. „Willkürformel"
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Die Forderung, die Kontrolltätigkeit des BVerfG solle im Bereich der Justizgrundrechte über den durch die Willkürformel abgesteckten Rahmen hinaus erweitert werden, läßt sich ferner mit dem Argument untermauern, daß den verfahrensrechtlichen (ebenso wie den methodischen) Anforderungen an das fachgerichtliche Verfahren ein herausgehobener Stellenwert zukommt. 1 4 7 Gerade weil eine detaillierte Kontrolle der Fachgerichtsbarkeit durch das BVerfG ausgeschlossen ist, erscheint es sinnvoll, zumindest die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Verfahrensvorgaben streng zu überwachen, um hierdurch eine sichere Grundlage dafür zu erlangen, daß wegen der Aufgabenparallelität von Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit die materielle Richtigkeit der angegriffenen Gerichtsentscheidung nur in erheblich eingeschränktem M a ß e überprüft wird. 148 Auf diese Weise wird das Problem der funktionalen Abgrenzung zwischen Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit an dem Grundgedanken der Verfahrensgerechtigkeit ausgerichtet, daß durch die Verstärkung prozeduraler Sicherheiten ein prinzipieller Ausgleich für eine nur unvollkommen zu gewährleistende materielle Richtigkeit geschaffen werden kann. 1 4 9
b)
Intensivierung der Prüfung unter Beibehaltung der Willkürformelf
Möglicherweise könnte den genannten Bedenken dadurch Rechnung getragen werden, daß das BVerfG im Bereich der Justizgrundrechte zwar am Willkürmaßstab festhält, ihn aber in einer im Vergleich zur allgemeinen Willkürkontrolle strengeren Weise handhabt. Insoweit ist nicht lediglich eine theoretische Möglichkeit angesprochen, sondern das BVerfG widmet sich nach Ansicht mancher Beobachter der Kontrolle von Verfahrensanforderungen mit soviel „Liebe zum Detail", 1 5 0 daß es sich - seinen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz - „wie ein ,Superrevisionsgericht' in Prozeßsachen" 1 5 1 verhalte. Äußerungen des BVerfG selbst weisen tendenziell in die gleiche Richtung, 1 5 2 und es gibt auch im Rahmen des Art. 101 I 2 G G in den letzten Jahren vermehrt verfassungsgerichtliche Entscheidungen, 1 5 3 die Judikate der Fachgerichte unter dem Gesichtspunkt der willkürVgl. hierzu auch Rennert, NJW 1991, 15 ff., 18 und Schulte, Rechtsprechungseinheit, S. 160. Zu dieser Wechselbeziehung vgl. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 313 ff. (326); Kirchberg, KritV 1 9 9 8 , 2 3 8 ; Krebs, Kontrolle, S. 97 f., 102 ff.; Schulte, Rechtsprechungseinheit, S. 160. S. auch oben 5. Kap. II.3 (a.E.). 149 In die gleiche Richtung weist die Überlegung, daß die Fachgerichte hinsichtlich der Beeinträchtigung von Justizgrundrechten sog. „primäre Grundrechtsgegner" sind, deren Verhalten unmittelbarer Prüfungsgegenstand des BVerfG ist; Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 319; Bakker, Grenzen, S. 170; Rüthers/Bakker, ZfA 1992, 218, 220; Robbers, NJW 1998, 940; Schulte, Rechtsprechungseinheit, S. 160. Vgl. auch Frohn, Gehör, S. 15 (Fn 17: „spezifisches Grundrechtsverletzungsrisiko" bezüglich der Art. 101 bis 104 GG in sämtlichen gerichtlichen Erkenntnisverfahren) sowie Voßkuhle, S. 196 (mit Fn 52). 150 Ossenbühl, DÖV 1981, 9; vgl. auch ders., FS Ipsen (1977), S. 136. 151 So Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 318; vgl. auch Hergenröder, Grundlagen, S. 180 (die objektivierte Fassung der Willkürformel ist „von der Einschätzung als rein objektives Tatbestandsmerkmal so weit nicht entfernt"). Zur Intensivierung der Prüfungskompetenz bezüglich der Verfahrensgrundrechte vgl. ferner SK/StPO-Fracfc, vor § 296 Rn 61; Ossenbühl, FS Ipsen (1977), S. 135 f. und Schiaich, BVerfG, R n 3 1 1 f. i « BVerfG Ε 75, 302 (312 ff.) zu Art. 103 I GG (Präklusionsvorschriften); BVerfGE 82, 286 ( 2 9 9 ) zu Art. 101 I 2 GG; s. auch Herzog, FS Dürig (1990), S. 443 ff. und Höfling, J Z 1991, 961 f. >•» Vgl. die Senatsentscheidungen BVerfGE 29, 45 (49 ff.); 42, 237 (241 f.); 75, 223 (234ff.); 76, 93 (96ff.) sowie die (der „offensichtlich begründeten" Verfassungsbeschwerde stattgebenden) Kammerbeschlüsse BVerfG (2. Kammer des E.sten Senats), NJW 1989, 3007; (1. Kammer des Zweiten Senats) 147
148
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Zweiter Teil: Der verfassungsrechtliche Gehalt des Art. 101 GG
liehen Richterentziehung aufgehoben haben. U n g e a c h t e t dieses Befundes bildet die Willkürformel a u c h bezüglich der Garantie des gesetzlichen Richters einen „weitmaschigen M a ß s t a b " , 1 5 4 dessen vorrangige B e d e u t u n g in der A b w e h r einer als übermäßig empfundenen I n a n s p r u c h n a h m e zu sehen ist. Diese Ambivalenz ist keineswegs widersprüchlich. D e n n w a s im Vergleich zur allgemeinen Willkürkontrolle als strenge N a c h p r ü f u n g erscheint, kann - g e m e s s e n an der Alternative eines Fehlens der Willkürformel - ein sehr g r o b e s Kontrollraster darstellen. Ferner ist die Beurteilung vielfach stark von der Judikatur des BVerfG zur Verletzung des rechtlichen G e h ö r s g e p r ä g t ; diesbezüglich ist jedoch ein unterschiedlicher Prüfungsumfang s c h o n deshalb denkbar, weil die Willkürformel im R a h m e n des Art. 1 0 3 I G G keine d e m Art. 101 I 2 G G vergleichbare Rolle spielt. 1 5 5 Eine Fallgruppe, bezüglich derer in letzter Zeit mit b e s o n d e r e m N a c h d r u c k auf die Unzulänglichkeit einer a m Willkürmaßstab orientierten Kontrolle aufmerksam g e m a c h t wurde, bildet die Nichtbeachtung von Vorlagepflichten. Im Interesse der Rechtseinheit, 1 5 6 die durch den Instanzenzug nur unvollkommen gewährleistet werden kann, 1 5 7 sind in praktisch allen Gerichtszweigen Vorlagepflichten normiert, 1 5 8 die in den Fällen der beabsichtigten Abweichung ( s o g . Divergenzvorlage) 1 5 9 o d e r z u m Z w e c k e der Fortbildung des R e c h t s bzw. zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (sog. G r u n d s a t z v o r l a g e ) 1 6 0 die Entscheidung von Rechtsfragen durch einen höherrangigen Spruchkörper (die G r o ß e n Senate oder der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des B u n d e s ) 1 6 1 vorsehen. Da die Einhaltung dieser Vorlagepflichten v o m Schutz des Art. 101 I 2 G G umfaßt ist, 1 6 2 unterNJW 1988, 2173 sowie (2. Kammer des Zweiten Senats) NJW 1991, 2893 f. und NStZ 1995, 253 f. Vgl. auch zur parallelen Entwicklung im Rahmen der allgemeinen Willkürformel oben Fn 87. 154 Niemöller/Schuppert, AöR 107 (1982), 421; ebenso Kunig, in: v. Münch/Kunig, GGK, Art. 101 Rn 33; Schulte, Rechtsprechungseinheit, S. 157. '« F. Krauß, Umfang, S. 278; Waldner, ZZP 98 (1985), 214; vgl. aber auch Zierlein, DVB1. 1989, 1173 f. Zum unterschiedlichen Prüfungsumfang bezüglich Art. 101 I 2 GG und Art. 103 I GG vgl. Stürner,]Z 1986, 531; Degenhardt, in: Sachs, GG, Art. 101 Rn 21. 156 Schulte, Rechtsprechungseinheit, S. 18; Kissel, GVG, § 132 Rn 1. 157 Das liegt u.a. daran, daß die Revision nicht stets bis zum jeweiligen obersten Gerichtshof des Bundes hinaufreicht; vgl. hierzu das Schaubild bei Wolf, Gerichtsverfassungsrecht, S. 124 f. Bedenkt man beispielsweise, daß im Jahre 1984 in der Bundesrepublik Deutschland 7 0 Strafsenate bei 19 Oberlandesgerichten sowie fünf Strafsenate beim BGH (neben Spezialsenaten wie dem Kartellsenat [§ 95 GWB] oder Senaten für Bußgeldsachen [§ 46 VII OWiG]) bestanden, so ist die Divergenz „geradezu systemimmanent" (so Lilie, Obiter dictum, S. 12). >5» Vgl. z.B. § 132 GVG, § 45 ArbGG, § 11 VwGO, § 11 FGO, § 41 S G G ; s. auch Wolf, Gerichtsverfassungsrecht, § 17 I 3 ( = S. 175f.) sowie die tabellarische Ubersicht bei Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 15 Rn 6. 159 Ausführlich hierzu Ch. Meyer, Einheitlichkeit, S. 23 ff. sowie bezüglich der ordentlichen Gerichtsbarkeit Kissel, GVG, § 132 Rn 15 ff. Im Strafrecht sieht der Wortlaut des § 121 II GVG allerdings keine Ausgleichsmöglichkeit für den Fall vor, daß die Divergenz zwischen unterschiedlichen Senaten desselben OLG auftritt; vgl. hierzu kritisch Lilie, Obiter dictum, S. 42 ff.; s. auch KK-Hannich, Rn 21; LRK. Schäfer, Rn 43 ff. jeweils zu § 121 GVG. Zu weiteren das OLG im Bereich des Strafrechts treffenden Vorlagepflichten sowie zu den für Bayern geltenden Besonderheiten vgl. Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, § 121 Rn 16 f. 160 Hierzu ausführlich Ch. Meyer, Einheitlichkeit, S. 85 ff.; Kissel, GVG, § 132 Rn 31 ff. Zu weiteren Klassifikationsmöglichkeiten vgl. Rodi, DÖV 1989, 756 ff. 161 Hierzu ausführlich Schulte, Rechtsprechungseinheit als Verfassungsauftrag (1986), insb. S. 32 ff., 68 ff. 162 Aus dieser Zuordnung erwachsen zwei weitere Probleme: (1) Da die eine Grundsatzvorlage eröff-
9. Kapitel: Die Beschränkung der Verfassungsgericht!. Kontrolle durch die sog. „Willkürformel"
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liegt sie der - freilich auf willkürlich Verstöße beschränkten - 1 6 ' Ü b e r w a c h u n g durch das BVerfG. 1 6 4 W ä h r e n d einige A u t o r e n für ein unbedingtes Festhalten an der mit d e m Willk ü r m a ß s t a b bewirkten Prüfungsbegrenzung eintreten, u m zu vermeiden, daß das BVerfG in die Rolle eines „obersten V o r l a g e n - K o n t r o l l - G e r i c h t s " 1 6 5 versetzt werde, wird von anderer Seite 1 6 6 v e h e m e n t eine strengere Kontrolltätigkeit des BVerfG gerade auf diesem Gebiet gefordert. In der Tat erscheint hier eine Verstärkung der Kontrollintensität g e b o t e n . Diese Eins c h ä t z u n g stützt sich auf die s c h o n zu Z e i t e n des Reichsgerichts unter der Bezeichnung des „ h o r r o r p l e n i " 1 6 7 beschriebene B e o b a c h t u n g , daß in wohl allen Gerichtszweigen die N e i g u n g besteht, die als lästig empfundenen Vorlagen an die G r o ß e n Senate o d e r gar an den G e m e i n s a m e n Senat der o b e r s t e n Gerichtshöfe des Bundes n a c h Möglichkeit zu verm e i d e n . 1 6 8 Z u r Erreichung dieses Z w e c k s haben sich unterschiedliche Strategien heraus-
nenden Vorschriften (z.B. § 132 IV GVG, 45 IV ArbGG, 5 11 IV VwGO, § 11 IV FGO, § 41 IV S G G ) als „Kann"-Regelungen ausgestaltet sind, ist umstritten, ob sie wegen der Einräumung eines Vorlageermessens gegen Art. 101 I 2 GG verstoßen; so Schefold, Zweifel, S. 41 ff. (45), 69; a.A. Ch. Meyer, Einheitlichkeit, S. 100ff. (116ff.); Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, Rn 14 (m.w.N.); Kissel, GVG, Rn 38; LR-K. Schäfer/Harms, Rn 37 jeweils zu § 132 GVG. Eine verfassungskonforme Auslegung im Sinne einer gebundenen Entscheidung vertreten Bakker, Grenzen, S. 224ff. (s. auch a.a.O. S. 83ff., 246ff.); Hergenröder, Grundlagen, S. 183 ff.; MüKo/ZPO-Wo/^ § 132 GVG Rn 27. Zur parallelen Problematik der Zulassung von Rechtsmitteln vgl. (jeweils gegen die Zubilligung eines echten Handlungsermessens) Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Grundrechte III/2, S. 570f.; Lässig, Rechtsmittelzulassung, S. 36ff.; Prütting, Zulassung, S. 241 ff. sowie (bezüglich § 80 I OWiG) Baukeimann, Zulassung, S. 233ff. (237) und Weidemann, NStZ 1985, 2 ff. (2) Die aus Art. 101 I 2 GG resultierenden Bedenken gegen das der Divergenzvorlage vorgeschaltete Anfrageverfahren (vgl. Lilie, Obiter dictum, S. 57ff.; s. auch die gegensätzlichen Beurteilungen von Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 101 Rn 54 und Schirmer, SGb 1980, 415 f., 428) haben durch die gesetzliche Regelung in § 132 III GVG (vgl. Ch. Meyer a.a.O. S. 69 ff. [75 ff.]; kritisch jedoch Bakker a.a.O. S. 23 f., 41 ff., 218 f.) an Bedeutung verloren; vgl. allerdings für § 121 II GVG YX-Hannich, § 121 GVG Rn 30 sowie (kritisch) Kissel, GVG, § 121 Rn 16. 163 Eine willkürliche NichtVorlage wurde angenommen in BVerfGE 42, 237 (241 f.); 75, 223 (234ff., 245); 76, 93 (96ff.). 164 So das BVerfG in ständiger Rechtsprechung (vgl. BVerfGE 76, 93 [96] sowie die weiteren in der vorigen Fn und die bei Leibholz/Rinck/Hesselberger, GG, Art. 101 Anm. 6 angegebenen Nachweise; speziell zum Strafrecht s. ferner die Entscheidungen der 2. Kammer des Zweiten Senats in NJW 1992, 2075 [2076]; NStZ 1993, 90f.; NJW 1998, 2585 [2587]). Vgl. ferner Bakker, Grenzen, S. 167ff.; Hergenröder, Grundlagen, S. 177ff.; Leisner, NJW 1989, 2446 ff.; Schulte, Rechtsprechungseinheit, S. 152 ff. Dieser Zuordnung steht auch nicht entgegen, daß die Vorlagepflicht maßgeblich von objektiven Zwecken bestimmt ist; vgl. Arnold, FS Neumayer (1985), S. 24f.; Rüthers/Bakker, ZfA 1992, 218 f. Zu möglichen Besonderheiten bezüglich der NichtVorlage an den EuGH vgl. oben (zu) Fn 65; vgl. auch zur konkreten Normenkontrolle Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 33 Rn 7 (Fn 30), ξ 13 Rn 19. 165 Kirchhof, DStR 1989, 554; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG, § 90 Rn 66 (Fn 510 a.E.) jeweils gegen eine Relativierung des Willkürmaßstabes bezüglich der Nichtvorlage an den EuGH. ιω Bakker, Grenzen, S. 168 ff.; Rüthers/Bakker, ZfA 1992, 219 ff. (221); Schulte, Rechtsprechungseinheit, S. 157ff. (160f.); zumindest in der Tendenz ebenso Rodi, DÖV 1989, 762; s. auch Leisner, NJW 1989, 2448 ff. 167 Fuchs, LZ 1927, Sp. 83 ff. Vgl. zu diesem Begriff auch Ch. Meyer, Einheitlichkeit, S. 27. 168 Zur Vorlagepraxis an den Gemeinsamen Senat vgl. Schulte, Rechtsprechungseinheit, S. 117 ff. (der die angeführten Beispiele a.a.O. S. 162 als bloße „Spitze eines Eisberges" bezeichnet); zur Anrufung des Großen Senats in Strafsachen vgl. Hanack, Ausgleich, S. 1 f., 37 f., 375 f.; Lilie, Obiter dictum, S. 33; Sarstedt/Hamm, Revision, Rn 99 ff. Vgl. ferner (zur Zivilgerichtsbarkeit) St. Lorenz, NJW 1998,
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gebildet. So werden Rechtsansichten als bloße obiter dicta ausgegeben und hierdurch der Ausgleichspflicht entzogen; 1 6 9 eine weitere Methode besteht darin, unter Hinweis auf tatsächliche Unterschiede zwischen dem früher judizierten und dem nun zu entscheidenden Sachverhalt eine Pflicht zur Vorlage zu verneinen. 1 7 0 Begründen derartige (selbst innerhalb des BVerfG denkbare) 1 7 1 „Umgehungstendenzen" 1 7 2 eine gesteigerte Gefahr für die Beachtung des Grundsatzes des gesetzlichen Richters, so steht andererseits de lege lata allein die Verfassungsbeschwerde als Kontrollinstrument für die Einhaltung der Vorlagepflichten zur Verfügung 173 . Eine auf die Willkürkontrolle reduzierte Überprüfung 2937ff.; (vornehmlich zur Arbeitsgerichtsbarkeit) Bakker, Grenzen, S. 35ff., 73ff. (86); zur Finanzgerichtsbarkeit Offerhaus, in: 75 Jahre Reichsfinanzhof - Bundesfinanzhof (1993), S. 632ff.; zur Verfassungsgerichtsbarkeit Hergenröder, Grundlagen, S. 96; ferner das Sondervotum der Bundesverfassungsrichterin Limbach sowie der Bundesverfassungsrichter Böckenförde und Sommer zur Asylrechtsentscheidung BVerfG, NVwZ 1996, 678ff. (a.a.O. 687ff. [690]); s. auch unten Fn 171. Deutlich moderater ist die Beurteilung bei Ch. Meyer, Einheitlichkeit, S. 83 f. Das dort herangezogene Argument, ein größerer Spruchkörper biete keine Garantie für eine richtigere Entscheidung, stimmt jedoch mißtrauisch. Selbst wenn man die Aussage (ungeachtet der gesetzlichen Gegenindikatoren wie z.B. § 269 StPO bzw. § 10 ZPO) für zutreffend erachtet (s. auch unten 20. Kap. 1.3 b.aa; 25. Kap. III.2 a), kann die Erfüllung der Vorlagepflicht doch nicht davon abhängig gemacht werden, ob der zur Vorlage verpflichtete Senat dem Großen Senat eine sachgerechte Klärung zutraut. Die legislative Anordnung, daß bei Abweichung vorzulegen ist, wird auf diese Weise abgeschliffen zur ins Ermessen gestellten Möglichkeit, zur Klärung einer grundsätzlichen Rechtsfrage den Großen Senat anrufen zu können. Die Tendenz dieser Interpretation verwischt die Grenze zwischen Divergenz- und Grundsatzvorlage. 169 Im Gegensatz zur herrschenden Meinung (vgl. Ch. Meyer, Einheitlichkeit, S. 52ff.) plädiert Lilie (Obiter dictum, S. 247f., 263; s. auch a.a.O. S. 65ff. [74], 160, 182) dafür, im Bereich des Strafprozesses alle Rechtsausführungen als ausgleichspflichtig zu behandeln. Ohne Beschränkung auf das Strafrecht ebenso Bakker, Grenzen, S. 198ff.; Rüthers/Bakker, ZfA 1992, 207 (m.w.N.). 170 Kritisch hierzu Lilie, Obiter dictum, S. 54 ff.; Kuhlen, JA 1986, 598 f.; Schroth, JR 1990, 98. Ein Beispiel aus neuerer Zeit bietet das Urteil BGHSt. 40, 299 ff. zur Versuchsstrafbarkeit bei einem unmittelbaren Ansetzen durch einen „Schein"-Mittäter. Nachdem der 2. Strafsenat auf die Anfrage des 4. Strafsenats (vgl. NStZ 1994, 534f.) erklärt hatte, er halte an seiner entgegenstehenden Auffassung (BGHSt. 39, 236) fest, verneinte der 4. Strafsenat (BGHSt. 40, 303 f.) gleichwohl unter Hinweis auf Unterschiede im Tatsächlichen eine Pflicht zur Vorlage. Dem ist mit Recht entgegengehalten worden, daß diese Unterschiede für die maßgebliche Rechtsfrage ohne Bedeutung sind, so daß eine Anrufung des Großen Strafsenats gemäß § 132 II GVG geboten war; vgl.Joecks, wistra 1995, 59 (der explizit einen Verstoß gegen Art. 101 I 2 GG bejaht); Graul, JR 1995, 428; Küpper/Mosbacher, JuS 1995, 492; s. auch Erb, NStZ 1995, 425 und Geppert, JK, StGB § 25 II/9b; dem 4. Strafsenat zustimmend hingegen Jung, JuS 1995, 361 und Sonnen, JA 1995, 362 f. 171 Vgl. zur Vorlagepflicht an das Plenum (bezüglich der Frage der Unterhaltspflicht bei fehlgeschlagener Sterilisation) die widerstreitenden Beschlüsse der beiden Senate des BVerfG, NJW 1998, 519 (522f.) und 523f.; s. auch Benda, NJW 1998, 3330f.; Sangmeister, JuS 1999, 24 ff. 172 Schulte, Rechtsprechungseinheit, S. 117, 162 (s. auch a.a.O. S. 162: „teilweise eklatante Verfassungsverstöße ... durch die bewußte Mißachtung der Vorlagepflicht"). Vgl. auch bereits Fuchs, LZ 1927, Sp. 84f. („Schleichwege"); ferner Bakker, Richtermacht, S. 86 (Divergenzvorlage ist in der Praxis von BAG und BGH „zur ,Zufallsvorlage' degeneriert"); Rüthers/Bakker, TAk 1992, 205 („unnütze Spitzfindigkeiten im distinguishing") und Sarstedt/Hamm, Revision, Rn 101 („spitzfindige Überdifferenzierungen zum Zwecke der Vermeidung einer Vorlage zum Großen Senat"). 173 Insbesondere ist auch das nach einer Zurückverweisung gemäß § 354 II StPO mit der Sache befaßte Gericht wegen der in § 358 I StPO normierten Bindungswirkung nach ganz herrschender Auffassung nicht zur Prüfung der Frage befugt, ob das Revisionsgericht eine Vorlage gemäß §§ 121 II, 132 II, III GVG verabsäumt hat; vgl. LR-Hanack, Rn 11 (m.w.N.); AK/StPO-Maiwald, Rn 4ff. (6); Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 3 jeweils zu § 358; Eisenberg, StraFo 1997, 130.
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führt hierbei dazu, daß das Vertrauen auf den vom BVerfG in weitem Rahmen ausgeworfenen „Rettungsanker der verzeihlichen Rechtsfahrlässigkeit" 1 7 4 Zuständigkeitsverstöße in diesem Bereich kalkulierbar macht. 1 7 5 Will man diesen Gefahren effektiv begegnen, wird man entweder an die Einführung einfachgesetzlicher Kontrollmechanismen ( z . B . die Einrichtung einer „Nichtvorlagebeschwerde") 1 7 6 denken oder die Prüfungsmaßstäbe der verfassungsgerichtlichen Kontrolle verschärfen müssen. Ebenso, wie Rechtsmittel kraft ihrer reinen Existenz einen „heilsamen Druck" auf die unteren Instanzen ausüben, 1 7 7 wirkt ein Mangel an Kontrolle als „ewige Versuchung ..., die Vorschriften über das Verfahren leicht zu nehmen und womöglich ganz außer acht zu lassen". 1 7 8 Zwar müßte es zu einem „Zirkel der Überprüfung ohne Ende" 1 7 9 führen, wollte man das Wissen, letztinstanzlich zu entscheiden, als hinreichenden Grund für ein gesteigertes Kontrollbedürfnis ansehen. Dennoch schließt die Sorge vor einem „Rechtsweg-Perpetuum M o b i l e " 1 8 0 es keineswegs aus, daß in besonderen Konstellationen 1 8 1 (u.a. bezüglich der Nichtbeachtung der Vorlagepflicht) strukturelle Kontrollmängel eine Prüfungsdichte erfordern, die über eine bloße Plausibilitätskontrolle hinausreicht. 1 8 2 D a ß vorrangig der Gesetzgeber aufgerufen ist, ein den Problemlagen adäquates Rechtsschutzsystem zu installieren, befreit das BVerfG nicht von seiner Pflicht zu einer effektiven Kontrolle bezüglich der Wahrung insbesondere der Justizgrundrechte. Fehlt es somit hinsichtlich bestimmter Problemfelder an einer hinreichenden Prüfungsdichte, so finden sich andererseits verfassungsgerichtliche Entscheidungen, die unter dem Deckmantel der Willkürformel eine umfassende Kontrolle fachgerichtlicher Judikate vornehmen. 1 8 3 Wenn beispielsweise eine Kammerentscheidung 1 8 4 bei der heiklen Zuständigkeitsabgrenzung im Bereich der Untersuchungshaft die gegen eine O L G - E n t scheidung eingelegte Verfassungsbeschwerde wegen Verstoßes gegen Art. 101 I 2 G G für offensichtlich begründet erachtet, obwohl weder der Beschwerdeführer 1 8 5 (ein 174 Vgl. (zwar zu Art. 101 I 2 G G , jedoch nicht zur Problematik der Vorlagepflichten) Rennig, Entscheidungsfindung, S. 112. 175 Rüthers/Bakker, ΤΑΚ 1992, 219ff. (220, 2 2 2 ) ; Bakker, Grenzen, S. 169. Allgemein zur Möglichkeit „kalkulierbarer Verfahrensverstöße" Voßkuhle, Rechtsschutz, S. 239, 341. 176 Hierzu Schulte, Rechtsprechungseinheit, S. 166ff. (s. auch a.a.O. S. 163 ff. zu weiteren Möglichkeiten de lege ferenda). 177 Vg] (auch zum komplementären Gedanken) Voßkuhle, Rechtsschutz, S. 245 f. 178 Schwinge, Revisionsrecht, S. 36 (s. auch a.a.O. Fn 31). Vgl. auch Sarstedt/Hamm, Revision 5 , Rn 192: „Es gibt Verfahrensregeln, die überhaupt nur wegen der sonst drohenden Rüge und Aufhebung eingehalten werden." S. ferner Scholderer, Rechtsbeugung, S. 233. 179 So allgemein zur Frage der Gewährung von Rechtsschutz gegen den Richter Wolf, DRiZ 1976, 3 6 4 ; vgl. auch die Zusammenstellung entsprechender Formeln bei Voßkuhle, Rechtsschutz, S. 167 (Fn 100). 180 Vgl. Voßkuhle, Rechtsschutz, S. 155, 176, 299 und passim. 181 Vgl. auch zur Kontrolle der Nichtzulassung der Revision im Zivilprozeß Proske, NJW 1997, 352 ff. 182 Vgl. auch oben (zu) Fn. 114. 183 Vgl auch die Feststellung von Blankenburg (KJ 1998, 213), daß manche Verfassungsrichter individuelle Fälle instrumentalisieren, um im Wege einer „Feinsteuerung" der Fachgerichte (gegebenenfalls unterstützt durch Publikationen) ganze Rechtsbereiche zu reformieren. 184 Vgl. zum Folgenden BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), NStZ 1995, 253 f. und Sowada, NStZ 1995, 563 ff. 185 Auch ohne ausdrückliche Rüge des Verstoßes gegen Art. 101 I 2 G G erfolgte eine Aufhebung der
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Rechtsanwalt) noch die eingeholten Stellungnahmen eine Verletzung dieses Verfassungsprinzips angesprochen haben, dann mag sich der Beschwerdeführer über seinen Teilerfolg freuen und die Prozeßrechtswissenschaft das verfassungsrichterliche Votum als willkommenen Beitrag für die fachliche Diskussion ansehen. Mit einer willkürlichen, d. h. auf einer evidenten (für jeden Juristen ohne weiteres erkennbaren) Richterentziehung hat dies auch dann nichts zu tun, wenn die Auslegung der einfachgesetzlichen Prozeßnormen durch das BVerfG überzeugender ist als jene des Fachgerichts. Dieser Befund könnte zu der „eleganten" Lösung verführen, die hier praktizierte Strenge auch für die zuvor angesprochenen Fallkonstellationen anzumahnen. In Wahrheit wäre ein solcher Ausweg jedoch ein Irrweg. Denn die Vorstellung, bei der Willkürformel handele es sich um eine Schraube, an der man nahezu beliebig drehen könnte, um das geeignete M a ß an Kontrollintensität zu erreichen, m u ß diese Figur dogmatisch vollends desavouieren. Die hier zutage tretende Schwierigkeit ist durchaus prinzipieller Natur: Die Willkürformel ist ganz bewußt darauf angelegt, die Kontrolltätigkeit des BVerfG auf Evidenzfälle zu beschränken. Im Gegensatz hierzu steht die Überlegung, die besondere Bedeutung des gerichtlichen Verfahrens gebiete (zumindest partiell) eine intensivere Prüfung im Bereich der Justizgrundrechte. Jede Annäherung an ein „Superrevisionsgericht in Prozeßsachen" 1 8 6 bedingt aber zwangsläufig eine ebenso große Entfernung vom Grundgedanken der Evidenz. Daß der Willkürbegriff derartige Abstufungen der Prüfungsintensität zuzulassen scheint, zerstreut diese dogmatischen Bedenken nicht; es beweist im Gegenteil eher die Konturenlosigkeit einer Formel, die sich nahezu beliebig mit (dann freilich auch wechselnden) Inhalten füllen läßt. Als Ergebnis der bisherigen Betrachtung ist somit festzuhalten, daß die schwerwiegenden Bedenken, die gegen die allgemeine Willkürformel erhoben werden, in bezug auf das Prinzip des gesetzlichen Richters in einem noch stärkeren M a ß e gelten. Zugleich eröffnet die Möglichkeit, die Willkürformel beizubehalten, sie aber hinsichtlich des Art. 101 I 2 G G in einer strengeren Weise zu handhaben, keinen dogmatisch akzeptablen Ausweg. Als Konsequenz dieses Befundes sollte von der Willkürformel (jedenfalls) 1 8 7 im Rahmen des Art. 101 I 2 G G Abstand genommen werden. 1 8 8 Diese Position m u ß sich mit dem denkbaren Einwand auseinandersetzen, sie ignoriere jene Überlegungen, die die allgemeine Willkürkontrolle vor dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit bewahrt haben. Dies gelte um so mehr, als gerade die Prozeßgrundrechte (hier allerdings vor allem die Garantie des rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 I fachgerichtlichen Entscheidung wegen Entziehung des gesetzlichen Richters in BVerfG Ε 42, 237 (240) sowie in BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), NJW 1991, 2893. Demgegenüber wurde die Verfassungsbeschwerde in BVerfGE 82, 6 (18) für unbegründet erklärt, weil die Beschwerdeführerin nicht die Verletzung des Art. 101 I 2 G G gerügt hatte. iss Vgl. oben zu Fn 151. 187 Die Frage, ob die allgemeine Willkürformel (Art. 3 I G G ) wegen der hiermit verbundenen Erweiterung der Zugriffsmöglichkeit ungeachtet der auch insoweit bestehenden dogmatischen Bedenken beibehalten werden sollte, kann hier dahingestellt bleiben. Immerhin läßt sich die Ablehnung der Willkürformel noch nicht einmal apodiktisch für alle Justizgrundrechte (Art. 101 ff. G G ) feststellen: Deutet man das Analogieverbot des Art. 103 II G G als ein allgemeines Verbot „gesetzwidriger" Auslegung, so bedarf es der Willkürformel, um eine vollständige Inhaltskontrolle strafgerichtlicher Entscheidungen durch das BVerfG zu vermeiden. Vgl. hierzu Küper, JuS 1996, 785 ff.; Krey, J R 1995, 273 sowie Tröndle, FS Odersky (1996), S. 284ff.; s. auch BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), NJW 1998, 2589 f. 188
So auch Proske, NJW 1997, 354 f.
9. Kapitel: Die Beschränkung der Verfassungsgericht!. Kontrolle durch die sog. „Willkürformel"
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G G ) in b e s o n d e r e m A u s m a ß zur Überlastung des BVerfG beitragen. 1 8 9 Verstärkend ließe sich hinzufügen, daß es d u r c h a u s sinnvoll erscheine, die Kontrolldichte in einem angemessenen Verhältnis zur Art des gerichtlichen Verfahrens, in d e m die angegriffene E n t scheidung ergangen ist, und zu der dort a u s g e s p r o c h e n e n R e c h t s f o l g e zu dosieren. 1 9 0 D e n n o c h greifen derartige Bedenken letztlich nicht durch. Die Empfehlung, im K o n t e x t des Art. 101 I 2 G G die Willkürformel fallenzulassen, bedeutet nicht zwangsläufig, daß die Beibehaltung dieses K o n t r o l l m a ß s t a b e s als verfassungswidrig anzusehen ist. E b e n s o wie eine verfassungsrechtliche Beurteilung der Willkürformel das Interesse, die Funktionsfähigkeit des BVerfG zu erhalten, nicht unberücksichtigt lassen darf, w ä r e es aber verkehrt, die grundrechtlichen Gewährleistungen ausschließlich anhand der E n t scheidungskapazität des BVerfG zu b e s t i m m e n . Vielmehr müssen der einfachgesetzliche R e c h t s s c h u t z und die verfassungsgerichtliche Kontrolle v o m G e s e t z g e b e r aufeinander a b g e s t i m m t werden. G e r a d e für den Bereich der Justizgrundrechte gibt es Vorschläge zu einer Entlastung des BVerfG dahingehend, daß die Prüfung der Verfahrensgarantien durch die Einführung einer a m Vorbild des § 3 3 a S t P O orientierten (modifizierten) Anh ö r u n g s r ü g e 1 9 1 o d e r einer s o g . „ V e r f a h r e n s g r u n d r e c h t s b e s c h w e r d e " 1 9 2 den Fachgerichten zugewiesen o d e r aber ( s o w e i t es u m Verletzungen in Verfahren vor den Gerichten der L ä n d e r g e h t ) auf die Landesverfassungsgerichte 1 9 3 übertragen w e r d e n . 1 9 4 Die sich un-
189 Die Verletzung des Art. 103 I GG wird (vielfach neben anderen Verfassungsnormen) in ca. 45 % der Verfassungsbeschwerden gerügt; vgl. Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 I Rn 157 (Fn 55); Zierlein, DVB1. 1989, 1170. Nach neueren Zahlenangaben ist der Anteil in den 90er Jahren auf 6 0 % angestiegen; für den Zeitraum von 1955 bis 1995 liegt er bei durchschnittlich 5 0 % ; vgl. Blankenburg, KJ 1998, 210. Vergleichbares Zahlenmaterial zu Art. 101 I 2 GG ist - soweit ersichtlich - nicht vorhanden. Immerhin belegen die Angaben bei Bryde (Verfassungsentwicklung, S. 468 [Tab. 8], 472 [Tab. 12]), daß dem Grundsatz des gesetzlichen Richters eine durchaus erhebliche, jedoch deutlich hinter Art. 103 I GG zurückbleibende Bedeutung zukommt. Hiernach wurde 1967 auf der Basis von 1526 eingelegten Verfassungsbeschwerden die Verletzung des Art. 1 0 1 1 2 GG in 139 (jene des Art. 103 GG in 5 1 4 ) Fällen gerügt; von den in den Bänden BVerfGE 1 - 4 0 veröffentlichten Entscheidungen waren 78 Rügen zu Art. 103 I GG (vgl. Peters, MDR 1976, 452 [Fn 40]) und 18 Rügen zu Art. 101 I 2 GG erfolgreich. Vgl. ferner die Zusammenstellung bei Tiedemann, Verfassungsrecht, S. 69 ff. Einen eher rückläufigen Trend bezüglich Art. 101 I 2 GG deutet Schumann (BVerfG, S. 13 f., 21 f.) an. 190 Vgl. Haas, FS 50 Jahre BayVerfGH (1997), S. 40f.; s. auch die Aufgliederung der Urteilsverfassungsbeschwerden nach Fachgebieten bei Blankenburg, KJ 1998, 209, 211. >" Befürwortend Posser, Subsidiarität, S. 490 ff.; Berkemann, J R 1980, 111·, AK/GG-Rinken, Art. 93 Rn 76; Schumann, NJW 1985, 1139 f.; Starck, J Z 1996, 1042; Wöhrmann, FS Zeidler Bd. II (1987), S. 1358; Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn 276; ablehnend (mit acht zu drei Stimmen) die Benda-Kommission (Bundesministerium der Justiz [Hrsg.], Entlastung, S. 71 ff. [74], 82ff.); Krämer, KritV 1998, 219ff. (227); Stürner, J Z 1986, 533; s. auch Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 I Rn 160 f. 192 Vgl. hierzu das von der Bundesverfassungsrichterin Graßhof in der ße«'7 Vgl. BGHSt. 28, 290 (292f.); KK-Diemer, § 21e GVG Rn 4. "8 BVerfGE 18, 423 (426); BGHSt. 34, 379 (381); Albers, in: Baumbach/Lauterbach, ZPO, Rn 3; Zöller/Gummer, Rn 4; Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, Rn 3 jeweils zu § 21e GVG; ders., JR 1985, 38; Kopp, VwGO, § 4 Rn 14; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, § 21f Rn 3; LR-K. Schäfer, § 21e GVG Rn 47f., § 21f GVG Rn 21 f.; Schorn/Stanicki, Präsidialverfassung, S. 125 f.; Stelkens, in: Schoch/ Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 4 Rn 28; s. auch BGHSt. 14, 11 (14ff.); OLG Hamburg, JR 1985, 36 (37). Grundsätzlich strenger Kissel, GVG, Rn 137; MüKo/ZPO-Wo//; Rn 17 jeweils zu ξ 21e GVG; Reicht, Gesetzlicher Richter, S. 107, 124. 119 Vgl. BVerwG, NJW 1986, 1366 (1367); OLG Celle, StV 1993, 66 (67). 120 Vgl. Kissel, GVG, Rn 137 und MüKo/ZPO -Wolf, Rn 17 jeweils zu § 21e GVG. 121 BVerfGE 18,423 (426 f.);/. Henkel, Gesetzlicher Richter, S. lOlf. (Fn3). 122 Schorn/Stanicki, Präsidialverfassung, S. 125. 121 BGHSt. 14, 11 (15f.); LR-K. Schäfer, § 21 f. GVG Rn 22. Zwar bestünde die prinzipielle Alternative, in jedem Fall eine Geschäftsverteilung zu verlangen, die dem „Doppelvorsitzenden" ein hinreichendes Tätigwerden in beiden Kollegien gestattet. Dies würde jedoch - insbesondere bei kurzen Uberbrückungsphasen (vgl. z.B. den Sachverhalt von OLG Hamburg, JR 1985, 36 [s. unten Fn 148]) unangemessen aufwendige Umverteilungen erfordern. Stellt sich freilich heraus, daß die zunächst vorübergehende Verhinderungssituation in eine dauerhafte Verhinderung umschlägt, sind auch tiefgrei-
286
Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
Damit ist allerdings noch nichts darüber gesagt, ob die Entscheidung des Präsidiums auch über den Zeitpunkt des Eintritts des neuen Richters hinauswirkt. Insoweit wird die Auffassung vertreten, eine Änderung des Geschäftsverteilungsplanes gemäß § 21 e III G V G sei ausgeschlossen, da der Richterwechsel bereits bei der Aufstellung des Planes berücksichtigt worden sei. 1 2 5 O b w o h l zuzugeben ist, daß eine restriktive Interpretation der Anderungsbefugnisse dem Gedanken der Stetigkeit und damit der Intention des gesetzlichen Richters dient, kann dieser Ansicht nicht gefolgt werden. Denn die Annahme einer Selbstbindung des Präsidiums über die Ernennung oder Zuweisung des betreffenden Richters hinaus würde der Justizverwaltung die Möglichkeit in die Hand geben, nicht nur den bisherigen Vertreter aus dieser Funktion (durch Beendigung des Vertretungsfalls ) abzuberufen, sondern zugleich einen Nachfolger für einen bestimmten Tätigkeitsbereich auszuwählen. Angesichts dieser Gefahr erscheint es vorzugswürdig, die Wirkung der „N.N."-Bestellung auf die Dauer des Schwebezustands zu begrenzen. 1 2 6 Wird die vakante Stelle besetzt, so verändert sich hiermit die Situation insofern, als erst jetzt das Präsidium in der Lage ist, dem neuen Richter ein geeignetes Arbeitsfeld zuzuweisen. An dieser Sichtweise, die den Eintritt des neuen Stelleninhabers als Zäsur begreift, ändert es auch nichts, daß das Präsidium vielfach rein tatsächlich kaum imstande sein wird, das individuelle Leistungsprofil aufgrund eines notwendigerweise recht oberflächlichen Eindrucks angemessen zu beurteilen. 1 2 7 Denn natürlich ist es dem Präsidium unbenommen, dem neuen Kollegen jene Rechtsprechungsaufgaben zu übertragen, auf die sich bislang die Bezeichnung „ N . N . " bezogen hat. Die Möglichkeit zu einer hiervon abweichenden Neuverteilung sollte dem Präsidium aber als prinzipielles Gegengewicht zum Einfluß der Justizverwaltung erhalten bleiben.
b)
Zur Zulässigkeit von Vakanzen als Folge Wiederbesetzungssperren
haushaltsrechtlicher
aa)
Die besondere Problematik haushaltsrechtlich bedingter Vakanzen
Von den „normalen" Vertretungsfällen (Krankheit, Urlaub o . ä . ) unterscheidet sich die Vakanz insofern, als der Begriff der „Verhinderung" herkömmlicherweise solche Vorgänge erfaßt, bei denen ein vorübergehendes Ereignis der Ausübung der richterlichen Tätigkeit entgegensteht. 1 2 8 In den Fällen der Vakanz liegt hingegen nicht nur ein punkfende Umgestaltungen gegebenenfalls unvermeidbar; vgl. OLG Celle, StV 1993, 66ff.; s. auch BGHSt. 28, 290 (293); BVerwG, NJW 1986, 1366 (1367); OLG Frankfurt, MDR 1978, 162. In jedem Fall unzulässig ist die Bestellung von mehreren nebeneinander und gleichzeitig tätig werdenden Vertretern; vgl. OLG Hamm, StV 1998, 6 (7f.). 124 Hierfür Kissel, GVG, ξ 21e Rn 137; krititsch hingegen Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, ξ 21e Rn 3. 125 Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, § 21e Rn 3. 126 Schreiber, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, Rn 15; Kissel, GVG, Rn 107, 137; MüKo/ZPO-Wo/^ Rn 17 jeweils zu § 21e GVG; s. auch BGHSt. 19, 116ff.; J. Henkel, Gesetzlicher Richter, S. 102 (Fortsetzung von S. 101 Fn 3). 127 Vg] Schorn/Stanicki, Präsidialverfassung, S. 126. ι2« B G H Z 95, 246 (247f.); BGHSt. 34, 379 (381); BGH, NJW 1974, 1572f.; Kleinknecht/MeyerGoßner, StPO, § 21f GVG Rn 4. Näher zum Begriff der Verhinderung vgl. Kissel, FS Rebmann (1989), S. 64 ff.
11. Kapitel: Die Besetzung der Spruchkörper ( personelle Geschäftsverteilung )
287
tuelles Hindernis, sondern ein vollständiger Ausfall des gesetzlichen Richters vor. 1 2 ' Die Ungewißheit beschränkt sich hier nicht allein auf die zeitliche Dimension, wann der an sich zuständige Richter wieder zur Verfügung steht; vielmehr ist dieser regulär zuständige Richter überhaupt erst zu bestimmen. Erfährt diese Konstellation hierdurch eine qualitative Steigerung, so erscheint bei einer ausschließlich auf die Wirkung ausgerichteten Betrachtung der Grund für das Fehlen eines Richters als gleichgültig. 1 3 0 Um ein völliges Lahmlegen der betroffenen Strafkammer zu vermeiden, besteht Einigkeit darüber, daß auch die durch die Vakanz herbeigeführte Notsituation durch die (analoge) 1 3 1 Heranziehung der Vertretungsregeln behoben werden darf, sofern es sich hierbei lediglich um einen nur „vorübergehenden" Zustand handelt. Für die hiernach erforderliche Abgrenzung zwischen einer zulässigen vorübergehenden und einer unzulässigen dauerhaften Vertretung 1 3 2 ist zunächst die zeitliche Dimension von Bedeutung. Insoweit wird einerseits gemeinhin hervorgehoben, daß die Wiederbesetzung der Stelle (des Vorsitzenden) „unverzüglich" 1 3 3 bzw. „ohne ungebührliche Verzögerung" 1 3 4 erfolgen muß; andererseits wird eingeräumt, daß sich die Dauer der zulässigen „kurze(n) Übergangszeit" nicht allgemein fristmäßig bestimmen läßt. 1 3 5 Die einschlägigen Judikate vermitteln ein uneinheitliches Bild, wenn bisweilen eine achtmonatige Verzögerung hingenommen, in anderen Entscheidungen hingegen eine Frist von mehr als vier M o n a t e n für unvertretbar erachtet wird. 1 3 6 Allerdings hängt die Zulässigkeit einer Vertretung in den Vakanzfällen nicht allein von der zeitlichen Komponente ab. Ausgehend von der Überlegung, daß nur eine sich aus der Sache ergebende und unvermeidbare Ungewißheit über die Person des gesetzlichen Richters hingenommen werden muß, 1 3 7 gewinnen auch jene Umstände Bedeutung, aus denen sich die Notwendigkeit einer Neubesetzung ergibt. Bei einer vorhersehbaren Vakanz, also insbesondere in den Fällen des altersbedingten Eintritts in den Ruhestand, können (und müssen) die für eine Wiederbesetzung erforderlichen Maßnahmen so rechtzeitig erfolgen, daß die freigewordene Stelle in aller Regel unmittelbar nach dem Ausscheiden des vorherigen Inhabers wieder besetzt werden kann. 1 3 8
Vgl. (auch zum Folgenden) Ridder, NJW 1972, 1690f.; s. auch OLG Hamburg, JR 1985, 36 (37). » Vgl. BVerfGE 18, 423 (426). 1,1 B G H Z 95, 246 (248); BVcrwG, NJW 1986, 1366 (1367). in Vgl. hierzu Schorn/Stanicki, Präsidialverfassung, S. 97 ff. BGHSt. 8, 17 (21); BGH, NJW 1955, 1447 (1448); Kissel, GVG, § 21f Rn 15. 134 BayVerfGH, NJW 1986, 1326 (1328). Das BVerfG spricht von einer Wiederbesetzung „in angemessener Zeit" (NJW 1983, 1541); zu weiteren ähnlichen Formulierungen vgl. Reichl, Gesetzlicher Richter, S. 144 (Fn 362). ' « BVerwG, NJW 1986, 1366; BSG, RiA 1976, 54 (56); s. auch BVerfGE 18, 423 (426). 1,6 Vgl. die Zusammenstellung bei OLG Hamburg, JR 1985, 36 (37); s. auch Schorn/Stanicki, Präsidialverfassung, S. 98. " 7 BVerfGE 18, 423 (426); OLG Hamburg, JR 1985, 36 (37). "« Vgl. B G H Z 95, 246 (248); 96, 258 (260); BVerwG, NJW 1986, 1366 (1367); LR-K. Schäfer, § 21f GVG Rn 21. Nach Ansicht von Kissel (GVG, § 59 Rn 3) ist bei voraussehbarer Vakanz eine Frist von mehr als drei Monaten nicht mehr als „vorübergehend" anzusehen; ebenso Reichl, Gesetzlicher Richter, S. 145.
288
Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
Auf der Basis dieser Überlegungen wird die durch eine haushaltsrechtliche Wiederbesetzungssperre bedingte Verzögerung heute überwiegend für unzulässig gehalten.139 Denn hier unterbleibt die rechtzeitige Wiederbesetzung nicht aufgrund unvermeidbarer personalverwaltungsmäßiger Schwierigkeiten, sondern es handelt sich um eine bewußte Hinauszögerung aus rein haushaltsrechtlichen Gründen, die bezüglich der Stelle eines Vorsitzenden Richters im Rahmen des § 21 f GVG als sachfremd erscheinen.140 Überdies entspreche die Haushaltssperre angesichts des hiermit verbundenen Besetzungsverbots in ihrer Wirkung der Konstellation, daß es während des betreffenden Zeitraums an einer Planstelle fehlt und diese erst mit dem Ende der Sperrfrist (erneut) eingerichtet wird. Für einen Vorsitzenden Richter ohne Planstelle könne aber schlechterdings kein Vertreter bestellt werden.141 Aus diesen Erwägungen wird in der haushaltsrechtlich motivierten Nichtbesetzung einer Vorsitzendenstelle nicht nur ein Verstoß gegen § 21 f GVG, sondern zugleich eine Verletzung des verfassungsrechtlichen Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 I 2 GG) gesehen. 1 « bb)
Die Bejahung der Zulässigkeit von Haushaltssperren durch den Bayerischen Verfassungsgerichtshof
Eine weniger strenge Beurteilung hat demgegenüber der Bayerische Verfassungsgerichtshof 143 vorgenommen. Gegenstand seiner Entscheidung war eine sechsmonatige Wiederbesetzungssperre für freigewordene Richterstellen, wobei das Haushaltsgesetz vorsah, daß die oberste Dienstbehörde im Einvernehmen mit dem Finanzministerium in besonderen Fällen Ausnahmen zulassen könne. Nach Ansicht des Gerichts 144 kann es dem Staat nicht verwehrt werden, seine Einsparungsbemühungen im Personalbereich des öffentlichen Dienstes auch auf die Richterplanstellen zu erstrecken. Eine Auslegung, nach welcher die sechsmonatige Vakanz noch als vorübergehende Verhinderung angesehen wird, wäre nicht schlechthin unvertretbar; deshalb sei sein Verstoß gegen das Prinzip des gesetzlichen Richters (Art. 86 I 2 Bay Verf.) ungeachtet der Tatsache zu verneinen, daß die Fachgerichte bei der Anwendung der für sie maßgeblichen Vorschriften des Gerichtsverfassungsrechts zu einer anderen Beurteilung gelangen können. Es sei den Gerichten auch nicht verwehrt, durch gerichtsverfassungsrechtliche Maßnahmen (z.B. die Neuverteilung der Geschäfte oder die Übertragung des Vorsitzes in zwei Spruchkörpern an einen Vorsitzenden Richter) auf die sechsmonatige Vakanz zu reagieren. Zwar erachtet der Bayerische Verfassungsgerichtshof die durch solche Umschichtungen herbeigeführten organisatorischen Probleme als schwerwiegend; dennoch begründeten derartige faktische Auswirkungen der Wiederbesetzungssperre keinen Verstoß gegen den Grundsatz des gesetzlichen Richters. Denn „der Haushaltsgesetzgeber nimmt nicht selbst Einfluß
1" B G H Z 95, 246ff.; 96, 258 ff.; OLG Hamburg, JR 1985, 36; Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, Rn 3; Kleinkneckt/Meyer-Goßner, StPO, Rn 4; Albers, in: Baumbach/Lauterbach, ZPO, Rn 5; MüKo/ZPO-Wo//; Rn 2; Thomas/Putzo, ZPO, Rn 3 jeweils zu ξ 21f; KK-Diemer, StPO, § 21e GVG Rn 9; Kissel, GVG, § 59 Rn 3; Stelkens, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 4 Rn 29. 140 OLG Hamburg, JR 1985, 36 (38). 141 B G H Z 95, 246 (248f.); Katholnigg, JR 1985, 38. i « B G H Z 95, 246 (247); Kissel, GVG, § 59 Rn 3; s. auch LR-K. Schäfer, § 21f GVG Rn 21. i « BayVerfGHE 38 (1985), 96ff. ( = N J W 1986, 1326ff.). 144 NJW 1986, 1326 (1328).
11. Kapitel: Die Besetzung der Spruchkörper ( personelle Geschäftsverteilung )
289
darauf, welcher Richter zu welchem Zeitpunkt bestimmte Fälle zu entscheiden hat, für die der ausgeschiedene Richter zuständig war". 1 4 5 Vielmehr führe die Haushaltssperre lediglich dazu, daß entweder die ohnehin bereits vorhandenen abstrakten Vertretungsregeln des jeweiligen Geschäftsverteilungsplanes eingreifen oder daß das Präsidium neue, gleichfalls abstrakte Regelungen zur Geschäftsverteilung treffe. Schließlich orientiere sich das Gebot der unverzüglichen Wiederbesetzung grundsätzlich an der Fallgestaltung, daß tatsächlich eine derartige Stelle vorhanden ist. Den Bedenken, daß die vorgesehene Abkürzungsmöglichkeit Manipulationsgefahren eröffne, hält der Bayerische Verfassungsgerichtshof 1 4 6 entgegen, daß die Exekutive insoweit allein den Zeitpunkt für eine allgemeine personelle Verstärkung des Gerichts bestimmen könne, ohne hierdurch Einfluß auf die Frage zu erlangen, für welche Verfahren der neue Richter zuständig ist. Die mit jeder Ermessensregelung verbundene theoretische Möglichkeit einer mißbräuchlichen Anwendung im Einzelfall mache die Regelung als solche noch nicht verfassungswidrig. 147 Faßt man diese Argumentation zusammen, so sind zwei Gesichtspunkte hervorzuheben: Erstens eröffnen die Haushaltshaltssperren nur mittelbare Einflußmöglichkeiten mit der Folge, daß die hieraus resultierenden Manipulationsgefahren nach Ansicht des Gerichts lediglich theoretischer Natur sind 148 und deshalb für die verfassungsrechtliche Bewertung nicht entscheidend ins Gewicht fallen; zweitens stellen sowohl die Vertretungsregeln als auch etwaige gerichtsverfassungsrechtliche Umverteilungsmaßnahmen abstrakte Regelungsmodelle dar, die den Anforderungen des Grundsatzes des gesetzlichen Richters genügen.
cc)
Argumente der Gegenansicht
Auf den ersten Blick mag diese Beurteilung akzeptabel erscheinen; dies gilt um so mehr, wenn man bedenkt, daß einerseits die anhaltende Finanznot der Bundesländer einen fortwährenden Anreiz bilden wird, das Instrument der Haushaltssperren auch bezüglich der Richterstellen für eine Entlastung des Justizetats zu nutzen, und daß andererseits die Alternative einer völligen Streichung der betreffenden Stelle im Vergleich zur befristeten Besetzungssperre einen sehr viel gravierenderen Einschnitt bedeuten würde. 149 Gleichwohl hat die Position des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs bislang kaum Gefolg-
i« 147
Ebd. A.a.O. S. 1 3 2 9 . Ebd.
14S Die Entscheidung des BayVerfGH setzt sich insofern allgemein mit dem T h e m a auseinander, als Gegenstand der Entscheidung ein vom Bayerischen Richterverein e.V. im Wege des Popularklageverfahrens geltend g e m a c h t e r Antrag gegen Bestimmungen des bayerischen Haushaltsgesetzes 1 9 8 5 / 1 9 8 6 war. Z u r Veranschaulichung mag jedoch der Sachverhalt der Entscheidung des H a n s O L G Hamburg (JR
1 9 8 5 , 3 6 ) dienen: Dort führte in der Verhandlung vom 1 6 . 1 . 1 9 8 4 der Richter am Landgericht H. den Vorsitz, der bereits am 2 3 . 1 1 . 1 9 8 3 vom Richterwahlausschuß zum Vorsitzenden Richter am Landgericht gewählt (und im Geschäftsverteilungsplan für das Jahr 1 9 8 4 als Vorsitzender der betreffenden Kleinen Strafkammer genannt) worden war, aber infolge einer Haushaltssperre erst durch Ernennung mit Wirkung zum 1 . 4 . 1 9 8 4 in die zum Jahresende 1 9 8 3 freigewordene Stelle einrücken konnte. 149 G e g e n dieses Argument die abweichende Meinung zu B a y V e r f G H E 3 8 ( 1 9 8 5 ) , 9 6 ; in: D R i Z 1 9 8 6 , 183 (zu I I I . 4 ) .
290
Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
schaft gefunden. 1 5 0 Der ausführlichste Widerspruch stammt aus den Reihen des Gerichts selbst; er ist in drei abweichenden Meinungen 1 5 1 enthalten, die im Gegensatz zur Auffassung der Senatsmehrheit (zumindest partiell) einen Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters bejahen. In einer dieser Stellungnahmen 1 5 2 wird anschaulich die Unsicherheit beschrieben, die durch eine sechsmonatige Wiederbesetzungssperre ausgelöst wird. Verneine das Gerichtspräsidium im Hinblick auf die Dauer der Sperre eine nur „vorübergehende" Verhinderung, so verteilt es zunächst die Geschäfte neu, um nach Wiederbesetzung der Stelle (bei Erteilung einer Ausnahmebewilligung gegebenenfalls bereits wenige Wochen später) erneut eine Umverteilung der Geschäfte zu beschließen. Auf diese Weise konterkariere der Landeshaushaltsgesetzgeber (und nicht etwa erst das Präsidium) die bundesrechtliche Vorgabe, daß die Geschäfte eines Gerichts für die Dauer eines Jahres erfolgt (§ 21e I 2 GVG). Das Stetigkeits- undjährlichkeitsprinzip, 1 5 3 von dem das Gesetz gemäß § 21e III GVG nur unter engen Voraussetzungen Ausnahmen zulasse, 154 sichere das Interesse an einer kontinuierlichen Aufgabenwahrnehmung auch gegenüber dem Präsidium. Es solle also nach Möglichkeit jegliche Veränderung während des Geschäftsjahres unterbleiben. Doch selbst wenn das Präsidium einen Vertretungsfall annehme und von der mehrmaligen Umschichtung der Geschäfte absehe, habe es die Exekutive in der Hand, den Vertretungszustand durch die jederzeit mögliche Wiederbesetzung der Stelle zu beenden; sie könne damit den zur Vertretung berufenen Richter „gleichsam ,abberufen' und ihn durch einen anderen Richter ersetzen". 155 Insoweit schöpfe die Senatsmehrheit das Gefahrenpotential nicht aus, wenn sie darauf verweise, daß die Verwaltung mit der Wiederbesetzung nicht festlegen könne, welche Aufgaben der neue Richter wahrzunehmen habe. Denn sie könne jedenfalls den Vertretungsfall beenden; 1 5 6 auch dies wirke sich auf die Besetzung in den einzelnen Verfahren aus. Uberhaupt erweist sich die ins Ermessen der Exekutive gestellte Abkürzungsmöglichkeit 1 5 7 als Pferdefuß des haushaltsrechtlichen Sparkonzepts. Da völlig offen sei, welche Gründe als sachgerecht anzuerkennen seien und ob auch das Interesse an der Beschleunigung bestimmter Einzelverfahren die vorzeitige Wiederbesetzung rechtfertige, handele es sich in Wahrheit um ein freies, rechtlich praktisch nicht kontrollierbares Ermessen der Behörden. 1 5 8 Schließlich begegne es unter dem Aspekt der Gewaltenteilung gravierenden Bedenken, wenn der Gesetzge-
150
Z u s t i m m e n d jedoch Zöller/Gummer, Z P O , § 21e G V G Rn 39e. B a y V e r f G H E 38 (1985), 107ff. (nachfolgend zitiert nach d e m A b d r u c k in D R i Z 1986, 182ff.). Ablehnend ferner Reicht, Gesetzlicher Richter, S. 145 f.; s. auch die oben in Fn 139 angegebenen N a c h weise. D R i Z 1986, 182 (zu I.2a). Vgl. o b e n 10. Kap. II. 3a. B G H S t . 26, 3 8 2 ( 3 8 3 ) ; Kissel, G V G , § 21e Rn 111 ff. ' » Abweichende M e i n u n g zu BayVerfGH 38 (1985), 96ff., in: D R i Z 1986, 182 (zu I. 2a). 156 Die e r h ö h t e Gefährlichkeit k o m m t auch darin zum Ausdruck, daß der B G H u m g e k e h r t eine gewisse Unsicherheit bezüglich der Verhinderungsdauer für h i n n e h m b a r erachtet hat, weil sie nicht von menschlichen Entscheidungen abhängig ist; vgl. B G H S t . 21, 131 (133); B G H , N S t Z 1989, 3 2 (33). 157 Eine solche Ausnahmeklausel ist durchaus üblich (und zumindest bei längeren Sperrfristen u n t e r d e m Gesichtspunkt der Justizgewährungspflicht wohl auch zwingend g e b o t e n ) ; vgl. z.B. B G H Z 95, 2 2 ( 2 4 f . ) ; O L G H a m b u r g , JR 1985, 3 6 f. i' 8 Abweichende M e i n u n g zu BayVerfGHE 38 (1985), 96ff.; in: D R i Z 1986, 182 (zu I. 2 b ) ; s. auch die weitere abweichende M e i n u n g a.a.O. S. 183 (zu III.4). 151
11. Kapitel: Die Besetzung der Spruchkörper ( personelle Geschäftsverteilung )
291
ber alle freiwerdenden Richterstellen einer Wiederbesetzungssperre unterwirft und als Korrektiv eine Verwaltungsabsprache zwischen Finanz- und Justizministerium vorsehe. Auf diese Weise entziehe sich der Gesetzgeber der ihm obliegenden Pflicht, selbst darüber zu entscheiden, wie viele Richterstellen zur ordnungsgemäßen Bewältigung der Justizaufgaben erforderlich sind, indem er diese Festlegung in nennenswertem Ausmaß auf die Exekutive verlagert. 159 dd)
Stellungnahme
Konzentriert man den Blick zunächst auf die Konstellation der Vakanz von Vorsitzendenstellen, so ergibt sich eine hinreichend gesicherte Basis für die rechtliche Beurteilung aus der Überlegung, daß die Vorschrift des § 21 f I GVG keinen Vorbehalt zugunsten vorhandener Planstellen macht, sondern die Länder vorbehaltlos zur Bereitstellung der danach erforderlichen Planstellen verpflichtet. 160 Die Länder können zwar in eigener Verantwortung die Zahl der zur Erfüllung der Justizgewährungspflicht erforderlichen Spruchkörper und Richter festlegen, doch steht die bundesrechtliche Vorgabe, daß jeder Spruchkörper beim Land- bzw. Oberlandesgericht mit einem Vorsitzenden Richter besetzt sein muß, nicht zu ihrer Disposition. 161 Eine einjährige Besetzungssperre für Planstellen von Vorsitzenden Richtern würde mithin das in § 21 f I GVG zum Ausdruck kommende Kongruenzprinzip 162 mißachten; sie wäre deshalb eindeutig rechtswidrig. 163 Um innerhalb dieses Rahmens (sowie über den Kreis der Vorsitzenden Richter hinaus) zu einer Grenzziehung zu gelangen, empfiehlt es sich, die bezüglich der Vakanz einer Vorsitzendenstelle denkbaren Lösungsansätze deutlich gegeneinanderzustellen. Die erste Argumentation ist streng wirkungsbezogen; sie läßt eine Haushaltssperre in dem Umfang zu, der auch für die Fälle der Vakanz infolge eines plötzlichen, unvorhersehbaren Ausscheidens hingenommen wird, und ist mit sechs Monaten zu veranschlagen. Der zweite Lösungsansatz hält die Parallelität der Wirkungen nicht für ausschlaggebend; er berücksichtigt den zur Vakanz führenden Anlaß und geht davon aus, daß die gewillkürte Verhinderung - insbesondere in Kombination mit einer vorzeitigen, ins Ermessen der Exekutive gestellten Abkürzungsmöglichkeit - tendenziell gefährlicher und damit nur für einen kürzeren Zeitraum möglich ist. Auf dieser Grundlage wird man lediglich eine drei-
159
So die abweichende Meinung a.a.O. S. 1 8 2 f . (zu 11.3,4).
'«> Katholnigg, ]R 1985, 38 f.
161 Zwar können gemäß § 10 IV 1 RpflAnpG in den neuen Bundesländern (bis zum Ablauf des am 3 1 . 1 2 . 2 0 0 4 endenden Geschäftsjahres) neben Vorsitzenden Richtern auch andere Richter auf Lebenszeit den Vorsitz führen. Diese (zeitlich befristete) Absenkung des allgemein für geboten erachteten J u stizstandards darf den Bürgern nur zugemutet werden, soweit justizspezifische Gegebenheiten eine solche Einschränkung zwingend gebieten. Da derartige N o t m a ß n a h m e n nicht als Handhabe zur erleichterten Konsolidierung des staatlichen Finanzhaushalts zweckentfremdet werden darf (vgl. Rieß, NJ 1 9 9 6 , 1 7 ) , gelten im Spannungsverhältnis zwischen Haushaltsplanung und Justizorganisation in den neuen Bundesländern mithin die gleichen Grundsätze wie im übrigen Bundesgebiet.
Vgl. Kissel, GVG, § 60 Rn 3. So auch Zöller/Gummer, Z P O ,
§ 2 1 e Rn 3 9 e ; vgl. ferner die oben in Fn 1 3 9 angegebenen Nachweise. Der Zeitraum eines Jahres als gesicherter Fixpunkt ergibt sich daraus, daß § 2 1 e G V G diese Dauer als maßgebliche Dimension für die reguläre Geschäftsverteilung vorgibt (vgl. hierzu auch oben Fn 1 5 3 ) .
292
Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
monatige Sperre als tolerabel ansehen können. 1 6 4 Dieser Zeitraum gilt allgemein als Eckwert, wenn es um die Abgrenzung zwischen einer nur vorübergehenden und einer dauerhaften Verhinderung eines Richters geht; 1 6 5 er wird insbesondere auch im Rahmen der Abordnung eines Richters herangezogen, 1 6 6 bei der die Verhinderung ebenfalls auf einer bewußten staatlichen Entscheidung beruht. N o c h stärker rückt die dritte denkbare Sichtweise die zur Vakanz führenden Umstände in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Hiernach ist die durch eine Fiktion eröffnete entsprechende Anwendung des § 21 f II GVG ohnehin nur auf unvermeidbare Notsituationen beschränkt; die planmäßige Herbeiführung eines Verhinderungsfalles aus finanzpolitischen Erwägungen ist auf dem Boden dieser Auffassung nicht zulässig. Für die hier vorgeschlagene, auf § 21 f GVG rekurrierende Leitlinie erweist sich das dem Grundsatz des gesetzlichen Richters immanente Stetigkeitsprinzip als Schranke der Fiskalinteressen. Das bedeutet, daß der Gesetzgeber nicht solche Zustände bewirken darf, die zu einer (gegebenenfalls mehrfachen) Änderung des Geschäftsverteilungsplans zwingen. Unter diesen Vorzeichen ist eine halbjährige Besetzungssperre unzulässig, 167 zumal die hierbei regelmäßig erforderliche Einräumung einer Abkürzungsmöglichkeit zu den bereits dargestellten Unsicherheiten eines nicht hinreichend kontrollierbaren Ermessens führt. Da andererseits auch dem fiskalischen Anliegen seine Berechtigung nicht abgesprochen werden kann, erscheint eine dreimonatige Besetzungssperre akzeptabel. Indem eine solche Frist die für Fälle der unvorhersehbaren Vakanz (z.B. durch Tod des Stelleninhabers) zugestandenen Zeiträume nicht ausreizt und die Parallele zur Konstellation der Abordnung wahrt, wird auch dem Bedenken Rechnung getragen, daß die (hier als Orientierungsgröße herangezogene) Vertretung grundsätzlich eine Form der nachrangigen Reparatur für unvermeidbare Zwischenfälle, nicht aber eine vom Gesetzgeber beliebig einsetzbare Alternative zur ordnungsgemäßen Geschäftsverteilung darstellt. 168 Das prinzipielle Argument, die Stellensperre entspreche einer befristeten Stellenstreichung und stehe daher jeglicher Vertretung entgegen, ist demgegenüber nicht zwingend und mag in Zeiten leerer Kassen als unangemessen doktrinär erscheinen. In Wahrheit liegt die Situation bei der befristeten Stellensperre zwischen dem Fall der Stellenstreichung und jenem der (aus anderen Gründen) bislang nicht möglichen Besetzung einer vorhandenen Planstelle. Deshalb reicht es aus, die Zulässigkeit der Vertretung nach Gefährdungsgesichtspunkten zu bestimmen und die mit einer dreimonatigen Sperrfrist einhergehenden Gefahren für tolerabel zu erachten. Die prinzipielle Anerkennung von haushaltsrechtlichen Sperrfristen ist freilich nicht auf die Stellen der Vorsitzenden Richter beschränkt. Auch die übrigen Richterstellen können mithin einer dreimonatigen Sperre unterworfen werfen. Im Hinblick auf das Stetigkeitsprinzip als Grenze der Berücksichtigung fiskalischer Gesichtspunkte könnte man darüber diskutieren, ob die Möglichkeiten, die Vakanz solcher Richterstellen ohne Änderung des Geschäftsverteilungsplans zu bewältigen, insoweit sogar eine sechsmonatige
im Hierfür eines der Sondervoten zu BayVerfGHE 38 (1985), 96; in: DRiZ 1986, 183 (zu III.l) sowie Reichl, Gesetzlicher Richter, S. 145 f. 165 Vgl. Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, § 21e Rn 9. OLG Celle, StV 1993, 66 ff.; vgl. auch § 37 II, III DRiG. 167 S. auch oben (zu) Fn 138. Vgl. auch Domcke, FS Bengl (1984), S. 21.
11. Kapitel: Die Besetzung der Spruchkörper ( personelle Geschäftsverteilung )
293
Sperrfrist als gerade noch hinnehmbar erscheinen lassen; 169 hiergegen spricht allerdings, daß hierdurch die Parallele zur Abordnung überschritten und die Gefahr größerer Unbestimmtheit (auch im Hinblick auf die Notwendigkeit von Abkürzungsmöglichkeiten) geschaffen würde. In der obergerichtlichen Judikatur scheint freilich eine apodiktische Ablehnung jeglicher haushaltsrechtlicher Besetzungssperren vorzuherrschen. Diese Einschätzung kann sich u.a. auf ein Urteil des BGH 170 stützen, wonach es die Besetzungsrüge begründet, wenn eine Planstelle am Oberlandesgericht nur deshalb mit einem bereits erprobten und als geeignet befundenen Hilfsrichter besetzt wird, weil die Justizverwaltung ihn wegen des Fehlens einer allgemeinen Beförderungsstelle nicht in eine Planstelle am Oberlandesgericht einweisen konnte. Die in jenem Fall einschlägige landesrechtliche Regelung, nach welcher einem in das Amt eines Richters am OLG zu befördernden Richter der dem Beförderungsamt zugeordnete Dienstposten grundsätzlich sechs Monate übertragen werden mußte, bevor er planmäßiger Richter am OLG werden konnte, war erkennbar von dem Interesse getragen, die Mehrkosten einzusparen, die durch eine sofortige Beförderung zum Richter am OLG verursacht worden wären. Die Möglichkeiten einer manipulativen Einflußnahme auf die Gerichtsbesetzung sind eher fernliegend, wenn man bedenkt, daß hier der zur Entscheidung berufene Richter als Person eindeutig fixiert ist, ohne daß es einer Vertretung durch einen anderen Richter bedarf. 171 Obwohl die Hilfsrichter am OLG bereits auf Lebenszeit ernannt sein müssen und somit über die in Art. 97 II GG normierte persönliche Unabhängigkeit verfügen, weist der BGH auf die Gefahr hin, daß sich diese Richter, weil ihre planmäßige Übernahme zum OLG oder ihre sonstige Beförderung bei der Justizverwaltung liegt, „bei ihren Entscheidungen von dem Gedanken an die Zustimmung der vorgesetzten Dienststelle beeinflussen" lassen könnten. 172 Diese latenten Gefahren für die Unabhängigkeit gestatten nach Ansicht des BGH eine Mitwirkung von Hilfsrichtern nur als eine aus zwingenden Gründen gebotene Ausnahme. An einer solchen Rechtfertigung fehle es jedoch, wenn die Arbeitslast des Gerichts nicht bewältigt werden konnte, weil es unzureichend mit Planstellen ausgestattet war oder die Justizverwaltung es versäumte, vorhandene Planstellen binnen angemessener Frist zu besetzen. 173 Gleiches gelte für den hier interessierenden Fall der Beförderungssperre. Im Hinblick darauf, daß die Folgen einer derartigen Haushaltsanordnung keine anderen seien, als wenn bis zum Ablauf der Sperre eine freie Planstelle überhaupt l6 ' Für eine (vielfach wohl auch tatsächlich vorgenommene) Differenzierung dahingehend, daß die Planstellen für Vorsitzende Richter von den haushaltsrechtlichen Besetzungssperren ausgenommen werden, vgl. eines der Sondervoten zu BayVerfGHE 38 (1985), 96; in: DRiZ 1986, 183 f. (zu III. 3, 4) und Domcke, FS Bengl (1984), S. 21; s. auch AK/GG-Wassermann, Art. 101 Rn 21. 170 B G H Z 95, 22ff.; vgl. auch BGH, NJW 1986, 2115. 171 Zudem hat das BVerfG (E 23, 321 [325]) die Auffassung als „schlechthin unhaltbar" bezeichnet, daß eine unrichtige besoldungsrechtliche Einstufung der Richter, sofern sie nicht deren richterliche Unabhängigkeit tangiert, den gesetzlichen Richter in Frage stellen und Art. 101 I 2 G G verletzen könnte. Ferner wird (a.a.O. S. 326; s. auch H.P. Bull, ZRP 1968, 65) klargestellt, daß die besoldungsrechtliche Einstufung auch mit der ordnungsgemäßen Besetzung des Gerichts nichts zu tun hat. Freilich paßt dieses Diktum im vorliegenden Zusammenhang nicht genau; denn hier erstrebt der betreffende Richter nicht allein eine höhere besoldungsrechtliche Eingruppierung, sondern seine noch ausstehende Beförderung. 172 B G H Z 95, 22 (26); ebenso bereits B G H Z 12, 1 (3); 22, 142 (144). 171 Hierzu B G H Z 22, 142 ff.
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Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
fehlen und eine solche erst zum Fristablauf geschaffen würde, stellt der BGH die Haushaltssperre dem Fall der mangelhaften Personalausstattung gleich. Diese argumentative Konstruktion führt schließlich auch zur Verneinung einer zulässigen Vertretung; denn für die Position einer nicht vorhandenen Planstelle könne kein Vertreter bestellt werden. 174 Uber die jeweiligen Einzelentscheidungen hinaus läßt sich als Leitmotiv das immer wiederkehrende Bemühen der Judikative feststellen, Sparmaßnahmen, die sie als ungerechtfertigt ansieht, mit justiziellen Mitteln zurückzuweisen. 175 Da direkte Einwirkungsmöglichkeiten auf die politischen Instanzen der Rechtsprechung kaum zu Gebote stehen, erfolgt die Auseinandersetzung um haushaltsrechtlich motivierte Einengungen des richterlichen Personalbestandes im Rahmen der jeweils zu entscheidenden Gerichtsverfahren. Hierbei erweist sich die Besetzungsrüge als Hebel, mit dessen Hilfe - gestützt auf eine entsprechende Interpretation der einschlägigen Normen des Gerichtsverfassungsrechts - ein politischer Druck auf den Haushaltsgesetzgeber und die Justizverwaltung ausgeübt werden kann. Um zu verhindern, daß aus fiskalischen Erwägungen Schneisen in den personellen Bestand der Justiz geschlagen werden, mobilisiert die Rechtsprechung vor allem die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen des gesetzlichen Richters und der richterlichen Unabhängigkeit. Beide Verfassungssätze erfahren in diesem Kontext eine sehr prinzipielle Deutung, die bereits die abstrakten Gefahrenmomente zum hinreichenden Anlaß nimmt, auch potentiellen Einwirkungen entgegenzutreten. Damit läßt sich auch die Kontroverse um die Zulässigkeit haushaltsrechtlicher Wiederbesetzungs- und Beförderungssperren als Anwendungsfall des allgemeinen Grundkonflikts zwischen einer an einer konkreten Gefahrenbeurteilung ausgerichteten, eher pragmatischen und einer mehr prinzipiengeleiteten („puristischen") Sichtweise begreifen. Auffällig ist ferner die Beobachtung, mit welcher Leichtigkeit sich - je nach der entsprechenden Grundhaltung - die jeweils mit Art. 101 I 2 GG verknüpften Aussagen gegeneinander ausspielen lassen, daß (1) diese Vorschrift eine so exakte Festlegung des gesetzlichen Richters wie nur möglich verlange bzw. (2) daß eine rein theoretische Mißbrauchsmöglichkeit eine Regelung nicht verfassungswidrig mache. 176 Freilich ist bemerkenswert, wie entschieden die Rechtsprechung hier auf der Position einer prinzipienhaften Strenge beharrt, während ihr in anderen Zusammenhängen eine von Praktikabilitätserwägungen geleitete, Flexibilität gestattende Lesart des Art. 101 I 2 GG weniger Schwierigkeiten zu bereiten scheint. Dennoch wäre es verfehlt, die Unnachgiebigkeit, mit der sich die Judikative hier zur Wehr setzt, als „Bunkermentalität" abzuB G H Z 95, 22 (27f.); s. auch bereits oben zu Fn 132. Katholnigg,}R 1985, 38. 176 Während der BayVerfGH (NJW 1986, 1326 [1329]) auf die Unbeachtlichkeit theoretischer Mißbrauchsgefahren verweist, bejaht das BSG (RiA 1976, 54 [56]) die Rechtswidrigkeit einer verzögerten Wiederbesetzung einer Vorsitzenden-Stelle mit der Begründung, es lasse sich „die Möglichkeit sachfremder Eingriffe der Verwaltung in die Besetzung des Senats nicht völlig ausschließen. Dies ist der entscheidende Beurteilungsmaßstab für die gesetzliche Besetzung der Richterbank in solchen Fällen". Der Unterschied zwischen abstrakter und konkreter Gefahrenbeurteilung läßt sich auch am Kriterium der „Umgehung" aufzeigen: Eine Verhinderung des Vorsitzenden ist nach Ansicht des RG (St. 62, 273 [276]; s. auch BGHSt. 14, 11 [15 f.]) nur zu verneinen, „wenn sich ... ergeben sollte, daß mit der Verzögerung oder sogar mit der Unterlassung der Wiederbesetzung der Stelle ... eine Umgehung der §§ 62 und 66 GVG [a.F. = Vorläufer von § 21f I und II GVG; C.S.] beabsichtigt ist"; demgegenüber sieht das OLG Hamburg (JR 1985, 36 [38]) die maßgebliche Umgehung gerade darin, daß die Verzögerung auf gemessen an § 21 f GVG sachfremden, rein haushaltsrechtlichen Gründen beruht. |7Ϊ
11. Kapitel: Die Besetzung der Spruchkörper ( personelle Geschäftsverteilung )
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qualifizieren, die der Sicherung der eigenen Pfründe und dem Abstreifen der allgemeinen Sparzwänge dienen soll. Ganz allgemein steht die starre Haltung durchaus im Einklang mit dem dieser Arbeit zugrunde liegenden Verständnis des Art. 101 I 2 G G . Hiernach verkörpert der ungestörte Gleichlauf, in dem Richter und Fälle anhand eines normativen Systems einander schematisch zugeordnet werden, in gewisser Hinsicht einen Selbstzweck, der freilich auf die weiteren Ziele einer möglichst umfassenden Manipulationsabwehr und einer möglichst weitreichenden Stärkung des Vertrauens der Rechtsgenossen ausgerichtet ist. Vor allem aber geht es im vorliegenden Kontext nicht um die Erhaltung individueller Privilegien, sondern um das staatspolitische Anliegen, der Justiz auch in Zeiten zunehmender ökonomischer Zwänge ihre Stellung als unabhängigem Kontrolleur staatlicher M a c h t zu bewahren. Hier auf eine Vorfeldsicherung zu verzichten und das Terrain bis zur Grenze konkret erkennbarer Gefahrenlagen preiszugeben, müßte als sehr riskante Strategie erscheinen, die geradezu dazu einladen könnte, den ohnehin beträchtlichen finanziellen Druck zu erhöhen und die zugestandenen Spielräume extensiv zu nutzen. Deshalb verdient die Entschlossenheit, mit der sich die Rechtsprechung den beiden anderen Staatsgewalten hier entgegen stellt, Verständnis und in ihrer Grundtendenz Zustimmung. Das gilt auch dann, wenn man - dem hier unterbreiteten Vorschlag folgend - eine auf drei M o n a t e bemessene Sperrfrist als akzeptablen Kompromiß ansieht und jedenfalls einräumt, daß der Gesetzgeber durch entsprechende Veränderungen des Gerichtsverfassungsrechts solche finanzpolitisch veranlaßten Vakanzen ohne Verfassungsverstoß begründen dürfte.
2.
D a s V e r b o t disziplinierender G e s c h ä f t s v e r t e i l u n g
a)
Ermessen und Macht des Präsidiums
Im Rahmen der dargestellten Bindungen ist das Präsidium bei der Besetzung der einzelnen Spruchkörper weitgehend frei. 177 Die für eine optimale Erledigung der anfallenden Aufgaben des Gerichts relevanten Gesichtspunkte sind zum Teil durchaus gegenläufiger Natur; so kann das Interesse an der Nutzung von vorhandenen Spezialkenntnissen ebenso Bedeutung erlangen wie der Aspekt, den Kreis der in einem Teilgebiet besonders vertrauten Richter zu erweitern, durch jahrelange Zusammenarbeit entstandene personelle Verkrustungen aufzubrechen 1 7 8 oder der Gefahr eines „Scheuklappen"-Denkens infolge eines thematisch stark beengten Tätigkeitsfeldes entgegenzuwirken. 1 7 9 Zwar soll das Präsidium bei der Aufstellung des Besetzungsplanes neben der fachlichen Eignung und den Fähigkeiten der einzelnen Richter auch die von ihnen geäußerten Wünsche nach
177 So ist das Präsidium z.B. nicht gehindert, einem Spruchkörper lediglich männliche Richter (oder auch ausschließlich Richterinnen) zuzuweisen; vgl. OLG Köln, NJW 1972, 911; Kissel, GVG, Rn 128; LR-fC. Schäfer, Rn 9 jeweils zu ξ 21e GVG. 178 Vgl. auch die Regelung in § 15a 1 3 BVerfGG: „Die Zusammensetzung einer Kammer soll nicht länger als drei Jahre unverändert bleiben." 179 Zum Gesichtspunkt der (durch Aufgabenwechsel nach angemessener Zeit zu sichernden) umfassenden Verwendbarkeit der Richter vgl. Zöller/Gummer, ZPO, ξ 21e GVG Rn 6, 57; Wassermann, ZRP 1970, 7 f.
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Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
Möglichkeit berücksichtigen,180 doch ist anerkannt, daß kein Richter einen Anspruch auf Zuteilung zu einem bestimmten Spruchkörper oder auf Übertragung eines besonderen Tätigkeitsgebiets hat.181 Auch die Besetzung der auswärtigen Spruchkörper regelt das Präsidium nach seinem Ermessen.182 Dieser Ausgangspunkt macht zugleich deutlich, über welche Machtposition das Präsidium gegenüber den Richtern verfügt. „Niemand kann den Richter härter treffen als das Präsidium, das ihm zu viel oder zu wenig Aufgaben zuweist, das ihn unter Umständen ,kaltstellt'". 183 Auch an anderer Stelle werden die insoweit denkbaren Mechanismen (von einem Richter am BVerfG) exemplarisch beschrieben: 184 „Ein unbequemer Richter kann beispielsweise von richterlichen Geschäften ferngehalten werden, indem man ihn kurzerhand keinem Spruchkörper des Kollegialgerichts zuteilt. Er kann von bestimmten Rechtsstreitigkeiten ferngehalten werden, weil man beispielsweise in einer Ehescheidungskammer scheidungsfeindliche oder nur scheidungsfreundliche Richter haben möchte. Entsprechendes ist denkbar bei der Besetzung von Kammern oder Senaten für politische Strafsachen. Man kann bei der Überbesetzung von Kammern und Senaten großzügig verfahren, um dem Vorsitzenden Spielraum bei der Heranziehung bestimmter Richter in bestimmten Fällen zu lassen. Man kann schließlich die Geschäftsordnung ändern, um eine bestimmte Sache oder Verfahren bestimmter Art vor eine bestimmte Richterbank oder einen bestimmten Vorsitzenden zu bringen. Mit diesen Beispielen ist längst klar geworden, daß in allen diesen und ähnlichen Fällen die richterliche Unabhängigkeit nicht unmittelbar durch Einflußnahme auf den Richter, sondern mittelbar dadurch tangiert wird, daß ihm bestimmte Sachen entzogen oder zugespielt werden. Das ist genau das, was unsere Verfassungsgarantie des gesetzlichen Richters verhindern soll und, wie die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erweist, auch tatsächlich verhindert." Die abschließend getroffene Bemerkung erscheint freilich als recht optimistisch, wenn man bedenkt, daß auch das BVerfG seine schützende Hand nur über jene Fälle ausbreiten kann, die ihm zugetragen werden; da die Motive, die das Präsidium zu seiner Entscheidung bewogen haben, dem rechtsuchenden Publikum regelmäßig verschlossen bleiben,185 ließe sich über eine (freilich kaum weiter aufklärbare) „Dunkelziffer" spekulieren.186 Unbestreitbar ist hingegen, daß das Präsidium faktisch sehr effiziente Möglich-
Vgl. auch Albers, in: Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 21e GVG Rn 12. Stelkens, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 4 Rn 31. Vgl. auch VGH Kassel, DRiZ 1984, 62 f. 1H2 Thomas, Richterrecht, S. 105 f.; vgl. auch BGH, NJW 1985, 1084; BayVGH, NZS 1995, 332 (333); Albers, in: Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 30 DRiG Rn 1 (m.w.N.). '»·' Schmidt-Räntscb, DRiG, § 26 Rn 33a. Vgl. auch den Hinweis von Kissel (NJW 2000, 461), daß „die Übertragung richterlicher Aufgaben der verschiedensten Art ... nach aller Erfahrung nicht selten Einfluss bis hin in die persönliche Lebensführung (hat)". 184 Geiger, Ehrengabe Heusinger (1968), S. 57f. (Hervorhebung im Original). 185 Immerhin verlangt BGHSt. 40, 218 (240) für die Zulässigkeit einer auf die Verletzung von § 21e III GVG gestützten Besetzungsrüge (§ 344 II 2 StPO), daß der Beschwerdeführer die Gründe mitteilt, die das Präsidium nach der Stellungnahme seines Vorsitzenden zur Änderung der Geschäftsverteilung veranlaßt haben. 18i Vgl. Sangmeister, DÖD 1988, 222; s. auch den vom Hessischen Dienstgerichtshof (DÖD 1988, 220 [221]) mitgeteilten Vortrag der Antragstellerin. 180 181
11. Kapitel: Die Besetzung der Spruchkörper ( personelle Geschäftsverteilung )
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keiten hat, gerichtsintern Personal- und Rechtspolitik 1 8 7 zu betreiben, selbst wenn solche Einwirkungsformen dem Grundgedanken des gesetzlichen Richters widerstreiten mögen, der eine gezielte Richterzuordnung gerade zu vermeiden trachtet. Allerdings rechtfertigt das dargestellte Gefährdungspotential nicht den Schluß, daß Umbesetzungen gerichtlicher Spruchkörper nur im Einverständnis mit den hiervon betroffenen Richtern vorgenommen werden dürfen. Denn eine solche Konsequenz würde die Erfüllung der dem Präsidium übertragenen Aufgabe unangemessen erschweren. Die Verteilung der Geschäfte ist (schon allein wegen der zu beachtenden gesetzlichen Vorgaben) ein äußerst komplizierter Vorgang, 1 8 8 bei dem (unabhängig von jeglichen Manipulationsgedanken) Entscheidungen auch dann zu treffen sind, wenn man es nicht allen Beteiligten recht machen kann. 1 8 9 So kann es z.B. ein G e b o t der Gerechtigkeit sein, die Besetzung eines Spruchkörpers, der mit einer als „unbeliebt" geltenden Materie befaßt ist, nach angemessener Zeit zu verändern, um die subjektiv empfundene Benachteiligung gleichmäßig zu verteilen; 1 9 0 ebenso müssen einem auswärtigen Spruchkörper natürlich auch dann Richter zugewiesen werden, wenn niemand den Ortswechsel auf sich nehmen will. 191 Im Prinzip verdient mithin die Position Zustimmung, daß grundsätzlich jeder Richter zur Übernahme aller bei diesem Gericht anfallenden Arbeiten bereit sein muß. Der dem Präsidium hiermit eingeräumte Spielraum eröffnet die latente Gefahr von Richterzuteilungen, die letztlich auf unsachgemäßen Motiven basieren; solche Gefahren sind nicht zu bestreiten, sie sind aber im Interesse einer funktionstüchtigen Rechtspflege grundsätzlich hinzunehmen. Im Schrifttum finden sich vielfach Äußerungen, die auf eine Stärkung der Position des Richters abzielen, indem sie ihm einen „Anspruch" auf die Zuweisung von Geschäften einräumen, die er nach seinen speziellen Kenntnissen, Fähigkeiten und Neigungen am besten bearbeiten könne. 1 9 2 Ferner wird gefordert, daß grundlegende Änderungen des richterlichen Tätigkeitsbereichs ( z . B . der Wechsel von einem strafrechtlichen in ein zivilrechtliches Dezernat) nicht dem freien Ermessen des Präsidiums überlassen werden dürfen, sondern nur bei einer (am Maßstab des § 21e III G V G zu bestimmenden) organisatorischen Notwendigkeit und unter Berücksichtigung einer sachgerechten Auswahl der betroffenen Person(en) zulässig seien. 1 9 3 Mit gleicher Richtung wird nicht erst das
187 Vgl. auch Voßkuhle, Rechtsschutz, S. 18 (Fn 48): „Besonders brisante Themen, wie etwa die rechtliche Beurteilung des Schwangerschaftsabbruchs oder der Demonstrationen gegen den Nachrüstungsbeschluß durch Straßenblockaden können Präsidien hier zu Einflußnahmen verführen." Vgl. ferner oben 4. Kap. IV. 1 (Fn 84) sowie (bezüglich des BFH) Felix, BB 1991, 2193 f. und Cassius Crassus, BB 1992, 251. 188 Vgl. zum Folgenden LR-K. Schäfer, $ 21 e GVG Rn 112 ff. 189 Beispielhaft ist insoweit auf die Notwendigkeit zu verweisen, dem „absoluten Vorrang" von Haftsachen gegebenenfalls durch die Heranziehung von Zivilrichtern Rechnung zu tragen; vgl. OLG Frankfurt, NJW 1996, 1485 (1486f.); Roxin, StrafVerfahrensrecht, § 3 0 Rn 54 (m.w.N.). 1911 Priepke, DRiZ 1985, 292; LR-K. Schäfer, § 21e GVG Rn 113; Schwarz, SchlHA 1976, 86; s. auch oben Fn 179. 1,1 Vgl. oben Fn 182. Zumindest der Tendenz nach für ein Zustimmungserfordernis H. Müller, NJW 1963, 616. Von der Besetzung eines (organisationsrechtlich zum Stammgericht gehörenden) auswärtigen Spruchkörpers zu unterscheiden ist hingegen die Einteilung zum Vertretungsdienst bei fremden Amtsgerichten; vgl. hierzu VGH München, NJW 1994, 2308 ff. 192 Schom/Stanicki, Präsidialverfassung, S. 200 f.; s. auch Hentschel, ZRP 1976, 189 f. 191 Wolf, DRiZ 1976, 368; ebenso Priepke, DRiZ 1985, 292 f. Kritisch hingegen Peutz, DRiZ 1977, 179 (Fn 4).
298
Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
Erreichen der Willkürgrenze für maßgeblich erklärt, sondern dem Richter ein subjektives Recht auf fehlerfreie Ermessensausübung zugebilligt.194 Derartige Stellungnahmen verdienen als an die Präsidien gerichtete Mahnung Beachtung, sich um die Erhaltung eines guten Betriebsklimas im Gericht zu bemühen und hierbei die Interessen der von ihren Entscheidungen betroffenen Menschen nicht leichtfertig beiseite zu schieben. Ob sich hieraus weitergehend exakt handhabbare, verbindliche Kontrollmaßstäbe für die gerichtliche Überprüfung von Geschäftsverteilungsplänen ermitteln lassen, erscheint hingegen zweifelhaft. 195 Mag man auch abstrakt die „Begründungsschraube" zu Lasten der Präsidien anziehen, so ist eine vollständige Sachkontrolle ohnehin ausgeschlossen. Für die Rechtswirklichkeit ist zu konstatieren, daß die einschlägigen Gerichtsentscheidungen 196 bislang nahezu einhellig die Maßnahmen des Präsidiums akzeptiert haben. 197 So weiträumig die dem Präsidium zugestandenen Gestaltungsmöglichkeiten auch sind, so finden sie immerhin eine Grenze in dem Verbot, den Geschäftsverteilungsplan als Instrument zur Disziplinierung mißliebiger Richter zu gebrauchen. Diese Ermessensschranke geht maßgeblich auf eine Entscheidung des BVerfG198 aus dem Jahre 1964 zurück. Im dortigen Verfahren hatte sich ein an einem Landessozialgericht auf Lebenszeit ernannter Richter dagegen gewandt, mittels einer Änderung der Geschäftsverteilung absichtlich von der Richtertätigkeit praktisch ausgeschlossen worden zu sein. Das BVerfG gab der Verfassungsbeschwerde wegen einer Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 II 1 GG) statt und führte hierbei aus, daß es dem Präsidium ungeachtet seines Rechts zur Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit der Richter nicht zustehe, „einen planmäßig bei einem Gericht ernannten Richter als für die Rechtsprechung dieses Gerichts untragbar, völlig ungeeignet oder unzumutbar zu qualifizieren und aus diesem Grund von der Rechtsprechung fernzuhalten" 199 . Ist er mit einer anderweitigen Verwendung nicht einverstanden, so muß ihn das Gericht (vorbehaltlich einer in den gesetzlich vorgeschriebenen Formen vorgenommenen Versetzung oder eines Disziplinarverfahrens) ertragen; es ist weder zulässig, eine Zusammenarbeit mit ihm abzulehnen noch ihn auszuschalten. Anknüpfend an diesen Beschluß galt es allgemein als anerkannt, daß die Ge-
I' 4 Kolb, Rechtsnatur, S. 222f.; Kornblum, FS Schiedermair (1976), S. 347, 349. · « Ebenso LR-K. Schäfer, % 21e GVG Rn 109 (a.E.). i™ Vgl. BVerwG, NJW 1976, 1224 (1226; zu diesem Verfahren vgl. auch LR-iC Schäfer, § 21e GVG Rn 79ff.); V G H Kassel, DRiZ 1984, 62f.; Hess. DGH, D Ö D 1988, 220 (221; wohl zu derselben Sache auch BGH, NJW 1991, 425); VG München, D Ö D 1987, 83 ff. (zur Berufungsinstanz vgl. Sangmeister, D Ö D 1987, 87 f., der allgemein eine „auffällige Zurückhaltung der Rechtsprechung in derartigen Verfahren" [a.a.O. Fn 44] und eine „faktische Rechtlosigkeit des Richters gegenüber Präsidiumsbeschlüssen" diagnostiziert); VG Trier, DRiZ 1993, 401 (402); VG Hannover, NJW 1990, 3227 f. Demgegenüber ließ das OVG Hamburg (NJW 1987,1215 ff.) erkennen, daß es einen Verstoß gegen § 21e III GVG für gegeben hielt; es wies den Antrag des Richters gleichwohl ab, weil dieser nicht hinreichend dargetan habe, durch die Änderung des Geschäftsverteilungsplans in seinen eigenen Rechten betroffen zu sein. Erfolgreich war hingegen die Fortsetzungsfeststellungsklage im Fall VG Schleswig, DRiZ 1991, 98 f. (Mißachtung des § 34 I J G G ) . 197 Zu den umstrittenen prozessualen Fragen (Rechtsweg, Antragsgegner, vorläufiger Rechtsschutz) vgl. Albers, in: Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 21e GVG Rn 24ff. und Kolb, Rechtsnatur, S. 192 ff. BVerfGE 17, 252 (259ff.). i' 9 A.a.O. S. 260. S. auch BVerfGE 38, 139 (152) sowie bereits Schorn, DRiZ 1962, 187.
11. Kapitel: Die Besetzung der Spruchkörper ( personelle Geschäftsverteilung )
299
schäftsverteilung nicht zur „ Q u a s i - D i s z i p l i n i e r u n g " 2 0 0 e i n e s Richters mißbraucht w e r d e n dürfe; 2 0 1 bereits der A n s c h e i n einer auf Mißbilligung b e r u h e n d e n R e g e l u n g o d e r gar einer v e r s t e c k t e n D i s z i p l i n a r m a ß n a h m e sei zu v e r m e i d e n . 2 0 2 M a n b e z w e i f e l t e allenfalls, o b derartige Fälle überhaupt ( n o c h ) zu b e f ü r c h t e n seien; 2 0 3 die rechtliche Beurteilung einer solc h e n K o n s t e l l a t i o n w a r j e d o c h unbestritten. D i e s e E i n m ü t i g k e i t ist im G e f o l g e einer Ents c h e i d u n g d e s LG M a n n h e i m im s o g . ( z w e i t e n ) Deckert-Verfahren ins W a n k e n geraten. b)
Der „Fall
Ortet
aa)
Darstellung
der
Ereignisse
D i e V o r g ä n g e , die G e g e n s t a n d einer h e f t i g e n D e b a t t e nicht nur der Fachöffentlichkeit waren, lassen sich k o m p r i m i e r t w i e f o l g t darstellen: 2 0 4 Der Angeklagte Deckert, damals Bundesvorsitzender der N P D , w a r durch Urteil der 4. (großen) Strafkammer des LG M a n n h e i m v o m 1 3 . 1 1 . 1 9 9 2 wegen Volksverhetzung in Tateinheit mit übler Nachrede, Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener und Aufstachelung zum Rassenhaß zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr (mit Bewährung) verurteilt w o r d e n , weil er in einer von ihm geplanten und organisierten zweistündigen Veranstaltung in einer Gaststätte einen Vortrag des US-Amerikaners Leuchter (teils wörtlich, teils zusammengefaßt oder ergänzt) übersetzt u n d zustimmend k o m m e n t i e r t hatte; in seinem Vortrag hatte der Referent die massenweise Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus jedenfalls mittels Vergasens in Abrede gestellt und hierbei (in der Ubersetzung des Angeklagten) Formulierungen wie „ G a s k a m m e r m y t h o s " und „ G a s k a m m e r l ü g e " verwandt. Auf die Revisionen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft hin h o b der BGH 2 0 5 das Urteil auf und wies die Strafsache zur erneuten Verhandlung an das LG M a n n h e i m zurück. Die n u n m e h r zuständige 6. ( g r o ß e ) Strafkammer des LG M a n n h e i m verurteilte den Angeklagten am 2 2 . 6 . 1 9 9 4 w i e d e r u m zu einem Jahr Freiheitsstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt w u r d e ; an dieser Entscheidung wirkten als Berufsrichter neben dem Vorsitzenden Richter Dr. Müller der Berichterstatter Dr. Orlet und als weitere Beisitzerin die Richterin am Landgericht Folkerts mit. N a c h Bekanntwerden der schriftlichen Urteilsgründe 2 0 6 e r h o b sich ein nationaler und internationaler Proteststurm. Auslöser hierfür waren A u s f ü h r u n g e n insbesondere in den Begründungen zur Strafzumessung und zur Strafaussetzung zur Bewährung. 2 0 7
ln
« Priepke, DRiZ 1985, 292. OVG Hamburg, NJW 1987, 1215 (1217); Reicht, Gesetzlicher Richter, S. 127f.; SchmidtRäntscb, DRiG, § 26 Rn 33c; Voßkuhle, Rechtsschutz, S. 18; Wolf, DRiZ 1976, 368; s. auch BGH, NJW 1991, 425 f.; VG Trier, DRiZ 1993, 401 (403). 202 Kissel, GVG, ξ 21e Rn 82; s. auch Sangmeister, DÖD 1987, 88 (Fn 50). 2( " Zu optimistisch insoweit LR-iC Schäfer, § 21e GVG Rn 99; vgl. etwa Fürst/Mühl/Arndt, Richtergesetz, § 26 Rn 71; Weitl, DRiZ 1977, 112 (.„Strafversetzung' des mißliebig aufgefallenen Bundesrichters Mayer durch das Präsidium des BGH"); „Der Spiegel", Nr. 4/1998, S. 69 sowie oben Fn 186; vgl. weiterhin die den Entscheidungen BVerfG, NJW 1976, 325 (hierzu K. Schäfer a.a.O.) und OVG Hamburg, NJW 1987, 1215 zugrunde liegenden Sachverhalte. 204 Vgl näher zum Folgenden Lartsnicker, Richteramt, S. 271 ff.; Mishra, Urteilsschelte, S. 61 ff. und Herr, DRiZ 1994, 405 ff. 205 BGH, NJW 1994, 1421 ff. 20f, N j W 1994 ; 2494 ff. 2,17 Dort heißt es unter anderem (vgl. zu den nachfolgenden Zitaten a.a.O. S. 2498 f.), es sei auch die 201
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Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
Empörung rief das Urteil nicht allein in den Massenmedien, sondern auch von Seiten der Politiker und Funktionsträger des Deutschen Richterbundes hervor. Am 15. 8 . 1 9 9 4 wurde auf einer Richterversammlung, an der rund 40 der 64 Berufsrichter des Landgerichts Mannheim teilnahmen, eine Entschließung verabschiedet, die eine Distanzierung von den schriftlichen Urteilsgründen enthält, soweit diese den Eindruck der Billigung rechtsextremen und antijüdischen Gedankengutes erweckten. Am selben Tage beschloß das Präsidium des LG Mannheim, 2 0 8 daß „infolge dauernder krankheitsbedingter Verhinderung des Vorsitzenden Richters am Landgericht Dr. Müller" der Vorsitzende Richter am LG N . „mit sofortiger Wirkung ... den Vorsitz in der 1. u n d 6. Großen Strafkammer (übernimmt)"; des weiteren heißt es in dem Beschluß des Präsidiums, daß „über die infolge der dauernden krankheitsbedingten Verhinderung des Richters am Landgericht Dr. Orlet erforderlich gewordene Änderung der Geschäftsverteilung ... aus verfahrensrechtlichen Gründen erst zu einem späteren Zeitpunkt entscheiden (wird)". Während der Vorsitzende Richter Müller durch eine Anwaltskanzlei eine persönliche Erklärung verbreiten ließ, in welcher „mißverständliche oder unglückliche Formulierungen" in dem Urteil eingeräumt und diese „sehr bedauert" werden, verteidigte Orlet in mehreren Presseinterviews das von ihm verfaßte Urteil, 209 das vom B G H am 15.12.1994 2 1 0 aufgehoben wurde (das Verfahren gegen Deckert endete nach Zurückverweisung an das LG Karlsruhe mit einer Verurteilung des Angeklagten zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe ohne Bewährung) 2 1 1 . Der Jahresgeschäftsverteilungsplan des LG Mannheim für das Jahr 1995 enthielt keine Umbesetzung bezüglich der Richter Müller und Orlet. Im Jahre 1995 weigerten sich zehn der 6. Strafkammer zugeordnete Laienrichter, neben Orlet ihr Schöffenamt auszuüben; weitere 52 Schöffen des LG Mannheim erklärten sich mit diesem Verhalten solidarisch. N a c h d e m in der Öffentlichkeit mehrfach die Erhebung einer Richteranklage vor dem BVerfG (vgl. Art. 98 II, V GG in Verbindung mit Art. 68 II der Landesverfassung Baden-Württembergs) gefordert worden war, beschloß das Präsidium des Baden-Württembergischen Landtags am 2 1 . 3 . 1 9 9 5 (nach einer gutachterli-
Tatsache nicht außer acht gelassen worden, „daß Deutschland auch heute noch, rund fünfzig Jahre nach Kriegsende, weitreichenden Ansprüchen politischer, moralischer und finanzieller Art aus der Judenverfolgung ausgesetzt ist, während die Massenverbrechen anderer Völker ungesühnt blieben, was, jedenfalls aus der politischen Sicht des Angeklagten, eine schwere Belastung des deutschen Volkes darstellt". Ferner wird der Angeklagte als eine „charakterstarke, verantwortungsbewußte Persönlichkeit mit klaren Grundsätzen" bezeichnet, der „seine politische Uberzeugung, die ihm Herzenssache ist, ... mit großem Engagement und erheblichem Aufwand an Zeit und Energie (verficht) ... Einem so gearteten Manne glaubt die Kammer das Bekenntnis zur Rechtstreue". Ferner zweifelte die Kammer nicht daran, „daß die Bevölkerung in ihrer übergroßen Mehrheit durchaus Verständnis dafür haben wird, daß einem 54jährigen unbescholtenen Familienvater, dessen Unrecht im Grunde in der Äußerung einer Auffassung bestanden hat, die Rechtswohltat der Strafaussetzung zur Bewährung zuteil wird". Im Rahmen der rechtlichen Würdigung wird (bezüglich der Frage einer Wahrnehmung berechtigter Interessen gemäß § 193 StGB) ausgeführt, daß es „zur Verfolgung des von ihm angestrebten Zweckes völlig ausgereicht (hätte), auf die lange seit der nationalsozialistischen Judenverfolgung verstrichene Zeit, den Umfang der bereits erbrachten deutschen Sühneleistungen sowie die ungesühnten und unbereuten Massenverbrechen anderer Völker hinzuweisen". 208 Der Präsidiumsbeschluß ist abgedruckt in DRiZ 1994, 391. 209 Vgl. Lansnicker, Richteramt, S. 274 ff. sowie die Erwiderung Orlets auf die Kritik von Bertram (NJW 1994, 2397ff.) in NJW, Heft 47/1994, S. XII. 210 NJW 1995, 340 f. 211 Vgl. Berliner Zeitung vom 22./23.4.1995, S. 4, 5; „Der Tagesspiegel" vom 23.4.1995, S. 2; Lansnicker, Richteramt, S. 274.
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chen Stellungnahme der Professoren Benda und Utnbach), dem Richter Orlet Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, um daraufhin über eine Richteranklage zu befinden. In seiner Stellungnahme erklärte Orlet, daß er seine früheren öffentlichen Äußerungen zum DeckertUrteil als „überholt" ansehe und sich von der öffentlichen Kritik „mißverstanden" fühle. Am 9 . 5 . 1 9 9 5 beantragte Orlet unter Vorlage eines ärztlichen Attests seine Versetzung in den Ruhestand; diesem Antrag entsprach das baden-württembergische Justizministerium am darauffolgenden Tage. 2 1 2 Die pauschale Fragestellung, wie auf ein öffentliche Empörung auslösendes Urteil angemessen reagiert werden soll, darf nicht den Blick dafür verstellen, daß sich bezüglich des vorliegenden Falles mindestens drei Problemfelder unterscheiden lassen: Der erste Themenkreis betrifft die öffentliche Urteilskritik, den zweiten Themenkomplex bildet die Richterverantwortung (hierher gehören die Fragen der straf- und disziplinarrechtlichen Sanktionen bzw. der Richteranklage 2 1 3 im Hinblick auf die Urteilsbegründung und/oder das nachträgliche außerdienstliche Verhalten) 2 1 4 , und als dritter Problembereich sind schließlich etwaige Reaktionsmöglichkeiten des Präsidiums zu diskutieren; hierbei ist konkret danach zu fragen, ob ein solches Urteil bzw. die hierdurch ausgelöste Kritik zu einer sofortigen oder im Rahmen der nächsten Jahresgeschäftsverteilung vorzunehmenden Umbesetzung des betreffenden Spruchkörpers berechtigt. Allein die zuletzt genannte Problematik betrifft das Prinzip des gesetzlichen Richters und bedarf deshalb einer eingehenderen Betrachtung.
bb)
Zur Änderung des Geschäftsverteilungsplans infolge vehementer Urteilskritik
So harmlos und unverfänglich, wie es rein formal scheint (auf die Krankmeldung zweier Richter beschließt das Präsidium eine Änderung des Geschäftsverteilungsplans g e m ä ß § 2 1 e III G V G , um einem anderen Vorsitzenden Richter den Vorsitz zu übertragen) 2 1 5 , war der Präsidialbeschluß des Landgerichts Mannheim v o m 1 5 . 8 . 1 9 9 4 wohl nicht geVgl. hierzu Lansnicker, Richteramt, S. 276 (Fn 1279). Ausführlich hierzu Lansnicker, Richteramt, S. 279 ff., 295 ff.; ferner Marqua, DRiZ 1995, 70; Reissenberger, Betrifft Justiz 1994, 385 ff.; ders., DRiZ 1995, 74; Wassermann, NJW 1995, 303 f. sowie der SPD-Antrag im Landtag von Baden-Württemberg und die Stellungnahme der Landesregierung (jeweils abgedruckt in DRiZ 1995, 75). Allgemein zum Rechtsinstitut der Richteranklage Baur, Justizaufsicht, S. 38ff.; Burmeister, DRiZ 1998, 518ff. und (o.Verf.) DRiZ 1995, 69 und 71. 214 Die Begründung des Deckert-Urteils wird als Anknüpfungspunkt sowohl für eine Richteranklage als auch für straf- oder disziplinarrechtliche Sanktionen allgemein abgelehnt; vgl. Lansnicker, Richteramt, S. 298, 301 ff. (303); s. auch die Stellungnahme der baden-württembergischen Landesregierung (vgl. DRiZ 1995, 75); Benda, „Die Zeit", Nr. 12/1995 vom 17.3.1995, S. 10; Rudolph, DRiZ 1994, 390 und Schmidt-Räntsch, DRiG, § 39 Rn 21 (zu dd] und ee]); ferner allgemein zur Abgrenzung zwischen einem der Dienstaufsicht zugänglichen „verbalen Exzeß" und dem der Dienstaufsicht entzogenen Argumentations- und Formulierungsspielraum in den schriftlichen Urteilsgründen BGH, DRiZ 1991, 410 f. Bezüglich des späteren außerdienstlichen Verhaltens ist ein (maßgeblich durch das Gutachten der Professoren Benda und Umbach angestoßener) Meinungsumschwung zugunsten einer Richteranklage zu konstatieren (vgl. Lansnicker a.a.O. S. 297, 298 ff., s. auch a.a.O. 302 f. zur disziplinarrechtlichen Ahndung). Vgl. aber auch Sendler, ZRP 1994, 379 (Fn 8 a.E.): „Kann man das Gröbere [seil.: die Formulierungen in den Urteilsgründen; C.S.] ohnehin nicht ahnden, sollte man sich nicht ersatzweise auf den geringeren Verstoß stürzen." 215 So die unkritische Lesart des Deutschen Richterbundes (vgl. DRiZ 1994, 391 und Voss, in: DRiZ 1994, 352); s. auch Rudolph, DRiZ 1994, 390. 2,2
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Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
meint, und s o w u r d e er ( z u n ä c h s t ) a u c h nicht v e r s t a n d e n . 2 1 6 Vielmehr deutet die bereits a m zweiten Tag n a c h der K r a n k m e l d u n g 2 1 7 a n g e n o m m e n e „ d a u e r n d e " Verhinderung 2 1 8 darauf hin, daß die beiden a m Deckert-Urteil mitwirkenden Richter angesichts der allenthalben über das L G M a n n h e i m z u s a m m e n s c h l a g e n d e n Welle der E m p ö r u n g krank w e r den „ m u ß t e n " 2 1 9 ( o d e r d o c h zumindest „ s o l l t e n " ) . Dies gibt Anlaß zu der allgemeinen Frage, o b das Präsidium eines Gerichts Richter „aus der Schußlinie" 2 2 0 ziehen soll o d e r darf, weil sie d e m r e c h t s u c h e n d e n Publikum nicht länger z u g e m u t e t w e r d e n können, o d e r o b ein solches Handeln zumindest unter F ü r s o r g e g e s i c h t s p u n k t e n bzw. deshalb als verzeihlich erscheint, weil hierdurch der Schaden für das A n s e h e n des Gerichts und der Justiz im allgemeinen begrenzt w e r d e n soll. Das Verhalten des Präsidiums hat überwiegend Ablehnung, 2 2 1 z u m Teil aber a u c h durchaus billigendes Verständnis 2 2 2 gefunden. Die z u s t i m m e n d e Position ist erkennbar von der Ü b e r z e u g u n g geleitet, die bloße Aufhebung des „Skandalurteils" 2 2 3 im Instan-
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Vgl. SZ vom 17.8.1994, S. 2. Herr, DRiZ 1994, 408. 2,8 Hierfür wird regelmäßig eine (voraussichtlich) mindestens zwei (bzw. drei; Katholnigg, Strafgerichtsverfassung, § 21e Rn 9) Monate währende Verhinderung verlangt; vgl. Kissel, GVG, § 21e Rn 114; Scborn/Stanicki, Präsidialverfassung, S. 97ff., 262f.; allerdings werden in Krankheitsfällen auch längere Zeiträume als lediglich „vorübergehende" Verhinderung angesehen; vgl. BGH, NJW 1989, 843 (844); BGHSt. 2 1 , 1 3 1 (133); Zöller/Gummer, ZPO, § 21e Rn 39b; LR-K. Schäfer, § 21f GVG Rn 19 f.; s. ferner BSG, MDR 1963, 960 (LS) zur vorläufigen Dienstenthebung. Vgl. Sendler, ZRP 1994, 377ff. („Zur Krankheit verurteilt?"); Herr, DRiZ 1994, 408 f. und St. Geiger, Stuttgarter Zeitung vom 1 7 . 8 . 1 9 9 4 (abgedruckt in DRiZ 1994, 401). In concreto hatte der Anwalt von Dr. Müller im Fernsehen erklärt, daß nur eine Krankmeldung für wenige Wochen vorlag. Auch die Ankündigung des Präsidiums, zu einem späteren Zeitpunkt über die Folgen der Verhinderung des Dr. Orlet entscheiden zu wollen, sowie die Tatsache, daß eine „längere" Krankmeldung dieses Richters erst vier Tage später beim erneuten Zusammentreffen des Präsidiums vorlag (vgl. zum vorstehenden Herr, DRiZ 1994, 408), deuten daraufhin, daß das Präsidium die Fäden in der Hand hielt. Vgl. Bertram, NJW 1994, 2397. 221 Herr, DRiZ 1994, 408ff.; Kriele, in: de Boor/Meurer, Über den Zeitgeist II (1995), S. 511 f.; Rottleutbner, Rechtstheorie 26 (1995), 4 1 0 f . (mit Fn 14); Scblüchter, Kernwissen, S. 17f.; Sendler, ZRP 1994, 379 (s. auch ders., NJW 1995, 2 4 6 7 ) ; Sangmeister, ZRP 1995, 300 (Fn 48); s. auch Caesar, DRiZ 1994, 458; Duttge, in: Duttge/Siekmann, Staatsrecht I: Grundrechte, Rn 723; St. Geiger, Stuttgarter Zeitung vom 1 7 . 8 . 1 9 9 4 (abgedruckt in DRiZ 1994, 402); Limbach, NJ 1995, 281 f.; Odersky (bei Lamprecht, Mythos, S. 19); Prantl, SZ vom 1 7 . 8 . 1 9 9 4 , S. 4 (abgedruckt in DRiZ 1994, 401); Rudolph, DRiZ 1994, 390; Albers, in: Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 21e GVG Rn 16. 222 Kühnert, DRiZ 1994, 393; Reissenberger, DRiZ 1995, 74; ders., Betrifft Justiz 1994, 385 ff. Vgl. ferner Herr, DRiZ 1994, 410 (zu einem Radiointerview von Wassermann) sowie (ohne konkrete Einzelnachweise ) Kriele, in: de Boor/Meurer, Über den Zeitgeist II (1995), S. 511: „Die Bundesjustizministerin sieht in der Krankschreibung' zweier Richter ,ein gutes und ermutigendes Signal', der Richterbund findet sie ,in Ordnung', und der baden-württembergische FDP-Vorsitzende freut sich: damit habe das Gerichtspräsidium ,unmißverständlich seine Ablehnung der Urteilsbegründung zum Ausdruck gebracht'." 22i Lansnicker, Richteramt, S. 309 (s. auch a.a.O. S. 3 0 3 ) ; Sendler, ZRP 1994, 3 7 7 f . (mit Bindestrich). Des weiteren wird das Urteil des LG Mannheim von Bundeskanzler Kohl „schlicht eine Schande" genannt, das „inakzeptabel und außerhalb des Erträglichen" sei (zitiert nach Lamprecht, Mythos, S. 34 [unter Hinweis auf „Die Welt" vom 1 3 . 8 . 1 9 9 4 ] ) ; es wird als „Katastrophe" (Rudolph, DRiZ 1994, 390), „juristischer Supergau" („Focus", Nr. 3 3 / 9 4 , S. 25 [zitiert nach Bertram, NJW 1994, 2399]) und als der „unglaublichste Justizskandal der vergangenen zehn Jahre" (Verheugen, zitiert nach Bertram a.a.O. S. 2 3 9 8 f . [unter Hinweis auf die FR vom 1 1 . 8 . 1 9 9 4 ] ; s. auch Lansnicker a.a.O. S. 278 [unter
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z e n w e g e sei eine u n a n g e m e s s e n s c h w a c h e ( b ü r o k r a t i s c h e ) R e a k t i o n ; vielmehr m ü s s e w e i t e r g e h e n d der „ S k a n d a l r i c h t e r " 2 2 4 a u c h persönlich zur V e r a n t w o r t u n g g e z o g e n werden. Die Berufung auf die richterliche Unabhängigkeit zugunsten derjenigen, die diese Freiheit zu „blauäugigen, mit neo-nazistischem Propagandavokabular durchmischtet η) K o t a u ( s ) " 2 2 5 mißbrauchen, ist in den A u g e n jener Justizkritiker, die „Taten sehen und nicht nur W o r t e hören ( w o l l e n ) " , 2 2 6 A u s d r u c k eines „ W a g e n b u r g d e n k e n s " 2 2 7 der Justiz, das es zu überwinden gelte. W e r mit N a c h d r u c k darauf beharrt, es m ü s s e „ e t w a s " geschehen und die Justiz dürfe angesichts solcher h o r r e n d e r Richtersprüche nicht tatenlos zur T a g e s o r d n u n g zurückkehren, wird das entschlossene Handeln des Präsidiums mit innerer Befriedigung zur Kenntnis n e h m e n und bereit sein, die ( w o h l ) v o r g e s c h o b e n e Krankheit als „ N o t l ü g e " 2 2 8 zu tolerieren, 2 2 9 weil die schnelle und eindeutige Reaktion des Präsidiums als deutlich fühlbares Signal wichtiger erscheint als die Berufung auf eine teilweise als suspekt angesehene richterliche U n a b h ä n g i g k e i t 2 3 0 und das Verweisen auf bürokratische Prozeduren (Disziplinarrecht, Richteranklage) mit letztlich ungewissem Ausgang. Eine solche Sichtweise ist nicht nur A u s d r u c k politischer Ungeduld, sondern sie ist eingebunden in den E n t w i c k l u n g s p r o z e ß der öffentlichen Urteilskritik. 2 3 1 Wenngleich diese T h e m a t i k hier nicht eingehend ausgebreitet werden kann, hat es den Anschein, daß - e t w a seit Beginn der 8 0 e r J a h r e - 2 3 2 die mediale Auseinandersetzung mit einzelnen Hinweis auf „Die Welt" vom 1 1 . 8 . 1 9 9 4 ] ) bezeichnet. Zu weiteren Stellungnahmen vgl. Lansnicker ebd.; Mishra, ZRP 1998, 402 sowie DRiZ 1994, 400 f. 224 Die Mannheimer Richter Dr. Müller und Dr. Orlet werden als „Skandalrichter" bezeichnet von Reissenberger, Betrifft Justiz 1994, 385, 388; Henryk M. Broder („taz" vom 2 6 . 1 1 . 1 9 9 4 , S. 10 [zitiert nach Limbach, NJ 1995, 281]) nennt die Richter des Mannheimer Landgerichts „drei als Juristen verkleidete Antisemiten". Zur öffentlichen Bezeichnung „Richter der Schande" vgl. Herr, DRiZ 1994, 409. 225 Vgl. Rudolph, DRiZ 1994, 390 (Rudolph lehnt eine Änderung des Geschäftsverteilungsplanes als Folge des Deckert-Urteils jedoch ab). Die Formulierung wird übernommen von Reissenberger, DRiZ 1995, 74. Ähnlich spricht der Deutsche Richterbund (Voss, in: DRiZ 1994, 349) davon, das Urteil habe „übelste Nazipropaganda hoffähig gemacht". 226 Vgl. Limbach, NJ 1995, 281; übernommen von I.amprecht, Mythos, S. 45; ders., DRiZ 1995, 335. 227 Reissenberger, DRiZ 1995, 74. 228 Ebd. Vgl. auch Kuhnert, DRiZ 1994, 393 („eine Art Notstandssituation"). 229 Vgl. Kuhnert, DRiZ 1994, 393: „(D)a die dauerhafte Verhinderung wegen Krankheit der einzige gesetzliche Weg war, irgend etwas zu tun, ist er zu Recht gegangen worden, auch wenn er zugegebenermaßen etwas angestrengt wirkt." 2,0 So hat nach Äuffassung von Lamprecht (Mythos, S. 42; ebenso ders., DRiZ 1995, 334) „Orlets Abdriften in die rechtsradikale Ecke ... die Frage nach einer Neudefinition der richterlichen Unabhängigkeit provoziert"; das Mannheimer Urteil sei die „Antithese" zur „bisher liebevoll gehegte(n) These einer grenzenlosen Unabhängigkeit", die das Nachdenken über eine „vernünftige Synthese" erfordere. 2 'i Zu den Grenzen zulässiger Urteilskritik vgl. Herr, DRiZ 1994, 407; Kisker, NJW 1981, 890ff.; Sendler, ZRP 1994, 378 f. sowie ausführlich Mishra, Zulässigkeit und Grenzen der Urteilsschelte (1997), insbesondere S. 123ff. (202f.), 226ff. (283f.); ferner ders., ZRP 1998, 402ff. (408f.). 2,2 Als Auslöser für eine gesteigerte Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit kann das sog. „BehindertenUrteil" des LG Frankfurt/M. (NJW 1980, 1169f.) angesehen werden, in dem die Anwesenheit einer Gruppe von körperlich und geistig Schwerstbehinderten im Vertragshotel dem Reiseveranstalter als Reisemangel angesehen wurde. Vgl. hierzu Simon, FS Richterakademie (1983), S. 3 ff.; Castendyk, Begründungen, S. 15 ff.; Ogorek, KritV 1997, 5 ff.; s. auch Wassermann, NJW 1998, 730f. (zu OLG Köln, NJW 1998, 763 ff.).
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Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
Gerichtsentscheidungen an Intensität und an Schärfe zugenommen hat. 2 3 3 Hierin artikulieren sich zugleich die von der Gesellschaft an die Justiz gerichteten Erwartungen, die keineswegs allein rechtlicher, sondern auch ethischer und/oder politischer Natur sind. 2 3 4 „Es wird nicht etwa erwartet, daß der Richter seine politischen oder moralischen Überzeugungen unterdrückt. Es wird erwartet, daß er die ,richtigen' Uberzeugungen hat (und diese im Prozeß durchsetzt). Und es wird auch nur dann von der Politik erwartet, daß sie die Unabhängigkeit der dritten Gewalt respektiert, wenn diese bereits zum gewünschten Ergebnis gefunden hat. Hat sie dagegen das erhoffte Resultat verfehlt, dann ist es geradezu geboten, daß die Politik nachkorrigiert." 2 3 5 Kann hiernach - zugespitzt - das früher beharrlich verteidigte Einmischungsverbot geradezu durch ein maßgeblich politisch gesteuertes Einmischungsgebot beiseite gedrängt werden, 2 3 6 so erfährt die Unabhängigkeitsgarantie eine zusätzliche Schwächung, wenn Politiker mit diesem Grundsatz taktieren und ihn nur dort hochhalten, w o die vom jeweiligen Gericht verfochtene Position ihrer eigenen politischen Grundanschauung entspricht. 2 3 7 Ungeachtet dieser Überlegungen ist öffentliche Urteilskritik in einem demokratischen Gemeinwesen nicht nur zulässig, sondern notwendig. 2 3 8 Das gilt uneingeschränkt (und in besonderer Weise) auch bezüglich des Mannheimer Deckert-Urteils, und unzweifelhaft sind auch Politiker und Verbandsfunktionäre 2 3 9 zur Urteilsschelte berechtigt gewesen. Hinsichtlich der Formen der Kritik ist zu unterscheiden. Scharfe Formulierungen und auf die Person Orlets gerichtete Stellungnahmen waren jedenfalls nach dessen Äußerungen in der Presse (unter dem Aspekt des publizistischen Gegenschlages) zulässig. 2 4 0 Umgekehrt ist die Anfang Februar 1 9 9 5 von sieben Schöffen des L G Mannheim aus Protest gegen das Deckert-Urteil erklärte Weigerung, ihr Richteramt neben Richter Orlet auszuüben, 2 4 1
2,3 Als mögliche Ursachen wären eine allgemeine Zunahme der von den Massenmedien ausgeübten Kontrolle staatlichen Handelns, das weitgehende Fehlen einer Justizkontrolle durch die übrigen Staatsgewalten und die wachsende (oder doch zunehmend stärker wahrgenommene) Politisierung juristischer Entscheidungsgegenstände (z.B. Kernkraft, Stromboykott, Sitzblockaden, Abtreibung etc.) zu diskutieren. 234 Pointiert formuliert Ogorek (KritV 1997, 12): „Richter haben nach den Erwartungen ihrer Rechtskundschaft nicht in erster Linie rechtmäßig, sondern richtig zu entscheiden - wenn beides zusammentrifft: umso besser für das Recht." Zum Konformitätsdruck als Inbegriff einer auch gegen den Gesetzgeber und die Justiz gerichteten „öffentlichen Meinung" vgl. Noelle-Neumann, FS Kriele (1997), S. 507ff. (519). 255 Ogorek, KritV 1997, 11 (a.a.O. in Fn 18 mit Hinweis auf den Fall „Deckert"). Ganz ähnlich die Beobachtung von Simon, FS Richterakademie (1983), S. 7: „Die falsche Ethik des Richters ist politischexekutiv richtigzustellen." 236 Vgl, a u s historischer Sicht hierzu Schütz, DRiZ 1980, 243 ff.; zur Forderung nach einer Stellungnahme der Politik vgl. auch Castendyk, Begründungen, S. 248, 279f., 305 (zu „Aktuellen Stunden" im Deutschen Bundestag); Simon, FS Richterakademie (1983), S. 7 ff. 217 Vgl. hierzu Ogorek, KritV 1997, 8 ff.; s. auch Castendyk, Begründungen, S. 310 ff. 2.8 Kissel, GVG, § 1 Rn 109; Mahrenholz, DRiZ 1991, 434 sowie ausführlich Mishra, Urteilsschelte, S. 98ff. (120f.), 205ff. (225f.), 301 ff. 2.9 Rudolph, DRiZ 1994, 390. Kritisch zur Reichweite verbandsinterner Äußerungen Herr, DRiZ 1994, 4 0 7 (iVm S. 405, Fn 2). 240 Vgl. Mishra, Urteilsschelte, S. 160 ff. 241 Weitere 4 0 Schöffen erklärten sich mit den ihren Richterdienst verweigernden Laienrichtern solidarisch; vgl. Mishra, Urteilsschelte, S. 76 f.
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grundsätzlich als rechtswidrig zu beurteilen.242 Als problematisch erscheint die Distanzierung durch die Richterversammlung beim LG Mannheim. Für die Zulässigkeit dieser Protestform läßt sich darauf verweisen, daß es jedem einzelnen Richter unbenommen ist, dem Kollegen auch öffentlich (z.B. in Leserbriefen) die Meinung zu sagen und daß deshalb die kollektive Ausübung des Rechts der Meinungsfreiheit ebenfalls rechtmäßig sein muß. Auf der anderen Seite ist zu bedenken, daß sich das Gericht gleichsam selbst befangen macht und das Revisionsgericht praktisch zu einer Zurückverweisung an ein anderes Gericht (§ 354 II StPO) zwingt.243 Es kommt hinzu, daß zur fraglichen Zeit am LG Mannheim sowohl ein weiteres Strafverfahren gegen Deckert als auch ein solches gegen Leuchter (wegen des Vortrags, der den Gegenstand des Urteils der 6. Strafkammer bildete) anhängig waren. 244 Allgemein ist zu bedenken, daß als Folge einer stark personalisierten Richterkritik mit dem zunehmenden Medieninteresse auch die Gefahr einer übermäßigen Urteilsschelte steigt und daß der Appell an die Richterpersönlichkeit,245 unberechtigten (?) Anwürfen standzuhalten, auf Dauer ebenso unzureichend erscheint wie mahnende Zurückhaltungsgebote, die von Anlaß zu Anlaß schwächer klingen. Gerade wenn man (bereitwillig oder notgedrungen) das Feld einer scharfen, bisweilen überzogenen und verletzenden Richterkritik preisgibt, muß man die Unverbrüchlichkeit der Grenzen deutlich machen, die einer derartigen öffentlichen Mißbilligung gezogen sind. Aus diesem Grund ist darauf zu beharren, daß das Terrain der Geschäftsverteilung einer disziplinierenden Handhabung schlechterdings entzogen ist. Auch ein „Entrüstungssturm nie dagewesenen Ausmaßes", 246 dessen Berechtigung an dieser Stelle nicht in Zweifel gezogen werden soll, kann für ein Gerichtspräsidium ausnahmslos keinen hinreichenden Grund zur Änderung der Geschäftsverteilung darstellen. Für die strikte Beachtung dieses Tabus spricht insbesondere die dem Prozeß der öffentlichen Kritik immanente Steigerungsautomatik: Was einmal in das Arsenal zulässiger Kritik aufgenommen worden ist, löst einen Reiz aus, bei nächster Gelegenheit wieder zum Einsatz gebracht zu werden, und es ebnet zugleich den Weg für den folgenden, diesmal noch gescheuten Schritt. Die Gefahr, bei passender (?) Gelegenheit „Geister" zu rufen, die man bei später nicht mehr los wird, ist um so bedenklicher, als die Frage, welche Fälle247 und welche 242 Ebenso OLG Karlsruhe, J R 1996, 127 mit Anm. Foth-, Wacke, NJW 1995, 1199 f.; Kleinknecht/ Meyer-Goßner, § 54 GVG Rn 5. Verständnis für den „Schöffenstreik" äußert Lamprecht, Mythos, S. 37. Eine auf Gewissensgründen beruhende Unzumutbarkeit im Sinne des § 54 I 2 GVG erscheint allenfalls unter sehr engen Voraussetzungen diskutabel (vgl. im Hinblick auf die besondere Familiengeschichte eines Schöffen bejahend Misbra, Urteilsschelte, S. 76 f. [m.w.N.]; ablehnend hingegen Wacke a.a.O. S. 1200). Weitergehend für die generelle Anerkennung eines verfassungsunmittelbaren Entpflichtungsgrundes der Gewissensfreiheit Lisken, NJW 1997, 34 f. 243 Vgl. (auch zum Folgenden) Herr (DRiZ 1994, 408), der die Richterversammlung eines Gerichts keinesfalls für berechtigt hält, die Entscheidung eines Einzelfalls zu kommentieren und damit zu zensieren. 244 Im weiteren Mannheimer Deckert-Werfahren auf das folgende Jahr verschoben; vgl. Mishra, Urteilsschelte, S. 71. 245 Vgl. Caesar, DRiZ 1994, 457. Vgl. DRiZ 1994, 349. 247 Kein entsprechendes Presseecho fand z.B. die Äußerung eines Strafrichters, es sei ihm bekannt, daß „insbesondere Afrikaner ... lügen, daß sich die Balken biegen". Das hierauf in einem anderen Strafverfahren seitens eines Angeklagten ghanesischer Staatsangehörigkeit angebrachte Ablehnungsgesuch
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Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
R i c h t e r in den Strudel der öffentlichen E m p ö r u n g gerissen w e r d e n , 2 4 8 w e i t g e h e n d v o n Zufälligkeiten o d e r v o n Eigengesetzlichkeiten der massenmedialen K o m m u n i k a t i o n , 2 4 9 nicht aber v o n rechtlich relevanten Kriterien a b h ä n g t . 2 5 0 A u c h die Tatsache, daß mit d e m Präsidium ein d e m o k r a t i s c h legitimiertes G r e m i u m in richterlicher Unabhängigkeit entscheidet, v e r m a g an dieser Beurteilung nichts zu ändern; denn insoweit fehlt ihm ein gesetzlich übertragenes M a n d a t , als „selbstreinigende Kraft" innerhalb der Justiz zu wirken. Aus g u t e m G r u n d 2 5 1 gibt es lediglich vier Einfallstore (Richteranklage, Strafjustiz, Disziplinargerichtsbarkeit und Dienstaufsicht), durch welc h e staatliche O r g a n e „ d e m R i c h t e r auf den Leib rücken und dadurch das Problem der Beeinträchtigung o d e r N i c h t b e e i n t r ä c h t i g u n g der richterlichen Unabhängigkeit aktualisieren k ö n n e n " . 2 5 2 W e r einen R i c h t e r zur V e r a n t w o r t u n g ziehen will, m u ß einen dieser W e g e beschreiten und die hierbei aufgestellten Verfahrenshürden ü b e r w i n d e n . 2 5 3
war verworfen worden; erst mit der Revision hatte er Erfolg (OLG Köln, NStZ 1992, 142f.); vgl. auch die Mitteilung über disziplinarrechtliche Prüfungen anläßlich einer ähnlichen Äußerung eines Freiburger Verwaltungsrichters in NJW Heft 19/1995, S. X X X V (unter Bezugnahme auf FR vom 1 2 . 4 . 1 9 9 5 ) sowie LG Bremen, StV 1993, 69 (Befangenheit einer Schöffin, die sich als Vorsitzende der DVU-Fraktion in der Bremischen Bürgerschaft deutlich ausländerfeindlich geäußert hatte). Äußerst zurückhaltend fiel im Jahre 1959 die Berichterstattung über den (dem Deckert- Urteil in gewisser Hinsicht vergleichbaren) „Fall Nieland" aus; vgl. DRiZ 1959, 59 und 85 sowie Wassermann, NJW 1995, 303. 24lt So wäre mit Blick auf den „Fall Dr. Orlel" zu fragen, warum der Vorsitzende Richter Dr. Müller nur anfänglich und die andere Beisitzerin überhaupt nicht zur Zielscheibe der öffentlichen Empörung wurde. Vgl. hierzu Herr, DRiZ 1994, 409 (auch zum Problem der Wahrung des Beratungsgeheimnisses; s. auch Baur, Justizaufsicht, S. 36 [Fn 110]); Kühnert, DRiZ 1994, 393; Sangmeister, ZRP 1995, 300 Fn 48), 302 (mit Fn 73). 249 So beschreibt Castendyk (Begründungen, S. 306ff., s. auch a.a.O. S. 16 ff. [24]) als typisches Merkmal einer besonders nachhaltigen Presserezeption, daß sich die Berichterstattung auf primäre, sekundäre und tertiäre Ereignisse erstreckt und hierbei eine komplexe und reflexive Struktur annimmt. Vgl. auch Wehmeier, DRiZ 1982, 4f., lOf. und Bertram, NJW 1994, 2399 (zu 5.). Vgl. ferner die Zusammenstellung einschlägiger Formulierungen bei Castendyk a.a.O. S. 325; Kissel, Zukunft, S. 38 und Voss, DRiZ 1994, 446 f. 250 Vgl auch W. Meyer, in: v. Münch/Kunig, GGK, Art. 98 Rn 11: „Justizskandale' sind Legion, weil Interessengruppen häufig Anstoß nehmen wollen." Nachdenkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die bereits 1959 getroffene Feststellung von Wengler (NJW 1959, 1707): „Gerade im freiheitlichen Staat geht dieselbe Öffentlichkeit, die dem Juristen Manipulation des Rechts vorwirft, in dem Abreagieren ihrer Frustrierungskomplexe so weit, daß sie in bedenklichsten Formen darauf hinwirkt, daß und wie das Recht manipuliert werden soll. Je nach Laune fordert z.B. die öffentliche Meinung von den Strafgerichten in buntem Wechsel bald eine harte, bals eine milde Bestrafung gerade solcher Vorgänge, die aus den von anderen staatlichen Einrichtungen und von der Gesellschaft selbst nicht bewältigten Problemen entstehen ... So tritt zu der Abneigung gegen den Juristen eine hemmungslose Respektlosigkeit der richterlichen Unabhängigkeit ... Die öffentliche Meinung der freien Welt tendiert groteskerweise dazu, den Richter in dieselbe Lage zu bringen, die ihm der totalitäre Staat zugedacht hat: Er soll eine Art Seismograph werden, der nur noch auf die Bewegungen der jeweils wirksamen Kräfte in der Gesellschaft reagiert." 251 Dieser Grund besteht in der Einsicht, daß es das kleinere Übel darstellt, mit einer Anzahl von schlimmen Urteilen und einigen schlechten Richtern zu leben als mit einer willfährigen Justiz; vgl. St. Geiger, Stuttgarter Zeitung vom 1 7 . 8 . 1 9 9 4 (abgedruckt in DRiZ 1994, 401). 252 Geiger, DRiZ 1979, 67 f. 253 Das gleiche gilt bezüglich der vom Gesetz (vgl. § 35 DRiG) eröffneten Möglichkeit einer vorläufigen Untersagung der Amtsgeschäfte; vgl. Schmidt-Räntsch, DRiG, Rn 2 ff.; Fürst/Mühl/Arndt, Richter-
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Schließlich darf auch ein rechtspolitisches F o l g e a r g u m e n t nicht außer acht bleiben: Eine öffentliche M e i n u n g , die d e m Präsidium gleichsam die Z u c h t r u t e in die H a n d drückt und sich anschließend wieder anderen politischen und gesellschaftlichen Problem e n zuwendet, b e s c h w ö r t die Gefahr herauf, daß die Präsidien sich auch in der Folgezeit ( o h n e öffentliche Begleitung und K o n t r o l l e ) dieses Mittels bedienen. D a ß diese Gefahr latent a u c h heute bereits besteht, ist kein A r g u m e n t dafür, aus dieser N o t eine Tugend zu m a c h e n und das Präsidium mit der Aufgabe einer politischen „Selbstreinigung" der Justiz zu betrauen. Es bleibt somit bei der Feststellung, daß das Präsidium zur informellen Disziplinierung mißliebiger Richter zwar faktisch imstande, nicht aber rechtlich legitimiert i s t . 2 5 4 K o m m t es entsprechenden E r w a r t u n g e n der Öffentlichkeit nach, verhält es sich opportunistisch, aber nicht o p p o r t u n . A u c h die Überlegung, mittels einer U m b e s e t z u n g könne der auf den Richter und das Gericht ausgeübte öffentliche D r u c k gemindert werden, rechtfertigt keine abweichende rechtliche B e w e r t u n g . Denn die M o t i v e , die das Präsidium zu seinem Schritt einer B e s e t zungsänderung b e w e g e n , lassen sich nicht zuverlässig aufklären. D a m i t bleibt regelmäßig unklar, o b der betroffene R i c h t e r unzulässigerweise „Klassenkeile" 2 5 5 erhalten o d e r unter Fürsorgegesichtspunkten g e g e n ü b e r der aufgebrachten Öffentlichkeit abgeschirmt werden soll. 2 5 6 Z u m einen läßt sich nicht ausschließen, daß ein altruistischer B e w e g g r u n d nur v o r g e s c h o b e n wird, z u m anderen erscheint a u c h eine diffuse G e m e n g e l a g e von M o tiven plausibel, die zu einer U m b e s e t z u n g führt, weil eine solche M a ß n a h m e letztlich für alle Beteiligten (Richter, Gericht, Justiz und Öffentlichkeit) „das B e s t e " sei. Angesichts derartiger Unsicherheiten sollte s c h o n deshalb kein R a u m zum Taktieren bleiben, weil dies in der Öffentlichkeit als Signal aufgefaßt w e r d e n könnte, durch hinreichend massiven D r u c k die disziplinierende U m s e t z u n g jedenfalls unter d e m D e c k m a n t e l der Fürsorgepflicht durchsetzen zu können.
gesetz, Rn 4 jeweils zu § 35; s. auch OLG Koblenz, DRiZ 1994, 61 ff. (zu diesem Fall auch BGH, NJW 1995, 2495ff.) und BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NJW 1996, 2 1 4 9 ff. 2,4 Die vom BVerfG (E 17, 252 [259f.]) aufgestellte Forderung, einen am Gericht planmäßig angestellten Richter zu ertragen, enthält nicht lediglich ein an das Präsidium gerichtetes Schikaneverbot, sondern ein umfassendes Verbot disziplinierender Geschäftsverteilung. Dem steht nicht entgegen, daß eine Richterablehnung wegen Befangenheit zu einem praktischen Ausschluß von bestimmten Tätigkeitsfeldern führen und eine Änderung der Geschäftsverteilung notwendig machen kann; vgl. BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), NJW 1996, 3333 f. Im dort zugrunde liegenden Fall war ein Richter einer Strafvollstreckungskammer wegen seiner in mehreren Aufsätzen geäußerten Stellungnahmen vom Anstaltsleiter erfolgreich abgelehnt und eine Ablehnung für alle weiteren Verfahren unter Mitwirkung dieses Richters angekündigt worden. Der prinzipielle Unterschied zum Mannheimer Fall besteht darin, daß hier das Präsidium nicht disziplinierend eingreift, sondern lediglich die Konsequenz einer sich aus der Befangenheitsregelung ergebenden „dauernden Verhinderung" zieht; s. auch Carl/Strecker, Betrifft Justiz, Nr. 4 0 (Dezember 1994), 390; OVG Hamburg, NJW 1987, 1215 (1216). Zwar sind auch bezüglich der Mannheimer Richter Befangenheitsanträge als Reaktion auf das Deckert-Urteil denkbar, doch erfassen diese (anders als in dem vom BVerfG entschiedenen Sonderfall) nicht den gesamten Tätigkeitsbereich der betreffenden Richter; vgl. Sendler, ZRP 1994, 379. Vgl. Herr, DRiZ 1994, 408. Das OVG Hamburg (NJW 1987, 1215 [1217]) hat zwar zwischen einer lediglich aus fürsorgerischen Gründen vorgenommenen und einer (unzulässigen) Umverteilung zum Zwecke der Disziplinierung unterschieden, doch erfolgt die Differenzierung im Rahmen des Betroffenseins des Richters in eigenen Rechten, nachdem zuvor (a.a.O. S. 1216) ausgeführt worden war, es spräche „alles dafür", daß der betreffende Beschluß gegen § 21 e III GVG verstößt. 256
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Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
Die vor dem Deckert-VmtW allgemein vertretene Auffassung, daß die Geschäftsverteilung kein Mittel zur Quasi-Disziplinierung mißliebiger Richter sein darf, 2 5 7 gilt somit auch in einer Situation massiven öffentlichen Drucks. Ist es dem Präsidium aber verwehrt, die öffentlichen Reaktionen auf ein Urteil offen zum Anlaß für eine Umverteilung der G e schäfte zu nehmen, dann darf dies natürlich auch nicht versteckt unter Zuhilfenahme eines an sich legitimen, konkret aber nur als Vorwand mißbrauchten Änderungsgrundes geschehen. 2 5 8 Die Aufgabe eines Präsidiums besteht nicht darin, den formalen Schein zu wahren, sondern die Gültigkeit des Tabus einer disziplinierenden Geschäftsverteilung gerade auch in einer Situation der allgemeinen Empörung zu bekräftigen. Es ist somit festzustellen, daß die vom Präsidium des L G Mannheim durch den Beschluß v o m 1 5 . 8 . 1 9 9 4 vorgenommene Änderung des Geschäftsverteilungsplanes den Voraussetzungen des § 2 1 e III G V G nicht entspricht und daher rechtswidrig ist. 2 5 9 Von diesem „gründlich mißglückte(n) Krisenmanagement" 2 6 0 des L G Mannheim droht in zweifacher Hinsicht eine verheerende Präzedenzwirkung 2 6 1 auszugehen: Z u m einen könnte hieraus gelernt werden, daß „publizistisch gesteuerte Gesinnungskontrollen und Einschüchterungen" 2 6 2 die richterliche Unabhängigkeit und die Stetigkeit der gerichtlichen Geschäftsverteilung punktuell außer Kraft setzen können. Neben diesem Aspekt, der eher die offene Disziplinierung betrifft, verdienen auch die verdeckte Variante der nur vorgeschobenen Erkrankung und die hierauf erfolgenden Reaktionen deutlichen Widerspruch. Das hörbare Aufatmen, das dem von institutionell berufener Seite zunächst pflichtschuldig geäußerten Protest alsbald folgte, als eine präsentable Konstruktionsform gefunden schien, 2 6 3 bedeutet in der Sache, eine offenkundige Manipulation mit einem öffentlich zur Schau gestellten Augurenlächeln zu bedenken und hierdurch den Eindruck zu vermitteln, der Inhalt des Grundsatzes des gesetzlichen Richters dürfe getrost mißachtet werden, sofern es nur gelingt, dem Geschehen den Anstrich des Ordnungsgemäßen zu verleihen. 2 6 4 Der Schaden, der durch eine solche öffentliche Geringschätzung dieses Verfassungssatzes für das allgemeine Sinnverständnis dieses Postulats heraufbeschworen wird, geht über den konkreten Einzelfall weit hinaus.
cc)
Zur Änderungsbefugnis
bezüglich des nächsten
Jahresgeschäftsverteilungsplanes
War die sofortige Intervention des Präsidiums aus den dargelegten Gründen unzulässig, so ist zu fragen, ob der heftigen Kritik der Öffentlichkeit am Deckert-Urteil am Jahresende bei der Aufstellung des neuen Jahresgeschäftsverteilungsplans durch eine Umsetzung der betreffenden Richter hätte Rechnung getragen werden können. Tatsächlich Vgl. oben zu a. Ganz allgemein gilt, daß ein Verhinderungsfall nicht willkürlich geschaffen werden darf; vgl. Reicht, Gesetzlicher Richter, S. 126; s. ferner Lerch, DRiZ 1988, 255 f.; Piorreck, DRiZ 1986, 146 sowie (zur Selbstablehnung) Chlosta, SchlHA 1994, 139 f. 2« Ebenso Endemann, Betrifft Justiz, Nr. 40 (Dezember 1994), 389. Limbach, NJ 1995, 281; s. auch dies., DRiZ 1995, 170. Kriele, in: de Boor/Meurer, Über den Zeitgeist II (1995), S. 512. Kriele a.a.O. S. 511. Ogorek, KritV 1997, 11 (Fn 18). 264 Nach Ansicht von Rottleuthner (Rechtstheorie 26 [1995], 411 [Fn 14]) spricht es „für den geringen Grad der Rechtskultur, daß diese Manipulation von den Massenmedien nicht ,skandalisiert' werden konnte". 2,7
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11. Kapitel: Die Besetzung der .Spruchkörper ( personelle Geschäftsverteilung )
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hatte das M a n n h e i m e r Präsidium von einer U m b e s e t z u n g der 6. Strafkammer abgesehen, n a c h d e m die Richter Müller und Orlet in der Zwischenzeit ihren Dienst wieder angetreten h a t t e n ; 2 6 5 freilich ist das Präsidium gerade w e g e n seiner diesbezüglichen Untätigkeit gescholten w o r d e n . 2 6 6 N a c h den obigen Ausführungen kann jedoch nicht zweifelhaft sein, daß die hier geübte Enthaltsamkeit rechtlich g e b o t e n w a r . 2 6 7 Der generelle U m stand, daß das Präsidium bei der Neuverteilung der Geschäfte vielfach freier gestellt ist als bezüglich der Planänderungen w ä h r e n d des laufenden Geschäftsjahres, v e r m a g das V e r b o t disziplinierender Geschäftsverteilungsmaßnahmen nicht außer Kraft zu s e t z e n . 2 6 8 Die Gründe, die einer verkappten Disziplinargewalt des Präsidiums entgegenstehen, sollen nicht lediglich den Z e i t p u n k t der „ A b r e c h n u n g " auf das J a h r e s e n d e hinausschieben, sondern eine von dieser M o t i v a t i o n g e t r a g e n e Geschäftsverteilung schlechthin unterbinden. W e d e r öffentliche F o r d e r u n g e n n o c h in praxi möglicherweise vereinzelt v o r k o m m e n d e M i ß b r ä u c h e lassen d e m Präsidium die Rolle eines legitimen Z u c h t m e i s t e r s zuw a c h s e n , der - sei es auch auf öffentlichen Druck hin - ein E x e m p e l statuieren darf, u m hiermit das Ansehen des Gerichts wieder reinzuwaschen. Diese Einsicht gerät a u c h nicht durch die Überlegung ins Wanken, das Präsidium habe bei seiner Entscheidung über die B e s e t z u n g der Spruchkörper auf die individuelle Eignung der jeweiligen R i c h t e r B e d a c h t zu n e h m e n und der ( o d e r die) B e t r o f f e n e ( n ) hätten durch ihr Verhalten gezeigt, daß sie für eine weitere Verwendung als Strafrichter ungeeignet seien. 2 6 9 Z u m einen ließe sich das Disziplinierungsverbot generell konterkarieren, Vgl. Reissenberger, Betrifft Justiz, Nr. 4 0 (Dezember 1994), 385; Wassermann, NJW 1995, 303. Nach Mitteilung von Mishra (Urteilsschelte, S. 71) schlug eine Änderung der Geschäftsverteilung für das Jahr 1995 fehl, weil keine andere Kammer des LG Mannheim bereit gewesen sei, Müller und Orlet aufzunehmen. M Benda, „Die Zeit", Nr. 12 vom 1 7 . 3 . 1 9 9 5 , S. 10; Endemann, Betrifft Justiz, Nr. 40 (Dezember 1994), 388f.; Rasehorn, RuP 1996, 116 (Fn 5); Reissenberger, DRiZ 1995, 74; s. auch Mishra, Urteilsschelte, S. 76. 267 Vgl. auch Carl/Strecker, Betrifft Justiz, Nr. 4 0 (Dezember 1994), 389 f. Der von Herr (DRiZ 1994, 4 1 0 ) aufgezeigte Weg, mittels einer Änderung der sachlichen Geschäftsverteilung die politischen Strafsachen (z.B. durch Benennung der einschlägigen Strafvorschriften) mit Beginn des Jahres 1995 bei einer anderen Kammer zu konzentrieren, begegnet keinen rechtlichen Bedenken, soweit hierdurch die betreffenden Richter von „brisanten" Verfahren ferngehalten werden. Immerhin erscheint die Bündelung von politischen Strafsachen bei bestimmten („handverlesenen"?) Richtern aus allgemeinen Erwägungen als problematisch. 268 Selbst wenn man anerkennt, daß eine Umsetzung auch als „ultima ratio" zur Behebung von Spannungen im menschlichen Miteinander erfolgen kann (vgl. LR-fC. Schäfer, § 21e GVG Rn 113), ist festzustellen, daß das Präsidium eine solche Notwendigkeit offensichtlich hier nicht gesehen hat und deshalb als Motiv für eine derartige Maßnahme allein der (unzulässige) Zweck der Disziplinierung in Betracht käme. 269 Nach der in einem Radiointerview geäußerten Ansicht von Wassermann (vgl. Herr, DRiZ 1994, 4 1 0 ) soll die mangelnde Eignung der beiden Mannheimer Richter (vgl. hierzu auch Benda, „Die Zeit", Nr. 12 vom 1 7 . 3 . 1 9 9 5 , S. 10) sogar zur Änderung des Geschäftsverteilungsplans berechtigen; vgl. hiergegen bereits Schorn, DRiZ 1962, 187. Allerdings ist einzuräumen, daß es eine Grauzone zwischen zulässigen Organisationsmaßnahmen und unzulässiger Disziplinierung gibt. Führt ein Richter eine Art „Glaubenskrieg" in dem Sinne, daß er seine (wenngleich vertretbare) Rechtsansicht beharrlich beibehält mit der Folge, daß nach der regelmäßigen Aufhebung seiner Entscheidungen durch die Rechtsmittelgerichte die betreffenden Fälle vor den Auffangspruchkörpern erneut verhandelt werden müssen, so wird man dem Präsidium eine Berücksichtigung dieses Umstandes im Rahmen der nächsten Jahresgeschäftsverteilung jedenfalls dann zugestehen müssen, wenn sich die fachliche Außenseiterposition in einer Viel-
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Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
wenn man die in einer Gerichtsentscheidung zutage getretene politische Auffassung zum Eignungsmangel umdeuten dürfte. Z u m anderen erscheint fraglich, ob die seit mindestens 2 5 Jahren nur im Strafrechtsbereich eingesetzten Richter Müller und Orlet wirklich als für zivilrechtliche Aufgaben besser qualifiziert angesehen werden können. Letztlich handelt es sich auch hierbei um den Versuch, eine Strafaktion unter Rückgriff auf einen bei abstrakter Betrachtung zulässigen Anknüpfungspunkt als rechtmäßig erscheinen zu lassen. 2 7 0 Rechtlich ohne Bedeutung ist schließlich auch der Gesichtspunkt, daß eine Umsetzung in den Zivilbereich jene Spannungen vermeiden könnte, die durch einen zu befürchtenden (oder sogar angekündigten) „Schöffenstreik" entstehen können. 2 7 1 Vielmehr gilt auch insoweit, daß eine (über die allgemeine Kundgabe von Kritik hinausgehende) Maßregelung von Richtern allein in den hierfür gesetzlich vorgesehenen Verfahren erfolgen darf. 2 7 2 Das Beharren auf die hiermit verbundene Formenstrenge dient nicht dem Schutz antisemitischer Sympathiekundgebungen, sondern der Verteidigung jener Verfassungsprinzipien, die das Grundgesetz für eine freiheitssichernde Rechtsprechung als essentiell ansieht.
zahl von Fällen niederschlägt. Tritt hingegen eine von der Präsidiumsmehrheit nicht geteilte Grundüberzeugung nur in vereinzelten (sei es auch in der juristischen Fachwelt beachteten) Entscheidungen zutage und wird die grundsätzliche Divergenz der Anschauungen (z.B. „zu liberal" zu urteilen) zum Anlaß genommen, den Vorsitzenden Richter einer kleinen Strafkammer künftig als Zivilrichter einzusetzen, so liegt der Verdacht einer verkappten Disziplinierung nahe (vgl. „Der Spiegel", Nr. 4 / 1 9 9 8 , S. 69). 270 Herr, DRiZ 1994, 410. 271 Vgl. oben Fn 242. 272 Das Verbot der disziplinierenden Geschäftsverteilung darf auch nicht mit der Überlegung unterlaufen werden, daß das BVerfG (E 17, 252 ff.) im konkreten Fall lediglich die praktische Amtsenthebung eines Richters im Wege der Geschäftsverteilung als unzulässig beurteilt hat, während dem Betroffenen bei einer innergerichtlichen Umsetzung immerhin ein richterliches Arbeitsgebiet erhalten bliebe, zu dessen Übernahme er - wenn sie aus anderen Gründen erfolgte - zudem verpflichtet wäre. Denn eine solche Maßnahme kommt in ihrer Wirkung der Versetzung in ein anderes Richteramt zumindest nahe (vgl. Priepke, DRiZ 1985, 292; Sangmeister, DÖD 1987, 86; Wolf, DRiZ 1976, 368; s. auch bezüglich einer ortsverändernden Geschäftszuteilung BayVGH, NZS 1995, 332 [333] und H. Müller, NJW 1963, 616), für die Art. 98 II GG bezüglich der Richteranklage hohen formalen Anforderungen (Einleitung des Verfahrens durch das Parlament, alleinige Entscheidungsbefugnis des BVerfG, Erfordernis einer Zwei-Drittel-Mehrheit sowie Ermessen bezüglich der Sanktionierung) vorsieht
12. Kapitel: Die Verteilung der Rechtsprechungsaufgaben (sachliche Geschäfts Verteilung) I.
Modelle der sachlichen Geschäftsverteilung
Die personelle Besetzung der einzelnen Spruchkörper bildet die Grundlage für den nächsten Schritt zur Konkretisierung des im Einzelfall zur Entscheidung berufenen Richters. Hierbei geht es um die Verteilung der bei dem betreffenden Gericht anfallenden Rechtsprechungsaufgaben. Auch über diesen Bereich der sachlichen (bzw. „materiellen") 1 Geschäftsverteilung befindet das Präsidium nach seinem pflichtgemäßen Ermessen unter Beachtung sowohl der bereits dargestellten allgemeinen Grundsätze der Geschäftsverteilung (insbesondere des Abstraktions- und Bestimmtheitsprinzips) als auch etwaiger gesetzlich normierter Vorgaben. Innerhalb des so abgesteckten Rahmens haben sich unterschiedliche Systeme 2 herausgebildet, mittels derer die zu bearbeitenden Fälle auf die jeweiligen Spruchkörpern verteilt werden können. Gebräuchlich ist z . B . das Abstellen auf den Anfangsbuchstaben des Namens des Beklagten oder Angeklagten sowie eine Aufteilung nach Sachgebieten; ferner kann sich die Geschäftsverteilung am Wohnsitz der Betroffenen oder an der Reihenfolge des zeitlichen Eingangs beim Gericht orientieren oder (bei Revisionsgerichten) die Vorinstanz zum maßgeblichen Anknüpfungspunkt wählen. Unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten verbinden sich mit den einzelnen Kriterien unterschiedliche Vorteile. Eine Verteilung nach Sachgebieten gewährleistet, daß die hier tätigen Richter über die für komplexe Spezialmaterien erforderlichen Kenntnisse verfügen; zudem wird hierdurch die Einheitlichkeit der Rechtsprechung gefördert und die Gefahr von Vorlagen an Obergerichte oder die Anrufung des Großen Senats vermindert. D e m Aspekt einer möglichst einheitlichen Rechtsanwendung dient auf der Ebene der Rechtsmittelgerichte auch das Herkunftsprinzip, also die auf die nachgeordneten Instanzgerichte zugeschnittene Verteilung der Rechtsmittel. Bezüglich der Eingangsinstanz erweist sich eine territorial gegliederte Aufgabenverteilung als besonders arbeitsökonomisch, wenn das Aufgabenfeld an bestimmte öffentliche Einrichtungen anknüpft. 3 Das auf den zeitlichen Eingang rekurrierende Rotationsprinzip führt zu einer möglichst gleichmäßigen Verteilung der Arbeitslast, indem jedem Spruchkörper dieselbe Zahl an zu bearbeitenden Fällen zugewiesen wird. Die mit den unterschiedlichen Verteilungsmodellen einhergehenden Praktikabilitätserwägungen kommen nicht für alle Gerichte gleichermaßen zum Tragen; vielmehr sind in-
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Rosenberg/Schwab/Gottwald,
Zivilprozeßrecht, § 22 V 2a ( = S. 113 f.).
Vgl. Kissel, GVG, § 21e Rn 150ff.; Katholnigg, NJW 1992, 2256 f.
•' Als Beispiel für eine Aufteilung nach räumlichen Bezirken können auch die Betreuungs- und Unterbringungssachen genannt werden; vgl. Coeppicus, ZRP 1996, 3 3 0 ff.
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Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
soweit neben d e m G e r i c h t s z w e i g 4 und der Stellung im Instanzenzug auch die G r ö ß e des Gerichts(bezirks) sowie örtliche Besonderheiten v o n B e d e u t u n g . Deshalb kann es a u c h nicht „ d e n " für alle Gerichte gültigen optimalen Verteilungsschlüssel geben, sondern es ist die Aufgabe des Präsidiums, unter Berücksichtigung der konkreten Gegebenheiten eine s a c h g e r e c h t e und gleichmäßige Verteilung der G e s c h ä f t e herbeizuführen. Hierbei wird sich vielfach ein (gegebenenfalls auch auf weitere Kriterien 5
zurückgreifendes)
M i s c h s y s t e m als vorteilhaft erweisen, bei d e m für einzelne Aufgabenfelder unterschiedliche Anknüpfungsmerkmale z u m Z u g e k o m m e n . 6 Bei den Strafsenaten des B G H beruht die Geschäftsverteilung vorwiegend auf regionalen Kriterien; daneben werden einige Spezialzuständigkeiten (z.B. für Militär- oder Verkehrsstrafsachen, nicht jedoch für Jugendstraf- 7 oder Bußgeldsachen) bestimmten Senaten zugewiesen. 8 Als Beispiel für die instanzgerichtliche Geschäftsverteilung in Strafsachen sei die Situation in Berlin' skizziert. Dort sind beim Amtsgericht Tiergarten, bei welchem die Zuständigkeit in Strafsachen für alle Berliner Amtsgerichtsbezirke konzentriert ist, 10 die allgemeinen Abteilungen grundsätzlich nach Buchstaben (mit Spezialzuweisungen in Rauschgift· bzw. in Falsch- und Glücksspielsachen) verteilt; daneben gibt es Spezialabteilungen für Verkehrs- und Privatklagesachen ( 5 3 Abteilungen), Wirtschafts- und Umweltschutzsachen (11 Abteilungen), für Untersuchungs-, Amts- und Rechtshilfesachen (5 Abteilungen), ferner drei als Bereitschaftsgericht tätige Abteilungen sowie 3 9 Abteilungen in Jugendsachen. Auch diese Spezialabteilungen knüpfen grundsätzlich an den Namen des Angeklagten an; anders verhält es sich bezüglich der Jugendsachen, die (wohl wegen der Zusammenarbeit
4 In der Verwaltungsgerichtsbarkeit herrscht die Verteilung nach Sachgebieten vor; vgl. Reichl, Gesetzlicher Richter, S. 153 ff. (162); Stelkens, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 4 Rn 24. 5 Vgl. zur einheitlichen Zuweisung von sog. „Parallelsachen" BAG, NZA 1992, 515; Albers, in: Baumbach/Lauterbach, ZPO, $ 21c GVG Rn 8; s. auch BGHSt. 11, 106 (108 f.); zur Zusammenfassung (in der ordentlichen Gerichtsbarkeit) aller Rechtsstreitigkeiten, bei denen eine juristische Person des öffentlichen Rechts beteiligt ist, BayVerfGH, NJW 1984, 2813 f. sowie zur Bezugnahme auf bestimmte Beschlüsse des Großen Senats Katholnigg, NJW 1992, 2257. Für das Strafrecht wäre als Anknüpfungspunkt an den Tatort (vgl. Engelhardt, DRiZ 1982, 422; Müller/Sax/Paulus, GVG, ξ 21e Rn 15) oder (bei mehreren Angeklagten) eine Unterscheidung nach der Beteiligungsform (I.R-fC. Schäfer, § 21 e GVG Rn 25; Dähne, Selbstverwaltung, S. 145) zu denken. 6 Kissel, GVG, Rn 150; Schreiber, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, Rn 11 jeweils zu § 21e GVG. Vgl. auch Bender/Wax, in: Bender, Tatsachenforschung, S. 185 (zur Geschäftsverteilung bei den Oberlandesgerichten). 7 Kritisch hierzu Ostendorf, J G G , Grdl. Zu den §§ 3 3 - 3 8 Rn 9 (m.w.N.). 8 Vgl. KK-Hannich, § 130 GVG Rn 3 sowie die als Beilage zu NJW-Heft 2 1 / 1 9 9 7 abgedruckten Geschäftsverteilungspläne des Bundesverfassungsgerichts und der obersten Gerichtshöfe des Bundes, S. 9 f. Zu gesetzlich vorgesehenen Spezialsenaten beim BGH vgl. Saiger a.a.O. Rn 2; M ü K o / Z P O - W o l f , § 130 GVG Rn 3. Die Geschäftsverteilung bei den Zivilsenaten des BGH sowie bei den übrigen obersten Bundesgerichten erfolgt anhand von Sachgebieten (NJW-Beilage a.a.O. S. 7ff., 19 f., 23 f., 29 f., 35 ff.). 9 Den nachfolgenden Angaben liegt jeweils der Geschäftsverteilungsplan für das Jahr 1997 zugrunde. Zur vergleichbaren Situation in Hamburg vgl./. Meyer, DRiZ 1987, 421. Zwar sind die Justizbehörden in großstädtischen Ballungszentren nicht für das gesamte Bundesgebiet repräsentativ, doch geht es hier vorliegend nur darum, die Möglichkeit einer Kombination von Spezialzuweisungen und sonstigen Verteilungskriterien zu illustrieren. Vgl. auch G. Schäfer, Praxis, Rn 500 f. 10 Die durch § 1 der zweiten Verordnung über die Konzentration amtsgerichtlicher Zuständigkeiten vom 4 . 1 2 . 1 9 7 2 (GVB1. 2301) vorgenommene Konzentration betrifft zugleich die Jugendrichter/Jugendschöffengerichte sowie die Entscheidungen des Amtsgerichts in Bußgeldsachen.
12. Kapitel: Die Verteilung der Rechtsprechungsaufgaben ( sachliche Geschäftsverteilung )
313
mit der örtlichen Jugendgerichtshilfe) vorrangig nach Verwaltungsbezirken gegliedert ist. Beim Landgericht Berlin gibt es (neben 16 kleinen Strafkammern und drei Strafvollstrekkungskammern) 4 2 große Strafkammern (davon acht als Schwurgericht tätige, sieben Jugendstraf- und drei Wirtschaftsstrafkammern, ferner zwei mit Rehabilitierungssachen befaßte Strafkammern). Als Verteilungskriterium fungiert auch hier primär das Buchstabenprinzip, wobei jedoch einzelnen Kammern neben allgemeinen Strafsachen auch (wiederum nach Anfangsbuchstaben aufgeteilte) Sondergebiete (z.B. Verkehrs- oder Betäubungsmittelstrafsachen) zugewiesen sind. 11
Das Bemühen um eine optimale Verteilung der Rechtsprechungsaufgaben stellt qualitative Anforderungen in organisatorischer Hinsicht. Hierüber darf freilich die zweite wesentliche Funktion des Geschäftsverteilungsplans - die Konkretisierung des gesetzlichen Richters - nicht aus den Augen verloren werden. Die unterschiedlichen Regelungsmodelle sind deshalb nicht nur auf ihre praktische Tauglichkeit, sondern zugleich auf ihre Eignung hin zu untersuchen, den aus Art. 101 I 2 G G resultierenden Bestimmtheitsanforderungen zu entsprechen. Unter diesem Gesichtspunkt sind nachfolgend einige charakteristische Problemkonstellationen näher zu betrachten.
1.
Das Rotationsprinzip
a)
Die gegensätzliche Beurteilung durch BGH und BAG
Grundsätzlichen Bedenken begegnet insoweit vor allem das am zeitlichen Eingang der Sachen orientierte sog. „Rotationsprinzip". 12 Diesbezüglich hatte der 2. Strafsenat des B G H 1 3 im Jahre 1960 eine Regelung als unzulässig angesehen, die eine abwechselnde Verteilung der neu eingehenden Sachen auf zwei Strafkammern nach der zeitlichen Reihenfolge des Eingangs zum Gegenstand hatte. Die Beanstandung gründet sich darauf, daß der Geschäftsstellenleiter (insbesondere bei mehreren gleichzeitig eingehenden Sachen ) über die Reihenfolge des Eingangs und damit über die Zuteilung an die Strafkammer zu entscheiden habe. Es lasse sich kaum vermeiden, daß bei dieser Entscheidung der scheinbare Umfang der Sache, die Belastung der Strafkammern, ihre vermeintlich besondere Sachkunde und ähnliche Gesichtspunkte Berücksichtigung fänden. Obwohl diese Motive keineswegs unsachlich zu sein bräuchten, sei das Recht auf den gesetzlichen Richter bei einer solchen Regelung nicht mehr gewährleistet. Wenige Monate später vertrat das BAG 1 4 den gegenteiligen Standpunkt. Durch die seit langem bestehende Übung, die Eingänge entsprechend ihrer zeitlichen Reihenfolge in das Register des Berufungsgerichts einzutragen, sei grundsätzlich gewährleistet, daß die Sachen einem im voraus allgemein bestimmten Richter zugeführt werden. Auch die dem 11 Die Geschäftsverteilung der (fünf) Strafsenate des Kammergerichts knüpft vorrangig an unterschiedliche Tätigkeitsbereiche an, die gegebenenfalls eine weitere Untergliederung nach Buchstaben erfahren. '2 Kissel, GVG, Rn 154f.; Schreiber, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, Rn 11 jeweils zu § 21e GVG. Der BGH (NStZ 1990, 138) spricht insoweit von einem „rollierenden System" bezüglich eines Verteilungsmodells, bei dem die Zuständigkeit nach einer im voraus festgelegten Zahl von Eingängen wechselt. » BGHSt. 11, 116ff. mit zust. Anm. Busch, LM Nr. 20 zu § 63 GVG. 14 NJW 1961, 1740ff. ( = BAGE 11, 89ff.) mit zust. Anm. Pohle, AP Nr. 10 zu Art. 101 GG.
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Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
Registerführer verbleibende Möglichkeit, bei mehreren gleichzeitig (mit derselben Post oder durch einen sonstigen Überbringer) eingehenden Sachen die Reihenfolge festzulegen, mache die Regelung nicht gesetzwidrig. Das B A G 1 5 betont den auch vom B G H anerkannten Ausgangspunkt, daß eine Regelung, die jede willkürliche Zuteilung der eingehenden Sachen mit Sicherheit schlechthin ausschließe, kaum denkbar sei; es verweist zudem an anderer Stelle 1 6 darauf, daß das BVerfG für die Bestimmung des gesetzlichen Richters (im Zusammenhang mit der sog. „beweglichen" Zuständigkeit in Strafsachen) nicht eine absolut eindeutige N o r m , sondern nur eine „möglichst" eindeutige Regel verlange, die sachfremde Einflüsse hinreichend ausschließen könne. Im übrigen betrachtet es das B A G 1 7 als „Unterstellung, der Geschäftsstellenleiter, der aus sachfremden Gründen handeln könne, werde dies auch tun"; vielmehr sei bis zum gegenteiligen Vortrag der Partei davon auszugehen, daß das Präsidium den Geschäftsverteilungsplan sachgerecht angewendet sehen wolle und daß auch die Geschäftsstellenleiter bei der Eintragung von Eingängen sich nur durch rechtsstaatliche Erwägungen leiten ließen. Der zwischen diesen Ansichten bestehende Kontrast ist besonders erhellend, weil die divergierenden Auffassungen ein unterschiedliches Grundverständnis bezüglich der Verfassungsgarantie des gesetzlichen Richters offenbaren. Unschwer läßt sich in diesem Gegensatz wiederum der allgemeine Konflikt zwischen einer Vertrauens- und einer mißtrauensgeleiteten Sichtweise erkennen. So bezeichnet es das B A G 1 8 explizit als „ein durch nichts begründetes Mißtrauen, bei der rechtlichen Wertung einer solchen Geschäftsverteilung für den einzelnen Fall von der rein abstrakten Möglichkeit auszugehen, der Registerführer könne sich möglicherweise bei der Anwendung einer solchen Geschäftsverteilung von sachfremden Einflüssen leiten lassen". Dennoch beschränkt sich die Bedeutung des hier zutage tretenden Widerstreits nicht darauf, ein weiteres Beispiel für das die Auslegung des Art. 101 I 2 G G generell beherrschende Leitthema zu liefern. Vielmehr bieten die beiden Judikate die Gelegenheit, zwei wesentliche Gesichtspunkte für das allgemeine dogmatische Verständnis dieses Verfassungsgrundsatzes hervorzuheben. Der erste Aspekt betrifft die Beobachtung, daß sich die unterschiedliche Grundhaltung zugleich in einem abweichenden Willkürverständnis niederschlägt. 1 9 Aus der Perspektive des Vertrauens soll Art. 1 0 1 1 2 G G lediglich Schutz vor Unlauterkeiten bieten. Auf dieser Basis erscheinen als willkürlich solche Maßnahmen, die aus sachfremden Erwägungen heraus getroffen werden und damit eine gesteigerte („konkrete") Gefahr für eine unrichtige Sachentscheidung darstellen. Die Grundhaltung des Mißtrauens erblickt hingegen in der Verfassungsgarantie des gesetzlichen Richters ein Instrument zur Schaffung einer Vertrauensgrundlage. Aus diesem Blickwinkel ist willkürlich nicht nur jede sachfremde, sondern überhaupt jede (vermeidbare) Willensentscheidung bei der Richterzuweisung. Der Sicherheitskordon wird hierbei weiter gezogen; er soll nach Möglichkeit auch bereits die abstrakten Gefahren abwenden, die sich aus einer „gewillkürten", d. h. vom Willen eines Menschen abhängigen Festlegung der Richterzuständigkeit ergeben können. 2 0 Die A.a.O. S. 1742. A.a.O. S. 1741 (unter Hinweis auf BVerfGE 6, 45 und 9, 223). 17 A.a.O. S. 1743 (mit Hervorhebung im Original). '8 A.a.O. S. 1741. 19 Vgl. zum Folgenden auch Marx, Gesetzlicher Richter, S. 81 ff. und]. Henkel, Gesetzlicher Richter, S. 66 f. ™ Vgl. zum Begriff der Willkür Höfling, J Z 1991, 955; s. auch BVerfGE 82, 286 (298); BVerfG, 15
16
12. Kapitel: Die Verteilung der Rechtsprechungsaufgaben ( sachliche Geschäftsverteilung )
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engere Sichtweise des BAG, die mit dem Begriff der Willkür den Gedanken einer interessengeleiteten Vergewaltigung des Rechts assoziiert, paßt gut in das historische Schreckensbild des Machtspruchs und der Kabinettsjustiz. Zugleich bietet die gedankliche Verknüpfung mit der Herbeiführung ungesetzlicher Entscheidungen einen Erklärungsansatz für die Vehemenz, mit der sich die Angehörigen der Justiz gegen jeden Manipulationsverdacht zur Wehr setzen. Umgekehrt gewinnt der Grundsatz des gesetzlichen Richters vor dem Hintergrund der „Blindlingstheorie" seine Bedeutung gerade darin, die Richterzuweisung unter dem Gebot normativer Bestimmtheit in gleichsam automatischer Weise zu gestalten. Ist es aber als maßgeblicher (man könnte fast sagen: Selbst-)Zweck der Garantie des gesetzlichen Richters anzusehen, daß die einzelnen Sachen ohne eine zielgerichtete menschliche Willensentscheidung an die Urteilsperson(en) gelangen, 2 1 dann tritt die (vermeintlich) böse Absicht in den Hintergrund. Das Odium des Abscheulichen, das der Sorge vor ergebnisverändernder Einflußnahme anhaftet, bezeichnet in dieser Konzeption nur noch das ursprüngliche historische Motiv; es ist keineswegs individuell auf jeden Amtswalter zu projezieren. Eröffnet diese Perspektive einerseits die Chance zur Entkrampfung der Diskussion, so führt sie andererseits zu der Erkenntnis, daß selbst mit wohlmeinender Intention vorgenommene und in der Sache durchaus zweckmäßige Steuerungsmaßnahmen unzulässig sind, weil sie dem Ideal einer blindlings erfolgenden Richterbestellung zuwiderlaufen. Die in den Reihen der Richterschaft verbreitete Klage, nur das „Gute" (im Sinne einer effektiven Gestaltung der Arbeitsabläufe) zu wollen und hierfür des „Bösen" (in Gestalt einer manipulativen Einwirkung auf die Rechtsprechung) bezichtigt zu werden, ist Ausdruck des Sich-verkannt-Fühlens; diese Betroffenheit beruht aber im wesentlichen auf einem unzureichenden Verständnis für den funktionellen Eigenwert eines abstrakten Zuweisungssystems. Die Anerkennung dieser Eigenständigkeit schützt zugleich vor einem Mißverständnis, das sich einstellen kann, wenn man das Prinzip des gesetzlichen Richters vorrangig mit Blick auf den allgemeinen Gleichheitssatz und des in diesem Grundsatz verkörperten Willkürverbots deutet. Eine solche Interpretation birgt die Gefahr in sich, den für das Verständnis des Art. 101 I 2 G G zentralen Aspekt des Bestimmtheitsgebots zu gering zu achten, indem der Blick zu stark darauf gelenkt wird, ob die betreffende Regelung als zweckmäßig und sachgerecht erscheint. Damit ist der Weg geebnet für den zweiten Gesichtspunkt, der an der konkreten Auseinandersetzung zwischen BAG und B G H bezüglich der rotierenden Geschäftsverteilung festgemacht werden kann, aber die Thematik des Prinzips des gesetzlichen Richters in einer ungleich weiter gehenden Dimension betrifft. Hierbei geht es um die vom BAG aufgegriffene, vom BVerfG 2 2 mehrfach verwandte Formulierung, wonach es der Grundgedanke des Art. 101 I 2 G G erfordere, daß der gesetzliche Richter sich im Einzelfall „möglichst eindeutig" aus einer allgemeinen Norm ergibt. Je nach dem Kontext, in den sie NJW 1995, 2 7 0 3 („Willkür bezeichnet in diesem Zusammenhang die Freiheit von normativer Bindung."). 21 Vgl. R. Schiedermair, DÖV 1 9 6 0 , 15. 22 BVerfG Ε 6, 4 5 ( 5 0 f . ) ; 9, 2 2 3 ( 2 2 6 ) ; 17, 2 9 4 ( 2 9 8 ) ; 18, 65 ( 6 9 f.); 19, 5 2 ( 5 9 f.); 20, 3 3 6 ( 3 4 4 ) ; 21, 139 ( 1 4 5 ) ; 2 2 , 2 5 4 ( 2 5 8 ) ; 2 7 , 18 ( 3 4 ) ; 30, 149 ( 1 5 2 f . ) ; 31, 4 7 ( 5 4 ) ; 4 0 , 2 6 8 ( 2 7 1 ) und 3 5 6 ( 3 6 0 f . ) ; 4 8 , 2 4 6 ( 2 5 3 ) ; 63, 7 7 ( 7 9 ) ; BVerfG, NJW 1995, 2 7 0 3 . Sachlich gleichbedeutend („so eindeutig" bzw. „so genau wie möglich") BVerfGE 17, 2 9 4 ( 2 9 9 ) ; 18, 3 4 4 ( 3 4 9 ) und 4 2 3 ( 4 2 5 ) ; 2 3 , 321 ( 3 2 5 ) ; 95, 3 2 2 ( 3 2 5 ) . S. auch bereits oben 8. Kap. III.5.
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Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
gestellt wird, wirkt diese schillernde Formel als Bekräftigung oder als Relativierung des Postulats des gesetzlichen Richters. Zwischen den beiden Lesarten „so eindeutig wie (nur irgend) möglich" und „so eindeutig wie (ohne Zurückstellung entgegenstehender Zweckmäßigkeitserwägungen) möglich" liegt eine beträchtliche Distanz, die in der nur um eine Nuance abweichenden Betonung unterzugehen droht. Die Möglichkeit, diese Formulierung wie eine Waffe geradezu in gegenläufiger Richtung zum Einsatz bringen und sich damit stets auf die (vermeintliche) Rückendeckung durch das BVerfG berufen zu können, zeigt die Brisanz dieser Worte und mahnt zur Vorsicht bei ihrer Verwendung. Freilich ist nicht zu übersehen, daß das Arsenal des BVerfG noch ein weiteres Formelpaar bereithält, auf das die widerstreitenden Parteien bei der Auseinandersetzung um die Reichweite des Art. 101 I 2 GG zurückgreifen können: Der Hinweis, daß die bloße „abstrakte Möglichkeit eines Mißbrauchs ... eine Norm noch nicht verfassungswidrig (macht)", 23 begünstigt Relativierungen des Art. 101 I 2 GG in gleicher Weise, wie umgekehrt die strenge Betrachtungsweise durch den Satz gestützt wird, daß eine Norm „nicht in vermeidbarer Weise die Möglichkeit zum willkürlichen Manipulieren bieten (darf), ohne daß es im Einzelfall darauf ankäme, ob Willkür vorliegt". 24 Um der Gefahr zu entgehen, sich in der Entscheidungssammlung des BVerfG gleichsam wie in einem Gemischtwarenladen nach Belieben zu bedienen, erscheint eine nähere Betrachtung der verfassungsgerichtlichen Judikatur geboten. Hierbei zeigt sich als ursprünglicher Ansatzpunkt für die Formel von der „so genau wie möglich" vorzunehmenden Richterbestellung die Überlegung, daß bereits die Verfassung selbst angesichts des Bestehens verschiedener Gerichtszweige und der föderalistischen Struktur der Bundesrepublik gewisse Abgrenzungsschwierigkeiten bezüglich der Bestimmung des gesetzlichen Richters in Kauf nehme. 25 In späteren Entscheidungen stellt das BVerfG26 auf das Spannungsverhältnis zwischen den Geboten der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit ab. Bezüglich der Übertragung auf den Geschäftsverteilungsplan rechtfertigt das BVerfG27 die in der Formel enthaltene Einschränkung mit der veränderlichen Zahl von Spruchkörpern und Richtern, mit den Veränderungen hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit und dem Umfang der Geschäftslast sowie mit der Überlegung, daß dem Fall des Ausscheidens, der Krankheit, der Verhinderung, des Urlaubs und des Wechsels eines oder mehrerer Richter Rechnung getragen werden müsse. Allerdings betrachtet das BVerfG solche Regeln nur dann als mit Art. 101 I 2 GG vereinbar, wenn Gesichtspunkte der genannten Art „unvermeidlich" einer genauen Bestimmung des gesetzlichen Richters durch Gesetz und Geschäftsverteilungsplan entgegenstehen. Bei der Würdigung dieser Judikatur 28 bereitet der verfassungsgerichtliche Hinweis auf die im Grundgesetz selbst angelegten Schwierigkeiten (Art. 95, Föderalismusprinzip) wenig Probleme, handelt es sich hierbei doch der Sache nach um die geläufige Überlegung, daß auch die ihrem Wortlaut nach unbeschränkten Grundrechtsgewährleistungen Begrenzungen aus dem Gesamtgefüge der Verfassung (sog. verfassungsimmanente
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BVerfG Ε 9, 223 (230); 18, 423 (427); 49, 375 (377). BVerfG, NJW 1995, 2703. BVerfGE 6, 45 (50ff.). BVerfGE 9, 223 (226f.); 20, 336 (344). BVerfGE 17, 294 (300). Kritisch zur Rechtsprechung des BVerfG Bettermann, AöR 94 (1969), 291 ff.
12. Kapitel: Die Verteilung der Rechtsprechungsaufgaben ( sachliche Geschäftsverteilung )
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Schranken) 2 9 erfahren. Komplizierter verhält es sich mit der Grundspannung zwischen den Aspekten der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit. 3 0 Ein solches Spannungsverhältnis ist für zahlreiche Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips charakteristisch. 31 Der für solche Konstellationen allgemein vorgezeichnete Weg, dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber einen Vorrang bei der Verfassungskonkretisierung einzuräumen, ist freilich mit Blick auf den spezifischen normativen Gehalt des Art. 101 I 2 G G zu modifizieren. So wäre es verfehlt, die Formulierung „so eindeutig wie möglich" zu deuten als „so eindeutig, wie es der Gesetzgeber für nötig hält, wobei er sich nicht willkürlich entscheiden darf". 3 2 Denn das in Art. 101 I 2 G G verbriefte Bestimmtheitspostulat bindet grundsätzlich auch den Gesetzgeber. Der in dieser Verfassungsnorm zum Ausdruck gebrachte Vorrang der Präzision vor der Praktikabilität hindert den Gesetzgeber daran, die Gewichtung zwischen normativer Vorausbestimmung ( = Rechtssicherheit) und Zweckmäßigkeit ( = Gerechtigkeit) gleichsam freihändig auszutarieren und damit den von der Verfassung als nachrangig bewerteten Sachgesichtspunkten zum Durchbruch zu verhelfen. Deshalb ist der Spielraum des Gesetzgebers eingeschränkt auf die Beachtung solcher Gegeninteressen, die unter dem Gesichtspunkt der Aufrechterhaltung einer „funktionstüchtigen Strafrechtspflege" 3 3 ihrerseits als vom Rechtsstaatsprinzip umfaßtes Verfassungsgut angesehen werden können. Hierbei darf freilich nicht verkannt werden, daß der schillernde Begriff der „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" seinerseits mit erheblichen Unschärfen behaftet ist 34 und keinesfalls als Chiffre für bloße Nützlichkeitserwägungen herhalten darf. Erreichen die auf eine flexiblere Lösung drängenden Sachaspekte den gesteigerten Grad der verfassungsrechtlich garantierten Funktionstüchtigkeit, dann liegt in Wahrheit wiederum eine der Situation der verfassungsimmanenten Grundrechtsschranken vergleichbare Konstellation vor. Wo diese Schwelle anzusiedeln ist (und inwieweit dem Gesetzgeber hierbei ein Beurteilungsspielraum zuzugestehen ist), läßt sich an dieser Stelle nicht in allgemein gültiger Weise untersuchen. 3 5
29 Vgl. hierzu allgemein Alexy, Theorie, S. 2 5 8 ff.; Höfling, Jura 1994, 171; Stern, Staatsrecht HI/2, ξ 9 6 IV 7 b ( = S. 1819 f.); s. auch BVerfGE 28, 243 (261). 10 Z u diesem Aspekt vgl. Kunig, in: v. M ü n c h / K u n i g , G G K , Rn 2 5 f. und Maunz, in: M a u n z / D ü r i g , G G , Rn 2 6 f. jeweils zu Art. 101. 31 Vgl. allgemein zur , J a n u s k ö p f i g k e i t " des Rechtsstaatsprinzips Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 2 7 8 ff. 12 Wie hier Kunig, in: v. M ü n c h / K u n i g , G G K , Art. 101 Rn 2 5 f. (auch z u m Folgenden); s. auch ]. Henkel, Gesetzlicher Richter, S. 17f., 21 (Fn 4 ) u n d Pechstein, Jura 1998, 199 („Maximierungsforder u n g " ) . Z u m V o r r a n g des Verfassungsgebots des gesetzlichen Richters gegenüber dem Interesse an einer gleichmäßigen Geschäftsbelastung vgl. A K / G G - W a s s e r m a n n , Art. 101 Rn 24. 33 Der Sache nach gilt dieser Gesichtspunkt freilich für alle Gerichtszweige gleichermaßen. 34 Berechtigte Kritik erfährt das Schlagwort von der „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" nicht zuletzt wegen der ihm i n n e w o h n e n d e n Gefahr, als „gegenreformatorischer A r g u m e n t a t i o n s t o p o s " gegen die Beschuldigtenrechte im Strafverfahren mobilisiert zu w e r d e n ; vgl. Hassemer, StV 1982, 2 7 5 f f . ; Limbach, in: 20. Strafverteidigertag, S. 3 5 f f . ; Niemöller/Schuppert, AöR 107 ( 1 9 8 2 ) , 3 9 9 f f . ; Riehle, KJ 1980, 3 1 6 ff. Das BVerfG hat von der Formel (zugunsten der früher verwandten Redewend u n g von den „unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung") wieder Abstand g e n o m m e n ; vgl. Limbach a.a.O. S. 37. Allgemein zur „Funktionsfähigkeit" als Richtschnur verfassungsrechtlicher Auslegung vgl. Lerche, BayVBl. 1991, 5 1 7 f f . ( 5 2 1 f.). 35 Dahingestellt bleiben soll ferner die verfassungsdogmatische Frage, o b solche Regelungen, w e n n sie v o m Gesetzgeber getroffen w e r d e n , noch der Ausgestaltung des G r u n d r e c h t s o d e r bereits seiner (le-
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Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
Festzuhalten ist aber, daß die Formel von der „möglichst eindeutigen" Bestimmung des gesetzlichen Richters nicht als Ermächtigung zu einer weitgehend ungebundenen (etwa sogar von dem im Vergleich zum Gesetzgeber demokratisch ungleich schwächer legitimierten Präsidium vorzunehmenden) Abwägung zwischen Praktikabilität und Bestimmtheit interpretiert werden darf. Insoweit verdient es nachhaltige Zustimmung, wenn das BVerfG 3 6 in neuerer Zeit darauf hingewiesen hat, daß „(e)ffektiver Rechtsschutz und gesetzlicher Richter ... nicht gegeneinander ausgespielt werden (dürfen)", weil „das Grundgesetz ... den effektiven Rechtsschutz durch den gesetzlichen Richter (gebietet)". Auf der gleichen Linie liegt die Feststellung, daß der Geschäftsverteilungsplan „keinen vermeidbaren Spielraum bei der Heranziehung der einzelnen Richter zur Entscheidung einer Sache und damit keine unnötige Unbestimmtheit hinsichtlich des gesetzlichen Richters lassen (darf)". 3 7 Für die Problematik der Geschäftsverteilung ergibt sich hieraus, daß sich aus der Unerreichbarkeit einer absoluten Manipulationssicherheit und dem Hinweis auf eine nur „möglichst eindeutige" Regelung keine Plattform zimmern läßt, auf der ein Modell der Geschäftsverteilung errichtet werden könnte, das letztlich auf normative Sicherungen weitgehend verzichtet und sich statt dessen mit der Lauterkeit der beteiligten Personenkreise begnügt. 3 8
b)
Das Erfordernis zusätzlicher
Sicherungsvorkehrungen
Angesichts der vorgenannten Überlegungen kann es nicht verwundern, daß die Position des B A G in der Kontroverse um das Rotationssystem nicht das letzte Wort geblieben ist. Die heute vorherrschende Sichtweise folgt jenen Konturen, die der 8. Zivilsenat des B G H 3 9 in einer Entscheidung aus dem Jahre 1 9 6 3 gezeichnet hat. In diesem Urteil legt der B G H 4 0 zunächst dar, daß den Stellen der Justizverwaltung nach dem Prinzip des gesetzlichen Richters jeder bewußte Einfluß auf die Richterbestimmung verwehrt ist. Das aus diesem Verfassungsgrundsatz (jedenfalls bezüglich der technischen Abwicklung der Geschäftsverteilung durch Justizverwaltungsstellen) folgende „Blindlings"-Erfordernis sieht der B G H bei einer auf den zeitlichen Eingang abstellenden Regelung als „zweifelsfrei nicht erfüllt" an, wenn es der Geschäftsstellenbeamte insbesondere in den sehr häufigen Fällen des gleichzeitigen Eingangs mehrerer Sachen in der Hand hat, die Reihenfolge des Eingangs nach seinem Gutdünken zu regeln und damit zugleich bewußt und gewollt über die Zuteilung an die einzelnen Spruchkörper zu entscheiden. Weil die grundlegende Fehlerhaftigkeit einer solchen Geschäftsverteilung nach Ansicht des B G H darin liegt, dem Beamten der Geschäftsstelle überhaupt eine gezielte Richterbestellung
gitimen) Einschränkung zuzuordnen sind. Vgl. hierzu allgemein Alexy, Grundrechte, S. 300 ff. (s. auch a.a.O. S. 263 ff.). 56 BVerfG, NJW 1995, 2703 (2705; a.a.O. beide nachfolgend wiedergegebenen Zitate). In der Sache ebenso bereits Degenhardt, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts III, § 75 Rn 23 (a.E.) und Geppert, DRiZ 1992, 414. 37 BVerfG(Plenum)E 95, 322 (329); s. auch bereits BVerfGE 17, 294 (300); BVerfG, NJW 1995, 2703 f. 38 Zöller/Gummer, ZPO, § 21e GVG Rn 13. ·» BGHZ 40, 91 ff. ( = BGH, NJW 1963, 2071 ff.). 40 A.a.O. S. 2072 (dort auch die im folgenden Text wiedergegebenen Zitate).
12. Kapitel: Die Verteilung der Rechtsprechungsaufgaben ( sachliche Geschäftsverteilung )
319
zu ermöglichen, sei ein solches Modell - entgegen der Auffassung des BAG - auch dann mit dem Begriff des gesetzlichen Richters „schlechthin unvereinbar", wenn der Entscheidung des Geschäftsstellenbeamten Zweckmäßigkeitserwägungen zugrunde liegen, die unter justizverwaltungsmäßigen Gesichtspunkten nicht als unsachlich bezeichnet werden können. Diese grundsätzliche Beurteilung führt den 8. Zivilsenat allerdings nicht zu dem Schluß, alle auf den zeitlichen Eingang abstellende Geschäftsverteilungsregelungen ausnahmslos für unzulässig zu erklären. Denn der Gefahr einer gezielten Richterbestellung könne durch zusätzliche Vorkehrungen durchaus begegnet werden. Eine solche hinreichende Sicherung bejahte der B G H insbesondere bezüglich des vom vorinstanzlichen Gericht praktizierten Geschäftsverteilungssystems. Hiernach versieht der Geschäftsstellenbeamte (ohne Kenntnis des Registerstandes und des Inhalts der Eingänge) alle Sachen mit einer fortlaufenden, jeden Tag mit 1 beginnenden „Kennziffer". Anschließend gelangen die Neueingänge in die Registratur, w o sie, soweit es sich nicht um bestimmten Senaten zugewiesene Spezialsachen handelt, in der Reihenfolge der Kennziffern mit den „Ordnungszeichen" 1 bis 6 versehen werden. Hierbei wird täglich mit der Ordnungszahl begonnen, die auf die am Schluß des vorangegangenen Tages zuletzt eingesetzte Ordnungszahl folgt. In einem solchen System sei eine gezielte Richterbestellung für den Geschäftsstellenbeamten nur möglich, wenn er sich unter grober Mißachtung der Dienstvorschriften vor der Verteilung der Kennziffern Kenntnis vom Registerstand verschafft und er überdies alle Eingänge daraufhin überprüft, ob es sich bei ihnen um Spezialsachen handelt, die nicht mittels Ordnungszahlen verteilt werden. Mag die Trennung zwischen Kennziffern und Ordnungszahlen auch keine unüberwindbaren Hürden errichten, so ist doch einzuräumen, daß sie der bewußten Zuweisung eines Falles an einen bestimmten Spruchkörper schon rein praktisch ganz erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Deshalb wird man es als akzeptabel ansehen können, wenn der B G H 4 1 die Manipulationsgefahr als so fernliegend bezeichnet, daß hierdurch die prinzipielle Zulässigkeit dieses Verteilungsmodells nicht in Frage gestellt werde. In diesem Zusammenhang hat auch der Hinweis seine Berechtigung, daß die bloße Möglichkeit eines Mißbrauchs eine Geschäftsverteilungsregelung weder verfassungs- noch gesetzwidrig mache. Denn hier wird der Gedanke der Unbeachtlichkeit rein theoretischer Manipulationsgefahren nicht als pauschale Abwehrformel gebraucht, sondern dazu verwandt, ein nicht ausschließbares „Restrisiko" für hinnehmbar zu erklären, nachdem ein System mit effektiven Sicherungsvorkehrungen installiert worden ist. Ist die herrschende Meinung 4 2 , die im Anschluß an das dargestellte Urteil des B G H eine Geschäftsverteilung nach dem Rotationsprinzip (nur) beim Hinzutreten ergänzender Sicherungen für zulässig erachtet, 4 3 als zumindest vertretbar anzuerkennen, so ist 4
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A.a.O. S. 2073. Vgl. BVerwG, NJW 1983, 2154; O L G Saarbrücken, StraFo 1996, 150 f.; O V G Berlin, NJW 1999, 594 f.; Albers, in: Baumbach/Lauterbach, Z P O , Rn 9; KK-Diemer, Rn 11; Zöller/Gümmer, Z P O , Rn 13; Kissel, GVG, Rn 154; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 3; LR-iC. Schäfer, Rn 24; Schreiber, in: Wieczorek/ Schütze, Z P O , Rn 11; Thomas/Putzo, Z P O , Rn 24; M Ü K o / Z P O - W o l f , Rn 16 alle zu § 21e G V G ; Heintzmann, DRiZ 1975, 322 f.; Reicht, Gesetzlicher Richter, S. 101 f.; Stelkens, in: Schoch/SchmidtAßmann/Pietzner, V w G O , § 4 Rn 24. Z u r Verwendung des Rotationssystems in der hamburgischen Zivilgerichtsbarkeit vgl./. Meyer, DRiZ 1987, 420. 4! Vgl. aber auch zur Situation in der Finanzgerichtsbarkeit Sangmeister, M D R 1988, 192 (mit Fn 27); s. femer Kissel, GVG, § 21e Rn 155. 42
320
Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
doch nicht zu übersehen, daß es mehrere Stimmen 4 4 gibt, die trotz derartiger Kautelen zur Vorsicht mahnen. In der Tat ist nicht zu verkennen, daß der praktische Wert der Sicherungsmechanismen maßgeblich von den jeweiligen Gegebenheiten abhängt. Wenn in einem kleinen Amtsgericht z . B . Geschäftsstelle und Registratur in demselben Dienstzimmer untergebracht sind und eine Verteilung nur mittels zweier Ordnungszahlen ansteht, wirkt der organisatorische Schutzmechanismus ungleich schwächer als bei einem großen Gericht mit komplexer Arbeitsteilung. Ferner ist zu bedenken, daß eine nachträgliche Kontrolle auf etwaige Unregelmäßigkeiten beim Rotationssystem faktisch nahezu ausgeschlossen erscheint. Diese Vorbehalte sollten vom Präsidium mit Blick auf die konkreten Verhältnisse an dem betreffenden Gericht bedacht werden, auch wenn sie nicht dazu führen, ein durch zusätzliche Sicherungen verstärktes Rotationsmodell generell für unzulässig zu erklären.
2.
Die Verteilung nach B u c h s t a b e n
Die weithin gebräuchliche Anknüpfung der Geschäftsverteilung an den Anfangsbuchstaben des Namens des Angeklagten 4 5 stellt ein vergleichsweise sicheres Zuweisungskriterium dar, wenngleich der Geschäftsverteilungsplan im Interesse größtmöglicher Eindeutigkeit ergänzende Klarstellungen für bestimmte Schreibweisen (Umlaute) und der Behandlung von Namenszusätzen (Adelsprädikate u.ä.) 4 6 enthalten sollte. Schwierigkeiten können sich lediglich beim Zusammentreffen mehrerer Angeklagter ergeben. Abgesehen vom Sonderfall des § 103 II J G G bedarf es insoweit einer Regelung durch den Geschäftsverteilungsplan. Hierbei ist umstritten, ob für die Zuständigkeit des Spruchkörpers auf die in der Anklageschrift gewählte Reihenfolge der Namen der Angeschuldigten abgestellt werden darf. Das R G 4 7 hatte im Jahre 1 8 9 6 ein solches Vorgehen für zulässig erklärt und insoweit die Bestimmung der Reihenfolge der Angeschuldigten ausdrücklich in das pflichtgemäße Ermessen der Staatsanwaltschaft gestellt. Unter Hinweis auf diese Entscheidung ver-
44 Vgl. OLG Neustadt, M D R 1965, 225; Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, § 21e Rn 2; ]. Henkel, Gesetzlicher Richter, S. 65 ff. (mit Fn 5 auf S. 65); speziell für Strafsachen Engelhardt, DRiZ 1982, 418 f. Ablehnend zum Rotationsprinzip Müller/Sax/Paulus, GVG, § 21e Rn 15 sowie (freilich noch vor BGHZ 40, 91) Gottschalk, Gesetzlicher Richter, S. 61 ff. 45 Für zivilrechtliche Streitigkeiten ist das Abstellen auf den Namen des Beklagten zu empfehlen, da beim Anknüpfen an den Klägernamen eine vermeidbare Möglichkeit zur Manipulation durch eine Abtretung des geltend gemachten Anspruchs geschaffen würde; vgl. Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, Rn 2; Zöller/Gummer, ZPO, Rn 13; Schreiber, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, Rn 11 jeweils zu § 21e GVG; s. auch LG Frankfurt/M., NJW 1988, 70 ff.; NJW-RR 1989; 563 f.; a.A. MüKo/ZPO-Wo//, § 21e GVG Rn 15. 46 Vgl. BGH, GA (bei Herlan) 1963, 100. Zu den insoweit noch größeren Auslegungsproblemem im Zivilrecht (Firmennamen, juristische Personen) vgl. Kissel, GVG, Rn 150; M ü K o / Z P O - W o l f , Rn 16 jeweils zu § 21e GVG. 47 RGSt. 28, 215 ff. (219). Dort hatte die Staatsanwaltschaft in einer Pressestrafsache (gegen sozialdemokratische Redakteure wegen Majestätsbeleidigung und weiterer Beleidigungsvergehen) die Reihenfolge der Angeklagten in der Anklageschrift gegenüber der für das Ermittlungsverfahren maßgeblichen Namensfolge (unter Hinzunahme eines weiteren Angeklagten) umgedreht.
12. Kapitel: Die Verteilung der Rechtsprechungsaufgaben ( sachliche Geschäftsverteilung )
321
neinte auch der B G H 4 8 im Jahre 1958 einen Verstoß gegen Art. 101 I 2 G G , wenn die Strafkammer in Übereinstimmung mit dem Geschäftsplan ihre Zuständigkeit nach der von der Staatsanwaltschaft gewählten Reihenfolge der Angeklagten beurteilt; etwas anderes gälte dann, wenn Anhaltspunkte dafür bestünden, daß die Staatsanwaltschaft die Namen willkürlich zu dem Zweck angeordnet habe, die Entscheidung der Strafsache durch eine ihr unerwünschte Strafkammer zu umgehen. 4 9 Auf derselben Linie liegt schließlich ein in einer Verkehrsstrafsache ergangenes Urteil des O L G Zweibrücken 5 0 . In jenem Fall richtete sich die Zuständigkeit der Abteilung des Amtsgerichts (ohne daß eine diesbezügliche Regelung im Geschäftsverteilungsplan bestanden hätte) nach dem Namen des Beschuldigten, der auf dem Aktendeckel an der ersten Stelle genannt ist. Diese Vorgehensweise billigt der Senat, weil die Beschriftung des Aktendeckels „in aller Regel" die Reihenfolge der Namen aus der Verkehrsunfallanzeige übernehme und weil dort der Polizeibeamte „in aller Regel" den Täter an die erste Stelle setze, den er für den Hauptschuldigen halte; deshalb finde ein gesetzwidriger Einfluß auf die Richterbestimmung „in aller Regel" nicht statt, gegenteilige Anhaltspunkte seien im vorliegenden Fall nicht erkennbar. Diese Judikatur ist im Schrifttum 51 auf berechtigte Ablehnung gestoßen. Denn sie gibt einer außerhalb des Gerichts stehenden Behörde die Möglichkeit, den im Einzelfall zuständigen Richter zu bestimmen. Aus dem Gebot zur „möglichst eindeutigen" Geschäftsverteilung ergibt sich bezüglich einer nach Anfangsbuchstaben vorgenommenen Aufgabenzuweisung die Notwendigkeit, ergänzende Regelungen für den Fall des Zusammentreffens mehrerer Beschuldigter zu treffen. Derartige Festlegungen sind ohne Beeinträchtigung gewichtiger justizieller Belange möglich, indem der Geschäftsverteilungsplan etwa vorschreibt, auf den ältesten Angeklagten oder den in alphabetischer Reihenfolge an erster Stelle kommenden Namen abzustellen. 52 Angesichts der Möglichkeit solcher abstrakter Sicherungsvorkehrungen widerspricht es dem Grundsatz des gesetzlichen Richters, den Strafverfolgungsbehörden einen vermeidbaren Freiraum zu gewähren und den Angeklagten auf eine bloße Willkürkontrolle zu verweisen. Deshalb dürfte das Präsidium eine strikte Bindung an die von der Staatsanwaltschaft gewählte Reihenfolge nicht im Geschäftsverteilungsplan festschreiben, und auch eine regelmäßig
L M Nr. 6 zu Art. 101 G G ( = N J W 1958, 1503 [LS]). Wie problematisch solche nachträglichen Rekonstruktionen sind, läßt sich exemplarisch daran ablesen, daß der B G H (a.a.O.) seine Beurteilung, die Staatsanwaltschaft habe sich bei der von ihr gewählten Reihenfolge „keineswegs" von sachfremden Erwägungen leiten lassen, damit begründet, daß die der Hehlerei angeklagten Eheleute S. „offenbar" nur deswegen zuerst genannt wurden, weil die Ermittlungen zuerst gegen sie aufgenommen worden waren. Genau umgekehrt argumentiert die in Bezug genommene Entscheidung des R G (St. 2 8 , 215 [219]), wonach es gerade als „willkürlich" erscheinen müßte, die Reihenfolge der Angeschuldigten „von den Zufälligkeiten des ersten Angriffes abhängig machen zu wollen". 49
M D R 1967, 147 f. Engelhardt, D R i Z 1 9 8 2 , 4 2 1 ; Dähne, Selbstverwaltung, S. 1 4 4 f . ; Kern, Gesetzlicher Richter, S. 1 7 9 f.; Maunz, in: Maunz/Dürig, G G , Art. 101 Rn 3 2 ; G. Schäfer, Praxis, Rn 5 0 1 ; Schultz, Besetzung, S. 111 ff. ( 1 1 4 ) . 52 Nicht zu empfehlen sind hingegen wertungsabhängige Kriterien (Beteiligungsform, schwerster Tatvorwurf u.a.), da sie zum einen weniger eindeutig sind und ihre Berechtigung sich zudem erst nach einer inhaltlichen Befassung mit der Akte beurteilen läßt. 50 51
322
Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
einheitliche Übung seitens der Ermittlungsorgane 5 3 bietet kein hinreichendes Äquivalent für die insoweit defizitäre Gestaltung der Geschäftsverteilung. Zustimmung verdient in diesem Zusammenhang ferner eine Entscheidung des O L G Nürnberg 5 4 , in der es als unzulässig angesehen wird, daß die Staatsanwaltschaft die Namen der Angeschuldigten absichtlich in bestimmter Weise anordnet, um hierdurch die Zuständigkeit einer minder belasteten Strafkammer zu begründen. Zutreffend bezeichnet der Senat das Bestreben, eine raschere Hauptverhandlung herbeizuführen, als eine prozeßökonomisch und kriminalpolitisch durchaus beachtenswerte Erwägung, die anzustellen die Staatsanwaltschaft gleichwohl nicht befugt sei. Wenn es bereits dem grundsätzlich zur Abhilfe bei Überlastungssituationen berufenen Präsidium verwehrt sei, der normal zuständigen Kammer einen bestimmten Einzelfall wegzunehmen, 5 5 dann dürfe die nicht zur Abhilfe berufene Staatsanwaltschaft erst recht nicht diesen Weg beschreiten. Auch hier ergibt sich die Unzulässigkeit der Verfahrensweise aus dem Fehlen normativer Bindung; dies gilt unabhängig davon, ob die Motivation im konkreten Einzelfall als Ausdruck böser Manipulationsabsicht oder wohlmeinenden Effektivitätsdenkens erscheint.
3.
Die Verteilung nach Sachgebieten
Die Frage, unter welchen Voraussetzungen und in welchem M a ß e das Präsidium eine Spezialisierung der Rechtsprechungstätigkeit durch die Einrichtung besonderer Spruchkörper unterstützen soll, zählt gewiß zu den schwierigsten Problemen der Geschäftsverteilung. Denn es ist „offensichtlich, daß die Spezialisierung Vorteile und Nachteile mit sich bringt". 5 6 Allgemein läßt sich zugunsten 5 7 einer Verteilung der Rechtsprechungsaufgaben nach Sachgebieten darauf verweisen, daß der Drang zu immer größerer Differenzierung und Spezialisierung als Kennzeichen des technischen Zeitalters nicht vor den Toren der Justiz haltmachen kann. 5 8 Die an besonderer Sachkunde und Kompetenz ausgerichtete Zuständigkeitszuordnung stellt insoweit eine Reaktion auf die zunehmende Komplexität von Sachverhalt und Recht 5 9 dar. Neben dieser eher globalen Deutung fällt vor allem der (ungleich handfestere) ökonomische Aspekt ins Gewicht, daß Spezialisierung „ein ,Zeitsparer' und damit auch ein ,Geldsparer'" 6 0 ist, der überdies zu •«
Hierauf stellt Marx (Gesetzlicher Richter, S. 90 f.) ab. Vgl. auch Pohle, AP Nr. 10 zu Art. 101 GG. NJW 1963, 502 f. mit zust. Anm. Maywald, NJW 1963, 923; zustimmend auch Müller/Sax/Paulus, GVG, § 21e Rn 16 und Rüping, Strafverfahren, Rn 45. 55 Mangels hinreichender Bestimmtheit wäre es auch unzulässig, den Umfang oder die Schwierigkeit einer Sache als Kriterium für die Aufgabenzuweisung im Geschäftsverteilungsplan zu wählen; BGHSt. 7, 23 (25); Katholnigg, NJW 1992, 2256; Müller/Sax/Paulus, GVG, Rn 15; Thomas/Putzo, Rn 24 jeweils zu § 21e GVG. 56 So die Resolution des V. Kongresses der Internationalen Richtervereinigung in Florenz (vgl. DRiZ 1974, 376); s. auch (bezüglich der Einrichtung von Sondergerichten) bereits Doerr, AöR 41. Bd. (= N.F. Bd. 2) 1921, 70ff. sowie ausführlich J. Meyer, DRiZ 1987, 417ff. (419) sowie LR-K. Schäfer, § 21e GVG Rn 109. 57 Vgl. zum Folgenden insbesondere Ehricke (NJW 1996, 813ff.), der (bezüglich des Zivilrechts) ein „Prinzip der Zuständigkeit kraft besonderen Sachverstandes" annimmt (a.a.O. S. 814 f.). 58 Wassermann, ZRP 1970, 6. 5» Ehricke, NJW 1996, 814. «> Ehricke, NJW 1996, 816 (auch zum Folgenden). 54
12. Kapitel: Die Verteilung der Rechtsprechungsaufgaben ( sachliche Geschäftsverteilung )
323
m e h r Rechtssicherheit und Rechtsklarheit führt und damit tendenziell geeignet ist, die Akzeptanz und das Vertrauen der Bevölkerung in die Justiz zu stärken. 6 1 Auf der N e g a tivseite schlagen neben einer abstumpfenden R o u t i n e 6 2 die Gefahren eines „Scheuklapp e n - D e n k e n s 6 ' und einer Auseinanderentwicklung von Rechtsgrundbegriffen 6 4 zu Buc h e . 6 5 Angesichts der Tatsache, daß - soweit ersichtlich - repräsentative statistische A n g a b e n w e d e r zur gegenwärtigen Häufigkeit von Spezialspruchkörpern 6 6 n o c h zu einer e n t s p r e c h e n d e n zeitlichen Entwicklung vorliegen und daß sich mit Blick auf die widerstreitenden Gesichtspunkte eine allgemein verbindliche M a x i m e nicht formulieren läßt, 6 7 bleibt es d e m Präsidium vorbehalten, n a c h der für das jeweilige Gericht optimalen L ö sung zu suchen, wobei es sich von der G r ö ß e des Justizbetriebes 6 8 leiten lassen und zud e m u m eine Berücksichtigung der Richterinteressen b e m ü h t sein wird. Aus rechtlicher Perspektive ist insoweit festzustellen, daß einerseits eine Pflicht zur Einrichtung von Spezialspruchkörpern ( ü b e r das durch die Regelungen bezüglich der gesetzlichen Geschäftsverteilung v o r g e g e b e n e M a ß hinaus) nicht b e s t e h t . 6 9 Andererseits bildet g e r a d e die gesetzliche Geschäftsverteilung einen eindeutigen Beleg für die Zulässigkeit einer Geschäftsverteilung nach Sachgebieten. Denn w e n n sich der G e s e t z g e b e r ( n o c h ) nicht entschließen kann, für b e s t i m m t e Spezialgebiete eigenständige Spruchkörper zwingend v o r z u s c h r e i b e n 7 0 (und damit - abgesehen von etwaigen Konzentrationse r m ä c h t i g u n g e n - ihre Vorhaltung selbst dann zu verlangen, w e n n ein entsprechender
61 Zum Aspekt der Vermeidung einander widersprechender Entscheidungen vgl. bereits Ahegg, GA Bd. 7 ( 1 8 5 9 ) , 3 f. 62 Rasehorn, Richter, S. 86. 63 „Spezialisten sind Menschen, die von immer weniger immer mehr verstehen" (Vultejus, in: Brand/Strempel [Hrsg.], Soziologie des Rechts [1998], S. 599). Vgl. auch oben 11. Kap. II. 2a. Pointiert beschreibt J. Meyer (DRiZ 1987, 4 1 9 ) die Risiken der Spezialisierung: „Sollte gar festgestellt werden müssen, daß der Spezialist zu einer Erledigungsmaschine ohne Selbstkritik, aber mit erheblicher Selbstüberschätzung wird, müßte man der Spezialisierung abschwören." M Plassmann, J Z 1977, 592. ** Zweifel an der Produktivität einer weitgehenden rechtlichen Spezialisierung äußert Rasehorn, Richter, S. 84; die seiner Meinung nach im Vergleich zu Gerichten mit mäßiger Spezialisierung höhere Aufhebungsquote wird durch den a.a.O. angegebenen Nachweis auf Bender/Wax (in: Bender [Hrsg.), Tatsachenforschung, S. 179) nicht gedeckt (vgl. Bender/Wax a.a.O. S. 192 f., aber auch S. 195). 66 Vgl. immerhin Rasehorn, Richter, S. 85; ders., ZRP 1972, 181 ff. 67 Die gleichen Sachprobleme stellen sich hinsichtlich der Einrichtung von staatsanwaltschaftlichen Spezialdezernaten bzw. der Bildung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften. Vgl. insoweit die unterschiedlichen Beurteilungen von Janknecht und Zuberbier {DRiZ 1988, 19 f. und 335 f. bezüglich Sexualdelikte) sowie von Liebl und Beitlich (wistra 1987, 13 ff. und 279 ff. bezüglich der Wirtschaftskriminalität; s. hierzu auch Berckhauer, ZStW 89 [1977], 1016 ff. und Montenbruck/Kublmey/Enderlein, JuS 1987, 718f.). 68 Zur Bedeutung dieses Faktors vgl. Gottwald, in: Gilles, Anwaltsberuf und Richterberuf, S. 250 f.; s. auch Blankenburg, KritV 1988, 113 und Rasehorn, Richter, S. 84. " LG Frankfurt, NJW-RR 1989, 563 f.; Gloria, NJW 1989, 446; vgl. aber auch Recken, NJW 1988, 679 (in concreto alle zu reiserechtlichen Spezialdezernaten). 70 Beispielsweise war die Wirtschaftsstrafkammer vor dem Strafverfahrensänderungsgesetz 1979 nicht als Spruchkörper mit gesetzlicher Zuständigkeitskonzentration konzipiert; § 74c GVG a.F. sah vielmehr (lediglich) eine Konzentrationsermächtigung zugunsten der Landesregierungen vor; vgl. LRK. Schäfer", % 74c GVG Rn 2; Katholnigg, NJW 1978, 2 3 7 6 ; s. auch Berckhauer, ZStW 89 (1977), 1035 (Fn 42).
324
Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
Bedarf bei einem Gericht fehlt) 7 1 , dann m u ß doch jedenfalls die fakultative Möglichkeit einer besonderen Zuweisung spezieller Rechtsmaterien für solche Situationen gegeben sein, in denen ein derartiges Bedürfnis besteht. 7 2 Unter Bestimmtheitsaspekten ist darauf zu achten, daß das betreffende Sachgebiet möglichst klar umschrieben wird. Freilich ist nicht zu verkennen, daß tatfremde, „künstliche" 7 3 Anknüpfungspunkte ( z . B . Anfangsbuchstaben, gegebenenfalls in Kombination mit dem Geburtsdatum; Wohnsitz) naturgemäß besser geeignet sind, eine eindeutige Richterzuordnung zu gewährleisten, als dies bei tatbezogenen (und damit von einer rechtlichen Wertung abhängigen) Kriterien der Fall ist. Diese prinzipielle Schwäche ist jedoch im Interesse einer angemessenen Nutzung von Spezialwissen hinzunehmen, zumal auch die gesetzlich festgelegten Zuständigkeitsregelungen vielfach auslegungsbedürftige Merkmale 7 4 enthalten. K o m m t den Normen über die gesetzliche Geschäftsverteilung insoweit eine gewisse Vorbildfunktion zu, so ist es nicht zu beanstanden, wenn die Aufgabenzuweisung durch die Bezeichnung der einschlägigen Strafbestimmungen (gegebenenfalls unter Hinzufügung ergänzender Begrenzungsmerkmale) 7 5 erfolgt. Problematisch erscheint insoweit allerdings die Frage, ob der Geschäftsverteilungsplan die Zuständigkeit des Spezialspruchkörpers mit bindender Wirkung an den Umstand knüpfen darf, daß eine die Sonderzuständigkeit begründende Spezialnorm in der Anklageschrift als verletzt bezeichnet wird. Diese vom BVerfG 7 6 gebilligte Form der Geschäftsverteilung begegnet durchgreifenden Bedenken. Zwar läßt sich nicht bestreiten, daß eine solche Regelung einfach zu handhaben und zudem geeignet ist, Kompentenzkonflikte zwischen den einzelnen Spruchkörpern eines Gerichts von vornherein zu vermeiden. Es ist ferner zuzugeben, daß für die Feststellung der Spezialzuständigkeit nicht die abschließende Beurteilung des Falles, sondern allein der Umstand maßgeblich sein kann, daß die Rechtssache dem ersten Anschein nach 7 7 dem ausgegliederten Rechtsgebiet angehört. Insoweit k o m m t der Anklageschrift gewiß eine erhebliche indizielle Bedeutung zu. Die Besonderheit der fraglichen Klausel besteht jedoch darin, daß hier die Bestimmung des zuständigen Spruchkörpers (abgesehen von einer wohl zu ergänzenden ungeschriebenen
71 J. Meyer, DRiZ 1987, 421. Zu Bedenken gegen obligatorisch vorgeschriebene Spezialspruchkörper vgl. auch Staiger, JR 1978, 435 sowie (bezüglich des Asylrechts) Urban, NVwZ 1993, 1169 ff. 72 Allerdings ist darauf zu achten, daß gesetzlich vorgesehene Spezialzuständigkeiten nicht durch lediglich fakultative Sonderzuweisungen ausgehöhlt werden; vgl. insoweit (zur Jugendstaatsanwaltschaft) Eisenberg, NStZ 1994, 67 ff. 73 Vgl. Engelhardt, DRiZ 1982, 421; Bender/Wax (in: Bender [Hrsg.], Tatsachenforschung, S. 185) sprechen insoweit von einem „mechanische(n) Zuteilungsprinzip". 74 Zu denken ist etwa an die (verfassungsrechtlich freilich problematische) „besondere Bedeutung des Falles" im Sinne des § 24 I Nr. 3 GVG, an die prognostizierte Straferwartung bezüglich der Abgrenzung zwischen Strafrichter und Schöffengericht (§§ 25 Nr. 2, 28 GVG) oder an das Merkmal der „besonderen Kenntnisse des Wirtschaftslebens" in § 74c GVG. 75 Beispielsweise definiert der Geschäftsverteilungsplan des Amtsgerichts Tiergarten (s. oben [zu] Fn 9, Besonderer Teil D. II) als Verkehrssache (u.a.) die „fahrlässige Tötung, Körperverletzung, Nötigung, Bedrohung und Sachbeschädigung in unmittelbarem Zusammenhang mit einem typischen Fehlverhalten eines Verkehrsteilnehmers im Straßen-, Eisenbahn-, Wasserstraßen- und Luftverkehr sowie unter denselben Voraussetzungen Beleidigung im Straßenverkehr". 76 BVerfG (Vorprüfungsausschuß), Beschluß v. 4 . 1 1 . 1 9 7 4 - 2 BvR 2 2 5 / 7 4 (n.v.; vgl. P. Müller, J Z 1976, 578); zustimmend Heintzmann, DRiZ 1975, 322. 77 Vgl. BayVGH, BayVBl. 1971, 476.
12. Kapitel: Die Verteilung der Rechtsprechungsaufgaben ( sachliche Geschäftsverteilung )
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Ausnahme für willkürlich fehlerhafte Anklageschriften) mit bindender Wirkung an eine Exekutivbehörde „abgetreten" worden ist. Eine derartige Delegation räumt der Staatsanwaltschaft aus bloßen Praktikabilitätserwägungen einen Einfluß auf die Richterbank ein, der ihr bezüglich der Namensanordnung zu Recht verwehrt worden ist. Diesbezüglich läßt sich auch nicht einwenden, die Staatsanwaltschaft sei nicht „unbefugte Exekutive", da sie zur Mitwirkung im Strafverfahren berufen und hierbei durch das Legalitätsprinzip ebenso wie durch das Neutralitätsgebot rechtlich gebunden sei. 7 8 Dem ist zum einen (einmal mehr) entgegenzuhalten, daß die Vertrauenswürdigkeit einer Institution keinen legitimen Grund für den Verzicht auf normative Sicherungsvorkehrungen darstellt. 7 9 Z u m anderen hat das BVerfG 8 0 die „bewegliche" Zuständigkeit in Strafsachen nicht zuletzt wegen der gerichtlichen Kontrolle der staatsanwaltschaftlichen Entschließung für verfassungsmäßig erklärt. Es mutet befremdlich an, daß der Vorprüfungsausschuß des BVerfG nunmehr gerade unter Rückgriff auf jene Entscheidung eine nachprüfungsfreie Zuständigkeitsbestimmung seitens der Anklagebehörde für rechtmäßig hält. 8 1 Soweit die Zuständigkeit des Spezialspruchkörpers auf einer gesetzlichen Geschäftsverteilungsanordnung beruht, ergibt sich die Maßgeblichkeit der gerichtlichen Beurteilung eindeutig aus §§ 6a und 2 0 9 a S t P O . 8 2 Der Anwendungsbereich dieser Vorschriften ist zwar auf die dort genannten Fälle des gesetzlich normierten Vorrangprinzips beschränkt; sie erfassen also nicht jene Konstellation, daß der Geschäftsverteilungsplan ohne eine gesetzliche Verpflichtung einzelnen Spruchkörpern bestimmte Sachgebiete zuweist. 8 ' Hieraus folgt jedoch nicht umgekehrt, daß die Unzuständigkeit des Spruchkörpers rechtlich ohne Bedeutung ist, soweit sie sich allein aus den Regelungen des Geschäftsverteilungsplanes ergibt. 8 4 Vielmehr hat jeder Richter und jeder Spruchkörper von Amts wegen auch seine Zuständigkeit nach dem Geschäftsverteilungsplan zu prüfen und verneinendenfalls
So aber das BVerfG (wie oben in Fn 7 6 angegeben). Zutreffend verlangt Diemer (in: KK, § 21 e G V G Rn 1 1 ) geeignete Sicherungen, die gewährleisten, daß weder die Staatsanwaltschaft noch die Geschäftsstelle oder die Registratur Einfluß auf die Richterzuteilung nehmen kann. Auch bei Engelhardt ( D R i Z 1 9 8 2 , 4 2 1 f.) wird der Staatsanwaltschaft kein besonderer Vertrauensbonus zuteil. 811 BVerfG Ε 9, 2 2 3 ff. 81 Berechtigte Kritik insoweit bei P. Müller, J Z 1 9 7 6 , 5 8 7 (vgl. auch allgemein zur Problematik der Kammerrechtsprechung des B V e r f G Benda, N J W 1 9 9 5 , 4 2 9 ff.; Sendler, N J W 1 9 9 5 , 3 2 9 1 ff.). Die Konsequenz der Entscheidung B V e r f G E 9, 2 2 3 ff. sieht Rieß {CA 1 9 7 6 , 8 ) gerade darin, das zuvor allgemein a n g e n o m m e n e unüberprüfbare Wahlrecht der Staatsanwaltschaft bei § 2 4 G V G in eine nicht bindende Beurteilung der Zuständigkeitsfrage durch die Staatsanwaltschaft verwandelt zu haben, die etwa der rechtlichen Würdigung der T a t in der Anklageschrift (vgl. § 2 0 7 II Nr. 3 S t P O ) vergleichbar sei. Dieser Gedanke ist auch im vorliegenden K o n t e x t durchaus einschlägig. 82 Vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 3 ; KK-Pfeiffer, Rn 2 f. jeweils zu § 6a; ausführlich Meyer-Goßner, N S t Z 1 9 8 1 , 1 6 8 ff. 81 LR-Rieß, § 2 0 9 Rn 7. Eine analoge Anwendung der §§ 2 0 9 a S t P O , 7 4 e G V G wird erwogen von 78
79
LR-K. Schäfer, § 21e GVG Rn 21.
84 Die Bedeutung des § 6a S t P O besteht nicht darin, eine ansonsten fehlende Prüfungspflicht zu begründen, sondern es soll (in Abweichung von der Regelung des § 6 S t P O bezüglich der sachlichen Z u ständigkeit) eine Angleichung an die für die örtliche Zuständigkeit in § 16 S t P O normierte Rechtslage geschaffen werden; vgl. Rieß, N J W 1 9 7 8 , 2 2 6 6 f. Vgl. auch zur Prüfung der sich aus dem Geschäftsverteilungsplan ergebenden (funktionellen) Zuständigkeit vor Einführung des § 6 a S t P O Meyer-Goßner, JR 1 9 7 7 , 3 5 3 f.
326
Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
die Sache formlos an den zuständigen Spruchkörper abzugeben. 8 5 Die Kontrolle der geschäftsverteilungsplanmäßigen Zuständigkeit tritt somit neben jene bezüglich der sachlichen und örtlichen Zuständigkeit; diese Elemente verwirklichen in ihrer Gesamtheit das aus Art. 1 0 1 1 2 G G resultierende G e b o t , daß die staatsanwaltschaftliche Zuständigkeitsentschließung tatsächlich und rechtlich der vollen richterlichen Nachprüfung unterliegt. 8 6 Dieser Verantwortung darf sich das Gericht nicht dadurch entziehen, daß es den fremdbestimmten Richter (abgesehen von Willkürfällen) durch eine Klausel im Geschäftsverteilungsplan kurzerhand als „gesetzlichen" Richter definiert.
II.
Weitere Zuständigkeitsregelungen in Geschäftsverteilungsplänen
Diese Überlegungen lenken den Blick auf die allgemeinere Fragestellung, inwieweit in den Geschäftsverteilungsplan Regelungen aufgenommen werden dürfen, die im Interesse einer effektiven Arbeitsweise das Auftreten von negativen Kompetenzkonflikten nach Möglichkeit verhindern. Eine erste Grenze finden solche Bemühungen im Gesetz. Hiermit ist der Umstand gemeint, daß der Geschäftsverteilungsplan nicht über das Fehlen gesetzlich normierter Zuständigkeiten hinweghelfen, sondern lediglich eine bezüglich des Gerichts als administrativer Einheit bestehende Zuständigkeit weiter spezifizieren kann. 8 7 Deshalb hat der B G H zu Recht eine im Geschäftsverteilungsplan enthaltene Klausel, nach welcher eine Strafkammer auch im Fall des Ausscheidens des ihre Zuständigkeit (allein) begründenden Angeklagten für die übrigen Angeklagten zuständig bleibe, für unanwendbar erklärt, wenn das Landgericht zur Verhandlung gegen den ausgeschiedenen Angeklagten von Anfang an sachlich unzuständig war. 8 8
1.
Zuständigkeitsperpetuierende Klauseln
Innerhalb des so abgesteckten Rahmens werden zuständigkeitsperpetuierende Regelungen im Geschäftsverteilungsplan gemeinhin für zulässig gehalten. Das gilt insbesondere 85 G. Schäfer, Praxis, Rn 502; LR-Rieß, § 209 Rn 8; ders., GA 1976, 13 (Fn 76: „allgemein anerkannt"); Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 9 Rn 81; Kleinknecht/Meyer-Goßner, $ 209 Rn 4, § 269 Rn 6; KMR-Paulus, § 209 Rn 7. Für die Lösung des negativen Kompetenzkonflikts, der entsteht, wenn der Spruchkörper, an den die Sache abgegeben werden soll, sich seinerseits für unzuständig hält und eine Übernahme ablehnt, wird überwiegend das Präsidium für zuständig gehalten oder aber eine analoge Anwendung der §§ 14, 19 StPO befürwortet; vgl. Kissel, GVG, § 21e Rn 117f.; LR-Rieß, Rn 8 f.; KK-Tolksdorf, Rn 4 jeweils zu § 209; aber auch P. Müller, JZ 1976, 587f. und Heintzmann, DRiZ 1975, 321 f. 86 Marx, Gesetzlicher Richter, S. 90. Verfassungsrechtlich unbedenklich ist es demgegenüber, wenn für die Berufungszuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammer allein auf die Beurteilung im Eröffnungsbeschluß (nicht hingegen auf das erstinstanzliche Urteil) abgestellt wird; vgl. OLG Stuttgart, MDR 1982, 252; KK-Diemer, Rn 3; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 6 jeweils zu § 74c GVG. Diese die gesetzliche Geschäftsverteilung betreffende Feststellung könnte auch für eine rein geschäftsplanmäßig begründete Zuständigkeit Bedeutung erlangen, sofern der Geschäftsverteilungsplan eine kleine Wirtschaftsstrafkammer als Berufungsspruchkörper für Urteile des Strafrichters einrichtet (vgl. Meyer-Goßner a.a.O.). Kindhäuser,)Z 1993, 479. 88 BGHSt. 38, 376 (378, 380); hierzu auch Rieß, NStZ 1993, 250. Zur fehlenden örtlichen Zuständigkeit vgl. LR-Rieß, $ 209 Rn 5; Mutzbauer, NStZ 1995, 213 f.
12. Kapitel: Die Verteilung der Rechtsprechungsaufgaben ( sachliche Geschäftsverteilung )
327
für die Festlegung, daß ein Spruchkörper auch dann mit einer Sache befaßt bleibt, wenn sich nach der Eröffnung des Hauptverfahrens herausstellt, daß nach dem Geschäftsverteilungsplan an sich eine andere Abteilung oder K a m m e r für das betreffende Verfahren zuständig gewesen wäre. 8 9 Fehlt eine solche Bestimmung im Geschäftsverteilungsplan, so würde eine erst während der Hauptverhandlung bemerkte Unzuständigkeit dazu führen, daß auch jetzt noch das Verfahren formlos an den zuständigen Spruchkörper abgegeben (und von diesem übernommen) werden müßte. 9 0 Das Bestreben der Gerichte, die mit dieser Konsequenz verbundene Doppelarbeit zu vermeiden, ist unter dem Blickwinkel der Justizökonomie durchaus verständlich. Auch kommen jene Einwände, die soeben gegenüber einer strikten Bindung an die von der Staatsanwaltschaft angenommene Tatbewertung zu erheben waren, hier nicht zum Zuge. Denn unter dem Gesichtspunkt der Ausschaltung externer Einflußmöglichkeiten bei der Richterzuweisung ist es zwar erforderlich, aber auch ausreichend, daß das Gericht die staatsanwaltschaftliche Entschließung bis zum Erlaß des Eröffnungsbeschlusses überprüfen kann. Daß eine fortwährende Zuständigkeitskontrolle seitens des Gerichts auch im Hauptverfahren nicht zwingend geboten ist, läßt sich auch an den §§ 6a, 16 S t P O ablesen, die bezüglich der Zuständigkeit besonderer gesetzlich vorgesehener Strafkammern sowie hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit die Pflicht zur Amtsprüfung gleichfalls nur bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens statuieren. Dennoch ergeben sich gerade aus dem Vergleich mit den genannten Vorschriften rechtliche Bedenken. Denn diese Normen bestimmen (jeweils in den Sätzen 2 und 3 ) , daß das Gericht nach der Eröffnung des Hauptverfahrens seine Unzuständigkeit lediglich auf einen entsprechenden Einwand des Angeklagten beachten darf, den dieser bis zum Beginn seiner Vernehmung zur Sache in der Hauptverhandlung erheben muß. Nach dieser gesetzlichen Konzeption endet die Pflicht zur Prüfung von Amts wegen also vor der Pflicht zur Berücksichtigung auf einen rechtzeitig geltend gemachten Einwand hin. Nach dem Verstreichen dieser Kontrollmöglichkeiten gilt das an sich unzuständige Gericht, wenn es seine Unzuständigkeit versehentlich oder rechtsirrtümlich nicht erkannt hat, fortan als zuständig. 9 1 Ist aus der Sicht des Angeklagten bezüglich der in den §§ 6a und 16 S t P O normierten Zuständigkeitsfragen der Beginn seiner Einlassung zur Sache der maßgebliche Zeitpunkt, so bewirkt die im Geschäftsverteilungsplan enthaltene Zuständigkeitsperpetuierung eine Vorverlegung auf den Erlaß des Eröffnungsbeschlusses. In diesem Augenblick wird definitiv die Zuständigkeit des Spruchkörpers, soweit sie aus dem »» BGH, NStZ 1984, 181 f.; KK-Diemer, Rn 11; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 3 jeweils zu ξ 21e GVG; Niemöller, StV 1987, 316; Rieß, NStZ 1993, 250. Auf den noch früheren Zeitpunkt der Zustellung der Anklageschrift wurde abgestellt im Ausgangsverfahren zu BGH, NStZ 1984, 132. Vgl. auch BVerwG, NJW 1991, 1370. 90 OLG Köln, VRS 53 (1977), 276f. (selbst bei einem vom Betroffenen in der Hauptverhandlung erklärten Einverständnis, von dem nach dem Geschäftsverteilungsplan unzuständigen Richter abgeurteilt zu werden); KMR-Müller, § 269 Rn 2; G. Schäfer, Praxis, Rn 502; s. auch BGHSt. 27, 99 (102) und Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 269 Rn 6. Bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens kann (selbst bei einer im Geschäftsplan enthaltenen Perpetuierungsklausel) auch die Staatsanwaltschaft die Anklage zurücknehmen (§156 StPO), um das Verfahren vor den an sich zuständigen Spruchkörper zu bringen; BGH, NStZ 1984, 132 mit Anm. Hilger; Meyer-Goßner a.a.O. § 156 Rn 2. 91 Nicht - wie hier - als zum Rügeverlust führende Fiktion, sondern als Heilung (das Gericht „wird ... von Rechts wegen" zuständig) wird dieser Vorgang gedeutet bei KK-Pfeiffer, Rn 2 und LR -Wendisch, Rn 4 jeweils zu § 6a. Vgl. auch oben 7. Kap. IV. (a.E.).
328
Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
Geschäftsverteilungsplan folgt, festgestellt (bzw. fingiert), und es sind nicht allein weitere Überlegungen des erkennenden Gerichts zu dieser Frage entbehrlich, sondern darüber hinaus auch entsprechende Einwände des Angeklagten unerheblich. Mit Blick auf § 336 S. 2 StPO könnte ein Umstand, der mit dem Erlaß des Eröffnungsbeschlusses seine Fehlerhaftigkeit verliert, grundsätzlich auch nicht als Revisionsgrund zur späteren Aufhebung des Urteils führen. Dieser Aspekt kann auch durch den Hinweis auf die Tatsache nicht entkräftet werden, daß die fehlerhafte Anwendung des Geschäftsverteilungsplans nach herrschender Auffassung nur bei (objektiv) willkürlichen Verletzungen die Revision begründet, der bloße error in procedendo hingegen (auch) revisionsrechtlich unbeachtlich ist. 92 Selbst wenn man die Richtigkeit der Willkürformel im revisionsrechtlichen Kontext unterstellt, bliebe zu bedenken, daß angesichts der Bedeutung des Art. 101 I 2 G G ein Verstoß gegen das Willkürverbot teilweise bereits dann angenommen wird, wenn die Abweichung vom Geschäftsverteilungsplan ohne hinreichenden Grund, und sei es versehentlich, erfolgt. 93 Beläßt eine solche Betrachtungsweise der Revision prinzipiell durchaus einen nennenswerten Anwendungsbereich, so liegt es in der Konsequenz einer Anerkennung der Zuständigkeitsperpetuierung, alle Fälle einer nur versehentlich unrichtigen Anwendung des Geschäftsverteilungsplans für unbeachtlich zu erklären, da selbst eine Differenzierung zwischen einem leichten und einem groben Ubersehen bei der Handhabung des Geschäftsverteilungsplans den intendierten Entlastungseffekt weitgehend wieder zunichte machen würde. 9 4 Sogar der zu Beginn der Hauptverhandlung erfolgende Hinweis auf eine offensichtliche Fehlerhaftigkeit müßte vom Gericht sehenden Auges ignoriert werden, weil ein Befassen mit dieser Frage durch den Geschäftsverteilungsplan selbst apodiktisch abgeschnitten ist. 95 Damit wird die revisionsrechtliche Situation des Angeklagten über das durch die Willkürformel bewirkte M a ß hinaus zusätzlich verschlechtert. Die auf den Zeitpunkt der Eröffnung des Hauptverfahrens bezogene geschäftsplanmäßige Zuständigkeitsperpetuierung wahrt somit zwar die durch Art. 101 I 2 G G gegenüber der Staatsanwaltschaft gebotene Prüfungskompetenz; sie erscheint aber als zweifelhaft im Hinblick auf die Verschlechterung der Situation des Angeklagten. 9 6 In diesem Zusammenhang ist ferner darauf hinzuweisen, daß sich die beiden zum Vergleich herangezogenen Gesetzesvorschriften der §§ 6a und 16 StPO ungeachtet der übereinstimmenden zeitlichen Zäsuren insofern unterscheiden, als die Zuständigkeit der gesetzlich normierten besonderen Strafkammern nur vor dem Landgericht bedeutsam werden kann, w o dem Angeklagten ein Verteidiger zur Seite steht (vgl. § 140 I Nr. 1 StPO). Die örtliche Zuständigkeit ist hingegen in jedem Verfahren von Bedeutung; deshalb trifft die in § 16 92 Vgl. an dieser Stelle nur Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 338 Rn 6; LR-iC Schäfer, § 16 GVG Rn 16 (mit zahlreichen weiteren Nachweisen), 21 ff. « LR-Hanack, § 338 Rn 23; BayObLG, StV 1981, 511; 1999, 586; BayObLGSt. 1977, 141 (143); s. auch BGHR, StPO § 338 Nr. 1 - Beisitzer 5. 94 In durchaus vergleichbarem Sinne verweist der B G H (NJW-RR 1992, 902 [903]) darauf, daß es gerade der Sinn der in § 281 II 5 Z P O angeordneten Bindungswirkung sei, zur Vermeidung unnötiger Zuständigkeitsstreitigkeiten selbst sachlich unrichtige Verweisungsbeschlüsse zu decken. 95 Faktisch würde dem Eröffnungsbeschluß insoweit eine heilende Wirkung beigelegt; vgl. aber auch oben 7. Kap. IV. (a.E.). 96 Unbedenklich wäre insoweit allerdings die Klausel, daß nach Einreichung der Anklageschrift eintretende Namensänderungen unberücksichtigt bleiben.
12. Kapitel: Die Verteilung der Rechtsprechungsaufgaben ( sachliche Geschäftsverteilung )
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StPO normierte Präklusion gegebenenfalls auch den unverteidigten Angeklagten, der von seiner Rügebefugnis keine Kenntnis hat. Auch die Frage der Zuständigkeit nach dem Geschäftsverteilungsplan stellt sich in jedem Verfahren. Eine Zuständigkeitsperpetuierung, die den Eröffnungsbeschluß zur maßgeblichen Scheidelinie erhebt, würde diesen Faktor des gesetzlichen Richters für eine Vielzahl der Fälle praktisch wertlos machen. Insoweit ist zu betonen, daß dem Angeklagten faktisch nicht allein die Revisionsmöglichkeit (also die mit hohem Aufwand verbundene vollständige Wiederholung des Verfahrens), sondern auch die ungleich schonendere Korrekturmöglichkeit durch eine formlose Abgabe innerhalb des Gerichts genommen wird. 97 In der Regelung des § 16 StPO spiegelt sich eine gewisse Robustheit des Gesetzgebers, dem es auf die Einhaltung der örtlichen Zuständigkeit offensichtlich nicht sehr ankommt. 9 8 Diese Beurteilung dürfte maßgeblich von der Vorstellung beeinflußt sein, daß die Gerichte gleicher Stufe einander grundsätzlich gleichwertig sind. Eine solche Sichtweise ist problematisch, da sie den gewachsenen Bedeutungsgehalt des Grundsatzes vom gesetzlichen Richter nicht ausschöpft, der sich gerade auch auf die unvermeidbare Subjektivität jeder Rechtsanwendung gründet. 99 Mag man dennoch die in § 16 StPO getroffene Regelung für verfassungsgemäß halten, weil dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung dieser Verfassungsnorm ein relativ weiter Spielraum zur Berücksichtigung von Funktionalitätsinteressen zuzubilligen ist, so wird man die Zulässigkeitsgrenze als überschritten ansehen müssen, wenn das demokratisch ungleich schwächer legitimierte Präsidium eines Gerichts die Zuständigkeitsproblematik durch eine Perpetuierungsklausel bereits für abschließend erledigt erklärt, bevor der Angeklagte vor Gericht erscheint. Bei einer verfassungsrechtlich orientierten Betrachtungsweise ist die sich aus dem Geschäftsverteilungsplan ergebende Zuständigkeitskomponente der örtlichen oder der sich aus einer gesetzlichen Geschäftsverteilung ergebenden Zuständigkeitsproblematik durchaus vergleichbar. Im Justizaufbau stehen die jeweiligen Spruchkörper auf derselben Gerichtsstufe grundsätzlich nebeneinander; der für strafprozessuale Belange vom Gesetzgeber in § 74e G V G fingierte Vorrang der besonderen Strafkammern fällt demgegenüber im Licht des Art. 1 0 1 1 2 G G nicht entscheidend ins Gewicht. Dann markiert das Regelungsmodell der §§ 6a, 16 StPO aber zugleich die Grenze, bis zu der auch das Präsidium im Effektivitätsinteresse die Rechtsposition des Angeklagten bei der Durchsetzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter zurückdrängen darf. Hiergegen läßt sich auch nicht einwenden, daß dem Geschäftsverteilungsplan nach vorherrschender (aber durchaus bestrittener) Auffassung 100 keine Rechtsnormqualität zukommt. Diese These wäre allein für die Revisionsmöglichkeit von Belang, während die Perpetuierungsklausel dem Betroffenen (nach Erlaß des Eröffnungsbeschlusses) jegliche Korrekturmöglichkeit versagt. Ferner läßt sich nicht bestreiten, daß im verfassungsrechtlichen Kontext der Geschäftsverteilungsplan sehr wohl als materielle Rechtsnorm anzusehen ist, mittels derer die Wegstrecke von den formellen
97 Insoweit wäre eine Korrektur hier sogar leichter möglich als im Falle der örtlichen Unzuständigkeit, bezüglich derer die herrschende Meinung eine Verweisung (wegen des Wahlrechts der Staatsanwaltschaft) für unzulässig hält; vgl. B G H S t . 2 3 , 7 9 ( 8 2 ) ; Kleinknecbt/Meyer-Goßner, Rn 4 (m.w.N.); KK-Pfeiffer, Rn 4 jeweils zu § 16.
Bohnert, Beschränkungen, S. 4 5 . " Vgl. oben 4. Kap. I. (zu Fn 2 2 f f . ) und IV.l (zu Fn 8 2 f f . ) . '«» Vgl. LR-Hanack, § 3 3 7 Rn 13; § 3 3 8 Rn 2 3 ; ferner Marquardt, setzlicher Richter, S. 5 6 ff. 98
M D R 1 9 5 8 , 2 5 5 und Scupin, Ge-
330
Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
Gesetzen zum im Einzelfall zur Entscheidung berufenen Richter überbrückt wird. Schließlich spricht für die hier vertretene Betrachtung auch der Vergleich mit der für die Gerichtsbesetzung in § 2 2 2 b StPO normierten Präklusionsregelung. Wenn der Angeklagte (nach vorheriger Mitteilung und mit einem Verteidiger) bis zur Vernehmung des ersten Angeklagten zur Sache geltend machen kann, daß der Spruchkörper unzutreffend besetzt sei, dann muß er bis zu diesem Zeitpunkt erst recht rügen können, daß dieser Spruchkörper überhaupt unzuständig ist. Wägt man diese Argumente gegen die geringe Effektivitätseinbuße ab, die durch die Verlängerung der Rügemöglichkeit entstünde, so ist im Ergebnis festzuhalten, daß eine Zuständigkeitsperpetuierung im Geschäftsverteilungsplan nur mit der Maßgabe angeordnet werden darf, daß dem Angeklagten die Geltendmachung der sich aus dem Geschäftsverteilungsplan ergebenden Unzuständigkeit des Spruchkörpers bis zum Beginn seiner Vernehmung zur Sache 101 in der Hauptverhandlung erhalten bleibt. Geradezu lückenlos (nach hier vertretener Ansicht freilich unzulässig) ist der Rügeausschluß im Geschäftsverteilungsplan des Amtsgerichts Berlin-Tiergarten102 geregelt: Hiernach bleibt die Abteilung, die mit der Bearbeitung der Sache begonnen hat (u.a. durch Mitteilung der Anklageschrift gemäß § 201 StPO), für die weitere Bearbeitung zuständig, auch wenn ihre Unzuständigkeit von vornherein bestand oder erst nachträglich eintritt; ferner ändert sich diese Zuständigkeit auch nicht durch eine Klagerücknahme und erneute Anklage seitens der Staatsanwaltschaft, 10 ' sofern der Kreis der Angeschuldigten und der Verfahrensgegenstand gleich bleiben. 104 Eine so rigorose Perpetuierung kommt einer Bindung an die Anklageschrift zumindest nahe, da nahezu jeder Schreibfehler letztlich zuständigkeitsbegründend wirkt. 105
2.
Bindende W i r k u n g v o n A b g a b e n
Eine weitere Möglichkeit, dem Auftreten negativer Kompetenzkonflikte durch eine entsprechende Gestaltung des Geschäftsverteilungsplans entgegenzusteuern, besteht in der Aufnahme einer Regelung, durch welche einer Abgabe zwischen den einzelnen Spruchkörpern des Gerichts bindende Wirkung beigelegt wird. Eine solche Klausel wird zu
101 Da die §§ 6a und 16 StPO das einschlägige normative Vorbild darstellen, erscheint es unzulässig, auf den Beginn der Vernehmung des ersten Angeklagten (vgl. § 222b I 1 StPO) abzustellen. 102 Vgl. oben Fn 9 f.; a.a.O. Allgemeiner Teil, 2. Abschnitt IV. Vgl. hierzu oben Fn 89. 104 Eine Ausnahme gilt bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens allein bezüglich jener Sachen, für die eine Sonderabteilung zuständig ist. 105 Man wird geneigt sein, die Unterstellung eines absichtlichen Schreibfehlers seitens der Staatsanwaltschaft als rein theoretische Manipulationsgefahr beiseite zu lassen. Immerhin ist dem Zivilrecht ein entsprechendes anwaltliches Verhalten offensichtlich nicht fremd (vgl. Konrad, in: „Die Zeit", Nr. 36 vom 29.8.1997, S. 31; s. auch Weyrauch, Gesellschaftsbild, S. 264ff.). Vgl. auch den (gegen das Rotationsprinzip gerichteten) Hinweis von Engelhardt (DRiZ 1982, 421), daß die Staatsanwaltschaft alle Anklagen erhebt und damit zwangsläufig über die Reihenfolge bestimmt. Festzuhalten ist, daß selbst bei Vernachlässigung des Mißbrauchsgedankens die oben im Text entwickelte Überlegung einer den §§ 6a und 16 StPO vergleichbaren Korrekturmöglichkeit Geltung beansprucht.
12. Kapitel: Die Verteilung der Rechtsprechungsaufgaben ( sachliche Geschäftsverteilung )
331
Recht allgemein für zulässig gehalten. 1 0 6 Zwar regeln jene Normen der Strafprozeßordnung, die eine Verweisung zum Gegenstand haben, nur das Verhältnis zwischen Spruchkörpern mit (zumindest fingierter) unterschiedlicher Ranghöhe. 1 0 7 Hieraus ist aber nicht im Gegenschluß zu folgern, daß eine bindende Verweisung zwischen gleichrangigen Spruchkörpern unzulässig sei. Vielmehr entfallen lediglich die aus dem divergierenden Rangverhältnis resultierenden Verweisungshindernisse. 1 0 8 Es ist dem Präsidium aber unbenommen, z . B . in Anlehnung an den Rechtsgedanken des § 2 0 9 a StPO auch den rein geschäftsplanmäßigen Spezialspruchkörpern eine Kompetenzkompetenz gegenüber den allgemeinen Buchstabenkammern einzuräumen 1 0 9 oder jeder Verweisung zwischen gleichrangigen Spruchkörpern eine Bindungswirkung beizulegen. Hierdurch wälzt das Präsidium weder ihm speziell kraft Gesetzes übertragene Aufgaben bei der Bestimmung des gesetzlichen Richters ab, noch erleidet der Angeklagte hierdurch eine Rechtseinbuße, die über das ihm von der StPO zugemutete M a ß hinausgeht. Dies gilt um so mehr, als ein (objektiv) willkürlicher Verweisungsbeschluß nach allgemeiner Ansicht keine bindende Wirkung entfaltet und dieser Mangel auch vom Revisionsgericht zu beachten ist. 1 1 0
3.
Einstimmigkeitserfordernis und Zweckmäßigkeitsvorbehalt
Schließlich ist noch kurz auf zwei Klauseln in Geschäftsverteilungsplänen einzugehen, die auf eine Erschwerung der Abgabemöglichkeiten gerichtet sind und deren Rechtmäßigkeit im Schrifttum kontrovers diskutiert wird. Die erste Hürde ist prozeduraler Art. Hierbei geht es um die Regelung, daß ein Spruchkörper, bei dem eine Sache anhängig ist, diese nur dann an einen anderen Spruchkörper desselben Gerichts abgeben darf, wenn es dessen Zuständigkeit einstimmig für gegeben erachtet. 1 1 1 Soweit es um gesetzlich normierte Zuständigkeitsfragen geht, k o m m t ein vom Präsidium verfügtes Einstimmigkeitserfordernis im Hinblick auf § 1 9 6 I G V G („Das Gericht entscheidet, soweit das Gesetz 1™· Heintzmann, DRiZ 1975, 322 f.; P. Müller, JZ 1976, 588; LR-Rieß, § 209 Rn 9; LR-fC. Schäfer,
§ 2 1 e G V G Rn 19. ίο? [ ) j c gesetzliche Konzeption basiert auf dem Grundgedanken, daß bei der Eröffnung des Hauptverfahrens sowie im Zwischenverfahren dem höherrangigen (oder als solchem fingierten) Spruchkörper die Kompetenzkompetenz zufällt; er kann daher die Sache vor dem niederrangigen Spruchkörper eröffnen, während jener in der umgekehrten Konstellation zur Vorlage verpflichtet ist (§§ 2 0 9 , 2 0 9 a , 2 2 5 a S t P O ) . Nach Beginn der Hauptverhandlung ist dem höheren Gericht eine Verweisung nach unten verwehrt, während nunmehr das Gericht niedrigerer Ordnung an jenes höherer Ordnung mit bindender Wirkung verweisen kann (§§ 2 6 9 , 2 7 0 S t P O ) . Vgl. auch Rieß, NJW 1 9 7 8 , 2 2 6 6 f f . ; ders., in: LR, § 2 0 9 Rn 2 sowie Hohendorf, N S t Z 1 9 8 7 , 3 9 2 f. 108
LK-Gollwitzer, Rn 3; Kleinknecht/Meyer-Goßner, LR-Rieß, § 209 Rn 9.
Rn 6 jeweils zu ξ 269.
ι»' KK-Engelhardt, § 2 7 0 Rn 2 6 , 31 ff. Vgl. ferner B G H S t . 2 9 , 2 1 6 ( 2 1 9 ) ; 4 5 , 5 8 ff.; Michel, JuS 1 9 9 3 , 7 6 6 f . ; SK/StPO-Schlächter, § 2 7 0 Rn 2 5 f f . ( 2 8 ) und Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 2 7 0 Rn 2 0 i.V.m. Einl. Rn 105 sowie zum Zivilrecht Zöller/Greger, Z P O , Rn 16 f.; Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach, Z P O , Rn 3Off. ( 3 8 f f . ) jeweils zu § 2 8 1 ; E. Schneider, N J W 1 9 6 8 , 9 6 f. Freilich ist nicht zu verkennen, daß eine im Geschäftsverteilungsplan enthaltene Bindungsklausel faktisch eine Anhebung der Willkürschwelle bewirken könnte (vgl. oben Fn 9 4 ) , doch bliebe auch dieser Effekt im Rahmen der vergleichbaren Gesetzesnormen. " i Für zulässig gehalten von Heintzmann, 1976, 588.
D R i Z 1 9 7 5 , 3 2 2 f . ; ablehnend hingegen P. Müller,
JZ
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Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
nicht ein anderes bestimmt, mit der absoluten Mehrheit der Stimmen.") von vornherein nicht in Betracht. D o c h auch im Bereich der allein die Auslegung des Geschäftsverteilungsplans betreffenden Zuständigkeit folgt aus der Befugnis des Präsidiums, die Geschäfte zu verteilen, nicht zugleich die Kompetenz, von der Vorschrift des § 1 9 6 I G V G zu befreien. Vielmehr ist auch die Bestimmung dieses Zuständigkeitselements Rechtsanwendung, und sowohl die Stellung des § 1 9 6 I G V G im Gesetz als auch der Wortlaut dieser Vorschrift lassen erkennen, daß er als allgemeiner Grundsatz jegliche Form der Rechtsanwendung beherrscht, soweit nicht der Gesetzgeber selbst ausdrücklich eine Ausnahme 1 1 2 normiert. Eben dies ist nicht geschehen; es wäre zudem wenig überzeugend, daß ein Spruchkörper sich zwar mit einfacher Mehrheit für sachlich oder örtlich unzuständig erklären könnte, aber nur einstimmig seine Unzuständigkeit nach dem Geschäftsverteilungsplan feststellen dürfte. 1 1 3 Eine für die Abgabe innerhalb des Gerichts vorgeschriebene Einstimmigkeitsklausel ist deshalb unwirksam, ohne daß es des argumentativen Rückgriffs auf die Ebene des Verfassungsrechts 1 1 4 bedarf. Als weitere M a ß n a h m e zur Vermeidung von Kompetenzkonflikten wird eine Bestimmung im Geschäftsverteilungsplan für zulässig gehalten, nach welcher von der Abgabe an einen anderen Spruchkörper abgesehen werden kann, wenn die Abgabe „aus besonderen Gründen unzweckmäßig" erscheint. 1 1 5 D e m kann schon deshalb nicht zugestimmt werden, weil hier angesichts einer Häufung von Unbestimmtheiten eine präzise Vorausbestimmung des gesetzlichen Richters nicht mehr gegeben ist. 1 1 6 Insbesondere vermag aber auch der Hinweis auf die „besondere Bedeutung des Falles" als von der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Rahmen der sachlichen Zuständigkeit akzeptiertes Abgrenzungsmerkmal 1 1 7 nicht zu überzeugen. Selbst wenn man die „besondere Bedeutung" eines Falles als unbestimmten Rechtsbegriff ansieht, kann gleiches nicht für die im vorliegenden Kontext zum Bezugspunkt gewählte (auf „besonderen Gründen" beruhende) Unzweckmäßigkeit gelten. Denn die Beachtung von Zweckmäßigkeitserwägungen ist gerade ein Charakteristikum des (bei der Bestimmung des gesetzlichen Richters unzulässigen) Ermessens, 1 1 8 das ja nicht gleichbedeutend ist mit einer Ermächtigung zur Will-
Vgl. zu Ausnahmen im strafrechtlichen Bereich LR-K. Schäfer/Wickem, § 196 GVG Rn 1 ff. Hieran zeigt sich, daß nicht die besondere Bedeutung der zu treffenden Entscheidung, sondern das effizienzorientierte Bestreben einer Erschwerung als solches der maßgebliche Beweggrund für eine solche Regelung ist. Hierin spiegelt sich freilich zugleich die Geringschätzung für die Frage der (nur) gerichtsinternen Zuständigkeit; vgl. dazu auch oben l c (zu Fn 97). 114 Die von P. Müller (JZ 1976, 5 8 8 ) in den Vordergrund gerückten verfassungsrechtlichen Bedenken (Richterbestimmung aufgrund konkreter Entschließung zur Abgabe sei nur in der Hand eines richterlichen Gremiums hinnehmbar) vermögen demgegenüber nicht zu überzeugen. Die Beurteilung der Zuständigkeit nach dem Geschäftsverteilungsplan ist ein Fall der Rechtsanwendung, die auch von einem einzelnen Richter (z.B. beim Amtsgericht) vorgenommen werden kann. Überdies kann der Gesetzgeber (aber eben nur er) sogar vorsehen, daß die Meinung eines einzelnen Richters stärkeres Gewicht hat als die Mehrheitsauffassung im Richterkollegium (vgl. zu Zurückverweisung an die Kammer durch den Einzelrichter § 348 IV ZPO). 115 So Heintzmann, DRiZ 1975, 323. »« So zutreffend P. Müller, J Z 1976, 588. 117 Heintzmann, DRiZ 1975, 323. 118 Vgl. zur Unterscheidung von Rechts- und Zweckmäßigkeitskontrolle (im Verwaltungsrecht) Ule, Verwaltungsprozeßrecht, ξ 2 II 2 ( = S. 17f.). 112 113
12. Kapitel: Die Verteilung der Rechtsprechungsaufgaben ( sachliche Geschäftsverteilung )
333
kür. 119 Der Vergleich mit der „beweglichen" sachlichen Zuständigkeit vermag die genannte Schlußfolgerung mithin nicht zu stützen; 1 2 0 vielmehr wird gerade im Gegenteil unterstrichen, wie gefährlich es ist, wenn bedenkliche dogmatische Konstruktionen zum instabilen Fundament für einen weiteren juristischen Anbau gewählt wird. Überdies sieht die zur Diskussion gestellte Klausel vor, daß im Falle der (besonderen) Unzweckmäßigkeit von einer an sich gebotenen Abgabe abgesehen werden „kann"; ihrem Wortlaut nach räumt diese Formulierung dem zunächst mit der Sache befaßten Spruchkörper also ein unzulässiges Ermessen ein. Allerdings bliebe die betreffende Regelung selbst bei einer Interpretation im Sinne eines zwingenden Abgabeverbots aus den genannten Gründen verfassungswidrig. Freilich fällt die Effektivitätseinbuße, die den Gerichten durch die Verwerfung der diskutierten Klausel angesonnen wird, nicht nennenswert ins Gewicht, wenn man bedenkt, daß als plausibelster Grund für die Unzweckmäßigkeit einer Abgabe der Umstand in Betracht käme, daß der eine Abgabe erwägende Spruchkörper in den Fall bereits eingearbeitet ist und somit eine unnötige Doppelarbeit vermieden werden könnte, wenn die Rechtssache bei ihm verbliebe. Dieser Aspekt der Zuständigkeitsperpetuierung ist bereits oben (zu a) eingehend betrachtet worden, und die dort gewonnenen Erkenntnisse sind auch hier maßgebend. Eine Zuständigkeitsperpetuierung nach Beginn der Einlassung zur Sache in der Hauptverhandlung kann demnach ohne einen nebulösen „Zweckmäßigkeitsvorbehalt" im Geschäftsverteilungsplan verankert werden. Eine auf einen früheren Zeitpunkt bezogene Festschreibung der Zuständigkeit wäre (wie oben gezeigt) bei einer ausdrücklichen Klausel unzulässig; erst recht m u ß dies dann gelten, wenn dieses Ergebnis im Gewand einer unbestimmten Zweckmäßigkeitsbetrachtung herbeigeführt werden sollte.
Vgl. Weber-Petras, Ordnungs- und Sollvorschriften, S. 1 3 3 f. no Verfehlt ist auch der Hinweis von Heintzmann (a.a.O.), daß die Entscheidung der Staatsanwaltschaft bezüglich der besonderen Bedeutung nicht als zu unbestimmt angesehen wird, obgleich sie „nicht unter richterlicher Verantwortung erfolgt, während die Entscheidung über die Abgabe durch ein Gericht in richterlicher Unabhängigkeit getroffen wird". Die hiermit suggerierte Überlegenheit der gerichtlichen Abgabeentscheidung besteht nicht. Die Entschließung der Staatsanwaltschaft zur sachlichen Zuständigkeit unterliegt in jedem Fall der (vollumfänglichen) Kontrolle durch das (unabhängige) Gericht. Bei einer Bejahung der besonderen Bedeutung entgegen der Anklageschrift fungiert das höherrangige Gericht, dem die Sache gemäß § 2 0 9 II StPO vorzulegen ist, faktisch als Kontrollinstanz (diese Kontrolle entfällt zwar praktisch, wenn der Strafrichter zugleich Vorsitzender des zuständigen Schöffengerichts ist, doch bliebe selbst insoweit zu bedenken, daß nach Ansicht des B V e r f G [E 9 , 2 2 3 , 2 3 0 ] „niemand ... ein Unrecht dadurch [geschieht], daß er vor einem Gericht höherer Ordnung angeklagt wird"; s. hierzu jedoch kritisch unten 2 0 . Kap. 1.3 b.aa und 2 5 . Kap. III. 2 a ) . Eröffnet das Gericht umgekehrt abweichend von dem Antrag der Staatsanwaltschaft die Anklage g e m ä ß § 2 0 9 I StPO vor einem Gericht niedrigerer Ordnung, so steht der Staatsanwaltschaft das Recht zur sofortigen Beschwerde (§ 2 1 0 II S t P O ) zu. D e m g e g e n ü b e r kann die Staatsanwaltschaft die Abgabe an einen gleichrangigen Spruchkörper innerhalb desselben Gerichts mangels Beschwer nicht anfechten (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 2 1 0 Rn 4 ) . 119
13. Kapitel: Die Regelung des Vertretungssystems Die Besetzung der Spruchkörper und die Verteilung der Geschäftsaufgaben gewährleisten die Richterzuweisung für den idealtypischen Normalfall, daß alle Richter zur Ausübung der ihnen übertragenen Funktion imstande sind. Es ist freilich evident, daß Umstände wie Urlaub, Krankheit o. ä. der lückenlosen Einhaltung dieses Zuweisungssystems entgegenstehen. Um auch für den vorhersehbaren Fall der Verhinderung die Bereitstellung des gesetzlichen Richters zu gewährleisten, verpflichtet § 21e I GVG das Präsidium, die Vertretung gleichfalls durch abstrakt-generelle Bestimmungen im Geschäftsverteilungsplan zu regeln. Die Konkretisierung der aus dieser Pflicht resultierenden Anforderungen ist damit unmittelbar mit der Frage der Reichweite des Grundsatzes des gesetzlichen Richters verknüpft.
I.
Ringvertretung oder ad-hoc-Vertreterbestellung
Auch bezüglich der Vertretungsregelung gelten die allgemein bei der Geschäftsverteilung zu beachtenden Grundsätze des Abstraktions- und des Vollständigkeitsprinzips. Das bedeutet, daß für jeden Vertretungsfall grundsätzlich im voraus ein Vertreter im Geschäftsverteilungsplan eindeutig bestimmt sein muß. 1 Diese Aufgabe obliegt dem Präsidium bezüglich des Vorsitzenden gemäß § 21f II 1 GVG, im übrigen gemäß § 21e I GVG; 2 letzteres gilt jedoch nur insoweit, als die Vertretung nicht spruchkörperintern geregelt werden kann. 3 Über diesen einhellig anerkannten Ausgangspunkt hinaus ergeben sich Probleme zum einen bezüglich der Anzahl der zu bestellenden Vertreter, zum anderen hiermit zusammenhängend - hinsichtlich der Frage, was geschehen soll, wenn alle in der Vertretungsregelung aufgeführten Richter verhindert sind.
1.
Die R e c h t s l a g e zu § 6 7 G V G (a.F.)
Bis zur grundlegenden Umgestaltung der Präsidialverfassung und der Geschäftsverteilung im Jahre 1972 gab § 67 GVG (a.F.) dem Präsidenten das Recht, bei Verhinderung des regelmäßigen Vertreters einen zeitweiligen Vertreter zu bestimmen. Diese (nur bezüglich der Kollegialgerichte geltende) 4 Vorschrift wurde für notwendig erachtet, um die
1
Kissel, G V G , § 21e Rn 140; ders., StV 1993, 3 9 9 . Vgl. bezüglich des Amtsgerichts auch § 2 2 b G V G . 1 Insoweit ist § 21g G V G einschlägig; vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 7; M ü K o / Z P O - W o / / , Rn 40 jeweils zu § 21e G V G . 4 Für die Amtsgerichte sah § 2 2 b I 2 G V G - insoweit der heute allgemein geltenden Rechtslage 2
13. Kapitel: Die Regelung des Vertretungssystems
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Funktionsfähigkeit der Spruchorgane zu sichern und die Gefahr eines Rechtsprechungsnotstandes mit vorübergehender Justizverweigerung auszuschließen. 5 Zwar machte der B G H 6 deutlich, daß die dem Präsidenten eingeräumte Befugnis es nicht gestatte, dem Gericht eine im Vergleich zu der von ihm zu bewältigenden Geschäftslast zu geringe Zahl von Richtern zuzuweisen. Insbesondere gebe § 6 7 G V G (a.F.) dem Präsidenten kein „allgemeines ,Notverordnungsrecht', mit dessen Hilfe ein Landgericht beim ständigen Versagen des Geschäftsverteilungsplans ,regiert' werden könnte"; vielmehr handele es sich bei der Bestellung eines zeitweiligen Vertreters um eine außerordentliche M a ß nahme für den Fall, daß die Einhaltung eines im Regelfall hinreichenden Geschäftsverteilungsplans ausnahmsweise unmöglich sei. 7 Gleichwohl genügte es nach der damaligen Rechtslage, wenn für jedes ständige Mitglied mindestens ein Vertreter bestellt wurde; 8 allerdings wurde im Schrifttum 9 die Vorausbestimmung weiterer Vertreter im Geschäftsplan für wünschenswert erklärt.
2.
Der gegenwärtige Meinungsstreit
Auch nach der ersatzlosen Streichung des § 6 7 G V G (a.F.) halten sowohl die Rechtsprechung 1 0 als auch eine im Schrifttum vielfach vertretene Auffassung 1 1 die Bestimmung eines - nunmehr jedoch vorrangig vom Präsidium zu bestellenden - zeitweiligen Vertreters prinzipiell weiterhin für zulässig, doch fehlt es auch nicht an zahlreichen Gegenstimmen, 1 2 nach denen eine ad h o c erfolgende Vertreterbestellung rechtswidrig ist. Nähert man sich dem Problem auf der dogmatischen Ebene, so ist festzustellen, daß der frühere § 6 7 G V G zwei Aussagen enthielt: Z u m einen bot er eine Grundlage dafür, daß überentsprechend - eine Regelung der Vertretung durch den Geschäftsverteilungsplan vor; vgl. OLG Bremen, NJW 1965, 1447f.; Eb. Schmidt, Lehrkommentar III, §§ 22a-22c GVG Rn 8. 5 Moning, Geschäftsverteilung, S. 29; Rapp, Funktionen, S. 16 f. Zur Vereinbarkeit mit Art. 101 I 2 GG vgl. BVerfGE 31, 145 (163f.); BGHSt. 21, 40 (43f.). 6 BGHSt. 7, 205 (210); s. auch BGHSt. 8, 240 (242). 7 Aus diesem Ausnahmecharakter wurde zugleich gefolgert, daß es sich um eine keinen Aufschub duldende Notmaßnahme handeln müsse. Die Befugnis des Präsidenten galt somit nur subsidiär für den Fall, daß ein Präsidiumsbeschluß nicht rechtzeitig herbeigeführt werden konnte; OLG Düsseldorf, NJW 1961, 1319f.; VGH Kassel, DVB1. 1963, 72 (73); Dähne, Selbstverwaltung, S. 165f.; Gottscbalk, Gesetzlicher Richter, S. 96. 8 Rapp, Funktionen, S. 15; Eb. Schmidt, Lehrkommentar III, § 63 GVG Rn 18. 9 Beschränkt auf die Benennung eines zweiten Stellvertreters Marx, Gesetzlicher Richter, S. 47; £.G. Richter, JZ 1961, 691. Ohne eine solche Beschränkung Rapp, Funktionen, S. 15; s. auch BGHSt. 8, 240 (242). '» BVerfG, NJW 1982, 29; BGHSt. 27, 209 (210); BGH, GA 1979, 222 (223); BGH, NStZ 1986, 469; 1988, 36 (37); StV 1987, 286; 1988, 194f.; 1993, 397 und 398; OLG Hamm, JMB1NRW 1980, 67 f.; LG Berlin, StV 1994, 366 f. 11 Holch, JR 1978, 37 f.; Schorn/Stanicki, Präsidialverfassung, S. 88, 105 ff.; Albers, in: Baumbach/ Lauterbach, ZPO, Rn 6; KK-Diemer, Rn 8; Zöller/Gummer, ZPO, Rn 18; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 10; LR-K. Schäfer, Rn 14 jeweils zu ξ 21e GVG. 12 Kissel, StV 1993, 400; ders., GVG, Rn 143; Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, Rn 5; Schreiber, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, Rn 18; Thomas/Putzo, ZPO, Rn 23; MüKo/ZPO-Wo//", Rn 41 jeweils zu § 21e GVG; Kopp, VwGO, Rn 12a; P. Müller, NJW 1978, 899 f.; Reicht, Gesetzlicher Richter, S. 143 f.; Schilken, Gerichtsverfassungsrecht, Rn 375; s. auch v. Mutius, JK, GG Art. 101/1.
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Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
haupt zeitweilige Vertreter berufen werden konnten; zum anderen normierte er insoweit für die Kollegialgerichte die Zuständigkeit des Präsidenten. Die herrschende Auffassung verbindet mit der Streichung dieser Vorschrift allein den Wegfall der zweiten Aussage, während sie den ersten Teil unangetastet läßt.
a)
Die analoge Anwendung des § 22b II GVG
Da nach dem Wortlaut des § 2 1 e III G V G das Präsidium lediglich in den Fällen dauernder Verhinderung zur Reaktion (in Gestalt einer Änderung des Geschäftsverteilungsplans) berufen ist, k o m m t die Zuweisung eines ad-hoc-Vertreters nur unter der Prämisse in Betracht, daß § 21 e III G V G die Vertreterbestellungen nicht abschließend regelt. Wenig überzeugend ist insoweit der Hinweis auf § 21i II G V G . Denn die dort festgeschriebene Eilkompetenz des Präsidenten knüpft gerade an die dem Präsidium gemäß § 2 1 e G V G zustehenden Befugnisse an; es wäre somit zirkulär, aus der subsidiären Notzuständigkeit die entsprechende Primärkompetenz des Präsidiums ableiten zu wollen. 1 3 Auch aus § 2 1 f II G V G 1 4 läßt sich kein eindeutiges Bild gewinnen. Die in Satz 2 dieser Vorschrift enthaltene gesetzliche Anordnung der Reihenfolge will ad-hoc-Vertretungen erkennbar entgegenwirken, und wie zu verfahren ist, wenn alle Mitglieder eines Spruchkörpers an einer Vertretung des Vorsitzenden verhindert sind, ist durchaus umstritten. 1 5 Als denkbarer Anknüpfungspunkt k o m m t hiernach allein die für das Amtsgericht geltende Vorschrift des § 2 2 b II G V G in Betracht, nach welcher das Präsidium des Landgerichts einen Richter seines Bezirks längstens für zwei M o n a t e mit der Vertretung beauftragt, wenn an einem Amtsgericht die vorübergehende Vertretung durch einen Richter eines anderen Gerichts notwendig wird. O b eine auf diese N o r m gegründete Analogie 1 6 tragfähig erscheint, läßt sich ebenfalls bezweifeln. Sieht man eine solche zeitweilige Vertretung nur als „nötig" im Sinne dieser Bestimmung an, wenn eine gerichtsinterne Vertretung innerhalb des Amtsgerichts ausgeschlossen ist, weil alle an diesem Gericht tätigen Richter verhindert sind, 17 dann modifiziert § 2 2 b II G V G die Regelung der §§ 7 0 I, 117 G V G . Eine Lesart, nach welcher die zeitweilige Vertretung auch dann „nötig" sein soll, wenn die im Geschäftsverteilungsplan des Amtsgerichts getroffene Vertreterregelung erschöpft ist (aber weitere Richter dieses Gerichts von dieser Regelung nicht erfaßt sind), bedürfte ihrerseits der Begründung und eignet sich daher kaum als Analogiebasis.
So die zutreffende Kritik von Holch (JR 1978, 37f.) gegenüber BGHSt. 27, 209 (210). Unter Berufung auf (u.a.) diese Norm verneint das OLG Hamm (JMB1NRW 1980, 67) den abschließenden Charakter des § 21 e III GVG für die Frage der Vertreterbestellung. 15 Im zivilprozessualen Schrifttum wird überwiegend angenommen, daß der dienstälteste regelmäßige Vertreter aus anderen Spruchkörpern den Vorsitz führt; Albers, in: Baumbach/Lauterbach, ZPO, Rn 7; Zöller/Gummer, ZPO, Rn 7; Schreiber, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, Rn 5; MüKo/ZPO-Wolf, Rn 5; ebenso LR-K. Schäfer, Rn 27 alle zu § 21f GVG. Für eine Vertreterbestellung durch das Präsidium gemäß § 21e GVG (bzw. durch den Präsidenten gemäß § 21i II GVG) Kissel, GVG, Rn 13; KK-Diemer, Rn 3; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 14; s. auch Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, Rn 4 alle zu § 21f GVG. BGHSt. 21, 40 (42) hält beide Varianten für zulässig (freilich bezüglich der alten Gesetzeslage). 16 Hierfür Holch, JR 1978, 38; Stanicki, DRiZ 1973, 124; Albers, in: Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 21e GVG Rn 6. 17 Zöller/Gummer, ZPO, § 22b GVG Rn 2; vgl. auch MüKo/ZPO-Wolf, % 70 GVG Rn 1. 13
14
13. Kapitel: Die Regelung des Vertretungssystems
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Auch die Gesetzesmaterialien 18 sind insoweit unergiebig. Ihnen läßt sich lediglich entnehmen, daß § 2 2 b G V G als Sonderregelung für die kleinen Amtsgerichte angesehen wurde. Hieraus mag man den Schluß ziehen, daß der Gesetzgeber ein entsprechendes Bedürfnis bei den Kollegialgerichten verneint habe, weil er davon ausgegangen sei, daß dort genügend Richter vorhanden seien, um in ausreichender Zahl ständige Vertreter bestellen zu können. 1 9 Selbst wenn man hieraus folgert, der Gesetzgeber habe die Bestellung zeitweiliger Vertreter an Kollegialgerichten nicht bewußt ausschließen wollen, wird die Argumentation bezüglich des nächsten Gedankenschritts brüchig, daß der Gesetzgeber die so konstruierte Lücke wohl geschlossen hätte, wenn er auch für Kollegialgerichte das Bedürfnis für die Bestellung eines zeitweiligen Vertreters vorausgesehen hätte. 2 0 Diese Begründung ist dem Verdacht ausgesetzt, den Gesetzgeber korrigieren zu wollen, indem sie ein Bedürfnis für die Bestellung zeitweiliger Vertreter bejaht, wo dem Gesetzgeber eine Regelung durch ständige Vertreter möglich erschien. Zumindest ist der Grat, der zwischen einem vom Gesetzgeber nicht gesehenen und einem von ihm aufgrund abweichender Beurteilung verneinten Bedürfnis für die Bestellung zeitweiliger Vertreter liegt, denkbar schmal. Angesichts dieses Befundes liegt die Vermutung nahe, daß die analoge Anwendung des § 2 2 b II G V G nur denjenigen überzeugt, der diese Lösung auch rechtspolitisch für geboten (oder doch zumindest für wünschenswert) hält. Diese Bereitschaft, die Bestellung eines ad-hoc-Vertreters zu tolerieren, ist um so größer, je stärker man dem Interesse an einer sachgerechten und raschen Durchführung des Verfahrens Raum gibt und je mehr man eine alle Verhinderungsmöglichkeiten berücksichtigende ständige Vertretungsregelung als Ausdruck eines überspitzten Perfektionismus ansieht. Umgekehrt mündet die Forderung nach strikter Beachtung des Grundsatzes der abstrakten Vorausbestimmung des Richters in eine Sichtweise, die die ad-hoc-Bestellung eines Vertreters für inakzeptabel erklärt. Wird in diesem Antagonismus einmal mehr der Grundkonflikt zwischen Formalstrenge und Effizienzstreben deutlich, so ist andererseits zu konstatieren, daß die praktischen Konsequenzen des Widerstreits weniger stark divergieren, als der prinzipielle Gegensatz vermuten läßt.
b)
Die Unzulässigkeit einer ad-hoc-Vertreterbestellung bei unzulänglicher Vertretungsregelung
Hierfür ist insbesondere der Umstand von Bedeutung, daß die Rechtsprechung 2 1 inzwischen strengere Maßstäbe anlegt und die Bestellung eines zeitweiligen Vertreters nur ausnahmsweise zuläßt. Für voraussehbare vorübergehende Verhinderungen oder Uberlastungen einzelner Richter muß die im Jahresgeschäftsverteilungsplan enthaltene Vertreterregelung ausreichende Vorsorge treffen. 22 Beruht die Notwendigkeit, einen weiteren ι» Vgl. BR-Drucks 6 5 0 / 6 9 , S. 9 und BT-Drucks V I / 5 5 7 , S. 4, 18 (jeweils zu Art. 2 Nr. 8 [ = § 2 2 b GVG]). » Holch, J R 1 9 7 8 , 3 8 . 20 So Holch aaO. Vgl. zum Folgenden B G H , GA 1979, I I I ( 2 2 3 ) ; B G H , NJW 1986, 1884f.; B G H , StV 1987, 2 8 6 ; 1988, 194f.; B G H , NStZ 1988, 36 ( 3 7 ) ; O L G Hamm, JMB1NRW 1980, 67; LG Berlin, StV 1994, 3 6 6 f. 22 Ferner ist allgemein anerkannt, daß der Vertretungsplan auch festlegen muß, in welcher Reihen-
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Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
Vertreter zu suchen, auf der Unzulänglichkeit des Geschäftsverteilungsplans, der von vornherein zu wenige Vertreter zur Verfügung stellt, um den absehbaren Verhinderungsproblemen angemessen Rechnung zu tragen, dann darf Abhilfe nicht durch die Einzelbestellung eines Vertreters geschaffen werden, sondern es bedarf der auf Dauer angelegten, den Anforderungen des § 21 e G V G gerecht werdenden Erweiterung der Vertreterreihe. Hier berührt sich die prinzipiell großzügigere mit der strengeren Auffassung; denn auch im Lager derjenigen Autoren, die eine ad-hoc-Bestellung von Vertretern ablehnen, wird es teilweise ausdrücklich zugelassen, die eingetretene Notsituation zum Anlaß für eine Ergänzung der vorhandenen Vertreterregelung zu nehmen. 2 3 Auch auf dem Boden dieser Ansicht wird der Vertreter in der konkreten Ausgangslage also ad hoc, d. h. in Kenntnis eines bestimmten Einzelfalles bestellt. Die Resultate beider Auffassungen stimmen hiernach in jenem Teilbereich überein, der nach den Kriterien der Rechtsprechung als unzulängliche Vertreterregelung anzusehen ist; jenseits dieses Bereichs besteht der Unterschied allein darin, daß die Feststellung des Vertreters mittels allgemeiner Kriterien und mit bindender Wirkung für die Zukunft erfolgen muß.
c)
Das Modell der Ringvertretung
Deutlichere konzeptionelle Diskrepanzen ergeben sich hingegen, wenn man nicht nur eine Vertreterkette, sondern eine sog. Ringvertretung für zwingend geboten erachtet, die alle Richter des betreffenden Gerichts erfaßt. 2 4 Ein so gestalteter Vertretungsplan macht ad-hoc-Vertreterbestellungen von vornherein entbehrlich, da jeder überhaupt als Vertreter in Betracht kommende Richter bereits vor Eintritt des Verhinderungsfalles seinen Platz im Vertretungsmodell zugewiesen b e k o m m e n hat. Es ist offensichtlich, daß die lückenlose Ringvertretung dem Anliegen der Gewährleistung des gesetzlichen Richters in optimaler Weise Rechnung trägt; daher wird dieses Vertretungssystem auch von solchen Autoren 2 5 als wünschenswert angesehen, die eine rechtliche Verpflichtung des Präsidiums zur Installation dieses Modells verneinen. Freilich erscheint die Behauptung, daß dem Präsidium die Schaffung einer umfassenden Ringvertretung nicht zwingend vorgeschrieben sei, 2 6 als petitio principii. Zutreffend ist diese Auffassung nur dann, wenn man ein Recht zur Bestellung eines einstweiligen Vertreters anerkennt; eben dies ist aber aus den bereits dargestellten Gründen durchaus zweifelhaft. Dies gilt um so mehr, als die Möglichkeit der Ringvertretung gerade das Argument entkräftet, daß die Anerkennung einer ad-hoc-Vertreterbestellung zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Justiz zwingend erforderlich sei. 2 7 Es wäre auch zu einfach, das Problem durch den Hinweis erledigen zu wollen, das BVerfG habe sogar die im Ver-
folge die Mitglieder anderer Spruchkörper als Vertreter eintreten sollen; BGHSt. 12, 159 (160); BVerwG, DOV 1976, 746 (747; in concreto Auslegung durch „gewachsene Übung" ausreichend) OLG Hamm, NJW 1959, 114f.; LK-K. Schäfer, § 21e GVG Rn 14; Reichl, Gesetzlicher Richter, S. 142. 25 Kopp, VwGO, § 4 Rn 12a; P. Müller, NJW 1978, 899 f.; Thomas/Putzo, ZPO, § 21e GVG Rn 23. 24 Kissel, StV 1993, 400; ders., GVG, Rn 140; Schreiber, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, Rn 18; MüKo/ZPO-Wolf, Rn 41 jeweils zu § 21e GVG. " KK-Diemer, § 21 e GVG Rn 9; s. auch Albers, in: Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 21e Rn 6. 26 So Zöller/Gummer, ZPO, § 21 e Rn 18. 27 Das Argument der (vermeintlichen) Unverzichtbarkeit wurde bereits bezüglich § 67 GVG (a.F.) angeführt (s. oben zu Fn 5); kritisch hierzu Kellermann, Gesetzlicher Richter, S. 197 (Fn 256).
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gleich zur heute vorherrschenden Ansicht deutlich weniger strenge Rechtslage zu § 67 G V G (a.F.) verfassungsrechtlich gebilligt. Denn nach der gegenwärtigen Gesetzeslage ist die Bestellung eines zeitweiligen Vertreters begründungspflichtig; zudem kann die früher geäußerte Ansicht einen Anschauungswandel, der das Anliegen des Art. 1011 2 G G stärker zur Geltung bringt, nicht ausschließen. Damit lassen sich gegen das Erfordernis einer lückenlosen Ringvertretung letztlich ausschließlich Praktikabilitätserwägungen ins Feld führen. 28 Naturgemäß drohen - insbesondere an größeren Gerichten - umständlichere Formulierungen, die zu Lasten der Übersichtlichkeit gehen, wenn eine Ringvertretung so ausgestaltet werden soll, daß jeder Richter in genau bezeichneter Reihenfolge jeden anderen Richter des Gerichts vertritt. Diese Schwierigkeiten lassen sich durch die Aneinanderreihung mehrerer Vertreterringe jedoch so meistern, daß selbst die Berücksichtigung von Spezialkenntnissen bei einer schematischen Abfolge der Vertretungszuständigkeiten möglich bleibt. 29 Ist dieser organisatorische Mehraufwand mit der Einführung einer großen Ringvertretung untrennbar verbunden, so tritt als zusätzlicher Umstand hinzu, daß es im plötzlich eintretenden Verhinderungsfall aufwendiger sein kann, den nächstbereiten Vertreter in einer langen Kette ausfindig zu machen, als kurzerhand festzustellen, daß die Vertretungsregelung erschöpft ist und unter Inanspruchnahme der Eilkompetenz des § 21 i II G V G einen zeitweiligen Vertreter durch den Präsidenten zu bestellen. Dieses Bestreben, sich zum Zwecke eines effektiven Krisenmanagements einen gewissen Handlungsspielraum zu erhalten, dürfte für die Justizpraxis ein gewichtiges Argument darstellen, die mit einer lückenlosen Vorausbestellung der Vertreter verbundene Korsettierung zu vermeiden. 30 Dies gilt um so mehr, als die mit der Bestellung eines zeitweiligen Vertreters einhergehenden Manipulationsgefahren als vergleichsweise gering zu veranschlagen sind 31 (und nach dem Selbstverständnis der handelnden Justizakteure ohnehin außer Betracht bleiben können). Ungeachtet dieser nachvollziehbaren Überlegungen sprechen die besseren Gründe dafür, ein grundsätzliches Gebot zur Schaffung einer Ringvertretung anzunehmen. Das Gewicht der praktischen Erschwerungen hängt maßgeblich von der Größe des Gerichts
28 Vgl. zum Folgenden Kissel ( S t V 1 9 9 3 , 4 0 0 ) , der trotz dieser praktischen Schwierigkeiten für eine umfassende Ringvertretung eintritt. 29 Exemplarisch sei die Regelung im Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts R o s t o c k (für das J a h r 1 9 9 3 , unter C.I) angeführt: „ . . . 2 . Die 1. Strafkammer vertritt die 3 . Strafkammer, die 3 . Strafkammer vertritt die 2 . Strafkammer und die 2 . Strafkammer vertritt die 1. Strafkammer. Die 4 . und 5 . Strafk a m m e r vertreten sich gegenseitig. Die Kammern für Rehabilitierungsverfahren vertreten sich wechselseitig. 3 . Ist eine Vertretung nach den vorstehenden Regelungen nicht möglich, vertreten sich sämtliche Kammern untereinander in numerisch aufsteigender Reihenfolge, wobei an die 5 . Strafkammer die 1. Zivilkammer anschließt." Z u r Regelung am L G Aachen vgl. B G H , S t V 1 9 9 3 , 3 9 7 und 3 9 8 . 30 Wird z . B . die Vertretung eines Strafrichters durch die Heranziehung eines Zivilrichters erforderlich, so mag es aus der Sicht der Justizkreise sinnvoll erscheinen, dieses „Sonderopfer" derjenigen Zivilk a m m e r abzuverlangen, die zu seiner Erbringung in der konkreten Situation am ehesten in der Lage ist, anstatt „stur" den nach einer umfassenden Ringvertretung vorausbestimmten Beisitzer abzuziehen. Vgl. auch zur B e t o n u n g der besonderen Kenntnis des Präsidenten von den jeweiligen Gegebenheiten Münn, DRiZ 1973, 234.
" Schließlich k o m m t eine ad-hoc-Bestellung nur in Betracht, wenn sowohl der primäre gesetzliche Richter als auch alle im Geschäftsverteilungsplan vorgesehenen Vertreter verhindert sind. Sich unter diesen Voraussetzungen gezielt eine Einflußmöglichkeit auf die Richterbestellung in einem bestimmten Verfahren zu verschaffen, erscheint nahezu ausgeschlossen.
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Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
(und damit des Vertreterringes) ab. Insoweit ist zu berücksichtigen, daß keineswegs alle Vertretungsfälle plötzlich eintreten und daß bei sehr großen Gerichtsanstalten auch eine Entschärfung des Vertretungsproblems durch spezielle Vertretungsrichter 32 in Betracht zu ziehen ist. Soweit hiernach gewisse Unbequemlichkeiten verbleiben, sind diese grundsätzlich in Kauf zu nehmen, da das Prinzip des gesetzlichen Richters den Aspekt der eindeutigen Vorausbestimmung des zur Entscheidung berufenen Richters grundsätzlich über das allgemeine Interesse an einer reibungslosen Geschäftsabwicklung stellt. 33 Zudem beseitigt die Einführung einer Ringvertretung die auf dem Boden der herrschenden Meinung bestehenden Unsicherheiten darüber, wie weit eine Vertreterregelung gestaffelt sein muß, um den vorhersehbaren Verhinderungen in ausreichendem Maße Rechnung zu tragen. 34 Jede ad-hoc-Vertreterbestellung bedeutet eine nachträgliche Falsifizierung der ursprünglichen Prognose. 3 5 Ginge es der überwiegend vertretenen Auffassung nicht darum, bewußt Handlungsspielräume zu erhalten, sondern wäre ihr Anliegen vorrangig darauf gerichtet, eine Vorausbestimmung des Vertreters soweit als möglich zu gewährleisten, dann müßte sie eigentlich - nach dem Motto, daß das Bessere der Feind des Guten ist - das Ringmodell als Verwirklichung ihres Vorhabens übernehmen. Will man hingegen einen Rest an Flexibilität bewahren, ist der latente Zielkonflikt vorprogrammiert und eine diffuse Grauzone vielleicht sogar willkommen. Schließlich sollte nicht übersehen werden, daß die zugunsten des Präsidiums angenommene Befugnis zur Bestellung eines ad-hoc-Vertreters häufig auf eine bloße Billigung einer zuvor vom Präsidenten vorbereiteten Lösung hinausläuft, da der in Personalnot geratene Spruchkörper sich regelmäßig nicht an das Präsidium, sondern an den Präsidenten bzw. an dessen Sachbearbeiter wenden wird. 36 Es kommt hinzu, daß der Präsident auch zur Feststellung der (nicht offensichtlichen) Verhinderung sowohl des zunächst zuständigen als auch der als
" Vgl. R G , Η R R 1928, 2 3 2 8 ; P. Müller, Z R P 1971, 152; Scborn/Stanicki, Präsidialverfassung, S. 109 f.; kritisch jedoch Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, § 2 1 e Rn 5. 33 So auch Kissel, StV 1993, 4 0 0 ; Martens, M D R 1994, 1181; s. auch B G H S t . 12, 1 1 3 f f . (ausführlicherer Abdruck in N J W 1959, 110 f.). In diesem Zusammenhang läßt sich auch auf die oben diskutierte Interpretation des G e b o t s einer „möglichst eindeutigen" Bestimmung des gesetzlichen Richters verweisen; vgl. 8. Kap. III.5 (zu Fn 185ff.) und 12. Kap. I. l a (zu Fn 22ff.). 34 Der B G H hat die Bestellung von vier regelmäßigen Vertretern für drei ordentliche Mitglieder einer Strafkammer für unzureichend erklärt ( N S t Z 1988, 36; StV 1988, 194), die Vertretung durch Beisitzer aus drei anderen Strafkammern für ausreichend gehalten ( N S t Z 1986, 4 6 9 ) . Im Schrifttum werden für jedes Kammermitglied mindestens zwei Vertreter gefordert; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 21e G V G Rn 10. Obwohl sich diese Grenzziehungen nicht widersprechen, bleiben deutliche Unsicherheiten bestehen, weil der Wert einer Vertreterkette nicht nur von der Zahl der Vertretungsspruchkörper, sondern von weiteren Umständen (Besetzungsstärke, Sitzungstage, absehbare Geschäftsentwicklung, Anzahl der für die Vertretungssache angesetzten Termine) abhängt; vgl. Kissel, StV 1993, 4 0 0 ; L G Berlin, StV 1994, 3 6 6 f. 35 So hat sich am L G Aachen im Geschäftsjahr (mindestens) zweimal die (vom B G H gebilligte, vgl. StV 1993, 3 9 7 und 398 mit Anm. Kissel) Bestellung eines zeitweiligen Vertreters als notwendig erwiesen, obwohl der Geschäftsverteilungsplan eine alle Strafkammern umfassende Ringvertretung enthielt und deshalb für die jeweiligen Fälle 17 bzw. 20 regelmäßige Vertreter vorsah. Hieraus kann freilich nicht geschlossen werden, daß auch das Ringmodell unzureichend ist, sondern es ergibt sich als Konsequenz, daß der Vertreterring Zivil- und Strafrichter umfassen und damit bis an die Grenze des § 7 0 I G V G gehen muß.
«
P. Müller, N J W 1978, 900.
13. Kapitel: Die Regelung des Vertretungssystems
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Vertreter in Betracht kommenden Richter berufen ist. 3 7 Berücksichtigt man überdies, daß eine wirksame Kontrolle der a n g e n o m m e n e n Verhinderung und der Auswahl des ad h o c herangezogenen Vertreters im Rechtsmittelzug kaum möglich ist, 3 8 so ergibt sich auf dem Boden der herrschenden Auffassung eine beachtliche Machtkonzentration in der Hand des Präsidenten. Selbst wenn gezielte Manipulationen hierdurch nicht wahrscheinlich werden, ist d o c h zu bedenken, daß jeder vermeidbare Verdacht dem Ansehen der J u stiz schadet 3 9 und Art. 101 I 2 G G jede (sei es auch aus achtenswerten Motiven getroffene ) gewillkürte Richterbestellung nach Möglichkeit vermeiden will. 4 0 Im Hinblick auf das von Art. 1 0 1 1 2 G G intendierte Ideal einer gleichsam automatisch ablaufenden Richterbestellung erscheint eine Vertretungsregelung in Gestalt eines umfassenden Ringmodells mithin nicht nur als wünschenswert, sondern grundsätzlich auch als rechtlich geboten. Solange sich die Rechtsprechung diese Forderung nicht zu eigen m a c h t (und auch die Präsidien ihr nicht freiwillig n a c h k o m m e n ) , sollte zumindest die Bestellung eines zeitweiligen Vertreters nur in der F o r m einer Ergänzung der bestehenden Vertreterkette (also mit einer bindenden Wirkung für die Zukunft) zugelassen werden. 4 1 Dieser K o m p r o m i ß würde berücksichtigen, daß es insbesondere bei großen Gerichten als sinnloser Aufwand angesehen werden könnte, die Vertretung in den strafrechtlichen Spruchkörpern bis zum letzten Zivilrichter (und umgekehrt) zu normieren. Wird allerdings die Erwartung enttäuscht, mit einer weniger stark gestaffelten Regelung auszukommen, dann sollte dies grundsätzlich 4 2 als Signal für die Notwendigkeit einer Er-
37 Vgl. Kissel, GVG, Rn 145 f.; Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, Rn 5 jeweils zu § 21e (beide m.w.N.); Mürin, D R i Z 1 9 7 3 , 2 3 3 f. Vgl. ferner insbesondere zur Konstellation kollidierender Pflichten des Richters B G H S t . 18, 1 6 2 f f . ; 2 5 , 163 f.; B G H , D R i Z 1 9 8 0 , 147 ( 1 4 8 ) ; B G H , N S t Z 1 9 8 8 , 3 2 5 ; BayObLGSt. 1 9 7 7 , 141 ff.; O L G Schleswig, SchlHA (bei Ernesti/Lorenzen) 1985, 1 3 6 f . ; Kissel aaO. Rn 1 2 8 ; Lerch, D R i Z 1 9 8 8 , 2 5 5 f . ; Müller/Sax/Paulus, G V G , § 2 1 e Rn 13. Zu den praktischen Schwierigkeiten instruktiv die Entscheidungen der Dienstgerichte für Richter beim LG und O L G Frankfurt/Main, D R i Z 1 9 8 0 , 3 1 1 f. und 4 3 0 f.
Das Revisionsgericht ist auf die Prüfung sächlichen Voraussetzungen der Verhinderung ( 3 4 ) und 113 f.; 2 1 , 4 0 ( 4 2 ) ; B G H , N J W 1995, ( 6 8 ) ; Kissel, FS Rebmann ( 1 9 8 9 ) , S. 74; LR-K.
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des Rechtsbegriffs der Verhinderung beschränkt; die tatsind seiner Nachprüfung entzogen. Vgl. B G H S t . 12, 33 3 3 5 ( 3 3 6 [m.w.N.]); O L G Hamm, J M B 1 N R W 1980, 6 7 Schäfer, § 21f G V G Rn 19.
Kissel, StV 1993, 400.
Vgl. oben 12. Kap. I. l a . 41 Hiergegen läßt sich auch nicht einwenden, es sei dogmatisch widersprüchlich, einerseits eine Befugnis des Präsidiums zur Bestellung zeitweiliger Vertreter unter Hinweis auf den abschließenden Charakter des § 21e III G V G abzulehnen, andererseits aber eine Ergänzung der Vertreterkette zuzulassen. Denn insoweit folgt die Befugnis des Präsidiums aus seiner allgemeinen Pflicht, Mängel oder Lücken des Geschäftsverteilungsplanes ex nunc zu beheben; vgl. hierzu allgemein B G H , N S t Z 1981, 4 8 9 ; O L G Oldenburg; N S t Z 1985, 4 7 3 mit Anm. Rieß; Kissel, G V G , Rn 1 0 9 ; Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, Rn 9 (m.w.N.) jeweils zu § 21e. 4
»
42 Von einer solchen Pflicht zur Ergänzung der Vertreterregeln wären allerdings solche Fälle auszunehmen, bei denen der Auslöser ganz offensichtlich ein singuläres Ereignis (und kein allgemeines Krisensymptom) ist. Als Beispiel wäre insoweit die auf ξ 21 ί II G V G gestützte Bestellung weiterer Vertreter als Ermittlungsrichter im Nürnberger „ΚΟΜΜ''-Verfahren (vgl. BVerfG, N J W 1 9 8 2 , 2 9 ; s. hierzu auch auf mangelnde Willkür abstellend - BayVerfGH, N J W 1984, 1874 [1875]; kritisch Degenhardt, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts III, § 7 5 Rn 2 3 ; Kücbenhoff, in: Glaser, Die Nürnberger Massenverhaftung [ 1 9 8 1 ] , S. 153 f. [s. auch aaO. S. 8 7 ] ) zu nennen. Derartige exzeptionelle Ausnahmekonstellationen wären freilich auch bei einer umfassend ausgestalteten Ringvertretung anzuerkennen, da
342
Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
Weiterung der Vertreterkette angesehen werden; denn die Erfahrung lehrt, daß Wiederholungen der Überlastung des Vertretungssystems durchaus möglich sind. 43 Eine solche Pflicht, das Vertretungsmodell beim Auftreten von Störungsmeldungen nachzubessern, wäre zum einen eine Maßnahme zur Vertrauensbildung beim rechtsuchenden Publikum; sie würde zum anderen der Kritik eines zu unnützen Vorausplanungen nötigenden Perfektionsstrebens Rechnung tragen. Wer selbst diese Lösung noch für zu weitgehend hält, kann dies nur mit dem dezidierten Wunsch begründen, sich bewußt Handlungsspielräume offenzuhalten. Solche „weißen Flecken" auf der Landkarte der Richterbestimmung sind von Art. 101 I 2 GG aber jedenfalls dann nicht vorgesehen, wenn es nicht um die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege, sondern nur um einen möglichst bequemen Geschäftsbetrieb geht.
II.
Hilfsspruchkörper
1.
Der Hilfsspruchkörper als Vertretungsfall
Im Zusammenhang mit der Vertretungsregelung ist ferner die Erscheinungsform des Hilfsspruchkörpers (im strafrechtlichen Bereich insbesondere der Hilfsstrafkammer beim Landgericht) 44 zu erörtern. Obwohl eine gesetzliche Grundlage für dieses Rechtsinstitut fehlt, ist die grundsätzliche Existenzberechtigung dieses Gebildes heute nahezu einhellig45 anerkannt. Ihre Entstehung verdankt die Hilfsstrafkammer einer ständigen Rechtsprechung des Reichsgerichts, die vom BGH übernommen und auch nach der Umgestaltung der Präsidialverfassung im Jahre 1972 prinzipiell beibehalten wurde. 46 Die Einrichtung einer Hilfsstrafkammer kommt insbesondere dann in Betracht, wenn ein ordentlicher Spruchkörper angesichts einer nicht auf einzelne wenige Sachen beschränkten Verhinderung entlastet werden soll; 47 der häufigste Anlaß besteht darin, daß dieses Modell lediglich die Vertretung in den Spruchkörpern regeln würde, nicht aber auf die Tätigkeit der Ermittlungsrichter übertragen werden müßte. « S. oben Fn 35. 44 Zwar kommt der Hilfsstrafkammer die größte praktische Relevanz zu, doch können Hilfsspruchkörper grundsätzlich zu allen Spruchkörpern gebildet werden (z.B. also auch Hilfsstrafsenate beim OLG oder Hilfsspruchkörper in Zivilsachen); vgl. Schorn/'Stanicki, Präsidialverfassung, S. 141; Katholnigg, JR 1983, 520. In Abgrenzung zur Hilfsstrafkammer wird der ordentliche Spruchkörper auch als „institutionelle" Kammer (BGHSt. 31, 157 [158|, 389 [391]) oder als „Hauptspruchkörper" (BGHSt. 41, 175 [178, 180]; OLG Hamm, JMB1NRW 1982, 45 [47]; Meinen, Heranziehung, S. 61) bezeichnet. Vgl. auch Hamm, StV 1981, 38 („Stammkammer") und Kohlbaas, LM Nr. 12 zu § 64 GVG („Normalkammer"). « Prinzipielle Kritik äußert Frisch (NStZ 1987, 265ff.; s. auch ders., NStZ 1984, 86f.), der (aaO. S. 268) freilich selbst eingesteht, „daß der Kampf gegen eine so eingefahrene Praxis wie die der Hilfsstrafkammern wenig Aussicht auf Erfolg hat". Die von Kühne (Strafprozeßlehre, Rn 50) vorgenommene Kennzeichnung der Einrichtung von Hilfsstrafkammern als „sehr umstritten" wird den realen Mehrheitsverhältnissen zu dieser Frage nicht gerecht (und deutet eher darauf hin, daß Kühne die vorgebrachten Einwände für gewichtig erachtet). 4 « LR-K. Schäfer, § 60 GVG Rn 8; vgl. ferner RGSt. 19, 230; 62, 309; BGHSt. 12, 104 (m.w.N.); 21, 260ff.; 31, 157 (158), 389 (391); 33, 303; 41, 175 (178); s. auch Kern,]Ζ 1959, 219; Kissel, GVG, § 60 Rn 10 ff.; Katholnigg, JR 1983, 521 sowie die in den nachfolgenden Fn angegebenen Nachweise. 47 Vgl. z.B. BGHSt. 12, 104 (106); Kleinknecht/Meyer-Goßner, % 21e GVG Rn 16.
343
13. Kapitel: Die Regelung des Vertretungssystems
der Hauptspruchkörper infolge eines umfangreichen und zeitintensiven Großverfahrens überlastet und hierdurch an der Bewältigung seiner sonstigen Rechtsprechungsaufgaben gehindert ist. Das Wesen der Hilfsstrafkammer besteht gerade darin, die Hauptstrafkamm e r in solchen Geschäften zu vertreten, die diese infolge anderweitiger Inanspruchnahme nicht selbst erledigen kann; 4 8 der Sache nach ist die Hilfsstrafkammer mithin „nichts anderes ... als eine außerordentliche Vertretungsregelung auf Kammerebene für einen Sonderfall der Vertretung". 4 9 Obwohl eine solche (in Anlehnung an § 6 3 II G V G a.F. bzw. § 2 1 e III G V G n.F. entwickelte) 5 0 „GruppenVertretung" 5 1 heute offensichtlich als praktisch unentbehrlich 5 2 angesehen wird, ist sie nicht die einzige Möglichkeit, auf die Überlastung eines Spruchkörpers zu reagieren. Z w a r bietet die personelle Verstärkung des betreffenden Spruchkörpers keine gleichwertige Lösungsmöglichkeit, 5 3 doch k o m m t (neben der Einrichtung einer weiteren ordentlichen Strafkammer) 5 4 zumindest eine U m verteilung der Geschäfte als prinzipielle Alternative in Betracht. 5 5 Die Errichtung einer Hilfsstrafkammer erweist sich somit als eine gewollte, nicht jedoch als die einzig denkbare Reaktionsform auf die dargestellte Überlastungssituation. Diesen Umstand gilt es im Blick zu behalten, wenn sich die Betrachtung nachfolgend den mit der Hilfsstrafkamm e r verbundenen Einzelproblemen zuwendet.
4S B G H S t . 2 5 , 174 ( 1 7 5 ) ; 31, 1 5 7 ( 1 5 8 ) , 3 8 9 ( 3 9 1 ) ; 3 3 , 3 0 3 ; 41, 175 ( 1 7 8 ) ; L R - K . Schäfer, G V G Rn 1 0 b ; § 6 0 G V G Rn 9 . 49
B G H S t . 31, 3 8 9 ( 3 9 4 [m.w.N.]); s. auch B G H S t . 41, 175 ( 1 7 8 ) ; Zöller/Gummer,
§ 21f
ZPO, § 21f
GVG Rn 2; Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, Rn 3; Kissel, GVG, Rn 13; Schreiber, in: Wieczorek/Schütze, Z P O , Rn 2 ; MüKo/ZPO-Wo//", Rn 2 jeweils zu § 6 0 G V G ;
Kleinknecht/Meyer-Goßner,
§ 21e Rn 16; Holch, DRiZ 1976, 137; Jungfer, StV 1983, 10 f. ™ B G H S t . 31, 3 8 9 ( 3 9 1 ) . Freilich wird dieser dogmatische Anknüpfungspunkt des § 2 1 e III G V G erweitert, indem nach überwiegend vertretener Auffassung (vgl. R G S t . 19, 2 3 0 [ 2 3 1 ] ; B G H S t . 11, 106 [ 1 0 7 ] ; 12, 104 [ 1 0 8 ] ; B G H , N J W 2 0 0 0 , 1 5 8 0 f f . mit Anm. Katholnigg, N S t Z 2 0 0 0 , 4 4 3 f.; Kissel, G V G , § 6 0 Rn 1 0 ) bereits vor Beginn des Geschäftsjahres die Einrichtung einer Hilfsstrafkammer beschlossen werden kann, die ihre Tätigkeit am Anfang des neuen Geschäftsjahres aufnimmt; vgl. Frisch, N S t Z 1 9 8 4 , 8 6 (s. aber auch dens., N S t Z 1 9 8 7 , 3 0 7 [Fn 5 6 ] ) ; kritisch hingegen Hamm, S t V 1 9 8 1 , 3 8 f . ;
Schorn/Stanicki, 51 52
Präsidialverfassung, S. 141 f.
BGHSt. 31,389 (394). So ausdrücklich L R - K . Schäfer,
§ 2 1 f G V G Rn 10a; vgl. ferner B G H S t . 12, 1 0 4 ( 1 0 5 f.) mit Anm.
Kern,]Ζ 1959, 219; BGHSt. 25, 174 (175); Dähne, Selbstverwaltung, S. 153 f.; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 21e GVG Rn 16; Schorn/Stanicki, Präsidialverfassung, S. 141; Wolf, Gerichtsverfassungsrecht, § 14 II 2 f . ( = S. 1 4 1 ) . " Dies gilt insbesondere dann, wenn die Zuweisung eines weiteren Richters zu einer unzulässigen Überbesetzung führen würde; vgl. L R - K . Schäfer, § 6 0 G V G Rn 8 ; s. ferner B G H , G A 1 9 7 7 , 3 6 6 ; B G H S t . 3 3 , 2 3 4 ( 2 3 6 ) ; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 2 1 e G V G Rn 1 6 sowie oben 11. Kap. I. ,4
Vgl. hierzu BGH, NJW 1976, 60; Frisch, NStZ 1984, 87; Katholnigg, JR 1983, 521; Schorn/Sta-
nicki, Präsidialverfassung, S. 141 f. Unzulässig ist es hingegen, rein vorsorglich eine Hilfsstrafkammer zu bilden und ihr im Falle der Überlastung ordentlicher Strafkammern gezielt einzelne Verfahren zuzuweisen; so mit Recht (gegen R G S t . 1 9 , 2 3 0 f f . ) Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, § 6 0 Rn 3 (Fn 1 6 ) . •«
Hierzu insbesondere Frisch, N S t Z 1 9 8 7 , 2 6 7 f . ; ferner B G H S t . 7, 2 3 ( 2 5 ) ; 3 3 , 3 0 3 ( 3 0 4 ) .
344 2.
Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
D i e D a u e r des B e s t e h e n s v o n H i l f s s p r u c h k ö r p e r n
Im Hinblick auf den Vertretungscharakter wird die Hilfsstrafkammer (ebenso wie die inzwischen abgeschafften Ferienspruchkörper) 5 6 nicht als ordentlicher Spruchkörper im Sinne des § 6 0 G V G angesehen mit der Folge, daß über ihre Einrichtung nach heute einhelliger Ansicht 5 7 nicht die Justizverwaltung, sondern das Präsidium entscheidet. Aus der Vertretungsfunktion resultiert weiterhin, daß eine Hilfsstrafkammer nur als vorübergehende, nicht aber als ständige Einrichtung geschaffen werden darf. 5 8 Die Frage, welche Konsequenzen sich aus dieser Einschränkung ergeben, ist für den Zuschnitt der Hilfsstrafkammer von zentraler Bedeutung.
a)
Die Restriktionsbemühungen Position von Frisch
der neueren Judikatur und die noch strengere
Die Problematik der zulässigen Dauer des Bestehens einer Hilfsstrafkammer ist eine Folgeerscheinung der verstärkt seit Beginn der 70er Jahre auftretenden Großverfahren. 5 9 Soll die Hilfskammer den Hauptspruchkörper entlasten, so erscheint es aus praktischen Erwägungen naheliegend, den zeitlichen Bestand der Hilfsstrafkammer an die Dauer der Verhinderung zu koppeln. Für den praktisch bedeutsamsten Fall der Überlastung durch ein Großverfahren heißt dies, den Bestand der Hilfsstrafkammer bis zum Abschluß dieses Großverfahrens vorzusehen. Eine solche zeitliche Akzessorietät führt naturgemäß zu um so größeren Spannungen mit dem nur vorübergehenden Charakter der Hilfsstrafkammer, je länger das die Arbeitskraft des Hauptspruchkörpers absorbierende Großverfahren währt. So hatte der B G H 6 0 in den 80er Jahren über die Zulässigkeit von Hilfsstrafkammern zu entscheiden, die im Zeitpunkt des angefochtenen Urteils bereits im vierten bzw. sogar mehr als fünfeinhalb Jahre bestanden hatten. Bei solchen Zeiträumen verliert die Argumentation, es handele sich angesichts des Bezugs auf die Überlastung des Hauptspruchkörpers nach wie vor um eine nur „vorübergehende" Vertretungsmaßnahme, ihre Überzeugungskraft; dem unbefangenen Betrachter erscheint eine solche „Hilfsstrafkammer" als Dauereinrichtung. "> Vgl. zur Gleichstellung BGHSt. 21, 260 (261) mit Anm. Kohlhaas, LM Nr. 12 zu § 64 GVG; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 21e GVG Rn 16; Zöller/Gummer, ZPO, § 21f Rn 2. Die Abschaffung der Ferienspruchkörper (und der Gerichtsferien überhaupt) erfolgte durch das Gesetz vom 2 8 . 1 0 . 1 9 9 6 (BGBl. I S. 1546). 57 Vgl. zu diesem Problem ausführlich Dähne, Selbstverwaltung, S. 154ff.; ferner Kissel, GVG, Rn 13; LR-K. Schäfer, Rn 11 jeweils zu § 60 GVG; ebenso auch BGHSt. 21, 260 (261). BGHSt. 12, 104 (mit Anm. Kern, J Z 1959, 2 1 9 f . ) hatte die Frage offengelassen. 58 BGHSt. 33, 303 (304); s. auch Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, Rn 3; Kissel, GVG, Rn 12; LR-iC Schäfer, Rn 13; MüKo/ZPO-Wo//, Rn 2 jeweils zu § 60 GVG; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 21e GVG Rn 16; Hamm, StV 1981, 38 f.; v. Stackelberg, FS für Schmidt-Leichner (1977), S. 216. 5' In jener Zeit, in der sich die Rechtsfigur der Hilfsstrafkammer als Institution herausgebildet hat, stellte die Bestandsdauer dieser Hilfsspruchkörper offensichtlich kein gravierendes Problem dar. Das kann man zum einen daraus schließen, daß diese Frage in den einschlägigen Entscheidungen nicht thematisiert wurde; zum anderen läßt sich den Sachverhaltsangaben jener Judikate entnehmen, daß der Zeitraum zwischen der Einrichtung der Hilfsstrafkammer und der Revisionsentscheidung weniger als ein Jahr betrug; vgl. z.B. RGSt. 19, 230; BGHSt. 11, 106; 12, 104; BGH, NJW 1953, 1034. Zum nachfolgend dargestellten Zusammenhang vgl. auch LR-K. Schäfer, § 21f GVG Rn 10a. 60 BGHSt. 31, 389 (390); 33, 303. Beide Verfahren bezogen sich (wohl) auf dieselbe Hilfsstrafkammer beim LG Bochum; vgl. Katholnigg, J R 1986, 261.
13. Kapitel: Die Regelung des Vertretungssystems
345
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung hat auch der BGH seine Maßstäbe verschärft. Hiernach soll die Bildung einer Hilfsstrafkammer nur dann in Betracht kommen, „wenn die begründete Wahrscheinlichkeit dafür besteht, daß sie, wenn auch nicht im laufenden, so doch im folgenden Geschäftsjahr wieder aufgelöst werden wird";61 ferner sieht der BGH 6 2 „in der Regel" das Recht auf den gesetzlichen Richter als verletzt an, wenn eine Hilfsstrafkammer über das ihrer Einrichtung folgende Geschäftsjahr aufrechterhalten wird. Angesichts der Tatsache, daß der erkennende Senat zwei Jahre zuvor63 noch eine schon im vierten Jahr tätige Hilfsstrafkammer toleriert hatte, bedeutet der nunmehr eingeschlagene Restriktionskurs durchaus eine nachhaltige Korrektur der früheren Position.64 Gleichwohl hat die neue Leitlinie des BGH eine ausführliche und grundlegende Kritik von Wolfgang Frisch65 erfahren, der „eine eng(er) abgesteckte Hilfsstrafkammer-Lösung" als „das Mindeste" bezeichnet, „was in der gegenwärtigen Situation zu fordern ist". 66 Unter Berücksichtigung des „Postulats einer möglichst zutreffenden Umschreibung der wirklich ,zuständigen' Kammer" 67 kommt nach Ansicht von Frisch die Bildung einer Hilfsstrafkammer nur dann in Betracht, wenn die Hauptlast der zu leistenden Arbeit vom primär zuständigen „institutionellen" Spruchkörper erledigt wird. Auch bezüglich einer sich erst im Laufe des Geschäftsjahres ergebenden Überlastung soll hiernach eine Hilfsstrafkammer nur eingerichtet werden dürfen, wenn bei üblichem (unverzögerten) Verfahrensgang mit einer Beendigung des Großverfahrens innerhalb eines halben Jahres zu rechnen ist. 68 Eine nach den einzelnen Geschäftsjahren getrennte Betrachtung, die im Ergebnis maximal auch eine auf die Gesamtdauer eines Jahres angelegte Hilfsstrafkammer legitimieren würde, lehnt Frisch69 als „Desavouierung der gesetzlichen Wertentscheidungen" ab. b)
Stellungnahme
Die Analyse der widerstreitenden Ansichten beginnt zweckmäßigerweise mit zwei Klarstellungen. Zum einen ist (im Anschluß an Frisch70) darauf hinzuweisen, daß der BGH sich bei seiner Konzeption in Wahrheit zweier Kriterien bedient, um die Bestandsdauer von Hilfsstrafkammern zu beschränken. Hierbei wird zwar stets auf den gleichen Zeitpunkt - das Ende des der Einrichtung einer Hilfsstrafkammer nachfolgenden Geschäfts Überwiegend wird eine Ausübung der Vorsitzendentätigkeit von mindestens 75% in jedem Spruchkörper verlangt; vgl. BGH(GS)Z 37, 210 ( = BGH, NJW 1962, 1579); BGHZ 88, 1 (8f.) ( = NJW 1984, 129 [130f.]); Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht; Kissel, GVG, Rn 4 jeweils zu § 21f (beide m.w.N.); großzügiger insoweit jedoch Kleinknecht, JZ 1974, 588 (50%). 127 Wegen der auf eine maximale Einsatzmöglichkeit der Hilfsstrafkammer gerichteten Zielstellung wird die Alternative des „Splitting-Modells" (s. oben 2c zu Fn 89) an dieser Stelle ausgeblendet. 128 BGHSt. 7, 23 (25); 10, 179 (181); 11, 106 (107); 15, 116 (117); Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 16; LR-K. Schäfer, Rn 43 f. jeweils zu § 21e GVG; Kissel, GVG, § 60 Rn 14; Eh. Schmidt, Lehrkommentar III, § 63 GVG Rn 25; Schorn/Stanicki, Präsidialverfassung, S. 142. 129 BGHSt. 11, 106 (107) mit Anm. Marquardt, MDR 1958, 254; Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, § 60 Rn 3; Schorn/Stanicki, Präsidialverfassung, S. 142; LR-K. Schäfer, § 21e GVG Rn 43.
360
Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
gerufen wurde, hat hierauf keinen Einfluß. Damit ist die Gefahr einer willkürlichen Richterzuweisung gebannt. Daß es keinen Anspruch auf eine Veränderung der einmal begründeten gerichtsinternen Zuständigkeit gibt, folgt aus der in § 2 1 e I V G V G normierten Befugnis des Präsidiums, die Zuständigkeitsfortdauer bezüglich solcher Sachen anzuordnen, in denen ein Richter oder Spruchkörper bereits tätig geworden ist. Eine Entlastung des überlasteten Hauptspruchkörpers ist somit unbedenklich, wenn sie in der Weise erfolgt, daß in die Zuständigkeit des Hilfsspruchkörpers nur künftig eingehende Sachen fallen, wobei es unerheblich ist, o b die Hilfskammer alle neuen Fälle oder lediglich eine nach abstrakten Merkmalen bestimmte Teilmenge derselben übernimmt. Man wird es unter Bestimmtheitsaspekten auch für zulässig halten müssen, wenn das Ende der Tätigkeit einer Hilfskammer nicht kalendermäßig, sondern (unter Beachtung der oben entwickelten zeitlichen Beschränkungen) durch den Eintritt eines feststehenden Ereignisses (insbesondere die Urteilsverkündung in dem die Überlastung verursachenden Großverfahren) 1 1 0 festgelegt ist. Die vom B G H 1 3 1 insoweit verwandte Formulierung, es müsse sich um ein „sicher eint r e t e n d e ^ ) , vom Willen einzelner unabhängige(s) Ereignis" handeln, suggeriert zwar mehr Manipulationssicherheit, als das Kriterium tatsächlich zu bieten vermag. Denn der Bedingungseintritt hängt auch von willentlichen Entscheidungen des den Großprozeß führenden Spruchkörpers ab, so daß theoretisch durch ein bewußtes Hinauszögern des dortigen Verfahrensendes auf den Geschäftskreis des Hilfsspruchkörpers Einfluß genommen werden könnte. 1 3 2 Derartige Manipulationsgefahren können jedoch als zu vernachlässigendes Restrisiko hingenommen werden, wenn man bedenkt, daß der Hauptspruchkörper die Beendigung des Großverfahrens nur bedingt und lediglich bezüglich eines vergleichsweise eng begrenzten Zeitraums steuern kann. Ferner bedürfte es eines kollusiven Zusammenwirkens der Vorsitzenden von Haupt- und Hilfsspruchkörper, um gezielt auf die Zuständigkeit der Hilfsstrafkammer für bestimmte Einzelverfahren Einfluß nehmen zu können. Die akzessorische Anbindung an den Überlastungsgrund ist zudem zweckmäßiger als eine starre zeitliche Begrenzung, die angesichts der Unvorhersehbarkeit des Verlaufs des Großverfahrens gegebenenfalls mehrere Verlängerungsbeschlüsse erforderlich machen würde. Schließlich wird die durch eine solche Bezugnahme auf ein Prozeßereignis geschaffene (theoretische) Mißbrauchsgefahr im Rahmen der Einzelverhinderung ebenfalls toleriert. 1 3 3 Ungleich problematischer ist demgegenüber eine Entlastung mittels eines Zuständigkeitswechsels, durch den der Hilfskammer Verfahren übertragen werden, die bereits beim Hauptspruchkörper anhängig geworden sind. Zutreffend hat der B G H 1 3 4 mehrfach 1,0 BGHSt. 21, 260 (262f.) mit Anm. Kohlhaas, LM Nr. 12 zu § 64 GVG; Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, Rn 3 (Fn 20); Kissel, GVG, Rn 12; LR-K. Schäfer, Rn 12 jeweils zu § 60 GVG; KKDiemer, Rn 7; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 16 jeweils zu § 21e GVG; Schorn/Stanicki, Präsidialverfassung, S. 142. Vgl. auch BGH, Urteil vom 8.12.1999 - 3 StR 267/99, S. 5, 10 (Erledigung der der Hilfsstrafkammer übertragenen Strafsachen als Endzeitpunkt ihres Bestehens). BGHSt. 21, 260 (LS) und 263. 1,2 Kohlhaas, LM Nr. 12 zu § 64 GVG (der diesen Einwand jedoch gleichfalls für unbeachtlich hält). 133 Vgl. hierzu zum einen BGHSt. 21, 250 (252); Zöller/Gummer, ZPO, Rn 45; LR-K. Schäfer, Rn 49 jeweils zu § 21 e GVG; kritisch insoweit allerdings Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, Rn 9 und Kissel, GVG, Rn 114 jeweils zu § 21e; zum anderen BGHSt. 35, 55 f. mit Anm. Kissel, NStZ 1988,418 f. BGHSt. 7, 23 (25); DRiZ 1980, 147 (148); s. auch BGHSt. 33, 234 (237).
13. Kapitel: Die Regelung des Vertretungssystems
361
darauf hingewiesen, daß es auch bei Überlastung eines Spruchkörpers unzulässig ist, einzelne ausgesuchte Sachen von einer K a m m e r auf eine andere zu übertragen. Ein solches Vorgehen würde eine einzelfallbezogene Richterbestellung darstellen und wäre deshalb mit dem Prinzip des gesetzlichen Richters nicht zu vereinbaren. Gerade um solche Einzelzuweisungen zu verhindern, ist zu verlangen, daß der Geschäftskreis (auch) der Hilfsstrafkammer nach allgemeinen Kriterien festgelegt wird. So wichtig diese Vorkehrung auch ist, so vermag sie die Bedenken nicht vollständig zu zerstreuen. Das zeigt folgende Überlegung: Wie der B G H 1 3 5 mit Recht hervorhebt, scheidet der Umfang einer Sache als Zuweisungskriterium aus, da er stets nur mit Blick auf das konkrete Einzelverfahren beurteilt werden kann. Würde man es daher gestatten, eine Sache wegen ihres Umfanges einem anderen Spruchkörper zuzuweisen, würde letztlich die Richterbank ad hoc, d. h. mit Blick auf dieses spezielle Einzelverfahren ausgewählt. Auf der anderen Seite zwingt das Bemühen um eine sinnvolle Entlastung des Hauptspruchkörpers geradezu dazu, die quantitativen Wirkungen einer ins Auge gefaßten M a ß n a h m e abzuschätzen. Soll die Entlastung also durch die Abnahme von bereits anhängigen Verfahren erfolgen, ist die vom Zuständigkeitswechsel betroffene Fallmenge in Beziehung zu setzen zu der beim Hauptspruchkörper verbleibenden Geschäftslast. Dieser Vorgang ist nicht rein beobachtender Natur, sondern beide Kontingente sind bewußt so zu bemessen, daß eine effektive Entlastungswirkung erreicht werden kann. In dieser Situation besteht die Gefahr, daß sich das Präsidium um der angestrebten Entlastungswirkung willen an bestimmten Einzelverfahren orientiert und diese mit einigen unbedeutenden weiteren Fällen „garniert", um auf diese Weise den Anforderungen einer Übertragung mittels allgemeiner Merkmale zu genügen. Was der Form nach als abstrakte Richterbestellung erschiene, wäre in Wahrheit eine ad-hoc-Zuweisung unter Verwendung „scheingenereller" Kriterien. 1 ' 6 Freilich ist diese Gefahr keine Besonderheit von Hilfsspruchkörpern. Sie besteht vielmehr in allen Fällen einer Umverteilung bereits anhängig gewordener Sachen. 1 3 7 Für die Hilfskammern tritt allerdings als zusätzliches Gefahrenmoment hinzu, daß der Zuständigkeitswechsel hier mit der Neubildung des nunmehr zuständigen (überdies nur vorübergehend eingerichteten) Spruchkörpers einhergeht. Dies eröffnet (zumal angesichts der Möglichkeit, grundsätzlich jedem auf Lebenszeit ernannten Richter den Vorsitz zu übertragen) prinzipiell größere Möglichkeiten, die Richter für ein bestimmtes Verfahren gezielt auszusuchen. Deshalb erscheint es - entgegen der Ansicht des B G H 1 3 8 - unter
B G H S t . 7, 2 3 ( 2 5 ) . Zu dieser Gefahr vgl. B G H S t . 3 3 , 2 3 4 ( 2 3 7 ) ; ferner Kellermann, Gesetzlicher Richter, S. 8 9 f., 1 7 4 f . , 2 5 8 f. Eher „unsensibel" insoweit B G H , M D R (bei Holtz) 1 9 8 1 , 4 5 5 , noch deutlicher R G S t . 19, 2 3 0 ( 2 3 2 ) . In jener Entscheidung hat es das R G für zulässig erachtet, daß das Präsidium vorsorglich eine Hilfsstrafkammer für den Fall einer Überlastung der ordentlichen Strafkammern eingerichtet und ihr T ä tigwerden davon abhängig gemacht hatte, daß ihr durch einen weiteren Beschluß bestimmte Fälle zur Entscheidung zugewiesen werden. Eine solche Konstruktion stellt eine gegen das Prinzip des gesetzlichen Richters verstoßende ad-hoc-Zuweisung dar und ist deshalb unzulässig; ebenso Kern, Gesetzlicher Richter, S. 1 7 8 (Fn 4 ) ; s. auch Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, § 6 0 Rn 3 (Fn 1 6 ) und Eb. Schmidt, Lehrkommentar III, § 6 0 G V G Rn 6. 117 Vgl. daher bereits oben 10. Kap. II.4 sowie B G H , N J W 1 9 7 6 , 6 0 (bezüglich einer neu eingerichteten ordentlichen Strafkammer). '•*» Kissel a.a.O.; Felix, BB (Beilage 11 zu Heft 17/1994), S. 8*; s. auch Sangmeister, StRK, FGO § 10 R. 11, S. 9. 12s
14. Kapitel: Der Anschauungswandel zur Bedeutung des § 21g II GVG
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Kritik und der Ungewißheit des Ausgangs der anstehenden Entscheidungen des BVerfG gekennzeichnet ist, ist der B G H bemüht, sich zu befreien und seine Mitglieder für die Vergangenheit von jedem Makel freizusprechen. 1 3 5 Der Preis hierfür besteht darin, „für die Zukunft (mehr oder weniger) Besserung zu g e l o b e n " 1 3 6 und sich dennoch nach M ö g lichkeit einige Spielräume offenzuhalten. 1 3 7 Auf diese Weise vermittelt der Beschluß in der Tat „den Eindruck eines Rückzugsgefechts, bei dem - wie bei entsprechenden militärischen Operationen üblich - reichlich Nebelkerzen geworfen wurden, um das Ausmaß der Absetzbewegung zu verschleiern". 1 3 8 Wählt man die frühere Position des B G H zum Maßstab, so sind gewisse Konzessionen an die strengere Gegenmeinung nicht zu verkennen. Allerdings gilt auch hier, daß „Absicht überall der ärgste Feind der Einsicht" 1 3 9 ist. Mit dem Begriff des Anschauungswandels eine tiefgreifende Läuterung in der inneren Einstellung der Mehrheit des B G H zu assoziieren und den Beschluß der Vereinigten G r o ßen Senate gleichsam als kollektives „Sauluserlebnis" anzusehen, wäre nicht gerechtfertigt. Weiterhin gilt, daß Veränderungen im hier diskutierten Bereich nicht unter der Ägide des B G H herbeigeführt wurden, sondern gegen den teilweise erbitterten Widerstand mehrerer Senatsvorsitzender errungen werden mußten. 1 4 0 Angesichts dieser Erkenntnis kann das Problem der spruchkörperinternen Geschäftsverteilung nicht als durch den Beschluß der Vereinigten Großen Senate des B G H erledigt angesehen werden. Das gilt um so mehr, als verbleibende Unzulänglichkeiten sowohl über die Frage der revisionsgerichtlichen Kontrollintensität 1 4 1 als auch im Hinblick auf die dem B G H (im Positiven wie im Negativen) zukommende Vorbildfunktion auf die nachgeordneten Instanzgerichte auszustrahlen drohen.
IV. Die Entscheidungen des BVerfG als „vierte Phase" Die Frage, welche Anforderungen an die spruchkörperinternen Mitwirkungsgrundsätze zu stellen sind, wurde auch Gegenstand verfassungsgerichtlicher Entscheidungen. Der mit mehreren Verfassungsbeschwerden gegen Urteile des B F H befaßte Zweite Senat des BVerfG 1 4 2 hatte bereits im Jahre 1 9 9 2 alle obersten Gerichte des Bundes gebeten, die bei ihnen geübte Handhabung der senatsinternen Geschäftsverteilung mitzuteilen. 1 4 3 N o c h bevor über diese Verfassungsbeschwerden entschieden wurde, ergriff der Erste Senat des BVerfG, bei dem ebenfalls eine die spruchkörperinterne Geschäftsverteilung beim B F H '«
Sangmeister, NJW 1995, 293 f. Sangmeister a.a.O. S. 294. 1.7 Der frühere Vorsitzende Richter am BGH Bruchhausen deutet den Beschluß der Vereinigten Großen Senate dahingehend, daß der BGH hiermit „jeder Pedanterie und Gleichmacherei, die einer sachgerechten, zügigen und sinnvollen Erledigung entgegenstehen könnte, eine Abfuhr erteilt" habe (FS Vieregge [1995], S. 97). 1)8 Martens, MDR 1994, 1179. Als Urheber dieser treffenden Bemerkung nennt Herzberg (GA 1996, 559) Schopenhauer. 140 Ebenso die Beurteilung von E. Schneider, ZAP 1994, 607. 141 Der Beschluß der Vereinigten Großen Senate deutet insoweit darauf hin, daß der großen Strafkammer beim Landgericht ein noch größerer Spielraum zugebilligt wird, als ihn der BGH für sich selbst in Anspruch nimmt; vgl. Katholnigg, NStZ 1994, 446. 142 Vgl. Felix, ZIP 1993, 619. >4·' Vgl. hierzu Felix, FS Gaul (1992), S. 113 f. 1.6
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Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
betreffende Verfassungsbeschwerde anhängig war, im Sommer 1 9 9 5 die Initiative. Er hielt eine Verletzung des Art. 101 I 2 G G für gegeben, weil aus diesem Verfassungssatz das Gebot folge, daß der Vorsitzende eines überbesetzten Spruchkörpers vor Beginn des Geschäftsjahres nach abstrakt-generellen Maßnahmen zu bestimmen habe, welche Mitglieder des Spruchkörpers bei den einzelnen richterlichen Geschäften mitwirken. Im Hinblick auf dieser Rechtsansicht entgegenstehende frühere Äußerungen des Zweiten Senats beschloß der Erste Senat (nachdem eine vorherige Anfrage gemäß § 4 8 II GO-BVerfG ergeben hatte, daß der Zweite Senat an seiner bisher vertretenen Rechtsauffassung im Grundsatz festhalte) die Anrufung des Plenums des BVerfG. 1 4 4 Dieser Vorlagebeschluß 1 4 5 ist dogmatisch von herausragender Bedeutung. Das gilt insbesondere deshalb, weil er aus Art. 101 I 2 G G ein scharfes verfassungsrechtliches Anforderungsprofil entwickelt und dieses konsequent auf die konkrete Problematik der Spruchkörperinternen Geschäftsverteilung überträgt. An den Ausgangspunkt seiner Erörterungen stellt der Senat 146 die Überlegung, daß Sinn und Zweck des Verfassungssatzes vom gesetzlichen Richter darauf gerichtet sind, den Gefahren einer Manipulierung der Justiz vorzubeugen, um hierdurch die Unabhängigkeit der Rechtsprechung und das Vertrauen der Rechtsuchenden zu sichern. Deshalb sei durch Art. 101 I 2 GG nicht erst die Abweichung von bestehenden Zuständigkeitsregelungen untersagt, sondern weitergehend bereits die Schaffung eines den gesetzlichen Richter verbürgenden Regelwerks geboten. Hierbei „gehört (es) zum Begriff des gesetzlichen Richters, daß ... die einzelne Sache ,blindlings' aufgrund allgemeiner Merkmale an den entscheidenden Richter kommt". Im Gegensatz zu einer solchen normativen, abstrakt-generellen Vorherbestimmung des Richters handele es sich um eine unzulässige willkürliche Zuständigkeitsbestimmung schon dann, wenn diese von Fall zu Fall erfolge. „Willkür bezeichnet in diesem Zusammenhang die Freiheit von normativer Bindung." Die gleichfalls aus Art. 101 I 2 GG abzuleitende Forderung nach möglichster Bestimmtheit und Eindeutigkeit der Zuständigkeitsregelung sei „verletzt, wenn diese Normen mehr als notwendig unbestimmte Rechtsbegriffe verwende oder wenn sie im Einzelfall Ermessen einräumt". 147 Weil der Richter „kein Rechtsprechungsautomat" 148 sei, vielmehr „die Konkretisierung des Rechts im Einzelfall ... von der Persönlichkeit des Richters (seinem ,Vorverständnis') mehr oder weniger bewußt mitgeprägt" werde, müsse sich die abstrakt-generelle Vorausbestimmung bis auf die letzte Stufe der individuell zur Entscheidung berufenen Richterperson erstrecken. Alle zur Ermittlung des gesetzlichen Richters hinführenden Normierungsstufen, neben den einschlägigen Gesetzen also auch die ergänzenden Konkretisierungen durch gerichtliche Geschäftsvertei144 Vgl. zum Verfahrensgang BVerfG(Plenum)E 95, 322 (325f.); s. auch allgemein Niebier, FS Lerche (1993), S. 802 ff. Ein zur Anrufung des Plenums berechtigender Vorlagegrund fehlte nach Ansicht von Sangmeister, NJW 1998, 724f., 727; vgl. hierzu auch Berkemann, JR 1997, 282 (s. aber auch dens., JR 1996, 192); ferner BVerfG, NJW 1998, 519 (522f.) und 523f. (bezüglich der Unterhaltspflicht bei fehlgeschlagener Sterilisation). Zweifel an der Zulässigkeit der beim Ersten Senat anhängigen Verfassungsbeschwerde äußert unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität (keine Rüge der Besetzung im fachgerichtlichen Verfahren) Haas, FS 50 Jahre BayVerfGH (1997), S. 33; vgl. in diesem Zusammenhang auch BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), BB 1992, 252f. mit Anm. Felix; ferner Sangmeister, StRK, FGO § 10 R. 11, S. 2 f. 145 BVerfG, NJW 1995, 2703 ff. 146 n j w 1995, 2703 (ebd. die nachfolgend im Text wiedergegebenen Zitate). 147 A.a.O. S. 2703 f. 148 A.a.O. S. 2704 (ebd. die nachfolgenden Zitate).
14. Kapitel: Der Anschauungswandel zur Bedeutung des § 21g II GVG
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lungspläne und spruchkörperinterne Mitwirkungsgrundsätze, unterlägen daher demselben Erfordernis, daß es sich um abstrakt-generelle Regelungen handeln müsse, welche die betreffenden Richter so eindeutig und so genau wie möglich bestimmen müssen. „Der vom Vorsitzenden zur Entscheidung herangezogene Richter wird nicht dadurch zum gesetzlichen Richter, daß er aus sachgerechten Gründen zur Mitwirkung im Einzelfall bestimmt worden ist. Das verfassungsrechtlich zu Mißbilligende liegt nicht in der Ermessensentscheidung des Vorsitzenden, sondern in der unzulänglichen Regelung der Geschäftsverteilung, die eine derartige Ermessensentscheidung unnötigerweise erforderlich gemacht hat." Auf der Grundlage dieser Überlegungen leitet der Senat aus Art. 101 I 2 G G das Gebot ab, „daß der Vorsitzende eines überbesetzten Spruchkörpers vor Beginn des Geschäftsjahres nach abstrakt-generellen Merkmalen zu bestimmen hat, welche Mitglieder des Spruchkörpers bei den einzelnen richterlichen Geschäften mitwirken. ... Nur diese Auslegung des § 21g II G V G ist mit Art. 1 0 1 1 2 G G vereinbar. Es genügt nicht, wenn er erst im einzelnen Verfahren und mit Blick auf dieses die weiteren neben ihm mitwirkenden Richter beruft. Sie werden dadurch auch dann nicht zu gesetzlichen Richtern, wenn sich diese Einzelfallentscheidung an Gesichtspunkten (,Grundsätzen') ausrichtet, die für sich gesehen sachgerecht und willkürfrei sein mögen." Im weiteren legt der Senat dar, daß auch eine möglicherweise entgegenstehende gewachsene Rechtstradition keinen Grund darstelle, den Vorsitzenden von den aus Art. 101 I 2 G G resultierenden Bindungen freizustellen. Ferner wird der funktionale Zusammenhang zwischen der Zulassung einer Uberbesetzung von Spruchkörpern und der hieraus folgenden Notwendigkeit einer normativen Vorausbestimmung der an der Entscheidung mitwirkenden Personen hervorgehoben. Der Senat bekräftigt nochmals, daß dort, „wo eine eindeutige Regelung möglich ist, ... sie auch nötig (sei)". 1 4 9 Er beschließt seine allgemeinen Überlegungen mit dem Hinweis, daß die effektive und sachgerechte Erledigung der Verfahren unter den hier aufgestellten Anforderungen nicht leiden müsse. „Effektiver Rechtsschutz und gesetzlicher Richter dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Die vorgeblichen Erfordernisse effektiven Rechtsschutzes dürfen nicht einseitig vorgeschoben werden. Das Grundgesetz gebietet den effektiven Rechtsschutz durch den gesetzlichen Richter." 1 5 0 Dieser B e s c h l u ß repräsentiert die strenge Sichtweise in der Auseinandersetzung u m die spruchkörperinterne Geschäftsverteilung mit beeindruckender Stringenz. Im Z u g e der langwährenden K o n t r o v e r s e waren die Konturen des Art. 101 I 2 G G verwischt. Auf der parlamentarischen E b e n e m u ß t e jede Ausweitung einer spruchkörperinternen Vorausbes t i m m u n g erst auf d e m U m w e g über den Vermittlungsausschuß durchgesetzt werden, und der in der Justizpraxis spürbare Wille, sich diesen Vorschriften unter Berufung auf e n t g e g e n s t e h e n d e Effektivitätsinteressen nach Möglichkeit zu entziehen, w u r d e durch die v e r s c h w o m m e n e H a l t u n g des BVerfG begünstigt, w o n a c h Art. 101 I 2 G G z w a r auf die jeweilige konkrete R i c h t e r p e r s o n zu beziehen sei, die in § 2 1 g II G V G (bzw. in den einschlägigen Vorläufern) enthaltene Regelung aber über das verfassungsrechtlich G e b o tene hinausreichen (wenngleich der G r u n d t e n d e n z des Art. 101 I 2 G G e n t s p r e c h e n ) solle. Diese Faktoren führten insgesamt zu einem Prozeß der Relativierung in d e m Sinne, daß das im Grundsatz des gesetzlichen Richters verkörperte Bestimmtheitsinteresse v o m maßgeblichen Leitgesichtspunkt z u m bloßen A b w ä g u n g s f a k t o r g e w o r d e n war. Dieser
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A.a.O. S. 2705. Ebd.
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Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
Entwicklung stellt sich der Vorlagebeschluß entgegen, indem er die Nebelschleier des Unverbindlichen zerreißt und den Aspekt der Vorausbestimmtheit als verfassungsrechtliche Notwendigkeit deutlich in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Diese Entschiedenheit spiegelt sich insbesondere im klaren Bekenntnis zur Blindlingstheorie 1 5 1 und in der Interpretation des Willkürbegriffs, der als Defizit normativer Bindung und nicht lediglich als mangelnde Sachgerechtigkeit verstanden wird; sie zeigt sich überdies in der Betonung des vorbeugenden Charakters eines auf die Schaffung von Vertrauen gerichteten Systems normativer Zuständigkeitsregelungen. Beifall verdient auch der neue Gedanke, die Erstreckung des Postulats des gesetzlichen Richters auf die konkrete Urteilsperson aus der Erkenntnis abzuleiten, daß der Prozeß der Rechtsfindung unauflösbar durch individuelle Umstände beeinflußt wird und daß deshalb die Bestimmung der Entscheidungsträger zugleich für das Entscheidungsergebnis von Bedeutung ist. 1 5 2 Im „historisch-politischen" Argumentationskontext, der - ausgehend von einschlägigen geschichtlichen Ereignissen - auf die Gefahr einer Manipulierung der Justiz durch den Machthaber bzw. die Exekutive abstellt, erscheint die Intensivierung des Prinzips des gesetzlichen Richters in der Weise, daß sich diese Garantie auch auf jede einzelne Urteilsperson erstreckt und daß ferner auch justizinterne Vorgänge einen Verfassungsverstoß begründen können, als Erweiterung des ursprünglichen Schutzgehalts. J e stärker die Peripherie des Schutzbereichs hinausgeschoben wird, um so eher ist mit dem Einwand zu rechnen, daß in der Außenzone nicht die gleichen strengen Anforderungen erhoben werden dürfen wie im Kernbereich dieser Verfassungsgarantie; dies gilt insbesondere dann, wenn die „Perfektionierung" des Sicherungssystems auch die normale Gestaltung der alltäglichen Arbeitsabläufe mit einem latenten Manipulationsverdacht belegt und die hierauf ergriffenen Maßnahmen eine Beeinträchtigung der Effektivität der Justiz besorgen lassen. Eine solche Argumentation ist keineswegs zwingend; sie ist nach der hier vertretenen Ansicht auch nicht vorzugswürdig. Denn die Grundhaltung des Mißtrauens gegenüber staatlicher Machtausübung (und eine solche ist auch die Rechtsprechung) entspricht durchaus rechtsstaatlichem Denken, und die unzureichenden M ö g lichkeiten einer nachträglichen Willkürkontrolle im Einzelfall machen ein präventiv wirkendes Regelungssystem notwendig, das sich konsequenterweise bis in die Spitze (die einzelne Richterperson) hinein erstrecken muß. 1 5 3 D e r Vorteil des methodenkritischen Argumentationsansatzes besteht darin, daß er einen Perspektivenwechsel herbeiführt und hierdurch die politisch eingefärbte Diskussion entlastet. Mit der Personengebundenheit jeglicher Rechtsanwendung ist das zur Entscheidung berufene Individuum nicht länger der äußerste Vorposten, bis zu welchem die Sicherungsbestrebungen gegenüber möglichen Manipulationsgefahren vorgetrieben werden können, sondern der Urteiler
Vgl. demgegenüber List, DStR 1992, 7 0 0 , 7 0 2 ; s. auch Kellermann, Gesetzlicher Richter, S. 236 ff. Zustimmend auch Berkemann, J R 1996, 192; Felix, BB 1995, 1812; Zärban, MDR 1995, 1204. Hingegen bestand nach Ansicht von Τb. Pfeiffer (EWiR Art. 101 GG 1/95, 1098) keine Notwendigkeit, „(d)iesen methodenrechtlich nicht unumstrittenen Ansatz gleichsam mit Verfassungsrang auszustatten". 153 In diesem Sinne wäre nach Ansicht von Tb. Pfeiffer (vgl. vorige Fn) der Hinweis ausreichend gewesen, „daß auch bei Zugrundelegung des Ideals einer ... gesetzesgebundenen ... Entscheidung die Gefahr der Beeinflussung durch Subjektivismen - oder auch nur ein böser Schein besteht" und deshalb „ landläufigem Vorurteil zum Trotz - Blindheit der Justitia kein Hindernis, sondern Voraussetzung des Rechtsstaats (ist)". 151
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14. Kapitel: Der Anschauungswandel zur Bedeutung des § 2 1 g II GVG
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steht als Einzelwesen nunmehr im Zentrum der Betrachtung. Da die subjektgebundenen Rechtsfindungsfaktoren ihre Relevanz (gerade) auch dann entfalten, wenn sie dem Handelnden verborgen bleiben, wird das mit dem Prinzip des gesetzlichen Richters verfolgte Anliegen zugleich abgekoppelt von der Furcht vor einer auf böser Gesinnung beruhenden Manipulation. Die Frage, wem die Entscheidung einer Rechtsangelegenheit zufällt, erlangt allein durch die personalen Entscheidungselemente eine herausgehobene Bedeutung, ohne daß es darauf ankäme, ob jemand sich diese individuellen Unterschiede in unlauterer Weise zunutze machen will. 154 Auf der Grundlage dieses Sinnverständnisses ist der Grundsatz des gesetzlichen Richters nicht nur ein präventives Abwehrmittel gegenüber drohenden Manipulationsgefahren, sondern zugleich Kompensation einer durch die Personengebundenheit der Rechtsanwendung bedingten Ungleichheit. 155 Ist die Festlegung der konkreten Entscheidungsperson innerhalb des Spruchkörpers aber nicht länger allein die letzte Etappe einer Kette möglicher Störversuche, sondern die unter dem Aspekt der Ungleichheit entscheidende Nahtstelle zwischen Urteiler und Fall, so ergibt sich zwanglos, das die Bestimmtheitsanforderungen des Art. 101 I 2 G G auch hier prinzipiell unvermindert gelten. Mit seinem Vorlagebeschluß will der Erste Senat des BVerfG nicht allein von den älteren Judikaten des Zweiten Senats abweichen, sondern er geht auch spürbar über den (mit keinem Wort erwähnten) Beschluß der Vereinigten Großen Senate des B G H hinaus. 156 So steht die These von den für alle Konkretisierungsregeln grundsätzlich gleichen Bestimmtheitsanforderungen in deutlichem Kontrast zu der Annahme des B G H , ein gewisses Maß an Unbestimmtheit sei auch bei rein verfassungsrechtlicher Betrachtung unbedenklich und die Beachtung des Verfassungsrechts besage nicht, daß die Mitwirkungsgrundsätze ohne weiteres dem Vorbild des gerichtlichen Geschäftsverteilungsplans zu folgen hätten. Halten die Vereinigten Großen Senate nur ein ungebundenes, letztlich also freies Ermessen des Vorsitzenden für inakzeptabel, so fordert der Erste Senat des BVerfG die Vermeidung jeglichen Ermessens, soweit dies möglich ist. 157 Das zwischen den Zeilen deutlich wahrnehmbare Spannungsverhältnis zwischen dem Ersten Senat des BVerfG und den Vereinigten Großen Senaten des B G H signalisiert zugleich, daß der vom B G H angedeutete Kompromiß nicht als ausreichend angesehen wird. In dem überwiegend mit Zustimmung 1 5 8 aufgenommenen Vorlagebeschluß finden die Kritiker des B G H einen 154 Dieser Perspektivenwechsel ist insbesondere für die Problematik der spruchkörperinternen Geschäftsverteilung psychologisch besonders bedeutsam. Denn hier weisen argumentativ ins Feld geführte Manipulationsgefahren, auch wenn sie als institutionelle Unzulänglichkeit und nicht als persönlicher Vorwurf gemeint sind, stets auf die Person des Vorsitzenden, der sich ungleich leichter angegriffen fühlt, als wenn die von einem Gremium (Gesetzgeber bzw. Präsidium) beschlossene Regelung vor dem Hintergrund des Art. 101 I 2 G G eine vergleichbare Kritik erfährt.
Vgl. hierzu bereits oben 4. Kap. IV.l und 5. Kap. 1.3. Berkemann, JR 1 9 9 6 , 1 9 2 ; Zärban, MDR 1 9 9 5 , 1 2 0 3 ff. Th. Pfeiffer, EWiR Art. 101 GG 1 / 9 5 , 1 0 9 8 . 1SS Vgl. die oben in Fn 152 angegebenen Nachweise. Der Beschluß des Ersten Senats wird hingegen abgelehnt von Gummer (in: Zöller, ZPO, § 2 1 g GVG Rn 5), der sich gegen eine Überspannung des Art. 1 0 1 1 2 GG zu Lasten der Funktionalität wendet und moniert, daß auf dem Boden des Vorlagebeschlusses eine Vielzahl von bislang nicht ernsthaft angezweifelten Vorschriften (z.B. §§ 4 5 , 7 7 GVG; § 3 4 8 I Z P O ; SS 7 ff. StPO, § 2 4 I Nr. 3 GVG; § 2 9 II GVG) künftig zweifelhaft erscheinen müßten. Mit der Frage, ob auf der neuen Linie des BVerfG der EuGH noch länger als „gesetzlicher Richter" angesehen werden könne, zielt Mößlang ( E u Z W 1 9 9 6 , 69ff.; der Autor ist Richter am BFH) erkennbar (u.a. 155
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Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
wichtigen Verbündeten, der die strenge Position mit deutlichen Worten formuliert; die überzeugende (teilweise neue) verfassungsrechtliche Absicherung dieser Sichtweise bewirkt zudem eine zusätzliche Schwächung der Argumentationsbasis des BGH. Erscheint der Beschluß des Ersten Senats mithin als scharf akzentuierter Gegenpol zu der vom BFH und vom BGH (zumindest überwiegend) vertretenen Sichtweise, so steuert die auf die Vorlage hin ergangene Entscheidung des Plenums 159 einen eher vermittelnden Kurs. Bei der Beurteilung der verfassungsrechtlichen Grundlagen tritt das Plenum im wesentlichen der Ansicht des vorlegenden Senats bei, ohne freilich dessen Argumentationsansatz von der Subjektsgebundenheit jeglicher Rechtsfindung aufzugreifen. 160 Immerhin zählt es auch das Plenum „zum Begriff des gesetzlichen Richters, daß ... die einzelne Sache ,blindlings' aufgrund allgemeiner, vorab festgelegter Maßstäbe an den entscheidenden Richter gelangt". 161 Die abstrakt-generelle Vorausbestimmung müsse sich „bis auf die letzte Regelungsstufe erstrecken, auf der es um die Person des konkreten Richters geht. Auch hier ... gilt es, Vorkehrungen schon gegen die bloße Möglichkeit und den Verdacht einer Manipulation der rechtsprechenden Gewalt zu treffen". 162 In Übereinstimmung mit dem Vorlagebeschluß stellt das Plenum diesbezüglich fest, daß Art. 1011 2 GG die Verwendung von auslegungsbedürftigen bzw. unbestimmten Rechtsbegriffen nicht ausschließe; allerdings dürfe die Regelung nicht mehr als nach dem Regelungskonzept notwendig auf solche Begriffe zurückgreifen. 163 Unzulässig ist auch nach Ansicht des Plenums ein Mitwirkungsplan, der zunächst allein die Teilnahme der Richter an den einzelnen Sitzungstagen regelt und erst durch die Terminierung der jeweiligen Sachen diese einer konkreten Sitzgruppe zuordnet. 164 Andererseits wirkt der Plenumsbeschluß in seiner Diktion moderater als die prononcierten Entscheidungsgründe des Vorlagebeschlusses. So nimmt die Darstellung unschädlicher Auslegungszweifel breiteren Raum ein, und auch die Umverteilung bereits anhängiger Sachen wird für zulässig erklärt, sofern sich eine Änderung der Mitwirkungspläne aus nicht vorhergesehenen sachlichen Gründen als notwendig erweist. 165 Ferner wird die Bestimmung des Berichterstatters (in Übereinstimmung mit der Auffassung des BGH) 1 6 6 nicht als Frage des gesetzlichen Richters angesehen, soweit die Zusammensetzung der Sitzgruppe nicht von der Person des Berichterstatters abhängt. Schließlich teilt das Plenum die von den Vereinigten Großen Senaten vertretene Auffassung, die Vorstellungen von den Anforderungen an den gesetzlichen Richter hätten sich im Laufe der Zeit unter Zurückweisung eines unbegründeten Mißtrauens) gegen den Vorlagebeschluß; vgl. hierzu die Erwiderung von Wichard, EuZW 1996, 305 f. i « BVerfGE 95, 322ff. ( = NJW 1997, 1497ff.) mit Anm. von Berkemann und Katholnigg, JR 1997, 281 ff. und 284 ff.; Th. Pfeiffer, EWiR Art. 101 GG 1/97, 847f. sowie den Besprechungsaufsatz von Sangmeister, NJW 1998, 721 ff. 160 Zustimmend insoweit Th. Pfeiffer, EWiR Art. 101 GG 1/97, 848; kritisch hingegen Berkemann, JR 1997, 282; s. auch oben Fn 152 f. BVerfGE 95, 322 (329). 162 Ebd. A.a.O. S. 330 ff. 164 A.a.O. S. 331. Ebenso BVerfG, NJW 1998, 743 (744). A.a.O. S. 332. Vgl. B G H ( V G S ) Z 126, 63 (72, 84) ( = N J W 1994,1735 [1737,1740]). Der Vorlagebeschluß des Ersten Senats hat sich zur Bestimmung des Berichterstatters nur bezüglich der Konstellation geäußert, daß hiervon die Besetzung der Richterbank abhängt (BVerfG, NJW 1995, 2703 [2706]).
14. Kapitel: Der Anschauungswandel zur Bedeutung des § 21g II GVG
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allmählich verfeinert; deshalb sei den Fachgerichten für die Umsetzung der verdeutlichten und fortgebildeten Auslegung des Art. 101 I 2 G G eine (kurz bemessene) Übergangsfrist zuzubilligen. 167 Eine Gesamtwürdigung der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen führt zu dem Ergebnis, daß die vom B G H für die Interpretation des § 21g II GVG (a.F.) vorgenommene Neubewertung auch im Rahmen des Art. 1 0 1 1 2 G G verfassungsrechtlich nachvollzogen wurde. Hinter diesen Auslegungsstandard kann mithin ohne Verfassungsverstoß nicht mehr zurückgegangen werden. Hiermit ist zugleich eine Schwächung der Argumentationsbasis des B G H insofern verbunden, als die Vereinigten Großen Senate des B G H ihr gewandeltes Verständnis als über die verfassungsrechtlichen Vorgaben hinausgehend dargestellt haben. Der Tendenz nach erfährt der Chor der Kritiker des B G H (insbesondere durch den Vorlagebeschluß des Ersten Senats) einen argumentativen Auftrieb. Nicht mit Sicherheit sagen läßt sich jedoch, ob das Plenum des BVerfG nur den vom B G H neuerdings eingeschlagenen Kurs verfassungsrechtlich absichern oder ob es weitergehend die obersten Bundesgerichte allgemein zu einer noch strengeren Beachtung der verschärften verfassungsrechtlichen Maßstäbe anhalten wollte.
V.
Die Neugestaltung des § 21g GVG durch das Gesetz zur Stärkung der Unabhängigkeit der Richter und Gerichte vom 22.12.1999
In die dargestellte Entwicklung ist schließlich als vorerst letzte Etappe auch die Novellierung des § 21g GVG durch das Gesetz zur Stärkung der Unabhängigkeit der Richter und der Gerichte vom 22.12.1999 1 6 8 einzubeziehen. Zwar nehmen die Gesetzesmaterialien explizit weder auf die einschlägigen höchstrichterlichen Entscheidungen noch auf die ihnen vorausgegangene rechtspolitische Debatte Bezug, und sowohl die inhaltlichen Anforderungen an die Gestaltung der Mitwirkungsgrundsätze als auch die Voraussetzungen ihrer Abänderbarkeit wurden beibehalten. Die Novellierung des § 21g GVG betrifft vielmehr ausschließlich die formelle Seite der spruchkörperinternen Geschäftsverteilung. Diesbezüglich erfolgte (neben einer deutlicheren Anlehnung an § 21 e GVG) eine Kompetenzverlagerung dahingehend, daß die Mitwirkungsgrundsätze nicht mehr einseitig vom Vorsitzenden bestimmt, sondern von der Gesamtheit der dem Spruchkörper ange167
BVerfGE 95, 322 (333 ff.). Der Erste Senat hat daraufhin die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen (NJW 1998, 743 f.). Angesichts der Entscheidung des Plenums, die Vergangenheit ruhen zu lassen, spricht Berkemann (JR 1997, 284) davon, die frühere Praxis des BGH und des BFH sei damit ,„mit einem blauen Auge' davongekommen". Deutlich schärfer fällt die Kritik an der .„kollegialen' Absolution" bei Sangmeister (NJW 1988, 722) aus, der in der (von den Präsidenten des BGH und des BFH „nachdrücklich eingefordert[en]") „Schonung" dieser Gerichte eine Richterentziehung seitens des Plenums des BVerfG sieht (a.a.O. S. 726f.); s. auch dens., JuS 1999, 25. Im Gegensatz hierzu vertritt Fromme (in: FAZ vom 19.4.1997, S. 4) die Auffassung, daß das Plenum dem Ersten Senat „weitgehend gefolgt" sei. 's» BGBl. I, S. 2598. Vgl. hierzu Kissel, NJW 2000, 460ff. sowie kritisch (o. Verf.) DRiZ 2000, 1 ff.; s. auch Niewerth, DRiZ 2000, 4 f. Einen parlamentarischen Vorläufer hat das Gesetz in dem von den Bundesländern Hessen und Schleswig-Holstein initiierten Gesetzesentwurf des Bundesrats zur Reform der Präsidialverfassung (BR-Drucks 97/98); s. hierzu Wichel, ZRP 1998, 221 ff. sowie die Stellungnahme von (Richter(inne)n und Staatsanwält(inn)en in der Gewerkschaft Ö T V der Bezirke N W I und NW II, in: Betrifft Justiz Nr. 54 (Juni 1998), 277 ff.
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Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
hörenden Berufsrichter beschlossen werden. 1 6 9 Diese Änderung ist Ausdruck des mit dem Reformvorhaben (u.a.) verfolgten Zieles, „sachlich nicht mehr gerechtfertigte Privilegien, die sich häufig als Hindernis auf dem Weg des Wandels der Justiz erwiesen haben", zu überwinden. 170 Parallel hierzu soll auf der Ebene des gesamten Gerichts eine Stärkung des Präsidiums dadurch erfolgen, „daß die überkommene hervorgehobene Stellung der Vorsitzenden Richter zugunsten der Gleichrangigkeit der Richter zurückgefahren und zugleich Regelungen vorgesehen werden, die die Findung einvernehmlicher Lösungen für die Geschäftsverteilung und die anderen vom Präsidium zu entscheidenden Fragen unterstützen". 1 7 1 Der Umsetzung dieses Vorhabens dient insbesondere die Abschaffung des Vorsitzenden-Quorums. Das bedeutet, daß die Gruppe der Vorsitzenden Richter nicht mehr zwangsläufig - wie dies gemäß § 21a II G V G der Fall war - die Hälfte der Präsidiumsmitglieder stellt; vielmehr entscheiden nunmehr allein die Wählerstimmen (unabhängig vom Status des Bewerbers) über die Zusammensetzung des Präsidiums. Als weitere Maßnahmen sind die Erweiterung der Anhörungspflichten (§ 21e II G V G ) sowie die in das Ermessen des Präsidiums gestellte Möglichkeit zu nennen, seine Beratungen und Abstimmungen richteröffentlich abzuhalten (§ 21e VIII G V G ) . Das Grundmotiv der Reform der Präsidialverfassung, die gerichtsinterne Demokratie zu stärken und hierbei den Einfluss der Vorsitzenden Richter tendenziell zurückzudrängen, 1 7 2 zielt auf eine Verschiebung der Machtbalance und lenkt zugleich den Blick auf die innerhalb des Spruchkörpers bestehenden Organisations- und Kommunikationsstrukturen. Dieses Beziehungsgeflecht ist nachfolgend näher zu betrachten, um eine möglichst breite Grundlage für die Beurteilung der Frage zu schaffen, welche Konsequenzen sich aus der in diesem Kapitel dargestellten Entwicklung für die Auslegung des § 21g II G V G ergeben.
'«» Vgl. in diesem Sinne insbesondere Eser, FS Saiger (1995), S. 2 6 9 ff.; Kissel, DRiZ 1995, 129 f.; Zuleeg, ZRP 2000, 4 8 5 ; s. auch die entsprechende Forderung des DRB in DRiZ 1985, 2 2 8 ; 1998, 9 7 ; Bietz, DRiZ 1989, 106; ferner Hansens, NJW 1991, 9 5 4 und 1341 sowie Makowka, DRiZ 1992, 210. i™ BT-Drucks 14/979, S. 4. >7' Ebd. 172 Vgl. auch Kissel, NJW 2000, 461 („Vorsitzenden-Dämmerung"); s. auch allgemein zum rechtspolitischen Anliegen einer Stärkung der gerichtsinternen Demokratie ders., J Z 1995, 125 ff.; ferner P. Schneider, FS 150 Jahre OLG Zweibrücken (1969), S. 2 6 2 ff. sowie Zuleeg, ZRP 2 0 0 0 , 4 8 4 f.
15. Kapitel: Justizpolitische Überlegungen zur Organisationsund Kommunikationsstruktur im Spruchkörper Ging es im vorangegangenen Kapitel darum, die einzelnen Etappen der Entwicklung der spruchkörperinternen Geschäftsverteilung und ihrer Verflechtung mit dem Prinzip des gesetzlichen Richters chronologisch nachzuzeichnen, so ist nunmehr eine Beurteilung der gegenwärtigen Situation vorzunehmen. Bevor die Klärung der zu § 21g II G V G bestehenden Auslegungsprobleme in Angriff genommen werden kann, sollen die Organisations- und Kommunikationsstrukturen im Spruchkörper näher betrachtet werden. Diese rechtssoziologische und justizpolitische Dimension war jedenfalls bis zum Jahre 1 9 9 9 für die Interpretation dieser Vorschrift insoweit von Bedeutung, als das Leitbild der spruchkörperinternen Interaktion eine Bezugsgröße für die Normauslegung bot, indem man entweder einen gewissen Freiraum als für die Erfüllung der dem Vorsitzenden obliegenden Aufgaben unverzichtbar ansehen 1 oder umgekehrt eine strikte Bindung gerade deshalb fordern konnte, weil der Vorsitzende „ohne verbindlichen internen Geschäftsverteilungsplan Fäden in der Hand (halte), die nicht dorthin gehören". 2 D o c h die Ausleuchtung dieses Hintergrundes ist nicht deshalb entbehrlich geworden, weil der Gesetzgeber inzwischen die Kompetenz zur Aufstellung der Mitwirkungsgrundsätze vom Vorsitzenden auf die Gruppe der dem Spruchkörper angehörenden Berufsrichter verlagert hat. Denn die Umschreibung der inhaltlichen Anforderungen an den Mitwirkungsplan hat der Gesetzgeber beibehalten. Die hiermit einhergehende Frage, o b die bisherigen Maßstäbe fortgeschrieben werden können, verleiht der Einbindung in das justizinterne Strukturgeflecht mittelbar weiterhin Bedeutung. Der Umstand, daß die Kritiker der spruchkörperinternen Machtstrukturen an den Grundfesten der Justiz gerüttelt haben und hierdurch die Sachfragen vom Autoritätsproblem überlagert worden ist, bietet nicht nur rückwärtsgewandt einen Erklärungsansatz für die emotionale Schärfe der Auseinandersetzung. Vielmehr sind auch die Beurteilung der neuen vom Gesetzgeber verfolgten, auf eine stärkere Demokratisierung der Justiz abzielenden Vorstellungen sowie die Aussichten für eine Umsetzung dieser Reformen im Gerichtsalltag mitgeprägt von den Anschauungen über das rollenspezifische Zusammenwirken der Berufsrichter. Es geht insoweit auch nicht allein um die Aufdeckung divergierender Vorverständnisse, sondern den aus dieser Quelle fließenden Überlegungen k o m m t zugleich ein argumenta-
' Vgl. hierzu (bezüglich der Entstehungsgeschichte des Rechtspflege-Vereinfachungsgesetzes) Kissel, GVG 2 , § 21g Rn 4. 2 Wiebel, BB 1992, 574. Vgl. zur Problematik der Hierarchie im Spruchkörper anläßlich der spruchkörperinternen Geschäftsverteilung auch Lamprecht, BB 1992, 2 1 5 6 ; ders., DRiZ 1992, 237; ders., Mythos, S. 142ff.; Sangmeister, ZRP 1995, 297ff.; s. ferner E. Schneider, ZAP 1992, 601 („Klischee vom Vorsitzenden als Übervater").
406
Dritter Teil: Gesetzlicher Richter und Gerichtsverfassungsrecht
tiver Wert zu; denn die strukturellen Interaktionsbedingungen im Spruchkörper sind für das Funktionieren der Justiz von maßgeblicher Bedeutung. 1 Verfehlt wäre überdies die Annahme, allgemeine Aussagen in diesem Bereich seien schon deshalb nicht möglich, weil es bei der Betrachtung des spruchkörperinternen Beziehungsgeflechts ohnehin stets auf die individuellen Besonderheiten der konkret handelnden Personen ankomme. Es ist gewiß zutreffend, daß „die Arbeit im Kollegium ... ein feinnerviges Zusammenspiel (ist), das, unendlicher Variationen fähig, stark von Wesens· und Denkart der Mitglieder bestimmt wird". 4 Im Justizalltag ist die Situation des „schwachen" Vorsitzenden, der die Leitung stillschweigend an einen energischen und aufstrebenden Beisitzer abgetreten hat, ebenso anzutreffen wie der autoritäre Vorsitzende, der in seiner Kammer ein strenges Regiment führt und keinen Widerspruch duldet; ferner sind zwischen diesen Extremen alle Schattierungen nicht nur abstrakt konstruierbar, sondern in der Lebenswirklichkeit tatsächlich auffindbar. Auch die Wortmeldungen aus der unter dem Stichwort des Abbaus hierarchischer Strukturen geführten Justizdebatte der 70er Jahre 5 erscheinen vielfach als Schwarzweißmalerei: Auf der einen Seite gibt es die vernichtenden Erfahrungsberichte frustrierter Beisitzer, auf der anderen Seite Beschreibungen von Vorsitzenden, die eine weitgehende Übereinstimmung zwischen einem hohen Ideal und der Realität annehmen und hierbei durchaus den Eindruck erwecken, über alle systemimmanenten und menschlichen Schwächen erhaben zu sein. 6 Der Hinweis, daß menschliche Unvollkommenheit in jeder Richtergruppe anzutreffen ist und daß es im Einzelfall „faule" Beisitzer ebenso gibt wie „unfähige" Vorsitzende (und umgekehrt), ist wohlfeil. Repräsentative Aussagen über die Justizwirklichkeit in diesem Bereich fehlen, doch wird man annehmen dürfen, daß entsprechende empirische Untersuchungen eher die Mannigfaltigkeit der Erscheinungsformen bestätigen als ein eindeutiges Bild des typischen Spruchkörpers hervorbringen würden. Das Wissen darüber, daß eine vollständige Reglementierung des Faktors „Mensch" weder möglich noch erstrebenswert ist und daß die Interaktion im Kollegium letztlich stets maßgeblich von den charakterlichen und persönlichen Eigenschaften 7 der beteiligten Personen abhängt, enthebt jedoch nicht von strukturellen Überlegungen darüber, inwieweit durch institutionalisierte Vorkehrungen bestimmte Elemente im Kräftespiel betont oder zurückgedrängt werden sollen. 8 Hierbei ist einerseits in normativer Hinsicht das Richterbild von Bedeutung, das der Gesetzgeber (wenngleich unausgesprochen) dem Gerichtsverfassungs- und Prozeßrecht zugrunde gelegt hat. 9 Daneben können
' Vgl. die Auflistung e n t s p r e c h e n d e r Fragen bei Wassermann, in: N a u c k e / T r a p p e , Rechtssoziologie u n d Rechtspraxis ( 1 9 7 0 ) , S. 148 f. Speziell zur Hierarchie im Richterkollegium vgl. Lautmann, ZRP 1972, 129 ff.; Meyke, D R i Z 1990, 2 8 7 ff. 4 Eichenberger, Unabhängigkeit, S. 2 4 0 ; s. auch Küper, Richteridee, S. 3 1 2 ff. 5 Vgl. zu dieser Diskussion, in der u.a. die Gleichwertigkeit und gleiche Besoldung aller Richterä m t e r sowie die Abschaffung des ständigen Vorsitzenden zugunsten eines rotierenden Vorsitzes der Beisitzer gefordert w u r d e n , Zitscher, Fragen, S. 2 3 ff.; Hanack, Z Z P 8 7 ( 1 9 7 4 ) , 4 1 2 f.; Kissel, Z u k u n f t , S. 51 ff.; Simon, Unabhängigkeit, S. 29, 3 6 f f . ; s. auch Beer, KJ 1983, 3 7 5 ff. (383). 6 Kissel, Z u k u n f t , S. 52. Vgl. auch exemplarisch Hülle, D R i Z 1972, 3 6 9 f f . ; Krause, D R i Z 1972, 171 f. und E. Schneider, D R i Z 1970, 3 1 8 ff.; ders., DRiZ 1973, 2 0 f. 7 Vgl. hierzu auch die Schrift von Scheuerle, Vierzehn T u g e n d e n für Vorsitzende Richter ( 1 9 8 3 ) . 8 S. auch oben 4. Kap. V. und 5. Kap. II.l zu d e m B e m ü h e n , die richterliche Unabhängigkeit als in letzter Konsequenz personale Eigenschaft durch flankierende institutionelle Sicherungen zu fördern. 9 Allgemein hierzu die ausführliche U n t e r s u c h u n g von Küper, Die Richteridee der Strafprozeßordn u n g und ihre geschichtlichen Grundlagen (1967), insbesondere S. 2 7 f f . , 3 0 3 ff.
15. Kapitel: Justizpolitische Überlegungen zur Organisations- und Kommunikationsstruktur
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aber auch Einzelbeobachtungen aus der Praxis Anhaltspunkte für mögliche strukturelle Mängel bei der Zusammenarbeit im Spruchkörper bieten. Für den hier interessierenden Kontext ist deshalb danach zu fragen, ob es zu der im Gerichtsverfassungsrecht verankerten „Idee" des Vorsitzenden gehört, daß er einen bestimmenden Einfluß auf die Zusammensetzung des Spruchkörpers ausüben kann.
I.
Die Rolle des Vorsitzenden im Spruchkörper
Die Bestimmung der Position des Vorsitzenden bereitet deshalb besondere Schwierigkeiten, weil seine Stellung innerhalb des Kollegiums durch ein Nebeneinander von Elementen sowohl der Über- als auch der Gleichordnung geprägt ist. 1 0 Einerseits überträgt das Gesetz dem Vorsitzenden 1 1 bestimmte Entscheidungsbefugnisse ( z . B . die Auswahl eines Pflichtverteidigers gemäß § 141 StPO, die Anberaumung eines Verhandlungstermins oder die Ausübung der Sitzungspolizei gemäß § 176 G V G ) . 1 2 Andererseits verfügt der Vorsitzende bei allen Entscheidungen grundsätzlich 1 3 über das gleiche Stimmrecht wie die übrigen Richter; er kann also nicht nur überstimmt werden, sondern das Gesetz normiert in § 197 S. 4 G V G ausdrücklich, daß er seine Stimme als letzter abgibt. Die häufig zur Charakterisierung verwandte Formulierung, der Vorsitzende sei „primus inter pares", 1 4 bringt die Ambivalenz der Normenlage allenfalls in beschreibender Weise zum Ausdruck, ohne sie jedoch aufzulösen. 1 5
1.
Die F o r m e l v o m „ r i c h t u n g g e b e n d e n Einfluß des V o r s i t z e n d e n "
Als Grundlage für einen dem Vorsitzenden bei der Heranziehung der mitwirkenden Richter möglicherweise einzuräumenden Spielraum k o m m t die von der höchstrichterlichen Judikatur entwickelte Formel vom „richtunggebenden Einfluß" des Vorsitzenden 1 6 auf
10 Eser, FS Saiger (1994), S. 264. Allgemein zu den Aufgaben des Vorsitzenden auch Stelkens, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 4 Rn 35 ff. 11 Bezüglich anderer Entscheidungen sieht die StPO ausdrücklich eine Entscheidung des Gerichts vor; vgl. die Zusammenstellung bei Bohnert, Beschränkungen, S. 167. 12 Bei diesen Maßnahmen stellt sich (insbesondere mit Blick auf § 238 II StPO) die Frage, ob der Vorsitzende als Vertreter des Spruchkörpers handelt oder aufgrund funktionaler Eigenrechte tätig wird. Zur „sekundären funktionelle^) Zuständigkeit des Kollegiums" vgl. Erker, Beanstandungsrecht, S. 48 ff.; Schmid, Verwirkung, S. 280 ff. (282); Bohnert, Beschränkungen, S. 166ff. sowie bereits Levin, Prozeßleitung, S. 50ff.; vgl. auch Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 10ff.; KMR-Paulus, Rn 3; SK/StPOSchlüchter, Rn 2 ff. und KK-Tolksdorf, Rn 6 ff. jeweils zu § 238. 11 Eine Ausnahme enthält insoweit § 196 IV GVG (Stichentscheid des Vorsitzenden in mit zwei Berufsrichtern und zwei Schöffen besetzten Spruchkörpern bezüglich der mit einfacher Mehrheit zu entscheidenden Fragen). Vgl. hierzu Kern, JZ 1959, 320ff. und Kühne, DRiZ 1960, 391; s. auch MeierScherling, DRiZ 1990, 494 (zu § 132 VI 3 GVG). Vgl. z.B. Kern, DRiZ 1959, 143; Moning, Geschäftsverteilung, S. 41; C. Seibert,]Z 1959, 349 sowie die Nachweise bei Erker, Beanstandungsrecht, S. 49 (Fn 223). 15 Mit Recht kritisch Bohnert, Beschränkungen, S. 167; Meyke, DRiZ 1990, 287; Sarstedt, JuristenJahrbuch 8 (1967/68), S. 104. ' Vgl. Idel, Sondergerichte, S. 72 f., 93 ff.
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
ständigkeit nicht aus abstrakt festgelegten Normen, sondern aufgrund einer weitgehend einzelfallbezogenen Entscheidung der Verfolgungsbehörde ergab. 161 Zur vollständigen Aufhebung der Zuständigkeitsgrenzen führte die Ausdehnung der Sondergerichtszuständigkeit auf sog. „Gangstersachen", d.h. auf schnell abzuurteilende (auch unpolitische) Kapitalsachen: Gemäß Art. I der Verordnung über die Erweiterung der Zuständigkeit der Sondergerichte vom 20.11.1938162 konnte die Staatsanwaltschaft „bei Verbrechen, die zur Zuständigkeit des Schwurgerichts oder eines niedrigeren Gerichts gehören, ... Anklage vor dem Sondergericht erheben, wenn sie der Auffassung ist, daß mit Rücksicht auf die Schwere oder die Verwerflichkeit der T a t oder die in der Öffentlichkeit hervorgerufene Erregung die sofortige Aburteilung durch das Sondergericht geboten ist". 1 6 3 Wenig später wurde diese Befugnis auch auf Vergehen erstreckt, sofern die Anklagebehörde „der Auffassung ist, daß durch die Tat die öffentliche Ordnung und Sicherheit besonders schwer gefährdet wurde". 1 6 4 Die nahezu unbegrenzte Wahlmöglichkeit der Staatsanwaltschaft galt überdies auch hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit; insoweit war durch § 7 der Verordnung vom 2 1 . 3 . 1 9 3 3 für das Verfahren vor den Sondergerichten den allgemeinen Gerichtsständen des Begehungsortes und des Wohnsitzes gleichberechtigt der Gerichtsstand des Ergreifungs- und des Haftortes 1 6 5 hinzugefügt worden. Die Sondergerichtsbarkeit, zu der im weiteren Sinne seiner normativen Konzeption nach auch der Volksgerichtshof zu rechnen ist, 166 verzeichnete im Zuge der dargestellten Entwicklung nicht nur eine quantitative Zunahme, 1 6 7 sondern ihr kommt zugleich ein gewisser Modellcharakter für nachfolgende Entwicklungen im Bereich des allgemeinen Strafprozeßund Strafgerichtsverfassungsrecht zu. 168 Dies gilt insbesondere im Bereich der Zuständig-
Gruchmann, Justiz, S. 950; Schorn, Richter, S. 111. RGBl. I, S. 1632. 163 Vgl. näher zu diesem Einschnitt Glunz, Sondergerichte, S. 15 ff., 22 ff.; Gruchmann, Justiz, S. 951 f. 164 So § 19 der Verordnung über Maßnahmen auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung und der Rechtspflege vom 1.9.1939 (RGBl. 1, S. 1658); vgl. Gruchmann a.a.O. S. 952. 165 Eine nochmalige Erweiterung brachte § 18 der Verordnung über die Zuständigkeit der Strafgerichte, die Sondergerichte und sonstige strafverfahrensrechtliche Vorschriften vom 21.2.1940 (RGBl. I, S. 405), der anstelle des Haftortes den Gerichtsstand des Verwahrungsortes einführte; vgl. Glunz, Sondergerichte, S. 37 f.; Niethammer, in: Hartung/Niethammer, Strafverfahrensrecht, S. 302; U. Schumacher, Staatsanwaltschaft, S. 138 (Fn 24). 166 Die Errichtung des Volksgerichtshofs erfolgte durch das Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafrechts und des Strafverfahrens vom 24.4.1934 (RGBl. I, S. 341). Vgl. Gruchmann, Justiz, S. 956 ff.; Marxen, Volk, S. 79 ff.; zum Verhältnis von Volksgerichtshof und Sondergerichten s. auch Rüping, JZ 1984, 820 f.; S. König, Dienst, S. 137 f. 167 Vgl. Gruchmann, Justiz, S. 952ff.; U. Schumacher, Staatsanwaltschaft, S. 136 (Fn 18); A "Wagner, Umgestaltung, S. 249 ff.; Weckbecker, Freispruch, S. 799 (s. auch a.a.O. S. 62 ff., 768 ff.). Schwieriger ist demgegenüber die qualitative Beurteilung der Rechtsprechung der Sondergerichte. Die insoweit erforderlichen detaillierten empirischen Untersuchungen zu einzelnen Bezirken (vgl. Rüping, J Z 1984, 820 f.) sind gerade in jüngster Zeit verstärkt vorgelegt worden; vgl. hierzu die Literaturberichte von Vormbaum, GA 1998, 6ff. und Rüping, ZStW 110 (1998), 157ff.; vgl. ferner (vergleichend zur Rechtsprechung der Sondergerichte Frankfurt/Main und Bromberg) Weckbecker, Zwischen Freispruch und Todesstrafe (1998). 168 I. Müller, in: Reifner/Sonnen, Strafjustiz und Polizei im Dritten Reich (1984), S. 69; Weckbecker, Freispruch, S. 799; Werfe, Justiz-Strafrecht, S. 22f.; s. auch den bei Rüping (Staatsanwälte und Parteigenossen [1994], S. 99ff.) abgedruckten Bericht des LG-Direktors Stein (a.a.O. S. 107ff.). Die Annä161
17. Kapitel: Grundlagen zur Problematik der „beweglichen" Zuständigkeit im Strafprozeß
489
keitsordnung. Denn die insoweit maßgeblichen Regelungen bilden kein Spezifikum der Sondergerichtsbarkeit, sondern sie sind Ausdruck eines Grundverständnisses u.a. der Rolle der Staatsanwaltschaft,169 das auch im Rahmen der allgemeinen Strafgerichtsbarkeit seinen Niederschlag finden sollte. Die Umsetzung dieser Konzeption erfolgte durch die Verordnung über die Zuständigkeit der Strafgerichte, die Sondergerichte und sonstige verfahrensrechtliche Vorschriften vom 21.2.1940170. Diese auf dem Bericht der Strafrechtskommission basierende und damit von den Besonderheiten der Kriegssituation weitgehend unabhängige171 Zuständigkeits-Verordnung diente dem Zweck, die bisher in mehreren Gesetzen verstreuten Vorschriften über die sachliche Zuständigkeit zu einer übersichtlichen Gesamtordnung zusammenzufassen.172 Ihr lag eine aus grundanschaulichen Motiven vorgenommene Methodenänderung der Zuständigkeitsbestimmung zugrunde, deren charakteristischer Hauptzug in der Übertragung weitester Vollmachten zur Bewertung des Einzelfalles auf die mit seiner Bearbeitung betrauten Strafrechtspflegeorgane gesehen wurde.17' Das materielle Strafrecht des Nationalsozialismus war durchzogen vom Gedanken der Subjektivierung, der u. a. in der dogmatischen Lehre vom Tätertyp, vor allem aber auch in einer erheblichen Erweiterung der Strafrahmen Ausdruck fand. Eine solche Sichtweise bedingte zugleich gerichtsverfassungsrechtliche Konsequenzen insofern, als die weiten Strafrahmen kein geeignetes Kriterium bilden, um schwere Strafsachen von weniger schweren Fällen abzuschichten.174 Parallel zu diesen Reformen des materiellen Rechts löste sich die Konzeption der sachlichen Zuständigkeit zunehmend von den früher bedeutsamen Kriterien der Deliktsart, der gesetzlichen Tatbestandsgestaltung und der gesetzlich abstrakt angedrohten Höchststrafe; statt dessen wurde im Zuge einer konkreten Betrachtungsweise die im jeweiligen Einzelfall zu erwartende Strafe oder Maßregel zum vorrangigen Zuordnungsmerkmal erhoben.175 Dieser Ansatz wurde rechtstechnisch durch die Einführung des Strafbanngedankens176 umgesetzt. Nachdem sich seit Kriegsbeginn wegen des Wegfalls der Laienrichter die Zahl herung ist nicht allein durch die Kriegsumstände bedingt, wenngleich sich hierdurch die Angleichung verstärkte; vgl. A. Wagner, Umgestaltung, S. 256 f., 260. ,69 Allgemein zum Machtzuwachs der Staatsanwaltschaft im Strafrechtssystem des NS-Staates U. Schumacher, Staatsanwaltschaft, S. 53 ff., 202f.; A. Wagner, Umgestaltung, S. 282 ff.; Werte, JustizStrafrecht, S. 696ff.; Eb. Schmidt, FS Kohlrausch (1944), S. 264ff.; ders., Einführung, S. 441 f.; s. auch Kern, ZStW 61 (1941), 418 f., 420 ff.; Niethammer, in: Hartung/Niethammer, Strafverfahrensrecht, S. 286 f., 288. 170 RGBl. I, S. 405. Zu dieser (nachfolgend als ZuständigkeitsVO bezeichneten) Verordnung vgl. Grau, DJ 1940, 309 ff.; Freister, DJ 1940, 281 ff.; Rob. ν. Hippel, Strafprozeß, S. 710 ff. Die Verordnung ist abgedruckt und kommentiert bei Grau, in: Freisler/Grau/Krug/Rietzsch, Strafrecht Bd. I, S. 596 ff. sowie bei Hartung/Niethammer, Strafverfahrensrecht, S. 275 ff. 171 Freister, DJ 1940, 281; Grau, in: Freisler/Grau/Krug/Rietzsch, Strafrecht Bd. I, S. 596; s. auch ders., in: Gürtner, Das kommende deutsche Strafverfahren (1938), S. 184 ff. 172 Klee, ZAkDR 1940, 89. 171 Freisler, DJ 1940, 281. 174 Vgl. zu diesem Zusammenhang Grau, in: Gürtner, Das kommende deutsche Strafverfahren (1938), S. 185ff.; s. auch v. Gleispach, DStrR 1941, 1 f. 175 Freister, DJ 1940, 282; Grau, in: Freisler/Grau/Krug/Rietzsch, Strafrecht Bd. I, S. 597; ders., DJ 1940, 309; Klee, ZAkDR 1940, 89; s. auch U. Schumacher, Staatsanwaltschaft, S. 139 f. 176 Zur unterschiedlichen Strafgewalt von Amtsrichter, Schöffengericht und Schöffenkammer im Entwurf der Strafprozeßkommission vgl. Grau, in: Gürtner, Das kommende deutsche Strafverfahren (1938), S. 187 ff.
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
der Eingangsspruchkörper um das Schöffen- und das Schwurgericht verringert hatte, 177 wurde dem Strafrichter jetzt eine bestimmte Rechtsfolgenkompetenz 178 zugewiesen, die den Rahmen seiner sachlichen Zuständigkeit bildete. Diese Methode der Zuständigkeitsbestimmung fand zwar ihre Grenze an einigen ausschließlichen Gerichtszuständigkeiten, doch bildeten diese die deutliche Ausnahme. 179 Ferner war die Bindung an den Strafbanngedanken zugunsten der Staatsanwaltschaft insofern gelockert, als ihr ungeachtet der an sich ausreichenden Strafgewalt des Amtsrichters gemäß § 4 I 2 ZustVO die Befugnis eingeräumt wurde, die Anklage vor der Strafkammer zu erheben, wenn dies nach Auffassung des Staatsanwalts „mit Rücksicht auf den Umfang oder die Bedeutung der Sache oder aus anderen Gründen angezeigt ist". 180 Die Wahlzuständigkeit der Staatsanwaltschaft bezüglich des Sondergerichts 181 war gemäß § 14 I ZustVO an die Voraussetzung geknüpft, daß nach der Beurteilung der Anklagebehörde „die sofortige Aburteilung durch das Sondergericht mit Rücksicht auf die Schwere oder die Verwerflichkeit der Tat, wegen der in der Öffentlichkeit hervorgerufenen Erregung oder wegen ernster Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit geboten ist". Schließlich wurde der Gerichtsstand des Verwahrungsortes für die örtliche Zuständigkeit der Sondergerichte, kurze Zeit später auch für jene der allgemeinen Strafgerichte eingeführt. 182 Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung ist das Wesen der nationalsozialistischen Zuständigkeitsordnung nicht allein in einer konkreten Betrachtungsweise, sondern darüber hinaus in einer bewußt flexibel gestalteten Regelung zu sehen. Wurde im Zuge der Emminger-Reform die „Beweglichkeit" der Zuständigkeit in einem kritischen Sinne verwandt, so bekannte man sich nunmehr ausdrücklich zum „Prinzip der beweglichen Zuständigkeit". 183 Der Gesamteindruck der Zuständigkeits-Verordnung wurde als fruchtbares Nebeneinander verschiedener erstinstanzlicher Gerichte bezeichnet, „das die Anklagebehörde in den Stand setzt, sich für die Verhandlung und Aburteilung einer 177 Vgl. § 13 der Verordnung über M a ß n a h m e n auf d e m Gebiet der Gerichtsverfassung u n d der Rechtspflege v o m 1 . 9 . 1 9 3 9 (RGBl. I, S. 1658); g e m ä ß § 14 dieser (sog. Vereinfachungs)Verordnung w a r die S t r a f k a m m e r einheitlich mit drei Berufsrichtern besetzt. Vgl. Rob. ν. Hippel, Strafprozeß, S. 7 0 3 f.; Kern, Geschichte, S. 2 2 6 f. 178 Die Strafgewalt des Amtsrichters erstreckte sich g e m ä ß § 1 Z u s t V O u.a. auf die Verhängung von Z u c h t h a u s bis zu zwei Jahren, Gefängnis o d e r Festungshaft bis zu fünf Jahren sowie auf die A n o r d n u n g von Maßregeln der Sicherung und Besserung mit A u s n a h m e von Sicherungsverwahrung u n d E n t m a n n u n g ; vgl. näher Niethammer, in: H a r t u n g / N i e t h a m m e r , Strafverfahrensrecht, S. 2 7 7 ff. Die mit d e m begrenzten Strafbann des Amtsrichters verbundene Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit w u r d e hing e n o m m e n , u m zu verhindern, d a ß er als Einzelperson auf Freiheitsstrafen von zehn (gegebenenfalls sogar 15) Jahren sollte erkennen k ö n n e n ; vgl. Freister, DJ 1940, 2 8 3 ; Klee, Z A k D R 1940, 90. 17 ' Vgl. Freister, DJ 1940, 2 8 2 ; s. auch Grau, DJ 1940, 310, 3 1 2 f.; U. Schumacher, Staatsanwaltschaft, S. 134 ff. 180 Als „andere" G r ü n d e in diesem Sinne w u r d e n „die w ü n s c h e n s w e r t e Breitenwirkung eines Einzelurteils" (Freister, DJ 1940, 2 8 5 ) o d e r die E r ö f f n u n g des Rechtszuges z u m RG (Grau, in: Freister/ G r a u / K r u g / R i e t z s c h , Strafrecht Bd. I, S. 6 0 9 ) genannt. 181 Z u r (teils ausschließlichen, teils wahlweise b e g r ü n d e t e n ) sachlichen Zuständigkeit der Sondergerichte vgl. Glum, Sondergerichte, S. 29 ff. 182 Vgl. § 18 Z u s t V O (bezüglich der Sondergerichte) sowie die Ü b e r n a h m e in § 8a S t P O d u r c h Art. 2 I der Verordnung über den Geltungsbereich des Strafrechts vom 6.5.1940 (RGBl. I, S. 7 5 5 ) ; vgl. Rietzsch, in: Freisler/Grau/Krug/Rietzsch, Strafrecht Bd. I, S. 4 8 5 f.; s. auch Baader, Gesetzlicher Richter, S. 63; Weckbecker, Freispruch, S. 55. i«1 Klee, Z A k D R 1940, 90 (s. auch a.a.O. S. 89).
17. Kapitel: Grundlagen zur Problematik der „beweglichen" Zuständigkeit im Strafprozeß
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Strafsache das sich ihrer individuellen Eigenart am besten anpassende Gericht auszusuchen. Amtsrichter, Strafkammer, Sondergericht, Besonderer Strafsenat des Reichsgerichts stehen für alle Strafsachen zur Verfügung, soweit nicht die ausschließliche Zuständigkeit des Volksgerichtshofs Platz greift oder der Amtsrichter als Strafgericht ausscheidet, weil von vornherin seine Strafgewalt schon nach dem Gesetz nicht ausreicht. Ja, auch in den zur ausschließlichen Zuständigkeit des Sondergerichts gehörenden Strafsachen kann in geeigneten Fällen der Amtsrichter oder die Strafkammer mit der Sache befaßt werden. Der Staatsanwalt hat es insbesondere auch in der Hand, eine Sache dadurch, daß er sie dem Amtsrichter oder der Strafkammer vorenthält und sie beim Sondergericht oder Besonderen Strafsenat anklagt, rechtsmittelunfähig und umgekehrt durch Verweisung einer Sondergerichtssache zum ordentlichen Verfahren sie dem Rechtszuge zugänglich zu machen." 184 Angesichts dieses Befundes ist festzuhalten, daß die Wahlmöglichkeiten des Staatsanwalts hinsichtlich der Bestimmung des zuständigen Gerichts keine Erfindung des Nationalsozialismus waren, daß aber andererseits die Machtstellung der Strafverfolgungsbehörde in dieser Phase gerade auch im Hinblick auf die Zuständigkeitsbestimmung kontinuierlich ausgebaut wurde.185 Nimmt man den Umstand hinzu, daß die Geschäftsverteilung (spätestens) seit dem Jahr 1937 der gerichtlichen Selbstverwaltung entzogen und zu einer Angelegenheit der Justizverwaltung geworden war,186 so wird deutlich, daß die Exekutive in praktisch jedem Einzelfall das ihr genehm erscheinende Gericht auswählen (und gegebenenfalls zusätzlich auf die Besetzung des Spruchkörpers einwirken) konnte. Mit der Zuständigkeitsverordnung vom 21.2.1940 ist der Tiefpunkt der Entwicklung erreicht. Von einer abstrakt vorherbestimmten Festlegung des zuständigen Richters, wie sie das Prinzip des gesetzlichen Richters zum Schutz der Rechtsunterworfenen fordert, kann unter den dargestellten Gegebenheiten nicht mehr gesprochen werden.187
4.
Die Entwicklung seit 1945
Mit dem Zusammenbruch im Jahre 1945 ging die Rechtseinheit in Deutschland verloren.188 Zwar sah das Kontrollratsgesetz Nr. 4 vom 30.10.194Sm neben der WiederherKlee a.a.O. S. 91. U. Schumacher, Staatsanwaltschaft, S. 132, 202 f. Ein weiteres Beispiel für die Stärkung der Staatsanwaltschaft im NS-System bildet die Auflösung des Legalitätsprinzips; vgl. Schumacher a.a.O. S. 104 ff.; Marxen, Kampf, S. 234 f. 186 Zu dieser Entwicklung, deren wichtigste Stationen die Verordnung zur einheitlichen Regelung der Gerichtsverfassung vom 2 0 . 3 . 1 9 3 5 (RGBl. I, S. 403), das Gesetz über die Geschäftsverteilung vom 24.11.1937 (RGBl. I, S. 1286) sowie die Verordnung über Maßnahmen auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung und der Rechtspflege vom 1.9.1939 (RGBl. I, S. 1658) waren, vgl. ausführlich Gruchmann, Justiz, S. 971 ff.; s. auch Kern, Geschichte, S. 224f.; R. Schiedermair, DÖV 1960, 8 und A. Wagner, Umgestaltung, S. 207 f. 11,7 Baader, Gesetzlicher Richter, S. 64; s. auch G. Kröger, Gesetzlicher Richter, S. 25. '** Die nachfolgende Darstellung beschränkt sich auf die gesetzliche Entwicklung. Argumentative Zusammenhänge und die Auslegung der einschlägigen Vorschriften werden im nachfolgenden Kapitel erörtert. Eine eingehendere Behandlung der Zuständigkeitsnormen in der ersten Nachkriegsphase findet sich bei Baader, Gesetzlicher Richter, S. 65 ff. und G. Kröger, Gesetzlicher Richter, S. 32 ff.; vgl. ferner allgemein zum Wiederaufbau der Justiz Kern, Geschichte, S. 286 ff.; I. Müller, Juristen, S. 204 ff. 185
492
Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
Stellung der zunächst geschlossenen Amts-, Land- und Oberlandesgerichte die Anwendung des Gerichtsverfassungsgesetzes in der Fassung vom 2 2 . 3 . 1 9 2 4 vor, doch ergaben sich schon bald erhebliche Abweichungen insbesondere in der amerikanischen, aber auch in der britischen Besatzungszone. Die dortigen Regelungen entsprachen im wesentlichen dem seit 1932 bzw. 1940 geltenden Zuständigkeitsmodell,190 d.h., den einzelnen Spruchkörpern wurde ein für die Kompetenzabgrenzung maßgeblicher Strafbann zugewiesen und der Staatsanwaltschaft zudem das Recht eingeräumt, eine Strafsache wegen ihres Umfanges oder ihrer Bedeutung vor der Strafkammer anzuklagen.191. Auch das Vereinheitlichungsgesetz aus dem Jahre 1950 1 9 2 folgte weitgehend diesen Bahnen. Während die erstinstanzliche Zuständigkeit des Schwurgerichts sowie des Bundesgerichtshofes (mit der Möglichkeit der Überweisung an das Oberlandesgericht im Einzelfall) starr durch enumerative Deliktskataloge festgelegt wurde, war die Zuständigkeit der übrigen Eingangsspruchkörper (beim Amtsgericht der Amtsrichter und das Schöffengericht, beim Landgericht die große Strafkammer) teils unbedingt, teils bedingt geregelt. Für die Abschichtung zwischen Amts- und Landgericht war zunächst die abgestufte Strafgewalt von Bedeutung; hierbei durften die amtsgerichtlichen Spruchkörper auf eine Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren Zuchthaus (sowie auf alle Maßregeln der Sicherung und Besserung mit Ausnahme der Sicherungsverwahrung) erkennen. Innerhalb des Amtsgerichts waren dem Einzelrichter durch das Gesetz alle Übertretungen und alle im Wege der Privatklage verfolgten Vergehen zugewiesen; ferner war er zur Aburteilung von Vergehen und Rückfallverbrechen berufen, sofern keine höhere Strafe als ein Jahr Gefängnis zu erwarten war und die Staatsanwaltschaft nicht wegen der besonderen Bedeutung des Falles Anklage beim Landgericht erhob. Die Zuständigkeit des Schöffengerichts war einerseits durch den soeben dargestellten Kompetenzbereich des Einzelrichters, andererseits durch den dem Amtsgericht zugewiesenen Strafbann begrenzt. Ausgenommen waren die Delikte, die ausdrücklich dem Schwurgericht oder dem B G H zugewiesen waren; zudem stand auch die Zuständigkeit der Schöffengerichte unter dem Vorbehalt, daß die Sache nicht wegen der besonderen Bedeutung beim Landgericht angeklagt wurde. Für die große Strafkammer ergab sich eine feste Zuständigkeit bezüglich jener Verbrechen, deren Mindeststrafdrohung die Strafgewalt des Amtsgerichts überstieg; daneben war die große Strafkammer sachlich zuständig, wenn entweder im Einzelfall eine Zuchthausstrafe von mehr als zwei Jahren (bzw. die Anordnung der Sicherungsverwahrung) zu erwarten war oder die Staatsanwaltschaft den Fall wegen seiner besonderen Bedeutung vor der Strafkammer angeklagt hatte. Um zu gewährleisten, daß die maßgebende Entscheidung über das Zuständigkeitsmerkmal der „besonderen Bedeutung" nicht mehr bei der Staatsanwaltschaft, sondern beim unabhängigen Gericht liegt, Amtsblatt der Militärregierung, S. 39. Vgl. auch Kissel, GVG, Einl. Rn 7, 83. G. Kröger, Gesetzlicher Richter, S. 33; Eb. Schmidt, MDR 1958, 721. 191 Vgl. ferner zur (späteren) Wiedereinführung der Schöffengerichte in Württemberg-Baden (durch V O Nr. 229 des württembergisch-badischen Justizministeriums vom 7.7.1947 [Reg.Bl. von Württemberg-Baden 1947, S. 86]) Baader, Gesetzlicher Richter, S. 68 f. 192 Die genaue Bezeichnung lautet „Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts" vom 1 2 . 9 . 1 9 5 0 (RGBl. I, S. 454). Vgl. hierzu Kern, Geschichte, S. 300ff. sowie speziell zur strafrechtlichen Zuständigkeitsordnung Geiger, SJZ 1950, Sp. 712 f.; (kritisch) Niese, JuV 1950, 74f.; LR-K. Schäfer, § 24 GVG Rn 3. 189
17. Kapitel: Grundlagen zur Problematik der „beweglichen" Zuständigkeit im Strafprozeß
493
wurde durch den neu geschaffenen § 209 I 2 StPO (a.F.) ausdrücklich die Befugnis der Strafkammer normiert, in solchen Fällen das Hauptverfahren auch vor dem Schöffengericht eröffnen zu können. Ferner beseitigte das Vereinheitlichungsgesetz den (bis dahin in der amerikanischen Besatzungszone fortgeltenden) Gerichtsstand des Verwahrungsortes.193 Der Aufbau der Strafgerichtsbarkeit im Vereinheitlichungsgesetz entsprach weitgehend der Situation des Jahres 1932; hinsichtlich der Regelungstechnik war der Strafbanngedanke aus der Zuständigkeitsverordnung von 1940 beibehalten worden. Dieses systematische Grundgerüst prägt die Strafgerichtsverfassung bis zum heutigen Tag. Das schließt einzelne Umgestaltungen und Veränderungen freilich nicht aus.194 So wurde im Jahre 1951 die Staatsschutzkammer beim Landgericht (durch Einfügung des § 74a GVG [a.F.]) geschaffen; 195 das Jahr 1953 brachte neben der Verabschiedung des Jugendgerichtsgesetzes 196 die Wiedereinführung des erweiterten Schöffengerichts 197 sowie die Aufwertung des Ergreifungsortes zum allgemeinen, nicht lediglich subsidiären Gerichtsstand. 198 Die im Zuge des Einführungsgesetzes zum StGB vom 2.3.1974 1 9 9 vorgenommenen Neuerungen trugen im wesentlichen den Änderungen des materiellen Strafrechts (insbesondere dem Wegfall der Übertretungen) Rechnung; 200 im selben Jahr erfolgte zudem die Umgestaltung des Schwurgerichts zu einer besonderen Strafkammer. 201 Das Strafverfahrensänderungsgesetz 1979 vom 5.10.1978102 schuf die Wirtschaftsstrafkammer als echten Spezialspruchkörper und installierte zudem in § 74e GVG das Vorrangprinzip zwischen den Strafkammern mit gesetzlich normierter Spezialzuständigkeit (unter Einbeziehung der Jugendkammer). 203 Die jüngste Verschiebung im System der sachlichen Zuständigkeit datiert aus dem Jahr 1993: 204 Durch das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11.1.199320S wurde der Strafbann des Amtsgerichts von drei auf vier Jahren Freiheitsstrafe erhöht; ferner wurde die für die Zuständigkeit des Strafrichters bedeutsame Straferwartung von einem auf zwei Jahre Freiheitsstrafe heraufgesetzt.
193 Baader, Gesetzlicher Richter, S. 70 f. In der DDR erklärte § 170 III StPO weiterhin auch jenes Gericht für örtlich zuständig, „in dessen Bereich der Beschuldigte auf Anordnung eines staatlichen Organs untergebracht ist". 194 Vgl. zu den Änderungen des GVG seit 1950 Kissel, GVG, Einl. Rn 86 ff.; s. auch LR-K. Schäfer, § 24 GVG Rn 4 ff. 195 Vgl. hierzu (sowie allgemein zur Entwicklung der Zuständigkeit in Staatsschutzsachen) Kissel, GVG 2 , Einl. Rn 72. 196 J G G vom 4.8.1953 (BGBl. I, S. 751). 197 Zur Einfügung des § 29 II GVG durch das 3. StrafRÄndG vom 4.8.1953 (BGBl. I, S. 735) vgl. Daliinger, J Z 1953, 433 f. ' 9S Vgl. Daliinger a.a.O. S. 441. 199 BGBl. I, S. 469. 200 LR-K. Schäfer, § 24 GVG Rn 5; s. auch a.a.O. Rn 4 zur Neubestimmung des amtsgerichtlichen Strafbanns im Jahre 1969 als Folge einer Änderung des Strafsystems. 201 Vgl. zu dieser (durch das 1. StVRG vom 9.12.1974 [BGBl. I, S. 3393] vorgenommenen) Änderung Kissel, GVG, Einl. Rn 97. 2 2 ° BGBl. I, S. 1645. 201 Vgl. Katholnigg, NJW 1978, 2375 ff.; Rieß, NJW 1978, 2266. 204 Vgl. SiegismundfWickern, wistra 1993, 136ff.; LR-Rieß, GVG (Anhang) Rn 14 ff. 2115 BGBl. I, S. 50.
494
Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
III. Ergebnisse der historischen Betrachtung 1.
Das Vordringen der konkreten Methode und der Machtzuwachs der Staatsanwaltschaft
Wie ein roter Faden durchzieht die historische Betrachtung die Erkenntnis, daß das abstrakte Zuweisungsmodell im Zuge einer im wesentlichen kontinuierlich verlaufenden Entwicklung immer stärkere Abstriche zugunsten konkreter, d.h. von einzelfallbezogenen Wertungen abhängiger Zuständigkeitsregelungen hat hinnehmen müssen. Rückblikkend läßt sich das Gerichtsverfassungsgesetz von 1877 als „rechtsstaatlicher Höhepunkt" 2 0 6 insofern verstehen, als hier die unmittelbare Zuweisung der Fälle durch das Gesetz eindeutig dominierte; freilich hatte schon dort mit dem Gedanken der Korrektionalisierung, d. h. mit der Möglichkeit der Verweisung von der Strafkammer an das Schöffengericht (§ 75 GVG a.F.), der konzeptionelle Widerpart als dogmatische Ausnahmeerscheinung Eingang in das Gesetz gefunden. Die Auflockerung dieser vergleichsweise strengen Position setzte keineswegs erst in der Ära des Nationalsozialismus, sondern bereits während des Ersten Weltkriegs ein. Das Vordringen der konkreten Zuständigkeitsbestimmung war ferner von einer beständigen Machterweiterung zugunsten der Staatsanwaltschaft begleitet, die in zunehmendem Maße durch eine entsprechende Anklageerhebung über das sachlich zuständige Gericht befinden konnte. Obwohl diese Verschiebungen bereits zur Zeit der Weimarer Republik klar erkannt und deutlich kritisiert wurden, 207 waren derartige Mahnungen nicht geeignet, die Grundtendenz umzukehren oder auch nur zu stoppen. Vielmehr wurden bei den Notverordnungen des Jahres 1932 die vagen Kriterien des „Umfangs" und der „Bedeutung der Sache" nicht nur als Anhaltspunkte für die Ermessensausübung der Staatsanwaltschaft beibehalten, sondern an die Wahlentscheidung der Anklagebehörde wurden gravierendere Folgen insofern geknüpft, als hiervon über die Festlegung des Revisionsgerichts hinaus die Existenz einer zweiten Tatsacheninstanz und die Geltung des Beweisantragsrechts abhingen. 20S Unter konsequenter Weiterführung dieser Entwicklungslinien erfuhr die Machtposition der Staatsanwaltschaft im Nationalsozialismus eine Steigerung ins Unermeßliche. 209 Durch das normative Zuständigkeitsmodell erlangte die
So U. Schumacher, Staatsanwaltschaft, S. 2 5 . So weist Kern (Gesetzlicher Richter, S. 1 7 4 ) im Jahre 1 9 2 7 d a r a u f h i n , daß „die sachliche Z u ständigkeit ursprünglich mit vollem Bedacht so geregelt (war), daß bei ihr jeder Einfluß der Staatsanwaltschaft ausgeschaltet war". Zu der seit dieser Zeit vollzogenen Entwicklung wird (a.a.O. S. 1 7 6 f . ) kritisch angemerkt: „Das Rechtsstaatsideal erfordert eine starre gesetzliche Regelung der Zuständigkeit. Die Entwicklung hat sich von diesem Ideal immer weiter entfernt. Es genügt nicht, davor zu warnen, auf dem betretenen W e g e weiterzugehen, es ist vielmehr dringend nötig, die Entwicklung zurückzubilden, die Zuständigkeitsregelung wieder in eine feste gesetzliche Ordnung zu bringen und der Staatsanwaltschaft die ihr gegebenen Machtbefugnisse wieder zu entreißen." 206 207
208 Aus diesem Grund äußerte Töwe ( D R i Z 1 9 3 2 , 1 9 9 ) die Erwartung, der Vorwurf, daß die M a c h t stellung der Staatsanwaltschaft unangemessen erweitert worden sei, werde jetzt voraussichtlich in verstärktem M a ß e wiederkehren. l m Vgl. U. Schumacher, Staatsanwaltschaft, S. 1 3 2 , 2 0 2 f.; s. auch a.a.O. S. 2 5 9 (angesichts der K o m petenzverteilung gerieten die Gerichte unter die Kontrolle der politisch abhängigen, weisungsgebundene Staatsanwaltschaft).
17. Kapitel: Grundlagen zur Problematik der „beweglichen" Ζ iständigkeit im Strafprozeß
495
Strafverfolgungsbehörde die Möglichkeit einer nahezu unbeschränkten Auswahl des zur Entscheidung berufenen Spruchkörpers, wiederum verbunden mit einem erheblichen Einfluß auf das anzuwendende Verfahrensrecht und die Rechtsmittel. Obwohl ein maßgebliches Element dieser Steuerungsmöglichkeit darin zu sehen ist, daß die ansatzweise bereits vor 1933 vorhandene Sondergerichtsbarkeit unter dem NS-Regime in ihrem Wirkungsbereich ständig erweitert wurde und so zunehmend als Alternative zur allgemeinen Strafgerichtsbarkeit zur Verfügung stand, wäre es verfehlt, die weitgehende Ungebundenheit der Staatsanwaltschaft auf diesen Teilbereich der Strafrechtspflege zu reduzieren. Beim Wiederaufbau der Justiz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde zwar die rechtsstaatswidrige Sondergerichtsbarkeit beseitigt und der Entscheidungsspielraum der Staatsanwaltschaft durch eine partielle Stärkung der Gerichte tendenziell verringert. Gleichwohl erfolgte keine prinzipielle Abwendung von der Methode der konkreten Zuständigkeitsbestimmung; vielmehr wurde der 1940 als Zuständigkeitsmerkmal eingeführte Strafbanngedanke ebenso beibehalten wie die Kriterien des „Umfangs" (vgl. § 29 II GVG) und der „besonderen Bedeutung der Sache". 210
2.
Die E n t w i c k l u n g d e r ö r t l i c h e n Z u s t ä n d i g k e i t
Bezüglich der örtlichen Zuständigkeit liegen die Dinge insofern ein wenig anders, als hier bereits die ursprüngliche Fassung des GVG der Staatsanwaltschaft ein echtes Wahlrecht zwischen den beiden Gerichtsständen des Begehungsortes und des Wohnsitzes eingeräumt hatte. Abgesehen von der Beseitigung des „fliegenden" Gerichtsstandes der Presse (1902) brachte die Entwicklung der Staatsanwaltschaft auch in diesem Bereich einen kontinuierlichen Machtzuwachs, der über die Einführung des Ergreifungs- und Haftortes als regulärem Gerichtsstand der Sondergerichtsbarkeit (1933) seinen Höhepunkt fand, als im Jahre 1940 sogar der Verwahrungsort einen gleichberechtigten Hauptgerichtsstand auch im allgemeinen Strafverfahren begründete. Nach dem Ende der NS-Herrschaft wurde zwar der Gerichtsstand des Verwahrungsortes abgeschafft, doch wurde bereits kurze Zeit später der Ergreifungsort vom subsidiären Hilfs- zum gleichrangigen Hauptgerichtsstand aufgewertet. 2 1 1
3.
Z u s t ä n d i g k e i t s r e f o r m e n als R e a k t i o n auf staatliche F i n a n z n o t
Im historischen Längsschnitt zeigte sich als weitere Beobachtung, daß die grundlegenden Veränderungen im strafrechtlichen Gerichtsaufbau regelmäßig als gesetzgeberische Reaktion auf extreme wirtschaftliche Schwierigkeiten erscheinen. Bereits während des Ersten Weltkriegs lautete die Devise, daß „jetzt ... der Mindestaufwand gesucht und gefunden werden (muß), mit dem unsere Gerichte ihre Aufgabe gerade noch erfüllen kön-
210
Z u m Problem der über das Jahr 1945 hinausreichenden Kontinuität vgl. unten 18. Kap. I., 11.2
u n d 3. 211 Vgl. zu dieser Ä n d e r u n g des § 9 StPO (durch das 3. StrafRÄndG v o m 4. 8 . 1 9 5 3 ) Dallinger, J Z 1953, 4 4 1 .
496
Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
nen", 2 1 2 „Friedensmaßstäbe sind jetzt überhaupt nicht am Platze". 2 1 3 Die Einrichtung der Wuchergerichte erfolgte als vorübergehend konzipierte Maßnahme, um den Schwierigkeiten des Übergangs von der Kriegs- in die Friedenswirtschaft Herr zu werden. 2 1 4 Auch bezüglich der Emminger-Verordnung fungierte die „Finanznot als Gesetzgeber"; 2 1 5 die Notwendigkeit der Reformmaßnahmen wurde damit erklärt, daß „ein geschlagenes und verarmtes Volk auch auf dem Gebiete der Rechtspflege ... selbst auf Dinge verzichten muß, die in besseren Tagen unverzichtbar erschienen". 2 1 6 Die Notverordnung vom 14. 6 . 1 9 3 2 entstand „unter der Diktatur der Armut". 2 1 7 Insgesamt vollzieht sich die Entwicklung somit in spiralförmigen Wiederholungen: Unter dem Eindruck extremer Finanznöte ist man bereit, das Strafrechtssystem vorübergehend bis an die Grenze des Verantwortbaren zu beschneiden. Freilich fehlt regelmäßig die Gelegenheit (d.h. das Geld), die auf diese Weise geschlagenen Schneisen wieder aufzuforsten. 2 1 8 Die Praxis kommt „irgendwie" zurecht, man gewöhnt sich an die entstandene Situation und behält diese bei, bis neue Finanznöte noch größeren Ausmaßes ein weiteres Hinausschieben der Grenzen des Hinnehmbaren erzwingen. Es liegt auf der Hand, daß mit einer solchen Entwicklung die Gefahr einer fortlaufenden Nivellierung verbunden ist. Dieser historische Blick muß insbesondere in einer Zeit nachdenklich stimmen, in der das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege hinsichtlich seines strafrechtlichen Teils schon kurze Zeit später als Fehlschlag angesehen und dies zum Anlaß genommen wird, weitere Entlastungsmaßnahmen zu erwägen. 2 1 9 Schon am Beginn dieser Entwicklung, in der Zeit des Ersten Weltkriegs, wurde darauf hingewiesen, daß die in jener Notsituation eingeführten Dinge die Tendenz haben, sich im Frieden zu behaupten. 2 2 0 Mit den Händen zu greifen ist auch die aktuelle Bedeutung folgender Kritik gegen die Berufung auf den Wunsch nach einer schnellen und damit wirksameren Justiz: 2 2 1 „Wer teilte diesen Wunsch nicht! Aber beruht denn nicht unser ganzer Strafprozeß auf einem Ausgleich zwischen den Bedürfnissen der ,Richtigkeit' und der ,Fixigkeit'? ... Ja, wenn es ,auch so geht', warum dann überhaupt den ganzen umständlichen und teuren Apparat des ordentlichen Strafprozesses beibehalten und gar noch weitere Garantien gegen Fehlsprüche einbauen? Das ganze Reden über Strafprozeßreform muß ja als Komödie erscheinen, zu der wir jetzt wahrhaftig keine Zeit haben sollten, wenn man, sowie es hart auf hart kommt, nicht nur alle schönen Reformgrundv. Miltner, L Z 1 9 1 7 , Sp. 5 2 6 . A.a.O. Sp. 527. 2H Kern, Gesetzlicher Richter, S. 2 5 6 f. 215 Drucker, J W 1 9 2 4 , 2 4 2 . Die Verordnung basiert auf dem Ermächtigungsgesetz vom 8 . 1 2 . 1 9 2 3 , das seinerseits auf die bestehende „Not von Volk und Reich" Bezug nimmt; vgl. Vormbaum, Lex Emminger, S. 21 ff. 216 Bumke, Verordnung, S. 6. 217 Schlegelberger, J W 1 9 3 2 , 1 9 2 9 ; s. auch oben (zu) Fn 141 f. 218 Eine Verbesserung (insbesondere bezüglich der Rechtsmittel und des Beweisrechts) brachte jedoch das Vereinheitlichungsgesetz 1 9 5 0 ; vgl. Niese, JuV 1 9 5 0 , 7 5 , 7 7 . 219 Vgl. zur Beurteilung des Rechtspflegeentlastungsgesetzes 1993 DRiZ 1995, 3 6 2 f.; „recht" 1995, 3 4 f.; vgl. auch zum „Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege (strafrechtlicher Bereich)" (BT-Drucks 1 3 / 4 5 4 1 ) Bertram, Z R P 1 9 9 6 , 46ff.; Frister, StV 1 9 9 7 , 1 5 0 ff. 220 Aschrott, DStrRZ 1 9 1 7 , Sp. 1 0 7 (unter Hinweis auf eine anläßlich einer Umfrage der DJZ getroffenen Äußerung von Wach [vgl. DJZ 1 9 1 7 , Sp. 1 ff., 13]). 221 Kohlrausch, Z S t W 41 ( 1 9 2 0 ) , 1 7 9 . 2«
17. Kapitel: Grundlagen zur Problematik der „beweglichen" Zuständigkeit im Strafprozeß
497
sätze im Stich läßt, sondern geradezu in pejus reformiert." Diese Überlegungen lassen sich über ihren konkreten Anlaß, der Einrichtung der Wuchergerichte, heraus verallgemeinern und auf die Gegenwart übertragen.222 Die historische Entwicklung belegt, wie stark die Antriebskräfte sind, die ohne „böse" Absicht um einer höheren Effizienz willen am überkommenen Bestand des Strafprozesses rütteln, und wie schwer es ist, Errungenschaften zurückzuholen, die man einmal (und sei es auch nur vorübergehend) in einer Situation wirtschaftlicher Bedrängnis preisgegeben hat. 223 Über diese allgemeine Dimension hinaus ist der dargestellte Aspekt auch im Kontext der Zuständigkeitsregelungen von Bedeutung. Denn das ständige Bestreben nach Entlastung und Vereinfachung hat seinen Niederschlag in den Grundtendenzen einer Verringerung der Besetzung der Spruchkörper und in einer kontinuierlichen Verlagerung der Zuständigkeit nach unten gefunden. Ein solches legislatorisches Vorgehen strahlt zugleich auf die „Beweglichkeit" der Zuständigkeitsordnung aus. Denn es ist zu bedenken, daß der konkreten Zuständigkeitsregelung (auch) die Funktion zukommt, eine Gegensteuerung für jene Fälle zu ermöglichen, die im allgemeinen Zuweisungsmodell eine unangemessene Behandlung erfahren. Das Gerichtsverfassungsgesetz von 1877 hatte die Vergehen in weitem Maße der Strafkammer zugewiesen; es bedurfte daher einer Offnungsldausel „nach unten", mittels derer leichte Vergehensfälle mit geringer Straferwartung an die Schöffengerichte abgegeben werden konnten. Die Emminger-Reform siedelte demgegenüber um der finanziellen Entlastung willen alle Strafsachen im Gerichtsaufbau möglichst weit unten an; als Konsequenz wurde eine Korrekturmöglichkeit „nach oben" vorgesehen, die es der Staatsanwaltschaft gestattete, im Hinblick auf den Umfang oder die Bedeutung der Sache die Hinzuziehung eines zweiten Amtsrichters zu beantragen. Wegen dieser Gegensteuerungsfunktion entscheidet die allgemeine Zuständigkeitsverteilung also zugleich über die Richtung, in der die korrigierende Wahlzuständigkeit wirken soll. Je weiter das Gros der Fälle nach unten gedrückt wird, um so größer erscheint das Bedürfnis, für Ausnahmekonstellationen eine flexible Regelung vorzusehen, mittels derer bestimmte Fälle vor höhere Spruchkörper gebracht werden können. Eine solche Korrektur nach oben ist aber grundsätzlich problematisch, weil hiermit eine auf einzelfallbezogenen Erwägungen beruhende Verkürzung des Rechtsweges einhergeht und es mehr als zweifelhaft ist, ob dieser Nachteil für den Angeklagten durch die größere Besetzung des nunmehr erstinstanzlich entscheidenden Spruchkörpers vollständig ausgeglichen wird. Der gesteigerte Druck, den die nachhaltigen Entlastungsbemühungen auf das Strafrechtssystem ausüben, verlangt aber nicht nur nach einem zuständigkeitsspezifischen Ventil, sondern er begünstigt „flexible" Regelungen schlechthin, um die knappen Ressourcen möglichst effektiv einsetzen zu können. 224 Insoweit paßt beispielsweise auch die 222 Zur Formel „Es geht auch so" vgl. auch Mamroth, DJZ 1927 Sp. 50. Zur prinzipiellen Skepsis gegenüber einer am Ziel der Kostensenkung ausgerichteten Prozeßrechtsreform Werte, ZRP 1983, 197ff. (201); s. auch Hassemer, FS Grünwald (1999), S. 239 f. 223 Gleichfalls von ungebrochener Aktualität ist die Mahnung Bindings (GS Bd. 74 [1909], S. 5): „Möge sich die Gesetzgebung vorsehen! Die Preisgabe unentbehrlicher Rechte bedeutet gar oft die Unmöglichkeit ihrer Wiedererlangung!" 224 Vgl kritisch zum Abbau formaler Bindungen als Mittel einer ökonomisch bedingten Effizienzsteigerung Albrecht, KritV 1993, 163 ff.; ders., NJ 1994, 196 ff.; ders., DRiZ 1998, 329 ff.; Werte, J Z 1991, 795, 7 9 6 ; s. auch kritisch zu einer immer stärker um sich greifenden „Abwägungsdogmatik" Has-
498
Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
kontinuierliche Aufweichung des Legalitätsprinzips durch immer großzügigere Einstellungsmöglichkeiten durchaus in das historische Bild. 2 2 5 Dieser Prozeß der fortschreitenden Entformalisierung, der regelmäßig von dem stereotypen Hinweis begleitet wird, entscheidend seien nicht die Zahl der Richter, Instanzen und Gesetze, sondern die Befähigung und Charakterstärke der Rechtsanwender, 2 2 6 entfaltet allgemeine Wirkungen, die ihrerseits einer immer stärkeren Beweglichkeit der Zuständigkeitsregelungen den Weg ebnen.
semer, KritV 1990, 270f.; ders., FS Maihofer (1988), S. 183ff. sowie allgemein Leisner, NJW 1997, 636 ff. Vgl. ferner die Zusammenstellung gesetzgeberischer Reformmaßnahmen im Strafprozeß seit Beginn der 70er Jahre bei Rieß, NStZ 1994, 411 f. 2 " Vgl. hierzu Naucke, KritV 1993, 152ff., 157 ff. 226 Solche Beschwichtigungsversuche lassen sich parallel zu den jeweiligen Entlastungsmaßnahmen feststellen; vgl. (in chronologischer Reihenfolge) Schwedersky, DStrZ 1917, Sp. 41; v. Miltner, LZ 1917, Sp. 527; Lang, in: Honig, Mitteilungen der IKV (1924), S. 150; Baumbach, DJZ 1932, Sp. 830.
18. Kapitel: Allgemeines zur „beweglichen" sachlichen Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Amtsgericht und Landgericht (§ 24 GVG) Die Regelungen des Vereinheitlichungsgesetzes 1 9 5 0 über die sachliche Zuständigkeit der Strafgerichte haben s c h o n frühzeitig nachhaltige Kritik unter d e m Gesichtspunkt des Prinzips des gesetzlichen Richters erfahren; 1 mehrere A u t o r e n 2 sahen die einschlägigen B e s t i m m u n g e n s o g a r als verfassungswidrig an. A u c h das BVerfG w a r zweimal (in den J a h r e n 1 9 5 9 und 1 9 6 7 ) 3 zur Beurteilung der betreffenden Vorschriften aufgerufen; es erklärte die §§ 2 4 , 2 5 Nr. 3 G V G (a.F.) jeweils im W e g e der verfassungskonformen Auslegung für mit Art. 101 I 2 G G vereinbar. 4 Die Einschätzung, daß der Streit über die Zulässigkeit solcher beweglicher Zuständigkeiten durch das Diktum des BVerfG grundsätzlich als im positiven Sinne entschieden gelten k ö n n e , 5 erscheint insofern zutreffend, als der G e s e t z g e b e r angesichts dieser verfassungsgerichtlichen A b s e g n u n g keinen unmittelbaren Handlungsbedarf für entsprechende Korrekturen sehen muß. Dieser „ m a c h t p o litische" Aspekt nach d e m M o t t o „ R o m a locuta, causa finita" beseitigt freilich nicht den fortbestehenden wissenschaftlichen Klärungsbedarf. Insoweit ist vielmehr zu konstatieren, daß die Judikate des BVerfG die kritischen Stimmen im Schrifttum 6 zu dieser für den
1 Vgl. die ausführliche Darstellung bei G. Kröger, Gesetzlicher Richter, S. 52 ff.; s. auch Gottschalk, Gesetzlicher Richter, S. 44 ff. 2 Ausdrücklich in diesem Sinne Baader, Gesetzlicher Richter, S. 87 ff. (90); Bockelmann, GA 1957, 357ff. (362, 364); ders., NJW 1958, 889 ff.; Oehler, ZStW 64 (1952), 292ff. (303 ff.); Eb. Schmidt, MDR 1958, 721 ff. (722 f., 725 f.); ablehnend auch Niese, JuV 1950, 75; vgl. ferner Bettermann, in: Bettermann/Scheuner/Nipperdey, Grundrechte III/2, S. 564 f. ' BVerfG Ε 9, 223 ff.; 22, 257 ff. 4 Nach Ansicht von Bettermann (AöR 94 [1969], 2 9 4 f . ) hat das BVerfG damit (bezüglich ξ 24 I Nr. 2 und 3 G V G ) „durch den zweimaligen Einsatz des Zauberstabs verfassungskonformer Auslegung ... die staatsanwaltschaftliche Zuständigkeitsbestimmung, die das Gegenteil einer gesetzlichen ist, gerettet". Vormbaum (Lex Emminger, S. 173) spricht (in bezug auf BVerfGE 22, 254) davon, daß das BVerfG „als letzten Notanker die Konstruktion der ,verfassungskonformen Auslegung' auswerfen (mußte), um die Regelung vor dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit zu bewahren". 5 Gloria, DÖV 1988, 854; Rieß, GA 1976, 7 f. < Vgl. Achenbach, FS Wassermann (1985), S. 849 ff.; Griinwald,]uS 1968, 452ff. (458); Ε Herzog, StV 1993, 609ff. (613); Hamann, in: Hamann/Lenz, GG, Anm. Β 2c; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Rn 28ff. jeweils zu Art. 101; Moller, MDR 1966, 100ff.; I. Müller, Rechtsstaat, S. 127ff. (135f.); Eb. Schmidt, JZ 1959, 535; U. Schumacher, Staatsanwaltschaft, S. 225 ff.; Scupin, Gesetzlicher Richter, S. 81 ff.; Wipfelder, VB1BW 1982, 42; s. auch Baumann, Grundbegriffe, S. 94; Bettermann, AöR 94 (1969), 294 ff.; Brüggemann, Gewalt, S. 91 ff.; Gerleit, Gesetzlicher Richter, S. 137; Kunig, in: v. Münch/ Kunig, GGK, Rn 28 (Stichwort: Bewegliche Zuständigkeiten); SK/StPO-Paeffgen, % 209 Rn 5, 7; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Rn 7 jeweils zu Art. 101; Roth, Gesetzlicher Richter, S. 109ff. (117f.); Roxin, Strafverfahrensrecht, § 7 Rn 10; SK/StPO-Rudolphi, vor § 1 Rn 3; Schorn, Schutz, S. 41 ff.; Volk, Strafprozeßrecht, ξ 12 Rn 42. Demgegenüber wird die Auffassung, daß gegen die bewegliche Zustän-
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
Grundsatz des gesetzlichen Richters überaus bedeutsamen Problematik keineswegs zum Verstummen gebracht haben. Auch der Gesetzgeber hat sich im Rahmen des Rechtspflegeentlastungsgesetzes darum bemüht, bei der Festlegung der Zuständigkeit des Strafrichters den mit Blick auf Art. 101 I 2 G G bestehenden Bedenken Rechnung zu tragen. 7 Schließlich hat auch das Plenum des BVerfG 8 unlängst (wenngleich im anders gelagerten Zusammenhang der spruchkörperinternen Geschäftsverteilung) ausgesprochen, daß sich die Vorstellungen von den Anforderungen an den gesetzlichen Richter im Laufe der Zeit allmählich verfeinert haben. Diese Entwicklung gibt Anlaß zu der Frage, ob auch hinsichtlich der Regelungen über die sachliche Zuständigkeit der Strafgerichte eine strengere Beurteilung Platz greift, als sie in den mehr als 3 0 Jahre zurückliegenden Beschlüssen des BVerfG zutage getreten ist. 9 Die Überlegungen dieses (sowie des nachfolgenden) Kapitels sind auf die Verteilung der sachlichen Zuständigkeit zwischen dem Schöffengericht und der großen Strafkammer beschränkt. Dieses Vorgehen entspricht zum einen der systematischen Ordnung des Gesetzes, 1 0 zum anderen aber auch der chronologischen Entwicklung des Streits anläßlich der einschlägigen Entscheidungen des BVerfG. Dort wurden die grundlegenden Fragen der beweglichen Zuständigkeit (zunächst) im Rahmen des Verhältnisses zwischen Amtsgericht und Landgericht erörtert. Diese Trennlinie ist überdies wegen der Konsequenzen bezüglich des Instanzenzuges von größerer Bedeutung. 11 Die (parallele) Abgrenzungsproblematik zwischen Strafrichter und Schöffengericht (§ 2 5 G V G ) wird (zusammen mit weiteren „Wahlmöglichkeiten" der Staatsanwaltschaft bei der Festlegung des zuständigen Eingangsspruchkörpers) im übernächsten ( 2 0 . ) Kapitel behandelt.
I.
Die ursprüngliche Position des B G H und die Leitentscheidung des BVerfG vom 1 9 . 3 . 1 9 5 9
Es konnte nicht ausbleiben, daß jene Kritik, welche die Regelungen des Vereinheitlichungsgesetzes über die sachliche Zuständigkeit angesichts ihrer Verwandtschaft mit der Zuständigkeitsverordnung des Jahres 1940 auf sich gezogen hatte, über kurz oder digkeit keine verfassungsrechtlichen Bedenken mehr bestünden, als „herrschende Meinung" (auch im Schrifttum) angesehen von Kissel, GVG, § 2 4 Rn 10; Krey, Strafverfahrensrecht I, Rn 2 2 8 und LRK. Schäfer, § 16 GVG Rn 8; dem BVerfG folgend auch G. Kröger, Gesetzlicher Richter, S. 88 ff.; vgl. ferner Gottschalk, Gesetzlicher Richter, S. 53 ff. 7 Vgl. (zum Wegfall des ungeschriebenen Merkmals der „minderen Bedeutung" bezüglich der Zuständigkeit des Strafrichters) LR-Rieß, GVG (Anhang) Rn 1 9 ; s. auch unten 2 0 . Kap. I. 8 BVerfG Ε 9 5 , 3 2 2 ( 3 3 3 ) ; vgl. auch bereits B G H ( V G S ) Z 126, 63 ( 8 5 ) . 9 Vgl. zu dieser Verbindung Gummer (in: Zöller, ZPO, § 2 1 g GVG Rn 5 ) , der freilich mit dem diesem Folgeargument die strenge Sichtweise des Ersten Senats des BVerfG zu § 2 1 g GVG (vgl. NJW 1 9 9 5 , 2 7 0 3 ) bekämpft. 10 Vgl. Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 9 Rn 43 ff.; Hohendorf, NStZ 1 9 8 7 , 3 9 0 ; G. Schäfer, Praxis, Rn 4 6 8 : Regelzuständigkeit des Amtsgerichts, soweit nicht (ausnahmsweise) das LG oder O L G für sachlich zuständig erklärt werden (vgl. § 2 4 I G V G ) ; innerhalb des Amtsgerichts Regelzuständigkeit des Schöffengerichts, soweit nicht die Zuständigkeit des Strafrichters gegeben ist (§§ 2 5 , 2 8 GVG). 11 Gegen die Urteile des Strafrichters und des Schöffengerichts bestehen gleichermaßen die Rechtsmittel der Berufung (jeweils an die kleine Strafkammer; vgl. §§ 7 4 III, 7 6 I GVG) und der Revision; erstinstanzliche Urteile der großen Strafkammer sind hingegen nicht mit der Berufung anfechtbar.
18. Kapitel: Allgemeines zur „beweglichen" sachlichen Zuständigkeitsabgrenzung
501
lang auch die Gerichte erreichen mußte. Der B G H 1 2 hat die Bedenken gegen die auf eine Ermessensentscheidung der Staatsanwaltschaft gegründete Zuständigkeitsbestimmung nicht geteilt. Er bejaht die Verfassungsmäßigkeit der in §§ 2 4 I Nr. 2, 7 4 G V G (a.F.) normierten beweglichen Zuständigkeit und verweist hierbei darauf, daß der gesetzliche Richter nicht durch die Verfassung selbst, sondern durch die Vorschriften des G V G und der StPO bestimmt werde. Ferner ließen die weiten Strafrahmen eine starre Zuständigkeitsabgrenzung nicht mehr zu; überdies hätte die strenge Durchführung der von den Kritikern erhobenen Forderung nach Ansicht des B G H eine unerträgliche Starrheit des Strafverfahrens zur Folge, weil andere gesetzlich vorgesehene Wahlzuständigkeiten, u. a. die für praktisch unentbehrlich erachtete mehrfache örtliche Zuständigkeit der Strafgerichte, dann ebenfalls beseitigt werden müßten. Den zwingenden rechtsstaatlichen Anforderungen werde durch die gesetzliche Pflicht der Staatsanwaltschaft, sich bei der Ausübung ihres Wahlrechts nach der Bedeutung des Falles zu richten, und durch die in den §§ 2 0 9 , 2 1 0 III StPO vorgesehene Entscheidungsbefugnis des Gerichts genügt; zudem könne auch der Angeklagte in seiner Stellungnahme gemäß § 2 0 1 StPO Einwendungen gegen eine Eröffnung des Verfahrens vor dem Landgericht erheben. Des weiteren wird darauf hingewiesen, daß die Staatsanwaltschaft bereits seit langer Zeit Einfluß auf die Zuständigkeit der Strafgerichte nehmen konnte; deshalb sei davon auszugehen, daß der Gesetzgeber des Grundgesetzes diese Regelung vorgefunden und durch die Übernahme des Art. 105 W R V in das Grundgesetz die bewegliche Zuständigkeitsordnung bestätigt habe. Schließlich könne auch bei einer völlig starren Zuständigkeitsregelung die M ö g lichkeit eines Mißbrauchs nicht ausgeschlossen werden; eine derartige Möglichkeit bezüglich der §§ 2 4 , 7 4 G V G mache diese Bestimmungen aber noch nicht verfassungswidrig. Auch das BVerfG erklärte in seinem Urteil vom 1 9 . 3 . 1 9 5 9 1 3 die fraglichen Zuständigkeitsnormen im Ergebnis für verfassungsgemäß. Zwar folge dies nicht bereits aus der Tatsache, daß die Zuständigkeit überhaupt durch ein Gesetz geregelt sei; denn Art. 1 0 1 1 2 G G binde auch den Gesetzgeber. Allerdings bestehe eine bei der Gestaltung der Zuständigkeitsordnung zu berücksichtigende Spannung zwischen den Postulaten der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit. Das sowohl der Rechtstradition als auch dem Gerechtigkeitsempfinden entsprechende Anliegen, bedeutendere Sachen, insbesondere solche, bei denen eine schwerere Strafe zu erwarten ist, bereits in erster Instanz höheren Gerichten zuzuweisen, mache angesichts der weiten Strafrahmen des modernen Strafrechts vielfach eine Aufgliederung auch noch innerhalb der gesetzlichen Tatbestände erforderlich. Hieraus folge, daß eine bewegliche Zuständigkeitsordnung, die zudem einer Uberforderung der Einzelrichter und Schöffengericht entgegenwirke, mit dem Grundgedanken des Art. 101 I 2 G G vereinbar sei, sofern sie so geartet ist, daß sachfremden Einflüssen vorgebeugt werde. Dieses Erfordernis sieht das BVerfG bezüglich der Zuständigkeitsregelung in §§ 2 4 I Nr. 2, 7 4 G V G als erfüllt an. Es verweist in diesem Zusammenhang zunächst auf die spezifische Stellung der Staatsanwaltschaft, die durch das Legalitätsprinzip besonders eng an
12
Vgl. zum Folgenden BGHSt. 9, 367ff. (mit zust. Anm. Dallinger,
Krumme, LM Nr. 3 zu Art. 101 GG) und BGH, NJW 1958, 918 f.
MDR 1957, 113 f. und
" BVerfG Ε 9, 223 ff. (mit Anm. Eh. Schmidt, J Z 1959, 5 3 5 ) . Vgl. zu den Stellungnahmen zu dieser Entscheidung ausführlich G. Kröger, Gesetzlicher Richter, S. 75 ff. (88 ff.).
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
das Gesetz gebunden sei und gemeinsam mit dem Gericht die Aufgabe der Justizgewährung erfülle. Ergebe sich bereits hieraus eine weitgehende Sicherung gegen eine Ausübung des Weisungsrechts zu justizfremden Zwecken, so zwinge Art. 101 I 2 G G zu einer weiteren Beschränkung: Eine verfassungskonforme Auslegung des § 2 4 I Nr. 2 G V G (a.F.) gebiete, daß die Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung vor dem Landgericht nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet sei, wenn sie aufgrund ihrer Prüfung die besondere Bedeutung des Falles bejaht. Die Staatsanwaltschaft habe insoweit mithin kein Ermessen auszuüben, sondern den unbestimmten Rechtsbegriff der „besonderen Bedeutung" auszulegen und den konkreten Fall darunter zu subsumieren. Der Begriff der „besonderen Bedeutung" sei - wie etwa ein Vergleich mit den materiell-rechtlichen Termini des „schweren Falles" oder der „mildernden Umstände" zeige - auch nicht so unbestimmt, daß er gegen das rechtsstaatliche G e b o t der Normenklarheit verstieße. Eine zusätzliche Sicherung erblickt das BVerfG darin, daß die Entschließung der Staatsanwaltschaft tatsächlich und rechtlich in vollem Umfang der Nachprüfung durch die Strafkammer unterliege, die das Verfahren gemäß § 2 0 9 I 2 StPO (a.F.) vor dem Schöffengericht eröffne, wenn sie die Beurteilung der Staatsanwaltschaft nicht teilt. Um eine solche Prüfung zu ermöglichen, sei die Staatsanwaltschaft (von offensichtlichen Fällen abgesehen) zur Angabe der Umstände verpflichtet, aus denen sie die besondere Bedeutung des Falles ableitet. Ferner weist auch das BVerfG darauf hin, daß die abstrakte Möglichkeit eines Mißbrauchs eine N o r m noch nicht verfassungswidrig mache, zumal eine mißbräuchliche Handhabung im Einzelfall im Wege des Rechtsmittelzuges oder auf die Verfassungsbeschwerde hin korrigiert werden könnte. Auch der Wegfall einer zweiten Tatsacheninstanz führe nicht zur Verfassungswidrigkeit der besagten Regelung, da das Grundgesetz keinen mehrstufigen Instanzenzug gebiete und niemandem dadurch ein Unrecht geschehe, daß er vor einem Gericht höherer Ordnung angeklagt wird. Die Berücksichtigung bestimmter Besonderheiten verstoße überdies auch nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, sofern die betreffende Regelung unter justizgemäßen Gesichtspunkten generalisiere. Deshalb sind nach Auffassung des BVerfG die §§ 2 4 I Nr. 2 , 7 4 G V G (a.F.) verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, „mag auch eine Regelung denkbar sein, die dem Grundgedanken des Art. 101 G G besser gerecht wird". 1 4
II.
Kritische Würdigung der allgemein für eine bewegliche Zuständigkeitsregelung angeführten Argumente
Die dargestellten Argumente sind nachfolgend einer kritischen Würdigung zu unterziehen. 1 5 Hierbei sollen zunächst jene Gesichtspunkte betrachtet werden, die allgemein zugunsten der Zulässigkeit einer beweglichen Zuständigkeitsregelung ins Feld geführt werden. Im Anschluß hieran sind die beiden Formen der normativen Umsetzung, die an die Straferwartung anknüpfende und die auf die „besondere Bedeutung" des Falles abstellende Zuständigkeitsregelung, gesondert zu untersuchen.
»
BVerfG Ε 9, 223 (230). Vgl. auch ausführlich hierzu ]. Henkel, Gesetzlicher Richter, S. 25 ff. sowie Gottschalk, licher Richter, S. 49ff. (53ff.). 15
Gesetz-
18. Kapitel: Allgemeines zur „beweglichen" sachlichen Zuständigkeitsabgrenzung
1.
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Die gesetzliche Verankerung der beweglichen Zuständigkeit
Von sehr prinzipieller Bedeutung ist das Argument, nicht das Grundgesetz, sondern das G V G bestimme, wer der gesetzliche Richter ist. 16 Diese auf einem positivistischen Verständnis basierende Vorstellung wird dem normativen Gehalt des Prinzips des gesetzlichen Richters nicht gerecht. 1 7 Zwar trifft der negative Teil der Aussage zu, daß dem Grundgesetz nicht unmittelbar die Person des Entscheidungsträgers entnommen werden kann. Als Definition ist der Satz, daß der gesetzliche Richter der aufgrund des Gesetzes berufene Richter sei, 18 aber nur unter der weiteren Voraussetzung zu verwenden, daß das zuständigkeitsregelnde Gesetz seinerseits den Anforderungen des Verfassungssatzes vom gesetzlichen Richter genügt. Wie das BVerfG 1 9 zu Recht feststellt, unterliegt auch der Gesetzgeber den Bindungen des Art. 101 I 2 G G . Diese Pflicht erschöpft sich nicht in dem Verbot, per Gesetz Ausnahmegerichte einzusetzen, sondern der Gesetzgeber ist gehalten, eine Zuständigkeitsordnung zu statuieren, die den zur Entscheidung berufenen Richter möglichst eindeutig vorherbestimmt. In Wahrheit ist die Beachtung des Bestimmtheitsgebots durch die normsetzenden Institutionen für die Verwirklichung des Sinngehalts des Satzes vom gesetzlichen Richter von zentraler Bedeutung. Denn wenn eine Zuständigkeitsordnung es den rechtsanwendenden Organen generell freistellt, den konkret zuständigen Richter von vornherein ad hoc auszuwählen, so ist die Schutzfunktion des Prinzips des gesetzlichen Richters aufgehoben, ohne daß es im Einzelfall einer „Richterentziehung" im eigentlichen Sinne noch bedürfte. 2 0 Dieser prinzipielle Zusammenhang läßt sich unschwer anhand des in § 8a StPO (a.F.) normierten Gerichtsstands des Verwahrungsorts verdeutlichen. Unbestreitbar handelt der hiernach tätige Richter auf einer gesetzlichen Grundlage; auch wird man, da diese Regelung der örtlichen Zuständigkeit für alle Angeklagten in gleicher Weise gilt, nicht von einem Ausnahmegericht sprechen können. Dennoch ist evident, daß eine derartige Regelung mit dem Schutzgehalt des Art. 101 I 2 G G nicht in Einklang gebracht werden könnte. Denn indem es die Strafverfolgungsbehörde in der Hand hat, durch Verlegung des inhaftierten Beschuldigten praktisch in jedem ihr genehmen Gerichtsbezirk einen Gerichtsstand begründen zu können, wird der Willkür durch das Gesetz selbst Tür und Tor geöffnet und die Intention eines im voraus bestimmten Richters, den die Fälle blindlings erreichen, in grober Weise mißachtet. 2 1 Als weiterer Beleg kann auch ein (nicht realisiertes) Vorhaben aus dem Jahre 1 9 4 2 exemplarisch herangezogen werden. 2 2 Hiernach sollte eine ausschließliche Zuständigkeit des Volksgerichtshofs begründet werden für die Aburteilung ( 1 ) von „Handlungen oder Äußerungen, die geeignet sind, die Stimmung, die
' Vgl. ferner BGHSt. 44, 34 (36f.). 101 Der Gedanke der Generalprävention spielt insbesondere im Rahmen der Strafzwecklehre eine Rolle; vgl. allgemein S/S-Stree, vor § 38 Rn 2, 12ff.; Geisler, Vereinbarkeit, S. 114ff. (s. auch a.a.O. S. 165 ff.). 102 Auf dieser Linie liegt auch ein Beschluß des OLG Schleswig (SchlHA 1956, 23 f.; ebenso SchlHA 1967, 269), wonach Fälle von besonderer Bedeutung (u.a.) solche sind, „denen nach ihrem tatsächlichen Gehalt in der Öffentlichkeit eine gesteigerte Bedeutung im Hinblick auf die allgemeine Rechtstreue zukommt". Vgl. auch Scbroeder, MDR 1965, 179.
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
Der Topos der Generalprävention wird vorrangig im Kanon der Strafzwecke diskutiert. Insoweit unterscheidet man herkömmlich zwischen der auf die Abschreckung potentieller Täter abzielenden sog. negativen und der (auch als Integrationsprävention bezeichneten) sog. positiven Generalprävention, die auf die Bestätigung der Normgeltung und die Stärkung der Rechtstreue der Bevölkerung gerichtet ist. 103 Über diese theoretische, modellhafte Dimension hinaus schlägt sich dieser Ansatz auch bezüglich der materiell-rechtlichen Beurteilung des Einzelfalles in der Frage nieder, ob generalpräventive Gesichtspunkte bei der Strafzumessung strafschärfend berücksichtigt werden dürfen; die Rechtsprechung hält dies (nur) innerhalb des Bereichs der schuldangemessenen Strafe für zulässig. 104 Besondere Anerkennung hat der Gedanke der (positiven) Generalprävention in dem Merkmal der „Verteidigung der Rechtsordnung" gefunden, das in Ausnahmefällen die Verhängung einer Freiheitsstrafe unter sechs Monaten unerläßlich machen (§ 4 7 I S t G B ) , die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten gebieten (§ 5 6 III S t G B ) oder einer Verwarnung mit Strafvorbehalt entgegenstehen kann (§ 5 9 I Nr. 3 S t G B ) . Unter Ausrichtung auf den generalpräventiven Gesichtspunkt der Erhaltung der Rechtstreue der Bevölkerung 1 0 5 hat der B G H 1 0 6 die Versagung der Strafaussetzung zur Bewährung als geboten angesehen, „wenn der bloße Strafausspruch ohne Vollstreckung von der Bevölkerung angesichts der außergewöhnlichen konkreten Fallgestaltung als ungerechtfertigte Nachgiebigkeit und unsicheres Zurückweichen vor dem Verbrechen verstanden werden könnte". Die „Verteidigung der Rechtsordnung" intendiert mithin die Erzielung einer plakativen Wirkung 1 0 7 zur Verdeutlichung und Bekräftigung der Norm. Das Bedürfnis nach einer solchen Hervorhebung der Strafnorm ist nicht rein empirisch (etwa mittels repräsentativer Umfragen), sondern maßgeblich unter normativen Aspekten zu beurteilen. 1 0 8 Entscheidend ist jedoch nicht das Gewicht des Tatbestands, sondern die Schwere der konkreten Tat. 1 0 9 Eine weitere Parallele besteht darin, daß auch die Kon103 Yg] insoweit Jescheck/Weigend, Allgemeiner Teil, § 8 II 3a ( = S. 68 f.). '»" Vgl. BGHSt. 20, 264 (267); 28, 316 (328); 34,150 (151); SK-Horn, Rn 9 ff.; Tröndle, in: Tröndle/Fischer, StGB, Rn 6 ff., 10 jeweils zu § 46; G. Schäfer, Strafzumessung, Rn 322 f., 351 ff.; S/S-Stree, vor § 3 8 Rn 13. 105 Vgl. Tröndle, in: Tröndle/Fischer, StGB, § 46 Rn 6 ff.; S/S-Stree, vor § 38 Rn 19 ff.; Lackner, in: Lackner/Kühl, StGB, § 47 Rn 5; Müller-Dietz, FS Jescheck Bd. II (1985), S. 817 ff. im BGHSt. 24, 40 (46); s. auch BGH, NStZ 1989, 527 Nr. 5 (m.w.N.); ganz ähnlich bezüglich § 47 StGB OLG Köln, StV 1984, 378; G. Schäfer, Strafzumessung, Rn 91. 107 Maiwald, GA 1983, 64, 65. ι»« SK-Horn, § 47 Rn 33; Maiwald, GA 1983, 66 ff.; Schröder, JZ 1971, 244. S. aber auch zu den Bestimmtheitsproblemen bezüglich der „Verteidigung der Rechtsordnung" Lackner, in: Lackner/Kühl, StGB, Rn 4; LK-Gribbohm, Rn 28 jeweils zu § 47; Maiwald a.a.O. S. 49 (alle m.w.N.). i°9 S/S-Stree, Rn 38; SK-Horn, Rn 23; Tröndle, in: Tröndle/Fischer, StGB, Rn 8a jeweils zu § 56. Deshalb darf das Kriterium der „Verteidigung der Rechtsordnung" nicht dazu verwandt werden, bestimmte Gruppen von Straftaten schlechthin von der Möglichkeit einer Strafaussetzung zur Bewährung auszuschließen; BGHSt. 24, 40 (46); BGH, NJW 1990, 193 f.; BGH, StV 1996, 265 (266); OLG Karlsruhe, StV 1994, 188; Tröndle a.a.O. Rn 8b (mit zahlreichen weiteren Nachweisen); s. aber auch. Lackner, in: Lackner/Kühl, StGB, § 56 Rn 17. Vgl. zum Ausnahmecharakter der „Verteidigung der Rechtsordnung" bezüglich § 56 III StGB BGHSt. 24, 40 (46); BGH, NStE, Nr. 9 zu § 56 StGB; Lackner a.a.O. Rn 16; Molketin, NStZ 1991, 284; s. auch Horn a.a.O. Rn 23, 25; Schröder, JZ 1971, 243. Noch strenger ist das zur Einschränkung des § 47 StGB verwandte Merkmal der „Unerläßlichkeit" zu interpretieren; vgl. OLG Bremen, StV 1994, 130f.; OLG Düsseldorf, StV 1986, 63 (64); Lackner a.a.O. Rn 6; Tröndle a.a.O. Rn 7 jeweils zu § 47.
19. Kapitel: Das Merkmal der „besonderen Bedeutung des Falles"
549
turierung der „Verteidigung der Rechtsordnung" mittels exemplarisch genannter Merkmale erfolgt. Die insoweit vom BGH 1 1 0 genannten Kriterien (u.a. die besonderen Tatfolgen, eine sich aus der Art der Tatausführung ergebende erhebliche verbrecherische Intensität, ein dreistes Spekulieren auf eine Strafaussetzung bereits bei Begehung der Tat sowie rasche Wiederholungstaten, Rückfalltaten während einer laufenden Bewährung und die Gefahr der Nachahmung durch andere Täter) sind mit den Merkmalen zur Begründung einer „besonderen Bedeutung" des Falles zwar nicht deckungsgleich, doch sind partielle Überschneidungen unübersehbar, wenn beispielsweise auf die H ö h e des Schadens 111 bzw. auf die Schwere der durch die Tat verursachten Folgen 112 oder auf den Mißbrauch einer besonderen beruflichen Position 113 abgestellt wird. Ungeachtet dieser Berührungspunkte bilden die im Rechtsfolgenausspruch zutage tretenden generalpräventiven Gesichtspunkte im allgemeinen und das Kriterium der „Verteidigung der Rechtsordnung" im besonderen keine tragfähige Basis für das Zuständigkeitsmerkmal der „besonderen Bedeutung des Falles". Soweit sich die Generalprävention auf die Strafart oder Strafhöhe auswirkt, stellt sich auch hier die prinzipielle Frage, warum ein Einzelaspekt der Strafzumessung die Zuständigkeit des Landgerichts begründen können soll, wenn die in der Strafprognose verkörperte Gesamtbetrachtung den Fall an sich in den Zuständigkeitsbereich des Amtsgerichts verweist. Es k o m m t hinzu, daß die generalpräventiven Erwägungen nur innerhalb des Rahmens der schuldangemessenen Strafe Berücksichtigung finden dürfen. Die Generalprävention vermag die allgemeine Strafzumessung hiernach nicht zu korrigieren, sondern lediglich in Gestalt einer Feinsteuerung zu konkretisieren. Diese nachgeordnete Funktion kann aber ohne weiteres von dem Richter ausgeübt werden, dem im betreffenden Fall die Strafzumessung nach den allgemeinen Zuständigkeitsregeln obliegen würde. Noch deutlicher tritt dieser Gesichtspunkt bezüglich der „Verteidigung der Rechtsordnung" zutage. Alle Konstellationen, in denen dieses Merkmal Verwendung findet, beziehen sich ausschließlich auf Strafen, die im Zuständigkeitsbereich des Strafrichters liegen. Ganz offensichtlich ist also nach der Wertung des Gesetzgebers der Strafrichter durchaus in der Lage und gegebenenfalls dazu berufen, den in besonders intensiver Weise für erforderlich gehaltenen Akzent der Normbekräftigung zu setzen. Ist die Umsetzung dieses gesteigerten generalpräventiven Bedürfnisses aber grundsätzlich in die Hand des Einzelrichters gelegt, so ist nicht einzusehen, warum diese Überlegung in den betreffenden Fällen einen legitimen Grund für eine Zuständigkeitsverlagerung darstellen soll.
110 BGHSt. 24, 40 (47); s. auch G. Schäfer, Strafzumessung, Rn 117 und Tröndle, in: Tröndle/Fischer, StGB, § 56 Rn 8b; teilweise einschränkend S/S-Stree, § 56 Rn 38. i " BGH, GA 1979, 59 (60); BGHR, § 56 III StGB - Verteidigung 4; s. auch Tröndle, in: Tröndle/ Fischer, StGB, § 56 Rn 8b. 112 Vgl. zu Trunkenheitsfahrten mit tödlichen Folgen BGHSt. 24, 64ff.; Maiwald, GA 1983, 57f.; S/S-Stree, § 56 Rn 41 f. Allerdings bedarf es auch insoweit einer umfassenden Würdigung von Tat und Täter; vgl. BGH, NStZ 1994, 336 sowie zum Ganzen Molketin, N Z V 1990, 289 ff. (m.w.N.). Vgl. auch OLG Karlsruhe, NJW 1975, 1936 (zu den schweren Folgen einer Rauschtat) und Justiz 1979, 210f. (zu Körperverletzungen mit schwerwiegenden Dauerfolgen). »•' Vgl. zur Strafbarkeit eines Rechtsanwalts BGH, NStZ 1988, 126 f.; wistra 1995, 186; BayObLG, NJW 1988, 3026 (3027); ferner (zum Abrechnungsbetrug durch einen Kassenarzt) B G H R , § 56 StGB Verteidigung 6 und BGH, wistra 1992, 296 (zu § 47 I StGB); s. auch BGH, NJW 1991, 2574f. (zum Betrug durch einen Anlageberater).
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
Zahlreiche oberlandesgerichtliche Revisionsentscheidungen belegen, daß auch in der Rechtswirklichkeit die Bejahung des Merkmals der „Verteidigung der Rechtsordnung" keineswegs zwangsläufig mit der Annahme einer „besonderen Bedeutung des Falles" im Sinne des § 2 4 1 Nr. 3 GVG einhergeht. 1 1 4 Das gilt insbesondere für den Bereich der Trunkenheitsfahrten mit tödlichen Unfallfolgen. 115 Auch die im Zusammenhang mit einem Mißbrauch einer beruflichen Vertrauensposition stehenden Fälle nehmen teilweise vor dem Amtsgericht ihren Ausgang. 1 1 6 Ferner schlagen sich auch die unterschiedlichen Rechtsfolgen der §§ 4 7 I und 5 6 III StGB nicht in einer eindeutigen Abschichtung der Zuständigkeit nieder. Denn die Amts- bzw. Oberlandesgerichte waren oftmals mit der Frage einer Versagung der Strafaussetzung zur Bewährung befaßt, 117 während die Landgerichte bzw. der B G H bisweilen über die Notwendigkeit der Verhängung einer kurzzeitigen Freiheitsstrafe zu befinden hatten. 1 1 8 Schließlich ist auch bezüglich atypischer Fallgestaltungen, die sich einer Zuordnung zu einer geläufigen Fallgruppe der „Verteidigung der Rechtsordnung" 1 1 9 entziehen, keine durchgängige Verknüpfung mit der Bejahung der „besonderen Bedeutung" feststellbar. 120 Angesichts dieses Befundes bleibt zu überlegen, ob der Aspekt der positiven Generalprävention aus dem strafzumessungsrechtlichen Geflecht herausgelöst und als eigenständiger prozessualer Gedanke der „besonderen Bedeutung des Falles" zugrunde gelegt werden kann. Im strafzumessungsrechtlichen Kontext zieht die Überlegung, daß der Angeklagte nicht durch eine übermäßige Bestrafung zum Objekt von Allgemeininteressen gemacht werden darf, der Berücksichtigung generalpräventiver Zielsetzungen enge
114 Es kommt hinzu, daß die nachfolgend genannten Beispiele zumeist aus der Zeit vor dem Rechtspflegeentlastungsgesetz 1993 stammen und somit in eine Phase fallen, in der die amtsgerichtliche Zuständigkeit allgemein geringer war als nach der heutigen Rechtslage. 115 Vgl. die zahlreichen Rechtsprechungsnachweise bei Maiwald, GA 1983, 57 (Fn 39); Molketin, NZV 1990, 289 ff. und Tröndle, in: Tröndle/Fischer, StGB, § 56 Rn 8b. ι'* Vgl. BayObLG, NJW 1988, 3026f.; OLG Düsseldorf, StV 1986, 63f. (Unterschlagung durch Postbeamten); s. auch OLG Köln, NJW 1981, 411 f. (Körperverletzung im Amt durch einen Polizeibeamten bei Demonstration). S. aber auch die oben in Fn 113 angegebenen Nachweise zu revisionsgerichtlichen Entscheidungen des BGH. »7 Vgl. z.B. BayObLG, NJW 1988, 3026f.; LG Göttingen, NJW 1979, 173 f.; LG Koblenz, NStZ 1991, 283 f. mit Anm. Molketin sowie die einschlägige Judikatur zu den Trunkenheitsfahrten mit tödlichem Ausgang (s. oben Fn 115). "» BGH, StV 1990, 64 (65); 1994, 370 sowie der unten (zu Fn 266ff.) näher dargestellte Fall des kriminellen Journalismus (BGH, Urteil vom 2 0 . 8 . 1 9 8 2 - 2 StR 278/82; LG Frankfurt/M., StV 1981, 421 ff.); s. auch BGH, StV 1993, 360. " * Als Schwerpunkte der Rechtspraxis hat Maiwald (GA 1983, 57ff., 70ff.) die Straßenverkehrsdelikte, die „White-Collar-Delikte" und die Delikte gegen die staatliche Ordnung herausgearbeitet. 120 In erster Instanz entschied das Amtsgericht z.B. über die Veröffentlichung des „Buback-Nachrufs" (sechs Monate Freiheitsstrafe ohne Bewährung; vgl. LG Göttingen, NJW 1979, 173 f.), vgl. ferner ebenso zur gefährlichen Körperverletzung anläßlich einer wahrheitsgemäßen Zeugenaussage (zehn Monate Freiheitsstrafe ohne Bewährung; vgl. LG Koblenz, NStZ 1991, 283 f. mit Anm. Molketin) und zur Begehung eines Rechtspflegedelikts durch einen einschlägig vorbestraften Rechtsanwalt (elf Monate Freiheitsstrafe ohne Bewährung; vgl. BayObLG, NJW 1988, 3026f.). Auch zwei Entscheidungen zu Fällen der Kindesmißhandlung weisen durchaus argumentative Parallelen auf; hierbei geht es einmal um die erfolglose Revision gegen die Versagung der Bewährung (OLG Koblenz, GA 1975, 121 f.), im anderen Fall um die Bejahung der „besonderen Bedeutung" im Sinne des ξ 24 I Nr. 3 GVG (OLG Düsseldorf, VRS 85 [1994], 204 [205]; s. hierzu auch oben zu Fn 99).
19. Kapitel: Das Merkmal der „besonderen Bedeutung des Falles"
551
Grenzen in Gestalt der Schuldangemessenheit der Strafe. Im Vergleich hierzu könnte eine allein die Gerichtszuständigkeit betreffende Umsetzung der positiven Generalprävention als vergleichsweise unbedenklich angesehen werden, weil hierdurch zwar einerseits der Bevölkerung das erhöhte Gewicht der Tat vor Augen geführt werde, andererseits aber die Belastung des Angeklagten ungleich geringer sei als bei einer (wenngleich den Schuldbezug wahrenden) Erhöhung der Strafe. bb)
Die Kategorie des „ (besonderen) öffentlichen generalpräventiver Gesichtspunkte
Interesses" als prozessuale
Ausprägung
Bei einer emanzipatorischen Betrachtungsweise, die den Aspekt der positiven Generalprävention in seiner prozessualen Dimension entwickelt, ergeben sich zudem neue Verbindungslinien. So ist insbesondere an die Kategorie des „(besonderen) öffentlichen Interesses" zu denken. Die Staatsanwaltschaft kann von der Verfolgung eines Vergehens absehen, wenn (in Fällen geringer Schuld) „kein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht" (§ 153 I StPO); ferner kommt eine Verfahrenseinstellung gemäß § 153a I StPO in Betracht, sofern das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung durch die Erfüllung von Auflagen und Weisungen beseitigt ist. Wegen eines Privatklagedelikts wird gemäß § 376 StPO nur dann von der Staatsanwaltschaft Anklage erhoben, „wenn dies im öffentlichen Interesse liegt". Schließlich ist in bestimmten gesetzlich geregelten Fällen die Strafverfolgung trotz des Fehlens eines an sich erforderlichen Strafantrags möglich, sofern die Staatsanwaltschaft „wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält" (vgl. §§ 230, 248a, 303c StGB). In den genannten Fällen macht das Gesetz das „Ob" der staatlichen Strafverfolgung von der Beurteilung „öffentlicher Interessen" abhängig. Dies könnte die These nahelegen, daß § 24 I Nr. 3 GVG insofern parallel hierzu konzipiert ist, als gesteigerte öffentliche Belange (nämlich die Aspekte der positiven Generalprävention) über die sachliche Zuständigkeit des Eingangsgerichts entscheiden. 121 Diese Sichtweise darf freilich nicht den Blick darauf verstellen, daß sich beide Konstellationen grundlegend unterscheiden. In den Fällen, auf die sich die Normierungen des „(besonderen) öffentlichen Interesses" beziehen, dient dieses Merkmal dazu, eine Klärung der Frage zu ermöglichen, ob überhaupt die staatliche Strafverfolgung geboten erscheint. Diese Weiche hat der „Zug" des Strafverfahrens aber bereits passiert, wenn es darum geht, vor welchem Gericht das Hauptverfahren eröffnet werden soll. Abgesehen von der divergierenden Entscheidungssituation heben sich die Fälle, in denen eine Anklage zum Landgericht in Erwägung zu ziehen ist, grundsätzlich auch hinsichtlich ihrer Schwere deutlich von jenen Fallgestaltungen ab, die Gegenstand der vergleichsweise angeführten Verfahrensnormen sind. Deshalb kann es weniger um eine direkte Gleichsetzung als vielmehr um die eher allgemeine Erkenntnis gehen, daß auch im Rahmen des Verfahrensrechts generalpräventive Erwägungen eine Rolle spielen (können). Die Konstruktion, die in § 24 I Nr. 3 GVG normierte Formel von der „besonderen Bedeutung des Falles" sei als Generalklausel zu verstehen, mittels derer die Aspekte der po121 Z u r (insbesondere auch generalpräventive Aspekte berücksichtigenden) Auslegung des Begriffs des „öffentlichen Interesses" vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 7 f.; LR-Rieß, Rn 2 5 ff.; A K / S t P O Schöch, Rn 2 0 f f . jeweils zu § 1 5 3 ; s. auch Boxdorfer, N J W 1 9 7 6 , 3 1 9 f . ; Hobe, FS Leferenz ( 1 9 8 3 ) , S. 6 4 0 f f . sowie (kritisch) M.-K. Meyer, G A 1 9 9 7 , 4 1 0 ff.
552
Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
sitiven Generalprävention im Zuständigkeitsbereich umgesetzt werden, mag als abstrakte modellhafte Beschreibung plausibel wirken. Gleichwohl sind gegen eine solche Sichtweise gravierende rechtliche Bedenken zu erheben. Die Konstellationen, in denen das Gesetz auf das „(besondere) öffentliche Interesse" abstellt, sind Ausdruck des Opportunitätsgedankens. Diese Formeln stehen, selbst wenn man sie als unbestimmten Rechtsbegriff auffaßt, 122 in untrennbarem Zusammenhang mit Ermessensvorschriften, deren Ziel es ist, ein Ventil gegenüber dem als in lupenreiner Strenge nicht durchzuhaltenden Legalitätsprinzip zu schaffen. Was in einem von Opportunität und Ermessen bestimmten Sinnzusammenhang als sachgerecht und vernünftig erscheinen mag, läßt sich nicht unbesehen in den Kontext des gesetzlichen Richters transponieren, der ein verfassungsrechtlich verbürgtes spezielles Bestimmtheitsgebot darstellt.12·' Aus diesem Grunde verschlägt auch nicht das Argument, wenn die Staatsanwaltschaft unter Heranziehung (auch) generalpräventiver Gesichtspunkte sogar überhaupt von der Verfolgung eines Falles absehen dürfe, dann müsse erst recht eine nur die Zuständigkeit betreffende Verarbeitung generalpräventiver Erwägungen zulässig sein. Dieser Schluß scheitert schon daran, daß der Verfolgungsverzicht von vornherein - wie dargestellt - andere Fälle betrifft als jene, die in § 24 I Nr. 3 GVG gemeint sind. Darüber hinaus ist dem Gesetzgeber die Strenge des Art. 101 I 2 GG mit einer größeren Verbindlichkeit auferlegt als die Sicherung des (allenfalls mittelbar im Rechtsstaatsprinzip verfassungsrechtlich verankerten) Legalitätsprinzips. cc)
Bedenken gegen eine generalklauselartige Berücksichtigung generalpräventiver Aspekte im Zuständigkeitskontext
Normative Generalklauseln sind deshalb im Bereich der gerichtlichen Zuständigkeit aus verfassungsrechtlichen Gründen mit besonderem Argwohn zu betrachten. Ob sie gleichwohl hinzunehmen sind, hängt neben dem Ausmaß der Unbestimmtheit auch maßgeblich davon ab, ob die betreffende Regelung unvermeidbar ist oder ob die Kollision mit gleich- oder höherwertigen verfassungsrechtlich geschützten Interessen eine Zurückdrängung des Bestimmtheitsgebots unter dem Aspekt der sog. praktischen Konkordanz fordert. Hinter den Durchbrechungen des Legalitätsprinzips steht die Überlegung, daß die Strafjustiz zusammenbrechen würde, wenn sie auch in Bagatellfällen ausnahmslos das gesamte Programm staatlicher Strafverfolgung zum Einsatz bringen müßte. Insoweit dienen die Opportunitätsvorschriften der Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege als einem wesentlichen Grundelement des Rechtsstaates, und das „öffentliche Interesse" markiert gleichsam die „Schmerzgrenze", bei der staatliche Intervention not122 Vgl. hierzu (bezüglich des „besonderen öffentlichen Interesses") LK-Hirsch, § 232 (a.F.) Rn lOff. (16). Diese Frage ist vor allem bezüglich der (umstrittenen) Frage der gerichtlichen Nachprüfbarkeit von Bedeutung; vgl. hierzu einerseits BVerfGE 51, 176ff.; Tröndle, in: Tröndle/Fischer, StGB, § 230 Rn 4; andererseits B. Heinrich, NStZ 1996, 111, 113 ff.; Kröpil, NJW 1992, 654ff.; Stornier, ZStW 108 (1996), 495, 522. Dieses Problem ist bezüglich des § 24 I Nr. 3 GVG (theoretisch) ohne Bedeutung, da hier die gerichtliche Überprüfung anerkannt ist. Dies ändert freilich nichts an den Bestimmtheitsproblemen (s. hierzu den folgenden Text). 123 Vgl. oben 5. Kap. II.3; 8. Kap. III.5. Vgl. auch die von Erb (Legalität, S. 196ff.) aus dem Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 II GG abgeleiteten Bedenken gegen eine materiell-rechtliche Opportunitätsvorschrift. S. ferner Naucke, KritV 1993, 154 („Prävention und Legalität passen theoretisch und praktisch nicht zusammen.").
19. Kapitel: Das Merkmal der „besonderen Bedeutung des Falles"
553
wendig ist. Ganz anders verhält es sich demgegenüber bezüglich des § 24 I Nr. 3 GVG. Hier resultiert die Unbestimmtheit daraus, daß dem Gedanken der positiven Generalprävention um seiner selbst willen Rechnung getragen werden soll. Denn hier ist allein die Frage betroffen, an welcher Stelle des Justizapparats die Durchführung des konkreten Strafverfahrens erfolgen soll. Während die Durchbrechungen des verfassungsrechtlich vergleichsweise schwach verankerten Legalitätsprinzips gleichsam aus der Not geboren sind, fehlt es bezüglich des § 24 I Nr. 3 GVG an einem besonderen Gegengewicht, obwohl hier die Verfassung durch Art. 101 I 2 GG explizit ein gesteigertes Maß an Bestimmtheit verlangt. Ferner darf nicht übersehen werden, daß sich das strafgerichtliche Zuständigkeitsmodell grundsätzlich durchaus auch an den Belangen der positiven Generalprävention ausrichtet. So dient die gesetzliche Festlegung, daß die in § 74 II GVG aufgelisteten Kapitalverbrechen vor den Schwurgerichtskammern verhandelt werden, während der Ladendiebstahl und die Beförderungserschieichung vom Einzelrichter abgeurteilt werden, auch der Stabilisierung der Normtreue der Bevölkerung, der das Bewußtsein vermittelt wird, daß schwerere Taten vor höheren und mit mehr Richtern besetzten Gerichten verhandelt werden. Die hier zu diskutierende Frage besteht demgegenüber darin, ob die positive Generalprävention daneben ungefiltert in Form einer Generalklausel zur Korrektur des generellen, vornehmlich auf die konkrete Straferwartung zugeschnittenen Zuständigkeitsmodells mobilisiert werden darf. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, daß die positive Generalprävention zwar weitgehend als eine tragende Säule des Strafrechts anerkannt ist, daß ihre Wirkungsmechanismen im einzelnen jedoch umstritten sind und sich nach dem derzeitigen Stand der Kriminologie bestenfalls in Ansätzen empirisch nachweisen lassen.124 Der Wert, der der positiven Generalprävention als modellhafte Erklärung auf abstrakter Ebene zukommt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Anwendung dieser Überlegungen im konkreten Einzelfall angesichts einer fehlenden Operationalisierbarkeit kaum zu überzeugen vermag.125 So ist mit Blick auf die Verfahrenseinstellung gefragt worden, ob ein vages Gefühl der Staatsanwälte, man habe jetzt genug Diebstähle, Betrügereien, Sachbeschädigungen etc. angeklagt und eine weitere Ausdehnung der Strafverfolgung sei schädlich, den Ausschlag für die Ausübung des Verfolgungsermessens geben solle.126 Mindestens ebenso zweifelhaft erschiene es, den Anklageadressaten von der staatsanwaltschaftlichen Mutmaßung abhängig zu machen, daß gerade in diesem Fall eine amtsgerichtliche Aburteilung in den Augen der Bevölkerung als unverständlich oder sogar unannehmbar erscheinen müßte. Eine derartige einzelfallbezogene Beurteilung wäre höchst spekulativ. Aus normativer Perspektive ist daran zu erinnern, daß das Gesetz auch den Strafrichter als vollwertigen „Verteidiger der Rechtsordnung" selbst dort ansieht, wo es einer besonders deutlichen Normbekräftigung durch die Verhängung einer gravierenden Rechtsfolge bedarf. Die Vorstellung, ein Strafverfahren müsse vor das Landgericht gebracht werden, um bei den Rechtsgenossen den Eindruck zu vermeiden, es handele sich um eine Lappalie, ist mit dieser gesetzlichen Wertung nicht zu vereinbaren. Erb, Legalität, S. 153 ff.; Geisler, Vereinbarkeit, S. 165 ff. 125 Yg] auch 2u kritischen Äußerungen zur mangelnden Bestimmtheit der Formel vom „öffentlichen Interesse" M.K. Meyer, GA 1997, 404, 410. I2f> Erb, Legalität, S. 154. 124
554
Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
Der amtsgerichtliche Strafbann von bis zu vier Jahren Freiheitsstrafe (§ 24 II G V G ) macht deutlich, daß dort keineswegs nur unbedeutende Bagatellen verhandelt werden. Es k o m m t hinzu, daß die Wirkung der positiven Generalprävention maßgeblich von der Rezeption eines Verfahrens in den Medien abhängt. Ein amtsgerichtliches Strafverfahren, über das (möglicherweise sogar überregional) berichtet wird, trägt ungleich stärker zur Normstabilisierung bei als ein Verfahren vor der großen Strafkammer, das weithin unbeachtet abläuft. Wie die im weiteren Verlauf dieses Kapitels dokumentierten Fälle zeigen, kann nicht pauschal davon ausgegangen werden, daß ein Strafrechtsfall für die Medien nur dann von Interesse ist, wenn er vor dem Landgericht seinen Ausgang nimmt. Es ist aber nicht nur die rechtspolitische Notwendigkeit für eine an der Generalprävention ausgerichtete Zuständigkeitskorrektur zu bestreiten, sondern die Generalklausel des § 24 I Nr. 3 GVG verliert beim näheren Hinsehen auch viel von ihrer vermeintlichen „Harmlosigkeit". Gerade weil eine eindeutige Festlegung generalpräventiver Bedürfnisse für einen konkreten Einzelfall kaum möglich ist, erscheint die der Strafverfolgungsbehörde zufallende (Vor-)Entscheidung darüber, in welchen Fällen ein Exempel statuiert werden soll, eher als ein (kriminal-)politisch motivierter Willensakt denn als eine juristische Subsumtion des Einzelfalles unter einen unbestimmten Rechtsbegriff. Auf diese Weise erlangt die Staatsanwaltschaft „eine versteckte, aber dennoch wirkungsvolle Einwirkungsmöglichkeit auf die Strafzumessung". 1 2 7 Denn angesichts der empirisch nachweisbaren Strafzumessungsunterschiede 1 2 8 bewirkt die Regelung des § 24 I Nr. 3 GVG faktisch, „daß die vom Staatsanwalt diagnostizierte und vom Gericht akzeptierte (vgl. § 209 StPO) ,besondere Bedeutung des Falles' allein schon wegen der daraus folgenden Zuständigkeit der Strafkammer zu - im Durchschnitt - härterer Strafe führt, als bei einer normalen Anklage bei Amtsgericht verhängt worden wäre". 129 Auf diese Weise käme der Bejahung der „besonderen Bedeutung des Falles" also durchaus eine mittelbare Relevanz der positiven Generalprävention für die Strafzumessung zu. Selbst wenn man die empirisch festgestellten Strafzumessungsdivergenzen in Zweifel ziehen wollte, ist zumindest die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, daß unter Kenntnis der besonderen Urteilsmaßstäbe der konkret in Betracht kommenden Spruchkörper die Anklage vor dem Gericht erhoben wird, dem die Staatsanwaltschaft die aus ihrer Sicht „gerechtere" Aburteilung des Falles zutraut. Eine solche Steuerung der Zuständigkeit würde vermutlich
127 Streng, Strafzumessung, S. 136 f. ( 1 3 7 ) . A u f g r u n d einer empirischen U n t e r s u c h u n g von schöffengerichtlichen Urteilen fand Schünemann (in: Kaiser/Kury/Albrecht [Hrsg.J, Kriminologische Forschung in den 80er Jahren [1988], S. 2 6 5 55 [266 f., 2 7 6 f.]) die T h e s e bestätigt, daß der Staatsanwalt durch seinen Strafantrag einen b e s t i m m e n d e n Einfluß auf die richterliche Strafzumessung ausübt. Selbst w e n n m a n die D o m i n a n z des Staatsanwalts für eine u n a n g e m e s s e n e Simplifizierung halten u n d die diesbezüglich feststellbaren Korrelationen als Ausdruck der von Richtern und Staatsanwälten g e m e i n s a m herausgearbeiteten „lokalen Justizkulturen" interpretieren wollte (so Langer, Staatsanwälte, S. 3 7 5 f . , 3 9 0 f f . ) , ändert dies nichts an der Möglichkeit der Staatsanwaltschaft, durch die Wahl des Anklageadressaten (und einen entsprechenden Strafantrag in der H a u p t v e r h a n d l u n g ) ihren Einfluß in Richtung auf eine V e r ä n d e r u n g der lokalen „Straftaxen" auszuüben o d e r innerhalb der örtlichen Richterschaft bestehende Unterschiede für eine (aus staatsanwaltschaftlicher Sicht) „ a n g e m e s s e n e " Beurteilung der T a t zu nutzen. Vgl. auch Oswald/Langer, in: Pfeiffer/Oswald, Strafzumessung ( 1 9 8 9 ) , S. 2 2 1 ff. sowie o b e n 18. Kap. II.3 (Fn 61 [zur Staatsanwaltschaft als „Trägerin der härteren Rolle"]). 128 12
'
Vgl. Streng, Strafzumessung, S. 118 ff., 2 9 1 ; ders., Sanktionen, S. 157. Streng, Strafzumessung, S. 137.
19. Kapitel: Das Merkmal der „besonderen Bedeutung des Falles"
555
nicht einmal als Manipulation empfunden werden; denn der „ g e r e c h t e s t e )n" Strafe k o m m t idealtypisch auch der größte Wert für die positive Generalprävention zu. 130 Es sollte nicht zweifelhaft sein, daß die Einräumung eines derartigen Freiraums zur mittelbar ergebnisbezogenen Zuständigkeitsbestimmung mit dem Anliegen des Prinzips des gesetzlichen Richters nicht in Einklang zu bringen ist. Darüber hinaus handelt es sich aber schon bei der Gegenüberstellung zwischen einer eindeutigen Zuständigkeitsregelung und dem Interesse der positiven Generalprävention um eine verzerrte Darstellung des Problems. Denn die positive Generalprävention ist kein eindimensionales Gebilde, dem allein dadurch entsprochen werden kann, daß die Strenge des Zuständigkeitsmodells durch eine flexible Generalklausel partiell durchlässig gemacht wird. Vielmehr leistet auch das Prinzip des gesetzlichen Richters gerade wegen seiner Strenge und der hiermit verbundenen weitgehenden Ausschaltung menschlicher Willensakte bei der Zuständigkeitsfestlegung einen maßgeblichen Beitrag zur Stärkung des Rechtsfriedens und des Normvertrauens der Bevölkerung. 131 Ebenso, wie wir uns davor hüten sollten, die Effektivität der Strafverfolgung nur am Kriterium reibungsloser und schneller Durchführung messen zu wollen, 132 griffe es zu kurz, die positive Generalprävention in Gestalt des ξ 24 I Nr. 3 GVG als Einfallstor zu installieren, um unter der Chiffre der „besonderen Bedeutung des Falles" nach höchst vagen Maßstäben die Fälle auszusortieren, von denen die Staatsanwaltschaft (sei es auch mit nachträglicher gerichtlicher Billigung) annimmt, daß „die Bevölkerung" sie lieber vor dem Landgericht verhandelt sähe. Was hier im Einzelfall als Gewinn an positiver Generalprävention verbucht werden könnte, erscheint als allzu gering im Vergleich zu der Beunruhigung, die eine derartige Befugnis zur fallorientierten Handsteuerung hervorrufen müßte. Zur Untermauerung der bisherigen abstrakten Überlegungen lassen sich die eingangs zur Illustration der hier diskutierten Subkriterien (Ausmaß der Rechtsverletzung und Auswirkungen der Tat auf die Allgemeinheit) dargestellten Fälle mit konkreten Gegenbeispielen konfrontieren, in denen eine Aburteilung durch das Amtsgericht (offensichtlich) für ausreichend gehalten wurde. Sehr deutlich treten die Divergenzen in der Beurteilung von im wesentlichen gleichgelagerten Sachverhalten anläßlich der Strafverfahren im Z u s a m m e n h a n g mit den Studentenunruhen Ende der 60er Jahre zutage. Es ist evident, daß sich die von den Tatgerichten vertretene Spannbreite der A u f f a s s u n g e n 1 " auch in der Frage niederschlagen kann, o b dem angeklag-
1,0
S. auch Geisler, Vereinbarkeit, S. 167 f. '•" Allgemein zur Bedeutung des Präventionsgedankens im Verfahrensrecht vgl. Bottke, Assoziationsprävention, S. 42 f., 2 4 2 ff.; Geisler, Vereinbarkeit, S. 237 ff.; s. auch oben 5. Kap. 1.1 und 2. 1,2 So zutreffend Geppert, DRiZ 1992, 414; Hassemer, KritV 1990, 265 ff. Vgl. hierzu Tiedematin,yZ. 1969, 717ff. (s. auch a.a.O. S. 717f. den Hinweis auf das Verhältnis „judikativer Progressivakte zahlreicher Amts- und Landgerichte gegenüber dem auffälligen Konservatismus besonders der Oberlandesgerichte); Kriele, ZRP 1969, 145 ff.; vgl. ferner zur Ahndung von Demonstrationsstraftaten im beschleunigten Verfahren Schunemann, NJW 1968, 975 f. Hatte der o.a. Beschluß des OLG Köln (NJW 1970, 260) die Zuständigkeit der großen Strafkammer bejaht, so zeigt das nahezu zeitgleiche Revisionsurteil des OLG Celle (NJW 1970, 206 ff.), daß vergleichbare Taten (gewaltsame Verhinderung der Auslieferung von Zeitungen des Verlagshauses Springer im Anschluß an das Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke) auch vom (erweiterten) Schöffengericht abgeurteilt worden sind. Ein vergleichbar breites Meinungsspektrum konstatierten Mitte der 80er Jahre Wot-
556
Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht ten Fall eine „besondere Bedeutung" im Sinne des § 24 I Nr. 2 G V G (a.F.) zukommt. 114 Resultiert hieraus das Gefühl, daß es in diesem Bereich keine Eindeutigkeit, sondern bestenfalls Vertretbarkeit (mit der Gefahr taktisch nutzbarer Gestaltungsfreiheit) geben kann, so muten andere Beispiele geradezu unverständlich an. So wurde im Jahre 1998 ein Autofahrer vom Schöffengericht Lehrte zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren (ohne Bewährung) verurteilt, der durch stark überhöhte Geschwindigkeit in einer Autobahnbaustelle einen Verkehrsunfall verursacht hatte, bei dem acht Menschen getötet und ein weiterer verletzt wurde(n). Sowohl der Unfall als auch das Strafverfahren haben starke Beachtung in den Medien gefunden; 135 dennoch hat - soweit ersichtlich - weder die Staatsanwaltschaft noch das eröffnende Gericht Veranlassung gesehen, diesen Prozeß (entgegen der Strafprognose) vor der großen Strafkammer beginnen zu lassen. Demgegenüber hatte der BGH (wenngleich in einer älteren Entscheidung) die von der Staatsanwaltschaft angenommene „besondere Bedeutung" in einer Verkehrsunfallsache gebilligt, in der der Angeklagte von der großen Strafkammer wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung zu drei Monaten Gefängnis verurteilt worden war. 136 In einem späteren Urteil 137 hatte der BGH an seiner Linie ausdrücklich ungeachtet des Vorbringens des Verteidigers festgehalten, daß die Staatsanwaltschaft des Ausgangsverfahrens alle Fälle fahrlässiger Tötung im Straßenverkehr ausnahmslos vor der großen Strafkammer anklage. Nimmt man hinzu, daß ein BGH-Richter 138 von der Beobachtung eines deutlichen Nord-Süd-Gefälles berichtet, wonach fahrlässige Tötungen im Straßenverkehr in Süddeutschland (entgegen der norddeutschen Praxis) fast ausschließlich „nur" zu den Schöffengerichten angeklagt werden, dann ist die Beurteilung des niedersächsischen Autobahnunfalls mit diesen Maßstäben schlechterdings nicht in Einklang zu bringen.
Natürlich lassen sich gegen diese Art der Beweisführung prinzipielle Einwände erheben: M a n dürfe einen Sachverhalt nicht ohne genaue Aktenkenntnis nur nach Presseberichten beurteilen, und ein möglicher Anwendungsfehler im Einzelfall widerlege nicht das Kriterium der „besonderen Bedeutung" (bzw. des Ausmaßes der Rechtsverletzung und der Auswirkungen der Tat) als solches. Beide Vorhalte sind richtig, aber sie gehen am eigentlichen Problem vorbei. Denn es geht weniger um die Frage, ob in einem konkreten Fall eine abweichende Bewertung geboten oder vertretbar wäre. Maßgeblich sind vielmehr zwei allgemeine Gesichtspunkte: Z u m einen ist daran zu erinnern, daß das Merkmal der „besonderen Bedeutung" als ein hinreichend bestimmter und subsumierbarer Rechtsbegriff konzipiert ist. Analysiert man die tatsächliche Handhabung der hier betrachteten Fallgruppe, so wecken sowohl die bejahenden als auch manche verneinenden Beispiele
ter, NStZ 1986, 241 ff. und H. Kramer, KJ 1988, 201 ff. (jeweils mit zahlreichen Nachweisen zur Rechtsprechung der Tatgerichte). 1,4 Vgl. auch zur Bejahung der „besonderen Bedeutung" „Der Tagesspiegel" vom 3.9.1987, S. 14. 135 Vgl. (zum Unfall) „Die Welt" vom 14.4.1998, S. 12; FAZ vom 14.4.1998, S. 13 sowie (zum Urteil) SZ vom 24.7.1998, S. 7 und „Der Spiegel", Nr. 31/1998, S. 61 f. '«> BGH, MDR 1957, 112 mit (zust.) Anm. Dallinger (in BGHSt. 9, 367 ist das Strafmaß der ersten Instanz nicht angegeben). 137 BGH, VRS 23 (1962), 267 f. In diesem Verfahren war der Angeklagte vom Landgericht zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden, nachdem er auf einer Bundesstraße (bei einer Geschwindigkeit von 50 bis 55 km/h) einen 10jährigen Jungen tödlich verletzt hatte. 138 G. Schäfer, Praxis, Rn 471. Vgl. aber auch OLG Oldenburg, NStZ 1994, 449 (Zuständigkeit des Strafrichters bei fahrlässiger Tötung durch Lkw-Fahrer).
19. Kapitel: Das Merkmal der „besonderen Bedeutung des Falles"
557
Zweifel, ob die Entscheidung nicht jeweils ebenso gut auch entgegengesetzt hätte ausfallen können. Der Eindruck, daß in diesem Bereich (nahezu) „jeder" (fast) „alles" vertreten kann, nimmt einem Abschichtungsmerkmal, das als Abgrenzungskriterium für augenfällige Ausnahmefälle angelegt ist, jegliche Überzeugungskraft. Zum anderen ist dieser Befund für die Frage eines vermeintlich bestehenden unabweisbaren Bedürfnisses für die Möglichkeit einer Anklageerhebung zum Landgericht von Bedeutung: Wenn wie die Gegenbeispiele zeigen - die Rechtsgemeinschaft damit leben kann (und selbstverständlich kann sie es), daß selbst folgenschwerste Verkehrsunfälle (ebenso wie Steinewerfer- und Hausbesetzerprozesse) ungeachtet der besonderen Publizität in erster Instanz „nur" vor den Amtsgerichten abgeurteilt werden, dann ist nicht einzusehen, daß der Gedanke der Generalprävention eine Korrektur der an der Straferwartung orientierten Zuständigkeitsregelung wirklich notwendig macht.
b)
Die herausgehobene
Stellung des Täters oder Tatopfers in der
Öffentlichkeit
Im Gegensatz zu der soeben besprochenen Fallgruppe ist bezüglich des nunmehr zu betrachtenden Kriteriums der hervorgehobenen Stellung des Täters oder des Opfers in der Öffentlichkeit bereits umstritten, ob dieser Gesichtspunkt überhaupt herangezogen werden darf, um einen Fall als solchen von „besonderer Bedeutung" im Sinne des § 24 I Nr. 3 GVG erscheinen zu lassen. Die hiergegen bestehenden Bedenken hat schon Paul Bockelmann139 prononciert dahingehend formuliert, daß „die Gleichheit vor dem Gesetz ... überhaupt nicht empfindlicher als so verletzt werden (könne), daß der eine seiner Stellung' wegen vor ein Gericht kommt, vor das ein anderer deshalb nicht gelangt, weil er nicht die gleiche ,Stellung' hat". Vor diesem Hintergrund erscheinen die Restriktionsbemühungen verständlich, die eine aus der besonderen Stellung eines Beteiligten resultierende „besondere Bedeutung" nur unter Einschränkungen anerkennen.140 Die schon vor mehr als 30 Jahren erhobene Forderung nach einer „Unterscheidung des legitimen von einem bloßen Skandalinteresse" 141 wirkt (jedenfalls in unserer heutigen Mediengesellschaft) eher als Ausdruck der Ratlosigkeit denn als wirkliche Hilfe zur Bewältigung des Abgrenzungsproblems.142 Auch die Konkretisierungsbemühungen im Schrifttum sind eher vage. So soll die hervorgehobene Position des Beteiligten „nur entscheidend sein, wenn durch die Tat das Ansehen der in Frage kommenden Person schwer beeinträchtigt wurde",143 oder eine besondere Bedeutung „wegen zu befürchtender negativer Folgewirkungen auf die weitere Tätigkeit des Verletzten" in Betracht kommen. 144 Nach einer weiteren Ansicht145 können 139 N J W 1 9 5 8 , 8 9 0 ; vgl. auch schon ders., G A 1 9 5 7 , 3 6 3 (Fn 1 7 ) . G e g e n das Kriterium der herausragenden Stellung eines Beteiligten auch Krekeler, wistra 1 9 8 5 , 5 7 ; s. auch Schlüchter, Strafverfahren,
Rn 18; Schroeder, MDR 1965, 178 f.
Vgl. Kissel, G V G , § 2 4 Rn 1 6 ( m . w . N . ) . Schroeder, M D R 1 9 6 5 , 1 7 8 . Ebenso bereits G. Kröger (Gesetzlicher Richter, S. 9 5 ) , nach dessen Ansicht das „berechtigte Interesse der Öffentlichkeit" (wegen wichtiger wirtschaftlicher oder politischer Hintergründe) zu unterscheiden ist von „bloßem Sensationsinteresse, das durch Presse, Rundfunk oder andere Publikationsmittel künstlich erzeugt ist". 142 Vgl. auch zum Medieneinfluß bei der Festlegung des öffentlichen Interesses Hamm, Strafprozesse, S. 8 3 ff. (insbesondere S. 8 8 f. zu sog. Berichtssachen). 140
141
143
144
Molketin,
Schutzfunktion, S. 4 3 .
Kissel, GVG, § 24 Rn 16.
558
Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
Amt oder Stellung des Beschuldigten oder Verletzten je nach der Tat eine Rolle spielen, doch soll ebenfalls maßgebend sein, ob die Tat von der Öffentlichkeit stark beachtet und unter Medienverbreitung begangen wurde. Soweit hiernach dennoch für diese Fallgruppe ein vergleichsweise enger Anwendungsbereich mit generalisierbaren Maßstäben denkbar erscheint, dürfte er sich mit den Gesichtspunkten des Ausmaßes der Rechtsverletzung und der Generalprävention partiell überschneiden. Immerhin soll auch dieser Sektor anhand exemplarischer Fallgestaltungen untersucht werden. Hierbei empfiehlt es sich, das Material danach zu strukturieren, ob die herausgehobene Position das Opfer oder den Täter kennzeichnet. Der Ausschnitt, der die herausgehobene Stellung des Opfers betrifft, verdankt seine Entstehung und Anerkennung einer singulären Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts aus dem Jahre 1953. 146 In jenem Beschluß wird ausgeführt, daß eine „besondere Bedeutung des Falles" allgemein dann anerkannt werde, „wenn schwerwiegende öffentliche Interessen, insbesondere politischer Natur im Spiele sind oder wenn ein Beteiligter an hervorgehobener Stelle im öffentlichen Leben steht". 147 Diese Voraussetzung wurde für das vorliegende Verfahren bejaht, das den Vorwurf zum Gegenstand hatte, der Angeklagte habe dem damaligen bayerischen Innenminister eine Äußerung zur Frage der Heimkehr der Kriegsgefangen unterstellt, die dieser in seiner Eigenschaft als bayerischer Ministerpräsident im Jahre 1945 gemacht haben soll und die allgemein die größte Erbitterung und Empörung hervorrufen sowie das Ansehen des Verletzten und das Vertrauen, dessen er in seinem hohen Amt bedarf, untergraben würde. Daß in einer solchen Situation ein Bedürfnis nach einer gerichtlichen Überprüfung des in Rede stehenden Vorfalls besteht, ist nicht zu bestreiten. Fraglich erscheint immerhin, ob (nur) die große Strafkammer als geeignete Eingangsinstanz anzusehen ist. Auch insoweit lassen sich die Zweifel anhand von Gegenbeispielen illustrieren. Als Beate Klarsfeld dem damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger wegen seiner NS-Vergangenheit am 7. November 1968 auf dem CDU-Parteitag in Berlin eine öffentliche Ohrfeige verabreicht hatte, wurde die „symbolische Tat" 1 4 8 noch am selben Tage durch einen Strafrichter im beschleunigten Verfahren (mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr ohne Bewährung) abgeurteilt;149 in der Berufungsinstanz wurde die Strafe später von der kleinen Strafkammer auf vier Monate Freiheitsstrafe (mit Bewährung) reduziert.150 Dieses Verfahren büßt seine Vergleichbarkeit auch nicht durch den Umstand ein, daß hier im beschleunigten Verfahren entschieden worden ist. Denn der Staatsanwaltschaft steht kein Wahlrecht dahingehend zu, ob sie einen Fall mit „kurzem" Prozeß oder in einem „großen" Prozeß verhandelt wissen will. Das beschleunigte Verfahren kommt nur zum Zuge, wenn sich das Verfahren hierfür eignet. Gehört der Fall (sei es auch wegen der Annahme einer „besonderen Bedeutung des Falles") vor das Landgericht, muß der Antrag auf Aburteilung im beschleunigten Verfahren seitens der Staatsanwaltschaft unterbleiben bzw.
145 Katbolnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht § 2 4 Rn 5. '4 «
Strafrichter
374661
Jugendrichter
143466
SchöffenG
2330
Gr. StrK c ο SJ -o
814433
100,00
799648
98,18
100,00
702083
86,20
87,80
97565
11,98
12,20
499382
40249 112077
17,38
17,78
41822
Erledigt durch LG
%
202701
67925
Erw. SchöG JugendSchöG
518127
%
1926 55390
14477
14795
2,26
10021
9184
SchwurG
1307
1746
WiStrK
1052
1043
Gr.JugdK
2097
2822
1,82
Tabelle 2: Strafarten u n d S t r a f h ö h e n der n a c h a l l g e m e i n e m Strafrecht Verurteilten Ν(1992)
%
Ν(1996)
%
Verurteilte insgesamt
640774
100,00
682844
100,00
Freiheitsstrafe
103500
16,15
121606
17,81
t_
95 LR -Hanack, Rn 14; AK/StPO-Maiwald, Rn 6 jeweils zu ξ 336. 196 Ring, DRiZ 1995, 392; s. auch Deisberg/Hohendorf, DRiZ 1984, 262. Ausweislich der Angaben des Statistischen Bundesamtes (Fachserie 10: Rechtspflege, Reihe 2: Gerichte und Staatsanwaltschaften 1996 [1997], S. 79) lag von den amtsgerichtlich erledigten Fällen der auf das erweiterte Schöffengericht
2 2 . Kapitel: Weitere „Wahlmöglichkeiten" der Staatsanwaltschaft
689
die für eine stärkere Nutzung dieses Instruments (gegebenenfalls in Verbindung mit einer gesetzlichen Ausdehnung des Zuständigkeitsbereichs) eintreten. 1 9 7 Ein regelungstechnisches Gegenstück hat das erweiterte Schöffengericht durch das Rechtspflegeentlastungsgesetz in Gestalt der Besetzungsreduzierung gemäß § 7 6 II G V G gefunden. Hiernach wird auf der Ebene des Landgerichts (abgesehen von Verhandlungen des Schwurgerichts) ebenfalls eine Besetzung mit zwei Berufs- und zwei Laienrichtern beschlossen, sofern nicht - auch dies in deutlicher Anlehnung an § 2 9 II G V G - nach dem Umfang oder der Schwierigkeit der Sache die Mitwirkung eines dritten Richters notwendig erscheint.
a)
Die verfassungsrechtliche Beurteilung des § 29 II GVG
Der Bezug des § 2 9 II G V G auf den Verfassungssatz des gesetzlichen Richters ergibt sich unmittelbar aus der Tatsache, daß der Antrag der Staatsanwaltschaft auf die Veränderung der Richterbank abzielt. In materieller Hinsicht begegnet das für die Zuständigkeitsregelung maßgebliche Kriterium, daß der Umfang der Sache die Mitwirkung eines zweiten Berufsrichters notwendig machen muß, keinen durchgreifenden Bedenken. 1 9 8 Daß es im Bereich der amtsgerichtlichen Zuständigkeit (mit einer Strafbanngrenze von vier Jahren) Fälle gibt, die eine Überforderung eines einzelnen Amtsrichters besorgen lassen, kann nicht ernsthaft bezweifelt werden. Deshalb ist es legitim und vernünftig, wenn der G e setzgeber im Interesse der Funktionstüchtigkeit und der Qualität der Strafrechtspflege auch auf der Ebene des Amtsgerichts die Möglichkeit einer funktionellen Arbeitsteilung zwischen einem Vorsitzenden und einem Berichterstatter vorsieht. 1 9 9 Zwar ist die Formel von der sich aus dem „Umfang der Sache" ergebenden „Notwendigkeit" der Zuziehung eines zweiten Berufsrichters als unbestimmter Rechtsbegriff anzusehen, doch sind keine anderen Merkmale mit einem höheren M a ß an Bestimmtheit erkennbar, mit deren Hilfe sich die Fallmenge der insoweit einschlägigen Strafsachen zuverlässig abgrenzen ließe. Zudem kann diese Formel durch ergänzende Kriterien wie die Zahl der Angeklagten, Zeugen und Sachverständigen sowie durch den Umfang der Tatvorwürfe oder der Akten ausgefüllt werden. 2 0 0 Die hiernach verbleibenden Interpretationsspielräume sind als unvermeidbar hinzunehmen; sie erreichen auch nicht annähernd die Weite der „besonderen Bedeutung" im Sinne des § 2 4 I Nr. 3 G V G , 2 0 1 sondern halten sich im Rahmen der Regelungen, die unter dem Gesichtspunkt der optimalen Nutzung von Spezialkenntnissen als verfassungsrechtlich zulässig angesehen wurden. Für die Verfassungsmäßigkeit „beweglicher" Zuständigkeitsregelungen ist neben der entfallende Anteil in den Jahren 1 9 9 2 bis 1 9 9 6 (mit seit 1 9 9 4 abnehmender Tendenz) bei maximal 0,4%. 197
Vgl. Deisberg/Hohendorf,
lege ferenda Marsch,
DRiZ 1984, 261 ff. (271, 273 f.); Weiland, JuS 1982, 920; s. auch de
Z R P 1 9 9 8 , 3 4 1 ; Ring,
Z R P 1 9 9 8 , 131 f. sowie Laufhütte,
S. 343 f.; ders., DRiZ 1994, 144; Meyer-Goßner/Ströber,
FS Saiger ( 1 9 9 5 ) ,
ZRP 1996, 359; K. Weber, ZRP 1997, 135 f.
S. auch oben 19. Kap. III. (Fn 3 0 3 ) . 1,s Vgl. auch oben 19. Kap. II. 2 c (zur Frage der Bedeutung des Umfangs der Sache im Rahmen des § 24 INr. 3 GVG).
"» Daliinger, JZ 1953, 433, 434; Deisberg/Hohendorf, 200
Katholnigg,
DRiZ 1984, 268, 269; Kern, GA 1953, 45.
Strafgerichtsverfassungsrecht, Rn 4; Kleinknecht/Meyer-Goßner,
G V G . Für eine teleologische Erweiterung des Begriffs des „Umfangs der Sache" DRiZ 1 9 8 4 , 2 7 0 f. 201 Ebenso R. Meyer, DRiZ 1 9 6 9 , 2 8 5 .
Rn 4 jeweils zu § 29 Deisberg/Hohendorf,
690
Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
materiellen Komponente der hinreichenden inhaltlichen Bestimmtheit die formelle Frage von Bedeutung, wie strikt die Bindung an das Gesetz ausgestaltet ist und welche Kontrollmechanismen eine normgetreue Handhabung im Einzelfall sichern. Aus dieser Richtung stammen die Bedenken, die gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 29 II GVG erhoben worden sind. 202 In der Tat liegen die Probleme dieser Vorschrift in der Frage, welche Entscheidungsspielräume der Staatsanwaltschaft und dem Gericht bezüglich der Hinzuziehung des zweiten Berufsrichters zustehen. Die mit der Wiedereinführung des erweiterten Schöffengerichts im Jahre 1953 203 beschlossene Regelung trägt kompromißhafte Züge. Einerseits wurde grundsätzlich ein entsprechender Antrag der Staatsanwaltschaft zur Voraussetzung für die Hinzuziehung des zweiten Amtsrichters erhoben, um einer zu großzügigen Anwendung dieser Vorschrift entgegenzuwirken. 204 Andererseits war das Gericht - im Gegensatz zu der früheren, durch die Emminger-Verordnung geschaffenen Rechtslage - 205 nicht an den staatsanwaltschaftlichen Antrag gebunden. Der Zwang zur übereinstimmenden Beurteilung wurde also bewußt als Bremse eingebaut, um den Ausnahmecharakter des erweiterten Schöffengerichts zu gewährleisten. Die Gefahr einer unsachlichen Obstruktionspolitik erschien unbegründet; vielmehr wurde auf die Möglichkeit verwiesen, daß der Staatsanwalt sich vor Anklageerhebung mit dem Vorsitzenden des Schöffengerichts ins Benehmen setzen oder dieser die Stellung des Antrags anregen könne. 206 Verfassungsrechtliche Zweifel gegen diese Konzeption konnten kaum auftreten, solange die herrschende Ansicht selbst bezüglich der sachlichen Zuständigkeit ein „Wahlrecht" der Staatsanwaltschaft für verfassungsgemäß erachtete. 207 Ob diese Beurteilung auch unter dem Eindruck des inzwischen geschärften Problembewußtseins gegenüber „beweglichen" Zuständigkeitsregelungen gilt, erscheint durchaus fraglich. Es ist freilich einzuräumen, daß diesbezügliche Bedenken rein prinzipieller Natur sind. Das reibungslose Funktionieren des Konsensmodells im Justizalltag ist nicht zuletzt daran abzulesen, daß unter Hinweis auf den regelmäßigen Gleichklang sogar vorgeschlagen wird, das Gericht de lege ferenda (wieder) an den Antrag der Staatsanwaltschaft zu binden. 208 Angesichts dieser konfliktfreien Kooperation haben dogmatische Vorbehalte wenig Aussicht auf Gehör; sie müssen vielmehr gewärtigen, als doktrinäre Spitzfindigkeiten beiseite geschoben oder kommentarlos übergangen zu werden, weil für solche abstrakten Gedankenspiele unter dem Druck der täglichen Geschäftslast kein Platz sei. Dennoch ist gerade unter dem Eindruck der genannten Reformüberlegungen darauf hinzuweisen, daß es sich auch bei der Vorschrift des § 29 II GVG um eine „be-
202 Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Grundrechte III/2, S. 571; Hamann, in: Hamann/Lenz, GG, Art. 101 Anm. Β 2c; Schorn, Schutz, S. 43. 201 Zur geschichtlichen Entwicklung vgl. Kissel, GVG, § 29 Rn 9 und Deisberg/Hohendorf, DRiZ 1984, 261. 2«' S. auch Kost, Verbindung, S. 139 f., 217. 102 So konstatierte Meyer-Goßner (DRiZ 1984, 243), daß die Instanzgerichte sich bei der Verbindung zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung „in aller Regel (wohlweislich?) davor hüten, dem Verbindungsbeschluß eine gesetzliche Bestimmung anzufügen". S. auch dens., DRiZ 1990, 284 f. «" Vgl. BGH, NStZ-RR (bei Kusch) 1998, 257. 104 Vgl. LR-Gollwitzer, § 237 Rn 1. Die für die Auslegung des § 237 StPO herangezogenen dogmatischen Gesichtspunkte sind von der Reichweite der analogen Anwendung des § 4 I StPO freilich unabhängig. 11)5 Diesem Gesamteindruck steht nicht die vom BGH (St. 35, 195 [199] unter Hinweis auf MeyerGoßner, DRiZ 1985, 245; zustimmend auch K. Meyer, JR 1988, 386) getroffene Feststellung entgegen, daß eindeutige gesetzliche Regelungen nicht allein aus Gründen der Zweckmäßigkeit und der Verfahrensökonomie außer acht gelassen werden dürfen. Ging es dort darum, die analoge Anwendung des § 5 StPO an die Voraussetzungen des § 3 StPO zu binden, so schließt dies die (gegebenenfalls unterschwel-
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
ein solcher Zustand unter dem Leitaspekt eines normativ möglichst eindeutig bestimmten Zuständigkeitsmodells als unbefriedigend anzusehen ist, versteht sich von selbst. 106 In gewisser Hinsicht beruhigend mag immerhin die Tatsache wirken, daß die unter systematischen Vorzeichen problematische Bejahung einer rechtszugübergreifenden Verbindung analog § 4 I StPO keine nennenswerte Steigerung der Manipulationsgefahren bedeutet. Denn auch nach Ansicht des B G H 1 0 7 ist es unzulässig, ein zur Zuständigkeit des Amtsgerichts gehörendes Verfahren zum Landgericht anzuklagen, damit es mit einem dort anhängigen Berufungsverfahren verbunden werden kann. Hieraus folgt, daß die sachliche Zuständigkeit bezüglich des erstinstanzlichen Verfahrens unabhängig vom Berufungsverfahren allein nach den einschlägigen Normen des Gerichtsverfassungsgesetzes zu bestimmen ist. Die Befürchtung, eine den Rechtszug übergreifende Verbindung zweier bei demselben Landgericht befindlicher Strafsachen könnte gerade zu dem Zweck vorgenommen werden, dem Angeklagten den OLG-Senat als Revisionsinstanz vorzuenthalten, wird man als eine rein theoretische Gefahr beiseite lassen dürfen. Auch eine Verschiebung der innergerichtlich aus dem Geschäftsverteilungsplan folgenden Zuständigkeit ist bezüglich der instanzübergreifenden Verbindung seit den gerichtsverfassungsrechtlichen Umgestaltungen des Rechtspflegeentlastungsgesetzes regelmäßig nicht mehr zu besorgen. Da (abgesehen von Jugendsachen) in der Berufungsinstanz ausschließlich die kleine Strafkammer entscheidet (§ 7 6 1 1 G V G ) , kann allenfalls die erstinstanzlich zuständige große Strafkammer das Berufungsverfahren übernehmen, so daß auch insoweit die Zuständigkeit für das verbundene Verfahren vom Berufungsverfahren nicht beeinflußt wird.
II.
Das Terminierungsermessen des Vorsitzenden
1.
Auswirkungen der Terminierung auf die G e r i c h t s b e s e t z u n g
Eine weitere Schwachstelle im System der normativen Richterzuweisung bildet die Terminsanberaumung. Bereits im Kampf gegen die Einführung einer spruchkörperinternen Geschäftsverteilung wurde von Praktikerseite vielfach das Argument vorgebracht, ein Vorsitzender Richter, der wirklich manipulieren wollte, könnte auch die starrsten Bestimmungen dadurch umgehen, daß er den Termin auf einen Tag mit einer ihm genehmen Besetzung anberaumt. 1 0 8 Auch wenn man die hieraus gezogene Schlußfolgerung
lige) Berücksichtigung von Zweckmäßigkeitsaspekten in anderen Zusammenhängen nicht aus, bezüglich derer die gesetzlichen Regelungen nicht als „eindeutig" angesehen werden. 106 Es fehlt auch nicht an Vorschlägen de lege ferenda; vgl. Kost, Verbindung, S. 2 1 4 ff.; Meyer-Goßner, DRiZ 1985, 2 4 7 ; Rosenmeier, Verbindung, S. 163 ff. 107 Vgl. oben Fn 77. Zur Begründung wird angeführt, daß § 4 StPO nur eine Zuständigkeitsänderung für das hinzuverbundene, nicht jedoch für beide Verfahren gestatte; vgl. BGHSt. 37, 15 (18). 108 Erdsiek, NJW 1963, 2 4 1 ; v. Mallinckrodt, DRiZ 1959, 3 2 2 ; Nipperdey, in: Deutscher Bundestag, 3. Wahlperiode, 12. Ausschuß, 37. Sitzung vom 3 . 1 2 . 1 9 5 8 , S. 50; Schiigen, NJW 1964, 2 2 9 1 ; G. Schultz, MDR 1960, 894; vgl. auch (ohne die mit der Terminierung verbundenen Einflußmöglichkeiten als Argument gegen die spruchkörperinterne Geschäftsverteilung ins Feld zu führen) Berger, NJW 1955, 1138 f.; Κ. E. Meyer, DRiZ 1951, 87; Sinn, Justiz 1965, 96.
23. Kapitel: Sonstige Gefährdungen des gesetzlichen Richters
725
eines Verzichts auf normative Sicherungsmechanismen nicht teilt, 1 0 9 belegen diese Äußerungen doch die mit der Terminierung verbundene gesteigerte Manipulationsanfälligkeit. Zusätzliche Nahrung erhalten diesbezügliche Befürchtungen angesichts spektakulärer Einzelfälle, in denen durch eine „ungewöhnliche" Terminierung die an sich zur Entscheidung berufenen Richter beiseite gedrängt worden sind. - Nachdem sechs Jugendliche im Alter von 14 bis 19 Jahren am Mittwoch vor Pfingsten 1994 im mecklenburgischen Grabow einen zu ihrer Clique gehörenden 15jährigen Jugendlichen brutal mißhandelt hatten, verlangten sowohl der Generalstaatsanwalt als auch der Staatssekretär im Justizministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern von der Schweriner Staatsanwaltschaft eine vorrangige Bearbeitung des Falles. 110 Die drei älteren Täter wurden (wegen Fluchtgefahr) in Haft genommen. Als der zuständige Oberstaatsanwalt am Donnerstag vor Pfingsten bei der zuständigen Jugendrichterin des Amtsgerichts Ludwigslust telefonisch um eine schnelle Verhandlung (möglichst noch am darauffolgenden Tag) nachsuchte, lehnte diese die Bitte ab, da sie noch keinen Aktenvorgang auf dem Tisch habe. Für den Fall, daß die Akten dann vorlägen, erklärte sie sich bereit, die Sache am Mittwoch nach Pfingsten zu verhandeln, und fuhr sodann in ihren Pfingsturlaub. Die Staatsanwaltschaft bemühte sich beim Präsidenten des Landgerichts Schwerin weiterhin um einen schnellen Verhandlungstermin, der diese Bitte an den Direktor des Amtsgerichts Ludwigslust weitergab. Auch der Staatssekretär erkundigte sich persönlich telefonisch beim Direktor des Amtsgerichts, ob und wann ein Termin angesetzt sei. Da ein staatsanwaltschaftlicher Aktenvorgang weiterhin fehlte, verließ der Vertretungsrichter der Jugendrichterin, der sich grundsätzlich zur Bearbeitung der Sache bereit erklärt hatte, am frühen Freitagnachmittag das Gericht. Als die Akte schließlich eintraf, setzte der Direktor des Amtsgerichts, der am Pfingstsamstag und -sonntag Eildienst hatte, die Verhandlung gegen die sechs Täter für den Nachmittag des Pfingstsonntags zur Verhandlung an, die bis in den Abend hinein dauerte und mit einer Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung zu vier Wochen Jugendarrest (bezüglich des ältesten Angeklagten zu sieben Monaten Haft ohne Bewährung) endete. Sowohl der Ministerpräsident als auch der Justizminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern dankten der Justiz öffentlich für die zügige Durchführung des Verfahrens. - Ein weiterer Fall, der schließlich zu einem Untersuchungsausschuß des Hessischen Landtags führte, betrifft die Sozialgerichtsbarkeit.· 111 Mit einem Eilantrag wandte sich die IG Metall am 2 9 . 5 . 1 9 8 4 gegen den sog. „Franke-Erlaß" zu § 116 AFG vom 1 8 . 5 . 1 9 8 4 . Die zuständige Richterin des Sozialgerichts Frankfurt/M. terminierte die Sache am 3 0 . 5 . 1 9 8 6 für den 7 . 6 . 1 9 8 4 . Der hiervon unverzüglich informierte Präsident des Landessozialgerichts Frankfurt/M. verständigte den Vorsitzenden Richter des 10. Senats, der im Hinblick auf den Eilantrag seinen Urlaub abgebrochen hatte. In einem sofortigen (ca. zwanzigminütigen, zum Teil in Anwesenheit eines Rechtssekretärs des D G B geführten) Telefonat versuchte der Vorsitzende vergeblich, die betreffende Richterin zu einer Vorverlegung des Termins zu bewegen. Etwa eineinhalb Stunden nach diesem Telefongespräch wurde die Richterin von der 109 Gegen eine Beurteilung nach dem Schlagwort „alles oder nichts" zu Recht J. Henkel, Gesetzlicher Richter, S. 77 f. 110 Vgl. zum Folgenden den Bericht in DRiZ 1994, 351 sowie Mattik, DRiZ 1994, 350; Lamprecht, Mythos, S. 160 ff. 111 Vgl. den Bericht in DRiZ 1986, 145, 147 (s. auch DRiZ 1986, 70) sowie Piorreck, DRiZ 1986, 146.
726
Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
IG Metall unter Hinweis auf die Terminierung wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Während der Vorsitzende Richter des mit dem Befangenheitsantrag befaßten 10. Senats geäußert hatte, die Terminierung grenze an Rechtsverweigerung, beabsichtigten die Beisitzer eine eingehende Prüfung des Ablehnungsgesuchs. Da sie sich durch den Vorsitzenden nicht ausreichend informiert fühlten, riefen sie die Richterin des Sozialgerichts an. Hiernach hielt der Vorsitzende seine Beisitzer ebenso für befangen wie jene ihn im Hinblick auf seinen vorherigen Versuch, die Richterin zur Vorverlegung des Termins zu veranlassen. Die schriftlichen Äußerungen der Senatsmitglieder wurden dem am 3 1 . 5 . 1 9 8 4 (Himmelfahrt) zufällig im Gericht arbeitenden Vorsitzenden des 6. Senats übergeben. Der von diesem telefonisch unterrichtete Präsident des Landessozialgerichts bat den Vorsitzenden des 6. Senats, dieser möge sich um die Angelegenheit kümmern. Daraufhin rief der Vorsitzende des 6. Senats zwei Beisitzer (jeweils Professoren mit einer 1/10-Richterstelle im Nebenamt) ins Gericht, wo der 6. Senat (ohne einen vorherigen Blick in den Geschäftsverteilungsplan, nach welchem ein Senats Vorsitzender in keinem Fall zu einer Vertretung berufen war) zunächst die Anzeigen gemäß § 4 8 Z P O als auch das Ablehnungsgesuch gegen die Richterin am Sozialgericht für begründet erklärten. Erst auf die Gegenvorstellung der Bundesanstalt für Arbeit hin hob der 6. Senat seine Entscheidungen am 7 . 6 . 1 9 8 4 wegen einer fehlerhaften Besetzung der Richterbank wieder auf. Anschließend entschied der mit den geschäftsplanmäßigen Vertretern besetzte 10. Senat, daß sich aus den Anzeigen gemäß § 4 8 Z P O keine Befangenheit der ordnungsgemäßen Senatsmitglieder ergeben. Sodann wiesen die wieder amtierenden Richter des 10. Senats das gegen die Richterin des Sozialgerichts gerichtete Ablehnungsgesuch zurück. Bezüglich des parlamentarischen Nachspiels ist festzuhalten, daß sowohl der Sozialminister als auch sein Staatssekretär, ein Ministerialdirigent und der Präsident des Landessozialgerichts übereinstimmend die Auffassung vertraten, daß eine Entziehung des gesetzlichen Richters zu verneinen sei. Insbesondere beharrte der Staatssekretär vor dem Untersuchungsausschuß nachdrücklich auf seinem Standpunkt, nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei lediglich eine vorsätzliche Richterentziehung als Verletzung des Art. 101 I 2 G G anzusehen. - In einem weiteren Fall wurden die hier zu schildernden Ereignisse Gegenstand eines eigenständigen Strafverfahrens wegen Rechtsbeugung. 1 1 2 Aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichts Saarbrücken war ein wegen Betrugs und uneidlicher Falschaussage verfolgter Beschuldigter am Gründonnerstag des Jahres 1994 in Bamberg festgenommen worden. Der für Maßnahmen nach § 115a StPO zuständige (nächste) Richter des Amtsgerichts Bamberg lehnte, da er den zuständigen Richter in Saarbrücken nicht erreichen konnte, eine Entscheidung über die Haftverschonung ab und ordnete die Verschubung des Ergriffenen nach Saarbrücken an. Wegen der Osterfeiertage blieb der Festgenommene in Bamberg. Sein Verteidiger wandte sich - möglicherweise, weil es ihm nicht gelang, über die Ostertage in Bamberg einen zuständigen Haftrichter zu erreichen (zwei Richter hatten intern ohne schriftliche Anzeige den Eildienst getauscht) - mit einem ausführlichen Haftverschonungsantrag an den mit ihm befreundeten Direktor des Amtsgerichts. Nach anfänglichem Zögern entschloß sich dieser am Ostersonntag, den Inhaftierten ohne Anhörung weiterer Verfahrensbeteiligter gegen eine (mittels eines Verrechnungsschecks geleisteten) Kaution in Höhe von 1 0 0 0 0 , - D M von der Untersuchungshaft zu verschonen. Der Amtsgerichtsdirektor wollte
112 Vgl. zum Folgenden BGHSt. 42, 343 ff.; s. zu dieser Entscheidung auch Krehl, NStZ 1998, 409 ff.; Sowada, GA 1998, 177ff. (m.w.N.). S. auch zu einem vergleichbaren Fall FR vom 2 8 . 1 . 2 0 0 0 , S. 29.
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727
hiermit d e m A n w a l t a u c h einen persönlichen Gefallen erweisen. D a er selbst nicht z u m Eildienst über O s t e r n eingeteilt war, hätte er erst als letztes Glied der Vertretungskette zuständig w e r d e n k ö n n e n ; B e m ü h u n g e n , einen der fünf ihm v o r g e h e n d e n Vertretungsrichter zu erreichen, hatte der Direktor nicht entfaltet. Die a u f g r u n d dieses G e s c h e h e n s a u s g e s p r o c h e n e Verurteilung d e s A m t s g e r i c h t s d i r e k t o r s w e g e n R e c h t s b e u g u n g (§ 3 3 6 S t G B a.F.) wurde vom Bundesgerichtshof113 aufgehoben.
Die dargestellten Ereignisse, die ohne Übertreibung als Justizskandale bezeichnet werden können, sind wegen ihres singulären Charakters zwar nicht repräsentativ; dennoch verdienen sie gesteigerte Aufmerksamkeit angesichts der in ihnen zutage tretenden Bereitschaft, den an sich zuständigen Entscheidungsträger durch eine ad hoc getroffene Maßnahme auszuschalten und die Entscheidungsgewalt an sich zu ziehen. Die geschilderten Vorkommnisse können als Lehrstücke dafür gelten, daß Kabinettsjustiz kein auf vergangene Jahrhunderte beschränktes Phänomen ist. Unabhängig davon, ob die Motive im Einzelfall in politischer Willfährigkeit oder in einem falsch verstandenen Pflichteifer liegen m ö g e n , belegen diese offenen Durchbrechungen der Zuständigkeitsordnung in erschreckender Weise, wie gering das Verständnis für das verfassungsrechtliche Anliegen des gesetzlichen Richters auch bei hochrangigen Mitgliedern des Justizstabes bisweilen ausgeprägt ist. Als besonders eklatant erscheinen die geschilderten Vorgänge deshalb, weil sich hier zum einen der jeweils auf einen Feiertag fallende Entscheidungszeitpunkt deutlich v o m normalen Justizbetrieb unterscheidet und überdies (in den beiden zuletzt dargestellten Fällen) auch die im Geschäftsverteilungsplan für die betreffende Entscheidungssituation getroffene Vertretungsregelung schlichtweg ignoriert wurde. Immerhin tragen diese Ereignisse das Kainsmal der manipulativen Einflußnahme auf der Stirn; solche Akte einer evidenten Mißachtung der Zuständigkeitsregeln sind unschwer zu erkennen und damit einer politischen (Untersuchungsausschuß, M a s s e n m e d i e n ) oder juristischen Aufarbeitung (Strafverfahren wegen Rechtsbeugung) zugänglich. Schwieriger verhält es sich insoweit mit Konstellationen, in denen die Zuständigkeitsregelungen nicht offen gebrochen werden, sondern die Zuständigkeitsverschiebung gerade durch die Anwendung der betreffenden N o r m e n ins Werk gesetzt wird. Hier dient die Terminierung nicht als Hebel, um bestehende Regelungen über Bord zu werfen, sondern die Terminierung wird zur gewünschten Weichenstellung innerhalb des als solchen unangetastet bleibenden Zuständigkeitssystems verwendet mit der Folge, daß das Geschehen als unauffälliger und normaler Vorgang erscheint. Unter strukturellen Vorzeichen sind diese subtilen Gefährdungsformen nicht minder bedeutsam, auch wenn plastische Einzelfälle hier fehlen und zur Beschreibung der Gefahren auf die abstrakte Schilderung einschlägiger Verfahrenskonstellationen zurückgegriffen werden muß. S o können absehbare Verhinderungen einzelner Richter durch eine entsprechende Terminierung genutzt werden, um auf die Z u s a m m e n s e t z u n g der Richterbank in einzelnen Strafsachen Einfluß zu nehmen. Weiß ein Vorsitzender Richter, daß einer seiner Beisitzer demnächst seinen Jahresurlaub antritt oder aus sonstigen Gründen (z.B. eine Kur oder eine anstehende Erprobung beim Oberlandesgericht) vorübergehend verhindert sein wird, so kann er besonders heikle Fälle entweder s o terminieren, daß sie
"
S. die in der vorigen Fn angegebenen Nachweise.
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
in den Anwesenheits- oder in den Abwesenheitszeitraum des betreffenden Richters fallen. E b e n s o ist nicht auszuschließen, daß der Vorsitzende bei der Anberaumung von Verhandlungsterminen am Ende des Geschäftsjahres (auch) etwaige Änderungen des Geschäfts- oder Mitwirkungsplans im Hinterkopf hat. 1 1 4 In einem engen Bereich können Verhinderungen (insbesondere des Vorsitzenden selbst) auch gerade durch eine entsprechende Terminierung bedingt sein. 1 1 5 D e r Satz, daß Verhinderungen nicht vorsätzlich herbeigeführt (oder zur einzelfallbezogenen Steuerung der Besetzung ausgenutzt) werden dürfen, verdient mit Blick auf das Prinzip des gesetzlichen Richters gewiß Zustimmung, 1 1 6 doch wird durch dieses Postulat die Schwäche mangelnder Kontrollierbarkeit nicht aufgehoben. Freilich sollte das M a ß der aus den angesprochenen Möglichkeiten resultierenden Manipulationsgefahren auch nicht überschätzt werden. Die gezielte Schaffung von Verhinderungssituationen wird nur ausnahmsweise in Betracht k o m m e n , und auch bezüglich der Berücksichtigung vorgegebener Verhinderungen wird der Gestaltungsspielraum spürbar dadurch eingeengt, daß die auf die jeweiligen Spruchkörper entfallende hohe Arbeitsbelastung keinen Leerlauf gestattet und insbesondere in umfangreichen Verfahren die Termine mehrerer Prozeßbeteiligter koordiniert werden müssen. Die hiernach verbleibenden Manipulationsgefahren sind als unvermeidbar hinzunehmen. 1 1 7 Die Verhinderung von Richtern läßt sich schlechterdings nicht vermeiden, so daß das Justizsystem lediglich verpflichtet ist, für diese Ausnahmesituation organisatorische Vorkehrungen in Gestalt einer Vertretungsregelung zu treffen. Ebenso unabänderlich ist die Tatsache, daß die Terminierung der Hauptverhandlungen wesensmäßig eine anhand von Zweckmäßigkeitserwägungen vorzunehmende Ermessensentscheidung ist, die sinnvollerweise in die Hand des Vorsitzenden gelegt ist. 1 1 8 In Anbetracht dieser Rahmenbedingungen ließe sich eine manipulative Einflußnahme allenfalls durch eine normative Bestimmung des Inhalts ausschließen, daß lediglich unvorhersehbare Verhinderungen 1 1 9 einen legitimen Grund für eine veränderte Besetzung der Richterbank bilden. Konkret würde dies bedeuten, einzelne Strafsachen erst auf einen 114 Vgl. auch BGHSt. 19, 382ff. mit Anm. Hengsberger, LM Nr. 1 zu § 89 GVG a.F. (zur früheren Schwurgerichtsverfassung) sowie BVerfGE 4, 412 ff. 1,5 Kritisch gegenüber einer vom Vorsitzenden herbeigeführten Kollisionslage BGH, ZBR 1959, 372 f.; Reicbl, Gesetzlicher Richter, S. 125 f.; s. aber auch BGHSt. 15, 390 (392 f.). Zur Überschneidung der rechtsprechenden Tätigkeit mit administrativen Aufgaben vgl. Lerch, DRiZ 1988, 256 f. 116 Vgl./. Henkel, Gesetzlicher Richter, S. 104 (m.w.N.); AK/StPO-Ke/fer, § 213 Rn 4; s. auch bereits oben 11. Kap. II.2 b.bb (Fn 258). 117 Ebenso J. Henkel, Gesetzlicher Richter, S. 103 ff.; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 101 Rn 49. 118 Im vorliegenden Zusammenhang ist unter Bestimmtheitsaspekten allein von Bedeutung, daß eine vom Einzelfall abstrahierende Schematisierung der Terminierung schlechthin ausgeschlossen ist. Auch die dem Vorsitzenden obliegende Pflicht, neben den Funktionsinteressen der Justiz auch die Belange des Angeklagten angemessen zu berücksichtigen (vgl. SK/StPO-Schlächter, Rn 4 ff.; HK-Julius, Rn 1, 4ff. jeweils zu § 213; Neuhaus, StraFo 1998, 84ff.), beläßt ihm einen weiten Gestaltungsrahmen ungeachtet der sich hieraus für die Besetzung der Richterbank ergebenden Auswirkungen (BGH, GA 1981, 37 f.; Schlüchter a.a.O. Rn 2; s. auch LR -Gollwitzer, Rn 11; KK-Tolksdorf, Rn 4 jeweils zu § 213; Kunig, in: Kunig/v. Münch, GGK, Art. 101 Rn 40). 119 Auf das Kriterium der „unvorhergesehenen Verhinderung" stellt in anderem Zusammenhang (Möglichkeit des Aufstellens einer Hilfsliste für die Heranziehung ehrenamtlicher Richter im Verwaltungsrecht) auch § 30 II VwGO ab. Hierbei wird es vom BVerwG (E 88, 159 [164 f.]) gebilligt, eine Verhinderung dann als unvorhersehbar zu behandeln, wenn sie zur Zeit der normalen Ladung nicht vorauszusehen war.
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späteren Zeitpunkt zu terminieren, um dem vorrangigen G e b o t Rechnung zu tragen, daß die sich aus dem Mitwirkungsplan ergebenden Berufsrichter an der Verhandlung teilnehmen sollen. Die hiermit einhergehende Korsettierung des Terminierungsermessens wäre aber nicht nur sehr unpraktikabel, sondern wegen der hierdurch bedingten Verzögerungen unter dem Aspekt des Beschleunigungsgebots (insbesondere in Haftsachen) auch rechtlich bedenklich. 1 2 0
2.
Die besondere Problemlage bezüglich der Schöffenmitwirkung
Ungleich größere Probleme stellen sich bezüglich des Terminierungsermessens im Hinblick auf die Schöffenmitwirkung. Welche (Haupt-)Schöffen einem Spruchkörper an den ordentlichen Sitzungstagen zur Verfügung stehen, wird für das gesamte Jahr im voraus durch das Los bestimmt (§ 4 5 II G V G ) . Ist die Zuordnung der Schöffen zu der Abteilung bzw. Kammer und den Tagen ihres Dienstes von einer einzelfallbezogenen Willensentscheidung unabhängig, so bestimmt sich die Frage, über welche konkreten Strafsachen die Schöffen jeweils zu befinden haben, anhand der dem Vorsitzenden obliegenden Terminierung. 1 2 1 Mit der Befugnis zur Terminsbestimmung kann der Vorsitzende somit auf die Zusammensetzung der Richterbank fallbezogen Einfluß nehmen. Zwar kann der Vorsitzende nicht einfach nach seinem Belieben irgendwelche Schöffen zur Verhandlung hinzuziehen, doch ist es ihm faktisch ohne größere Schwierigkeiten möglich, die Mitwirkung eines konkreten Schöffen an einem bestimmten Verfahren zu vermeiden, wenn er dies für geboten hält. Denn bereits für den nächsten Sitzungstag sind andere Schöffen ausgelost, so daß eine geringfügige Verschiebung des ins Auge gefaßten Verhandlungstermins (oder die bloße Vertauschung zweier zur Verhandlung anstehenden Strafsachen) zu einer personellen Veränderung führt. Eine weitere Steuerungsmöglichkeit resultiert aus dem Umstand, daß die für einen ordentlichen Sitzungstag ausgelosten Schöffen übergangen werden, sofern an diesem Tag keine Sitzung stattfindet 1 2 2 oder eine zuvor begonnene Hauptverhandlung mit den in jener Sache tätigen Schöffen fortgesetzt wird. 1 2 3 Als weitere Variante käme in Betracht, für eine bestimmte Strafsache eine außerordentliche Sitzung anzuberaumen, für welche gemäß § 4 7 G V G die Schöffen aus der Hilfsschöffenliste herangezogen werden. 1 2 4 Die Gefahr einer steuernden Einflußnahme ist besonders groß, wenn die Auslosung in Anwendung der durch § 4 5 II 2 G V G eröffneten Möglichkeit in der Weise bewirkt wird, daß die Hauptschöffen (gegebenenfalls auch paarweise) nur an den Sitzungen eines bestimmten Spruchkörpers teilnehmen. Denn die enge Anbindung führt dazu, daß die VorVgl. auch Sinn, Justiz 1965, 96; Bohlmann, DRiZ 1965, 152. Kleinknecbt/Meyer-Goßner, § 45 GVG Rn 1. Vgl. zum hier angesprochenen Problemkreis Roth, Gesetzlicher Richter, S. 199 ff. (202ff., 206). 122 Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, Rn 1 (m.w.N.); KK-Kissel, Rn 3 jeweils zu § 45 GVG. I2i Vgl. § 5 0 GVG. 124 Freilich weist der B G H stets darauf hin, daß (von der bloßen Verlegung ordentlicher Sitzungen nach vorn oder hinten zu unterscheidende) außerordentliche Sitzungen nur wegen eines zusätzlichen Bedarfs neben ordentlichen Sitzungen (nicht jedoch an ihrer Stelle) anberaumt werden dürfen; vgl. BGHSt. 37, 324ff. (326); 41, 175 (176f.); 43, 270 (272f.); Meinen, Heranziehung, S. 50ff. (54ff.); Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, § 47 Rn 2. 120 121
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
sitzenden regelmäßig schon nach kurzer Zeit „,ihre Pappenheimer' kennen". 1 2 5 Nach Schilderungen von Berufsrichtem gibt es durchaus die Ausnahmeerscheinung des „widerspenstigen" oder extrem uneinsichtigen Schöffen, 126 und richterliche Äußerungen in persönlichen Gesprächen bestätigen die Einschätzung, daß eine auf die Schöffenbesetzung Bedacht nehmende Terminierung zwar nicht an der Tagesordnung ist, in Einzelfällen aber durchaus vorkommt. 1 2 7 Damit erweist sich die „Terminshoheit" des Vorsitzenden unter dem Blickwinkel des Art. 101 I 2 G G als ein ernstzunehmendes Problem, auch wenn in Justizkreisen die Neigung gering ist, sich offen mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Der Umstand, daß die besetzungssteuernde Terminierung gerade auch von Fürsorgegesichtspunkten zugunsten des Angeklagten getragen sein oder die Vermeidung erfolgreicher Ablehnungsanträge zum Ziel haben kann, erledigt die Problematik keineswegs. Denn der Mechanismus, einen unliebsamen Schöffen zu verdrängen, funktioniert beim (nur) kritischen und mutigen Schöffen ebenso wie bei dem widerspenstig-ungeeigneten Laienrichter. In welche dieser Kategorien ein bestimmter Schöffe einzuordnen ist, unterliegt aber der alleinigen Definitionsmacht des Vorsitzenden. Da die Motive, die den Vorsitzenden bei der Terminsanberaumung leiten, weder begründungspflichtig noch einer effektiven Kontrolle zugänglich sind, wird die Ermessensausübung letztlich zur Frage des Vertrauens in das Verantwortungsbewußtsein des Vorsitzenden Richters. Es k o m m t hinzu, daß hinsichtlich der Berufsrichter eine auf die Terminsbestimmung rekurrierende Mitwirkungsregelung nach heute gefestigter Anschauung 1 2 8 den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 101 I 2 G G nicht genügt. Das legt die Frage nahe, ob die aufgrund eines gestärkten Problembewußtseins gewonnenen Einsichten konsequenterweise auch bezüglich der Heranziehung der Schöffen ein Umdenken gebieten oder zumindest wünschenswert erscheinen lassen. 129 Das gilt um so mehr, als sich durchaus gesetzliche Konzeptionen denken lassen, bei denen die Manipulationsgefahr wenn schon nicht gebannt, so doch ungleich geringer zu veranschlagen ist. 130 Wenig überzeugend wäre es freilich, die Schöffen direkt den einzelnen Sachen nach ihrem Eingang zuzulosen. 131 Denkbar wäre hingegen, die Schöffen nicht abstrakt für das ganze Jahr im voraus, sondern erst konkret für eine bestimmte Sitzung auszulosen, nachdem für jenen Tag eine Sache angesetzt worden ist. In letzter Konsequenz liefe dies darauf hinaus, die bisherige Unterscheidung zwischen Haupt- und Hilfsschöffen zugunsten einer einheitlichen Schöffenliste aufzugeben. Als weniger weitgehende Alternative bliebe 125
Katholnigg, J R 1997, 2 8 5 . Benz, Laienrichter, S. 118ff.; Klausa, Richter, S. 83 (Fn 146). 127 Vgl. Katholnigg, JR 1997, 2 8 5 ; Kern, Gesetzlicher Richter, S. 189; Klausa, Richter, S. 78. 12 « So insbesondere BVerfG(Plenum)E 95, 3 2 2 (331). Vgl. näher o b e n 16. Kap. 1.3 (zu Fn 3 6 f f . [m.w.N.]). 129 In diesem Sinne betrachtete Katholnigg (JR 1997, 2 8 4 f f . ) die Plenarentscheidung des BVerfG (E 95, 3 2 2 f f . ) mit Blick auf die Schöffenbesetzung zunächst als eine „ Z e i t b o m b e u n g e h e u r e n Ausmaßes" (a.a.O. S. 2 8 4 ) ; ungleich m o d e r a t e r jedoch n u n m e h r ders., Strafgerichtsverfassungsrecht, ξ 4 5 Rn 10. ™ Vgl. z u m Folgenden Katholnigg, JR 1997, 2 8 5 f. 1,1 Bei einem solchen Modell w ü r d e n Terminsverlegungen eine erheblich U n r u h e auslösen. Überdies m ü ß t e n an einem Sitzungstag möglicherweise mehrere Schöffenpaare bei d e m selben S p r u c h k ö r p e r tätig werden, w e n n (ζ. B. nach einer Terminsverlegung) mehrere Sachen verhandelt werden sollen, für die unterschiedliche Schöffen aufgelost w o r d e n sind. 126
2 3 . Kapitel: Sonstige Gefährdungen des gesetzlichen Richters
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die Streichung der Kann-Regelung 1 3 2 des § 4 5 II G V G zu erwägen. Dürften die Schöffen nicht mehr für ein ganzes Jahr einem einzigen Spruchkörper zugewiesen werden, so träte eine breitere Streuung ein. J e größer die Zahl der in einem Spruchkörper tätigen Schöffen ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit einer auf die Vermeidung eines bestimmten Schöffen abzielenden Terminierung. O b das Prinzip des gesetzlichen Richters zur Minimierung von Manipulationsgefahren derartige Umgestaltungen erzwingt, kann hier nicht näher untersucht werden. Rechtspolitisch wäre zu bedenken, daß für die Hauptschöffen mit solchen Gesetzesänderungen praktische Nachteile 1 3 3 verbunden wären (die den Hilfsschöffen - weil für diese unvermeidbar - freilich abverlangt werden). In dogmatischer Hinsicht wäre zu klären, o b bezüglich der Schöffenmitwirkung derselbe Standard für eine Manipulationsvermeidung gelten muß wie hinsichtlich der Berufsrichter. Die Beantwortung dieser Frage erfordert jedoch eine grundlegende Betrachtung der funktionalen Stellung der Schöffen im heutigen Strafrechtssystem. Eine solche Analyse würde den Rahmen dieser auf den Berufsrichter zugeschnittenen Untersuchung sprengen.
III. Zusammenfassende Betrachtung des ersten Abschnitts Als allgemeiner Gesamteindruck dieses Abschnitts ist zunächst festzustellen, daß sich das gesetzliche Zuständigkeitsmodell in weitem M a ß e aus „beweglichen" Regelungen zusammensetzt. Gemeinhin assoziiert man - ausgelöst durch die grundlegenden Entscheidungen des BVerfG - 1 3 4 mit dem Terminus der „beweglichen" Zuständigkeit vor allem die Merkmale der „besonderen" bzw. „minderen" Bedeutung des Falles. Insoweit erscheint die „Beweglichkeit" als Indiz für die Bedenklichkeit der betreffenden Regelung; denn die §§ 2 4 , 2 5 G V G (a.F.) entgingen dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit nur im Wege einer (überdies umstrittenen) verfassungskonformen Auslegung. Der punktuelle Zugriff des BVerfG kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Ermittlung des zuständigen Eingangsspruchkörpers in vielfältiger Weise anhand von Normen erfolgt, die beträchtliche Interpretations- und Gestaltungsspielräume eröffnen. Zugespitzt könnte man sagen, daß das Attribut der „Beweglichkeit" nicht auf eine Ausnahmeerscheinung im Zuständigkeitssystem verweist, sondern dieses System in einem allgemeineren Sinne geradezu charakterisiert. 1 3 5 Betrachtet man diesen Umstand unter historischen Vorzeichen, so zeigt sich ein zwiespältiges Bild: Einerseits ist die Flexibilisierung der Zuständigkeitsordnung nicht handstreichartig mittels einer einmaligen radikalen Umgestaltung durch den Gesetzgeber her1,2 Vgl. hierzu näher Katholnigg, M D R 1 9 8 0 , 6 3 5 f.; s. auch E. Hirsch, J W 1 9 3 0 , 2 5 9 0 ; LR-K. Schäfer, § 4 5 G V G Rn 7 . Die Hauptschöffen würden bei einer zeitnahen Auslosung zu den einzelnen Sitzungstagen die langfristige Planbarkeit der Schöffentermine verlieren. Bei der „kleinen" Lösung (Streichung des ξ 4 5 II 2 G V G ) könnte das Fehlen ständiger berufsrichterlicher Bezugspersonen von den Schöffen als nachteilig empfunden werden.
BVerfG Ε 9, 2 2 3 ff.; 2 2 , 2 5 4 ff. Das gilt ungeachtet der Tatsache, daß das ungeschriebene Merkmal der „minderen Bedeutung" durch die im Rechtspflegeentlastungsgesetz v o r g e n o m m e n e Neuregelung der Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Strafrichter und Schöffengericht inzwischen obsolet geworden ist. 114 1,5
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
beigeführt worden, sondern es handelt sich um einen bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zurückzuverfolgenden Entwicklungsprozeß; hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit reicht die Konzeption der staatsanwaltschaftlichen Wahlfreiheit sogar bis auf die ursprüngliche Fassung des GVG aus dem Jahre 1877 zurück. Dieser Kontinuität steht andererseits die Beobachtung entgegen, daß das Verfassungspostulat des gesetzlichen Richters unter der Geltung des Art. 101 I 2 GG eine nachhaltige Aufwertung erfahren hat, die sowohl in einem auf die einzelne Richterperson bezogenen Sinnverständnis als auch in einer kritischeren Würdigung justizinterner Vorgänge Ausdruck gefunden hat. Die Ungebrochenheit der einfachgesetzlichen Traditionslinien bedeutet somit zugleich ein Sich-Verschließen gegenüber der wachsenden Sensibilität für die Probleme des gesetzlichen Richters. Die inhaltlichen Spannungen, die sich aus der zunehmenden verfassungsrechtlichen Strenge für das überkommene Modell der strafgerichtlichen Zuständigkeitsregeln ergaben, wurden nicht gelöst, sondern weitgehend verdrängt. 136 Die Äußerungen des BVerfG wurden ihres kritischen Gehalts entkleidet und kurzerhand als Bestätigung der bisherigen Rechtslage interpretiert. Der Grundtenor, daß „bewegliche" Zuständigkeitsnormen unter bestimmten Voraussetzungen nicht verfassungswidrig sind, wurde so gedeutet, daß solche Regelungen als verfassungsgemäß angesehen wurden, solange die Staatsanwaltschaft nicht nach freiem Ermessen über die gerichtliche Zuständigkeit befinden dürfe. Soweit Zuständigkeitsfragen allein die Abgrenzung zwischen gleichrangigen Spruchkörpern betreffen und ohne Auswirkung auf den Rechtsmittelzug sind, galten sie ohnehin als minder bedeutsam. Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit weiterer „beweglicher" Zuständigkeitsnormen wurden durch den pauschalen Hinweis auf unabweisbare Bedürfnisse der Praxis apodiktisch beiseite geschoben. Hinsichtlich der Normanwendung im Einzelfall bewirkte das Abstellen auf den gerichtlichen Eröffnungsbeschluß, daß die revisionsgerichtliche Kontrolle (unter Übernahme der verfassungsgerichtlichen Vorgabe ) auf den Prüfungsmaßstab der Willkür verengt wurde. Die gedankliche Basis für die unveränderte Grundhaltung der Rechtsprechung wird man in der Uberzeugung sehen können, daß die Gerichte gleicher Stufe einander grundsätzlich gleichwertig sind und die Gefahren einer Manipulation durch die Staatsanwaltschaft allzu weit hergeholt erscheinen. Diese abwehrende Position findet in der etwa zur gleichen Zeit geführten Kontroverse um die Notwendigkeit einer spruchkörperinternen Geschäftsverteilung eine auffällige Parallele. Für beide Bereiche läßt sich feststellen, daß die Justiz wenig Neigung zeigte, den Bedeutungswandel des Prinzips des gesetzlichen Richters aufzugreifen und aus innerer Uberzeugung an seiner Umsetzung mitzuwirken. Während der spürbare Widerstand der Praxis bezüglich der Geschäftsverteilung im Spruchkörper durch den Gesetzgeber (mittels der Einführung des § 69 II GVG a.F.) gebrochen (oder in subtilere Bahnen gelenkt) wurde, fehlte ein entsprechender äußerer Zwang im Zuständigkeitskontext. Die einschlägigen Vorschriften waren dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit knapp entgangen, und auch der Gesetzgeber sah keinen Handlungsbedarf für eine Umgestaltung der Zuständigkeitsnormen, die zwar möglicherweise dem Bestimmtheitsgrundsatz besser entsprochen, zugleich aber die eingeschliffenen Justizabläufe gestört hätte. Den Kritikern im Schrifttum war die Rolle der Rufer in der Wüste beschieden, deren Mahnungen mangels politischer Durchsetzungsmacht geflissentlich überhört werden konnten. Achenbach,
FS Wassermann (1985), S. 850, 853.
2 3 . Kapitel: Sonstige Gefährdungen des gesetzlichen Richters
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Der tatsächliche Befund, daß das strafrechtliche Zuständigkeitsmodell keine nennenswerten Änderungen erfahren hat, besagt freilich nicht, daß die vorhandenen Regelungen den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 101 I 2 G G wirklich genügen. Ausgehend vom Leitbild der Blindlingstheorie, nach der jeder Fall den zur Entscheidung berufenen Richter gleichsam automatisch erreicht, muß jede Beweglichkeitsklausel zunächst suspekt erscheinen, da sie dem Ideal der starren Zuweisung widerstreitet. Ferner muß bei einem Sinnverständnis, das den Grundsatz des gesetzlichen Richters bis auf die einzelne Richterperson erstreckt, das Postulat einer abstrakten normativen Vorausbestimmung grundsätzlich auch dort uneingeschränkt gelten, wo es allein um die Aufgabenverteilung zwischen unterschiedlichen Spruchkörpern gleicher Rangstufe geht. Versteht sich die Vereinbarkeit „beweglich" gestalteter Zuständigkeitsnormen hiernach keineswegs von selbst, so bedarf es für jede der betreffenden Bestimmungen einer gesonderten Betrachtung. Hierbei ist darauf zu achten, daß die Beweglichkeitsklauseln nur so weit vom Leitbild des Art. 101 I 2 G G abweichen, wie dies für die jeweilige Problemstellung sachlich geboten ist. Als Quintessenz der insoweit vorgenommenen Einzeluntersuchungen läßt sich das verfassungsrechtliche Anforderungsprofil auf drei abstrakte Kernpunkte zurückführen: ( 1 ) In Anbetracht des Postulats, daß sich der zuständige Richter möglichst eindeutig aus einer abstrakten Norm ergeben muß, ist eine „bewegliche" Zuständigkeitsregelung nur dann zulässig, wenn hierfür ein hinreichender Anlaß besteht. ( 2 ) Auch bei „beweglich" geregelten Zuständigkeiten ist das aus Art. 101 I 2 G G folgende Bestimmtheitsgebot insofern zu beachten, als das Gesetz selbst zumindest eine normative Leitlinie für die Auslegung der betreffenden Merkmale zur Verfügung stellen muß. (3) Beweglichkeitsklauseln sind grundsätzlich als unbestimmte Rechtsbegriffe anzusehen, deren Handhabung im Einzelfall der vollumfänglichen gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Ein Unterschreiten des so umrissenen normativen Standards bedarf einer qualifizierten verfassungsrechtlichen Begründung. Das wichtigste anhand dieser Richtschnur gewonnene Einzelergebnis besteht darin, daß die auf die „besondere Bedeutung des Falles" (§ 2 4 I Nr. 3 G V G ) gestützte Eingangszuständigkeit des Landgerichts entgegen der überwiegend vertretenen Ansicht als verfassungswidrig anzusehen ist. Es erscheint (auch unter Berücksichtigung der praktischen Handhabung dieser Vorschrift) bereits fraglich, ob ein hinreichendes Bedürfnis besteht, die an der konkreten Straferwartung ausgerichtete Zuständigkeit des Amtsgerichts in Einzelfällen zu durchbrechen. Selbst wenn man aber eine Lockerung des Bestimmtheitsgebots annehmen wollte, bliebe zu konstatieren, daß das Gesetz keine inhaltliche Direktive zur Auslegung dieses Merkmals enthält und auch das buntscheckige Bild der Rechtspraxis keine hinreichend klaren Konturen erkennen läßt. Für die sachliche Zuständigkeit des Strafrichters (in Abgrenzung zum Schöffengericht) ist seit dem Rechtspflegeentlastungsgesetz ( 1 9 9 3 ) allein die Straferwartung von bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe maßgeblich; da es auf das früher vom BVerfG in den § 2 5 G V G (a.F.) hineingelesene Merkmal der „minderen Bedeutung des Falles" nicht mehr ankommt, begegnet diese Zuständigkeitsregelung keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Bezüglich der örtlichen Zuständigkeit sind die §§ 7 ff. StPO trotz des der Staatsanwaltschaft eingeräumten Ermessens im Ergebnis verfassungsgemäß, weil die denkbare Alternative einer strikt normierten Vorrangregelung zwischen den Gerichtsständen des Tatorts und des Wohnsitzes die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege (und die Interessen des Beschuldigten) unangemes-
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
sen beeinträchtigen würde. Sofern der Ergreifungsort als primärer Gerichtsstand beibehalten werden soll, bedarf § 9 StPO jedoch einer einschränkenden Auslegung dahingehend, daß nur die Fälle der berechtigten Festnahme in einer alsbald aburteilungsreifen Sache von dieser Vorschrift erfaßt werden. Gerade wegen der hiernach verbleibenden relativen Unbestimmtheit ist ferner eine (freilich auf die Rechtmäßigkeit der Ermessensausübung beschränkte) nachträgliche gerichtliche Kontrolle gemäß § 16 bzw. § 12 II StPO unverzichtbar. Uber diese „klassischen" Zuständigkeitsnormen hinaus gibt es noch weitere, im vorliegenden Kapitel behandelte Konstellationen einer beweglich gestalteten Zuständigkeit. Trotz der Verschiedenartigkeit der Regelungsmaterien weisen die in diesen Bereich gehörenden Fälle ein übereinstimmendes Grundmuster auf. Das verbindende Element besteht darin, daß die Beweglichkeitsklauseln als funktionale Verstärkung des Spezialisierungsgedankens in Erscheinung treten. Für eine optimale Nutzung der in Spezialspruchkörpern gebündelten besonderen Sachkunde muß das Tätigkeitsfeld dieser Rechtsprechungseinheiten möglichst eng auf den jeweiligen Konzentrationsgegenstand abgestimmt sein. Einerseits ist darauf zu achten, daß alle einschlägigen Fälle vor die Spezialspruchkörper gelangen; andererseits dürfen diese Spruchkörper ihre Funktionsfähigkeit nicht dadurch verlieren, daß sie mit allgemeinen Strafsachen überlastet werden. Soweit dieses Ziel nicht durch abstrakte Deliktskataloge erreicht werden kann, kommt auch die Normierung einer „beweglichen" Zuständigkeitsklausel als Steuerungsinstrument in Betracht. In Anbetracht der dem Gesetzgeber zuzubilligenden Gestaltungsfreiheit ist die adäquate Umsetzung des mit der Spezialzuständigkeit verfolgten Interesses grundsätzlich als hinreichender Anlaß für die Aufstellung einer flankierenden Beweglichkeitsklausel anzuerkennen. Durch die Rückbindung an den jeweiligen Spezialisierungskontext ist regelmäßig auch eine gesetzliche Leitlinie für die Auslegung des betreffenden unbestimmten Rechtsbegriffs erkennbar, die den notwendigen Bezug zum Bestimmtheitsgebot des Art. 101 I 2 G G herstellt. Probleme ergeben sich vor allem bezüglich des Erfordernisses der vollumfänglichen gerichtlichen Kontrolle. Dies gilt insbesondere für solche Konstellationen, in denen die gerichtliche Zuständigkeit von einem bestimmten Verhalten der Staatsanwaltschaft abhängt und das Gesetz nur die Vornahme der betreffenden Handlung, nicht aber ihr Ausbleiben der gerichtlichen Kontrolle unterstellt. Die hierdurch bedingte Eingleisigkeit der Prüfung kollidiert mit dem aus Art. 101 I 2 G G abgeleiteten Programmsatz, daß bei einer „beweglichen" Zuständigkeitsregelung grundsätzlich das Gericht das letzte Wort haben muß. Allerdings ließ sich in den untersuchten Konstellationen das Postulat der gerichtlichen Letztentscheidung jeweils im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung realisieren, so daß alle erörterten Bestimmungen im Ergebnis als verfassungsgemäß anzusehen waren. Formal ist damit alles in bester Ordnung. Die herausgearbeiteten abstrakten Kernpunkte stehen wie Felsen in der Brandung, und das verfassungsrechtliche Prinzip geht nicht im Strudel der gesetzlichen Zuständigkeitsnormen einfach unter. Umgekehrt zerschellen die Vorschriften, die eine effiziente Organisation der Strafgerichtsbarkeit ermöglichen sollen, nicht am Riff des Art. 101 I 2 G G , sondern es gibt eine Fahrrinne, die zwischen den Begrenzungen rechtsstaatlicher Strenge hindurch der für notwendig gehaltenen Flexibilität einen Ausweg weist. Immerhin können sich beim abschließenden Blick über die untersuchten Situationen
23. Kapitel: Sonstige Gefährdungen des gesetzlichen Richters
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grundsätzliche Zweifel einstellen. Solche Unsicherheiten bezüglich des generellen Kurses lassen sich interessanterweise aus entgegengesetzter Richtung vortragen. Z u m einen stellt sich die Frage, ob der Grundsatz des gesetzlichen Richters nicht seine prägende Kraft einbüßt, wenn bewegliche Zuständigkeitsregelungen allenthalben die verfassungsrechtlichen Hindernisse umschiffen können und diese beinahe wie nutzlose Naturdenkmäler aus dem Meer herausragen. Richtet sich hierbei die Sorge darauf, daß die notwendige Strenge bei der Umsetzung dieser Verfassungsgarantie preisgegeben worden sein könnte, so ließe sich umgekehrt der Vorwurf erheben, daß der dogmatische Aufwand zur verfassungsrechtlichen Legitimation maßlos übertrieben erscheint, wenn man Beweglichkeitsklauseln weitgehend als Bestandteil der strafrechtlichen Zuständigkeitsordnung akzeptiert. Wäre es nicht einfacher und auch ehrlicher, Beweglichkeitsklauseln als Einräumung eines pflichtgemäß auszuübenden Ermessens zu begreifen, anstatt in frommem Selbstbetrug am Postulat der voll nachprüfbaren unbestimmten Rechtsbegriffe festzuhalten und hierbei die Augen vor der Erkenntnis zu verschließen, daß den mühsam konstruierten Kontrollmöglichkeiten im Justizalltag eine wirkliche Sicherungsfunktion kaum ernsthaft beigemessen werden kann? Die Beobachtung, daß ein sehr abstraktes Denkprinzip im Z u g e der legislatorischen Umsetzung Abstriche erfährt und daß theoretischer Anspruch und praktische Wirklichkeit auseinanderklaffen können, ist für viele Prozeßmaximen feststellbar." 7 Auch die Grundfrage, o b dieser Befund das unbedingte Eintreten für die unverbrüchliche Geltung des abstrakten Ideals fordert oder ob die Gegensätze durch eine tendenzielle Abschwächung des betreffenden Postulats abgemildert werden sollen, ist nicht auf das Prinzip des gesetzlichen Richters beschränkt. Insbesondere zum Widerstreit zwischen dem auf formale Strenge ausgerichteten Legalitätsprinzip und dem Zweckmäßigkeitserwägungen Raum gebenden Opportunitätsgrundsatz sind deutliche Parallelen erkennbar. 1 3 8 In diesem allgemeinen Spannungsfeld ist die hier entwickelte Konzeption gegen die hypothetische Kritik zu verteidigen. Hierbei ist einerseits die Einsicht vonnöten, daß sich die Rahmenbedingungen des Zuständigkeitssystems gegenüber der Entstehungszeit der Reichsjustizgesetze zum Teil grundlegend gewandelt haben. Um die zunehmend komplexer werdenden Aufgaben der Strafrechtspflege angemessen bewältigen zu können, hat sich das Bedürfnis nach einer fortschreitenden Spezialisierung auch in der Herausbildung eines immer stärker aufgefächerten Systems unterschiedlicher Spruchkörper niedergeschlagen. Diese Vielfalt hat nicht nur eine gewisse Unübersichtlichkeit zur Folge, sondern naturgemäß entstehen mehr Grenzbereiche zwischen den verschiedenen Rechtsprechungseinheiten. Mit der organisatorischen Differenziertheit ist zudem das Bestreben verbunden, den Aufgabenkreis der jeweiligen Spezialspruchkörper möglichst funktionsadäquat festzulegen. Indem die hierfür geschaffenen subtilen Zuständigkeitsregelungen auch auf Zweckmomente zurückgreifen, bewirken sie eine partielle Relativierung des Ideals eines gleichsam mechanistischen Zuweisungsmodells. Im Bereich der allgemeinen Strafbarkeit schließlich ist die starre Aufgabenzuweisung mittels enumerativer Deliktskataloge angesichts der er-
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Vgl. Eser, ZStW 104 (1992), 361 ff. (369ff.); Rieß, FS Rebmann (1989), S. 381 ff. (383f.). Vgl. zu der Frage, ob es sich beim Legalitätsprinzip in Wahrheit um einen bloßen „Etikettenschwindel" handelt, Weigend, Anklagepflicht, S. 58 ff.; s. auch ders., ZStW 109 (1997), 108 f.; Döllmg, Ermittlungstätigkeit, S. 285f.; Hassemer, in: Ostendorf, Strafverfolgung und Strafverzicht (1992), S. 539 f.; Kempf, AnwBl 1997, 100 f.
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
heblichen Ausweitung der Strafrahmen nur noch eingeschränkt zur Abschichtung der Zuständigkeit geeignet. Angesichts dieser allgemeinen Entwicklung muß eine die Veränderungen des Gesamtsystems berücksichtigende Interpretation des Art. 10112 GG in der Tat die puristische Strenge der Blindlingstheorie in Randbereichen lockern und ein gewisses Maß an „Beweglichkeit" in der strafgerichtlichen Zuständigkeitsordnung tolerieren. Eine das Prinzip des gesetzlichen Richters nivellierende Nachgiebigkeit kann hierin aber nicht gesehen werden. Zwar handelt es sich um mehrere gesetzliche Konstellationen, die jedoch einem einheitlichen normativen Grundmuster folgen und auch in ihrer Gesamtheit einen vergleichsweise geringen Anteil am Gesamtaufkommen der Strafrechtsfälle betreffen. Gerade bezüglich der ungleich gravierenderen Formel von der „besonderen Bedeutung des Falles" (§ 24 I Nr. 3 GVG) zeigt sich zudem, daß von einer unkritischen Hinnahme der gesetzgeberischen Vorgaben nicht die Rede sein kann. Doch auch der aus der Gegenrichtung denkbare Vorwurf, an der Justizwirklichkeit vorbei im Wege der verfassungskonformen Auslegung allzu feingesponnene Sicherungsmechanismen zu konstruieren, müßte zurückgewiesen werden. Denn das Prinzip des gesetzlichen Richters ist nicht lediglich ein rechtspolitisches Postulat, dessen Befolgung dem Gesetzgeber freigestellt ist, sondern es handelt sich um ein zwingendes verfassungsrechtliches Gebot. 139 Hieraus folgt, daß die Abweichung vom Primat der Rechtssicherheit so gering wie möglich zu halten ist. Die Verlagerung der Zuständigkeitsentscheidung vom Gesetz auf den Rechtsanwender fordert hiernach, daß das Gesetz eine normative Leitlinie enthält und eine gerichtliche Kontrolle vorsieht. Die Annahme eines sei es auch pflichtgemäß auszuübenden Ermessens oder eines nur eingeschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraums bedeutet einen partiellen Kontrollverzicht, der ohne qualifizierte Gründe 140 den verfassungsrechtlich gebotenen Mindeststandard unterschreitet. Hiermit würde zugleich eine Grauzone geschaffen, in der die Staatsanwaltschaft einen rechtspolitisch und verfassungsrechtlich gleichermaßen bedenklichen Einfluß auf die Auswahl des zur Entscheidung berufenen Gerichts hätte. Diese normative Betrachtung verliert ihre Berechtigung auch nicht durch den Umstand, daß die Kontrollstrukturen in diesem Bereich äußerst schwach ausgeprägt sind und im Justizalltag bestenfalls auf eine Willkürkontrolle hinauslaufen. Mit einer wesentlichen Verbesserung dieser Situation ist mangels einer für den Angeschuldigten bestehenden Möglichkeit zur Anfechtung des Eröffnungsbeschlusses und angesichts einer auf willkürliche Zuständigkeitsfehler des eröffnenden Gerichts reduzierten Revisionskontrolle nicht zu rechnen. Doch weder die Tatsache, daß Routine und Arbeitsbelastung eine strengere Kontrolle vereiteln, noch das Fehlen einer effektiven Kontrolle der Kontrolleure entbindet das mit der Anklageschrift befaßte Gericht von seiner Verpflichtung zu einer eingehenden Prüfung der Zuständigkeitsmerkmale. Die Prüfungsanforderungen im Hinblick auf tatsächliche Kontrolldefizite herunterzuschrauben, liefe letztlich auf eine Kapitulation des Rechts vor einer rechtswidrigen Praxis hinaus. Zu diesem Unterschied vgl. Rieß, FS Rebmann (1989), S. 386 f. Als hinreichend begründete Ausnahmen wurden hier die Regelungen der örtlichen Zuständigkeit (§§ 7 ff. StPO) sowie die Realisierung des mit § 154a StPO verfolgten Konzentrationsbemühens angesehen; vgl. oben 21. Kap. sowie 22. Kap. III.4. Im Grundsatz verfassungsrechtlich hinzunehmen sind auch die aus dem gerichtlichen Ermessen bezüglich der Verfahrensverbindung bzw. -trennung und aus dem Terminierungsermessen des Vorsitzenden hinsichtlich der absehbaren Verhinderung eines Richters resultierenden Gestaltungsmöglichkeiten (s. oben zu 1.2 [aber auch 3d] und II.l [a.E.]). 140
23. Kapitel: Sonstige Gefahrdungen des gesetzlichen Richters
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Auch der tatsächliche Machtzuwachs, den die Staatsanwaltschaft in der Vergangenheit allgemein erfahren hat, verleiht den faktischen Gegebenheiten keine normative Kraft. Zwar scheinen das beständige Vordringen des Opportunitätsprinzips, die Maxime der freien Gestaltung des Ermittlungsverfahrens 1 4 1 und die allgemeine Entwicklung einer zunehmenden Funktionalisierung des Strafverfahrensrechts ein Gerüst zu bilden, in das sich eine Abschwächung der normativen Bindung im Zuständigkeitskontext mühelos einpassen läßt. Ein systematisches Argument erwächst hieraus freilich nicht. Denn das aus Art. 101 I 2 G G abgeleitete Kontrollgebot bleibt hiervon unberührt. Im Gegenteil unterstreicht der allgemeine Machtzuwachs der Staatsanwaltschaft tendenziell die N o wendigkeit einer vom Einfluß der Anklagebehörde unabhängigen Zuständigkeit des Gerichts. 142 Die veränderte Stellung der Staatsanwaltschaft und der Abbau formaler Bindungen im Strafprozeß schränken mithin die verfassungsrechtliche Kontrollpflicht nicht ein, sondern sie bilden ebenfalls lediglich faktische Hemmnisse für eine Durchsetzung dieses Gebots.
141
Rieß, FS Rebmann (1989), S. 396 f. S. auch Rieß a.a.O. S. 398 f.
Zweiter Abschnitt: Die Tätigkeit der Revisionsgerichte Im Hinblick auf das Prinzip des gesetzlichen Richters tritt die Tätigkeit der Revisionsgerichte vor allem bezüglich der Frage in Erscheinung, unter welchen Voraussetzungen instanzgerichtliche Zuständigkeitsfehler zur Aufhebung des tatgerichtlichen Urteils führen. Dieser umfangreiche und spezielle Komplex ist aus der vorliegenden Untersuchung jedoch ausgeklammert worden. 1 Deshalb sollen die Revisionsgerichte an dieser Stelle nicht als „Reparaturbetrieb" für fremde Richterentziehungen betrachtet werden, sondern es ist zu untersuchen, inwieweit die Revisionsgerichte ihrerseits gegen den Verfassungssatz des Art. 101 I 2 G G verstoßen können. Diese Perspektive mag insofern ungewöhnlich anmuten, als die Revisionsgerichte beinahe wie selbstverständlich als kontrollierende, kaum hingegen als kontrollierte Instanz ins Bewußtsein treten. Es k o m m t hinzu, daß sich die Zuständigkeit der Revisionsgerichte nach dem Gericht richtet, dessen Urteil angefochten worden ist; dies gilt unabhängig davon, ob das Vordergericht seine Zuständigkeit zu Recht angenommen hatte. 2 Angesichts dieses eindeutigen Zuweisungsmodells bereitet die Frage, welches Gericht zur Entscheidung über die Revision berufen ist, keine nennenswerten Schwierigkeiten. Andererseits unterliegen die Revisionsgerichte den verfassungsrechtlichen Bindungen ebenso wie alle übrigen Gerichte; sie verletzen mithin den Art. 101 I 2 G G , wenn ihre gerichts- oder spruchkörperinterne Organisation nicht den aus diesem Verfassungssatz resultierenden Anforderungen entspricht. Über diese allgemeine Ebene hinaus sollen nachfolgend zwei Konstellationen näher betrachtet werden, in denen die spezifische Tätigkeit der Revisionsgerichte im Hinblick auf das Prinzip des gesetzlichen Richters problematisch erscheint. Hierbei geht es zum einen um die Beachtung der gesetzlich vorgegebenen Verantwortungsteilung zwischen Tat- und Revisionsgericht, zum anderen um die Zurückverweisung an ein anderes Gericht (§ 354 II, III StPO).
1
Vgl. oben 1. Kap. III. 2b. BGHSt. 22, 48 (50); LR-Hanack, Rn 45; Kleinknecht/Meyer-Goßner, s. auch LR-Hanack, ξ 333 Rn 22 ff. 2
Rn 19 jeweils vor § 296;
24. Kapitel: Die Aufgabenteilung zwischen Tat- und Revisionsgericht als Problem des Art. 101 I 2 GG I.
Die Ausdehnung der Prüfungskompetenzen durch die Revisionsgerichte
Nach der gesetzgeberischen Konzeption des Jahres 1 8 7 7 war die Revision als ein Rechtsmittel mit begrenzten Prüfungsmöglichkeiten gestaltet. 3 Mittels des Zentralbegriffs der „Gesetzesverletzung" 4 war der Aufgabenkreis der Revisionsgerichte darauf zugeschnitten, die Anwendung der verfahrensrechtlichen und materiellen Rechtsnormen durch das Tatgericht auf die Verfahrens- oder Sachrüge hin zu überprüfen. Insbesondere die Beweiswürdigung und die Strafzumessung waren hingegen dem Richter erster Instanz ausschließlich überlassen und der revisionsgerichtlichen Kontrolle (weitgehend) entzogen. 5 Zwar ist der gesetzliche Grundriß des Revisionsrechts im wesentlichen unverändert geblieben. Auch nach Ansicht des B G H 6 ist die Würdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme „allein Sache des Tatrichters"; seine Überzeugungsbildung ist für das Revisionsgericht grundsätzlich bindend. Ebenso wird die Strafzumessung als Sache des Tatrichters bezeichnet, 7 dessen Wertung in Zweifelsfällen vom Revisionsgericht zu respektieren ist. 8 Der Eindruck der Kontinuität und inneren Geschlossenheit, den diese Faktoren zu vermitteln scheinen, darf freilich nicht über den grundlegenden Wandel hinwegtäuschen, der sich in der Entwicklung der Rechtswirklichkeit des Revisionsrechts vollzogen hat. 9 Im Verlauf der letzten Jahrzehnte hat die revisionsgerichtliche Rechtsprechung die engen Vorstellungen des historischen Gesetzgebers weit überschritten. 1 0 So wird die „aufregendste Entwicklung, die das Revisionsrecht in den letzten Jahren genommen hat", darin gesehen, „daß die Revisionsgerichte mehr und mehr in Bereiche des tatrichterlichen Urteils eingreifen, die früher als absolut tabu galten: 1. die tatrichterlichen Feststellungen
Vgl. zum Folgenden LR-Hanack, vor § 333 Rn 1 ff. Vgl. hierzu auch Braum, Geschichte, S. 59 ff. •5 Hahn, Materialien zur StPO Bd. I, S. 250, 259; Naucke, in: Bemmann/Manoledakis, Der Richter in Strafsachen (1992), S. 108; Rieß, GA 1978, 267f.; Schmid, ZStW 85 (1973), 392; s. auch Frisch, Probleme, S. 67 (sowie a.a.O. S. 65f. kritisch zum „Schlagwort" von der Strafzumessung als „Domäne des Tatrichters"). 11 BGHSt. 29, 18 (19 f.); 41, 376 (380). S. auch BGHSt. 10, 208 (209). 7 BGHSt. 17, 35 (36); s. ferner (auch zum Folgenden) Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 337 Rn 34 (m.w.N.). 8 BGH, NStZ 1984, 360 (m.w.N.). 9 Vgl. hierzu aus rechtshistorischer Perspektive Braum, Geschichte, S. 119 ff.; s. auch zu den für das Verständnis des heutigen Revisionsrechts maßgeblichen Entwicklungslinien Peters, FS Schäfer (1980), S. 145 ff. 10 Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 20 Rn 8. 3
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24. Kapitel: Die Aufgabenteilung zwischen Tat- und Revisionsgericht als Problem
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selbst, 2 . die tatrichterliche Beweiswürdigung und 3 . die Strafzumessung". 1 1 Diente der einstmals enge, fast harte Begriff der „ G e s e t z e s v e r l e t z u n g " ursprünglich als M a ß s t a b zur Festlegung des revisiblen Bereichs, s o wird heute das aus anderen Gründen als revisibel in A n s p r u c h G e n o m m e n e nachträglich als Gesetzesverletzung interpretiert. 1 2 Ein wichtiges E l e m e n t der Kontrollerweiterung bildet die von der R e c h t s p r e c h u n g entwickelte sog. „Darstellungsrüge". 1 5 Hiernach wird das instanzgerichtliche Urteil auf die Sachrüge hin, d . h . o h n e daß es einer g e m ä ß § 3 4 4 II 2 S t P O substantiierten Verfahrensrüge bedarf, 1 4 aufgehoben, w e n n der festgestellte Sachverhalt ausweislich der Urteilsgründe Unklarheiten, L ü c k e n und W i d e r s p r ü c h e aufweist. Dieses Instrument geht über die bereits früher geschaffene Möglichkeit, das tatrichterliche Urteil auf die Einhaltung von Denkgesetzen und Erfahrungssätzen sowie auf die B e a c h t u n g offenkundiger Tatsachen zu überprüfen, deutlich hinaus. 1 5 Die Revisionsgerichte haben hierdurch die Beweiswürdigung - ähnliches gilt bezüglich der Strafzumessung - in w e i t e m U m f a n g ihrer Prüfungstätigkeit u n t e r w o r f e n . 1 6 Das tatrichterliche Urteil unterliegt einer a m M a ß stab der Vertretbarkeit ausgerichteten Plausibilitäts- und Vollständigkeitskontrolle. 1 7 Hiermit ist ein perspektivischer Wechsel dergestalt verbunden, daß das Revisionsgericht sich v o m Nachvollzug der einzelnen Feststellungen des Urteils löst und ein eigenes Urteil aus einer G e s a m t s c h a u fällt, in die allgemeine und b e s o n d e r e Lebenserfahrung einfließen und in der die durch das Urteil vermittelte „ G e s a m t s t i m m u n g " eine nicht unwesentliche Rolle spielt. 1 8 Das ungeschriebene M e r k m a l der „ s c h w e r w i e g e n d e n B e d e n k e n " 1 9 gegen 11 Hamm, StV 1987, 263; zustimmend Schlothauer, StV 1992, 135; vgl. auch Luther, NJ 1994, 347; Rieß, NStZ 1982, 49; Roxin, in: Jauernig/Roxin, 4 0 Jahre Bundesgerichtshof (1991), S. 72; v. Schledorn, Beweiswürdigungspflicht, S. 25 ff. 12 Rieß, CA 1978, 268 f.; Schmid, ZStW 85 (1973), 365 f.; Naucke, in: Bemmann/Manoledakis, Der Richter in Strafsachen (1992), S. 111 f. " Vgl. hierzu Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 78 ff.; Fezer, Revision, S. 41 ff.; ders., Strafprozeßrecht, Fall 20 Rn 8 ff.; ders., FS Hanack (1999), S. 332 ff.; LR-Hanack, § 337 Rn 120 ff. Zum Zusammenhang mit der Leistungstheorie vgl. Hamm, StV 1987, 263; Kühne, Strafprozeßlehre, Rn 668.1; Schünemann, JA 1982, 126. 14 Vgl. auch Naucke, in: Bemmann/Manoledakis, Der Richter in Strafsachen (1992), S. 115: „Die Revisionsgerichte wollen sich allerdings durch eine fehlerhafte Handhabung des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO nur dann binden lassen, wenn das sachgerechte Ergebnis nicht verhindert wird. ... Wo die Aufklärungsrüge in unzulässiger Weise angebracht ist, kann mit der Darstellungskontrolle weitergearbeitet werden." Für eine Nachprüfung der Beweiswürdigung allein auf die Verfahrensrüge jedoch Gössel, in: v. Caemmerer/Jescheck, Tatsachenfeststellung in der Revisionsinstanz (1982), S. 137 f. Vgl. zum Ergänzungsverhältnis zwischen Aufklärungs- und Darstellungsrüge auch Braum, Geschichte, S. 227 ff. (229); Fezer, Revision, S. 53.
Schünemann, JA 1982, 125; s. auch Fezer, Revision, S. 51 f.; Foth, DRiZ 1997, 202 ff. Zum Umfang der revisionsgerichtlichen Kontrolle der Beweiswürdigung vgl. Maul, FS Pfeiffer (1988), S. 409 ff.; Niemöller, StV 1984, 431 ff.; G. Schäfer, StV 1995, 147 ff. Zur Überprüfung der Strafzumessung durch die Revisionsgerichte vgl. Theune, FS Pfeiffer (1988), S. 449 ff.; Dahs/Dahs, Revision, Rn 437ff.; Kalf, NJW 1996, 1447ff.; Sarstedt/Hamm, Revision, Rn 1195ff.; Schmid, ZStW 85 (1973), 392ff.; Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 214 ff. >7 Pelz, NStZ 1993, 362; Schmid, ZStW 85 (1973), 382ff., 397; Schünemann, JA 1982, 125; Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 81 f.; nach Ansicht von Jerouschek (GA 1992, 513 [Fn 104]) hat sich die immer wieder reklamierte Beschränkung auf eine Vertretbarkeitskontrolle „unter der Hand zu einer vollen Inhaltskontrolle entwickelt". 18 Otto, NJW 1978, 8. Vgl. auch Fezer, Revision, S. 52 f.; Naucke, in: Bemmann/Manoledakis, Der Richter in Strafsachen (1992), S. 113 (Fn 13). 15
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
die Richtigkeit des Urteils wird somit z u m M a ß s t a b für die Aufhebung der instanzgerichtlichen E n t s c h e i d u n g . 2 0 D e r U m s t a n d , daß die Revisionsgerichte n a t u r g e m ä ß nicht alle tatrichterlichen E n t scheidungen kassieren, w o h l aber - zugespitzt formuliert - ( n a h e z u ) jedes instanzgerichtliche Urteil aufheben können, 2 1 bleibt für das Handeln der a m Strafprozeß Beteiligten nicht o h n e Konsequenzen. O b w o h l die tatrichterlichen Urteile i m m e r umfangreicher w e r d e n , u m d e m Revisionsgericht zu dokumentieren, daß alle fallrelevanten U m s t ä n d e erkannt und eingehend gewürdigt w o r d e n sind, 2 2 wird die Revision angesichts der k a u m prognostizierbaren Erfolgsaussichten 2 3 aus der Sicht des Verteidigers im Bereich der S a c h r ü g e „zu einem Lotteriespiel, bei d e m nur zu empfehlen ist, den Einsatz zu w a g e n , weil zumindest die H o f f n u n g g e h e g t w e r d e n darf, das Revisonsgericht w e r d e vielleicht auf einen M a n g e l bei der Beweiswürdigung stoßen und das Urteil deshalb a u f h e b e n " . 2 4 Das Revisionsgericht schließlich m u ß auswählen, w o sich der Einsatz der Darstellungsrüge lohnt. 2 5 H a b e n Revisionsgerichte infolge der von ihnen empfundenen „schwerwiegenden B e d e n k e n " Zuflucht zu Argumentationen g e n o m m e n , die in anderen Fallkonstellationen als fernliegend verworfen w o r d e n wären, so kann gegebenenfalls die Versuchung entstehen, sich in die begründungsfreie Beschlußverwerfung g e m ä ß § 3 4 9 II S t P O zu flüchten, wenn in späteren „unbedenklichen" Fällen der Revisionsführer sich auf die v o m Gericht aufgestellten Regeln beruft. 2 6 A b g e s e h e n v o n diesen p r a x i s b e z o g e n e n N e b e n w i r k u n g e n ist unter d o g m a t i s c h e n Vorzeichen zu konstatieren, daß der P r o z e ß der „ A u f l o c k e r u n g " der Revision 2 7 eine Ausprä19 Vgl. zu Plänen für eine an diesem Kriterium ausgerichteten Gesetzesänderung Fezer, Möglichkeiten, S. 180 ff., 301ff; Dahs, NJW 1978, 1552 ff. 20 Vgl. auch die freimütige Äußerung eines Senatspräsidenten des BGH (Sarstedt, FS Dreher [1977], S. 687; zustimmend zitiert von Otto, NJW 1978, 8): „Wenn er (seil, der Revisionsrichter) nicht will, wenn er nämlich keine Bedenken gegen das Ergebnis hat, wird er diese und noch ganz andere Lükken unschädlich finden und sie dann auch nicht erwähnen, wenn ihn nicht etwa die Revisionsbegründung dazu zwingt. Alles hängt eben von den schwerwiegenden Bedenken' ab." S. auch Dahs, NJW 1 9 7 8 , 1 5 5 3 ; Fezer, FS Hanack (1999), S. 336f.; Foth, NStZ 1 9 9 2 , 4 4 5 ; Paeffgen, Peters-FG (1984), S. 85 (Fn 101). 21 Jerouschek, GA 1992, 511; Naucke, in: Bemmann/Manoledakis, Der Richter in Strafsachen (1992), S. 113; Rieß, GA 1978, 259; v. Schledorn, Beweiswürdigungspflicht, S. 65; Schmitt, Beweiswürdigung, S. 403 f., 487. 22 Vgl. hierzu Foth, DRiZ 1997, 207 f.; Meyer-Goßner, DRiZ 1997, 473 f.; v. Schledorn, Beweiswürdigungspflicht, S. 26. " LR-Hanack, vor § 333 Rn 11; Wagner, ZStW 106 (1994), 260 (jeweils m.w.N.). 24 Wagner a.a.O. S. auch die statistischen Angaben bei Nack, NStZ 1997, 159 (Grafik 21). 25 Naucke, in: Bemmann/Manoledakis, Der Richter in Strafsachen (1992), S. 114; s. auch Salditt, NStZ 1999, 421. Eine erhebliche quantitative Bedeutung der richterrechtlichen Erweiterung der Revision (von ca. 4 0 % der sachlich-rechtlichen Aufhebungsgründe) konstatiert hingegen Rieß, NStZ 1982, 51 ff.; s. auch Fezer, Revision, S. 34ff. (43). Zu deutlich geringeren Zahlen gelangt Nack, NStZ 1997, 158 (Grafik 18), doch fügt er (a.a.O. S. 154) den einschränkenden Hinweis hinzu, daß sich die Abgrenzung zwischen sachlich-rechtlichen Fehlern und Fehlern bei der Sachdarstellung bzw. Beweiswürdigung nicht trennscharf durchhalten ließ (s. auch a.a.O. S. 156 [Grafik 8] zu Strafzumessungsfehlern). 26 Sarstedt/Hamm, Revision, Rn 13; s. auch Rieß, FS Hanack (1999), S. 409, 416. Zur willentlichen Unterschreitung der möglichen Subsumtionskontrolle um der Erhaltung der Arbeitsfähigkeit des Revisionsgerichts willen vgl. Schmid, ZStW 85 (1973), 391 f.; s. auch Fezer, Revision, S. 52. 27 Vgl. v. Schledorn, Beweiswürdigungspflicht, S. 28, 65 und passim. Zutreffend konstatiert Bohnert (Beschränkungen, S. 9) das Eindringen wägender Momente an Stelle von schematischen Prüfungs-
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gung des allgemein zu beobachtenden Nachlassens der Gesetzesbindung darstellt. 2 8 Die zunehmende Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit der Reichweite der revisionsgerichtlichen Prüfung 2 9 läßt sich jedoch auch unter dem Blickwinkel des Prinzips des gesetzlichen Richters betrachten. Ein solcher Bezug wird in der Feststellung erkennbar, daß sich die Revisionsgerichte durch ihre „auf eigene Faust" durchgesetzte „Rechtsmittelref o r m " 3 0 einen „unkontrollierten F r e i r a u m " " geschaffen haben, „der an die Grenzen unseres Verständnisses von Gesetzesunterworfenheit der richterlichen Entscheidung s t ö ß t " . 3 2 Von anderer Seite 3 1 wird die Geschichte der Überprüfung tatrichterlicher Feststellungen und Beweiswürdigung durch das Revisionsgericht als „ein herausragendes Beispiel richterlichen Ungehorsams gegen das Gesetz" bezeichnet. Einer auf die sog. „Leistungstheorie" 3 4 abhebenden spitzen Bemerkung zufolge heißt „eine Unterscheidung danach, was das Revisionsgericht leisten kann und was nicht(,) ... bei einem letztinstanzlichen Gericht, was es sich leistet und was nicht". 3 5 Im Zusammenhang mit der durch solche Äußerungen nahegelegten Frage, ob die Revisionsgerichte in einer von den normativen Vorgaben weitgehend abgekoppelten Weise ihren Wirkungskreis eigenverantwortlich festlegen, wird der Verfassungsgrundsatz des gesetzlichen Richters kaum einmal angesprochen. 3 6 Der Grund hierfür könnte darin liegen, daß die Normen über die Prüfungsbefugnis des Revisionsgerichts nicht als Kompetenznormen angesehen werden und Art. 101 I 2 G G mithin nicht betroffen zu sein scheint. 3 7 Dahinter könnte die Vorstellung stehen, das Prinzip des gesetzlichen Richters frage ausschließlich danach, wer einen Fall zu entscheiden habe, nicht hingegen, wie die Entscheidung ausfallen müsse. Hieran ist zutreffend, daß nicht jedes unrichtige Revisionsurteil wegen einer Verletzung des Art. 101 I 2 G G aufgehoben werden kann, nur weil hierdurch im Ergebnis ein anderer Tatrichter über die Rechtssache geurteilt hat, als dies bei einer zutreffenden Beurteilung durch das Revisionsgericht der Fall gewesen wäre. Insoweit mag man in der T a t davon sprechen, daß diese Wirkung des revisionsgerichtlichen Fehlers den Grundsatz des gesetzlichen Richters nur reflexartig berühre. Immerhin
kriterien (s. auch den a.a.O. in Fn 35 gegebenen Hinweis auf § 349 II StPO: „offensichtlich" unbegründet). 28 Vgl. hierzu Naucke, in: Bemmann/Manoledakis, Der Richter in Strafsachen (1992), S. 107 ff. ^ Vgl. Bohnert, Beschränkungen, S. 9; Fezer, Möglichkeiten, S. 172. '» Bohnert, Beschränkungen, S. 8; s. auch Foth, NStZ 1992, 447. ·" Rieß, J R 1976, 313. S. auch Dahs, NJW 1978, 1553•, Jerouschek, GA 1992, 511 („schrankenloser Interventionsspielraum"). 12 Rieß a.a.O. •» Foth, DRiZ 1997, 202. ,4 Nach dieser Methode bestimmt sich der Aufgabenkreis von Tat- und Revisionsgericht nach den diesen Instanzen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Hiernach dürfen die Revisionsgerichte alles, aber auch nur das überprüfen, was sie mit ihren Mitteln, insbesondere also ohne eine Rekonstruktion der erstinstanzlichen Hauptverhandlung, zu leisten vermögen. Vgl. LR-Hanack, vor § 333 Rn 5 (m.w.N.); Fezer, Möglichkeiten, S. 84f.; Sarstedt/Hamm, Revision, Rn 11, 275 ff.; s. auch Naucke, in: Bemmann/Manoledakis, Der Richter in Strafsachen (1992), S. 116; Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 52 ff. 15 Bohnert, Beschränkungen, S. 9 f. (ohne Hervorhebung im Original). Vgl. jedoch Foth, NStZ 1992, 444ff.; Wagner, ZStW 106 (1994), 294 (,,[F]ür die Beweiswürdigung ist nur der Tatrichter gesetzlicher Richter."). 17 In diesem Sinne Bettermann, AöR 94 (1969), 279 f.
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zeigen die Fälle der Verletzung von Vorlagepflichten, daß eine gegen Art. 1 0 1 I 2 G G verstoßende Zuständigkeitsanmaßung auch durch ein an sich zuständiges Gericht begangen werden kann, so daß sich die Fragen nach dem Entscheidungsträger und nach dem Entscheidungsinhalt durchaus überschneiden können. Gleichwohl ist ein näheres Eingehen auf die Frage, o b sich die Zuständigkeitserweiterung der Revisionsgerichte dogmatisch überzeugend fundieren läßt, 3 8 im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht möglich. Die Reichweite des Kontrollumfangs ist auf das Pflichtenprogramm des Tatrichters bezogen. 3 9 J e stärker insbesondere die Überzeugungsbildung und die Strafzumessung als rechtlich reglementierte Vorgänge verstanden werden, um so weiter reicht die Befugnis der Revisionsgerichte, die Beachtung dieser Vorgaben durch die Tatgerichte zu überwachen. 4 0 Entsprechend verhält es sich mit der Überlegung, daß nur nachvollziehbare Urteilsgründe und Beweisführungen eine rechtsstaatliche Grundlage für die Verhängung von Kriminalstrafen bilden können und daß der Tatrichter deshalb nicht allein seine subjektive Überzeugung gewinnen muß, sondern daß er darüber hinaus verpflichtet ist, dem Revisionsgericht als seinem „Gesprächspartner" diese Überzeugung in einer für dieses nachvollziehbaren Weise zu vermitteln. Sofern dieses Bemühen mißlingt, ersetzt der Revisionsrichter nicht die tatrichterliche Beurteilung des Tatgeschehens durch seine eigene, sondern er stellt lediglich fest, daß die vorliegende Urteilsgrundlage zu schwach ist und deshalb die Sache an einen anderen Tatrichter verwiesen wird, der wiederum seine Überzeugung aufgrund der in einer neuen Hauptverhandlung gewonnenen Erkenntnisse frei bilden muß. 4 1 Gibt es somit durchaus Anknüpfungspunkte dafür, die Ausdehnung der Revisionskontrolle im Hinblick auf die Rechtsfrieden stiftende Wirkung als - nicht zuletzt wegen des Fehlens einer zweiten Tatsacheninstanz für Fälle der schweren Kriminalität - akzeptablen Kompromiß zwischen den beschränkten Leistungsmöglichkeiten der Revisionsgerichte und dem G e b o t einer möglichst weitgehenden Verwirklichung der Einzelfallgerechtigkeit anzusehen, 4 2 so beVgl. z.B. Albrecht, NStZ 1983, 492; Fezer, StV 1995, 95 ff. (98 ff.); Herdegen, StV 1992, 527ff.; Wagner, ZStW 106 (1994), 269ff.; ferner ausführlich zur Entwicklung in der Rechtsprechung Cuypers, Revisibilität, S. 169ff.; Fezer, Möglichkeiten, S. 94ff. (s. auch a.a.O. S. 83ff. zum Schrifttum). Kritisch hingegen Foth, NStZ 1992, 444 ff. (auch zur Strafzumessung); ders., DRiZ 1997, 202ff.; Hanack, JuS 1977, 730 f. S. auch kritisch zu den dogmatischen Begründungen für die „Darstellungsrüge" v. Schledorn, Beweiswürdigungspflicht, S. 65 ff. und Wagner a.a.O. S. 259 f. 19 Vgl. Bohnert, Beschränkungen, S. 10 f.; Fezer, in: Ebert, Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege (1991), S. 92 ff. (95 f.), 105 f.; ders., StV 1995, 98 f.; Pelz, NStZ 1993, 362f.; s. auch Wagner, ZStW 106 (1994), 294 („Nachprüfungsbefugnis des Revisionsrichters ... nur im Umfang der Begründungspflicht des Tatrichters"). 40 Hierbei klaffen insbesondere hinsichtlich der Beweiswürdigung postulierter Anspruch und Verfahreswirklichkeit weit auseinander; vgl. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 400; Rieß, JR 1976, 313. Nach Ansicht von Fezer (StV 1995, lOOf.) ist der Begriff „frei" in ξ 261 StPO hinwegzudenken; daher sollten die Sätze zur „angeblichen ,Freiheit der Beweiswürdigung'" nach Ansicht von Fezer nicht länger „mitgeschleppt" werden. Zur Gegenposition vgl. Luther, NJ 1994, 346 ff. Ausführlich zur Interpretation der „freien richterlichen Uberzeugung" A. Schmidt, Grundsätze, S. 79 ff. 41 Herdegen, NStZ 1987, 199; ders.·, StV 1992, 533; s. auch Albrecht, NStZ 1983, 491f; Gössel, in: v. Caemmerer/Jescheck, Tatsachenfeststellung in der Revisionsinstanz (1982), S. 133 f.; Roxin, in:Jauernig/Roxin, 40 Jahre Bundesgerichtshof (1991), S. 73; Salditt, NStZ 1999, 422 f. Kritisch zum Kriterium der „Nachvollziehbarkeit" jedoch Hanack, JuS 1977, 731. 42 Vgl. AK/StPO-Maiwald, § 337 Rn 9 f.; s. auch Meyer-Goßner, DRiZ 1997, 471 ff.; Paeffgen, Peters-FG (1984), S. 81; v. Schledorn, Beweiswürdigungspflicht, S. 25. Zur weithin zu konstatierenden
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dürfte es für eine fundierte A b g r e n z u n g der V e r a n t w o r t u n g s b e r e i c h e von Tat- und Revisionsgerichten einer eigenständigen m o n o g r a p h i s c h e n U n t e r s u c h u n g , 4 3 die angesichts der dargestellten funktionellen Verzahnung auf m e h r e r e d o g m a t i s c h e G e s i c h t s p u n k t e 4 4 zu erstrecken wäre. Es k o m m t hinzu, daß mit einer Ä n d e r u n g der gegenwärtigen Situation nicht ernsthaft zu rechnen ist. 4 5 Denn es ist nicht a n z u n e h m e n , daß die Revisionsgerichte die Instrumente, die sie sich geschaffen haben, u m in Fällen gravierender Bedenken eine für g e b o ten e r a c h t e t e Aufhebung des Urteils v o r n e h m e n zu können, freiwillig wieder aus der H a n d legen. 4 6 Aus der Sicht des Revisionsrichters, der n a c h seinem institutionalisierten Selbstverständnis gegenüber d e m Tatrichter kraft A m t e s das letzte W o r t hat und über sich „nur den blauen H i m m e l " 4 7 weiß, ist die erweiterte Kontrollbefugnis sinnvoll und n o t w e n d i g , u m Strafurteile, gegen deren Richtigkeit erhebliche Zweifel bestehen, nicht rechtskräftig werden zu lassen. 4 8 A u c h v o m BVerfG ist eine Korrektur des Status q u o nicht zu erwarten. Abgesehen von der Kontrollbeschränkung auf den Willkürmaßstab erscheint es e b e n s o verständlich wie s a c h g e r e c h t , wenn das BVerfG d a v o r zurückschreckt, sich derart weit auf das Feld des Strafverfahrensrechts v o r z u w a g e n , daß es anläßlich eines Einzelfalles anstelle der sachnäheren F a c h g e r i c h t e eine Aufgabenzuweisung für die einzelnen Instanzen v o r n i m m t , 4 9 zumal auch die Strafprozeßrechtslehre weithin ihre Aufgabe eher in der Rekonstruktion der von der Praxis zugrundegelegten Regeln als in der Entwicklung n o r m a t i v e r Richtlinien für diese Praxis s a h . 5 0 Die von den Revisionsgerich-
Akzeptanz der Revisionserweiterung vgl. ferner Wagner, ZStW 106 (1994), 260 sowie die Nachweise bei LR-Hanack, § 337 Rn 121 (Fn 252); s. auch Cuypers, Revisibilität, S. 236 ff. Gegenwärtig wird sogar noch weitergehend die (vom BGH bislang abgelehnte) Rüge der Aktenwidrigkeit der Urteilsgründe diskutiert; vgl. hierzu LR-Hanack, Rn 105; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 15a, 23 jeweils zu § 337 (beide m.w.N.). 43 Vgl. insoweit Cuypers, Die Revisibilität der strafrichterlichen Beweiswürdigung, Diss. jur. Bochum (1975); B. Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung im Strafprozeß (1992). 44 Für den revisionsgerichtlichen Kontrollumfang wäre neben der allgemeinen Sachrüge insbesondere eine Verletzung der §§ 244 II, 261 und 267 StPO zu erörtern; vgl. Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 20 Rn 31 ff.; Schlothauer, StV 1992, 136 ff. Vgl. allein zu den vielgestaltigen Verletzungsmöglichkeiten bezüglich § 261 StPO Sarstedt/Hamm, Revision, Rn 819 ff., 845 ff. 45 Vgl. bereits Fezer, Möglichkeiten, S. 197; Schmid, ZStW 85 (1973), 376; ferner Fezer, FS Hanack (1999), S. 340 (die Entwicklung eines Instrumentariums, das den Revisionsgerichten eine „rügeunabhängige, an keine formalen Schranken gebundene, völlig einzelfallbezogene Beurteilung der tatsächlichen Urteilsgrundlagen ermöglicht", sei „notwendig" gewesen, „und sie ist unumkehrbar"); im wesentlichen ebenso Rieß, FS Hanack (1999), S. 4 1 7 ; s. aber auch Foth, DRiZ 1997, 208. 46 Bezüglich der Nachprüfung der Strafzumessung ebenso Kalf, NJW 1996, 1447. 47 Sarstedt, FS Dreher (1977), S. 695; s. auch Foth, NStZ 1992, 447. 48 Vgl. Maul, FS Pfeiffer (1988), S. 421; Rieß, FS Hanack (1999), S. 402f.; vorsichtig kritisch insoweit jedoch G. Schäfer, StV 1995, 155. 49 Umgekehrt hebt bisweilen sogar das BVerfG (unter dem Gesichtspunkt einer Verletzung des Willkürverbots gemäß Art. 3 I G G ) instanzgerichtliche Entscheidungen wegen einer verfassungswidrigen Beweiswürdigung auf; vgl. BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), StV 1994, 3 f.; s. auch (zu einem Zivilrechtsfall) BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), NJW 1999, 1387 (1389). Ferner hat das Plenum des BVerfG (Ε 54, 2 7 7 ff.) auch die an das Merkmal der „grundsätzlichen Bedeutung" anknüpfende Regelung der Annahmerevision im Zivilprozeßrecht (§ 554b ZPO) bei restriktiver Auslegung für verfassungsmäßig erachtet. ™ Neumann, GA 1988, 387; Wagner, ZStW 106 (1994), 259.
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
ten im Verhältnis zu den Tatgerichten angemahnte Selbstbeschränkung 5 1 gilt als Leitmotiv ebenso für das BVerfG bezüglich seines Verhältnisses zur Fachgerichtsbarkeit. Hinsichtlich eines möglichen Tätigwerdens des Gesetzgebers ist daran zu erinnern, daß legislatorische Reformüberlegungen in der Vergangenheit ebenfalls nicht auf eine Beschneidung, sondern auf eine Erweiterung der Revision abzielten und damit auf eine Affirmation des dargestellten Wandels gerichtet waren. 5 2
II.
Die Schuldspruchberichtigung analog § 3 5 4 I StPO
1.
Die R e i c h w e i t e der S a c h e n t s c h e i d u n g s k o m p e t e n z des Revisionsgerichts
O b w o h l eine generelle Aufrollung der Verantwortungsabgrenzung zwischen Tat- und Revisionsgericht anhand des Verfassungsprinzips des gesetzlichen Richters nicht stattfindet, hat Art. 101 I 2 G G zumindest in einem Teilbereich dieses Problemfeldes in den vergangenen Jahren eine verstärkte Bedeutung erlangt. Hierbei geht es um jene Fälle, in denen das Revisionsgericht über eine Aufhebung des angefochtenen Urteils hinausgeht und eine eigene Sachentscheidung trifft. Nach der gesetzlichen Grundkonzeption verweist das Revisionsgericht, wenn es das Rechtsmittel für begründet erachtet, die Sache im Regelfall zur erneuten Verhandlung an ein Gericht der unteren Instanz zurück (§ 3 5 4 II S t P O ) . 5 3 Nur für eng umgrenzte Ausnahmekonstellationen sieht das Gesetz in § 3 5 4 I S t P O eine eigene Sachentscheidung durch das Revisionsgericht vor. 5 4 Allerdings hat die Rechtsprechung die sich aus dem Wortlaut des § 3 5 4 I S t P O ergebenden Fesseln erheblich gelockert. Uber die im Gesetz vorgesehene Möglichkeit hinaus, auf Freisprechung, Einstellung, Verhängung einer bestimmten Strafe oder auf Absehen von Strafe zu erkennen, haben sich die Revisionsgerichte über die Rechtsfigur der sog. Schuldspruchberichtigung in entsprechender Anwendung des § 3 5 4 I S t P O den gesamten übrigen Bereich der Subsumtion im Schuldspruchbereich eröffnet; sie „streichen Tatbestände, fügen sie hinzu, oder wechseln Straftatbestände, Begehungsformen oder Konkurrenzarten aus". 5 5 Auch die Ersetzung eines
Jerouscbek, GA 1992, 513; Foth, NStZ 1992, 447; G. Schäfer, StV 1995, 154. Positiv zu einer derartigen Klarstellung Otto, NJW 1978, 10, Rieß,}R 1976, 313. Freilich müßte der legislatorische Versuch, durch eine Erweiterung der Revision die bestehende Praxis zu legitimieren, notwendigerweise unzulänglich bleiben, weil sich die fein ausgebildeten Revisionsmethoden durch eine vage Generalklausel nicht hinreichend exakt umschreiben lassen; vgl. Fezer, Revision, S. 55; ders., Möglichkeiten, S. 184; s. auch Braum, Geschichte, S. 232; Dahs, NJW 1978, 1553; Roxin, in: Jauernig/Roxin, 40 Jahre Bundesgerichtshof (1991), S. 72.; Schünemann, JA 1982, 131. " Schroeder, JuS 1982, 494; s. auch Peters, FS Stock (1966), S. 206 ff. Nach Angaben von Nack (NStZ 1997,155 [Grafik 3]) wurde in 19 % der Urteilsaufhebungen die Sache vom BGH durchentschieden (s. hierzu freilich auch den nachfolgenden Text). « Bloy, JuS 1986, 596; LR-Hanack, § 354 Rn 1; Eb. Schmidt, Lehrkommentar II, §§ 353-355 Rn 40; Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 33 f., 41 ff. S. ferner zur Entstehungsgeschichte des § 3541 StPO Batereau, Schuldspruchberichtigung, S. 5 ff.; Bode, Entscheidung, S. 3 ff. " Vgl. Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 145 ff., 192 ff., 423 ff. (Zitat a.a.O. S. 424); s. auch a.a.O. S. 193); LR-Hanack, Rn 15ff.; KK-Kuckein, Rn 2, 12ff. jeweils zu ξ 354. Zur Entwicklung dieser Judikatur vgl. Steinmetz a.a.O. S. 142 ff.; Walbaum, Schuldspruch, S. 17 ff. 51
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24. Kapitel: Die Aufgabenteilung zwischen Tat- und Revisionsgericht als Problem
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tatrichterlichen Freispruchs durch einen Schuldspruch 5 6 oder die Änderung des Rechtsfolgenausspruchs 5 7 wird seit langem von den Revisionsgerichten in analoger Anwendung des § 354 I StPO praktiziert. Z u r Begründung dieser vom Schrifttum nahezu einhellig gebilligten 58 Kompetenzerweiterungen wird zum einen ein Erst-recht-Schluß angeführt: 5 9 Wenn das Gesetz es dem Revisionsgericht ausdrücklich gestattet, den Angeklagten nach der Korrektur eines instanzgerichtlichen Subsumtionsfehlers freizusprechen oder eine absolut bestimmte Strafe zu verhängen, so muß auch die weniger weitreichende Befugnis des Revisionsgerichts gegeben sein, nach der Berichtigung des Subsumtionsfehlers den Fall (ausschließlich) zur Rechtsfolgenbestimmung zurückzuverweisen. Ein weiteres Argument basiert auf dem Gedanken der Prozeßökonomie. Da der neue Tatrichter bei einer wegen eines Subsumtionsfehlers erfolgreichen Revision ohnedies gemäß § 358 I StPO an die Rechtsauffassung des Revisionsgerichts gebunden ist, wäre es eine Verschwendung von Zeit und Arbeitskraft, wenn das Revisionsgericht in solchen Fällen eine Sache an den Tatrichter zurückverweisen müßte, dem nichts weiter übrig bliebe, als den Schuldspruch in der sich aus dem Revisionsurteil ergebenden Weise zu berichtigen. 6 0 Auch wenn man von der dogmatischen Tragfähigkeit dieser Konstruktion ausgeht, 61 ist zu konstatieren, daß die Ausweitung der revisionsgerichtlichen Sachentscheidungskompetenzen Gefahren für die Zuständigkeitsabgrenzung gegenüber den Tatgerichten in sich birgt. Denn das Revisionsgericht darf stets nur dann selbst in der Sache entscheiden, wenn es einer weiteren (ihm gerade verwehrten) Sachverhaltsaufklärung nicht bedarf. 62 O b diese Voraussetzung erfüllt ist, entscheidet freilich das Revisionsgericht. In der praktischen Handhabung sind gewisse Ausdehnungen der revisionsgerichtlichen Kompetenz zur Freisprechung des Angeklagten zu verzeichnen; 63 umgekehrt kann 56
Vgl. hierzu die Darstellung der Judikatur bei Walbaum, Schuldspruch, S. 79 ff. LR-Hanack, Rn 35 ff.; KK-Kuckein, Rn 19 jeweils zu § 354; Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 275 ff., 425 f. 58 Vgl. LR-Hanack, § 354 Rn 15 (m.w.N.); Walbaum, Schuldspruch, S. 20ff. (mit zahlreichen weiteren Nachweisen a.a.O. S. 21 Fn 47); Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 20 Rn 50ff.; AK/StPO-Maiwald, § 354 Rn 11 f.; a.A. jedoch Geerds, J Z 1968, 393; kritisch auch Otto, JR 1990, 128. Nach Ansicht von Steinmetz (Sachentscheidungskompetenzen, S. 383 f., 427f.; s. auch unten Fn 70) kann den unbestreitbaren praktischen Bedürfnissen für die von der herrschenden Meinung befürworteten Ausdehnung der revisionsgerichtlichen Sachentscheidung nur im Rahmen einer Gesetzesänderung Rechnung getragen werden. 59 Vgl. (auch zum nachfolgenden Argument) AK/StPO-Maiwald, § 354 Rn 11; Batereau, Schuldspruchberichtigung, S. 13 ff.; Walbaum, Schuldspruch, S. 25 ff.; s. auch aus der Rechtsprechung z.B. BayObLG, J Z 1961, 506 (507). 60 LR-Hanack, § 354 Rn 15. 61 Nach Auffassung von Steinmetz (Sachentscheidungskompetenzen, S. 360ff., 376, 384, 4 2 7 ) ist die von der herrschenden Meinung befürwortete analoge Anwendung des § 354 I StPO abzulehnen, weil es angesichts des eindeutigen gesetzgeberischen Willens, die fraglichen Konstellationen durch eine kombinierte Anwendung der §§ 353, 358 I StPO zu lösen, an einer Regelungslücke fehle (s. auch speziell zu den im Text angeführten Argumenten a.a.O. S. 373 ff.); einen entgegenstehenden gesetzgeberischen Willen verneinend hingegen Walbaum, S. 30 ff. ω Z u m Vorbehalt erschöpfender und tragfähiger tatsächlicher Feststellungen vgl. Batereau, Schuldspruchberichtigung, S. 17, 33ff.; Bode, Entscheidung, S. 16ff.; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 354 Rn 15; Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 75 ff. " Vgl. Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 127ff.; s. auch als Ergänzung zu den dort an57
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
e i n e v o m R e v i s i o n s g e r i c h t v o r g e n o m m e n e Verurteilung der n o r m a t i v e n F u n k t i o n s a b g r e n z u n g w i d e r s p r e c h e n , w e n n sie erfolgt, u m z u verhindern, d a ß der n e u e Tatrichter z u einer n a c h A n s i c h t d e s R e v i s i o n s g e r i c h t s u n z u t r e f f e n d e n Beurteilung d e s Falles g e l a n g t . 6 4 Ferner k a n n die Tatsache, d a ß die mit einer S c h u l d s p r u c h b e r i c h t i g u n g a n g e s t r e b t e n p r o z e ß ö k o n o m i s c h e n Vorteile sich d e u t l i c h reduzieren, w e n n der Fall w e g e n der Strafzum e s s u n g s e n t s c h e i d u n g o h n e h i n an das Tatgericht z u r ü c k v e r w i e s e n w e r d e n m u ß , 6 5 einen Anreiz für die R e v i s i o n s g e r i c h t e darstellen, d e n Fall a u c h i n s o w e i t selbst d u r c h z u e n t s c h e i d e n . D i e d o g m a t i s c h u n p r o b l e m a t i s c h e r e Variante b e s t e h t hierbei darin, v o n einer Z u r ü c k v e r w e i s u n g i m R e c h t s f o l g e n a u s s p r u c h mit der B e g r ü n d u n g a b z u s e h e n , die Schuldspruchkorrektur habe die Strafhöhe nicht beeinflußt. 6 6 Einen u n g l e i c h härteren Bruch erfährt die Vorstellung, daß die S t r a f z u m e s s u n g grundsätzlich d e m Tatrichter o b liegt, w e n n die R e v i s i o n s g e r i c h t e sich nicht auf die B e r u h e n s p r ü f u n g b e s c h r ä n k e n , s o n dern selbst die a n g e m e s s e n e Strafe f e s t s e t z e n . 6 7 D i e s g e h t t e i l w e i s e s o w e i t , d a ß das R e v i s i o n s g e r i c h t die tatrichterliche Verneinung der v e r m i n d e r t e n Schuldfähigkeit (§ 2 1
gegebenen Judikaten BGH, NJW 1999, 1562ff. mit Anm. Saldi», NStZ 1999, 420ff. („PistazieneisFall"; vgl. zum selben Fall bereits BGH, StV 1997, 62f.). Umgekehrt kritisch zur Zurückverweisung anstelle eines revisionsgerichtlichen Freispruchs (bezüglich eines Notwehr-Falles) Loos, JuS 1985, 859 (Fn 5). 64 Vgl. Geppert, JR 1985, 433; Scbmid, BA 1994, 332. Als Gegenbeispiel läßt sich die Prozeßgeschichte des sog. „Frankfurter Soldatenurteils" anführen: Dort war der Angeklagte vom Amtsgericht wegen der Bezeichnung von Soldaten als „potentielle Mörder" gemäß §§ 130, 185 StGB zu einer Geldstrafe verurteilt und im Berufungsverfahren vom LG Frankfurt/M. (NJW 1988, 2683 ff.) freigesprochen worden. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers verwies das OLG Frankfurt/M. (NJW 1989, 1367ff.) die Sache an eine andere Kammer des LG Frankfurt/M., das wiederum zu einem Freispruch gelangte (StV 1990, 73 ff.). Auch im Zusammenhang mit der Aufhebung dieses Urteils sieht sich das OLG Frankfurt/M. (NJW 1991, 2032ff. [2036]) an einer eigenen Sachentscheidung gehindert. Das Verfahren wird ein weiteres Mal an eine andere Kammer des LG Frankfurt/M. zurückverwiesen und dort schließlich eingestellt (vgl. FAZ vom 7.11.1992, S. 4); vgl. zum Prozeßverlauf und zur Presserezeption Castendyk, Begründungen, S. 260 ff. " Schroeder, JuS 1982, 494 f. 66 Vgl. Walbaum, Schuldspruch, S. 28 ff.; s. auch die LR-Hanack, § 354 Rn 27ff. (m.w.N.) sowie die ausführliche Zusammenstellung der einschlägigen Judikatur bei Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 196 ff. (s. auch a.a.O. S. 280 ff. zur Aufrechterhaltung bei fehlerhafter tatrichterlicher Beurteilung des Konkurrenzverhältnisses; vgl. hierzu auch Kalf, NStZ 1997, 66 ff. und Basdorf, NStZ 1997, 423). Durch die Beibehaltung der tatrichterlich festgesetzten Strafe überschreitet das Revisionsgericht seine rein kontrollierende Perspektive nicht, wenn es die Frage beurteilt, ob der tatrichterliche Strafausspruch auf der fehlerhaften Rechtsanwendung beruht. Allerdings ist fraglich, ob die Revisionsgerichte den Rechtsfolgenausspruch mit der Erwägung aufrechterhalten dürfen, die vom Tatrichter verhängte Rechtsfolge sei im Ergebnis (nach Ansicht des Revisionsgerichts) gerechtfertigt bzw. angemessen, oder ob es - der Prüfung des normativen „Beruhens" entsprechend - allein darauf ankommt, ob das Revisionsgericht ausschließen kann, daß der Tatrichter ohne seinen Rechtsirrtum möglicherweise auf eine abweichende Rechtsfolge erkannt hätte Vgl. hierzu ausführlich Steinmetz a.a.O. S. 223 ff. (230ff.), 324f.; s. auch Frisch, Probleme, S. 296ff.; Cribbohm, NJW 1980, 1440f.; YMR-Paulus, § 354 Rn 20ff.; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 53 Rn 72. Die Analyse der einschlägigen Judikate legt die Vermutung nahe, daß sich die Revisionsgerichte bisweilen vom Aspekt der „Rechtsfehlerlosigkeit des ,Endergebnisses'" leiten lassen; vgl. Steinmetz a.a.O. S. 242 ff.; s. auch kritisch zur zivilprozessualen Praxis, bei der Annahmeentscheidung gemäß § 554b ZPO nicht auf den Erfolg der Revision, sondern auf den voraussichtlichen „Enderfolg" abzustellen, Krämer, FS Brandner (1996), S. 706 ff. 67 Hanack, StV 1993, 64 f. Zu den einzelnen Konstellationen einer revisonsgerichtlichen Rechtsfolgenänderung vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 24ff.; KMR-Paulus, Rn 26 ff. jeweils zu § 354.
24. Kapitel: Die Aufgabenteilung zwischen Tat- und Revisionsgericht als Problem
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S t G B ) beanstandet, den Schuldspruch e n t s p r e c h e n d korrigiert und überdies die unter A n w e n d u n g des milderen Strafrahmens zulässige Höchststrafe selbst ausspricht, weil nach d e m Tatbild und der Schuld des Angeklagten ( a u c h unter Berücksichtigung der Ausführungen des T a t r i c h t e r s ) eine geringere Strafe nicht in B e t r a c h t k o m m e . 6 8 Wenngleich sich die dargestellten B e d e n k e n vorrangig auf Einzelfälle beziehen, sind die Parallelen zwischen der E r w e i t e r u n g der Sachentscheidungsbefugnisse und der A u s weitung der revisionsgerichtlichen Kontrolltätigkeit nicht zu ü b e r s e h e n . 6 9 A u c h die „verhältnismäßig großzügige Praxis zur eigenen D u r c h e n t s c h e i d u n g des R e v i s i o n s g e r i c h t s " 7 0 vermittelt den Eindruck einer richterrechtlich geschaffenen G r a u z o n e , in der die Revisio n s g e r i c h t e den U m f a n g ihrer Tätigkeit selbst b e s t i m m e n und im Verhältnis zu den Tatgerichten zumindest faktisch eine K o m p e t e n z - K o m p e t e n z für sich reklamieren. M u ß eine systematische Durchdringung der Problematik des revisionsgerichtlichen „ D u r c h e n t scheidens" hier w e g e n der Vielgestaltigkeit der in B e t r a c h t zu ziehenden Fallkonstellationen unterbleiben, 7 1 so verdient der U m s t a n d besonderes Interesse, daß das BVerfG in diesem Problembereich mehrfach die verfassungsrechtliche Prüfungssonde des Art. 101 I 2 G G angelegt h a t . 7 2 Dies eröffnet die Möglichkeit einer von den Judikaten des BVerfG ausgehenden fallbezogenen A n n ä h e r u n g an die verfassungsrechtlichen G r e n z e n der Spruchtätigkeit der Revisionsgerichte.
68 BGH, StV 1993, 62 f. mit abl. Anm. Hanack. Vgl. ferner Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 2 8 4 ff. (mit weiteren Judikaten), 308 ff. Allgemein herrscht bei der Rechtsfolgenänderung Unsicherheit darüber, ob aus der Sicht des vorherigen und/oder aus der Perspektive des neu über den Fall befindenden Tatrichters zu argumentieren ist; vgl. Steinmetz a.a.O. S. 277, 307. Nach einer Zurückverweisung ist dem neuen Tatrichter die Bezugnahme auf Strafzumessungserwägungen des früheren Tatgerichts verwehrt; BGH, NStZ 1998, 204 f. 69 So kommen die mittels der „Darstellungsrüge" geschaffenen Spielräume mittelbar auch im Kontext des § 354 I StPO zum Tragen; vgl. Fezer, NStZ 1986, 30; Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 78 ff. 70 Rieß, in: Ebert, Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege (1991), S. 120; s. auch HK-Temming, § 354 Rn 9. Aus der Sicht des BGH-Richters regt Basdorf (NStZ 1997, 4 2 3 ) an, der Gesetzgeber solle „über die bislang geltenden Regelungen in §§ 337, 354 StPO hinaus ... den Revisionsgerichten ... ein flexibleres ,Handwerkszeug' mit begrenzten Möglichkeiten eigener korrigierender Rechtsfolgenerkenntnisse zur Verfügung" stellen; hierdurch würden sich die Revisionsgerichte auf dogmatisch gesicherterem Boden bewegen, und es könnten weitere tatrichterliche Ressourcen problemlos eingespart werden (kritisch zu derartigen Plänen Schefßer, NStZ 1997, 30). Zu Vorschlägen für eine Reform des § 354 StPO vgl. Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 385 ff. (401 ff.); s. auch zur weitergehenden Sachentscheidungskompetenz des Beschwerdegerichts gemäß § 79 VI OWiG Steinmetz a.a.O. S. 43 ff. 71 Vgl. hierzu die Dissertationen von Batereau, Die Schuldspruchberichtigung (1971); Bode, Die Entscheidung des Revisionsgerichts in der Sache selbst (1958); Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen des Revisionsgerichts in Strafsachen (§ 354 Abs. 1 StPO) (1997) und Walbaum, Schuldspruch in der Revisionsinstanz nach freisprechendem Urteil des Tatgerichts (1996). 72 Vgl. zu den einschlägigen Entscheidungen des BVerfG auch Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 345 ff.
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2.
Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
Die J u d i k a t u r des BVerfG
In der Anfangsphase seiner Tätigkeit nahm das BVerfG zum vorliegenden Problem äußerst zurückhaltend Stellung. So ließ es in einer Entscheidung 7 3 aus dem Jahre 1954 dahingestellt, ob in besonders gelagerten Fällen die Feststellung neuer Tatsachen durch das Revisionsgericht einen Verstoß gegen Art. 3 I G G oder gegen Art. 101 1 2 G G darstellen könne; denn im konkreten Fall sei die vom Beschwerdeführer beanstandete Feststellung bereits in den Entscheidungsgründen des tatrichterlichen Urteils enthalten gewesen. Wenige Wochen später leitete das BVerfG 74 anläßlich einer vergleichbaren (einen Steuerrechtsfall 75 betreffenden) Konstellation seine Ausführungen mit der Feststellung ein, es könne zweifelhaft sein, ob jemand seinem gesetzlichen Richter dadurch entzogen werden kann, daß ein Revisions- oder Rechtsbeschwerdegericht im Einzelfall Befugnisse ausübt, die an sich der Tatsacheninstanz zukommen. In diesem Beschluß entwickelte das BVerfG sodann die für seine weitere Judikatur zu Art. 101 I 2 G G maßgebliche Leitlinie, daß einerseits eine Richterentziehung auch durch Akte der Rechtsprechung erfolgen könne, dies andererseits aber nur dann gelte, wenn die gerichtlichen Maßnahmen oder Entscheidungen als „willkürlich" zu beurteilen sind; durch einen sog. „error in procedendo" werde niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen. 7 6 Z u m Sachproblem führte das BVerfG aus, daß „die Abgrenzung der Tatsachenfeststellung von der rechtlichen Würdigung ... nicht immer eindeutig möglich (ist); die Grenze der Entscheidungsbefugnis der Rechtsinstanz kann daher im Einzelfall fließend sein". 77 Eine willkürliche Kompetenzanmaßung seitens einer Rechtsinstanz werde deshalb „außerordentlich selten" 78 sein; keineswegs könne jede irrtümliche Überschreitung der den Rechtsinstanzen gezogenen Grenzen bereits für diese Ausnahme reichen. Für den konkreten Fall ließ das BVerfG es dahingestellt, ob der BFH als Revisionsgericht die ihm verfahrensrechtlich gezogenen Grenzen eingehalten hatte, da es jedenfalls an einer willkürlichen Kompetenzanmaßung fehle. In denselben Bahnen laufen auch zwei spätere Entscheidungen, 7 9 in denen das BVerfG zwar eine Richterentziehung für denkbar erklärt, wenn ein an die tatsächlichen Feststellungen gebundenes Revisionsgericht den Sachverhalt selbst erforscht oder eine zwecks weiterer Sachaufklärung gebotene Zurückverweisung an das Tatsachengericht unterläßt, im jeweiligen Fall jedoch das insoweit erforderliche Vorliegen willkürlicher Erwägungen verneint. Die nahezu stereotype Wiederholung des dargestellten Argumentationsmusters könnte die Vermutung nahelegen, die Einbeziehung der Fallgruppe der revisionsgerichtlichen Kompetenzanmaßung in das Spektrum möglicher Richterentziehungen sei ein Akt mit le7
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BVerfGE 3, 255 (256f.). BVerfGE 3, 359 ff. 75 Die Beschwerdeführerin hatte eine Verletzung des Art. 101 I 2 G G seitens des BFH gerügt, weil dieser im Gegensatz zum Finanzgericht (und ohne erneute Beweisaufnahme) die Steuerumgehungsabsicht, mithin eine innere Tatsache, festgestellt habe, obwohl grundsätzlich nur das Finanzgericht zur Tatsachenfeststellung berufen sei. 76 A.a.O. S. 364 f. Vgl. zur Willkürformel näher oben 9. Kap. 77 A.a.O. S. 364. 78 Ebd. Ebenso Leibholz/Rinck/Hesselberger, GG, Art. 101 Anm. 6 ( = S. 843); Wipfelder, VB1BW 1982, 37; s. auch Kunig, in: v. Münch/Kunig, GGK, Art. 101 Rn 35 Stichwort „Revision". 79 BVerfGE 31, 145 (165); 54, 100 (115f.). 74
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diglich theoretischer Bedeutung, da die durch die Willkürschranke errichtete Hürde praktisch unüberwindbar sei. Dieser Eindruck ist jedoch insofern zu korrigieren, als das BVerfG in einer Kammerentscheidung 8 0 aus dem Jahre 1991 eine Verfassungsbeschwerde wegen des (vom Beschwerdeführer überdies nicht eigens gerügten) Verstoßes gegen Art. 101 I 2 G G als offensichtlich begründet angesehen hat, weil das Oberlandesgericht als Revisionsinstanz seine Kompetenz in objektiv willkürlicher Weise überschritten hatte. Der Beschwerdeführer war vom Amtsgericht wegen Diebstahls geringwertiger Sachen zu einem Monat Freiheitsstrafe verurteilt worden, weil er aus drei Zigarettenautomaten mit Hilfe angeschliffener, geringwertiger englischer Geldmünzen einige Schachteln Zigaretten entnommen habe. Die Verurteilung basierte im wesentlichen auf der Aussage des Zeugen R., der bekundete, den Tatablauf als Spaziergänger beobachtet zu haben. Die Berufung des seine Täterschaft bestreitenden Beschwerdeführers führte zum Freispruch. Gegen die auch nach Ansicht der Strafkammer nicht unwahrscheinliche Täterschaft sprächen außer der Aussage seines erstmals in der Berufungsinstanz als Zeuge benannten und vernommenen Vaters Bedenken gegen die Zuverlässigkeit der Angaben des Zeugen R. bezüglich des vom Täter geführten Pkw. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hob das O L G Oldenburg 81 das freisprechende Urteil auf und sprach den Beschwerdeführer des Diebstahls geringwertiger Sachen schuldig; zur Entscheidung über die Rechtsfolgen wurde die Sache an eine andere Kammer des Landgerichts zurückverwiesen. Nach Ansicht des OLG-Senats trüge die aus Rechtsgründen zu beanstandende Beweiswürdigung des Landgerichts nicht den Freispruch; vielmehr führten die getroffenen Feststellungen zur Verurteilung des Beschwerdeführers. So habe die Strafkammer eine Reihe von Umständen festgestellt, die auch ihrer Auffassung nach in erheblichem Maße für die Täterschaft des Beschwerdeführers sprechen. Die vom Landgericht angestellte Überlegung, der Zeuge R. habe vielleicht zwar nicht die Ortsbuchstaben, eventuell aber die Kennbuchstaben und die Ziffern des Kfz-Kennzeichens unrichtig abgelesen, müsse als nur theoretische Möglichkeit außer Betracht bleiben; denn angesichts der Entfernung von etwa 100 km zwischen dem Zulassungs- und dem Tatort wäre die Annahme, der Zeuge hätte von einem anderen roten Fahrzeug aus dem Zulassungsort die Autonummer des Beschwerdeführers abgelesen haben können, auf einen ganz unwahrscheinlichen Zufall gerichtet. Da der Zeuge folglich (!) das Kfz-Kennzeichen zutreffend abgelesen habe, komme seinen Schwierigkeiten, im Gerichtssaal unter gänzlich abweichenden Beleuchtungs- und Sichtverhältnissen eine Buchbeschriftung abzulesen, keine Bedeutung zu. Auch die Aussage des Vaters des Beschwerdeführers habe am Ergebnis der Beweiswürdigung (!) nichts ändern können. Da die Strafkammer selbst ausgeführt hatte, daß diese Aussage falsch und abgesprochen gewesen sein könne, komme ihr innerhalb der Beweiswürdigung nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Eine entlastende Aussage, deren Richtigkeit vom Tatgericht offengelassen werde, könne ein bei zutreffender rechtlicher Würdigung zur Schuldfeststellung führendes Beweisergebnis nicht umstoßen.
BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), NJW 1991, 2893 f. ( = NStZ 1991, 499f. = StV 1991, 545f.) mit Anm. Foth, NStZ 1992, 444 ff. S. zu dieser Entscheidung auch Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 182 ff., 348 f. 81 Die revisionsgerichtliche Entscheidung des OLG Oldenburg ist - soweit ersichtlich - nicht veröffentlicht. Die Wiedergabe des Revisionsurteils lehnt sich daher an die Darstellung im Beschluß des BVerfG an; freilich sind die nachfolgenden Hervorhebungen durch die in Klammern gesetzten Ausrufungszeichen dort nicht enthalten. Vgl. auch die mit weiteren entsprechenden Akzentuierungen versehene Urteilsdarstellung bei Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 182 ff.
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
Den Ausgangspunkt für die verfassungsrechtliche Beurteilung bildet auch im vorliegenden Beschluß die Feststellung, daß ein an die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz gebundenes Revisionsgericht das Prinzip des gesetzlichen Richters verletzen kann, wenn es - was anhand der besonderen Umstände des Einzelfalls zu ermitteln ist - aus willkürlichen Erwägungen eine nach dem Stand des Verfahrens gebotene Zurückverweisung unterläßt. Die Kompetenzverteilung zwischen Tat- und Revisionsgericht entwickelt das BVerfG vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO). Die Würdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme ist hiernach „allein Sache des Tatrichters". 8 2 Unter Hinweis auf Entscheidungen des B G H 8 3 legt das BVerfG dar, daß der Tatrichter weder gehindert werden könne, an sich mögliche, wenn auch nicht zwingende Folgerungen aus bestimmten Tatsachen zu ziehen, noch daß ihm vorgeschrieben werden könne, unter welchen Voraussetzungen er zu einer bestimmten Folgerung oder Uberzeugung kommen müsse. Die tatrichterliche Uberzeugungsbildung sei, von Verfahrensmängeln abgesehen, für das Revisionsgericht grundsätzlich bindend. Im Rahmen der allgemeinen Sachprüfung dürfe die Beweiswürdigung vom Revisionsgericht nur auf mögliche Rechtsfehler untersucht werden. Doch auch beim Vorliegen eines solchen Fehlers, der z.B. in einer Überspannung der an die richterliche Überzeugungsbildung zu stellenden Anforderungen liegen könne, sei es dem Revisionsgericht verwehrt, die Beweiswürdigung des Tatrichters durch seine eigene zu ersetzen. „Wollte das Revisionsgericht eine auf ,letzte Zweifel' gestützte Freisprechung beanstanden, weil es aufgrund der festgestellten Beweisanzeichen zu dem Ergebnis kommt, daß eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit für die Schuld des Angeklagten vorliege, so würde es die Grenzen seiner Aufgabe überschreiten. Es würde sich mit einer Verantwortung belasten, die es nach der gesetzlichen Ausgestaltung des Revisionsverfahrens nicht übernehmen kann und darf. Die Aufgabe, sich eine Überzeugung von der Schuld oder Nichtschuld des Angeklagten zu bilden, ist allein dem Tatrichter gestellt." 8 4 Auf der Grundlage dieser allgemeinen Abgrenzung wendet sich das BVerfG sodann der umstrittenen Frage zu, ob das Revisionsgericht ein freisprechendes tatrichterliches Urteil durch einen eigenen Schuldspruch ersetzen darf. Nach einer Darstellung des Streitstandes weist das BVerfG darauf hin, daß es nicht seine Aufgabe sei, darüber zu befinden, welcher der vertretenen Auffassungen nach strafprozessualen Maßstäben der Vorzug zu geben ist. Mit Blick auf Art. 101 I 2 G G hielten sich sowohl die eine derartige Verurteilung (erst) durch das Revisionsgericht generell ablehnende Ansicht als auch die Gegenauffassung, nach welcher ein revisionsgerichtlicher Schuldspruch unter der Voraussetzung lückenloser und abschließender Feststellungen des Tatgerichts für zulässig gehalten wird, innerhalb der von der Verfassung gezogenen Grenzen. Hingegen werde die gesetzliche Zuständigkeitsverteilung eindeutig und grundlegend verfehlt, wenn das Revisionsgericht selbst die den Schuldspruch tragenden Feststellungen aufgrund einer vom Tatgericht abweichenden Beweiswürdigung trifft. Eben dies sei vorliegend der Fall. Hierbei sei es gleichgültig, daß der OLG-Senat seine Beurteilung als rechtliche Würdigung bezeichnete; denn für die verfassungsrechtliche Prüfung sei der sachliche Gehalt der richter-
82 "
BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), N J W 1991, 2 8 9 3 . B G H S t . 1 0 , 2 0 8 ( 2 0 9 f f . ) ; 29, 18 (19f.). 84 BVerfG a.a.O. S. 2 8 9 4 (wiederum unter Hinweis auf die beiden in der vorigen Fn genannten Entscheidungen des B G H ) .
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liehen M a ß n a h m e entscheidend. Zur Annahme der Täterschaft des Beschwerdeführers sei das Revisionsgericht insbesondere deshalb gelangt, weil es Zweifel an der Glaubwürdigkeit des (von ihm nicht gehörten) Zeugen R. für unbegründet erklärte und im Gegensatz zum Tatgericht davon ausging, der Zeuge habe das Kfz-Kennzeichen zutreffend abgelesen; zudem sei auch die Zeugenaussage des Vaters des Beschwerdeführers in einem vom Berufungsgericht abweichenden Sinne bewertet worden. Hierin liege eine eindeutige Kompetenzüberschreitung seitens des Revisionsgerichts, das selbst im Falle einer etwaigen - v o m BVerfG als nicht seiner Beurteilung unterliegend angesehenen - rechtsfehlerhaften, weil die Anforderungen an die Überzeugungsbildung überspannenden Beweiswürdigung der Strafkammer lediglich zu einer kassatorischen Entscheidung befugt gewesen wäre. Angesichts der Verletzung des Art. 101 I 2 G G verwies das BVerfG die Sache unter Aufhebung des Revisionsurteils an das Oberlandesgericht zurück. In der Folgezeit hat dieselbe Kammer des BVerfG weitere Fallkonstellationen anhand eines vergleichbaren Maßstabs beurteilt. Hierbei ging es zum einen um den Rechtsfolgenausspruch im Rechtsbeschwerdeverfahren in einem Fall, in dem erst das Oberlandesgericht gegen einen Taxifahrer ein Fahrverbot wegen eines Rotlichtverstoßes verhängt hatte. Sowohl bei der Aussetzung des Fahrverbots im Wege der einstweiligen Anordnung 8 5 als auch bei der späteren Auslagenentscheidung 8 6 stellte das BVerfG maßgeblich darauf ab, daß es angesichts des nahezu vollständigen Mangels an Angaben zu den persönlichen, familiären und beruflichen Verhältnissen des Beschwerdeführers im amtsgerichtlichen Urteil weiterer tatsächlicher Feststellungen bedurft hätte, die zu treffen dem Rechtsbeschwerdegericht versagt sei. Angesichts dieser Situation sei die eigene Sachentscheidung durch den O L G - S e n a t als offensichtlich unhaltbar und mithin als Verstoß gegen Art. 101 I 2 G G zu qualifizieren. 87 Auf der gleichen Linie liegt schließlich ein ebenfalls von der 2. Kammer des Zweiten Senats gefaßter Beschluß 8 8 , der die Verfassungsbeschwerde gegen eine Schuldspruchberichtigung zum Gegenstand hatte. Der Beschwerdeführer war vom Amtsgericht anklagegemäß wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden. Die hiergegen eingelegte Berufung wurde mit der M a ß g a b e verworfen, daß das Landgericht den Beschwerdeführer lediglich wegen unBVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), NJW 1994, 573 f. mit Anm. Göhler, NZV 1994, 343 f. BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), NJW 1995, 443 f. S. auch die zwischenzeitlich in dieser Sache ergangene Entscheidung des OLG Frankfurt, ZfS 1994, 109. 87 Vgl. ferner BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), NStZ 1996, 192 f. Dort war die Verfassungsbeschwerde bezüglich des Rechtsfolgenausspruchs in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren erfolgreich, weil die Bemessung des Bußgeldes innerhalb des während der Begehungszeit einer Dauerordnungswidrigkeit (Verstoß gegen das Zweckentfremdungsverbot von Wohnraum) erweiterten Bußgeldrahmens gegen Art. 103 II GG verstieß. In seinem Beschluß weist das BVerfG (a.a.O. S. 193) darauf hin, daß das Rechtsbeschwerdegericht auch nicht von sich aus aufgrund eigener Sachverhaltserforschung die Zumessungsrichtlinie des § 17IV 2 OWiG zur Stützung des Rechtsfolgenausspruchs anwenden konnte, ohne seine Kompetenzen zu überschreiten und damit den Beschwerdeführer seinem gesetzlichen Richter zu entziehen. In einem anderen Verfahren (NStZ 1995, 43f.) hat dieselbe Kammer einen Verstoß gegen Art. 2 I GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) bejaht, weil das Wiederaufnahmegericht im Zulassungsverfahren im Wege der Eignungsprüfung Beweise gewürdigt und Feststellungen getroffen hatte, die nach der Struktur des Strafprozesses der Hauptverhandlung vorbehalten sind. 85
86
88
NJW 1996, 116 f.
754
Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
erlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln - allerdings in nicht geringer Menge - zu einer Freiheitsstrafe in gleicher Höhe verurteilte. Das Oberlandesgericht verwarf die Revision des Beschwerdeführers; es änderte jedoch den Schuldspruch in Anwendung des § 3 5 4 I StPO dem Antrag des Generalbundesanwalts entsprechend dahingehend, daß die Verurteilung wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge erfolgte. Als verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab fungiert in diesem Fall (vorrangig) die Willkürkontrolle im Rahmen des Art. 3 I G G . Die Kammer legt insoweit zunächst dar, daß nach herrschender fachgerichtlicher Rechtsprechung eine Berichtigung des Schuldspruches auch zum Nachteil eines Revisionsführers grundsätzlich zulässig ist; hierfür sei jedoch Voraussetzung, daß die Änderung des Schuldspruchs auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils ohne deren Änderung oder Ergänzung getroffen werden könne. Dieses Erfordernis sei im vorliegenden Fall nicht erfüllt; denn es fehle im landgerichtlichen Urteil an ausreichenden Feststellungen zu dem für ein „Handeltreiben" notwendigen subjektiven Tatbestandsmerkmal der Eigennützigkeit. Da sich dieser Mangel - wie das BVerfG näher ausführt - auch auf den Strafausspruch auswirken könne, erscheine es naheliegend, daß die Strafzumessung durch die Zurückverweisung an das Landgericht einer neuen tatrichterlichen Würdigung hätte zugeführt werden müssen. Abschließend weist das BVerfG darauf hin, daß die Beschränkungen des Revisionsgerichts in Fragen, die - wie die Sachverhaltsfeststellung oder die Strafzumessung - grundsätzlich dem Tatrichter vorbehalten sind, im Hinblick auf Art. 1 0 1 1 2 G G auch verfassungsrechtlich relevant seien. Der unter Berücksichtigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinende Mangel der revisionsgerichtlichen Entscheidung führe zu ihrer Aufhebung und zur Zurückverweisung an das Oberlandesgericht.
3.
Stellungnahme zur R e i c h w e i t e der verfassungsgerichtlichen K o n t r o l l e
Die dargestellten Judikate des BVerfG belegen, daß sich die Problematik der revisionsgerichtlichen Zuständigkeitsanmaßung in den letzten Jahren zu einer eigenständigen Fallgruppe im Gesamtspektrum des Art. 101 I 2 G G entwickelt hat, deren konzeptionelle Leitlinien angesichts der einzelfallbezogenen Prüfung allerdings nur ansatzweise erkennbar sind. Als grobe Richtung ist die Intensivierung der Kontrolle gegenüber früheren Jahrzehnten ebenso unverkennbar wie das Bemühen, sich nicht in den Strudel einfachgesetzlicher Auslegungsfragen ziehen zu lassen. Die bei chronologischer Betrachtung expansiv erscheinende Entwicklung trägt somit zugleich durchaus restriktive Züge. Hieraus erwächst eine Spannungslage, die in unterschiedlicher Richtung Angriffsflächen bietet. Einerseits könnte man es als überzogen ansehen, daß das BVerfG seinen Bannstrahl nunmehr verstärkt auch auf die Tätigkeit der Revisionsgerichte richtet. Genau entgegengesetzt ließe sich der Vorwurf der Halbherzigkeit erheben, weil das BVerfG nicht konsequent genug durchgreift, um die Revisionsgerichte auf den ihnen nach dem Gesetz zugewiesenen Kurs zu bringen. Zunächst fällt auf, daß die erfolgreichen Verfassungsbeschwerden - soweit ersichtlich - ausschließlich Fälle der Schuldspruchberichtigung betreffen. Daß der Teilbereich des revisionsgerichtlichen „Durchentscheidens" besondere Aufmerksamkeit erfährt, ist jedoch durchaus plausibel. Erstens erfahren die Betroffenen hier das Revisionsurteil als
24. Kapitel: Die Aufgabenteilung zwischen Tat- und Revisionsgericht als Problem
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unmittelbare Beschwer, gegen die sie sich gegebenenfalls vor dem BVerfG zur Wehr setzen. Zweitens geht das Revisionsgericht in diesen Fällen über sein primäres Tätigkeitsfeld in deutlich erkennbarer Weise hinaus. Mit der eigenen Sachentscheidung gibt das Revisionsgericht seine bloß kontrollierende Stellung hinter dem Tatrichter auf; es stellt sich gleichsam neben ihn, indem es eine Funktion ausübt, die nach der geläufigen Aufgabenverteilung den Instanzgerichten vorbehalten ist. Uber den optischen Effekt der leichteren Wahrnehmbarkeit hinaus begründet es aber - drittens - auch in der Sache einen bedeutenden Unterschied, ob die Revisionsgerichte nur die ihnen originär zugewiesene Kontrollaufgabe extensiv interpretieren oder ob sie „in fremden Revieren wildern" und den an sich zur Entscheidung berufenen Tatrichter partiell verdrängen. Denn in der ersten Variante bewirkt das Revisionsgericht lediglich eine Auswechslung des Tatrichters unter Beibehaltung der für die instanzgerichtliche Hauptverhandlung maßgeblichen Verfahrensbedingungen. Eine eigene Sachentscheidung durch das Revisionsgericht bedeutet hingegen, daß tatfernere Richter den Fall (partiell) abschließend beurteilen, ohne auf die Grundlage einer eigenen, den Maximen des Strengbeweisverfahrens entsprechenden Tatsachenfeststellung zurückgreifen zu können. 8 9 Angesichts dieser Diskrepanz mag es als hinnehmbar erscheinen, daß das Revisionsgericht bei begründeten „schwerwiegenden Bedenken" gegen die tatrichterliche Beweiswürdigung durch eine kassatorische Entscheidung eine Wiederholung des Uberzeugungsbildungsvorgangs anordnet. Hiermit ist jedoch nicht zugleich die weitergehende Befugnis zu einer die angezweifelte Uberzeugung ersetzenden Sachentscheidung des Revisionsgerichts verbunden. 9 0 Viertens ist auch die These, daß die revisionsgerichtlichen Kontrollmaßstäbe nicht als Kompetenznormen anzusehen seien, 91 hier ohne Bedeutung; denn die Frage, ob das Revisionsgericht ausnahmsweise wie ein Tatrichter tätig werden darf, betrifft durchaus ein Kompetenzproblem. 92 Ein weiterer wesentlicher Aspekt besteht darin, daß dem BVerfG eine sichere dogmatische Plattform für seine Kontrolltätigkeit zur Verfügung steht. Unbestritten ist die Frage, „wie es gewesen ist", nicht Sache des Revisionsrichters. 93 Gerade im Unterschied zur Berufung sind dem Revisionsgericht eigene Sachverhaltsfeststellungen zur Schuldund Straffrage verwehrt. 9 4 Im Hinblick darauf, daß die richterliche Uberzeugung gemäß § 261 StPO aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung zu schöpfen ist und daß der Unmittelbarkeitsgrundsatz dem erkennenden Gericht die Pflicht auferlegt, die Beweismittel
89 Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 423; vgl. zur „Sachfeme" des Revisionsgerichts auch Frisch, Probleme, S. 253 ff. und passim sowie Roxin, Strafverfahrensrecht, § 53 Rn 9. m Albrecht, N S t Z 1983, 491 f.; Kemper, Teilrechtskraft, S. 74f.; Luther, NJ 1994, 350; Rieß, GA 1978, 274, 277; Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 132, 193; Wagner, Z S t W 106 (1994), 281; s. auch Cuypers, Revisibilität, S. 453 ff. " Vgl. oben zu I. (zu Fn 37). 92 Deshalb weist § 354 I StPO eine „Schnittstelle mit dem Verfassungsrecht" auf; so zutreffend Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 335. Sarstedt/Hamm, Revision, Rn 10. B G H S t . 10, 208 (210); 29, 18 (20); 41, 376 (380); LR-Hanack, Rn 5; KK-Kuckein, Rn 1; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 1 ff. jeweils vor ξ 333; Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 31, 33. Das gilt unanhängig von der umstrittenen Frage, inwieweit das Revisionsgericht zum Nachweis von Verfahrensverstößen Beweise erheben darf; vgl. hierzu l-ezer, in: Ebert, Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege (1991), S. 89ff. (107f.).
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
grundsätzlich selbst wahrzunehmen, 95 darf das Revisionsgericht auch nicht in der Weise zu einer eigenen Sachentscheidung gelangen, daß es die vom Tatrichter erhobenen Beweise in einem vom Vordergericht abweichenden Sinne würdigt. 96 Die strukturelle Grenze der revisionsrichterlichen Tätigkeit, die tatrichterliche Uberzeugung nicht durch eine eigene positive Überzeugung über die schuld- und strafzumessungsrelevanten Feststellungen ersetzen zu dürfen, entspricht allgemeiner, auch von den Strafgerichten selbst97 geteilter Auffassung. Indem das BVerfG die Einhaltung dieses Verbots kontrolliert, begibt es sich mithin nicht in den „Dschungel" fachspezifischer Kontroversen, sondern es sichert lediglich die Einhaltung des gesetzlich fundierten und allgemein akzeptierten Kerngedankens der funktionellen Abschichtung zwischen Tat- und Revisionsgericht. In Ubereinstimmung mit den durchweg positiven Stellungnahmen im Schrifttum 98 verdient die Intervention des BVerfG in Fällen, in denen die Revisionsgerichte diese Mindestgrenze eindeutig mißachtet haben, grundsätzlich Zustimmung. Soweit sich klare Funktionsgrenzen angeben lassen, ist das BVerfG aufgerufen, die Beachtung dieser Limitierungen zumindest anhand des in der Willkürformel verkörperten Evidenzmaßstabes sicherzustellen. Diese Kontrollbefugnis läßt sich auch nicht mit dem Hinweis in Abrede stellen, daß sich das BVerfG einer entsprechenden Überprüfung rein kassatorischer Entscheidungen der Revisionsgerichte enthält. Denn abgesehen von der gesteigerten Bedeutung einer den Tatrichter beiseite schiebenden Usurpation ist zu bedenken, daß das BVerfG für seine Kontrolltätigkeit auf eindeutige Prüfungsmaßstäbe zugreifen muß. Eine solche Eindeutigkeit kommt zwar grundsätzlich dem Verbot der auf einer revisionsgerichtlichen Beweiswürdigung gegründeten Schuldspruchberichtigung zu, doch fehlen Beurteilungsmaßstäbe mit vergleichbarer Konsistenz weithin im Bereich der auf eine Kassation instanzgerichtlicher Urteile gerichteten Tätigkeit der Revisionsgerichte. Die Herausarbeitung derartiger Kriterien zur Kompetenzabgrenzung zwischen Revisions- und Tatgericht müßte das BVerfG überfordern und zudem die funktionelle Aufgabenverteilung zwischen Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit tangieren. 99 Die hieraus folgende Einschränkung rechtfertigt aber keinen vollständigen Kontrollverzicht auch für den Bereich, in dem eine klare Richtschnur für die Überprüfung existiert. 100 Umgekehrt verdient das BVerfG auch insofern Zustimmung, als es sich einer Entscheidung zu der strafprozessual umstrittenen Frage der Zulässigkeit eines revisionsgericht-
95 KK-Pfeiffer, Einleitung, Rn 9. Vgl. auch ausführlich zum sog. „formellen" Unmittelbarkeitsbegriff Geppert, Unmittelbarkeit, S. 122ff., 136 ff. " Rieß, GA 1978, 271; Herdegen, StV 1992, 533; Paulus, FS Spendel (1992), S. 710; Eb. Schmidt, Lehrkommentar II, § 337 Rn 7; s. auch die oben in Fn 89 f. angegebenen Nachweise. " Vgl. auch insoweit BGHSt. 10, 208 (210); 29, 18 (20); 41, 376 (380). Vgl. Göhler, NZV 1994, 343; LR-Hanack, Rn 45a; KK-Kuckein, Rn 13; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 23 jeweils zu § 354; Paulus, FS Spendel (1992), S. 710; Sarstedt/Hamm, Revision, Rn 10; Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 352f.; Wagner, ZStW 106 (1994), 294; s. auch Degenhardt, in: Sachs, GG, Rn 21; Schmidt-Bleibtreu, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Rn 11; AK/GG-Wassermann, Rn 23 jeweils zu Art. 101; Kopp/Schenke, VwGO, § 144 Rn 5; Marx, Gesetzlicher Richter, S. 96. •>> · Vgl. bereits oben lb (zu Fn 51 ff.). 100 Konsequenterweise darf die hiernach dem BVerfG zustehende Bewertung darüber, ob eine unzulässige revisionsgerichtliche Beweiswürdigung vorliegt, auch nicht daran scheitern, daß das Revisionsgericht den fraglichen Vorgang als „rechtliche Würdigung" deklariert; so zutreffend BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), NJW 1991, 2893 (2894).
2 4 . Kapitel: Die Aufgabenteilung zwischen T a t - und Revisionsgericht als Problem
757
liehen Schuldspruchs nach einem vorinstanzlichen Freispruch enthalten hat, 101 indem es auch die in der Rechtsprechung vielfach 1 0 2 vertretene Auffassung für mit Art. 101 I 2 G G vereinbar erklärte, daß die Verurteilung eines vom Tatgericht freigesprochenen Angeklagten zulässig sei, sofern - wie dies insbesondere in Fällen bloßer Subsumtionsfehler gelte - aufgrund der lückenlosen Feststellungen des Tatgerichts die Möglichkeit ergänzender Feststellungen zur Schuldfrage ausgeschlossen erscheine. Zwar wird eine solche Befugnis des Revisionsgerichts im Schrifttum 1 0 3 bisweilen gerade mit dem Hinweis bestritten, bei einer solchen Vorgehensweise werde die vom Gesetz vorgesehene Laienbeteiligung umgangen und der Angeklagte somit seinem gesetzlichen Richter entzogen. Diese Gedankenführung ist indes nicht zwingend; 1 0 4 denn die §§ 3 0 , 7 7 I G V G schreiben nicht vor, daß die Schöffen am ersten Schuldspruch mitwirken müssen. Überdies bleiben die wesentlichen Mitwirkungshandlungen der Schöffen, nämlich ihre Partizipation an der Tatsachenfeststellung, der Beweiswürdigung und der Uberzeugungsbildung, erhalten, wenn man eine revisionsgerichtliche Verurteilung nur auf der Grundlage der von der Vorinstanz ermittelten Tatsachengrundlage zuläßt. Bezüglich der rechtlichen Beurteilung wäre aber auch das nachfolgende Tatgericht gemäß § 3 5 8 I StPO an die Auffassung des Revisionsgerichts gebunden, so daß es an der M ö g lichkeit einer eigenen Entscheidung insoweit in Wirklichkeit fehlt. 1 0 5 In Wahrheit sind die gravierenden Einwände gegen diese Konstellation der Schuldspruchberichtigung nicht (gerichts-Verfassungsrechtlicher, sondern strafprozessualer Natur. 1 0 6 Das freisprechende tatgerichtliche Urteil bietet weder Gewähr für eine vollständige Beweisaufnahme noch für eine vollständige Ausschöpfung der in der Hauptverhandlung präsenten Beweismittel. Zudem fehlt dem Angeklagten mangels Beschwer die Möglichkeit, die eventuelle Fehlerhaftigkeit der Beweiserhebung bzw. - Würdigung zu rügen. Unter diesen Vorzeichen bestehen gravierende Bedenken dagegen, ein so unsicheres Tatsachensubstrat als Verurteilungsgrundlage zu akzeptieren.
101 A.a.O. S. auch den von Pauly (StV 1 9 9 9 , 4 1 7 [Fn 15]) auszugsweise zitierten Beschluß des BVerfG vom 2 2 . 9 . 1 9 9 3 (1 BvR 2 6 7 / 9 2 ) . «« Vgl. B G H S t . 3 6 , 2 7 7 ( 2 8 3 ) ; B G H , V R S 5 4 ( 1 9 7 8 ) , 4 3 6 f f . ; O L G D ü s s e l d o r f J R 1994, 2 0 1 ( 2 0 2 ) ; weitere Nachweise bei KMR-Paulus, § 3 5 4 Rn 19; eingehend zur Entwicklung der Judikatur Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 1 5 8 f f . ( 1 6 1 ff.). Il" Peters, FS Stock ( 1 9 6 6 ) , S. 2 0 9 f., 2 1 5 f.; entsprechende Bedenken äußern L R - H a n a c k , Rn 4 4 und KMR-Pa«/«s, Rn 19 jeweils zu § 3 5 4 ; Neumann, JuS 1 9 9 0 , 5 4 0 . 104 Ygi z u m Folgenden Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 3 4 2 ff.; s. ferner Batereau, Schuldspruchberichtigung, S. 67; Laubenthal, J R 1992, 2 0 3 ; Walbaum, Schuldspruch, S. 99 ff., 139. Auch das Argument, daß ein von den Schöffen überstimmter Tatrichter eine Verurteilung durch das Revisionsgericht provozieren könnte, schlägt nicht durch. Erstens bliebe auch bei Ablehnung eines revisionsgerichtlichen Schuldspruchs die Möglichkeit, mittels einer widersprüchlichen oder lückenhaften Gestaltung der Urteilsgründe die Schöffenmehrheit im Rechtsmittelzug zu Fall zu bringen; zweitens besagt die grundsätzliche Zulassung einer Verurteilung erst durch das Revisionsgericht nicht, daß ein solcher Schuldspruch auch in Fällen mit einem derartigen Verdacht erfolgen dürfte (oder gar müßte). Vgl. hierzu KG, J R 1957, 2 7 0 ff. mit Anm. Sarstedt.
105
AK/StPO-Maiwald, § 354 Rn 15.
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Vgl. zum Folgenden B a y O b L G , J Z 1961, 5 0 6 ( 5 0 7 f . ) mit Anm. Peters-, Batereau,
Schuldspruch-
berichtigung, S. 68 ff.; Bode, Entscheidung, S. 29 ff., 61; Laubenthal, JR 1992, 203 f.; Müller-Christmann, JuS 1987, 23 f.; Ranft, Strafprozeßrecht, Rn 2 2 4 7 ; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 53 Rn 68 f.; Ru-
dolph, JR 1983, 253; Walbaum, Schuldspruch, S. 123 ff., 131 ff., 141 f.
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter u n d Strafverfahrensrecht
Andererseits ist zu berücksichtigen, daß auch die weitergehende Auffassung die Möglichkeit einer den vorinstanzlichen Freispruch korrigierenden Schuldspruchberichtigung nicht schrankenlos zuläßt, sondern an die Voraussetzung einer hinreichend geklärten Tatsachenlage bindet. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, daß die einschlägigen Fallgestaltungen durchaus eine heterogene Struktur aufweisen. So gibt es Fälle, in denen der vom Angeklagten eingeräumte Sachverhalt feststeht und es allein um die Rechtsfrage geht, ob sein Verhalten die Voraussetzungen eines Straftatbestandes erfüllt. 107 Ferner mag es einen Unterschied begründen, ob der Angeklagte in erster Instanz verurteilt und erst vom Landgericht freigesprochen worden ist; denn hier hat zumindest vor dem Amtsgericht eine zur Verurteilung führende Beweisaufnahme stattgefunden. 108 Schließlich ist die Frage von Bedeutung, ob der Angeklagte bereits vor dem Tatgericht auf die Möglichkeit der später vom Revisionsgericht beabsichtigten Verurteilung hingewiesen wurde (§ 265 I StPO) oder ob dieser Mangel gegebenenfalls in der Revisionshauptverhandlung kompensiert werden kann. 109 Den einzelnen Verästelungen soll hier nicht weiter nachgegangen werden. 110 Immerhin ist zu konzedieren, daß es Einzelfälle geben kann, in denen die allgemeinen Bedenken praktisch nicht zum Tragen kommen. 111 Ungeachtet dieser Überlegungen erscheint der apodiktische Ausschluß eines revisionsgerichtlichen Schuldspruchs als die strafprozessual vorzugswürdige Variante. Denn der sichere Grat ist ausgesprochen schmal, da die aus der Distanz des Revisionsgerichts erfolgende Einschätzung, inwieweit andere Beweisergebnisse und Verteidigungsmöglichkeiten in Betracht kommen, oftmals Zweifeln ausgesetzt ist.112 Auch die Befürchtung, daß die Obergerichte in Einzelfällen die ihnen gezogenen Grenzen überschreiten, indem sie ihre eigene, lediglich rechtlich verbrämte Auffassung an die Stelle der tatrichterlichen Feststellungen setzen, 113 läßt sich nicht von der Hand weisen. Bedenkt man weiterhin, daß bei einem instanzgerichtlichen Freispruch die erforderlichen Strafzumessungstatsa107 Vgl. z.B. (zum Scheckkartenmißbrauch vor Einführung des ξ 2 6 6 b StGB) KG, JR 1987, 2 5 7 ( 2 5 8 ) ; hierzu auch Geppert, Jura 1987, 165 f.; s. ferner ( z u m unfairen Spielen an G e l d a u t o m a t e n ) O L G Celle, N S t Z 1989, 3 6 7 f . (hierzu kritisch Neumann,JuS 1990, 5 3 9 f . ) ; (zu § 130 StGB) O L G Düsseldorf, N J W 1986, 2 5 1 8 ( 2 5 1 9 ) ; O L G O l d e n b u r g , JR 1990, 127 ( 1 2 8 ) mit A n m . Otto (zur Beleidigung als „Scheißbullen") sowie (zum Schwarzfahren) O L G Stuttgart, N J W 1990, 9 2 4 (925). 108 Vgl. O L G Düsseldorf, N J W 1986, 2518 (2519); 1991, 1123 (1124 [m.w.N.]); O L G Koblenz, N S t Z - R R 1998, 3 6 4 ( 3 6 5 ) ; Kleinknecht/Meyer-Goßner, % 3 5 4 Rn 2 3 ( m . w . N . ) ; s. auch Laubenthal, JR 1992, 2 0 3 f.; Rudolphi, JR 1983, 254. 109 Vgl hierzu A K / S t P O - M a i w a l d , § 3 5 4 Rn 16 f.; Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 170; Wollweber, Bindungswirkung, S. 80 ff. 110 Vgl. hierzu näher Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 166 ff. 111 So im Ergebnis auch Steinmetz a.a.O. S. 172, 185, 194; Wollweber, Bindungswirkung, S. 80. Die tatsächliche Berechtigung des A r g u m e n t s unzulänglicher Sachaufklärung in Fällen des tatrichterlichen Freispruchs bezweifelnd auch Dahs, G A 1998, 99. 112 Batereau, Schuldspruchberichtigung, S. 70; Neumann, JuS 1990, 5 4 0 ; Pauly, StV 1999, 4 1 7 ; Peters, FS Stock ( 1 9 6 6 ) , S. 2 0 5 ; Scbroeder, JuS 1982, 4 9 5 f.; s. auch deutlich zurückhaltend B a y O b L G , J Z 1961, 5 0 6 ( 5 0 8 ) ; O L G Düsseldorf, StV 1985, 3 6 1 ; O L G Karlsruhe, N J W 1 9 9 6 , 1 5 5 1 ( 1 5 5 2 [zu § 2 4 0 II StGB]); O L G Koblenz, N S t Z - R R 1998, 3 6 4 ( 3 6 5 ) ; ferner die auf k o n k r e t e Einzelfälle bezogenen kritischen A n m e r k u n g e n von Müller-Christmann, JuS 1987, 2 4 sowie (wenngleich nicht in Fällen vorangegangenen Freispruchs) Geis, N J W 1990, 2 7 3 5 f. und Gössel, JR 1977, 3 9 1 . Vgl. ferner allgemein die Rechtsprechungsanalyse bei Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 7 6 ff. (s. aber auch a.a.O. S. 162 f.). Vgl. Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 185, 425.
24. Kapitel: Die Aufgabenteilung zwischen Tat- und Revisionsgericht als Problem
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chen regelmäßig fehlen und somit eine Zurückverweisung zur Rechtsfolgenbestimmung ohnehin geboten erscheint, 1 1 4 so wird deutlich, daß der geringe prozeßökonomische Vorteil in keinem angemessenen Verhältnis zu den nicht unerheblichen Gefahrenmomenten steht. 1 1 5 Vor diesem Hintergrund ist auch die vom B G H 1 1 6 in jüngster Zeit mehrfach geäußerte Auffassung nachdrücklich zu begrüßen, daß bei der Aufhebung eines freisprechenden Urteils die tatsächlichen Feststellungen, deren rechtsfehlerfreies Zustandekommen der Angeklagte vom Revisionsgericht mangels Beschwer nicht nachprüfen lassen konnte, jedenfalls bei einem die Tat bestreitenden Angeklagten 1 1 7 nicht als Grundlage einer möglichen Verurteilung bestehen bleiben können. Diese Judikate implizieren ein Einschwenken auf die im Schrifttum vorherrschende Sichtweise. Denn wenn die für den Angeklagten fehlende Angreifbarkeit der tatsächlichen Feststellungen diese als normativ so ungesichert erweisen, daß sie dem späteren Tatrichter nicht bindend als Verurteilungsgrundlage vorgegeben werden dürfen, so muß dieser Gesichtspunkt grundsätzlich auch einem vom Revisionsgericht selbst gefällten Schuldspruch entgegenstehen. Besteht somit Anlaß zu der Hoffnung, daß sich die für einen generellen Ausschluß des revisionsgerichtlichen Schuldspruchs nach vorausgegangenem Freispruch eintretende Auffassung durchsetzt, so ist gleichwohl darauf hinzuweisen, daß diese im Kontext des einfachen Gesetzesrechts entwickelte Beurteilung nicht unbesehen auf die Ebene des Verfassungsrechts übertragen werden darf. Solange der Gesetzgeber der Forderung, die Unzulässigkeit eines revisionsgerichtlichen Schuldspruchs nach einem vorangegangenem Freispruch ausdrücklich festzuschreiben, 1 1 8 nicht n a c h k o m m t , führt kein Weg daran vorbei, auch die hier abgelehnte Sichtweise als zumindest vertretbar anzuerkennen. Die Tatsache, daß das BVerfG über die Machtposition verfügt, die Fachgerichte in die Schranken zu weisen, legitimiert es nicht zum Oberschiedsrichter in einfachgesetzlichen Auslegungsfragen. Deshalb verdient die in diesem Zusammenhang geübte Selbstbeschränkung des BVerfG ebenso Zustimmung, wie eine möglichst weitgehende Zurückhaltung der Revisionsgerichte hinsichtlich eigener Verurteilungen nach vorherigem Freispruch wünschenswert erscheint.
KK-Kuckein, % 354 Rn 13; Neumann, JuS 1990, 540; s. auch LR-Hanack, § 354 Rn 45. Nach Ansicht des OLG Hamburg (NJW 1981, 138 [LS]} kommt hingegen eine Wiederherstellung der amtsgerichtlichen Verurteilung auch bezüglich des Strafausspruches in Betracht. 115 Vgl. auch Müller-Christmann, JuS 1987, 24 und Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 185 f. BGH, NStZ-RR 1998, 204; BGH, StV 1999, 415 mit zust. Anm. Pauly (s. auch a.a.O. S. 416 zu weiteren [zumindest bezüglich des hier interessierenden Kontexts] unveröffentlichten Entscheidungen 117 Kritisch zu dieser (von BGH, NStZ-RR 1998, 204 unter Hinweis auf BGH, NJW 1992, 382 [384] vorgenommenen) Einschränkung Pauly, StV 1999, 417. 118 Vgl. hierzu Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen, S. 186 (Fn 393), 414; Walbaum, Schuldspruch, S. 142.
25. Kapitel: Das Ermessen der Revisionsgerichte im Zusammenhang mit der Zurückverweisung der Sache (§ 354 II, III StPO) Soweit das Revisionsgericht in den Fällen einer erfolgreichen Revision nicht (ausnahmsweise) in der Sache selbst entscheidet, verweist es die Sache unter völliger oder teilweiser Aufhebung des angefochtenen Urteils an den Tatrichter zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurück. Diesbezüglich sieht § 3 5 4 II 1 S t P O die Zurückverweisung an eine andere Abteilung oder Kammer des Gerichts, dessen Urteil aufgehoben wird, oder an ein zu demselben Land gehörendes anderes Gericht gleicher Ordnung vor. 1 Ferner kann gemäß § 3 5 4 III S t P O die Zurückverweisung an ein Gericht niederer Ordnung erfolgen, sofern die noch in Frage kommende strafbare Handlung zu dessen Zuständigkeit gehört. Diese Gesetzesbestimmungen schreiben somit in jedem Falle eine „Wegverweisung" an einen anderen, bislang nicht mit der Sache befaßten Spruchkörper vor. 2 Die früher bestehende Möglichkeit einer Zurückverweisung an den Spruchkörper, der die angefochtene Entscheidung getroffen hatte, wurde durch den Gesetzgeber im Jahre 1 9 6 4 beseitigt, um einer möglichen Voreingenommenheit der erneut über den Fall befindenden Richter oder einem entsprechenden Mißtrauen des Angeklagten vorzubeugen. 3 Freilich ist diese legislatorische Absicht nur halbherzig umgesetzt worden, da sich der Gesetzgeber zur „saubersten" Lösung einer Ausschließung der am erstinstanzlichen Urteil mitwirkenden Richter nicht hat durchringen können. 4 Die gerade auch mit Blick auf den (freilich in einem „materialisierten" Sinne verstandenen) Grundsatz des gesetzlichen Richters diskutierte Frage, ob in den Fällen des § 3 5 4 II S t P O ein aus der Vorbefassung resultie-
1 Mit der Einführung eines zweiten Rechtszuges in Staatsschutz-Strafsachen (1969) wurde § 354 II 2 StPO geschaffen; hiernach erfolgt bei erstinstanzlich vor dem Oberlandesgericht durchgeführten Verfahren die Zurückverweisung an einen anderen Senat dieses Gerichts. 2 Dahs/Dahs, Revision, Rn 592. Demgegenüber entscheidet im Bußgeldverfahren nach einer Zurückverweisung regelmäßig der Richter, der bereits zuvor mit der Sache befaßt war. Dies läßt ξ 79 VI OWiG abweichend von § 354 II StPO ausdrücklich zu. Nach allgemeiner Ansicht kommt aber auch im Bußgeldverfahren eine (in ξ 79 VI OWiG nicht genannte) Zurückverweisung an eine andere Abteilung des Ausgangsgerichts in Betracht; vgl. BayObLG, JR 1970, 353 mit Anm. Göhler; OLG Frankfurt/M., VRS 57 (1979), 206f.; Göhler, OWiG, Rn 48; KK/OWiG-Steindorf, Rn 161 jeweils zu § 79. 3 Arzt, Strafrichter, S. 81; Hamm, Gesetzlicher Richter, S. 174 f.; KK-Kuckein, ξ 354 Rn 29; Peters, Strafprozeß, § 75 V 3b aa ( = S. 664); Ranft, Strafprozeßrecht, Rn 2230; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 53 Rn 63; Schünemann, JA 1982, 130; s. auch bereits C. Seibert, JZ 1958, 608 f. 4 Hanack, NJW 1967, 580f.; AK/StPO-Maiwald, Rn 19; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 39 (m.w.N.) jeweils zu § 354; Rieß, JR 1980, 388; s. zu den Gründen hierfür auch H. Benz, MDR 1976, 805. In entgegengesetzter Richtung kritisch zur völligen Abschaffung der Möglichkeit einer Verweisung an den mit dem Fall vertrauten iudex a quo Sarstedt, FS Dreher (1977), S. 694.
25. Kapitel: Das Ermessen der Revisionsgerichte
761
render Ausschließungs- o d e r Ablehnungsgrund anzuerkennen ist, 5 w u r d e bereits o b e n 6 a n g e s p r o c h e n . Im vorliegenden Z u s a m m e n h a n g interessiert diese N o r m hingegen unter d e m Blickwinkel der „ b e w e g l i c h e n " Zuständigkeit. 7 U n g e a c h t e t der H e r a u s n a h m e des iudex a quo aus d e m Kreis der potentiellen Z u r ü c k v e r w e i s u n g s a d r e s s a t e n bleibt zu konstatieren, daß das G e s e t z die Festlegung, welches Gericht zur erneuten Verhandlung berufen ist, nicht selbst trifft, sondern in das pflichtgemäße E r m e s s e n des Revisionsgerichts 8 stellt. O b eine derartige „uneingeschränkte W a h l m ö g l i c h k e i t " 9 des Revisionsgerichts mit d e m Verfassungsprinzip des gesetzlichen Richters in Einklang steht, ist durchaus zweifelhaft. Freilich entsprechen die Mehrheitsverhältnisse jenen zu den bislang u n t e r s u c h t e n F o r m e n der „ b e w e g l i c h e n " Zuständigkeit. H i e r wie dort n i m m t die überwiegende Auffassung 1 0 - w i e d e r u m gestützt auf eine Entscheidung des BVerfG - 1 1 die Verfassungsmäßigkeit der betreffenden Regelung an, und die kritischen S t i m m e n 1 2 haben sich nicht durchsetzen können. D e n n o c h wird eine nähere B e t r a c h t u n g hierdurch nicht entbehrlich, zumal auch die im vorliegenden K o n t e x t einschlägige verfassungsgerichtliche Leitentscheidung m e h r als 3 0 J a h r e zurückliegt und hinsichtlich der sonstigen „Beweglichkeitsklauseln" teilweise eine strengere Beurteilung g e b o t e n erscheint, als sie der herrschenden Auffassung entspricht.
5 So insbesondere Hannover, StV 1985, 493 ff.; a.A. BVerfG, DRiZ 1968, 141; Dierlamm, Ausschließung, Rn 251 ff. (310). 6 Vgl. zum Streitstand oben 8. Kap. III. 4b (Fn 168). 7 Zur Einbindung in diesen Kontext vgl. Dierlamm, Ausschließung, Rn 61 ff.; LR-AC. Schäfer, § 16 GVG Rn 7 f. » OLG München,JR 1978, 301 (302); H. Benz, MDR 1976, 805; Dierlamm, Ausschließung, Rn 59, 373; AK/StPO-Maiwald, Rn 20, 23; KMR-Paulus, Rn 45, 49 jeweils zu § 354; C. Seibert, NJW 1968, 1317; allgemeiner von „Ermessen(sspielraum)" sprechend BVerfGE 20, 336 (342); BGH, MDR (bei Holtz) 1977, 810 (811); LR-Hanack, Rn 61, 63; KK-Kuckem, Rn 27, 39; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 40, 42; Pfeiffer, StPO, Rn 12 f. jeweils zu § 354; LR-K. Schäfer, ξ 16 GVG Rn 7. 9 So - im Anschluß an H. Benz, MDR 1976, 805 - OLG München, JR 1978, 301, 302; s. auch Degenhardt, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts III, § 75 Rn 20 („echtes Wahlrecht"); Gerleit, Gesetzlicher Richter, S. 133 („Auswahlfreiheit") und Kleinknecht, J Z 1965, 161 („Wahl"). 10 Degenhardt, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts III, § 75 Rn 20; ders., in: Sachs, GG, An. 101 Rn 11; Dierlamm, Ausschließung, Rn 61 ff.; Gerleit, Gesetzlicher Richter, S. 132 f.; Leibholz/Rinck/Hesselberger, GG, Art. 101 Anm. 4 ( = S. 839f.); Niemöller/Schuppert, AöR 107 (1982), 418; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 101 Rn 7; LR-/C. Schäfer, § 16 GVG Rn 10a; Eh. Schmidt, Lehrkommentar (Nachtragsband I), ö 3 5 3 - 3 5 5 Rn 24; Schorn, Schutz, S. 51 f.; C. Seibert, J Z 1959, 120f. sowie LR-Hanack, Rn 61; KK-Kuckein, Rn 37; AK/StPO-Maiwald, Rn 20; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 40; KMR-Pa«/«i, Rn 45; HK-Temming, Rn 14 jeweils zu § 354. η BVerfGE 20, 336 ff. 12 Gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 354 II StPO insbesondere Bettermann, J Z 1959, 17; ders., in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Grundrechte III/2, S. 569 f.; ders., AöR 94 (1969), 298 ff.; ders., Juristische Blätter 1972, 59; Hamann, in: Hamann/Lenz, GG, Art. 101 Anm. Β 2c; ]. Henkel, Gesetzlicher Richter, S. 57ff.; Marx, Gesetzlicher Richter, S. 99 f.; 1. Müller, Rechtsstaat, S. 133 f.; KMR-Sax, Einl. III Rn 12.ff. (Vereinbarkeit mit 101 I 2 GG ist „höchst zweifelhaft"); kritisch auch Kramer, J Z 1977, 13; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GGK, Rn 28 Stichwort „Bewegliche Zuständigkeiten" ( = S. 771 f.); Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Rn 35; Roth, Gesetzlicher Richter, S. 154 ff.; AK/GG-Wassermann, Rn 15 jeweils zu Art. 101; SK/StPO-Paejfgen, § 2 1 0 Rn 13.
762
Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
Die Prüfstrecke ist hierbei in zwei Etappen zu absolvieren: 13 Zunächst ist die Grundfrage zu klären, ob eine ermessensabhängige Alternative zwischen der Zurückverweisung an einen anderen Spruchkörper des Ausgangsgerichts und der Weiterverweisung an ein anderes Gericht überhaupt mit Art. 101 I 2 GG zu vereinbaren ist. Der zweite Teilschritt betrifft die Frage des Auswahlermessens bezüglich des „anderen" Gerichts, dem der Fall zur erneuten Verhandlung zugewiesen wird. Schließlich ist - nach einer näheren Betrachtung der §§ 354 III, 355 StPO - ein Blick auf die in dogmatischer Hinsicht vergleichbare Konstellation des § 210 III StPO zu werfen, der dem Beschwerdegericht die Möglichkeit eröffnet, entweder einen anderen Spruchkörper des von der Staatsanwaltschaft angegangenen Eingangsgerichts oder ein zu demselben Land gehörendes benachbartes Gericht gleicher Ordnung als für die Durchführung der Hauptverhandlung zuständig zu bestimmen.
I.
Die Entscheidungsalternative zwischen der Zurückverweisung an das Ausgangsgericht und der Weiterverweisung an ein anderes Gericht
1.
Allgemeine Argumentationsansätze
Zur Begründung des Entscheidungsspielraums, den das Gesetz dem Revisionsgericht hinsichtlich der Zurückverweisung einräumt, werden teilweise allgemeine Argumente herangezogen, die auch schon in anderen Problemzusammenhängen eine Rolle gespielt haben. Dies gibt Gelegenheit, diese gängigen, für eine überzeugende Fundierung von Einzelregelungen jedoch ungeeigneten Argumentationsmuster noch einmal schlaglichtartig aufzugreifen. Als ein solcher Ansatz erscheint insbesondere der Rückgriff auf die Formel von der „möglichst eindeutigen" Festlegung der gerichtlichen Zuständigkeit. 14 Das Merkmal „möglichst" wird hierbei als „deutliche Einschränkung der geforderten Normativität" gedeutet, das als „Einfallstor" diene, um dem für rechtsstaatliche Prinzipien typischen Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit Rechnung zu tragen. Diesbezüglich stehe dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber der Vorrang bei der Verfassungskonkretisierung vor. Zudem schließe Art. 101 I 2 GG nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG, das insbesondere § 354 II StPO für verfassungsgemäß erklärt hat, eine „begrenzte Auswahlmöglichkeit" selbst dann nicht aus, wenn auch eine weniger Freiheit lassende Regelung denkbar wäre. 15 Ein so allgemeiner Rechtfertigungsversuch nivelliert das Prinzip des gesetzlichen Richters auf das Maß des gesetzgeberischen Wollens. Hierbei droht die Erkenntnis, daß der Gesetzgeber seinerseits an das in Art. 101 I 2 GG verankerte Bestimmtheitsgebot gebunden ist, sich buchstäblich in nichts aufzulösen.16 Die Unvermeidbarkeit oder Hinnehmbarkeit u Vgl. zur nachfolgenden Unterscheidung Bettermann, J Z 1959, 17; Marx, Gesetzlicher Richter, S. 99f.; s. auch OLG Celle, JR 1980, 384 (385). 14 Vgl. zum Folgenden Dierlamm, Ausschließung, Rn 64. 15 Dierlamm a.a.O. (unter Hinweis auf BVerfGE 25, 336). 16 Aus diesem Grunde ist auch die positivistische Argumentation abzulehnen, wonach das „andere"
25. Kapitel: Das Ermessen der Revisionsgerichte
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von Einschränkungen des Bestimmtheitsideals in einzelnen, gesondert zu begründenden Konstellationen gestattet nicht die Konstruktion eines allgemeinen „Einfallstores", durch das unter unspezifischer Berufung auf den Widerstreit von Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit der Gesetzgeber die ihm obliegenden Bindungen nahezu beliebig relativieren könnte. 17 Der Billigung durch das BVerfG kommt zwar in rechtstatsächlicher Hinsicht ein herausgehobener Stellenwert zu, doch bietet auch sie keinen Ersatz für eine inhaltlich überzeugende Begründung. Ebensowenig überzeugt die Annahme, bei der generellen Vereinbarkeit einer Zuständigkeitsnorm mit Art. 101 I 2 G G werde den Belangen einer rechtsstaatlichen Justiz hinreichend dadurch Rechnung getragen, daß bei der Rechtsanwendung im Einzelfall Verstöße gegen diese Verfassungsnorm denkbar seien. 18 Auch diese Argumentation verkennt von den praktischen Schwierigkeiten, solche Verfassungsverstöße im Einzelfall geltend machen zu können, ganz abgesehen - 1 9 das Wesen des Art. 101 I 2 G G als bereichsspezifischem Bestimmtheitsgrundsatz, indem in zirkelhafter Weise die Einräumung von Ermessen mit dem Verbot des Ermessensmißbrauchs gerechtfertigt wird. 20 Auch der Hinweis, daß hier die Zuständigkeitsbestimmung der Gerichtsbarkeit selbst zugewiesen ist, 21 reicht zur Begründung der Verfassungsmäßigkeit des § 354 II, III StPO nicht aus. Richtig ist zwar, daß die Einräumung eines Ermessensspielraums an eine politisch abhängige Exekutivbehörde den Anforderungen des Art. 101 I 2 G G grundsätzlich 22 nicht entspricht, doch kann hieraus nicht im Gegenschluß die Unbedenklichkeit einer Wahlmöglichkeit gefolgert werden, sofern sie nur in die Hand unabhängiger Richter gelegt ist. 23 Vielmehr belegt die Pflicht zur gerichts- und spruchkörperinternen Geschäftsverteilung, daß das aus Art. 101 I 2 G G resultierende Bestimmtheitsgebot auch innerhalb der Dritten Gewalt gilt. Dementsprechend stellt die mangelnde Festlegung der Zurückverweisungszuständigkeit im Geschäftsverteilungsplan einen Verstoß gegen Art. 101 I 2 G G dar, ohne daß der Mangel einer transparenten generellen Regelung durch eine möglicherweise gleichmäßige und vernünftige Handhabung der Zuweisung Gericht als der gesetzliche Richter anzusehen sei, weil die Verfahrensordnung für Rückverweisungsfälle eben die Befassung eines anderen Gerichts mit der Sache anordne (so aber H. Müller, NJW 1961, 104). 17 Vgl. allgemein zur Auslegung des Merkmals „möglichst eindeutig" oben 8. Kap. III.5 (zu Fn 185ff.); 12. Kap. I. l a (zu Fn 22ff.); 16. Kap. 1.2 (zu Fn 27) sowie (allgemein zur beweglichen Zuständigkeit) 18. Kap. II. ls So aber Dierlamm, Ausschließung, Rn 66. 19 Vgl. hierzu unten 2. (zu Fn 45ff.). 20 Vgl. (zu §§ 7ff. StPO) Achenbach, FS Wassermann (1985), S. 855 sowie oben 21. Kap. I (zu Fn 15). 21 Hierauf stellen maßgeblich ab Degenhardt, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts III, S 75 Rn 20; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, G G , Art. 101 Rn 7; Schorn, Schutz, S. 51 f. 22 Z u r Ausnahme bezüglich der örtlichen Zuständigkeit vgl. oben 21. Kap. 21 Bettermann, AöR 94 (1969), 3 0 1 ; / . Henkel, Gesetzlicher Richter, S. 61 ff.; Maunz, in: M a u n z / Dürig, G G , Art. 101 Rn 35. Vgl. auch (bezüglich der Vorlagepflicht) Ch. Meyer, Einheitlichkeit, S. 117: „Die richterliche Unabhängigkeit ... allein kann Ermessenseinräumung nicht legitimieren, sondern nur deren erste Voraussetzung darstellen." Auch nach Ansicht des BVerfG (E 25, 3 3 6 [346]; ohne Hervorhebung im Original) ist eine „begrenzte Auswahlmöglichkeit, wenn sie in der Hand eines unabhängigen Richters liegt, eher mit Art. 101 I 2 G G vereinbar, als wenn sie z.B. der Staatsanwaltschaft oder sonstigen außergerichtlichen Instanzen' eingeräumt ist" (s. auch a.a.O. S. 348: „Auch einem unabhängigen Organ der Rechtspflege darf bei der Bestellung des für den Einzelfall zuständigen Richters kein beliebig weiter Ermessensspielraum eingeräumt sein.").
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
zurückverwiesener Sachen entkräftet werden könnte. 24 Selbstverständlich werden die aus Art. 101 I 2 GG folgenden Bindungen auch nicht deshalb außer Kraft gesetzt, weil das Urteil des zuständigen Gerichts aufgehoben wird. 25 Dem Angeklagten kann nicht deshalb eine Verurteilung durch einen „ungesetzlichen" Richter zugemutet werden, weil das zunächst zur Entscheidung berufene Gericht fehlerhaft agiert hatte; vielmehr muß die Rechtsordnung (ebenso wie z.B. in den Fällen der Verhinderung) Vorsorge dafür treffen, daß auch in einer solchen Situation eine dem Art. 101 I 2 GG entsprechende Zuständigkeitsregelung besteht. Der Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Beurteilung läßt sich hiernach folgendermaßen umreißen: Das dem Art. 101 I 2 GG zu entnehmende Gebot einer rechtssatzmäßigen und möglichst lückenlosen Zuständigkeitsregelung umschließt das ebenfalls an den Gesetzgeber gerichtete grundsätzliche Verbot, Exekutiv- oder Judikativorgane zu ermächtigen, die normativ festgelegte Zuständigkeit im Einzelfall zu durchbrechen. 26 Die Vorschrift des § 354 II, III StPO eröffnet dem Revisionsgericht eine einzelfallbezogene ad-hoc-Zuweisung und steht somit in deutlichem Gegensatz zum Grundanliegen des Prinzips des gesetzlichen Richters. 27 Die hierin zutage tretenden Abstriche vom Verfassungspostulat der normativen Vorausbestimmung lassen sich nicht mittels allgemeiner Erwägungen rechtfertigen; 28 allenfalls können die gesetzliche Normierung und die den Richtern vorbehaltene Ermessensausübung als periphere Begleitfaktoren wirken. Im Mittelpunkt der Legitimierungsbemühungen muß jedoch eine konkret auf die vorliegende Verfahrenskonstellation zugeschnittene Betrachtung stehen.
2.
Die These von der „Steuerungsaufgabe der Revisionsgerichte"
Einen solchen auf die Stellung und Funktion der Revisionsgerichte rekurrierenden Begründungsansatz hat insbesondere das BVerfG29 gewählt. Hiernach ist das Revisionsgericht der Tatsacheninstanz übergeordnet und „gemäß seiner Stellung in der Gerichtshierarchie dazu berufen, die Entscheidungen der unteren Gerichte auf Rechtsfehler zu überprüfen und dem Tatrichter bindende Rechtsanweisungen zu geben mit dem Ziel, die * OLG Karlsruhe j u s t i z 1980, 339 f. (340); s. auch BGH, NJW 1975, 743; OLG München, JR 1978, 301 (302) mit Anm. Rieß; AK/StPO-Maiwald, Rn 21; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 38; KMRPaulus, Rn 44 jeweils zu § 354. Hierbei ist auch eine abstrakte Regelung für den Fall der zweifachen Zurückverweisung geboten; vgl. BGH, NStZ 1981. 489; NStZ (bei Pfeiffer/Miebach) 1985, 204; OLG Schleswig, SchlHA 1975, 165; 1988 (bei Lorenzen/Görl), 117 f. Gegen eine Pflicht der Präsidien zur Einrichtung von Auffangspruchkörpern jedoch Helle, DRiZ 1974, 228 f. 25 Vgl. zu dieser Überlegung (freilich ohne Bezug auf das Prinzip des gesetzlichen Richters) Reichensperger, in: Hahn, Materialien zur StPO Bd. I, S. 1048. 16 Bettermann,JZ 1959, 17. 27 ]. Henkel, Gesetzlicher Richter, S. 58. 28 Unzulänglich wäre gleichfalls das Argument, der Gesetzgeber des Grundgesetzes habe die Ermessensvorschrift des § 354 StPO vorgefunden und deshalb bei der Schaffung des Art. 101 I 2 GG gebilligt; vgl. insoweit (bezüglich § 24 I Nr. 3 GVG) oben 18. Kap. II.2. Erst recht zur Legitimierung des Wahlrechts ungeeignet ist der auf einen Einzelfall bezogene Hinweis, daß alle an dem betreffenden Verfahren Beteiligte mit der in concreto vorgenommenen Weiterverweisung zufrieden gewesen seien (vgl. C. Seibert,}Z 1959, 121; ders., NJW 1968, 1317f.). 29 BVerfG Ε 20, 336 ff.
25. Kapitel: Das Ermessen der Revisionsgerichte
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nach menschlichem Ermessen gerechteste Endentscheidung herbeizuführen". 3 0 Z u r Erreichung dieses Zieles könne es „aus den mannigfachsten Gründen" geboten sein, ein anderes Gericht gleicher Ordnung mit der Sache zu befassen als jenes, dessen Entscheidung aufgehoben worden ist. In diesem Zusammenhang verweist das BVerfG auf die bei der ursprünglichen Einführung einer dem § 3 5 4 II StPO entsprechenden Bestimmung geäußerte Befürchtung, daß die Richter nicht immer imstande oder geneigt sein könnten, sich auf den ihnen vom obersten Gerichtshof angewiesenen Standpunkt zu versetzen. Ferner könne es wegen des möglichen Anscheins einer Voreingenommenheit des Vordergerichts sowie eines am ursprünglichen Gerichtsort bestehenden öffentlichen Drucks geraten erscheinen, die erneute Verhandlung und Entscheidung nicht dem bisherigen Gericht zu überlassen. Nach Ansicht des BVerfG 3 1 entspricht es deshalb der dem Revisionsgericht obliegenden „Steuerungsaufgabe, wenn ihm das Gesetz die Befugnis einräumt, unter mehreren Gerichten dasjenige auszuwählen, das die größte G e w ä h r für eine sorgfältige Beachtung der obergerichtlichen Rechtsauffassung bietet". Die Befugnis zur Zuständigkeitsbestimmung stellt sich hiernach als ein Mittel zur Durchsetzung der revisionsgerichtlichen Rechtsauffassung dar. Da die gegen eine Zurückverweisung an das erstentscheidende Gericht bestehenden Bedenken gegebenenfalls („z.B. im Fall besonderer ,örtlicher Verflechtung'") 3 2 auch gegen ein anderes Gericht des Landes berechtigt erscheinen könnten, sieht das BVerfG eine normative Festlegung des „anderen" Gerichts als mit dem Sinn der Regelung nicht vereinbar an; vielmehr müsse das Revisionsgericht „im Interesse und zur Herbeiführung einer gerechten Entscheidung einen größeren Spielraum haben". Diese Konzeption wirkt allerdings eher wie die Beschreibung der bestehenden Gesetzeslage, als daß hierin eine kritische Prüfung am Maßstab des Art. 101 I 2 G G gesehen werden könnte. 3 3 O b die Einräumung einer Wahl zwischen mehreren Gerichten wirklich „angesichts des Wesens der Revision im deutschen Recht als sachgerecht anzuerkennen ist", 3 4 erscheint schon deshalb zweifelhaft, weil in den übrigen Gerichtszweigen der revisionsgerichtliche Spielraum bei der Zurückverweisung ungleich kleiner ist 3 5 und insbesondere keine Durchbrechung der für den betreffenden Fall geltenden Zuständig-
A.a.O. S. 345 (ebd. das nachfolgende Zitat). A.a.O. S. 345 f. 32 Ebd. (dort auch das nachfolgend wiedergegebene Zitat). 33 Ebenso Maunz, in: Maunz/Diirig, GG, Art. 101 Rn 35. 34 BVerfGE 20, 336 (346). Ähnlich auch Degenhardt, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts III, § 75 Rn 20. 35 Im Zivilprozeßrecht erfolgt regelmäßig die Zurückverweisung an den OLG-Senat, der das aufgehobene Urteil erlassen hat. Daneben gestattet § 565 I 2 ZPO (s. auch § 72 V ArbGG) nach dem Ermessen des Revisionsgerichts die Zurückverweisung an einen anderen Senat des Berufungsgerichts. Diese Vorschrift wird im verwaltungsgerichtlichen Verfahren entsprechend angewendet. Ausnahmslos unzulässig ist die Zurückverweisung an ein bislang noch nicht mit der Sache befaßtes Gericht. Vgl. Stein/Jonas/Grunsky, § 565 Rn 2 ff.; Kopp/Schenke, VwGO, § 144 Rn 9 sowie - mit Bezug auf § 354 II StPO - Bettermann, AöR 94 (1969), 299 f. Diese abweichenden Regelungen schließen ein weitergehendes Ermessen im Strafprozeß nicht schlechthin aus, doch kann § 354 II StPO in seiner konkreten Gestalt nicht als dem Wesen der Revision immanente Regelung angesehen werden. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, daß auch im Strafprozeß eine analoge Anwendung des § 354 II StPO zugunsten des Berufungsgerichts (selbst bezüglich einer Verweisung an einen anderen Spruchkörper des Ausgangsgerichts) allgemein abgelehnt wird; vgl. OLG Celle, J R 1980, 384 (385) mit Anm. Rieß (a.a.O. S. 386ff.). 30 31
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
keitsregelungen gestattet. 3 6 Auch die Ableitung einer „Steuerungsaufgabe" der Revisionsgerichte 3 7 aus der ihnen zugewiesenen Kontrollfunktion begegnet Bedenken. In Verbindung mit dem Gedanken der Gerichtshierarchie wird das Revisionsgericht zu einer Institution, die mit höchster Verantwortung und Machtfülle ausgestattet sein und alle Fäden in der Hand halten muß, um der Gerechtigkeit zum Siege zu verhelfen. Eine hiervon durchaus abweichende Akzentuierung ergibt sich, wenn man die Sichtweise von der institutionellen Überlegenheit durch das Modell der normativen Verantwortungsteilung zwischen Tat- und Revisionsgerichten ersetzt. So hat gerade auch das BVerfG in den letzten Jahren die Beachtung der den Revisionsgerichten gezogenen Schranken stärker hervorgehoben. 3 8 Zwar geschah dies auf der Grundlage der einfachgesetzlichen N o r m e n lage (§ 3 5 4 I S t P O ) , doch strahlt die allgemeine Perspektive auch auf die Frage aus, inwieweit der Gesetzgeber das Bestimmtheitsgebot des Art. 101 I 2 G G zugunsten der Revisionsgerichte lockern darf. 3 9 Grundsätzlich übt das Revisionsgericht die ihm aus seiner kontrollierenden Stellung erwachsende „Steuerungsfunktion" allein dadurch aus, daß das neu entscheidende Gericht gemäß § 3 5 8 I S t P O an die der Urteilsaufhebung zugrunde liegende Rechtsauffassung gebunden ist. 4 0 Warum es zusätzlich einer weitergehenden Einflußmöglichkeit durch die Auswahl des nachfolgend entscheidenden Gerichts bedürfen soll, versteht sich keineswegs von selbst. Bei der „Steuerungsaufgabe" der Revisionsgerichte handelt es sich um eine autoritätsgeprägte Vorstellung, die eine gewisse Entsprechung im (gleichfalls problematischen) Bild vom „richtunggebenden Einfluß" des Vorsitzenden im Spruchkörper findet. 4 1 Als gemeinsamer Nenner dieser Modelle erscheint die Grundüberzeugung, daß innerhalb der Justiz ein Mißbrauch von M a c h t nicht ernsthaft zu befürchten sei; 4 2 demzufolge verdienten die in diesem System Tätigen grundsätzlich Vertrauen, und jene Hemmnisse, die ihnen die Ausübung ihrer verantwortungsvollen Tätigkeit erschweren, sind möglichst gering zu halten. Allerdings hat die Überzeugungskraft dieses Grundvertrauens nachgelassen. Der Grund für diese Entwicklung liegt nicht darin, daß vermehrt richterliche M a 36 So läßt sich § 9 5 II B V e r f G G (freilich entgegen der Handhabung durch das BVerfG) interpretieren; vgl. Bettermann, A ö R 9 4 ( 1 9 6 9 ) , 3 0 2 f . ; s. auch Scbmidt/Bleibtreu, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/ Klein/Ulsamer, B V e r f G G , § 9 5 Rn 2 8 ; Rennert, in: U m b a c h / C l e m e n s , B V e r f G G , § 9 5 Rn 5 6 . Die Parallele zu dieser Vorschrift versucht C. Seibert ( J Z 1 9 5 9 , 1 2 0 ) für § 3 5 4 II StPO fruchtbar zu machen. Allerdings begegnet auch S 9 5 II B V e r f G G im Hinblick auf Art. 1 0 1 I 2 G G verfassungsrechtlichen Bedenken; vgl. J. Henkel, Gesetzlicher Richter, S. 5 9 ff.; Kunig, in: v. M ü n c h / K u n i g , G G K , Rn 2 8 (Stichwort „Bewegliche Zuständigkeiten" [a.E].); Maunz, in: Maunz/Dürig, G G , Rn 3 5 jeweils zu Art. 101. " Diese Konzeption übernehmend B G H , M D R (bei Holtz) 1 9 7 7 , 8 1 0 ( 8 1 1 ) ; KK-Kuckein, § 354 Rn 2 7 . 18 Vgl. hierzu oben 2 4 . Kap. II.2. 19 S. zu den Schranken der revisionsgerichtlichen „Steuerungsaufgabe" auch J. Henkel, Gesetzlicher Richter, S. 5 8 (Fn 2 ) . 40 KMR-&IX, Ein. III Rn 1 4 ; s. auch Bettermann, A ö R 9 4 ( 1 9 6 9 ) , 2 9 9 . Dieser Z u s a m m e n h a n g wurde bereits bei den Beratungen zur S t P O hervorgehoben (vgl. Hanauer, in: Hahn, Materialien zur S t P O Bd. I, S. 1 0 4 7 f.; s. aber auch Bähr a.a.O. S. 1 0 4 8 und Rieß, J R 1 9 8 0 , 3 8 7 ) . 41 Vgl. hierzu oben 15. Kap. 1.1. 42 Vgl. C. Seibert, M D R 1 9 5 4 , 7 2 2 . Nach Ansicht von H. Benz ( M D R 1 9 7 6 , 8 0 6 f . ) ist eine Änderung des § 3 5 4 II StPO nicht erforderlich, da die Revisionsgerichte („soweit erkennbar und von Ausnahmefällen abgesehen" [!]) von ihrem Ermessen bislang einen sachgerechten Gebrauch gemacht haben.
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nipulationen und Willkürakte aufgedeckt worden wären, sondern der Anschauungswandel beruht auf einer veränderten allgemeinen Sichtweise. Z u m einen ist das Gespür für die Wahrnehmung auch subtiler Steuerungsmöglichkeiten gewachsen; zum anderen wird das Prinzip des gesetzlichen Richters heute stärker in einem strengen Sinne aufgefaßt, um hinsichtlich der Manipulationsvermeidung nicht von der Lauterkeit der einzelnen Amtsträger abhängig zu sein. Auf dem Boden dieser kritischeren Grundhaltung verlieren die überkommenen Gestaltungsräume ihre Selbstverständlichkeit. Die Feststellung, „daß sich die Vorstellungen von den Anforderungen an den gesetzlichen Richter im Laufe der Zeit allmählich verfeinert haben", 4 3 wurde zwar aus einem punktuellen Anlaß (der Problematik der spruchkörperinternen Geschäftsverteilung) getroffen, doch gehen von dieser Aussage Impulse aus, die konsequenterweise auch andere vermeintliche Gewißheiten in Frage stellen. Es kann auch nicht unberücksichtigt bleiben, daß der Schutzmechanismus einer einzelfallbezogenen Ermessensüberprüfung 4 4 praktisch ins Leere geht. Nach einhelliger Ansicht 45 ist das Revisionsgericht nicht verpflichtet, die Gründe für seine Ermessensentscheidung mitzuteilen, und regelmäßig werden die Beweggründe im Revisionsurteil weder ausdrücklich genannt noch auch nur angedeutet. 4 6 Es ist durchaus nachvollziehbar, daß das Revisionsgericht aus kollegialer Rücksichtnahme von Mutmaßungen absieht, die das Vordergericht als kränkende Unterstellung empfinden könnte, und diese Zurückhaltung steht auch in Übereinstimmung mit der Vorgabe, daß mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbare letztinstanzliche gerichtliche Entscheidungen von Verfassungs wegen grundsätzlich keiner Begründung bedürfen. 4 7 Dennoch ist nicht zu verkennen, daß es an einem geeigneten Substrat für die Prüfung einer sachgerechten Ermessensausübung fehlt, wenn sich das Revisionsgericht auf formelhafte Wendungen beschränkt wie jene, daß „(d)er Senat ... es für angezeigt (hielt), von der Möglichkeit des § 354 II 2 StPO [a.F.; C.S.] Gebrauch zu machen", oder daß „(d)ie Zurückverweisung an ein mit der Sache noch nicht befaßtes Gericht ... angemessen (erschien)". 4 8 Angesichts dieser Ausgangslage kann es nicht verwundern, daß auch das BVerfG 49 („natürlich") 5 0 keinerlei Anhaltspunkte für eine auf sachfremden Erwägungen beruhende Weiterverweisung gesehen hat.
« BVerfG(Plenum)E 95, 322 (333); s. auch B G H ( V G S ) Z 126, 63 (85). S. hierzu auch oben 14. Kap. III.2. 44 Auf das Erfordernis sachlicher Erwägungen bei der Ermessensausübung wird abgestellt von KKKuckein, Rn 37; KMR-Paulus, Rn 45 jeweils zu § 354. 45 Dahs/Dahs, Revision, Rn 592; LR-Hanack, Rn 61; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 40 jeweils zu § 354; Kleinknecbt, J Z 1965, 161; Eb. Schmidt, Lehrkommentar (Nachtragsband I), §§ 353-355 Rn 27; s. auch BVerfGE 20, 336 (343). Zwar steht diese Auffassung in Übereinstimmung mit der Vorgabe, daß mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbare letztinstanzliche gerichtliche Entscheidungen von Verfassungs wegen grundsätzlich keiner Begründung bedürfen (vgl. BVerfG [1. Kammer des Ersten Senats], NJW 1998, 3484f. [m.w.N.]), doch ändert dies nichts daran, daß hierdurch die mit einer Begründungspflicht verbundene Eigenkontrolle wegfällt und eine (verfassungsgerichtliche) Fremdkontrolle nachhaltig erschwert wird. C. Seibert, MDR 1954, 721; ders., NJW 1968, 1317; s. auch BVerfGE 20, 336 (343). 47 Vgl. BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), NJW 1998, 3484f. (m.w.N.). 48 Vgl. C. Seibert, MDR 1954, 721. 4 * BVerfGE 20, 336 (346f.). ™ Bettermann, AöR 94 (1969), 301.
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
In Wahrheit handelt es sich allerdings nicht allein um ein Beweisproblem; vielmehr bleiben bei der T h e s e von der revisionsgerichtlichen „Steuerungsaufgabe" auch die Beurteilungsmaßstäbe im dunkeln. Im Verfahren vor dem BVerfG hatten die Beschwerdeführer vorgetragen, das Revisionsgericht habe mit der Zurückverweisung an das betreffende Gericht die Zubilligung einer Bewährungsfrist ausschließen wollen bzw. die Auswahl sei deshalb erfolgt, weil jenes Gericht in Staatsschutzsachen einen harten Standpunkt vertrete. Selbst wenn man unterstellt, daß diese Motive für die revisionsgerichtliche Entscheidung (nachweisbar) ausschlaggebend waren, bleibt die rechtliche Bewertung unklar. Das BVerfG scheint auch bei einer solchen Sachlage keinen Fall der Willkür annehmen zu wollen. 5 1 Wenn aber das Auswahlermessen bei der Zurückverweisung legitimerweise dazu verwandt werden dürfte, ganz allgemein eine besonders strenge Bestrafung des Angeklagten durchzusetzen, so verwischen die Konturen der Verantwortungsteilung zwischen Tat- und Revisionsgericht, nach welcher letzterem lediglich eine Prüfung der Strafzumessung auf mögliche Rechtsfehler zugewiesen ist. 5 2 Deshalb wird man das gezielte Heraussuchen eines Gerichts, das notorisch strenger (und deshalb nach revisionsgerichtlicher Einschätzung im konkreten Einzelfall angemessen) urteilt, als illegitim ansehen müssen. 5 3 Unter diesem Blickwinkel erschließt sich zugleich die mit der Ermessenseinräumung verbundene Gefahrenlage. So läßt sich nicht ausschließen, daß solche Überlegungen im Einzelfall eine Rolle spielen können (oder der Angeklagte zumindest einen entsprechenden Argwohn hegen kann). Vor allem wäre es eine das Problem verkürzende Betrachtungsweise, allein danach zu fragen, wie wahrscheinlich es ist, daß die Wahl des Zurückverweisungsadressaten ausschließlich nach der Zielstellung erfolgt, dem Angeklagten „am Zeuge zu flicken". Vielmehr ist davon auszugehen, daß die Frage, w o ein Fall für den zweiten Durchgang am besten aufgehoben ist, komplexer Natur ist; in dem zur Entscheidung führenden Motivbündel mag (sei es auch nur unterschwellig) auch die Erwägung, o b von dem neuen Tatrichter eine aus Sicht des Revisionsgerichts „gerechte" Strafe zu erwarten ist, zum Tragen kommen. Das Problem sind - wie allgemein bei der „beweglichen
51 Das BVerfG (E 20, 336 [346f.]) hält das Vorbringen der Beschwerdeführer nicht etwa deshalb für irrelevant, weil es sich insoweit um bloße Behauptungen handele. Vielmehr führt es a.a.O. aus: „Beide Revisionsgerichte hatten aufgrund des bisherigen Prozeßverlaufs offensichtlich die Befürchtung, es falle dem Vordergericht schwer, sich die rechtliche Beurteilung, die zur Aufhebung des tatrichterlichen Urteils führte, voll zu eigen zu machen. Wenn die Revisionsgerichte die Sache deshalb an ein Gericht verwiesen haben, von dem sie annahmen, daß es der revisionsrichterlichen Rechtsauffassung folgen werde, so haben sie damit nicht etwa willkürlich, sondern nur im Sinne ihrer Aufgabe gehandelt." Das liest sich so, daß sich die revisionsgerichtliche Entscheidung aus sich selbst heraus begründet („offensichtlich") und es keiner konkreten Anhaltspunkte für eine zu besorgende Uneinsichtigkeit des Vordergerichts bedarf. Darüber hinaus läßt sich die zitierte Passage aus revisionsgerichtlicher Sicht auch so deuten, daß sich das mit der Sache befaßte Gericht die Auffassung des Revisionsgerichts nur dann „voll" zu eigen macht, wenn es den Fall allgemein mit der „gebotenen Strenge" betrachtet.
Vgl. zu den Grenzen der Revisibilität der Strafzumessung LR-Hanack, ξ 337 Rn 194 ff. " In diesem Sinne auch J. Henke!, Gesetzlicher Richter, S. 59 (Fortsetzung zu S. 58 Fn 2); KMRSax, Einl. III Rn 14; s. ferner C. Seibert, NJW 1963, 431 f. Vgl. auch Marcelli, NStZ 1986, 60: „Es ist ... kein verfassungsrechtlich zulässiger Grund, mehr durchsetzen zu wollen, als entschieden werden darf. Auch wenn eine solche Möglichkeit nach dem Wortlaut des Gesetzes gegeben ist, gebietet die verfassungskonforme Anwendung des Gesetzes, von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch zu machen." 52
25. Kapitel: Das Ermessen der Revisionsgerichte
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Zuständigkeit" - 5 4 nicht allein (und wohl auch nicht vordringlich) die „böswilligen" Angehörigen des Justizstabes, die zur bewußten Manipulation entschlossen sind und denen man ihre unlautere Motivation nicht nachweisen kann, sondern im Vordergrund steht die Herausbildung von Grauzonen, in denen sich diffuse Einflußmöglichkeiten ergeben, die das normative Modell der Kompetenzverteilung überlagern und dem verfassungsrechtlichen Leitbild der klar umgrenzten Aufgabenbereiche widerstreiten. Eine weitere Erscheinungsform dieser schwer faßbaren Gemengelage von normativen und informellen Steuerungsformen bilden die dem Tatrichter vom Revisionsgericht bei der Zurückverweisung gegebenen „Hinweise". 5 5 Ein Teilbereich dieses Phänomens läßt sich als „apokryphe Hinweise" 5 6 klassifizieren. Mit diesem Terminus werden Wendungen bezeichnet, die teils halb explizit eine bestimmte Wertung durch das Revisionsgericht unzweifelhaft erkennen lassen, teils vom üblichen Sprachgebrauch der Revisionssenate in charakteristischer und eine bestimmte Bewertungsrichtung andeutender Weise abweichen. Allgemein wird die Hinweispraxis der Strafsenate des B G H dahingehend umschrieben, daß die Revisionsgerichte im Bemühen um die Sicherstellung einer gerechten Entscheidung des Einzelfalles „(g)leichsam unauffällig und ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage ... ein differenziertes System der Kommunikation mit dem Tatrichter ... entwickelt (haben)". 5 7 Es ist zu Recht darauf aufmerksam gemacht worden, daß derartige Hinweise jedenfalls in Teilbereichen die Grenzen der Verantwortung von Tatrichter und Revisionsrichter verwischen und daß sich (auch vor dem Hintergrund eines Anspruchs auf einen „unbefangenen" neuen Tatrichter) durchaus die Frage aufwerfen läßt, „ob es der ,Ordnung des Revisionsverfahrens' immer entspricht, dem neuen Tatrichter, der ja ein anderer zu sein hat als der, dessen Urteil aufgehoben ist, ergebnisorientierte Tendenzen aufzuzeigen". 5 8 Selbst wenn man die Hinweispraxis nicht schlechthin für unzulässig hält, ist doch zumindest zu konstatieren, daß es Versuche einer ergebnissteuernden Einflußnahme seitens der Revisionsgerichte gibt. Daß solche Ratschläge für den Tatrichter nicht im Sinne des § 358 I StPO bindend sind, macht sie nicht wirkungslos. 5 9 Die Annahme, Revisionsgerichte könnten zur Durchsetzung ihrer Gerechtigkeitsvorstellungen in einzelnen Fällen auch darauf Bedacht nehmen, welches Tatgericht Adressat derartiger Empfehlungen ist (oder bei welchem Gericht explizite Hinweise im Hinblick auf eine bekannte Grundhaltung sogar entbehrlich erscheinen), kann wohl kaum als böswillige Unterstellung abgetan werden. 6 0 Vielmehr verschärft sich hierdurch das Problem der revisionsgerichtlichen Hinweise, und es wird zugleich deutlich, daß es bei der Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 354 II StPO nicht allein um die stringente Umsetzung einer abstrakten Doktrin ohne realen Gefahrenhintergrund geht.
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Vgl. oben 18. Kap. II.4. Vgl. hierzu ausführlich Rieß, in: Eben, Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege (1991), S. 117 ff. Rieß a.a.O. S. 137 ff. A.a.O. S. 141. Ebd. Ebenso Rieß a.a.O. S. 142. Vgl. auch die Fallschilderung bei Mauz, Justiz, S. 72 ff (75 f., 81).
770 3.
Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht Z u r F r a g e unabweisbarer Bedürfnisse für die Befassung eines a n d e r e n Gerichts
Angesichts der Tatsache, daß weder die eingangs erörterten allgemeinen Überlegungen noch die Funktion der Revisionsgerichte im Justizsystem eine tragfähige Begründung für die Zubilligung eines Ermessensspielraums bei der Zurückverweisung bieten, bleibt als möglicher Ansatzpunkt für eine verfassungsrechtliche Fundierung zu untersuchen, o b sich in der konkreten Verfahrenssituation Gründe finden lassen, die eine entsprechende Wahlmöglichkeit des Revisionsgerichts erforderlich erscheinen lassen. Dieser Zugang läßt sich noch schärfer fassen. Die Zurückverweisung an einen anderen Spruchkörper des Ausgangsgerichts bildet nicht nur den tatsächlichen Regelfall, 6 1 sondern zugleich die rechtlich unproblematische Variante, da bei einem bloßen Zurückgehen im Instanzenzug die sachliche und örtliche Zuständigkeit gewahrt bleiben; die Auswechslung des Spruchkörpers ist hingegen abstrakt-generell im Geschäftsverteilungsplan geregelt und durch das Interesse an der Vermeidung einer Aburteilung durch vorbefaßte Richter legitimiert. Damit rückt die andere Alternative ins Visier, d. h., es ist zu fragen, für welche Fallkonstellationen es angezeigt erscheint, dem Revisionsgericht das „Gewaltmittel der Weiterverweisung" 6 2 an ein anderes Gericht zur Verfügung zu stellen. Ein überzeugender Sachgrund, von einer Zurückverweisung an das Ausgangsgericht abzusehen, ist unzweifelhaft gegeben, wenn das Gericht des vorangegangenen Rechtszuges sich zu Unrecht für zuständig erachtet hat (vgl. § 3 5 5 S t P O ) oder wenn für die Aburteilung des neu zu verhandelnden Tatvorwurfs die Zuständigkeit eines niederrangigen Gerichts ausreicht (vgl. § 3 5 4 III S t P O ) . Es ist ohne weiteres einsichtig, daß das Revisionsgericht nicht gezwungen sein soll, die Sache sehenden Auges an ein entweder bereits anfänglich oder doch zumindest nach gegenwärtiger Verfahrenslage unzuständiges G e richt zu verweisen. Bereitet die Zulässigkeit der Weiterverweisung hier keine Schwierigkeiten, so stellt sich eher umgekehrt die Frage, inwieweit das Revisionsgericht auch in derartigen Fällen gleichwohl an das Ausgangsgericht zurückverweisen darf {vgl. hierzu unten zu III.). V o n diesen im Gesetz bereits aufgegriffenen Gesichtspunkten abgesehen lassen sich die im Schrifttum genannten Aspekte in zwei Gruppen - justizorganisatorische Gründe und die Besorgnis (des Anscheins) möglicher Voreingenommenheit - unterteilen.
a)
Justizorganisatoriscke
Gründe
Z u den justizorganisatorischen Gesichtspunkten ist das Bestreben zu rechnen, die Durchsetzung der revisionsgerichtlichen Rechtsauffassung zu gewährleisten. Allerdings sieht das Gesetz die in § 3 5 8 I S t P O statuierte Bindungswirkung als primäres Sicherungsmittel vor, so daß eine zusätzliche Steuerungsmöglichkeit im Wege der Bestimmung des Zurückverweisungsadressaten gerade als entbehrlich angesehen werden kann. 6 3 Immerhin ist einzuräumen, daß für den Gesetzgeber des Jahres 1 8 7 7 das Anliegen einer beson-
« H. Benz, MDR 1976, 805 f.; Pfeiffer, StPO, § 354 Rn 10; Ranft, Strafprozeßrecht, Rn 2230; HKTemming, § 354 Rn 11; s. auch Helle, DRiZ 1974, 229. ω C. Seibert, MDR 1954, 722. 6' S. auch bereits oben zu 2. (zu Fn 40).
25. Kapitel: Das Ermessen der Revisionsgerichte
771
deren faktischen Absicherung der Bindungswirkung im Vordergrund stand.64 Freilich darf nicht übersehen werden, daß der Einräumung eines Ermessens in Zuständigkeitsfragen heute durch den verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz des gesetzlichen Richters ungleich engere Grenzen gesteckt sind. Darüber hinaus hat sich auch die strafprozessuale Gesetzeslage inzwischen gewandelt. Denn zur Zeit der Entstehung der Reichsjustizgesetze bildete die fakultative Verweisung an ein anderes Gericht die Alternative zur Zurückverweisung an denjenigen Richter, dessen Urteil durch die Revision vernichtet worden ist. Ein solches Korrektiv erschien sinnvoll angesichts der Erfahrung, daß „die Richter nicht immer im Stande oder geneigt seien, sich auf den ihnen vom obersten Gerichtshof angewiesenen Standpunkt zu versetzen".65 Demgegenüber ist seit dem Strafprozeßänderungsgesetz 1964 eine Zurückverweisung an den vorbefaßten Spruchkörper ausgeschlossen; allenfalls „zufällig" kann daher eine Richteridentität (durch eine geänderte Geschäftsverteilung) eintreten. Die Befürchtung, auch die übrigen Richter des betreffenden Gerichts würden der bindenden Rechtsauffassung des Revisionsgerichts den Gehorsam verweigern, erscheint eher fernliegend; sie rechtfertigt jedenfalls nicht die Zubilligung eines generellen Zurückverweisungsermessens an die Revisionsgerichte.66 Im Hinblick auf die Besorgnis eines „esprit de corps der Tatrichter"67 erschiene allenfalls die Möglichkeit diskutabel, die zweite Zurückverweisung an ein anderes Gericht vornehmen zu können. 68 Nur am Rande sei schließlich angemerkt, daß es ein auffälliges Mißverhältnis offenbart, wenn einerseits die Sorge, daß nicht vorbefaßte Richter die ihnen vom Gesetz auferlegte Bindungswirkung unterlaufen könnten, vom Revisionsgericht bei ihrer Zurückverweisung von vornherein in Rechnung gestellt werden dürfte, andererseits aber nach Ansicht der Rechtsprechung vom Angeklagten zu erwarten sei, daß er von der Unvoreingenommenheit der vorbefaßten (!) Richter ausgehe. Als weiterer justizorganisatorischer Umstand wird die räumliche Nähe von Beweispersonen (Wohnort von Zeugen oder Gutachtern) genannt.69 Die Formulierung, daß dieser Gesichtspunkt zur Verlegung des Gerichtsortes für die Neuverhandlung „drängen" könne, 70 erscheint stark übertrieben. Der Verfassungssatz des gesetzlichen Richters fordert auch hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit grundsätzlich eine normative Vorausbestimmung. Die Einräumung eines Ermessens bezüglich des Gerichtsstands (§§ 7 ff. StPO) erfolgt gerade zu dem Zweck, den verfahrensökonomischen Belangen des EinzelRieß, J R 1980, 387. So der Abg. Reichensperger (in: Hahn, Materialien zur StPO Bd. I, S. 1047) zur Begründung seines Antrags, die Zurückverweisung an ein anderes Gericht gleicher Ordnung zuzulassen. 66 Die Zurückverweisung an eine andere Abteilung desselben Gerichts wird als Alternative zur Zurückverweisung an ein anderes Gericht bereits angesprochen von Bahr, in: Hahn, Materialien zur StPO Bd. I, S. 1048. Demgegenüber ist es nach Ansicht von Stemmler (Befangenheit, S. 179) „zur Vermeidung eines Solidarisierungseffekts aller Richter eines Gerichts, dessen Urteil aufgehoben wurde, geboten, eine obligatorische Wegverweisung . . . an ein anderes Gericht zu normieren". 7 C. Seibert, NJW 1968, 1318; s. auch Hanack, FS Tröndle (1989), S. 510 f. 68 Vgl. zu einer entsprechenden Übung (jeweils bezüglich § 354 II 2 StPO a.F.!) H. Müller, NJW 1961, 103; C. Seibert, MDR 1954, 721. Vgl. als aktuelle Beispiele BGH, StV 1997, 341; 1999, 417f. sowie (mit einer Einstellung gemäß § 153 II StPO durch den BGH endend) BGH, NJW 1995, 737ff. (s. hierzu auch BGHSt. 38, 186ff.; zum Sachproblem ferner Rutkowsky, NJW 1995, 705 f.). «» Dahs/Dahs, Revision, Rn 592; LR-Hanack, Rn 61; KMR-Paulus, Rn 45 jeweils zu § 354; s. auch C. Seibert, DRiZ 1960, 57; ders., NJW 1963, 432 (jeweils mit konkreter Fallschilderung). 70 So Hanack und Paulus a.a.O. M
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Ill
Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
falls angemessen Rechnung tragen zu können. Auch für das gemeinschaftliche obere G e richt k o m m t eine Übertragungsmöglichkeit gemäß § 12 II S t P O nur in Betracht, wenn sich der momentane Gerichtsstand aus gewichtigen Gründen als unzweckmäßig erweist; selbst dann darf die Strafsache aber nur einem Gericht übertragen werden, das schon bei der Eröffnung der Untersuchung ebenfalls örtlich zuständig gewesen ist. 7 1 Ist hiernach erstens davon auszugehen, daß das Ausgangsgericht regelmäßig bereits unter Berücksichtigung der fallbezogenen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte bestimmt worden ist, so besteht zweitens auch unter normativen Vorzeichen keine Veranlassung, dem Revisionsgericht allein aus Gründen prozessualer Zweckmäßigkeit eine Durchbrechung der örtlichen Zuständigkeit zu gestatten 7 2 und ihm eine alle Gerichtssprengel des betreffenden Bundeslandes umfassende Wahlmöglichkeit zu eröffnen. Gleichfalls in die Rubrik der justizorganisatorischen Gründe gehört das Motiv, das Erstgericht von der Wiederholung eines besonders langwierigen und/oder umfangreichen Verfahrens zu verschonen. 7 3 In der Tat ist nicht zu bestreiten, daß ein mehrere Jahre währendes Großverfahren insbesondere für kleinere Gerichte 7 4 eine erhebliche Belastung darstellt, die angesichts knapper personeller Ressourcen gerichtsorganisatorische N o t l ö sungen (insbesondere die Umverteilung der Geschäfte sowie die Bildung von Hilfsstrafk a m m e r n ) 7 5 notwendig machen und zu einer bedenklichen Verzögerung der übrigen bei dem betreffenden Gericht anhängigen Straf- (insbesondere: H a f t - ) 7 6 Sachen führen kann. Insoweit kann eine revisionsgerichtliche Umschichtung nach dem M o t t o „Einer trage des anderen L a s t " 7 7 gegebenenfalls durchaus einen Beitrag zur Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege leisten. Dennoch ist aus prinzipiellen Gründen zweifelhaft, o b das Revisionsgericht zum Verschiebebahnhof gemacht werden darf, um durch geschicktes Rangieren allgemeine justizorganisatorische Engpässe vermeiden oder beheben zu können. 7 8
Vgl. nur Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 12 Rn 5 (m.w.N.); s. auch oben 2 1 . Kap. III.2. Eine Bindung des Revisionsgerichts an die §§ 7 ff. StPO wird ausdrücklich abgelehnt von B G H R , StPO ξ 3 5 4 Abs. 3 - Amtsgericht 1 und Zuständigkeit 1; ebenso K K - K u c k e i n , Rn 3 9 ; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 4 2 jeweils zu § 3 5 4 . 73 Vgl. (unter Hinweis auf einen konkreten Einzelfall) C. Seibert, N J W 1 9 6 3 , 4 3 2 . 74 Ausweislich der Angaben des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 1 9 9 7 (in: Fachserie 10: Rechtspflege, Reihe 2 : Gerichte und Staatsanwaltschaften [ 1 9 9 8 ] , S. 9 ff.) gab es in der Bundesrepublik Deutschland 1 1 6 Landgerichte (mit 1 4 7 4 Strafkammern); hiervon hatten acht Landgerichte vier, acht Landgerichte fünf und 13 Landgerichte sechs Strafkammern. 71
71
Vgl. oben 13. Kap. II.l. Z u m Zusammenhang zwischen dem Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen und gerichtsorganisatorischen Maßnahmen vgl. BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), S t V 1997, 5 3 5 mit Anm. D. Herrmann; B G H S t . 4 4 , 161 ff. Das insbesondere in Zeiten knapper Finanzmittel veschärft zutage tretende Spannungsverhältnis zum Prinzip des gesetzlichen Richters spiegelt sich in der Situationsbeschreibung von Bertram ( N J W 1 9 9 6 , 1 4 5 2 ) : „Die Strafkammern ... müssen einander aushelfen, vermittels Sonderzuweisung durch das Präsidium: Gesetzlicher Richter ist, wer einwilligt, sich dazu breitschlagen läßt oder genötigt wird, es ad hoc (und trotz aller Formulierungskünste.· auf ,den Fall gezielt') zu werden." Als „viel zu schwerfällig" wird das Verfahren zur Bearbeitung einer Überlastungsanzeige (aus anwaltlicher Sicht) kritisiert von Weider (in: Jehle/Hoch [Hrsg.], Oberlandesgerichtliche Kontrolle langer Untersuchungshaft [ 1 9 9 8 ] , S. 111 f.); unter dem Aspekt der Vermeidung von Verfahrensverzögerungen sei - ungeachtet des Gebots des gesetzlichen Richters - mehr Flexibilität wünschenswert. 76
77 78
Seibert a.a.O. Für den Fall eines durch gerichtsinterne Maßnahmen nicht abwendbaren, vorübergehenden Ver-
2 5 . Kapitel: Das Ermessen der Revisionsgerichte
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Denn grundsätzlich bestimmt das Verfassungsgebot des gesetzlichen Richters das M a ß der organisatorischen und personellen Ausstattung der Gerichte; nicht e t w a hängt u m gekehrt die Reichweite der verfassungsrechtlichen Vorgabe von jenen fiskalischen Gesichtspunkten ab. 7 9 Da auf der gerichtlichen Ebene d e m Präsidium eine Aufgabenverteilung anhand der (allzu u n b e s t i m m t e n ) Kriterien des Umfangs und der Schwierigkeit der Sache verwehrt ist, 8 0 erscheint die Annahme, das Revisionsgericht dürfte als „Krisenman a g e r " bei der Zurückverweisung eine entsprechende a d - h o c - Z u w e i s u n g vornehmen, zumindest fraglich. Als Grund für die Zulässigkeit einer Weiterverweisung an ein „anderes" Gericht ist ferner der U m s t a n d anerkannt, daß das Ausgangsgericht über keinen Auffangspruchkörper verfügt. M a g das Revisionsgericht auch regelmäßig in dieser Weise auf das Fehlen eines Auffangspruchkörpers reagieren, 8 1 so ist es nach ganz herrschender und zutreffender A n s i c h t 8 2 hierzu nicht verpflichtet. Denn nach dem Vollständigkeitsprinzip 8 3 ist das Präsidium verpflichtet, alle d e m Gericht gesetzlich zugewiesenen Aufgaben zu verteilen. Hieraus folgt, daß das Präsidium die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit einer Z u r ü c k verweisung an das Ausgangsgericht nicht dadurch vereiteln darf, daß es sich weigert, die notwendigen organisatorischen Vorkehrungen zu treffen. Ist im Geschäftsverteilungsplan ein Auffangspruchkörper nicht genannt und verweist das Revisionsgericht die Sache gleichwohl befugtermaßen an das vorentscheidende Gericht zurück, so erweist sich der Geschäftsverteilungsplan als unvollständig mit der Folge, daß er für die Zukunft um eine abstrakt-generelle Regelung zu ergänzen ist, die freilich auch auf die Anlaßsache bereits Anwendung findet. 8 4 Für den hier interessierenden K o n t e x t ist allerdings zu beachten,
tretungsnotstandes ist an eine Abordnung gemäß § 7 0 I G V G zu denken; vgl. Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, § 7 0 Rn 1. 79 Vgl. zur Pflicht des Haushaltsgesetzgebers zur angemessenen Ausstattung der Gerichte BVerfG E 3 6 , 2 6 4 ( 2 7 5 ) ; s. auch oben 11. Kap. 11. l b sowie (zu § 2 5 G V G ) oben 2 0 . Kap. 1.2 (zu Fn 3 8 f f . ) ; vgl. ferner Feiber, NJW 1986, 7 0 0 . 8» Vgl. oben 12. Kap. 1.2 a.E. (m.w.N. in Fn 5 5 ) . 81 O L G München, J R 1978, 3 0 1 ( 3 0 2 ) ; O L G Schleswig, SchlHA 1975, 165; H. Benz, M D R 1 9 7 6 , 806. 82 So - außer den in der vorigen Fn Genannten - Rieß, J R 1 9 7 8 , 3 0 2 f.; Dierlamm, Ausschließung,
Rn 60 (Fn 68); LR-Hanack, Rn 55f.; KK-Kuckein, Rn. 32; AK/StPO-Maiwald, Rn 21; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 3 8 ; KMK-Paulus, Rn 44; H K - T e m m i n g , Rn 12 jeweils zu § 3 5 4 . Nach der Gegenansicht
von Helle ( D R i Z 1 9 7 4 , 2 2 7 f f . [ 2 2 9 ] ) steht die Einrichtung von Auffangspruchkörpern im pflichtgemäßen Ermessen der für die Gerichtsorganisation zuständigen Instanzen; das Revisionsgericht kann hiernach von der Möglichkeit der Zurückverweisung an einen anderen Spruchkörper des Ausgangsgerichts nur Gebrauch machen, wenn ein solcher Spruchkörper besteht. Eine Möglichkeit des Revisionsgerichts, das Problem durch eine nachträgliche Änderung der Zurück- in eine Weiterverweisung an ein anderes Gericht zu lösen, besteht nicht (vgl. Kuckein a.a.O.; Rieß, N S t Z 1 9 8 5 , 4 7 3 ) . Vgl. oben 10. Kap. II. 2a. Ebenso O L G Karlsruhe, Justiz 1980, 3 3 9 ( 3 4 0 ) ; Rieß, J R 1 9 7 8 , 3 0 3 . Demgegenüber darf nach Ansicht von P. Müller (MDR 1 9 7 8 , 3 3 7 ) der Nachtragsbeschluß die bestehende Lücke nur mit Wirkung für die Zukunft schließen; für den anstehenden Einzelfall müßte hingegen - um eine Ad-hoc-Zuweisung zu vermeiden - die zuständige Strafkammer durch das Los bestimmt werden. Zwar bietet das Los einen dem Blindlingserfordernis entsprechenden Zuweisungsmodus (s. oben 5. Kap. II.2 [zu Fn 85 ff.]), doch ist zu bedenken, daß ein solches Verfahren bezüglich der hier diskutierten Konstellation im Gesetz keine Stütze findet. Auch bei sonstigen Änderungen des Geschäftsverteilungsplans läßt sich (z.B. bei der Beurteilung einer EntlastungsWirkung) die Berücksichtigung konkreter Einzelfälle nicht vollständig ver81
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
daß die Zulässigkeit des revisionsgerichtlichen Ausweichens auf ein anderes Gericht die in § 354 II StPO normierte Wahlmöglichkeit nicht verfassungsrechtlich zu legitimieren vermag. Stünde dem Revisionsgericht ausschließlich die Zurückverweisung an das Ausgangsgericht zu Gebote, so wäre es evident, daß das Instanzgericht zur Bildung von Auffangspruchkörpern verpflichtet wäre. Falls sich in seltenen Ausnahmefällen tatsächlich die Bildung eines Auffangspruchkörpers als unmöglich erweisen sollte, käme eine Z u ständigkeitsbestimmung gemäß § 15 StPO in Betracht; 8 5 eine zwingende Notwendigkeit, das „andere" Gericht als Ausweichmöglichkeit vorzusehen, ist also auch insoweit nicht gegeben. Aus dem Kanon der justizorganisatorischen Gesichtspunkte verdient immerhin der Aspekt einer größtmöglichen Nutzung des Spezialwissens besondere Beachtung. Das betrifft insbesondere die aufgrund einer gesetzlich normierten Geschäftsverteilung eingerichteten Spezialstrafkammern. Vor allem bei kleineren Gerichten wird es häufig so liegen, daß das vergleichsweise geringe Fallaufkommen nur die Bildung eines Spezialspruchkörpers der betreffenden Art gestattet. Z w a r ist auch dann eine Regelung im Geschäftsverteilungsplan über die Auffangzuständigkeit unverzichtbar, doch ist davon auszugehen, daß der betreffende Spruchkörper angesichts der nur ausnahmsweisen Befassung mit der Spezialmaterie nicht in gleicher Weise vertraut ist, wie dies für den primär zuständigen Spezialspruchkörper gilt. Um die Konzentration des Spezialwissens in möglichst hohem Maße zu gewährleisten, hat es der BGH 8 6 für unzulässig erachtet, daß der Geschäftsverteilungsplan die Schwurgerichtsfälle zwischen dem primären Spezialspruchkörper und dem Auffangschwurgericht gleichmäßig verteilt. Vielmehr sind - von einem „Bodensatz" anderweitiger Fälle abgesehen - alle einschlägigen Fälle bei einem einzigen Spruchkörper zu konzentrieren, auch wenn hierdurch die Richter des Auffangspruchkörpers noch weniger Gelegenheit haben, die wünschenswerte Erfahrung in der Beurteilung solcher Fälle zu erlangen. Diese Konsequenz wird bewußt in Kauf genommen, da es sich insoweit um Ausnahmefälle handelt, in denen zudem ein Revisionsurteil vorliegt, dem regelmäßig Anhaltspunkte für die weitere Beurteilung des Falles entnommen werden können. In Anbetracht dieser Umstände kann es durchaus absehbar sein, daß die Sache bei einer Zurückverweisung an das Ausgangsgericht zu einem Auffangspruchkörper gelangen würde, der mit dem betreffenden Sachgebiet weniger vertraut ist, als es das vorherige Tatgericht war. Das Bestreben, jedenfalls in besonders schwierig gelagerten Fällen ein Gericht mit dem zweiten Durchgang befassen zu können, das über die vom Gesetzgeber intendierte besondere Sachkunde und Erfahrung verfügt, ist grundsätzlich durchaus als ein Argument anzuerkennen, das für die Möglichkeit einer Weiterverweisung streitet. Dieser Gedanke verliert seinen Wert nicht durch die Tatsache, daß in den Bundesländern, meiden. Eine Auslosung des zuständigen Spruchkörpers würde zudem (höchstwahrscheinlich) verhindern, daß die Aspekte, die für die Ergänzungsregel ausschlaggebend waren, im Anlaßfall zum Tragen kommen können. S. auch zur Problematik der Umverteilung bereits anhängiger Sachen oben 10. Kap. II.4. 85 Vgl. OLG Schleswig, SchlHA 1975, 165; LR-Hanack, Rn 55 (a.e.); Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 38; KMR-Paulus, Rn 44 jeweils zu § 354; s. auch OLG Oldenburg, NStZ 1985, 473 mit Anm. Rieß (zu § 210 III StPO). 86 BGHSt. 27, 349 ff. mit krit. Anm. Staiger, JR 1978, 434f.; vgl. ferner (auch zum Folgenden) oben 10. Kap. II. 2b.
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in denen es nur ein einziges Landgericht gibt, eine Weiterverweisung ausgeschlossen ist. 87 Denn die Landgerichte in den Stadtstaaten (und das LG Saarbrücken) weisen eine Größe auf, die auf das Vorhandensein hinreichend erfahrener Auffangspezialspruchkörper schließen läßt. Mit dem Auffinden eines Grundes, der die Einräumung eines Ermessens zur Weiterverweisung sachgerecht erscheinen läßt, sind die grundsätzlich gegen eine solche „Handsteuerung" zu erhebenden Bedenken freilich nicht ausgeräumt. O b das Revisionsgericht sich bei der Zurückverweisung tatsächlich von dem Aspekt der fachlichen „Qualitätssicherung" leiten läßt, ist keineswegs sicher. Vielmehr spricht einiges für die Annahme, daß es sich hierbei lediglich um einen Aspekt unter mehreren handelt, der im Einzelfall zwar den Ausschlag für eine Weiterverweisung geben, in anderen Fällen aber gegebenenfalls in den Hintergrund treten kann. Ein Indiz hierfür ist darin zu sehen, daß Konzentrationsermächtigungen der Landesregierung gemäß § 74c III GVG 8 8 nach höchstrichterlicher Auffassung 8 9 keine Beschränkung des revisionsgerichtlichen Ermessens zur Weiterverweisung bedeuten. Die einschlägigen Entscheidungen betrafen Weinstrafsachen, für die in Rheinland-Pfalz allein das LG Bad Kreuznach örtlich zuständig ist. Der B G H 9 0 führt in diesem Zusammenhang lediglich aus, daß diese Konzentrationsermächtigung „nur die örtliche Zuständigkeit (betrifft)" und „nicht die Befugnis des Revisionsgerichts nach § 354 II StPO (beschneidet), die örtliche Zuständigkeit anderweit zu bestimmen". Selbst wenn man es im Ergebnis für sinnvoll halten mag, daß nicht alle Fälle des „Glykol-Skandals", soweit sie rheinland-pfälzische Winzer betreffen, ausschließlich von einem einzigen Gericht abgeurteilt werden, erscheint die „Begründung" (die in Wahrheit kaum über die dezidierte Behauptung des für richtig gehaltenen Ergebnisses hinausreicht) dogmatisch anfechtbar. Die Frage der Bedeutung solcher Konzentrationsregelungen stellt sich in gleicher Weise im Rahmen der Zuständigkeit für Wiederaufnahmeverfahren. Im dortigen Kontext wird der Konzentration die Wirkung beigelegt, im gegenständlichen Umfang der Spezialzuständigkeit einen erweiterten Landgerichtsbezirk zu schaffen. 91 Die Konzentration der Zuständigkeit auf ein bestimmtes Landgericht hat hiernach zur Folge, daß es in dem Einzugsgebiet dieser Verordnung an einem „anderen" Gericht mit gleicher sachlicher Zuständigkeit fehlt. 92 Deshalb wird überwiegend eine (unmittelbare 9 ' oder) entsprechende Anwendung des § 140a III 1 GVG 9 4 befürwortet, wonach das Präsidium des Oberlandesgerichts 87
Vgl. B G H S t . 21, 192 (192); LR-Hanack, § 354 Rn 62. Vgl. die Zusammenstellung bei Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 74c G V G Rn 9. 8 * B G H , N J W 1995, 2 9 3 3 (2937); N S t Z 1995, 605 (607); zustimmend LR-Hanack, Rn 61 (a.E.); KK-Kuckein, Rn 38; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 41 jeweils zu § 354. 90 So jeweils wortgleich a.a.O. " Rieß, JR 1980, 307. S. auch bereits allgemein oben 10. Kap. Fn 13. « LR-K. Schäfer/Harms, § 140a G V G Rn 8a. 91 So Rieß, JR 1980, 307; offengelassen von Katholnigg, NJW 1980, 132; Schäfer/Harms a.a.O. 94 O L G Karlsruhe, JR 1980, 3 0 5 (306); LR-Gösse/, Rn 19; AK/StPO-Loos, Rn 15 jeweils zu § 367; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 140a G V G Rn 3. Gegen eine Analogie zu § 140a III G V G jedoch Kissel, GVG, § 140a Rn 13 (jedoch für Anwendung des § 140a III G V G bezüglich der gesetzlich in § 74a G V G angeordneten Konzentration a.a.O. Rn 14). Die Ansicht des B G H (St. 29, 47ff. mit abl. Anm. Katholnigg, NJW 1980, 132), daß der „unlösbar erscheinenden Schwierigkeit" nur mittels der Errichtung einer weiteren Wirtschaftsstrafkammer bei einem anderen Landgericht durch die Landesregierung oder durch eine Sonderregelung entsprechend § 140a III S. 2 G V G begegnet werden könne, hat sich nicht durchgesetzt. 88
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
die Zuständigkeit für Wiederaufnahmeverfahren des betreffenden Sachgebiets einer anderen Strafkammer dieses Landgerichts (nicht aber einem anderen Landgericht) zuweist. Für die Gleichstellung der Konzentration mit den Fällen der Existenz eines einzigen Landgerichts wird ferner angeführt, daß die besondere Erfahrung und Sachkompetenz der Spezialspruchkörper auch im Wiederaufnahmeverfahren zur Geltung gebracht werden soll. 9 5 Warum die dogmatische Konzeption der sachlich begrenzten Erweiterung des Landgerichtsbezirks trotz vergleichbarer Situation (jeweils geht es um die konstitutive Zuständigkeitsbestimmung außerhalb der Festlegung des Eingangsgerichts) im Rahmen des § 3 5 4 II StPO irrelevant sein soll, ist nicht recht einzusehen. Als Unterschied könnte allenfalls der Gesichtspunkt dienen, daß dem Revisionsgericht im Gegensatz zum O L G Präsidium keine generelle, sondern eine einzelfallbezogene Zuständigkeitsfestlegung obliege. Das aber läuft auf die oben bereits abgelehnte T h e s e von der „Steuerungsaufgabe des Revisionsgerichts" hinaus.
b)
Umfassende Absicherung der richterlichen Unvoreingenommenheit
Die Frage der revisionsgerichtlichen Befugnis zur Weiterverweisung läßt sich auch aus dem Blickwinkel in Angriff nehmen, eine möglichst umfassende Absicherung der richterlichen Unvoreingenommenheit zu gewährleisten. In diese Richtung weist insbesondere der allenthalben anzutreffende Hinweis, eine Zurückverweisung an ein anderes Gericht k o m m e vor allem dann in Betracht, wenn die Strafsache „aus einer ungünstigen örtlichen Atmosphäre herausgenommen" werden soll. 9 6 Derartige Überlegungen stehen in Einklang mit dem Anliegen, die erneute Verhandlung der Sache vor nicht vorbefaßten Richtern stattfinden zu lassen. Dieses Ziel hat der Gesetzgeber bei der Reform des § 3 5 4 II S t P O im Jahre 1 9 6 4 allerdings nur unvollkommen erreicht, indem er zwar einerseits die Zurückverweisung an den Ausgangsspruchkörper ausschloß, andererseits aber davon absah, einen Ausschließungsgrund für die in einer Vorinstanz mit der Sache befaßten Richter zu normieren. Vor diesem Hintergrund könnte die Möglichkeit der Weiterverweisung an ein anderes Gericht (als organisatorische Einheit) geradezu als Vollendung des gesetzgeberischen Planes erscheinen, da hierdurch die Gefahr gebannt wird, daß vorbefaßte Richter nach einer Änderung des G e schäftsverteilungsplanes erneut über die Sache urteilen. 9 7 Eine überzeugende Konzeption ist hieraus gleichwohl nicht zu gewinnen. Erkennt man das Interesse des Angeklagten, vor neuen Richtern zu stehen, als berechtigtes Anliegen an, so ist nicht einzusehen, warum der hiermit verbundene Vertrauensschutz von einer einzelfallbezogenen Entscheidung des Revisionsgerichts abhängig sein soll. Es k o m m t hinzu, daß mit dem Recht des Revisionsgerichts, eine drohende Richteridentität
«
LR-K. Schäfer/Harms, § 140a GVG Rn 8a. So Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 40; Pfeiffer, StPO, Rn 12; HK-Temming, Rn 14 jeweils zu § 354; nahezu wortgleich Dahs/Dahs, Revision, Rn 592; LR-Hanack, Rn 61; KK-Kuckein, Rn 37; AK/ StPO-Maiwald, Rn 20; KMR-Paulus, Rn 45 jeweils zu § 354; Eb. Schmidt, Lehrkommentar (Nachtragsband I) §§ 353-355 Rn 27; in der Sache ebenso BVerfGE 20, 336 (345); H. Benz, MDR 1976, 805f.; Dierlamm, Ausschließung, Rn 65; Ranft, Strafprozeßrecht, Rn 2230; C. Seibert, MDR 1954, 721; ders., NJW 1963, 432. 97 In der Wahrung des Vertrauens in die Objektivität des entscheidenden Gerichts sieht Gerleit (Gesetzlicher Richter, S. 133) die Rechtfertigung für die Auswahlfreiheit bei der Zurückverweisung. 9ή
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zu vermeiden, nicht die Pflicht einhergeht, diese Gefahr durch das Studium des betreffenden Geschäftsverteilungsplans (nebst eventueller Änderungsbeschlüsse) aufzuklären. 9 8 Überdies schießt dieser Ansatz über das beabsichtigte Ziel insofern hinaus, als der Vertrauensschutz mit einem Ortswechsel verbunden ist, der für den Angeklagten, aber auch für die Justiz (Zuständigkeit einer mit dem Fall nicht vertrauten Staatsanwaltschaft) zusätzliche Belastungen mit sich bringt. Andererseits entfällt das Bedürfnis für eine derartige Notlösung, wenn man dem Angeklagten ein generelles (oder zumindest großzügig gehandhabtes) Ablehnungsrecht gegenüber den vorbefaßten Richtern zubilligt." Im Ergebnis ist die Weiterverweisung zum Teil unzureichend, teilweise hingegen zu weitgehend, um das Problem der zu besorgenden Voreingenommenheit des vorbefaßten Richters in den Griff zu bekommen. 1 0 0 Der Gedanke des Vertrauensschutzes ist im vorliegenden Zusammenhang nicht als Ersatz für das Fehlen eines gesetzlichen Ausschlußgrundes heranzuziehen, sondern mit einem eigenständigen Bedeutungsgehalt zu versehen. Bei einem solchen Verständnis soll die Befugnis zur Weiterverweisung nicht der Gefahr einer naheliegenden individuellen Vorbefangenheit 1 0 1 begegnen; vielmehr ist diese prozessuale Möglichkeit in einem weitergehenden Sinne als Vorfeldsicherung gegenüber einer auf das gesamte Gericht als organisatorische Einheit zu beziehenden „kollektiven Vorbefangenheit" zu entwickeln. Es ist durchaus zweierlei, ob ein Fall nach der Urteilsaufhebung nur unvoreingenommen durch andere Richter oder sogar unter größerer räumlicher Distanz „in einem anderen Klima" 1 0 2 geprüft werden soll. Der zuletzt genannte Problemaspekt ist mit dem Rechtsinstitut des Ausschlusses bzw. der Ablehnung von Richtern nicht adäquat lösbar, da jene Regelungen an konkrete Umstände anknüpfen und ein vages, allein auf die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Gericht gegründetes Mißtrauen hierfür nicht ausreicht. 1 0 3 Das schließt nicht aus, daß derartige Gesichtspunkte im Rahmen von Zuständigkeitsregelungen Beachtung finden können. Dieser Stoßrichtung entspricht die gängige Standardformel, daß der Fall aus einer „ungünstigen örtlichen Atmosphäre herausgenommen" 1 0 4 und in ein völlig neues Milieu verpflanzt werden soll. 1 0 5 Angesichts der Tatsache, daß dieser Ansatz in den literarischen Stellungnahmen bestenfalls mit sehr allgemein gehaltenen Andeutungen 1 0 6 angereichert wird und regelmäßig jeder Nachweis auf eine einzige einschlägige revisionsgerichtliche Entscheidung fehlt, könnte es fast den Anschein haben, als käme diesem Schlagwort lediglich eine Alibifunktion zu. O b der Umstand, daß ein aufsehenerregender Strafprozeß
«8 " 100
101
E b e n s o Dierlamm, Ausschließung, Rn 3 7 3 f f . ( 3 8 2 f f . , 3 8 9 ) . Vgl. oben 8. Kap. III. 4b. Kritisch auch Bettermann, A ö R 9 4 ( 1 9 6 9 ) , S. 3 0 0 .
Vgl. Schünemann, JA 1982, 130.
Peters, Kh. M e y e r - G S ( 1 9 9 0 ) , S. 3 3 9 . Im übrigen wäre für die Besetzung der Richterbank auch nichts gewonnen, wenn man tatsächlich die Ablehnung aller einem Gericht zugewiesenen Richter zulassen wollte. 104 Vgl. oben Fn. 9 6 . 1(12 103
'0·' C. Seibert, MDR 1954, 721.
106 Die ausführlichste Auffächerung zu diesem Ansatzpunkt bietet H. Benz, M D R 1 9 7 6 , 8 0 5 f. („enge örtliche Verflechtung, örtliche Voreingenommenheit, emotionsgeladene T a t o r t - A t m o s p h ä r e , wiederholte Zurückverweisung oder das Erfordernis eines größeren Sachabstandes").
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
am Sitz des Gerichts schon lange Gegenstand öffentlicher Erörterung war, 1 0 7 auch heute noch die räumliche Verlagerung des zweiten Durchgangs erforderlich macht, ließe sich mit der Erwägung bezweifeln, daß in einer von den (elektronischen) Massenmedien geprägten Zeit der von der öffentlichen Meinung ausgehende Druck nicht an Stadtmauern oder an den Grenzen eines Gerichtssprengeis haltmacht. Deshalb wäre es durchaus denkbar, daß hier ein Gesichtspunkt fortgeschrieben wird, dem früher (zumal bei einem mehrheitlich mit Laien besetzten Schwurgericht) eine tendenziell höhere Bedeutung zug e k o m m e n sein könnte. 1 0 8 Der zusätzlich denkbare Einwand, solche Umstände könnten einen Ortswechsel schon deshalb nicht notwendig machen, weil in Bundesländern mit nur einem Landgericht diese Möglichkeit ohnehin nicht zur Verfügung steht, ist hingegen nicht zwingend; denn abgesehen von den Grenzen, die der Zuständigkeitsbestimmung aus dem Prinzip des Föderalismus gezogen sind, 1 0 9 mag die Gefahr einer ortsgeprägten Voreingenommenheit in großstädtischen Ballungsräumen tendenziell geringer zu veranschlagen sein. Ungeachtet solcher Relativierungsansätze ist dennoch nicht zu bestreiten, daß es Fälle gibt, in denen die Besorgnis einer kollektiven Vorbefangenheit berechtigt erscheint. Beispielhaft ist auf jenes Verfahren zu verweisen, in welchem der Direktor eines Amtsgerichts durch eine Strafkammer des an demselben Ort ansässigen Landgerichts wegen Rechtsbeugung verurteilt worden war; der B G H 1 1 0 hob dieses Urteil auf und verwies die Sache an ein anderes Landgericht zurück. 1 1 1 Ein weiteres Beispiel bietet das Mannheimer Verfahren gegen den damaligen NPD-Bundesvorsitzenden Deckert. Als Reaktion auf die vehemente Kritik gegen die vom Berichterstatter Orlet in der Urteilsbegründung gemachten Ausführungen wurde auf einer Richterversammlung, an der ca. 4 0 der 6 0 Berufsrichter dieses Gerichts teilnahmen, eine Entschließung verabschiedet, die eine Distanzierung von den Urteilsgründen zum Gegenstand hatte, soweit diese den Eindruck der Billigung rechtsextremen und antijüdischen Gedankengutes erweckten. Der B G H 1 1 2 verwies die Sache unter Aufhebung des Mannheimer Urteils an ein anderes Landgericht. Z u r Illustration geeignet ist in diesem Zusammenhang schließlich auch das Strafverfahren gegen den M e m m i n g e r Frauenarzt Dr. Theissen. W o h l kaum ein Strafprozeß in der Bundesrepublik Deutschland hat ein so breites Medienecho 1 1 3 gefunden. Anläßlich dieses
Vgl. Dierlamm, Ausschließung, Rn 65; LR-Hanack, § 354 Rn 61. Mit dieser Tendenz Marcelli, NStZ 1986, 60f.; s. aber auch (noch auf dem Boden der früheren Schwurgerichtsverfassung) Hanack, J Z 1973, 399 (zu § 140a GVG). 107 108
Vgl. Rieß, JR 1978, 303.
»'» BGHSt. 42, 343 (354); vgl. zum Urteil Sowada, GA 1998, 177ff.; s. zum Fall auch SZ vom 2 6 . / 2 7 . 9 . 1 9 9 8 , S. 43. 111 Ein vergleichbares Beispiel bildet der Fall eines Jugendstaatsanwalts aus Kleve, dem die körperliche Züchtigung jugendlicher Delinquenten mit anschließender Einstellung des gegen sie geführten Jugendstrafverfahrens (in 20 Fällen) zur Last gelegt worden war. Das LG Kleve verurteilte den Angeklagten nur wegen Körperverletzung im Amt, nicht jedoch wegen Rechtsbeugung. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hob der B G H (St. 32, 357ff.) das Urteil auf und verwies die Sache an ein anderes Landgericht; vgl. FAZ vom 5 . 2 . 1 9 8 5 , S. 9. Vgl. auch zum Problem der Kollegialität als Ablehnungsgrund Stemmler, Befangenheit, S. 130 f. BGH, NJW 1995, 340f.; s. ausführlich oben 11. Kap. II. 2b. Vgl. die ausführliche Dokumentation von Kügler, Memmingen: Abtreibung vor Gericht (1989); s. ferner Hofmann, ZfP 1993, Iff.; Castendyk, Begründungen, S. 243 ff.; Ogorek, KritV 1997, 7 ff. 112 113
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Strafverfahrens trafen Verfechter eines unverbrüchlichen Lebensschutzes und B e f ü r w o r ter eines uneingeschränkten Selbstbestimmungsrechts der s c h w a n g e r e n Frau unversöhnlich aufeinander. Die Auseinandersetzung reichte über den konkreten Einzelfall hinaus; politischer Streitgegenstand w a r auch die damals geltende gesetzliche Regelung als solc h e . 1 1 4 Daneben gab es jedoch auch massive Kritik an der Prozeßführung, die zahlreiche Frauen aufgrund peinlichster Befragungen zu ihrem Intimleben als entwürdigend erlebten. 1 1 5 „ M e m m i n g e n " w a r nicht m e h r nur der N a m e eines Ortes, sondern dieser N a m e w a r zum S y n o n y m für eine r i g o r o s e Strafverfolgung 1 1 6 und zum „Inbegriff einer unbarmherzigen J u s t i z " 1 1 7 g e w o r d e n . An diesem O r t , der Schauplatz m e h r e r e r D e m o n s t r a t i o n e n gegen den § 2 1 8 S t G B im allgemeinen und gegen das konkrete Strafverfahren im besonderen g e w o r d e n war, 1 1 8 herrschte in der T a t eine „ungünstige örtliche A t m o s p h ä r e " , und im Interesse des Rechtsfriedens und zur V e r m e i d u n g des Eindrucks einer möglichen V o r e i n g e n o m m e n h e i t w a r es gewiß zu begrüßen, daß die erneute Verhandlung zum R e c h t s folgenausspruch 1 1 9 nicht im M e m m i n g e r „Reizklima", sondern v o r der Strafkammer eines anderen Landgerichts stattfand. 1 2 0 Solche exzeptionellen Fallgestaltungen belegen zwar, daß es Strafverfahren gibt, bei denen die Weiterverweisung an ein anderes Gericht s a c h g e r e c h t erscheint. 1 2 1 Da derar-
S. auch exemplarisch die Titelgeschichte in „Der Spiegel", Nr. 3 8 / 1 9 8 8 („Hexenjagd in Bayern: Der Abtreibungsprozeß von Memmingen", a.a.O. S. 24 ff.). 114 Vgl. Hofmann, ZfP 1993, 6 f., 24 ff.; Kügler, Memmingen, S. 9, 217 ff. 115 Vgl. Castendyk, Begründungen, S. 244; Kügler, Memmingen, S. 95ff. (101 ff.); Ogorek, KritV 1997, 9. Ausführlich zum Prozeßgeschehen Friedrichsen, Abtreibung, S. 114ff. (s. auch a.a.O. S. 115 zum Vorwurf der Verteidigung, der Kreis der 156 Zeuginnen enthalte absichtlich keine zur Tatzeit minderjährige Person, um zu vermeiden, daß der Prozeß vor der [milderen] Jugendkammer stattfindet). Hierbei ist auch zu berücksichtigen, daß auch gegen 279 Patientinnen von Dr. Theissen sowie gegen 78 Ehemänner, Freunde oder Bekannte Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des illegalen Schwangerschaftsabbruchs bzw. der Teilnahme an derartigen Taten geführt wurden. Bis zum 1 . 8 . 1 9 8 8 waren 105 Verfahren eingestellt und 129 Frauen rechtskräftig (zumeist im Strafbefehlsverfahren) verurteilt worden; vgl. Friedrichsen, Abtreibung, S. 93 ff., 96 ff.; Hofmann, ZfP 1993, 4; Kügler, Memmingen, S. 64 ff. Auch wenn als Erklärung für diese hohen Verfolgungszahlen die „Verfolgungswut" der Memminger Staatsanwaltschaft zurückgewiesen und der Grund darin gesehen wird, daß Dr. Theissen vielfach nicht den Weg zu einer Beratungsstelle gewiesen hatte (vgl. Hofmann a.a.O. S. 4 f.), bleibt ein erhebliches regionales Gefälle hinsichtlich der Verfolgungspraxis gegenüber den betroffenen Frauen zu konstatieren; vgl. Castendyk, Begründungen, S. 258; Friedrichsen a.a.O. S. 102 ff. Hieraus folgt zugleich, daß in Memmingen keineswegs nur der für das gegen Dr. Theissen geführte Strafverfahren zuständige Spruchkörper mit der umstrittenen Thematik befaßt war. 117 Vgl. (diese Beurteilung allerdings nicht teilend) Hofmann, ZfP 1993, 1; s. auch Friedrichsen, Abtreibung, S. 153 ff. (zur Aktuellen Stunde im Bundestag vom 2 8 . 9 . 1 9 8 8 ) . Nach einer Meinungsumfrage hielten 8 6 % der befragten Frauen und 8 0 % der befragten Männer das Urteil - zwei Jahre und sechs Monate Gesamtfreiheitsstrafe und drei Jahre Berufsverbot für 36 vollendete und vier versuchte Schwangerschaftsabbrüche sowie 39 Abbräche ohne ärztliche Feststellung gemäß § 219 StGB (allerdings unter Einbeziehung einer Freiheitsstrafe wegen Steuerhinterziehung); vgl. Friedrichsen a.a.O. S. 274; Hofmann, ZfS 1993, 13 - für zu hart; nur 0,2 % erachteten das Urteil als zu milde; vgl. Kügler, Memmingen, S. 165; s. auch Hofmann a.a.O. S. 11 (Fn 61). 118 Kügler, Memmingen, S. 170 f.; Hofmann, ZfP 1993, 3, 12 f.; Castendyk, Begründungen, S. 247. Vgl. BGH, NJW 1992, 763 ff. I2() Vgl. „Der Spiegel", Nr. 3/1994, S. 52 ff. 121 Vgl. als weiteres Beispiel der Mordfall Weimar; s. zur Prozeßgeschichte BGH, StV 1999, 5 (7). S. auch zum „Elend spektakulärer Prozesse" Quoirin, DRiZ 1997, 185 f. („Inszenierungen außerhalb der
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
tige Fälle aber ausgesprochen selten sind, erhebt sich die Frage, o b die hieraus ableitbaren Gründe als so schwerwiegend anzuerkennen sind, daß sie die Einräumung eines Ermessens bei der Zurückverweisung legitimieren und hiermit eine Schleuse öffnen, die auch in anderen, weniger eindeutigen Fällen die faktische Möglichkeit zur (auch ergebnisorientierten) Steuerung der nachfolgenden Gerichtszuständigkeit bietet. 1 2 2 Immerhin ist hier die prinzipielle Spannungslage zwischen der Rechtssicherheit und der auf die Besonderheiten des Einzelfalles Bedacht nehmenden Sachgerechtigkeit erkennbar, die zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen grundsätzlich dem Gesetzgeber vorbehalten ist. Läßt sich dieser Erwägung ein (allerdings nur schwaches) Indiz für die Verfassungsmäßigkeit des § 3 5 4 II S t P O entnehmen, so ergibt sich eine argumentative Verstärkung aus einem vergleichenden Blick auf die Zuständigkeitsregelungen im Wiederaufnahmeverfahren. Bereits im Jahre 1 9 6 4 hatte der Gesetzgeber (in § 2 3 II S t P O ) den Ausschluß der an der Grundentscheidung mitwirkenden Richter für das Wiederaufnahmeverfahren normiert. 1 2 3 Z e h n Jahre später schuf er (unter Änderung des § 3 6 7 S t P O ) die Regelung des § 140a G V G , nach dessen erstem Absatz im Wiederaufnahmeverfahren grundsätzlich 1 2 4 ein anderes Gericht mit gleicher sachlicher Zuständigkeit entscheidet als jenes, gegen dessen Entscheidung sich der Wiederaufnahmeantrag richtet. 1 2 5 Offensichtlich erschien dem Gesetzgeber der Schutz durch eine auf die einzelnen Richterpersonen zugeschnittene Ausschlußregelung unzureichend; statt dessen entschied er sich für das weitergehende „Prinzip der O r t s f e m e " . 1 2 6 Diese gegen den Widerspruch von Richtern und Staatsanwälten 1 2 7 durchgesetzte Konzeption basiert auf der Erwägung, daß (zumindest aus der Sicht des Verurteilten) eine „gewisse Solidarisierung" der Richter desselben örtlichen Gerichts befürchtet werden könne, das (dem Antragsteller) als „Einheit im Denken, Empfinden und Entscheiden" erscheinen kann. 1 2 8 Mit diesem (zugleich einen Wechsel der staatsanwaltschaftlichen Zuständigkeit herbeiführenden) 1 2 9 Modell hat das Gesetz das M a x i m u m dessen verwirklicht, was sich durch organisatorische Vorkehrun-
Gerichtssäle" bzw. „Zusammenspiel zwischen Verteidigung und Unterstützerszene", z.B. durch Organisation eines „Gegentribunals"); vgl. ferner Gerhardt, in: Brand/Strempel, Soziologie des Rechts (1998), S. 515ff. 122 S. auch ]. Henkel, Gesetzlicher Richter, S. 58 (Fn 2). 123 Kleinknecht, J Z 1965, 157. Vgl. zur Reichweite dieser Ausschlußregelung auch BVerfGE 30, 149 ff. und 165 ff. sowie Arzt, NJW 1971, 1112 ff. 124 Eine Ausnahme gilt nur insoweit, als in einem OLG-Bezirk oder in einem Bundesland nur ein Landgericht besteht (vgl. § 140a III-V GVG). Dann entscheidet - ebenso wie bei einer erstinstanzlichen Entscheidung eines OLG-Senats (vgl. § 140a VI GVG) - ein anderer Spruchkörper des betreffenden Gerichts, soweit die Landesregierung von der Möglichkeit einer länderübergreifenden Regelung keinen Gebrauch gemacht hat. Zur Zuständigkeit in Wiederaufnahmeverfahren bei landesrechtlich vorgenommenen Zuständigkeitskonzentrationen vgl. oben a (a.E.). 125 Vgl. (auch zum Folgenden) LR-K. Schäfer™, Einl. Kap. 5 Rn 62 ff.; s. auch ]. Meyer, ZStW 84 (1972), 920 ff. 126 Feiber, NJW 1986, 699 (mit Fn 3). Zur Ergänzung der personellen durch eine institutionelle Lösung vgl. Brandt-Janczyk, Befangenheit, S. 71 ff., 83 ff. Vgl. Krägeloh, NJW 1975, 138; LR-K. Schäfer/Harms, vor § 140a GVG Rn 1. ι2» Peters, Fehlerquellen Bd. II, S. 322; Hanack, JZ 1973, 399; LR-K. Schäfer/Harms, vor § 140a GVG Rn 1. Vgl. Kissel, GVG, § 140a Rn 22.
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gen im Interesse einer vorurteilslosen Beurteilung von Wiederaufnahmeanträgen systemimmanent leisten läßt. 130 Die Vorschriften der §§ 354 II StPO und 140a GVG dürfen zwar nicht einfach über denselben Leisten geschlagen werden. Insbesondere folgt die Zuständigkeit des „anderen" Gerichts im Wiederaufnahmeverfahren unmittelbar aus dem Gesetz; mangels einer einzelfallbezogenen Ermessensentscheidung findet das hier diskutierte Problem keine vollständige Entsprechung. Ein weiterer Unterschied könnte sich daraus ergeben, daß die Rechtskraft der Verurteilung einen psychologischen Rollenwechsel insofern auslöst, als der Verteidiger im Wiederaufnahmeverfahren zum Angreifer wird, während Richter und Staatsanwälte tendenziell einer Verteidigung des Urteils im Namen der Rechtskraft zuneigen. 131 Dieser Gedanke könnte zum einen einen Erklärungsansatz für die sehr niedrige Erfolgsquote der Wiederaufnahmeanträge bieten, zum anderen ließe sich argumentieren, daß das Vertrauen des Verurteilten in die Unvoreingenommenheit der über die Wiederaufnahme entscheidenden Richter durch die ihm zugewiesene Angreiferrolle besonderes Gewicht erlangt. Gleichwohl verliert die Parallele zwischen Revision und Wiederaufnahme durch die genannten Divergenzen nicht ihre argumentative Kraft. 132 Als gemeinsamer Ausgangspunkt bleibt festzuhalten, daß der Gesetzgeber die Besorgnis einer etwaigen Voreingenommenheit aufgrund richterlicher Vorbefaßtheit so ernst nimmt, daß er hierauf nicht allein mit personenbezogenen oder gerichtsinternen Regelungen reagiert, sondern weitergehend auch den strikten Gerichtswechsel als stärkstes Sicherungsmittel zum Einsatz bringt. 133 Hierbei trägt das Gesetz dem angesprochenen Rollenwechsel Rechnung, wenn die Zuständigkeitsverlagerung im Rahmen des Wiederaufnahmeverfahrens grundsätzlich obligatorisch gilt, hinsichtlich der Zurückverweisung hingegen in das revisionsgerichtliche Ermessen gestellt ist. Dem aus dem Prinzip des gesetzlichen Richters folgenden Bestimmtheitsgebot läßt sich ebenfalls nicht die Forderung entnehmen, daß auch im Revisionskontext generell die Zuständigkeit eines anderen als des Ausgangsgerichts vorgesehen werden müßte. Denn revisionsgerichtliche Zurückverweisungen kommen ungleich häufiger vor als Wiederaufnahmeanträge. Angesichts dieser Tatsache ist mit Blick auf die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege zu bedenken, daß die Zurückverweisung an einen anderen Spruchkörper des vorinstanzlichen Gerichts der Prozeßökonomie besser gerecht wird 134 und für den Regelfall auch dem Aspekt der Vermeidung einer möglichen Voreingenommenheit genügt. 1,0
Rieß, NStZ 1994,154. Zur Frage, ob dem Wiederaufnahmeantrag (ausländischen Vorbildern folgend) ein Devolutiveffekt zukommen soll, vgl./. Meyer, ZStW 84 (1972), 921 ff. »> Vgl. Strate, StV 1999, 229 f.; s. auch Rieß, NStZ 1994, 155 ff. 1,2 Zur engen Verwobenheit der §§ 23 II StPO, 140a GVG mit der Regelung des § 354 II StPO vgl. Arzt, NJW 1971, 1112f.; Kleinknecht, JZ 1965, 157; J. Meyer, ZStW 84 (1972), 922, 924. Insbesondere hat auch bei der Einführung des § 140a GVG der Gedanke eine maßgebliche Rolle gespielt, „das Wiederaufnahmeverfahren aus der möglicherweise ungünstigen Atmosphäre des Gerichts, dessen Urteil mit dem Wiederaufnahmeantrag angefochten wird, herauszunehmen"; vgl. LR-K. Schäfer/Harms, vor § 140a GVG Rn 1. Femer hatte der Regierungsentwurf eine in Anlehnung an § § 2 1 0 III 1 und 354 II 1 StPO konzipierte Zuständigkeitsregelung vorgesehen; vgl. Krägeloh, NJW 1975, 138; s. auch Hanack, J Z 1973,399. Gegen die rigorose Zuständigkeitsverlagerung werden Bedenken erhoben von Krägeloh, NJW 1975, 138 (Fn 8); für eine rechtstatsächliche Uberprüfung zur Notwendigkeit des Grundsatzes des „anderen" Gerichts LR-fC Schäfer/Harms, vor § 140a GVG Rn 2; s. auch AK/StPO-Loos, § 367 Rn 1. i " H. Benz, MDR 1976, 805; Helle, DRiZ 1974, 229; C. Seibert, MDR 1954, III
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
A b s c h l i e ß e n d e Beurteilung
Aus der Sicht der herrschenden Meinung erscheint die Einräumung eines Ermessens bezüglich der Zurückverweisung an einen anderen Spruchkörper des Ausgangsgerichts oder an ein anderes Gericht gleicher Ordnung als relativ unproblematisch. Denn erstens sind die normativen Spielräume hier nicht größer als in den übrigen für verfassungskonform gehaltenen Fällen der „beweglichen" Zuständigkeit, zweitens wird das Ermessen ausschließlich durch unabhängige Richter (ohne Einflußmöglichkeit der Staatsanwaltschaft) ausgeübt, und drittens entspricht diese Befugnis der Vorstellung, daß den Revisionsgerichten im Hinblick auf ihre höhere Stellung im strafgerichtlichen Instanzenzug eine „Steuerungsaufgabe" zufällt, um ein Höchstmaß an Einzelfallgerechtigkeit durchsetzen zu können. Diese auf den ersten Blick kompakt wirkende Konzeption hält indessen einer kritischen Prüfung nicht stand. Angesichts der Verfassungswidrigkeit des Merkmals der „besonderen Bedeutung des Falles" in § 2 4 I Nr. 3 G V G 1 3 5 kann § 3 5 4 II StPO nicht durch die Annahme einer generellen Zulässigkeit „beweglich" geregelter Zuständigkeiten gestützt werden. Daß die Übertragung des Ermessens an richterliche Entscheidungsträger erfolgt, vermag das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot des Art. 101 I 2 G G nicht außer Kraft zu setzen, zumal eine effektive Kontrolle bezüglich der sachgerechten Handhabung im Einzelfall nahezu ausgeschlossen erscheint. Die These von der revisionsgerichtlichen „Steuerungsaufgabe" schließlich widerspricht dem Modell der normativen Verantwortungsteilung zwischen den unterschiedlichen Instanzen im Strafrechtssystem und ist deshalb ebenfalls nicht als hinreichende Legitimation für eine Durchbrechung des Postulats einer eindeutigen abstrakten Vorausbestimmung anzuerkennen. Hiernach hängt die verfassungsrechtliche Beurteilung maßgeblich davon ab, ob es Sachgesichtspunkte gibt, die ein unabweisbares Bedürfnis für die Weiterverweisung an ein anderes Gericht begründen, weil die Alternative der Zurückverweisung an einen anderen Spruchkörper des vorinstanzlich mit der Sache befaßten Gerichts mit schwerwiegenden Nachteilen verbunden wäre. Obwohl mehrere der in diesem Zusammenhang genannten Umstände nicht zu überzeugen vermögen, ist einigen Aspekten eine gewisse Berechtigung zu konzedieren. 136 In justizorganisatorischer Hinsicht kann die Weiterverweisung geboten erscheinen, weil insbesondere bei kleineren Gerichten die Auffangspruchkörper im Bereich der gesetzlich normierten Spezialzuständigkeit nicht über das gleiche Maß an Erfahrung und Spezialwissen verfügen wie die primär für diese Materie gebildete Strafkammer. Auch die Besorgnis einer das gesamte Vordergericht betreffenden Vorbefangenheit ist für besonders gelagerte Einzelfälle zu bejahen, in denen es sich tatsächlich als vorteilhaft erweisen kann, die Sache aus einer „ungünstigen örtlichen Atmosphäre" herauszunehmen, um eine unvoreingenommene Neuverhandlung in einem unbelasteten Klima zu ermöglichen. Daneben kann dem bei der Schaffung der Strafprozeßordnung ( 1 8 7 7 ) im Vordergrund stehenden Gedanken, die in § 3 5 8 I StPO normierte Bindung an die zur Aufhebung führende Rechtsauffassung des Revisionsge-
S. oben 19. Kap. (insbesondere III.). Demgegenüber wird der Richterwechsel beim Ausgangsgericht als hinreichende Lösung angesehen von Bettermann, A ö R 9 4 ( 1 9 6 9 ) , 3 0 0 ; ] . Henkel, Gesetzlicher Richter, S. 5 8 und Maunz, in: Maunz/ Dürig, G G , Art. 101 Rn 3 5 . 135 1,6
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richts zusätzlich faktisch abzusichern, in Anbetracht der inzwischen gewandelten Gesetzeslage (keine Zurückverweisungsmöglichkeit an den vorbefaßten Spruchkörper) heute allenfalls eine nachrangige Bedeutung beigemessen werden. Wenngleich durch diese Faktoren die bestehenden Bedenken nicht vollends zerstreut werden, wird man die durch § 354 II StPO dem Revisionsgericht eingeräumte Befugnis zur Weiterverweisung an ein anderes Gericht im Ergebnis als verfassungsgemäß ansehen können. Zwar gibt die gesetzliche Regelung keine Auskunft darüber, unter welchen Voraussetzungen das Revisionsgericht von dieser Möglichkeit Gebrauch machen soll. Neben dieser normativen Unbestimmtheit besteht Anlaß zu der Sorge, daß die Revisionsgerichte ihr Selbstverständnis an dem Leitbild der ihnen (vermeintlich) zufallenden „Steuerungsaufgabe" ausrichten und unter diesem Eindruck bisweilen Weiterverweisungen aus Motiven vornehmen, die nach den hier entwickelten Maßstäben nicht als sachgerecht anzuerkennen sind. Auf der anderen Seite ist zu berücksichtigen, daß Fälle einer eindeutig sachwidrigen Ermessensausübung bislang nicht bekannt geworden sind. Ferner ist - anders als beim Merkmal der „besonderen Bedeutung des Falles" in § 24 I Nr. 3 GVG - im vorliegenden Zusammenhang allein die örtliche Zuständigkeit betroffen, so daß die Entscheidung ohne Einfluß auf den weiteren Rechtsmittelzug ist. Zieht man deshalb als Vergleichsmaßstab die §§ 7 ff. StPO heran, so ist zu konstatieren, daß dort selbst die von der Staatsanwaltschaft vorzunehmende Wahl des Gerichtsstands als verfassungsmäßig angesehen wurde, weil sich eine eindeutige Vorrangregelung zwischen den einzelnen Gerichtsständen nicht treffen ließ. Da es eindeutig zu weit ginge, jede revisionsgerichtliche Weiterverweisung schlechthin für unzulässig zu erklären, könnte die Annahme der Verfassungswidrigkeit des § 354 II StPO allenfalls darauf abzielen, den Gesetzgeber zu zwingen, die Fallkonstellationen möglichst präzise zu umschreiben, in denen das Strafverfahren vor einem anderen Gericht fortgeführt werden soll. So wünschenswert es abstrakt auch wäre, der Zuständigkeitsbestimmung klarere Konturen zu verleihen, so sehr muß doch bezweifelt werden, daß eine dem Gesetzgeber abverlangte Neuregelung eine nennenswerte Verbesserung bringen könnte. Eine ausdrückliche Festschreibung des ohnehin praktizierten Regel-Ausnahme-Verhältnisses zwischen Zurück- und Weiterverweisung hätte nur deklaratorischen Charakter. Die exakte Umschreibung der Kriterien, bei deren Vorliegen die Weiterverweisung an ein anderes Gericht erfolgen soll, erscheint unmöglich; mit einer Aufnahme der vagen (und gleichwohl unvollständigen) Formel von der „ungünstigen örtlichen Atmosphäre" in den Gesetzestext (oder sogar noch allgemeiner bei einer an das Vorliegen „besonders wichtiger Gründe" geknüpften Zulassung der Weiterverweisung) wäre hingegen wenig gewonnen. Wichtiger als solche letztlich kosmetischen Bemühungen ist die inhaltliche Auseinandersetzung über die funktionellen Grenzen, die dem Revisionsgericht gezogen sind. Vor diesem Hintergrund ist die Verfassungsmäßigkeit der durch § 354 II StPO eröffneten Entscheidungsalternative zwischen Zurückverweisung und Weiterverweisung ungeachtet der bestehenden Bedenken zu bejahen.
II.
Das Ermessen bezüglich der Auswahl des „anderen" Gerichts
Die vorangegangenen ausführlichen Überlegungen könnten auf den ersten Blick als nutzlos angesehen werden, da sie nur dazu zu dienen scheinen, sich das Leben schwer zu machen, um am Ende gleichwohl - wenn auch unter Bedenken - kleinlaut ins Glied zurück-
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zutreten und mit der herrschenden Meinung die revisionsgerichtliche Ermessensfreiheit für verfassungsmäßig zu erklären. Eine solche Beurteilung wäre jedoch schon deshalb zu oberflächlich, weil das divergierende Sinnverständnis sich durchaus in einer unterschiedlichen Auslegung der betreffenden Norm niederschlägt. Vor allem aber ist daran zu erinnern, daß die Struktur des § 354 II StPO eine zweistufige Ermessensgewährung aufweist. An die prinzipielle Grundfrage, ob das Revisionsgericht den Fall überhaupt an ein anderes als das vorinstanzlich mit der Sache befaßte Gericht (im organisatorischen Sinne) weiterverweisen darf, schließt sich als zweiter Schritt die Festlegung an, welchem „anderen" Gericht die Aufgabe der erneuten Verhandlung und Entscheidung zufallen soll. Mangels einer verbindlichen normativen Regelung ist die Bestimmung des „anderen" Gerichts ebenfalls in das Auswahlermessen 137 des Revisionsgerichts gestellt. Auch insoweit stellt sich die Frage, ob diese Ermessenseinräumung mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 101 I 2 GG in Einklang zu bringen ist. In der dogmatischen Auseinandersetzung fungiert dieser Aspekt allerdings zumeist als unselbständiges Anhängsel. Hält man bereits die grundsätzliche Befugnis zur Verweisung an ein anderes Gericht für verfassungswidrig, so hat sich die Frage des Auswahlermessens hierdurch gleichsam von selbst erledigt, und es erscheint durchaus verständlich, wenn die betreffenden Autoren 138 sich mit dem Hinweis begnügen, daß eine derartige Wahlfreiheit unschwer zu vermeiden wäre. Die Verteidiger der gegenwärtigen Gesetzeslage erklären hingegen in Übereinstimmung mit dem BVerfG139 den § 354 II StPO in toto für verfassungsgemäß. Ungeachtet dieses Befundes sind beide Ausprägungen des revisionsgerichtlichen Ermessens getrennt zu würdigen. Hierbei ist hinsichtlich der Beurteilung des Auswahlermessens freilich auf jene Erkenntnisse zurückzugreifen, die im Rahmen der Untersuchung zur grundsätzlichen Zulässigkeit einer Weiterverweisung gewonnen worden sind. Zu Beginn der Überlegungen ist die Reichweite des Auswahlermessens auszuloten. Insoweit ist zunächst zu konstatieren, daß das Revisionsgericht den iudex tertius nur hinsichtlich der Gerichtsbehörde bestimmt; der für die Sache zuständige Spruchkörper ist hingegen anhand des für dieses Gericht geltenden Geschäftsverteilungsplans zu ermitteln.140 Auch beim Fehlen einer Auffangregelung ist es dem Revisionsgericht verwehrt, die Sache an eine bestimmte Kammer oder Abteilung zu verweisen; vielmehr ist eine Ergänzung des Geschäftsverteilungsplans durch das Präsidium vonnöten. 141 1,7
Pfeiffer, StPO, § 354 Rn 12; s. ferner die oben in Fn 8 f. angegebenen Nachweise. Vgl. Bettermann, AöR 94 (1969), 300, 302; ]. Henkel, Gesetzlicher Richter, S. 58; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GGK, Rn 28 (Stichwort „Bewegliche Zuständigkeiten" [a.E.]); Maunz, in: Maunz/ Dürig, GG, Rn 35 jeweils zu Art. 101; l. Müller, Rechtsstaat, S. 133 f.; KMR-Sax, Einl. III Rn 13. "» BVerfGE 20, 336 (346). 140 Dies bedeutet allerdings keine hinreichende Sicherheit gegenüber ergebnisorientierten Zuweisungsentscheidungen, da die personelle Zusammensetzung (insbesondere der Spezialspruchkörper) nicht jährlich wechselt und vor allem die Person des Vorsitzenden eine generelle (vom Revisionsgericht durchaus ins Kalkül zu ziehende) Kontinuität der Rechtsprechung gewährleistet. 141 LR-Hanack, § 354 Rn 56. S. auch allgemein gegen eine Bestimmung des zuständigen Spruchkörpers durch das Revisionsgericht OLG Karlsruhe, Justiz 1980, 339; KK-Kuckein, Rn 29; KMR-Paulus, Rn 44 jeweils zu § 354; Ranft, Strafprozeßrecht, Rn 2230; Eb. Schmidt, Lehrkommentar II (Nachtragsband I), §§ 3 5 3 - 3 5 5 Rn 26. Weniger eindeutig wird die Bezeichnung eines konkreten Spruchkörpers als „nicht erforderlich" angesehen von Pfeiffer, StPO, § 354 Rn 10; in der Sache ebenso Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 37; HK-Temming, Rn 11 jeweils zu § 354; vgl. ferner OLG Düsseldorf, StV 1985, 407 (408). Im Zivilprozeßrecht wird demgegenüber angenommen, daß der vom Revisionsgericht bezeich138
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D e r potentielle Adressatenkreis erfährt eine Limitierung durch das in § 3 5 4 II S t P O aufgestellte Erfordernis, daß die Weiterverweisung „an ein zu demselben Land gehörendes Gericht gleicher Ordnung" erfolgen muß. Die zusätzliche Einschränkung, daß es sich um ein „benachbartes" Gericht handeln müsse, ist bei der Neuregelung des § 3 5 4 II S t P O durch das Strafprozeßänderungsgesetz 1 9 6 4 fallengelassen worden. 1 4 2 Hiernach kann der B G H die Sache an jedes Landgericht des betreffenden Bundeslandes zurückverweisen. 1 4 3 Demgegenüber ist die Wahlbefugnis des Oberlandesgerichts nach einhelliger Auffassung 1 4 4 auf die zu seinem Gerichtssprengel gehörenden Gerichte beschränkt; durch dieses ungeschriebene Restriktionsmerkmal soll verhindert werden, daß sich das Revisionsgericht von der Last einer später möglicherweise erforderlich werdenden weiteren Revisionsentscheidung befreien kann. Wieviele Gerichte als Adressaten für eine Zurückverweisung zur Verfügung stehen, hängt somit davon ab, von welchem Gericht das erfolgreich angefochtene Urteil herrührt. Soweit das betreffende Bundesland lediglich über ein einziges Landgericht verfügt, 1 4 5 k o m m t von vornherein nur eine Zurückverweisung an eine andere Kammer dieses Gerichts in Betracht. 1 4 6 Auch für die erstinstanzlich von einem O L G - S e n a t entschiedenen Fälle schreibt § 3 5 4 II 2 S t P O zwingend vor, daß die Sache an einen anderen Senat dieses Gerichts zurückzuverweisen ist. Das andere Ende des Spektrums bilden jene Fälle, in denen dem B G H bis zu 17 (Baden-Württemberg), 19 (Nordrhein-Westfalen) oder sogar 2 2 Landgerichte (Bayern) zur Auswahl stehen. 1 4 7 Sowohl die große Zahl potentieller Adressaten als auch die enorme Bandbreite zwischen den einzelnen Bundesländern wirken befremdlich, zumal der Umfang der Palette mit der G r ö ß e des betreffenden Bundeslandes von einem Umstand abhängt, der mit den zu einer Weiterverweisung führenden Gründen nichts zu tun hat. Es ist auch evident, daß eine Wahlfreiheit bezüglich der Bestimmung des für die Neuverhandlung zuständigen Ersatzgerichts ohne weiteres vermeidbar wäre. So ist früher der Vorschlag gemacht worden, im Wege normativer Vorausbestimmung das im Alphabet nachfolgende 1 4 8 oder das räumlich nächstgelegene Nachbargericht 1 4 9 für zuständig zu erklären. Ein normatives Vorbild stellt ferner das inzwischen für das Wiederaufnahmeverfahren geschaffene Regelungsmodell dar. G e m ä ß § 140a II G V G bestimmt das Präsidium des Oberlandesgerichts
nete Spruchkörper ohne Rücksicht auf den Geschäftsplan des Berufungsgerichts für die erneute Verhandlung und Entscheidung der Sache zuständig wird; vgl. BGH, NJW 1986, 2886; Albers, in: Baumbach/Lauterbach, ZPO, Rn 3; Stein/Jonas-GrHHS&y, Rn 3 jeweils zu § 565. 142 Vgl. Eb. Schmidt, Lehrkommentar (Nachtragsband I), §§ 353-355 Rn 27. Dieses Restriktionsmerkmal gilt jedoch weiterhin in § 210 III StPO. 143 LR-Hanack, Rn 62; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 41; Pfeiffer, StPO, Rn 12; HK-Temming, Rn 14 jeweils zu § 354. 144 OLG Braunschweig, JZ 1951, 235 (236); OLG Hamm, StV 1981, 607 (608); KK-Kuckein, § 354 Rn 38 sowie die in der vorigen Fn angegebenen Nachweise. 145 Dies ist ausweislich der Angaben des Statistischen Bundesamts für das Jahr 1997 (Fachserie 10: Rechtspflege, Reihe 2: Gerichte und Staatsanwaltschaften [1998], S. 9 ff.) in vier Bundesländern (Berlin, Bremen, Hamburg und Saarland) der Fall. 146 Vgl. BGHSt. 21, 191 (192); C. Seibert, NJW 1968, 1318. 147 Vgl. auch insoweit die Angaben des Statistischen Bundesamts (s. oben Fn 145). 148 Bettermann, AöR 94 (1969), 300f.; Stemmler, Befangenheit, S. 180. 149 KMR-Sox6, Einl. 2c ( = S. 27).
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vor Beginn des Geschäftsjahres die Gerichte, die innerhalb seines Bezirks für die Entscheidungen in Wiederaufnahmeverfahren zuständig sind. 150 Wäre eine abstrakt-generelle Vorausbestimmung des Ersatzgerichts somit möglich, so bedeutet die Einräumung einer Wahlfreiheit ein willentliches Zurückbleiben hinter dem von Art. 101 I 2 G G statuierten Leitbild. Da diese Ermessenskomponente eine eigenständige Qualität hat, bedarf sie auch einer selbständigen verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Nicht angängig wäre es hingegen, die grundsätzliche Zulassung der Weiterverweisung an ein anderes Gericht als Blankoakzept aufzufassen, das auch die weitergehenden Abstriche vom Bestimmtheitsgebot legitimiert. Das Augenmerk ist hierbei weniger auf die Anzahl der Weiterverweisungsmöglichkeiten als vielmehr auf die prinzipielle Frage zu richten, aus welchen Gründen es unzulänglich erscheinen könnte, das Revisionsgericht auf die Alternative zwischen der Zurückverweisung an das vorinstanzliche Gericht und der Weiterverweisung an ein im voraus festgelegtes Ersatzgericht zu beschränken. Den Ausgangspunkt der Überlegungen bilden jene Gesichtspunkte, aus denen sich das praktische Bedürfnis für die Eröffnung einer Möglichkeit zur Weiterverweisung an ein anderes Gericht ergab. In diesem Z u s a m m e n h a n g ist freilich festzustellen, daß die einschlägigen Topoi nur die „Wegverweisung" vom vormals mit der Sache befaßten Gericht, nicht aber eine gezielte „Hinverweisung" an ein konkret auszuwählendes Ersatzgericht rechtfertigen. Dem Argument, insbesondere bei kleineren Gerichten könne es an einem mit gleicher Erfahrung und Sachkunde versehenen Auffangspruchkörper für Spezialgebiete fehlen, wird bei genereller Betrachtung dadurch hinreichend Rechnung getragen, daß die Sache an irgendein anderes Gericht verwiesen wird, das ebenfalls über einen originär (also nicht allein für Auffangsachen) zuständigen Spruchkörper der betreffenden Art verfügt. Ebenso rechtfertigt die (ohnehin nicht pauschal zu unterstellende) Befürchtung, auch die übrigen Richter des vorbefaßten Gerichts könnten sich aufgrund kollegialer Verbundenheit den bindenden revisionsgerichtlichen Vorgaben widersetzen, allenfalls die Vermeidung einer Neuverhandlung beim „ungehorsamen" Gericht, nicht hingegen das Recht, sich ein besonders „folgsames" Gericht für den Verfahrensfortgang heraussuchen zu dürfen. Grundsätzlich gilt das gleiche auch für die Konstellation der ortsbezogenen Vorbefangenheit in besonders spektakulären Fällen. Der hiergegen denkbare Einwand, die zur Weiterverweisung führenden Bedenken könnten angesichts einer besonderen örtlichen Verflechtung auch gegen das nahegelegene Ersatzgericht bestehen, 1 5 1 dringt nicht durch. In tatsächlicher Hinsicht ist einer solchen Argumentation entgegenzuhalten, daß eine vollständige Abschottung gegenüber den von Massenmedien vermittelten Einflüssen ohnehin unmöglich erscheint. Unter normativen Vorzeichen ist wiederum auf die parallele Situation im Wiederaufnahmerecht zu verweisen. Dort spielte einerseits die Erwägung, die Fälle aus einer „möglicherweise ungünstigen örtlichen Atmosphäre herauszunehmen", eine erhebliche Rolle für die gesetzgeberische Entscheidung einer ausnahmslosen Zuständigkeitsverlagerung an ein
150
Den Vorschlag eines von den Oberlandesgerichten oder von den Landesjustizverwaltungen aufgestellten überörtlichen Geschäftsverteilungsplans hatten bereits die Beschwerdeführer in der Entscheidung des BVerfG (E 20, 336 [340]) gemacht. '·" Vgl. BVerfGE 20, 3 3 6 ( 3 4 6 ) .
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anderes Gericht; 1 5 2 andererseits führte dieses Motiv aber nicht dazu, auf eine abstraktgenerelle Vorausbestimmung des für die Sache künftig zuständigen Gerichts zu verzichten. Die Maßgeblichkeit dieser gesetzgeberischen Grundwertung ließe sich nur bestreiten, wenn ungeachtet der aufgezeigten Parallele bedeutsame Unterschiede zwischen der revisionsrechtlichen Zurückverweisung und dem Wiederaufnahmerecht bestehen, die eine divergierende Beurteilung erfordern. Richtig ist zwar, daß es in der Situation des Wiederaufnahmeantrags an einem ohnedies mit der Sache befaßten Obergericht fehlt. Hieraus läßt sich aber kein Argument für die revisionsgerichtliche Wahlbefugnis herleiten. Denn die abstrakt-generelle Vorausbestimmung ist keine durch das Fehlen einer einzelfallbezogenen Steuerungsinstanz bedingte Notlösung, sondern es ist umgekehrt zu fragen, ob dieses im Hinblick auf Art. 101 I 2 G G vorzugswürdige Modell wegen tiefgreifender Nachteile nicht auf den revisionsrechtlichen Kontext übertragen werden darf. Auch der Zweck, die durch Zurückverweisungen auf die nachgeordneten Gerichte zukommenden Mehrbelastungen möglichst gleichmäßig zu verteilen, bietet keinen hinreichenden Grund für die Einräumung eines einzelfallbezogenen Auswahlermessens. 153 Der Umstand, daß das Strafverfahren in der Situation des § 3 5 4 II StPO noch nicht seinen Abschluß in einer rechtskräftigen Entscheidung gefunden hat, bezeichnet für sich betrachtet einen rein formalen Unterschied, der eine inhaltliche Bedeutung lediglich in Verbindung mit der Sichtweise von der den Revisionsgerichten (vermeintlich) zugewiesenen „Steuerungsaufgabe" erlangen kann. Die aus dieser Verknüpfung abgeleitete Argumentation mündet in die These, es sei gerade die Funktion des Revisionsgerichts, auf den inhaltlichen Fortgang der Sache Einfluß zu nehmen; um diese Aufgabe angemessen erfüllen zu können, bedürfe das Revisionsgericht eines möglichst weiten Gestaltungsrahmens bezüglich der konstitutiven Zuständigkeitsbestimmung für den weiteren Verfahrensgang. 1 5 4 Es bedarf der Hervorhebung, daß es hierbei nicht um die zusätzliche Absicherung der Bindungswirkung im Sinne des § 3 5 8 I StPO geht; denn dieser Aspekt läßt sich Vgl. LR-K. Schäfer/Harms, vor § 140a G V G Rn 1; s. auch Hanack, J Z 1 9 7 3 , 3 9 9 . Ganz allgemein muß die Justizorganisation auf das Fallaufkommen reagieren, das sich unter Beachtung des Art. 101 I 2 G G für die einzelnen Gerichte ergibt. Demgegenüber wäre es unannehmbar, eine Ad-hoc-Zuweisung zu gestatten, damit die Belastung der jeweiligen justiziellen Infrastruktur angepaßt werden kann. Zweitens wäre das Revisionsgericht zu einer hinreichend sicheren Beurteilung der für das jeweilige Gericht geltenden Belastungssituation kaum in der Lage. Drittens sind die Fälle der Zurückverweisung nicht so zahlreich, daß bei normativer Festlegung des Zurückverweisungsadressaten ein „Kollaps" eines nachgeordneten Gerichts zu befürchten wäre. Nach Angaben von Nack ( N S t Z 1 9 9 7 , 1 5 5 [zu Grafik 3 ] ) haben alle Strafsenate des B G H im Vierjahreszeitraum von 1 9 9 2 bis 1 9 9 5 insgesamt 2 0 6 0 Fälle nach einer erfolgreichen Revision zurückverwiesen. Ist hiernach von ca. 5 0 0 Fällen pro Jahr auszugehen, so ist zu bedenken, daß die Sache im Regelfall an das Ausgangsgericht zurückverwiesen wird (s. oben 1.3 zu Fn 6 1 ) . Angesichts der Zahl von 1 1 6 Landgerichten in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 10: Rechtspflege, Reihe 2 : Gerichte und Staatsanwaltschaften 1 9 9 7 [ 1 9 9 8 ] , S. 9 ff.) wäre für jedes Landgericht maximal mit durchschnittlich zwei Fällen pro Jahr zu rechnen, in denen eine von einem anderen Landgericht herrührende Strafsache infolge einer revisionsgerichtlichen Weiterverweisung zusätzlich zu bearbeiten wäre. Viertens wird im Rahmen des ξ 140a G V G die bessere Berechenbarkeit des Geschäftsanfalls (neben dem Aspekt des Art. 101 I 2 G G ) gerade als Vorteil einer normativen Vorausbestimmung des zuständigen Gerichts angesehen; vgl. J. Meyer, Z S t W 8 4 ( 1 9 7 4 ) , 9 2 3 (a.a.O. mit dem Hinweis, daß die genannten Gründe eine entsprechende Änderung auch des § 3 5 4 II StPO bedingen würden). 154 In diesem Sinne BVerfGE 2 0 , 3 3 6 ( 3 4 6 ) . 1,1
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durch die Wegverweisung vom vorentscheidenden Gericht unabhängig davon verwirklichen, an welchem Ort der Prozeß weitergeführt wird. Zum Argument für ein Recht zur gezielten „Hinverweisung" an ein ausgesuchtes Gericht kann die These von der „Steuerungsaufgabe" somit nur in ihrer Reinform werden, die dem Revisionsgericht ganz allgemein und umfassend das Recht zuspricht, aufgrund eigener Gerechtigkeits- und Zweckmäßigkeitsvorstellungen das weitere Schicksal des Falles zu lenken. Eben diese Funktionsbeschreibung ist nachdrücklich zurückzuweisen. Das Revisionsgericht ist nicht „Strippenzieher", sondern Kontrollinstanz. Seine Kompetenz ist auf die rechtliche Prüfung des vorinstanzlichen Urteils beschränkt, und seine Befugnisse erschöpfen sich grundsätzlich (d.h. vom Ausnahmefall einer eigenen Sachentscheidung gemäß § 3 5 4 I StPO abgesehen) darin, unter Aufhebung des rechtsfehlerhaften Urteils die Sache an die Tatsacheninstanz zurückzugeben. Eine darüber hinausgehende Position als „Weichensteller im Stellwerk der Gerechtigkeit", der die einzelnen Fälle wie vorbeifahrende Züge auf das „richtige" Gleis bringen soll, ist den Revisionsgerichten nicht zuzubilligen, mögen auch die faktischen Einflußmöglichkeiten und das revisionsrichterliche Gerechtigkeitsstreben ein solches Rollen( selbst)verständnis nahelegen. Wollte man die Auswahl des Zurückverweisungsadressaten tatsächlich als Refugium des Revisionsgerichts begreifen, mit dessen Hilfe es legitimerweise seinen Gerechtigkeitsvorstellungen zum Durchbruch verhelfen dürfte, so würde hierdurch nicht nur das Konzept der normativen Verantwortungsteilung aufgegeben, sondern die Berufung auf das Gerechtigkeitspostulat würde dem Revisionsgericht eine nahezu übermächtige Stellung einräumen, die das Prinzip des gesetzlichen Richters in diesem Bereich an die Wand drücken würde. Als Quintessenz der vorgenannten Überlegungen ist festzuhalten, daß ein revisionsgerichtliches Ermessen allein hinsichtlich des „ O b " einer Weiterverweisung an ein anderes Gericht anzuerkennen ist. Ein Auswahlermessen bezüglich der Frage, welchem Gericht die erneute Verhandlung und Entscheidung der Sache anzuvertrauen ist, ist hingegen verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen. Insoweit verlangt das Prinzip des gesetzlichen Richters vielmehr eine normative Vorausbestimmung anhand abstrakt-genereller Merkmale. Diese Lösung, die ein einziges Ersatzgericht als Alternative zur Zurückverweisung an das zuvor mit der Sache befaßte Gericht vorsieht, stellt einen verfassungsrechtlich wie rechtspolitisch gleichermaßen zufriedenstellenden Kompromiß dar, der die Berücksichtigung ortsbezogener Beeinträchtigungen gestattet und zugleich die Gefahren einer ergebnisbezogenen Steuerung durch das Revisionsgericht minimiert. In welcher technischen Form dem Bestimmtheitsgebot Genüge getan wird, ist demgegenüber zweitrangig, doch dürfte sich eine Harmonisierung mit dem Regelungsmodell des § 140a G V G anbieten. 1 5 5 Eine Änderung des insoweit verfassungswidrigen § 3 5 4 II StPO durch den Gesetzgeber ist unverzichtbar. Das gilt ungeachtet der Tatsache, daß die Revisionsgerichte ihrerseits bereits heute eine spürbare Verbesserung in der Weise herbeiführen können, daß sie in freiwilliger Selbstbindung eine entsprechend verengte Ermessensausübung praktizieren.
Ob auch im Rahmen des § 3 5 4 II StPO die Gelegenheit geschaffen werden soll, in Ländern (bzw. OLG-Bezirken) mit nur einem Landgericht durch landesrechtliche Verordnung oder im Wege länderübergreifender Vereinbarungen ein Ersatzgericht zu konstituieren (vgl. § 140a III-V G V G ) , kann hier dahingestellt bleiben.
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III. Revisionsgerichtlich herbeigeführte Verschiebungen im Bereich der sachlichen Zuständigkeit (§5 354 III, 355 StPO) 1.
Der Anwendungsbereich der beiden Vorschriften
Die Konsequenzen einer Zurückverweisung an ein anderes Gericht gemäß § 354 II StPO beschränken sich auf eine Veränderung der örtlichen Zuständigkeit bezüglich der Neuverhandlung der Sache. Im Gegensatz hierzu eröffnen die §§ 354 III, 355 StPO dem Revisionsgericht Verschiebungen auch hinsichtlich anderer Zuständigkeitssegmente. Diese beiden Vorschriften unterscheiden sich in ihrem Anwendungsbereich wie folgt: Gemäß § 355 StPO verweist das Revisionsgericht (ohne ein diesbezügliches Ermessen) die Sache an das zuständige Gericht, sofern das Urteil aufgehoben wird, weil das Gericht des vorangehenden Rechtszuges sich mit Unrecht für zuständig erachtet hat. Damit schließt sich diese Bestimmung an die Regelung des § 338 Nr. 4 StPO an, wonach das Fehlen der sachlichen oder örtlichen Zuständigkeit bzw. die Mißachtung der besonderen gesetzlichen Zuständigkeit gleichrangiger Spruchkörper einen absoluten Revisionsgrund darstellt. 156 Die Intention des § 355 StPO ist somit - entsprechend der vergleichbaren Regelung des § 328 II StPO für das Berufungsgericht - darauf gerichtet, einen im früheren Verfahrensgang aufgetretenen Zuständigkeitsmangel zu korrigieren. 157 Es soll also das Anliegen des Art. 101 I 2 GG realisiert werden, indem das Revisionsgericht die Sache an den Richter zurückverweist, der bereits zuvor als gesetzlicher Richter zur Entscheidung dieses Falles berufen gewesen wäre.158 Nach allgemeiner Ansicht 159 ist § 355 StPO entsprechend anwendbar, wenn das Urteil aus einem anderen Grund aufgehoben wird, 160 die Sache aber vor ein Gericht höherer Ordnung oder vor ein ihm gemäß § 209a StPO gleichgestelltes Gericht gehört, 161 ebenso wenn ein zuständiges Gericht sich unzutreffend für unzustän-
RGSt. 40, 354 (359f.); KK-Kuckein, § 355 Rn 1 f. Holt das Revisionsgericht eine bereits dem Berufungsgericht gemäß ξ 328 II StPO obliegende, von diesem jedoch verabsäumte Zurückverweisung nach, so ist umstritten, ob diese Korrektur ihre Grundlage in § 355 StPO findet (in diesem Sinne BGHSt. 40, 120 [124]; OLG Düsseldorf, NStZ 1996,206 [207]; OLG Hamm, StV 1995, 182; 1996, 300f.; OLG Köln, StraFo 1996, 55 [56] und 85 [87]; OLG Oldenburg, NJW 1981, 1384 [1385]; Kleinknecht/Meyer-Goßner, ξ 355 Rn 5) oder ob es sich um eine Entscheidung des Revisionsgerichts in der Sache selbst handelt (so LR-Hanack, § 355 Rn 10; Rieß, NStZ 1981, 305). '5» Vgl. BGHSt. 38, 212ff.; OLG Stuttgartjustiz 1995, 99 (100); s. auch KK-Kuckein, Rn 1; HKTemming, Rn 1 jeweils zu § 355. OLG Stuttgart, Justiz 1995, 99 (100); LR-Hanack, Rn 2; KK-Kuckein, Rn 4; AK/St?0-Maiwald, Rn 2; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 1; YMK-Paulus, Rn 2; Pfeiffer, StPO, Rn 2; HK-Temming, Rn 2 jeweils zu § 355. Im Ergebnis ebenso - freilich ohne explizite Nennung des § 355 StPO - BGHSt. 13, 378 (382). 160 Umstritten ist, ob § 355 StPO auch dann entsprechende Anwendung finden kann, wenn das Vordergericht das Verfahren mit Recht wegen sachlicher Unzuständigkeit eingestellt hat, so daß die von der Staatsanwaltschaft eingelegte Revision unbegründet ist; vgl. bejahend BGHSt. 26, 191 (201); ablehnend die im Schrifttum überwiegende Ansicht (vgl. LR-Hanack, § 355 Rn 3 [m.w.N.]). Nur bezüglich der dogmatischen Konstruktion (direkte oder analoge Anwendung des § 355 StPO) umstritten ist hingegen die Korrektur fehlerhafter Verbindungsbeschlüsse; vgl. BGH, NStZ 1996, 47; Felsch, NStZ 1996, 163 ff. (164). 161 Vgl. z.B. BayObLG, DAR (bei Rüth) 1984, 243. Hierher gehören insbesondere die Fälle einer 157
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dig erklärt hat 162 oder wenn eine objektiv willkürliche Abweichung vom Geschäftsverteilungsplan vorliegt.163 Hingegen soll - von Fällen objektiver Willkür abgesehen - 1 6 4 die Unterschreitung der sachlichen Zuständigkeit wegen § 269 StPO nicht zur Anwendung des § 355 StPO führen. 165 Angesichts der mit § 355 StPO verfolgten Zielrichtung, das Verfahren vor den originär zuständigen gesetzlichen Richter zu bringen, bestehen gegen diese Verweisungsmöglichkeit keine Bedenken. Der Anwendungsbereich des § 354 III StPO unterscheidet sich von jenem des § 355 StPO dahingehend, daß hier die Vorinstanz tatsächlich für die Aburteilung des Falles zuständig gewesen ist.166 Nach dieser Vorschrift kann das Revisionsgericht die Sache an ein Gericht niederer Ordnung zurückverweisen, wenn die noch in Frage kommende strafbare Handlung zu dessen Zuständigkeit gehört. Während für § 355 StPO die vergangenheitsbezogene Korrekturfunktion maßgeblich ist, geht es bei § 354 III StPO darum, zukunftsbezogen ein Gericht der für den verbleibenden Prozeßgegenstand angemessenen Stufe im strafgerichtlichen Justizsystem mit der weiteren Behandlung der Sache zu betrauen. 167 Die Sinnhaftigkeit dieser Regelung läßt sich unschwer durch einschlägige Judikaturbeispiele illustrieren. So hatte der BGH erstinstanzlich vor dem Schwurgericht verhandelte Fälle an die allgemeine Strafkammer zurückverwiesen, in denen angesichts des rechtskräftig gewordenen Schuld- und Strafausspruchs wegen versuchten Mordes nur noch eine Strafe wegen Diebstahls zu verhängen 168 und die Gesamtstrafe zu bilden war bzw. allein ein Strafausspruch wegen unbefugten Führens einer Schußwaffe ausstand, nachdem das Revisionsgericht hinsichtlich der dem Angeklagten zur Last gelegten Tötungshandlung die Voraussetzungen der Notwehr für gegeben erachtet hatte. 169 Zur Zurückverweisung an die allgemeine Strafkammer kam es ferner in Fällen, in denen seitens des Revisionsgerichts die eine Schwurgerichtszuständigkeit begründende besonders schwere Brandstiftung (§ 307 StGB a.F.) verneint 170 bzw. hinsichtlich der die Zuständigfehlerhaft unterbliebenen Verweisung gemäß § 270 I StPO; vgl. OLG Oldenburg, GA 1992, 471 (473); NStZ-RR 1996, 240; OLG Schleswig, SchlHA (bei Ernesti/Lorenzen) 1984, 97; OLG Stuttgart j u s t i z 1995, 99 (100 [„entsprechende" Anwendung des § 355 StPO]). Freilich ist teilweise umstritten, unter welchen Voraussetzungen eine Verweisung erfolgen muß; vgl. hierzu LR-Hanack, Rn 72 f.; Kleinknecht/ Meyer-Goßner, Rn 32a jeweils zu § 338. BGHSt. 42, 39 (42). BGHSt. 38, 376 (380). 164 Vgl. zur Zurückverweisung gemäß § 355 StPO an den Strafrichter wegen objektiv willkürlicher Annahme der Zuständigkeit der Strafkammer bzw. des Schöffengerichts BGHSt. 40, 120 (124); OLG Düsseldorf, JMB1.NW 1996, 47 (48); NStZ 1996, 206 (207); OLG Hamm, StV 1995, 182; 1996, 300 (301); OLG Köln, StV 1996, 298 (300); Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 355 Rn 5; s. auch ergänzend oben 20. Kap. I 3a und II 3. 165 LR-Hanack, Rn 1; AK/StPO-Maiwald, Rn 2 jeweils zu § 355. '«· KMR-Paulus, § 355 Rn 3. Vgl. zu dieser Differenzierung auch KG, JR 1965, 392 (393); LR-Hanack, § 354 Rn 63. Allerdings verschwimmen die dogmatischen Grenzen insofern, als bisweilen auch im Rahmen des § 355 StPO zukunftsgerichtete Erwägungen angestellt werden; vgl. BGHSt. 44, 121 (124); BGH, NJW 1960, 2203; BayObLGSt. 1962, 85 (87 ff.). Zur Rechtslage bei verbundenen Verfahren gegen Erwachsene und Jugendliche bzw. Heranwachsende vgl. LR-Hanack, § 355 Rn 5 f. BGH, VRS 35 (1968), 264 (266). »» BGH, NJW 1974, 154 (insoweit in BGHSt. 25, 229ff. nicht abgedruckt). '7 BGH, NJW 1994,3304 (3305).
25. Kapitel: Das Ermessen der Revisionsgerichte
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keit der Staatsschutzkammer b e g r ü n d e n d e n politischen Verdächtigung (§ 241a StGB) Verjährung festgestellt w o r d e n war. 171 In einem weiteren Fall, der gleichfalls vor d e m Schwurgericht seinen Ausgang g e n o m m e n hatte, erfolgte die Zurückverweisung an den Strafrichter, da n u n m e h r n u r n o c h eine Strafbarkeit wegen Begünstigung (§ 2 5 7 StGB) in Frage kam. 1 7 2 Eine charakteristische Fallkonstellation bildet ferner die Verweisung an das Schöffengericht, weil im Hinblick auf das Verschlechterungsverbot (§ 3 5 8 II S t P O ) eine den amtsgerichtlichen Strafbann übersteigende Strafe ausgeschlossen ist und die anfängliche Zuständigkeit des Landgerichts ersichtlich nicht auf der A n n a h m e einer „besonderen Bedeutung des Falles" beruhte. 1 7 ' Beispielhaft ist ferner eine Entscheidung anzuführen, in welcher der B G H 1 7 4 die Sache nicht an eine J u g e n d k a m m e r , sondern an eine allgemeine Strafkammer zurückverwies, weil sich das weitere (vormals verbundene) Strafverfahren nur noch gegen den Erwachsenen richtete.
2.
E r m e s s e n s s c h r a n k e n i m R a h m e n d e s § 3 5 4 III S t P O
Leuchtet es hiernach unmittelbar ein, auch bei der revisionsgerichtlichen Zurückverweisung nach der M a x i m e zu verfahren, „nicht mit Kanonen auf Spatzen zu schießen", so stellt sich umgekehrt die Frage, o b das Revisionsgericht auch von einer derartigen Anpassung der Gerichtsstufe absehen u n d die Sache gleichwohl an ein Gericht zurückverweisen darf, das im strafrechtlichen Gerichtssystem auf derselben Stufe angesiedelt ist wie das vorinstanzlich tätige Gericht. In der Tat haben die Revisionsgerichte mehrfach Strafsachen ungeachtet der Veränderung des zur N e u v e r h a n d l u n g anstehenden Verfahrensgegenstandes an einen gleichartigen Spruchkörper zurückverwiesen. In einem Fall war der Angeklagte wegen Totschlags (unter A n w e n d u n g des Strafrahm e n s des § 213 StGB) verurteilt w o r d e n , weil er seinem 70jährigen Onkel nach einem von diesem u n t e r n o m m e n e n Suizidversuch weitere Giftinjektionen verabreichte, u m das Leben des Opfers mit Sicherheit zu beenden. Der B G H 1 7 S h o b das Urteil mit der Begründ u n g auf, das Schwurgericht habe die Voraussetzungen des § 216 StGB zu Unrecht verneint. Bezüglich der Zurückverweisung f ü h r t e der B G H 1 7 6 aus, o b w o h l das Vergehen des § 216 StGB nicht zum Zuständigkeitskatalog des § 74 II G V G gehöre, habe die neue H a u p t v e r h a n d l u n g w i e d e r u m vor einer als Schwurgericht zuständigen Strafkammer (eines anderen Landgerichts) stattzufinden, da zu einer abweichenden A n o r d n u n g nach § 354 III StPO kein Anlaß bestehe. Bereits zuvor hatte der B G H 1 7 7 in einem Verfahren, in d e m ein rechtskräftiger Schuldspruch lediglich wegen schwerer Brandstiftung (§ 3 0 6 StGB a.F.), nicht jedoch wegen besonders schwerer Brandstiftung (§§ 3 0 7 S t G B [a.F.], 74 II Nr. 16 G V G [a.F.]) ergangen war, für Taten, die nicht in den ausschließlichen Z u ständigkeitsbereich des Schwurgerichts fallen, eine Wahlmöglichkeit des Revisionsge171
BGH, NJW 1984, 1764 (1765). BGH, MDR (bei Daliinger) 1953, 273 f. BGH, GA (bei Herlan) 1959, 338; s. auch BGHSt. 14, 64 (68). 174 BGHSt. 35, 267 ff. 175 BGH, NJW 1987, 1093 f. Zu den materiell-rechtlichen Problemen des Falles vgl. Roxin, NStZ 1987, 345 ff. 176 A.a.O. S. 1093. 177 BGH, MDR (bei Holtz) 1977, 810f. (mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen). 172
173
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter und Strafverfahrensrecht
richts angenommen, die Sache entweder gleichwohl an das Schwurgericht oder aber an eine andere (allgemeine) Strafkammer des Landgerichts zurückzuverweisen. Auch hinsichtlich des Zusammentreffens von jugendlichen (bzw. heranwachsenden) und erwachsenen Angeklagten läßt sich eine solche Zweispurigkeit feststellen: Die ursprünglich in ständiger Rechtsprechung vertretene Ansicht, eine Zurückverweisung müsse auch dann stets an eine Jugendkammer erfolgen, wenn sich das Verfahren nur noch gegen einen Erwachsenen richte, hatte der B G H 1 7 8 im Jahre 1988 aufgegeben. In einer neueren Entscheidung hat der B G H 1 7 9 jedoch klargestellt, daß das Revisionsgericht auch in einer solchen Konstellation nicht gehindert sei, die Sache an eine Jugendkammer (und nicht an die allgemeine Strafkammer) zurückzuverweisen.
a)
Die Heranziehung des § 269 StPO zur Begründung eines revisionsgerichtlichen Freiraums
Diese Beispiele implizieren ein Verständnis, das die Norm des § 3 5 4 III StPO lediglich als zusätzliche Option für die Revisionsgerichte ohne eine korrespondierende Verpflichtung zu einer Zuständigkeitsanpassung nach unten begreift. Diese Sichtweise findet Rückhalt in der im Schrifttum 1 8 0 vorherrschenden Ansicht, daß das Revisionsgericht „schon wegen § 2 6 9 S t P O " zur Zurückverweisung an ein Gericht niederer Ordnung nicht verpflichtet sei. O b es dem Revisionsgericht tatsächlich freigestellt ist, von der Möglichkeit des § 3 5 4 III StPO Gebrauch zu machen, und ob sich dieses Ergebnis aus der Regelung des § 2 6 9 StPO ableiten läßt, bedarf jedoch kritischer Betrachtung. Eher beiläufig ist insoweit anzumerken, daß die im Zusammenhang mit § 2 6 9 StPO von mehreren Kommentatoren ohne eine eigenständige dogmatische Begründung als zumeist einziger Beleg angeführte Entscheidung des B G H ins Leere geht. 1 8 1 An dieser Fundstelle wird § 2 6 9 StPO weder explizit noch der Sache nach angesprochen, und inhaltlich läßt sich die betreffende Entscheidung geradezu für die gegenteilige Sichtweise heranziehen. In jenem Fall, in dem die ursprünglich angenommene Straferwartung wegen des Verbots der reformatio in peius (§ 3 5 8 II StPO) seine Bedeutung verloren hatte, bezeichnete es der B G H 1 8 2 als „nicht gerechtfertigt, statt des grundsätzlich zuständigen Schöffengerichts weiterhin die Strafkammer entscheiden zu lassen. Auf die richtige Anwendung der §§ 74 Abs. 1, 2 4 Abs. 1 G V G ist auch im Rechtsmittelzug zu achten, soweit das Verfahrensrecht dies zuläßt." Allenfalls ließe sich der in einem späteren Beschluß des B G H 1 8 3 anklingende Hinweis auf die umfassendere Entscheidungsbefugnis der höherrangigen (oder solchen gleichgestellten) Gerichte als indirekte Bezugnahme auf den Grundgedanken des § 2 6 9 StPO interpretieren. Wichtiger als die notleidende Absicherung
B G H S t . 3 5 , 2 6 7 ff. (m.w.N. auch zur früheren Judikatur). B G H , StV 1 9 9 4 , 4 1 5 mit abl. Anm. H.-j. Schneider. Dem B G H zustimmend Brunner/Dölling, J G G , § 4 7 a Rn 7. 180 So LR-Hanack, Rn 6 4 ; KK-Kuckein, Rn 3 9 ; Kleinknecbt/Meyer-Goßner, Rn 4 2 ; Pfeiffer, StPO, Rn 1 3 ; H K - T e m m i n g , Rn 15 jeweils zu § 3 5 4 ; s. auch KMR-Paulus, § 3 5 4 Rn 4 9 . 181 Ausschließlich auf die Entscheidung B G H , GA (bei Herlan) 1 9 5 9 , 3 3 8 nehmen Bezug Hanack, Kuckein und Paulus (jeweils a.a.O.); Meyer-Goßner (a.a.O.) gibt als weitere Fundstelle die K o m m e n tierung von Hanack an. i " B G H , GA (bei Herlan) 1959, 3 3 8 (ohne Hervorhebung im Original), 's' B G H , M D R (bei Holtz) 1 9 7 7 , 8 1 0 ( 8 1 1 ) . 178
179
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durch einschlägige Fundstellen ist freilich die Sachfrage, ob die Vorschrift des § 269 StPO ein überzeugendes dogmatisches Fundament für die These bietet, die Zurückverweisung an einen zu niedrigen Spruchkörper sei stets unschädlich. In der Tat scheint § 269 StPO bei flüchtiger Betrachtung die hier zu diskutierende Annahme zu bestätigen, hat doch der Gesetzgeber dem erkennenden Gericht eine Verweisung an ein niederrangiges Gericht gerade deshalb verwehrt, weil die sachliche Zuständigkeit für die Entscheidung in schwereren Straffällen diejenige für die minder schweren Straffälle in sich einschließe.184 Verstärkend ließe sich die gängige These anführen, daß der Angeklagte bei einer Aburteilung durch einen mit mehr (und idealtypisch: besser qualifizierten) Richtern besetzten Spruchkörper nicht beschwert sei.185 Unter dem Eindruck dieser Aussagen könnte man zu der Annahme gelangen, die Zurückverweisung an ein dem vorbefaßten Spruchkörper gleichrangiges Gericht sei unproblematisch auch dann, wenn der verbliebene Tatvorwurf an sich vor ein Gericht niederer Ordnung gehören würde. 186 Dennoch ist der Hinweis auf § 269 StPO nicht als tragfähige Begründung anzuerkennen. Hierbei mag es auf sich beruhen, daß das „Klischee ,höhere Richter = besseres Recht'" durchaus fragwürdig ist.187 Der Haupteinwand besteht darin, daß hier ein einzelner Gesichtspunkt aus seinem normativen Sinnbezug herausgelöst und im Wege freier Assoziation auf einen fremden Kontext übertragen wird. Auch in anderen Zusammenhängen ist die Neigung zu beobachten, dem § 269 StPO einen so fundamentalen Aussagegehalt beizulegen, daß das Verfassungsprinzip des gesetzlichen Richters in den Schatten dieser die gesamte Zuständigkeitsordnung vermeintlich überstrahlenden Einzelnorm gerät. 188 Gegenüber einer solchen Vorgehensweise, die den § 269 StPO verabsolutiert und sodann versatzstückhaft zum Einsatz bringt, ist nachdrücklich auf der Feststellung zu beharren, daß § 269 StPO einen fest umgrenzten Anwendungsbereich hat, der einer „transzendentalen" Überhöhung entgegensteht. Dieser Gedanke läßt sich sowohl unter formellen als auch unter materiellen Vorzeichen präzisieren. Bei einer formalen Betrachtungsweise folgt aus der systematischen Stellung im Gesetz, daß die Regelung des § 269 StPO allein die Phase des Hauptverfahrens betrifft. Die für das Strafverfahren allgemein maßgebliche Grundnorm zur sachlichen Zuständigkeit ist ohne eine Unterscheidung zwischen höher- und niederrangigen Gerichten - in § 6 StPO enthalten; hierbei kann dahingestellt bleiben, ob es sich bei § 269 StPO um eine echte Ausnahme zu § 6 StPO oder um eine das dort verankerte Gebot ausfüllende Sonderregelung handelt. 189 Bezüglich des Zwischenverfahrens statuieren die §§ 209 I, 209a StPO
184 So bereits Hahn, Materialien zur StPO Bd. I, S. 212 (zu § 228); s. auch LR -Gollwitzer, Rn 4; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 1; KMR-Müller, Rn 1; SK/StPO-Schlüchter, Rn 1; AK/StPO-Wassermann, Rn 1 jeweils zu § 269. 185 RGSt. 62, 265 (271); BGHSt. 21, 334 (358); Gollwitzer, Meyer-Goßner, Schlüchter (m.w.N.) und Wassermann jeweils a.a.O. Nach Ansicht des B G H (NJW 1993, 1607 [1608]) ergibt sich „aus der Sonderregelung des § 269 StPO . . ., daß es grundsätzlich als unschädlich anzusehen ist, wenn ein höheres Gericht statt eines Gerichts niederer Ordnung entschieden hat". 187 Vgl. Sowada, JR 1995, 259 (m.w.N.); zustimmend Dietmeier, JR 1998, 470 (Fn 2). 188 Vgl. oben 20. Kap. 1.3 b.aa (§ 269 StPO als „Willkürausschlußgrund"?); s. auch Sowada, JR 1995, 258 f. (§ 269 StPO als „Verfahrenshindernisausschlußgrund"?). Zutreffend hingegen BGHSt. 46, 238 (240f.). 189 Vgl. hierzu SK/StPO-Schlüchter, § 269 Rn 1 (m.w.N.).
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter u n d Strafverfahrensrecht
ausdrücklich die Pflicht des höherrangigen (bzw. des diesem gleichgestellten) Gerichts, das Hauptverfahren vor einem Gericht niedrigerer Ordnung zu eröffnen, sofern es dessen sachliche Zuständigkeit für gegeben hält. Dies steht in Einklang mit der Grundregel des § 6 StPO und zeigt deutlich, daß es der Rechtsordnung keineswegs egal ist, wenn das Verfahren auf einer zu hohen Gerichtsstufe abläuft. Lediglich für das Hauptverfahren wird dem Gericht durch § 269 StPO untersagt, sich für unzuständig zu erklären (oder arg. e contrario zu § 270 I StPO - den Fall an ein niederrangiges Gericht zu verweisen), weil die Sache vor ein Gericht niederer Ordnung gehöre. Die Tätigkeit der Revisionsgerichte vollzieht sich aber jenseits des Haupt Verfahrens, so daß § 269 StPO für die Zurückverweisung gemäß § 354 III StPO schon aus diesem Grunde jedenfalls nicht unmittelbar gelten kann. Doch auch eine unbewußte Regelungslücke, auf die sich eine analoge Anwendung dieser Vorschrift stützen ließe, kann nicht ernsthaft behauptet werden, da § 354 III StPO im Gegensatz zu § 269 StPO gerade die Verweisung an ein niederrangiges Gericht eröffnet. Für die Revisionsgerichte ist § 269 StPO nur insofern von Bedeutung, als es keinen zur Urteilsaufhebung führenden Rechtsmangel darstellt, daß das höhere Gericht entschieden hat, obwohl sich im Laufe des Hauptverfahrens die ausreichende Zuständigkeit des niederrangigen Gerichts herausgestellt hat. Erweiternd wird hieraus ferner gefolgert, daß auch die anfängliche Verkennung einer niederrangigen sachlichen Zuständigkeit, sofern sie nicht objektiv willkürlich erfolgte, nicht als Revisionsgrund anzuerkennen ist.190 Für diese Sichtweise läßt sich anführen, daß das Gesetz die Frage der sachlichen Zuständigkeit im Zeitpunkt der Eröffnung des Hauptverfahrens grundsätzlich abschließend entschieden wissen will. Diese revisionsrechtlichen Konsequenzen wirken sich auch auf die Zurückverweisung gemäß § 355 StPO aus. Denn soweit es aus den dargestellten Erwägungen an einem zur Urteilsaufhebung führenden Rechtsfehler mangelt, sind die Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht erfüllt. Dies besagt jedoch nichts für den Kontext des § 354 III StPO. Hier hängt die Zurückverweisung gerade nicht davon ab, ob in der Vergangenheit unterlaufene Zuständigkeitsfehler zu korrigieren sind, sondern die Zurückverweisung basiert zukunftsgerichtet auf der durch das Revisionsurteil geschaffenen neuen Ausgangslage. Der hiernach im Rahmen des § 354 III StPO maßgebliche Umstand ist somit deutlich von der Phase des instanzgerichtlichen Hauptverfahrens getrennt. Hiermit ist zugleich die Brücke zu der Erkenntnis geschlagen, daß auch eine „materielle", auf die Ratio des § 269 StPO abstellende Betrachtung die Bedeutungslosigkeit dieser Vorschrift für den vorliegenden Problemzusammenhang bestätigt. Denn es würde eine unzulässige Verkürzung des Sinngehalts dieser Prozeßnorm darstellen, wollte man die Aspekte der umfassenden Zuständigkeit des höherrangigen Gerichts und der (vermeintlich) fehlenden Beschwer aus dem diese Norm tragenden Gesamtverbund herausbrechen. 191 Wie der vergleichende Blick auf die §§ 6, 209 und 209a StPO zeigt, hat die Strafprozeßordnung grundsätzlich durchaus ein Interesse an der Beachtung der Zuständigkeit auch der niederrangigen Gerichte. Vor diesem Hintergrund bedarf es eines wei-
" Vgl. LR-Gollwitzer, Rn 9; Eb. Schmidt, L e h r k o m m e n t a r II, Rn 3 jeweils zu § 2 6 9 ; s. auch LRHanack, Rn 70; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 3 2 jeweils zu ξ 338. '»' Wie auch der B G H (St. 44, 121 [124]) mit Blick auf § 269 S t P O (bezüglich § 225a S t P O ) unlängst zu Recht festgestellt hat, „vermag das Fehlen einer Beschwer eine sonst nicht g e g e b e n e Z u s t ä n digkeit nicht zu b e g r ü n d e n " .
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2 5 . Kapitel: Das Ermessen der Revisionsgerichte
t e r e n E l e m e n t s z u r F u n d i e r u n g d e s in § 2 6 9 S t P O b e z ü g l i c h d e s H a u p t v e r f a h r e n s s t a t u i e r t e n V e r b o t s e i n e r V e r w e i s u n g „ n a c h u n t e n " . D i e s e r G r u n d p f e i l e r ist in d e m B e s t r e b e n z u s e h e n , Z w i s c h e n e n t s c h e i d u n g e n ü b e r die F r a g e d e r Z u s t ä n d i g k e i t a u s G r ü n d e n d e r Verfahrensbeschleunigung u n d der Prozeßwirtschaftlichkeit m ö g l i c h s t zu v e r m e i d e n . 1 9 2 E b e n die V e r w i r k l i c h u n g d i e s e s z e n t r a l e n G e s i c h t s p u n k t e s ist in d e r K o n s t e l l a t i o n d e r r e visionsgerichtlichen Zurückverweisung aber von vornherein ausgeschlossen. Der Sache n a c h b e f i n d e t s i c h d a s R e v i s i o n s g e r i c h t in e i n e r d e m E r ö f f n u n g s g e r i c h t ( o d e r n o c h g e n a u e r : d e m B e s c h w e r d e g e r i c h t in d e n F ä l l e n d e s § 2 1 0 S t P O ) 1 9 ' d u r c h a u s v e r g l e i c h b a r e n P o s i t i o n . D i e A n n a h m e , d a s R e v i s i o n s g e r i c h t sei z u r Z u r ü c k v e r w e i s u n g a n d a s n i e d e r rangige Gericht verpflichtet, w e n n dessen Zuständigkeit ausreicht, kann schlechterdings keine V e r f a h r e n s v e r z ö g e r u n g h e r v o r r u f e n ; im G e g e n t e i l entspricht es g e r a d e d e m
Ge-
danken der P r o z e ß ö k o n o m i e , eine „ ü b e r d i m e n s i o n i e r t e " Z u r ü c k v e r w e i s u n g a b z u s c h l i e ßen.'94 E i n n o c h g r e l l e r e s L i c h t fällt a u f die F r i k t i o n e n a n g e s i c h t s d e r T a t s a c h e , d a ß die G e l t u n g d e s § 2 6 9 S t P O für die K o n s t e l l a t i o n d e s § 3 5 4 III S t P O in a n d e r e m Z u s a m m e n h a n g ausdrücklich z u r ü c k g e w i e s e n wird.195 U m zu b e g r ü n d e n , d a ß § 4 7 a J G G
(diese
Vor-
192 Auch dieser Aspekt wird bereits in den Motiven zur Strafprozeßordnung genannt; vgl. Hahn, Materialien zur StPO Bd. I, S. 2 1 2 f . ; s. ferner LR-Gollwitzer, Rn 4 ; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rn 1; SK/StPO-Schlüchter, Rn 1 jeweils zu ξ 2 6 9 . 1,3 Diese Parallele ist deshalb exakter, weil es jeweils um die Festlegung der fremden Zuständigkeit für das weitere Verfahren geht. 194 Eine zusätzliche Ungereimtheit ergibt sich aus der Tatsache, daß § 2 6 9 S t P O im übertragenen Sinne Rechtsfolgen legitimieren soll, die ihm in seinem originären Anwendungsbereich nicht zugebilligt werden. So soll das Revisionsgericht die Sache an eine Spezialkammer zurückverweisen dürfen, obwohl der Anknüpfungspunkt für ihre Sonderzuständigkeit inzwischen entfallen ist (vgl. B G H , M D R (bei Holtz) 1 9 7 7 , 810 [811]; B G H , N J W 1 9 8 7 , 1 0 9 2 [ 1 0 9 3 ] ) . Bezüglich des erstinstanzlichen Hauptverfahrens entspricht es demgegenüber der einhellig vertretenen Ansicht, daß § 2 6 9 S t P O eine Verweisung der Sache von der Spezialkammer an die allgemeine Strafkammer nicht entgegensteht, weil es sich insoweit lediglich um eine vom Gesetz fingierte Höherrangigkeit der Spezialkammern handelt (vgl. Bohnert, Beschränkungen, S. 3 6 f.; Meyer-Coßner, N S t Z 1 9 8 1 , 1 7 1 ; K K - E n g e l h a r d t , § 2 7 0 Rn 16; LR-Gollwitzer, Rn 3 ; SK/StPO-Schlüchter, Rn 4 jeweils zu § 2 6 9 ) . Erachtet die Spezialkammer den gegen ihre Zuständigkeit erhobenen Einwand des Angeklagten für begründet, so verweist sie die Sache an die allgemeine Strafkammer; ein Recht, die Sache unter Berufung auf ihre (fingierte) Höherrangigkeit gleichwohl selbst abzuurteilen, steht ihr nicht zu. Zur Auflösung des aufgezeigten Widerspruchs ließe sich zwar darauf verweisen, daß das Gericht seine Spezialzuständigkeit gemäß § 6a S. 2 und 3 StPO nach der Eröffnung des Hauptverfahrens nur auf einen Einwand des Angeklagten beachten darf, den dieser nur bis zum Beginn seiner Vernehmung zur Sache in der Hauptverhandlung geltend machen kann. Nimmt man diese Regelung hinzu, so ließe sich in der T a t behaupten, daß aus der Perspektive des Revisionsgerichts von der Unverrückbarkeit der Spezialzuständigkeit auszugehen sei. Dennoch macht es einen Unterschied, o b diese Zuständigkeitsperpetuierung Folge der Höherrangigkeit ist oder nur durch die Hinzunahme der Präklusionsregelung des ξ 6a StPO bewirkt wird. Denn die Präklusion zielt unverkennbar auf den Gedanken der Verfahrensbeschleunigung und der Prozeßökonomie ab; diese Erwägungen kommen aber wie gesehen - in der Situation des ξ 3 5 4 III StPO gerade nicht zum Tragen. 195 Nach Ansicht von Paulus (in: K M R , § 3 5 4 Rn 4 9 ) ist wegen § 2 6 9 StPO eine Pflicht zur Zurückverweisung „nach unten" zu verneinen. Eine Randnummer zuvor wird hingegen ausgeführt, daß § 2 6 9 StPO ( n o c h ) nicht eingreift, solange das Verfahren beim neuen Tatrichter nicht anhängig ist. Dieser Widerspruch läßt sich auch nicht mit der Erwägung beseitigen, daß es hier um die Bindung des neuen Tatrichters geht; denn vor dem Zeitpunkt der erneuten Anhängigkeit kann sich die in Rn 4 8 getroffene Feststellung schlechterdings nur auf das Revisionsgericht beziehen.
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schrift überträgt den Rechtsgedanken des § 269 StPO in den Kontext des Jugendstrafrechts) 196 nicht stets die Zurückverweisung an das Jugendgericht erzwingt, weist der BGH 1 9 7 darauf hin, daß durch § 354 III StPO „für das Revisionsgericht eine Entscheidungsmöglichkeit gegeben ist, die der Tatrichter (nach Eröffnung des Hauptverfahrens) gemäß § 269 nicht hat". 198 Aus der Überlegung, daß das Revisionsgericht an ein örtlich oder sachlich zuständiges Gericht verweisen kann, während für den Tatrichter eine Verweisung wegen örtlicher Unzuständigkeit ausgeschlossen ist und eine solche wegen sachlicher Unzuständigkeit mit Blick auf § 269 StPO nur an ein höheres Gericht erfolgen darf, zieht der BGH den zutreffenden Schluß, „daß die für den Tatrichter bestehenden Vorschriften nicht auf die Entscheidungsbefugnis des Revisionsgerichts übertragen werden können". Den Grund hierfür sieht er (ebenfalls zu Recht) darin, „daß es nicht mehr auf die vergangene, sondern für das weitere Verfahren auf die gegenwärtige Rechtslage ankommt". Auf derselben Linie liegt die Feststellung, daß die für die Eröffnung des Hauptverfahrens konzipierte Vorschrift des § 209a StPO auf die Zurückverweisungsbefugnis nach § 354 III StPO analog anzuwenden ist.199 Die funktionelle Parallelität zur Eröffnung des Hauptverfahrens erweist sich schließlich auch darin, daß der BGH 2 0 0 in einem Fall, in dem für das übrigbleibende Vergehen in erster Linie das Schöffengericht zuständig gewesen wäre, die Zurückverweisung wegen der „besonderen Bedeutung des Falles" an die Strafkammer des Landgerichts vorgenommen hatte. Auf der Grundlage dieser Stellungnahmen ergibt sich ein zwiespältiges Bild: Einerseits wird die Vorschrift des § 269 StPO (bzw. § 47aJGG) beiseite geschoben, wenn es (im Interesse der Prozeßökonomie!) darum geht, eine Erweiterung der Zurückverweisungsmöglichkeiten zu legitimieren. Andererseits wird umgekehrt gerade auf diese Vorschrift verwiesen, um eine Pflicht der Revisionsgerichte zu einer der neuen Verfahrenslage angepaßten Zurückverweisung „nach unten" zu verneinen. Nimmt man die beiden gegenläufigen Teilaspekte zusammen, so tritt das eigentliche Anliegen dieser Doppelstrategie deutlich hervor: Es geht allein darum, dem Revisionsgericht einen möglichst großen Freiraum zu verschaffen. Die rechtspolitische Triebfeder dieses Vorgehens ist wiederum die unausgesprochen zugrunde gelegte Vorstellung von der „Steuerungsaufgabe der Revisionsgerichte". 201 Um den Revisionsgerichten den Rücken freizuhalten, wird § 269 StPO entgegen seiner besonders strikten Grundfunktion 202 bedenkenlos instrumentalisiert. BayObLG, M D R 1980, 958; Brunner/Dölling,
JGG, Rn 1; Eisenberg, JGG, Rn 3 ff. jeweils zu
S 47a. 197
BGHSt. 35, 267 (269); a.a.O. auch die nachfolgend im Text wiedergegebenen Zitate. Zusätzlich führt der B G H (a.a.O. S. 268 f.) das Argument an, daß ξ 47a S. 1 J G G für die Revisionsgerichte nichts besage, da sich die Vorschrift nur an die Jugendgerichte wende, es in der Revisionsinstanz aber keine Jugendgerichte gebe. Die Zurückverweisung des Revisionsgerichts richte sich deshalb allein nach den Normen der StPO. Hieraus folgt zugleich, daß die Entscheidung des BGH nicht als jugendspezifische Besonderheit angesehen werden kann. "8 Ebenso KG,JR 1965,392 (393). '·» LR-Rieß, § 209a Rn 6; s. auch LR-Hanack, Rn 66; AK/StPO-Maiwald, Rn 23 jeweils zu § 354. S. ferner (bezüglich des Berufungsverfahrens) OLG Celle, NdsRpfl 1987, 257; OLG Düsseldorf, JR 1982, 514. 2 °° BGH, M D R (bei Dallinger) 1954, 152; s. auch Eb. Schmidt, Lehrkommentar II, §§ 3 5 3 - 3 5 5 Rn 32. 2( " S. hierzu oben zu 1.2 und 4 sowie zu II. (nach Fn 154). 202 Das hinter dem § 269 StPO erkennbare Motto „einmal zuständig, immer zuständig" soll mög-
2 5 . Kapitel: Das Ermessen der Revisionsgerichte
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Dieser zweckgerichtete Umgang mit dem § 2 6 9 StPO erinnert an eine Vorstellung im Variete, bei der der Jongleur abwechselnd bunte Bälle in die Luft wirft und auffängt, wie es gerade paßt. Eine überzeugende Dogmatik ist auf diese Weise nicht zu erreichen. Diese Worte sind deshalb so scharf gewählt, weil der über den vorliegenden Kontext hinaus feststellbaren Tendenz 2 0 3 mit Nachdruck entgegenzutreten ist, den § 2 6 9 StPO als eine Art „Wunderwaffe" zu gebrauchen, mit deren Hilfe die Mißachtung der Zuständigkeitsregeln durch höherrangige Gerichte von vornherein für unbedenklich (oder doch zumindest für unbeachtlich) erklärt werden könne. Bezüglich des § 3 5 4 III StPO ist festzustellen, daß § 2 6 9 StPO für die Frage, an welches Gericht die Sache zurückzuverweisen ist, ohne jede Bedeutung ist.
b)
j 354 III StPO als „Kann"-Bestimmung
Aus diesen Überlegungen folgt allerdings noch nicht zwangsläufig das Bestehen einer Rechtspflicht zur Zurückverweisung an das niederrangige Gericht. Denn möglicherweise handelt es sich bei dem Hinweis auf § 2 6 9 StPO um eine beiläufige Ausschmückung für ein Ergebnis, das sich unmittelbar aus § 3 5 4 III StPO ableiten läßt. Für eine solche Deutung scheint insbesondere die Tatsache zu sprechen, daß diese Vorschrift (im Gegensatz zu § 3 5 5 StPO) eine „Kann"-Bestimmung ist. Immerhin wären die vorstehenden Ausführungen selbst dann nicht wertlos; denn es kann durchaus einen Unterschied machen, ob man den Revisionsgerichten ein (gegebenenfalls begrenzbares) Ermessen einräumt oder ob man die Zurückverweisung an ein zu hoch angesiedeltes Gericht generell für ungefährlich erklärt und somit etwaige Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieser Variante gar nicht erst zuläßt. Außerdem führt der Wegfall der auf § 2 6 9 StPO gegründeten Konstruktion dazu, die gesetzliche Ermessenseinräumung ihrerseits als legitimierungsbedürftig anzusehen. In diesem Zusammenhang verdienen zwei Aspekte der historischen Entwicklung Beachtung. Zum einen wurde die Regelung des § 3 5 4 III StPO wortgleich (als § 3 9 4 ) bereits in die ursprüngliche Fassung der Strafprozeßordnung aufgenommen; 2 0 4 sie stammt also aus einer Zeit, als das Prinzip des gesetzlichen Richters noch nicht verfassungsrechtlich verankert war und somit dem Gesetzgeber noch keine Schranken ziehen konnte. Zum anderen bestand bis zur sog. kleinen Strafprozeßreform ( 1 9 6 4 ) die Möglichkeit, die Sache exakt an den Spruchkörper zurückzuverweisen, der das vom Revisionsgericht aufgehobene Urteil gefällt hatte. 2 0 5 Wenngleich die Streichung dieser Alternative im Interesse des Vertrauens in die Unvoreingenommenheit der erneut über den Fall befinden Richter zu begrüßen ist, darf doch nicht verkannt werden, daß die nunmehr beseitigte Variante ein Argument dafür bot, die Zurückverweisung an ein niederrangiges Gericht in das revisionsgerichtliche Ermessen zu stellen. Denn bei nur geringfügigen Nachbesserungen könnte der Gedanke der Prozeßökonomie dafür streiten, den Fall an den judex a quo zurückzugeben, anstatt ein neues Gericht (wenngleich niederer Ordnung) mit der Sache liehe Zweifel und Zuständigkeitsverschiebungen gar nicht erst aufkommen lassen. Dieser Intention läuft es zuwider, wenn diese Norm dazu verwandt wird, Gestaltungsspielräume für eine flexible Zuständigkeitsbestimmung zu eröffnen. 2 °·' S. oben (zu) Fn 188. 204 Vgl. Hahn, Materialien zur StPO Bd. I, S. 41 (zu § 3 1 6 [a.E.]). 205 Vgl. oben zu Fn 3.
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Vierter Teil: Gesetzlicher Richter u n d Strafverfahrensrecht
zu befassen. 206 Die Abwägung, ob dem Gesichtspunkt der Prozeßwirtschaftlichkeit besser durch eine Neuverhandlung vor dem Ausgangsgericht oder vor einem anderen niederrangigen Gericht entsprochen werden kann bzw. ob sonstige Gründe eine Wegverweisung bedingen, ist nur anhand der Umstände des jeweiligen Einzelfalls möglich, so daß eine Ermessensregelung systematisch stimmig erschien. Hingegen steht auf dem Boden der gegenwärtigen Rechtslage die Notwendigkeit der Befassung eines neuen Spruchkörpers unverrückbar fest. Dann kann dem Gedanken der Prozeßökonomie jedoch grundsätzlich allein dadurch entsprochen werden, daß die Zurückverweisung an einen zu hoch angesiedelten Spruchkörper unterbleibt. Vor diesem Hintergrund weisen sowohl die allgemeine Aufwertung des Prinzips des gesetzlichen Richters als auch die konkrete Entwicklungsgeschichte des § 354 StPO in die Richtung, die „Beweglichkeit" der Revisionsgerichte bei der Zurückverweisung auch im Rahmen des § 354 III StPO einzuschränken. Die schärfste Konsequenz bestünde gewiß darin, den dritten Absatz des § 354 StPO im Wege verfassungskonformer Auslegung als „Muß"-Vorschrift zu interpretieren. Eine so rigorose Schlußfolgerung würde zwar jeden Spielraum bei der Festlegung der sachlichen Restzuständigkeit beseitigen und damit dem Bestimmtheitsgebot bestmöglich entsprechen. Andererseits ist jedoch fraglich, ob eine derart einschneidende Korrektur tatsächlich vonnöten ist. Denn die Deutung als „Muß"-Bestimmung impliziert die Statuierung einer revisionsgerichtlichen Prüfungspflicht, um entscheiden zu können, ob die sachliche Zuständigkeit eines Gerichts niederer Ordnung für den Fortgang des Verfahrens ausreicht. Mit einer solchen Prüfungspflicht käme jedoch eine erhebliche Zusatzbelastung auf die Revisionsgerichte zu. Soweit es um die rückwirkende Kontrolle der sachlichen Zuständigkeit geht, ist zwar (auch innerhalb des BGH) umstritten, ob dem Revisionsgericht gemäß § 6 StPO eine Prüfung von Amts wegen obliegt oder ob es insoweit einer hinreichend substantiierten Verfahrensrüge gemäß § 338 Nr. 4 StPO bedarf. 207 In jedem Fall ist der Prüfungsrahmen bezüglich einer zu hoch gewählten Eingangszuständigkeit nach herrschender Ansicht im Hinblick auf § 269 StPO auf einen bloßen Willkürmaßstab verengt. 208 Die Zuständigkeit der gesetzlich vorgesehenen Spezialstrafkammern wird vom Revisionsgericht nur dann überprüft, wenn der Angeklagte rechtzeitig den Einwand gemäß § 6a StPO erhoben hatte. 209 Die mit diesen Restriktionsmechanismen für die Revisionsgerichte einhergehende Entlastungswirkung würde weitestgehend aufgehoben, wenn man dem Revisionsgericht für den zweiten Verfahrensdurchgang eine dem Eröffnungsgericht entsprechende Stellung zuweisen wollte. Denn nunmehr müßte zwar nicht retrospektiv mit dem Ziel einer möglichen Urteilsaufhebung, wohl aber vorausschauend im Hinblick auf die richtige Zurückverweisung in vollem Umfang geprüft werden, ob der neu zu verhandelnde Verfahrensgegenstand in den Zuständigkeitsbereich eines Spruchkörpers fällt, der dem erstentscheidenden Gericht im strafgerichtlichen Ordnungsmodell Vgl. Sarstedt, FS Dreher ( 1 9 7 7 ) , S. 694. 207 f ü r eine Prüfung von A m t s w e g e n der 4. Strafsenat: vgl. B G H S t . 40, 120 (122ff.) mit A n m . Engelhardt, }Z 1995, 2 6 2 f . ; Sowada, JR 1995, 2 5 7 f f . ; B G H , N J W 1999, 2 6 0 4 ( m . w . N . ) ; für das Rügeerfordernis der 1. Strafsenat: vgl. BGHSt. 43, 5 3 ( 5 6 f f . ) mit (abl.) A n m . Bernsmann, J Z 1998, 629 ff.; B G H , N J W 1993, 1 6 0 7 f . ; s. auch B G H ( 5 . Senat)St. 42, 2 0 5 ff. mit A n m . Gollwitzer, JR 1997, 4 3 2 ff. 208 Vgl. n u r Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 269 Rn 8 ( m . w . N . ) . 2