Vier Bilder von Jesus: Die Evangelien für heute - ihre literarische und theologische Komposition 9783429039677, 9783429048723, 9783429062910, 3429039673

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Vier Bilder von Jesus: Die Evangelien für heute - ihre literarische und theologische Komposition
 9783429039677, 9783429048723, 9783429062910, 3429039673

Table of contents :
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Inhalt
Vorwort
Einleitung: Vier Porträts Jesu
A. Annäherung an die Welt der Evangelien
a. Die historisch-kritische Forschung
b. Narrative Forschung
c. Weitere Interpretationsmodelle
B. Religion, Politik, Kultur
C. Sind Evangelien Biographien ?
D. Evangelien als Verkündigung in erzählender Form
E. Evangelien : Antike Texte mit religiösem Anspruch
F. Literatur zur Vertiefung
Kapitel 1: Von Jesus zum Text – und zurück
A. Drei Phasen der Entstehung der Evangelien
a. Das öffentliche Leben, Wirken, Leiden und Sterben Jesu (bis ca. 30)
b. Die apostolische Zeit (30–65)
c. Zeit der Abfassung der Evangelien (ab ca. 65)
B. Schlussfolgerungen aus der Entstehungsgeschichte der Evangelien
C. Und zurück: Die Frage nach dem historischen Jesus
D. Rezeption und Interpretation der Evangelien
a. Textkritik
b. Übersetzung
c. Kanonbildung
d. Inspiration
e. Bekenntnis
E. Literatur zur Vertiefung
Kapitel 2: Das Evangelium nach Markus
A. Wie entstand das Markusevangelium?
B. Die literarische Kunst des Markusevangeliums
a. Die Gliederung des Evangeliums
b. Die Kunst des Erzählens im Markusevangelium
c. Zusammenfassung
C. Die theologische Kunst des Markusevangeliums
a. Die Gottesherrschaft
b. Wer ist Jesus ?
c. Jüngerschaft
D. Autor, Ort, Zeit, Absicht
a. Autor
b. Ort
c. Zeit
d. Absicht
E. Das Markusevangelium in heutiger Sicht
F. Literatur zur Vertiefung
Kapitel 3: Das Evangelium nach Matthäus
A. Wie entstand das Matthäusevangelium?
a. Matthäus und Markus
b. Matthäus und Q
c. Das Sondergut
d. Zusammenfassung
B. Die literarische Kunst des Matthäusevangeliums
a. Die Gliederung
b. Die Kunst des Erzählens im Matthäusevangelium
c. Zusammenfassung
C. Die theologische Kunst des Matthäusevangeliums
a. Gott als der barmherzige Vater
b. Jesus als die Gegenwart Gottes
c. Die Kirche als Ort der Gegenwart Jesu
D. Autor, Ort, Zeit, Absicht
a. Autor
b. Ort
c. Zeit
d. Absicht
E. Das Matthäusevangelium in heutiger Sicht
F. Literatur zur Vertiefung
Kapitel 4: Das Evangelium nach Lukas
A. Wie entstand das lukanische Doppelwerk?
a. Lukas und Markus
b. Lukas und Q
c. Das Sondergut
d. Zusammenfassung
B. Die literarische Kunst des Lukasevangeliums
a. Die Gliederung des Lukasevangeliums
b. Die Kunst des Erzählens im Lukasevangelium
c. Zusammenfassung
C. Die theologische Kunst des Lukasevangeliums
a. Die Verkündigung Jesu
b. Die geographische Perspektive als Theologie
c. Die geschichtliche Perspektive als Theologie
d. Die Figur Jesu
e. Die Erwartung der Endzeit
D. Autor, Ort, Zeit, Absicht
a. Autor
b. Ort
c. Zeit
d. Absicht
E. Das Lukasevangelium in heutiger Sicht
F. Literatur zur Vertiefung
Kapitel 5: Das Johannesevangelium
A. Wie entstand das Johannesevangelium?
a. Unregelmäßigkeiten im Text des Johannesevangeliums
b. Erklärungsmodelle
c. Schlussfolgerungen
B. Die literarische Kunst des Johannesevangeliums
a. Die Gliederung
b. Die Kunst des Erzählens im Johannesevangelium
C. Die theologische Kunst des Johannesevangeliums
a. Jesus als Messias
b. Jesus als der Sohn Gottes
c. Glauben, um zu leben
d. Eine johanneische Gemeinde?
D. Autor, Ort, Zeit, Absicht
a. Autor
b. Ort
c. Zeit
d. Absicht
E. Das Johannesevangelium in heutiger Sicht
F. Literatur zur Vertiefung
Schlussbetrachtung: Vier Evangelien und ein Jesus
A. Vier Variationen über den Tod Jesu
B. Interpretationen zwischen Tradition und Zukunft
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Der Frage, weshalb das so ist, nähert sich Boris Repschinski, indem er Ent­stehung, Ort und Zeit der Evangelien und die Ab­sicht des jeweiligen Autors darstellt. Darüber hinaus und vor allem aber geht er auf die literarische und theologische Eigenart der Evangelientexte ein. Es ist ihre jeweilige Kompo­sition, die einen je eigenen Blick auf Jesus eröffnet und gleichzeitig den Leserinnen und Lesern Kriterien an die Hand gibt, in den Texten Wegweisungen für neue Lebenssituationen zu finden.

Boris Repschinski SJ, Dr. theol., geboren 1962 in Rheine in Westfalen; Professor für Neutestamentliche Bibelwissenschaften an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck. Seit 2007 ist er Schriftleiter der ZKTh, außerdem betreut er als Mitherausgeber die Innsbrucker Theologischen Studien.

ww.echter.de ISBN 978-3-429-03967-7

Boris Repschinski VIER BILDER VON JESUS

Was wir von Jesus wissen, verdanken wir den vier Evangelien. Auch wenn diese in vielem übereinstimmen, finden sich darin doch markante Unterschiede und eigene Interpretationen der Geschichte Jesu.

Boris Repschinski

VIER BILDER VON JESUS

Die Evangelien – alt, doch aktuell echter

Repschinski-Vier Bilder-Umschlag.indd 1

07.07.16 10:59

Boris Repschinski Vier Bilder von Jesus Die Evangelien – alt, doch aktuell

Boris Repschinski

Vier Bilder von Jesus Die Evangelien – alt, doch aktuell

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http ://dnb.d-nb.de› abruf bar. 1. Auflage 2016 © 2016 Echter Verlag GmbH, Würzburg www.echter.de Umschlag : Peter Hellmund (Bild : Udo Rohlfs : Auferstehung x, 2013, Mischtechnik auf Leinwand, 200 × 200 cm) Satz : Hain-Team (www.hain-team.de) Druck und Bindung : CPI-books – Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-429-03967-7 978-3-429-04872-3 (PDF) 978-3-429-06291-0 (ePub)

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung : Vier Porträts Jesu. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

A. Annäherung an die Welt der Evangelien . . . . . . . . . . . . a. Die historisch-kritische Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Narrative Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Weitere Interpretationsmodelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Religion, Politik, Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Sind Evangelien Biographien ?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Evangelien als Verkündigung in erzählender Form . . . E. Evangelien : Antike Texte mit religiösem Anspruch. . . F. Literatur zur Vertiefung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12 13 16 17 18 22 24 25 27

Kapitel 1 : Von Jesus zum Text – und zurück. . . . . . . . . . . . . . 29

A. Drei Phasen der Entstehung der Evangelien . . . . . . . . . a. Das öffentliche Leben, Wirken, Leiden und Sterben Jesu (bis ca. 30). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Die apostolische Zeit (30–65). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Zeit der Abfassung der Evangelien (ab ca. 65) . . . . . . . . . . B. Schlussfolgerungen aus der Entstehungsgeschichte der Evangelien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Und zurück : Die Frage nach dem historischen Jesus . . D. Rezeption und Interpretation der Evangelien. . . . . . . . a. Textkritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Übersetzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Kanonbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Inspiration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e. Bekenntnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Literatur zur Vertiefung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30 31 31 38 40 41 44 44 45 47 49 53 54

Kapitel 2 : Das Evangelium nach Markus . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

A. Wie entstand das Markusevangelium ? . . . . . . . . . . . . . . B. Die literarische Kunst des Markusevangeliums. . . . . . . a. Die Gliederung des Evangeliums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Die Kunst des Erzählens im Markusevangelium. . . . . . . . c. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Die theologische Kunst des Markusevangeliums . . . . . a. Die Gottesherrschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Wer ist Jesus ?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Jüngerschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Autor, Ort, Zeit, Absicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Autor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Ort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Absicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Das Markusevangelium in heutiger Sicht. . . . . . . . . . . . F. Literatur zur Vertiefung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60 62 63 65 72 72 72 76 82 88 88 91 92 92 95 100

Kapitel 3 : Das Evangelium nach Matthäus. . . . . . . . . . . . . . . . 101

A. Wie entstand das Matthäusevangelium ?. . . . . . . . . . . . . a. Matthäus und Markus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Matthäus und Q. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Das Sondergut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die literarische Kunst des Matthäusevangeliums . . . . . a. Die Gliederung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Die Kunst des Erzählens im Matthäusevangelium. . . . . . . c. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Die theologische Kunst des Matthäusevangeliums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Gott als der barmherzige Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Jesus als die Gegenwart Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Die Kirche als Ort der Gegenwart Jesu . . . . . . . . . . . . . . .

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D. Autor, Ort, Zeit, Absicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Autor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Ort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Absicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Das Matthäusevangelium in heutiger Sicht . . . . . . . . . . F. Literatur zur Vertiefung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 4 : Das Evangelium nach Lukas . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

A. Wie entstand das lukanische Doppelwerk ? . . . . . . . . . . a. Lukas und Markus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Lukas und Q. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Das Sondergut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die literarische Kunst des Lukasevangeliums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Die Gliederung des Lukasevangeliums. . . . . . . . . . . . . . . . b. Die Kunst des Erzählens im Lukasevangelium . . . . . . . . . c. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Die theologische Kunst des Lukasevangeliums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Die Verkündigung Jesu. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Die geographische Perspektive als Theologie. . . . . . . . . . . . c. Die geschichtliche Perspektive als Theologie . . . . . . . . . . . . d. Die Figur Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e. Die Erwartung der Endzeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Autor, Ort, Zeit, Absicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Autor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Ort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Absicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Das Lukasevangelium in heutiger Sicht . . . . . . . . . . . . . F. Literatur zur Vertiefung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

159 162 168 172 174 175 176 180 189 191 191 197 202 206 215 218 218 220 220 221 223 226

Kapitel 5 : Das Johannesevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

A. Wie entstand das Johannesevangelium ?. . . . . . . . . . . . . a. Unregelmäßigkeiten im Text des Johannesevangeliums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Erklärungsmodelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Schlussfolgerungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die literarische Kunst des Johannesevangeliums. . . . . . a. Die Gliederung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Die Kunst des Erzählens im Johannesevangelium . . . . . . . C. Die theologische Kunst des Johannesevangeliums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Jesus als Messias. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Jesus als der Sohn Gottes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Glauben, um zu leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Eine johanneische Gemeinde ?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Autor, Ort, Zeit, Absicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Autor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Ort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Absicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Das Johannesevangelium in heutiger Sicht. . . . . . . . . . . F. Literatur zur Vertiefung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Schlussbetrachtung : Vier Evangelien und ein Jesus. . . . . . . . 279

A. Vier Variationen über den Tod Jesu. . . . . . . . . . . . . . . . . 279 B. Interpretationen zwischen Tradition und Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286

Vorwort

Die vier Evangelien halten Erinnerungen an Jesus wach. Allen vier Evangelien merkt man deutlich an, dass sie die Traditionen um Jesus für eine neue Generation von Jüngerinnen und Jüngern interpretieren. Die moderne Bibelwissenschaft treibt viel Aufwand, die historischen Umstände des Jesusereignisses und seiner Interpretation in frühchristlichen Schriften und Gemeinden zu rekonstruieren. Während sich der vorliegende Band der historischen Rekonstruktion nicht entzieht, möchte er doch einen anderen Schwerpunkt setzen. Der Akzent liegt auf der Analyse der Texte in ihrer literarischen und theologischen Eigenart. Diesem Ansatz liegt die Behauptung zugrunde, dass literarische und theologische Kunst in den Evangelien letztlich eine Einheit bilden. Die Übersetzungen aus der Bibel sind in der Regel eigens erstellt. Dies erhöht zwar für Leserinnen und Leser die Schwierigkeit, manches an den gängigen Übersetzungen nachzuvollziehen, andererseits wird hoffentlich manches Detail klarer. Das „Alte Testament“ ist eine christliche Erfindung. Zur Zeit der Abfassung der Evangelien gab es das Gesetz, es gab Propheten und andere Schriften, jedoch wenig Übereinstimmung unter Juden über die Normativität dieser Schriften. Daher wird in diesem Buch der Begriff „Altes Testament“ vermieden. Auch ein „Neues Testament“ gab es zu dieser Zeit noch nicht. Doch geht der Begriff auf die Idee des „neuen Bundes“ (z. B. 1 Kor 11,25) zurück und wird deshalb beibehalten, wo es hilfreich scheint. 9

Auf ausführliche Literaturangaben wurde verzichtet, lediglich knappe Hinweise am Ende eines jeden Kapitels geben Tipps für die vertiefende Lektüre. Bedanken möchte ich mich bei den Kollegen in Innsbruck, die mit großer Gewissenhaftigkeit und Engagement das Manuskript gelesen und hilfreiche Beobachtungen beigesteuert haben : Dr. Mira Stare, Dr. Andrew Doole und Prof. Martin Hasitschka. Frau Elfriede Oeggl hat meiner holprigen Sprache Stil verliehen und Tippfehler ausgemerzt. Die noch verbliebenen Mängel sind ausschließlich mir anzulasten. Die ersten Kapitel dieses Buches entstanden in der theologischen Hochschule der Jesuiten in Saigon als Ausgleich zu Vorlesungen über Paulus. Gelegentlich hatte ich den Eindruck, dass die Studierenden dort fast so interessiert am Fortschritt dieses Buches waren wie an den paulinischen Schriften. So sei es ihnen auch gerne gewidmet. Boris Repschinski Innsbruck, im Februar 2016

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Einleitung : Vier Porträts Jesu

Auf den ersten Seiten des Neuen Testaments stehen vier Schriften, die sich jeweils mit dem Leben und der Person Jesu beschäftigen. Es sind die vier „Evangelien“, so genannt nach dem griechischen Wort für „gute Nachricht“ oder auch „frohe Botschaft“ (euangelion). Das Neue Testament besteht aus 27 Schriften, die sich alle mit der frohen Botschaft von Jesus Christus und dessen Bedeutung für ein Leben in seiner Nachfolge beschäftigen. Aber nur die vier Evangelien versuchen, eine Art Lebensgeschichte Jesu zu entwerfen. Sie gehören zu den spät entstandenen Schriften des Neuen Testaments. Unter den frühesten Schriften sind Briefe, besonders die des Paulus an verschiedene Gemeinden. Dort finden sich nur vereinzelte Hinweise auf Ereignisse im Leben Jesu. Offensichtlich entstand erst später das Bedürfnis, die wichtigsten Lebensstationen Jesu auch schriftlich festzuhalten. Daher wuchsen die Evangelien auch aus einer Überlieferung heraus, die die Erinnerung an Jesus über vierzig und mehr Jahre hinweg hauptsächlich in mündlichen Erzählungen weitergab. So entstanden die Evangelien etwa eine Generation nach den Ereignissen, die sie beschreiben. Wiederum etwa eine oder zwei Generationen später wurden den zunächst anonymen Schriften auch Namen gegeben. Schon allein die Sprache verrät den Abstand zu den geschilderten Ereignissen : Die Evangelien wurden auf Griechisch abgefasst, während Jesus Aramäisch sprach. 11

Die mündliche Überlieferung der Traditionen um Jesus war natürlich auch immer eine Interpretation dessen, woran man sich erinnerte. Lokale Gegebenheiten und unterschiedliche Gemeindesituationen führten zu unterschiedlichen Interpretationen. Obwohl die vier Evangelien im Wesentlichen ähnliche Erinnerungen an Jesus aufzeichnen, lassen sich doch verschiedene Akzente wahrnehmen : – Das Evangelium nach Markus erzählt von Jesus, der am Kreuz für die Menschen starb. Jesus gab sein Leben als Lösegeld für viele (Mk 10,45). – Das Evangelium nach Matthäus erzählt von Jesus, der seine Jüngerinnen und Jünger in der Kirche sammelt und ihnen bis zum Ende der Zeit gegenwärtig ist und dadurch Gott gegenwärtig macht. Durch ihn ist Erlösung durch die Vergebung der Sünden möglich (Mt 1,21 ; 1,23 ; 28,20). – Das Evangelium nach Lukas interessiert sich für einen Jesus, auf dem Gottes Geist liegt und der daher den Gefangenen und Unterdrückten Freiheit bringt. Jesus wird zum Zeugen für Gottes Barmherzigkeit und Zuwendung für die Armen und Schwachen (Lk 4,18–20). – Das Evangelium nach Johannes beschreibt Jesus als den Offenbarer Gottes. Jesus lehrt, wer Gott wirklich ist, und bezeugt dies schließlich mit seiner Lebenshingabe am Kreuz. Er kann dies tun, da er der eingeborene Sohn Gottes ist und eins mit dem Vater ( Joh 1,14).

A. Annäherung an die Welt der Evangelien Die Evangelien sind in einer Zeit entstanden, die fast 2000 Jahre zurückliegt. Viele Dinge befremden heute. In den Geschichten tauchen Pharisäer und Sadduzäer auf, es gibt Samariter und Syrophönizierinnen. Und immer wieder tauchen Römer auf, die die politische und militärische Besatzung Pa12

lästinas durch das Römische Reich repräsentieren. Jesus heilt Krankheiten durch Exorzismen und stirbt selbst am Kreuz. Menschen diskutieren, was religiös rein oder unrein sein könnte. Will man die Evangelien besser verstehen, muss man auch in diese fremde und ferne Welt eintauchen und sich mit ihrer Kultur, ihrer Geschichte, ihren Menschen und Gebräuchen bekannt machen. Die Erschließung der biblischen Welt ist eines der Ziele der modernen biblischen Forschung. In den letzten Jahren haben sich dabei unterschiedliche Disziplinen herauskristallisiert, die sich grob in mehrere Kategorien einteilen lassen. a. Die historisch-kritische Forschung

Die historisch-kritische Forschung nähert sich den Texten vom Standpunkt der Geschichte aus. Sie sucht die Texte über ihre Ursprünge und Entwicklungsgeschichte, über historische und kulturelle Gegebenheiten zu verstehen. Die Texte werden als Zeugnisse ihrer Zeit gelesen. Innerhalb der Zeit der Entstehung helfen der Interpretation solche Quellen, die den biblischen Texten mehr oder weniger zeitgleich sind. So beschreibt der Geschichtsschreiber Flavius Josephus (ca. 37–100 n. Chr.) Ereignisse und Personenkreise, die auch in den Evangelien auftauchen. Josefus beschreibt Personen wie Herodes oder Pilatus. Er beschreibt Pharisäer und bestätigt, dass Sadduzäer nicht an die Auferstehung glauben (vgl. Mk 12,18). Der jüdische Philosoph Philo von Alexandrien (ca. 25 v. Chr.–40 n. Chr.) trägt viel zum Verständnis jüdischer Schriftauslegung bei. Wenn Mk 4,14–20 das Gleichnis vom Sämann als Allegorie versteht, hat das ein Vorbild in der Interpretation jüdischer Schriften durch Philo. Die bei Qumran gefundenen Schriftrollen tragen wesentlich zum Verständnis des Judentums zur Zeit Jesu bei. In den Schriftrollen finden sich beispielsweise Formen von Reinheitsritualen, wie sie in Mk 7,1–25 kritisiert werden. 13

Solche schriftlichen Zeugnisse werden ergänzt durch archäologische Funde. Indem man antike Stätten identifiziert und ausgräbt, lässt sich zeigen, wie Menschen in Städten und Dörfern zusammengelebt haben und was ihnen kulturell wichtig war. Überraschend ist z. B. die Anzahl von Theatern, die man in Palästina gefunden hat. Auch der Vergleich mit zeitgenössischer Literatur ist hilfreich. So kennt man Geschichtswerke, Biographien, Romane, Dramen, Satiren, Gedichte, Reden, Briefe und vieles mehr. Zudem finden sich auch antike Lehrbücher, in denen Schülern beigebracht wird, was gute Literatur ausmacht und wie man sich gewandt und stilvoll ausdrückt. Sogar alte Schulund Übungshefte sind erhalten und geben lebendigen Eindruck von dem, was unterrichtet wurde. Diese Forschungen haben als erstes Ziel, die Schriften des Neuen Testaments in die kulturelle Landschaft der Antike einzuordnen, Vergleiche mit nicht-christlicher Literatur zu ziehen und zu sehen, wie sehr – oder manchmal auch wie wenig – die Schriften des Neuen Testaments zumindest der Form nach auch Produkte ihrer Zeit sind. Literatur in der Antike war nicht nur der Erbauung oder Unterhaltung dienlich, sondern war auch häufig eine Form der öffentlichen Selbstpräsentation. Bildung in der Antike beinhaltete auch die Fähigkeit, öffentliche Reden halten zu können. Diese Kunst der Rhetorik wurde an Schulen gelehrt. Viele Lehrbücher der antiken Rhetorik sind erhalten, und Schulhefte mit praktischen Übungen aus dieser Zeit existieren noch. Redner wie Demosthenes oder Cicero waren nicht nur hochverehrt, sondern publizierten auch ihre Reden. Rhetorik findet ihren Niederschlag in der Briefliteratur des Neuen Testaments. Aber auch die Reden der Evangelien und der Apostelgeschichte zeigen, dass ihre Autoren in der Kunst antiker Rhetorik zumindest einige Bildung besaßen. 14

Aus den schriftlichen und den archäologischen Zeugnissen lässt sich heute ein relativ genaues Bild des Lebens zur Zeit der neutestamentlichen Texte zeichnen. Die Erforschung der Textentstehung ist ein zweites Ziel. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begannen Neutestamentler, die einzelnen Geschichten innerhalb der Evangelien in verschiedene Gattungen einzuteilen. So gibt es Wundergeschichten, Gleichnisse, Lehrgespräche, Streitgespräche, Sprichwörter und vieles mehr. Diese Forscher nahmen nun an, dass es für jede Gattung eine Art Grundgerüst gibt. Für eine Heilung besteht dieses Gerüst aus klar unterscheidbaren Elementen : ein Kranker, eine Bitte um Heilung, ein Heiler, eine heilende Handlung oder ein heilendes Wort und eine Bestätigung der Heilung. Um dieses Grundgerüst herum können die Details mehr oder weniger ausgeschmückt werden. Die Annahme war nun, dass die Ausschmückung Teil der Traditionsbildung ist. Je einfacher eine Geschichte, desto älter ist sie. Diese Methode erhielt den Namen „Formgeschichte“ und ist bis heute einflussreich, auch wenn sie heute stark modifiziert wird. Diese Methode erlaubt jedoch einen Blick in die Tradition hinter den Geschichten, wie wir sie heute kennen. Das Gegenstück zur Formgeschichte ist die Redaktionsgeschichte. Mit ihrer Hilfe untersucht man gerade die Ausschmückungen solcher Geschichten, um die speziellen Interessen zu ermitteln, die zu der Zusammenfügung von traditionellen Materialien in Evangelien geführt haben. Anhand der Ausschmückungen oder an der Art, wie einzelne Geschichten aneinandergereiht werden, kann man die Intentionen des Endredaktors eines Evangeliums rekonstruieren. Gleichzeitig ist es mit dieser Methode möglich, Quellen hinter den Evangelien zu identifizieren. In Mk 2,1–3,6 findet sich eine Sammlung von Wundergeschichten. Forscher nehmen nun an, dass diese Sammlung schon vor dem Mar15

kusevangelium existiert hat und vom Autor des Evangeliums später in das Gesamtwerk eingefügt wurde. Ein typisches Beispiel für die Fragestellung der historisch-kritischen Methode beleuchtet den Titel des Markusevangeliums. In Mk 1,1 wird Jesus als Sohn Gottes bezeichnet. Die historisch-kritische Methode fragt, was genau mit „Sohn Gottes“ gemeint sein könnte im Vergleich zu zeitgenössischer Literatur, ob der Titel vielleicht eine späte Entwicklung in der Bildung des Evangeliums widerspiegelt und warum manche alte Handschriften diesen Titel gar nicht enthalten. Die historisch-kritische Methode ist die unter Forschern heute etablierte Methode, die Texte innerhalb ihrer Zeit zu interpretieren und dabei auch die Textentstehung zu beobachten. b. Narrative Forschung

Für die narrative Forschung sind die Evangelien als Erzählungen der Ausgangspunkt der Interpretation. Die Texte werden als Ganzes gelesen und nach ihrer Aussageabsicht befragt. Im Kontrast zur historisch-kritischen Methode fragt die narrative Exegese nicht, in welcher Welt die Texte entstanden sind, sondern welche Welt sie für die Leserinnen und Leser schaffen. Sie fragt nicht, wer unter welchen Umständen die Texte geschrieben haben könnte, sondern was die Texte über ihre Autoren implizit aussagen. Die Schriften werden also nicht ausgehend von historischem und kulturellem Hintergrund her interpretiert, sondern gerade umgekehrt werden die Texte darauf hin befragt, was sie über die in ihnen erzählte Welt preisgeben. Diese Art der Interpretation ist noch relativ neu und orientiert sich stark an literaturwissenschaftlichen Methoden. Sie ist besonders geeignet, den Blick auf das Gesamte eines Evangeliums zu lenken und es als geschlossenes theologisches und literarisches Werk zu interpretieren. 16

Ein typisches Beispiel für solch eine Interpretation ist die Frage nach der Art und Weise, wie ein Werk die Lektüre zu beeinflussen sucht. Das Markusevangelium beginnt mit der Aussage, dass Jesus der Sohn Gottes ist (Mk 1,1). In der Taufe erschallt eine himmlische Stimme, die Jesus als „meinen geliebten Sohn“ (Mk 1,11) deklariert. Wenig später bezeichnet ein Dämon Jesus als den „Heiligen Gottes“ (Mk 1,24). Es entsteht eine Spannung, da man sich fragt, wann endlich ein Mensch die Verbindung zwischen Jesus und Gott herstellt. Diese Spannung wird aufrechterhalten bis zur Kreuzigung, wo schließlich der römische Hauptmann Jesus als Gottes Sohn bekennt (Mk 15,39). Das Markusevangelium entwirft also einen Spannungsbogen über den gesamten Text. Hier wird deutlich, dass dieses Evangelium mehr ist als eine Sammlung von Traditionen. Das Markusevangelium entpuppt sich als literarisch und theologisch durchdachtes Werk. c. Weitere Interpretationsmodelle

In den letzten Jahrzehnten sind zu diesen etablierten Methoden der Evangelienforschung noch viele weitere hinzugekommen, von denen einige vielversprechend sind. Soziologie und Kulturanthropologie geben neue Einblicke in die Selbstorganisation von großen und kleinen Gesellschaftsformen, die sich auf religiöser, sozialer, philosophischer oder auch politischer Basis zusammenfinden. Diese Wissenschaften helfen zu verstehen, wie viel stärker Menschen auf soziale Vernetzungen bezogen waren, als sich das moderne Menschen heute vorstellen. Besonders interessant werden solche Untersuchungen, wenn zwischen Gruppen Konflikte entstehen. So betont Mt 5,20, dass die Gerechtigkeit der Jüngerinnen und Jünger bezüglich des jüdischen Gesetzes die Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer bei weitem übertreffen muss. Aus dem Evangelium wird hier und anderswo deutlich, dass 17

genau diese Gruppen die Gegner der matthäischen Schar darstellen. Erwähnenswert ist auch, dass sich in letzter Zeit Studien durchsetzen, deren Ausgangspunkt weder Text noch antike Kultur ist, sondern die Textinterpretation von modernen Themen her beginnen. Feministische Exegese ist interessiert an der Frage nach der Rolle von Frauen in der Bibel oder auch an der möglichen Autorität patriarchaler Texte heute. Ähnliche Ansätze finden sich in homosexueller Exegese. Solche Interpretationsansätze sind eher marginal, können aber durchaus originelle Einsichten liefern.

B. Religion, Politik, Kultur Taucht man in die Welt der Evangelien ein, sind besonders drei große Themen sehr wichtig. Die religiöse Welt der Evangelien wird durch das Judentum bestimmt. Das Judentum zur Zeit der Abfassung der Evangelien war äußerst vielschichtig. Verschiedenste Gruppen rivalisierten miteinander und unterschieden sich durch religiöse und politische Überzeugungen. Davon geben Flavius Josefus, Philo und auch die Schriftrollen von Qumran detailliert Aufschluss. Zu den wichtigsten Gruppen innerhalb des Judentums gehörten Sadduzäer, Pharisäer, Samariter, Essener und Zeloten. Sadduzäer führten ihren Ursprung auf den Hohepriester Zadok zurück und wurden daher nach ihm benannt. Sie waren hauptsächlich mit dem Tempel in Jerusalem und den dort dargebrachten Opfern verbunden. Sie gehörten einer priesterlichen Kaste an. Als aristokratische Elite waren sie politisch mit der römischen Besatzungsmacht liiert, um die Erhaltung der sozialen Ordnung und ihrer Führungsposition innerhalb dieser Ordnung zu gewährleisten. Religiös waren sie eher 18

konservativ und beharrten auf der Interpretation der Tora, des jüdischen Gesetzes. Anderen Traditionen, wie einem Glauben an eine Auferstehung, standen sie misstrauisch gegenüber. Die Sadduzäer konzentrierten ihre Präsenz auf Jerusalem als dem religiösen und politischen Zentrum Israels. Der Name „Pharisäer“ leitet sich wahrscheinlich vom aramäischen Wort für „abgeschieden“ her. Tatsächlich führte ein besonderes Interesse an Reinheit und Unreinheit dazu, dass sie sich von Dingen und Personen distanzierten, die sie für unrein hielten. Dazu gehörten auch Heiden. Pharisäer kritisierten zwar den Tempelkult nicht, standen aber auch nicht in besonderer Verbindung mit ihm. Ihr Interesse galt der Auslegung der Tora, des jüdischen Gesetzes, das sie stark mit mündlichen Überlieferungen oder „Überlieferungen der Ältesten“ (vgl. Mk 7,3.5) anreicherten. Von Schriftgelehrten sind sie kaum zu unterscheiden. Dies spiegelt sich in den Evangelien, wo Schriftgelehrte und Pharisäer oft eine homogene Gruppe sind und, wie in Mt 23, auch gemeinsam verurteilt werden. Zu weiteren pharisäischen Traditionen gehörte der Glaube an die Auferstehung von den Toten. Pharisäer lebten meist abseits von Jerusalem in ländlichen Gegenden und waren in den Synagogen sehr einflussreich. Ob man die Samariter als Juden bezeichnen soll oder nicht, sei dahingestellt. Sie selbst sahen sich als die wahren Kinder Abrahams und die treuen Anhänger des Mose und der Tora. Sie lebten in einer Gegend namens Samaria zwischen Galiläa und Jerusalem und hatten einen eigenen Tempel auf dem Berg Garizim, wo sie opferten. Juden betrachteten die Samariter nicht als dem Judentum zugehörig, und so entstand zwischen Samaritern und Juden eine Feindseligkeit, wie sie in Johannes 4 gespiegelt ist. Die geheimnisvollste Gruppe ist wohl die der Essener. Oft werden sie mit den in Qumran gefundenen Schriften in Verbindung gebracht, allerdings ist die Selbstbezeichnung in die19

sen Schriften nicht „Essener“, sondern „Söhne des Lichts“. Heute ist nicht mehr bekannt, woher der Name „Essener“ stammt. Die Gruppe war wohl eine jüdische Oppositionsbewegung, die dem Tempelkult in Jerusalem feindselig gegenüberstand und ihn als unrein betrachtete. Im Neuen Testament spielen sie kaum eine Rolle. Ihre Schriften illustrieren aber durchaus die mögliche Vielfalt jüdischer Religiosität. Als Zeloten, griechisch für „Eiferer“, bezeichnet man eine Gruppe von Juden, deren religiöse Überzeugung im bewaffneten Widerstand gegen die römische Besatzungsmacht Ausdruck fand. Attentate auf Nichtjuden und kleinere Scharmützel mit Besatzungstruppen begannen mit dem Ende der Herrschaft der herodianischen Dynastie in Judäa im Jahr 6 n. Chr. und lösten letztlich einen Aufstand aus, der im Jahr 70 n. Chr. mit der vollständigen Zerstörung Jerusalems durch die Römer endete. Die politische Welt der Evangelien ist durch die Besetzung Israels durch die Römer bestimmt, die im Jahr 64 v. Chr. begann. Die Römer setzten zunächst Könige, wie beispielsweise Herodes, danach Prokuratoren und Gouverneure ein, um ihren Machtanspruch sicherzustellen. Lokale Institutionen blieben unter diesen Machthabern bestehen. So behielt der jüdische Sanhedrin als eine Art Senatsregierung gewisse Privilegien. Die römische Oberhoheit machte sich hauptsächlich in Steuern und Abgaben bemerkbar, aber auch durch eine verstärkte militärische Präsenz, deren Kosten von den Besetzten zu bestreiten war. In Fällen von Unruhen griff das Militär hart ein. Das römische Regierungssystem war von Korruption bestimmt. Zudem gab es keine realistische Beschwerdemöglichkeit, sollte ein römischer Amtsinhaber seine Macht missbrauchen. Geschichten wie die vom Steuereintreiber Zachäus (Lk 19,1–10), der bereitwillig seine Betrügereien zugibt, geben einen Blick auf dieses System frei. Die Habgier des Pro20

kurators Gessius Florus, der während seiner Amtszeit von 64–66 n. Chr. sogar den jüdischen Tempelschatz seinem Privatvermögen einverleiben wollte, war einer der Auslöser für einen Aufstand, der im Jahr 66 begann und vier Jahre später zur Zerstörung Jerusalems führte. Die sozio-kulturelle Welt der Evangelien ist ein Aufeinandertreffen verschiedener religiöser Überzeugungen, politischer Ansprüche und ethnischer Diversität. Die Evangelien erzählen von Begegnungen Jesu mit Samaritern und Heiden, mit Griechen und Römern und mit vielen Juden aus unterschiedlichen Gruppen. Schon hier wird deutlich, wie stark die Welt der Evangelien von der Auseinandersetzung verschiedenster Strömungen bestimmt ist. Die Evangelien sind dafür nur ein Abbild der Entwicklung des frühen Christentums. Jesus war ein jüdischer Wanderprediger aus Galiläa, der unter Juden predigte. Aber seine Jüngerinnen und Jünger tragen den Glauben an Jesus als die Erscheinung Gottes unter den Menschen bald nicht nur zu Juden, sondern auch zu Heiden. Das Pfingstereignis in der Apostelgeschichte zählt symbolisch eine Vielfalt von Völkern auf, die plötzlich alle die Sprache der Apostel verstehen (Apg 2,7–11). Damit ist sicher nicht nur die Sprachbarriere gemeint. Dabei geht es nicht nur um die Begegnung verschiedener Völker, auch verschiedene Kulturen treffen aufeinander. Seit den Eroberungszügen von Alexander dem Großen stand der gesamte Mittelmeerraum unter dem Einfluss griechischer Werte und Philosophie. Man nennt dieses Phänomen den Hellenismus, und auch die Römer entzogen sich dem nicht. Griechisches Gedankengut verband sich mit lokalen Gegebenheiten zu einem mehr oder weniger ausgeprägten Synkretismus. So gibt es durchaus jüdische Schriften, die sich hellenistischem Gedankengut nicht verschließen. Philo von Alexandrien ist ein gutes Beispiel für einen gebildeten Juden, der 21

die griechische Philosophie mit seinem Glauben verbinden wollte und entsprechende Kommentare zu vielen jüdischen Büchern schrieb. Aber es gab auch Kritiker, die in der neuen Kultur eine Bedrohung sahen. Das erste Makkabäerbuch zeigt dies auf. In diesen kulturellen Wirren tauchen plötzlich zwei Phänomene auf, die besondere Bedeutung erlangen. Das eine ist die Apokalyptik, die besonders im jüdischen Umfeld Fuß fasst. Sie sieht die Welt als ein Schlachtfeld zwischen den Mächten von Gut und Böse, in der wenige Getreue durch Gehorsam gegenüber der guten Macht gerettet werden. Solche Vorstellungen werden nicht nur in der Offenbarung des Johannes aufgenommen, sondern sie finden auch Eingang in die endzeitlichen Vorstellungen der Evangelien. Ein zweites Phänomen ist die Gnosis, griechisch für „Wissen“. Sie ist eher in hellenistischem Gedankengut beheimatet und sieht in der Aneignung geheimen Wissens den Weg der Menschen weg von einer materiellen und als solcher bösen Welt hin zu einer spirituellen und vergeistigten Existenz, die in ihrer Vollendung Erlösung bedeutet. Auch diese Art des Denkens findet Eingang in die Evangelien und lässt sich besonders gut am Johannesevangelium nachweisen.

C. Sind Evangelien Biographien ? In dieser Welt der Umbrüche entstehen innerhalb der zweiten Generation von Christen die Schriften, die wir Evangelien nennen. In den Schriften treffen moderne Leserinnen und Leser nicht nur auf eine fremde kulturelle Welt, auch die Literaturgattung als solche ist nicht mit dem zu vergleichen, was wir heute als Literatur kennen. Die Evangelien sind keine historischen Romane oder Dramen oder Poesie, und auch Biographien sehen heute anders aus. 22

Doch ein Vergleich mit antiker Literatur lohnt sich durchaus. In der Forschung wird beispielsweise immer wieder der Vergleich mit antiken Biographien herangezogen. Tatsächlich hatten antike Biographien eine andere Funktion und Form als heutige. Den antiken Autoren ging es weniger um eine historisch möglichst korrekte und anhand von Dokumenten überprüf bare Darstellung von Persönlichkeiten. Sie waren vielmehr interessiert an einer Sammlung von anekdotenhaft erzählten Ereignissen, die dazu dienten, die Lehre einer Person in Schlaglichtern für die Schüler zu erhalten. Philostratus und Diogenes Laërtius schrieben viele Biographien von Philosophen, die auf impressionistische Weise Erzählungen zusammentrugen, die heute oft mit Skepsis bezüglich ihrer Historizität beurteilt werden. Solche Biographien hatten das Ziel, den Beschriebenen Ehre zu erweisen. Während einige Elemente solcher Biographien sich für den Vergleich mit den Evangelien durchaus anbieten, ist die Identifikation eher schwierig. Zum einen wird Jesus nicht als Philosoph beschrieben, zum anderen verstanden sich die Gemeinden der Evangelien wohl nicht als philosophische Schulen. Während die Evangelien eine Lehre Jesu beschreiben und sie auch für autoritativ erklären, liegt ihr Hauptaugenmerk auf der Person Jesu als Sohn Gottes, Erlöser, als Herr und als Gott. Erst die Person macht auch seine Lehre verbindlich. Das Bekenntnis des Thomas in Joh 20,28 macht dies mehr als deutlich. Der Fokus auf die Person Jesu wird im Umgang mit seinem Tod greif bar. Die Evangelien mühen sich offensichtlich um eine Sprache, die dem Tod Jesu als einer Art Zeitenwende gerecht wird. Markus tut dies mit der Sprache vom Lösegeld (Mk 10,45) ; Matthäus sieht im Tod Jesu das endgültige Opfer, das die Sünde vergibt (Mt 26,28) ; Lukas löst das Problem erzählerisch, indem er den Tod Jesu zum Mittelpunkt seines Geschichtswerkes macht, dessen erster Teil das Evangelium 23

mit der Geschichte Jesu ist, der zweite Teil die Apostelgeschichte mit der Geschichte der frühen Kirche. Johannes spricht von einem Lamm, das die Sünde der Welt hinwegnimmt ( Joh 1,29) und so Gottes Herrlichkeit offenbart ( Joh 17,1–4). Mit diesem Akzent auf der Person Jesu wird der Vergleich mit antiken Biographien jedoch schal. Während die Evangelien durchaus mit antiken Biographien vergleichbar sind, was die Art der Sammlung und Präsentation von Anekdoten angeht, setzen sie sich doch inhaltlich weit von ihnen ab. Man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass mit den Evangelien eine neue Literaturgattung in Erscheinung tritt.

D. Evangelien als Verkündigung in erzählender Form Evangelium bedeutet zunächst einfach „frohe Botschaft“. Damit wurde in frühester Zeit zunächst die Predigt Jesu von der Herrschaft Gottes bezeichnet. Der Aufruf „Glaubt an das Evangelium !“ (Mk 1,15) drückt genau dies aus. Paulus predigte das Evangelium Gottes, das er dann auch das Evangelium von Christus nennt (Röm 1,1–3). Hier wird deutlich, dass in früher christlicher Predigt nicht nur die von Jesus verkündete Botschaft Evangelium ist, sondern dass Jesus selbst nun zum Inhalt des Evangeliums wird (vgl. 1 Kor 15,1–8). Bei Paulus schließt dies noch keine Berichte über die Taten Jesu mit ein. Für ihn werden lediglich Tod und Auferstehung Jesu Teil des Evangeliums Gottes, das nun auch von Jesus handelt. Möglicherweise findet sich in Apg 10,34–43 eine frühe Predigt, die diese Botschaft von der Zusammengehörigkeit von Gottes Handeln und Jesu Passion und Auferstehung belegt. Wiederum im Markusevangelium findet sich eine weitere Entwicklung, wenn davon erzählt wird, dass die Frau, die Je24

sus für sein Begräbnis salbte, Teil des Evangeliums wird, das in der ganzen Welt verkündet wird (Mk 14,9). Das Markus­ evangelium ist Beleg dafür, wie der Evangeliumsbegriff erweitert wird. Zu der Botschaft Gottes und dem Tod und der Auferstehung Jesu treten nun auch Berichte über Ereignisse im Leben Jesu hinzu. Damit war der Weg geebnet für die Bezeichnung auch der Schriften, die von diesen Ereignissen um Jesus berichteten. Womöglich ist Mk 1,1 das erste Beispiel für den Gebrauch von „Evangelium“ für das schriftliche Dokument. In der Mitte des 2. Jahrhunderts benutzte Justin der Märtyrer in seiner um 155 geschriebenen Apologie zum ersten Mal den Begriff mit eindeutigem Bezug auf die vier Evangelien. Der Kirchenvater Papias von Hierapolis wusste von dieser Bezeichnung zu Beginn des 2. Jahrhunderts noch nicht. Dieser kurze Überblick über die Begriffsentwicklung zeigt, dass in der Bezeichnung „Evangelium“ für die vier ersten Schriften des Neuen Testaments der Verkündigungsgedanke grundlegend ist. Erst als Jesus selbst zum Objekt der Verkündigung wurde, konnte der Begriff auch für die entsprechenden Schriften benutzt werden. Damit sind aber die Evangelien in ihrer jetzigen Gestalt Verkündigung in erzählerischer Form. Selbst wenn sie gelegentlich wie antike Biographien aussehen oder modernen Leserinnen und Lesern wie historische Romane erscheinen mögen, liegt ihnen doch eine religiöse Aussageabsicht zugrunde, die von Gottes Herrschaft und Jesus als Gottes Sohn künden will.

E. Evangelien : Antike Texte mit religiösem Anspruch Heute gibt es in der Interpretation der Evangelien zwei Extreme. Es besteht einerseits die Gefahr, dass die Evangelien in einer angeblich akademischen Objektivität den Methoden der 25

historischen, literarischen und kulturhistorischen Forschung unterzogen werden und die Texte damit zu Beispielen antiker Literatur werden, die zwar interessant sein mögen, aber auch nicht interessanter als die Biographien eines Diogenes Laërtius. Dabei geht verloren, warum diese Texte überhaupt entstanden sind. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass die Texte in ihrem religiösen Anspruch so ernst genommen werden, dass sich eine objektive Untersuchung anhand von wissenschaftlichen Methoden verbietet, weil sie „Gottes Wort“ sind und somit jenseits jeder kritischen Anfrage von wissenschaftlicher Seite stehen. In beiden Fällen handelt es sich um Extreme, die entweder in wissenschaftlichem oder religiösem Fundamentalismus münden. Eine ausgewogene und verantwortbare Interpretation nimmt wahr, dass es sich um Texte mit einem religiösen Anspruch handelt. Aber es handelt sich eben auch um Texte, die in einer bestimmten Zeit unter bestimmten historischen, kulturellen und sozialen Umständen entstanden sind. Sie verfolgen ihre religiösen Zwecke mit der Form der Erzählung, und so muss auch die Form Teil der Interpretation bleiben. Wenn das Johannesevangelium zu Beginn konstatiert, dass das Wort Fleisch geworden ist ( Joh 1,14), so will es ausdrücken, dass der eingeborene Sohn Gottes, der mit Gott eins ist, Mensch geworden ist. Man kann dies auch auf den Anspruch der Evangelien anwenden. Wenn die Evangelien, wie Christen bekennen, Teil des Wortes Gottes sind, so sind sie doch Fleisch geworden in Texten des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, in einer historisch und kulturell geprägten Zeit, die von unserer verschieden ist. Es lässt sich also von den historischen Umständen nicht abstrahieren, will man dieses Wort als Gottes Wort auch verstehen. Andererseits wird ein lediglich historischer Ansatz die Faszination der Evangelien nicht begreifen können. 26

Man mag sich dem religiösen Anspruch der Texte verschließen oder ihn ablehnen oder annehmen. Doch wie immer die Reaktion ausfallen mag, wirkliches Verständnis für diese Texte stellt sich erst ein, wenn man ihren Anspruch ernst nimmt : Die Texte wollen verkündigen und bekehren.

F. Literatur zur Vertiefung Zur Geschichte der Bibelwissenschaften finden sich Hinweise in vielen Einleitungen. Empfehlenswert sind : Udo Schnelle : Einleitung in das Neue Testament (6. Auflage, Tübingen 2007) ; Martin Ebner – Stefan Schreiber (Hg.) : Einleitung in das Neue Testament (2. Auflage, Stuttgart 2008). Zur Umwelt des frühen Christentums bietet Kurt Erlemann, Neues Testament und Antike Kultur. Gesamtausgabe in fünf Bänden (Neukirchen 2011) eine gute Einführung in die verschiedensten Aspekte. Eine kurze Darstellung findet sich bei Udo Schnelle : Die ersten 100 Jahre des Christentums (Tübingen 2015). Kapitel 3 (S. 29–94) bietet eine gute Einführung in die Umwelt des frühen Christentums. Dazu passt eine Auswahl von antiken Texten in deutscher Übersetzung : Jens Schröter – Jürgen Zangenberg (Hg.) : Texte zur Umwelt des Neuen Testaments (Tübingen 2013).

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Kapitel 1 : Von Jesus zum Text – und zurück

Jesus verbrachte die meiste Zeit seines Lebens im nördlichen Palästina, in einer Region namens Galiläa. Auch sein öffentliches Wirken dürfte auf Galiläa konzentriert gewesen sein. Er sammelte Freunde und Gefährten um sich, die ebenfalls aus dieser Region stammten. Die Gegend war hauptsächlich jüdisch geprägt, doch gab es auch eine heidnisch geprägte Präsenz. Sepphoris im Unterland von Galiläa wurde von Herodes Antipas, dem Herrscher von Galiläa und Peräa, zu seiner Hauptstadt ausgebaut und erhielt unter anderem ein großes Theater. Antipas gründete um 20 n. Chr. Tiberias am Westufer des Sees Gennesaret, um Sepphoris als Hauptstadt zu ersetzen. Tiberias galt den Juden als unrein, weil es über einem alten Friedhof errichtet war. Es wurde daher vornehmlich mit Heiden besiedelt. Die Evangelien schildern Jesus als jüdischen Wanderprediger in dieser Gegend. Eine Tätigkeit in Tiberias wird allerdings nicht erwähnt, ebenso wenig ein Aufenthalt in Sepphoris. Das Markusevangelium berichtet von Reisen in die benachbarte Dekapolis und an das angrenzende Syrien, das Matthäusevangelium nimmt Teile davon auf. Das Lukasevangelium erwähnt einen längeren Aufenthalt in Samarien. Lediglich das Johannesevangelium berichtet von mehrfachen Reisen nach Jerusalem. In all diesen Gegenden hat Jesus höchstwahrscheinlich seine Muttersprache Aramäisch gesprochen. Trotzdem gibt es eine Generation später auf Griechisch verfasste Evangelien. Die 29

historisch interessante Frage dabei ist : Wie kommt es dazu, und warum dauert es an die 40 Jahre, bevor überhaupt Texte erscheinen, die uns heute überliefert sind ? Was ist in der Zwischenzeit passiert ?

A. Drei Phasen der Entstehung der Evangelien Die moderne Forschung teilt die Geschichte der Entstehung der Evangelien in drei Phasen ein. Während die Einteilung selbst eher wenig umstritten ist, wird heute häufig darüber diskutiert, was in den einzelnen Phasen eigentlich passiert ist und wie man sich die Entstehung der Evangelien denken sollte. Die drei Phasen der Entstehung der Evangelien sind eine moderne Hypothese, die zu erklären versucht, wie es zu den Evangelien gekommen ist, warum sie geschrieben wurden und warum sie teilweise unterschiedliche und teilweise gemeinsame Materialien enthalten. Im 19. Jh. und im ersten Teil des 20. Jh.s wurde diese Theorie von protestantischen Neutestamentlern entwickelt, die sich mit der Frage nach dem „Sitz im Leben“ der verschiedenen Texte auseinandersetzten. Eminentes Beispiel ist Rudolf Bultmanns 1921 erschienene „Geschichte der synoptischen Tradition“, noch immer ein Standardwerk zur neutestamentlichen Formgeschichte. In einer Instruktion der Päpstlichen Bibelkommission von 1964 über die historische Wahrheit der Evangelien wird dieses Modell herangezogen, um zu erklären, dass die Evangelien zwar historische Fakten enthalten, aber nicht als Ganzes historische Wahrheit sein können. Das Zweite Vatikanische Konzil nimmt dieses Modell in der dogmatischen Konstitution „Dei Verbum“ wieder auf.

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a. Das öffentliche Leben, Wirken, Leiden und Sterben Jesu (bis ca. 30)

Während seines Lebens wirkte Jesus Wunder, tat Außergewöhnliches, predigte die Herrschaft Gottes. Unter den vielen Menschen, denen er begegnete, wählte er ihm besonders nahestehende Jünger. Ihre Erinnerungen wie auch die Berichte von anderen Augenzeugen formen später das Rohmaterial für die Jesus-Traditionen. Diese Erinnerungen waren selektiv und wurden im Laufe der Zeit sicher auch noch weiter sortiert. Zu diesen Erinnerungen gehörte, was zu Jesu Botschaft von Gott und seiner Herrschaft gehörte, vielleicht auch die trivialen Ereignisse des alltäglichen Lebens. Es sind Erinnerungen an einen Menschen, der in Galiläa und Jerusalem gegen Ende der 20er Jahre des 1. Jahrhunderts aktiv war und der schließlich in Jerusalem grausam durch Kreuzigung hingerichtet wurde. Jesus muss einen großen Eindruck bei seinen Mitmenschen hinterlassen haben, der dazu führte, dass sie sich später an Ereignisse und Taten aus seinem Leben erinnerten. In späterer Überlieferung ist das Ostererlebnis zwar der entscheidende Auslöser für die systematische Weitergabe der Erinnerungen an Jesus, aber auch sein Leben hatte Wirkung auf die Jüngerinnen und Jünger. b. Die apostolische Zeit (30–65)

Die Erfahrungen mit dem irdischen Jesus und der Glaube an seine Auferstehung bestärkten die jungen Gemeinden in der Überzeugung, dass in Jesus Gott sein heilsmächtiges Wirken an Israel endgültig gezeigt und bestätigt hat. Dieser Glaube wurde formuliert in Hoheitstiteln für Jesus, in Bekenntnisund Glaubensformeln wie auch in Gebeten. Der Osterglaube erhellte und färbte ihre Erinnerungen an das irdische Wirken Jesu. Diese Phase wird „apostolisch“ genannt. Die Boten der neuen Verkündigung waren sich gewiss, vom auferstandenen Christus gesandt (griechisch : Apostel) zu sein. 31

Von Anfang an hat es sich bei diesen Boten um Frauen und Männer gehandelt. Paulus schreibt ganz selbstverständlich von Junia als einer Frau, die herausragend unter den Aposteln ist (Röm 16,7), während in Apg 16,40 die Purpurhändlerin Lydia offensichtlich die Gemeinde in Philippi leitet. Die Evangelien berichten, dass es unter denen, die Jesus von Anfang an nachfolgten, eine ganze Reihe Frauen gab. Anders als die männlichen Jünger waren diese Frauen auch bei der Kreuzigung anwesend (Mk 15,40–41). Die Evangelien berichten außerdem einmütig, dass es zunächst Frauen waren, die Zeugen der Osterbotschaft waren. In die apostolische Zeit fällt auch die Notwendigkeit des Adaptierens der Botschaft – und damit der Erinnerungen – an neue kulturelle, politische und religiöse Gegebenheiten. Die Ausbreitung des Christentums über die Grenzen Palästinas hinaus in die heidnisch-hellenistische Welt erfordert eine Anpassung der Botschaft. Manchmal sind solche Adaptionen lediglich von äußerlichen Umständen abhängig, wie die Änderung der in Palästina üblichen Lehmdachkonstruktion in Mk 2,4 zu einem für griechische Menschen vertrauteren Schindeldach in Lk 5,19. Andere Umformulierungen sind ungleich bedeutsamer. Das Markusevangelium muss plötzlich erklären, was jüdische Reinheitsvorschriften sind und wie sie funktionieren (Mk 7,3–5). Offensichtlich richtet sich das Evangelium an Menschen, die mit solchen Bräuchen nicht mehr vertraut sind. Damit stellt sich auch die Frage nach der Gültigkeit des jüdischen Gesetzes und der damit verbundenen Beschneidung für die neuen heidnischen Christen. Auf den Punkt gebracht, lautet die neue Herausforderung : Muss man Jude werden, um Christ sein zu können ? Und wie soll das Verhältnis zu Juden aussehen, die sich nicht den Jesus-Jüngern anschließen ? Die Antworten auf solche Fragen werden in der Lehre Jesu gesucht. Man ist überzeugt, dass die Botschaft und die Person 32

Jesu eine Lösung für solche Fragen bieten. Die mündliche Überlieferung wird daraufhin geschärft und konzentriert. Gleichzeitig werden als unwichtig geltende Dinge nicht weitergegeben. Deshalb wissen wir auch nicht, wie Jesus ausgesehen hat oder was er vor seinem öffentlichen Auftreten in Galiläa gemacht hat. Die Überlieferung ist auch ein Konzentrationsprozess. Obwohl diese Phase oft als Zeit der apostolischen Predigt bezeichnet wird, ist eine Beschränkung auf Predigt oder Verkündigung zu kurz gegriffen. Liturgie und Gottesdienst wurden Teil christlichen Lebens. Damit wurde auch gottesdienstliche Sprache Teil der christlichen Überlieferung. Spuren dieser Sprache finden sich auch in den Jesustraditionen wieder, z. B. Mt 7,21. In diese Periode könnten auch die ersten schriftlichen Sammlungen von Jesusmaterial erstellt worden sein. Der Kirchenvater Papias von Hierapolis erzählt zu Beginn des 2. Jahrhunderts, dass ein gewisser Matthäus Herrenworte auf Hebräisch oder Aramäisch niedergeschrieben habe, die von anderen Predigern benutzt und interpretiert wurden. Papias dürfte nicht das Matthäusevangelium gemeint haben, wohl aber eine lose Sammlung von Traditionen, die schriftlich aufgezeichnet wurden. Forscher beginnen oft mit einer grundsätzlichen Unterscheidung des Johannesevangeliums von den anderen Evangelien, die synoptische Evangelien genannt werden. Das griechische Wort „synoptisch“ trägt der Auffassung Rechnung, dass man die Evangelien des Markus, Matthäus und Lukas „zusammen sehen“ muss. Sie haben so viel Material gemeinsam, dass die Vermutung naheliegt, dass sie nicht unabhängig voneinander entstanden sind. Etwa 90% des Markus­ evangeliums sind auch im Matthäusevangelium präsent, während das Lukasevangelium etwa 65% des markinischen Materials enthält. Neben dieser dreifachen Tradition gibt es noch eine zweifache, in der das Lukasevangelium und das 33

Mk

Q

M

L

Mt

Lk

Abbildung 1 : Die Zwei-Quellen-Theorie

Matthäusevangelium je nach Zählung etwa 220–235 Verse gemeinsamen Materials verarbeiten. Die Ähnlichkeiten gehen dabei von inhaltlichen Ähnlichkeiten bis hin zu wörtlichen Übereinstimmungen. Dieser Befund lässt vermuten, dass die drei synoptischen Evangelien in ihrer Entstehung voneinander abhängig sind. Wie genau diese Abhängigkeit aussieht, ist allerdings umstritten. Die Mehrheit der Forscher erklärt die Abhängigkeit mit der ZweiQuellen-Theorie. Nach dieser Theorie benutzten Matthäus und Lukas das Markusevangelium unabhängig voneinander und bedienten sich außerdem einer Quelle, die aus wenigen Erzählungen und zumeist aus überlieferten Aussprüchen Jesu bestand. Daher wird sie oft Spruch- oder Logienquelle genannt, abgekürzt Q. Diese Quelle würde erklären, warum Matthäus und Lukas derart viel gemeinsames Material haben, das nicht durch Markus überliefert ist. Zudem geht man in der Regel davon aus, dass Q in schriftlicher Form vorgelegen haben muss. Neben den zwei Quellen benutzten Matthäus und Lukas auch Eigenmaterial, das mit M bzw. L abgekürzt wird. Eine Rekonstruktion von Q aus den in Matthäus und Lukas erhaltenen Materialien zeigt eine Schrift, die zuvorderst 34

ein Aufruf zur Umkehr gewesen ist. Gott als den Herrn zu erkennen heißt, Jesus nachzufolgen. Nachfolge besteht darin, dass man wie Jesus wird (Lk 6,40), der nirgendwo einen Ort hat, wo er sein Haupt hinlegen kann (Lk 9,58). Wer Jesus nachfolgen wollte, war aufgefordert, Heimat, Besitz und Familie zu verlassen, um das Evangelium zu verkünden. Aufgabe materieller und familiärer Bindungen wird als Notwendigkeit für die gesehen, die sich ganz der Herrschaft Gottes widmen wollen. Diese Haltung wird als Wanderradikalismus bezeichnet und steht im Horizont der bald erwarteten Wiederkunft Jesu, die in einigen eschatologischen Sprüchen aufgearbeitet wird. Eine Passionsgeschichte, eine Interpretation des Todes Jesu als Heilsereignis oder eine Erzählung der Auferstehung liegen in Q noch nicht vor, während das Ende der Zeit und die Wiederkunft Jesu erwartet werden. Q war wohl ein Dokument, das die Jesusgläubigen auf die einbrechende Zukunft eines endzeitlichen Gerichts mit der Wiederkehr des Menschensohnes vorbereiten sollte. Es tat dies in einer Form, die hauptsächlich Sprüche Jesu sammelte und redigierte. Erzählungen wie Heilungen oder gar der Versuch einer biographischen Verortung dieser Sprüche fehlen noch. Unter den Q-Forschern besteht weitgehender Konsens, dass Lukas die Reihenfolge der in Q enthaltenen Sprüche enger befolgt als Matthäus. Während in Matthäus das Q-Material oft in Einzelsprüche zersplittert ist, findet es sich bei Lukas in größeren Blöcken. Daher wird Q auch in der Regel mit den Kapitel- und Verszahlen des Lukasevangeliums zitiert. Gleichzeitig geht man auch davon aus, dass Lukas das Q-Material in bessere griechische Sprache gießt, während Matthäus eher dem Wortlaut folgt. Der genaue Umfang von Q ist schwer zu erschließen. Es ist durchaus möglich, dass Q umfangreicher war, als die Rekonstruktionen nahelegen. Wenn Lukas nur etwa 65% von Markus überliefert, dann ist es durchaus denkbar, dass er auch Q 35

Gerichtspredigt des Täufers : Taufe und Versuchung Jesu : Jesu erste Rede : Der Glaube eines Heiden : Täufer und Jesus : Missionsinstruktion : Gebetsunterweisung : Jesu Dämonenaustreibungen : Gegen „dieses Geschlecht“ : Jüngermahnungen : Gericht über Israel : Nachfolgeforderungen : Eschatologischer Ausblick :

3,7–9.16.17 3,21–22 ; 4,1–13 6,20–23.27–38.41–49 7,1–10 7,18–28 ; (16,16 ?) ; 7,31–35 9,57–60 ; 10,2–16.21–24 11,2–4.9–13 11,14–26 11,29–35.39–44.46.47–51.52 12,2–12.22–34.39–46.51–59 13,18–29.34–35 ; 14,16–24 14,26–27 ; 17,33 ; 14,34–35 ; 15,4–7 ; 16,13.16–18 ; 17,1–6 17,23–37 ; 19,12–26 ; 22,28.30

Abbildung 2 : Möglicher Inhalt von Q

gekürzt hat. Dies würde aber bedeuten, dass Matthäus einiges Material enthält, das zu Q gehören könnte, ohne dass dies noch rekonstruierbar wäre. Dies Argument belegt zunächst einfach den hypothetischen Charakter jedweder Rekonstruktion von Q, selbst wenn die Existenz von Q als wahrscheinlich gelten darf. In diesem Buch wird jedenfalls von der grundsätzlichen Richtigkeit der Zwei-Quellen-Theorie ausgegangen. Damit erklärt sich auch, warum in der Reihung hier das Markusevangelium vor Matthäus und Lukas behandelt wird. Einigen Forschern scheint Q zu hypothetisch. Sie folgen entweder der Griesbach-Hypothese oder der Farrer-Hypothese. Nach Johann Jakob Griesbach (1789) wurde das Matthäusevangelium zuerst verfasst, Lukas benutzte Matthäus, und schließlich ist Markus eine Zusammenfassung beider. Während die Griesbach-Hypothese auf den ersten Blick einfacher scheint, kann sie nicht erklären, warum die sprachlich sehr viel eleganteren Evangelien von Markus in einem eher hölzernen Griechisch zusammengefasst sein sollten. Es scheint 36

plausibler, von einer Erweiterung und Glättung des markinischen Materials auszugehen. Austin Farrer (1955) nahm an, dass Markus das erste Evangelium war, auf das Matthäus folgte. Lukas hingegen benutzte nicht nur Markus, sondern auch Matthäus. In der neueren Forschung ist umstritten, welche Rolle mögliche schriftliche Zeugnisse schon in dieser Zeit spielten. In einer ersten Beobachtung stellt man fest, dass in den gemeinsamen Stellen der synoptischen Evangelien doch auch sehr viele kleine und große Unterschiede in Details und Formulierungen zu bemerken sind. Besonders deutlich sind solche Unterschiede in vielen Gleichnissen und Wunderheilungen. Das Gleichnis vom anvertrauten Geld Mt 25,14–30 • Einer geht außer Landes • 5 + 3 + 1 Talente • Versteck : Loch in der Erde • Lohn : Eingang in die Freude des Herrn • Strafe : äußerste Finsternis, Heulen, Zähneknirschen Lk 19,11–27 • Ein vornehmer Mann geht in ein fernes Land, um König zu werden • 10-mal 1 Mine • Versteck : Tuch • Lohn : Macht über Städte • Strafe : Feinde werden niedergemacht Abbildung 3 : Unterschiede in ähnlicher Erzählung

Solche Unterschiede nun könnten Hinweise darauf sein, dass die mündliche Tradition eine viel wesentlichere Rolle spielte als bisher angenommen. Diese Beobachtung erhält umso mehr Gewicht, hält man sich vor Augen, dass die Alphabetisierungsrate in der antiken Welt ausgesprochen niedrig gewesen ist. Gerade bei Rekonstruktionen von Q fallen auch sprachliche Unterschiede und Abweichungen stark auf ; 37

möglicherweise kann man sich also Q auch als mündliche Tradition vorstellen, die in verschiedenen Kontexten unterschiedlich weitergegeben wurde. Allerdings spricht hier die unterschiedliche Aufnahme des Markusevangeliums durch Matthäus und Lukas gegen den vorschnellen Schluss, Q habe lediglich in mündlicher Form existiert. Es ist aber durchaus möglich, dass es neben einer schriftlichen Form auch eine mündliche Tradition von Q gab. c. Zeit der Abfassung der Evangelien (ab ca. 65)

In der Zeit zwischen 65 und 100 n. Chr. wurden wahrscheinlich alle vier Evangelien geschrieben. Sie entstanden als anonyme Schriften und enthalten keinerlei Angaben zu Verfassern. Kirchenväter am Ende des 2. Jahrhunderts schreiben zwei dieser Evangelien den Aposteln Matthäus und Johannes zu, die anderen beiden den apostolischen Zeugen Markus als einem Petrusschüler und Lukas als einem Paulusschüler. Die meisten Forscher heute stimmen überein, dass mit dieser Namensgebung die apostolische Autorität der Evangelien bezeugt werden soll. Bekannte Figuren der Zeit der apostolischen Predigt werden so zu Garanten der Treue zur Tradition und der Kontinuität zum irdischen Jesus. Dabei ist durchaus denkbar, dass die Apostel tatsächlich als Traditionsträger hinter den Evangelien stehen, die dann von ihren Schülern weitergegeben werden ; ausgedrückt wird eine solche Situation in Joh 21,24–25, wo auf einen Begleiter Jesu als Augenzeugen und Autor des Evangeliums hingewiesen wird, gleichzeitig aber ein weiterer Autor davon erzählt. Den Evangelisten kam es zu, die verschiedenen Traditionen über Jesus zu bündeln und in eine Form zu gießen, die auch disparates Material miteinander verbinden kann. Die Leistung der Evangelisten wird in der Forschung unterschiedlich beurteilt. Vertreter der historisch-kritischen Methode sehen oft den Großteil der synthetischen Leistung schon in der 38

vor-evangelischen Zeit geleistet, während andere davon ausgehen, dass eine theologische und literarische Synthese wie die der Evangelien an einen Evangelisten gebunden ist. Sicher ist, dass allein schon die Schaffung einer neuen literarischen Gattung, des Evangeliums, eine herausragende Leistung ist. Erstaunlich ist, dass nach der langen Zeit ohne Evangelien plötzlich innerhalb von etwa 35 Jahren gleich vier Evangelien mit einigen Ähnlichkeiten, aber auch mit markanten Unterschieden auftauchen. Dabei ist anzunehmen, dass verschiedene Traditionsprozesse mit lokal bedingten Variationen zu verschiedenen Evangelien geführt haben. Dies allerdings legt die Vermutung nahe, dass schon in der apostolischen Phase verschiedene Traditionsstränge mit unterschiedlichen Akzenten gebildet wurden. Die Traditionen über Jesu Werke und Lehre dürften also schon sehr früh in unterschiedlichen Ausprägungen existiert haben. Erzählende Evangelien • Protoevangelium des Jakobus (spätes 2. Jh. ; Geschichte Mariens) • Kindheitsevangelium des Thomas (spätes 2. Jh. ; Wunder der Kindheit Jesu) • Petrusevangelium (2. Jh. ? fragmentarisch erhaltene Passionsgeschichte) • Hebräerevangelium (2. Jh. ; judenchristlich, nicht erhalten, aber oft zitiert) Spruchevangelien • Thomasevangelium (1.–2. Jh.) • Evangelium Maria Magdalenas (2. Jh.) • Apokryphon des Jakobus (2. Jh.) • Dialog des Erlösers (schwer datierbar) Abbildung 4 : Beispiele apokrypher Evangelien

In der Zeit nach der Schaffung der vier neutestamentlichen Evangelien machten sich weitere Autoren an die Abfassung von Schriften, die die erzählerischen oder vermeintlich theo39

logischen Lücken in den kanonischen Evangelien ausfüllen wollten. So gibt es beispielsweise ausführliche Geschichten von der Kindheit Jesu. Diese Schriften tragen oft den Titel „Evangelium“, wurden allerdings wegen ihrer phantasievollen Ausschmückungen nicht in den verbindlichen Kanon der Kirche aufgenommen. Man betrachtet sie am besten als fromme Erbauungsliteratur. Sie werden als apokryphe Evangelien bezeichnet.

B. Schlussfolgerungen aus der Entstehungsgeschichte der Evangelien Trotz der apostolischen Autorität hinter den Evangelien erklärt die Distanz der Autoren von den Ereignissen um Jesus die Unterschiede in den Schriften. So ist es plausibel, dass die Autoren auf der einen Seite ähnliche Traditionen in die Evangelien aufnehmen, auf der anderen Seite aber auch auf lokale Gegebenheiten Rücksicht nehmen. Während das Markus­ evangelium jüdische Reinheitsvorschriften einer heidnischen Gemeinde erklären muss (Mk 7,3–4), braucht Matthäus dies für seine jüdisch geprägte Gemeinde nicht zu tun (Mt 15,2–3). Lukas hingegen lässt die gesamte Debatte über die Speisegebote aus, weil sie wahrscheinlich für seine Gemeinden keine Relevanz mehr hatte. Nimmt man die Entstehungsgeschichte der Evangelien in den ausgeführten Schritten an, ergeben sich mehrere Konsequenzen : – Die Evangelien sind keine Geschichtsschreibung des Lebens Jesu. Zwischen beiden liegen Jahrzehnte theologischer und pastoraler Auf bereitung der Jesusmaterialien. Manchmal ist es mit aufmerksamer und genauer Exegese möglich, Geschichte und Entwicklung voneinander zu trennen. In den seltensten Fällen ergibt das jedoch historische Sicherheit. 40

– Die These, dass die Evangelien keine historischen Berichte sind, wird manchmal dahingehend interpretiert, dass sie keine wahren Berichte über Jesus sind. Diese Interpretation wird allerdings dem theologischen und pastoralen Zweck der Evangelien nicht gerecht. Es ist viel eher plausibel, dass die Entwicklungen in der Traditionsbildung mit den historischen Ereignissen in einer Kontinuität stehen, als dass die Tradition die historischen Ereignisse grundsätzlich verdeckt. – Solch ein Ansatz zu einer Antwort auf die Frage nach der Wahrheit der Evangelien ist für manche nicht zufriedenstellend, weil sich wohl nicht mehr endgültig entscheiden lässt, wie treu die Autoren dem historischen Jesus wirklich waren. Mehr noch, wie treu sind die Evangelisten der ursprünglichen Botschaft Jesu ? Dies ist natürlich eine theologische Frage, die auch eine theologische Antwort in der Annahme der Schriftinspiration hat. – Evangelienharmonien wie Tatians Diatesseron aus der Mitte des 2. Jahrhunderts oder das mittelalterliche Leben Jesu des Ludolf von Sachsen sind daher auch sowohl historisch wie theologisch als Fehlleistung einzustufen. Historisch, weil sie die unterschiedlichen Traditionsprozesse ausblenden ; theologisch, weil sie die gemeinsame Inspiration unterschiedlicher Schriften ablehnen.

C. Und zurück : Die Frage nach dem historischen Jesus Obwohl die Evangelien nicht als historische Biographien gelesen werden können, sind sie doch die Hauptquellen für die Rückfrage nach dem historischen Jesus. Dass Jesus existiert hat, wissen wir auch durch Flavius Josefus und durch die Annalen des römischen Geschichtsschreibers Tacitus, der von der Hin41

richtung Jesu durch Pontius Pilatus berichtet. Aber darüber hinaus geben diese Quellen keine weiteren Informationen. Will man nun historische Details aus dem Leben Jesu herausfinden, ist man auf die Evangelien angewiesen. In der Forschung hat sich seit dem 18. Jh. ein Instrumentarium entwickelt, mit dem man versucht, den von den Evangelien verkündeten Christus vom historischen Jesus zu trennen. Die Suche nach dem historischen Jesus begann ernsthaft im 19. Jh. Eine zweite Welle folgte in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Seit dem Ende des 20. Jh.s ist die dritte Welle noch nicht abgerissen. Zu den in der historischen Jesusforschung verwendeten Methoden gehört vornehmlich die historisch-kritische Methode mit ihren verschiedenen Unterschritten. Sie erweist sich vor allem deshalb als immer noch geeignet, weil besonders seit dem Zweiten Weltkrieg die Erforschung und das Wissen um das Judentum zur Zeit Jesu enorme Fortschritte gemacht haben. Gleichzeitig sucht man mit Hilfe von Formkritik und Quellenkritik nach den ältesten in den Evangelien erhaltenen Traditionen. Ältere Materialien werden als glaubhafter angesehen als jüngere Entwicklungen in der Tradition. Gelegentlich findet man in den Evangelien Anachronismen, die dem Interesse späterer Gemeinden geschuldet sind. So dürfte Mt 18,17 mit der Aufforderung, Konflikte unter den Jüngerinnen und Jüngern zur Kirche zu bringen, wohl eine späte Gemeindeentwicklung sein, die auch für die Erklärung von Petrus als dem Fels, auf den Jesus seine Kirche baut, verantwortlich gewesen ist. Der Begriff „Kirche“ wird Jesus fremd gewesen sein. Auf der anderen Seite sind Hinweise auf die Angehörigen, die Jesus für verrückt erklären und nach Hause bringen möchten (Mk 3,21), wohl historisch zuverlässig. Für eine spätere Gemeinde ist eine solche Geschichte dermaßen peinlich, dass Matthäus und Lukas sie nicht mehr berichten. 42

Zu beobachten ist, dass die verschiedenen Forscher jeweils Rekonstruktionen vorlegen, die hypothetisch sind. Drei Hauptthemen kehren mit unterschiedlichen Akzenten immer wieder : – Erstens beschäftigt die Frage nach dem Verhältnis Jesu zum Judentum seiner Zeit. So wird er als unkonventioneller Jude, als marginaler Jude, als jüdischer Mystiker und Wundertäter oder auch als endzeitlicher Prophet beschrieben. Umstritten ist, ob Jesus sich selbst als Messias betrachtete. Oft wird diese Frage auch generell gestellt : Welches Selbstverständnis hatte Jesus ? – Zweitens wird immer wieder auf die Frage nach der Haltung Jesu zu religiösen und politischen Autoritäten eingegangen. So wird bei Jesus immer wieder eine Sozialkritik beobachtet, die bestehende Besitzverhältnisse grundsätzlich in Frage stellt. Auch die Predigt von der Gottesherrschaft wird oft als direkte Kritik am Römischen Reich gesehen. – Drittens wird Jesus als eschatologischer Prediger verstanden, der die nahende Endzeit verkündet, die die Umkehrung aller Werte und Verhältnisse impliziert und die Herrschaft Gottes endgültig aufrichten wird. Umstritten ist in diesem Bereich besonders, ob sich Jesus selbst als den betrachtete, der diese Endzeit nicht nur predigte, sondern in ihrer Herbeiführung eine tragende Rolle einnahm. Alle drei Themen sind natürlich miteinander verwoben und tauchen mit unterschiedlichen Akzenten in fast allen Jesusbüchern auf. In den Jesusbüchern wird die Frage der Auferstehung in der Regel ausgeklammert. Dies schuldet sich der Einsicht, dass die Auferstehung für Historiker nicht mehr fassbar ist. Man kann belegen, dass Jesusgläubige von seiner Auferstehung überzeugt waren, aber ob ihnen der Auferstandene tatsächlich begegnet ist, lässt sich weder beweisen noch wi43

derlegen. Hier trennen sich Geschichtswissenschaft und Theologie.

D. Rezeption und Interpretation der Evangelien Mit der Niederschrift der Evangelien beginnt der Prozess der Rezeption und Interpretation. Die enorme Anzahl der Abschriften, die schon in der Antike unternommen wurden, geben Zeugnis von der schnellen und weiten Verbreitung der Evangelien. Inmitten dieser Vielfalt von Manuskripten besteht die erste Aufgabe darin, einen Text zu sichern, der möglichst nahe am Original ist. a. Textkritik

Die ursprünglichen Texte sind nicht mehr erhalten, doch existieren Fragmente von Abschriften, die bis in das 2. Jh. zurückreichen. Allein an griechischen Fragmenten und vollständigen Texten sind über 5000 verschiedene Manuskripte erhalten. Dies ist auch für heutige Verhältnisse eine hohe Zahl, bedenkt man dazu noch, dass die Kopien von Hand angefertigt wurden. Die moderne Textkritik macht sich zur Aufgabe, aus den verschiedenen erhaltenen Fragmenten einen Gesamttext herzustellen, der möglichst nahe an die ursprünglichen Texte herankommt. Dies bedeutet, dass der heute zugängliche Text ein rekonstruierter Text ist. In weiten Teilen des Neuen Testaments ist die Rekonstruktion mit sehr großer Sicherheit möglich, in einigen wenigen Abschnitten jedoch besteht Unsicherheit bezüglich der originalen Textform. Ein Beispiel für eine solche Unsicherheit ist Mk 1,1. Der rekonstruierte Text lautet : „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes“. Jedoch fehlt in den ältesten Handschriften der Titel „dem Sohn Gottes“ und wird daher als unsicher betrachtet. Mo44

derne Ausgaben des griechischen Textes vermerken solche Unsicherheiten und Variationen in den Manuskripten in einem textkritischen Apparat. Bei gewichtigen Abweichungen werden diese gelegentlich auch in Übersetzungen deutlich gemacht. b. Übersetzung

Die Aneignung der Texte setzt sich fort in Übersetzungen. Schon für Menschen in der Antike war Griechisch nicht immer verständlich ; es entstanden Übersetzungen in verschiedene Sprachen. Papst Damasus beauftragte den Kirchenvater Hieronymus im Jahr 382 damit, die verschiedenen lateinischen Übersetzungen des Neuen Testaments in der Vulgata zu vereinheitlichen. Sie erfüllte eine ähnliche Funktion wie die Einheitsübersetzung heute, indem sie Liturgie und Bibelstudium für viele Jahrhunderte vereinheitlichte. Was für die lateinische Bibel Hieronymus war, wurde für die deutsche Bibel Martin Luther. Obwohl es schon vor Luther deutsche Übersetzungen gab, setzte sich Luthers Übersetzung schnell als eine elegante Version durch, die bis heute großes Ansehen genießt und stark zur Vereinheitlichung der deutschen Sprache beitrug. Im deutschen Sprachraum gibt es heute neben der Einheitsübersetzung noch eine ganze Reihe anderer Übersetzungen, die sich verschiedener Anliegen annehmen. Manche suchen eher die Nähe zum Text in der Originalsprache. Dazu gehören Übersetzungen wie die Revidierte Elberfelder Bibel oder die Zürcher Bibel. Andere versuchen, den Text durchaus frei, aber sinngemäß in eine moderne Sprache zu kleiden. Dazu gehören die Gute Nachricht Bibel. Oft kommt es hier zu Paraphrasen der originalen Texte. Der Spagat, den jede Übersetzung zu leisten hat, ist der zwischen der Treue zur Originalsprache und der Verständlichkeit des Textes in der modernen 45

Gute Nachricht Bibel : Die Schwiegermutter Simons lag mit Fieber im Bett, und gleich, als sie ins Haus kamen, sagten sie es Jesus. Er ging zu ihr, nahm sie bei der Hand und richtete sie auf. Das Fieber verließ sie, und sie bereitete für alle das Essen. Revidierte Elberfelder Bibel : Die Schwiegermutter Simons aber lag fieberkrank danieder ; und alsbald sagen sie ihm von ihr. Und er trat hinzu und richtete sie auf, indem er sie bei der Hand ergriff ; und das Fieber verließ sie alsbald, und sie diente ihnen. Einheitsübersetzung : Die Schwiegermutter des Simon lag mit Fieber im Bett. Sie sprachen mit Jesus über sie, und er ging zu ihr, fasste sie an der Hand und richtete sie auf. Da wich das Fieber von ihr und sie sorgte für sie. Abbildung 5 : Übersetzungsvergleich für Mk 1,30–31

Sprache. Bei liturgisch gebräuchlichen Übersetzungen kommt noch dazu, dass die Texte auch eine sprachliche Form haben sollen, die dem Anlass angemessen ist. Ein typisches Beispiel für unterschiedliche Zugänge zu Übersetzungstechniken findet sich im Markusevangelium. Bei den Zeitwörtern wechselt Markus im Originaltext ständig zwischen Gegenwarts- und Vergangenheitsformen, oft sogar im gleichen Satz. Gleichzeitig beginnt Markus fast jeden Satz mit „und“ oder „und sofort“. Die Revidierte Elberfelder Bibel übersetzt beides sehr treu, man kann also diese Phänomene auch in der Übersetzung verfolgen. Daher eignen sich solche Übersetzungen sehr gut für das Bibelstudium in modernen Sprachen. Die Einheitsübersetzung glättet beide Phänomene, indem sie durchgängig Vergangenheitsformen verwendet und Sätze eher selten mit „und“ beginnen lässt. Dadurch wird der Text sehr viel leichter lesbar und in liturgischen Kontexten auch hörbar. Ein besonderes Problem moderner Übersetzungen ist die Frage nach inklusiver Sprache. Es wird noch verschärft, wenn 46

kirchliche Autoritäten ausdrücklich inklusive Übersetzungen für den liturgischen Gebrauch untersagen, wie geschehen mit der vatikanischen Instruktion Liturgiam Authenticam aus dem Jahr 2001. Hier werden moderne Sensibilitäten getroffen, die den antiken Autoren unbekannt waren. Oft benutzen die Evangelien männliche Pronomina, die aber auch Frauen mit einschließen. Dies in einer Übersetzung zu berücksichtigen ist äußerst schwierig. So heißt es in Lk 9,23 nach der Zürcher Bibel : „Wenn einer mir auf meinem Weg folgen will, verleugne er sich und nehme sein Kreuz auf sich, Tag für Tag, und so folge er mir !“ Die Bibel in Gerechter Sprache aus dem Jahr 2006 behilft sich mit einer Paraphrase : „Wenn ihr mir folgen wollt, so müsst ihr euch verleugnen und euer Kreuz tragen, jeden Tag, und mir nachfolgen !“ Schwieriger noch wird es bei männlich geprägten Gottesbezeichnungen wie „Vater“. Die Frage nach inklusiver Sprache ergibt sich jedoch zwingend aus dem Anspruch biblischer Texte und der Evangelien im Besonderen, Texte für alle Menschen zu sein, nicht nur Kuriositäten aus einem literarischen Antiquitätenkabinett. c. Kanonbildung

Schon im 2. Jh. stellte sich die Frage, welche Evangelien überhaupt eine besondere Autorität genießen sollten. Markion (ca. 85–160), ein reicher Kaufmann in Rom und unter gnostischem Einfluss, stellte die Frage explizit, indem er behauptete, dass lediglich das Lukasevangelium, und dies nur in Auszügen, kirchliche Autorität genießen sollte ; die anderen Evangelien seien zu sehr den jüdischen Gottesvorstellungen verhaftet. Während Markion sich nicht durchsetzen konnte, löste er doch eine lebhafte theologische Debatte aus. Gegen Ende des 2. Jh.s vertritt Irenäus von Lyon (ca. 135–ca. 202) die These, dass die vier Evangelien, neben anderen Schriften, eine besondere Autorität in der Kirche besitzen und als ka47

nonisch gelten. Dieser Begriff leitet sich vom griechischen kanōn ab, was so viel bedeutet wie Maßstab oder Messlatte, ein im Bauhandwerk benötigtes Werkzeug. Mit Irenäus war die Kanondebatte nicht abgeschlossen, sondern wurde weiter verfeinert und mit neuen Argumenten unterlegt. Tatsächlich zählte Irenäus nicht alle heutigen neutestamentlichen Schriften zum Kanon. Doch im Laufe der Zeit kristallisierten sich vier Kriterien heraus, mit denen die besondere Autorität der neutestamentlichen Schriften gefasst wurde : – Die Schriften sind apostolischen Ursprungs. – Die Schriften sind in der gesamten Kirche in Gebrauch. – Sie eignen sich für den liturgischen Gebrauch. – Alle Schriften transportieren in ihrer Verschiedenheit doch eine einheitliche Botschaft. Die Kanondebatte hielt lange Zeit an, selbst Luther war noch geneigt, einige Bücher des Neuen Testaments aus dem Kanon auszuschließen. Doch die vier Evangelien waren ab dem Ende des 2. Jh.s nicht mehr umstritten. Athanasius von Alexandrien führt als Erster im Jahre 367 den neutestamentlichen Kanon in seinem heutigen Umfang an. Für die katholische Kirche wurde der Kanon vom Konzil von Trient im Jahr 1546 endgültig festgelegt. Die Kanondiskussion zeigt, warum die Evangelien als Zeugnisse von Jesus ein so hohes Ansehen genießen. Sie sind auch heute noch der privilegierte Zugang zu den Taten und Lehren Jesu. Dies äußert sich darin, dass sie nicht nur dem privaten Studium oder einer kollektiven Theologie dienen. Sie bleiben der Maßstab, an dem sich christliche Authentizität und Glaubwürdigkeit messen lassen müssen. Daher bleiben sie auch zentrales Ereignis der liturgischen Feier des Glaubens.

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d. Inspiration

In etwa gleichzeitig mit der Kanonbildung entstand in der theologischen Entwicklung auch die Idee der Inspiration. Grundsätzlich ist sowohl die Terminologie als auch die grundlegende Theorie der Inspiration schon im Neuen Testament selbst angedeutet : „Jede von Gott eingehauchte Schrift ist auch nützlich zur Belehrung, zur Zurechtweisung, zur Besserung und zur Erziehung in der Gerechtigkeit“ (2 Tim 3,16). Der zweite Timotheusbrief stellt hier zur Diskussion, dass es Schriften gibt, die „von Gott eingehaucht“ sind, so als ob Gott die betreffenden Schriften mit seinem Geist beatmet hätte. Der Kirchenvater Hieronymus (347–420), als großer Interpret und Übersetzer in die Geschichte der Exegese eingegangen, übersetzt das griechische Wort mit dem lateinischen Adjektiv inspiratus, inspiriert. Daher leitet sich der Begriff „Inspiration“ ab. Die theologische Entwicklung während der Zeit der Kirchenväter interpretiert diese Einhauchung so, dass Gott selbst der Urheber der Schriften ist. Grundsätzlich ist dies zunächst einmal eine sehr abstrakte These, die noch keine Angaben macht, wie sich menschliche Autorenschaft und göttliche Urheberschaft miteinander in diesen Schriften verbinden. Dazu hat es in der Kirchengeschichte mehrere Interpretationsmodelle gegeben, die teilweise heute noch Verwendung finden. Mit dem Inspirationsbegriff sind zwei wichtige Thesen der Schriftauslegung untrennbar verbunden. Zum einen ist die Schrift ohne Irrtum („Inerranz“). Zum anderen ist die Kenntnis der Schrift ausreichend zum ewigen Heil („Suffizienz“). Diese beiden Themenkreise bestimmen ebenfalls die Inspirationsbegriffe. Verbalinspiration bezeichnet die Auffassung, dass der Text in seinem wörtlichen Bestand dem menschlichen Autor von Gott eingegeben ist. Damit wird der menschliche Anteil an der Verschriftlichung minimalisiert. Varianten dieser Auffas49

sung finden sich, wenn bestimmte Übersetzungen wie die Septuaginta oder die Vulgata als inspiriert im Gegensatz zu anderen Textformen gesehen werden. Wenn Gott selbst der Urheber der wörtlichen Wendungen ist, so ist dies natürlich auch an bestimmte Sprachen gebunden. Grundsätzlich findet sich diese These schon bei Augustinus, führte allerdings erst im orthodoxen Protestantismus zu ihrer ausführlichen Formulierung. Heute wird diese These vor allem von konservativ-evangelikalen Gruppen vertreten. Gelegentlich finden sich Variationen auch in extrem konservativen katholischen Kreisen. Letztlich scheint die Liturgieinstruktion „Liturgiam authenticam“ zu einer solchen Verbalinspiration zu neigen, wenn sie die Nova Vulgata als authentischen Text zu definieren sucht. Der Vorteil dieser Art der Schriftinterpretation ist, dass sie kaum Vermittlung braucht. Man geht einfach hin und nimmt die Anweisungen in der Schrift wörtlich. Allerdings kann man auch beobachten, dass kaum eine Gruppe dies tatsächlich konsistent tut. Vor allem die jüdischen Gebote werden dann doch entschärft. Wenn jemand dafür argumentiert, dass Ehebrecherinnen heute mit dem Tod bestraft werden sollten, so sind dies meistens keine Christen mehr. Ähnliches gilt natürlich für andere Gebote wie das Vermischen verschiedener Gewebesorten oder das Verbot bestimmter Speisen. Auch neutestamentliche Verhaltensregeln werden heute oft nicht mehr wörtlich genommen, so beispielsweise das Verbot für Frauen, während des Gottesdienstes zu sprechen, oder die Verhaltensregeln für Sklaven gegenüber ihren Herren. Dies bedeutet natürlich, dass die Inerranz der Schrift de facto aufgegeben wird. In der Regel kann man also schließen, dass selbst Gruppen, die sich zur Verbalinspiration bekennen, Ausnahmen von dieser Regel kennen. Daher scheint die Verbalinspiration eher nicht praktikabel zu sein. 50

Die Realinspiration versucht das Dilemma der Verbalinspiration zu vermeiden, indem sie postuliert, dass nicht der wörtliche Text inspiriert ist, sondern die in ihm beschriebene Sache, lateinisch „res“. Diese Theorie erklärt also die Inhalte des Textes für inspiriert, nicht die Formulierungen der Inhalte. Dies bedeutet auch, dass diese Theorie Abweichungen und Diskrepanzen in Texten erklären kann, ohne gleich die Inspiration als solche in Frage stellen zu müssen. Zudem kann diese Theorie auch menschliches und göttliches Wirken beim Verfassen der Texte besser zusammenhalten. Letztlich macht auch die Möglichkeit der Inerranz und der Suffizienz diese These durchaus attraktiv. Allerdings beinhaltet auch diese Theorie ihre Probleme. Zunächst besteht ja die Schwierigkeit darin, die Inhalte eines Textes überhaupt zu definieren. Was genau ist der inspirierte Inhalt des Matthäusevangeliums, und was ist zufälliges Beiwerk ? Die Realinspiration trennt die Inhalte der Texte von ihrer literarischen Gestalt. Bedeutet dies also, dass die literarische Form der Texte keine Rolle spielt ? So ist beispielsweise der Prozess vor Pilatus im Johannesevangelium äußerst kunstvoll gestaltet. In seinem Zentrum steht die Frage nach der Identität und Art des Königtums Jesu. Die Frage stellt sich, ob wesentliche Inhalte so von der sprachlichen Form getrennt werden können, wie es diese Theorie vorsieht ; der Prozess vor Pilatus zeigt aber, dass der Inhalt wesentlich von der literarischen Form vermittelt wird. Die Personalinspiration ist eng mit der Realinspiration verwandt. Sie behauptet nicht die Inspiration der realen Inhalte, sondern die persönliche Inspiration der menschlichen Verfasser der Schriften, die nun als freie menschliche Subjekte geachtet werden, die unter dem Einfluss einer persönlichen Geisteingebung mit ihren Mitteln die Texte verfassten. Will man also den inspirierten Inhalten der Texte näherkommen, muss man versuchen, die Intention dieser Autoren zu eruie51

ren, ihre Situation zu erfassen und ihre literarischen Fähigkeiten und unterschiedlichen Ausdrucksweisen zu analysieren. Allerdings stellt sich hier die Frage, ob eine solche Suche nach den Autorenintentionen überhaupt erfolgreich sein kann, wenn wir doch über viele der neutestamentlichen Autoren so gut wie nichts wissen und diese über 2000 Jahre Geschichte und Kultur von uns getrennt sind. Gerade die Evangelien sind ja anonym verfasst – und dies wohl auch mit Absicht. Zudem sind gerade die Evangelien Zeugnisse eines langen Traditionsprozesses. Die Rückfrage nach den Verfassern der Evangelien wird damit aber äußerst komplex. Die These von einer ekklesialen Inspiration wurde von Karl Rahner entwickelt. Rahners Anliegen war, die Inspirationslehre an die Geschichte der Kirche und des Kanons rückzubinden. Rahner postulierte, dass Gott als Autor der Schrift gleichzeitig auch der Stifter der Kirche ist. Ist das Werden der Kirche nun an den Willen Gottes gebunden, so entspricht dies dem Prozess der Schriftwerdung. So wie Kirche wird, wird auch der Kanon. Daher ist der inspirierte Kanon jeweils in der Kirche zu interpretieren. Die Inspiration der Schrift findet sich in der Kirche, und die Kirche als Ausdruck des Willens Gottes findet sich gleichzeitig in der Schrift. Es handelt sich dabei also um eine fast symbiotische Beziehung zwischen Kirche und Schrift. Dies bedeutet für Rahner dann als Konsequenz, dass die göttliche Inspiration der Schrift in der gemeinschaftlichen Auslegung der Kirche erhoben werden kann. Dabei lässt Rahner noch offen, ob es innerhalb kirchlicher Instanzen auch eine Rangordnung der Auslegung geben kann oder soll. Im Übrigen kann die ekklesiale Inspiration auch die Traditionsbildung bis hin zu den Evangelien sehr gut integrieren. Die katholische Kirche bekennt sich zwar zur Inspiration, nicht aber zu einer bestimmten Theorie, wie diese zu verste52

hen sei. Selbst das nachsynodale Apostolische Schreiben „Verbum Domini“ von Papst Benedikt XVI. aus dem Jahr 2010 geht zwar auf eine ekklesiale Inspirationstheorie zu, konstatiert aber auch, dass dies Modell lediglich im übertragenen Sinn anwendbar ist. Letztlich bleibt also die konkrete Art des Verwebens von Menschenwort und Gotteswort in den Texten der Schrift offen. e. Bekenntnis

Am Beginn des Markusevangeliums steht der Aufruf zur Bekehrung und zum Glauben an das Evangelium (Mk 1,15). Die Evangelien beschreiben immer wieder Menschen, die Jesus mit Begeisterung nachfolgen. Immer wieder werden Menschen beschrieben, die Jesus als ihren Herrn bekennen. Neben diesen Figuren gibt es allerdings auch genügend, die sich von Jesus abwenden oder denen die Nachfolge zu schwierig erscheint. Dazu gehören nicht nur der reiche Jüngling (Mt 19,16–22), sondern auch die zahlreichen Gegner Jesu, die ihn schließlich ans Kreuz schlagen lassen. Jesus wird zur Figur, an der sich die Geister scheiden. Die Evangelien sind Schriften, die zur Nachfolge aufrufen wollen. In der Geschichte wird immer wieder deutlich, dass der Aufruf zur Nachfolge ganz unterschiedliche Formen annehmen kann. Augustinus, Franz von Assisi, Oscar Romero oder Franz Jägerstätter, Hildegard von Bingen, Teresa von Avila, Madeleine Delbrêl oder Doris Day sind Beispiele für Menschen, die diesem Aufruf gefolgt sind. Die Liste ließe sich beliebig weiterführen, doch wird aus dieser willkürlichen Auswahl deutlich, wie unterschiedlich sich an den Evangelien orientierte Lebensentwürfe entwickeln können. Wie auch immer man auf den Anruf des in den Evangelien bezeugten Gottes reagieren mag, ob man ihn aufnimmt oder ablehnt, letztlich bleiben die Evangelien nur dann verständlich, wenn man ihren Anruf ernst nimmt. Die Faszination 53

der Evangelien besteht darin, dass diese Einladung auch nach 2000 Jahren durch alle kulturellen und historischen Entwicklungen hindurch noch immer klingt.

E. Literatur zur Vertiefung Einen guten, wenn auch sehr technischen Überblick über die verschiedenen Modelle zur Entstehung der Evangelien bietet Sandra Hübenthal : Das Markusevangelium als kollektives Gedächtnis (Göttingen 2014), S. 11–71. Die neueren Modelle mündlicher Tradition wurden hauptsächlich im englischsprachigen Raum entwickelt. Thomas Söding : Die Verkündigung Jesu – Ereignis und Erinnerung (Freiburg 2011) bietet eine deutschsprachige Diskussion. Zur Rekonstruktion der Redequelle bietet Christoph Heil : Das Spruchevangelium Q und der historische Jesus (Stuttgart 2014) einen verständlichen Zugang.

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Kapitel 2 : Das Evangelium nach Markus

Wenn man eine Liste mit den bekanntesten und beliebtesten Traditionen der Evangelien zusammenstellen würde, fände man darin wahrscheinlich die Seligpreisungen, die Gleichnisse vom barmherzigen Samariter, vom verlorenen Sohn oder auch vom Gericht mit der so betroffen machenden Aussage „Was ihr dem geringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt …“ In dieser Liste fänden sich Wunder wie das der Hochzeit zu Kana, Gespräche wie das mit der Frau am Jakobsbrunnen oder die Erzählungen von Hirten auf dem Feld und die Flucht nach Ägypten, die unsere Weihnachtstraditionen so beeinflusst haben. Die Lehre Jesu lebt von der Bergpredigt und ihren Seligpreisungen der Armen und Marginalisierten. Die „Goldene Regel“ fasst diese Lehre zusammen. Jesu Beten umfasste das „Vater unser“, das er auch die lehrte, die ihm nachfolgten. Alle diese Erzählungen aus den Evangelien haben allerdings etwas gemeinsam : Sie stehen nicht im Markusevangelium. Man könnte fast vermuten, das Markus­ evangelium sei so etwas wie ein vergessenes Evangelium. Im Markusevangelium gibt es allerdings auch Erzählungen, die zu den bekannteren Traditionen der Jesusüberlieferung gehören. Die Gleichnisse vom Sämann, dessen Saat auf verschiedene Arten von Boden fällt, oder vom winzigen Samenkorn, das zu einem großen Baum heranwächst, gehören dazu. Jesu Tröstung der Jünger beim Seesturm oder sein Gang über das Wasser des Sees Gennesaret sind bekannt. Und schließlich ist es die Erzählung von Jesu schrecklichem Ende am 55

Kreuz auf Golgatha, die fest mit der christlichen Tradition verwoben ist. Markus widmet dieser Erzählung fast ein Viertel seines gesamten Evangeliums. Aber auch hier lässt sich sagen, dass diese Geschichten in mehr oder weniger abgewandelter Form auch in den anderen Evangelien auftauchen. Sucht man nach Erzählungen, die alleine Markus überliefert, so findet man nicht allzu viel. 3,19–21 Familie hält Jesus für von Sinnen 4,26–29 Gleichnis vom heimlich wachsenden Samen 7,31–37 Heilung eines Taubstummen 8,22–26 Heilung des Blinden bei Bethsaida 9,49–50 Sprüche über Salz 14,51–52 Flucht des nackten Jünglings aus Getsemani Abbildung 6 : Markinisches Eigenmaterial

Zum markinischen Eigenmaterial gehört eine Notiz über die Familie Jesu, die ihn für besessen hält und nach Hause holen möchte. Zwei Wundergeschichten, eine über einen Taubstummen und eine über einen Blinden bei Bethsaida, werden nur von Markus berichtet und enthalten eigenartige Details über die sehr handfeste Art von Jesu Zugang zu den Kranken. Auch der nackte junge Mann, der vor den Häschern im Garten Getsemani flieht, existiert nur im Markusevangelium. Doch dieses Eigenmaterial lässt wenig Rückschlüsse auf die Eigenart des Markusevangeliums zu. Aufschlussreicher ist, was Markus nicht berichtet. Es gibt keinerlei Berichte über die Geburt oder die Kindheit Jesu. Immer wieder berichtet Markus zwar, dass Jesus die Jünger oder die Volksmenge belehrt, aber es findet sich keine Bergpredigt, und sehr häufig wird, wie in 1,21–22 oder 2,2, berichtet, dass Jesus lehrte und dass Menschen durchaus auf seine Lehre reagierten. Inhaltlich jedoch erzählt Markus nicht, was 56

Jesus gelehrt hat. Vielleicht langt dem Evangelium die als zentrale Botschaft in 1,15 verkündete Nachricht : „Die Zeit ist erfüllt, und gekommen ist die Herrschaft Gottes ; kehrt um und glaubt an das Evangelium !“ Die weitaus größte Überraschung jedoch hält das Ende des Markusevangeliums bereit (Mk 16,1–8). Frauen kommen, den Leichnam Jesu mit wohlriechenden Ölen zu salben. Doch als sie das Grab erreichen, treffen sie lediglich einen jungen Mann in einem weißen Gewand an, der ihnen erzählt, Jesus sei auferstanden und sie sollten den Jüngern und besonders Petrus die Botschaft bringen, Jesus gehe ihnen voraus nach Galiläa, wo sie ihn sehen würden. Doch Markus endet die Geschichte mit einem eigenartigen Bericht : „Da gingen sie hinaus und flohen weg vom Grab, denn sie waren starr vor Angst und Entsetzen. Und sie sagten niemandem etwas, denn sie fürchteten sich“ (Mk 16,8). Dies ist der letzte Satz des Markusevangeliums, der viele Fragen offenlässt. Wer ist dieser junge Mann ? Gingen die Frauen trotz ihrer Furcht letztlich doch zu Petrus und den Jüngern ? Gab es überhaupt irgendjemanden, der den Auferstandenen gesehen hat ? Markus beantwortet diese Fragen nicht. Es gibt keine Ostererzählungen außer dem Bericht vom leeren Grab, der Botschaft des jungen Mannes und den furchtsamen Frauen. Man hat den Eindruck, das Markusevangelium ist unfertig. Dass dieser Schluss des Markusevangeliums problematisch ist, zeigt sich schon allein daran, dass verschiedene spätere Verfasser einen neuen Schluss hinzugefügt haben. Insgesamt vier solcher Versuche finden sich in den Manuskripten der ausgehenden Antike. Den vier Schlüssen ist jedoch gemeinsam, dass sie in den ältesten Manuskripten nicht vorhanden sind und dass sie sich in Vokabular und Stil vom Markus­ evangelium deutlich unterscheiden. Zudem sind auch frühe Kirchenväter wie der Bibelkommentator Origenes oder der 57

Der kurze Markusschluss Alles, was ihnen verkündet worden war, erzählten sie in Kürze denen um Petrus. Danach sandte auch Jesus selbst von Osten bis Westen durch sie die heilige und unvergängliche Verkündigung von der ewigen Erlösung. Amen. Der lange Markusschluss (in Übersetzungen oft übernommen als Mk 16,9–20) Als er aber früh am ersten Wochentag auferstanden war, erschien er zuerst der Maria Magdalena, von der er sieben Dämonen ausgetrieben hatte. Die ging hin und verkündete es denen, die mit ihm gewesen waren und trauerten und weinten. Und als jene hörten, dass er lebe und von ihr gesehen worden sei, glaubten sie nicht. Danach aber offenbarte er sich zweien von ihnen in anderer Gestalt unterwegs, als sie aufs Land gingen. Und jene gingen hin und verkündeten es den Übrigen ; auch jenen glaubten sie nicht. Nachher offenbarte er sich den Elfen selbst, als sie zu Tisch lagen, und schalt ihren Unglauben und ihre Herzenshärte, dass sie denen, die ihn auferweckt gesehen, nicht geglaubt hatten. Und er sprach zu ihnen : Geht hin in die ganze Welt und predigt das Evangelium der ganzen Schöpfung ! Wer gläubig geworden und getauft worden ist, wird errettet werden ; wer aber ungläubig ist, wird verdammt werden. Diese Zeichen aber werden denen folgen, die glauben : In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben ; sie werden in neuen Sprachen reden, werden Schlangen aufheben, und wenn sie etwas Tödliches trinken, wird es ihnen nicht schaden ; Schwachen werden sie die Hände auflegen, und sie werden sich wohl befinden. Der Herr wurde nun, nachdem er mit ihnen geredet hatte, in den Himmel aufgenommen und setzte sich zur Rechten Gottes. Jene aber zogen aus und predigten überall, während der Herr mitwirkte und das Wort durch die darauf folgenden Zeichen bestätigte. Abbildung 7 : Kurzer und langer Markusschluss

Kirchenhistoriker Eusebius Zeugen für das Ende des Markus­ evangeliums in 16,8. In neueren Bibelübersetzungen werden zwei dieser alternativen Schlüsse zwar angeboten, sind jedoch in der Regel in Klammern gesetzt. Der kürzere der beiden Schlüsse umfasst lediglich einen Satz, der von der Erfüllung des Auftrages des jungen Mannes spricht und von der Verbreitung des Evangeliums durch 58

„die um Petrus“. Der längere der beiden Schlüsse ist ganz offensichtlich eine Zusammenfassung der Ostererzählungen, die sich in den anderen Evangelien finden. Zuerst wird die Erscheinung vor Maria Magdalena aus Joh 20,11–18 geschildert, dann die Erscheinung auf dem Weg nach Emmaus aus Lk 24,13–35. Auch eine Interpretation des Missionsbefehls aus Mt 28,16–20 wird wiedergegeben. Abschließend wird die aus Lk 24,50–53 bekannte Himmelfahrt erwähnt und die Ausbreitung des Evangeliums in der ganzen Welt durch die Apostel geschildert. So handelt es sich auch bei dem längeren Markusschluss um eine spätere Hinzufügung. In moderner Forschung wird gelegentlich auch suggeriert, dass der ursprüngliche Schluss des Markusevangeliums verlorengegangen sei. Dies ist allerdings ein Argument, dass sich auf keinerlei verifizierbare Daten stützen kann, sondern lediglich aus der Überzeugung erwächst, der jetzige Schluss in Mk 16,8 sei unbefriedigend, weil er die Erzählung von Jesu Leiden und Sterben nicht in die Auferstehung hinein auflöst. Wegen fehlender Gegenargumente sind sich die meisten Exegeten heute daher einig, dass das Markusevangelium tatsächlich mit dem Schrecken der Frauen endet. Dieses offene Ende des Markusevangeliums hinterlässt Leserinnen und Leser mit vielen Fragen. Wie geht die Geschichte Jesu weiter ? Wie lässt sich der Auferstandene erkennen ? Wie begegnet man dem Christus des Glaubens ? Wie geht es mit den Jüngern weiter ? Wie kommt es zu Gemeindebildung ? Diese und weitere Fragen laden ein, die Geschichte Jesu mit seinen Jüngern weiterzudenken und selbst zu vervollständigen, vielleicht auch aufzufüllen mit den eigenen Erfahrungen. Das Ende des Markusevangeliums ist also auch eine Aufforderung, die Geschichte Jesu weiterzuspinnen.

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A. Wie entstand das Markusevangelium ? Das Markusevangelium ist chronologisch das erste Evangelium, das niedergeschrieben wurde. Darüber herrscht heute weitgehender Konsens in der Forschung. Allerdings ist auch wahrscheinlich, dass der Niederschrift des Evangeliums ein längerer Traditionsprozess voranging. Der Autor des Evangeliums hat seine Geschichte nicht frei erfunden, sondern konnte auf Material zurückgreifen, das schon längere Zeit im Umlauf war und das sicher mündlich, teilweise vielleicht auch schriftlich, schon in erzählerische Formen gegossen war. Markus war diesen Traditionen verpflichtet und konnte auf sie als Quellen zurückgreifen. Es ist heute schwierig, diese Quellen genau zu charakterisieren, da sie nicht eigenständig erhalten sind und letztlich nur aus dem Evangelium heraus erschlossen werden können. Trotzdem gibt es einige literarische Auffälligkeiten, die die markinische Benutzung von Quellen durchaus nahelegen und die diese Quellen auch beschreiben lassen. • Sammlung von Streitgesprächen, jetzt in Mk 2,1–3,6 • Eine oder zwei Sammlungen von Wundergeschichten, jetzt in Mk 4–8 • Endzeitrede, jetzt in Mk 13 • Frühe Version der Passionserzählung, jetzt in Mk 14–16 • Augenzeugen : Bartimäus, Rufus und Alexander, Simon von Cyrene Abbildung 8 : Mögliche Quellen des Markusevangeliums

Zunächst einmal sticht ins Auge, dass Markus gerne ähnliches Material miteinander gruppiert. So findet sich in Mk 2,1–3,6 eine Reihe von fünf Erzählungen, in denen es immer wieder um Konflikte zwischen Jesus und Gegnern geht. Diese Erzählungen werden zur Gattung der Streitgespräche gerechnet. In den Streitgesprächen geht es um Jesu 60

Autorität, Sünden zu vergeben (Mk 2,1–12), um das Mahl mit Sündern (Mk 2,15–17), um das Fasten (Mk 2,18–22), zwei Erzählungen setzen sich mit der Frage nach dem Sabbatgebot auseinander (Mk 2,23–28 ; 3,1–6). Das letzte Streitgespräch endet mit der Allianz von Pharisäern und Herodianern, um Jesus zu töten. Es ist durchaus möglich, dass eine solche Sammlung von Erzählungen schon in der Tradition vor Markus gebündelt war. Nimmt man dies an, stellt man auch fest, dass es andere markinische Sammlungen gibt. In Mk 4–8 findet sich eine Häufung von Wundergeschichten. Wenn Markus eine Quelle von Streitgesprächen hatte, wären auch eine oder vielleicht zwei Quellen von gesammelten Wundern Jesu denkbar. Oft wird auch argumentiert, dass die Endzeitrede in Mk 13 einer Tradition entstammt, auf die Markus zurückgreifen konnte. Dies wird auch für die Passionserzählung angenommen. Während der Darstellung der Kreuzigung gibt es eine kleine Randbemerkung, die eine weitere Quelle benennen könnte. So heißt es in Mk 15,21 : „Und sie zwingen einen, der gerade vorbeigeht, Simon aus Kyrene, der vom Feld kommt, den Vater des Alexander und des Rufus, ihm das Kreuz zu tragen.“ Diese Information über Simon und seine Söhne ist eigentlich sinnlos, denn die Figuren tauchen nicht wieder auf und werden im Evangelium lediglich hier erwähnt. Werden die Namen hier genannt, bedeutet dies vielleicht, dass Markus’ Leserinnen und Leser wahrscheinlich Alexander und Rufus kannten, vielleicht sogar ihren Vater Simon. Damit wäre aber auch klar, dass Markus tatsächlich Augenzeugen befragen konnte. Simon, Alexander und Rufus dürften solche Zeugen sein, und man kann ähnliche Überlegungen auch für Barti­ mäus in Mk 10,46 anstellen. Die Annahme, Markus habe Quellen benutzt, ist an sich unproblematisch. Doch gibt es Uneinigkeit unter Forschern, wie umfangreich die Quellen gewesen sein könnten und ob 61

es sich dabei um schriftliche oder mündliche Quellen gehandelt haben muss. Während im letzten Jahrhundert Forscher noch stark von schriftlichen Vorlagen ausgingen, scheint sich heute eher ein Konsens für eine mündliche Tradition zu finden. Es war aber auf jeden Fall die Leistung des Autors des Evangeliums, die verschiedenen mündlichen oder schriftlichen Traditionen zu bündeln und in ein literarisches Werk von erstaunlicher Kohärenz zu verwandeln. Dabei entstand nicht nur eine Sammlung von Sprüchen, wie es Q wahrscheinlich gewesen ist und wie es später auch das Thomasevangelium sein wird. Markus hingegen schuf ein literarisches Werk, das tatsächlich ein Evangelium ist : „Die gute Nachricht von Jesus, dem Messias, dem Sohn Gottes“ (Mk 1,1).

B. Die literarische Kunst des Markusevangeliums Im Blick auf die Quellen des Evangeliums sahen noch gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Forscher in der historisch-kritischen Tradition den Verfasser des Markusevangeliums hauptsächlich als „Jäger und Sammler“ von Überlieferungen ohne jegliche Kreativität in der Zusammenstellung der Traditionen zu einem Evangelium. Dazu trägt bei, dass das Evangelium sprachlich keinen besonders gepflegten Stil vorweisen kann. Die Sprache ist einfach gehalten und entspricht dem, was man in der Antike Koinē nannte, die gemeine Umgangssprache, die sich vom klassischen Griechisch eines Homer oder Aristoteles deutlich abhob. Tatsächlich sind alle Evangelien in gemeinem Griechisch geschrieben, aber Markus scheint eben noch weniger stilsicher zu sein als die anderen Evangelien. Ein schon erwähntes umgangssprachliches Phänomen sind die häufigen Satzanfänge mit „und“ oder „und sofort“. Ein 62

weiteres Element ist der häufige und scheinbar unmotivierte Wechsel von Vergangenheitsformen zu dem, was man das historische Präsens nennt. Hier wird eine Gegenwartsform benutzt, die Vergangenes ausdrücken will. Ein typisches Beispiel ist Mk 4,1 : „Und wieder fing er an, am See zu lehren. Und es versammelt sich viel Volk.“ Ein weiteres Problem betrifft die Geographie des Evangeliums. Im ersten Teil spielt sich das Geschehen hauptsächlich in Galiläa ab, mit einigen Aufenthalten in der Gegend des südlichen Syrien und der Dekapolis jenseits des Jordan. Aber die Ortsangaben des Evangeliums machen zumindest in ihrer Sequenz kaum Sinn. Eine konkrete Reiseroute Jesu lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Diese Charakteristika scheinen die These von der literarischen Ungelenkheit des Markus zu stützen. Doch lassen sich auch einige Gegenargumente anführen. Die Kunstfertigkeit des Autors zeigt sich schon in der Tatsache, dass er ein völlig neues literarisches Genre schuf, das die wichtigsten Stationen des Lebens Jesu nachzeichnet, ohne jemals mit antiken Biographien verwechselt werden zu können. Auch das Werk selbst gibt Auskunft über die literarischen Fähigkeiten eines Autors, die weit über die eines bloßen Sammlers von Traditionen hinausgehen. Markus ist tatsächlich ein Schriftsteller im besten Sinn des Wortes. Neuere Forschungen mit Hilfe narrativer Analysen sind der Kreativität des Autors sehr viel näher gekommen. a. Die Gliederung des Evangeliums

Die Kunst des Erzählens wird schon in der Anlage des Evangeliums deutlich. Markus benutzt eine Gliederung seines Materials, die sich in den Dienst der inhaltlichen Aussagen des Evangeliums stellt. Das Evangelium beginnt mit einer Art Prolog (Mk 1,1–15) oder auch Vorspiel, in dem die Figur Jesu vorgestellt wird als Messias und Sohn Gottes. Danach wird 63

Johannes der Täufer vorgestellt, bevor der Prolog mit einem kurzen Bericht über Taufe und Versuchung Jesu in das erste öffentliche Auftreten Jesu mündet und seine programmatische Predigt vorstellt : „Die Zeit ist erfüllt, und die Herrschaft Gottes ist nahe gekommen. Kehrt um und glaubt an das Evangelium.“ Der Abschnitt ist klar umrissen durch den Begriff „Evangelium“ am Beginn und am Ende des Prologs. I. Prolog : Jesus, der Täufer, Taufe, Versuchung und zentrale Botschaft (1,1–15) II. Erster Hauptteil (1,16–8,21) a. Frühes Wirken (1,16–6,6) b. Wirken mit den Zwölf (6,7–8,21) III. Zweiter Hauptteil : Weg nach Jerusalem mit drei Ankündigungen von Leid und Auferstehung (8,22–10,52) IV. Dritter Hauptteil : In Jerusalem (11,1–15,47) a. Auseinandersetzungen mit Autoritäten (11,1–13,37) b. Passion (14,1–15,47) V. Epilog : Das leere Grab (16,1–8) Abbildung 9 : Gliederung des Markusevangeliums

Damit beginnt der erste Hauptteil des Evangeliums (Mk 1,16–8,21). Er beschreibt das Wirken Jesu in Galiläa und den umliegenden Gebieten. Jesus heilt, lehrt und predigt. Ab Mk 6,7 weitet sich die Tätigkeit Jesu insofern aus, als er zwölf Männer auswählt, die seine Tätigkeit unterstützen. Während es auch andere Männer und Frauen gibt, die Jesus nachfolgen, sind diese Zwölf die Einzigen, die auch Jünger genannt werden. Die Tätigkeit Jesu richtet sich in diesem Teil an das Volk in Galiläa und den umliegenden Regionen. Im zweiten Hauptteil (Mk 8,22–10,52) macht sich Jesus mit seinen Jüngern auf den Weg nach Jerusalem. Am Anfang wie am Ende dieses Teils steht jeweils eine Blindenheilung. Doch Wun64

der nehmen in diesem Abschnitt sehr viel weniger Raum ein. Stattdessen enthält er umfangreiche Unterweisungen der Jünger, unter denen drei Ankündigungen von Jesu Leiden und Auferstehung besonders hervorstechen. Die Jünger mit ihrer komplizierten Beziehung zu Jesus treten deutlich in den Vordergrund. Der dritte Hauptteil schließlich findet während einer einzigen Woche in Jerusalem statt (Mk 11,1–15,47). Dieser Teil wird deutlich von den Konflikten Jesu bestimmt, und die Gegner treten in den Vordergrund, während die Jünger schließlich verschwinden. Im dritten Hauptteil lassen sich wieder zwei Teile unterscheiden. Im ersten Teil (Mk 11,1–13,37) konfrontiert Jesus die religiöse Führungselite in Jerusalem. Dabei handelt es sich um die Tempelreinigung, um Streitgespräche, die im Tempel stattfinden, und letztlich um die Endzeitrede. In Mk 14,1–15,47 erzählt das Evangelium von der Passion Jesu. Den Epilog des Evangeliums bildet die Geschichte vom leeren Grab (Mk 16,1–8). Die hier vorgeschlagene Gliederung des Markusevangeliums orientiert sich also stark an geographischen Beobachtungen, wird jedoch durch eine Verschiebung inhaltlicher Schwerpunkte untermauert. b. Die Kunst des Erzählens im Markusevangelium

1. Im Markusevangelium sticht zunächst die äußerste Dringlichkeit, mit der erzählt wird, ins Auge. Im ersten Kapitel schon wird in 15 Versen von der Predigt des Täufers, von der Taufe selbst und der anschließenden Versuchung Jesu berichtet. Der Prolog endet mit der Aussage, dass die Zeit erfüllt ist. Ab 1,16 schließt sich in schneller Folge die Berufung von vier Jüngern an, eine Krankenheilung in einer Synagoge, eine Heilung der Schwiegermutter des Petrus, eine Zusammenfassung von Heilungen und Verkündigung, ein Gespräch mit Petrus über die Mission Jesu und schließlich noch die Heilung eines Aus65

sätzigen. Man hat den Eindruck, dass sich die Ereignisse überschlagen, so schnell geht alles vonstatten. An dieser Stelle wird auch deutlich, dass der Gebrauch von „und“ sowie „und sofort“ nicht nur eine Ungelenkheit des Verfassers ist, sondern auch ein Stilmittel zum Ausdruck dieser Dringlichkeit und Überstürztheit der Erzählung. Allein im ersten Kapitel des Markusevangeliums erscheint das Wort „sofort“ elf Mal, insgesamt taucht es im Evangelium 47 Mal auf. Die Schnelligkeit der Erzählung setzt sich auch im weiteren Verlauf des Evangeliums durchaus fort. Man hat den Eindruck, das gesamte Wirken Jesu, das im Johannesevangelium über drei Jahre hinweg geschildert wird, passiere im Markus­ evangelium im Zeitraum von wenigen Wochen. 2. Markus ist ein Meister der Charakterisierung von Nebenfiguren. Obwohl das Markusevangelium kürzer ist als die anderen Evangelien, fallen doch die Sorgfalt und das Auge für Mk 5,2–7 : Und kaum war er aus dem Boot gestiegen, lief ihm sogleich von den Gräbern her einer mit einem unreinen Geist über den Weg. Der hauste in den Grabhöhlen, und niemand mehr vermochte ihn zu fesseln, auch nicht mit einer Kette. Denn oft war er in Fußfesseln und Ketten gelegt worden, doch er hatte die Ketten zerrissen und die Fußfesseln zerrieben, und niemand war stark genug, ihn zu bändigen. Und die ganze Zeit, Tag und Nacht, schrie er in den Grabhöhlen und auf den Bergen herum und schlug sich mit Steinen. Und als er Jesus von weitem sah, lief er auf ihn zu und warf sich vor ihm nieder und schrie mit lauter Stimme : Mt 8,28 : Als er ans andere Ufer kam, in das Gebiet der Gadarener, liefen ihm zwei Besessene über den Weg, die aus den Grabhöhlen hervorkamen. Die sahen so furchterregend aus, dass niemand auf dem Weg gehen wollte, der dort vorbeiführte. Lk 8,29 : Als er an Land ging, kam ihm ein Mann aus der Stadt entgegen, der von Dämonen besessen war. Seit langer Zeit trug er keine Kleider mehr und hielt sich auch nicht in einem Haus auf, sondern in den Grabhöhlen. Abbildung 10 : Charakterisierung des Besessenen von Gerasa 66

Details auf, mit der das Markusevangelium auch Figuren zeichnet, die keine Hauptfiguren sind. So nennt Markus als Einziger den Namen des Blinden vor den Toren von Jericho (Mk 10,46–52). Die Frau mit dem Blutfluss in Mk 5,25–34 wird nicht nur in ihrem Leid detailliert beschrieben, es wird auch erzählt, dass die Behandlung durch Ärzte alles nur noch schlimmer gemacht hat. Schließlich berichtet Markus auch noch, dass sie zwar geheilt ist, dass sie aber im anschließenden Gespräch mit Jesus zunächst noch furchtsam ist. Sowohl Matthäus als auch Lukas sparen diese sehr menschliche Seite der Frau aus. Besonders deutlich allerdings wird die Kunst der Charakterisierung in der Erzählung des Besessenen von Gerasa, bei dem Markus nicht nur das Leid des Mannes in aller Ausführlichkeit schildert, sondern auch den Geheilten in seiner Veränderung deutlich zeichnet. Ein weiteres Beispiel ist die Erzählung vom epileptischen Jungen (Mk 9,14–29), in der nicht nur das Kind in seinem Leid klar geschildert wird, sondern auch der Vater in seiner Sorge um sein Kind dargestellt wird. Ein Höhepunkt dieser Erzählung ist der Ruf des Vaters, „Ich glaube, hilf meinem Unglauben !“ Auch die Frau, die Jesus in Betanien mit Nardenöl salbt, wird in den Worten Jesu weiter charakterisiert, die mit dem Vorausblick auf ihr Gedächtnis in den nachösterlichen Gemeinden schließen : „Amen, ich sage euch : Wo immer in der ganzen Welt das Evangelium verkündigt wird, da wird auch erzählt werden, was sie getan hat, zu ihrem Gedächtnis“ (Mk 14,9). Diese Gabe der Charakterdarstellung setzt sich auch in den Gleichnissen Jesu fort, die sehr detailreich ausgeführt sind. Man kann also durchaus schließen, dass Markus gerade in der kleinen Form von Wundergeschichten und Heilungen zu einer erstaunlichen Unmittelbarkeit und Plastizität fähig ist. 3. Ein weiteres Merkmal des Evangeliums ist die Priorität der Taten über die Lehre Jesu. Dabei sei festgehalten, dass Jesus immer wieder als Lehrer auftritt und durchaus auch konkrete 67

Lehrinhalte vertritt. Dies kommt besonders im zweiten Hauptteil immer wieder zur Sprache. Doch fällt auch auf, dass oft von der Lehre Jesu die Rede ist, ohne dass konkrete Inhalte der Lehre erwähnt werden (Mk 1,21–22 ; 2,13 ; 6,2 ; 6,6 ; 6,34 ; 10,1 etc.). Dazu kommt, dass die Lehre Jesu bei Matthäus oder Lukas proportional einen sehr viel breiteren Raum einnimmt als im Markusevangelium. Wenn das Markusevangelium Jesus oft in seiner Lehrtätigkeit beschreibt, um gleich eine wunderbare Tat Jesu anzuschließen, muss es dafür Gründe geben. Markus betrachtet die Wunder und Taten Jesu als Teil der Lehre. So kann Jesus die Jünger fragen, ob sie denn nichts aus der Brotvermehrung gelernt hätten (Mk 8,18–21). Unbelehrbare hingegen wie die Pharisäer bekommen kein Zeichen (Mk 8,10–13). Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang in der Perikope von der Heilung in der Synagoge von Kafarnaum (Mk 1,21–26). Zunächst lehrt Jesus, und die Reaktionen auf seine Lehre sind Erstaunen und Überraschung, die Frage nach seiner Autorität taucht auf. Inhaltlich wird die Lehre nicht weiter beschrieben, sondern durch die Heilung eines Besessenen illustriert. Die Menge wundert sich und fragt : „Was ist dies ? Eine neue Lehre mit Vollmacht !“ Jesu Macht über die unreinen Geister wird in direkten Zusammenhang mit seiner Lehre gebracht. Mit diesem ersten und programmatischen Wunder Jesu signalisiert Markus, dass die Taten Jesu nicht auf ihren wundersamen Aspekt reduziert werden können, sondern als Ausdruck und Legitimation seiner Lehre zu verstehen sind. Für Leserinnen und Leser gilt, dies bei den weiteren Darstellungen im Gedächtnis zu halten. 4. Das Markusevangelium weist zudem einige Stilmerkmale auf, die regelmäßig wiederkehren. So verwendet das Evangelium gerne Rahmungen. Damit ist gemeint, dass zwischen zwei Erzählteile, die offensichtlich aufeinander bezogen sind, ein kontrastierender Erzählteil eingeschoben wird. Ein Bei68

• Rahmungen • Prophezeiung und Erfüllung • Erzählerkommentare Abbildung 11 : Stilmerkmale

spiel dafür ist der Bericht über Jesu Familie. In Mk 3,20–21 wird berichtet, dass große Menschenmengen Jesus in einem Haus aufsuchen, so dass er nicht einmal essen kann. Die Verwandten Jesu wollen ihn darauf hin zurückholen, denn, so ihr Urteil, Jesus sei „von Sinnen“. In Mk 3,31–35 schließlich wird wieder von einer Menschenmenge berichtet, die Jesus in einem Haus umlagert. Hier nun stehen die Mutter und Jesu Brüder vor der Tür und rufen ihn heraus ; Jesus hingegen spricht von seinen wahren Verwandten als denen, die den Willen Gottes tun. Zwischen diesen beiden Erzählungen liegt die Auseinandersetzung Jesu mit dem Vorwurf seiner Gegner, er sei von einem bösen Geist besessen. Ähnliche Arrangements finden sich in der durch die Frau mit dem Blutfluss unterbrochenen Heilung der Tochter des Jairus (Mk 5,21–43), in der Aussendung und Rückkehr der Jünger mit der Erzählung von Herodes dazwischen (Mk 6,7–30) oder der Verfluchung des Feigenbaums mit der Tempelreinigung in der Mitte (Mk 11,12–20). Diese Art der Verflechtung von scheinbar unterschiedlichen Erzählungen suggeriert eine Interpretation, die diese Geschichten aufeinander bezieht. Der unfruchtbare Feigenbaum ist ein Bild, das die Unfruchtbarkeit des Tempels im übertragenen Sinn belegen soll ; das Schicksal des von Herodes hingerichteten Täufers betont die erfolgreiche Missionserfahrung der Jünger umso mehr, die Heilungen der Frau und der Tochter des Jairus beleuchten in einer Steigerung die Macht Jesu, der Vorwurf der Besessenheit gegen Jesus findet sich nicht nur bei Pharisäern, sondern auch bei seiner leiblichen Familie und illustriert so 69

an Jesus, was auch das Schicksal der Jünger sein wird (Mk 13,12). Ein weiteres Stilmerkmal ist ein wiederkehrendes Muster von Prophezeiung und Erfüllung. In Mk 3,9 gibt Jesus den Auftrag an die Jünger, ein Boot bereitzuhalten, das erst in Mk 4,1 wirklich gebraucht wird. Die drei Ankündigungen von Passion und Auferstehung in Mk 8–10 erfüllen einen ähnlichen Zweck, und auch die Vorbereitung des Abendmahles wird in Gestalt einer Vorhersage und ihrer Erfüllung geschildert (Mk 14,12–16). Die Salbung in Betanien (Mk 14,3–9) funktioniert als eine Ankündigung der Passion Jesu. Ähnlich funktioniert auch der Hinweis auf Jesus als den Sohn Gottes in Mk 1,1, denn der Titel provoziert die Frage, wie dies denn sichtbar wird. Eingelöst wird letztlich diese Prophezeiung erst im Bekenntnis des Hauptmannes unter dem Kreuz Jesu (Mk 15,39). Zum literarischen Stil des Markusevangeliums gehört auch, dass immer wieder Kommentare des Erzählers eingestreut werden, die offensichtlich wenig zur Handlung beitragen, diese aber illustrieren oder erklären. Solche Kommentare stehen bei Markus gerne in Sätzen, die mit dem griechischen Wort gar gekennzeichnet sind, im Deutschen zumeist mit „aber“ oder „nämlich“ übersetzt. Die Beschreibung pharisäischer Reinheitsriten in Mk 7,3–4 ist ein solcher Kommentar oder auch die Erkenntnis des Pilatus, dass die Gegner Jesus aus Neid hinrichten lassen wollen (Mk 15,10). 5. Im Markusevangelium ist Jesus zutiefst menschlich dargestellt. Jesus kann müde (Mk 6,31) und hungrig (Mk 11,12) werden, er spürt Mitleid (Mk 1,41 ; 6,34), aber auch Zorn (Mk 3,5) oder Überraschung (Mk 6,6). Jesus kann zittern vor Unwillen (Mk 10,14), und er kann lieben (Mk 10,21). Er weiß nicht immer alles (Mk 13,32), und seine Fähigkeit, Wunder zu wirken, kann von anderen behindert werden (Mk 6,5). Markus beschreibt Jesus durchaus als Sohn Gottes, der mit 70

außerordentlicher Macht ausgestattet ist. Doch scheut sich Markus auch nicht, diese Macht in ein sehr menschliches Gewand zu hüllen. Dies fällt umso mehr auf, als die anderen Evangelien diese menschlichen Züge im Porträt Jesu eher auflösen als vertiefen. 6. Das Markusevangelium benutzt immer wieder das Motiv des Geheimnisses um die Person Jesu. Die Botschaft der Herrschaft Gottes ist ein Geheimnis (Mk 4,11), das denen verborgen bleiben soll, deren Herzen im Sinne von Jes 6,9–10 verstockt sind (Mk 4,10–12). Oft werden die Taten Jesu von der Aufforderung begleitet, niemandem etwas davon zu sagen (Mk 1,43–44 ; 5,43 ; 7,36 ; 9,9). Insbesondere Dämonen werden zum Schweigen aufgefordert, wenn sie erkennen, wer Jesus ist (Mk 1,23–25.34 ; 3,11–12). Doch auch Petrus und die Jünger werden aufgefordert, Jesus nicht als Messias bekanntzumachen (Mk 8,30). Durch dieses Geheimnismotiv entsteht eine eigenartige Spannung im Evangelium. Auf der einen Seite legen die Taten und Wunder Zeugnis von der Identität Jesu ab, auf der anderen Seite scheint es, dass Jesus dies zu verbergen sucht. Die Spannung, die aufgebaut wird, zieht sich durch das gesamte Evangelium bis hin zu dem Punkt, an dem Jesus selbst nichts mehr zu seiner Person sagt (Mk 15,4–5). Diese Spannung sucht nach einer Auflösung innerhalb der Erzählung. • Dringlichkeit der Erzählung • Charakterisierungen von Nebenfiguren • Priorität der Taten Jesu • Stilmerkmale • Menschliches Porträt Jesu • Motiv des Geheimnisses und der Schweigegebote Abbildung 12 : Erzählkunst im Markusevangelium

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c. Zusammenfassung

Das Markusevangelium ist keineswegs eine lose Sammlung von Traditionen über Jesu Leben und Sterben, sondern ein kunstvoll gestaltetes literarisches Werk, das in einem sprachlich etwas unscheinbaren Gewand daherkommt. Die Erzählung des Markus ist dynamisch, sie sprüht vor Lebendigkeit, die Figuren werden vielschichtig und detailreich charakterisiert. Dies betrifft nicht nur die Hauptfiguren, sondern auch die weniger auffälligen Figuren am Rande. Sie tauchen vielleicht lediglich in einer kurzen Erzählung auf, aber sie hinterlassen einen bleibenden Eindruck. Dies macht das Markus­ evangelium äußerst attraktiv, und im Folgenden wird zu beobachten sein, dass der literarischen Vielschichtigkeit auch eine theologische entspricht.

C. Die theologische Kunst des Markusevangeliums Im Markusevangelium fällt auf, dass Jesus mehr über die Herrschaft Gottes spricht als über irgendetwas anderes. Jesu Botschaft definiert sich von Gottes Herrschaft her, und dieser Herrschaft sollen auch die Jünger dienen. Einer der theologischen Schwerpunkte des Markusevangeliums ist also die Herrschaft Gottes. Ihm tritt Jesus als der Künder der Herrschaft zur Seite. Jesus nun sammelt Jünger um sich, denen er seine Botschaft anvertraut. Damit ergeben sich drei Schwerpunkte in der Betrachtung der markinischen Theologie : die Gottesherrschaft, die Identität Jesu und die Jünger. a. Die Gottesherrschaft

Der Prolog des Evangeliums endet mit der programmatischen Botschaft Jesu „Erfüllt ist die Zeit, und nahe gekommen ist die Herrschaft Gottes. Kehrt um und glaubt an das Evangelium !“ (Mk 1,15). Es ist das erste Mal, dass Jesus überhaupt 72

spricht. Für das Evangelium ist diese Botschaft programmatisch, da im ersten Satz Jesu das beherrschende Thema des Evangeliums ausgesprochen wird : Jesus geht es um die Herrschaft Gottes, und dies ist eine gute Nachricht. Die Ankunft der Gottesherrschaft markiert die Erfüllung der Zeit. Markus sieht die Ankunft der Herrschaft als den Beginn der Endzeit, die sich in der Ewigkeit vollendet (Mk 14,25). Dabei ist der griechische Text in Mk 1,15 nicht leicht zu übersetzen. Das griechische Wort ēggiken ist die Perfektform von eggizein, nahe kommen. Die Herrschaft ist nahe gekommen, also schon präsent. Markus scheint also zu implizieren, dass sie zwar schon gegenwärtig ist, aber sich auch immer noch in der Annäherung befindet. Damit wird aber auch deutlich, dass Markus die Herrschaft Gottes in der Spannung zwischen dem Hier und Jetzt und der Vollendung der Endzeit sieht. Daher lässt sie sich als ein Geheimnis beschreiben, das den Jüngern anvertraut ist (Mk 4,11). Es ist eine Herrschaft, die nicht in Kategorien von Raum und Zeit existiert, sondern in Gleichnissen und Metaphern umschrieben wird (Mk 4,30). Gottes Herrschaft ist schon angebrochen, aber sie ist auch eine zukünftige Realität (Mk 9,1), die man freudig erwartet (Mk 15,43). Eine zweite Schwierigkeit ergibt sich aus dem griechischen Wort basileia. Viele deutsche Übersetzungen geben es mit „Reich“ oder gar „Königreich“ wieder. Dies ist ein relativ statischer Begriff, der einen bestimmten Ort suggeriert. Doch in der griechischen Wurzel steckt nicht nur ein Hauptwort, sondern auch ein Tätigkeitswort. Daher wird man wohl besser basileia mit „Herrschaft“ wiedergeben, da darin ja auch „herrschen“ steckt. Gleichzeitig trifft diese Übersetzung besser den zeit- und ortlosen Charakter, der mit einer Übersetzung durch „Reich“ verlorenginge. Wenn es aber um die Herrschaft Gottes geht, dann bedeutet dies auch, dass der Wille Gottes geschieht. Die Ankündigung Jesu von der nahe 73

gekommenen Herrschaft Gottes bezieht sich zunächst einfach auf die Tatsache, dass der Wille Gottes nun endlich erfüllt wird. Mehr Details über die schon gegenwärtige und sich nähernde Herrschaft Gottes gibt Markus in der großen Gleichnisrede in Mk 4. Zunächst einmal ist diese Herrschaft ein Geheimnis, das einigen gegeben ist, anderen jedoch nicht (Mk 4,11). Diejenigen, die das Geheimnis empfangen, sind diejenigen, die Jesus um sich geschart hat. Andere, die dies Geheimnis nicht kennen, sind solche, die „draußen“ sind, die also nicht zum Kreis um Jesus gehören. Die Herrschaft Gottes macht sich also im Hören auf Jesu Lehre und in ihrer Annahme (Mk 4,20) kenntlich. Daher kann Markus auch die Nähe der Herrschaft mit Umkehr und Glauben an das von Jesus verkündete Evangelium verbinden (Mk 1,15). Das Geheimnis der Herrschaft Gottes kann allerdings nicht direkt benannt werden, sondern es eröffnet sich in Gleichnissen, die den geheimnisvollen Charakter noch unterstreichen. So ist es wie ein Samenkorn, das auf fruchtbaren Boden fällt (Mk 4,8). Im Gleichnis vom Senf korn ist dieser Same zwar klein, wächst aber in den Himmel hinein (Mk 4,31–32), um den Vögeln Heimat zu bieten. Gleichzeitig wird deutlich, dass diese Herrschaft etwas ist, das empfangen wird wie ein Same vom Boden, wie ein Geschenk. Daher spricht ein weiteres Gleichnis von der Herrschaft Gottes als dem Samen, der von selbst wächst, ohne dass man weiß, wie dies geschieht (Mk 4,26–29). Wenn die Herrschaft Gottes auf der einen Seite Geschenk ist, so braucht sie auf der anderen Seite auch die Annahme des Geschenks. Markus spricht daher davon, dass man in die Herrschaft eintreten kann und muss (Mk 9,47 ; 10,15.23–24). Dies erfordert einen radikalen Lebenswandel, in dem man das Auge ausreißt (Mk 9,47), das zur Sünde verführt. Der reiche Mann in 10,17–22 ist ein Beispiel für jemanden, der diese 74

Radikalität nicht auf bringen kann. Er veranlasst Jesus dazu, über die Schwierigkeiten auf dem Weg in die Herrschaft Gottes nachzudenken. Der Eintritt in die Herrschaft Gottes ist für Markus nicht nur menschliches Tun, sondern letztlich Gnade Gottes (Mk 10,27). Die Taten Jesu im Markusevangelium belegen den Anspruch Jesu. Die Nähe der Gottesherrschaft zeigt sich in Exorzismen, Wundern und Heilungen. Doch wird nicht nur die Nähe und Ankunft der Herrschaft belegt. Die Machttaten Jesu zeigen auch, wie sich Gottes Wille für die Menschen in außergewöhnlicher Weise erfüllt. Es ist Gottes Wille, dass Menschen gesund und heil sind, dass sie nicht von anderen Mächten besessen sind und dass sie, wie Bartimäus vor den Toren Jerichos, Jesus nachfolgen (Mk 10,52). Dämonen und Katastrophen müssen sich der Herrschaft Gottes beugen. Die Nähe der Herrschaft Gottes ist frohe Botschaft, da das Böse besiegt ist. Schließlich geschehen diese Taten und Wunder durch Jesus als den Boten der Gottesherrschaft. Jesus lehrt mit einer Vollmacht, der sich Dämonen beugen müssen und die die Menschen in höchstes Erstaunen versetzt (Mk 1,27). Damit aber belegt Markus, dass die Herrschaft nicht nur nahegekommen ist, sondern dass die Botschaft Jesu sich in seiner Person erfüllt. Jesus selbst ist die Verkörperung der Erfüllung des Willens Gottes. Daher ist die Teilhabe an der Gottesherrschaft auch an seine Person gebunden. Nur die, die ihm nachfolgen, können in das Geheimnis eintreten. Die richtige Antwort auf Jesu wundertätige Macht ist, ihm nachzufolgen. In der Geschichte vom reichen Mann verbindet Markus die Aufforderung zu einem Eintreten in die Herrschaft Gottes durch den Verkauf des Besitzes mit der Aufforderung, Jesus nachzufolgen. Was der Reiche nicht zuwegebringt, das gelingt dem blinden Bettler von Jericho (Mk 10,46–52). Jesus ist also nicht nur Bote, sondern auch Träger der Herrschaft Gottes. Er ist der, in dessen Person und Handeln sich 75

der Wille Gottes am deutlichsten zeigt. Jesus selbst weist mehrfach darauf hin, dass sich dieser Wille Gottes für ihn am Kreuz erfüllt. Jesu Aufgabe ist es, sein „Leben als Lösegeld für viele“ (Mk 10,45) hinzugeben. Wenn Petrus ihn an diesem Ziel hindern will, wird er zum Satan (Mk 8,31–33). Die Herrschaft und der Wille Gottes sind also am deutlichsten in der Bereitschaft Jesu, bis zum Tod zu gehen, sichtbar. Der Tod Jesu wird zum Leben für viele. b. Wer ist Jesus ?

Das Markusevangelium beginnt mit der Identifikation Jesu als Messias und Sohn Gottes (Mk 1,1). Das unmittelbar anschließende Erscheinen des Täufers konzentriert sich zunächst auf das Aussehen des Johannes, das dem des Elija ähnelt. Doch wenn Markus die Botschaft des Täufers zitiert, beginnt er mit der Identifikation Jesu als jemand, der größer ist als der Täufer (Mk 1,1.7–8). In der anschließenden Taufe kommt eine Stimme vom Himmel, die Jesus als „meinen geliebten Sohn“ anspricht (Mk 1,11). Im ersten Wunder in der Synagoge von Kafarnaum weiß der Dämon, dass Jesus „der Heilige Gottes“ ist (Mk 1,24), während die Gottesdienstbesucher fragen „Was ist das ?“ (Mk 1,27). Schließlich fasst Markus in 1,32–34 verschiedene Heilungen und Exorzismen zusammen und schließt mit der Bemerkung, dass die Dämonen die Identität Jesu kannten. Das erste Kapitel des Markusevangeliums stellt so die Frage nach der Identität Jesu in das Zentrum. Damit erreicht Markus, dass die Leserinnen und Leser Antworten auf die Frage nach der Identität Jesu auch im weiteren Verlauf des Evangeliums suchen werden. Die Nazarener in der Synagoge bringen es auf den Punkt : „Woher hat der das, und was für eine Weisheit ist das, die ihm gegeben ist ? Und solche Wunder geschehen durch seine Hände !“ Tatsächlich fragen auch im weiteren Verlauf des Evangeliums immer wieder Menschen und 76

sogar Jünger, wer Jesus sein könne (vgl. Mk 2,7 ; 4,41 ; 6,14–16 ; 6,49). Im Zentrum des Evangeliums stellt Jesus selbst die Frage an seine Jünger (Mk 8,27.29). Und schließlich wird in der Passionsgeschichte die Identität Jesu zur zentralen Frage vor den Hohen Rat (Mk 14,61–62), vor Pilatus (Mk 15,2), am Kreuz selbst (Mk 15,26.32) und schließlich bei seinem Tod (Mk 15,39). Mit Recht lässt sich sagen, dass im Zentrum des Markusevangeliums die Frage steht, wer denn nun dieser Jesus ist, der die Gottesherrschaft in Wort und Tat verkündet, und welche Antworten gegeben werden. Manche Antworten werden vom Evangelium zwar angeboten, stellen sich aber schnell als unbefriedigend heraus. Wenn die Nazarener ihrer Überraschung über die Predigt Jesu mit dem Hinweis auf Jesus als Zimmermann, Sohn der Maria und Bruder des Jakobus, Joses, Judas, Simon und mehrerer Schwestern beantworten (Mk 6,3), so qualifiziert Markus dies als Unglauben (Mk 6,6). Dem entspricht auch, dass Jesus seine Familie neu definiert als diejenigen, die den Willen Gottes tun (Mk 3,34–35). Wenn die Gegner Jesu und anscheinend auch seine Familie seine Wunder mit Besessenheit durch Beelzebul erklären wollen, so ist auch dies fehlgeleitet und eine Sünde gegen den Heiligen Geist (Mk 3,28–30). Die Jünger glauben gar zeitweilig, Jesus sei ein Gespenst (Mk 6,49). Andere Antworten scheinen auf den ersten Blick plausibler zu sein. Dämonen wissen, dass Jesus der Heilige oder Sohn Gottes ist (Mk 1,23.34 ; 3,11 ; 5,7). Petrus weiß, dass Jesus der Messias ist (Mk 8,29). Doch auch hier tauchen Zweifel auf. Jesus verbietet den Dämonen, seine Identität preiszugeben. Auch die Jünger dürfen nach dem Petrusbekenntnis niemandem etwas erzählen und werden gar zurechtgewiesen (Mk 8,30). Das Geheimnis, das Jesus umgibt, betrifft auch seine Taten. Oft werden die, an denen Jesus Wunder vollbringt, zum Schweigen genötigt (Mk 1,43–44 ; 5,43 ; 7,36 ; 9,9). Es scheint, als ob Markus zwar immer wieder die Frage 77

nach der Identität Jesu stellt, die Antwort jedoch im Dunkeln lassen möchte. Wilhelm Wrede konstatierte schon 1901, dass das sogenannte Messiasgeheimnis eine rhetorische Strategie des Markusevangeliums sei, die den nachösterlichen Glauben an Jesus als Messias und Sohn Gottes in das vorösterliche Wirken Jesu projiziert. Er dachte, dass für die frühen Christen Jesu Gottessohnschaft erst mit seiner Auferstehung begann, und suchte nach Belegen für diese Ansicht bei Paulus und in den Reden der Apostelgeschichte. Für Wrede ging Markus vollständig unhistorisch vor, indem er Wundergeschichten und Exorzismen als Belege für die vorösterliche Gottessohnschaft Jesu erfand. Seine Theorie stieß auf großen Widerstand in christlichen Kreisen, fand jedoch auch Beifall in einer Zeit, die Wundern skeptisch gegenüberstand. Wredes Theorie war von großem Einfluss. Selbst heute finden sich gelegentlich noch Anhänger. Im Extremfall erscheint Markus dabei als ein Autor, der historische Ereignisse fälscht, um sie seiner theologischen Position anzupassen. Doch ist auch denkbar, dass das „Messiasgeheimnis“ einem ganz anderen Zweck dient. Zunächst ist es nämlich unwahrscheinlich, dass Markus mit einer Verfälschung überhaupt hätte Akzeptanz finden können. Seine Leserschaft wird viele der Wunder schon aus mündlicher Überlieferung gekannt haben. Zudem gibt es Wunder, die nicht einem Schweigegebot unterworfen sind, wie die Geschichte vom blinden Bartimäus (Mk 10,46–52). Und auch das Bekenntnis des Hauptmanns unter dem Kreuz (Mk 15,39) wird nicht mit einem solchen Gebot verbunden. Es ist also wahrscheinlich, dass Markus zwar weiß, dass Jesus durchaus Wunder und Dämonenaustreibungen gewirkt hat, und dass in diesem Zusammenhang auch die Frage nach der Gottessohnschaft Jesu gestellt wurde. Mit der Einführung eines Schweigegebots belegt Markus allerdings, dass Jesus 78

nicht an seinen Wundern identifiziert werden kann. Das Schweigegebot ist ein Korrektiv für alle die, die Jesus als Wundertäter und Exorzisten und vielleicht Lehrer mit Vollmacht verehren. Markus will nicht die Wunder Jesu verheimlichen, aber er will die in die Schranken weisen, die sich mit den Wundern Jesu begnügen. Wenn Jesus die Herrschaft Gottes verkündet und sie mit Machttaten legitimiert, so erschöpft sich die Herrschaft Gottes nicht in den Heilungen Jesu. Wundertäter gab es sowohl in jüdischer wie heidnischer Kultur genug ; Jesus geht jedoch weit über solche Menschen hinaus. Doch welche Alternativen bietet das Markusevangelium an ? Zunächst fällt auf, dass Jesus sich auffallend oft selbst als Menschensohn bezeichnet (Mk 2,10.28 ; 8,31.38 ; 9,9.12.31 ; 10,33.45 ; 13,26 ; 14,21.41.62). Der Ausdruck hat Wurzeln in den jüdischen Schriften, wo er zunächst einfach einen Menschen bezeichnet (Num 23,19 ; 1 Sam 26,19 ; Ps 8,5 etc.). In Dan 7,13 jedoch wird der Begriff auch auf eine himmlische Autoritätsfigur angewandt, die das Ende der Zeiten einläutet. Im Markusevangelium nun treffen beide Nuancen in Jesus aufeinander. Der „Menschensohn“ ist gelegentlich einfach Jesu Art, von sich selbst zu sprechen (Mk 14,21), aber er hat auch die Macht, Sünden zu vergeben (Mk 2,10). Er ist Herr über den Sabbat (Mk 2,28) und auch Richter in der Endzeit (Mk 8,38). Markus stellt in 14,26 sogar den direkten Zusammenhang mit dem endzeitlichen Menschensohn aus Dan 7,13–14 her, der auf den Wolken kommt und dem Ehre, Macht und Königsherrschaft gegeben werden. Jesus als Menschensohn wird also deutlich mit dem Anbruch der Endzeit in Verbindung gebracht. Den Motiven der Schrift setzt Markus allerdings noch einen weiteren Aspekt hinzu, der im Evangelium schon allein quantitativ zum bedeutendsten Merkmal des Menschensohns wird. Der Menschensohn wird abgelehnt werden, er muss leiden und muss gekreuzigt werden. Und letzt79

der Blinde von Bethsaida (8,22–26) Jesus kündigt Passion an 8,31 9,30–31 10,32–34 Jünger missverstehen 8,32–33 9,32–34 10,35–40 Jesus belehrt Jünger 8,34–38 9,35–37 10,41–45 der Blinde Bartimäus von Jericho (10,46–52) Abbildung 13 : Die Ankündigungen von Passion und Auferstehung bei Markus

lich wird er auferstehen. Markus macht dies in den drei Ankündigungen von Leid und Auferstehung deutlich, die alle die Notwendigkeit dieses Schicksals betonen (Mk 8,31 ; 9,30–31 ; 10,33–34). Allen drei Ankündigungen schließt sich unmittelbar eine Erzählung über Jünger an, die diese Vorhersagen nicht verstehen. Gerade hier wird deutlich, warum Markus ein Korrektiv für das Porträt Jesu als Wundertäter braucht. Während die Jünger Jesus folgen und Zeugen von Wundern sind und gelegentlich sogar selbst welche zu wirken versuchen (Mk 9,18), verstehen sie nicht die Notwendigkeit seiner Passion und Auferstehung. Damit jedoch rückt Markus gerade diese Ereignisse in den Mittelpunkt. Markus betont dies noch, indem er allen drei Erzählungen eine Belehrung folgen lässt, in der Jesus die Jünger über die Bedeutung der Jüngerschaft in der Nachfolge des leidenden Menschensohnes auf klärt. Symbolisch sind diese Ankündigungen von Leiden und Auferstehung mit ihren Jüngerbelehrungen zwischen zwei Blindenheilungen eingebettet. Während in der ersten Heilung der Blinde noch kaum recht sehen kann und Jesus neu ansetzen muss, ist der Blinde Barti­m äus am Ende bereit, Jesus sofort zu folgen. Den Leserinnen und Lesern wird mit dieser Rahmung vorgehalten, sich die Lehre Jesu so zu eigen zu machen, dass sie tatsächlich im übertragenen Sinne sehend werden und sich selbst wie Bartimäus auf den Weg der Nachfolge machen und nicht wie die Jünger unverständig bleiben. 80

Schon zu Beginn bezeichnet das Evangelium Jesus als den Sohn Gottes. Dieser Titel wird noch zwei Mal durch eine Stimme vom Himmel bestätigt, einmal bei der Taufe (Mk 1,11), ein weiteres Mal bei der Verklärung (Mk 9,7). Auch Dämonen erkennen in Jesus den Sohn Gottes. Doch erstaunlicherweise sind es bis fast zum Ende des Evangeliums niemals Menschen, die in Jesus den Gottessohn erkennen. Erst im Prozess vor dem Hohen Rat wird Jesus gefragt, ob er der Sohn „des Hochgelobten“ sei, und sein Ja führt zu seinem Todesurteil (Mk 14,61–64). Und im Moment nach seinem Tod erklärt der Hauptmann des Exekutionskommandos : „Wahrlich, dieser Mensch war Gottes Sohn“ (Mk 15,39). Der Menschensohn muss leiden und getötet werden, und er wird auferstehen. In seinem Tod jedoch wird deutlich, dass der Menschensohn auch Gottessohn ist. Letztlich wird also die Antwort auf die Frage „Wer ist Jesus ?“ schon in Mk 1,1 gegeben. Wenn Markus im Verlauf der Erzählung die Identitätsfrage immer wieder aufwirft und mit einer Art Geheimnis umgibt, gibt er der Frage eine neue Richtung. Es ist weniger, welcher Titel für Jesus nun der geeignetste sei, sondern wie sich erkennen lässt, dass Jesus tatsächlich der Sohn Gottes ist. Was heißt es eigentlich, an Jesus als den Sohn Gottes zu glauben ? Markus gibt eine negative und eine positive Antwort auf diese Fragen. Die negative Antwort ist, dass der Sohn Gottes in Wundern und Exorzismen nicht zu erkennen ist. Sie mögen Beiwerk sein, auch Legitimation für die Lehre Jesu und mächtige Zeichen der angebrochenen Herrschaft Gottes. Doch positiv offenbart sich der Sohn Gottes erst in der Passion und am Kreuz, in der Erfüllung des Willens Gottes. Wenn Jesus in Getsemani betet, bittet er zwar, die Passion möge ihm erspart bleiben, doch wird auch deutlich, dass die Passion der Wille Gottes ist, dem sich Jesus unterwirft (Mk 14,36). Und diese Passion dient letztlich der Erlösung der Menschen (Mk 10,45). 81

Die Herrschaft Gottes ist angekommen, der Wille Gottes ist erfüllt. Doch er ist erfüllt auf überraschende Weise. Es ist Jesus, der sein Leben im Gehorsam hingibt für viele und den Gott auferweckt von den Toten. c. Jüngerschaft

Im Markusevangelium ist Jesus selten allein unterwegs. In der Regel wird er von vielen Menschen begleitet. Unter diesen tragen einige den Titel „Jünger“ und bilden eine enge Gruppe um Jesus. Von einigen werden besondere Berufungsgeschichten erzählt. Die Jünger nehmen im weiteren Verlauf der Erzählung eine tragende Rolle ein und sind mit dem später eingeführten Kreis der zwölf Apostel identisch. Neben den Jüngern gibt es weitere Männer und Frauen, die Jesus nachfolgen. Allerdings nennt das Evangelium sie nicht Jünger. Von den Jüngern allerdings entwirft Markus ein eigenartiges Bild. Gleich nach der Verkündigung der Ankunft der Herrschaft Gottes folgen die Jüngerberufungen am See Gennesaret mit dem prägnanten Satz Jesu : „Kommt mir nach !“ (Mk 1,17). Vier Jünger werden so berufen ; etwas später noch ein weiterer (Mk 2,14). Die Berufungsgeschichten ähneln sich sehr. Sie sind an den griechischen Text der Berufung des Elischa durch Elija (1 Kön 19,19–21) angelehnt, überbieten ihn aber auch in ihrer Konsequenz und Radikalität. Die Jünger folgen Jesus ohne ein Wort oder ein Zeichen des Widerstandes. Für sie ist es selbstverständlich, alles zu verlassen und Jesus zu folgen. Später konstatiert Petrus, dass die Jünger alles verlassen haben, um Jesus nachzufolgen (Mk 10,28). In Mk 3,13–19 verdichtet sich die Berufung in der Auswahl der zwölf Apostel. Von den Jüngern werden hier mehrere Aussagen gemacht : Erstens sind die Zwölf von Jesus bestimmt und konstituiert. Für Markus ist das so wichtig, dass er dies auch wiederholt (Mk 3,14.16). Der griechische Text sagt, dass Jesus die Zwölf „macht“, der Zwölferkreis ist eine Schöpfung 82

Jesu. Die Jünger sind also Menschen, die sich als Jünger und als Gruppe von Jesus etabliert und berufen wissen, ganz ähnlich, wie es auch schon am See Gennesaret war. Zweitens haben die Zwölf einen dreifachen Auftrag zu erfüllen (Mk 3,14–15). Zunächst sind sie auf besondere Weise mit Jesus assoziiert : Sie sollen „mit ihm“ sein. Darüber hinaus sind sie auch die besonderen Abgesandten Jesu, die im Dienst der Verkündigung stehen. Und schließlich gibt Jesus ihnen auch die Vollmacht, Dämonen auszutreiben. Jünger sein heißt also zunächst für Markus, dass man mit Jesus ist, dass man sich in den Dienst der Verkündigung stellt und dass man wie Jesus auch Dämonen austreibt. Tatsächlich sendet Jesus die Zwölf auch aus und gibt ihnen Macht über unreine Geister, und Markus berichtet über die Exorzismen und Heilungen sowie über ihre Predigt der Umkehr (Mk 6,7–13). Somit sind die Jünger engstens mit Jesus verknüpft. Ihre Aufgabe entspricht dem Tun und Lehren Jesu. Doch die Aufgabe der Jünger entspricht nicht ihrem Verständnis. Immer wieder zeigt Markus auf, dass die Jünger nicht begreifen, wer Jesus ist. Dem Unverständnis entspricht auch ein ständiges Missverständnis Jesu, und letztlich verlassen die Jünger Jesus vollständig. Das Unverständnis der Jünger zeigt sich exemplarisch in den drei Seefahrten. Während der ersten Seefahrt (Mk 4,35–41) entsteht ein Sturm, und die Jünger fürchten sich und fragen, ob es den schlafenden Jesus überhaupt kümmert. Jesus stillt den Sturm, aber das Unverständnis steigert sich noch. Die Jünger fürchten sich anscheinend vor Jesus noch mehr als vor dem Sturm und fragen untereinander, wer dies denn sein könne. Die zweite Seefahrt (Mk 6,45–52) thematisiert eine ähnliche Reaktion, diesmal allerdings stark gesteigert. Jesu Gang auf dem See lässt die Jünger ein Gespenst vermuten, doch Jesus gibt sich zu erkennen und fordert zu Furchtlosigkeit auf, während sich der Sturm legt. Doch diesmal packt die 83

Jünger Entsetzen, da ihr Herz verstockt war. Die dritte Seefahrt (Mk 8,14–21) schließlich lässt Jesus über den Sauerteig der Pharisäer und Herodianer lehren, während die Jünger sich Sorgen um die nächste Mahlzeit machen. Jesus erinnert sie an die beiden Brotvermehrungen und fragt erstaunt, ob sie sich nicht erinnern und verstehen. Das Unverständnis der Jünger wird akzentuiert durch ihr Missverständnis. Exemplarisch für dieses Phänomen sind die drei Ankündigungen von Leiden und Auferstehung Jesu. In allen dreien sagt Jesus voraus, dass der Menschensohn leiden muss, dass er Ablehnung von jüdischen Autoritäten erfahren wird, dass er getötet werden wird und dass er wiederauferstehen wird. Jeder dieser Ankündigungen folgt ein Jüngergespräch. Das erste davon findet zwischen Jesus und Petrus statt. Petrus macht Jesus wegen dieser Prophezeiung Vorwürfe, und Jesus weist ihn als Satan zurück, der nicht auf der Seite Gottes steht. Das zweite Gespräch wird eingeleitet durch eine Bemerkung über das Unverständnis und die Furcht der Jünger vor Jesus, bis herauskommt, dass die Jünger über ihre eigene Größe und Rangordnung diskutiert haben. Jesus weist darauf hin, dass der Erste der Letzte sein wird. Auf die dritte Ankündigung von Passion und Auferstehung, die noch detaillierter als die vorhergehenden ist, reagieren schließlich Jakobus und Johannes mit der Bitte, neben Jesus in dessen Herrlichkeit zu sitzen. Alle drei Gespräche legen somit Zeugnis davon ab, dass die Jünger die Figur Jesu dahingehend missverstehen, dass sie Jesus mit Macht und Herrlichkeit verbinden, während der Menschensohn nicht gekommen ist, sich dienen zu lassen, sondern selbst zu dienen. Seine Jünger müssen dementsprechend die Sklaven aller werden (Mk 10,43–44). In dem Moment, da die Passion unausweichlich wird, wird auch die Ablehnung der Jünger greif bar. Judas Iskariot ist nicht nur der Erste, der Jesus verlässt, er verrät ihn auch (Mk 14,10–11.44–45). Doch verlassen ihn auch die anderen 84

Jünger fluchtartig, als Judas mit seinen Schergen in Getsemani auftaucht. Markus akzentuiert diesen Moment noch, indem er von einem jungen Mann berichtet, der mit Jesus zwar ergriffen wird, aber fliehen kann, indem er sein Gewand zurücklässt und nackt davonläuft. Schließlich ist es Petrus, der Jesus nicht nur verlässt, sondern auch drei Mal verleugnet und schließlich zusammenbricht und bittere Tränen weint (Mk 14,66–72). Mit der Verleugnung des Petrus verschwinden die Jünger aus dem Evangelium. Damit zeichnet Markus allerdings ein Porträt der Jünger, das im Verlauf der Erzählung immer dunkler wird. Gelegentlich wird argumentiert, dass mit dem abschließenden Verrat der Jünger Markus ein Porträt abliefert, das die Jünger als privilegierte Zeugen und Apostel im frühen Christentum als unglaubwürdig darstellen und ihre Autorität unterminieren soll. So wird argumentiert, dass die Jünger im Markusevangelium nicht rehabilitiert werden, sondern am Ende als Misserfolg dastehen. Markus würde so eine Gemeinde legitimieren, die von den zwölf Aposteln und Gefährten Jesu unabhängig ist. Allerdings bestehen doch erhebliche Zweifel an der Richtigkeit dieser Theorie. Es ist zwar zutreffend, dass die Jünger nach der Verleugnung des Petrus nicht mehr auftauchen. Dennoch werden die Frauen am Grab beauftragt, den Jüngern Bericht zu erstatten, dass Jesus ihnen nach Galiläa vorausgegangen ist, wie er es auch in Mk 14,28 prophezeit hatte. Speziell Petrus wird namentlich erwähnt (Mk 16,7). Zweitens lässt sich sagen, dass die Endzeitrede in Mk 13, die ja durch eine Jüngerfrage ausgelöst wird und die an die Jünger gerichtet ist, eine nachösterliche Situation schildert, in der die Wiederkunft Jesu erwartet wird (Mk 13,6). In dieser Zeit jedoch spielen die Jünger eine herausragende Rolle, indem sie vor Gerichten, Synagogen, Königen und Gouverneuren Zeugnis für Jesus ablegen und allen Nationen predigen müssen (Mk 13,9–11). 85

Markus berichtet keine große Versöhnungsszene zwischen den Jüngern und Jesus, wie es andere Evangelien tun. Dennoch darf davon ausgegangen werden, dass aus der Tradition hinreichend bekannt war, dass eine solche Versöhnung mit dem Auferstandenen stattgefunden hat. Literarisch vergleichbar verfährt Markus ja auch mit der Auferstehung Jesu, indem er zwar keine Begegnungen mit dem Auferstandenen berichtet, sie aber wohl doch als unter seinen Leserinnen und Lesern bekannt voraussetzt. Vielleicht ist die Intention des Markusevangeliums mit dieser Art der Darstellung von Jesu engsten Vertrauten eher eine Art Ermutigung für seine Gemeinde. Am Beginn steht die Einsicht, dass Jesus seine Jünger ruft. Dieser Ruf wird im gesamten Evangelium nicht in Frage gestellt. Jesus mag ungeduldig mit seinen Jüngern sein, er mag an ihrer Begriffsstutzigkeit leiden, aber Jesus steht zu ihnen und hört nicht auf, sie zu belehren. Die Erzählung vom leeren Grab und dem Auftrag an die Frauen zeigt, dass Jesus bis zuletzt zu seinen Jüngern steht, sogar im Angesicht ihres Versagens. Gleichzeitig endet die Erzählung ohne eigentliche Auflösung. Am Ende bleibt offen, ob die Jünger Jesus nach Galiläa folgen, wie die Aussöhnung mit dem Auferstandenen aussehen mag und welche Aufgaben die Jünger übernehmen werden. Am Ende des Evangeliums bleiben Fragen, deren Antworten nicht mehr im Text selbst zu finden sind. Damit werden aber auch die Jünger im Evangelium zu Figuren, mit denen sich Leserinnen und Leser identifizieren können. Sie müssen sich fragen lassen, was sie an Stelle der Jünger getan hätten, ob sie die Erwartungen Jesu erfüllt hätten und wie sie sich im Angesicht des Kreuzes verhalten hätten. Gerade letztere Frage stellt auch die Verbindung zum zentralen Anliegen des Markusevangeliums her. Es ist deutlich, dass sich gerade am Kreuz die Identität Jesu enthüllt, die vorher unter dem literarischen Kunstgriff des Messiasgeheim86

nisses verdeckt war. Mit dem Offenbarwerden der wahren Identität des Gottessohnes am Kreuz wird aber auch die Schwierigkeit der Jüngerschaft immer deutlicher. Je weiter sich Jesus als der leidende und sterbende Sohn Gottes offenbart, desto schwieriger wird es, bei diesem Gottessohn zu sein und seine Botschaft zu verkünden. Daher sind die Jünger letztlich bei der Kreuzigung auch nicht anwesend. Während Markus also ein dunkles Porträt der Jünger zeichnet, gibt es auch immer wieder Figuren in der Erzählung, die deutlich machen, das Nachfolge Jesu auch gelingen kann. Diese Figuren werden nicht als Jünger bezeichnet, aber sie bilden einen Kontrast zu ihnen. Die Beziehung dieser Figuren zu den Jüngern wird durch gemeinsames Vokabular wie der Nachfolge, des Mit-ihm-Seins und der Verkündigung gezogen. Zu diesen Figuren gehört der Besessene von Gerasa (Mk 5,1–20), der am Ende bei Jesus bleiben möchte und dann zum großen Verkünder der Taten und Gnade Gottes wird. Auch die blutflüssige Frau, die bei Jesus nicht nur Heilung findet, sondern auch ihre Furcht überwindet und so durch ihren Glauben Erlösung und Frieden erhält (Mk 5,25–34), ist eine solche Figur. Der blinde Bartimäus vor den Toren Jerichos (Mk 10,46–52) findet nicht nur Heilung, sondern folgt Jesus bedingungslos nach. Ein Sonderfall sind die Frauen unter dem Kreuz (Mk 15,40–41). Von ihnen wird gesagt, dass sie Jesus aus Galiläa nachgefolgt sind und ihm gedient haben. Sie stehen unter dem Kreuz und sind Zeugen der Hinrichtung. So sind sie ein außerordentlicher Kontrast zu den in Getsemani geflohenen Jüngern. Allerdings sind es dieselben Frauen, die der Botschaft des jungen Mannes am leeren Grab nicht glauben und voller Entsetzen fliehen und den Auftrag der Verkündigung nicht erfüllen (Mk 16,8). Das Porträt der Jünger ist also eine radikale Konsequenz aus der radikalen Jesusdarstellung des Evangeliums. Doch will Mar87

kus nicht die Unmöglichkeit der Jüngerschaft aufzeigen. Daher stellt er den Jüngern viele Figuren an die Seite, die eine positive Aufnahme der Botschaft und Person Jesu symbolisieren. Markus will aufzeigen, dass in allem Unverständnis und aller Untreue Jesus an seinen Jüngern festhält und sie ruft, ihm nachzugehen und dem Auferstandenen in Galiläa zu begegnen.

D. Autor, Ort, Zeit, Absicht Das Markusevangelium ist in einem historischen Zusammenhang entstanden, der sich heute nur noch teilweise rekonstruieren lässt. Der Text selbst gibt keine Auskunft über einen Ort oder eine Zeit der Abfassung. Trotzdem lassen sich aus dem Evangelium mit einiger Zuverlässigkeit Details über Autor, Zeit und Ort der Verschriftlichung erheben. a. Autor

Schon im 2. Jahrhundert wurde das Evangelium einem Markus zugeschrieben. Markus ist einer der häufigsten römischen Namen in der Antike, und so verwundert es nicht, dass auch im Neuen Testament einige Personen diesen Namen tragen. In Apg 12,12.25 taucht ein Johannes mit Beinamen Markus auf, der zum Begleiter von Paulus und Barnabas wird. Laut Apostelgeschichte ist er der Anlass des Zerwürfnisses zwischen Paulus und Barnabas (Apg 15,37–39), allerdings dürfte dies unhistorisch sein, da Paulus in Gal 2,13 eine andere Darstellung gibt. In Kol 4,10 wird ein Markus, Neffe des Barnabas, genannt. Ob er identisch mit dem Markus der Apostelgeschichte ist, wird nicht gesagt, aber vermutlich ist er zumindest identisch mit dem in Phlm 24 genannten Markus. Jedenfalls ist dieser Markus ein Gefährte des Paulus. Möglicherweise ist er identisch mit dem Markus in 2 Tim 4,11, jedoch ist dieser Brief kein authentischer Paulusbrief. Unklar 88

ist, wie eng die Beziehung zwischen Paulus und Markus tatsächlich war. Schließlich taucht auch in 1 Petr 5,13 ein Markus auf, der als Sohn des Petrus bezeichnet wird. Ob das im übertragenen Sinn zu gelten hat oder nicht, kann nicht mehr entschieden werden. Markus hat die Worte und Taten des Herrn, an die er sich als Dolmetscher des Petrus erinnerte, genau, allerdings nicht ordnungsgemäß, aufgeschrieben. Denn nicht hatte er den Herrn gehört und begleitet ; wohl aber folgte er später, wie gesagt, dem Petrus, welcher seine Lehrvorträge nach den Bedürfnissen einrichtete, nicht aber so, dass er eine zusammenhängende Darstellung der Reden des Herrn gegeben hätte. Es ist daher keineswegs ein Fehler des Markus, wenn er einiges so aufzeichnete, wie es ihm das Gedächtnis eingab. Denn für eines trug er Sorge : nichts von dem, was er gehört hatte, auszulassen oder sich im Berichte keiner Lüge schuldig zu machen. Abbildung 14 : Papias über Markus

Mehr Hinweise liefert ein Text des Kirchenvaters Papias von Hierapolis, der in der Kirchengeschichte des Eusebius von Caesarea aus dem 4. Jahrhundert zitiert wird (H. E. 3,15). In diesem Text, vermutlich aus den Jahren um 115, wird ein Markus beschrieben, der nicht Augenzeuge der Ereignisse um Jesus war, sondern ein Schüler und Übersetzer des Petrus. Markus sammelte die Erzählungen des Petrus und versuchte, sie in eine Ordnung zu bringen, was nicht einfach war, da Petrus seine Belehrungen der jeweiligen Situation anpasste. Diese Aussagen könnten auf das Markusevangelium durchaus zutreffen, allerdings gibt es einige Probleme. Eusebius selbst hält Papias für unzuverlässig, er zitiert ihn lediglich der Vollständigkeit halber. Papias macht auch Aussagen über das Matthäusevangelium, die mit Sicherheit falsch sind. Möglicherweise identifiziert Papias den Autor des Evangeliums mit dem Markus aus 1 Petr 5,13, um dem Evangelium eine höhere Autorität zu verleihen, wenn bekannt gewesen ist, dass der Autor Jesus selbst nicht mehr er89

lebt hatte. Doch stellt man fest, dass im Vergleich mit den anderen Evangelien weniger Erzählungen mit Petrus als Hauptfigur vorliegen. Diese lassen Petrus sogar in schlechtem Licht erscheinen. Auch theologisch ist das Evangelium weit von Petrus entfernt. Petrus war im frühen Christentum als ein Missionar mit judenchristlichen Schwerpunkten bekannt, der über die Heidenmission mit Paulus in einen schweren Konflikt geriet (Gal 2,7–8). Das Markusevangelium betont einen eher heidenchristlichen Kontext, und die Zentralität der Passion scheint stärker paulinische Anliegen zu spiegeln. Tatsächlich berührt Mk 7,1–23 auch jüdische Speisegesetze, über die sich Paulus und Petrus laut Gal 2,7–8 stritten. Hier bezieht das Evangelium eine Position, die näher bei Paulus als bei Petrus liegt. Daher ist es plausibel, in der Darstellung des Papias eher den Versuch zu sehen, den Autor mit der apostolischen Augenzeugentradition zu verbinden. Theologisch steht das Evangelium Paulus sehr viel näher ; allerdings war ja auch Paulus kein Augenzeuge. Ob allerdings der in Phlm 24 und Kol 4,10 genannte Markus und Neffe des Barnabas der Autor des Evangeliums ist, lässt sich nicht mehr nachweisen. Interessant ist, das im nachpaulinischen 2 Tim 4,11 ein Markus angeblich zu Paulus in das Gefängnis nach Rom kommen sollte. Denn traditionellerweise wird der Ort der Abfassung meist in Rom gesehen. Paulus war, ähnlich wie das Evangelium, besonders an der Passion und Auferstehung Jesu interessiert. Er war kein Augenzeuge und berichtet über den irdischen Jesus so gut wie nichts. Markus hingegen schreibt ein Leben Jesu, das unwiderruflich auf das Kreuz zusteuert. Zumindest theologisch gibt es weitreichende Überschneidungen zwischen Paulus und Markus. Ob Markus ein Gefährte des Paulus war, bleibt allerdings im Dunkeln.

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b. Ort

Zwar wird immer wieder behauptet, das Evangelium reflektiere eine heidenchristliche Gemeinde, jedoch bleibt offen, wo diese zu lokalisieren ist. Assoziiert man, Papias folgend, das Evangelium mit Petrus, so liegt Rom auf der Hand. In der Tradition war Petrus schließlich Apostel in Rom und starb dort während der Christenverfolgung unter Kaiser Nero im Jahr 64. Allerdings wäre Rom durchaus auch für eine paulinische Beziehung möglich, da nach Apg 28,30–31 Paulus in Rom längere Zeit unter Hausarrest stand und die Zeit dort für Predigten und Katechesen nützte. Darauf spielt auch 2 Tim 4,11 an. Zudem gibt es auffallend viele lateinische Lehnwörter und Latinismen in der Sprache des Evangeliums. Dazu gehören Wörter wie Zensus (Mk 12,14), Zenturion (Mk 15,39.44–45), Legion (Mk 5,9.15). Stilistisch sind Ausdrücke wie „den Weg machen“ im Sinne von weitergehen (Mk 2,23) und „Ratschlag geben“ im Sinne von beratschlagen (Mk 3,6) Wendungen, die vom Lateinischen her geprägt sind. Die meisten der Latinismen kommen ausschließlich bei Markus vor und werden nicht von Matthäus oder Lukas übernommen. Eigenartig ist auch, dass die Söhne des jüdisch benannten Simon von Zyrene mit Alexander und Rufus Namen tragen, die eher in ein griechisch-römisch geprägtes Umfeld passen. Damit bleibt Rom eine überlegenswerte Kandidatin für die Abfassung des Evangeliums. Auf der anderen Seite ist Markus’ besonderes Interesse an Galiläa und die Betonung von Galiläa als dem Ort der Begegnung mit dem Auferstandenen eigenartig, nimmt man einen römischen Ursprung an. Zudem beschreibt auch das eschatologische Kapitel 13 eher eine Landschaft in Palästina. Daher glauben manche Forscher, dass das Evangelium in einer Nähe zu Galiläa und Jerusalem entstanden sein muss. Doch ist dem auch entgegenzuhalten, dass Markus viele jüdische Bräuche erklären muss. Dies macht jedoch keinen Sinn, 91

nimmt man eine Entstehung in einem hauptsächlich jüdisch geprägten Raum an. Letztlich lässt sich daher nichts Sicheres mehr über den Abfassungsort sagen. Man mag dies bedauern, doch rückt damit auch die Überlegung in den Vordergrund, dass das Evangelium nicht an einem bestimmten Ort oder für eine geographisch genau lokalisierbare Gemeinde geschrieben ist, sondern dass es den universalen Anspruch erhebt, ein Evangelium für alle zu sein. c. Zeit

Auch über den Zeitpunkt der Abfassung des Evangeliums lässt sich nur wenig sagen. Die meisten Forscher datieren das Evangelium um die Zeit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch römische Soldaten im Jahr 70. Ein Hinweis auf diese Zerstörung ist Mk 13,14 : „Wenn ihr aber den Gräuel der Verwüstung stehen seht, wo er nicht stehen darf, wer es liest, merke auf ! –, dann sollen die in Judäa in die Berge fliehen.“ Markus scheint hier auf die Entweihung und Zerstörung des Tempels anzuspielen. Auch der Ausdruck, dass die Gegner Jesu aus dem Tempel eine Räuberhöhle gemacht haben (Mk 11,17), könnte ein Hinweis auf die Belagerung Jerusalems sein. Der Tempel wurde damals zur letzten Bastion von Aufständischen, die gemeinhin als Räuber bezeichnet wurden. Allerdings sind diese zwei Hinweise schwach, zumal der Hinweis auf die Räuberhöhle auch ein Zitat von Jer 7,11 ist. Letztlich ist die Annahme eines Datums um 70 zwar plausibel, aber nicht zwingend. d. Absicht

Die Gründe für die Abfassung des Evangeliums in schriftlicher Form sind wahrscheinlich vielfältig. Mit Sicherheit dient das Evangelium der Verkündigung Jesu als Messias und Sohn Gottes (Mk 1,1). Doch legt dies noch nicht fest, warum Mar92

kus dies ausgerechnet in schriftlicher Form tut und warum er die Lebensgeschichte Jesu erzählt. Ein Grund ist wohl, dass zur Zeit der Abfassung des Evangeliums die Zeugen des Lebens Jesu langsam weniger werden, während die Zahl der Christen und der einzelnen Ortskirchen wächst. Daher wird es notwendig, die zuverlässigen Zeugnisse der ersten Zeugen zu sammeln und zu verschriftlichen, bevor sie entweder vergessen oder im Stile späterer apokrypher Evangelien bis zur Unkenntlichkeit ausgeschmückt werden. Doch stellt das Evangelium mehr als nur den Anspruch, eine Tradition für die Nachwelt zu erhalten. Mk 13 zeigt, dass das Evangelium die Wiederkunft Jesu relativ bald erwartet, ein besonderes Interesse an einer möglichen Nachwelt dürfte also nicht allzu bestimmend gewesen sein. Damit wird aber auch deutlich, dass Markus sich nicht nur als Überlieferer von Geschichten über Jesus sieht, sondern dass das Evangelium die Überlieferung auch lenken möchte. Markus möchte eine Tradition lebendig halten, die auch in einem heidenchristlichen Kontext von Bedeutung ist. Zunächst ist festzustellen, dass Markus jüdische Begriffe und Gebräuche zwar benutzt, aber oft erklären muss. Ein Beispiel ist die Darstellung jüdischer Reinheitstraditionen im Zusammenhang mit Speisevorschriften (Mk 7,3–4). Aber auch Ausdrücke wie Boanerges (Mk 3,17), Talita kum (Mk 5,41), Effata (Mk 7,34) und Golgota (Mk 15,22) werden übersetzt. Diese literarische Eigenheit wird dann notwendig, wenn solche Gebräuche und Begriffe nicht mehr bekannt sind. Daraus lässt sich schließen, dass das Evangelium mit einer Zuhörerschaft rechnet, die nicht jüdisch ist. Doch Markus belässt es nicht bei Erklärungen jüdischer Gebräuche. So benutzt er die Erzählung von den jüdischen Reinheits- und Speisevorschriften, um am Ende Jesus eine überraschende Schlussfolgerung ziehen zu lassen : „Damit erklärte 93

Jesus alle Speisen für rein“ (Mk 7,19). Diese Schlussfolgerung ist ein markinischer Kommentar zu den Überlieferungen über Jesu Auseinandersetzung mit jüdischen Gegnern. Eine weitere Auffälligkeit im Evangelium erklärt, was Markus bezweckt. Direkt nach der Auseinandersetzung um Speisevorschriften macht sich Jesus wieder auf den Weg (Mk 7,24). Die Reise geht in die Gegend der syrischen Stadt Tyrus. Auch die folgenden Ortsnamen bezeichnen Ziele, die außerhalb von Galiläa und Judäa liegen. Jesus begibt sich also auf eine Reise in heidnisches Gebiet. Die erste Begegnung ist die mit einer syrophönizischen Frau, die die Frage aufwirft, ob nicht das, was den Juden zugutekommt, auch den Heiden zusteht. Die Reise geht weiter, indem Jesus nun beginnt, viele der Dinge für Heiden zu tun, die er vorher für Juden getan hat. Besonders bemerkenswert ist dabei die Wiederholung der wunderbaren Speisung (Mk 8,1–9 ; siehe 6,30–44). Markus dehnt also das Wirken Jesu auf Heiden aus, ohne allerdings die jüdische Mission in Frage zu stellen. Damit wird aber auch das Grundanliegen deutlich : Markus sucht aufzuzeigen, dass die heidenchristlichen Gemeinden nicht im Bruch, sondern in Kontinuität mit dem irdischen Jesus und seiner jüdischen Mission stehen. Für Markus ist die Ausbreitung der Botschaft von der Herrschaft Gottes und der Person Jesu eine natürliche Fortführung dessen, was Gott im jüdischen Volk begonnen hat. Daher bleibt für Markus auch wichtig, immer wieder auf die jüdischen Schriften zurückzuverweisen, sie zu zitieren oder sie literarisch zu imitieren, wie das im apokalyptischen Kapitel 13 geschieht. Ein Ziel des Markus ist also, die Geschichte Gottes mit den Juden, die in Jesus ihre Fortsetzung und ihren Höhepunkt fand, für Christen mit heidnischem Hintergrund weiterzuschreiben. Möglicherweise ist das Versprechen, dem Auferstandenen in Galiläa zu begegnen, auch eine Aufforderung an Christen mit 94

heidnischem Hintergrund, an die Ursprünge des Evangeliums zurückzukehren und in Anlehnung an Röm 11,18 sich auf die jüdische Wurzel zu besinnen, die letztlich alle christlichen Gemeinden trägt. Ein weiteres Interesse des Evangeliums ist die Stärkung von Menschen, deren Glaube klein zu sein scheint. Der Schrei des Vaters „Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben“ (Mk 9,24) fasst die Notwendigkeit dieser Stärkung sehr deutlich. Jesus ermutigt zu Standhaftigkeit in Verfolgung von innen und von außen (Mk 8,34–35 ; 13,9–13). Das Gleichnis vom Sämann (Mk 4,3–9) zeigt beide Gefahren. Es gibt den Weg, auf dem die Saat zertreten wird, aber es gibt auch den Boden, der keine Tiefe hat. Beim Ersteren kommt der Satan und nimmt alles weg, beim Letzteren fehlt die Beständigkeit in der Verfolgung. Tatsächlich finden sich auch im Porträt der Jünger beide Tendenzen wieder.

E. Das Markusevangelium in heutiger Sicht Dem Markusevangelium war zunächst kein großer Erfolg beschert. Die Autoren des Lukas- und des Matthäusevangeliums benutzten es zwar als eine ihrer Quellen, und tatsächlich wurde es auch weiter überliefert. Doch schon unter den Kirchenvätern des 2. Jahrhunderts waren Lukas und Matthäus weitaus beliebter als Markus. Möglicherweise lag dies daran, dass die beiden späteren Evangelien sehr viel mehr Material boten, nicht zuletzt Kindheitsgeschichten und Auferstehungserzählungen. Die frühen Kirchen mochten dies als vollständiger empfunden haben. Papias dürfte repräsentativ gewesen sein, wenn er über Markus mit sparsamem Lob schreibt, dass er „nichts Falsches tat, als er einige Dinge niederschrieb, wie er sich daran erinnerte“. Offensichtlich waren der theologischen Wertschätzung des Papias doch Grenzen gesetzt. 95

Dies mag überraschen, denn andererseits stellt man schnell fest, dass die Kirchenväter Papias folgten und das Evangelium mit der Tradition des Petrus verbanden. Hieronymus dehnt diese Tradition sogar noch aus und behauptet gar, dass Petrus das Evangelium gegengelesen habe, Markus dann das Evangelium nach Alexandrien gebracht habe und schließlich dort Bischof wurde. Aus diesem Grund sahen es auch viele als das historisch zuverlässigste der Evangelien an. Doch theologisch blieb das Evangelium ein Außenseiter. Selbst in der im 18. Jahrhundert beginnenden kritischen Exegese im Protestantismus spielte das Markusevangelium lediglich als Quelle für die Suche nach dem historischen Jesus eine wichtige Rolle. Es blieb dem 20. Jahrhundert vorbehalten, auch die literarische und theologische Kunst des Markus­ evangeliums wiederzuentdecken. Seitdem entwickelt sich eine erfreulich lebendige Forschung zum Markusevangelium. In der neueren Forschung kristallisieren sich mehrere Themenkreise heraus. Der erste von ihnen betrifft die Datierung des Evangeliums. Die traditionelle Datierung in die Nähe der Zerstörung des Jerusalemer Tempels hängt mit ihrem ganzen Gewicht an sehr wenig schlüssiger Evidenz. Daher gibt es durchaus auch Versuche zur Frühdatierung, bis in die 40er Jahre des 1. Jahrhunderts hinein. Doch scheint dies noch weniger tragfähig zu sein, da es oft mit dem Postulat einhergeht, das Markusevangelium sei judenchristlichen Ursprungs. Dies kann jedoch nur wenige Forscher überzeugen. Ein weiterer Themenkreis beschäftigt sich mit dem literarischen Genre des Evangeliums. Hier werden Versuche unternommen, das Markusevangelium in die Nähe griechischer Tragödien, Epen oder Romane zu rücken. Andere Diskussionen fragen, ob das Markusevangelium eine Art Apologie sei oder vielleicht apokalyptischer Literatur zuzurechnen sei. All diese Diskussionen sind sicher hilfreich, um neue Aspekte des Evangeliums aufzudecken, letztlich hat jedoch kein Vor96

schlag wirklich große Anhängerzahlen verzeichnen können. Markus hat viel mit antiker Literatur gemeinsam, jedoch ist es auch ein von Form und Inhalt her eigenständiges literarisches Werk. Zudem wird in letzter Zeit oft der Frage nachgegangen, welche Position Markus zu den sozio-kulturellen Faktoren seiner Zeit bezieht. Das betrifft die Frage nach dem Verhältnis zum Judentum, und eine Minderheit von Forschern sieht in den Schriftzitaten und der Überlieferung jüdischer Traditionen einen Hinweis darauf, dass das Evangelium aus judenchristlichen Kreisen stammt. Oft wird damit auch eine Frühdatierung angenommen. Außerdem beschäftigt Forscher, inwieweit Markus dem römischen Reich und seinen autokratischen Strukturen kritisch gegenüberstand. So wird beispielsweise die Erzählung des Besessenen von Gerasa auch als eine implizite Kritik an römischer Besatzung gelesen. Auf diesem Hintergrund gewinnt auch die Rede von der Gottesherrschaft und Gottessohn-Christologie anti-imperialen Charakter. Eine weitere Diskussion ist ebenfalls vielversprechend. In letzter Zeit wurde die Debatte um die These von Gustav Volkmar aus dem 19. Jahrhundert belebt, dass Markus paulinisches Gedankengut transportiert. Es gibt offensichtliche Berührungspunkte zwischen Markus und Paulus, doch auch offensichtliche Unterschiede. Schon allein die Tatsache, dass Markus eine Lebensgeschichte Jesu erzählt, an der Paulus nicht sehr interessiert gewesen zu sein scheint, verbietet eine einfache theologische Identifikation. Jedoch öffnet sich hier ein Feld für die mögliche Rekonstruktion einer theologischen Linie und Geschichte von Paulus zu Markus. Vielleicht ist das lange Schattendasein des Markusevangeliums im Fehlen der Kindheitsgeschichten oder eines ausführlichen Auferstehungskapitels begründet. Bei aller Zugänglichkeit durch die Lebendigkeit der Schilderungen von 97

­ reignissen und Charakteren und bei der unmittelbar verE ständlichen Menschlichkeit Jesu scheint dem Evangelium Wesentliches zu fehlen. Diese Unmittelbarkeit in der Erzählung hat gelegentlich zu einer Abqualifizierung des Evangeliums als Geschichten eines Jägers und Sammlers ohne eigene theologische Vision geführt. Tatsächlich gibt es die theologische Vision, jedoch ist sie nicht immer einfach zugänglich. Der eigenartige Schluss ist da nur die Spitze des Eisberges. Als Beispiel darf die zweite Seesturmperikope dienen (Mk 6,45–52). Jesus schickt seine Jünger mit einem Boot voraus nach Bethsaida, während er die Nacht im Gebet auf einem Berg verbringt. In der Nacht steigt Jesus vom Berg und will auf dem See an ihnen vorbeigehen. Die Jünger sehen ihn und halten ihn für ein Gespenst. Er versucht sie zu beruhigen : „Ich bin es, habt keine Furcht !“ Er steigt zu ihnen in das Boot, der Wind legt sich, und die Jünger werden von blankem Entsetzen gepackt. Schließlich berichtet Markus, dass ihre Herzen verhärtet waren. So weit die Geschichte, die Markus sehr lebendig schildert. Dennoch gibt es Details, die stutzig machen : Jesus allein auf dem Berg, das Vorbeigehen Jesu, das Gespenst, das abschließende Entsetzen der Jünger : Irgendwie scheint die Geschichte keine innere Logik zu besitzen, bis man die einzelnen Erzählmotive zusammenfügt. Ein erster Hinweis ist das Motiv des Vorbeigehen-Wollens. In den jüdischen Schriften ist dies eine der Weisen, wie Gott sich den Menschen offenbart. Zu Mose sagt Gott, dass kein Mensch Gottes Angesicht sehen kann und er deshalb an Mose vorbeiziehen wird (Ex 33,19–22 ; 34,6). Elija steht verborgen in einer Felsspalte, während Gott an ihm vorbeizieht (1 Kön 19,11). Beide, Mose und Elija, befinden sich auf einem Berg. Der Berg ist bevorzugter Ort der Gotteserfahrung in den jüdischen Schriften, Sinai als der Berg der Gabe des Gesetzes ist herausragendes Beispiel, aber auch der bren98

nende Dornbusch steht auf einem Berg. Dort spricht Gott zu Mose „Ich bin“ (Ex 3,14). Es ist wörtlich genau, was Jesus den Jüngern sagt. Was den Jüngern hier widerfährt, ist eine Epiphanie, ein Erscheinen Gottes in der Person Jesu. Nimmt man die Schriftmotive ernst, so scheint Markus zu erzählen, wie der Gott, der sich auf dem Horeb im brennenden Dornbusch, auf dem Sinai im Gesetz und wiederum auf dem Horeb im säuselnden Windhauch dem Mose und dem Elija offenbarte, die Not seiner Jünger sieht und vom Berg herabsteigt und ihnen im Boot gegenwärtig ist, während der Sturm verebbt. Markus erzählt also eine Geschichte, die Motive jüdischer Schriften aufnimmt und weiterverarbeitet. Damit dient er seinem Anliegen, die Kontinuität mit der Geschichte des Volkes Gottes zu erhalten und gleichzeitig unerwartet Neues zu erzählen : Nicht mehr das Gesetz ist die Verbindung mit Gott, sondern er ist selbst gegenwärtig in der Not seiner Jünger. Gleichzeitig wird diese Gegenwart Gottes in der Person Jesu verwirklicht. Ohne Debatten über die Menschlichkeit oder Göttlichkeit des Gottessohnes zu führen, die späteren Theologen vorbehalten sind, macht Markus doch ganz klar, dass in Jesus, dem Sohn Gottes, Gott selbst rettend gegenwärtig ist. Dies schließlich macht auch das Entsetzen der Jünger verständlich. Es ist die Schwierigkeit aller, die wie der Vater des epileptischen Jungen rufen, „Ich glaube, Herr. Hilf meinem Unglauben !“ Markus ist der Evangelist, der diesen Zwiespalt auf den Punkt bringt und doch die Gläubigen aller Generationen durch den jungen Mann im leeren Grab einlädt, dem Auferstandenen zu begegnen : „Er geht euch voraus nach Galiläa ; dort werdet ihr ihn sehen, wie er es euch gesagt hat.“

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F. Literatur zur Vertiefung Wilfried Eckey : Das Markusevangelium : Orientierung am Weg Jesu (Neukirchen-Vluyn 1998), ist leicht lesbar, wie auch Ludger Schenke : Das Markusevangelium. Literarische Eigenart – Text und Kommentierung (Stuttgart 2005), und Peter Dschulnigg : Das Markusevangelium (Stuttgart 2007).

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Kapitel 3 : Das Evangelium nach Matthäus

Wenn das Markusevangelium den Eindruck einer drängenden Dynamik vermittelt, dann ist der erste Eindruck des Matthäusevangeliums, dass es die Geschichte Jesu enorm verlangsamt. Das Matthäusevangelium ist fast doppelt so lang wie Markus. Es beginnt mit einer Liste von 48 Personen, in der die Vorfahren Jesu von Abraham an aufgezählt werden. Für Matthäus beginnt die Geschichte Jesu mit Abraham (Mt 1,1), und er lässt sich Zeit, diese Geschichte über Generationen von Vorvätern und auch einigen Müttern aufzurollen. Auch das von Markus her bekannte schnelle Aufeinanderfolgen von verschiedenen Ereignissen unterbricht Matthäus gerne. Fünf lange Reden Jesu bieten Verschnaufpausen für die Leserinnen oder Zuhörer ; sie sind Möglichkeiten zur Reflexion auf das Geschehen im Licht der Lehre Jesu. Liest man das Matthäusevangelium, fällt sofort auf, dass es fast das gesamte Material enthält, das auch bei Markus vorkommt. Matthäus übernimmt zuerst das erzählerische Gerüst der Jesusgeschichte von Markus : Das Wirken Jesu • Bergpredigt (5–7) • Aussendungsrede (10) • Gleichnisrede (13) • Gemeinderede (18) • Endzeitrede (24–25) Abbildung 15 : Die fünf Reden

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beginnt in Galiläa, wird auf der Reise nach Jerusalem fortgesetzt und endet schließlich mit Passion und Auferstehung in Jerusalem. Aber Matthäus setzt in diesem Rahmen eigene Akzente. Inhaltlich wird das markinische Material durch die Traditionen der Redequelle Q ergänzt. Daneben existieren auch Erzählungen, die außerhalb der matthäischen Tradition nicht vorkommen. Sie werden oft unter dem Kürzel M zusammengefasst, stellen aber keine kohärente mündliche oder schriftliche Sammlung dar, die schon vor dem Matthäusevangelium existierte. M enthält ähnlich wie Q zumeist Sprüche oder Gleichnisse Jesu, jedoch keine zusammenhängende Erzählung. Das überwiegende Material aus Q und M ist in größeren Einheiten wie den fünf großen Reden enthalten. Aber nicht nur in Umfang und literarischem Stil ist das Matthäusevangelium eine Weiterführung des Markusevangeliums, auch theologisch bietet es eine Neuausrichtung. Alle fünf, erheblichen Raum einnehmenden Reden sind an die Jünger gerichtet und zudem sehr deutlich auf die nachösterliche Gemeinde zugeschnitten. Es ist auch das einzige Evangelium, das explizit (in Mt 16,18 und 18,17) den Begriff „Kirche“ (ekklēsia) verwendet. So rückt das Matthäusevangelium die Kirche als nachösterliche Gemeinschaft der Gläubigen stark in den Mittelpunkt. Offensichtlich ist Matthäus also nicht nur bemüht, das Markusevangelium zu erweitern, sondern will auch Inhaltliches neu sagen. Dies wirft die Frage nach den Gründen für die Entstehung des Matthäusevangeliums und dessen Umgang mit den Quellen auf.

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A. Wie entstand das Matthäusevangelium ? Das Matthäusevangelium stellt eine umfangreiche Erweiterung des Markusevangeliums durch Material aus Q und M dar. Allerdings stellt sich die Frage, ob es Matthäus lediglich um eine Erweiterung ging oder ob Matthäus der Theologie des Markus kritisch gegenüberstand. Die Untersuchung des matthäischen Umgangs mit den Quellen kann hier Antworten liefern. a. Matthäus und Markus

Eine erste Lektüre des Matthäusevangeliums macht deutlich, wie stark das Matthäusevangelium vom Markusevangelium abhängig ist. Markus erfindet eine literarische Gattung, die Matthäus ohne Zögern mitsamt der literarischen Anlage des Werkes als einer Geschichte Jesu von Galiläa nach Jerusalem übernimmt. Lediglich zu Beginn weicht Matthäus von der Abfolge der Ereignisse bei Markus ab, doch ab Mt 14,1 folgt das Evangelium der Erzählung des Markus äußerst treu. Darüber hinaus erzählt Matthäus einen Großteil der markinischen Vorlage nach. Eine exakte Berechnung lässt sich nur schwer erstellen und hängt von verschiedenen Faktoren ab, doch die Mehrzahl der Forscher geht davon aus, dass Mat-

• Exorzismus in der Synagoge von Kafarnaum (1,21–28) • Unterbrechung des Morgengebetes (1,35–38) • Angehörige halten Jesus für verrückt (3,20–21) • Gleichnis vom selbst wachsenden Samen (4,26–29) • Heilung des Taubstummen (7,31–37) • Heilung des Blinden von Bethsaida (8,22–26) • Jünger schelten einen fremden Exorzisten (9,38–40) • Opfergabe der Witwe (12,41–44) • Flucht des nackten Jünglings in Getsemani (14,51–52) Abbildung 16 : Markinisches Material, nicht in Matthäus 103

thäus etwa 90 % der markinischen Vorlage reproduziert. Unter den ausgelassenen Erzählungen ist die von der Familie, die Jesus für verrückt hält, oder auch die Erzählung vom Blinden von Bethsaida. Beide Male handelt es sich um Erzählungen, die für eine Gemeinde von Jesusgläubigen eher unangenehm sein dürften. Erstere lässt die Familie Jesu mit den Gegnern Jesu im Bunde stehen, die zweite scheint Jesu Vollmacht in Frage zu stellen, indem die Heilung erst im zweiten Anlauf erfolgreich ist. Auf der anderen Seite lässt sich allerdings auch beobachten, dass Matthäus Markus immer wieder korrigiert. Zunächst sind sprachliche Verbesserungen auffällig. In 130 von 151 Fällen verwandelt Matthäus die Gegenwartsform von Verben in dem Erzählduktus angemessenere Vergangenheitsformen, er bessert grammatikalische Fehler aus und lässt Wiederholungen weg. Aber auch faktische Details werden von Matthäus korrigiert. So wird Herodes vom König (Mk 6,14) zum korrekten Tetrarch (Mt 14,1), oder es entfällt der fälschlich Abjatar genannte Hohepriester in Mk 2,26. Auch erzählerische Einzelheiten, die die markinischen Erzählungen so lebendig gehalten haben, lässt Matthäus aus und erreicht so eine stärkere Konzentration auf das Wesentliche. Die sehr stark gekürzte Beschreibung des Besessenen von Gerasa (vgl. Abbildung 10) verdeutlicht dies. Auch die Kontroverse um die Sündenvergebung des Gelähmten (Mt 9,2–8) ist ein solches Beispiel. Die farbigen Details in der Beschreibung der vier Männer, die wegen der vielen Leute den Gelähmten auf das Dach tragen, dort ein Loch machen und die Bahre dann vor Jesus hinunterlassen (Mk 2,1–4), entfallen bei Matthäus vollständig. Damit steht dann aber nicht mehr der Gelähmte selbst im Zentrum der Erzählung, sondern die Auseinandersetzung Jesu mit den Pharisäern um seine Autorität, Sünden zu vergeben. 104

Eine Konsequenz aus solchen Veränderungen ist, dass das sehr menschliche Porträt Jesu im Markusevangelium matthäischer Redaktion zum Opfer fällt ; der matthäische Jesus zeigt weniger Emotionen, und oft lässt Matthäus solche Stellen in Markus ganz aus (vgl. Mk 1,41.43 ; 3,5 ; 6,6 ; 8,12 ; 10,14). Auch die Nebenfiguren erscheinen viel weniger lebendig. Gleichzeitig jedoch erreicht Matthäus mit der Auslassung von Details eine hohe Konzentration auf die Ereignisse um Jesus und ihre theologischen Implikationen. Die erzählten Personen leben nicht mehr von ihrer Beschreibung, sondern von ihrer Kommunikation mit und Beziehung zu Jesus. Die Konzentration auf theologische Details führt oft auch zu logischeren Erzählungen. In Mk 9,11–13 stehen die Aussagen über den Menschensohn und Elija etwas unverbunden und unvermittelt nebeneinander ; es bleibt den Leserinnen und Lesern überlassen, die Verbindung herzustellen. Mt 17,10–13 gestaltet den Auf bau des Jüngergesprächs logischer. Daher erscheint Elija als der Vorläufer Jesu sehr viel konturierter in seiner Vorwegnahme des Schicksals des Menschensohns. Gleichzeitig können die Jünger dann auch die Mk 9,11–13 : Da fragten sie ihn : Sagen nicht die Schriftgelehrten : Elija muss zuerst kommen ? Er sagte zu ihnen : Ja, Elija kommt zuerst und stellt alles wieder her. Doch wie kann dann über den Menschensohn geschrieben stehen, er werde vieles erleiden und verworfen werden ? Aber ich sage euch : Elija ist gekommen, und sie haben mit ihm gemacht, was sie wollten, wie über ihn geschrieben steht. Mt 17,10–13 : Da fragten ihn die Jünger : Warum sagen denn die Schriftgelehrten : Elija muss zuerst kommen ? Er aber antwortete : Ja, Elija kommt und wird alles wiederherstellen. Ich sage euch aber : Elija ist schon gekommen, und sie haben ihn nicht erkannt, sondern haben mit ihm gemacht, was sie wollten. Ebenso wird auch der Menschensohn unter ihnen leiden. Da verstanden die Jünger, dass er von Johannes dem Täufer zu ihnen sprach. Abbildung 17 : Elija als Vorläufer 105

Verbindung zwischen Elija und Johannes dem Täufer herstellen. Dem entspricht auch die matthäische Tendenz, die Figur Jesu zu glätten. Nicht nur allzu Menschliches wird ausgelassen, Matthäus räumt auch Zweifelhaftes aus. Mk 6,5 konstatiert, dass Jesus in Nazaret aufgrund des Unglaubens dort keine Wunder tun konnte, dann aber einige wenige Heilungen ausführte. Matthäus korrigiert dies dahingehend, dass Jesus in Nazaret nicht viele Wunder tat (Mt 13,58). Wenn der reiche Jüngling in Mk 10,17 Jesus mit „guter Meister, was muss ich tun ?“ anredet, ändert Mt 19,16 dies in „Meister, welches Gute muss ich tun ?“. Jesu Antwort „nur einer ist gut“ kann so nicht zu dem Missverständnis führen, Jesus sei möglicherweise nicht gut. Matthäus lässt zudem immer wieder Stellen bei Markus aus, in denen Jesus unwissend oder ohnmächtig erscheint (vgl. Mk 1,45 ; 5,9.30 ; 6,5.38.48 ; 7,24 ; 8,12.23 ; 9,16.21.33 ; 11,13 ; 14,14). Eine weitere Änderung betrifft die markinische Diskussion zu Reinheitsfragen und Speiseregeln. Der ursprüngliche Anlass ist die Beobachtung der Pharisäer, dass die Jünger mit ungewaschenen Händen essen (Mk 7,1–25). Markus macht daraus ein Gespräch, in dem er jüdische Reinheitsgebote und Speiseregeln generell abhandelt. Matthäus erreicht hier mit wenigen redaktionellen Eingriffen ein ganz anderes Bild. Zunächst einmal lässt er die markinischen Erklärungen jüdischer Vorschriften einfach weg (Mk 7,2–4). Offensichtlich sind solche Erklärungen im matthäischen Kontext nicht nötig. Wichtiger noch ist eine weitere Auslassung. Wenn Markus kommentiert, dass Jesus mit seinen Aussagen alle Speisen für rein erklärt und damit die Speisevorschriften de facto auf hebt (Mk 7,19), so berichtet Matthäus diese Aussage nicht. Zudem bleibt Matthäus eng beim Thema des Essens mit ungewaschenen Händen (Mt 15,20) und lässt sich nicht auf eine Grundsatzdebatte über jüdische Traditionen ein. Es geht Matthäus 106

also nicht um eine generelle Ablehnung von Speisevorschriften. Im matthäischen Kontext wird diese Erzählung damit zu einem weiteren Beispiel, in dem Jesus in Gesetzesdebatten den Pharisäern weit überlegen dargestellt wird. An dieser Stelle wird deutlich, dass sich Matthäus nicht so schnell wie Markus von jüdischen Traditionen trennt. Für Matthäus sind diese Traditionen nicht nur Teil einer Geschichte, die es in einem neuen Kontext heidenchristlicher Gemeinden zu adaptieren gilt, sondern sie sind auch wörtlich zu nehmen und einzuhalten. Dazu gehört in besonderer Weise das jüdische Gesetz. Dass Matthäus bei seiner Gemeinde voraussetzt, dass die Tora auch eingehalten wird, macht er in 5,17–19 mehr als deutlich. Diese unterschiedliche Art der Herangehensweise an das jüdische Gesetz wird in den Sabbatkontroversen noch deutlicher. Im Markusevangelium sind Erzählungen wie die vom Ährenraufen (Mk 2,23–28) Belege dafür, dass der Abschied von der Tora eine Implikation des Lehrens Jesu ist. So konstatiert Markus in einem Autoritätsargument, dass der Menschensohn Herr über den Sabbat ist (Mk 2,28). Matthäus nimmt diese Geschichte durchaus auf, verändert sie aber grundlegend (Mt 12,1–8). Wie bei Markus gehen die Jünger durch ein Kornfeld und raufen die Ähren. Wie bei Markus entsetzen sich die Pharisäer über ein solches Verhalten am Sabbat und wie bei Markus antwortet Jesus zunächst mit der Geschichte Davids und seiner Männer, die die Schaubrote aßen. Doch Matthäus korrigiert Markus, indem er zunächst den Namen des Hohepriesters zur Zeit Davids auslässt ; Markus nennt mit Abjatar einen falschen Namen. Dann fügt Matthäus ein weiteres Argument in die Antwort Jesu ein, das die Jünger mit den Priestern im Tempel vergleicht, die am Sabbat opfern und so das Gebot brechen und doch unschuldig sind. Dieses Argument ist insofern von Bedeutung, als es die Frage des Sabbatgebotes von einer legalen Argumentation an107

geht, die in jüdischen Gesetzesdiskussionen weit überzeugender war als eine Erzählung von dubioser Vergleichbarkeit. Wenn auch Matthäus am Ende sagt, dass der Menschensohn Herr über den Sabbat ist, dann ist er dies aufgrund einer den Pharisäern überlegenen Argumentation nach jüdischen Richtlinien juridischer Auseinandersetzungen. Matthäus ist also den jüdischen Traditionen und besonders dem Gesetz sehr viel enger verbunden als Markus. Und genau hier dürfte einer der Gründe dafür liegen, warum Matthäus sich entschied, Markus zu bearbeiten. Für Matthäus war die heidenchristliche Gelassenheit im Umgang mit dem Gesetz, wie sie Markus an den Tag legt, höchstwahrscheinlich ein Ärgernis. Dem entspricht auch ein weiteres Phänomen. Matthäus intensiviert Jesu Verurteilung seiner Gegner sehr stark. Pharisäer und Schriftgelehrte trifft die matthäische Polemik besonders hart. Dies lässt sich schon in der Geschichte vom ­Ä hrenraufen feststellen. Aber auch die Anklage der Schriftgelehrten, Jesus sei vom Beelzebul besessen (Mk 3,22), berichtet Matthäus gleich zwei Mal und schreibt sie den Pharisäern zu (Mt 9,34 ; 12,24). Schließlich findet sich in Mt 23 eine Schmährede gegen Pharisäer und Schriftgelehrte, die von sieben Weherufen durchsetzt ist. Auch hier dürfte es sich um eine Anpassung handeln, die der Situation des Matthäusevangeliums geschuldet ist. Wahrscheinlich hatte die matthäische Gemeinde sehr viel mehr Kontakt und Auseinandersetzung um jüdische Traditionen als die markinische. Werden die Pharisäer und Schriftgelehrten mit größerer Polemik belegt, so sind die Jünger im Gegenzug sehr viel sympathischer gezeichnet. Die unverständigen Jünger im Markusevangelium verstehen sehr wohl bei Matthäus, allerdings muss Jesus ihnen verschiedene Dinge erst erklären (Mt 13,16–18 ; 16,5–12 ; 17,9–13). Der Ehrgeiz des Jakobus und Johannes wird nun ihrer Mutter zugeschrieben 108

(Mt 20,20). Gelegentlich fügt Matthäus Hinweise in markinisches Material ein, in dem die Jünger Jesus anbeten und ihn Herr und Gott nennen (Mt 14,33). Die Jünger sind also Kontrastfiguren zu den Gegnern Jesu und dienen dadurch auch als Identifikationspersonen für die Leserschaft. Gleichzeitig ist es bei Matthäus auch sehr viel leichter, die Jünger als Repräsentanten der Gemeinde zu verstehen. Schließlich intensiviert Matthäus sehr stark Themen wie Gericht und Endzeit. Matthäus nimmt diese Themen von Markus durchaus auf, rückt sie aber mehr in das Zentrum der Verkündigung, indem er die markinischen Vorlagen ausbaut. Dabei bedient er sich oft einer typisch jüdischen Variante der Rede von der Endzeit, der Apokalyptik, die mit schrecklichen Gräueln und Zeichen rechnet, bevor der endzeitliche Richter erscheinen wird. All diese Veränderungen des Markusevangeliums zeigen, dass Matthäus dem Markusevangelium mit einer Mischung aus Respekt und Skepsis gegenüberstand. Der Respekt dürfte der literarischen Leistung des Markus gegolten haben, doch die theologischen Optionen des Evangeliums dürften den Bedürfnissen und Überzeugungen der matthäischen Gemeinde nicht entsprochen haben. b. Matthäus und Q

In der Verarbeitung der Redequelle Q geht Matthäus anders vor als in der Aufnahme des Markusevangeliums. Dies dürfte dem Charakter von Q als Spruchsammlung ohne erzählerische Sequenz geschuldet sein. So hat Matthäus die Möglichkeit, das im Markusevangelium vorhandene Erzählgerüst mit Material aus Q zu erweitern. Matthäus tut dies, indem er entweder Material aus der Redequelle in Blöcken übernimmt und in das Erzählgerüst einfügt oder einzelne Sprüche aus Q in Erzählungen einsetzt, die ursprünglich nicht zu Q gehört haben. Mit dieser Vorgehens109

weise löst das Matthäusevangelium die Reihenfolge der Sprüche in Q auf. Matthäus dürfte also kein besonderes Interesse gehabt haben, eine bestimmte Ordnung in den Traditionen der Redequelle zu bewahren. Die fünf Reden des Matthäusevangeliums bieten sich an, Material aus einer Spruchsammlung aufzunehmen, und tatsächlich findet sich relativ viel Material aus Q in diesen Reden wieder. Dabei kann man eine Vorgehensweise wahrnehmen, die typisch für die matthäische Redekomposition ist. Matthäus beginnt mit markinischem Material, an das Material aus Q und auch Eigenmaterial angeschlossen wird. Die Bergpredigt ist ein Ausnahmefall, aber die Missionsrede, die Gleichnisrede, die Gemeinderede und die eschatologische Rede folgen diesem Muster. 10,1 10,2–4 10,5–16 10,17–22 10,24–39 10,40–42

Mk 6,7 Mk 3,16–19 Mk 6,8–11 + Q 10,2–12 Mk 13,9–13 + Q 12,11–12 Q 6,40 ; 12,2–9 ; 12,51–53 ; 14,26–27 Q 10,16

Abbildung 18 : Verarbeitung von Q in Mt 10

Gerade die Reden machen deutlich, was für Matthäus an der Redequelle attraktiv gewesen sein muss. Wie schon gesehen, enthält die Redequelle sehr viel Material, das sich mit dem endzeitlichen Gericht beschäftigt. Mit Ausnahme der Aussendungsrede enden alle matthäischen Reden mit dem Gerichtsgedanken, wie er sich im Material von Q findet. Tatsächlich ist ja die letzte Rede ausschließlich diesem Gericht gewidmet. Aber der Gerichtsgedanke durchzieht Q sehr stark, und schon die messianische Predigt des Täufers über den Messias, der mit dem Geist taufen wird (Mk 1,7–8), wird in Q angereichert durch das Gerichtsgleichnis vom Messias, der 110

mit der Worfschaufel den Weizen von der Spreu trennt, den Weizen in die Tenne fährt und die Spreu in unauslöschlichem Feuer verbrennt (Q 3,17 ; Mt 3,12). • Reihenfolge von Q wird aufgebrochen • Eschatologisches Gericht wird ausgedehnt • Menschensohn als Richter wird ausgedehnt • Polemik gegen Israel wird zu Polemik gegen jüdische Führer Abbildung 19 : Veränderungen von Q in Matthäus

Wie wichtig für Matthäus der Gerichtsgedanke ist, zeigt auch die Behandlung der Erzählung vom Hauptmann von Kafarnaum (Mt 8,5–13). Matthäus ergänzt den Hinweis, dass das ungläubige Israel am Ende der Zeit in die äußerste Finsternis geworfen wird, wo man heult und mit den Zähnen klappert (Mt 8,12). Dieser Zusatz macht die Erzählung vom Glauben des Hauptmanns zu einem Gericht über diejenigen, die diesen Glauben nicht haben. Der Zusatz stammt übrigens ebenfalls aus der Redequelle, allerdings wahrscheinlich aus einem anderen Zusammenhang (vgl. Lk 13,28–29), wo er weniger zugespitzt auf das Endgericht ist und eher das eschatologische Festmahl in den Blick nimmt. Auch die Rede vom Menschensohn nimmt Matthäus auf und erweitert sie. Schon Q beschreibt den Menschensohn als den kommenden Weltenrichter in Anlehnung an und Fortführung von Motiven aus Dan 7,13–14. Matthäus erweitert dieses Thema noch um vier eigene Menschensohnworte, die ebenfalls das kommende Gericht zum Inhalt haben (Mt 13,41 ; 16,28 ; 24,30 ; 25,31). Er verdichtet die von Q übernommene Verbindung zwischen kommendem Gericht und der Wiederkunft des Menschensohnes im Gleichnis vom Gericht über die Völker : „Wenn aber der Sohn des Menschen kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird 111

er auf seinem Thron der Herrlichkeit sitzen ; und vor ihm werden versammelt werden alle Nationen, und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirte die Schafe von den Böcken scheidet“ (Mt 25,31–32). Die Auseinandersetzung mit Israel ist ein Thema, das Matthäus aus Q übernimmt und weiterführt. Q 11,29 spricht ganz allgemein von einer „bösen Generation“, das ein Zeichen fordert. Mt 12,38–39 nun nimmt diesen Spruch auf, verschärft ihn allerdings noch durch den Hinweis, dass die Generation auch ehebrecherisch ist. Gleichzeitig allerdings fokussiert Matthäus diese Polemik auf „einige der Schriftgelehrten und Pharisäer“. Er übernimmt zwar die Polemik aus Q, nicht aber als generelle Auseinandersetzung mit Israel. Für Matthäus ist die Auseinandersetzung mit jüdischen Führern wichtig, wie sie in Mt 23 einen Höhepunkt erlebt. c. Das Sondergut

Matthäus enthält viel Material, das keine weiteren Parallelen hat. Dies wird unter dem Namen M zusammengefasst, doch sollte man vorsichtig sein, es in seiner Gesamtheit vormatthäischer Tradition zuzuordnen. Einiges dürfte auch auf den Verfasser des Evangeliums zurückgehen. Die Zuordnung zu Quellen oder dem Verfasser gestaltet sich deshalb als schwierig, weil viel matthäisches Sondergut nicht ohne die markinische Geschichte denkbar ist. Dies gilt beispielsweise für den Gang Petri auf dem Wasser (Mt 14,28–31), der nur innerhalb der Geschichte von Jesu Gang auf dem Wasser (Mk 6,45–52) wirklich sinnvoll ist. Ähnliches gilt für das Beispiel der unschuldigen Priester am Sabbat, das Matthäus in das Streitgespräch um das Ährenraufen (Mk 2,23–28) einbaut. Auch der Traum der Frau (Mt 27,19) und die Handwaschung (Mt 27,24–25) des Pilatus finden nur innerhalb der markinischen Passionsgeschichte einen geeigneten Ort. 112

• Genealogie von Abraham an (1,2–17) • Geburt Jesu mit Fokus auf Josef (1,18–25) • Besuch der Magier (2,1–12) • Flucht nach Ägypten (2,13–21) • Erfüllung des Gesetzes (5,17–20) • Antithesen (5,21–24.27–28.33–38.43) • Frömmigkeitsregeln (6,1–15.16–18) • Perlen vor die Säue (7,6) • Mission nur in Israel (10,5–6) • Einladung zur Ruhe (11,28–30) • Gleichnisse von Unkraut, Perle, Schatz, Netz (13,24–30.36–52) • Petrus wandelt auf dem Wasser (14,28–31) • Segen für Petrus (16,17–19) • Petrus zahlt die Tempelsteuer (17,24–27) • Bekehrung des sündigen Bruders (18,15–20) • Petrus fragt nach Vergebung (18,21–22) • Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht (18,23–35) • Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (20,1–16) • Gleichnis von den zwei Söhnen (21,28–32) • Verbot von Titeln (23,7–12) • Verurteilung der Pharisäer (23,15–22) • Gleichnis von den Jungfrauen (25,1–13) • Jüngstes Gericht (25,31–46) • Tod des Judas (27,3–10) • Traum der Frau des Pilatus (27,19) • Pilatus wäscht seine Hände (27,24–25) • Auferstehung der Heiligen (27,52–53) • Wache am Grab (27,62–66 ; 28,11–15) • Erscheinung des Auferstandenen vor den Frauen (28,9–10) • Großer Missionsbefehl (28,16–20) Abbildung 20 : Matthäisches Eigenmaterial

Neben diesen Ergänzungen zu traditionellen Überlieferungen existiert allerdings auch matthäisches Sondergut, das von Markus unabhängig ist. Dazu gehören nicht nur eigenständige Erzählungen, sondern auch die lange Kindheitsgeschichte in Mt 1–2 oder die Ostererzählungen in Mt 28. Unklar ist, wie stark dieses Material auf mögliche Quellen zurückgeht oder sich matthäischer Redaktion verdankt. Nimmt 113

man jedoch an, dass Matthäus der Tradition relativ treu war, wie das sein Umgang mit Markus und Q suggeriert, so dürfte auch im matthäischen Sondergut mit einem umfangreichen Bestand an Traditionen und mündlichen Überlieferungen zu rechnen sein. Damit aber stellt sich die Frage, welche Bedeutung Matthäus diesen Traditionen zumaß. Offensichtlich bildet das Sondergut sowohl Prolog wie Epilog des Evangeliums. Die Kindheitsgeschichte wie auch die Auferstehungserzählungen legen einen Rahmen um das Evangelium, der wichtige theologische Vorentscheidungen für das Evangelium enthält, die auch die Art der Revision von Markus und Q entscheidend beeinflussen. Gerade hier lassen sich theologische Schwerpunkte entdecken, die die matthäische Interpretation der von Markus übernommenen Jesusgeschichte charakterisieren. Auch die Bergpredigt in Mt 5–7 ist stark von Eigenmaterial geprägt. Zudem ist für Matthäus diese Rede programmatisch. In Lk 6 findet sich eine ähnliche Rede ; man darf also annehmen, dass eine solche Rede schon Teil von Q war. Doch gegenüber Lukas ist die Rede in Matthäus sehr viel umfangreicher und literarisch ausgefeilter. Die enorme Erweiterung der Rede durch Eigenmaterial weist nicht nur auf die wichtige Rolle der Bergpredigt in der Anlage des Matthäus hin. Auch die Wichtigkeit des matthäischen Eigenmaterials wird hier besonders deutlich. Es wird benutzt, um die Sprüche in Q zu verdeutlichen, zu verschärfen und ihre theologische Bedeutung zu adaptieren. Damit ist das Eigenmaterial des Matthäus bevorzugter Ausdruck matthäischer Theologie. d. Zusammenfassung

Das Matthäusevangelium kann sich auf die verschiedensten Traditionen stützen. Das Markusevangelium bietet das Gerüst für die matthäische Jesuserzählung. Die Lehre Jesu wird angereichert durch Material aus der Redequelle, während andere, le114

diglich Matthäus zugängliche Traditionen das Evangelium um Prolog und Epilog erweitern und auch an der theologischen Neuausrichtung der markinischen Erzählung gewichtigen Anteil haben. Darüber hinaus besitzen auch die jüdischen Schriften eine enorme Strahlkraft auf das Matthäusevangelium. Dies wird nicht nur in den über 60 Zitaten deutlich, sondern auch durch die Aufnahme von Motiven und Figuren der jüdischen Schriften. Damit werden auch die jüdischen Schriften zu einer wichtigen Quelle des Matthäusevangeliums. Herausragendes Beispiel sind die bekannten Erfüllungszitate (Mt 1,22–23 ; 2,15.17–18.23 ; 4,14–16 ; 8,17 ; 12,17–21 ; 13,35 ; 21,4–5 ; 27,9–10), in denen explizit darauf hingewiesen wird, dass bestimmte Ereignisse im Leben Jesu erfüllen, was in den jüdischen Schriften vorhergesagt ist. Eine Reihe weiterer Zitate und Anspielungen verdeutlichen, wie stark Matthäus auf die jüdischen Schriften Bezug nimmt und sie als Deutungshorizont der Geschichte Jesu versteht. Dies betrifft sogar die Charakterisierung und Polemisierung der Gegner Jesu, wenn beispielsweise mit Bezug auf Ezechiel oder Jeremia die Pharisäer und Schriftgelehrten als schlechte Hirten des jüdischen Volkes identifiziert werden (Mt 9,36). Hier zeigt sich das Anliegen des Matthäusevangeliums, eine jüdisch-christliche Gemeinde als legitime Anwältin jüdischer Traditionen zu etablieren, die sich von ähnlichen pharisäischen Ambitionen durch Authentizität und Treue zur Schrift abhebt. Gerade der Rückgriff auf die unterschiedlichen Traditionen ermöglicht ein Werk von überzeugender Kohärenz. Die Einbeziehung der Redequelle ermöglicht dem Evangelisten, das Markusevangelium trotz inhaltlicher Vorbehalte als literarische Vorlage zu nützen und theologisch entsprechend abzuwandeln. Während der Rückgriff auf das Markusevangelium die Geschlossenheit des erzählerischen Gerüsts garantiert, finden sich in der Redequelle Akzente, die im Sondergut ein Echo finden und so zu einer inhaltlichen Einheit des Textes beitragen. 115

B. Die literarische Kunst des Matthäusevangeliums Wenn Markus der Evangelist ist, der in kleinen Erzählungen Großes schafft, so ist bei Matthäus auch die Gesamtanlage literarisch äußerst beeindruckend. Dies zeigt sich schon in der Hinzufügung einer Kindheitsgeschichte und der Auferstehungserzählungen. Aber Matthäus fügt sie nicht einfach hinzu, er verbindet sie auch inhaltlich miteinander, indem im zentralen Text der Kindheitsgeschichte Jesus als Immanuel beschrieben wird, als „Gott mit uns“ (Mt 1,23). Der Auferstandene schließlich verkündet seinen Jüngern im letzten Satz des Evangeliums : „Siehe, ich bin mit euch alle Tage bis zur Vollendung der Welt“ (Mt 28,20). Die Gegenwart Gottes wird zur Gegenwart Christi in der Kirche, wo „zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind“ (Mt 18,20). Auch die fünf großen Reden, in regelmäßigen Abständen in die Jesusgeschichte eingebaut, deuten darauf hin, dass Matthäus viel literarischen Aufwand betreibt, um dem Text Einheitlichkeit und Stringenz zu geben. Dazu kommt, dass diese Reden auch noch zumindest formal symmetrisch sind : Die Bergpredigt als erste und die Endzeitrede als letzte Rede sind die längsten Reden im Evangelium. Die zweite und vierte Rede des Evangeliums sind in etwa gleich kurz. Die Gleichnisrede in der Mitte des Evangeliums besitzt dagegen eine mittlere Länge. a. Die Gliederung

Es gibt unterschiedliche Versuche, das Matthäusevangelium zu gliedern. So wird gelegentlich die zweimal auftauchende Phrase „von diesem Zeitpunkt an begann Jesus zu verkündigen“ (Mt 4,17 ; 16,21) benutzt, das Evangelium in drei Teile zu gliedern : Der erste Teil enthält die Vorstellung Jesu und seiner Mission (Mt 1,1–4,16), der zweite Teil das Wirken Jesu und seine Ablehnung in Galiläa und den umliegenden Ge116

I. Die Vorstellung Jesu (1,1–4,16) II. Mission und Ablehnung in Israel (4,17–16,20) III. Jerusalem, Passion und Auferstehung (16,21–28,20) Abbildung 21 : Gliederung nach Kingsbury

bieten (Mt 4,17–16,20), der dritte Teil besteht aus der Reise nach Jerusalem, der Passion und der Auferstehung (Mt 16,21–28,20). Diese Gliederung wurde von J. D. Kingsbury im Jahr 1975 vorgeschlagen und orientiert sich nicht nur an einer sich wiederholenden Formulierung, sondern auch an der geographischen Anlage des Evangeliums. Andererseits trennt sie das Bekenntnis des Petrus (Mt 16,13–20) von der ersten Ankündigung von Leiden und Auferstehung (Mt 16,21–23), obwohl diese Erzählungen offensichtlich zusammengehören. Im Bekenntnis bezeichnet Petrus Jesus als den Sohn Gottes, während er im Gespräch über die Ankündigung von Leiden und Auferstehung das Erbarmen Gottes über Jesus anruft. Matthäus stellt also eine thematische Verbindung her, die die Abgrenzung in Mt 16,21 unnatürlich erscheinen lässt. Tatsächlich gibt es kaum klare Abgrenzungen im Evangelium. Viel eher scheint der Evangelist auf einen fließenden Erzählstil zu setzen, wenn eine Phrase wie „und es geschah, als er beendet hatte …“ (Mt 7,28 ; 11,1 ; 13,53 ; 19,1 ; 26,1) zwar jeweils das Ende der fünf großen Reden markiert, aber eigentlich neue Abschnitte einleitet. Solche fließenden Übergänge werden häufig auch durch Schlüsselworte hergestellt, die separate Erzählabschnitte miteinander verbinden. Besonders deutlich ist dies in der Kindheitsgeschichte (Mt 1–2), wo die einzelnen Teile der Erzählung, Genealogie, Geburt, Besuch der Magier, Flucht nach Ägypten, Mord an den unschuldigen Kindern und schließlich Rückkehr nach Nazaret jeweils am Ende ein Schlüsselwort aufweisen, das im nächsten Teil 117

I. Einleitung : Kindheitsgeschichte (1–2) II. Erster Hauptteil : Jüngerschaft (3–7) a. Erzählteil (3–4) b. Erste Rede : Bergpredigt ( 5–7) III. Zweiter Hauptteil : Apostelamt (8–10) a. Erzählteil (8–9) b. Zweite Rede : Aussendung der Jünger (10) IV. Dritter Hauptteil : Verhüllte Offenbarung (11–13) a. Erzählteil (11–12) b. Dritte Rede : Gleichnisrede (13) V. Vierter Hauptteil : Kirchenordnung (14–18) a. Erzählteil (14–17) b. Vierte Rede : Gemeinde und Vergebung (18) VI. Fünfter Hauptteil : Gericht (19–25) a. Erzählteil (19–23) b. Fünfte Rede : Ende und Gericht (24–25) VII. Schluss : Passion und Auferstehung (26–28) Abbildung 22 : Gliederung nach Bacon

gleich zu Anfang wieder aufgenommen wird. Solche Phänomene sind allerdings an Übersetzungen nicht immer nachzuvollziehen. Wenn Matthäus aber mehr am Erzählfluss interessiert ist als an klaren Abgrenzungen verschiedener Textabschnitte, so kann man doch Punkte ausmachen, an denen der Fluss unterbrochen wird. Dies sind die Reden des Evangeliums. Daher ist es sinnvoll, sie als Gliederungselemente zu betrachten. Schon 1930 bemerkte B. W. Bacon, dass das erzählerische Material vor den Reden durchaus auch inhaltliche Verbindungen mit den Schwerpunkten innerhalb der Reden aufweist. Bacon betrachtete diese Organisation des Evangeliums als eine Art „Fünf Bücher Jesu“ analog zu den „Fünf Büchern des Mose“, dem Pentateuch. Bacon war äußerst einflussreich, selbst wenn seine These von einem christlichen Pentateuch heute kaum mehr vertreten wird. Möglicherweise erklärt sich die Fünfzahl als einfache Gedächtnishilfe über die Finger 118

einer Hand ; auch über einen kultischen Hintergrund basierend auf 1 Sam 6,4 wird spekuliert. Doch die Gliederung nach den fünf Reden ist immer noch durchaus schlüssig, zumal Bacons Beobachtungen der inhaltlichen Entsprechungen zwischen Redematerial und vorausgehender Erzählung durchaus nachvollziehbar sind. Die Schwierigkeiten der Gliederung des Evangeliums weisen darauf hin, dass es sich bei solchen Versuchen um moderne Versuche handelt, eine Ordnung über den matthäischen Erzählfluss zu legen, der modernen Leserinnen und Lesern eine Hilfe sein will. Wesentlich augenfälliger jedoch sind literarische Phänomene, die den Evangelisten als literarisch gebildet und kunstfertig ausweisen. b. Die Kunst des Erzählens im Matthäusevangelium

1. Matthäus organisiert sein Material gerne nach Zahlen und in Sammlungen. Dazu gehört, dass Matthäus fünf große Reden in sein Evangelium einfügt. Doch schon gleich zu Beginn des Evangeliums gibt Matthäus einen Hinweis auf ein spezielles Interesse an Zahlen, wenn er die Genealogie Jesu in dreimal 14 Generationen teilt (Mt 1,17). Auch andere Zahlenmuster tauchen auf. So benutzt Matthäus gerne Zitate, die auf die Erfüllung der jüdischen Schriften durch Jesus hinweisen. Dabei benutzt er zwölf Mal eine Einleitung eines Zitates, in der ausdrücklich von Erfüllung die Rede ist. Die Zwölfzahl ist sicher nicht zufällig, sie re• Organisation nach Zahlenmustern und Sammlungen • Rahmen, Chiasmen, Parallelismen • Doppelungen und Wiederholungen • Prophezeiung und Erfüllung • Figur des Petrus • Bezug zu jüdischen Schriften Abbildung 23 : Literarische Stilmittel 119

flektiert auf die 12 Apostel, die nach der Brotvermehrung 12 Körbe von Resten einsammeln (Mt 14,20). Von ihnen wird gesagt, dass sie am Ende der Zeit auf 12 Thronen sitzen werden, um die 12 Stämme Israels zu richten (Mt 19,28). Dies hat starke symbolische Kraft, wenn von der Logik der Erzählung her einer der Zwölf, Judas Iskariot, eigentlich ausfällt. Doch Matthäus nimmt diese Inkonsistenz in Kauf, weil er mit diesem Organisationsmuster zeigen kann, dass die Gemeinde mit den 12 Aposteln die Schrift erfüllt und somit die wahren Garanten jüdischer Verheißungen sind. Das Evangelium sammelt in Mt 8–9 zehn Wundergeschichten, während in Mt 13 sieben Gleichnisse zur Himmelsherrschaft zusammengetragen werden. Diesen sieben Gleichnissen entsprechen die sieben Weherufe gegen Pharisäer und Schriftgelehrte (Mt 23), die sich der Predigt von der Herrschaft der Himmel widersetzen. Die Siebenzahl ist in den jüdischen Schriften von hoher Bedeutung. Sie markiert die Vollkommenheit des Schöpfungswerkes Gottes in sieben Tagen. Aber auch im religiösen Vollzug von Opfern und Riten stellt die Zahl Sieben immer wieder Vollkommenheit her (vgl. Lev 4,6–17 ; Num 28,11). In Mt 21–22 findet sich eine Sammlung von Gleichnissen, die sich mit der Frage des Verhältnisses der Gemeinde zum jüdischen Volk beschäftigen, während in Mt 24–25 Gleichnisse zur Endzeit zusammengetragen sind. Dies bedeutet nicht, dass ähnliche Themen auch in anderen Teilen des Evangeliums angesprochen werden, doch fallen die Sammlungen von inhaltlich ähnlichen Materialien durchaus auf. Dieses Phänomen der Organisation und Gruppierung begegnet schon im matthäischen Umgang mit den Quellen. 2. Wie das Evangelium gerne ähnliches Material sammelt, so schafft es auch Verbindungen durch Rahmen, Chiasmen und Parallelismen. Ein besonderer Rahmen legt sich um das gesamte Evangelium. In Mt 1,23 wird Jesus bezeichnet als Im120

manuel, Gott mit uns. In Mt 28,20 schließlich sagt der Auferstandene, dass er bei den Jüngern sein wird bis zur Vollendung der Welt. Damit wird die Gegenwart Gottes, die sich in der Gegenwart Jesu manifestiert, zum übergreifenden Thema des Evangeliums. Aber auch andere Rahmen sind möglich. In Mt 8,18–22 spricht Jesus mit möglichen Jüngern, in Mt 9,9–13 beruft er Matthäus zum Jünger. So wird Jüngerschaft zum Thema, unter dem die dazwischenliegende Sammlung von Wundern gelesen werden muss. Dem entspricht auch, dass mit Mt 10 die Aussendungsrede folgt. Ein Chiasmus ist in seiner simpelsten Form ein erweiterter Rahmen, in dem die äußeren Elemente dem Muster A–B– C–B–A entsprechen. Das Evangelium beginnt mit einem Chiasmus, in dem die Genealogie eingerahmt ist. Mt 1,1 beginnt den Chiasmus mit der Abfolge „Jesus – David – Abraham“, in 1,17 wird er mit der Abfolge „Abraham – David – Jesus“ abgeschlossen. Der Chiasmus hier betont nicht nur die eingeschlossene Genealogie als Verwurzelung Jesu in den Vorfahren in Israel, sondern greift auch die für Matthäus wichtigsten Personen heraus : Abraham, der in jüdischer Tradition der Vater der Völker ist und somit eine Legitimation für die Öffnung einer jüdischen Mission auch unter den Heiden (vgl. 28,16–20), David als König, der das Königtum Jesu vorwegnimmt, und Jesus als die zentrale Figur des Evangeliums. Ein weiteres Merkmal matthäischen Stils sind Parallelismen. Oft gruppiert Matthäus ähnliche Geschichten, um sie dann parallel bis in einzelne Formulierungen hinein zu strukturieren. Ein Beispiel sind die acht Seligpreisungen in Mt 5,3–10, an die sich eine neunte Seligpreisung (Mt 5,11–12) anschließt, die den Parallelismus unterbricht und den Übergang herstellt zu den Sprüchen vom Salz der Erde und vom Licht der Welt (Mt 5,13–16). Auch sie sind parallel konstruiert, und die Gleichnisse in Mt 13,24–33 121

werden ebenfalls parallelisiert, indem sie ähnlich eingeleitet werden : „Ein anderes Gleichnis legte er ihnen vor : Mit der Herrschaft der Himmel ist es wie mit …“ Solche Parallelismen tauchen sehr häufig auch in einzelnen Versen auf, wie in Mt 13,17. Aber auch Personen des Evangeliums können parallel gestaltet werden. Matthäus knüpft die Verbindung zwischen Johannes dem Täufer und Jesus noch enger als die Quellen, indem sie beide dasselbe predigen : „Kehrt um ! Denn nahe gekommen ist das Himmelreich“ (Mt 3,2 ; 4,17). Solche Parallelen müssen nicht unbedingt vollständig sein. Sicher gilt dies für Johannes und Jesus, die unterschiedliche Aufgaben haben. Auch der Verrat des Judas und der des Petrus werden parallel geschildert, allerdings mit anderem Ergebnis. 3. Das Evangelium arbeitet gerne mit Doppelungen und Wiederholungen. Dieses Phänomen taucht in zwei Variationen auf. Wenn Matthäus Erzählungen von Markus übernimmt, verdoppelt er häufig Nebenfiguren. In Mt 8,28–33 tauchen plötzlich zwei Dämonen auf (vgl. Mk 5,1–14). Aus dem blinden Bettler namens Bartimäus (Mk 10,46–52) werden zwei Blinde (Mt 20,29–34). Die Geschichte von den beiden Blinden hat ebenfalls ein Doppel in Mt 9,27–31. Matthäus berichtet zudem von zwei Frauen am Grab Jesu, denen der Auferstandene begegnet (Mt 28,1–10). Besonders auffällig ist, dass aus dem Esel, auf dem Jesus in Jerusalem einzieht (Mk 11,2), bei Matthäus zwei Esel werden (Mt 21,7), wobei unklar bleibt, ob Jesus tatsächlich auf beiden sitzt. Matthäus verknüpft dies mit einem der 12 Erfüllungszitate, in dem zwei Esel erwähnt zu sein scheinen (Mt 21,4–5). Tatsächlich handelt es sich in Sach 9,9 allerdings lediglich um einen Esel mit unterschiedlichen Beschreibungen. Eine mögliche Erklärung für diese Form der Doppelung ist, dass in jüdischer Tradition wenigstens zwei übereinstimmende Zeugen zur Wahrheitsfindung gebraucht wurden. 122

Eine zweite Form der Doppelung ist die Wiederholung von Erzählungen. Die Zeichenforderung findet sich gleich zwei Mal (Mt 12,38–42 ; 16,1–4). An ihr wird besonders deutlich, was Matthäus mit diesen Doppelungen bezweckt. In Mt 12,38–42 kommen „einige der Schriftgelehrten und Pharisäer und sagen : Lehrer, wir wollen ein Zeichen von dir sehen“. In der zweiten Episode kommen „Pharisäer und Sadduzäer, um ihn zu versuchen“, und bitten um ein Zeichen vom Himmel (Mt 16,1). Die Anrede „Lehrer“ entfällt. Matthäus verschärft und steigert den Konflikt zwischen Jesus und seinen Gegnern. Solche Steigerungen finden sich auch in der Doppelung der Beelzebul-Kontroverse (Mt 9,32–34 ; 12,22–24). Aber auch positiv kann Matthäus eine Erzählung überhöhen, wie bei den beiden Blindenheilungen (Mt 9,27–31 ; 20,29–34). Damit erreicht das Evangelium, dass der Spannungsbogen der Erzählung stetig steigt. Konflikte verschärfen sich, aber auch die Macht Jesu wird in den Wundern immer deutlicher. So handelt es sich bei den Doppelungen von Erzählungen nicht einfach um Wiederholungen, sondern um subtile Weiterführungen von schon bekannten Themen. Den Doppelungen entsprechen Wiederholungen von Ausdrücken. Solche Wiederholungen finden sich mehrfach. So werden die zwölf Erfüllungszitate in der Regel durch „Dies alles geschah aber, damit erfüllt würde, was von dem Herrn geredet ist durch den Propheten“ oder eine ähnliche Formulierung eingeleitet. Sechs Mal verwendet Matthäus die Phrase „Heulen und Zähneknirschen“ (Mt 8,12 ; 13,42.50 ; 22,13 ; 24,51 ; 25,30), und die fünf Reden enden jeweils mit „Und es geschah, als Jesus diese Worte vollendet hatte“. Auch die Antithesen (Mt 5,21–48 : „Ihr habt gehört … Ich aber sage euch“) der Bergpredigt entsprechen diesem Muster. Die sieben Weherufe über Pharisäer und Schriftgelehrte (Mt 23,13–33) sind ein weiteres Beispiel. Letztlich gehört auch die schon als Glie123

derungsmerkmal erwähnte Phrase „Von da an begann Jesus …“ (Mt 4,17 ; 16,21) zu diesen Wiederholungen. Ein besonderer Fall von Wiederholung findet sich in den Seligpreisungen der Bergpredigt. In Mt 5,3–10 wird acht Mal die Phrase „Selig sind …, denn ihnen …“ wiederholt. Eine neunte Seligpreisung schließlich (Mt 5,11–12) ist nicht nur sehr viel länger, sondern variiert dies Schema leicht : „Selig seid ihr, … denn euer Lohn im Himmel ist groß. Denn so haben sie auch die Propheten vor euch verfolgt.“ Die unpersönlichen Seligpreisungen werden nun auf die Zuhörer Jesu gerichtet, wobei auch schon die nachösterliche Gemeinde in den Blick genommen wird. Dies ist lediglich eine kleine Auswahl von Formulierungen, die Matthäus gerne wiederholt. Die Wiederholungen haben didaktischen Charakter, weil sie Bekanntes in Erinnerung rufen und gleichzeitig Wichtiges betonen. Besonders deutlich wird dies, wenn der matthäische Jesus 21 Mal über Gott als den „himmlischen Vater“ oder den „Vater in den Himmeln“ spricht. Hier wird ein Zentrum matthäischer Theologie in den Wiederholungen hervorgehoben. 4. Einer Spannungssteigerung dienen auch Muster von Prophezeiung und Erfüllung. Schon allein die Erfüllungszitate weisen auf dieses Phänomen hin, aber es kann auch in anderen Zusammenhängen vorkommen. Ein Engel prophezeit Josef, dass Maria ein Kind gebären wird, dass Josef es Jesus nennen wird und dass dieses Kind sein Volk von Sünden erlösen wird (Mt 1,21). Innerhalb der Erzählung erfüllen sich die ersten beiden Prophezeiungen schon früh in Mt 1,25. Spannend bleibt also, wie sich die dritte und wichtigste Prophezeiung erfüllen wird. Dies Rätsel löst Matthäus aber erst beim letzten Abendmahl auf, wenn der Tod Jesu als Opfer zur Vergebung der Sünden gedeutet wird (Mt 26,28). Andere Prophezeiungen weisen über den Text hinaus in die Zeit der matthäischen Gemeinde. So kündigt Jesus die Zer124

störung des Jerusalemer Tempels an (Mt 24,1–2), deren Zeugen die Gemeinde gewesen sein dürfte. Dieses Desaster wird deshalb auch ganz konkret mit der Ablehnung Jesu im Tempel (Mt 23,37–39) verbunden. Die Prophezeiung einer universalen Mission (Mt 24,14) wird zwar vom Evangelium schon im Auftrag des Auferstandenen (Mt 28,16–20) teilweise eingeholt, findet aber erst in der Zeit der matthäischen Gemeinde seine eigentliche Erfüllung. Wahrscheinlich ist auch die Aussendungsrede in Mt 10 prophetisch zu verstehen. Zunächst fällt auf, dass im Anschluss an die Rede keine Jünger auf brechen. Sodann gibt es Elemente in der Rede, die für die direkten Jünger Jesu eher unwahrscheinlich sind ; dazu gehört in Mt 10,17 die Prophezeiung, dass die Jünger den Synagogen ausgeliefert und vor Königen und Statthaltern Zeugnis für die Heiden ablegen müssen. Diese Dinge jedoch gehen weit über die in Mt 10,5 anvisierte Sendung hinaus, die sich auf die verlorenen Schafe des Hauses Israel beschränkt. So dürfte die Aussendungsrede eine Prophezeiung sein, die jenseits der Situation Jesu und seiner zwölf Apostel in einer nachösterlichen Mission Erfüllung findet. Diese Muster von Prophezeiung und Erfüllung finden sich also auf drei verschiedenen Ebenen. In der ersten zeigt das Evangelium auf, dass die Vorhersagen der jüdischen Schriften in Jesus ihre Erfüllung gefunden haben. Die zweite Ebene zeigt, wie Dinge prophezeit werden, die schon innerhalb der Erzählung selbst Erfüllung finden. Die dritte Ebene ist die Ebene von Prophezeiungen Jesu, die sich innerhalb des Textes selbst nicht mehr erfüllen, deren Zuverlässigkeit aber durch die beiden vorhergehenden Ebenen belegt ist und deren Realität die Gemeinde teilweise schon nachvollziehen kann. Daher erscheinen auch die Prophezeiungen glaubhaft, deren Erfüllung noch aussteht. 5. Die Figur des Petrus erhält besondere Aufmerksamkeit. Matthäus überliefert mehrere Geschichten über Petrus im 125

Eigenmaterial. Dazu gehören die kuriose Geschichte von der Tempelsteuer, die Petrus auf Geheiß Jesu im Maul eines Fisches suchen soll (Mt 17,24–27), aber auch die Frage des Petrus, wie oft man Bruder oder Schwester vergeben müsse (Mt 18,21–22). Daneben erweitert Matthäus markinische Erzählungen mit weiteren Informationen zu Petrus. So wird der Seewandel Jesu (Mk 6,47–52) mit einer Erzählung über einen Versuch des Petrus ergänzt, der ebenfalls auf dem Wasser gehen möchte und Jesus um Erbarmen anruft, als er unterzugehen droht (Mt 14,28–31). Der längere Segensspruch Jesu über Petrus nach seinem Bekenntnis, in dem Petrus zum Fels wird, auf dem Jesus seine Kirche baut (Mt 16,17–20), hat eine besondere Wirkungsgeschichte. In der katholischen Kirche wurde diese Stelle oft als Beleg für die Begründung des Papsttums durch Jesus gelesen. Matthäischer Intention dürfte diese Auslegung allerdings nicht entsprechen. 6. Für das Evangelium ist der Bezug zu den jüdischen Schriften enorm wichtig und wird literarisch immer wieder eingeholt. Dies geschieht einerseits durch mehr als 60 Zitate. Daneben gibt es auch eine Reihe von Anspielungen, die mehr oder weniger klar sind. Die große Mehrheit der Referenzen stammt aus den Gesetzbüchern und Prophetenbüchern und illustriert das Anliegen, die Erfüllung von „Gesetz und Propheten“ (Mt 5,17) in Jesus zu verankern. Bei den Zitaten lässt sich auch feststellen, dass sie oft nicht eindeutig zuzuordnen sind. Matthäus bedient sich manchmal sogenannter Mischzitate, in denen Abschnitte aus verschiedenen Büchern zusammengestellt sind. So ist das schon erwähnte Erfüllungszitat beim Einzug in Jerusalem (Mt 21,4–5) eine Mischung aus Jes 62,11 und Sach 9,9. Ähnlich verhält es sich auch mit Mt 2,5–6. Neben diesen Mischzitaten kann es auch vorkommen, dass Matthäus ein Zitat falsch zuordnet. So wird das Zitat in Mt 27,9–10 zwar dem Propheten Jeremia zugeschrieben, stammt aber aus Sach 11,12–13. Schließ126

Mt 2,6 : Und du, Bethlehem, Land Juda, bist keineswegs die geringste unter den Fürsten Judas ; denn aus dir wird ein Fürst hervorkommen, der mein Volk Israel weiden wird. Micha 5,1 : Und du, Bethlehem Efrata, das du klein unter den Tausendschaften von Juda bist, aus dir wird mir hervorgehen, der Herrscher über Israel sein soll … 2 Sam 5,2 : Du sollst mein Volk Israel weiden, und du sollst Fürst sein über Israel ! Abbildung 24 : Beispiel für ein Mischzitat

lich ist auch der sprachliche Umgang mit den Zitaten oft eigenartig. Gelegentlich stimmt er mit dem hebräischen Text besser überein als mit der uns bekannten griechischen Version der Septuaginta. Aber es gibt auch Beispiele, in denen sich die Textbasis für ein Zitat nicht mehr bestimmen lässt. Für diese Unregelmäßigkeiten bei den Zitaten gibt es verschiedene Erklärungsversuche. So kann man eine mündliche Tradition hinter den Zitaten annehmen. Möglich wäre auch eine frühe und gelegentlich fehlerhafte schriftliche Zusammenstellung von Zitaten zum Zweck der Legitimation Jesu. Solche Zusammenstellungen werden „Testimonien“ genannt. Gelegentlich wird angenommen, dass die ungenauen Zitate auf einen heidnischen Hintergrund des Evangelisten deuten. Andererseits lässt sich aber feststellen, dass auch in jüdischer Tradition solche Unregelmäßigkeiten nicht unüblich waren. Wahrscheinlich lässt sich mit Sicherheit nur sagen, dass Matthäus die Jesusgeschichte tief in der Tradition der jüdischen Schriften verankern wollte. Auch ein zweites Phänomen des Schriftbezugs gibt diesem Anliegen Ausdruck. Die matthäische Kindheitsgeschichte rückt den Ziehvater Jesu in den Vordergrund. Nicht nur der Name Josef verweist auf Josef, den Sohn Judas aus Gen 37–50. Beide Josefsgestalten sind Träumer, beide müssen unfreiwil127

lig nach Ägypten ziehen, beide sind mit Königsgestalten eng verbunden. Selbst der Kindermord in Bethlehem (Mt 2,16–18) kann noch mit einem bösen Pharao in Verbindung gebracht werden, „der Josef nicht kannte“ (Ex 1,8). Matthäus nimmt also die Josefserzählung aus Gen 37–50 auf und erzählt sie neu in der Kindheitsgeschichte Jesu. Eine Analogie von alt- und neutestamentlichen Gestalten findet sich in der Anlehnung Johannes des Täufers an den Propheten Elija. Direkt im Anschluss an die Verklärung entsteht ein Gespräch über Elija (Mt 17,10–13), und die Jünger begreifen, dass in Johannes der Prophet wiedergekommen ist. Da nun Elija aber gemeinsam mit Mose auch auf dem Berg der Verklärung erschien, wird Mose, genau wie der mit Johannes identifizierte Elija, als Vorläufer Jesu zu verstehen sein. Diese Art der Aufnahme von alten Traditionen, die dann neu erzählt werden, ist in der jüdischen Literatur dieser Zeit äußerst verbreitet. Man spricht in diesem Zusammenhang von „Typologie“. Dabei wird eine Figur der Schrift zu einem Muster oder Typ, an den eine neue Geschichte angelehnt ist, die aber auch neue literarische oder theologische Entwicklungen zeigt. Mose ist ein beliebter Typ, aber auch Abraham wird gerne für solche Zwecke benutzt. In der umfangreichen Henochliteratur wird eine Nebenfigur aus Gen 5,18–24 plötzlich zur großen prophetischen und apokalyptischen Figur stilisiert. Matthäus gelingt es, im Gebrauch von Typologien die Josefs- und die Mosegeschichte in der Figur Jesu zu vereinen und damit die Außerordentlichkeit Jesu aufzuzeigen. Gleichzeitig verwurzelt das Evangelium Jesus in der Geschichte Israels. Damit kann Matthäus auch davon sprechen, dass Jesus die Erfüllung dieser Geschichte von Gesetz und Propheten ist (Mt 5,17). 7. Eine besondere Eigenart ist die matthäische Bezugnahme auf die Himmel. Das Evangelium verwendet zwar fünf Mal den Ausdruck „Herrschaft Gottes“, doch in 33 Fällen spricht es 128

lieber von der „Herrschaft der Himmel“. Gleichzeitig wird Gott häufig als „Vater in den Himmeln“ oder „himmlischer Vater“ bezeichnet. Mit dieser literarischen Wendung gelingt es Matthäus, die Herrschaft noch stärker als Markus als die Erfüllung des Willens Gottes zu charakterisieren. Gleichzeitig vermeidet Matthäus auch eine vorschnelle Identifikation dieser Herrschaft mit den römischen Strukturen einer Besatzungsmacht. c. Zusammenfassung

Das Matthäusevangelium ist in seiner Anlage äußerst kunstvoll und komplex gestaltet. Es legt einerseits große Bögen an, die in Rahmen sichtbar werden, andererseits wird die literarische Kunstfertigkeit auch in kleinen Formen in Parallelismen oder Chiasmen sichtbar. Offensichtlich hat sich der Evangelist nicht nur mit der Ausarbeitung des Textes, sondern auch mit der Verknüpfung mit den jüdischen Schriften sehr viel Mühe gemacht. Es braucht häufiges und genaues Lesen oder Hören, um diese Details aufzunehmen. Dabei hilft das Matthäusevangelium immer wieder mit Wiederholungen von schon Bekanntem und stehenden Redewendungen. In den Details der Ausarbeitung wird auch sichtbar, dass diese Mühe im Dienst matthäischer Theologie steht. Immer wieder verleiht die literarische Form einer Theologie Ausdruck, die die Kontinuität mit den jüdischen Schriften sucht. Hier liegt wohl der größte Bogen, den Matthäus schlägt : Die Geschichte Israels und des jüdischen Volkes erfüllt sich in Jesus, der in der Endzeit als der Menschensohn und Richter zurückkehren wird.

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C. Die theologische Kunst des Matthäusevangeliums Wenn es ein beherrschendes Thema im Matthäusevangelium gibt, dann ist es das Thema der Gegenwart. Jesus ist der Immanuel und seine Aufgabe ist es zu zeigen, dass Gott mit uns ist (Mt 1,23). Das Wirken Jesu und seine Lehre weisen immer wieder auf den Vater in den Himmeln hin. Jesus ist der, der den Vater kennt und dieses Wissen weitergibt (Mt 11,25–27). Jesus ist im Namen des Herrn gekommen und wird auch in seinem Namen wiederkommen (Mt 21,9 ; 23,39 ; vgl. Ps 118,26). Aber das Evangelium blickt auch über Jesus hinaus in die Zeit der Kirche. Sie lebt von dem Versprechen, dass Jesus gegenwärtig ist, wenn zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind (Mt 18,20). Und sie ist sich gewiss, dass der Auferstandene mit seinen Jüngern ist bis zur Vollendung der Welt (Mt 28,20). So liegt es nahe, die theologische Kunst des Matthäus unter drei Rücksichten zu betrachten. Was sagt das Evangelium über Gott aus, was sagt es über Jesus aus und wie stellt es sich die Kirche vor ? a. Gott als der barmherzige Vater

In den Seligpreisungen der Bergpredigt verspricht Jesus, dass die, die ein reines Herz haben, so gesegnet sind, dass sie Gott schauen werden, während die Friedensstifter Söhne und Töchter Gottes genannt werden (Mt 5,8–9). Das wirft natürlich die Frage auf, wer Gott eigentlich ist, dass man ihn sehen oder sein Kind sein kann. Doch zunächst ist Matthäus mit Beschreibungen Gottes eher sparsam. In der Kindheitsgeschichte spricht das Evangelium von Marias Schwangerschaft durch den Heiligen Geist (Mt 1,18), und im Traum erscheint dem Josef ein Engel des Herrn (Mt 1,20). Gott scheint im Hintergrund zu bleiben. Das erste Mal wird er überhaupt erst in einem Zitat aus den jüdischen Schriften erwähnt (Mt 1,23), durch das Jesus mit Immanuel als „Gott mit uns“ identifiziert 130

wird. Die zweite Erwähnung Gottes ist implizit im Erfüllungszitat Mt 2,15, wenn Jesus als „mein Sohn“ bezeichnet wird. Erst in der Gerichtsrede des Johannes gegen Pharisäer und Sadduzäer taucht Gott explizit auf (Mt 3,9). Während der Taufe kommt der Geist Gottes auf Jesus herab in Gestalt einer Taube (Mt 3,16), und eine Stimme aus dem Himmel bezeichnet Jesus als „meinen geliebten Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe“ (Mt 3,16 ; vgl. 17,5). Matthäus scheint sehr diskret mit dem Wirken Gottes umzugehen. Wenn Gott überhaupt erwähnt wird, dann immer in Verbindung mit einer Aussage oder einem Ereignis um die Person Jesu. Damit sind Gott und Jesus äußerst eng miteinander verknüpft. Das Immanuel-Zitat gibt die Richtung vor, die das Evangelium einschlägt : Gott wird gegenwärtig in der Person Jesu, Jesus ist der geliebte Sohn Gottes, auf den die Menschen hören sollen (Mt 17,5). Daher ist es auch kein Widerspruch, wenn Jesus auf der einen Seite sagt, dass nur Gott Anbetung gebührt (Mt 4,10), auf der anderen Seite aber immer wieder Menschen Jesus anbeten. Für Matthäus ist die Anbetung Jesu gleichbedeutend mit der Anbetung Gottes. Hier ergibt sich auch eine subtile Neuorientierung gegenüber dem Markusevangelium : Im Markusevangelium sind die Machttaten Jesu Beweis der Gegenwart Gottes, bei Matthäus ist es die Person Jesu. So ist Jesus auch der privilegierte Lehrer seiner Jünger. Er ist der Sohn Gottes, der Gott als Vater anreden darf (Mt 11,26) und dieses Naheverhältnis zu Gott mit seinen Jüngern im „Vater unser“ teilt (Mt 6,9–13). Tatsächlich taucht die Bezeichnung Gottes als Vater der Jünger zum ersten Mal in der Bergpredigt auf (Mt 5,16) und wird ab diesem Moment zur häufigsten Beschreibung Gottes. Jesus ist also der, der Gott als Vater offenbart. Auch das Markusevangelium kennt Gott als den Vater Jesu und überliefert das aramäische Abba als die Gebetsanrede Jesu (Mt 14,36). In Q findet sich zudem eine kurze Version des Va131

tergebets (Mt Q 11,2–4). Doch es ist Matthäus, der dieses Verhältnis konsequent auf die Jünger Jesu ausdehnt und zum Zentrum der Lehre Jesu macht. Mit der Beschreibung Gottes als Vater kann Matthäus zwar auf jüdische Vorbilder zurückgreifen, in den jüdischen Schriften sind sie jedoch relativ selten. Verherrlichung Gottes wegen Jesus Menschenmenge (9,8) Menschenmenge (15,31) Anbetung Jesu Die Magier (2,11) Ein Aussätziger (8,2) Ein Führer (9,18) Jünger (14,33) Die Kanaanäerin (15,25) Die Mutter von Jakobus und Johannes (20,20) Zwei Frauen am Grab (28,9) Die Jünger (28,17) Abbildung 25 : Anbetung bei Matthäus

Diese Vaterbeziehung äußert sich zunächst in einer großen Nähe Gottes zu den Menschen. Er ist derjenige, der auch das sieht, was im Verborgenen geschieht, und gute Taten vergelten wird (Mt 6,3.6.18). Dies Schauen auf das Verborgene ist Ausdruck der Sorge Gottes um die Nöte der Menschen, die er viel mehr liebt als die Vögel des Himmels oder das Gras auf dem Feld (Mt 6,26.30). Umgekehrt lehrt Jesus auch, dass die Jünger sich dieser Vaterliebe anvertrauen dürfen, wenn er sie das „Vater unser“ lehrt. Und mehr als eine Bitte um tägliches Brot oder das Kommen der Herrschaft Gottes ist das Vatergebet ein Ausdruck des Vertrauens in das Wissen des himmlischen Vaters um die Nöte der Jünger (Mt 6,8). Gerade dieses Grundvertrauen in die Güte des Vaters ist es, das die Jünger Jesu von anderen unterscheidet (Mt 6,32). Sie wissen, dass der Vater nicht will, dass jemand verloren gehe (Mt 18,14). 132

Gott als barmherziger Vater ist großzügig. Er lässt die Sonne scheinen und Regen fallen über Gerechte und Ungerechte (Mt 5,45), in seinem Acker wachsen Weizen und Unkraut gleichermaßen (Mt 13,24–30). Das Gleichnis vom großzügigen Gutsbesitzer, der seine Arbeiter ohne Rücksicht auf die abgeleisteten Stunden den Tagelohn auszahlt (Mt 20,1–15) illustriert eine Großzügigkeit Gottes, die sogar die Arbeiter selbst verwirrt. So fragt denn auch der Gutsbesitzer des Gleichnisses  : „Ist dein Blick böse, weil ich gut bin  ?“ (Mt 20,15). Tatsächlich ist Gott letztlich der einzig Gute (Mt 19,17). Im Gleichnis vom Gutsbesitzer wird schon angedeutet, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, auf die Barmherzigkeit Gottes zu reagieren. Barmherzigkeit ist ein Angebot, das man annehmen oder ablehnen kann. Matthäus fasst dies in die traditionell jüdische Weisheitslehre von den zwei Wegen. Sie wird in Mt 7,13 klar ausformuliert im Bild vom engen und weiten Tor, von der engen und der breiten Straße, von der Wahl zwischen Leben und Verderben. Die Barmherzigkeit Gottes ist eine Aufforderung zur Wahl. Wenn Gott barmherzig ist, erfordert dies auch die Annahme in geistiger Armut und Demut (Mt 5,3–12). Jesu Lehre annehmen heißt, die Einladung anzunehmen, selbst barmherzig zu werden (Mt 5,7 ; 6,2 ; 18,33 ; 23,23). Daher ist die Kehrseite der Barmherzigkeit Gottes auch seine Gerechtigkeit, die sich am Ende der Zeit offenbaren wird. Dort kommt es zum Gericht. Wer sich Gottes Barmherzigkeit nicht zu eigen macht, wird verurteilt. Gott lässt zwar Weizen und Unkraut nebeneinander wachsen, aber am Ende wird alles eingesammelt, der Weizen kommt in die Scheune, das Unkraut hingegen wird verbrannt (Mt 13,24–30). Auch das Gleichnis vom unbarmherzigen Schuldner (Mt 18,23–35) erzählt von der Verantwortung, die die erwiesene Barmherzigkeit Gottes mit sich trägt. Der Knecht, dem 133

viel vergeben wurde und der selbst nicht vergeben konnte, wird den Folterknechten überantwortet. Matthäus schließt das Gleichnis mit dem Hinweis, dass auch der himmlische Vater so handeln wird. So wie Gott an den Menschen handelt, so will Gott, dass die Menschen aneinander handeln. Daher kann Matthäus auch im Gleichnis vom guten Hirten (Mt 18,10–14) Gott als den beschreiben, der dem Verirrten nachgeht, und gleichzeitig fragen : „Wer von euch“ würde nicht genauso handeln ? Besonders augenfällig wird die Verbindung der Barmherzigkeit Gottes mit dem Anspruch an entsprechendes menschliches Verhalten in den Seligpreisungen. Von den acht Seligpreisungen in Mt 5,3–10 sind die ersten vier denjenigen gewidmet, denen es schlecht geht und die Gottes Zuwendung erfahren. Es geht um Arme im Geist, Trauernde, Demütige und Menschen, die Ungerechtigkeit erfahren. Die vier Seligpreisungen in der zweiten Gruppe sind eine Aufforderung zu einem Handeln, das die von Gott erfahrene Barmherzigkeit nun anderen zugänglich macht : Es sind Aufforderungen, selbst barmherzig zu sein, nach Reinheit des Herzens zu streben, Frieden zu stiften und um Gerechtigkeit zu kämpfen. All dies wird zusammengefasst in einer neunten Seligpreisung (Mt 5,11–12), die die anderen acht Seligpreisungen in den Horizont der Christusnachfolge stellt. Dies ist eine logische Konsequenz aus der Gegenwart Gottes in Jesus, der selbst durch seine Gemeinde gegenwärtig ist. Will die Gemeinde Jesus und Gott präsent machen, so muss sie handeln wie Gott. Matthäus zitiert daher auch zweimal Hos 6,6 als Maxime für menschliches Handeln : „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer“ (Mt 9,13 ; 12,7). Daher formuliert Matthäus im Blick auf die Gemeinde : „Seid vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“ (Mt 5,48).

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b. Jesus als die Gegenwart Gottes

Gleich zweimal erwähnt Mt 1 den Ursprung, im Griechischen genesis (Mt 1,1.18), Jesu. Zuerst stellt die Genealogie am Beginn des Evangeliums fest, dass Jesus der Sohn Davids und Abrahams ist. Die formelhafte Wiederholung von „A zeugte B“ zielt jedoch ins Leere. Das Ende der Genealogie überrascht, indem es die Formel aussetzt : Josef, der Letzte der Genealogie, zeugt Jesus nicht, sondern wird lediglich als Mann Marias beschrieben (Mt 1,16). In Mt 1,18 setzt Matthäus noch einmal mit genesis ein. Maria empfängt vom Heiligen Geist. Matthäus beschreibt Jesus als jemanden, der zwar einen Ursprung in der Geschichte des jüdischen Volkes als Sohn Davids und Abrahams hat, der aber gleichzeitig auch ein Neuanfang dieser Geschichte ist, indem er Gottes Sohn ist. Dieser Neuanfang geschieht in der Jungfrauengeburt. Die Kindheitsgeschichte führt dies Motiv weiter, indem die Magier das Kind anbeten und ihm Gaben opfern (Mt 2,11). Der Aufenthalt in Ägypten wird durch ein Erfüllungszitat erhellt, in dem Gott von seinem aus Ägypten gerufenen Sohn spricht (Mt 2,15). Nach der Taufe spricht Gott von seinem geliebten Sohn, an dem er Wohlgefallen hat (Mt 3,13–17 ; vgl. Ps 2,7), und selbst Satan erkennt Jesus in der Versuchungsgeschichte als den Sohn Gottes an (Mt 4,10). Noch bevor Jesus sein öffentliches Wirken beginnt, hat Matthäus Jesus als Sohn Gottes fest etabliert. Gleichzeitig schildert Matthäus auch zwei mögliche Reaktionen auf Jesus als den Sohn Gottes : Herodes, die jüdischen Führer und schließlich Satan lehnen Jesus ab, während die Magier anbeten und letztlich Gott selbst große Freude hat. Diese Linien ziehen sich durch das Evangelium hindurch. Die Jünger bekennen (Mt 16,16) und beten (Mt 14,33) den Sohn Gottes an, während Dämonen den Sohn Gottes herausfordern (Mt 8,29). Die religiösen Führer Israels verurteilen 135

Jesus zum Tod, weil er sich als Sohn Gottes bezeichnet (Mt 26,63–64 ; 27,41–43). Als Sohn Gottes macht Jesus Gott gegenwärtig. Der Vater hat dem Sohn alles übergeben, nur der Sohn kennt den Vater. Der Vater ist nur erkennbar, insofern der Sohn ihn offenbart (Mt 11,26–27). Wie schon in Mt 3,17 und später in 12,18 und 17,5 erwähnt Matthäus ausdrücklich, dass Gott daran Wohlgefallen hat. Doch wird diese Vergegenwärtigung Gottes in Jesus nicht nur behauptet. In mehreren Erzählungen legt Matthäus dar, wie er diese Gegenwart versteht. Matthäus verwendet in seiner Charakterisierung Jesu eine Typologie, die auf Mose verweist. Der Kindermord in Bethlehem deutet schon an, dass die Geschichte des Mose eine gewisse Rolle spielen wird. Ähnliches trug sich auch bei der Geburt des Mose zu. Die Rückkehr der Familie Jesu nach Galiläa mag auf den von Mose geleiteten Auszug aus Ägypten anspielen. Noch deutlicher werden die Bezüge jedoch in der Bergpredigt. Wie Mose am Sinai steht auch Jesus auf einem Berg, auf dem ein Gesetz gegeben wird. Die Antithesen der Bergpredigt (Mt 5,21–48) stellen einen expliziten Bezug zur jüdischen Tora her. Allerdings ist am Berg Sinai Mose der Empfänger einer von Gott gegebenen Tora, während auf dem Berg der Seligpreisungen Jesus derjenige ist, der das neue Gesetz gibt. Jesus wird also nicht einfach mit Mose parallelisiert, sondern Matthäus benutzt die Mosegeschichte, um Jesus als sehr viel größer zu zeigen. Matthäus impliziert hier eine IdenGegenwart Gottes in Jesus • Jesus ist der Sohn Gottes • Jesus ist größer als Mose • Jesus ist größer als David • Jesu Tod ist Opfer zur Vergebung der Sünden • Jesus ist Gründer und Lehrer der Gemeinde Abbildung 26 : Jesus im Matthäusevangelium 136

tifikation Jesu mit Gott, während die Jünger Jesu, die um ihn stehen, zu den Vermittlern des Gesetzes Jesu in den Gemeinden werden. Matthäus arbeitet hier die Gegenwart Gottes in Jesus erzählerisch auf. Die Verklärung Jesu (Mt 17,1–9) erinnert an dieses Motiv, wenn Mose und Elija mit Jesus auf einem Berg reden, die Stimme Gottes dann aber sagt, dass die Jünger auf Jesus als Gottes Sohn hören sollen, an dem Gott Wohlgefallen hat (Mt 17,5). Die Geschichte erinnert zunächst an den leuchtenden Mose am Sinai (Ex 34,28–35). Das Gebot zum Hören verweist zudem auf Dtn 18,5. Dort verspricht Mose einen zukünftigen Propheten von noch größerer Autorität : „Auf ihn sollt ihr hören.“ Die Verbindungen zu Mose sind in den Anspielungen sehr klar ; doch wiederum überhöht Matthäus das Vorbild, indem nun nicht Mose für Jesus Zeugnis ablegt, sondern Gott selbst. Als die Jünger auf blicken, ist Mose nicht mehr da. Eine weitere Typologie in der Beschreibung Jesu findet sich in der Bezeichnung Jesu als Sohn des Königs David. Dessen Geschichte wird in den Samuelbüchern und dem ersten Königsbuch erzählt. David wird als König idealisiert und als der größte Herrscher Israels gezeichnet. Wird Jesus nun als Sohn Davids bezeichnet, ist dies nicht nur ein Hinweis auf die Abstammung Jesu, sondern auch auf Jesus als König. Matthäus ist der einzige der Evangelisten, der beim feierlichen Einzug in Jerusalem (Mt 21,1–9) den Davidssohntitel für Jesus benutzt. Doch durch das schon erwähnte Erfüllungszitat charakterisiert Matthäus den in Jerusalem einreitenden König als sanftmütig. In der Passion wird immer wieder auf das Königtum Jesu Bezug genommen. Pilatus fragt, ob Jesus der König der Juden sei, und Jesus bejaht dies (Mt 27,11–12). Die Verspottung durch die Soldaten stattet Jesus mit königlichen Insignien aus (Mt 27,27–31), die Inschrift über dem Kreuz identifiziert Jesus als König der Juden (Mt 27,37), und die jüdi137

schen Führer unter dem Kreuz bezeichnen ihn als König Israels (Mt 27,41). Doch wenn Matthäus von Jesus als dem Sohn Davids spricht, stellt er dem Königtum eine weitere Nuance zur Seite. Der Titel taucht auffallend oft im Zusammenhang mit Heilungen oder Dämonenaustreibungen auf (Mt 9,27 ; 12,23 ; 15,22 ; 20,30 ; 21,15). So stellt Matthäus in einer kleinen Vignette von Jesu Wirken im Tempel die Heilung von Blinden und Lahmen an die Seite des Ausrufs von Kindern : „Hosanna dem Sohn Davids“ (Mt 21,14–15). Dies ist kein Zufall. Die Sanftmut des auf einem Esel reitenden Königs wird nicht nur behauptet, sondern in den Heilungen immer wieder illus­ triert. Jesu Aufgabe in der Kindheitsgeschichte wird von einem Engel als die Vergebung der Sünden bezeichnet (Mt 1,21). Die Sündenvergebung bleibt ein durchgängiges Thema im Evangelium. Anders als bei Markus ist die Taufe des Johannes keine Taufe, die Sünden vergibt. Dies ist Jesus selbst vorbehalten. Die Erzählung vom Gelähmten in Kafarnaum (Mt 9,2–8) verbindet die Vergebung von Sünden mit einer physischen Heilung. Doch erst beim letzten Abendmahl (Mt 26,26–29) spricht Jesus davon, dass sein Blut hingegeben ist zur Vergebung der Sünden als ein neuer Bundesschluss. Sprachlich findet sich hier eine deutliche Anspielung auf das Opfer, in dem Mose das Volk Israel zur Vergebung der Sünden mit Blut besprengt (Ex 24). Eine äußerst doppelbödige und in der Wirkungsgeschichte oft missverstandene Aufnahme dieser Opferthematik findet sich im Ruf des Volkes : „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ (Mt 27,25). Auf der Ebene der erzählten Ereignisse fordert eine Volksmenge vor Pilatus den Tod Jesu, auf der theologischen Ebene jedoch bittet das „gesamte Volk“ um das Besprengen mit Blut, mit dem Mose das Volk Israel von seinen Sünden gereinigt hat. Die Sanftmut des Sohnes Davids, zunächst sichtbar in 138

den Heilungen, erfüllt sich in der Hingabe Jesu am Kreuz, wo die größte der Heilungen stattfindet : Der König erlöst sein Volk von den Sünden. Wieder lässt sich feststellen, dass Matthäus eine Typologie benutzt und sie kreativ weiterführt. David und Mose werden in der Person Jesu miteinander verschränkt. Jesus lebt die Gegenwart Gottes nicht nur beispielhaft vor, sondern belehrt seine Jünger auch entsprechend. Jesus ist der Lehrer derer, die er berufen und ausgewählt hat. Die fünf großen Reden sind herausragende Beispiele für Jesus als Lehrer. Sie sind auf der Ebene der Erzählung zwar an die Jünger gerichtet, doch sind sie auch gestaltet, um eine nachösterliche Gemeinde anzusprechen. In der Bergpredigt gibt es eine Passage, die vor Irrlehrern in christlichen Gemeinden warnt (Mt 7,21–23), die Aussendungsrede spricht von der Mission einer nachösterlichen Gemeinde (Mt 10,17–23). Tatsächlich gehen die Jünger nach der Aussendungsrede auch nicht auf eine Missionsreise wie bei Markus, sondern Jesus zieht weiter (Mt 11,1). Die Mission bleibt der nachösterlichen Gemeinde vorbehalten. Die Gemeinderede spricht ausdrücklich von der Kirche (Mt 18,17), während die eschatologische Rede den Blick auf das Schicksal der Gemeinden in der Endzeit richtet. Damit aber ergibt sich ein Bild, in dem der vorösterliche Jesus als Lehrer der Jünger gleichzeitig auch der Lehrer der nachösterlichen Gemeinde ist. Die Gemeinde legitimiert sich also aus der Erinnerung an den irdischen Jesus, während Jesus selbst als der Gründer der Gemeinde beschrieben wird. Jesus ist der Lehrer der Kirche, die er selbst auf den Felsen des Petrus gebaut hat (Mt 16,18). Jesus verspricht, dass er in dieser Gemeinde gegenwärtig sein wird (Mt 18,20) bis an das Ende der Zeit (Mt 28,20). Der Inhalt der Lehre Jesu bezieht sich zunächst auf den himmlischen Vater. Jesus lehrt von der Barmherzigkeit und 139

Güte Gottes. Er tut dies oft in Gleichnissen, die von der Barmherzigkeit Gottes sprechen, die aber auch das Gericht für diejenigen in den Blick nehmen, die sich dieser Barmherzigkeit widersetzen, indem sie keine Barmherzigkeit üben. Stellvertretend können hier Pharisäer und Schriftgelehrte genannt werden, gegen die die größte Polemik des Evangeliums gerichtet ist. Gleichzeitig lehrt Jesus auch Treue zu den jüdischen Schriften. So besteht er auf der Treue zum Gesetz (Mt 5,17–20), und auch die jüdischen Speiseregeln werden nicht generell abgelehnt. Auf der anderen Seite zeigen die Sabbatkontroversen (Mt 12,1–8.9–14) auch, dass Jesus das Gesetz zwar lehrt, aber auch kreativ mit seiner Auslegung umgeht. In den Antithesen (Mt 5,21–48) geht Jesus zwar von einzelnen Geboten des jüdischen Gesetzes aus und respektiert ihre weitere Geltung, erweitert sie aber enorm in ihrer Auslegung. Es ist daher wohl richtiger, nicht von Antithesen, sondern vom Gesetz Jesu zu sprechen. Diese Erweiterung des Gesetzes ist nicht zufällig, sondern findet ihre Begründung in der prophetischen Literatur der jüdischen Schriften. So spricht Jesus in Mt 5,17 von einer Verbindung von Gesetz und Propheten, die Jesu Gesetzesauslegung bestimmt und in der Goldenen Regel (Mt 7,12) zusammengefasst ist. Letztendlich kann Jesus das „ganze Gesetz und die Propheten“ zusammenfassen in den beiden Geboten von der Gottesliebe und der Liebe zum Nächsten (Mt 22,40). Wie Jesus jüdische Gebote prophetisch interpretiert, zeigt auch das Zitat „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer“ (Hos 6,6) sowohl in der Diskussion um die Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern (Mt 9,10–13) als auch in der Kontroverse um das Ährenraufen am Sabbat (Mt 12,1–8). Jesus ist der Lehrer der Gemeinde, und gelegentlich bezeichnet er sich auch selbst so (Mt 10,24–25 ; 26,18). Doch als Titel ist diese Beschreibung völlig unzureichend. Die Jünger 140

nennen Jesus nie Lehrer. Lediglich die Gegner Jesu sprechen Jesus als Lehrer an (Mt 8,19 ; 9,11 ; 12,38 ; 17,24 ; 19,16 ; 22,16.24.36). Jesus ist der einzige Lehrer (Mt 23,8), aber es sind die Unbelehrbaren, die ihn so nennen. c. Die Kirche als Ort der Gegenwart Jesu

Wie schon an den Reden gesehen, lassen sich die Jünger Jesu als Repräsentanten der matthäischen Gemeinde interpretieren. Sie definieren sich aus ihrer engen Beziehung zu Jesus. Sie sind von Jesus in die Nachfolge berufen (Mt 4,18–22 ; 9,9) und folgen Jesus auf diesen Anruf hin. Nicht alle, die Jesus zur Nachfolge einlädt, folgen ihm auch (Mt 19,21–22), denn wie der reiche Mann erfahren muss, schließt die enge Beziehung zu Jesus auch Verzicht auf anderes mit ein. Die ersten Jünger müssen Boote, Netze und sogar die Familie zurücklassen. Darin sind sie übrigens Jesus sehr ähnlich, der sich ebenfalls von seiner Familie trennt und die Jünger als seine neue Familie sieht (Mt 12,46–50). Und was immer einem dieser neuen Schwestern und Brüder Jesu getan wird, das wird Jesus selbst getan (Mt 25,40). Die wichtigste Aufgabe der Jünger ist also, die Beziehung zu Jesus zu pflegen. Sie wird durch das Verb „nachfolgen“ ausgedrückt. Die Jünger sind Menschen, die den Weg nachgehen, den Jesus auch gegangen ist. Dies gilt dann auch im übertragenen Sinn, wenn Jesus den Jüngern in der Aussendungsrede Macht gibt, das zu tun, was er auch tut. Sie können unreine Geister austreiben und alle Krankheiten heilen (Mt 10,1), und sie verkünden genau das, was Jesus auch verkündet : „Die Herrschaft Gottes ist nahe“ (Mt 10,7). Der Auftrag Jesu lautet, das zu tun, was auch Jesus tut : Kranke heilen, Tote erwecken, Aussätzige reinigen, Dämonen austreiben. Matthäus fügt an diesen Auftrag noch einen Satz an, der die Situation der Jünger sehr genau beschreibt : „Umsonst habt ihr empfangen, umsonst gebt“ (Mt 10,8). Was die Aufgabe 141

der Jünger ist, ist zuerst an ihnen geschehen. Jesus, der Bote der Herrschaft Gottes, beruft Menschen, die selbst zu solchen Boten werden. Mit dem literarischen Kunstgriff, dass Jesus seine Apostel zwar sendet, aber die Mission bis nach der Auferstehung verschoben wird (Mt 28,16–20), projiziert Matthäus die Aussendungsrede klar auf die nachösterliche Gemeinde. Auch ein weiteres Merkmal der Beziehung der Jünger zu Jesus beleuchtet dies. So berichtet Matthäus, dass die Jünger Jesus anbeten. Das erste Mal tun dies die Jünger, nachdem Petrus während des Seesturms (Mt 14,22–31) aus dem Boot gestiegen ist und im Wasser versinkt. Er bittet Jesus um Erlösung und Jesus spricht ihn auf seinen Kleinglauben und seine Zweifel an. Ins Boot zurückgekehrt, beten die Jünger Jesus an. Auch auf dem Berg der Auferstehung zeigen die Jünger die merkwürdige Verbindung von Anbetung und gleichzeitigem Zweifel (Mt 28,17). Matthäus zeichnet also die Jünger als eine Gruppe von Menschen, die zwar immer wieder Zweifel haben, die aber letztlich auch Jesus die Anbetung entgegenbringen, die ihm als Sohn Gottes gebührt. Besonders deutlich wird dieser Zweifel in der Passionserzählung, wenn in Getsemani alle Jünger fliehen (Mt 26,56) und Petrus Jesus verleugnet (Mt 26,69–75). Doch der neuerlichen Berufung der Jünger durch den Auferstandenen, die nun von den Frauen am Grab übermittelt wird (Mt 28,10), leisten sie wiederum Folge. Der Auferstandene spricht hier von „meinen Brüdern“ und ruft damit in Erinnerung, dass seine Familie diejenigen sind, die den Willen Gottes tun (Mt 12,46–50). Die Gemeinde wird sich in diesem Porträt der Jünger wiedergefunden haben. Die Mischung von Zweifeln und Anbetung wird eine Gemeinde begleitet haben, die wohl unter innerer und äußerer Verfolgung litt, wie das die Endzeitrede nahelegt. Eine ganz ähnliche Kombination findet Matthäus, wenn er die Jünger zwar immer wieder als kleingläubig oder 142

furchtsam zeichnet (Mt 6,25–34 ; 8,26 ; 14,30–31 ; 16,8 ; 17,19–20), andererseits auch betont, dass sie immer wieder von Jesus lernen und ihn und seine Botschaft verstehen. Sie haben die Ohren zu hören und die Augen zu sehen (Mt 13,16), sie verstehen die Gleichnisse von der Herrschaft der Himmel (Mt 13,51), sie wissen um den Sauerteig der Pharisäer (Mt 16,12) und verstehen die Beziehung zwischen Johannes dem Täufer und Elija (Mt 17,13). Matthäus stellt die Beziehung zwischen den Jüngern und der nachösterlichen Gemeinde in der Zusage her, die Kirche auf dem Felsen Petrus aufzubauen (Mt 16,18). Petrus erhält die Binde- und Lösegewalt, die danach der ganzen Kirche zuteil wird (Mt 18,18). Hier lassen sich schon Ansätze einer Kirchenstruktur erkennen. Der Kontext in der Gemeinderede macht klar, dass es sich bei dieser Autorität um die Sündenvergebung handelt. Die Vergebung der Sünden, die schon in der Kindheitsgeschichte als Jesu ureigene Aufgabe geschildert wurde und die sich in der Passion vollendet, ist die Art und Weise, wie die Jünger auch nach Ostern an der Macht Jesu teilhaben und ihn gegenwärtig machen. Dies ist eine Ermächtigung der Kirche, die mit konkreten Forderungen Jesu verbunden ist. Die Gerechtigkeit der Jünger muss die der Pharisäer und Schriftgelehrten bei weitem übertreffen (Mt 5,20). Diese Forderung steht im Zusammenhang mit der Diskussion des Gesetzes. Von den Jüngern wird erwartet, dass sie sich gerade in der Observanz des jüdischen Gesetzes besonders auszeichnen. Die Antithesen bieten dafür Beispiele, wie dies geschehen könnte. Zudem spricht Matthäus zwar oft von Synagogen, aber immer mit dem Zusatz, dass es sich um Synagogen der Gegner handelt. Matthäus setzt also seine Gemeinde immer wieder von Pharisäern und Schriftgelehrten ab, aber sie bleiben der Vergleichspunkt. Daher wird die Gemeinde als jüdisch zu verstehen sein. Sie wird auch heidnische Mitglieder gehabt haben, wie das die 143

Geschichten vom Hauptmann von Kafarnaum (Mt 8,5–13) oder von der kanaanäischen Frau (Mt 15,21–28) nahelegen. Die Magier der Kindheitsgeschichte oder der Hinweis auf Abraham in der Genealogie nehmen ebenfalls vorweg, was in der Sendung des Auferstandenen explizit wird : Die Gemeinde engagiert sich auch in der Mission von Heiden. Doch gerade der Hauptmann von Kafarnaum und die kanaanäische Frau zeigen, dass sich Heiden in der jüdischen Gemeinde des Matthäus anzupassen hatten. Auch von ihnen wurde Gesetzesobservanz verlangt. Die Situation der Gemeinde in Konkurrenz mit anderen jüdischen Kräften erklärt auch, warum Matthäus öfter von Verfolgungen durch die Juden spricht (Mt 5,11 ; 10,17.23 ; 21,35–36 ; 23,34). Auch Verfolgungen von Heiden werden erwähnt (Mt 10,18.22 ; 24,9), spielen jedoch eine weniger große Rolle. Dass dies eine Stresssituation für die Gemeinde war, lässt sich auch an Hinweisen auf Gemeindemitglieder ablesen, die ihren Glauben verlieren (Mt 13,21–22 ; 24,12) oder andere sogar an die Feinde verraten (Mt 24,10). Das Evangelium stellt die Situation einer jüdischen, unter Verfolgung leidenden Gemeinde unter das Vorzeichen der Endzeit. Der Vater, der seinen Willen Jesus offenbart hat und durch ihn seinen Jüngern, hat seinen endgültigen Willen kundgetan. Alles ist Jesus übergeben (Mt 11,25–27). Die Passion und Auferstehung sind die Bestätigung dieses Willens, der nun schon den Jüngern zugänglich ist und der sich bei der Wiederkunft auch vor der ganzen Welt offenbaren wird. Die Gemeinde lebt also in einem Zwischenstadium von Offenbarung und Vollendung. Daher betont Matthäus auch von allen Evangelien am stärksten die Verantwortung menschlichen Handelns im Blick auf das endzeitliche Gericht. Besonders auffällig ist dies in der Erzählung vom Gericht, in dem die Barmherzigkeit gegenüber anderen Menschen mit der Barmherzigkeit gegenüber Jesus gleichgesetzt 144

wird (Mt 25,31–46). Die Erklärung des Gleichnisses vom Weizen und Unkraut (Mt 13,36–43) erwähnt das endzeitliche Gericht und bringt es mit der Herrschaft des Vaters in Verbindung. Auch das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen (Mt 25,1–11) bringt die Herrschaft mit der Endzeit in Verbindung. Das matthäischem Eigenmaterial entstammende Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) enthält den endzeitlichen Gerichtscharakter. Für die Gemeinde bedeutet dies, dass sie sich in der drängenden Erwartung der endgültigen Erfüllung befindet. Matthäus spricht im Gegensatz zu Markus kaum von Dörfern, sondern fast ausschließlich von Städten. Gleichzeitig lässt sich auch feststellen, dass bei der Erwähnung von Geld Matthäus in der Regel größere Beträge nennt als seine Quellen (vgl. Mt 10,9 mit Mk 6,8 ; Mt 25,14–30 mit Lk 19,11–27). Josef von Arimathäa wird von Matthäus anders als von Markus oder Lukas als reicher Mann beschrieben, der auch ein Jünger Jesu war (Mt 27,57). Wenn in Q 6,20 die Armen seliggepriesen werden, so sind es in Mt 5,3 die Armen im Geiste. Vielleicht ist dies ein Hinweis auf den möglichen Wohlstand einer Gemeinde, die in einem städtischen Umfeld lebte. Die im Matthäusevangelium porträtierte Gemeinde ist also eine judenchristliche Gruppe in einem wohlhabenden, städtischen Umfeld, die sich mit konkurrierenden jüdischen Gruppen auseinandersetzt, sich aber auch unter dem endzeitlichen Anspruch weiß, Jesus und seine Verkündigung von der Herrschaft der Himmel allen Völkern zu verkünden. Dazu sieht sie sich von Jesus selbst ermächtigt, der darin den Willen des himmlischen Vaters erfüllt.

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D. Autor, Ort, Zeit, Absicht Da das Matthäusevangelium so stark die Gemeinde in den Blick nimmt, sind Vermutungen über die Entstehung des Evangeliums zwar möglich und auch plausibel, genauere Details aber bleiben im Dunkeln. Über den Autor, den Ort und die Zeit der Abfassung lassen sich keine sicheren Angaben machen. a. Autor

Im 2. Jahrhundert wurde dem Evangelium nachträglich der Titel „nach Matthäus“ hinzugefügt. Gemeint war wahrscheinlich der in Mt 9,9 und 10,3 erwähnte Apostel Matthäus. Die nachträgliche Zuweisung des Namens dürfte in dem Bedürfnis nach apostolischer Autorität ihren Ursprung haben. Matthäus hat in hebräischer Sprache die Sprüche zusammengestellt ; ein jeder aber übersetzte dieselben, so gut er konnte. Abbildung 27 : Papias über Matthäus

Der durch Eusebius von Caesarea überlieferte Kirchenvater Papias von Hierapolis berichtet über einen Matthäus, der verschiedene Sprüche oder Reden in hebräischer Sprache sammelte, die dann einige Verbreitung bei anderen Predigern fanden. Eusebius verband zwar diese Aussage mit dem Matthäusevangelium, schätzte jedoch Papias als unzuverlässigen Zeugen ein. Die Skepsis des Eusebius ist gut begründet. Das Matthäusevangelium ist keine Sammlung von Sprüchen, sondern ein gut ausgearbeitetes Werk, das sicher auf Griechisch verfasst wurde. Nachdem sich das Evangelium auf Markus und Q als Quellen bezieht, dürfte der Autor auch kein Augenzeuge des Wirkens Jesu sein. Damit scheidet der Apostel als Autor aber aus. 146

Darüber hinaus lässt sich wenig sagen. Das Evangelium impliziert einen gebildeten Judenchristen mit ausgezeichneten Griechischkenntnissen, der Quellen gut verarbeiten konnte. Die Theologie und die Perspektive des Evangeliums deuten auf die zweite oder dritte Generation von Christen. Möglich bleibt allerdings, dass der in der Überschrift und von Papias erwähnte Matthäus eine der autoritativen Figuren in der Tradition hinter dem Evangelium war. Gelegentlich wird auch argumentiert, dass Matthäus vielleicht mit Q in bestimmender Funktion zu tun hatte. Doch bleibt dies eine interessante, aber letztlich unbelegbare Spekulation. b. Ort

Auch über den Ort der Abfassung lässt sich nur spekulieren. Wahrscheinlich ist es ein Ort, an dem eine polemische Auseinandersetzung mit Pharisäern und Schriftgelehrten möglich war. Eine solche Gelegenheit böte eine Stadt im nördlichen Galiläa nach der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70. Doch weiter verbreitet ist die These, dass es sich um die Hauptstadt Syriens, Antiochia, gehandelt haben muss. Dort ist eine starke jüdische Präsenz erwiesen, und aus dem Galaterbrief wissen wir, dass in Antiochia judenchristliche Einflüsse stark waren und es zu Konflikten mit heidenchristlichen und paulinischen Tendenzen kam. Antiochia käme auch den urbanen Aussagen des Evangeliums entgegen. Sie war eine der bedeutendsten Städte des Römischen Reiches. In ihr war Griechisch die Hauptsprache. Antiochia zählte mehrere hunderttausend Einwohner, die zu Recht auf ihre kulturellen Errungenschaften stolz waren. ­Ignatius von Antiochia, ein Kirchenvater und Zeitgenosse von Papias, schrieb mehrere Briefe, die seine Kenntnis des Matthäusevangeliums belegen. Die Stadt entwickelte sich zu einer der ständigen Kaiserresidenzen in der Spätantike. In einem solchen Klima ist die Beheimatung eines Evangelisten 147

denkbar, der seine jüdischen Wurzeln mit einer hellenistischen Bildung kombinieren kann. Doch auch hier gilt, dass die Behauptung von Antiochia als Entstehungsort des Matthäusevangeliums plausibel, aber nicht beweisbar ist. c. Zeit

Die Zeit der Abfassung des Evangeliums ist ebenfalls nur annäherungsweise zu berechnen. Einzig sicher ist, dass das Matthäusevangelium von der Zerstörung Jerusalems und seines Tempels im Jahr 70 weiß. Dies wird belegt durch Mt 22,7. Aber auch die Klage über Jerusalem und die anschließende Prophezeiung der Zerstörung des Tempels (Mt 23,34–24,2) sind Texte, die möglicherweise auf die Ereignisse des jüdischen Kriegs schon interpretierend zurückschauen. Doch ist diese Lesart nicht zwingend. Matthäus benutzt Markus, daher muss das Evangelium nach dem Markusevangelium entstanden sein. Setzt man das Markusevangelium um das Jahr 70 an und gibt man ihm noch etwa 10 bis 15 Jahre für eine Rezeption und Verbreitung, könnte das Matthäusevangelium um das Jahr 85 entstanden sein. Dies ist die derzeit vorherrschende Theorie. d. Absicht

Das Matthäusevangelium sieht sich mit einer Situation konfrontiert, in der das Volk Gottes seine Identität zu verlieren droht. Seit dem babylonischen Exil gab es keinen davidischen König mehr. Das auserwählte Volk Gottes sieht sich unter römischer Besatzung. Die religiösen Führer des Judentums haben sich als rebellische Weingärtner entpuppt, die keine Ernte mehr abliefern (Mt 21,33–46). Sie binden Menschen Lasten auf, die sie selbst nicht zu tragen willig sind (Mt 23,4). Sie sind blinde Führer, die das Volk Gottes nur in eine Grube führen (Mt 15,14). Das Matthäusevangelium bietet in dieser Situation einen Ausweg an. Es erzählt von Gott, der sein Volk von seinen 148

Sünden erlösen will und dies in Jesus tut (Mt 1,21). Gottes Gegenwart in seinem Volk wird durch Jesus erfahrbar (Mt 1,23). In Tod und Auferstehung wird diese Sündenvergebung Realität. Es ist kein Zufall, dass Matthäus in der Beschreibung dieses Vorgangs auf das Opfer in Ex 24 zurückgreift. Für Matthäus erfüllt sich in der Person Jesu, was in Gesetz und Propheten für Israel verheißen ist. Gleichzeitig weitet Matthäus den Blick über das Volk Israel auf die Heiden hin aus. Auch sie sind eingeladen, an der Herrschaft der Himmel teilzuhaben und in das von Jesus neu begründete Volk Gottes einzugehen. Matthäus stellt sich diese Teilhabe als eine Integration der Heiden in das Volk Israel vor. Damit schließt das Evangelium an die prophetischen Texte von der endzeitlichen Völkerwallfahrt an ( Jes 2,2–4 ; Mi 4,1–4). Auch die Idee, dass die Heiden die Traditionen und Gesetze Israels annehmen müssen, hat solche Vorbilder (vgl. Jes 51,4–5). Gerade die Anlehnung an die Texte von der Wallfahrt aller Völker nach Jerusalem führt dazu, dass das Evangelium endzeitliche Themen betont. Die Kirche lebt in der Verantwortung, im Blick auf das kommende Gericht Rechenschaft für ihre Handlungen abgeben zu müssen. So wird sie zu einer Gemeinde, die nicht nur an Jesus glaubt, der Gott gegenwärtig macht, sondern auch selbst in der Verantwortung steht, Jesus gegenwärtig zu machen. Dafür gilt es nicht nur, das jüdische Gesetz zu befolgen, sondern die Tora Jesu als Maßstab zu nehmen, die sich durch Barmherzigkeit gegenüber dem Nächsten ausdrückt. Gleichzeitig macht die Gemeinde auch die Erfahrung, dass weite Teile des jüdischen Volkes diese Botschaft nicht annehmen. Die polemischen Auseinandersetzungen des Evangeliums mit den jüdischen Führern sind beredtes Beispiel. Diese Auseinandersetzung dauert zur Zeit der Abfassung des Evangeliums wohl noch an. 149

Eine kurze Vignette, die Matthäus in die Tempelreinigung einfügt, zeigt dies sehr deutlich. Zunächst berichtet Matthäus, Markus folgend, dass Jesus Händler aus dem Tempel vertreibt und den jüdischen Führern den Vorwurf macht, sie hätten den Tempel von einem Haus des Gebets in eine Räuberhöhle verwandelt. Dann fügt Matthäus ein, dass Blinde und Lahme zu Jesus in den Tempel kommen und alle von ihm geheilt werden. Kleine Kinder rufen : „Hosanna dem Sohn Davids“, während Hohepriester und Schriftgelehrte unwillig werden (Mt 21,14–15). Matthäus zeigt hier genau auf, wie es aussehen würde, wenn der Tempel nicht die Räuberhöhle der jüdischen Führer wäre, sondern tatsächlich ein Haus für das Gebet : Blinde und Lahme würden geheilt, Kinder würden Jesus anbeten, wie es auch die Jünger tun. Im Blick auf die Katastrophe der Zerstörung des Tempels bietet Matthäus dem jüdischen Volk an, ein neues Haus des Gebets zu bauen : eine Kirche, die der jüdischen Tradition treu ist, die Jesus anbetet und in ihm die Erlösung von den Sünden erfährt.

E. Das Matthäusevangelium in heutiger Sicht Das Matthäusevangelium setzte sich mit einer enormen Geschwindigkeit durch. Schon innerhalb des Neuen Testaments zeigt der erste Petrusbrief eine gewisse Kenntnis des Matthäusevangeliums. Daneben zeigen schon so frühe Schriften wie die Didache und die Briefe des Ignatius von Antiochia, wie schnell das Matthäusevangelium zu einer christlichen Schrift wurde, von der enorme Attraktivität und Strahlkraft ausgehen. Innerhalb von weniger als 40 Jahren war das Matthäusevangelium bekannt und begann, das Markusevangelium in der theologischen Rezeption der Kirchenväter zu verdrän150

gen. Besonders der syrische Raum war federführend in der Rezeption des Evangeliums. Interessant ist allerdings auch, welche Kreise das Evangelium aufnahmen und welche es ablehnten. Zeigt die Didache schon eine größere Distanz zu jüdischen Traditionen als das Matthäusevangelium, so ist Ignatius von Antiochia noch stärker in heidenchristlichen Kreisen beheimatet. Gleichzeitig bestehen judenchristliche Gruppen zwar weiter, rezipieren aber das Matthäusevangelium kaum und schreiben lieber eigene Evangelien wie das der Hebräer oder der Ebioniten. Das Matthäusevangelium war also trotz seiner judenchristlichen Verwurzelung für Heidenchristen durchaus attraktiv. Dies lag wohl daran, dass Matthäus zwar auf der Kontinuität mit jüdischen Traditionen beharrt und der Gemeinde auch eine Gesetzesobservanz ans Herz legt, dass er jedoch der Gemeinde auch Instrumente an die Hand gab, mit denen diese Traditionen weitergedacht und für eine mehrheitlich heidenchristliche Gemeinde adaptiert werden konnten. Ist Jesus ein Gesetzeslehrer, der die weitere Gültigkeit des jüdischen Gesetzes einfordert, so gibt es doch Kriterien, wie das Gesetz zu interpretieren ist. Zuvorderst steht die Gesetzesauslegung Jesu selbst, die sich an den Propheten orientiert und die Barmherzigkeit in den Vordergrund stellt, mit der Gott den Menschen begegnet. Solche Interpretationen ermöglichen es dann, auch Sabbatgebote zu relativieren. Matthäus streicht zwar die markinische Feststellung, dass Jesus alle Speisen für rein erklärte. Trotzdem nimmt er auch das markinische Argument auf, dass nicht das, was in den Mund hineingeht, die Menschen verunreinigt, sondern das, was sich in ihren Herzen befindet. Das aber sind böse Gedanken und andere Dinge, die der Barmherzigkeit widersprechen (Mt 15,17–20). Matthäus nimmt Traditionen wie die Speisevorschriften und Gesetze ernst, doch rückt er sie in die Perspektive einer Ethik, die den Nächsten in den Blick 151

nimmt. Die Auseinandersetzung Jesu mit seinen Gegnern um das größte Gebot (Mt 22,34–39) fasst zusammen, was die Antithesen detailliert entfalten. Damit aber gelingt es Matthäus, einerseits die Kontinuität mit dem Judentum zu betonen, andererseits auch Wege zu öffnen, diese Traditionen für eine Gemeinde fruchtbar zu machen, die sich bereitfindet, andere Traditionen aufzunehmen und zu integrieren. Nicht umsonst stehen sich die Judenmission (Mt 10,5) und die Heidenmission (Mt 28,16–20) nicht gegenüber, sondern sie bauen aufeinander auf. Matthäus sieht die Heidenmission als eine natürliche Erweiterung der nicht abgeschlossenen Mission zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. Die moderne Forschung hat zu diesen Einsichten einen wesentlichen Beitrag geliefert, indem sie in den letzten Jahren verstärkt den judenchristlichen Charakter des Evangeliums betont hat. Solche Forschungen stützen sich nicht nur auf ein gerade im 20. Jahrhundert enorm fruchtbares Studium des antiken Judentums, sondern auch auf ein größeres Verständnis soziologischer Phänomene. Ob allerdings die matthäische Gemeinde tatsächlich mit einer jüdischen Sekte verglichen werden sollte, wie es manche Studien tun, sei dahingestellt. Mit der Anerkennung des jüdischen Hintergrundes konnte man auch die scharfe Polemik des Evangeliums, die einen doch oft antijüdischen Charakter annimmt, besser erklären. Gerade nach dem Holocaust stand immer wieder ein gewisser Antisemitismus der neutestamentlichen Schriften generell und des Matthäusevangeliums im Besonderen im Raum. Doch lässt sich zeigen, dass die matthäische Polemik gegen religiöse und politische Führer gerichtet ist, nicht jedoch gegen das jüdische Volk als Ganzes. Diese Polemik steht im Dienst eines Arguments um die Neuausrichtung des Judentums nach der Zerstörung des Tempels. Damit handelt es sich um ein innerjüdisches Problem, nicht aber um einen Antiju152

daismus. In solchen Kontexten ist die prägnant polemische Sprache im Evangelium Teil von bekannten und normalen Auseinandersetzungen in der antiken Rhetorik. Das Matthäusevangelium ist somit in den letzten Jahren auch Teil eines Trends der Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg, die die Wurzeln des Christentums im Judentum neu entdecken und schätzen lernt. Dabei geht Matthäus völlig andere Wege als Paulus. In neuerer Forschung wird daher auch oftmals die These vertreten, dass Matthäus mit paulinischer Theologie vertraut war und sie ablehnte. Dies wäre denkbar, wenn Matthäus in Antiochia geschrieben hätte, wo ja auch Paulus lange wirkte. Ein Beispiel matthäischer Spitzen gegen paulinisches Gedankengut könnte der Hinweis sein, dass diejenigen, die auch nur das geringste Gebot des Gesetzes auflösen, die Kleinsten in der Herrschaft der Himmel sein werden (Mt 5,19). Immerhin scheint auch für solche Platz im Himmel zu sein. Die matthäische Art, eine Tradition für eine vielleicht ungewisse Zukunft nicht nur tragfähig, sondern auch wandelbar zu machen und dafür das Kriterium der Barmherzigkeit als Eigenschaft Gottes vorzuschlagen, hat auch heute noch enorme Strahlkraft. Dies gilt sicher für religiöse Gemeinschaften. In der katholischen Kirche scheint die Tradition manchmal drückend wie die Last, die die Pharisäer ihren Mitmenschen auferlegt, und man mag sich nach einem Joch sehnen, dass so leicht ist wie das Joch des sanftmütigen und demütigen Jesus (Mt 11,28–30). Matthäus warnt vor einem leichtfertigen Ignorieren der Traditionen (Mt 23,2), aber er legt auch eine Unterscheidung im Sinn der Barmherzigkeit nahe. Dies mag kein leichter Weg sein, aber vielleicht ein nachhaltiger. Wohl kaum eine Haltung wie die der Barmherzigkeit zeigt das Wesen christlichen Lebens auf. Schon in der Antike machte sich der heidnische Schriftsteller Lukian von Samo153

sata im 2. Jahrhundert über die Barmherzigkeit der Christen lustig. In Lukians satirischer Schrift Peregrinus ist sie das Beispiel eines naiven Gutmenschentums in einer auf Wettkampf angelegten Gesellschaft der römischen Kaiserzeit. Für Lukian waren Christen leichte Opfer. Tatsächlich zeigt die Geschichte auch immer wieder herausragende Beispiele solcher Hinwendung zum Nächsten, ohne nach den Kosten zu fragen. Nun zog unser Mann [i.e. Peregrinus] zum zweiten Mal aufs Landstreichen aus, wobei ihm statt allen Reisegeldes die Gutmütigkeit der Christianer genügte, welche ihm überall zur Bedeckung dienten und es ihm an nichts gebrechen ließen. Eine Zeitlang ward er auf diese Weise gefüttert. Abbildung 28 : Lukian von Samosata : Peregrinus 16

Dem Matthäusevangelium wird oft vorgeworfen, im Gegensatz zu Paulus eine Ethik der Werke zu entwerfen. Dies ist sicher bis zu einem gewissen Grad richtig. Doch zeigt Matthäus auch, dass Erlösung nicht eine Belohnung für Werke der Barmherzigkeit ist, sondern dass die Werke eine Antwort des Herzens auf menschliche Not sind, in der sich der Mensch als Ebenbild des barmherzigen Gottes spiegelt. In der großen Erzählung vom Jüngsten Gericht schreibt Matthäus, dass die Menschen nach ihren Taten gerichtet werden. Das Evangelium zählt auf, was später die „christlichen Werke der Barmherzigkeit“ genannt wird. Wirklich überraschend ist an der Erzählung jedoch, dass die Gerechten nicht wissen, dass sie gerecht sind. Was immer sie Gutes getan haben, es war nicht motiviert von einer Hoffnung auf himmlische Bezahlung der guten Taten (Mt 25,37–40) : „Dann werden die Gerechten ihm antworten und sagen : Herr, wann sahen wir dich hungrig und speisten dich ? Oder durstig und gaben dir zu trinken ? Wann aber sahen wir dich als Fremd154

ling und nahmen dich auf ? Oder nackt und bekleideten dich ? Wann aber sahen wir dich krank oder im Gefängnis und kamen zu dir ? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen : Wahrlich, ich sage euch, was ihr einem dieser meiner geringsten Geschwister getan habt, habt ihr mir getan.“

F. Literatur zur Vertiefung Stilistisch manchmal schwierig, jedoch lohnend ist Matthias Konradt : Das Evangelium nach Matthäus (Göttingen 2015). Einfacher zu lesen ist Peter Fiedler : Das Matthäusevangelium (Stuttgart 2006).

155

Kapitel 4 : Das Evangelium nach Lukas

Das Matthäusevangelium bringt Jesus große Ehrfurcht entgegen ; die Jünger beten Jesus an, und wenn Jesus die neue Gesetzgebung der Bergpredigt verkündet, so steigt er mit seinen Jüngern auf einen Berg. Das Lukasevangelium hingegen zeichnet einen Jesus, der nicht angebetet wird, sondern selbst immer wieder betet. Auch Lukas berichtet von einer großen Rede, die in vielen Dingen der Bergpredigt entspricht. Doch Jesus lehrt nicht auf einem Berg, sondern er kommt mit seinen Jüngern einen Berg herunter in die Ebene, wo sich viele Menschen um ihn drängen. Dieser Kontrast beleuchtet die Eigenart des Lukasevangeliums : Es ist ein Evangelium, in dem Jesus sich zu den Menschen hinwendet. Er ist zugänglich für alle, die in irgendeiner Form leiden oder benachteiligt sind und von ihm Hilfe erwarten. Erscheint Jesus im Matthäusevangelium als der Ehrfurcht gebietende Erlöser von den Sünden, so ist er im Lukasevangelium ein Erlöser, der von ganz konkreten Krankheiten und Leiden erlöst. Der lukanische Jesus erscheint als der Bruder aller Menschen. Das Evangelium spiegelt diesen Zugang zu Jesus auch literarisch. Es ist das am leichtesten zugängliche Evangelium mit einem unmittelbar eingängigen und attraktiven Erzählstil. Gerade die Erzählungen des Eigenmaterials gehören zu den einprägsamsten der gesamten Evangelienliteratur. Nur bei Lukas gibt es ein Weihnachten mit Krippe, Hirten und singenden Engeln auf dem Feld. Christi Himmelfahrt und 157

Pfingsten sind Feste, die ohne die lukanischen Berichte nicht möglich wären. Kirchliche Liturgien verwenden Hymnen wie das Magnificat und das Benedictus, die sich nur bei Lukas finden. Manche der denkwürdigsten Figuren des Neuen Testaments finden sich ausschließlich bei Lukas : Zachäus auf seinem Baum in Jericho, die aufmerksame Maria und ihre hart arbeitende Schwester Martha, der verlorene Sohn und sein barmherziger Vater, der barmherzige Samariter, der treulose, aber doch sympathische Gutsverwalter, die energische Witwe und ihr ungerechter Richter, der arme Lazarus und sein reicher Nachbar. Die Liste ließe sich fortsetzen. Wohl aufgrund dieser unmittelbaren Attraktivität des lukanischen Erzählstils ranken sich auch früh viele Legenden um den Autor. Er soll Arzt gewesen sein und deswegen so viel Wert auf die Details der Heilungswunder gelegt haben. Er soll ein begnadeter Maler gewesen sein, der oft die Jungfrau Maria porträtiert und so die Ikonenmalerei begründet hat. Diese Begabung zur lebendigen Wiedergabe findet sich dann auch in den Berichten des Evangeliums. Tatsächlich werden bis heute in einigen Kirchen Europas Ikonen verehrt, die angeblich von Lukas gemalt worden sind, darunter die Schwarze Madonna von Tschenstochau und die Gottesmutter von Wladimir. Das Lukasevangelium ist nicht nur das längste der Evangelien, sondern auch das einzige, das eine Fortsetzung hat. Viele literarische Querverweise und Ähnlichkeiten des Stils deuten darauf hin, dass Lukasevangelium und Apostelgeschichte nicht nur vom selben Autor stammen, sondern auch mit Bezug aufeinander konzipiert wurden. Daher wird der Autor letztlich auch oft als Geschichtsschreiber identifiziert, der die Ereignisse um Jesus mit einer Beschreibung der Ereignisse in der frühen Kirche ergänzt. Man spricht in diesem Zusammenhang vom lukanischen Doppelwerk. 158

Zwar sind das Evangelium und die Apostelgeschichte im Kanon heute durch das Johannesevangelium voneinander getrennt, jedoch belegen die häufigen Querverweise und Parallelen zwischen beiden Werken, dass der Verfasser mit dem Doppelwerk nur eine einzige Geschichte erzählt. Die Erzählung des Lukasevangeliums ist nicht eine Geschichte Jesu, die mit der Himmelfahrt in Lk 24,50–53 zu Ende geht, sondern sie setzt sich in der Apostelgeschichte fort. Daher nimmt Apg 1 auch die Erscheinungen und die Himmelfahrt des Auferstandenen noch einmal auf, erzählt sie neu und macht sie zum Ausgangspunkt einer Geschichte, die bis in jene Mietwohnung nach Rom führt, wo Paulus unter Hausarrest steht und doch „das Reich Gottes predigte und die Dinge lehrte, die den Herrn Jesus Christus betreffen, mit aller Freimütigkeit und ungehindert“ (Apg 28,31). Aus diesem Grund muss eine Interpretation des Lukasevangeliums auch immer auf die Apostelgeschichte verweisen.

A. Wie entstand das lukanische Doppelwerk ? Das Lukasevangelium beginnt mit einer Angabe von Gründen für seine Abfassung. In einem Prolog (Lk 1,1–4) beschreibt ein Erzähler, warum er für einen gewissen Theophilus sein Werk verfasst. Er beginnt mit einem Hinweis auf „viele“ andere, die schon vor ihm Berichte verfasst haben und die sich auf „Augenzeugen und Diener des Wortes“ berufen konnten. Der Erzähler beschreibt, wie er diesen Berichten „von Anfang an“ gefolgt ist und sich nun entschlossen hat, alles in „geordneter Reihenfolge“ niederzuschreiben, damit Theophilus sich von der Zuverlässigkeit der Traditionen überzeugen kann. Der lukanische Prolog ist ein Meisterstück in der Ausarbeitung. In einer langen Reihe von ineinander verschachtelten 159

Protasis

Apodosis

Nachdem schon viele es unternommen haben,

schien es auch mir notwendig,

einen Bericht abzufassen über die Ereignisse, die unter uns in Erfüllung gegangen sind,

nachdem ich von Anfang an allem genau nachgegangen bin, es dir, hochverehrter Theophilus, in guter Ordnung aufzuschreiben,

so wie uns die überliefert haben, die Augenzeugen von Anfang an und Diener des Wortes waren,

damit du die Zuverlässigkeit der Worte, über die du unterwiesen worden bist, erkennst.

Abbildung 29 : Parallelen im Lukasprolog

Satzgliedern entsteht eine sogenannte Periode, die sich über vier Verse hinzieht. Es entsteht der Eindruck einer Feierlichkeit, die in der Antike als äußerst elegant galt. Oft wird von den Kommentatoren angemerkt, dass lediglich ein einziger Satz im lukanischen Doppelwerk dem Prolog entsprechend kunstvoll ausgearbeitet ist : der letzte Satz der Apostelgeschichte (Apg 28,30–31). Der Prolog ist zweigliedrig. In Lk 1,1–2 wird eine Voraussetzung genannt, die zu Konsequenzen (Lk 1,3–4) führt. In griechischer Rhetorik spricht man von Protasis und Apodosis. Bei Lukas sind die beiden Elemente parallel aufgebaut. In der Protasis spricht Lukas von anderen, die vor ihm geschrieben haben. In der Apodosis erzählt er von seinen eigenen Motiven. Die Verbindung zwischen Protasis und Apodosis liegt in der Feststellung, dass Lukas den Berichten vor ihm wie auch den Augenzeugen nachgegangen ist, um es für Theophilus in eine geordnete Abfolge zu bringen. Damit werden schon mehrere Dinge klar. Der Erzähler selbst ist kein Augenzeuge, kennt aber viele verschiedene Quellen und hat die Entwicklung der Traditionen schon sehr früh verfolgt. Außerdem behauptet er, dass sich die Zuverlässigkeit der Traditionen dadurch erweisen lasse, dass sie in ge160

ordneter Abfolge niedergeschrieben werden. In Apg 1,1 wird das Evangelium das „erste Wort“ genannt, die Apostelgeschichte ist das zweite. Theophilus wird wieder angesprochen, allerdings ist Apg 1,1 kein ausgefeilter Prolog mehr, sondern lediglich eine kurze Wiederaufnahme von Lk 1,1–4. Die Apostelgeschichte ist nicht als unabhängige Schrift zu verstehen, sondern als Fortsetzung des ersten Wortes. Die Anspielung auf die geordnete Reihenfolge impliziert, dass Lukas die Quellen, die ihm zur Verfügung standen, nun in eine Art Harmonie bringen möchte. Gleichzeitig markieren der Verweis auf Quellen und auf die geordnete Darstellung auch das literarische Anliegen des Doppelwerkes : Eine geordnete, auf Quellenstudium basierende Darstellung war das Ziel antiker Geschichtsschreibung, um herauszuarbeiten, wie Ereignisse nicht nur aufeinander folgen, sondern auch auf bauen. So lässt sich eine Entwicklung ablesen. Der griechische Geschichtsschreiber Herodot, oft als Vater der Geschichtsschreibung tituliert, interpretiert die griechischen Perserkriege als einen Katalysator für eine wachsende Solidarität unter den griechischen Einzelstaaten. Thukydides beschreibt den Peloponnesischen Krieg hingegen als eine Geschichte, in der das Machtstreben einzelner Protagonisten hinter vorgeschobenen Motiven in eine Katastrophe führt. Tacitus, ein jüngerer Zeitgenosse des Lukas, beschreibt in seinen lateinischen Annalen, wie das Kaisertum die alten Sitten der römischen Republik korrumpiert und erodiert. Mit dem Hinweis auf die geordnete Reihenfolge und seine Sorgfalt im Umgang mit den vorliegenden Quellen stellt sich Lukas hinter die Anliegen solcher Geschichtswerke und positioniert sein literarisches Werk als Geschichtsschreibung im Dienst an der Erkenntnis der Zuverlässigkeit der Traditionen um Jesus und die ihm nachfolgenden Jünger und Gemeinden. Das Anliegen des Lukas ist es also, die in der Apostelgeschichte überlieferte Mission und Gemeindebildung in der 161

Tradition um das Leben und Wirken Jesu zu verwurzeln. Man kann daher Lukas zu Recht als den ersten christlichen Geschichtsschreiber bezeichnen. Die Quellen des Lukasevangeliums sind analog zum Matthäusevangelium zu verstehen. Lukas benutzt das Markus­ evangelium und Q. Diese beiden Quellen machen etwa zwei Drittel des Evangeliums aus. Dass darüber hinaus noch andere Quellen zur Verfügung standen, ist unstrittig. Allerdings besteht kein Konsens über die Art solcher Quellen. So ist nicht klar, ob die Erwähnung von Augenzeugen und Dienern des Wortes impliziert, dass Lukas solche Männer und Frauen befragen konnte, oder ob er sich auf Berichte verlassen hat, in denen solche Zeugnisse verwertet waren. Es ist allerdings anzunehmen, dass Lukas auf verschiedene Quellen neben Markus und Q zurückgreifen konnte, da er im Prolog von „vielen“ spricht. Sie werden unter dem Kürzel L zusammengefasst, wobei L wahrscheinlich keine homogene, schriftliche Quelle war. a. Lukas und Markus

Zunächst fällt auf, dass Lukas sehr viel weniger markinisches Material überliefert als Matthäus. Im Lukasevangelium finden sich nur knapp 60% des Markusevangeliums wieder. Die meisten Auslassungen betreffen zwei Blöcke. Bei Lukas fehlen Mk 6,45–8,26, die sogenannte große Auslassung, und Mk 9,41–10,12, die kleine Auslassung. Gleichzeitig übernimmt Lukas das markinische Erzählgerüst ; das Lukasevangelium folgt der erzählerischen Sequenz des Markusevangeliums von Galiläa bis nach Jerusalem. Insgesamt sieben markinische Erzählungen werden allerdings von Lukas an eine andere Stelle in der Sequenz verschoben. Gelegentlich wird behauptet, dies belege die Unabhängigkeit von Markus, jedoch lässt sich bei allen Stellen nachweisen, dass Lukas hier besondere erzählerische Absichten 162

* Mk 3,21 Jesu Familie * Mk 4,26–29 Gleichnis vom heimlich wachsenden Samen † Mk 6,47–52 Jesus geht auf dem Wasser † Mk 6,53–56 Heilungen in Gennesaret † Mk 7,1–23 Essen mit ungewaschenen Händen † Mk 7,24–30 Lehre über Unreinheit *† Mk 7,31–37 Heilung des Taubstummen † Mk 8,1–10 Speisung der Viertausend † Mk 8,11–13 Zeichenforderung der Pharisäer † Mk 8,14–21 Brot und Sauerteig der Pharisäer *† Mk 8,22–26 Blindenheilung bei Betsaida Mk 9,9–13 Elija muss zuerst erscheinen † Mk 9,41–48 Lohn und Strafe † Mk 9,49–50 salzig sein † Mk 10,1–12 Ehe und Scheidung Mk 10,35–40 Frage der Zebedäussöhne Mk 11,12–14 Verfluchung des Feigenbaums Mk 11,20–25 Lehre aus dem Feigenbaum Mk 14,3–9 Salbung in Betanien (aber cf. Lk 7,36–50) Mk 15,16–20 Verspottung Jesu durch die Soldaten * fehlt auch im Matthäusevangelium † Teil der großen oder kleinen Auslassung Abbildung 30 : Auslassungen von Markus durch Lukas

verfolgt. So verschiebt Lukas das Auftreten Jesu in der Synagoge von Nazaret (Mk 6,1–6) an den Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu (Lk 4,16–30) und macht daraus einen programmatischen Text, der die für Lukas wichtigen Themen von erfüllter Prophezeiung und Ablehnung von Jesu Botschaft vorstellt. Lukas erweitert die Erzählung um ein Mischzitat aus Jesaja 61,1–2 und 58,6 und endet mit dem Anschlag der Einwohner von Nazaret auf das Leben Jesu, während Jesus mitten durch sie hindurch fortgeht. Zentrale Aspekte der Lehre Jesu, Passion und Auferstehung werden hier schon vorweggenommen und bestimmen das Verständnis des weiteren Erzählverlaufs. Auch für die anderen sechs Verschiebungen lässt sich eine Aussageabsicht des Lukasevangeliums zeigen. So 163

wird die Gefangennahme des Täufers (Lk 3,19–20) verschoben, um die Geschichte des Johannes noch vor dem Beginn der Jesusgeschichte abzuschließen. Die Berufung der ersten vier Jünger (Lk 5,1–11) wird verschoben, da die Nachfolge plausibler ist, nachdem Jesus sein erstes öffentliches Auftreten absolviert hat. Die Wahl der Zwölf und der Bericht über die Mengen, die Jesus folgen, werden von Lk 6,12–19 umgekehrt und in eine logischere Reihenfolge gebracht. Die wahren Verwandten Jesu werden in Lk 8,19–21 zu einer Illustration des Gleichnisses vom Hören des Wortes Gottes. Jesu Prophezeiung des Verrats wird durch die Verschiebung Teil von drei weiteren Sprüchen Jesu nach dem letzten Abendmahl. Und die Abfolge des Verhörs vor dem Sanhedrin (Lk 22,54–71) wirkt geordneter als bei Markus, indem zuerst die Verleugnung des Petrus geschildert wird, dann die Verspottung und schließlich nur ein einziges Verhör vor dem Hohen Rat. Lukas teilt das ihm zur Verfügung stehende markinische Material in fünf Blöcke, die durch größere Einschübe voneinander getrennt sind. Ein kleinerer Einschub findet sich in Lk 6,20–8,3. Er wird als die kleine Interpolation bezeichnet. Ein größerer Einschub ist Lk 9,51–18,14, die sogenannte große Interpolation. Innerhalb dieser Blöcke gibt es ebenfalls Ein Kindheitsgeschichte : Lk 1,1–2,52 I. Mk 1,1–15 (Lk 3,1–4,15) Programm in Nazaret : Lk 4,16–30 II. Mk 1,21–3,19 (Lk 4,31–6,19) Kleine Interpolation : Lk 6,20–8,3 III. Mk 4,1–9,40 (Lk 8,4–9,50) Große Interpolation : Lk 9,51–18,14 IV. Mk 10,13–13,32 (Lk 18,15–21,33) Zachäus, Gleichnis : Lk 19,1–28 V. Mk 14,1–16,8 (Lk 22,1–24,12) Auferstehung, Himmelfahrt : Lk 24,13–53 Abbildung 31 : Fünf markinische Blöcke bei Lukas 164

schübe oder Ergänzungen aus Q oder L. Sie sind jedoch kleinerer Natur und thematisch und inhaltlich eng auf das markinische Material abgestimmt. Wenn Lukas das markinische Material korrigiert, handelt es sich zumeist um sachliche und stilistische Änderungen, die zwar Markus korrigieren, aber der inhaltlichen Übereinstimmung keinen Abbruch tun. Anders als Matthäus scheint Lukas mit Markus auch theologisch eher übereinzustimmen. Das historische Präsens bei Markus wird konsequent in Vergangenheitsformen umgewandelt. Von den 151 Vorkommen übersieht Lukas lediglich Mk 5,35. Satzanfänge mit „und“ oder „und sofort“ werden geglättet. Auch Ungereimtheiten und Ungenauigkeiten werden ausgeräumt, wenn Markus mit Erzählfolgen und Satzkonstruktionen nicht präzise ist. Hier bessert Lukas nach. Zudem mag er manche markinische Erzählung als anstößig empfunden haben. Auch hier findet Lukas in der Regel elegante Lösungen für die Neuformulierungen oder er lässt sie ganz weg, wie die Geschichte vom jungen Mann, der nackt aus Getsemani flieht (Mk 14,52). Die lukanische Überarbeitung von Markus steht im Dienst der Klarheit und Eleganz und erlaubt es zuweilen, auch theologische Akzente zu setzen. Die Erzählung vom Besessenen von Gerasa (Mk 5,1–20 ; Lk 8,26–39) ist ein gutes Beispiel für die lukanische Vorgehensweise. Lukas überarbeitet Markus stilistisch und strukturell. Stilistisch schwächt er die Beschwörung Jesu durch den Dämon ab in eine Bitte. Er klärt eine mögliche zahlenmäßige Verwirrung in Mk 5,9–10. Die Sequenz von Flucht und Nachschauen der Hirten wird von Lukas geordnet. Er beschreibt den Ort, er zeigt, dass Jesus an Land geht und nicht in den See springt, die Schweinehirten sehen die Ereignisse, bevor sie sie berichten, und die Menschenmenge bekommt ein Motiv für die Bitte, Jesus möge den Ort verlassen. Die etwas konfuse Zusammenfassung in Mk 5,16 wird besser ge165

ordnet und ergänzt, indem die Zeugen erzählen, wie der Mann „erlöst worden war“ (Lk 8,36). Lk 8,27 erwähnt auch, dass der Besessene nackt war, um die Kleidung in 8,35 erklären zu können. Auch die Stadt wird schon in Lk 8,27 erwähnt, damit sie in 8,34 nicht unvermittelt erwähnt wird. Schließlich kürzt Lukas die Beschreibung des Besessenen auf das absolut Notwendige herunter. Damit bringt Lukas Ordnung und Stil in die Geschichte. Bei Markus steht der Besessene im Vordergrund. Lukas gelingt es mit wenigen Eingriffen, daraus eine Geschichte Jesu zu machen, die Gottes Erlösung in das Zentrum stellt. Manche Änderungen des Markusevangeliums könnten auf das kulturelle oder soziale Umfeld des Lukasevangeliums hinweisen. Alle acht aramäischen Ausdrücke bei Markus werden ausgelassen. Dazu gehört auch „Abba“ als Anrede Jesu für Gott in Mk 14,36. Lukas fügt gerne Details ein, die den historischen Kontext erläutern. So beginnt der Auftritt des Täufers in Lk 3,1–2 mit der Erwähnung des Kaisers Tiberius, des Statthalters Pontius Pilatus, der Tetrarchen Herodes und Philippus und der Hohepriester Hannas und Kaiphas. Kupfermünzen (Mk 6,8) werden zu Silbergeld (Lk 9,3), und Dörfer werden oft zu Städten. Möglicherweise spiegelt sich hier eine urbane und wohlhabende Gemeindesituation. Lukas verändert das Porträt Jesu. Wie bei Matthäus werden Bemerkungen, die die Macht Jesu in Frage stellen (Mk 6,5), weggelassen. Auch Jesu Emotionen wie Mitleid (Mk 1,41 ; 6,34), Ärger und Traurigkeit (Mk 3,5), Verwunderung (Mk 6,6), Entrüstung (Mk 10,4) und Liebe (Mk 10,21) entfallen. Die Verfluchung des Feigenbaums (Mk 11,12–14) entfällt, und auch die Tempelreinigung wird stark abgeschwächt (Lk 19,45–46). Unter den Geschichten, die Lukas auslässt, sind auch die Heilungen vom Taubstummen und vom Blinden in Bethsaida. Die Handfestigkeit der Wunder könnte mit in der Antike üblichen magischen Ritualen verwechselt wer166

• • • • • •

Übernahme von etwa 60% von Markus Übernahme der Sequenz Übernahme in Blöcken Überarbeitungen bezüglich Ordnung und Stil Überarbeitung des Porträts Jesu Überarbeitung des Jüngerporträts

Abbildung 32 : Verarbeitung des Markusevangeliums

den. Unangenehme Details über die Familie Jesu verschwinden, während die neue Familie Jesu nicht mehr in solch starkem Gegensatz zur irdischen Familie Jesu steht (Lk 8,19–21). Auch die Jüngergestalten werden überarbeitet. Jesus weist Petrus nicht mehr zurecht (Mk 8,33), die vermessene Bitte von Jakobus und Johannes (Mk 10,35–40) und die Flucht der Jünger in Getsemani (Mk 11,15–17) berichtet Lukas nicht mehr. Zudem werden für die Jünger unangenehme Vorfälle wie die Verleugnung des Petrus (Lk 22,31–34) und der Jüngerschlaf in Getsemani (Lk 22,45–46) nun erklärt und damit auch wenigstens teilweise gerechtfertigt. Das Jüngerunverständnis ist nicht mehr den Jüngern anzulasten (Mk 9,32), sondern beruht nun auf göttlichem Willen (Lk 9,45 ; 18,34). Wenn Lukas dem Markusevangelium trotz Umänderungen von Details mit viel Treue und Respekt begegnet, stellt sich die Frage nach den beiden Auslassungen noch dringender. Manche Forscher überlegen, ob Lukas eine unvollständige Kopie des Markusevangeliums vorgelegen hat. Dies ist natürlich möglich. Andererseits ist auch zu überlegen, ob das von Lukas nicht überlieferte Material bewusst ausgelassen wurde, weil es anderes Material im Evangelium dupliziert hätte. Tatsächlich enthalten die Auslassungen sehr viel Material, das an anderer Stelle im Evangelium auftaucht. Dazu gehört die wunderbare Speisung der Viertausend in Mk 8,1–10 oder die Salbung in Bethanien (Mk 14,3–9), die in vielen Motiven der Salbung durch die Sünderin in 167

Lk 7,36–50 ähnelt. Dies ist möglich und plausibler als die Theorie von einer defekten Markuskopie, die sich nur auf Vermutung stützen kann. Doch letztlich lässt sich eine vermeintliche „Dublettenfurcht“ des Lukas nicht beweisen. Zudem fällt auf, dass große Teile der Auslassungen Material betreffen, das sich mit jüdischen Traditionen beschäftigt. Beispiel dafür ist die Diskussion um das Essen mit ungewaschenen Händen und die resultierende Diskussion von jüdischen Speisegeboten (Mk 7,1–23). Dies dürfte dem heidenchristlichen Umfeld des Lukasevangeliums schon so ferngestanden sein, dass sich eine solche Diskussion für die lukanischen Gemeinden erübrigte. Gleichzeitig wird die Diskussion um Speisegebote in den Berichten der Apostelgeschichte um die Vision des Petrus (Apg 10,9–16) vor der Bekehrung des Kornelius und im Apostelkonzil (Apg 15,20) aufgenommen und konkret für die lukanische Heidenmission relevant gemacht. b. Lukas und Q

Das aus Q stammende Material macht etwa 20% des Evangeliums aus. Lukas fügt gelegentlich Q-Material in markinische Erzählungen ein. So erweitert Lukas die Predigt des Täufers um Material aus Q, das Warnungen gegen die jüdischen Führer, die Ankündigung des kommenden Messias und die Gerichtsdrohung enthält (Lk 3,7–9.16–17). Doch der Großteil wird ähnlich dem Material aus Markus in Blöcken verarbeitet. Der erste Block wird Teil der kleinen Interpolation, während ein größerer Block in der großen Interpolation verarbeitet wird. In beiden Fällen wird das Material aus Q mit anderen, nicht-markinischen Materialien ergänzt. Bemerkenswert ist, dass lediglich zwei Auszüge aus Q, nämlich die Täuferpredigt (Q 3,7–9) und die Versuchung Jesu (Q 4,2–13), von Lukas und Matthäus an dieselbe Stelle in der markinischen Erzählsequenz eingefügt werden. Dies wäre wohl auch 168

anders gar nicht möglich gewesen. Sonst jedoch verarbeiten die beiden Evangelien die Logienquelle in unterschiedlichen Kontexten. Da Lukas das Q-Material ähnlich wie das Markusevangelium in Blöcken abarbeitet, gehen viele Forscher heute davon aus, dass Lukas besser als Matthäus die ursprüngliche Ordnung von Q wiedergibt. Dies würde auch dem im Prolog genannten Sinn für einen geordneten Bericht entsprechen. Da Q als eigenständiges Dokument allerdings nicht erhalten ist, bleibt dies zwar eine plausible, aber letztlich hypothetische Annahme. Lk 16,16 Das Gesetz und die Propheten : bis zu Johannes ; von da an wird die Herrschaft Gottes als frohe Botschaft verkündigt, und jeder zwingt sich hinein. Mt 11,12–13 Aber von den Tagen Johannes’ des Täufers an bis jetzt wird der Herrschaft der Himmel Gewalt angetan, und Gewalttätige reißen es an sich. Denn alle Propheten und das Gesetz haben geweissagt bis zu Johannes. Abbildung 33 : Veränderung von Q

Hypothetisch bleibt auch die Frage nach der redaktionellen Veränderung des Q-Materials. Viele Forscher gehen davon aus, dass Lukas das Q-Material sehr viel stärker seinen eigenen Bedürfnissen in einem heidenchristlichen Umfeld anpasste als Matthäus. Ein Beispiel ist Lk 16,16, das eine heidenchristliche Perspektive einnimmt, indem es Gesetz und Propheten anscheinend mit Johannes schließen lässt. Matthäus zieht diesen Schluss nicht. Solch eine These hängt allerdings von einer genauen Rekonstruktion von Q ab. Aber man kann mit Recht zweifeln, ob dies möglich ist. Gelegentlich diver169

gieren Matthäus und Lukas so stark in der Rezeption von Q, dass sich die ursprüngliche Form wohl nicht mehr eruieren lässt. Zwei Beispiele, die dies gut illustrieren, sind die Erzählungen vom anvertrauten Geld (siehe Abbildung 3) und vom großen Gastmahl (Lk 14,12–24). Beide Beispiele weisen viele Elemente auf, die Lukas und Matthäus gemeinsam sind, aber die Unterschiede sind so gravierend, dass Zweifel daran bestehen, ob tatsächlich eine gemeinsame schriftliche Quelle Q zugrunde liegt oder vielleicht doch divergierende mündliche Traditionen. Sowohl Lukas als auch Matthäus erzählen das Gleichnis vom Gastmahl, zu dem die geladenen Gäste nicht erscheinen. Der Gastgeber lässt sich allerdings nicht entmutigen, sondern beginnt andere Gäste einzuladen, um seinen Saal zu füllen. Dabei erscheinen dann ganz unerwartete Gäste, die von Landstraßen, Wegen und Zäunen hervorkommen. Doch Lukas und Matthäus setzen dieses Gleichnis in unterschiedliche Kontexte und formulieren es sehr unterschiedlich aus. Matthäus bringt das Mahl deutlich mit der Figur Jesu in Verbindung, indem der Sohn erwähnt wird, für den ein König das Hochzeitsmahl vorbereitet. Die Ermordung der Diener durch die geladenen Gäste erinnert stark an das Gleichnis von den bösen Weingärtnern direkt vorher. Die Strafexpedition der Soldaten gegen die zuerst geladenen Gäste wie auch die Episode mit dem Mann ohne Hochzeitsgewand betonen das endzeitliche Gericht. Bei Matthäus steht das Gleichnis also im Kontext einer Strafandrohung an die Gegner Jesu. Doch auch Lukas setzt Akzente, die deutlich seinen Interessen entsprechen. Bei Lukas ist das Gleichnis Teil eines Gastmahles, bei dem Jesus den Gastgeber mit einem Gleichnis belehrt. Dies geschieht häufig im Lukasevangelium. Auch die explizite Erwähnung von Armen, Krüppeln, Blinden und Lahmen ist ein lukanischer Akzent. Und schließlich hat die Erzählung vom Mann, der in einem fremden Land zum Kö170

Mt 22,1–14

Lk 14,12–24

König bereitet Hochzeitsmahl für den Sohn

Hausherr bereitet ein Gastmahl

mehrere Knechte

ein Knecht

grundlose Ablehnung der Einladung



zweite Aussendung der Knechte



ausführliche Beschreibung des Mahles

ausführliche Gründe für Ablehnung

Misshandlung und Tötung der Knechte



Strafexpedition der Soldaten



Eingeladene waren nicht wert



Neue Einladung : Böse und Gute auf Kreuzungen und Landstraßen

erste Einladung : Arme, Blinde, Lahme, Krüppel auf Straßen und Gassen



zweite Einladung : Wege und Zäune

Mann ohne Hochzeitsgewand



Abbildung 34 : Das große Gastmahl im Vergleich

nig eingesetzt wird, historische Vorbilder in Archelaus und Herodes Agrippa II., beide Könige von Judäa. Man wird die Unterschiede wohl am besten so interpretieren, dass das ursprüngliche Gleichnis in der Tradition so ambivalent war, dass Lukas und Matthäus es unterschiedlich ihren Zwecken anpassen konnten. Daher kann ein Rekonstruktionsversuch des Originals kaum mehr überzeugen. Es ist allerdings möglich, dass die Verarbeitung der Logienquelle im Lukasevangelium sich an den Mustern der Verarbeitung des Markusstoffes orientierte. Nachdem sowohl Markus als auch Q in Blöcken auftauchen, dürften sich auch die anderen Bearbeitungsmethoden nicht stark unterscheiden. Auch hier bleiben diese Annahmen jedoch hypothetisch. 171

Trotz solcher Unsicherheiten lässt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit sagen, dass Lukas das Material der Redequelle heidenchristlich interpretiert. Diese Neuorientierung des Materials dürfte dem Umgang mit dem Markusevangelium entsprechen. c. Das Sondergut

Ungefähr die Hälfte des Lukasevangeliums lässt sich weder Markus noch der Logienquelle zuordnen. Nimmt man den Prolog ernst, darf man hinter dem lukanischen Eigenmaterial durchaus auch andere Quellen vermuten. Dazu dürften mündliche und vielleicht auch schriftliche Quellen gehört haben. Oft wird vermutet, dass die Hymnen in der Kindheitsgeschichte schon vorlukanische liturgische Gebete spiegeln. Doch lassen sich solche Hypothesen nicht beweisen. So wird beispielsweise argumentiert, die vielen mehr semitisch als griechisch klingenden Wendungen des Evangeliums ließen auf eine hebräische oder aramäische Quelle schließen. Doch betrachtet man die entsprechenden Wendungen genauer, könnte man auch den Einfluss der griechischen Übersetzung der hebräischen Schriften annehmen. In den Kommentaren zur Kindheitsgeschichte begegnet man oft der These, Lukas habe hier zwei verschiedene Quellen benutzt. Tatsächlich berichtet Lk 1–2 zwei Kindheitsgeschichten, eine des Täufers, eine weitere Jesu. Doch das Evangelium verbindet die beiden Geschichten kunstvoll in der Begegnung zwischen Maria und Elisabeth. Darüber hinaus sind die Täufergeburt und die Geburt Jesu so aufeinander bezogen, dass Johannes in jedem einzelnen Element durch Jesus noch einmal überboten wird. Selbst wenn also unterschiedliche Quellen vorgelegen haben, entsteht in der Darstellung des Lukas eine Kohärenz, die die Frage nach möglichen Quellen nicht nur erschwert, sondern auch wenig sinnvoll erscheinen lässt. 172

1,1–4 Widmung an Theophilus 1,5–25 Ankündigung der Geburt des Täufers 1,26–38 Ankündigung der Geburt Jesu 1,39–56 Maria bei Elisabeth 1,57–80 Geburt des Täufers 2,1–20 Geburt Jesu 2,21–38 Darstellung im Tempel 2,41–52 der Zwölfjährige im Tempel 3,10–14 Täufer antwortet auf Fragen 3,23–38 Genealogie von Adam her 4,14–23.25–30 frohe Botschaft an die Armen 5,1–11 wunderbarer Fischfang 7,11–17 Witwe von Naïn 7,36–50 Salbung durch die Sünderin 7,40–43 Gleichnis der zwei Schuldner 8,1–3 Frauen im Dienst an Jesus 9,51–56 Ablehnung in samaritanischem Dorf 10,17–20 Rückkehr der 70 10,29–37 Gleichnis vom barmherzigen Samariter 10,38–42 Maria und Martha 11,5–8 der Freund um Mitternacht 12,13–21 der reiche Tor 12,47–48 schwere und leichte Schläge 13,1–9 Gleichnis vom unfruchtbaren Baum 13,10–17 Heilung einer verkrümmten Frau 14,1–6 Heilung eines Fallsüchtigen 14,7–14 zwei Gleichnisse über Gäste und Gastgeber 14,28–33 zwei Gleichnisse über Kosten 15,8–10 Gleichnis von der verlorenen Münze 15,11–32 Gleichnis vom verlorenen Sohn 16,1–12 Gleichnis vom klugen Verwalter 16,19–31 der Reiche und Lazarus 17,11–19 Heilung der 10 Aussätzigen 18,1–8 die Witwe und der Richter 18,9–14 der Pharisäer und der Zöllner 19,1–10 Zachäus 19,41–44 Jesus weint über Jerusalem 22,31–32 Gründe für die Verleugnung des Petrus 22,35–38 zwei Schwerter 23,6–12 Jesus vor Herodes 23,13–16 Pilatus erklärt Jesus für unschuldig 23,28–31.34.43.46 Sprüche im Zusammenhang mit Jesu Tod 24,13–35 der Auferstandene auf dem Weg nach Emmaus 24,36–49 der Auferstandene erscheint den Jüngern 24,50–53 Himmelfahrt Abbildung 35 : Lukanisches Eigenmaterial in Auswahl 173

Letztlich scheitern alle Theorien einer kohärenten, vorlukanischen Quelle an der Schwierigkeit ihrer Rekonstruktion. So kommt man in der Beurteilung von L nicht über die Aussage hinaus, dass Lukas wahrscheinlich Quellen hatte. Es gibt einige erstaunliche Parallelen zwischen dem Sondergut des Lukasevangeliums und dem Johannesevangelium. Dazu gehören Namen wie Lazarus, Martha und Maria, einer der Zwölf namens Judas, nicht Judas Iskariot, oder der Hohepriester Hannas. Daneben gibt es viele andere Parallelen auch in den Ereignissen. Es ist wohl kaum damit zu rechnen, dass Lukas Johannes kannte oder umgekehrt. Auch tauchen die Personen und Ereignisse oft in ganz verschiedenen Kontexten auf. So ist der wunderbare Fischfang im Lukasevangelium Teil der Berufung der ersten Jünger (Lk 5,4–9), während er im Johannesevangelium Teil einer Auferstehungserzählung ist ( Joh 21,5–11). Martha und Maria sind bei Lukas nicht die Schwestern des Lazarus wie in Joh 11,3. Bei Johannes wirkt Jesus eine Totenerweckung an Lazarus, und auch der arme Lazarus des Lukasevangeliums erlebt eine Auferstehung (Lk 16,19–31). Es ist daher wahrscheinlich, dass Lukas und Johannes auf mündliche Traditionen zurückgreifen konnten, die sich in unterschiedlichen Kontexten auch unterschiedlich entwickelt hatten. d. Zusammenfassung

Das Lukasevangelium ist das einzige der Evangelien, das beschreibt, wie es entstanden ist. Der Prolog legt dar, dass der Autor verschiedene Quellen benutzt und sie in eine Ordnung gebracht hat. Dabei bestimmt das Markusevangelium die Erzählfolge. Lukas verschmilzt seine Quellen selten miteinander, sondern er stellt verschiedene Traditionsblöcke nacheinander und teilweise verschachtelt in sein Evangelium. Höchstwahrscheinlich bediente sich der Autor weiterer Quellen, doch sie sind nicht mehr mit Sicherheit zu isolieren. 174

Diese Technik der Quellenverarbeitung weist auf den Prolog zurück. Das Evangelium spricht von einer genauen Untersuchung verschiedener Quellen und einer Ordnung. Dies lässt sich rekonstruieren : Die Ordnung des Lukasevangeliums orientiert sich an der Erzählfolge des Markusevangeliums. Nur in wenigen Fällen entscheidet Lukas, markinisches Material zu verschieben ; dies lässt sich aber durch den Hang zur Ordnung erklären. In diese erzählerische Sequenz des Markusevangeliums wird an passender Stelle Material eingebaut, dem andere Quellen zu Grunde liegen oder das der Evangelist selbst komponiert. Diese Vorgangsweise ermöglicht es dem Evangelisten, sehr viel Material zu verarbeiten und das umfangreichste Evangelium zu verfassen. In der theologischen Gewichtung der Quellen geht Lukas einen Weg, der den des Matthäus umkehrt. War bei Matthäus die judenchristliche Ausrichtung der Redequelle Q das Korrektiv für die heidenchristliche Prägung des Markusevangeliums, so gibt Lukas dem Markusevangelium Priorität. Die Sprüche der Redequelle werden in der Regel so überarbeitet, dass sie einem heidenchristlichen Anliegen entsprechen.

B. Die literarische Kunst des Lukasevangeliums Kaum eine neutestamentliche Schrift ist so unmittelbar attraktiv wie das lukanische Doppelwerk. Lukas weiß eine Geschichte zu spinnen und auch über mehrere Episoden spannend zu halten. Wie er beispielsweise in den ersten beiden Kapiteln die Geburten von Johannes dem Täufer und Jesus zwar parallel erzählt, aber auch in den Parallelen immer wieder die Besonderheit Jesu herausarbeiten kann, ist äußerst kunstvoll. Wie Lukas im Gleichnis vom barmherzigen Vater nicht nur die Liebe des Vaters gegenüber dem verlorenen Sohn zeichnet, sondern gleichzeitig auch mit der Einführung des 175

älteren Sohnes die Geschichte direkt als Herausforderung an die Leserinnen und Leser stellt, ist äußerst einprägsam. Lukas zeigt viel Humor, wenn er Jesus einen betrügerischen Verwalter loben lässt oder einen strengen und ungerechten Richter beschreibt, der doch vor den Schlägen einer armen Witwe Angst hat. Auch die Anlage des lukanischen Doppelwerkes insgesamt zeugt von hoher literarischer Kompetenz. Lukas hält die beiden Teile seines Werkes durch häufige und ausgedehnte Parallelen zusammen. Parallelen betreffen nicht nur Ereignisse, sondern auch die Charakterisierung von Personen. Jesus heilt einen Lahmen in Galiläa (Lk 5,17–26), Petrus heilt einen Lahmen beim Jerusalemer Tempel (Apg 3,1–11). Jesus erweckt den Sohn einer Witwe von den Toten (Lk 7,11–17), Paulus erweckt den jungen Eutychus in Troas (Apg 20,7–12). Jesus erweckt die Tochter des Jairus (Lk 8,40–56), Petrus erweckt die Witwe Tabita (Apg 9,36–43). Die Liste ließe sich erweitern. Lukas erweist sich also als Meister in der Anlage eines großen Werkes, wie er auch in kleinen Erzählungen Miniaturen von großer Erzählkunst schafft. Eine Lektüre des Lukasevangeliums kann der Lebenserzählung Jesu in ihrer lukanischen Ausformung folgen. Leserinnen und Leser müssen allerdings auch immer im Auge behalten, dass die Geschichte des Lukas nicht mit der Auferstehung und Himmelfahrt Jesu zu Ende ist, sondern sich in der Geschichte der frühen Gemeinden im Mittelmeerraum fortsetzt. Im Evangelium legt Lukas Spuren, die sich erst in der Apostelgeschichte in ihren Implikationen entfalten. a. Die Gliederung des Lukasevangeliums

Das Lukasevangelium lässt sich in acht Abschnitte einteilen. Nach dem Prolog mit der Widmung an Theophilus folgt die Kindheitsgeschichte. Sie enthält parallele Erzählungen von 176

I. Prolog (1,1–4) II. Kindheitsgeschichte (1,5–2,52) a. Ankündigungen des Engels : Johannes und Jesus (1,5–45) b. Besuch Marias bei Elisabeth (1,39–56) c. Geburt, Beschneidung, Namensgebung : Johannes und Jesus (1,57–2,40) d. Der zwölfjährige Jesus im Tempel (2,41–52) III. Vorbereitung des öffentlichen Wirkens Jesu (3,1–4,13) a. Predigt des Johannes b. Taufe Jesu, Genealogie, Versuchung IV. Wirken Jesu in Galiläa (4,14–9,50) a. Nazaret, Kafarnaum und Seeerzählungen (4,14–5,16) b. Reaktionen auf Jesus, Wahl der Zwölf, Feldrede (5,17–6,49) c. Wunder und Gleichnisse als Machtzeichen und Darstellungen der Identität Jesu ; Mission der Zwölf (7,1–9,6) d. Fragen um die Identität Jesu : Herodes, wunderbare Speisung, Petrusbekenntnis, zwei Ankündigungen von Passion und Auferstehung, Verklärung (9,7–50) V. Reise nach Jerusalem (9,51–19,27) a. Von der ersten bis zur zweiten Erwähnung Jerusalems (9,51– 13,21) b. Von der zweiten bis zur dritten Erwähnung Jerusalems (13,22– 17,10) c. Letzter Teil der Reise bis zur Ankunft (17,11–19,27) VI. Wirken in Jerusalem (19,28–21,38) a. Einzug und Wirken im Tempel (19,28–21,4) b. Endzeitrede (21,5–38) VII. Abendmahl, Passion, Tod und Begräbnis (22,1–23,56) a. Verschwörung gegen Jesus und Abendmahl (22,1–38) b. Gebet und Verhaftung in Getsemani, jüdischer und römischer Prozess (22,39–23,25) c. Kreuzigung und Begräbnis (23,26–56) VIII. Der Ostertag (24,1–53) a. Leeres Grab (24,1–12) b. Emmaus (24,13–35) c. Erscheinung in Jerusalem und Himmelfahrt (24,36–53) Abbildung 36 : Gliederung des Lukasevangeliums

Ankündigung und Geburt von Johannes dem Täufer und Jesus. Dabei werden die beiden Ankündigungen und die bei177

den Geburten durch den Besuch Marias bei Elisabeth als der Mutter des Johannes (Lk 1,39–56) nicht nur sauber getrennt, sondern literarisch auch miteinander verbunden. Ab Lk 2,41 verselbstständigt sich die Kindheitsgeschichte Jesu mit dem Besuch Jesu als Zwölfjährigem im Tempel. Zudem finden sich in der Kindheitsgeschichte auch mehrere Hymnen, die vielleicht einer uns nicht mehr bekannten liturgischen Praxis frühchristlicher Gemeinden entspringen. Sie werden nach ihren Eingangsworten in der lateinischen Übersetzung benannt. Noch heute sind sie fester Bestandteil des kirchlichen Stundengebets. Das Ave Maria ist der Gruß des Engels an Maria in der Verkündigungsszene (Lk 1,42–45). Das Magnificat (Lk 1,46–56) ist der Lobgesang Marias während ihres Besuchs bei Elisabeth. Das Benedictus (Lk 1,68–80) ist das Gebet des Zacharias, das er bei der Namensgebung des Johannes spricht. Das Gloria (Lk 2,14) ist der kurze Lobgesang der Engel auf den Hirtenfeldern von Bethlehem. Der alte Simeon schließlich betet im Tempel das Nunc dimittis (Lk 2,29–32) aus Dankbarkeit, dass er die Ankunft des Messias noch erleben durfte. Der dritte Teil dient der Vorbereitung des öffentlichen Wirkens Jesu durch das Auftreten des Täufers und die Taufe Jesu. An dieser Stelle fügt Lukas die Genealogie Jesu ein, die mit Jesus beginnt und auf Adam zurückgeführt wird, während Matthäus sein Evangelium mit der bei Abraham einsetzenden Genealogie beginnen lässt. Es folgt die Versuchung Jesu in der Wüste. Mit dem vierten Teil beginnt das öffentliche Wirken Jesu, das sich zunächst auf Galiläa beschränkt. Anders als Markus und Matthäus fängt Lukas nicht mit der Berufung von Jüngern an, sondern mit dem Auftreten Jesu in Nazaret, das mit einem Jesajazitat angereichert wird und programmatischen Charakter für die weitere Geschichte Jesu bekommt. Erste Reaktionen auf Jesu Botschaft sind die Feindseligkeiten der 178

Gegner, Streitgespräche, aber auch die Auswahl der Jünger und die Feldrede. Darüber hinaus charakterisieren Wunder und Gleichnisse Jesu Auftreten, aber auch das Petrusbekenntnis und zwei Ankündigungen von Leiden und Auferstehung. Der Teil schließt mit der Verklärung Jesu. Im fünften Teil beginnt die große Interpolation, die die Reise Jesu nach Jerusalem beschreibt, auch wenn die Reise selbst seltsam richtungslos erscheint. Tatsächlich tauchen wenig Ortsnamen auf. Samaria wird gelegentlich erwähnt. Anders als Markus und Matthäus berichtet Lukas nicht von einem Aufenthalt in heidnischem Gebiet wie der Region um Tyrus und Sidon oder der Dekapolis. Auch eine thematische Ordnung lässt sich in diesem Teil eher nicht erkennen. Lediglich die dreimalige Erwähnung Jerusalems als Ziel der Reise untergliedert diesen Teil. Der sechste Teil folgt wieder dem Markusevangelium. Jesus zieht feierlich in Jerusalem ein und hat dort viele Streitgespräche mit seinen Gegnern aus der jüdischen Führungselite, bevor die Endzeitrede das öffentliche Wirken Jesu beendet. Es folgen in einem siebten Teil Abendmahl, Passion, Tod und Begräbnis Jesu. Der letzte Teil erzählt vom leeren Grab, von den Emmausjüngern und schließlich von der Erscheinung des Auferstandenen in Jerusalem und der Himmelfahrt Jesu. Auffällig ist das Fehlen eines Epilogs, der dem Prolog entsprechen würde. Das Evangelium endet mit der Himmelfahrt Jesu, doch bildet diese keinen natürlichen Abschluss der Erzählung. Dazu kommt, dass der Auferstandene als letzte Instruktion an seine Jünger den Auftrag gibt, in der Stadt zu bleiben und auf die Kraft aus der Höhe zu warten (Lk 24,49). All dies lässt das Evangelium als eine Schrift erscheinen, deren Ende offen ist. Die Apostelgeschichte wird die Erzählung weiterführen. Theophilus taucht wieder auf (Apg 1,1), und auch die Him179

melfahrt wird erneut erzählt (Apg 1,4–14), doch mit einem anderen Akzent : Die Apostelgeschichte lenkt den Blick von der Erwartung der endzeitlichen Wiederherstellung Israels hin auf die Kraft, die den Jüngern geschenkt wird, wie auch auf die Aufgabe, Zeugnis für Jesus abzulegen bis an die Enden der Erde. Man kann diesen zweiten Bericht über die Himmelfahrt als ein Programm lesen : Die Aufgabe der Jünger wird sein, in den jüdischen Anfängen der Botschaft Jesu eine Theologie für die ganze Welt zu entdecken. b. Die Kunst des Erzählens im Lukasevangelium

1. Im Vergleich mit Markus und Matthäus pflegt Lukas eine gehobene Sprache und will den Ansprüchen einer gebildeten Leserschaft entsprechen. Theophilus dürfte ein Repräsentant dieses Bildungsbürgertums sein. Die Sprache des Lukas lehnt sich an die griechische Übersetzung der jüdischen Schriften, der Septuaginta, an und imitiert sie zuweilen sehr eng. Dies fällt besonders in der Kindheitsgeschichte auf. Ein Beispiel für solche gehobene Sprache ist die klare Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Rede, die bei Lukas sehr ausgeprägt ist. Oft redigiert Lukas die Quellen so, dass dort vorhandene direkte in indirekte Rede umgewandelt wird. Lediglich an entsprechend wichtigen Stellen bewahrt Lukas die direkte Rede der Quellen. Dies entspricht der Intention des Lukas, einen erzählenden Bericht zu verfassen, wie es der Prolog (Lk 1,1–4) darlegt. Der Prolog macht jedoch auch deutlich, dass Lukas sich nicht nur an die sprachliche Tradition der jüdischen Schriften anlehnt, sondern auch in hellenistischer Literatur Vorbilder sucht. Lukas reiht sich mit seinem Prolog in die griechisch-römische Geschichtsschreibung ein. 2. Der Prolog ist antiken Einleitungen zu Geschichtswerken sehr ähnlich, indem er Augenzeugen und Quellen erwähnt, die Lukas verwenden konnte. Griechische und römische Ge180

Da der zwischen den Juden und Römern ausgefochtene Krieg ... von dem einen Teil der Geschichtsschreiber nur zu einem Gegenstand der Schönrednerei gemacht wird, ... während die Augenzeugen ... der Wahrheit geradezu absichtlich ins Angesicht schlagen, ... so habe ich, Josefus, Sohn des Matthias, ... nachdem ich persönlich beim Beginn des Krieges den Römern gegenübergestanden, dem späteren Verlaufe aber wenigstens als Zuschauer wider Willen nahegestanden bin, mir vorgenommen, den Bewohnern des Römischen Reiches in griechischer Überarbeitung dasselbe Geschichtswerk zu bieten, das ich früher für die Barbaren im oberen Asien in meiner Muttersprache abgefasst und herausgegeben habe. Abbildung 37 : Josefus, Prolog zum „Jüdischen Krieg“

schichtswerke und auch thematische Traktate zu verschiedenen Themen beginnen oft mit einem ähnlichen Prolog. Der Geschichtsschreiber und Zeitgenosse des Lukas, Flavius Josefus, beginnt seine „Geschichte des Jüdischen Kriegs“ und auch seine Apologie „Gegen Apion“ auf ganz ähnliche Weise. Allerdings ist der lukanische Prolog weit weniger abfällig gegenüber Quellen oder Augenzeugen als der des Josefus. Die Verwendung eines solchen Prologs zeigt Lukas als einen in hellenistischer Kultur verwurzelten Autor. Die Nähe des Prologs zu antiken Geschichtswerken und auch die kunstfertige Ausarbeitung lassen darauf schließen, dass Lukas sein Evangelium als Teil eines christlichen Geschichtswerkes sah, das auch die Apostelgeschichte mit einschließt. Doch macht der Prolog auch deutlich, dass Lukas mehr möchte als eine Historie verfassen. Das Geschichtswerk steht im Dienst der Verkündigung. Dem Widmungsträger Theophilus wird versichert, dass der lukanische Bericht seinen schon vorher empfangenen Glauben als zuverlässig erweist. Der Zweck des Doppelwerks ist also apologetisch, indem es die Überzeugungskraft des Arguments aufzeigt. In dieser Absicht trifft sich der lukanische Prolog mit dem des Josefus zu seinem „Jüdischen Krieg“. 181

3. Auch der Hang des Lukasevangeliums zu kunstvollen sprachlichen Archaisierungen deutet auf einen Autor in der Tradition hellenistischer Ideale hin. Apologetischer Literatur der Antike liegt sehr häufig der Anspruch auf einen sehr alten Ursprung zugrunde. Lukas betont den Ursprung der Jesusgeschichte in alten Traditionen, indem er auch die Sprache der alten Vorbilder nachahmt. Diese Nachahmungen nennt man Archaisierung. Das lukanische Doppelwerk erhebt so den Anspruch auf einen uralten Beginn der von ihm beschriebenen Geschichte Jesu und seiner Jünger in einem Appell an die griechische Version der jüdischen Schriften. Daher rührt auch die Anlehnung an die Sprache der Septuaginta im Evangelium. Tatsächlich ist Lukas künstlerisch so begabt, dass das Griechische im Verlauf des Doppelwerks immer weniger „biblisch“ und immer mehr hellenistisch wird, je weiter die frohe Botschaft ihren Weg in die heidnische Welt macht. Doch Lukas archaisiert auch auf inhaltlicher Ebene. So werden manche Szenen des Evangeliums nach Geschichten aus der Schrift modelliert. Die Verkündigungsszene (Lk 1,28–38) baut auf ähnlichen Szenen in den jüdischen Schriften auf (vgl. Ri 13,2–7) und unterfüttert sie mit einer Reihe weiterer Anspielungen. So ist der Engelsgruß ein Echo von Zeph 3,14 und möglicherweise auch Sach 2,14. Das Magnificat nimmt Themen und Formulierungen des Gesangs der Hanna in 1 Sam 2,1–10 auf. Die Stimme vom Himmel, die bei der Verklärung Jesus als den identifiziert, auf den die Jünger hören sollen, nimmt die Prophezeiung des Mose aus Dtn 18,15 auf. Besondere Aufmerksamkeit schenkt Lukas auch dem Zyklus von Erzählungen um Elija und Elischa. Schon in der programmatischen Perikope in der Synagoge von Nazaret (Lk 4,16–30) werden Elija und Elischa erwähnt. In kleinen Vignetten kann Lukas diesen Zyklus verwenden. Wenn Jakobus und Johannes Feuer auf widerspenstige Städte herab182

rufen wollen (Lk 9,54), ruft dies 2 Kön 1,9–16 in Erinnerung. Wenn ein möglicher Jünger zuerst von seiner Familie Abschied nehmen möchte (Lk 9,61), legt sich ein Vergleich mit der Berufung Elischas nahe (1 Kön 19,20). Aber auch größere Erzählungen stellen Verbindungen zum Elija-Elischa-Zyklus her. Die Heilung des Knechts des Hauptmanns von Kafarnaum (Lk 7,1–16) zeigt Verbindungen mit der Heilung des Syrers Naaman durch Elischa (2 Kön 5,1–14). Die Erweckung des Sohnes der Witwe von Nain (7,11–17) erinnert an die Erweckung des Sohnes der Witwe von Sarepta durch Elija (1 Kön 17,17–24). Am augenfälligsten wird die Verbindung zu Elija und Elischa in der Erzählung von der Verheißung der Geistgabe, der Himmelfahrt Jesu und dem Pfingstfest. Auch Elija fährt in den Himmel auf und hinterlässt Elischa seinen Geist (2 Kön 2,1–14). Die wiederkehrende Bitte Elischas, Elija möge bleiben, erfüllt sich in der lukanischen Erzählung durch den Geist, der beginnend mit dem Pfingstfest die Gegenwart des Auferstandenen in seinen Gemeinden sicherstellt. Vielleicht noch wichtiger als der Elija-Elischa-Zyklus ist die Aufnahme einer Mose-Typologie. Die Strategie des Lukas wird in der Rede des Stephanus vor dem Hohen Rat deutlich. Ein großer Teil der Rede (Apg 7,17–44) ist der Mosegeschichte gewidmet. Die jüdische Vorlage wird allerdings so abgewandelt, dass sie auf Jesus und seine Jünger passt. Mose wird gesandt, um Israel zu erlösen. Das Volk jedoch lehnt ihn ab, Mose muss ins Exil gehen. Dort hat er eine Gottesbegegnung und wird zum zweiten Mal gesandt, um Israel unter großen Zeichen und Wundern aus Ägypten zu führen. Doch wiederum lehnt das Volk Mose schließlich ab. Von diesem Mose heißt es, dass Gott einen Propheten wie ihn aufrichten wird (Apg 7,37). Für Lukas ist dies das Modell, nach dem er die Geschichte Jesu im Evangelium und seiner Jünger in der Apostelge183

schichte ausrichtet. Dieses Verständnis von Mose ist die Grundlage für die Aussage, dass ein Prophet leiden muss, bevor er in die Herrlichkeit eingeht. Daher beginnt der Schriftbeweis für dieses Schicksal Jesu mit dem Verweis auf Mose, die Propheten und das Gesetz (Lk 13,33–34 ; 24,25–27.44–46). Tatsächlich hat Gott in Jesus nicht nur einen Propheten wie Mose gesandt, er hat ihn auch im wörtlichen Sinne in der Auferstehung und Himmelfahrt aufgerichtet. Gleichzeitig dient diese Interpretation der Mosegeschichte auch dazu, die Kontinuität zwischen Jesus als dem zurückgewiesenen Mose und der Verkündigung in der Apostelgeschichte als dem zweiten Kommen des Mose herzustellen. 4. Wie das Evangelium durch die Archaisierungen zurückblickt auf die jüdischen Schriften, so blickt es mit prophetischem Charakter auch immer wieder voraus auf die Apostelgeschichte. Lukas konstruiert weitreichende Parallelen zwischen Jesus und den Hauptfiguren der Apostelgeschichte bis hin zu wörtlichen Übereinstimmungen von Formulierungen. Der Prozess Jesu vor Pilatus findet eine Parallele im Prozess des Stephanus vor dem Hohen Rat. Auch die Verhaftung des Paulus und seine Verhandlungen vor dem Prokurator Festus und dem Tetrarchen Herodes Agrippa sind parallel zum Prozess Jesu konstruiert. Doch darüber hinaus gibt es noch viele kleinere Entsprechungen zwischen dem Evangelium und der Apostelgeschichte. Lukas erreicht damit, dass die Geschichte Jesu zum Muster für die Jünger Jesu in der Apostelgeschichte wird. Jesus wird von den Jüngern nachgeahmt in ihren Taten wie auch in dem, was ihnen widerfährt. Damit stellt Lukas eine Kontinuität zwischen dem irdischen Wirken Jesu und der Ausbreitung der Lehre durch seine Jünger her. Dies hat weitreichende Konsequenzen. Die Mission Jesu unter den Juden setzt sich fort in der Mission der Jünger Jesu unter den Heiden. Die heidenchristlichen Kirchen haben ihren Ursprung im Wirken Jesu. Zusammen mit den Archaisierun184

Lukasevangelium

Apostelgeschichte

Widmung an Theophilus (1,1–4) Geist kommt auf Jesus im Gebet (3,21–22) Predigt Jesu : Prophezeiung erfüllt (4,16–27) Jesus heilt einen Lahmen (5,17– 26) Religiöse Führer greifen Jesus an (5,29–6,11) Hauptmann lädt Jesus in sein Haus ein (7,1–10) Jesus erweckt Sohn der Witwe vom Tod (7,11–17) Jesus erweckt Tochter des Jairus vom Tod (8,40–56) Jesus in Samaria (9,51–19,28) Jesus reist nach Jerusalem (9,51–19,28) Jesus wird gut aufgenommen (19,37) Jesus respektiert den Tempel (19,45–48) Sadduzäer gegen, Schriftgelehrte für Jesus (20,27–39) Jesus bricht Brot und dankt (22,19) Zornige Menge ergreift Jesus (22,54) Diener des Hohepriesters schlägt Jesus (22,63–64) Jesus wird vier Mal verhört und drei Mal für unschuldig erklärt (22,66–23,23) Jesus wird von den Juden abgelehnt (23,18) Hauptmann hat Sympathie für Jesus (23,47) Endgültige Bestätigung der Schrifterfüllung (24,45–47)

Widmung an Theophilus (1,1) Geist kommt auf Jünger im Gebet (2,1–13) Predigt des Petrus : Prophezeiung erfüllt (2,14–40) Petrus heilt einen Lahmen (3,1– 10) Religiöse Führer greifen Apostel an (4,1–8,3) Hauptmann lädt Petrus in sein Haus ein (10,1–23) Paulus erweckt den jungen Eutychus (20,7–12) Petrus erweckt die Witwe Tabita vom Tod (9,36–43) Philippus in Samaria (8,4–25) Paulus reist nach Jerusalem (19,21–21,17) Paulus wird gut aufgenommen (21,17–20) Paulus respektiert den Tempel (21,26) Sadduzäer gegen, Pharisäer für Paulus (23,6–9) Paulus bricht Brot und dankt (20,7–12 ; 20,37) Zornige Menge ergreift Paulus (21,30) Hohepriester befiehlt, Paulus zu schlagen (23,2) Paulus wird vier Mal verhört und drei Mal für unschuldig erklärt (23,1–26,36) Paulus wird von den Juden abgelehnt (21,36) Hauptmann hat Sympathie für Paulus (27,43) Endgültige Bestätigung der Schrifterfüllung (28,23–28)

Abbildung 38 : Parallelen zwischen Evangelium und Apostelgeschichte in Auswahl 185

gen und Typologien kann Lukas in seiner literarischen Anlage zeigen, dass die heidenchristlichen Kirchen in der Tradition der Verheißungen Israels stehen. Jesus ist derjenige, der diese Verbindung schafft. 5. Auch innerhalb des Evangeliums gibt es viele Parallelen. Sie können sich auf eher kleinen Textebenen befinden, wie beispielsweise in der Predigt von Nazaret die Parallele zwischen der Witwe von Sarepta, an der Elija ein Wunder vollbringt, und dem Syrer Naaman, der von Elischa geheilt wird (Lk 4,25–27). Hier wird ein besonderes Merkmal lukanischer Parallelen schon deutlich : Lukas stellt gerne den männlichen Figuren seiner Erzählung weibliche Figuren an die Seite oder auch umgekehrt. Augenfällig wird dies in der Kindheitsgeschichte, wo die Geschichte des Zacharias, des Vaters von Johannes, in der Geschichte Marias, der Mutter Jesu, ein Komplement findet. Auch dem guten Hirten, der ein Schaf von • Engel besucht Zacharias (1,5–25) – Engel besucht Maria (1,26–38) • Hymnus des Zacharias (1,67–79) – Hymnus der Maria (1,46–56) • Prophezeiung des Simeon (2,25–35) – Prophezeiung der Hanna (2,36–38) • Syrer Naaman (4,27) – Witwe von Sarepta (4,25–26) • Dämon in Mann „zurechtgewiesen“ (4,31–37) – Fieber in Frau „zurechtgewiesen“ (4,38) • Vergebung für verzweifelten Mann (5,19–26) – Vergebung für verzweifelte Frau (7,35–50) • Liste männlicher Jünger (6,12–16) – Liste weiblicher Jüngerinnen (8,1–3) • Sklave eines Mannes vor dem Tod gerettet (7,1–10) – Sohn einer Frau vor dem Tod gerettet (7,11–17) • Männer von Ninive (11,32) – Königin des Südens (11,31) • Mann mit Senfkorn (13,18–19) – Frau mit Sauerteig (13,20–21) • Mann am Sabbat geheilt (14,1–4) – Frau am Sabbat geheilt (13,10–17) • Mann verliert Schaf (15,4–7) – Frau verliert Münze (15,8–10) • zwei Männer im Schlaf (17,34) – zwei Frauen an der Mühle (17,35) Abbildung 39 : Frauen und Männer bei Lukas 186

hundert verliert, wird eine Frau an die Seite gestellt. Sie verliert eine Münze und findet sie wieder (Lk 15,1–10). Die L ­ iste der Namen der Apostel (Lk 6,12–16) findet einen Gegenpart in der namentlichen Erwähnung von Frauen (Lk 8,1–3), die Jesus nicht nur auf dem Weg folgen, sondern ihn auch finanziell unterstützen. Man hat viel spekuliert, warum Lukas ein solches Interesse an diesem Muster hat. Sicher ist er unter den Synoptikern derjenige, der Frauen am stärksten in seine Erzählung integriert. Wahrscheinlich kannte Lukas Traditionen um die Rolle von Frauen im Gefolge Jesu, doch die systematische Integration von Frauenfiguren deutet wohl auch darauf hin, dass Lukas hier einem Anspruch von Inklusivität Ausdruck verleiht, den er auf anderen Ebenen ebenfalls stellt. Das augenfälligste Beispiel ist die Botschaft Jesu, die zunächst für Juden ausgesprochen wird und schließlich in der Apostelgeschichte zu einer Einladung auch an die Heiden wird, wie es auch Simeon in Lk 2,32 schon andeutet. 6. Der Inklusivitätsanspruch der Botschaft Jesu tritt auch in einer besonderen Hinwendung zu Armen und Unterdrückten hervor. Der Anspruch Jesu, eine Botschaft für die gesamte Menschheit zu verkünden, findet einen ersten Ausdruck in der Rückführung der Genealogie auf Adam als den ersten Menschen (Lk 3,38). Daher widerspricht Jesus auch einer Eingrenzung der Sorge Gottes auf eine bestimmte Gruppe (Lk 4,24–27). Die Botschaft Jesu ist Hoffnung für alle Menschen (Lk 2,32 ; 24,47). Sie wird sinnfällig in Jesu Hinwendung zu Samaritern (Lk 9,51–56 ; 10,29–37 ; 17,11–19) oder Zöllnern (Lk 15,1–2 ; 18,9–14 ; 19,1–10 ; siehe auch 5,27–32 ; 7,34). Die besondere Aufmerksamkeit des Evangeliums allerdings gilt den Armen. In seiner ersten Predigt sieht es Jesus als seine Aufgabe, den Armen die frohe Botschaft zu bringen und Freiheit den Unterdrückten (Lk 4,18). Armut ist das Ergebnis von 187

Ungerechtigkeit und deshalb erhalten die Armen gute Gaben von Gott, während die Reichen leer ausgehen (Lk 1,53). Die Armen sind selig (Lk 6,20–21), während die Reichen dem Untergang geweiht sind (Lk 6,24–25). In Gleichnissen werden Reiche als Dummköpfe beschrieben (Lk 12,16–21), denen ewige Verdammnis droht, während die Armen in Abrahams Schoß getröstet werden (Lk 16,19–31). Jünger Jesu müssen sich materieller Güter entledigen (Lk 12,33 ; 14,33 ; 18,22) und den Armen helfen (Lk 3,11 ; 14,13 ; 18,22 ; 19,8). Im kommenden Leben werden die Armen die Gesegneten sein (Lk 6,20 ; 14,21 ; 16,22). Für Lukas ist dies eine Umkehr bestehender Verhältnisse, die im Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus sinnfällig wird (Lk 16,19–31). Das Gleichnis verknüpft diese Umkehr mit der Botschaft Jesu durch den abschließenden Hinweis auf die Auferstehung. Diese Sorge um die Armen hat Vorbilder in der jüdischen Tradition der prophetischen Literatur, die immer wieder soziale Missstände anklagt und deren Beseitigung als den Willen Gottes einmahnt. Ein besonders drastisches Beispiel für diese Tradition findet sich in Amos 4,1–2 : „Hört dieses Wort, ihr Baschankühe auf dem Berg von Samaria, die ihr die Schwachen unterdrückt und die Armen zermalmt und zu euren Männern sagt : Schafft Wein herbei, wir wollen trinken. Bei seiner Heiligkeit hat Gott, der Herr, geschworen : Seht, Tage kommen über euch, da holt man euch mit Fleischerhaken weg, und was dann noch von euch übrig ist, mit Angelhaken.“ 7. Im Lukasevangelium werden insgesamt 19 Mähler geschildert, von denen 13 dem Eigenmaterial entstammen. Jesus ist häufiger Gast bei Mählern (Lk 5,29 ; 7,36 ; 14,1 ; 22,14 ; 24,30) und wird als Fresser und Säufer verspottet (Lk 7,34). Zudem isst er mit Sündern und Zöllnern (Lk 5,30 ; 15,1–2). In der Antike werden Gastmähler oft mit Freude und Feiern in Verbindung gebracht, im Lukasevangelium sind sie auch Gele188

genheiten für Jesus, zu heilen (Lk 14,1–6), Gastfreundschaft (Lk 10,5–7) und Gemeinschaft (Lk 13,29) zu pflegen. Bei Mählern ist Vergebung möglich (Lk 7,36–50), prophetische Lehre (Lk 11,37–54) und Versöhnung (Lk 15,23 ; 24,30–35). Mahlzeiten werden auch zu Symbolen von Gottes Segen, wenn Diener ihren Lohn erhalten und am Tisch des Herrn sitzen dürfen (Lk 12,35–37). Die Herrschaft Gottes gleicht einem Festmahl (Lk 13,29 ; 14,15–24), und auch beim letzten Abendmahl spricht Jesus vom Segen der Herrschaft Gottes in Form eines Mahles (Lk 22,28–30). In der frühen Kirche trafen sich die Christen oft für gemeinsame Mähler ­ (vgl. Apg 2,42.44). Möglicherweise versucht Lukas hier, eine Kontinuität zwischen gemeindlichen Gewohnheiten und der Praxis Jesu herzustellen. 8. Das Lukasevangelium arbeitet sehr stark mit Summarien. Solche zusammenfassenden Passagen finden sich auch bei Markus (Mk 1,39 ; 3,7–12), die Lukas übernimmt und zu denen er seine eigenen Zusammenfassungen hinzufügt (Lk 1,80 ; 2,52 ; 4,14–15 ; 7,21–22 ; 8,1–3 ; 13,22 ; 19,47 ; 21,37). Die Summarien knüpfen an konkrete Erzählungen an und geben den Leserinnen und Lesern den Eindruck einer sich häufig wiederholenden und gewohnheitsmäßigen Aktivität Jesu. Gleichzeitig gliedern sie das Evangelium durch Unterbrechungen und erzählerische „Ruhepausen“. c. Zusammenfassung

Das Lukasevangelium ist in seiner literarischen Anlage nicht ohne Verweis auf die Apostelgeschichte als zweiten Teil zu beurteilen. Das Evangelium ist in vielen Details eine Vorbereitung auf die Fortsetzung der Geschichte Jesu in der Geschichte seiner Zeuginnen und Zeugen. So ist beispielsweise der Inklusivitätsanspruch, der sich in der Hinwendung zu Armen und Marginalisierten äußert und der sich oft auch in den Mählern des Evangeliums konzentriert, durchaus auch eine 189

Vorwegnahme der kritischen Fragen der Apostelgeschichte über die Gemeinschaft zwischen Juden- und Heidenchristen, die sich ja ebenfalls an Mahlgemeinschaften zuspitzt. Mit solchen, das gesamte Doppelwerk überspannenden Bögen stellt Lukas die Kontinuität zwischen dem Wirken Jesu in Galiläa, Samaria und Judäa und dem Wirken der Jünger in der heidnischen Welt bis hin nach Rom dar. • gehobener sprachlicher Stil • Nähe zu antiken Geschichtswerken • Archaisierungen • Vorausschau auf Apostelgeschichte • Parallelismen • Sorge um Arme und Unterdrückte • Gastmähler • Summarien Abbildung 40 : Literarische Merkmale bei Lukas

Insofern erhält das Lukasevangelium einen prophetischen Charakter, der zunächst einmal auf die Apostelgeschichte verweist. Die Motive von Inklusivität und besonders der Sorge um die Armen und Unterdrückten unterstützen den prophetischen Charakter durch Schrifttraditionen. Aber darüber hinaus ist die offene Erzählweise des Evangeliums immer auch eine Einladung an die Leserinnen und Leser, selbst eine Erfüllung und Weiterführung der Jesusgeschichte des Evangeliums zu suchen. Genau hier liegt auch die Attraktivität des Evangeliums heute. Diese Offenheit des Evangeliums findet sich prägnant am Ende des Gleichnisses vom barmherzigen Vater. Nachdem der jüngere Sohn zum Fest geladen ist und die Gemeinschaft feiert, wird der ältere Sohn ärgerlich. Das Gleichnis endet mit dem Vater, der den älteren Sohn einlädt mit den Worten „Feiern muss man jetzt und sich freuen, denn dieser dein Bruder war tot und ist lebendig geworden, war 190

verloren und ist gefunden worden“ (Lk 15,32). Ob der ältere Sohn die Einladung annimmt, entscheidet allerdings die Vorstellungskraft der Leserinnen und Leser.

C. Die theologische Kunst des Lukasevangeliums Die lukanische Theologie kann an den Eigenheiten der literarischen Präsentation festgemacht werden. Das Doppelwerk enthält eine theologische Verkündigung, die nicht nur von Jesus selbst in Galiläa, Samaria und Jerusalem präsentiert wird, sondern in der Apostelgeschichte auch von den Jüngern, die Jesus nachfolgen, in Jerusalem, Samaria, Kleinasien und schließlich Europa. Darüber hinaus versteht sich auch das Doppelwerk selbst als eine Verkündigung, die die sichere Wahrheit der Tradition erhellen will (Lk 1,1–4). Die literarischen Besonderheiten des Evangeliums und der Apostelgeschichte zielen also schon auf theologische Aussagen ab. Dies wird auch in der geographischen Verortung und historischen Perspektive des Evangeliums sichtbar. Damit entwickelt Lukas allerdings auch eine eigene Sichtweise auf die Figur Jesu. Jesus steht unter dem Einfluss des Heiligen Geistes, der dann besonders in der Apostelgeschichte eine Hauptrolle einnimmt. Schließlich spielt auch eine gegenüber dem Markus­ evangelium stark veränderte Eschatologie eine Rolle in der Beschreibung der Theologie des Lukasevangeliums. a. Die Verkündigung Jesu

In Lk 4,43 spricht Jesus davon, dass er auch in anderen Städten das Evangelium von der Herrschaft Gottes verkündigen muss. Der auf Mk 1,38 zurückgehende Text setzt eigene Akzente : Jesus „muss“ dies tun, „denn dafür wurde ich gesandt“. Die zentrale Aufgabe Jesu ist also seine Verpflichtung auf das Verkündigen der Herrschaft Gottes. Lukas sieht diese Auf191

gabe als Aktivität, er drückt dies fast immer in Verben aus, die variieren können. Dazu gehört das Wort euaggelizein, verwandt mit euaggelion, und bedeutet „die frohe Botschaft verkünden“. Aber auch „lehren“ oder „verkündigen“ tauchen immer wieder auf. Letztendlich sind auch die Wunder Teil der Verkündigung Jesu. Sie wird zu Beginn des Evangeliums auch inhaltlich gefasst. Die an Mk 6,1–6 angelehnte Nazaret-Erzählung (Lk 4,16–30) ist fast völlig eine lukanische Komposition, die äußerst kunstvoll aufgebaut ist. Sie enthält die erste öffentliche Verkündigung Jesu, noch vor der Berufung der ersten Jünger und direkt nach dem Bestehen der Versuchung durch Satan. Der erste Teil beginnt mit der Lesung einer kunstvoll gerahmten Schriftstelle, eines Mischzitats aus Jesaja : Jesus steht auf, ein Buch wird gereicht, er rollt das Buch auf, er liest das Zitat, rollt das Buch zu, gibt es zurück und setzt sich. Der erste Teil des Berichts schließt mit der Feststellung, dass alle Augen auf Jesus gerichtet sind. Jesus konstatiert, dass das Schriftwort „heute“ in der Gegenwart der Nazarener erfüllt ist (Lk 4,21). Der zweite Teil der Erzählung schildert die zunächst ungläubige Reaktion der Nazarener, die in Ablehnung umschlägt, als Jesus sie mit dem Hinweis auf die Wunder Elijas und Elischas herausfordert. Die Nazarener versuchen schließlich sogar, Jesus zu töten. Jesus aber schreitet durch ihre Mitte hindurch und geht weg (Lk 4,30). Die Szene gewinnt durch ihre Stellung am Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu und durch ihre kunstvolle literarische Ausgestaltung programmatischen Charakter. Die Rahmung des Jesajazitats macht auf die Bedeutung dieses Zitats aufmerksam, die geballte Aufmerksamkeit der Nazarener lenkt den Blick auf die Interpretation des Zitats durch Jesus. Die Ablehnung der Nazarener nimmt Tod und Auferstehung Jesu vorweg. 192

Lk 4,18–19 : Der Geist des Herrn ist auf mir, denn er hat mich gesalbt. Das Evangelium Armen zu verkünden hat er mich gesandt, zu verkünden Gefangenen Freilassung und Blinden Wiederherstellung des Sehens, zu senden Zerschlagene in Freilassung zu verkünden einen dem Herrn wohlgefälligen Zeitraum Abbildung 41 : Das programmatische Jesajazitat

Das Jesajazitat stellt die Verkündigung Jesu in einen prophetischen Zusammenhang, in dem der Geist Gottes auf Jesus liegt. Daher nimmt Jesus auch den Prophetentitel für sich in Anspruch (Lk 4,24). Der prophetische Geist wird sichtbar, indem Jesus das Evangelium den Armen, Gefangenen, Blinden und Zerschlagenen verkündet. Tatsächlich ist die besondere Sorge um die Armen eine der großen prophetischen Traditionen in den jüdischen Schriften. Mit dieser Verkündigung wird ein Zeitraum eingeläutet, der Gott gefällig ist. Es deutet sich schon an, dass Lukas das prophetische Auftreten Jesu als eine Zeitenwende betrachtet. Im weiteren Verlauf des Evangeliums wird Lukas zeigen, wie Jesus diese Prophezeiung durch Heilungen, Dämonenaustreibungen und seine Lehre einlöst. Doch Lukas geht noch einen Schritt über die prophetische Tradition hinaus, indem er Jesus als Interpretation hinzufügen lässt : „Heute sind die Schriften vor euren Ohren erfüllt“ (Lk 4,21). Lukas schaut auf die jüdischen Verheißungen und sieht sie in der Begegnung mit Jesus erfüllt, weil auf Jesus der Geist Gottes ruht. Tatsächlich ist Jesus ja vom Geist empfangen (Lk 1,35) und gesalbt mit dem Heiligen Geist (Lk 3,22). Durch Jesus wird der Geist auch anderen zugänglich. Elisabeth und auch Zacharias (Lk 1,41.67) spüren den Geist, und 193

Gott gibt den Geist allen, die ihn darum bitten (Lk 11,13). Schließlich verheißt Jesus seinen Jüngern die Kraft aus der Höhe (Lk 24,49), die sich am Pfingstfest als die Gabe des Geistes herausstellt. Der Geist Gottes wirkt auf Jesus und andere Menschen des Evangeliums. Doch steht dieser Geist auch mit Jesus in Verbindung. Lukas stellt dies in der Figur des alten Simeon dar, der vom Geist die Verheißung bekam, er werde den Messias sehen. Dann wird er wiederum vom Geist in den Tempel geführt, wo er das Jesuskind in die Arme nehmen und Gott loben kann (Lk 1,25–28). Ganz ähnlich wie in der Nazaret-Erzählung kommen der Geist und die Erfüllung von Verheißungen in der Person Jesu zusammen. Lukas kondensiert dieses Verständnis der Verkündigung Jesu in dem kleinen Wort „heute“. Die Erfüllung ist nicht eine zukünftige, sondern mit Jesus ist Gottes Plan schon Realität geworden. Tatsächlich benutzt Lukas dieses Wort immer wieder, um auf die Erfüllung von Verheißung und die Gegenwart von Erlösung hinzuweisen. Das gilt für die Hirten auf den Feldern um Bethlehem, denen der Erlöser heute geboren ist, wie auch für Zachäus, in dessen Haus mit Jesus auch Erlösung einkehrt. Selbst der Dieb, der mit Jesus gekreuzigt ist, kommt heute in das Paradies. Lukas beschreibt Heil und Erlösung als konkret und gegenwärtig. Maria erfährt Erlösung von Gott, weil sie glaubt. Ihre Erlösung wird in einer Seligpreisung formuliert (Lk 1,45–48). Israel erfährt Erlösung als Gottes Ret• • • • • •

heute ist der Erlöser geboren (1,21) heute ist die Schrift erfüllt (4,21) heute haben wir wunderbare Dinge gesehen (5,26) heute muss ich in deinem Haus bleiben (19,5) heute ist in diesem Haus Erlösung geworden (19,9) heute wirst du mit mir im Paradies sein (23,43)

Abbildung 42 : „Heute“ im Lukasevangelium 194

tung vor Feinden (Lk 1,69–71). Johannes der Täufer bringt zunächst dem Gottesvolk Erlösung durch die Vergebung der Sünden (Lk 1,77) und dehnt dies dann auf alle Menschen aus (Lk 3,6). Die Hirten erfahren Erlösung im Frieden Gottes (Lk 2,11–14). Ein Wort Jesu bringt Erlösung als Heilung von Krankheit (Lk 6,9 ; 8,48 ; 17,19 ; 18,42), als Sündenvergebung (Lk 7,50), als Befreiung von Dämonen (Lk 8,36), als Erweckung von den Toten (Lk 8,50). Erlösung kann auch generell als Eintritt in die Herrschaft Gottes gedeutet werden (Lk 18,26) oder als Ergebnis von Umkehr (Lk 19,9–10). Gelegentlich erwähnt Lukas Glauben als Auslöser für Erlösung (Lk 7,50 ; 8,12 ; 8,48.50 ; 17,19 ; 18,42). Auch ist Erlösung nicht notwendig an Jesus gebunden. Gottes Heil kann auch durch Johannes den Täufer vermittelt werden. Wiederum bereitet Lukas so vor, was in der Apostelgeschichte selbstverständlich wird : Gottes Heil wird von den Zeuginnen und Zeugen Jesu angeboten. Sowohl der Geist als auch Erlösung sind also nicht so an die Person Jesu geknüpft, dass sie nur durch ihn erhältlich wären. Allerdings stellt Lukas auch klar, dass das Heute des Festes und der Erlösung mit der Ankunft Jesu zusammenhängen. Im Ausrufen der Gott wohlgefälligen Zeit (Lk 4,19) verkündet der lukanische Jesus einen neuen Abschnitt der Heilsgeschichte, der mit seiner Geburt aus dem Geist beginnt. Mit dieser Betonung der Gegenwärtigkeit von Heil und Erlösung nimmt das Lukasevangelium der endgültigen eschatologischen Erfüllung ihre Dringlichkeit. Das Leben in der Nachfolge Jesu ist nun nicht nur eine Vorbereitung auf ein letztes Gericht, wie es bei Matthäus so stark betont wird. Nachfolge Jesu bedeutet, schon in diesem Leben Erfüllung und Heil zu erfahren. Daher gibt es auch Grund zur Freude. Der noch ungeborene Johannes hüpft vor Freude im Leib Elisabeths bei der Begegnung mit dem noch ungeborenen Jesus (Lk 1,44), und der Engel verkündet den Hirten auf dem Feld 195

eine große Freude (Lk 2,10). Zachäus nimmt Jesus mit Freude auf (Lk 19,6), und die Elf und die bei ihnen haben große Freude an der Begegnung mit dem Auferstandenen (Lk 24,41.52). Diese Freude beruht auf Gegenseitigkeit : Auch im Himmel freut man sich über diejenigen, die verloren sind und gefunden werden (Lk 15,5), und die Sünder, die Buße tun und umkehren (Lk 15,7). Diese Freude ist gegenwärtig und nicht auf eine zukünftige Erfüllung gerichtet. Lukas verabschiedet sich von einer Naherwartung der Wiederkunft Christi und dem jüngsten Gericht. Besonders deutlich wird dies in der Apostelgeschichte, in der die Jünger die Verkündigung Jesu weiterführen. Doch sind Ansätze dazu auch schon im Evangelium deutlich. Lukas übernimmt die eingeschränkte Aussendung der Jünger in Mk 6,7–13, weitet sie jedoch enorm aus. Im Lukasevangelium bekommen die Zwölf den Auftrag, „die Herrschaft Gottes“ zu verkündigen (Lk 9,1–6). Dann fügt Lukas eine zweite Aussendung ein (Lk 10,1–16), die diesmal 70 Jünger betrifft. Ihre Botschaft ist die Ankunft der Herrschaft Gottes (Lk 10,11), und die Dringlichkeit dieser Botschaft spiegelt sich in der mangelnden Ausstattung und dem Verzicht auf Höflichkeitsformeln wie Grüße (Lk 10,4). Die Aussendung wird noch einmal wiederholt in Lk 24,47, diesmal als Mission an alle Völker. Die Apostelgeschichte berichtet, wie diese Aussendung Wirklichkeit wird. Damit stellt Lukas eine Kontinuität in der Verkündigung Jesu und seiner Apostel her. Der Inhalt der Verkündigung Jesu und seiner Jünger hat die Herrschaft Gottes zum Hauptinhalt. Darin unterscheidet sich Lukas nicht von den anderen synoptischen Evangelien. Die Verkündigung der Gottesherrschaft geschieht wie bei Markus und Matthäus stark über Gleichnisse, die von der unmittelbar bevorstehenden Ankunft der Herrschaft sprechen. Ähnlich ermahnt Jesus auch, dass Menschen doch die nahe Ankunft realisieren sollen (Lk 21,31). Doch setzt Lukas einen 196

eigenen Akzent, indem er nicht nur die Nähe der Herrschaft verkündet, sondern in Jesus auch schon ihre Gegenwart gekommen sieht. So sagt der lukanische Jesus : „Die Herrschaft Gottes ist mitten unter euch“ (Lk 17,21). Lukas scheint die Ankunft der Herrschaft Gottes in einen zeitlichen Ablauf zu stellen, wenn er Jesus sagen lässt : „Das Gesetz und die Propheten : bis zu Johannes ; von da an wird die Herrschaft Gottes als frohe Botschaft verkündigt, und jeder zwingt sich hinein“ (Lk 16,16). b. Die geographische Perspektive als Theologie

Es ist erstaunlich, wie oft sich Menschen im Lukasevangelium auf eine Reise begeben. Schon die schwangere Maria verlässt Galiläa, um Elisabeth in Judäa zu besuchen (Lk 1,39). Josef und Maria reisen von Nazaret nach Bethlehem, wo Jesus geboren wird (Lk 2,4). Danach wird Jesus nach Jerusalem zur Darstellung im Tempel gebracht (Lk 2,22). Und als Zwölfjähriger geht Jesus mit seinen Eltern noch einmal von Galiläa nach Jerusalem (Lk 2,42). Nach der Taufe geht Jesus in die Wüste, um dort versucht zu werden, bevor er „in der Kraft des Geistes nach Galiläa zurückkehrt“ (Lk 4,14) und seine Tätigkeit als Wanderprediger aufnimmt. Schließlich erzählt Lukas in der großen Interpolation von der Reise Jesu nach Jerusalem (Lk 9,51–19,27). Letztere Reise lässt sich auf einer Karte nicht rekonstruieren, und während als Ziel Jerusalem genannt wird, scheint Jesus doch über viele Kapitel hinweg keinerlei Fortschritt zu machen. In Lk 13,31 ist Jesus nach vier Kapiteln Reise plötzlich wieder in Galiläa, und in Lk 17,11 kommt Jesus zunächst nach Samaria und von dort aus nach Galiläa, um nach Jerusalem zu gehen. Er geht also in die falsche Richtung. Dies macht die Reise historisch unglaubwürdig ; dennoch ist sie für Lukas so wichtig, dass er außerordentlich viel Eigenmaterial in diesem Abschnitt unterbringt. Zudem strukturiert 197

die Reise nach Jerusalem das Evangelium in das Wirken Jesu in Galiläa, das Wirken Jesu auf der Reise nach Jerusalem und das Wirken in Jerusalem. Der Schwerpunkt der Reise nach Jerusalem liegt eindeutig auf der Lehre Jesu. Lediglich fünf Wunder werden sehr knapp erzählt. Sie bieten die Gelegenheit zu Unterweisungen (Lk 11,14 ; 13,10–17 ; 14,2–6 ; 17,12–19 ; 18,35–43). Jesus erzählt auf der Reise viele Gleichnisse, darunter auch solche, für die Lukas zu Recht berühmt geworden ist : vom barmherzigen Samariter (Lk 10,28–37), vom reichen Narr (Lk 12,16–21), vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32) oder vom listigen Verwalter (Lk 16,1–8). Mit der Schilderung dieser ausgedehnten Reise Jesu gelingt es Lukas, die Lehre Jesu als genauso wichtig darzustellen wie das Wirken in Galiläa und Jerusalem. Das Evangelium betont nicht, wie Markus, die Passion als das Ereignis, das Jesus definiert. Auch die matthäische Herangehensweise an Jesus als die Gegenwart Gottes im Lehren einer neuen Tora und im Sterben eines Opfertods in der Tradition jüdischer Vergebungsopfer liegt Lukas nicht. Er präsentiert Jesus im Gleichgewicht von Leben, Lehren und Sterben. Da die Lehre Jesu zu einem großen Teil auf dem Weg nach Jerusalem stattfindet, ist sie auch im Schatten von Passion, Auferstehung und Himmelfahrt zu interpretieren. Es ist die Verklärung (Lk 9,28–36) kurz vor dem Beginn der Reise, die dies noch genauer thematisiert. Als einziger der Evangelisten berichtet Lukas vom Inhalt des Gesprächs zwischen Mose, Elija und Jesus : Es ist der „Ausgang“, den Jesus in Jerusalem erfüllen sollte. Ausgang bedeutet hier Mehrfaches. Zum einen ist es eine Reise. Zum anderen erinnert der Ausgang, auf griechisch „Exodus“, auch an den Exodus des auserwählten Volkes aus Ägypten. Mose und Elija besprechen mit Jesus also die Wanderung, die zu der in Lk 4,18–19 verheißenen Freiheit für die Benachteiligten führen wird. Die 198

Reise Jesu nach Jerusalem wird zu einem zweiten Exodus, die Lehre Jesu wird aufgewertet zu einem neuen Gesetz, das mit der Tora während des Exodus auf dem Sinai vergleichbar ist. Doch darüber hinaus bezieht sich der Ausgang auch auf die Ereignisse, die in Jerusalem stattfinden werden : die Passion und die Auferstehung Jesu. Innerhalb dieser Reisethematik kommt Jerusalem eine besondere Bedeutung zu. Schon die Kindheitsgeschichte beginnt in Jerusalem und endet mit dem Besuch des zwölfjährigen Jesus im Jerusalemer Tempel, der für Jesus die Gegenwart bei Gott darstellt (Lk 2,49). Anders als Matthäus und Johannes berichtet Lukas ausschließlich von Auferstehungserzählungen in Jerusalem, Galiläa wird nicht mehr erwähnt. Die geographische Bewegung des Evangeliums läuft auf Jerusalem als das große Ziel zu. Doch wird gerade in den Auferstehungserzählungen der Blick auch schon über Jerusalem hinaus geweitet. In Lk 24,47 trägt der Auferstandene seinen Jüngern auf, allen Nationen die Buße zur Vergebung der Sünden zu predigen, allerdings ausgehend von Jerusalem. Das Lukasevangelium bewegt sich die ganze Erzählung lang auf Jerusalem zu, nur um am Ende anzudeuten, dass Jerusalem ein neuer Ausgangspunkt werden wird. In Apg 1,8 wird dieser Auftrag noch spezifischer wiederholt : „Ihr werdet meine Zeugen sein, sowohl in Jerusalem als auch in ganz Judäa und Samaria und bis an das Ende der Erde.“ Doch zuvor müssen die Jünger den Geist in Jerusalem empfangen. Im weiteren Verlauf der Apostelgeschichte wird dieser Auftrag eingelöst. Dem Ausbruch einer Verfolgung in Jerusalem folgt eine Flucht nach Judäa und Samaria. Danach werden Städte zunächst in Asien, dann auch in Griechenland missioniert. Am Ende der Apostelgeschichte schließlich erreicht Paulus Rom. Bewegt sich das Evangelium auf Jerusalem zu, so geht die Bewegung der Apostelgeschichte von Jerusalem aus. 199

Lukasevangelium • 1,8 : Die Erzählung beginnt in Jerusalem. • 2,22–38 : Jesus wird als Neugeborener nach Jerusalem gebracht. • 2,41–50 : Jesus kommt als Zwölfjähriger nach Jerusalem. • 9,51–19,40 : Jesus und seine Jünger wandern nach Jerusalem. • 19,41–44 (vgl. 13,33–35) : Jesus weint über Jerusalem. • 24 : Die Auferstehungserzählungen finden in und um Jerusalem statt. • 24,47 : Die Mission der Jünger an alle Nationen beginnt mit Jerusalem. • 24,49 : Die Jünger sollen in Jerusalem bleiben. • 24,52–53 : Die Erzählung endet in Jerusalem im Tempel. Apostelgeschichte • 1,4 : Jesus befiehlt den Jüngern, in Jerusalem zu bleiben. • 1,8 : Die Mission an die Enden der Erde beginnt in Jerusalem. • 1,12–16 : Gläubige versammeln sich in Jerusalem zum Gebet und zur Planung. • 2,1–4 : Der Geist kommt auf über 120 Gläubige. • 2,5–41 : Petrus predigt den Einwohnern von Jerusalem, 3000 werden gerettet. • 2,42–47 ; 4,32–37 : Die Jerusalemer Gemeinde ist die ideale Gemeinde. • 3,1–8,1 : Fünf Kapitel beschreiben die Gemeinde in Jerusalem. • 8,14–25 : Die samaritanische Mission wird von Jerusalem autorisiert. • 9,27–30 : Die Bekehrung des Paulus wird von Jerusalem anerkannt. • 11,1–18 : Petrus berichtet der Jerusalemer Gemeinde über die Heidentaufe. • 11,19–26 : Die Jerusalemer Gemeinde sendet Barnabas nach Antiochien. • 11,27–30 ; 12,25 : Antiochien sammelt Geld für Jerusalem. • 15,1–29 : Jerusalemer Konzil befindet über die Heidenmission. • 16,4 : Paulus führt die Entscheidung des Jerusalemer Konzils aus. • 18,22 : Paulus berichtet über seine zweite Missionsreise in Jerusalem. • 21,17 : Paulus berichtet über seine dritte Missionsreise in Jerusalem. • 21,27–23,11 : Paulus wird in Jerusalem gefangen genommen und hat dort einen Prozess. Abbildung 43 : Jerusalem im Doppelwerk

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Dabei verliert Jerusalem allerdings nicht an Bedeutung, sondern spielt weiterhin eine wichtige Rolle. Die Gemeinde dort wird als ideale Gemeinde beschrieben, die eine Autorität besitzt, über Streitfragen wie den Besuch des Petrus beim heidnischen Hauptmann Cornelius oder die Frage nach der Treue zu jüdischen Traditionen in der heidnischen Gemeinde Antiochia zu entscheiden. Paulus kehrt immer wieder nach Jerusalem zurück, um über seine Missionsreisen zu berichten, und wird schließlich im Jerusalemer Tempel verhaftet. Jerusalem bleibt Fokus für das lukanische Doppelwerk. Dieser Fokus formuliert geographisch eine Theologie aus. Für das Doppelwerk ist die Ausbreitung des Christentums unter den Heiden eine natürliche Fortführung der Geschichte Jesu. Es geht Lukas nicht darum zu zeigen, dass ein heidnisches Christentum eine jüdische Gemeinde wie die in Jerusalem ablöst oder gar ersetzt. Für Lukas besteht eine Kontinuität zwischen den Ereignissen im Leben Jesu und denen in der Apostelgeschichte. Den beiden Jüngern, die sich auf der Reise von Jerusalem nach Emmaus befinden, erklärt der Auferstandene die jüdischen Verheißungen : „Und von Mose und von allen Propheten anfangend, erklärte er ihnen in allen Schriften das, was ihn betraf “ (Lk 24,27). Die Kontinuität zwischen den Verheißungen an das jüdische Volk Gottes und Jesus liegt in den Schriften. Für Lukas wird sie nicht wie bei Matthäus durch Gesetzestreue gewährleistet, sondern dadurch, dass diese Schriften über Jesus prophezeit haben. Dies schließt auch die Fortführung der Sendung Jesu durch seine Jünger unter den Heiden im Auftrag des Auferstandenen ein. Wie Jesus an die jüdischen Schriften rückgebunden ist, so sind die nachösterlichen Gemeinden an Jerusalem rückgebunden. Die Jünger von Emmaus sind die ersten, die nach Jerusalem zurückkehren, um dort zu berichten, dass ihnen der Herr erschienen ist. Dort erfahren sie, dass Jesus auch dem Simon in Jerusalem erschienen ist (Lk 24,34–35). 201

c. Die geschichtliche Perspektive als Theologie

Das Lukasevangelium beschäftigt sich stark mit der historischen Situation, in der sich die Jesusgeschichte entfaltet. Schon in Lk 1,5 wird das Geschehen um die Ankündigung der Geburt des Täufers in der Zeit des Königs Herodes verankert. Die Geburt Jesu wird verbunden mit der Regierungszeit des Kaisers Augustus und der Statthalterschaft des Quirinius, unter denen nach Lukas die ersten Steuerlisten erstellt wurden. Der Beginn der Erzählung des öffentlichen Wirkens Jesu, das mit dem Auftreten des Täufers einsetzt, wird besonders feierlich in den Rahmen der damals Mächtigen gestellt, von Rom bis hin zu Jerusalem und seinen Hohenpriestern. Die historisierende Perspektive des Lukasevangeliums ist scharf ausgeprägt. Sie zeigt, wie stark die Jesusgeschichte in den historischen Zusammenhängen von Zeit und menschlicher Geschichte verstanden werden muss. Dies Anliegen ist Lk 1,5 Es war in den Tagen des Herodes, des Königs von Judäa, ein Priester mit Namen Zacharias, aus der Abteilung des Abija ; und seine Frau war aus den Töchtern Aarons und ihr Name war Elisabeth. Lk 2,1–2 Es geschah aber in jenen Tagen, dass eine Verordnung vom Kaiser Augustus ausging, das gesamte Römische Reich einzuschreiben. Diese Einschreibung geschah als Erste, als Quirinius Statthalter von Syrien war. Lk 3,1–2 Aber im fünfzehnten Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius, als Pontius Pilatus Statthalter von Judäa war und Herodes Vierfürst von Galiläa und sein Bruder Philippus Vierfürst von Ituräa und der Landschaft Trachonitis und Lysanias Vierfürst von Abilene, unter dem Hohenpriester Hannas und Kaiphas, geschah das Wort Gottes an Johannes, den Sohn des Zacharias, in der Wüste. Abbildung 44 : Die geschichtliche Perspektive 202

zunächst einmal eine theologische Perspektive und sollte nicht dazu verleiten, das Evangelium und durch Implikation auch die Apostelgeschichte als Werke zu sehen, die historische Fakten berichten. So ist beispielsweise der Statthalter Quirinius erst nach dem Tod des Herodes nach Syrien gekommen. Die Steuerzählung in Lk 2,1–2 ist daher unmöglich und dürfte von Lukas aus dramaturgischen Gründen eingefügt sein. Der geschichtliche Rahmen ist daher als theologische Option des Evangelisten zu verstehen. Das Lukasevangelium vermeidet den Begriff „Evangelium“ und benutzt stattdessen den griechischen Ausdruck diegesis, übersetzt mit „Bericht“ (Lk 1,1–4). Der Ausdruck war unter hellenistischen Literaten und Geschichtsschreibern verbreitet und bezeichnete einen Bericht über Ereignisse, wie sie stattgefunden haben oder haben könnten. Lukas deutet hier schon an, dass seine Erzählung einen öffentlichen Charakter hat. Die Emmausjünger thematisieren dies in der Frage an den Auferstandenen : „Bist du der Einzige in Jerusalem, der nicht weiß, was in diesen Tagen geschehen ist ?“ (Lk 24,18). Die Jesusgeschichte als diegesis macht Jesus zu einem öffentlichen Charakter der Weltgeschichte im Römischen Reich (vgl. auch Apg 26,26). Wenn Lukas nun die Jesusgeschichte in einen historischen Zusammenhang einbettet, stellt er die These auf, dass mit der Geburt, dem Wirken, der Passion und der Auferstehung Jesu ein neuer Abschnitt der Weltgeschichte einsetzt. Die Erwähnung der Kaiser am Beginn der Jesusgeschichte findet ihre Entsprechung im Appell des Paulus an den römischen Kaiser (Apg 25,9–12). Dazwischen liegen Begegnungen von Jesus und Paulus mit den Statthaltern Pontius Pilatus, Felix und Festus. Lukas verwurzelt das Jesusereignis und seine Folgen von Anfang an in der Geschichte des Römischen Reiches und deutet damit an, dass die geschilderten Ereignisse die römische Welt maßgeblich beeinflussen werden. Ähnliches gilt 203

auch für die Geschichte Palästinas, wenn Könige und Fürsten wie Herodes und Agrippa sowohl im Evangelium wie auch in der Apostelgeschichte auftauchen. Doch Lukas geht über eine solche Einbettung in einen historischen Kontext weit hinaus. Für ihn ist das Jesusereignis Teil einer Geschichte des Heils. Lukas spricht von einem Plan Gottes (Lk 7,29–30 ; vgl. Apg 2,23 ; 4,28 ; 13,36 ; 20,27), der das Heil aller Menschen in den Blick nimmt. Daher unterwirft sich Jesus in Getsemani auch dem Willen Gottes (Lk 22,42 ; vgl. Apg 21,14 ; 22,14). Dieser Wille Gottes hat den Weg Jesu vorherbestimmt (Lk 22,22), Jesus ist bestimmt, am Ende Lebende und Tote zu richten (Apg 10,42). Übrigens spricht Lukas auch von der Berufung des Paulus als vorherbestimmt (Apg 22,14 ; 26,16). So beschreibt Lukas den Weg Jesu und seiner Nachfolger als eine Notwendigkeit, die aus dem Plan Gottes entsteht. Das griechische Wort dei, „es ist notwendig“, wird zu einer lukanischen Eigenart, um diesen Weg zu beschreiben. Die Notwendigkeit betrifft dabei zuvorderst das Leiden und die Auferstehung Jesu, das in Ankündigungen prophezeit wird und in der Emmausperikope noch einmal reflektiert wird. Doch ist diese Notwendigkeit nicht auf Passion und Auferstehung beschränkt, sondern schließt das Wirken Jesu mit ein. All dies vereint sich zur Erfüllung der jüdischen Schriften. Der Plan Gottes ist in den jüdischen Schriften des Gesetzes, der Propheten und der Psalmen vorhergesagt und wird in Jesus nun erfüllt und von seinen Jüngern weitergetragen. Die Erfüllung der Schrift in Jesus spielt vor allem gegen Ende des Lukasevangeliums eine Rolle, wird aber noch weiter ausgedehnt in der Apostelgeschichte, wo verschiedene Reden wie die des Petrus oder des Stephanus auf die Geschichte Jesu reflektieren, indem sie mit der Geschichte Israels und den Verheißungen der jüdischen Schriften beginnen und Jesus als deren Erfüllung verkünden. 204

2,49 : der Zwölfjährige muss im Tempel sein 4,43 : Jesus muss in die Städte Galiläas ziehen 9,22 : Menschensohn muss leiden 12,12 der Heilige Geist muss Jünger lehren 13,16 : Frau muss am Sabbat geheilt werden 13,33 : Jesus muss nach Jerusalem gehen 15,32 : man muss sich über den verlorenen Sohn freuen 17,25 : Menschensohn muss leiden 18,1 : man muss allezeit beten 19,5 : Jesus muss bei Zachäus sein 21,9 : Schrecken der Endzeit ist notwendig 22,37 : Schrift muss an Jesus erfüllt werden 24,7 : Menschensohn muss leiden 24,26 : Christus musste leiden 24,44 : alle Schrift über Jesus muss erfüllt werden Abbildung 45 : Notwendigkeit bei Lukas

Man kann in der historischen Perspektive des Lukas auf diesem Hintergrund eine Periodisierung erkennen, wobei unterschiedliche Auffassungen vertreten werden, ob es zwei oder drei Perioden in der Heilsgeschichte gibt. Die Zeit des Volkes Israel ist die Zeit der Verheißungen, während die Zeit Jesu und seiner Gemeinden die Zeit ihrer Erfüllung ist. Manche Forscher unterscheiden die Zeit der Kirche als eine eigene Periode, die durch das Wirken des Heiligen Geistes und durch die Ausbreitung des Christentums gekennzeichnet ist. Ein Merkmal der Erfüllung der Verheißungen an Israel ist ihre universale Heilsbedeutung. Die Einbettung schon der Geburt Jesu in die Zeit des Kaisers Augustus macht dies von Anfang an deutlich. Auch der Missionsauftrag am Ende des Evangeliums deutet die universale Perspektive an. Daher ist es überraschend, dass das Evangelium das Wirken Jesu, anders als Markus oder Matthäus, mehr oder weniger auf jüdische Gebiete begrenzt. Geographisch wird der universale Anspruch erst in der Apostelgeschichte auch in einer ausgedehnten Heidenmission eingeholt. Doch von Anfang an stellt 205

Lukas klar, dass Jesus auch den Heiden das Heil bringt : Ausgerechnet Simeon, der auf den Trost Israels wartet und als gerechter und gottesfürchtiger Jude im Tempel beschrieben wird, wird zu dem Propheten, der die universale Dimension Jesu erkennt : „Meine Augen haben dein Heil gesehen, das du bereitet hast im Angesicht aller Nationen : ein Licht zur Erleuchtung der Nationen und zur Herrlichkeit deines Volkes Israel“ (Lk 2,30–32). Lukas verzahnt die Mission Jesu zu Israel und die Mission der Apostel zu den Heiden über die samaritanischen Episoden im Evangelium, die eine Entsprechung in der samaritanischen Mission in Apg 8 haben, die zur Taufe des ersten Heiden, des äthiopischen Eunuchen, führt. Gleichzeitig gibt es immer wieder Episoden, die über Israel hinausweisen. Die programmatische Predigt in Nazaret ruft Elija und Elischa in Erinnerung, die ihre Wunder an Nichtjuden vollbrachten. Das Gleichnis vom großen Gastmahl sendet die Diener des Königs für die zweite Einladung auf die Wege und Zäune (Lk 14,23), die außerhalb der Stadt zu finden sind. Lukas vertritt einen Universalismus, der das Heilsangebot Gottes nicht nur auf die Armen und Unterdrückten ausdehnt, sondern auch an die Heiden richtet. Für den literarischen Ausdruck dieser Perspektive nutzt Lukas historisierende Modelle : Gott, der seinem Volk Israel Verheißungen gegeben hat, sendet schließlich Jesus, der die notwendige Erfüllung dieser Verheißung ist. Jesu Jünger schließlich tragen die Verheißungen und ihre Erfüllung in die heidnische Welt hinein, aber dies beschreibt Lukas in seinem zweiten Teil. d. Die Figur Jesu

Wie im Markusevangelium wird auch im Lukasevangelium die Frage nach der Identität Jesu mehrfach gestellt. Die Schriftgelehrten und Pharisäer fragen sich, wer Jesus denn 206

sein könnte, dass er in gotteslästerlicher Weise Sünden vergibt (Lk 5,21). Auch die Gäste bei Jesu Begegnung mit dem Pharisäer Simon und der Sünderin stellen diese Frage (Lk 7,49). Lukas berichtet auch die Verwirrung der Jünger beim Seesturm und ihre Frage nach der Identität Jesu (Lk 8,25), auch Herodes ist neugierig (Lk 9,9). Lukas beantwortet die Frage nach Jesus äußerst flexibel. Er benutzt viele Titel wie Sohn Gottes, Diener, Messias oder König, um Jesus zu beschreiben. Andererseits kann er auch auf in jüdischen und hellenistischen Kreisen bekannte Bilder und Metaphern zurückgreifen, die ein sehr reiches Porträt Jesu zeichnen, das allerdings auch einige Überraschungen bereithält. Die für Lukas wichtigsten Titel für Jesus werden in der Botschaft des Engels an die Hirten auf den Feldern bei Bethlehem zusammengefasst : „Heute ist euch ein Retter geboren, der ist der Messias, der Herr, in der Stadt Davids“ (Lk 2,11). Dabei kann das griechische Wort für Retter, sotēr, auch mit Erlöser wiedergegeben werden. Allen drei Titeln ist gemeinsam, dass sie nur von Lukas schon dem neugeborenen Kind zugeschrieben werden. Für Lukas ist Jesus schon bei seiner Geburt Retter, Messias und Herr. Im Matthäusevangelium prophezeit der Engel dem Josef, dass Jesus sein Volk von den Sünden erlösen wird. Matthäus konzipiert diese Erlösung als ein Geschehen, das exklusiv in Jesus zugänglich ist. Der Erlöser Jesus im Lukasevangelium erfüllt ebenfalls diese Aufgabe, jedoch ist diese Erlösung nicht auf die Sündenvergebung beschränkt, sondern bezieht sich auch auf viele andere Dinge wie Heilung oder einfach Segen. Zudem ist Jesus nicht ausschließlicher Bringer des Heils oder der Erlösung, sondern auch andere können Rettung bringen. Für Lukas ist Erlösung in der Ankunft Jesu auch durch andere möglich. Gottes Erlösung wird mit Jesu Ankunft erfahrbar, aber nicht ausschließlich durch ihn. So wird Gott selbst ebenfalls als Erlöser gepriesen (Lk 1,47). 207

Wie stark die Erlösung mit Jesus verbunden ist, wird im Benedictus des Zacharias formuliert (Lk 1,68–79). Lukas spricht von Erlösung und Heil, das Gott wirkt. Johannes wird dem Volk die Erkenntnis des Heils in der Sündenvergebung vermitteln, indem er die Wege des Herrn bereitet. Diese Erkenntnis des Heils ist eine Erkenntnis der Barmherzigkeit Gottes. Daher ist es auch verständlich, dass Heil und Erlösung auch in Wundern und Segen spürbar werden. Erlösung ist für Lukas also ungleich umfassender als lediglich die Sündenvergebung. Darin trifft Lukas auch griechisch-römische Sensibilitäten, da die römischen Kaiser die Bezeichnung Erlöser für sich selbst in Anspruch nahmen. Der alte Simeon im Tempel verbindet die Erlösung ebenfalls sehr eng mit Jesus (Lk 2,29–32). Für ihn ist Jesus selbst die Erlösung, die Gott bereitet hat. Allerdings ist dies eine Erlösung, die nicht nur dem Volk Israel gilt, sondern nun ein Licht für alle Völker sein wird. Die Prophezeiung des Simeon blickt hier schon voraus auf das, was in der Apostelgeschichte erzählt wird. Dieser Universalismus betrifft auch die Feststellung, dass Jesus Herr ist. Der Titel war in jüdischer Tradition für Gott üblich ; in Ps 110,1 wird er für Gott und seinen Messias benutzt. Dieses Zitat scheint schon sehr früh in christlichen Kreisen auf Jesus angewandt worden zu sein. Aber auch in hellenistischen Kreisen war dieser Titel üblich, zunächst als Anrede für heidnische Götter, dann auch als Anrede oder Titel für den Kaiser (vgl. Apg 25,26). Wenn der Engel des Herrn Jesus als Herrn bezeichnet (Lk 2,11), wird dies eine Anspielung auf Ps 110,1 sein. Die Erwähnung des Kaisers (Lk 2,1) legt aber auch mit Ironie nahe, dass Jesus sehr viel bedeutender als ein Kaiser und sein Statthalter ist. Auf jeden Fall ist dieser Titel gut geeignet, Kontinuität zwischen Judenchristen und Heidenchristen zu suggerieren. Ähnliches versucht Lukas auch mit dem Begriff Messias, einem vom Evangelium sehr viel weniger benutzten Titel. Pe208

trus bekennt wie im Markusevangelium Jesus als den Messias (Lk 9,18–20), und wie auch Markus verbindet Lukas den Titel mit einer Ankündigung von Passion und Auferstehung Jesu. Doch wiederum ist Simeon die Figur, die den Titel aufschlüsseln kann. Er ist derjenige, dem verheißen wurde, er werde nicht sterben, ohne den Messias Gottes gesehen zu haben (Lk 2,26). Das Lob des Simeon gilt nicht einem strikt jüdischen Messias, sondern einem Messias, der ein Licht für alle Völker sein wird. In einer typisch lukanischen Formulierung ist der Messias Gottes Gesalbter (Lk 9,20 ; 23,35), der Christus, der universale Erlösung verkündet. Eine besondere lukanische Eigenart ist es, den Messiastitel mit dem Leiden und der Auferstehung Jesu zu verknüpfen (Lk 24,26.46 ; vgl. 9,20–22 ; Apg 2,36). Die Titel für Jesus oszillieren in ihrer Bedeutung also immer wieder zwischen jüdischen und hellenistischen Traditionen. Auch die eher erzählerischen Motive im Porträt Jesu reflektieren diese zweifache Ausrichtung. Im Sinne jüdischer Tradition wird Jesus immer wieder als der Verheißene dargestellt, den die jüdischen Schriften vorausgesagt haben. Wenn Passagen wie Ps 89 oder 2 Sam 7,5–16 einen Gesalbten, einen Davidssohn und Gottessohn vorhersagen, so deklariert Petrus die Erfüllung dieser Vorhersage in Lk 9,20. Der in Dan 7,13–14 verheißene Menschensohn erscheint in Lk 22,69. Wenn Dtn 18,15 einen Propheten wie Mose verheißt, beginnt der lukanische Jesus einen neuen Exodus, der sich in Jerusalem in Passion und Auferstehung erfüllt (Lk 9,31). Petrus wie auch Stephanus ziehen genau diese Verbindung explizit in Apg 3,22–26 ; 7,37. Auch der Gottesknecht, der die Gerechtigkeit aufrichten wird ( Jes 42,1–4  ; 49,1–6  ; 50,4–11  ; 52,13–53,11) wird in Jesu Auftreten erfüllt (Lk 22,37 ; vgl. Apg 8,30–35). Selbst die prophezeite Rückkehr des Elija (Mal 3,23) ist nicht im Auftreten des Täufers erfüllt, sondern in Jesus, der genau die Dinge tut, die auch Elija getan hat (Lk 7,11–17 ; 24,50–51). 209

Lukas verbindet also in der Figur Jesu die unterschiedlichsten Erwartungshaltungen, die in jüdischer Tradition überliefert wurden. Damit geht er andere Wege als Markus und Matthäus, die ja beispielsweise Elija noch mit Johannes dem Täufer identifizieren. In der dritten Ankündigung von Leiden und Auferstehung weist Jesus darauf hin, dass Passion und Auferstehung alles vollenden, was in den Propheten über den Menschensohn geschrieben ist (Lk 18,31). Auch die Emmausjünger lernen dies von Jesus : „Und er fing an bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was in allen Schriften über ihn steht“ (Lk 24,27). Diesen jüdischen Traditionen werden allerdings auch Bilder an die Seite gestellt, in denen Jesus an hellenistische Rollenbilder erinnert. Griechisch-römische Philosophen wie Apollonius von Tyana oder andere Kyniker oder Sophisten der Zeit werden von Philostratus, einem ihrer Biographen, als wandernde Lehrer beschrieben, die Jünger um sich sammelten, deren Wirken oft den zweiten Teil solcher Biographien ausmacht. Liest man das lukanische Doppelwerk als ein Buch, in dem zunächst Jesus während ausgedehnter Reisetätigkeiten lehrt und Jünger um sich schart, die in der Apostelgeschichte das Werk ihres Lehrers fortführen, so ist die Nähe zu solchen Philosophen durchaus augenfällig. Im öffentlichen Leben des Römischen Reiches wurden besonders herausragende oder wichtige Persönlichkeiten mit dem Ehrentitel eines Wohltäters bedacht. Solche Ernennungen preisen oft Leistungen, wie sie auch von Jesus selbst ausgesagt werden  : Übereinstimmung von Wort und Tat (Lk 24,19), das Stiften von Frieden (Lk 1,79 ; 2,14.29), Vergebung gegenüber Feinden (Lk 23,34 ; 24,47), das Ertragen von Verfolgungen und Härten (Lk 22,28). Zwar scheint Jesus im Evangelium solche Wohltäter durchaus kritisch zu sehen, wenn sie sich öffentlich feiern lassen (Lk 22,25). Dennoch bezeichnet Petrus Jesus als einen solchen Wohltäter. Er tut dies 210

ausgerechnet im Haus des heidnischen Hauptmanns Kornelius (Apg 10,38). Griechisch-römische Mythologie war durchaus auch mit Unsterblichen vertraut. Dionysos und Herakles gingen aus der Verbindung eines Gottes mit einer menschlichen Frau hervor, vollbrachten auf Erden machtvolle Taten und wurden schließlich in die Götterheimat auf dem Olymp aufgenommen, um dort Unsterblichkeit zu genießen. Erzählungen von der Jungfrauengeburt, den Wundertaten Jesu und seiner Himmelfahrt nehmen diese Motive wieder auf und dürften bei heidnischen Leserinnen und Lesern durchaus Assoziationen zu solchen Heldenfiguren ausgelöst haben. Eine von den anderen Evangelien sehr unterschiedliche Rolle spielt die Passion Jesu. Zunächst einmal weist Lukas deutlich darauf hin, dass Jesu Tod der eines Unschuldigen ist. Pilatus erklärt drei Mal die Unschuld Jesu (Lk 23,4.14.22). Einer der mit Jesus gekreuzigten Verbrecher weist auf Jesu Unschuld hin (Lk 23,41), und auch der Hauptmann unter dem Kreuz erklärt Jesus für nicht schuldig (Lk 23,47). Dennoch ist Jesu Tod vorherbestimmt : „Der Menschensohn geht seinen Weg, wie es bestimmt ist“ (Lk 22,22). In den drei Prophezeiungen von Leiden und Auferstehung betont Jesus die Notwendigkeit der Passions- und Osterereignisse (Lk 9,22.44 ; 18,31) ; dem entsprechen drei solcher Aussagen des Auferstandenen (Lk 24,7.26.44). Jesus selbst sieht seine Hinrichtung als den Willen Gottes (Lk 22,42) und als die Erfüllung der Schrift (Lk 18,31 ; 22,37 ; 24,25–27 ; 24,44–46). Im Tod Jesu wird sein Leben auf wunderbare Weise bestätigt. Jesus ist Gottes Wohltäter für alle im Leben und im Tod. Er bringt Heilung (Lk 22,15), Vergebung (Lk 23,34) und Rettung (Lk 23,43). Der Tod Jesu löst im Hauptmann unter dem Kreuz Lobpreis Gottes aus und führt bei den Umstehenden zur Umkehr (Lk 23,47–48). Darüber hinaus ist Jesu Passion auch das Modell für Jüngerschaft und Nachfolge. Jesus selbst 211

bereitet seine Jünger auf Verfolgungen vor (Lk 22,24–38). Das Gebet Jesu in Getsemani ist Vorbild für die Jünger, die Beharrlichkeit im Gebet lernen müssen (Lk 22,39–46). Aber darüber hinaus hat die Passion Jesu auch Modellcharakter für die Beschreibung der Verfolgungen, die die Jünger erleiden. Insbesondere der Prozess von Stephanus in der Apostelgeschichte ist in vielen Details dem Prozess Jesu ähnlich. Für den Prozess des Paulus gilt dies ebenfalls. Die Darstellung der Passion im Lukasevangelium lässt einige der aus Markus und Matthäus bekannten theologischen Schwerpunkte vermissen. Bei Lukas gibt Jesus nicht sein Leben als Lösegeld für viele, und der matthäische Opfercharakter fehlt ebenfalls. Man hat fast den Eindruck, als ob Lukas die Bedeutung der Passion Jesu herunterspiele, indem er sie hauptsächlich als den Tod eines Märtyrers beschreibt. Doch dieser Eindruck trügt. Es ist weniger, dass Lukas die Passion herunterspielt, er wertet das irdische Wirken Jesu enorm auf, beginnend mit der Verkündigung der Geburt Jesu. Für Lukas steht nicht das Kreuz im Zentrum, sondern das Offenbaren der Gnade und Barmherzigkeit Gottes, wie sie in der gesamten Person Jesu schon bei seiner wunderbaren Empfängnis und Geburt sichtbar werden. Diese Gnade Gottes ist universal, doch anders als bei Matthäus ist sie nicht so stark mit dem drohenden Gericht verknüpft. Dies spielt bei Lukas auch eine Rolle, rückt aber in den Hintergrund vor der Art Jesu, sich Reichen und Armen, Frauen und Männern, Gerechten und Sündern zuzuwenden. Gerade im Lukasevangelium fällt auf, wie stark sich Jesus sozial Marginalisierten zuwendet : Samariter, Heiden, Zöllner, Arme – sie alle erfahren durch Jesus die Zuwendung Gottes. Doch Jesus isst auch mit Pharisäern und geht mit reichen Menschen um. Gerade die vielen Mähler unterstreichen die Zuwendung Jesu zu allen Menschen. Wenn beispielsweise der Pharisäer Simon ein Gastmahl gibt und gerne die Sünderin 212

Jesus im Lukasevangelium

Stephanus in der Apostelgeschichte

4,22 alle gaben ihm Zeugnis

6,3 von gutem Zeugnis

4,1 voll des Heiligen Geistes

6,5 voll des Glaubens und des Heiligen Geistes

2,52 ; 4,14 Gnade, Weisheit und Kraft

6,8.10 Gnade, Kraft, Weisheit

Apg 2,22 Wunder und Zeichen

6,8 Wunder und Zeichen

Parallelen in den Passionsgeschichten von Jesus und Stephanus 20,1 Hohepriester, Schriftgelehrte, Älteste

6,12 Älteste und Schriftgelehrte

21,66 und führten ihn vor den Hohen Rat

6,12 und führten ihn vor den Hohen Rat

9,29 veränderte sich das Aussehen seines Angesichts

6,15 sein Angesicht wie eines Engels Angesicht

3,21 dass der Himmel geöffnet wurde

7,56 ich sehe die Himmel geöffnet

22,69 der Menschensohn zur Rechten der Macht Gottes

7,56 der Menschensohn zur Rechten Gottes

4,29 stießen ihn zur Stadt hinaus

7,58 als sie ihn zur Stadt hinausgestoßen hatten

23,34 vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun

7,60 rechne ihnen diese Sünde nicht an

23,46 Vater, in deine Hände übergebe ich meinen Geist

7,59 Herr Jesus, nimm meinen Geist auf

23,46 und als er dies gesagt hatte, verschied er

7,60 und als er dies gesagt hatte, entschlief er

Die Prozesse : Jesus und Paulus • Beide Episoden sind Verhöre • Die Beschreibungen der vier Hauptcharaktere ähneln sich : römischer Prokurator, herodianischer Prinz, jüdische Ankläger, Angeklagter. • Die Verhöre vor den Herodianern finden auf Veranlassung des Römers statt, und zwar auf römischem Territorium. • Selbst nach allen Verhören sind die Angeklagten für unschuldig befunden ; Pilatus und Festus stellen dies drei Mal fest, Antipas und Agrippa jeweils ein Mal. 213

• Die Ankläger sind beide Male der Hohepriester und Führer der Juden ; sie verlangen die Todesstrafe. Die Anklagepunkte sind in beiden Fällen Aktivitäten gegen die Juden und gegen den Kaiser. • Sowohl Antipas wie Agrippa sind zufällig in der Stadt und neugierig auf den Angeklagten. • Gottesknechtmotive spielen in beiden Szenen eine Rolle. Abbildung 46 : Jesus, Stephanus und Paulus

ausschließen würde, wendet sich Jesus gerade der Sünderin zu und macht sie darin zu einem Vorbild für Simon, wie sie durch ihren Glauben gerettet ist (Lk 7,36–50). Diesen Jesus zeichnet aus, dass er keine Berührungsängste hat. Dies Leben und Sterben Jesu setzt sich in der Apostelgeschichte fort, indem Jünger und Jüngerinnen dort genau das tun und erleiden, was Jesus vorgelebt hat. Das Vorbildmotiv wird besonders stark im Wirken des Heiligen Geistes deutlich : Jesus ist vom Geist empfangen (Lk 1,35) und gesalbt mit dem Geist (Lk 3,22 ; 4,1.14.18) ; Menschen sind erfüllt vom Geist (Lk 1,15.41.67) und inspiriert vom Geist (Lk 2,25–27), für Jesus und Gott Zeugnis zu geben ; Gott gibt den Geist allen, die darum bitten (Lk 11,13). Den Jüngern ist verheißen : „Und seid gewiss, ich sende, was der Vater mir verheißen hat, auf euch herab ; ihr aber sollt in der Stadt bleiben, bis ihr mit Kraft aus der Höhe ausgerüstet werdet“ (Lk 24,49). Genau dieser Geist nun wird in der Apostelgeschichte auf die Jünger ausgegossen, und er treibt sie, das zu tun, was Jesus getan hat. Nun aber sind es eben die Jünger, die das Heil und die Rettung Gottes in Jesus auch unter den Heiden bekannt machen. Besonders augenfällig wird diese Weiterführung der Person Jesu in den Parallelen, die Lukas zwischen der Passion Jesu und den Schicksalen des Stephanus und des Paulus zeigt. Zwischen Jesus und Stephanus gibt es relativ viele Entsprechungen auf der wörtlichen Ebene. Die Parallelen zwischen Jesus und Paulus finden sich hauptsächlich auf der Ebene von 214

Entsprechungen inhaltlicher Motive der Erzählung. Damit gibt Lukas auch seiner Theologie der Nachfolge Jesu eine klare Kontur. Für das Doppelwerk bedeutet Jüngerschaft eine imitatio Christi, ein Nachahmen des Lebens Jesu. Die Beschreibung Jesu, die jüdische und heidnische Motive miteinander vermischt, steht ebenfalls im Dienst der Universalität. Damit kann Lukas im Evangelium und im Leben Jesu etwas verwurzeln, was in der Apostelgeschichte seine ganze Tragweite erweisen wird : In Jesus ist schon grundgelegt, dass die Heidenmission der Apostel und des Paulus eine logische Fortführung dessen ist, wofür Jesus mit seinem Leben und Sterben einsteht. Wenn Petrus in Apg 10,34–35 zum heidnischen Hauptmann Kornelius sagt : „Nun erfahre ich in Wahrheit, dass Gott die Person nicht ansieht, sondern in jedem Volk ist, wer ihn fürchtet und Gerechtigkeit tut, ihm angenehm“, so entdeckt Petrus durch das Wirken des Heiligen Geistes, was Simeon über den neugeborenen Jesus im Tempel prophezeit : Jesus ist das Heil, das Gott im Angesicht aller Nationen bereitet hat : ein Licht zur Erleuchtung der Nationen und Herrlichkeit für sein Volk Israel (Lk 2,30–32). e. Die Erwartung der Endzeit

Markus und Matthäus erwarten eine Endzeit, in der der Menschensohn wiederkommen und Gericht halten wird. Für beide scheint dieses Ende der Zeiten unmittelbar bevorzustehen, und beide betonen daher auch ein Verhalten von Menschen, das auf das Gericht vorbereitet. Für Lukas stellt sich das Problem allerdings etwas anders dar. Er schreibt eine Apostelgeschichte, die die Geschichte der frühen Gemeinden als eine Fortsetzung der Jesusgeschichte interpretiert. Daraus haben manche Forscher geschlossen, dass Lukas eine Naherwartung des Endes der Zeiten ausgeschlossen hat. Solche Vermutungen werden genährt, wenn Lukas die zentrale Verkündigung Jesu, „Die Zeit ist da, die Herrschaft Got215

tes ist nahe gekommen, kehrt um und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15), in einen farblosen Bericht über Jesu Lehre in den Synagogen umformt (Lk 4,15). Ähnlich verfährt Lukas auch an anderen Stellen seiner Quellen, die eine unmittelbare Enderwartung einschließen. In seinem Eigenmaterial schließlich weist Lukas darauf hin, dass die Herrschaft nicht zu erwarten ist, sondern schon unter Jesu Zuhörern gegenwärtig ist (Lk 17,20–21). Das Gleichnis vom anvertrauten Geld wird von Jesus erzählt, „weil seine Zuhörer meinten, die Herrschaft Gottes werde auf der Stelle erscheinen“ (Lk 19,11). Lukas hält diese Ansicht für irrig, denn die Herrschaft ist schon gegenwärtig. Die Predigt des Täufers illustriert dies sehr gut. Zunächst verarbeitet Lukas die Warnung vor dem Jüngsten Gericht aus der Redequelle (Lk 3,7–9). Man kann dem kommenden Zorn nicht entgehen, die Axt ist schon an die Wurzel gelegt. Doch dann fügt Lukas Eigenmaterial ein (Lk 3,10–14). Hier kommen Menschen zu Johannes, darunter Zöllner und Soldaten. Sie fragen Johannes, was denn nun zu tun sei. Johannes antwortet mit sehr konkreten Hinweisen auf das Teilen von Besitz. Zöllner sollen nur das verlangen, was vorgeschrieben ist, Soldaten sollen die Menschen nicht ausbeuten. Lukas verbindet die Endzeit mit einem Blick auf die ganz konkrete Gegenwart von Wohlhabenden, von Zöllnern und Soldaten. Daneben gibt es einige Stellen im Evangelium, die eine Verzögerung der Endzeit implizieren. Der Knecht weiß nicht, wann sein Herr zurückkommt (Lk 12,38.45), und auch das Gleichnis vom unfruchtbaren Feigenbaum endet mit einer Referenz an eine ungewisse Zukunft (Lk 13,8–9). Besonders auffällig ist auch, dass Lukas die markinischen Zeichen der einbrechenden Endzeit entweder streicht oder doch stark reduziert. Das schreckliche Zeichen der Verwüstung (Mk 13,14) lässt Lukas aus ; stattdessen spricht er davon, dass Jerusalem von Heerlagern umzingelt sein wird und seine Verwüstung 216

nahe ist (Lk 21,20). Lukas hat hier die Belagerung Jerusalems des Jahres 70 im Blick. Lukas behält zwar das Kommen des Menschensohnes bei, aber für ihn ist dies nicht eine schreckliche Gerichtsszene, sondern Anlass, das Haupt zu erheben, weil die Erlösung naht (Lk 21,27). Auf der anderen Seite gibt es allerdings auch genügend Belege, dass Lukas durchaus bereit ist, traditionelle Sprüche über ein bevorstehendes Gericht oder das Kommen des Menschensohnes zu bewahren. Solche Sprüche sind nicht wenige. Sie können auch nicht einfach ignoriert werden als Traditionen, die Lukas zwar übernimmt, aber kaum mehr für wichtig hält. Die Gerichtsrede des Täufers aus Q fordert die Menge mit dem Hinweis auf den „kommenden Zorn“ und die „schon an die Wurzel gelegte Axt“ heraus (Lk 3,7–9). Die Worfschaufel des Gerichts ist schon in der Hand des Richters (Lk 3,17). Aber auch, wenn Jesus die 70 Jünger aussendet, sollen sie verkünden, dass die Herrschaft nahe gekommen ist (Lk 10,9). Und auch Lk 21,32 weist in einem Zitat von Mk 13,26 am Ende der Endzeitrede darauf hin, „dass dieses Geschlecht nicht vergehen wird, bis alles geschehen ist“. Damit entsteht jedoch der Eindruck, Lukas sei zwiespältig, was die Enderwartung angeht. Auf der einen Seite verändert er manches, um eine Naherwartung abzuschwächen, auf der anderen Seite ist er allerdings auch nicht konsistent in der Abschwächung. Diese Inkonsistenz findet eine Parallele in der Behandlung des Todes und der Auferstehung Jesu. Auch dort verzichtet Lukas auf eine große Betonung der Heilsbedeutung des Todes Jesu zugunsten einer Theologie, die die Bedeutung des gesamten Lebens Jesu in den Blick nimmt. Dieser Ansatz findet sich auch in der Behandlung der Enderwartung : Lukas nimmt zwar die Erwartung eines nahen Endes und Gerichts durchaus auf, aber er betont ebenfalls sehr stark, dass das, was als Erfüllung am Ende erwartet wird, schon heute für die Jüngerinnen und Jünger Jesu zugänglich ist. Heil 217

und Rettung geschehen in der Gegenwart. Besonders deutlich wird dies in der Jüngerinstruktion, die Lukas aus Mk 8,34 übernimmt. Dort geht es um Jünger, die in der Nachfolge Jesu ihr Kreuz auf sich nehmen müssen, doch Lukas wandelt den Spruch leicht ab, indem er darauf hinweist, dass die Jünger dies jeden Tag tun müssen (Lk 9,23). Lukas mag manchen Aussagen Jesu ihre endzeitliche Schärfe nehmen, doch werden sie in seiner Erzählung zu Sprüchen, die christliche Haltungen für das tägliche Leben formen.

D. Autor, Ort, Zeit, Absicht Wie bei den bisher behandelten Evangelien lassen sich auch für das Lukasevangelium nur Vermutungen über die Umstände der Abfassung anstellen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass fast alle Forscher heutzutage annehmen, dass das Evangelium und die Apostelgeschichte vom gleichen Autor stammen. Gelegentlich gibt es Forscher, die mit Hinweisen auf stilistische Unterschiede zwischen den Werken auf verschiedene Autoren schließen. Doch eine solche Vermutung bringt nur wenig Mehrwert, da die literarischen und theologischen Verbindungen zwischen beiden Schriften so eng sind, dass eine Annahme zweier Autoren zur Interpretation der beiden Schriften kaum Wesentliches beitragen kann. a. Autor

Allgemein akzeptierte Annahmen über den Autor sind, dass er kein Augenzeuge der Ereignisse um Jesus war (Lk 1,1–4). Zudem ist er ein Autor von hohem Bildungsstand, der sowohl in jüdischer Literatur und Tradition wie auch in hellenistischer Kultur sehr versiert war. Das lukanische Griechisch sticht unter den Evangelien als besonders kultiviert hervor. 218

Kirchliche Tradition identifiziert den Autor mit „Lukas, dem geliebten Arzt“ (Kol 4,14), den Paulus als einen seiner Gefährten bezeichnet (vgl. Röm 16,21 ; Phlm 24 ; 2 Tim 4,11). Allerdings ist das erste Zeugnis für diese Identifikation erst gegen Ende des 2. Jahrhunderts vorhanden. Papias von Hierapolis erwähnt Lukas nicht, möglicherweise kannte er das Evangelium nicht. Das könnte auf eine späte Verbreitung des Lukasevangeliums hindeuten. Eine Identifikation des Autors mit einer doch relativ unwichtigen Figur scheint ungewöhnlich, wäre dies nicht historisch. Zudem gibt es in der Apostelgeschichte die sogenannten „Wir-Passagen“ (Apg 16,10–17 ; 20,5–15 ; 21,1–18 ; 27,1–28,16), in denen der Erzähler während der Paulusreisen plötzlich in die erste Person Plural wechselt und damit suggeriert, dabei gewesen zu sein. Gelegentlich wird noch angemerkt, dass Evangelium und Apostelgeschichte eine Reihe von medizinischen Fachtermini benutzen, die die These von Lukas dem Arzt stützen würden. Doch finden sich solche Termini auch in Schriften, die nicht von Ärzten verfasst wurden. Damit wäre der Autor ein Gefährte des Paulus. Doch ist dies zumindest teilweise überraschend, da die lukanische Theologie von der des Paulus sehr verschieden ist. Die paulinische Betonung von Tod und Auferstehung fehlt, der Tod Jesu wird nicht direkt als Sühne bezeichnet, sondern eher in die Richtung eines Martyriums gerückt. Zudem ist das Paulusbild der Apostelgeschichte in vielen Details nicht konsistent mit dem, was Paulus in seinen eigenen Briefen schildert. Dies könnte aus zeitlichem Abstand heraus erklärbar sein, doch kann es einfach auch signalisieren, dass der Autor des Doppelwerkes Paulus nicht persönlich gekannt hat. Dann würden die „Wir-Passagen“ vermutlich einer der Quellen entstammen, die der Autor der Apostelgeschichte benutzt hat. Letztlich scheint dies die plausiblere Erklärung, da die „Wir219

Passagen“ äußerst unvermittelt einsetzen, unterbrochen werden und auf hören. Die Identifikation des Autors mit Lukas, einem Gefährten des Paulus, muss also offenbleiben. Es bleibt die Frage, ob der Autor Jude oder Heide war. Auch dies lässt sich nicht mehr mit Sicherheit entscheiden. Klar ist das deutliche Interesse, die Ausbreitung des Christentums unter Heiden schon von Anfang an im Evangelium zu begründen, gleichzeitig allerdings auch die judenchristlichen Traditionen in diese heidenchristlichen Gemeinden hinein zu überliefern. Dazu wählt der Autor den Rückgriff auf das Muster von Prophezeiung und Erfüllung, weniger ein Muster von Gesetzeserfüllung, Treue zu Speisegeboten oder gar Beschneidung. Man könnte über den Autor als einen gebildeten Diasporajuden nachdenken, doch ein heidenchristlicher Autor, der ein explizit geäußertes Interesse an Quellen und Nachforschungen hat, kommt genauso in Frage. Letztlich ist also über den Autor recht wenig Konkretes zu sagen. b. Ort

Über den Ort der Abfassung lässt sich noch weniger sagen als über den Autor. Offensichtlich ist das Interesse der Apostelgeschichte für die Ausbreitung der christlichen Gemeinden von Jerusalem über Kleinasien bis hin nach Griechenland und schließlich Rom. Selbst die Kirchenväter sind sich uneins über den Entstehungsort. Moderne Vorschläge schließen Caesarea, die Dekapolis, die Provinz Kleinasien und Griechenland ein. Doch spielen diese äußerst spekulativen Vermutungen für die Interpretation des Doppelwerks kaum eine Rolle. c. Zeit

Es ist vielleicht ironisch, dass trotz des offensichtlichen Interesses des Evangeliums, die Geschichte Jesu in einer historischen Perspektive dazustellen, das Evangelium selbst eigentlich nicht datierbar ist. Als sicher kann ein Zeitpunkt nach 220

Markus und auch nach der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 gelten. Auf die Zerstörung Jerusalems spielt der Hinweis auf die Heerlager um die Stadt (Lk 21,20) an. Aus diesen Gründen setzen viele Forscher die Abfassung des Lukasevangeliums zwischen die Jahre 80 und 90 an. Gelegentlich wird die Annahme geäußert, das gesamte Doppelwerk sei in die Zeit der frühen 60er Jahre zu datieren, da die Apostelgeschichte mit dem Hausarrest des Paulus endet und nicht darüber hinaus vom Schicksal des Paulus erzählt. Aber dieses Ende hat wahrscheinlich eher literarische Gründe : Das Christentum ist in der Hauptstadt der damals bekannten Welt angekommen. Die Prophezeiung aus Apg 1,8 ist an ihr Ziel gekommen. Denkbar ist letztlich auch eine spätere Abfassung des Doppelwerks, zumal das Lukasevangelium erst spät von den Kirchenvätern rezipiert und benutzt wird. Doch nachdem der Autor in Lk 1,1–4 seine Bekanntschaft mit Augenzeugen andeutet, scheint ein wesentlich späteres Datum unwahrscheinlich. d. Absicht

Die Widmung des Doppelwerkes an den hochedlen Theophilus (Lk 1,3) wirft die Frage auf, ob Lukas sein Doppelwerk für eine Einzelperson geschrieben hat. Es gibt allerdings gewichtige Gründe, diese Annahme zu verwerfen. Zum einen ist der Name Theophilus in der Antike sonst nicht bekannt, zum anderen kann man ihn mit „Gottesfreund“ übersetzen. Der Name könnte also durchaus symbolisch für die intendierten Leserinnen und Leser des Doppelwerkes stehen. Aber selbst wenn mit Theophilus eine reale Person angesprochen sein sollte, könnte er eine Art Mäzen des Autors gewesen sein, während das Werk selbst eine breitere Leserschaft voraussetzt. Während über den geographischen Ort der Abfassung nichts gesagt werden kann, so gibt es viele Hinweise im Evangelium und in der Apostelgeschichte auf eine Leserschaft, die 221

einem städtischen Milieu entstammt und in heterogenen Gemeinden lebte. Die Bekehrungen unter Juden und Heiden in der Apostelgeschichte sowie der Bericht über ein Apostelkonzil (Apg 15), das Konflikte zwischen beiden Gruppen auszuräumen versucht, deuten auf Gemeinden hin, in denen es sowohl jüdische wie heidnische Mitglieder gab. Lukas berichtet hauptsächlich von Städten, sehr viel weniger erwähnt er auch Dörfer. Gleichzeitig adressiert er Probleme, die aus dem Zusammenleben zwischen Armen und Reichen entstehen. So werden Reiche instruiert, wie man sich gegenüber Armen zu verhalten habe (Lk 1,53 ; 12,31–34 ; 14,12–14 ; 16,19–31 ; 19,1–10 ; 21,1–4) ; auch werden Arme und Reiche öfter als in anderen Schriften zusammen erwähnt (Lk 6,20.24 ; 7,22 ; 12,16–21 ; 14,21 ; 18,24–27 ; 19,1–19). Gerade das Zusammenleben von Armen und Reichen weist auf einen städtischen Hintergrund hin. In ländlichen Gegenden waren Reiche selten anwesend. Reiche Gutsbesitzer lebten in der Regel in der Stadt und ließen ihre Güter verwalten. Gleichzeitig beschreibt Lukas Gemeindestrukturen und nimmt eine gute Organisation der Gemeinden an (Lk 11,49 ; Apg 11,27–28 ; 13,1–3 ; 14,23 ; 15,32 ; 20,17 ; 21,10–11.18). Die Gemeinden leiden unter Verfolgungen sowohl von Juden (Lk 6,22–23 ; 11,49–50 ; 21,12.16) als auch von Heiden (Lk 21,12.17). Aber auch innere Konflikte werden beschrieben. Menschen verlieren den Glauben und verlassen die Gemeinde (Lk 8,13 ; 18,8). Das Evangelium setzt sich mit der Frage auseinander, warum die Herrschaft Gottes noch nicht erschienen ist (Lk 17,20–21 ; 19,11 ; cf. Apg 1,6–7). Gleichzeitig sind viele dieser Beschreibungen durchaus generisch. Dies legt nahe, dass Lukas nicht eine spezifische Gemeinde als Adressat im Auge hatte, sondern sich auf eine Beschreibung von Gemeinden festlegte, die unter verschiedenen Umständen gültig war. Diese Tendenz des lukanischen Doppelwerkes wird gelegentlich als Frühkatholizismus be222

zeichnet. Damit ist ausgedrückt, dass Lukas auf der einen Seite Gemeinden und deren Strukturen betont, auf der anderen Seite aber ein Werk verfasst, das einen universalen Charakter hat und ein Handbuch für viele unterschiedliche Gemeinden sein kann. Der starke Schwerpunkt auf der Gemeinde in Jerusalem fungiert dabei als ein Einheit stiftendes Element. Die Beschreibung der Jerusalemer Urgemeinde in idealisierender Form in Apg 2–5 untermauert dies. Lukas dürfte also bei aller Verschiedenheit und Unabhängigkeit lokaler Gemeinden, wie sie in der Apostelgeschichte immer wieder zum Vorschein kommen, doch für eine grundlegende Einheit argumentiert haben. Genau diese wird im Apostelkonzil zementiert, und es ist die Jerusalemer Gemeinde, die diesen Streit schlichtet.

E. Das Lukasevangelium in heutiger Sicht Die moderne Forschung zum Lukasevangelium beschäftigt sich mit zwei Themenkreisen ausführlich. Erstens stellt sich die Frage nach dem literarischen Genre neu, da das Evangelium Teil eines größeren Werkes ist. Zweitens wird unterschiedlich beurteilt, wie stark Evangelium und Apostelgeschichte ein judenchristliches oder heidenchristliches Milieu repräsentieren. Die Frage nach dem literarischen Genre kann nicht unabhängig von der Apostelgeschichte beurteilt werden. Gleichzeitig ist der historische Horizont beider Schriften evident. Daher wird häufig argumentiert, dass Lukas sein Werk als antike Geschichtsschreibung konzipiert habe. Man darf allerdings kaum Vergleiche zu moderner Geschichtsschreibung ziehen ; Geschichtsschreibung in der Antike hatte ganz andere Zielsetzungen und damit auch einen ganz anderen Zugang zur Darstellung historischer Ereignisse. Deshalb stellt 223

sich mit einer solchen Einordnung des Doppelwerks das Problem historischer Zuverlässigkeit. Dies betrifft die antike Geschichtsschreibung generell. So stellt sich in der Apostelgeschichte heraus, dass viele Berichte des Lukas kaum in Einklang zu bringen sind mit dem, was Paulus in seinen Briefen schildert. Die Berichte über das Apostelkonzil in Apg 15 und Gal 2 sind doch sehr unterschiedlich, und auch die Gemeindegründungen des Paulus werden unterschiedlich beschrieben. Fraglich wird damit allerdings, wie die anderen von Lukas beschriebenen Ereignisse historisch zu beurteilen sind. Gelegentlich wird versucht, diese Diskrepanzen zwischen Lukas und Paulus zu harmonisieren, indem man die lukanische Geschichtsschreibung als popularisierend beschreibt. Andere Forscher nehmen von dem Genre antiker Geschichtsschreibung vollständig Abstand und betrachten das Doppelwerk als historisierende Fiktion. In der Apostelgeschichte finden sich genügend skurrile Geschichten, die letztere These stützen können, darunter die Erzählung von Hananias und Sapphira (Apg 5,1–11) oder die äußerst humorvolle Erzählung vom Hohepriester Skevas und seinen Söhnen (Apg 19,13–16). Lukas benutzt offensichtlich historisierende und auch populäre Stilmittel, um das Doppelwerk literarisch zu formen. Und selbst wenn man eine gehörige Skepsis gegenüber den historischen Details des Lukas an den Tag legt, gilt doch, dass wir für die Geschichte der ersten Gemeinden kaum andere Quellen zur Verfügung haben. Diese Mischung aus Fakt und Fiktion macht aber einen Großteil des Charmes des Doppelwerks aus. Auch die Frage nach jüdischer oder heidnischer Theologie des Doppelwerks kann kaum entschieden werden. Klar ist, dass Lukas die Ausbreitung des Christentums in die heidnische Welt beschreibt, gleichzeitig aber auch immer wieder die Rückbindung an jüdische Traditionen sucht. So beschreibt 224

Lukas die Heidenmission des Paulus regelmäßig als eine Mission, die ihren Ausgang in jüdischen Synagogen nimmt und dann unter Heiden Anhänger findet. Auch Jesus selbst erscheint den jüdischen Traditionen gegenüber respektvoll. Allerdings ist auch deutlich, wie vom Ausgang der Erzählung immer wieder die Heiden in den Blick genommen werden und auch viele Aussagen des jüdischen Lehrers Jesus ­vorausweisen auf einen heidenchristlichen Kontext. Lukas macht einen großangelegten Versuch, jüdische und heidnische Traditionen miteinander in Einklang zu bringen. So tritt in der Erzählung des Hauptmanns von Kafarnaum nicht er selbst auf, sondern er sendet Freunde. Es sind Älteste der jüdischen Gemeinde (Lk 7,3), die für ihn eintreten, seinen Respekt für die jüdischen Traditionen bezeugen und Jesus bitten, seinen Wunsch zu erfüllen. Die Verbindung zwischen Juden und Heiden geschieht unter anderem über jüdische Verheißungen und ihre Erfüllungen oder über die Prophezeiungen der Schrift, die Jesus betreffen. Doch die Verpflichtung auf Gesetz, auf Beschneidung und auf Speisevorschriften für die Heiden entfällt. Daher dürfte die Frage, ob Lukas ein judenchristliches oder ein heidenchristliches Werk geschrieben hat, im Wesentlichen eine Frage des Akzentes sein. Betont man die Anfänge, nimmt das Werk einen judenchristlichen Charakter an, konzentriert man sich auf das Ende, wird der heidenchristliche Aspekt immer stärker. Lukas gelingt es, beide Enden zusammenzuhalten, und darin liegt wohl auch ein Teil des literarischen Genies des Werks. Das Lukasevangelium ist heute nicht zu Unrecht eines der beliebtesten Evangelien. Es zeichnet ein warmes Porträt Jesu als eines sich den Menschen in ihrer Not zuwendenden Messias und Erlösers. Er ist der Bote einer in vielen Gleichnissen beschriebenen freundlichen Barmherzigkeit Gottes. Lukas kann seine Figuren mit Humor zeichnen, und er kehrt im225

mer wieder zur Freude zurück, die Glaube und Nachfolge in Menschen auslösen. Lukas versammelt einige der sympathischsten Figuren der Jesustraditionen in seinem Evangelium und beschreibt sie mit viel Einfühlungsvermögen. Lukas geht Konflikten nicht aus dem Weg, aber er zeigt auch, dass diese Konflikte nicht zum Fürchten, sondern Anlass zur Hoffnung sind : „Wenn (all) das beginnt, dann richtet euch auf, und erhebt eure Häupter ; denn eure Erlösung ist nahe“ (Lk 21,28). Hinter der Beschreibung der Menschenfreundlichkeit und des Erbarmens Gottes steht allerdings auch ein Evangelium, das Unrecht klar beim Namen nennt und eine Ethik entwickelt, die nicht eine Ethik im Hoffen auf eine Belohnung beim endzeitlichen Gericht ist, sondern die von Menschen eine Imitation der Menschenfreundlichkeit Gottes erwartet : „Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist“ (Lk 6,36). Lukas wendet die Aufmerksamkeit von einer nahen Erwartung der Erfüllung hin zu einer Verantwortlichkeit für die Gegenwart. Gerade die Anwaltschaft Jesu für die Armen und sozial Benachteiligten als Ausdruck der Barmherzigkeit Gottes ist eine bleibende und provokante Herausforderung an Christen in allen Zeiten.

F. Literatur zur Vertiefung Leicht lesbare Kommentare bieten Wilfried Eckey : Das Lukasevangelium (Neukirchen–Vluyn 2006) und Detlev Dormeyer : Das Lukasevangelium (Stuttgart 2011). Lohnenswert, aber auch schwieriger ist Karl Löning : Das Geschichtswerk des Lukas (2 Bände ; Stuttgart 1997–2006).

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Kapitel 5 : Das Johannesevangelium

Nicholas Wright berichtet von einem Gespräch zwischen dem Erzbischof von Canterbury, William Temple, und Charles Gore, anglikanischer Bischof von Oxford, während des Zweiten Weltkriegs. Gore erzählte, dass er das Johannesevangelium besuche wie ein schönes und fremdes Land, während er dann zu Paulus heimkehre. Tatsächlich hat das Johannesevangelium einen ganz eigenen und oft fremdartig anmutenden Charakter. Die vielen langen und oft geheimnisvollen Reden Jesu sprechen eine Sprache, die heute eher unzugänglich erscheint. Die Theologie eines Gottessohns, gezeugt vor aller Zeit, der hinabkommt, um wieder aufzufahren und die Seinen an sich zu ziehen, ist stark mystisch geprägt, aber eben auch gerade deswegen nicht unmittelbar zugänglich. Temple erwiderte Gore übrigens, dass für ihn Johannes viel mehr als Paulus seine theologische Heimat sei. Das Johannesevangelium hat tatsächlich äußerst attraktive Seiten. Die Begegnungen Jesu mit Nikodemus, mit der Frau am Jakobsbrunnen, mit dem Blindgeborenen oder mit Lazarus und ­seinen Schwestern sind nicht nur großartig gestaltete Erzählungen, sondern auch lebendige Berichte über die Möglichkeit der Gottesbegegnung. Das Johannesevangelium folgt nicht der markinischen Anlage des Wirkens in Galiläa, einer Reise nach Jerusalem und der Passion und Auferstehung. Johannes berichtet mehrfach über Reisen nach Jerusalem. Es gibt auch sonst erstaunlich wenig Gemeinsamkeiten in der Erzählung zwischen Johan227

Unterschiede • Jesu Selbstverständnis als der prä-existente Sohn Gottes (17,5) • Jesu konsequente Selbstoffenbarung („Ich bin ...“) • öffentliches Wirken stärker in Jerusalem als in Galiläa verortet • keine Kindheitsgeschichte, keine Taufe und Versuchung Jesu, keine Mähler mit Zöllnern oder Sündern, keine Verklärung ; keine Besessenen oder Dämonenaustreibungen, kein Gebot der Feindesliebe, sondern „liebt einander“, kein Aufruf zur Umkehr • keine Aussendung der Jünger durch den vorösterlichen Jesus, kein Aufruf zur Selbstverleugnung oder Aufgabe von Besitz • Fußwaschung anstelle von Eucharistie beim letzten Abendmahl • Predigt vom „Leben“ anstelle von der Herrschaft Gottes • lange Diskurse und Dialoge anstelle von Gleichnissen • nur sieben Wunder, aber darunter Wunder ohne synoptische Parallelen : Hochzeit zu Kana, Heilung des Blindgeborenen, Auferweckung des Lazarus • anderer Todestag Jesu Gemeinsamkeiten • Wirken des Täufers • Auferstehungserscheinungen • Brotvermehrung in Joh 6,1–13 und Mk 6,30–54, mit wörtlicher Entsprechung der 200 Denare • wörtliche Entsprechungen zwischen Joh und Mk in der Geschichte der Salbung von Betanien : Joh 12,1–8 und Mk 14,3–9 • Parallelen mit Lk auf motivischer Ebene : Lazarus, Maria und Martha ; Hannas ; Salbung der Füße Jesu durch Maria, die Schwester des Lazarus Abbildung 47 : Johannes und die Synoptiker

nes und den synoptischen Evangelien. Selbst die Wunder, die Johannes berichtet, sind entweder sehr eigenwillig interpretiert oder vollständig unabhängig. So hat lediglich Johannes eine Hochzeit zu Kana, eine Heilung am Teich Betesda, eine Blindenheilung am Teich Schiloach und eine Auferweckung des Lazarus. Sowohl Stil und Struktur wie auch die theologischen Interessen des Johannes lassen es als ein ganz besonderes Evangelium innerhalb des neutestamentlichen Korpus erscheinen. Markus 228

schreibt ein kleines Handbuch über die Jüngerschaft als ein Abbild Jesu selbst, trotz aller Versagen. Matthäus nimmt die Leserinnen und Leser in die Synagoge mit, wo das Volk Gottes mit seinen Traditionen und ehrwürdigen Gesetzen und Schriften lernt, welche Bedeutung Jesus als Messias und Immanuel hat. Lukas führt hinaus in die kultivierte griechische Welt der Politik und Philosophie und zeigt uns die Jünger als Menschen, die in dieser Welt vom Geist erfüllt und daher überzeugend sind. Johannes hingegen öffnet eine Perspektive, von der man die Ewigkeit schaut : „Und das Wort, der Logos, wurde Fleisch und wohnte unter uns, und wir schauten seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit, wie sie ein Einziggeborener vom Vater hat, voller Gnade und Wahrheit“ (Joh 1,14). Deshalb braucht das Evangelium auch keine Verklärung Jesu, seine Herrlichkeit ist im Johannesevangelium nicht verhüllt.

A. Wie entstand das Johannesevangelium ? Das Johannesevangelium ist Teil einer Sammlung, die johanneische Literatur genannt wird. Sie umfasst neben dem Evangelium auch die drei Johannesbriefe, die in theologischer und literarischer Hinsicht mit dem Evangelium verwandt sind und wohl auf das Evangelium Bezug nehmen. Auch die Offenbarung des Johannes wird oft zur johanneischen Literatur gerechnet, weil der Autor sich explizit Johannes nennt. Doch darüber hinaus gibt es kaum Bezüge in Sprache, Stil oder Inhalt. Gerade auf der Ebene der Christologie, der Ekklesiologie und der Endzeiterwartung gibt es gravierende Unterschiede. Andererseits finden sich Gemeinsamkeiten auf motivischer Ebene. So ist beiden Schriften die Idee vom Wasser des Lebens und von Jesus als dem Lamm Gottes gemeinsam. Bei den synoptischen Evangelien stand immer die Annahme im Hintergrund, dass das Evangelium zwar aus Quellen he229

raus entstand, dass aber am Ende der Entwicklung ein Evangelist die Arbeit übernahm, ein kohärentes und konsistentes literarisches Werk zu schaffen. Beim Johannesevangelium muss diese Annahme zumindest abgeschwächt werden, da sich in der Endredaktion des Evangeliums erhebliche Unregelmäßigkeiten finden. Drei Phänomene stechen besonders heraus. a. Unregelmäßigkeiten im Text des Johannesevangeliums

Erstens gibt es Inkonsistenzen im sprachlichen Stil. Der Prolog des Evangeliums ( Joh 1,1–18) ist sehr kunstfertig durch ineinander verwobene Strukturen und poetische Sprache, die sich allerdings im Evangelium später nur selten wiederfindet. Begriffe wie das personifizierte Wort, Gnade und Vollkommenheit finden sich später nicht mehr. Auch die Sprache von Joh 21 ist deutlich unterschieden vom Rest des Evangeliums. Unterschiede im sprachlichen Stil • Beispiele : 1,1–18 (Prolog), 21 (Supplementkapitel) Brüche in der Sequenz und Inkonsistenzen • Beispiele für Brüche : 14,31 ; 20,30–31 • Beispiele für Inkonsistenzen : 4,54 („zweites“ Zeichen) ; 16,5 (Frage nach dem Wohin Jesu) Wiederholungen • Beispiele : 6,35–50 und 6,51–58 ; 14,1–31 und 16,4–33 Abbildung 48 : Ungereimtheiten im Johannesevangelium

Zweitens trifft man im Johannesevangelium auf Brüche in der Erzähllogik. Ein Beispiel für dieses Phänomen ist Joh 14,31. Dort sagt Jesus zu den Jüngern : „Steht auf, lasst uns von hier auf brechen“, und suggeriert das Ende der in Joh 13 begonnenen Abschiedsreden Jesu. Aber die Reden 230

enden hier nicht, für drei weitere Kapitel instruiert Jesus seine Jünger. In Joh 20,30–31 findet sich ein Epilog zum Evangelium, in dem eine Zusammenfassung des Evangeliums sowie der Grund für seine Abfassung gegeben werden. Trotzdem folgt ein weiteres, scheinbar unabhängiges Kapitel mit einem eigenen Epilog. Möglicherweise gibt es auch ein doppeltes Ende des öffentlichen Wirkens Jesu in Joh 10,40–42 und 12,37–43. Auch fragt man sich, wer eigentlich in Joh 3,31–36 spricht. Der Kontext suggeriert Johannes den Täufer, doch die Worte würden eher zu Jesus passen. In 12,44–50 überrascht, dass Jesus eine öffentliche Rede hält, wo er sich doch in Joh 12,36 noch ausdrücklich versteckt hat. Neben solchen Problemen der Sequenz gibt es auch Inkonsistenzen. Nach dem Wunder der Hochzeit in Kana vollbringt Jesus weitere Wunder in Jerusalem ( Joh 2,23). Danach kehrt er nach Kana zurück, um ein weiteres Wunder zu wirken, das nun allerdings ausdrücklich als das zweite bezeichnet wird ( Joh 4,54). Beim letzten Abendmahl fragen sowohl Petrus wie Thomas nach dem Weg Jesu ( Joh 13,36 ; 14,5). Doch in Joh 16,5 klagt Jesus, dass niemand frage, wohin er gehe. In Joh 3 befindet sich Jesus die ganze Zeit in Jerusalem, doch in Joh 3,22 wird plötzlich erzählt, dass Jesus nach Judäa kam. Drittens gibt es vor allem in den ausgedehnten Redepassagen Materialien, die entweder Wiederholungen in unwesentlich veränderten Worten sind oder einfach nicht in den Kontext passen. Was beispielsweise in Joh 5,19–25 gesagt wird, wird teilweise wörtlich in Joh 5,26–30 wiederholt. Der einzige Unterschied scheint eine Verschiebung eschatologischer Erwartung zu sein. In Joh 6,35–50 präsentiert Jesus sich selbst als das Brot des Lebens, in Joh 6,51–58 seinen Leib als das Brot des Lebens in wesentlich übereinstimmenden Formulierungen. Joh 16,4–33 wiederholt im Wesentlichen, was schon in 14,1–31 gesagt wurde. 231

Ein gesondertes Problem stellt die Erzählung von der Begegnung Jesu mit der Ehebrecherin ( Joh 7,53–8,11) dar. Diese Erzählung hat erst spät in das Johannesevangelium Eingang gefunden ; die frühesten neutestamentlichen Manuskripte überliefern diese Erzählung nicht, andere platzieren sie im Lukasevangelium. Obwohl die Geschichte sehr früh im Umlauf war und schon von Papias von Hierapolis erwähnt wird, wird sie erst ab etwa 900 n. Chr. regulärer Bestandteil des Johannesevangeliums. Die Geschichte beweist, dass alte Jesustraditionen noch lange unabhängig von den Evangelien im Umlauf waren. Um die Unregelmäßigkeiten und Brüche des Evangeliums zu erklären, wurden in der Forschung mehrere Modelle entwickelt, die auch heute noch diskutiert werden. b. Erklärungsmodelle

1. Das erste Modell geht von mehr oder weniger zufälligen Verschiebungen von Material innerhalb des Evangeliums aus. Dies Modell war schon für den Kirchenvater Tatian um das Jahr 175 attraktiv. Auch in neuerer Literatur wird immer wieder argumentiert, dass das fünfte Kapitel logisch eigentlich dem sechsten folgt und dass im Laufe der Zeit, aus welchen Gründen auch immer, die ursprüngliche Reihenfolge umgekehrt wurde. Die Schwierigkeiten solcher Modelle bestehen darin, dass sie selten mehr Probleme lösen, als sie aufwerfen. So können sie nicht erklären, warum es überhaupt zu solchen Verschiebungen gekommen sein soll und wer diese vorgenommen haben mag. Zudem gibt es in den unterschiedlichen Manuskripten keinerlei Hinweise darauf, dass solche Verschiebungen stattgefunden haben. Lediglich die heute bekannte Sequenz der Kapitel ist textkritisch überliefert. Außerdem geht ein solches Verschiebungsmodell davon aus, dass der Text, so wie er überliefert ist, weniger Sinn macht als in einer neu arrangier232

ten Form. Dem allerdings widersprechen viele Kommentatoren zu Recht. 2. Ein weiterer Versuch erklärt die Diskrepanzen des Evangeliums mit der Kombination unterschiedlicher Quellen durch einen Evangelisten, der wenig Eingriffe vornahm, um die Quellen logisch miteinander zu verbinden. Bei diesen Quellen wird zudem behauptet, sie seien von den synoptischen Traditionen unabhängig. Rudolf Bultmann veröffentlichte 1941 einen Kommentar, in dem er drei Quellen unterschied, die teilweise heute noch akzeptiert werden. Die erste Quelle versammelt hauptsächlich die Wunder Jesu. Die Wunder werden bei Johannes als Zeichen beschrieben, daher dann auch der Name „Zeichenquelle“. Eine zweite Quelle besteht aus Jesu Diskursen und Reden, von Bultmann die Offenbarungsreden Jesu genannt. Die dritte Quelle enthält die Passionserzählung und die Auferstehung. Bultmann nahm einen „kirchlichen Redaktor“ an, der die Quellen zusammenfügte und für einen kirchlichen Gebrauch adaptierte. Ihm verdankt sich auch das Supplementkapitel Joh 21. Allerdings sprechen vier Gründe gegen eine Theorie der Komposition aus drei Quellen. Erstens sind die Zeichen Jesu doch oft sehr eng mit den darauffolgenden Diskursen verbunden, so dass eine klare Quellenscheidung von Zeichen und Diskursen kaum möglich ist. Zweitens kann man innerhalb der Diskurse auch immer wieder Sprüche erkennen, die wohl auf alte Traditionen zurückgehen, wie sie auch den Synoptikern bekannt sind. Drittens sind auch stilistische Unterschiede zwischen den einzelnen Quellen nicht nachweisbar. Und viertens ist kein anderes literarisches Werk der Antike bekannt, das eine solche Nebeneinanderstellung von Quellen ohne weitere Überarbeitung kennt. 3. Das dritte Modell geht davon aus, dass es im Laufe der Entstehung des Evangeliums immer wieder zu Änderungen, Redaktionen und Hinzufügungen kam, die ohne Rücksicht 233

Verschiebungsmodell • Joh 6 vor Joh 5 • andere Verschiebungen besonders in den Abschiedsreden Quellenmodell nach R. Bultmann • Zeichenquelle : Wundergeschichten • Offenbarungsquelle : Diskurse und Reden Jesu • Passions- und Osterquelle • kirchlicher Endredaktor Gemeindeentwicklungsmodell nach U. C. von Wahlde • erste Fassung : Leben Jesu mit Zeichen ; jüdische Gemeinde • zweite Fassung : Konflikte mit Juden, hohe Christologie ; ewiges Leben schon jetzt • Ermahnungen der Johannesbriefe • dritte Fassung : endgültige Trennung vom Judentum ; ewiges Leben in der Zukunft ; kirchliche Elemente wie Taufe, Eucharistie, Sündenvergebung ; Betonung der Menschheit Jesu durch Leiden ; Einfügung von Joh 15–17 ; 21 Gemischtes Modell nach M. Theobald • Quellen und Überlieferungen : Herrenworte, Zeichenquelle, Passions- und Ostererzählung • Abfassung des Evangeliums durch einen Evangelisten anhand der Quellen und eigener Traditionen • Redaktion durch eine Gemeinde ; Hinzufügung weiterer theologischer Schwerpunkte, Joh 15–17 ; 21 Abbildung 49 : Erklärungsmodelle

auf einen vielleicht ursprünglichen Plan des Evangeliums eingefügt wurden. Die Logik der Erzählung und die sequentielle Abfolge von Ereignissen rückt in den Hintergrund. Betont werden damit aber Weiterführungen in der Aussageabsicht oder der theologischen Schärfung des Materials. Dabei ist wahrscheinlich, dass die Entstehung des Evangeliums in seiner heutigen Form auch durch äußere Faktoren beeinflusst wurde. Ein solcher Einfluss, der auch im Evangelium immer wieder sichtbar wird, ist der Ausschluss einer jüdisch-christlichen Gruppe aus der jüdischen Synagoge aufgrund ihres Glaubens an Jesus ( Joh 9,22.34 ; 12,42 ; 16,2). In der Regel 234

werden bei der Rekonstruktion der Entstehung des Evangeliums in verschiedenen Entwicklungsstufen der Gemeinde auch die drei Johannesbriefe herangezogen, die sich offensichtlich als ein Kommentar auf Teile des Evangeliums verstehen. Eine moderne Rekonstruktion der Entwicklung der johanneischen Gemeinde wurde zuletzt von Urban C. von Wahlde vorgelegt. Sie beginnt mit der ersten schriftlichen Abfassung eines Evangeliums, das schon ein vollständiger Bericht über das Leben, das Sterben und die Auferstehung Jesu ist und die Wunder inkludiert, die schon in dieser frühen Phase als Zeichen interpretiert werden. In dieser Phase werden die Gegner Jesu noch als Pharisäer, Schriftgelehrte, Hohepriester und Älteste bezeichnet. Die Gemeinde ist jüdisch und glaubt an Jesus als den Messias, der größer ist als Mose. Die zweite Phase der Entwicklung wird durch immer stärker werdende Konflikte mit den jüdischen Führern ausgelöst. Diese Konflikte gehen einher mit einer deutlichen Schärfung der Interpretation der Christologie. Jesus wird nun interpretiert als der Beginn der endzeitlichen Sendung des Geistes Gottes an die Jünger nach seiner Verherrlichung. Die menschliche Seite Jesu tritt in den Hintergrund, er wird nun als das Wort Gottes vor aller Schöpfung überhöht. Als Konsequenz erhalten die Glaubenden ewiges Leben und entgehen so dem Gericht. Gotteserkenntnis ist nun direkt, ethische oder moralische Instruktionen sind nicht nötig. Die Gegner der johanneischen Gruppe werden nun nicht mehr differenziert, sondern generisch als „die Juden“ bezeichnet. In der zweiten Edition kommen Anachronismen und Ungereimtheiten in das Evangelium. In einer dritten Stufe entstehen die Johannesbriefe. Entgegen der realisierten Endzeit in der zweiten Edition werden nun das kommende Gericht sowie ein Rückgriff auf die ältesten Traditionen betont, die auch Jesus betreffen. 235

Damit wird das Evangelium noch einmal überarbeitet. Es treten Themen hinzu wie die körperliche Auferstehung, die Betonung von Jesu Menschsein und Leiden. Rituale wie Taufe, Eucharistie und Sündenvergebung werden in das Evangelium integriert. Gleichzeitig wird auch das kommende Gericht wieder stärker betont. Diese dritte Edition greift allerdings nicht in die literarische Anlage der zweiten Edition ein, sondern fügt das neue Material additiv hinzu, so dass Brüche und Ungereimtheiten bleiben. 4. Ein viertes Modell ist eine Mischform aus den Modellen eins bis drei. Michael Theobald legte einen neuen Entwurf vor, in dem er von vor-johanneischen Traditionen ausgeht, die Sprüche Jesu enthalten haben, aber auch schon komponierte Materialien wie den Christushymnus des Prologs und eine schriftliche, hauptsächlich aus Wundergeschichten bestehende Zeichenquelle sowie eine schriftliche Passions- und Ostererzählung. Diese Quellen wurden von einem Evangelisten übernommen und zusammen mit eigenen Kompositionen und Erweiterungen in ein Evangelium geformt. Dieses Evangelium wurde schließlich in einer Gemeinde noch einmal überarbeitet und redigiert. Bei dieser Redaktion wurden auch Textblöcke umgestellt. Die Umstellung betrifft die Kapitel 5–7. Besonders die Modelle 3 und 4 gehen von einem langen Traditionsprozess aus, der sich über Jahrzehnte erstreckt haben dürfte. c. Schlussfolgerungen

Die verschiedenen Modelle zur Erklärung der heutigen Form des Johannesevangeliums bieten äußerst unterschiedliche Herangehensweisen an die Probleme des Texts dar. Vielleicht am wenigsten überzeugend sind die Modelle, die sich auf die Verschiebung von Material oder auf Quellen beschränken. Damit ergeben sich allerdings auch durchaus interessante Schlussfolgerungen. 236

1. Entstehungsmodelle, wie sie bei den synoptischen Evangelien hilfreich waren, greifen beim Johannesevangelium nicht. Die Entstehungsgeschichte lässt sich nicht einengen auf teilweise gut identifizierbare Quellen, die schließlich von einem Evangelisten zusammengestellt, ergänzt und in eine kohärente literarische Form gebracht wurden. Offensichtlich gab es einen sorgfältigen Autor wie Lukas nicht, der das Endprodukt in eine „geordnete Form“ gebracht hätte. • eine Zeichenquelle mit sieben Wundern Jesu : 2,1–12 ; 4,46–54 ; 5,1–9 ; 6,1–13 ; 6,15–25 ; 9,1–7 ; 11,1–44 • Sammlung von Erinnerungen des geliebten Jüngers • Sammlung von Reden und Diskursen als Basis für die Abschiedsreden in Joh 13–17 Abbildung 50 : Hypothetische Quellen im Johannesevangelium

Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Johannesevangelium überhaupt keine Quellen gekannt hat. Sie sind zwar weniger genau definierbar, doch nimmt die Mehrheit der Forscher an, dass es eine Art Zeichenquelle gegeben hat. Ob diese Quelle lediglich Wundergeschichten oder vielleicht auch erklärendes oder interpretierendes Material enthalten hat, ist umstritten. Zudem wird gelegentlich angenommen, dass die Zeichenquelle schon Material zur Passion und Auferstehung enthalten habe. Wenn dem so wäre, dürfte auch das Wundermaterial schon Erläuterungen gehabt haben ; wir hätten es dann mit einer Urform eines Evangeliums zu tun. Auch eine weitere Quelle wird oft angenommen. Sie enthielt Diskurse und Reden Jesu, die heute hauptsächlich in den Abschiedsreden von Joh 13–17 versammelt sind. Möglicherweise enthielt sie weiteres Material, das in anderen Diskursen verarbeitet wurde. Außerdem zeigen vor allem die Ab237

schiedsreden, dass dieses Material später stark überarbeitet und ergänzt wurde. Dies Material könnte auch mit einer Person verbunden sein, die zwar namenlos bleibt, die jedoch gerade in den späten Kapiteln des Evangeliums eine große Rolle spielt : Es handelt sich dabei um den geliebten Jünger, der in Joh 13,23 eingeführt wird und in Joh 21,24 explizit als der Autor des Evangeliums bezeichnet wird. Möglicherweise sorgen die persönlichen Erinnerungen des geliebten Jüngers auch für manche Details in der Passionserzählung, die von den Synoptikern nicht berichtet werden. 2. Vor allem die Modelle drei und vier rücken die Gemeinde stark in den Vordergrund. Sie nehmen an, dass sich an der Entwicklungsgeschichte des Evangeliums eine Sozialgeschichte der hinter dem Evangelium stehenden Gemeinde ablesen lässt. Sie wird in der Regel rekonstruiert als die Geschichte einer Gemeinde, die sich zunächst als Teil des Judentums sah, aber im Laufe der Zeit Konflikte erlebte, die den Ausschluss aus der Synagoge bedeuteten. Am Ende steht eine Gemeinde, die sich endgültig und mehr oder weniger freiwillig vom Judentum getrennt hat. In der Regel werden die Konflikte mit der Christologie des Evangeliums verbunden. Die Frage nach der Integration von Heiden spielt in diesem Zusammenhang kaum eine Rolle. Wie nahe an der historischen Realität eine solche Rekonstruktion ist, sei dahingestellt. Allerdings wird hier ein großer Unterschied zur synoptischen Tradition deutlich : Bei den Synoptikern hat der Evangelist sehr viel mehr Profil und Bedeutung als in der Analyse des Johannesevangeliums. Zwar wird der geliebte Jünger als Traditionsträger gesehen, der für die Wahrhaftigkeit des Evangeliums garantiert. Doch ist es eigenartig, dass er im Evangelium zwar beschrieben, aber nie namentlich genannt wird. Manche Forscher schließen daraus, dass es sich bei diesem Jünger um eine literarische Erfindung handelt, die die Gemeinde repräsentieren soll, und nicht 238

um eine reale und historische Person. Aber auch hier ist Sicherheit nicht möglich. 3. Das Johannesevangelium ist das einzige der Evangelien im Neuen Testament, das in seiner Endfassung weder eine literarische noch eine erzähllogische Abfolge weiter Teile der Erzählung verfolgt. Man mag argumentieren, dass dies zufällig sei, doch steht dem eine hohe literarische Kunst in einzelnen Abschnitten entgegen. Es liegt der Schluss nahe, dass die konsequente Abfolge von Ereignissen oder auch Diskursen im Gesamtwerk kein Ziel in der Abfassung gewesen ist. Wenn dem so ist, müssen allerdings auch Theorien einer zufälligen Umkehrung von Passagen oder ganzen Kapiteln mit Skepsis betrachtet werden. Wenn dann noch die modernen Rekonstruktionen die Probleme nicht wirklich lösen können, müssen sie als gescheitert gelten. 4. Die synoptischen Evangelien erwecken den Eindruck, die Traditionen um Jesus seien relativ homogen gewesen, selbst wenn es einzelne theologische oder auch sozialgeschichtlich motivierte Unterschiede in der Ausformung der Tradition gegeben hat. Dieser Eindruck entsteht, weil die synoptischen Evangelien literarisch miteinander in Beziehung stehen. Mit dem Johannesevangelium allerdings macht sich eine Form der Jesusüberlieferung bemerkbar, die bei allen Gemeinsamkeiten doch enorm unterschiedliche Akzente aufweist. Diese Akzente machen sich in literarischer und theologischer Hinsicht bemerkbar. 5. Nach Jahrzehnten archäologisch anmutender Grabungen in den verschiedenen Schichten und Traditionen des Evangeliums wird in der neueren Johannesforschung wieder die Frage aufgeworfen, ob das Johannesevangelium in seiner heutigen Form eine mögliche Eigenständigkeit und Kohärenz besitzt. Gerade die narrativen Methoden scheinen geeignet, trotz mancher Inkonsistenzen eine mögliche erzählerische Gestalt zu entdecken, die dem Evangelium 239

unterliegt und ihm eine einheitliche theologische Richtung gibt.

B. Die literarische Kunst des Johannesevangeliums Trotz der vielen Brüche und Inkonsistenzen innerhalb des Evangeliums ist erstaunlich, wie dramatisch Johannes erzählen kann, mit welcher Kunst auch längere Erzählungen zusammengehalten werden. Selbst die langen und sich oft wiederholenden Abschiedsreden in Joh 13–17 erhalten einen dramatischen Auf bau, indem Johannes die Reden während eines Mahles platziert, das mit den beiden prophetischen Handlungen Jesu, der Fußwaschung und der Gabe des Bissens an Judas Iskariot, beginnt. Das Mahl endet schließlich mit einem längeren Gebet Jesu für die Jünger und die Welt, bevor die Passion ihren Lauf nimmt. Zudem kann man trotz der Brüche im Evangelium eine Gliederung erkennen, die für ein angeblich immer wieder erweitertes Evangelium erstaunlich ausbalanciert ist. a. Die Gliederung

Das Evangelium lässt sich leicht in Teile gliedern. Der Prolog in Joh 1,1–18 schildert Jesus als das Wort Gottes von Ewigkeit her. Darauf folgt ein langer Teil ( Joh 1,19–12,50), der das öffentliche Wirken Jesu beschreibt. Dieser Teil wird oft das „Buch der Zeichen“ genannt, sollte aber nicht verwechselt werden mit der Zeichenquelle. Innerhalb dieses Teils finden sich sieben Wunder Jesu, aber auch längere Texte, die sich mit jüdischen Festen beschäftigen. Johannes argumentiert in diesen Teilen stark für eine Ablöse jüdischer Riten und Feste durch den Glauben an Jesus. Das Buch der Zeichen schließt mit der Auferweckung des Lazarus, die für die jüdischen Führer zum Grund wird, die Tötung Jesu zu verlangen. 240

I. Prolog : Das Wort Gottes ist Fleisch geworden (1,1–18) II. Das „Buch der Zeichen“ (1,19–12,50) a. erste Offenbarung Jesu an die Jünger (1,19–2,11) b. vom ersten zum zweiten Zeichen in Kana (2,12–4,54) c. jüdische Feste, Leben und Licht (5,1–10,42) d. Auferweckung des Lazarus, Jerusalem (11,1–12,50) III. Das „Buch der Herrlichkeit“ (13,1–20,31) a. Letztes Mahl und Abschiedsreden (13,1–17,26) b. Passion, Tod, Grablegung (18,1–19,42) c. vier Auferstehungsszenen in Jerusalem (20,1–29) d. Grund der Abfassung des Evangeliums (20,30–31) IV. Epilog : Nachtragskapitel (21,1–25) a. Auferstehungsszenen in Galiläa (21,1–22) b. zweiter Schluss (21,23–25) Abbildung 51 : Gliederung des Johannesevangeliums

Der nächste Teil wird analog zum Buch der Zeichen das „Buch der Herrlichkeit“ genannt ( Joh 13,1–20,31). Innerhalb dieses Abschnitts finden sich die Reden Jesu an seine Jünger während des letzten Mahles ( Joh 13–17). Es folgen Passion und Tod Jesu ( Joh 18–19). In vier Szenen wird schließlich die Auferstehung Jesu geschildert. Der Abschnitt schließt mit einer Bemerkung über den Grund der Abfassung des Evangeliums ( Joh 20). Die Passion und Auferstehung werden konsequent als die Verherrlichung Jesu interpretiert, daher auch der Name dieses Teils. Joh 21 schließlich bildet einen Epilog, der von den Begegnungen des Auferstandenen mit seinen Jüngern in Galiläa berichtet. In diesem Abschnitt bekommt die Figur des Petrus noch einmal eine besondere Rolle. Am Ende wird der geliebte Jünger als der Garant der Tradition und der Verfasser des Evangeliums bezeichnet. Generell wird dieses Kapitel als ein erst in späterer Redaktion hinzugekommener Text betrachtet. Daher wird Joh 21 oft auch als Nachtragskapitel bezeichnet. 241

Die einfache Gliederung des Textes deutet schon an, dass dem Johannesevangelium eine innere Logik zugrunde liegt, die sich eher thematisch als biographisch sequentiell strukturiert. Das Evangelium zeugt von einer Kohärenz, die sich weder geographisch noch in der Beschreibung einer geordneten Abfolge von Ereignissen festmachen lässt. Der Zusammenhalt des Evangeliums ist auf der thematischen und theologischen Ebene anzusiedeln. Diese jedoch wird von einer bemerkenswerten Erzählweise unterstützt. b. Die Kunst des Erzählens im Johannesevangelium

1. Obwohl das Johannesevangelium über einen längeren Zeitraum hinweg entstanden ist, finden sich doch verschiedene Stilmittel, die dem Werk Einheit und Kohärenz vermitteln. Zuvorderst steht ein Sprachstil, der von dem der Synoptiker sehr verschieden ist. Bei Johannes finden sich kaum kleinere Einheiten, die unmittelbar und ohne viel Kontext verständlich wären. Einige der Wunder Jesu werden begleitet von langen Diskursen, ohne die die Wunder selbst kaum verständlich sind. Der Sprechstil Jesu ist sehr viel feierlicher und ausgedehnter. Stellen die Synoptiker oft kurze und prägnante Aussagen Jesu heraus, so ist der johanneische Jesus ausführli• 3,5 : „in die Herrschaft Gottes eingehen“ als radikalisierte Form von Mt 18,3 • 3,29 : Motiv der Gegenwart Jesu als des Bräutigams (Mk 2,19–20) • 5,19–30 : Jesus und die Beziehung zum Vater (Mt 11,27) • 6,20 : „Ich bin es, fürchtet euch nicht !“ (Mk 6,50) ; möglicherweise als Ausgangspunkt für die johanneischen „Ich bin“-Aussagen • 6,26–58 : Die Rede vom Brot des Lebens als lange Reflexion über „Dies ist mein Leib, mein Blut“ (Mk 14,22.24) • 10,1–18 : Jesus, der gute Hirt, als Reflexion auf das Gleichnis vom verlorenen Schaf (Mt 18,12–14) • häufiger Gebrauch von „Amen, Amen“ Abbildung 52 : Mögliche Erweiterungen synoptischer Traditionen 242

cher, schwerer verständlich und sehr viel weniger direkt. Bei den Synoptikern bestehen selbst längere Einheiten wie die Bergpredigt oder die Feldrede aus episodischen Einheiten. Bei Johannes sind die Diskurse Jesu weniger episodisch, sondern eher auf längere Einheiten angelegt. Allerdings ist auch beobachtbar, dass die Diskurse Jesu oft aus kleineren Aphorismen zu entstehen scheinen, wie sie in den synoptischen Evangelien von Jesus überliefert sind. Ein Beispiel für einen solchen Aphorismus ist Joh 3,5. Die Aussage „Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in die Herrschaft Gottes hineingehen“ hat eine Parallele in Mt 18,3 : „Wahrlich, ich sage euch, wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr keinesfalls in die Herrschaft der Himmel hineinkommen.“ Johannes überliefert hier das einzige Mal eine Referenz zur Herrschaft Gottes, formuliert sie in einer Matthäus ähnlichen, doch auch radikalisierten Form und macht sie zum Angelpunkt der Lehre Jesu in Joh 3,3–15. Ähnliche Verbindungen lassen sich in vielen Passagen des Johannesevangeliums finden. Zwar suggeriert der sprachliche Stil eine große Entfernung zur synoptischen Tradition, doch auf der motivischen Ebene finden sich so viele Querverbindungen, dass man von einer eigenen Entwicklung der synoptischen Traditionen über Jesus sprechen sollte, nicht aber von einer Unabhängigkeit. Zum Sprachstil des Johannesevangeliums gehört eine stark poetische Sprache in Teilen des Evangeliums. Der Prolog ist durchgehend in poetischer Strophenform gehalten, aber auch Teile von Joh 17 weisen dieses Phänomen auf. Auch die Diskurse weisen eine Art halb-poetischen Stil auf, der sich durch Sprachrhythmen auszeichnet. Solche Rhythmen werden durch Zeilen ungefähr gleicher Länge erreicht, die jeweils einen Satz enthalten. All dies dient der Feierlichkeit der jesuanischen Sprache, die sich in Übersetzungen nur teilweise nachvollziehen lässt. 243

Szene 1 (1–7) : Jesus, Jünger, Blindgeborener Die Blindheit ist nicht Ergebnis von Sünde, sondern dient der Offenbarung der Werke Gottes Szene 2 (8–12) : Nachbarn, Blindgeborener Verwirrung über die Tatsachen Szene 3 (13–17) : Pharisäer, Blindgeborener Widerstand und Bekenntnis : Jesus ist ein Prophet Szene 4 (18–23) : Eltern, Juden Angst vor den Juden Szene 5 (24–34) : Pharisäer, Blindgeborener Jesus ist von Gott Szene 6 (35–38) : Jesus, Blindgeborener Glaubensbekenntnis, Anbetung Jesu durch Blindgeborenen Epilog (39–41) : Jesus, Pharisäer Jesus ist zum Gericht gekommen Abbildung 53 : Dramatische Erzählung in Joh 9

2. Das Evangelium gestaltet einige Teile mit einem Sinn für dramatische Präsentation. Die Heilung des Blindgeborenen ( Joh 9) ist in sechs kurze Szenen aufgeteilt, die sich jeweils durch ihre Protagonisten unterscheiden und unterschiedliche Reaktionen auf Jesus schildern. Lediglich in der ersten und der sechsten Szene treffen der Blinde und Jesus aufeinander. Der Blinde selbst ist die verbindende Figur der gesamten Erzählung. An ihm wird deutlich gemacht, wie sich sein Glaube in der Begegnung mit Jesus und der Auseinandersetzung mit Zweiflern vertieft. An die sechs Szenen schließt sich ein Epilog an, in dem Jesus darauf aufmerksam macht, dass sich an ihm die Menschen scheiden werden in Blinde und Sehende. Die Pharisäer aber, die die Offenbarung der Werke Gottes im Blinden verworfen haben, sind selbst blind für die größere Realität. Eine noch ausgefeiltere Dramaturgie findet sich im Prozess Jesu vor Pilatus ( Joh 18,28–19,16). Der Text ist wiederum szenisch unterteilt. In sieben Vignetten wird das Drama der Verurteilung Jesu entfaltet. Die einzelnen Szenen sind von244

einander durch die Örtlichkeiten abgegrenzt. Während Pilatus außerhalb des Prätoriums mit den Juden über das Schicksal Jesu verhandelt, verhört er innerhalb des Prätoriums Jesus selbst. In der zentralen Szene präsentiert Pilatus nach der Geißelung und Dornenkrönung den vor dem Prätorium versammelten Juden Jesus als den König der Juden. Die Szenen sind auch untereinander eng verzahnt, indem sie thematisch miteinander verschachtelt sind. In der ersten Szene (Joh 18,28–32) will Pilatus die Verantwortung auf die Juden abwälzen, die ausführen, dass es ihnen nicht erlaubt ist, Jesus hinzurichten. In der letzten Szene (Joh 19,12–16) übergibt Pilatus Jesus den Juden, die ihn nehmen. In der zweiten Szene (Joh 18,33–38) geht es um die Frage der Macht und des Königtums Jesu, während die vorletzte Szene (Joh 19,8–11) die Macht des Pilatus thematisiert. In der dritten Szene (Joh 18,38–40) findet Pilatus keine Schuld an Jesus, was er in der drittletzten Szene (Joh 19,4–7) wiederholt, während die Juden auf dem Gesetz beharrend den Tod Jesu fordern. Wie ein Ring legen sich diese Szenen um die zentrale Präsentation Jesu (Joh 19,1–3) als den König der Juden, mit Purpurmantel und Dornenkrone, der von Pilatus mit „Siehe, der Mensch“ vorgestellt wird. Von ihm wenden sich die Juden ab, wenn sie in der letzten Szene behaupten, keinen König zu haben außer dem Kaiser. Sicher ist hier ironisch mitzudenken, dass die Gegner Jesu ihre eigenen Traditionen von Gott als dem König Israels endgültig ablehnen, während der von ihnen akzeptierte Kaiser Jerusalem in Schutt und Asche legen wird. Solche künstlerisch durchkomponierten Erzählungen gibt es im Evangelium öfter. Die Auferweckung des Lazarus gehört dazu, aber auch die Erzählung von der Frau am Jakobsbrunnen weist ähnliche Elemente auf. Letztlich ist auch die Kreuzigung Jesu selbst ein szenisch gestalteter Text. Diese Stilmittel belegen, wie das Evangelium längere Abschnitte auf dramatische Art präsentieren kann. Man kann also durch245

aus das Evangelium als eine dramatische Erzählung bezeichnen. 3. Neben der szenischen Darstellung benutzt die Erzählung vom Blindgeborenen ein Stilmittel, das Johannes auch sonst schätzt : Inklusionen und Rahmen. Wie die Begegnungen zwischen dem Blindgeborenen und Jesus einen Rahmen für die gesamte Erzählung bilden, so werden auch größere Sektionen durch Rahmen markiert. Wenn das Evangelium mit der Identifikation Jesu mit Gott im Prolog beginnt, so endet es mit einer ebensolchen im Bekenntnis des ungläubigen Thomas in Joh 20,28, dem ersten Schluss. Jesus tritt zum ersten Mal öffentlich in Betanien jenseits des Jordan in Erscheinung, als Johannes dort tauft ( Joh 1,28). Sein öffentliches Wirken endet ebenfalls in einem Ort namens Betanien. Dort, in der Nähe von Jerusalem, erweckt Jesus Lazarus vom Tod und wird von dessen Schwester Maria gesalbt ( Joh 11–12). Die zwei Wunder in Kana rahmen einen in sich geschlossenen Erzählzyklus ( Joh 2,11–4,54), zumal die beiden Wunder als erstes und zweites Zeichen bezeichnet werden, obwohl dazwischen durchaus andere Wunder stattfinden. Den Leserinnen und Lesern helfen solche Rahmen und Inklusionen, das Evangelium besser zu strukturieren. Diese Strukturen bilden einen Gegensatz zu den im Evangelium ebenfalls befindlichen Brüchen. Sie sind ein weiterer Hinweis dafür, dass das Evangelium vielleicht nicht mit dem Blick auf erzählerische Sequenz ediert wurde, dass es aber trotzdem mit einem Blick auf literarische Kohäsion bearbeitet wurde. 4. Ein weiteres Stilmittel betrifft das Unverständnis der Zuhörer und Zuhörerinnen, das Jesus in den Diskursen immer wieder entgegentritt. In der Regel komponiert Johannes das Unverständnis so, dass Jesus in metaphorischer Sprache spricht, die von seinem Gegenüber allerdings wörtlich genommen wird. So spricht Jesus davon, neu von oben geboren zu werden. Nikodemus hingegen fragt, wie man in den Mutterleib 246

zurückkriechen kann ( Joh 3,3–4). Dieses Unverständnis wird allerdings nicht direkt aufgelöst, sondern gibt Jesus die Gelegenheit, sich weiter zu erklären und zu offenbaren. Weitere Beispiele für dies Phänomen finden sich in Joh 2,19–21 ; 3,3–4 ; 4,10–11 ; 6,26–27 ; 8,33–35 ; 11,11–13. Johannes erreicht mit dieser Spannung zwischen Verkündigung Jesu und Unverständnis seiner Zuhörer eine Herausforderung der Leserinnen und Leser, wie Nikodemus oder die Frau am Jakobsbrunnen Einsicht und Verstehen zu suchen und sich dabei immer mehr auf Jesus einzulassen. Auf der Ebene der Erzählung übrigens wird an praktischen Details gezeigt, ob sich Verstehen einstellt : Die Frau am Jakobsbrunnen wird Zeugin für Jesus in ihrer Stadt, Nikodemus wird zu einem derer, die den Leichnam Jesu zu Grabe tragen. 5. Das Johannesevangelium spielt oft mit Doppeldeutigkeiten, um das Interesse der Leserinnen und Leser zu wecken. Solche Doppeldeutigkeiten sind Sprachspiele, die verschiedene Ebenen des Verständnisses eröffnen. Sie erscheinen in der Regel als Sprüche Jesu. So kommt es, dass Gesprächspartner eine Bedeutung verstehen, während Jesus eigentlich eine andere Bedeutung meint : „erhöht werden“ in Joh 3,14 ; 8,28. Joh 12,34 meint auf der einen Seite Ehrerweisung. Im übertragenen Sinn meint es die Rückkehr Jesu zum Vater. Auf der anderen Seite ist die Erhöhung allerdings auch die Kreuzigung, in der Jesus am Kreuz hinaufgehoben wird. „Lebendiges Wasser“ in Joh 4,10 meint fließendes, frisches Wasser, mit dem die samaritanische Frau ihren Durst stillen möchte. Aber zusätzlich bedeutet es auch das in das ewige Leben überquellende Wasser, das Jesus seinen Jüngerinnen und Jüngern geben kann. „Sterben für“ in Joh 11,50–52 meint nicht nur „anstelle von“, sondern auch „zum Nutzen von“. Diese literarische Technik öffnet den Leserinnen und Lesern verschiedene Horizonte des Verständnisses. Ähnlich den Gleichnissen Jesu in der synoptischen Tradition referieren sie 247

Alltägliches, um dann metaphorisch gedeutet zu werden. So ist auch die Vorhersage der Zerstörung des Tempels in Joh 2,19–22 wohl doppeldeutig. Einerseits ist sie eine Reflexion auf die tatsächliche Zerstörung des Tempels in Jerusalem, andererseits auch eine Interpretation der Kreuzigung Jesu, in der der Tempel seines Leibes niedergerissen wird ( Joh 2,21). 6. Gelegentlich wird die Unkenntnis der Gegner Jesu mit Doppeldeutigkeiten kombiniert, so dass eine scharfe Ironie entsteht. Wenn der Hohe Rat über Jesus berät, kommt er zu dem Schluss : „Wenn wir ihn so lassen, werden alle an ihn glauben, und die Römer werden kommen und uns die Stadt wie auch die Nation wegnehmen“ ( Joh 11,48). Der Hohe Rat verurteilt Jesus zum Tod. Und die Römer kommen und zerstören Stadt und Land trotzdem, während immer mehr Menschen an Jesus glauben. Auch der Hohepriester Kaiphas wird zur Karikatur, wenn er die Hinrichtung Jesu als politisch notwendig beschreibt und damit eine Wahrheit ausdrückt, die er selbst zwar nicht versteht, die aber den Glauben an Jesus deutlich formuliert : „Ihr wisst nichts und überlegt auch nicht, dass es euch nützlich ist, dass ein Mensch für das Volk sterbe und nicht die ganze Nation umkomme“ ( Joh 11,49–50). 7. Das Johannesevangelium liefert oft Erklärungen in Form von Kommentaren des Erzählers. So werden semitische Begriffe wie Messias, Kefas, Schiloach, Thomas, Rabbuni etc. in einer Parenthese übersetzt ( Joh 1,41.42 ; 9,7 ; 11,16 ; 20,16). Zudem offeriert das Evangelium in redaktionellen Bemerkungen Hintergrundinformationen für Entwicklungen auf erzählerischer oder geographischer Ebene ( Joh 2,9 ; 3,24 ; 4,8 ; 6,71 ; 9,14.22–23 ; 11,5.13) und auch auf theologischer Ebene. Wenn nach der Tempelreinigung die Frage nach der Autorität Jesu auftaucht, sagt Jesus, seine Gegner sollten den Tempel niederreißen und er werde ihn in drei Tagen wieder auf bauen. 248

• sprachlicher Stil : längere Einheiten, Feierlichkeit Poetik • dramatisch-szenische Gestaltung • Inklusionen und Rahmen • Unverständnis der Gesprächspartner Jesu • doppeldeutige Formulierungen • Ironie • Erzählerkommentare • Gegensatzpaare Abbildung 54 : Stilmerkmale des Johannesevangeliums

Das Evangelium merkt in einem Kommentar an : „Er aber sprach von dem Tempel seines Leibes. Als er nun aus den Toten auferweckt war, erinnerten sich seine Jünger daran, dass er dies gesagt hatte, und sie glaubten der Schrift und dem Wort, das Jesus gesprochen hatte“ ( Joh 2,21–22). Ähnliche Beispiele finden sich in Joh 7,39 ; 11,51–52 ; 12,16.33. Solche Anmerkungen leiten den Leser durch das Evangelium und geben die intendierte Interpretationsrichtung vor. Möglicherweise deuten die Übersetzungen und geographischen Erklärungen auf eine Gemeinde hin, die sich in einem griechisch sprechenden Umfeld außerhalb Palästinas befand. 8. Das Evangelium argumentiert häufig mit gegensätzlichen Paaren von Bildern oder Metaphern. Zu diesen Paaren gehören beispielsweise Licht und Finsternis ( Joh 1,4–9 ; 3,19–21 ; 8,12  ; 9,4–5  ; 11,9–10  ; 12,35–36.46), oben und unten ( Joh 3,3.7.31 ; 8,23) und Fleisch und Geist ( Joh 1,12–13 ; 3,6 ; 6,63). Wie auch schon in den anderen Evangelien lässt sich wiederum beobachten, dass die Kunst des Erzählens in vielen Elementen im Dienst an der Theologie steht. Und genau wie das Johannesevangelium eine literarische Sonderstellung unter den Evangelien einnimmt, so hat auch seine Theologie einen ganz eigenen Charakter.

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C. Die theologische Kunst des Johannesevangeliums In Joh 14 findet sich ein längerer Abschnitt, in dem Jesus über sein Verhältnis zum Vater reflektiert. Philippus scheint ungeduldig zu werden und antwortet : „Herr, zeige uns den Vater, und das genügt uns.“ Jesus entgegnet mit einer Zurechtweisung des Philippus, der schon so lange mit Jesus unterwegs ist und ihn doch nicht kennt. Jesus fügt an : „Wer mich sieht, hat den Vater schon gesehen“ ( Joh 14,8–9). Für Johannes ist Jesus derjenige, der nicht nur den Willen Gottes offenbart, sondern der Gott selbst sichtbar macht. Daher kann Johannes auch im Prolog formulieren : „Niemand hat Gott je gesehen ; der Einziggeborene, Gott, der in des Vaters Schoß ist, jener hat ihn erklärt“ ( Joh 1,18). Der Text dieses Verses ist schwer zu rekonstruieren, die Manuskripte weichen voneinander ab. Manche Manuskripte bieten die Lesart „der einziggeborene Sohn“. Die Übersetzung hier richtet sich nach den ältesten Manuskripten und lehnt sich an Joh 1,1 an, wo Jesus schon als Gott bezeichnet wird. Der Text, auch mit seinen Variationen in der Überlieferung, stellt klar, dass Jesus derjenige ist, der den Vater offenbart. Jesus teilt diese innige Beziehung mit seinen Jüngern. Beim letzten Abendmahl ist es der geliebte Jünger, der „im Schoße Jesu“ liegt ( Joh 13,23). Das Bild vom Schoß macht die nahe und innige Beziehung zwischen Jesus und dem Vater deutlich. Zudem gibt Johannes den Zweck seines Evangeliums selbst an. Er verweist auf die vielen anderen, im Evangelium nicht berichteten Zeichen Jesu und ergänzt : „Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben Leben habt in seinem Namen“ ( Joh 20,31). Johannes scheint weniger an einer Gemeinde und ihrer Ausbreitung interessiert zu sein, er rückt den Glauben an Jesus als Messias und 250

Sohn Gottes in den Mittelpunkt. Wenn Jesus den Vater offenbart, dann braucht es eine entsprechende Antwort im Glauben. Damit legen sich die nächsten Schritte in den Überlegungen nahe. Es geht um Jesus als den Messias und den Sohn Gottes, und es geht um die dieser Figur angemessene Reaktion des Glaubens. Schließlich geht es auch um die eigenartige Vorstellung von Gemeinde im Johannesevangelium. a. Jesus als Messias

Schon in den frühesten Schriften des Neuen Testaments kann man beobachten, dass der Begriff „Christus“ in weiten Kreisen als Name Jesu benutzt wird, ohne dass seine Bedeutung als Messiastitel noch präsent scheint. Das Johannesevangelium hingegen, obwohl wahrscheinlich spät verfasst, kehrt nicht nur zu diesem Begriff als Titel zurück, sondern benutzt ihn als einzige Schrift des Neuen Testaments nicht nur in seiner griechischen Übersetzung als Christus, sondern auch in seiner hebräischen Form Messias. Andreas informiert seinen Bruder Petrus : „Wir haben den Messias gefunden“ ( Joh 1,41). Das Porträt des Täufers wird von Johannes eingeengt auf seine Funktion als Zeuge, der auf Jesus hinweist. Feierlich erklärt er den Abgesandten aus Jerusalem drei Mal, dass er selbst nicht der Christus ist : „Und er bekannte und leugnete nicht, und er bekannte : Ich bin nicht der Christus“ ( Joh 1,20). Die Tauftätigkeit wird lediglich am Rande erwähnt, wichtiger ist, dass er auf Jesus zeigt als das Lamm Gottes ( Joh 1,29.36). Damit ist seine Aufgabe getan, seine Jünger verlassen ihn und folgen nun Jesus nach. Die Frau am Jakobsbrunnen weiß, dass der Messias kommen soll, der alles erklären wird ( Joh 4,25). Auch die Samariter hatten die Erwartung einer messianischen Figur, die ein neues Königreich einläuten würde, das ganz Israel unter der 251

Führung der Samariter wiedervereinigen würde. In der Erwartung der Frau am Jakobsbrunnen dürften also auch historische Momente mitschwingen. Die Frau am Jakobsbrunnen beendet ihren Auftritt im Evangelium mit der Frage : „Dieser ist doch nicht etwa der Christus ?“ ( Joh 4,29). Diese Frage wird zu einem wichtigen Moment der weiteren Erzählung. Die Frage nach Jesu messianischer Sendung tritt noch einmal in Joh 7,26–42 auf. Zunächst stellt die Menschenmenge die Frage, ob die jüdischen Führer wissen, dass Jesus der Messias sei. Danach wird abgewogen. Einerseits weiß man, woher Jesus kommt, doch vom Christus weiß man es nicht. Andererseits wirkt Jesus so viele Zeichen, wie man sich nicht einmal vom Christus erwarten kann. Manche sagen schließlich, er sei der Christus, andere lehnen das wegen der galiläischen Herkunft Jesu ab. Diese Debatte wird wieder aufgenommen und zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch der Zeichen. Manche bekennen Jesus als den Christus ( Joh 9,22 ; 11,27), andere sind unsicher ( Joh 10,24 ; 12,34). Dabei ist auffällig, dass sich die Auseinandersetzungen über Jesus als den Messias besonders in der Diskussion mit Volksmengen finden, die noch unentschieden sind. Möglicherweise werden hier Traditionen um die Interpretation der Figur Jesu noch zu seinen Lebzeiten aufgenommen. Bemerkenswerter jedoch ist, dass in den Jüngergesprächen des Buches der Herrlichkeit der Titel nicht mehr auftaucht. Lediglich in Joh 17,3 wird Christus als Name verwendet. Wenn der Messiastitel jedoch für Johannes noch dermaßen von Bedeutung war, um die Figur Jesu nach außen hin zu definieren, legt dies ein stark jüdisches Umfeld nahe. Johannes versucht also, Jesus als die erfüllte Erwartung jüdischer Hoffnungen zu präsentieren. Dies hat allerdings auch Konsequenzen für den Umgang mit jüdischen Traditionen. Immer wie-

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der präsentiert Johannes zentrale Aspekte jüdischer Überzeugungen und Praxis, um sie als in Jesus erfüllt darzustellen. Schon im Prolog spricht das Evangelium klar aus, wie das Gesetz zu verstehen ist. Das Gesetz wurde durch Mose gegeben, durch Jesus Christus jedoch kamen Gnade und Wahrheit ( Joh 1,17). Damit wird das Gesetz letztlich durch Jesus abgelöst. Ähnliches gilt für Reinheitsgebote. Das Wasser, das für die vorgeschriebenen Waschungen und Reinigungen vorgesehen ist, wird von Jesus bei der Hochzeit von Kana nicht nur in eine große Menge Wein verwandelt. Der Speisenmeister merkt auch noch an, dass dieser Wein besser als der ursprüngliche ist ( Joh 2,2–11). Direkt im Anschluss an die Hochzeit von Kana zieht Jesus in den Jerusalemer Tempel ein, um die Händler zu vertreiben. Auf seine Autorität hin angesprochen, bietet er an, dass seine Gegner den Tempel niederreißen sollen, damit er ihn in drei Tagen wieder auf baue. Johannes fügt an, dass Jesus vom Tempel seines Leibes spricht und die Auferstehung meint ( Joh 2,21–22). Aber daneben erreicht Johannes eben auch, dass er Jesus als die Substitution des Tempels präsentiert. In den ersten beiden Kapiteln schon stellt Johannes Jesus als den endgültigen Messias dar, der das mosaische Gesetz, die traditionellen Reinheitsgebote und den Tempelkult nicht nur in Frage stellt, sondern ablöst. Diese Radikalität im Umgang mit jüdischen Traditionen ist atemberaubend. Aber damit ist es noch nicht genug. Das Wasser der Jakobsquelle wird durch das Wasser Jesu überboten, das in denen, die an ihn glauben, zum Quell für das ewige Leben wird ( Joh 4,10–14). Das Laubhüttenfest ist eine jüdische Feier, die mit vielen Gebeten um Wasser für die kommende Ernte begangen wird. Während dieses Festes erklärt Jesus, dass er selbst die Quelle lebendigen Wassers ist, die aus dem Inneren der Gläubigen hervorsprudelt ( Joh 7,37–38). Auch die Abstammung von Abraham und die damit verbundene ethnische 253

Identität der Juden als dem Volk Gottes wird von Jesus überboten. Abraham freute sich auf den Tag Jesu und Jesus war, bevor Abraham lebte ( Joh 8,56–58). Das Fest der Tempelweihe, eine Erinnerung an die Neuweihe des Tempels durch Judas Makkabäus (1 Makk 4,41–46) nach den desaströsen Hohepriestern Jason und Menelaus, ist der Kontext für den Anspruch Jesu, der gute Hirte zu sein, der anders als die Diebe und Räuber vor ihm handelt ( Joh 10,1–18). Auch das Bild vom wahren Weinstock ( Joh 15,1) ruft traditionelle Bilder von Israel als dem Weinstock Gottes in Erinnerung. Eine besondere Bedeutung kommt den Anspielungen auf die Figur des Mose zu. Die bronzene Schlange, von Mose im Wüstenlager der Israeliten aufgehängt zur Heilung von Schlangenbissen (Num 21,6–9), wird von Jesus überboten, indem er selbst als Menschensohn erhöht wird, damit alle, die an ihn glauben, ewiges Leben haben ( Joh 3,14–15). Die Schriften und Mose selbst sprechen von Jesus. Sie rufen die Menschen auf, zu Jesus zu kommen, an ihn zu glauben und in ihm Leben zu finden ( Joh 5,39–47). Dabei ist Jesus sehr viel größer als Mose. Während die Israeliten in der Wüste auf Geheiß des Mose das Brot des Himmels aßen und doch starben, so gibt Jesus sich selbst als das wahre Brot vom Himmel, das all denen, die davon essen, ewiges Leben schenkt ( Joh 6,30–58). In all diesen Details wird sichtbar, wie stark Johannes betont, dass jüdische Traditionen in Jesus aufgehoben und erfüllt sind. Wenn Johannes den Messiastitel für Jesus aufnimmt, so tut er dies als Symbol für alle Verheißungen der Schrift, die er in Jesus erfüllt sieht. Doch mehr als eine Erfüllung beschreibt Johannes auch ein Überschreiten dieser Hoffnungen. Die alten Riten, Bräuche und Gesetze werden im Glauben an Jesus obsolet, da Jesus sie erfüllt und übertrifft. Die Identitätsbildung der johanneischen Gruppe orientiert

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sich zwar an jüdischen Vorbildern, allerdings tut sie dies, indem sie sie abschafft. Johannes pflegt eine bewusste Außenansicht des Judentums. Dies wird zum einen schon in seinem Gebrauch von „die Juden“ deutlich. Die jüdische Schrift wird polemisch als „euer Gesetz“ ( Joh 8,17 ; 10,34) und Abraham als „euer Vater“ bezeichnet ( Joh 8,56). Man darf vermuten, dass sich die johanneische Gruppe bewusst nicht mehr als jüdische Gruppe bezeichnete, sondern ihre Identität an der Person Jesu neu definierte. Allerdings ist doch erstaunlich, wie konsequent das Porträt Jesu an jüdischen Traditionen orientiert ist. Johannes gelingt es, diese Traditionen aufzunehmen und neu zu interpretieren. Allerdings tut er dies nicht mit Hilfe von Jesu Lehre, sondern ganz konsequent fokussiert auf die Person Jesu selbst. Diese Konzentration auf die Person Jesu wird besonders in den „Ich bin“-Aussagen des Evangeliums deutlich. Immer wieder finden sich in den Diskursen Selbstidentifikationen Jesu, in denen er sich in Metaphern beschreibt. Dazu gehören Bilder wie Brot des Lebens, Licht der Welt, Tür der Schafe, der gute Hirte, die Auferstehung und das Leben, der Weg, die Wahrheit und das Leben und der wahre Weinstock.

Metaphorische „Ich bin“-Aussagen • das Brot des Lebens (6,35.51) • das Licht der Welt (8,12 ; 9,5) • die Tür (10,7.9) • der gute Hirte (10,11.14) • die Auferstehung und das Leben (11,25) • der Weg, die Wahrheit und das Leben (14,6) • Ich bin der wahre Weinstock (15,1.5) Absolute „Ich bin“-Aussagen • 4,26 ; 6,20 ; 8,24.28.58 ; 13,19 ; 18,6 Abbildung 55 : „Ich bin“-Aussagen 255

Daneben allerdings gibt es auch „Ich bin“-Aussagen, die nicht von einem Bild begleitet werden. Diese Aussagen rufen Gottes Selbstidentifikation in Ex 3,14, Dtn 32,39 und Jes 48,20 in Erinnerung. In Mk 6,50 identifiziert sich der auf dem Wasser wandelnde Jesus gegenüber den Jüngern im Boot mit „Ich bin“. Johannes kennt diese Geschichte und berichtet sie ebenfalls ( Joh 6,16–21). Möglicherweise wurde diese Offenbarung Jesu als der „Ich bin“ auf dem Wasser des Sees Gennesaret zur Vorlage für die Erweiterung der „Ich bin“-Aussagen im Johannesevangelium. Im Umgang mit den jüdischen Traditionen zeigt Johannes eine Zuspitzung seiner Theologie auf die Person Jesu, die sich in den „Ich bin“-Aussagen verdichtet. Es sind diese Aussagen, die sich wohl letztlich auf die Selbstidentifikation Gottes im brennenden Dornbusch beziehen, die eine weitere Facette des johanneischen Porträts Jesu eröffnen. b. Jesus als der Sohn Gottes

Johannes erweitert die messianische Neuinterpretation Jesu in Joh 20,31 durch die Erklärung, dass Jesus auch der Sohn Gottes ist. Tatsächlich findet sich dieser Titel auch in der synoptischen Tradition, und gerade im Markusevangelium spielt er eine große Rolle, selbst wenn er nicht sehr häufig verwendet wird. Doch im Johannesevangelium wird diese Bezeichnung zur vornehmlichen Identifikation Jesu schlechthin. „Der Vater, der mich gesandt hat“ wird zur stehenden Wendung, wenn der johanneische Jesus über Gott spricht. Johannes der Täufer ( Joh 1,34), Nathanael ( Joh 1,49) und Martha ( Joh 11,27) bekennen Jesus direkt als den Sohn Gottes. Johannes beschreibt ihn als Einziggeborenen ( Joh 1,14.18 ; 3,16.18) und übertrifft damit auch Israels Selbstbewusstsein als Gottes geliebtes Kind (Ex 4,22 ; Jer 31,9 ; Hos 11,1 etc.). Es gehört zum Wesen des Sohnes Gottes, gesandt zu sein. Im Hintergrund der Sendung mag das jüdische Verständnis der 256

Propheten als der Boten Gottes stehen. Der Täufer nimmt diese Rolle an (Joh 1,6 ; 3,28). Möglich ist auch das Bild eines griechisch-römischen Hintergrundes, in dem der Gesandte die volle Autorität und Macht dessen genießt, der ihn gesandt hat. Jedenfalls hat Jesus eindeutig die Autorisierung durch Gott selbst. So wird er zum Richter für die Welt (Joh 5,22.27). Der Vater hat alles in seine Hände übergeben (Joh 3,35). Der Sohn kann nichts aus sich selbst heraus tun, sondern er wirkt nur das, was er den Vater tun sieht (Joh 5,19). Daher kann Jesus auch sagen : „Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tod in das Leben übergegangen“ (Joh 5,24). Wie Johannes die Beschreibung Jesu als Sohn Gottes mit Inhalt füllt, lässt die Grenzen zwischen Vater und Sohn verschwimmen. Weite Teile der Diskurse im Buch der Herrlichkeit beschäftigen sich mit der Einheit zwischen Sohn und Vater. So spricht Jesus beispielsweise davon, wie er im Vater und der Vater in ihm ist ( Joh 17,21). Der Vater, der in Jesus ist, tut seine Werke in der Botschaft Jesu ( Joh 14,10). Jesus ist das sichtbare Abbild des Vaters ; wer Jesus sieht, sieht den Vater. Daher geht Johannes auch so weit, zu konstatieren, dass Jesus der Weg, die Wahrheit und das Leben ist, ohne den niemand zum Vater kommen kann ( Joh 14,6–7). Für Johannes ist der Sohn der Offenbarer Gottes, und ohne den Sohn gibt es keine Offenbarung Gottes. Letztlich sind Vater und Sohn eins ( Joh 10,30). Am Ende des Evangeliums, vor dem Nachtragskapitel, fasst Johannes dies zusammen im Bekenntnis des Thomas, der vor Jesus niederfällt und bekennt : „Mein Herr und mein Gott“ ( Joh 20,28). Am ersten Ende des Evangeliums ist der Auferstandene die Erscheinung Gottes selbst, wie sich dies schon am Beginn des Evangeliums abgezeichnet hatte : „Am Anfang war das Wort. Und das Wort war bei Gott. Und das Wort war Gott … Und das Wort wurde Fleisch und hat unter uns gewohnt“ ( Joh 1,1.14). 257

Eine solche Konzeption der Gottessohnschaft, die die Grenzen zwischen Vater und Sohn immer weiter verwischt, findet ihre Herausforderung in der Frage nach Passion und Auferstehung. Wie erklärt sich, dass ein solcher Gottessohn leidet und gekreuzigt wird ? Johannes löst dieses Problem, indem er den Tod Jesu uminterpretiert als die Stunde seiner Verherrlichung ( Joh 7,39 ; 12,16–24 ; 13,1 ; 17,1). Dies geht einher mit der Beschreibung der Auferstehung als ein Heimgehen zum Vater, von dem Jesus ausgegangen ist. Dieser Heimgang bereitet eine Wohnstatt für die Jüngerinnen und Jünger vor ( Joh 14,2). Sie werden den Geist erhalten, der ihnen offenbaren wird, dass Jesus lebt und dieses Leben mit den Seinen teilt. Sie werden in die Gemeinschaft zwischen Sohn und Vater aufgenommen und haben teil am Leben und an der Liebe zwischen Vater und Sohn ( Joh 14,19–20). Doch Johannes fügt weitere Nuancen zur Passion Jesu hinzu. Dreimal spricht er davon, dass Jesus von der Erde erhöht werden wird ( Joh 3,14 ; 8,28 ; 12,32–34). Dies entspricht wohl den drei Ankündigungen von Leiden und Auferstehung in den synoptischen Evangelien. Die Rede von der Erhöhung enthält ein Wortspiel. Auf der einen Seite spielt es auf das Kreuz an, das die Soldaten aufrichten und so Jesus über die Erde erhöhen. Auf der anderen Seite spielt es auch auf die Verherrlichung Jesu an. Hier offenbart sich die grenzenlose Liebe Gottes für die Menschen, indem er seinen Sohn aus Liebe hingibt ( Joh 3,14–17). Gleichzeitig wird in der Passion auch die Liebe Jesu zu seinen Jüngern offenbar, eine Liebe, die bis zur Vollendung geht ( Joh 13,1). Die Art der Interpretation der Passion als Verherrlichung des Sohnes Gottes bestimmt auch die Darstellung der Passion selbst. In allen Teilen der Passion ist Jesus in vollständiger Kontrolle. Pilatus kann Jesus nicht verurteilen, wäre ihm nicht Macht von oben gegeben ( Joh 19,11). Niemand nimmt Jesus das Leben, sondern er legt es von sich aus nieder 258

( Joh 10,17–18). Als Jesus stirbt, schreit er nicht auf (Mk 15,37), er fragt nicht „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ (Mt 27,46), sondern deklariert einfach „Es ist vollbracht“ und meint damit, dass alles, was er vom Vater aufgetragen bekommen hat, nun getan ist. Jesu letzter Akt ist, dass er seinen Geist „übergibt“ ( Joh 19,30). Dies wird symbolisch als die Gabe des Heiligen Geistes an die Jüngerinnen und Jünger zu verstehen sein, die unter dem Kreuz durch Maria und den geliebten Jünger repräsentiert sind. Eine ähnliche Geistübergabe findet auch bei der Erscheinung des Auferstandenen unter den Jüngern in Jerusalem statt ( Joh 20,22). Passion und Auferstehung versinnbildlichen also gemeinsam die Erhöhung und Verherrlichung des Gottessohnes. Die enge Beziehung zwischen dem Vater und dem Sohn verfolgt Johannes weiter als alle anderen Schriften des Neuen Testaments. Suchen Lukas und Matthäus die Gottessohnschaft Jesu in ihren jeweiligen Kindheitsgeschichten zu begründen, sieht Johannes diese Beziehung schon vor aller Zeit. Der Prolog über das Wort Gottes, das mit Jesus identifiziert wird, beginnt noch vor der Schöpfung : Am Anfang war das Wort. Die Schöpfung kam erst nach ihm und durch es zur Existenz ( Joh 1,1–3). Johannes entwirft das Bild des Gottessohnes, der als Wort vor aller Zeit beim Vater war, durch den die Schöpfung in ihr Dasein kam, der Fleisch geworden ist und in der Schöpfung gelebt hat und der schließlich nach Passion und Auferstehung in die Herrlichkeit zum Vater zurückgekehrt ist. Für Johannes ist eine solch hohe Christologie nicht einfach eitle Spekulation, sondern eine Implikation des Osterglaubens : „Keiner ist in den Himmel hinaufgestiegen außer dem, der aus dem Himmel herabgestiegen ist, der Menschensohn“ ( Joh 3,13). Für Johannes ist nicht denkbar, dass Passion und Auferstehung die Verherrlichung Jesu und Gottes sind, wenn Jesus selbst nicht aus dem Himmel stammte. Das Herabkom259

men und die Rückkehr in den Himmel zum Vater hat in jüdischer Literatur einige Parallelen in der Figur der Weisheit, die beispielsweise in Spr 8,22–30 oder Sir 51,13–31 personifiziert wird, allerdings als Frau. Im äthiopischen Henochbuch (42,1–2) findet sich auch eine Passage über die Weisheit, die im Himmel wohnt, sich auf die Erde begibt, dort zurückgewiesen wird und schließlich in den Himmel zurückkehrt. Johannes entwickelt diese jüdischen Vorbilder weiter, indem er sie in der Person Jesu mit anderen jüdischen Vorstellungen zusammenführt. Dazu gehören die Vorstellungen vom Messias, vom Gottessohn und vom Menschensohn. Die theologische Leistung des Johannes ist es allerdings nicht nur, verschiedenste Traditionen und Erwartungen in Jesus zu bündeln, sondern Jesus selbst noch einmal mit Gott zu identifizieren. Hier geht Johannes noch einen Schritt weiter als Matthäus, der mit der Immanuel-Theologie etwas Ähnliches versuchte. Gott ist in Jesus nicht nur mit den Menschen, Gott ist Jesus. c. Glauben, um zu leben

In Joh 20,31 spricht Johannes die Einladung aus, zu glauben, dass Jesus der Messias und Sohn Gottes ist. Er verspricht, dass diejenigen, die dieser Einladung folgen, Leben haben werden. Auffällig ist, dass Johannes niemals das Substantiv „Glauben“ benutzt, sondern nur von „glauben“ als einer Tätigkeit spricht, dies allerdings 98 Mal im Evangelium. Markus benutzt das Wort lediglich 14 Mal, Matthäus 11 Mal, und das lukanische Doppelwerk insgesamt 46 Mal, davon allerdings nur neun Mal im Evangelium. Glauben richtet sich dabei immer auf die Person Jesu. Johannes kennt nur wenige klar definierte Inhalte, die man glauben kann oder soll. Dass Jesus der Messias und Sohn Gottes ist, gehört offensichtlich zu ihnen. Doch viel stärker betont Johannes, dass glauben heißt, eine Beziehung zu Jesus einzugehen. Diese Beziehung ist für Johannes weitaus wich260

tiger als großartige Aussagen über Jesus. Viele Beispiele können dies deutlich machen. Die Aufgabe des Täufers ist nicht eine Bußpredigt, sondern Zeugnis abzulegen, so dass alle durch ihn glauben ( Joh 1,5). Gott gibt allen das Recht, Kinder Gottes zu werden, die an Jesus glauben ( Joh 1,12). Es ist sein Werk, wenn Menschen an den glauben, den er gesandt hat ( Joh 6,29). Wunder haben einen dem Täufer ähnlichen Zeugnischarakter und werden daher Zeichen genannt, aufgrund derer Menschen zum Glauben an Jesus kommen ( Joh 2,11.23 ; 4,53 ; 7,31 ; 10,38.41–42 ; 11,45 ; 12,11.42 ; 14,11–12). In der Brotrede in Joh 6 wird das Bild vom Essen des Brotes und Trinken des Blutes zu einer Metapher für den Glauben an Jesus ( Joh 6,35). Wer an Jesus glaubt, hat ewiges Leben ( Joh 6,40), wird nicht sterben ( Joh 11,25–26) und nicht gerichtet werden ( Joh 3,18 ; 5,24). Auf der anderen Seite ist die Weigerung zu glauben Sünde ( Joh 16,9), die zum Tod führt ( Joh 8,24 ; 13,9). Im Johannesevangelium gibt es immer wieder großartige Glaubensbekenntnisse. Doch sind diese Bekenntnisse äußerst unterschiedlich. Schon im ersten Kapitel finden sich verschiedene Bekenntnisse vom Täufer und von den ersten Jüngern. Die Aussagen reichen von „Lamm Gottes“ bis hin zu „Sohn Gottes und König Israels“. Dabei scheint Johannes die Bekenntnisse zunächst nicht zu werten. Nachdem viele Jünger Jesus verlassen und die Jünger gefragt werden, ob auch sie gehen wollen, antwortet Petrus mit einem Bekenntnis : „Herr, zu wem sollten wir gehen ? Du hast Worte ewigen Lebens ; und wir sind zu Glauben und Erkenntnis gekommen, dass du der Heilige Gottes bist“ ( Joh 6,68–69). Marta, die Schwester des Lazarus, bekennt : „Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll“ ( Joh 11,27). Thomas bekennt dem Auferstandenen : „Mein Herr und mein Gott“ ( Joh 20,28).

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• • • • • • •

„der Mann namens Jesus“ (9,9) „Ich weiß nicht, wo er ist“ (9,12) „Er ist ein Prophet“ (9,17) „Wollt ihr auch seine Jünger werden ? “ (9,27) „Er öffnete meine Augen“ (9,30) „Wäre er nicht von Gott, könnte er nichts tun“ (9,30) „Herr, ich glaube“, und er betete ihn an (9,38)

Abbildung 56 : Der Glaube des Blindgeborenen

Die Bekenntnisse können also durchaus unterschiedlich ausfallen und sind daher eher als Annäherungen an die Identität Jesu zu verstehen. Johannes scheint es also mehr auf die Beziehung anzukommen, die sich zwischen Glaubenden und Jesus entwickelt, als dass er sich auf die exakte Beschreibung dieser Beziehung in Titeln festlegt. Solche Entwicklungen lassen sich sehr gut an den längeren Einheiten nachvollziehen, in denen Menschen zum Glauben an Jesus finden. Ein Beispiel ist der Blindgeborene in Joh 9, der über verschiedene Stadien in der Geschichte zum Glauben an Jesus findet. Zunächst weiß er nicht, wer Jesus ist, aber über die Auseinandersetzungen mit Jesu Gegnern hinweg lernt er immer mehr, die Ereignisse zu interpretieren, und kommt schließlich dazu, an Jesus zu glauben und ihn anzubeten. Dabei wird der wachsende Glaube des Blindgeborenen mit der wachsenden Feindseligkeit der Gegner Jesu kontrastiert. Auch Maria von Magdala macht eine ähnliche Entwicklung durch, als sie dem Auferstandenen begegnet ( Joh 20,11–18). Zunächst spricht sie zu den Engeln von „meinem Herrn“. Als sie sich umdreht, sieht sie Jesus, erkennt ihn aber nicht, sondern hält ihn für den Gärtner. Als Jesus sie beim Namen ruft, erkennt sie ihn und nennt ihn „Rabbuni“. Diese Szene ruft Jesu Aussagen über den guten Hirten in Erinnerung, dass die Schafe seine Stimme kennen ( Joh 10,3–4). Maria erhält nun einen Auftrag der Verkündigung, und sie 262

ist gehorsam und berichtet den Jüngern : „Ich habe den Herrn gesehen.“ Ein drittes Beispiel betrifft Nikodemus, bei dem eine Entwicklung nicht explizit ist, sondern lediglich angedeutet wird. Er taucht in Joh 3 als Partner in Jesu Nachtgespräch auf, fällt jedoch höchstens durch Unverständnis auf. In Joh 7,50–52 jedoch taucht er wieder auf, um Jesus im Hohen Rat zu verteidigen, und in Joh 19,39 hilft er, den Leib Jesu für das Begräbnis vorzubereiten. Er scheint als eine Figur am Rande auf, niemals wirklich Jünger, doch von Jesus angezogen. Diese Szenen erhellen, wie stark Johannes den Aufruf zu glauben dynamisch anlegt. Gerade die sehr unterschiedlichen Reaktionen und Bekenntnisse zeigen auch, dass der Glaube sehr individuelle Ausdrucksformen findet. Wenn Menschen an Jesus glauben, hat dies weitere Konsequenzen in sichtbaren Zeichen. Die Glaubenden werden Kinder Gottes, die nicht vergehen, sondern ewiges Leben haben. • Kinder Gottes (1,12) • nicht sterben (3,16) • ewiges Leben jetzt, nicht erst nach dem Tod (3,15–16.36 ; 5,24 ; 6,40.47) • keine Verurteilung (3,18) ; kein Gericht (5,24) • vom Tod zum Leben (5,24) • leben und nie sterben (11,25–26) • Jesus und den Vater erkennen (4,42 ; 6,64.69 ; 10,38) • niemals hungrig oder durstig (6,35) • in Jesus und Gott bleiben und leben (6,56 ; 14,17 ; 15,4–10) • lebendiges Wasser aus dem Inneren (7,38) • Empfang des Geistes (7,39) • Jünger und Freunde Jesu (8,31 ; 15,14–15) • die Herrlichkeit Gottes sehen (11,40) • Kinder des Lichts (12,36) und nicht in Dunkelheit (12,46) • Werke Jesu und Größeres tun (14,12) • Leben in seinem Namen haben (20,31) Abbildung 57 : Konsequenzen des Glaubens 263

Sie werden nicht verurteilt und unterliegen nicht dem Gericht. Sie kennen Jesus und den Vater, werden nicht Durst noch Hunger leiden. Sie bleiben in Jesus und dem Vater. Lebendiges Wasser quillt zum ewigen Leben in ihnen. Sie sehen die Herrlichkeit Gottes, sind Kinder des Lichts und bleiben nicht in Dunkelheit. Sie werden Werke tun, die sogar größer als die Werke Jesu sind. Auch die Konsequenzen des Glaubens werden in sehr unterschiedlichen Bildern ausgedrückt. Doch ist auch auffällig, wie stark immer wieder das Leben betont wird. Besonders eindrücklich ist, dass Johannes immer wieder ein Leben betont, das schon jetzt den Geschmack der Ewigkeit trägt. Johannes beschreibt die Beziehung zu Jesus im Glauben als eine Beziehung, die es schon in der Gegenwart ermöglicht, am Leben der Ewigkeit teilzuhaben. Wer zu Jesus in Beziehung steht, wer ihn kennt und durch ihn den Vater kennt, hat schon in der Gegenwart Anteil am Leben Gottes und unterliegt daher auch nicht dem Gericht. Umgekehrt bedeutet dies auch, dass die, die sich dem Glauben an Jesus widersetzen, schon gerichtet sind ( Joh 12,48). Dies bedeutet nicht, dass sich Johannes Tod und Endgericht nicht mehr vorstellen kann. Ganz im Gegenteil, in Joh 21,23 setzt sich das Evangelium mit dem Tod des Lieblingsjüngers auseinander. Kommentatoren sehen oft eine Spannung zwischen der endzeitlichen Erwartung und der starken Gegenwartsbezogenheit von ewigem Leben und Gericht. Doch die sogenannte „realisierte“ oder „präsentische“ Eschatologie ist wohl besser zu interpretieren als radikaler Ausdruck johanneischer Überzeugung, dass die Beziehung zu Jesus und Gott schon in diesem Leben die Gläubigen radikal verändert. Diese Spannung zwischen schon realisiertem ewigen Leben und der noch kommenden Erfüllung wird von Johannes in den Abschiedsreden Jesu ( Joh 13–17) noch einmal thematisiert. In ihnen spricht Jesus von der Liebe, die er zu seinen 264

Jüngerinnen und Jüngern hat und die ein Vorbild sein soll für die Liebe, die sie gegenseitig zeigen sollen. In diesem Zusammenhang spricht Jesus auch vom Heiligen Geist, auch Paraklet oder Beistand genannt, den er den Jüngern senden wird. Er ist, ähnlich wie Jesus selbst, gesandt vom Himmel, um die Jünger in der Abwesenheit Jesu zu ermutigen und zu stärken. Aber daneben erfüllt er auch die Aufgabe, die Zurückgebliebenen weiter zu belehren. Das, was ihnen jetzt noch verborgen ist, wird er lehren wie auch daran erinnern, was Jesus selbst gelehrt hat ( Joh 14,25–26). Johannes deutet hier an, dass die Beziehung zu Jesus auch nach seiner Auferstehung weitergeht und vom Geist gestärkt und weiterentwickelt wird. d. Eine johanneische Gemeinde ?

Eine Besonderheit des Evangeliums ist, dass es kaum Anzeichen einer strukturierten oder gar hierarchischen Gemeinde zeigt. Johannes kennt keine Apostel, und auch die Jünger bleiben eine eher ungenau gezeichnete Gruppe. Einige Namen von Jüngern werden zwar genannt, aber selbst der in den anderen Evangelien so prominente Zwölferkreis tritt bei Johannes nur am Rande und sehr unvermittelt in Erscheinung ( Joh 6,67–70 ; 20,24). Auch die als Jünger bezeichneten Gefährten Jesu bleiben eher farblos. Gelegentlich wird zwar deutlich, dass Johannes mit dem Begriff „Jünger“ auch solche bezeichnet, die nach Ostern die Ereignisse reflektieren und somit als Synonym für die Gemeinde gelten könnten ( Joh 2,22). Andererseits verstehen die Jünger Jesus nicht unbedingt ( Joh 4,27 ; 9,2 ; 11,7). Außerdem gibt es einen Bericht über Jünger Jesu, die über manche Lehren Jesu murren und sich schließlich von ihm abwenden ( Joh 6,60–71). Vielleicht am eigenartigsten ist, dass Jesus außer Philippus ( Joh 1,43) keinen seiner Jünger ausdrücklich selbst beruft. Andreas und ein unbenannter Jünger folgen Jesus auf den Hinweis des Täufers hin. Andreas führt Petrus zu Jesus, Philippus schließlich 265

lädt Natanael ein, indem er Jesus mit „Komm und sieh !“ zitiert ( Joh 1,35–51). Diese ersten Jüngererzählungen gleichen stark den Auferstehungserzählungen in Joh 20–21, in denen ebenfalls Jüngerinnen oder Jünger andere darauf aufmerksam machen, dass das Grab leer ist ( Joh 20,2) oder dass es Jesus ist, der am Ufer des Sees steht ( Joh 21,7), und damit die Begegnung mit dem Auferstandenen möglich machen. Berufungserzählungen, wie sie aus den synoptischen Evangelien bekannt sind, gibt es bei Johannes kaum. Dazu passt auch, dass es keine Aussendung von Jüngern zu einer großen Mission gibt, sei sie nun jüdisch oder heidnisch. Die Aussendung der Jünger durch den Auferstandenen ( Joh 20,21) ist weniger eine Aussendung als ein Vergleich : „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.“ Die Beziehung der Jünger zu Jesus steht im Vordergrund, doch ein Ziel der Sendung wird nicht weiter ausgeführt. Möglicherweise steht Jesu eigene Sendung als Ausdruck der Liebe Gottes für die Welt ( Joh 3,16) im Hintergrund, doch wird dies nicht ausgeführt. Die gleichzeitige Geistgabe durch das Einhauchen ist nicht, wie bei Lukas, eine Kraft, die zu einer großartigen Mission führt. Vielmehr ist sie eine Erinnerung an die Erschaffung der Menschen in Gen 2,7. Wie Gott in der Schöpfungsgeschichte einem Lehmklumpen seinen Atem einhaucht und so den Menschen schafft, haucht auch Jesus seinen Jüngerinnen und Jüngern seinen Geist ein. Der an Jesus glaubende Mensch wird so zu einer Neuschöpfung. Die vielleicht deutlichste Formulierung der Aufgabe der Jüngerinnen und Jünger findet das Johannesevangelium im Schlussgebet der Abschiedsreden Jesu ( Joh 17,9–23). Sie sind in einer feindlichen Welt, die sie hasst. Sie sollen jedoch im Namen des Vaters bewahrt werden, sie sollen in der Wahrheit bleiben und nicht verloren gehen, sie sollen in der Wahrheit geheiligt werden ( Joh 17,19). Durch diese Treue wird letztlich Jesus verherrlicht. Erst danach spricht das Evange266

lium auch von Menschen, die durch das Wort der Jünger an Jesus glauben ( Joh 17,20). Von Jüngerinnen und Jüngern wird offenbar erwartet, dass sie Jesus bezeugen, aber dies ist der Heiligung in der Wahrheit klar nachgeordnet. Die Abwesenheit eines klar strukturierten Gemeindebildes im Johannesevangelium findet sein Gegenstück in einem ausgeprägten Individualismus. Jeder, der glaubt, gehört zu Jesus, aber diese Beziehung bleibt individuell geprägt. Die Schafe im Bild von Jesus als dem Hirten hören zwar auf seine Stimme, und sie erkennen ihn, aber das Bild bleibt auf der Ebene der Beziehung zu Jesus ( Joh 10,3–4.16). Im Bild vom wahren Weinstock ist jeder Zweig in direkter Beziehung zum Stock ( Joh 15,4–7). Solche Jünger Jesu haben keinen Bedarf an Lehrern, denn Gott selbst ist der Lehrer eines jeden Einzelnen ( Joh 6,45), und auch der Geist der Wahrheit wird jeden alles lehren ( Joh 14,26) und in der ganzen Wahrheit leiten ( Joh 16,13). Erst im Supplementkapitel gibt es einen pastoralen Auftrag des Auferstandenen an Petrus, die Schafe zu weiden ( Joh 21,15–19). Hier wird impliziert, dass Petrus eine Führungsrolle in einer Gemeinde spielt. Doch innerhalb der ersten 20 Kapitel scheint das Evangelium mit einer Gruppe von Jüngerinnen und Jüngern zu rechnen, nicht jedoch mit einer organisierten Gemeinde. Dementsprechend kennt das Johannesevangelium auch kaum Anspielungen auf gemeinschaftliche Rituale. Zwar spricht Jesus vom Brot des Lebens, und auch die Taufe wird durchaus erwähnt. Aber das Brot des Lebens mündet nicht, wie bei den Synoptikern, in die Einsetzung eines gemeinschaftlichen Mahles. Und Jesus wird selbst nicht getauft, lediglich der Geist steigt auf ihn herab ( Joh 1,32–34). Möglicherweise ist die „Geburt aus Wasser und Geist“ ( Joh 3,5) eine Anspielung auf die Taufe, jedoch ist die Wassersymbolik im Johannesevangelium nicht eindeutig eine Taufmeta267

phorik. In Joh 7,38–39 verspricht Jesus allen, die an ihn glauben, dass Ströme lebendigen Wassers aus ihrem Inneren fließen werden. Doch interpretiert das Evangelium dies Phänomen als den Besitz des Geistes. Allerdings gibt es ein bezeichnendes Merkmal, das diese Sammlung von Jüngerinnen und Jüngern Jesu auszeichnet. Das Johannesevangelium stellt zwar keine ethischen Forderungen, aber es formuliert ein „neues Gebot : dass ihr einander liebt. Wie ich euch geliebt habe, liebt euch auch gegenseitig“ (Joh 13,34). Es wird keine Nächstenliebe oder gar Feindesliebe geboten, sondern die Liebe, mit der die Glaubenden einander begegnen, soll Zeichen für die Welt sein, dass sie wirklich die Jüngerinnen und Jünger Jesu sind (Joh 13,35). Die Liebe ist ein Abbild der Liebe, die Jesus den Seinen gezeigt hat und mit der Vater und Sohn einander lieben. Dieses Thema zieht sich durch die gesamten Abschiedsreden hindurch. Gelegentlich ist im Evangelium auch von anderen Geboten die Rede (Joh 14,15.21–24 ; 15,10), doch ist deren Inhalt nicht weiter definiert. Es ist schwierig, sich anhand dieser Merkmale eine christliche Gemeinde vorzustellen. Möglicherweise handelte es sich um eine Gruppe, in der eine individuelle Spiritualität hoch geschätzt wurde. Oft wird angenommen, dass diese Gruppe aufgrund von Anfeindungen durch „die Welt“ zu einer stark nach innen gerichteten Gruppe wurde, die kaum mehr missionarische Initiative besaß. Die Rolle des Petrus im Nachtragskapitel könnte darauf hinweisen, dass in späteren Zeiten die Notwendigkeit bestand, eine solche Gruppe auch zu strukturieren und mit Leitungsfunktionen zu versehen. Solche Überlegungen sind natürlich spekulativ, aber sie verdeutlichen die Eigenheit des johanneischen Entwurfs der Nachfolge Jesu.

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D. Autor, Ort, Zeit, Absicht Wie bei den anderen Evangelien auch, bleiben viele der konkreten Umstände der Entstehung des Johannesevangeliums im Dunkeln. Dazu kommt, dass das Johannesevangelium erst verhältnismäßig spät in der Tradition der Kirche erwähnt wird. Irenäus von Lyon schreibt es am Ende des 2. Jahrhunderts Johannes, einem Jünger Jesu, zu. a. Autor

Das Evangelium bezeichnet seinen Autor selbst in Joh 21,23 als den namenlosen Jünger, den Jesus liebte. Dieser Jünger taucht im Evangelium häufiger auf, allerdings erst im Buch der Herrlichkeit. Er liegt im Schoß Jesu beim Abschiedsmahl und vermittelt zwischen Petrus und Jesus ( Joh 13,23–25). Er verschafft Petrus Eintritt in den Hof des Pilatus (Joh 18,15–16), steht gemeinsam mit der Mutter Jesu unter dem Kreuz und bezeugt Blut und Wasser aus der Seitenwunde Jesu ( Joh 19,26–34). Am Ostermorgen ist er schneller als Petrus beim Grab und glaubt, während Petrus zweifelt ( Joh 20,1–8). Er erkennt Jesus am See und identifiziert ihn für Petrus, der Jesus nicht selbst erkennt ( Joh 21,7). Als Petrus den Auferstandenen nach dem Schicksal des Lieblingsjüngers fragt, weist Jesus Petrus zurück ( Joh 21,21–23). Gelegentlich wird der geliebte Jünger mit dem namenlosen Gefährten des Andreas in Joh 1,35–39 identifiziert, allerdings ist dies unwahrscheinlich, da man eine größere Rolle für diesen Jünger im ersten Teil des Evangeliums erwarten würde. Die Figur des geliebten Jüngers ist literarisch stark an Petrus gebunden und kontrastiert mit ihm. Dieser Kontrast lässt die Figur des geliebten Jüngers als eine stark idealisierte Figur erscheinen, deren Namenlosigkeit diesen Zug noch verstärkt. Trotzdem lässt sich fragen, ob hinter dem literarischen Phänomen eine reale historische Person steht, die 269

Joh 13,23 Einer von den Jüngern Jesu lag in seinem Schoß, der, den Jesus liebte. Joh 21,24 Das ist der Jünger, der dies alles bezeugt und es aufgeschrieben hat. Und wir wissen, dass sein Zeugnis glaubwürdig ist. Abbildung 58 : Der geliebte Jünger als Garant der Tradition

für wesentliche Traditionen des Evangeliums verantwortlich ist. Zunächst einmal lässt sich die Identifikation des geliebten Jüngers mit dem Apostel Johannes ausschließen. Zum einen ist kaum erklärbar, warum der geliebte Jünger erst in Joh 13 auftaucht und dort nicht mit Johannes identifiziert wird. Zum anderen würde man doch erwarten, dass das Evangelium dann auch Ereignisse enthielte, an denen Johannes nach dem Zeugnis der anderen Evangelien teilgenommen hatte, zumal der geliebte Jünger als Augenzeuge beschrieben wird. Theoretisch ist auch möglich, einen Jünger anzunehmen, der vielleicht erst in Jerusalem zum Jünger Jesu wurde und somit als Zeuge für die letzten Tage Jesu in Frage käme, nicht jedoch für das Wirken Jesu in Galiläa. Andererseits legt der bewusste literarische Kontrast zu Petrus nahe, im geliebten Jünger eine symbolische Figur zu sehen, die vielleicht auch die Gemeinde selbst repräsentieren könnte. Der Kontrast zu Petrus könnte dann eine Gemeinde implizieren, die sich von einem petrinisch gefärbten Christentum bewusst absetzte. Dies würde auch die Namenlosigkeit des Jüngers plausibel machen. Die Autorenfrage lässt sich nicht mehr entscheiden, auch wenn sie zu vielen Spekulationen einlädt. Vertraut man allerdings den Rekonstruktionen der Entstehung des Evangeliums, ist die Autorenfrage wohl auch nicht so drängend, da 270

doch ein langer Entwicklungsprozess hinter dem Evangelium steht, in dem einzelne Figuren Traditionsträger gewesen sein mögen, aber wohl kaum mehr als Autoren im modernen Sinn bezeichnet werden können. Solche Traditionsträger könnten im geliebten Jünger repräsentiert sein. b. Ort

Traditionellerweise wird Ephesus als der Entstehungsort des Evangeliums angenommen. In neuerer Forschung werden auch Alexandria in Ägypten oder ein Ort in Judäa, Palästina, Transjordanien oder Syrien genannt. Allerdings gibt es im Evangelium keinerlei direkte Hinweise, die diese Theorien stützen könnten. Doch selbst ohne konkrete geographische Hinweise lässt sich sagen, dass das Evangelium an einem Ort mit einer starken jüdischen Tradition entstanden sein muss, in dem eine jüdische Gemeinde existierte, die es sich leisten konnte, Mitglieder aus der Synagoge auszuschließen, ohne selbst in Existenznot zu geraten. Zudem spricht das Evangelium oft genug von der Feindschaft der Welt, so dass die johanneische Gemeinde wohl nicht nur von Juden, sondern auch von Nichtjuden angefeindet wurde. All dies deutet auf ein städtisches Umfeld hin, womöglich in der Griechisch sprechenden jüdischen Diaspora. Weitere Hinweise lassen sich nicht geben. c. Zeit

Auch zur Zeit der Abfassung lassen sich nur wenige Angaben machen. In der Tradition wird meist ein spätes Datum angenommen, dem Ort des Johannesevangeliums als letztem Evangelium im Kanon entsprechend. Im Jahr 1935 wurde ein Papyrus mit einem Fragment des Johannesevangeliums gefunden, der in die Jahre um 125–150 zu datieren ist. Dies wäre das spätestmögliche Datum. Offensichtlich gibt es einige Informationen im Evangelium, die wahrscheinlich von Augenzeugen stammen. Dazu gehört 271

der Name des Knechtes Malchus, dem ein Ohr abgeschlagen wurde ( Joh 18,10). Auf der anderen Seite gibt es Hinweise, dass die Zerstörung Jerusalems und die damit verbundene Entmachtung jüdischer Führungseliten bekannt war ( Joh 11,47–50). Auch die generelle Identifikation der Gegner als Juden weist schon auf eine Zeit hin, in der die Unterscheidung einzelner Gruppen in der jüdischen Elite nicht mehr relevant war. Hinzu kommt ein hohes theologisches Reflexionsniveau. Stellt man dann noch die literarische Gestalt des Evangeliums in Rechnung, deren Brüche auf mehrere Stadien der Entstehung schließen lassen, liegt ein spätes Datum für die Endfassung nahe. Es ist heute weitgehend Konsens, die Endphase der Redaktion in die Zeit zwischen 90 und 110 zu datieren, selbst wenn viel Material früheren Datums ist. Möglich wäre auch das frühe 2. Jahrhundert. Eine kleine Minorität von Forschern hält auch ein Datum vor 70 für möglich. Dazu muss man allerdings annehmen, dass Joh 11,47–50 nicht auf die Zerstörung Jerusalems anspielt – eine eher unwahrscheinliche Hypothese. d. Absicht

Das Evangelium selbst benennt seine Absicht, die Leserinnen und Leser dazu zu bringen, an Jesus als den Messias und Sohn Gottes zu glauben. Auch andere Texte bezeichnen eine ähnliche Absicht. Jesus offenbart sich, damit die Menschen erlöst werden ( Joh 5,34). Er verspricht seinen Gegnern : „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“ ( Joh 8,32). Den Jüngern sagt er : „Diese Dinge habe ich euch gesagt, damit ihr nicht zu Fall kommt“ ( Joh 16,1). Das Evangelium will also die Wahrheit über Jesus als die Offenbarung Gottes verkünden. Das Evangelium ist geschrieben, damit die Leserinnen und Leser das Leben in all seiner Fülle haben, wie es nur Jesus selbst geben kann ( Joh 10,10). 272

Dies von Jesus versprochene Leben entspricht hier der Herrschaft Gottes in den synoptischen Evangelien. Diese Absicht verfolgt das Evangelium allerdings in einer Welt, die feindlich gesinnt ist. Johannes spricht vom Hass derer, die nicht an Jesus glauben ( Joh 7,7 ; 15,18–19 ; 16,20 ; 17,14). Die Welt ist zwar nicht grundsätzlich böse, denn sie ist von Gott und seinem Wort Jesus geschaffen ( Joh 1,3.14). Gott liebt die Welt ( Joh 3,16) und will ihre Erlösung im Glauben an Jesus ( Joh 3,16–17 ; 4,42). Doch die Welt hat Jesus nicht aufgenommen ( Joh 1,10). Der Fürst der Welt ( Joh 12,31 ; 14,30 ; 16,11) ist der ewige Gegenspieler Jesu. Johannes formuliert eine Feindschaft zwischen der Welt und den Jüngern, die die Gemeinde zu einem Gegenentwurf der Welt werden lässt. Die Jüngerinnen und Jünger sind zwar in der Welt, aber nicht von ihr (Joh 17,14–16). Jesus sendet sie zwar in die Welt (Joh 17,18 ; 20,21), aber ihre Aufgabe ist nicht, die Welt zu verändern oder zu verbessern, sondern die Menschen von der Welt zu bekehren und sie vor den Verwerfungen und Gefahren der Welt zu bewahren (Joh 17,11–12.17–19). Möglicherweise findet sich in dieser Haltung ein Versuch der Gemeinde, sich im Milieu des Römischen Reichs zu behaupten, in dem ein Kaiser Autoritätsansprüche geltend machte, die mit dem Glauben an Jesus in Konflikt standen. Allerdings finden sich nur wenig explizite Anspielungen auf eine direkte Konkurrenz zwischen der johanneischen Gemeinde und römischem Imperialismus. Eine zweite Gruppe von Gegnern ist näher definiert als die Juden, die als unbeirrbare und unbelehrbare Opponenten Jesu dargestellt werden. Natürlich sind auch Jesus und seine Gefährten Juden, doch wenn das Evangelium von Juden spricht, handelt es sich um eine Gruppe, die Jesus feindlich gesinnt ist. So müssen die Menschen wählen, ob sie Jünger des Mose oder Jünger Jesu sein wollen ( Joh 9,28). Wer zu Jesus gehört, wird aus der Synagoge ausgeschlossen ( Joh 9,22 ; 12,42 ; 16,2). 273

Das Porträt der Juden im Johannesevangelium ist harsch und polemisch, sie sind nicht besser als die Welt. Ihr Vater ist Satan ( Joh 8,44), sie glauben den eigenen Schriften nicht ( Joh 5,39–47), Gott ist nicht mehr ihr König, sondern sie wählen den römischen Kaiser ( Joh 19,15). Gegen diese Feinde entwirft das Evangelium eine Gemeinde, die von gegenseitiger Liebe gekennzeichnet ist. Diese Liebe orientiert sich an der Liebe Jesu für die Seinen und wird in ein neues Gebot gefasst. „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebt, damit, wie ich euch geliebt habe, auch ihr einander liebt“ (Joh 13,34). Sie ist das große Thema der Abschiedsreden, die damit beginnen, dass Jesus mit der Fußwaschung zeigt, wie er seine Jünger „bis zur Vollendung“ liebt (Joh 13,1). Genau die Liebe Jesu, die er den Seinen zeigt und die er auch dem Vater gegenüber hat, soll die Gemeinde bestimmen. Sie wird zum Zeichen, an dem andere erkennen können, dass die Jüngerinnen und Jünger an Jesus glauben (Joh 13,35). Das Johannesevangelium kennt keine Liebe für den Nächsten (Mk 12,31), es kennt auch keine Feindesliebe (Mt 5,44 ; Lk 6,27). Die johanneische Liebe richtet sich auf die Jüngerinnen und Jünger Jesu, während andere mit schärfster Polemik betrachtet werden. Diese Liebe wird auch nicht mit einer begleitenden Ethik ausgestattet, wie es Matthäus und Lukas ausführlich tun. Für Johannes genügt die Liebe in der Gemeinde, sie ist das Zeichen der Gegenwart Jesu in einer unverständigen und feindlichen Welt. Letztlich wird sie die Welt überzeugen.

E. Das Johannesevangelium in heutiger Sicht Die Johannesforschung des letzten Jahrhunderts wurde fast ausschließlich von den verschiedenen Versuchen beherrscht, die Traditionen und Quellen des Evangeliums zu rekonstru274

ieren und unter Einbeziehung der Johannesbriefe eine Sozialgeschichte der Gemeinde zu entwerfen. Man sprach von einer johanneischen Schule, in der Evangelium und Briefe entstanden. Rekonstruktionen einer solchen Schule entsprachen allerdings oft den akademischen Institutionen, in denen sie entworfen wurden. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts machte sich eine gewisse Unzufriedenheit mit den doch sehr unterschiedlichen Rekonstruktionen der historisch-kritischen Exegese breit, und mit Hilfe von erzähltheoretischen Methoden versuchte man verstärkt, das Evangelium als eine kohärente und in sich konsistente Schrift zu verstehen. Solche Ansätze sind auch heute noch sehr verbreitet. Allerdings sollte man die beiden Interpretationsansätze nicht gegeneinander ausspielen. Auf der einen Seite ist richtig, dass im Laufe der Entwicklung des Evangeliums irgendwann einmal ein Schlusspunkt gesetzt wurde. Offensichtlich wurde die Entwicklung als abgeschlossen betrachtet. Die weitere Verbreitung des Evangeliums belegt, dass die Leserinnen und Leser das Evangelium als vollständig betrachteten. Andererseits bleiben Brüche und Inkonsistenzen als Ausdruck einer Entwicklung der Schrift weiterhin bestehen. Offensichtlich sind die Versuche, theologisch motivierte Aussagen weiter zu denken und neue Formulierungen nicht einfach anstelle von alten Traditionen einzusetzen, sondern sie nebeneinander stehen zu lassen. Dies ist in der Rede vom Brot des Lebens der Fall ( Joh 6), aber auch die Abschiedsreden weisen dieses Phänomen auf ( Joh 13–17). Dabei ist gelegentlich auch erstaunlich, wie solche Entwicklungen sich in einen Erzähltext einfügen. Wiederum ist die Heilung des Blindgeborenen ein ausgezeichnetes Beispiel. Die Einteilung in Szenen wurde schon bemerkt. Es scheint, dass die mittlere Szene ( Joh 9,18–23) mit den Eltern des Blindgeborenen ein späterer Zusatz sein könnte, da plötzlich die Geg275

ner andere sind. Handelte es sich zuvor noch um Pharisäer, werden sie nun plötzlich zu Juden generell. Dieser Wechsel könnte auf einen späteren Einschub hindeuten, zumal diese Szene auch mit nur wenigen Adaptierungen des übrigen Texts ausgelassen werden könnte. Falls es sich wirklich um einen Einschub handelt, ist er allerdings äußerst kunstvoll eingefügt und auch thematisch verknüpft. In neuerer Forschung wird auch immer wieder diskutiert, ob nicht zumindest in Details das Johannesevangelium Traditionen bewahrt, die historisch verlässlicher sind als die Berichte der synoptischen Evangelien. Dazu gehören besonders die Ereignisse in und um Jerusalem. Jesu mehrfache Reisen nach Jerusalem sind plausibel. Die geographischen Details um Jerusalem sind genauer, auch die Darstellung des Todes Jesu vor dem jüdischen Passafest ist wahrscheinlicher als die synoptische Darstellung des Todes am Tag des Festes. Ob allerdings, wie manche Forscher meinen, Johannes generell eine größere historische Genauigkeit zukommt als den Synoptikern, bleibt umstritten. Ein weiteres Feld in johanneischen Studien fragt nach dem Platz des Evangeliums in der Geschichte des frühen Christentums. Dies ist umso schwieriger zu beantworten, als das Evangelium selbst ja eine stark auf sich selbst konzentrierte Gemeinde zeichnet. Schaut man sich die Texte des Neuen Testamentes auch nur oberflächlich an, bemerkt man recht schnell, dass ein Problem dominiert : Wie können Juden und Heiden gemeinsam im Glauben an Jesus als den Sohn Gottes leben ? Die synoptischen Evangelien entwickeln durchaus unterschiedliche Ansätze zur Lösung dieses Problems, und schon die frühen neutestamentlichen Schriften, wie die Briefe des Paulus, thematisieren diese Frage und zeigen auch, dass dies durchaus kontroversiell verhandelt wurde. Das Johannesevangelium allerdings setzt sich mit dieser Frage gar nicht auseinander. Die Heidenvölker werden nicht einmal erwähnt, 276

und nur zwei Mal tauchen ganz kurz Griechen auf. Aber auch der jüdische Hintergrund wird durch Jesus überboten. Für Johannes tritt Jesus selbst in das Zentrum aller Überlegungen, und die Gruppe der Jüngerinnen und Jünger definiert sich von ihm her, nicht durch jüdische oder heidnische Traditionen. So gibt es für Johannes tatsächlich nicht mehr Jude oder Heide, sondern alle sind eins in Christus (vgl. Gal 3,28), und wer nicht in Jesus bleibt, wird wie eine Rebe weggeworfen und verdorrt ( Joh 15,6). Diese Herangehensweise macht das Johannesevangelium nicht nur einzigartig unter den Evangelien, sondern macht auch die soziale Verortung der johanneischen Gemeinde innerhalb des frühen Christentums schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Das Johannesevangelium stellt eine einzigartige Auslegung und Reflexion der Traditionen um die Person Jesu dar. Obwohl es deutliche Berührungspunkte mit den Traditionen der synoptischen Evangelien gibt, sind diese doch auf eine Weise aufgearbeitet, die dem Johannesevangelium einen ganz eigenen Charakter geben. Bemerkenswert ist das hohe Abstraktionsniveau johanneischer Theologie. Es arbeitet mit Begriffen wie Licht und Dunkelheit, Wahrheit und Lüge, Leben und Tod. Dies machte es besonders attraktiv für gnostische Christen, die in diesem Evangelium eine Bestätigung ihrer Vorstellung von einer verdorbenen materiellen Welt und ihrer Geschichtlichkeit sahen. Sie setzten ihre Hoffnungen auf eine spirituelle Wirklichkeit jenseits aller Geschichtlichkeit der materiellen Welt. Irenäus von Lyon hielt die Gnosis für häretisch und schrieb daher um das Jahr 180 eine Verteidigung des Johannesevangeliums gegen die gnostische Vereinnahmung. Der geliebte Jünger, der beim letzten Mahl in Jesu Schoß ruhte und der von Irenäus mit Johannes identifiziert wurde, war für ihn der Garant der historischen Zuverlässigkeit des Evangeliums. Dieser frühe Konflikt um das Evangelium ist bezeichnend für seine Qualität. Johannes versteht es, geschichtliche Ereig277

nisse und Traditionen in eine Theologie zu verweben, die über die Geschichte hinaus in die Ewigkeit weist. Gott liebt die Welt und die Menschen in ihr so sehr, dass er seinen eigenen Sohn sendet ( Joh 3,16), der einen blutigen Kreuzestod stirbt. Am Ende fließen Blut und Wasser aus dem zerstochenen Herzen Jesu ( Joh 19,34). Der Tod Jesu ist real, es ist der Tod des aus der Ewigkeit gekommenen Wortes Gottes, das Fleisch geworden ist und ganz real in dieser Welt gelebt hat. Doch beschreibt Johannes nicht nur eine Solidarität Gottes mit dieser Welt, er beschreibt auch, wie sich der Himmel für die Menschen öffnet, indem die Herrlichkeit seiner Gnade und Wahrheit sichtbar wird ( Joh 1,14). Jesus ist der, der glaubwürdige Kunde von diesem Vater gebracht hat ( Joh 1,18), weil er mit dem Vater eins ist ( Joh 10,30).

F. Literatur zur Vertiefung Eine schon etwas ältere, leicht lesbare Hinführung zum Johannesevangelium bietet Ludger Schenke : Das Johannesevangelium (Stuttgart 1992). Der technische Kommentar Michael Theobalds liegt noch nicht vollständig vor ; dafür gibt es den äußerst lohnenswerten Kommentar von Johannes Beutler : Das Johannesevangelium (Freiburg 2013).

278

Schlussbetrachtung : Vier Evangelien und ein Jesus

Die vier Evangelien erzählen die Geschichte eines jüdischen Wanderpredigers namens Jesus, der in Galiläa zunächst Jünger um sich sammelte, der für wunderbare Taten und einprägsame Lehren bekannt war, der wohl stark von Johannes dem Täufer beeinflusst war und dessen Kritik an der institutionellen Seite jüdischen Glaubens auch teilte und der schließlich wohl auch teilweise wegen dieser Kritik auf Betreiben jüdischer Eliten von den römischen Besatzern hingerichtet wurde. Darüber hinaus berichten alle vier Evangelien von der Überzeugung der Jünger, dass Jesus auferstanden und lebendig ist. Doch trotz dieser weitgehenden Übereinstimmungen in den groben Zügen der Ereignisse um Jesus ist auch überraschend, wie sehr die Evangelien in diese Geschichte interpretierend eingreifen. Dies fällt nicht nur beim stark eigenständigen Johannesevangelium auf, sondern auch bei den literarisch voneinander abhängigen synoptischen Evangelien. Ein Vergleich der Berichte vom Tod Jesu in den vier Evangelien lässt diese Eigenheiten besonders hervortreten.

A. Vier Variationen über den Tod Jesu Markus beschreibt den Tod Jesu in all seiner Grausamkeit und Verlassenheit (Mk 15,33–41). Eine große Finsternis fällt über das Land (vgl. Am 8,9) und begleitet die letzten Stunden Jesu. 279

Zweimal schreit Jesus am Kreuz laut auf. Beim ersten Mal enthält der Schrei noch ein Zitat aus Ps 22,1 : „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen ?“ Der zweite Schrei ist nicht mehr artikuliert. Zwischen den beiden Schreien liegen das Missverständnis und der Spott der Umstehenden, die meinen, Jesus rufe nach Elija. Zwei Zeichen begleiten den Tod Jesu : Der Tempelvorhang zerreißt von oben bis unten, und der römische Hauptmann des Hinrichtungskommandos bekennt, dass Jesus Gottes Sohn war. Einige Frauen schauen aus der Ferne zu und werden als Zeuginnen benannt. Schon in Mk 15,21–32 wird auf Ps 22 in der Verteilung der Kleider Jesu unter den Soldaten Bezug genommen. Markus deutet hier an, dass dieser Psalm für die Interpretation des Todes Jesu von Bedeutung ist. Der Psalm selbst ist zweigeteilt. Der erste Teil beschreibt die Gottverlassenheit des Beters, wie sie auch in Jesu erstem Schrei zitiert wird. Der zweite Teil hingegen beschreibt das Vertrauen in Gott, der auch einen unschuldig Leidenden erretten wird. Ist nun der Psalm das markinische Interpretationsmodell für den Tod Jesu, so ist der Schrei Jesu nicht nur Ausdruck des sehr realen Leids, sondern impliziert auch das Vertrauen in Gottes Hilfe und Rettung. Hier am Kreuz enthüllt sich, worauf das Markusevangelium hingeführt hat : Das Geheimnis der Gottessohnschaft Jesu ist endlich enthüllt in seinem grausamen Kreuzestod. Die Umstände des Todes bestätigen dies. Die Finsternis hüllt das ganze Land in Trauer über das Schicksal Jesu. Das Zerreißen des Tempelvorhangs erinnert an das Zerreißen des Himmels bei der Taufe Jesu. Im Tod Jesu ist die letzte Grenze zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und Menschen gefallen. Und wie bei der Taufe die göttliche Stimme Jesus als Gottessohn bekennt, so ist es nun die menschliche Stimme des heidnischen Hauptmanns, die das Bekenntnis aufnimmt und wiederholt. Der Hauptmann und die von ferne zuschauenden Frauen werden zu ersten Jüngerinnen und Jüngern des 280

nun offenbarten Gottessohnes. Sie machen den Unglauben der Zwölf wett, und die Frauen werden schließlich in Mk 16,7 beauftragt, die Zwölf noch einmal einzuladen. Matthäus verändert die Beschreibung des Todes Jesu kaum (Mt 27,45–56). Er intensiviert die Anspielungen auf Ps 22 in kleinen Details. Nicht mehr nur der Hauptmann, sondern jetzt auch seine Wachen bekennen Jesus als Gottessohn. Als Gruppe von Heiden sind sie ein deutlicher Bezug zu Ps 22,27 : „Alle Enden der Erde werden … umkehren zum Herrn, und vor ihm werfen sich nieder alle Stämme der Völker.“ Matthäus macht die Aussageabsicht des Zitats von Ps 22,1 gegenüber Markus noch expliziter : Im Tod Jesu verbindet sich das Leid des Unschuldigen mit seinem Vertrauen auf Gottes Handeln. Dass dieses Vertrauen berechtigt ist, zeigt sich in den Zeichen, die den Tod Jesu begleiten. Neben dem Zerreißen des Tempelvorhangs und dem Bekenntnis der Soldaten fügt Matthäus ein Erdbeben und die Auferstehung der Heiligen ein. Die Einfügung basiert auf der apokalyptischen Vision in Ez 37,1–14, die die Wiedereinsetzung der Heiligen im Land Israel beschreibt. Damit erreicht Matthäus, die Kreuzigung als einen Wendepunkt in der menschlichen Geschichte zu beschreiben. Mit dem Tod Jesu beginnt die Endzeit, die ja auch schon in vielen der Gerichtsworte des Matthäusevangeliums eine Rolle spielt. Die matthäische Einfügung ist etwas ungelenk, da die Auferstehung der Heiligen die Auferstehung Jesu schon vorwegnimmt. Daher erwähnt Matthäus auch, dass sie erst nach der Auferstehung Jesu nach Jerusalem gehen und dort vielen erscheinen. Matthäus trifft sich mit Markus in der Interpretation des Todes Jesu mit Hilfe von Ps 22. Anderes verändert er. Die für Markus unter dem Kreuz erneuerte Jüngerschaft und Nachfolge betont er nicht mehr. Für Matthäus gewinnt die endzeitliche Perspektive enorme Bedeutung, die sich durch den 281

Zusatz der Aufnahme der Vision aus Ezechiel ergibt. Damit ergibt sich, was in den vielen Schriftzitaten schon grundgelegt ist : Matthäus verankert den Tod Jesu in jüdischer Tradition und Prophetie, indem er biblische Motive und Phrasen in Erinnerung ruft. So werden selbst der heidnische Hauptmann und seine Wachsoldaten noch einmal in Ps 22 eingebunden. Matthäus zeigt, dass Jesus in Übereinstimmung mit der Schrift gestorben ist. Das Lukasevangelium bearbeitet zwar wie das Matthäusevangelium ebenfalls den markinischen Bericht über den Tod Jesu, doch gehen die Veränderungen bei Lukas sehr viel weiter (Lk 23,32–49). Schon zu Beginn fällt auf, wie Lukas das zuschauende Volk von spottenden Führern des jüdischen Volkes und Soldaten unterscheidet. Die unterschiedlichen Reaktionen der beiden Verbrecher, die mit Jesus gekreuzigt werden, intensivieren dies noch. Auch das für Markus und Matthäus so wichtige Zitat aus Ps 22,1 entfällt. Für Lukas ist das Thema der Erlösung zentral. Lukas macht dies an einem Wortspiel fest, da im Griechischen das Wort sōzein sowohl „retten“ als auch „erlösen“ bedeuten kann. Jede der spottenden Gruppen benutzt einen Titel für Jesus und fordert ihn heraus, sich selbst zu retten. Die jüdischen Eliten bezeichnen Jesus als den Messias Gottes und Auserwählten. Er, der andere gerettet hat, solle nun sich selbst retten. Die Soldaten reichen ihm Essig, nennen ihn König der Juden und fordern ihn auf, sich selbst zu retten. Einer der Verbrecher fragt, ob Jesus nicht der Messias sei, und fordert ihn auf, sich selbst und die Mitgekreuzigten zu retten. Die Spottszene ist hochironisch, denn hier wird die Distanz zwischen Jesus und seinen Gegnern besonders deutlich. Die Gegner können sich keine Erlösung vorstellen, die nicht die Rettung des eigenen Lebens bedeutet. Es ist der zweite Verbrecher, der schließlich das lukanische Anliegen ausfor282

muliert. Er bekennt Jesus als Unschuldigen, der in sein Reich eingeht, und bittet ihn um Gedenken, wenn Jesus in sein Reich kommt. Darauf hin spricht Jesus dem zweiten Verbrecher zu, dass er „noch heute“ mit ihm im Paradies sein wird. Was die Spötter unter dem Kreuz ironisch von Jesus fordern, wird dem zweiten Verbrecher tatsächlich zuteil : eine Rettung, die Erlösung ist. Die Kreuzigung Jesu wird gerahmt von zwei Rufen Jesu. Zu Beginn der Kreuzigung betet Jesus zum Vater um Vergebung für seine Peiniger, weil sie nicht wissen, was sie tun. Kurz vor seinem Tod betet Jesus wiederum : „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.“ Jesu Tod ist vorbildlich ; in ähnlicher Weise wird auch Stephanus bei seiner Steinigung beten (Apg 7,59–60). Während die Details über das Leiden Jesu in den Hintergrund rücken, betont Lukas die unverbrüchliche Treue Jesu zu seiner Verkündigung und letztlich zu seiner Beziehung zu Gott als Vater. Der zweite Verbrecher erkennt dies und wird gerade deshalb erlöst. Aber er ist nicht der einzige Zeuge. Der Hauptmann bekennt Jesus als Gerechten. Die zuschauende Volksmenge schlägt sich zum Zeichen der Umkehr an die Brust. In einiger Entfernung stehen nicht mehr nur Frauen, sondern „alle, die ihn kannten“, und werden zu Zeugen des Geschehens. Der lukanische Jesus ist Erlöser auch im Tod. Seine Hinwendung zu den Menschen wird auch in seinem Sterben deutlich, und sein Gebet um Vergebung für seine Peiniger ist noch einmal ein Angebot zu Umkehr und Heil. Der zweite Verbrecher illustriert, dass Vergebung tatsächlich noch in dieser Extremsituation möglich ist. Seine Erlösung wird im Heute gegeben und muss nicht auf eine möglicherweise apokalyptische Endzeit warten. So konzentriert Lukas die Erzählung stark auf die Figur Jesu als jemand, der selbst bei seiner eigenen Kreuzigung noch die Kontrolle behält und der Wohltäter der Menschen ist. 283

Das Johannesevangelium gibt der Kreuzigung und dem Tod Jesu ( Joh 19,17–27) eine ganz eigene Wendung, in der typisch johanneische Schwerpunkte noch einmal sichtbar werden. Die Erzählung beginnt mit dem Hinweis, dass Jesus selbst sein Kreuz auf sich nimmt. Andere haben ihn verurteilt, doch Jesus ist derjenige, der das Kreuz aufnimmt. Die Leserinnen und Leser werden daran erinnert, wie Jesus mehrfach prophezeit hat, er werde selbst sein Leben niederlegen ( Joh 10,11.15.17 ; 15,13). Die Hilfe des in den synoptischen Evangelien erwähnten Kreuzträgers Simon von Zyrene braucht es nicht mehr. Mit Jesus werden zwei gekreuzigt, doch heißt es nicht mehr, dass sie Räuber gewesen seien. Für Johannes rücken die beiden anderen Jesus in das Zentrum der Betrachtung. Johannes spricht nun über die Kreuzesinschrift : „Jesus der Nazarener, der König der Juden“, die dreisprachig geschrieben ist. Zusammen mit den beiden Mitgekreuzigten erinnert dies daran, dass Jesus in seiner Erhöhung alles an sich ziehen wird (vgl. Joh 10,16 ; 12,32). Und wiederum sind es die Juden, die sich dieser Macht Jesu widersetzen und Pilatus bitten, die Inschrift abzuändern. Doch Pilatus bleibt bei dem, was er geschrieben hat. In einer weiteren Szene teilen die Soldaten die Kleider Jesu unter sich auf, ohne jedoch das nahtlos gewebte Untergewand zu zerteilen. Möglicherweise ist dieses Nicht-Zerteilen des Gewandes symbolisch für die Einheit derer, die Jesus am nächsten stehen, nämlich seine Jünger. Für deren Einheit hat Jesus in Joh 17,20–26 gebetet. Diese Einheit wird in der folgenden Szene noch einmal in den Blick genommen. Jesus blickt vom Kreuz auf seine Mutter und den geliebten Jünger. Die Mutter, die im Evangelium genau wie der geliebte Jünger nie namentlich genannt wird, wird als Erste angesprochen. Sie war auch die Erste, die Jesus vorbehaltlos vertraut hat. Bei der Hochzeit von Kana drückt 284

sie dies mit den Worten „Was immer er euch sagen mag, tut es !“ ( Joh 2,5) aus. Der Jünger hingegen ist bekannt für seine besondere Nähe zu Jesus ; er liegt beim letzten Mahl im Schoß Jesu und ist derjenige, dem auch Petrus vertraut. Jesus vereinigt sie nun zu einer neuen Familie, die von ihm gestiftet wird. Johannes erhöht die Symbolik noch dadurch, dass er nicht einfach bemerkt, dass sich der Jünger von da an um die Mutter Jesu kümmert ; er nimmt sie auf in das Seine, eine Anspielung auf Joh 1,11. Wie Jesus in das Seine kam, die Seinen ihn aber nicht aufnahmen, so ermöglicht die Stunde der Verherrlichung Jesu in einer Umkehrung, dass die Mutter Jesu nun Aufnahme findet bei dem geliebten Jünger. Die von Jesus geforderte Einheit der Jüngerinnen und Jünger wird symbolisch von ihm selbst am Kreuz hergestellt und vollendet. Jesus hat nun vollbracht, wozu er in die Welt gekommen war. Daher kann er vor seinem Tod auch sagen, dass alles voll­ endet ist. Jesus hat erwiesen, dass seine Liebe für seine Jüngerinnen und Jünger eine Liebe bis zur Vollendung ist ( Joh 13,1). Noch einmal beschreibt Johannes, wie sehr Jesus die Autorität über seinen Tod behält. Jesus neigt das Haupt und übergibt seinen Geist. Während des Laubhüttenfestes bemerkt das Evangelium, dass der Geist noch nicht gegeben ist, weil die Stunde Jesu noch nicht da war ( Joh 7,39). Hier nun ist die Stunde Jesu gekommen und er übergibt seinen Geist an die johanneische Gemeinde, die symbolisch durch das ungeteilte Gewand sowie die Mutter und den Jünger unter dem Kreuz präsent ist. Johannes schildert keinen Schrei, er berichtet auch kein Hinscheiden Jesu. Für ihn ist der Tod Jesu das Anvertrauen des Geistes an seine Gemeinde. Die außerordentliche Konzentration der Erzählung auf die Beziehung zwischen Jesus und seinen Jüngerinnen und Jüngern setzt sich auch nach dem Tod Jesu fort. Es gibt keinen Hauptmann mehr, der die Unschuld oder die Gottessohnschaft Jesu bezeugen würde. Sachlich und nüchtern beschreibt 285

Johannes, wie Jesus nicht wie üblich die Beine gebrochen werden, sondern wie seine Seite geöffnet wird, aus der Blut und Wasser fließen. Dies jedoch ist für Johannes so wichtig, dass er die Wahrheit dieser Beobachtung durch einen anonymen Zeugen und ein Schriftwort beglaubigt, „damit auch ihr glaubt“ ( Joh 19,35). Johannes macht deutlich, warum er die Geschichte des Todes Jesu auf diese Weise erzählt : Die Erzählung dient dazu, den Glauben der Gemeinde zu stärken, die dieses Evangelium liest. Auf diesem Hintergrund ist es auch plausibel, die Zeichen von Blut und Wasser als Hinweise auf Taufe und Eucharistie zu deuten. Damit kann Johannes zeigen, dass der Tod Jesu ganz konkrete Konsequenzen innerhalb der johanneischen Gemeinde hat, die diesen Tod in Eucharistie und Taufe feiert. Jesus ist in konkreten Zeichen der Gemeinde gegenwärtig.

B. Interpretationen zwischen Tradition und Zukunft In seinem Prolog beschreibt Lukas, dass vor ihm schon viele einen Bericht verfasst hätten. Falls Lukas solchen Berichten skeptisch oder gar ablehnend gegenüberstand, sagt er dies nicht explizit. Ihn treibt etwas anderes an. Er möchte einen neuen Bericht verfassen, der Theophilus bestärkt in dem, was er schon gehört hat. Das Lukasevangelium will nicht andere Berichte obsolet machen, es möchte ergänzende Informationen liefern, die Theophilus bestärken sollen. Eine neue Perspektive kann erhellen, was Theophilus schon weiß oder glaubt. Damit stellt sich Lukas zwei Aufgaben. Er möchte einerseits Treue zu den Überlieferungen zeigen ; er möchte die Jesusgeschichte als zuverlässig erweisen. Andererseits stellen sich seiner Zeit auch Herausforderungen, die neue Deutungen der alten Erzählungen erfordern. 286

In genau diesem Spannungsfeld stehen alle Evangelien. Einerseits wollen sie auf die Geschichte Jesu zurückblicken, andererseits wollen sie in dieser Geschichte auch Wegweisung für neue Lebenssituationen finden. Die Erinnerung an Jesus als einen galiläischen Wanderprediger, der von der Herrschaft Gottes sprach und schließlich hingerichtet wurde und der als Auferstandener geglaubt wird, muss für städtische Gemeinden in einer heidnischen Umwelt neu interpretiert und auch adaptiert werden. Sind die neuen Jüngerinnen und Jünger keine Juden mehr, muss auch hier eine neue Sicht auf die Geschichte Jesu gefunden werden. Ähnliches gilt auch für Interpretationen der Evangelien heute. Machen sich Gläubige und Gemeinden heute Gedanken über die Bedeutung der Person Jesu, so gilt es auf der einen Seite, den Blick in die Vergangenheit zu lenken. Auf der anderen Seite gilt es auch, neue Perspektiven und Lebensumstände in den Blick zu nehmen. Die vier Evangelien des Neuen Testaments sind gerade deshalb so wertvoll, weil sie in ihrer je eigenen Art nicht nur einen Blick auf Jesus eröffnen, sondern weil sie gleichzeitig auch den Leserinnen und Lesern Kriterien an die Hand geben, wie dieser Jesus interpretiert werden kann. Sie bezeugen, dass trotz aller Unterschiede in der Rezeption der Jesustraditionen, der Verarbeitung und Interpretation der Verkündigung Jesu in den unterschiedlichsten Situationen eine Konstante bleibt. Alle Evangelien belegen, dass die Antwort eines jeden Menschen auf den Anruf und Anspruch Jesu entscheidend für sein Schicksal ist. An der Antwort auf das Angebot göttlicher Gnade und Erlösung in Jesus entscheidet sich das Geschick des Menschen. Die Antworten können sehr unterschiedlich ausfallen. Für Markus besteht sie in der Kreuzesnachfolge, für Matthäus in der kreativen Treue zu jüdischer Tradition. Lukas lenkt den Blick auf das Zeugnis, das Jüngerinnen und Jünger geben, während Johannes die intime 287

und einzigartige Beziehung in Liebe zwischen Jesus und der Gemeinde und ihren einzelnen Mitgliedern betont. Heutige Antworten mögen anders aussehen ; die Evangelien sind Einladungen, solche Antworten auch zu suchen. Bleibend ist jedoch die Verkündigung, dass Gott Menschen in der Person Jesu zu Erlösung und Heil einlädt.

Der Frage, weshalb das so ist, nähert sich Boris Repschinski, indem er Ent­stehung, Ort und Zeit der Evangelien und die Ab­sicht des jeweiligen Autors darstellt. Darüber hinaus und vor allem aber geht er auf die literarische und theologische Eigenart der Evangelientexte ein. Es ist ihre jeweilige Kompo­sition, die einen je eigenen Blick auf Jesus eröffnet und gleichzeitig den Leserinnen und Lesern Kriterien an die Hand gibt, in den Texten Wegweisungen für neue Lebenssituationen zu finden.

Boris Repschinski SJ, Dr. theol., geboren 1962 in Rheine in Westfalen; Professor für Neutestamentliche Bibelwissenschaften an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck. Seit 2007 ist er Schriftleiter der ZKTh, außerdem betreut er als Mitherausgeber die Innsbrucker Theologischen Studien.

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Was wir von Jesus wissen, verdanken wir den vier Evangelien. Auch wenn diese in vielem übereinstimmen, finden sich darin doch markante Unterschiede und eigene Interpretationen der Geschichte Jesu.

Boris Repschinski

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